Festschrift für Hanns Dünnebier zum 75. Geburtstag am 12. Juni 1982 [Reprint 2014 ed.] 9783110902020, 9783110089493

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Festschrift für Hanns Dünnebier zum 75. Geburtstag am 12. Juni 1982 [Reprint 2014 ed.]
 9783110902020, 9783110089493

Table of contents :
Hanns Dünnebier zum 75. Geburtstag
Einige Bemerkungen zu dem Satz „nemo tenetur se ipsum accusare“
Justizgewährungspflicht und Abblocken von Verteidigungsvorbringen
Sozialstaatsprinzip und Strafverfahren
Über den Zugang strafprozessualer Willenserklärungen
Überlegungen zur Bedeutung des Legalitätsprinzips im rechtsstaatlichen Strafverfahren
Legalitätsprinzip - Interessenabwägung - Verhältnismäßigkeit. - Über die Grenzen von Strafverfolgungsverzicht und Strafverfolgungsverschärfung zur Aufrechterhaltung des inneren Friedens
Durchsuchungen von Personen, Räumen und Sachen. - Strafprozessuale Probleme und kriminalistische Erkenntnisse
Die Beschlagnahme von Geschäftsunterlagen des Beschuldigten bei Zeugnisverweigerungsberechtigten. - Rückschau und Ausblick
Anfertigung von Lichtbildern für Zwecke des Strafverfahrens und Persönlichkeitsschutz
Apokryphe Haftgründe. - Erwartung einer hohen Strafe = Fluchtgefahr; Charakter der Straftat = Verdunkelungsgefahr
Anfechtung von Beschlüssen, die Verhaftungen oder die einstweilige Unterbringung betreffen
Wie abhängig ist der Strafverteidiger von seinem Auftraggeber, wie unabhängig kann und soll er sein?
Über Verteidigung im Verständnis der Verteidiger
Das Einsichtsrecht des Strafverteidigers in die polizeilichen Spurenakten
Die Verteidigung vor dem Revisionsgericht
Die sinngemäße Anwendung der Strafprozeßordnung bei der Beweiserhebung parlamentarischer Untersuchungsausschüsse
Der Niedergang des Prinzips der unmittelbaren Zeugenvernehmung
Zur Beschlußverwerfung der Revision in Strafsachen als „offensichtlich unbegründet“
Der Laie als Strafrichter
Strafverfahren als Sensation. - Zur Freiheit der Gerichtsreportage und ihren Schranken
Die „Gesetzesverletzung“. - Bemerkungen zur Terminologie im materiellen und formellen Strafrecht
Gesetzlichkeitsprinzip und Strafmilderungsgründe
Zur Zulässigkeit staatlich gesteuerter Deliktsbeteiligung
Das Opfer steht in dritter Reihe. - Ein Beitrag zur Frage administrativer Viktimisation
Die Zulässigkeit der Einwilligung bei den Amtsdelikten. - Zum Verhältnis von Staatsschutz und Individualschutz im Deutschen Amtsstrafrecht
Handhabung und Kritik des neuen Wirtschaftsstraf rechts. - Versuch einer Zwischenbilanz
Einige Fragen zur Verjährung in Wirtschaftsstrafsachen
Probleme der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Amtsträgern für Gewässerverunreinigungen
Zur Strafbarkeit der Verbreitung unvollständiger Prospekte über Vermögensanlagen
Ausländische und internationale Bestrebungen gegen die Todesstrafe. - Ein Überblick
Recht und Ethik - am Beispiel des Arztrechts
Zur aktuellen Diskussion über Strafe und Erziehung in der deutschen Jugendgerichtsbarkeit
Aufgabe und verfahrensrechtliche Stellung der Jugendgerichtshilfe
Zur Reform der Untersuchungshaft an jungen Gefangenen
Disziplinarmaßnahmen beim Vollzug der Untersuchungshaft
Der Anstaltsbeirat (§§ 162-165 StVollzG). - Eine sozialgeschichtliche Studie über das Mitwirken gesellschaftlicher Kräfte bei dem staatlichen Vollzug der Freiheitsstrafe
Tendenzen in der Entwicklung des internationalen Seehandelsrechts. - Vereinheitlichung oder Zersplitterung ?
Bibliographie

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FESTSCHRIFT FÜR HANNS DÜNNEBIER ZUM 75. GEBURTSTAG

FESTSCHRIFT FÜR HANNS DÜNNEBIER ZUM 75. GEBURTSTAG am 12. Juni 1982

Herausgegeben von

Ernst-Walter Hanack, Peter Rieß und Günter Wendisch

w DE

G

1982

Walter de Gruyter · Berlin · New York

CIP-Kurztitelaufnahme

der Deutschen

Bibliothek

Festschrift für Hanns Dünnebier zum 75. [fünfundsiebzigsten] Geburtstag : am 12. Juni 1982 / hrsg. von Ernst Walter Hanack . . . - Berlin ; New York r de Gruyter, 1982. ISBN 3-11-008949-1 N E : Hanack, Ernst Walter [Hrsg.]; Dünnebier, Hanns: Festschrift

© Copyright 1982 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung, J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung, Georg Reimer, Karl J. Trübner, Veit & Comp., 1000 Berlin 30. Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Ubersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Printed in Germany Satz und Druck: Saladruck, 1000 Berlin 36 Buchbindearbeiten: Lüderitz & Bauer, 1000 Berlin 61

Vorwort

Am 12.Juni 1982 hat Generalstaatsanwalt a . D . Dr. Hanns Dünnebier, Bremen, sein 75. Lebensjahr vollendet. Eduard Dreher hat in seinem Beitrag zu dieser Festschrift den Lebensweg des Jubilars nachgezeichnet und auch das berufliche Wirken dieses leidenschaftlichen Strafrechtspraktikers, hervorragenden Strafrechtswissenschaftlers und engagierten Strafrechtsreformers gewürdigt. Seinem Glückwunsch schließen sich mit dieser Festschrift 37 weitere Autoren an, die dem Jubilar aus gemeinsamer Arbeit besonders verbunden sind. Ihre Beiträge umspannen einen weiten Bogen. Er spiegelt damit auch etwas von dem breiten Arbeitsfeld wider, auf dem Hanns Dünnebier Recht und Rechtsentwicklung der Bundesrepublik beeinflußt hat. Die Festschrift teilt das Schicksal vieler Festschriften: Sie konnte dem Jubilar nicht rechtzeitig vorgelegt werden, und sie mußte vor allem auf die Beiträge einiger Autoren verzichten, die dem Jubilar nahestehen. Es sind Gründe unterschiedlichster Art, aus denen der eine oder andere von einer gewünschten Beteiligung an der Festschrift Abstand nehmen mußte - Gründe, die hier nicht auszubreiten sind, die aber gerade Hanns Dünnebier verstehen wird. Immerhin mag ein Fall besonders erwähnt werden: Hans-Jürgen Bruns geriet während der Arbeit sein für diese Festschrift vorgesehener Beitrag, der sich insbesondere mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über den V-Mann auseinandersetzt, wegen der Schwierigkeit des Themas so umfangreich, daß er nur als besondere Veröffentlichung erscheinen konnte. Die Herausgeber danken dem Verlag für die hervorragende verlegerische Betreuung und das wirtschaftliche Wagnis der Herausgabe einer Festschrift in der gegenwärtigen Zeit. Die Herausgeber

Inhalt

EDUARD DREHER, Dr. jur., bis 1969 Ministerialdirigent im Bundesministerium der Justiz, Bonn Hanns Dünnebier zum 75. Geburtstag

1

KARL SCHÄFER, Dr. jur., Senatspräsident a. D. am Oberlandesgericht Frankfurt am Main Einige Bemerkungen zu dem Satz „nemo tenetur se ipsum accusare" . . . .

11

KARL PETERS, Dr. jur., em. o. Professor an der Universität Tübingen, Münster Justizgewährungspflicht und Abblocken von Verteidigungsvorbringen . . HEINZ

MÜLLER-DIETZ,

Dr.

jur.,

o.

Professor

an

der

Universität

53

des

Saarlandes Sozialstaatsprinzip und Strafverfahren

75

WERNER SCHMID, Dr. jur., o. Professor an der Universität Kiel Uber den Zugang strafprozessualer Willenserklärungen KARL HEINZ GÖSSEL, D r . j u r . , o. P r o f e s s o r an der U n i v e r s i t ä t

101 Erlangen,

Vorsitzender Richter am Landgericht München I Überlegungen zur Bedeutung des Legalitätsprinzips im rechtsstaatlichen Strafverfahren 121 PETER RIESS, Dr. jur., Ministerialrat im Bundesministerium der Justiz, Bonn, Honorarprofessor an der Universität Göttingen Legalitätsprinzip - Interessenabwägung - Verhältnismäßigkeit. - Uber die Grenzen von Strafverfolgungsverzicht und Strafverfolgungsverschärfung zur Aufrechterhaltung des inneren Friedens 149

FRIEDRICH GEERDS, Dr. jur., o. Professor an der Universität Frankfurt am Main Durchsuchungen von Personen, Räumen und Sachen. - Strafprozessuale Probleme und kriminalistische Erkenntnisse 171 GÜNTHER WEINMANN, Präsident des Oberlandesgerichts Stuttgart, Vorsitzender der Ständigen Deputation des Deutschen Juristentages Die Beschlagnahme von Geschäftsunterlagen des Beschuldigten bei Zeugnisverweigerungsberechtigten. - Rückschau und Ausblick 199

Vili

Inhaltsverzeichnis

HELGA BONARENS, Oberstaatsanwältin in Bremen Anfertigung von Lichtbildern für Zwecke des Strafverfahrens und Persönlichkeitsschutz

215

HANS DAHS, D r . jur., Rechtsanwalt in B o n n Apokryphe Haftgründe. - Erwartung einer hohen Strafe = Fluchtgefahr; Charakter der Straftat = Verdunkelungsgefahr

227

GÜNTER WENDISCH, Generalstaatsanwalt in Bremen Anfechtung von Beschlüssen, die Verhaftungen oder die einstweilige Unterbringung betreffen

239

KLAUS LÜDERSSEN, D r . jur., o. Professor an der Universität Frankfurt am Main Wie abhängig ist der Strafverteidiger von seinem Auftraggeber, wie unabhängig kann und soll er sein? 263 GERHARD MÜTZELBURG, Präsident des Oberlandesgerichts a. D . , Celle Ü b e r Verteidigung im Verständnis der Verteidiger

277

WERNER BEULKE, D r . jur., o. Professor an der Universität Passau Das Einsichtsrecht des Strafverteidigers in die polizeilichen Spurenakten 285 ERNST-WALTER HANACK, D r . jur., o. Professor an der Universität Mainz Die Verteidigung vor dem Revisionsgericht

301

WALTER GOLLWITZER, D r . jur., Ministerialdirigent im Bayerischen Staatsministerium der Justiz, München D i e sinngemäße Anwendung der Strafprozeßordnung bei der Beweiserhebung parlamentarischer Untersuchungsausschüsse 327 GERALD GRÜNWALD, D r . jur., o. Professor an der Universität Bonn D e r Niedergang des Prinzips der unmittelbaren Zeugenvernehmung . . . .

347

CURT FREIHERR VON STACKELBERG, Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof, Karlsruhe Zur Beschlußverwerfung der Revision in Strafsachen als „offensichtlich unbegründet" 365

KLAUS VOLK, D r . jur., o. Professor an der Universität München D e r Laie als Strafrichter

373

Inhaltsverzeichnis

IX

HINRICH RÜPING, Dr. jur., o. Professor an der Universität Augsburg Strafverfahren als Sensation. - Zur Freiheit der Gerichtsreportage und ihren Schranken 391

EBERHARD SCHMIDHÄUSER, D r . j u r . , o. P r o f e s s o r an d e r U n i v e r s i t ä t H a m -

burg Die „Gesetzesverletzung". - Bemerkungen zur Terminologie im materiellen und formellen Strafrecht 407 WINRICH LANGER, Dr. jur., o. Professor an der Universität Marburg Gesetzlichkeitsprinzip und Strafmilderungsgründe

421

FRIEDRICH DENCKER, Dr. jur., Professor an der Universität Münster Zur Zulässigkeit staatlich gesteuerter Deliktsbeteiligung

447

HERBERT SCHÄFER, Dr. jur., Leitender Kriminaldirektor in Bremen Das Opfer steht in dritter Reihe. - Ein Beitrag zur Frage administrativer Viktimisation 465

KNUT AMELUNG, Dr. jur., o. Professor an der Universität Trier Die Zulässigkeit der Einwilligung bei den Amtsdelikten. - Zum Verhältnis von Staatsschutz und Individualschutz im Deutschen Amtsstrafrecht. 487 KLAUS TIEDEMANN, Dr. jur., o. Professor an der Universität Freiburg i. Br. Handhabung und Kritik des neuen Wirtschaftsstrafrechts. - Versuch einer Zwischenbilanz 519 GERHARD SCHÄFER, Dr. jur., Vorsitzender Richter am Landgericht Stuttgart Einige Fragen zur Verjährung in Wirtschaftsstrafsachen

541

HANS-JOACHIM RUDOLPHI, Dr. jur., o. Professor an der Universität Bonn Probleme der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Amtsträgern für Gewässerverunreinigungen 561 KARL-ERNST JAATH, Regierungsdirektor im Bundesministerium der Justiz, Bonn Zur Strafbarkeit der Verbreitung unvollständiger Prospekte über Vermögensanlagen 583

Χ

Inhaltsverzeichnis

MANFRED MÖHRENSCHLAGER, D r . j u r . , R e g i e r u n g s d i r e k t o r i m B u n d e s m i -

nisterium der Justiz, Bonn Ausländische und internationale Bestrebungen gegen die Todesstrafe. Ein Überblick 611 HANS-LUDWIG SCHREIBER, D r . j u r . , o . P r o f e s s o r a n d e r U n i v e r s i t ä t G ö t -

tingen

Recht und Ethik - am Beispiel des Arztrechts

633

H O R S T SCHÜLER-SPRINGORUM, D r . j u r . , o . P r o f e s s o r an d e r U n i v e r s i t ä t

München Zur aktuellen Diskussion über Strafe und Erziehung in der deutschen Jugendgerichtsbarkeit 649 FRIEDRICH SCHAFFSTEIN, D r . j u r . , e m . o . P r o f e s s o r an d e r

Universität

Göttingen Aufgabe und verfahrensrechtliche Stellung der Jugendgerichtshilfe

661

ALEXANDER BÖHM, Dr. jur., o. Professor an der Universität Mainz Zur Reform der Untersuchungshaft an jungen Gefangenen

677

JÜRGEN BAUMANN, Dr. jur., o. Professor an der Universität Tübingen Disziplinarmaßnahmen beim Vollzug der Untersuchungshaft

691

ALBERT KREBS, Dr. phil., Ministerialrat a. D., Honorarprofessor an der Universität Marburg, Oberursel/Ts. Der Anstaltsbeirat (§§ 162-165 StVollzG). - Eine sozialgeschichtliche Studie über das Mitwirken gesellschaftlicher Kräfte bei dem staatlichen Vollzug der Freiheitsstrafe 707 *

WALTHER RICHTER, D r . j u r . , D r . rer. p o l . , P r ä s i d e n t d e s

Oberlandes-

gerichts a. D., Bremen Tendenzen in der Entwicklung des internationalen Seehandelsrechts. Vereinheitlichung oder Zersplitterung ? 731 *

Bibliographie

749

Hanns Dünnebier zum 75. Geburtstag EDUARD D R E H E R

„Wir bestätigen gern, daß Herr Dr. Dünnebier alle ihm übertragenen Arbeiten, obwohl sie ihm durchweg vollkommen fremd waren, in kürzester Zeit übersehen und sämtlich zur vollsten Zufriedenheit seiner Auftraggeber erledigen konnte." Dieser Satz ist in einem Zeugnis zu lesen, das am 2.Juli 1947 vom Eisenwerk Gröditz der ehemaligen Mitteldeutschen Stahlwerke in Sachsen dem gewesenen Amtsgerichtsrat ausgestellt worden war, dem man bei der Hallendemontage die „Gesamtleitung der Stücklistenbearbeiter" übertragen hatte. Ein typisches deutsches Nachkriegsschicksal, aber zugleich typisch für den Mann, der es so erfolgreich meisterte und dem zu Ehren fünfunddreißig Jahre später diese Festschrift herausgegeben wird. Schon vor dem Jahr in Gröditz lag ein Stück Leben, das so gar nicht nach dem üblichen Schema der kontinuierlichen Folge von Schule, Abitur, Studium, Staatsprüfungen verlief und bereits deutlich erkennen ließ, was in dem jetzt Gefeierten an Begabung und Energie steckte. Der junge Dünnebier, am 12. Juni 1907 als der dritte Sohn eines Regierungsoberinspektors in der sächsischen Bergwerkstadt Freiberg geboren, konnte das Realgymnasium in Döbeln zunächst nur bis zur mittleren Reife besuchen. Dann lernte er ab 1923 am gleichen Ort in der Commerz- und Privatbank, um 1925 zunächst Angestellter und später Beamtenanwärter beim Bezirksverband der Amtshauptmannschaft Döbeln zu werden, einer Verwaltungseinheit, die unseren heutigen Landkreisen entspricht. Bis 1935 blieb er dort. Trotzdem brachte es der junge Mann fertig, 1929 die Reifeprüfung am Realgymnasium in Döbeln abzulegen und anschließend an der Universität Leipzig Rechtswissenschaft zu studieren. Daß es ihm unter solchen Umständen gelang, 1934 die erste juristische Staatsprüfung mit „befriedigend" zu bestehen, kann man nur mit Hochachtung vermerken. Was er leisten konnte, wenn er sich ganz auf das Recht konzentrieren durfte, zeigte Dünnebier 1938, als er nach dreijähriger Referendarszeit die zweite juristische Staatsprüfung mit „gut" bestand. Diese Note öffnete ihm die Tür zum Staatsdienst weit. Zunächst Assessor auf Probe, dann Gerichtsassessor, erst in Falkenstein, dann in Chemnitz, wurde er 1942 zum Rat bei dem westpreußischen Amtsgericht Stuhm ernannt. Im Jahr zuvor hatte er mit einer Dissertation über ein auf seine Tätigkeit in Döbeln zurückgehendes verwaltungsrechtliches Thema promoviert. Daß Dünnebier die Berufung an ein von der sächsischen Heimat so weit entferntes Gericht einer Ernennung zum

2

Eduard Dreher

Staatsanwalt bei einer näher gelegenen Dienststelle vorzog, die man ihm ebenfalls angetragen hatte, beleuchtet seine Einstellung zu den Verhältnissen der damaligen Zeit. Man war schon mitten im Kriege. Aktiv daran teilzunehmen brauchte Dünnebier wegen eines Augenfehlers zunächst nicht. Doch noch 1942 wurde er eingezogen und leistete erst in Holland und später in Frankreich Kriegsdienst, bis er in amerikanische Gefangenschaft geriet. Was nach seiner Entlassung im Sommer 1946 zunächst folgte, ist schon geschildert worden. Dann aber geschah Merkwürdiges. Ein junger Ingenieur in Gröditz schwärmte Dünnebier gegenüber von offenen Stellen bei den Bremer Flugwerken und gab ihm auch eine diesbezügliche Adresse. Dünnebier, der einer sich ihm bietenden Chance, Rechtsanwalt in der russischen Zone zu werden, den Westen vorzog, fuhr nach Bremen. Aber die Flugwerke arbeiteten nicht, nicht einmal die Adresse stimmte. Statt dessen lernte der scheinbar vergeblich Angereiste in seiner Pension deren Hausrechtsanwalt kennen und dieser, mit einem weitläufigen Verwandten Dünnebiers gut bekannt, überdies wie dessen Vater Freimaurer, nahm sich des Ankömmlings an und vermittelte ihm nach rasch durchgeführter Entnazifizierung zwar nicht die Stelle eines Richters, die ihm zu beschaffen er sich bemüht zeigte und die Dünnebier ersehnte, wohl aber eine Anstellung bei der Staatsanwaltschaft, wo man damals Leute brauchte. Von dem bedeutenden Verleger Siegfried Unseld stammt das Wort „Wenn das Leben eines Menschen richtig angelegt ist, so gibt es am Anfang Zufälle. Doch dann ereignet sich irgendwann eine Initialzündung; fortan gibt es keine Zufälle mehr, nur noch Kettenreaktionen." Auf den Lebensgang des Jubilars paßt dieses Wort genau. Die Zufallsgöttin schickte ihm den Gröditzer Ingenieur, der ihm falsche Hoffnungen machte, lockte ihn nach Bremen und führte ihn in die Pension, wo er den vermittelnden Anwalt kennen lernte, der sich dann als deus ex machina erwies. Alles das war Zufall. Aber dann kam mit der Anstellung bei der Staatsanwaltschaft in Bremen die Initialzündung. Von da an konnte der inzwischen Vierzigjährige sein Talent, seinen Elan und seine Zielstrebigkeit entwickeln und beweisen, er, der Sachse in der spröden Hansestadt. Nun kamen die Kettenreaktionen. 1947 Hilfsstaatsanwalt, 1948 Versetzung an die Generalstaatsanwaltschaft, dort 1951 Oberstaatsanwalt und bereits 1956, also nur neun Jahre nach dem Bremer Beginn als Nachfolger Heitzers Generalstaatsanwalt des Stadtstaates, eine steile Karriere, wie sie von den meisten Juristen nur geträumt werden kann. Dabei waltete insofern eine gewisse Ironie des Schicksals, als Dünnebier sich viel mehr zu dem Beruf des Richters als dem des Staatsanwaltes hingezogen fühlte. Noch in den Jahren der Großen Strafrechtskommis-

Hanns Dünnebier zum 75. Geburtstag

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sion, als ihm dort einmal zu einem Geburtstag gratuliert wurde, machte er das in einer launigen Dankesansprache mit einem reizenden sächsischen Witz deutlich. Er wäre lieber Richter als Staatsanwalt geworden. Dennoch meine ich, daß die Schicksalsgöttin das Richtige getan hat, als sie diesen Mann mit dem Kopf und dem Herz eines Richters auf den Platz eines der höchsten Staatsanwälte in der Bundesrepublik dirigierte. Nicht so sehr, weil sich wieder bestätigte, daß Dünnebier wie schon vor Jahren in Gröditz beweisen konnte, daß er auch Aufgaben, die ihm zunächst fremd waren, vorzüglich zu meistern verstand, sondern weil die Staatsanwaltschaft gerade Leute vom Schlage des Jubilars braucht. Gewiß ist es eine gefährliche Verzerrung, wenn der Staatsanwalt in der Öffentlichkeit noch heute, nicht zuletzt als Folge von tendenziösen Darstellungen in der Literatur und in den Massenmedien, den Ruf genießt, der schneidige Ankläger zu sein, der die Verurteilung seines Opfers um jeden Preis erreichen will. Welcher Laie weiß schon, daß Staatsanwälte weit mehr Einstellungsverfügungen treffen als Anklagen erheben und daß sie sich oft mehr mit erfolglosen Anzeigeerstattern herumzuschlagen haben als Beschuldigte zu verfolgen? Auf der anderen Seite kann das aus der Juristenwelt stammende Wort, daß die Staatsanwaltschaft die objektivste Behörde der Welt sei, nur wahr gemacht werden, wenn sie solche Repräsentanten besitzt wie den Jubilar. Sein Stil war es, daß er Verfügungen innerdienstlich durch gemeinschaftliche Besprechungen ersetzte. Vor allem aber sah er bei der Sacharbeit den Beschuldigten nicht als bloßes Prozeßobjekt, sondern, wie er es einmal selbst formulierte, „als Prozeßsubjekt an, nicht als den duldenden Beschuldigten, sondern als den handelnden défendant." Ihm einen fair trial zu sichern, war des Staatsanwalts und Generalstaatsanwalts Dünnebier oberstes Anliegen. Beschleunigung des Verfahrens und Abkürzung der Untersuchungshaft waren ihm vorrangige Ziele. Sein Amt verwaltete er in unermüdlicher Arbeit mit Energie, Gewissenhaftigkeit und einer Umsicht, die schließlich zur Weisheit wurde. Als er am 30.6.1972 in den Ruhestand trat, fand er zum Auftakt seiner Abschiedsrede folgende Worte: „ W e r nahezu zwei Jahrzehnte dasselbe A m t ausübt, erlangt eine .Problemkenntnis', die ihm jeden Vorgang, jede Vorlage, jedes Vorhaben durchsichtig macht. Das hat den Vorteil, daß er die Fragen, die zu lösen, wunde Stellen, die zu heilen, und heiße Eisen, die politische Vernunft mit Bedacht zu behandeln gebietet, leicht erkennt und die möglichen Wege, die sich eröffnen, rasch aufzählen und durch Abwägung den für richtig erachteten auswählen kann. E s hat aber auch Nachteile. Die Problemkenntnis erzeugt einen ,Röntgenblick': Die Vorgänge werden zu durchsichtig und das Schwache, Anfechtbare, Ubergangene fällt zuerst ins Auge; das immer auch vorhandene Gute zu erkennen, bedarf der Willensanstrengung des zweiten Blicks. Auch ist, kennt man die Probleme, ihre Wiederholung der Frische der Arbeit abträglich. Schließlich erregen manche kein rechtes Interesse mehr und die intellektuelle Lust wendet sich neuen Gebieten zu, die dann freilich meist nicht mehr ins Fach einschlagen."

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Eduard Dreher

Das sind Worte eines in langen Jahren der Arbeit und Erfahrung gereiften Mannes, der souverän Abstand zu gewinnen und Selbsterkenntnis wie Selbstkritik zu üben versteht. Zugleich zeigen diese Worte auch, mit welcher Behutsamkeit und welchem Maß an der so wichtigen Fähigkeit zur Abwägung ein idealer Staatsanwalt sein verantwortungsvolles Amt handhabt. Dünnebier verstand es auch meisterhaft, mit eindringlicher Präzision zu diskutieren und selbst Diskussionen mit der nötigen Elastizität zu leiten und zielstrebig zusammenzuhalten. Diese Fähigkeit, gepaart mit einem imponierenden Fachwissen, ließen ihn bald nicht nur zu einem hervorragenden Vertreter Bremens überall dort werden, wo es um die Lösung strafrechtlicher Probleme ging. Auch Gremien aller Art, die sich mit Strafrecht befaßten, bemühten sich um die Mitarbeit des renommierten Generalstaatsanwalts. So war Dünnebier als Vertreter seines Landes Mitglied der Großen Strafrechtskommission seit 1956 bis zur Beendigung der Kommissionsarbeit im Sommer des Jahres 1959. Anschließend vertrat er Bremen in der Länderkommission für die Große Strafrechtsreförm, die vom Herbst 1959 bis 1961 tagte. Der Jubilar war weiter Mitglied des Strafrechtsausschusses des Deutschen Richterbundes und ständiger Gast des Strafrechtsausschusses der Deutschen Rechtsanwaltskammern. Von 1950 an war er Mitglied, ab 1964 auch stellvertretender Präsident des Gemeinsamen Prüfungsamtes der Länder Bremen, Hamburg und Schleswig-Holstein. Von 1960 bis 1974 gehörte er der ständigen Deputation des Deutschen Juristentages an und war 1960 und 1964 stellvertretender Vorsitzender der strafrechtlichen Abteilung des 43. und 45. Juristentages. Auf den Juristentagen der Jahre 1966, 1970 und 1972 führte er selbst den Vorsitz dieser Abteilung, die damals die Themen „Beweisverbot", „Strafvollzugsgesetz" und „Wirtschaftskriminalität" abhandelte. Mit den beiden letzten Problemkreisen war Dünnebier auch weiterhin an herausragenden Positionen befaßt. In der vom Bundesjustizministerium berufenen Kommission zur Vorbereitung des 1976 erlassenen Strafvollzugsgesetzes, die von 1967 bis 1971 tagte, war er stellvertretender Vorsitzender, in der ebenfalls vom Bundesjustizministerium 1972 eingesetzten Sachverständigenkommission zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität führte er selbst bis 1974 den Vorsitz. Er legte ihn allerdings dann nieder, als der damalige Bundesjustizminister ein neues Mitglied in die Kommission berief, ohne vorher mit dem Vorsitzenden Fühlung genommen zu haben. Ein bezeichnendes Beispiel für Dünnebiers aufrechten und männlichen Charakter. Es kann nicht überraschen, daß ein Jurist von so außergewöhnlichen Graden neben seiner vielfältigen Tätigkeit im Amt und in den zahlreichen Gremien noch ein schriftstellerisches Werk schuf, das allein schon Bewunderung abnötigt. Bereits 1930, also Jahre vor seinem Referendar-

Hanns Dünnebier zum 75. Geburtstag

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examen, erschienen Dünnebiers erste Aufsätze, die dann bis zur Dissertation 1941 um Themen kreisten, die mit der Tätigkeit des Verfassers beim Bezirksverband in Döbeln zusammenhingen. Es ging um Verwaltungsrecht und freiwillige Gerichtsbarkeit. Nach der Zäsur durch Krieg und Nachkriegszeit setzte 1950 des Jubilars schriftstellerische Tätigkeit wieder ein, von da an im Zeichen des Strafrechts, mit dem das Schicksal ihn nun verbunden hatte. So entstanden in stetiger fruchtbarer Arbeit bis 1981 an die 70 Aufsätze und mehr als 30 Urteilsanmerkungen, wie das Schriftenverzeichnis im einzelnen ausweist. Während die Anmerkungen zunächst in der Juristenzeitung, später fast ausschließlich in der Juristischen Rundschau erschienen und dort zu einer wesentlichen Bereicherung des strafrechtlichen Teils beitrugen, sind die Aufsätze auf die verschiedensten Zeitschriften, auf Lehrbücher, Festschriften und andere Publikationsorgane verteilt. Zwei Aufsätze sind französisch in der Revue Internationale de Droit Pénal erschienen. Noch nach 1950 befaßte sich Dünnebier auch mit nicht strafrechtlichen Themen. So schrieb er mehrfach zur Frage des erbbiologischen Vaterschaftsnachweises, zuletzt 1957 in Ponsolds Lehrbuch der gerichtlichen Medizin. Doch das Strafrecht beherrscht bei weitem Dünnebiers juristische Publikationen und unter dem Strafrecht ist es wiederum das Prozeßrecht, das deutlich dominiert. Das will nicht heißen, daß der Jubilar nicht auch zum materiellen Recht Wesentliches zu sagen gehabt hätte. So hat er zu Problemen der Reform des Strafgesetzbuches und zur Strafzumessung Wichtiges und auch Kritisches geschrieben. Ein Aufsatz ist hier vor allem zu nennen, der, wie das nur selten geschieht, Rechtsgeschichte gemacht hat. Es ist die 1957 in Goltdammers Archiv erschienene Arbeit über die Verkehrsunfallflucht. Mit Verve vertrat der Verfasser dort die These, daß es bei der Strafbarkeit der Unfallflucht nicht darum gehen könne, dem Staat die Verfolgung von Verkehrsdelikten zu erleichtern, sondern einzig und allein darum, die etwaigen Ersatzansprüche eines Unfallgeschädigten sicherzustellen. Dieser These sind der vorher noch nicht eindeutige Bundesgerichtshof, weiter gegen den damaligen Widerstand des Bundesverkehrsministeriums die Große Strafrechtskommission und schließlich der Gesetzgeber bei der Neufassung des § 142 StGB im Jahre 1975 gefolgt. Hat Dünnebier so mit seinen Publikationen auch das materielle Strafrecht bedeutsam gefördert, so gehörte seine große Liebe doch dem Prozeßrecht. Ich glaube, daß diese Liebe aus dem Beruf des Staatsanwalts gewachsen ist, der dem Strafrecht nicht wie z. B. der Strafrechtslehrer vorwiegend in der Beschäftigung mit dem abstrakten Gesetz und dessen Auslegung begegnet, sondern der es in seiner praktischen Anwendung im Prozeß ständig in seiner Funktion erlebt. Dabei treten auch Bedeutung und Problematik des Verfahrensrechts nicht zuletzt für den

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Eduard Dreher

Beschuldigten plastisch hervor und es zeigen sich die Schwachstellen und Fragwürdigkeiten dieses Rechtskomplexes sehr viel deutlicher als bei einer nur theoretischen Behandlung, der das, was sich im Gerichtssaal farbig, ja manchmal dramatisch abspielt, oft nur trocken erscheint. Der Generalstaatsanwalt Dünnebier konnte Strafprozeßrecht in ständiger Anschauung erleben, prüfen und werten. Und so ist denn sein literarisches Werk vor allem Spiegel und Ergebnis dieser Wertung geworden. Ihren Höhepunkt erreichte die literarische Arbeit des Jubilars am Recht des Strafverfahrens in seiner fünfzehn Jahre umfassenden Beteiligung am Großkommentar von Löwe/Rosenberg. Von 1962 an, von der 21. bis zur 23. Auflage und bis zum Ergänzungsband 1979 dieses traditionsreichen und hoch geachteten Erläuterungswerkes war Dünnebier zunächst Mitautor, seit der 22. Auflage 1971 federführender Autor. Die dabei von ihm selbst behandelten Materien - in der 21. und 22. Auflage: §§ 1-47, 94-132, 137-150 und 276-295; in der 23. Auflage: §§1-32, 112-132, 137-150 - lassen seine besonderen Interessen, zugleich aber auch das Gewicht und die Bedeutung der Arbeit erkennen, die man gerade ihm als Kommentator anvertraute. Es geht um Bereiche, in denen schon am Anfang jedes Strafverfahrens die Weichen für eine erfolgreiche Durchführung gestellt werden, also für das in fairer Weise vor sich gehende Finden der Wahrheit im gerechten Urteil. Da sind zunächst die ersten Abschnitte der Strafprozeßordnung, die neben formalen, aber wichtigen Bestimmungen über Zuständigkeit und Gerichtsstand so intrikate und praktisch bedeutsame Materien wie die Ablehnung von Richtern und die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand enthalten, von weit größerer Bedeutung aber dann die Abschnitte, die sich mit den ersten, für den Ausgang des Verfahrens oft geradezu vorentscheidenden Maßnahmen befassen, mit Beschlagnahme und Durchsuchung, Überwachung des Fernmeldeverkehrs, mit Verhaftung und vorläufiger Festnahme sowie mit den Maßnahmen des § 132. Das sind allergische Punkte des Strafprozesses, Brennpunkte, die von jeher sowohl de lege lata wie de lege ferenda in der Diskussion nicht nur der Fachwelt umkämpft sind und sich zahlreiche Änderungen haben gefallen lassen müssen. In gleicher Weise gilt das für den dritten Bereich, dem Dünnebiers Arbeit in erster Linie galt, dem Recht der Verteidigung, das durch die Vorschriften über die Verteidigerausschließung und die Trennscheibenvorschrift des § 148 Abs. 2 S. 3 eine besonders aktuelle Bedeutung erhalten hat. Darüber hinaus schrieb Dünnebier die Einleitung zum Ergänzungsband 1967 und als Ergänzung zu seiner Kommentierung der Vorschriften über das Verfahren gegen Abwesende in der Festschrift für Heinitz einen Aufsatz, von dem noch die Rede sein wird. Liest man in den Erläuterungen Dünnebiers, ohne nach der Antwort auf eine bestimmte Frage zu suchen, sondern gibt man sich einmal der

Hanns Dünnebier zum 75. Geburtstag

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Lektüre der Kommentierung mehrerer, miteinander zusammenhängender Paragraphen hin, so wird diese Lektüre sehr bald zum Genuß. In einer präzisen Sprache, die durch ihre Knappheit besticht, werden Entstehungsgeschichte und Sinngefüge der Vorschrift aufgezeigt, Beziehungen zu anderen Vorschriften geknüpft, rechtshistorische Rückblicke zur Aufhellung des geltenden Rechts unternommen und dann die Analyse der Vorschrift unter kritischer Durchleuchtung des Wortlauts durchgeführt, stets in Fühlung und Auseinandersetzung mit Rechtsprechung und Schrifttum, die in Fußnoten noch vertieft wird. Man fühlt sich an der Hand eines Führers, der die Materie meisterlich beherrscht und bis in ihre letzten Verzweigungen ebenso vorsichtig wie sicher ausleuchtet. Das anschaulichste Beispiel für Dünnebiers Stil zu kommentieren, liefern seine Erläuterungen zum Recht der Untersuchungshaft in der 23. Auflage. Dabei zeichnen sich zwei generelle Merkmale deutlich ab. Das eine ist des Autors kritische Haltung gegenüber dem Gesetz, seiner Systematik und Technik, sowie seinen „zu komplizierten Regeln", eine Kritik, die sich in zahlreichen scharfsinnigen Äußerungen niederschlägt. Als zweites, wesentlich wichtigeres Merkmal tritt in der Sache selbst Dünnebiers liberale Haltung hervor, die an zahlreichen Stellen die Position des Verhafteten zu stärken sucht. Immer von der Grundlage her, daß der Beschuldigte Prozeßsubjekt und défendant sei und daß die Untersuchungshaft selbstverständlich kein Druckmittel gegenüber dem Beschuldigten und keine Erleichterung für ungestörte Ermittlungen darstellen könne, sondern unter sparsamstem Gebrauch nur dann angeordnet werden dürfe, wenn sie unbedingt erforderlich sei, betont Dünnebier, daß die Haftfrage ungeachtet der dem Beschuldigten zustehenden Rechtsbehelfe jederzeit von Amts wegen zu prüfen sei, und beklagt es als „Nachteil unseres Strafprozesses, daß er zu lange schriftlich und geheim vorbereitet wird." Die Ausgestaltung der Untersuchungshaft, die kein besonderes Gewaltverhältnis schafft, prüft Dünnebier im einzelnen streng an ihren alleinigen Zielen, der Fluchtverhinderung und der Beseitigung von Verdunkelungsgefahr sowie in den Fällen des § 112 a StPO auch der Wiederholungsgefahr. So kommt er in zahlreichen Einzelpunkten zu Ergebnissen, mit denen er sich bewußt in Gegensatz stellt sowohl zu den Vorschlägen der von den Ländern gemeinsam beschlossenen Untersuchungshaftvollzugsordnung als auch zur höchstrichterlichen Rechtsprechung, nicht zuletzt der des Bundesverfassungsgerichts. Das gilt ζ. B. für Fragen wie den Briefverkehr, den Empfang von Paketen und Drucksachen, die Reinigung der Zellen, die Dauer ihrer Beleuchtung, den Tabakkonsum, das Kommenlassen von Beköstigung aus selbstgewählten Gaststätten, die ärztliche Betreuung und ähnliche Einzelheiten, die für sich gesehen keine große Bedeutung zu haben scheinen, aber im Einzelfall und in ihrer Gesamtheit größtes Gewicht für

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den Verhafteten erhalten und das Gesamtklima der Untersuchungshaft entscheidend prägen können. Sehr einschränkend äußert sich Dünnebier zu den Fragen der ärztlichen Zwangsbehandlung und die überaus heikle Frage der Zwangsernährung von Verhafteten, die in einen Hungerstreik getreten sind, behandelt er bei grundsätzlicher Zustimmung zu § 101 des Strafvollzugsgesetzes mit einfühlsamer Abwägung aller Gesichtspunkte. Er will die Sterbebereitschaft eines Häftlings geachtet wissen und schließt Zwangsernährung dann aus, wenn keine Zweifel bestehen, daß der Verhaftete mit voller Einsichts- und Urteilsfähigkeit hinsichtlich der Tragweite seines Verhaltens gehandelt hat. So kommentiert Dünnebier durchweg nach dem Grundsatz in dubio pro libertate, aber er ist andererseits als Praktiker auch Realist genug, um die Erfordernisse eines wirksamen Strafverfahrens nicht aus dem Auge zu verlieren. So kritisiert er, daß § 121 StPO hinsichtlich der dort bestimmten Fristen für die Dauer der Untersuchungshaft auch bei schwersten Verbrechen keine Ausnahme vorsieht. Er unterstreicht das Recht des Staatsanwalts, den Verurteilten nach Rechtskraft des Urteils im Gerichtssaal zu verhaften. Er verteidigt die Zulässigkeit der Sicherungshaft nach § 112 a StPO, die er nur systematisch anders behandelt sehen möchte. Er vertritt die Meinung, daß die Neigung des Beschuldigten zur Flucht aus Furcht vor hoher Strafe eine Tatsache im Sinne von § 112 Abs. 2 StPO sei und daß das Gesetz dem Richter kein freies Ermessen einräume, wenn es am Anfang des § 112 heißt: „Die Untersuchungshaft darf gegen den Beschuldigten angeordnet werden,..." Die Liberalität des Jubilars ist keine blinde. In diesem Stil der Freiheit, die ihre Grenzen an der sinnvollen Durchführung des Strafverfahrens findet, sind auch seine übrigen Erläuterungen, besonders seine Kommentierung des Rechts der Verteidigung gehalten. Fragt man sich nun, was diesen Mann, der eine so glänzende Karriere machte, dessen Stimme in den verschiedensten Spitzengremien hoch geachtet wurde und der außer einem gewiß nicht geringen Arbeitspensum im Dienst noch ein so umfangreiches und beeindruckendes literarisches Œuvre schuf, zu solchen Erfolgen befähigte, so habe ich schon angedeutet, wo ich die entscheidenden Quellen sehe. Ich meine, daß sie, abgesehen von einem immensen Fleiß, ohne den es in dieser Welt keine soliden Erfolge gibt, in einer seltenen Verbindung von klugem Kopf und leidenschaftlichem Herzen zu finden sind. Der Jubilar besitzt in außergewöhnlichem Maße Neigung und Fähigkeit zu begrifflichem Denken, wie der Jurist sie braucht. Ihn zeichnet eine pragmatische, nüchterne Klarheit aus, wie sie auch sein Landsmann Gotthold Ephraim Lessing besaß, eine klare Denkarbeit, die den Realitäten unbeirrt auf den Grund geht. Es ist kein Zufall, daß nicht wenige Arbeiten aus der Feder Dünnebiers um exakte Analyse juristischer Begriffe bemüht sind. Das

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beginnt mit seinen frühesten Publikationen, die sich mit der Rechtsgültigkeit bestimmter Vorschriften und, wie vor allem seine Dissertation, mit der Behördeneigenschaft gewisser Verwaltungsorgane befassen, und reicht bis in die jüngste Zeit. In einer Anmerkung zu einer Entscheidung des Bundesgerichtshofes aus dem Jahre 1981 hat Dünnebier den Begriff der sachlichen Zuständigkeit, der ihm bisher nur unzureichend erörtert schien, in scharfsinnigen Ausführungen analysiert. Ebenso hat es ihm Freude gemacht, in seinem Beitrag zur Festschrift für Karl Schäfer 1980 herauszuarbeiten, daß die Ausdehnung des Verfahrensbegriffs bis zum Ende der Strafvollstreckung, wie sie durch den 1974 in die StPO eingefügten § 138 c bewirkt worden ist, an anderen Stellen zu Friktionen führt, die der Gesetzgeber nicht gesehen hat. Zu diesem unbestechlich nüchternem Denken, das den Jubilar auszeichnet, tritt eine Leidenschaft des Herzens, mit der die gewonnenen Erkenntnisse und ihre Konsequenzen vorgetragen und verfochten werden. Als das Problem der Todesstrafe 1959 in der Großen Strafrechtskommission erörtert wurde, waren in Dünnebiers Stellungnahme folgende Sätze zu lesen: „Jede Tat ist auch auf Anlage und - bewußte und unbewußte - Umweltserlebnisse zurückzuführen und kann dem Täter niemals allein als freie Willensentscheidung vorgeworfen werden. . . . Wer die Todesstrafe verhängt, maßt sich damit nicht nur an, das Unbeweisbare zu wissen, daß es Täter gäbe, die frei vom Schicksal nur aus Schuld handelten, sondern auch diese Schuld - und wegen der Irreparabilität der Todesstrafe mit absoluter Sicherheit - zu erkennen. Solche Hybris der Unfehlbarkeit gegen die Demut einzutauschen, die aus dem Bewußtsein menschlicher Unzulänglichkeit entspringt, sollte der Staat den Richter nicht zwingen."

Diese zwei Sätze zeigen allein schon, wie für Dünnebier Erkenntnis zum Bekenntnis wurde, einem Bekenntnis zum Humanum, das als Devise über seinem gesamten Wirken steht. Neben dem Bemühen um begriffliche Klarheit ist es der Kampf für das Humanum, den der Jubilar mit Leidenschaft geführt hat, nicht nur in der Großen Strafrechtskommission, sondern auch in der Länderkommission für die Strafrechtsreform und auf allen sonstigen Feldern. Aber es war stets eine, vielleicht durch das „Bewußtsein menschlicher Unzulänglichkeit" zurückgehaltene und nicht nach außen lodernde, sondern nüchterne Leidenschaft, um es mit diesem scheinbar paradoxen Ausdruck zu bezeichnen. Sie ist es, die Dünnebiers Dienst am Recht bestimmte und die seine Diskussionen und Publikationen durchzog und trug. Es ist charakteristisch für den Jubilar, daß ihm, wie er mir einmal schrieb, unter seinen bisherigen Aufsätzen derjenige über die Abschaffung des Kontumazialverfahrens in der Festschrift für Heinitz der liebste sei, charakteristisch deshalb, weil diese Arbeit die beiden Elemente, auf die ich hinwies, deutlich verbindet. Da ist auf der einen Seite die begriffliche Technik, mit der der Autor in einer überlegen ironischen Art die verschiedenen juristischen Fehler

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des Gesetzgebers bloßlegt, und auf der anderen Seite der Kampf um die Gerechtigkeit, die im echten Abwesenheitsverfahren deshalb verfehlt wird, weil dem Angeklagten das Grundrecht des rechtlichen Gehörs vorenthalten wird. Aber noch ein drittes Element darf nicht unerwähnt bleiben. Ich bin immer der Meinung gewesen, daß zur ersten Klasse der Juristen keiner gehören kann, der nur Paragraphen kennt. Der bedeutende Jurist muß ins volle Menschenleben hineingreifen und dort, wo er es faßt, muß es ihm interessant sein. Der Jubilar hat das für sich selbst bewiesen. Doch ich möchte noch weiter gehen. Im Umgang mit dem Recht, der auch ein intensiver Umgang mit der Sprache und deren Gestaltung ist, schwingt auch ein künstlerisches Moment mit. Es gibt Künstler und Handwerker des Rechts. Ich glaube, daß ein positives Verhältnis zur Kunst dem Juristen wohl ansteht. Es hat nicht wenige prominente Dichterjuristen gegeben. Sehr viel größer ist die Zahl derer, die sich, ohne selbst kreativ zu werden, zur Kunst hingezogen fühlen und ihr in ihrem Leben einen wichtigen Platz einräumen. Zu ihnen gehört auch der Jubilar. Als er sich als junger Jurist dem Oberlandesgerichtspräsidenten in Dresden vorstellen mußte, fragte ihn der nach seinen Lieblingsbeschäftigungen. Dünnebier antwortete, er besitze eine größere Lyriksammlung. Der Chefpräsident erstaunte stumm. Er hätte sich freuen sollen. Dieser frühen Liebe zur Dichtung und bedeutenden Literatur ist der Jubilar zeitlebens treu geblieben. In vorgerückten Jahren wendet sich „die intellektuelle Lust neuen Gebieten zu". Dünnebier baute nach und nach mit viel Liebe und großem Sachverstand eine umfangreiche und qualitativ bedeutende Sammlung moderner Druckgraphik auf. Er ließ es aber nicht beim bloßen Sammeln bewenden. Gemeinsam mit seinem Freund Karl Bachler, einem bekannten Bremer Publizisten und Kunstfreund, verfaßte er das 1973 bei Bruckmann in München erschienene „Handbuch der modernen Druckgraphik", ein umfangreiches, alle Aspekte des Themas gründlich umspannendes Werk. Auch hier bestätigte sich Dünnebiers schon hervorgehobene Lust an begrifflicher Klärung. In einer ausführlichen Darstellung unterzog er den aus dem französischen Estampe Originale herkommenden intrikaten, aber praktisch ungemein wichtigen Begriff des Originals in der Druckgraphik, der ein Widerspruch in sich selbst zu sein scheint, einer mit juristischer Akribie durchgeführten Analyse. Damit rundet sich das Lebensbild eines Mannes, dem noch das Glück zuteil wurde, eine liebenswürdige Gattin neben sich zu haben und hochbegabte Kinder und Schwiegerkinder zu besitzen. Hanns Dünnebier wird in die Rechtsgeschichte eingehen als bedeutender Jurist, der für ein menschliches Recht lebte und kämpfte. Mögen ihm noch viele und gute Jahre vergönnt sein.

Einige Bemerkungen zu dem Satz „nemo tenetur se ipsum accusare" KARL SCHÄFER

I. Zur Begrenzung des Themas1 1. der Satz „nemo tenetur..." im allgemeinen Unser Strafprozeß ist beherrscht von dem „ehernen" Grundsatz 2 des Schweigerechts des Beschuldigten zur Beschuldigung, inhalts dessen er zur Uberführung seiner selbst nicht mitzuwirken braucht (§§ 136,136 a, 163 a, 243 Abs. 4 StPO). Auch im Art. 14 Abs. 3 Buchstabe g des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte vom 19.12.1966 3 ist dies Recht ausdrücklich gewährleistet. Der Beschuldigte (Angeklagte) ist über sein Schweigerecht zu belehren. Jeder Aussagezwang - was darunter zu verstehen ist, umschreibt § 136 a - ist verboten, und eine erzwungene Aussage darf selbst bei Einverständnis des Beschuldigten nicht verwertet werden. Entsprechende Vorschriften gelten auch nach anderen Verfahrensordnungen, die die Anwendung einer Sanktion gegen 1 Eine Zusammenstellung des kaum noch übersehbaren Schrifttums zu dem allgemeinen Thema „Beweisverbote" ist hier naturgemäß auch insoweit nicht beabsichtigt, als es sich innerhalb des größeren Zusammenhangs mehr oder weniger auch mit der Bedeutung des „nemo t e n e t u r . . . " befaßt. Als primär auf dieses Spezialthema gerichtet sind hier ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit - etwa zu nennen: Eier, Der Schutz vor Selbstbezichtigungen im deutschen Strafprozeßrecht, Deutsche strafrechtliche Landesreferate zum IX. Internationalen Kongreß für Rechtsvergleichung, Beiheft zur ZStW Bd. 86 [1974] S. 136; Rogali, ZRP 1975, S.278; Rogali, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst; ein Beitrag zur Geltung des Satzes: „Nemo tenetur se ipsum prodere" im Strafprozeß, 1976 (dazu Besprechung Dahs, GA 1978, S. 89); Reiß, Zwang zur Selbstbelastung nach der neuen Abgabenordnung, N J W 1977, S. 1436; Günther, Die Schweigebefugnis des Tatverdächtigen im Straf- und Bußgeldverfahren aus verfassungsrechtlicher Sicht, GA 1978, S. 193; Fischer, Divergierende Selbstbelastungspflichten nach geltendem Recht 1979 (dazu Besprechung Rieß, G A 1981, S. 46); Göll, Steuergeheimnis und abgabenrechtliche Offenbarungsbefugnis, N J W 1979, S.94; Seebode, Uber die Freiheit, die eigne Strafverfolgung zu unterstützen, JA 1980, S. 493; Riiping, Beweisverbote als Schranke der Aufklärung im Steuerrecht, 1981 (dazu Besprechung DRiZ 1981, S.276); Stiimer, Strafrechtliche Selbstbelastung und verfahrensförmige Wahrheitsermittlung, N J W 1981, S. 1757; Müller-Dietz, Die Stellung des Beschuldigten im Strafprozeß, ZStW Bd. 93 (1981); S. 1177ff., insbes. S. 1211; Gärtner, (betr. Steuerrecht): Sie können sich alles fragen lassen, aber antworten brauchen Sie nicht unbedingt, Kassenarzt 1981, S.4380; Volk, Strafrecht und Wirtschaftskriminalität, JZ 1982, S.85. 2

Volk, JZ 1982, 91. Zustimmungsgesetz vom 15.11.1973, BGBl. II S. 1533. Die Vorschrift lautet: „(3) Jeder wegen einer strafbaren Handlung Angeklagte hat . . . im Verfahren Anspruch auf folgende Mindestgarantien . . . (g) er darf nicht gezwungen werden, gegen sich selbst als Zeuge auszusagen oder sich schuldig zu bekennen." 5

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gesetzwidriges Verhalten zum Gegenstand haben, und die generell die Vorschriften der Strafprozeßordnung für anwendbar erklären (so § 46 OWiG für das Bußgeldverfahren) oder zusätzlich noch das Schweigerecht zum Ausdruck bringen (so für das Disziplinarverfahren §§ 25, 26 Abs. 2 BDO). Dieses Schweigerecht, in der Rechtsprechung bezeichnet als „selbstverständlicher Ausdruck einer rechtsstaatlichen Grundhaltung, die auf dem Leitgedanken der Achtung vor der Menschenwürde beruht"4, wirft eine Reihe von Einzelfragen auf, wie etwa, inwieweit im Vorverfahren der nur „Verdächtige", aber noch nicht „Beschuldigte" schweigeberechtigte Auskunftsperson ist5 oder ob die Wirkung einer unterbliebenen Belehrung über das Schweigerecht unterschiedlich ist, je nachdem, ob die Unterlassung in der Hauptverhandlung oder im Vorverfahren geschah6, oder ob das Schweigerecht auch die Angaben zur Person umfaßt, oder welche Bedeutung für das Schweigerecht dem „Rollenaustausch" durch Verfahrensabtrennung zukommt. Solche Fragen sind nicht Gegenstand dieses Beitrags. 2. Gegenstand der Erörterungen Erörtert werden soll vielmehr - allgemein gesprochen - nur die Frage, wie es mit dem „nemo tenetur..." in der großen Zahl von Fällen steht, in denen nach gesetzlicher Vorschrift außerhalb eines Strafverfahrens jemandem die mit Rechtszwang durchsetzbare Verpflichtung zur Mitteilung, Anzeige, Aufklärung, Aufzeichnung oder Vorlegung von Gegenständen auferlegt wird und keine Ausnahme für Umstände vorgesehen ist, die auf eine Straftat hindeuten. Wenn hier keine besondere Vorkehrung besteht - etwa in Form eines Verbots, daß die Behörde oder Stelle, die auf diese Weise von einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit Kenntnis erlangt hat, das Material der Strafverfolgungs- oder Bußgeldbehörde zuleitet - , so könnte in einem künftigen Straf- oder Bußgeldverfahren das Schweigerecht seine Bedeutung verlieren. Denn gewiß würde dem Betroffenen in diesem Verfahren sein strafprozessuales Schweigerecht zustehen. Aber das schlösse nicht auch zwangsläufig aus, daß das, was er vorprozessual an anderer Stelle offenbaren müßte, als Beweismittel gegen ihn verwendet würde. Und schon erhebt sich die Frage, ob der Satz „nemo tenetur...", auch wenn er eine solche vorprozessuale Selbstbezichtigung nicht ausschließt, doch jedenfalls ihrer Weitergabe an die Verfolgungsbehörde oder mindestens ihrer Verwertung im Sanktionsverfahren entgegensteht.

BVerfGE 38, 105, 113; 56, 37, 43; BGHSt. 14, 358, 364. Dazu etwa die Nachweise bei Müller-Dietz, ZStW Bd. 93 (1981) S. 1193, Fn.63, S. 1217ff., 1233; Bringewat, JZ 1981, 289 m. Bespr. Strafverteidiger 1981, 373. ' Dazu etwa BGHSt. 25, 325, 331; L G Münster, Strafverteidiger 1981, S.613. 4

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3. Weitere Eingrenzung des Themas Mit einem Ausschnitt aus diesem sehr umstrittenen Problembereich, nämlich der Frage, ob die nach §§ 100, 101 KO erzwingbare Pflicht des Gemeinschuldners im Konkursverfahren zur Auskunft über alle das Verfahren betreffenden Verhältnisse sich auch auf solche Angaben erstreckt, durch die er eigene strafbare Handlungen offenbaren müßte, und - bejahendenfalls - welche Auswirkungen in einem künftigen Strafverfahren sich hinsichtlich der Verwertbarkeit der unter Zwang offenbarten strafrechtlichen Handlungen ergeben, hat sich neuestens das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 56, 37)7 befaßt (s. dazu unten IV). Stürner* hat es unternommen, in umfassender Weise die Auswirkungen dieser Entscheidung auf die verschiedenen Verfahrensarten (Strafprozeß, Zivilprozeß einschließlich Auskunftsverfahren, Verwaltungsprozesse und Verwaltungsverfahren) zu behandeln. Die vorliegenden Ausführungen sollen sich dagegen nur mit der Prüfung befassen, welche Auswirkungen sich aus BVerfGE 56, 37 für die unter II behandelten drei Fallgestaltungen und für das unter III erörterte Problem der Auslegung des § 30 Abs. 4 Nr. 5 und Abs. 5 AO 1977 ergeben. II. Ältere Rechtsprechung In länger zurückliegenden Zeiten hat das Problem der „Fernwirkung" des Satzes „nemo tenetur..." (oben I 2) den Gerichten verhältnismäßig wenig Kopfzerbrechen bereitet. Das zeigen die nachstehend dargestellten drei als charakteristisch ausgewählten Entscheidungen, die in den Jahren 1962 bis 1964 ergangen sind, also zu einer Zeit, als der Satz: „Nemo tenetur..." längst eine manifeste gesetzgeberische Niederlegung (in der Neufassung der StPO durch das Rechtsvereinheitlichungsgesetz vom 20.9.1950, BGBl. S.455) gefunden hatte. 1. BayObLGSt. 1964, 50 Nach §21 Abs. 2 Satz 4 BJG (jetzt i.d.F. vom 29.6.1976) sind die Länder verpflichtet, Bestimmungen zu treffen, nach denen die Erfüllung des Abschußplans durch ein Abschußmeldeverfahren überwacht wird; sie können den körperlichen Nachweis der Erfüllung des Abschußplans verlangen. Die in Durchführung dieser Vorschrift ergangenen Landesjagdgesetze sehen z. T. - neben anderen Uberwachungsmaßnahmen wie Führung von Abschußlisten und Einreichung schriftlicher Abschußmeldungen - die Beschickung von Pflichttrophäenschauen vor, auf denen die von den Jagdausübungsberechtigten eines größeren Bereichs während eines größeren Zeitraums erbeuteten Trophäen (= Kopfschmuck) 7 !

Auch N J W 1981, 1431. N J W 1981, 1757.

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des Schalen wilds öffentlich ausgestellt werden; die Nichtbeschickung ist als Ordnungswidrigkeit mit Geldbuße bedroht. Bei pflichtgemäßer Beschickung kann dem Besucherkreis offenbar werden, daß ein Jagdausübungsberechtigter den Abschußplan nicht, nicht richtig oder nicht vollständig erfüllt hat, und es kann ihm daraus die Gefahr eines Strafoder Bußgeldverfahrens erwachsen. BayObLGSt. 1964, 50 hatte über die Rechtsbeschwerde eines wegen Nichtbeschickung mit Geldbuße Belegten zu entscheiden, der sich u. a. (sinngemäß) auf den Satz „nemo tenetur..." berief. Dieses Vorbringen wurde dahin beschieden, die Beschickungspflicht entfalle nicht deshalb, weil Fälle denkbar seien, in denen der Pflichtige ein sanktionsbedrohtes Verhalten offenbaren müßte. „Denn es gibt keinen allgemeinen Rechtssatz des Inhalts, daß Anzeigen, Meldungen, Nachweie und ähnliche Handlungen den allgemeinen Vorschriften zuwider unterlassen werden dürften, wenn dadurch ein vorangegangenes strafbares oder mit Buße bedrohtes Verhalten geoffenbart oder doch die Entdeckung gefördert würde".

2. BayObLGSt. 1962, 163 Die Begründung von BayObLGSt. 1964, 50 besteht nur in einer Verweisung auf BayObLGSt. 1962, 163. Dort ist ausgesprochen, daß der gleichzeitig mit dem Beginn eines stehenden Gewerbes entstehenden Pflicht zur Anzeige davon an die zuständige Behörde (§ 14 GewO) auch unterliegt, wer offenbart, daß er den Betrieb eines Handwerks begonnen hat, ohne in der Handwerksrolle eingetragen zu sein, d. h. er begeht mit der Verletzung der Anzeigepflicht des § 14 GewO eine Ordnungswidrigkeit nach § 146 Abs. 2 Nr. 1 GewO auch dann, wenn er durch die Erfüllung der Anzeigepflicht sich selbst bezichtigen muß, daß er mit dem Betrieb eines Handwerks begonnen hat, ohne in der Handwerksrolle eingetragen zu sein9. Allerdings sei gegen diese (auch von anderer Seite geteilte) Auffassung des Senats „in der Rechtsprechung gelegentlich ( O L G Celle GA 5 2 , 4 3 3 ; O L G München Reger 57, 39) eine gegenteilige Meinung vertreten worden, u.a. mit der Begründung, daß nach einem allgemeinen - vom R G (RGSt. 37, 74; 45, 97, 102; GA 53, 76) zu Steuergesetzen ausgesprochenen - Grundsatz niemand verpflichtet sei, einer Behörde die von ihm begangene . . . strafbare Handlung anzuzeigen . . . Auf die hier einschlägigen Fälle der GewO und der sonst in Betracht kommenden Gesetze kann er nicht angewandt werden. Daß eine an sich bestehende Pflicht zur Anzeige schlechthin entfalle, wenn mit der Anzeige eine strafbare Handlung offenbart werden muß, ist schon vom R G nicht anerkannt worden (vgl. insbes. für eine Anzeigepflicht nach dem Devisenrecht RGSt. 68, 286; ebenso DDevR 1953, 13; 1956, 110)". Auch könne es demjenigen, der schuldhaft ein Handwerk ohne Eintragung in die Handwerksrolle beginne, „nicht zugute kommen, wenn er sich dadurch in eine gewisse Notwendigkeit versetzt, sich der grundsätzlich allen Gewerbetreibenden auferlegten Pflichten zur Anzeige (nach § 14 GewO) zu entziehen...". 9 Ordnungswidrigkeit nach § § 1 , 117 Abs. 1 Nr. 1 HandwerksO, jetzt i. d. F. v. 2 8 . 1 2 . 1 9 6 5 , BGBl. I 1966, 1, mit spät. Änderungen.

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3. BGH2 41, 318 Die Frage nach der Auswirkung eines Selbstbelastungszwanges der sich aus zivilrechtlichen und zivilprozessualen Vorschriften ergibt, behandelt die Grundsatzentscheidung BGHZ 41, 318 = NJW 1964, 1460: Ein Bauherr (Kläger) hatte einem Architekten (Bekl.) die Planung und Leitung seines Neubaues einschließlich der Vergabe der Arbeiten und Anfertigung der Schlußabrechnung übertragen. Als sich herausstellte, daß bestimmte Bauhandwerker entsprechend einer Vereinbarung mit dem Bekl. über ihren kalkulierten Fertigungspreis hinaus Zuschläge berechnet hatten, die sie nach Begleichung ihrer Rechnung durch den Kläger an den Bekl. abführten, nahm der Kläger an, daß der Bekl. auch mit anderen Bauhandwerkern entsprechende Vereinbarungen getroffen habe und verklagte den Bekl. auf Leistung des Offenbarungseids (jetzt: Versicherung an Eides Statt zu Protokoll) gemäß §§ 242, 260, 666 BGB, § 889 ZPO. Ein vom Bekl. geltend gemachtes Weigerungsrecht, weil er sich durch die Auskunfterteilung und eidesstattliche Bekräftigung möglicherweise einer strafbaren Handlung (Betrug, Untreue) bezichtigen müsse und ihm dies nicht zuzumuten sei, wurde vom Bundesgerichtshof - entgegen z. T. im Schrifttum zu § 807 ZPO vertretenen Ansicht verneint. Eine entsprechende Anwendung des § 384 Nr. 2 ZPO (Weigerungsrecht des Zeugen bei Fragen, deren Beantwortung ihm die Gefahr der Verfolgung wegen einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit zuziehen würde) scheide aus. Denn sie würde voraussetzen, daß die §§ 666, 259, 260 BGB insoweit eine Lücke enthielten. Dies sei aber nicht der Fall, wie sich aus einem Blick auf die Interessenlage des Gläubigers ergebe. Das Auskunftsrecht des Auftraggebers gemäß § 666 BGB sei gerade dann besonders wichtig, wenn der Beauftragte gegen die ihm obliegenden Pflichten verstoßen habe. Erfahrungsgemäß handele es sich in einer nicht unbeträchtlichen Zahl dieser Fälle um solche, in denen eine strafbare Handlung des Beauftragten nach §§ 263, 266 StGB in Betracht komme. Würde man sie von der Auskunftspflicht ausschließen, so könnte § 666 BGB gerade bei besonders schweren Verstößen die ihm vom Gesetz zugewiesene Aufgabe weitgehend nicht mehr erfüllen. „Das kann nicht als gewollt unterstellt werden". Diese Erwägungen träfen in gleicher Weise auf die eidesstattliche Versicherung des § 260 Abs. 2 BGB zu, die ja nur bei Besorgnis von Pflichtverletzungen abzugeben sei; ohne eine solche Erhärtung der Auskunft wäre das Auskunftsrecht des Gläubigers entwertet. Handle es sich dabei, wie nicht selten, um vorsätzliche Verstöße, die die Möglichkeit einer strafbaren Handlung wie Unterschlagung, Betrug, Untreue oder Vollstreckungsvereitelung nahelegten, so würde bei Annahme eines Weigerungsrechts dem Gläubiger die letzte Möglichkeit genommen, zu seinem Gelde zu kommen. Davon abgese-

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hen - so wird in anderem Zusammenhang (BGHZ 41, 326) ausgeführt zeige die Entstehungsgeschichte des § 807 ZPO, daß nach dem Willen des Gesetzes der Schuldner unabhängig davon Auskunft geben und sie eidesstattlich versichern müsse, ob er sich damit einer Straftat bezichtige. Bei Schaffung dieser Vorschrift sei man zwar ausweislich des Entw. 1871 S. 458 davon ausgegangen, daß der Schuldner nicht gezwungen werden solle, „fraudulöse Veräußerungen" und damit möglicherweise strafbare Handlungen zu bekennen; diesen Gedanken erkenne aber das Gesetz seit der Neufassung des § 807 vom 20.8.1953 (BGBl. I 952) nicht mehr an, wie denn auch BGH NJW 1953, 390 und BGHSt. 19,126 = NJW 1964, 60 ausdrücklich darauf hingewiesen hätten, daß die Gefahr strafgerichtlicher Verfolgung den Schuldner nicht von der Verpflichtung zu eidesstattlicher Versicherung befreie. Es gebe aber auch - entgegen einer im Schrifttum zu § 807 ZPO vertretenen Meinung - keinen übergeordneten Satz, der es verbiete, von einem Schuldner Auskünfte oder deren Bekräftigung (durch eidesstattliche Versicherung) zu fordern, wenn er sich dadurch einer strafbaren Handlung bezichtigen müßte. Die Gegenmeinung folgere das Weigerungsrecht zur Vermeidung der Selbstbelastung aus Art. 1 und 2 GG, aus dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit sowie aus anderen Vorschriften - Schweigerecht des Beschuldigten im Strafverfahren, der Zeugen im Straf- und Zivilprozeß. Aber was für den Zeugen gelte, könne nicht auch für die Partei des Zivilprozesses in Anspruch genommen werden. Denn der Zeuge erfülle eine öffentlichrechtliche Pflicht, wobei es nur recht und billig sei, wenn das Gesetz Grenzen seiner Aussagepflicht festlegt, während die Partei des Zivilprozesses „durch ihr eignes Verhalten und oftmals auch durch ihr Verschulden in die Lage gerät, aus der sich die Konfliktstellung ergibt; sie kann deswegen nicht dieselbe Rücksicht verlangen wie der Zeuge". Es entfalle auch eine Parallelisierung der Stellung des Beschuldigten im Strafverfahren und der Partei im Zivilprozeß: aus dem Schweigerecht des Beschuldigten „kann nicht, wie das vielfach geschieht, auf einen allgemein geltenden Grundsatz geschlossen werden, wonach sich niemand einer strafbaren Handlung zu bezichtigen brauche", denn „das Gesetz hat im Straf- wie im Zivilprozeß verschiedene Anordnungen getroffen, nach denen ein Beteiligter gehalten ist, eigene Straftaten zu offenbaren". Sogar in strafrechtlichen Vorschriften werde mitunter ein Verhalten verlangt, das für den einer Straftat Schuldigen vielfach oder in manchen Fällen einer Selbstbezichtigung gleich komme; hingewiesen wird u.a. auf den (inzwischen 1975 neugefaßten) § 142 StGB - Unerlaubte Entfernung vom Unfallort10 sowie auf § 323 c

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Und dazu auf BVerfG N J W 1963, 1195.

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StGB - Unterlassene Hilfeleistung". Schließlich lasse sich aus Art. 1, 2 und 20 G G kein allgemeingiiltiger Rechtssatz des Inhalts entnehmen, daß unter keinen Umständen jemand gezwungen werden dürfe, sich selbst einer strafbaren Handlung zu bezichtigen12. Generell spricht B G H Z 41, 327 aus: „Wer ein fremdes Rechtsgut verletzt, hat grundsätzlich dafür einzustehen und für die Wiedergutmachung zu sorgen. Ist dies nicht anders möglich als dadurch, daß der Schädiger dabei seine eigne strafbare Handlung bekennt, so hat er dies auf sich zu nehmen, soweit ihn das Gesetz nicht ausdrücklich davon freistellt. Jedenfalls steht es nicht mit dem Gedanken der Rechtsstaatlichkeit in Widerspruch, wenn in einem solchen Fall die Belange des Geschädigten höher bewertet werden als die des Schädigers. Ebensowenig enthält es einen Verstoß gegen die Menschenwürde, wenn der Schuldner die Folgen seines Versagens zu tragen hat, auch wenn sie schwerwiegend sein mögen".

4.

Zusammenfassung Zusammenfassend ist - ohne damit hier den weiteren Erörterungen bezgl. der Auswirkungen von BVerfGE 56, 37 (unten zu IV) vorgreifen zu wollen - das den dargestellten Entscheidungen Gemeinsame dahin zu kennzeichnen, daß sie eine „Fernwirkung" des Satzes „nemo tenetur..." über seinen strafprozessualen Anwendungsbereich hinaus verneinen und einen Ausschluß oder eine Beschränkung der Selbstbezichtigungspflicht nur dort annehmen, wo entsprechende Spezialvorschriften bestehen. Unerörtert bleibt (wenn man sie nicht implicite in der Erwägung von B G H Z 41, 327 finden will, es enthalte keinen Verstoß gegen die Menschenwürde, wenn der Schuldner auch schwerwiegende Folgen seines Versagens zu tragen habe) die ganz andere Frage, ob einem mit Selbstbezichtigung verbundenen Verhaltenszwang ein „übergeordneter Satz" korrespondiert, der der Stelle, vor der die Selbstbezichtigung erfolgte, die Weiterleitung der Unterlagen an die Strafverfolgungsbehörden ganz oder teilweise verbietet oder der für die Strafverfolgungsbehörden, wenn sie von der erzwungenen Selbstbezichtigung Kenntnis erlangen, Beschränkungen der Beweisverwertung enthält. Soweit in den vorerörterten Entscheidungen lediglich die Frage eines Zwangs zur uneingeschränkten Auskunft usw. bejaht wird, auch dann wenn damit ein Zwang zur Selbstbezichtigung ausgeübt wird, werden sie auch jetzt noch als der heutigen Rechtslage entsprechend gewertet13. 11

Und dazu auf BGHSt. 11, 353. Verweisung wiederum auf BVerfG NJW 1963, 1195. 15 Vgl. dazu bzgl. BayObLGSt. 1964, 50; Mitzschke/Schäfer, Komm, zum BJG, 4. Aufl. (1982) Rdn. 30 zu §21 BJG; bzgl. BayObLG 1962, 163 die Kommentare zur GewO von Sieg/Leifermann, 4. Aufl. (1978) Anm.6 und Fröhler/Kormann (1978) Rdn. 16, je zu § 14 GewO; bzgl. BGHZ 41, 318 die ZPO-Kommentare Stein/Jonas, 20. Aufl. Rdn. 34 Fn.95; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, 39. Aufl. Anm.3 I A; Zöller, 13. Aufl., 1981, Anm.III 1 c, je zu § 807; grundsätzlich auch LG Koblenz, MDR 12

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III. Konfliktslage im Steuerrecht 1. Allgemeines Die vorstehend unter II 2 zitierte Entscheidung BayObLGSt. 1962, 164 hatte von einem vom RG in älteren Entscheidungen zu Steuergesetzen entwickelten Grundsatz gesprochen, wonach niemand verpflichtet sei, einer Behörde die von ihm begangene strafbare Handlung anzuzeigen. Das lenkt, ohne daß hier eine Veranlassung bestünde, diesen älteren RG-Entscheidungen weiter nachzugehen, zu der Frage über, inwieweit das heute geltende Steuerrecht Stellung zu dem allgemeinen Problem genommen hat, welche Bedeutung - für die Steuerbehörden oder die Strafverfolgungsorgane - dem Satz „nemo tenetur..." zukommt, wenn jemandem steuerrechtlich eine erzwingbare Verpflichtung zur Mitwirkung durch Auskünfte usw. auferlegt wird, die dazu führen kann, auch Handlungsweisen zu offenbaren, die eine strafbare Handlung darstellen. Der durch Art. 19 Nr. 201 EGStGB vom 2.3.1974 in das StGB eingefügte § 355 - Verletzung des Steuergeheimnisses - bedroht (Antragsdelikt) denjenigen mit Vergehensstrafe, der unbefugt (1) Verhältnisse eines anderen, die ihm als Amtsträger oder als eine einem Amtsträger gleichstehende Person a) in einem Verwaltungsverfahren oder einem gerichtlichen Verfahren in Steuersachen, b) in einem Strafverfahren wegen einer Steuerstraftat oder in einem Bußgeldverfahren wegen einer Steuerordnungswidrigkeit, c) aus anderem Anlaß durch Mitteilung einer Finanzbehörde oder durch die gesetzlich vorgeschriebene Vorlage eines Steuerbescheides oder einer Bescheinigung über die bei der Besteuerung getroffenen Feststellungen bekannt geworden sind oder (2) ein fremdes Betriebs- oder Geschäftsgeheimnis, das ihm als Amtsträger oder als einem Amtsträger gleichstehender Person in einem der vorgenannten Verfahren bekannt geworden ist, offenbart oder verwertet. 2. Konkretisierung des § 355 StGB durch § 30 AO Damit war ein offener Straftatbestand („unbefugt") geschaffen, der der Konkretisierung bedurfte. Sie sollte durch nähere Vorschriften in der neu zu textierenden Abgabenordnung (AO) erfolgen. Dem war die Befassung des 46. Deutschen Juristentags (DJT) 1966 mit dem Problembereich „Beweisverbote im Strafprozeß" vorausgegangen. Die Auswirkung war bekanntlich eine alsbald einsetzende und bis zum heutigen Tag anhaltende Sensibilisierung von Gesetzgebung, Rechtsprechung und 1976, 587, wonach dem Schuldner, der ein falsches Vermögensverzeichnis vorgelegt hat, dessen Berichtigung auch dann abverlangt werden kann, wenn er sich damit einer Straftat bezichtigen m u ß ; eine Ausnahme sei nur in der „besonders zugespitzten Notstandssituation" zu machen, daß gegen den Schuldner bereits ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren anhängig sei, in dem er sich auf sein Schweigerecht berufen habe; dann dürfe er nicht über das Vermögensoffenbarungsverfahren gezwungen werden, ein Geständnis abzulegen, das im Strafverfahren verwertet werde.

Einige Bemerkungen zu dem Satz „nemo tenetur se ipsum accusare"

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Schrifttum für diesen Problembereich; insbesondere ist ein kaum noch übersehbares Schrifttum mit divergierenden Auffassungen erwachsen. A n dem Thema „Beweisverbote" und der mit ihm verbundenen Frage nach der Auswirkung des Satzes „nemo t e n e t u r . . . " konnte auch der Gesetzgeber bei der 1974 einsetzenden Reform der A O , die durch die A O 1977 (vom 1 6 . 3 . 1 9 7 6 ) abgeschlossen wurde, nicht vorübergehen, und es ist wohl kein Zufall, daß um diese Zeit auch die Schrifttumsäußerungen beginnen, die sich speziell für das Recht der A O mit den Auswirkungen des „nemo t e n e t u r . . . " in seiner „Fernwirkung" über seinen unmittelbaren Anwendungsbereich im Straf- und entsprechenden Sanktionsverfahren hinaus befassen. In diesem Zusammenhang richtet sich unser Interesse vornehmlich auf die - als Ausnahme v o m Steuergeheimnis - mit der Offenbarungsbefugnis sich befassenden Vorschriften in § 30 Abs. 4 und 5 A O 1977 und hier insbesondere auf § 30 Abs. 4 N r . 5H. § 30 A O lautet: „(1) Amtsträger haben das Steuergeheimnis zu wahren.

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(2) entspricht inhaltlich dem § 355 Abs. 1 StGB (3) entspricht inhaltlich dem § 355 Abs. 2 StGB

(4) Die Offenbarung der nach Abs. 2 erlangten Kenntnisse ist zulässig, soweit 1. sie der Durchführung eines Verfahrens im Sinne des Abs. 2 Nr. 1 Buchst, a und b dient; 2. sie durch Gesetz ausdrücklich zugelassen ist, 3. der Betroffene zustimmt, 4. sie der Durchführung eines Strafverfahrens wegen einer Tat dient, die keine Steuerstraftat ist und die Kenntnisse a) in einem Verfahren wegen einer Steuerstraftat erlangt worden sind; dies gilt jedoch nicht für solche Tatsachen, die der Steuerpflichtige in Unkenntnis der Einleitung des Strafverfahrens oder des Bußgeldverfahrens offenbart hat, oder die bereits vor Einleitung des Strafverfahrens oder des Bußgeldverfahrens im Besteuerungsverfahren bekannt geworden sind, oder b) ohne Bestehen einer steuerlichen Verpflichtung oder unter Verzicht auf ein Auskunftsverweigerungsrecht erlangt worden sind. 5. für ein sie zwingendes öffentliches Interesse besteht; ein zwingendes öffentliches Interesse ist namentlich gegeben, wenn a) Verbrechen und vorsätzliche schwere Vergehen gegen Leib und Seele oder gegen den Staat und seine Einrichtungen verfolgt werden oder verfolgt werden sollen, b) Wirtschaftsstraftaten verfolgt werden oder verfolgt werden sollen, die nach ihrer Begehungsweise oder wegen des Umfangs des durch sie verursachten Schadens geeignet sind, die wirtschaftliche Ordnung erheblich zu stören oder das Vertrauen der Allgemeinheit auf die Redlichkeit des geschäftlichen Verkehrs oder auf die ordnungsgemäße Arbeit der Behörden und der öffentlichen Einrichtungen erheblich zu erschüttern, oder c) die Offenbarung erforderlich ist zur Richtigstellung in der Öffentlichkeit verbreiteter unwahrer Tatsachen, die geeignet sind, das Vertrauen in die Verwaltung erheblich zu erschüttern; die Entscheidung trifft die zuständige oberste Finanzbehörde im Einvernehmen mit dem Bundesminister der Finanzen; vor der Richtigstellung soll der Steuerpflichtige gehört werden. (5) Vorsätzlich falsche Angaben des Betroffenen dürfen den Strafverfolgungsbehörden gegenüber offenbart werden."

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3. Zur Entstehungsgeschichte des § 30 AO Vor Schaffung des § 355 StGB war das Steuergeheimnis in § 412 in Verb, mit § 22 Abs. 2, 3 a. F. RAbgO geregelt. Die Übernahme einer entsprechenden Vorschrift in das StGB sahen alle StGB-Entwürfe seit 1927 vor. Demgemäß enthielt auch § 473 StGB-Entw. 196215 eine Strafvorschrift gegen den Bruch des Steuergeheimnisses. Deren Ausgestaltung lehnte sich - mit gewissen Abweichungen - eng an § 22 RAbgO an. Die Notwendigkeit von Änderungen dieser Konzeption ergab sich daraus, daß in der Folgezeit der RegEntw. einer Abgabenordnung (EAO 1974) eingebracht worden war16, in dem § 22 RAbgO durch einen neuen § 5 A O ersetzt werden sollte. Der Tatbestand des § 355 StGB wurde nunmehr im Reg. Entw. EGStGB 197417 in enger Anlehnung an diesen § 5 neu formuliert. Der E A O 1974 konnte wegen vorzeitiger Auflösung des 6. Bundestages nicht mehr verabschiedet werden. In dem in der 7. Wahlperiode erneut und unverändert eingebrachten Entwurf einer AO 18 trat bei den Ausschußberatungen an die Stelle des § 5 E A O 1974 der das Steuergeheimnis regelnde § 30, der gegenüber dem § 5 E A O 1974 eine Reihe von Änderungen erfuhr, die in der Hauptsache die Zulässigkeit der Durchbrechung des Steuergeheimnisses betraf". 4. Befugnis zur

Offenbarung

a) Wenn nach § 355 die Strafbarkeit der Offenbarung oder Verwertung der „Verhältnisse eines anderen" bzw. der fremden Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse davon abhängt, daß sie unbefugt erfolgen, so soll dieses auch in § 354 (Verletzung des Post- und Fernmeldegeheimnisses) verwendete Merkmal darauf hinweisen, daß im Bereich des § 355 Tatbestandsausschluß- oder Rechtfertigungsgründe eine besondere Rolle spielen, so namentlich die besonderen Rechtfertigungsgründe, die in § 30 A O aufgeführt sind20. Die in § 30 Abs. 4 N r . 1 bis 4 A O aufgeführten Gründe für die Zulässigkeit einer Offenbarung der nach § 30 Abs. 2 A O (= § 355 Abs. 1 StGB) erlangten Kenntnisse werfen eine Reihe von grundsätzlichen Fragen auf, so etwa ob es sich um eine abschließende Äufzählung handelt, oder ob darüber hinaus auch § 34 StGB eine Offenbarung rechtfertigen kann, oder ob und inwieweit umgekehrt der alle behördlichen Maßnahmen beherrschende Grundsatz der Verhältnis15

BT-Drucks. IV/650 S. 9 m. Begr. S.666; vgl. dazu aus den vorangegangenen Erörterungen der Großen Strafrechtskommission Niederschriften, Bd. 9, S. 970, Bd. 13, 5. 384. 16 BT-Drucks. VI/1982. 17 BT-Drucks. 7/550 S.35 m. Begr. S.287. 11 BT-Drucks. 7/79. " Vgl. dazu den Ausschußbericht des Finanzausschusses, BT-Drucks. 7/4292. 20 Begriind. zu § 355 StGB in BT-Drucks. 7/550, S.288.

Einige Bemerkungen zu dem Satz „nemo tenetur se ipsum accusare"

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mäßigkeit zur Unzulässigkeit einer nach dem Wortlaut bestehenden Offenbarungsbefugnis führen kann. Auch bestehen im einzelnen Zweifel bezgl. der Auslegung der hier verwendeten Merkmale. Das bedarf aber unter dem hier allein interessierenden Gesichtspunkt, inwieweit der Grundsatz „nemo tenetur..." durch eine Offenbarung berührt werden könnte, keiner weiteren Ausführungen. b) Dies gilt auch hinsichtlich des § 30 Abs. 4 Nr. 4 betr. Offenbarung zur Durchführung eines Strafverfahrens wegen einer Tat, die keine Steuerstraftat ist. Zur Klarstellung der Gründe für diese Vorschrift ist in dem Bericht der BT-Finanzausschusses21 ausgeführt: „Absatz 4 klärt die Frage, unter welchen Voraussetzungen - von den Fällen des zwingenden öffentlichen Interesses (vgl. Nummer 5) abgesehen - die Finanzbehörden Kenntnisse über Straftaten, die keine Steuerstraftaten sind, an die Strafverfolgungsbehörden weitergeben dürfen. Im EAO 1974 war diese Frage ebenso wie im geltenden Recht (§ 22 RAbgO) nicht ausdrücklich geregelt. Der Ausschuß hält es jedoch im Interesse der Rechtssicherheit für geboten, dieses Problem einer gesetzlichen Lösung zuzuführen. Dabei läßt er sich von folgenden Erwägungen leiten: Das Steuergeheimnis ist das Gegenstück zu den Offenbarungs- und Mitwirkungspflichten des Steuerpflichtigen und auskunftspflichtiger Dritter im Besteuerungsverfahren. Für Kenntnisse, die die Finanzbehörde im Besteuerungsverfahren über außersteuerliche Straftaten gewinnen, gilt deshalb grundsätzlich der Schutz des Steuergeheimnisses. Im Steuerstraf- und Bußgeldverfahren gelten die Offenbarungs- und Mitwirkungspflichten nicht. Damit entfällt die Grundlage für die Wahrung des Steuergeheimnisses. Nummer 4 Buchst, a erster Halbsatz sieht deshalb vor, daß im Steuerstraf- oder Bußgeldverfahren gewonnene Erkenntnisse über außersteuerliche Straftaten an die Strafverfolgungsbehörde weitergeleitet werden können. Das bedeutet, daß z.B. die sog. Zufallsfunde der Staatsanwaltschaft mitgeteilt werden dürfen. Ist allerdings ein Steuerstraf- und Bußgeldverfahren eingeleitet worden, ohne daß dem Steuerpflichtigen die Einleitung bekannt wird und offenbart er freiwillig Tatsachen, die außersteuerliche Straftaten betreffen, weil er glaubt, noch in Erfüllung steuerlicher Pflichten zu handeln, so ist er in gleicher Weise schutzwürdig, wie wenn er sein Wissen im Besteuerungsverfahren offenbart hätte. Nr. 4 Buchst, a zweiter Halbsatz erste Alternative sieht deshalb vor, daß in diesem Falle die vom Steuerpflichtigen offenbarten Tatsachen nicht den Strafverfolgungsbehörden bekannt gegeben werden dürfen. Dasselbe muß gelten, wenn die Tatsachen bereits vor Einleitung des Steuerstraf- oder Bußgeldverfahrens im Besteuerungsverfahren bekannt geworden sind, wobei es nicht darauf ankommt, ob die Tatsachen vom Steuerpflichtigen selbst oder von einem auskunftspflichtigen Dritten stammen. Nr. 4 Buchst, a zweiter Halbsatz zweite Alternative verbietet deshalb ganz allgemein die Weiterleitung von Tatsachen, die vor Einleitung des Steuerstraf- oder Bußgeldverfahrens bereits im Besteuerungsverfahren bekannt geworden sind. Die Grundlage für die Wahrung des Steuergeheimnisses kann jedoch nicht nur im Steuerstraf- oder Bußgeldverfahren entfallen. Offenbart ein Steuerpflichtiger oder ein Dritter gegenüber den Finanzbehörden Tatsachen über außersteuerliche Straftaten, ohne daß er hierzu verpflichtet ist oder verzichtet er dabei auf ein ihm zustehendes Auskunftsverweigerungsrecht, so besteht kein Anlaß, diese Tatsachen besonders zu schützen. Nr. 4 Buchst, b läßt deshalb in diesem Falle die Bekanntgabe der Tatsachen an die Strafverfolgungsbehörde zu." 21

BT-Drucks. 7/4292, S.17.

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Ergänzend ist dazu zu bemerken, daß die Mehrheit des BT-Finanzausschusses (vgl. BT-Drucks. 7/4292 S. 5) „weitergehende Vorstellungen [der Ausschußmitglieder] nicht aufgegriffen (hat), die darauf abzielten, den Schutz des Steuergeheimnisses bei der Verfolgung außersteuerlicher Straftaten nur dann zu gewähren, wenn es sich um Verhältnisse oder Kenntnisse handelt, die der Steuerpflichtige in Erfüllung erzwingbarer steuerlicher Pflichten offenbart hat und sich dadurch selbst einer Steuerstraftat oder Ordnungswidrigkeit bezichtigen oder einen Angehörigen der Gefahr einer Verfolgung wegen einer derartigen Tat aussetzen würde. Nach Auffassung der Ausschußmehrheit ist eine Durchbrechung des Steuergeheimnisses zur Verfolgung nichtsteuerlicher Straftaten jedoch immer dann zuzulassen, wenn die der Strafverfolgungsbehörde mitzuteilenden Tatsachen auf vorsätzlich falschen Angaben des Steuerpflichtigen beruhen. Die Mehrheit hat daher die Vorschrift entsprechend ergänzt; die Ausschußminderheit hat diese zusätzliche Einschränkung des Steuergeheimnisses nicht mitgetragen".

c) Wie hier schon vorwegzunehmen, spielt sowohl bei der Diskussion um die Rechtsstaatlichkeit der in § 30 Abs. 4 Nr. 5 A O getroffenen Regelung (unten III 5) wie auch bei den Ausführungen von BVerfGE 56, 37 betr. die Notwendigkeit einer Ergänzung der unbeschränkten Auskunftspflicht des Gemeinschuldners im Konkursverfahren durch ein strafprozessuales Beweisverwertungsverbot (unten IV) die Regelung des § 393 AO 22 eine Rolle23. Im Hinblick darauf mag zur Bedeutung des § 30 Abs. 4 Nr. 4 Buchst, a im einzelnen (Buchst, b ist in diesem Zusammenhang ohne Interesse) noch auf folgendes hingewiesen werden: Abs. 4 Nr. 4 a erster Halbsatz stellt zunächt den Grundsatz auf, daß Kenntnisse, die in einem Verfahren wegen einer Steuerstraftat oder einer Steuerordnungswidrigkeit erlangt worden sind, offenbart werden dürfen, soweit sie der Durchführung eines Strafverfahrens wegen einer nichtsteuerlichen Tat dienen. Ermittelt z.B. die Finanzbehörde (§ 386 AO) wegen des Verdachts einer Steuerhinterziehung, begangen durch Vortäuschung von Werbungskosten infolge Pkw-Benutzung und stellt 22

§ 393 A O lautet: „(1) Die Rechte und Pflichten der Steuerpflichtigen und der Finanzbehörde im Besteuerungsverfahren und im Strafverfahren richten sich nach den für das jeweilige Verfahren geltenden Vorschriften. Im Besteuerungsverfahren sind jedoch Zwangsmittel (§ 328) gegen den Steuerpflichtigen unzulässig, wenn er dadurch gezwungen würde, sich selbst wegen einer von ihm begangenen Steuerstraftat oder Steuerordnungswidrigkeit zu belasten. Dies gilt stets, soweit gegen ihn wegen einer solchen Tat das Strafverfahren eingeleitet worden ist. Der Steuerpflichtige ist hierüber zu belehren, soweit dazu Anlaß besteht. (2) Soweit der Staatsanwaltschaft oder dem Gericht in einem Strafverfahren aus den Steuerakten Tatsachen oder Beweismittel bekannt werden, die der Steuerpflichtige der Finanzbehörde vor Einleitung des Strafverfahrens oder in Unkenntnis der Einleitung des Strafverfahrens in Erfüllung steuerrechtlicher Pflichten offenbart hat, dürfen diese Kenntnisse gegen ihn nicht für die Verfolgung einer Tat verwendet werden, die keine Steuerstraftat ist. Dies gilt nicht für Straftaten, an deren Verfolgung ein zwingendes öffentüches Interesse (§ 30 Abs. 4 N r . 5) besteht." 25 Vgl. u. a. BVerfGE 56, 47, 52.

Einige Bemerkungen zu dem Satz „nemo tenetur se ipsum accusare"

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sich dabei heraus, daß der Beschuldigte Fahrten durchführte, ohne im Besitz einer Fahrerlaubnis zu sein (§21 StVG), oder erhebt sich der Verdacht, daß hinterzogene Einnahmen durch Verstoß gegen allgemeine Strafgesetze erlangt waren (vgl. § 40 AO), so wäre nach diesem Grundsatz die Weitergabe der Vorgänge an die Staatsanwaltschaft zur Verfolgung der außersteuerlichen Straftaten zulässig. Dieser Grundsatz ist aber nach mehreren Richtungen von Ausnahmen durchbrochen. Nach Nummer 4 a Halbsatz 2 erste Alternative ist nämlich die Offenbarung nicht zulässig bzgl. solcher Tatsachen, die der Steuerpflichtige in Unkenntnis der Einleitung des Steuerstraf- oder Bußgeldverfahrens offenbart hat. Damit knüpft das Gesetz an die §§ 393, 397, 410 Abs. 1 N r . 4, 6 A O an. Nach § 397 Abs. 2, 3 in Verb, mit § 410 A O ist die Einleitung (zu diesem Begriff vgl. § 397 Abs. 1 AO) eines Steuerstrafoder Bußgeldverfahrens unter Angabe des Zeitpunkts unverzüglich in den Akten zu vermerken und die Einleitung dem Beschuldigten (Betroffenen des Bußgeldverfahrens) spätestens mitzuteilen, wenn er dazu aufgefordert wird, Tatsachen oder Unterlagen vorzulegen, die im Zusammenhang mit der Straftat (Ordnungswidrigkeit) stehen, deren er verdächtigt ist. Durch diese Mitteilung wird es dem Beschuldigten (Betroffenen) ermöglicht, sein prozessuales Verhalten einzurichten und insbesondere Angaben zu vermeiden, durch die er sich nichtsteuerrechtlicher Straftaten bezichtigen würde (vgl. § 385 A O in Verb, mit § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO, § 410 A O in Verb, mit § 46 O W i G und § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO). Unterbleibt aber die Mitteilung, oder erreicht sie den Beschuldigten (Betroffenen) nicht und glaubt er in Unkenntnis der Einleitung des Strafverfahrens sich noch im Besteuerungsverfahren zu befinden und den steuerrechtlichen Mitwirkungspflichten zu unterliegen, so soll ihm dies nicht zum Nachteil gereichen, und es ist vorbehaltlich des Absatzes 4 Nr. 5 - trotz der Einleitung des Steuerstrafoder Bußgeldverfahrens der Schutz des Steuergeheimnisses weiter gegeben. § 393 Abs. 2 Satz 1 A O hat die Folgerungen aus dieser Rechtslage in Form eines Beweisverwertungsverbotes für die Strafjustizbehörden gezogen. 5. Zur Reichweite des § 30 Abs. 4 Nr. 5 AO Unberührt geblieben ist dabei die Vorschrift des § 30 Abs. 4 Nr. 5 AO, wonach die Offenbarung der nach § 30 Abs. 2 A O erlangten Kenntnisse zulässig ist, soweit für sie ein zwingendes öffentliches Interesse besteht, das namentlich gegeben ist, wenn die Offenbarung der Verfolgung der in Buchst, a und b bezeichneten schweren nichtsteuerrechtlichen Straftaten dienen soll; nach § 393 Abs. 2 Stz 2 entfällt für diese Fälle auch das in § 393 Abs. 2 Satz 1 statuierte Beweisverwertungsverbot. Gerade gegen diese Vorschriften richten sich aber die z. T. im Schrifttum unter dem

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Gesichtspunkt der Unvereinbarkeit mit dem Grundsatz „nemo tenet u r . . . " erhobenen Einwendungen. a) Entstehungsgeschichtlich ist zunächst vorauszuschicken, daß § 22 a.F. RAbgO keine dem § 3 0 Abs. 4 N r . 5 A O 1977 entsprechende Vorschrift enthielt. Das zwingende öffentliche Interesse als Grund einer zulässigen Durchbrechung des Steuergeheimnisses erscheint vielmehr erstmals in Form einer Verwaltungsanweisung, des sog. „Popitz-Erlasses" vom 9.11.1923 24 , wonach auch ohne Einwilligung des Steuerpflichtigen Dritten bei Bestehen eines zwingenden öffentlichen Interesses (im Gegensatz zu einem nur privatwirtschaftlichen oder sonstigem privaten Interesse) Auskunft zu erteilen sei; ein öffentliches Interesse sei nur anzunehmen, wenn die Maßnahme, für welche die Auskunft erfordert wird, das allgemeine Wohl des Reiches, eines Landes, einer Gemeinde oder einer anderen öffentlichrechtlichen Körperschaft berühre. Im Anschluß daran sah die in Rechtsprechung und Schrifttum herrschende Meinung die Befugnis zur Offenbarung auch in einem „zwingenden öffentlichen Interesse", das als Ergebnis einer längeren Entwicklung angenommen wurde, wenn im Fall des Unterbleibens der Offenbarung die Gefahr des Eintritts schwerer Nachteile für das allgemeine Wohl betünde 25 . Eine gewisse gesetzliche Fundierung erfuhr das „zwingende öffentliche Interesse" als Offenbarungsgrund in dem auf dem AO-StrafänderungsG vom 10.8.1967 (BGBl. I 877) beruhenden § 428 Abs. 2 RAbgO i. d. F. des Art. 161 N r . 17 EGStGB 1974 - dem Vorläufer des heutigen § 393 Abs. 2 A O - , indem das Verbot, in einem Strafverfahren wegen einer Nichtsteuerstraftat Tatsachen oder Beweismittel zu verwerten, die aus den Steuerakten bekannt waren, entfiel „bei Straftaten, an deren Verfolgung ein zwingendes öffentliches Interesse besteht. Ein zwingendes öffentliches Interesse an der Verfolgung ist namentlich gegeben bei Verbrechen und vorsätzlichen Vergehen gegen Leib und Leben sowie bei Verbrechen und schwerwiegenden Vergehen gegen den Staat und seine Einrichtungen".

Schließlich sollte das „zwingende öffentliche Interesse" unmittelbar als Grund für die Offenbarung verlautbart werden: nach § 5 Abs. 2 N r . 6 des E A O 197426 sollte die Offenbarung (generell) zulässig sein, soweit „für sie ein zwingendes öffentliches Interesse besteht". Als nach der vorzeitigen Beendigung der Ö.Legislaturperiode der E A O 1974 unverändert wieder eingebracht wurde, sah der mit dem Entwurf befaßte BT-Finanzausschuß eine seiner Aufgaben darin, in dem an die Stelle 24 25 26

Abgedruckt bei Tipke/Kruse, RAbgO, 2. Aufl., § 22 a.F., Rdn.20. Nachweise bei Tipke/Kruse (Fn. 24), Rdn. 14. BT-Drucks. VI/1982.

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des § 5 tretenden § 30 A O unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten den „unbestimmten Rechtsbegriff" des zwingenden öffentlichen Interesses an einer Offenbarung einschränkend näher zu umschreiben 27 . Darauf beruht die exemplifikatorische („namentlich") Umschreibung von Straftatbeständen in Abs. 4 Nr. 5 Buchst, a und b. Damit sollen dem Richter Leitbilder gegeben werden, wenn er vor der Frage steht, wann in anderen Fällen ein „zwingendes öffentliches Interesse" an der Offenbarung besteht; es muß sich dann, das ist der gesetzgeberische Gedanke, um Fallgestaltungen handeln, in denen das Unterbleiben einer Offenbarung eine vergleichsweise gleich große Gefahr schwerer Nachteile für das allgemeine Wohl zur Folge haben kann wie die Nichtverfolgung der „namentlich" genannten Straftaten als Folge unterbliebener Offenbarung. Auf die mancherlei Streit- und Zweifelsfragen, die sich im einzelnen bei der Auslegung des Abs. 4 Nr. 5 ergeben, ist hier nicht einzugehen. Als Frage von grundsätzlicher Bedeutung erwähnenswert erscheint allenfalls im vorliegenden Zusammenhang die folgende: soweit es sich um die Offenbarung zwecks Verfolgung sanktionsbedrohter Gesetzesverstöße handelt, legen die Nr. 5 Buchst, a und b die Annahme nahe, daß nur Straftaten in Betracht kommen und damit die Zulässigkeit einer Offenbarung zur Verfolgung nichtsteuerrechtlicher Ordnungswidrigkeiten ausgeschlossen ist. Im Einzelfall, wie bei schwerwiegenden Kartellordnungswidrigkeiten, kann dies jedoch nach Göhler2* „dem verfassungsrechtlichen Gebot der Güter- und Pflichtenabwägung widerstreiten, das gegenüber der (unausgewogenen) einfachen gesetzlichen Regelung des § 30 Vorrang hat". b) Im vorliegenden Zusammenhang gilt unser Interesse den Stimmen des Schrifttums, die unter dem Gesichtspunkt einer Unvereinbarkeit des § 3 0 Abs.4 N r . 5 A O 1977 mit dem Grundsatz „nemo t e n e t u r . . . " Bedenken gegen die Regelung erhoben haben. So hatte Rogali1'' schon im Entstehungsstadium der A O 1977 geltend gemacht, daß das damals noch geltende Recht ( § 5 Abs. 2 StAnpG = jetzt § 4 0 A O ; §428 Abs. 2 RAbgO = jetzt § 393 Abs. 2 A O ) den rechtsstaatlichen Anforderungen des Verbots der Selbstbelastung nicht entsprächen. Bei verfassungskonformer Auslegung könne schon de lege lata § 5 Abs. 2 StAnpG „unter dem Aspekt der grundsätzlichen Bedeutung und des hohen Verfassungswerts des Verbots der Selbstbelastung" nur so verstanden werden, daß die Offenbarungs- und Mitwirkungspflichten endeten, sobald § 428 27 28 29

Ausschußbericht, BT-Drucks. 7/4292, S.6, 18. Göhler, O W i G , 6. Aufl., 1980, Vor § 59 Rdn. 62. ZRP 1975, 278.

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Abs. 2 RAbgO nicht durch ein Beweisverwertungsverbot Schutz vor Selbstbelastung gewähre. Weigere sich der Steuerpflichtige, selbstbelastende Angaben zu machen, so sei die Androhung, Festsetzung oder Anwendung von Zwangsmitteln ermessensfehlerhaft. Der Amtsträger mache sich zugleich wegen Nötigung und Aussageerpressung und bei Weitergabe des selbstbelastenden Materials, da diese „unbefugt" sei, auch nach § 355 StGB strafbar. De lege ferenda sei eine verfassungskonforme Regelung nur so denkbar, daß entweder § 5 Abs. 2 StAnpG ersatzlos gestrichen oder die Einschränkungen des Verwertungsverbots in § 428 Abs. 2 RAbgO völlig aufgehoben würden. „Diese Einsicht wird schwerfallen" bemerkt Rogali im Hinblick auf den E A O 1974, der zwar im Ergebnis den Verstoß (des geltenden Rechts) gegen den Satz „nemo t e n e t u r . . . " mildere, ihn aber keineswegs ganz vermeide30. Nach Erlaß der A O 1977 sind entsprechende Bedenken auch gegen die diesbezüglichen Vorschriften des neuen Rechts erhoben worden. Nach Lenckner31 „wird die Tragweite [des § 30 Abs. 4 Nr. 5] durch die Gesetzgebung eher verdunkelt. Obwohl es nach dem Wortlaut nicht darauf ankommt, von wem die Behörde die entsprechende Kenntnis erlangt hat, müssen solche Fälle ausscheiden, in denen der Steuerpflichtige im Besteuerungsverfahren in Erfüllung seiner ihm nach §§ 9, 200 A O obliegenden Mitwirkungspflicht eine für die Besteuerung erhebliche Straftat offenbart hat (wozu er nach § 393 Abs. 1 Satz 2 sogar gezwungen werden kann, soweit es sich bei der Tat um eine Steuerstraftat handelt); denn nach rechtsstaatlichen Grundsätzen ist es undenkbar, daß an die für steuerliche Zwecke bestehende Pflicht, u. U . auch Straftaten zu offenbaren, die Befugnis der Behörde geknüpft wird, die auf solche Weise erlangte Kenntnis gegenüber den Strafverfolgungsbehörden zu verwerten... Da ohne eine entsprechende Pflicht gemachte Angaben des Betroffenen bereits nach [Abs. 4] Nr. 4 b offenbart werden dürfen, hat § 5 a daher praktische Bedeutung nur noch für solche Fälle, in denen die Finanzbehörde ihre Kenntnisse von einem Dritten (z.B. einem Angestellten der Steuerpflichtigen nach § 93 A O ) erlangt hat".

Und von diesem Standpunkt aus folgerichtig gelten nach Lenckner01 entsprechende Einschränkungen auch für § 3 0 Abs. 4 N r . 5 b : „Ist die Kenntnis auf Grund einer entsprechenden Mitteilungspflicht des betroffenen Steuerpflichtigen erlangt, so besteht kein Offenbarungsrecht..." c) Ahnliche Gedankengänge, wenn auch in weniger dezidierter Form als bei Lenckner (vgl. „undenkbar"), finden sich auch bei Göll"·, der Gesetzgeber der A O 1977 habe ausweislich der Entstehungsgeschichte zwar die Problematik erkannt, die sich daraus ergebe, daß einerseits als Folge uneingeschränkter Mitwirkungspflicht auch eine sachlich gerechtfertigte Pflicht zur Selbstbezichtigung im Besteuerungsverfahren bestehe, 30 S. dazu auch Rogali, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, 1977, S. 170 ff. " Schönke/Scbröder/Lenckner, StGB, 20. Aufl., 1980, § 355 Rdn.32. 32 Fn. 31, Rdn.33. 33 Göll, NJW 1979, S. 94.

Einige Bemerkungen zu dem Satz „nemo tenetur se ipsum accusare"

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andererseits aber der StPO eine Pflicht zur Selbstbezichtigung unbekannt sei. Er habe sie durch den Hinweis zu lösen versucht, es sei eine Frage des pflichtgemäßen Ermessens der Steuerbehörde, ob sie den Steuerpflichtigen an seiner Mitwirkungspflicht festhalte. Das sei aber keine befriedigende Lösung, denn sie laufe darauf hinaus, daß im Einzelfall der Schutz des Steuergeheimnisses der Ermessensentscheidung des einzelnen Finanzbeamten überantwortet werde. Vielmehr sei es „mit den Prinzipien unserer StPO schwerlich zu vereinbaren, aus einer Pflicht zur Mitteilung an die Finanzbehörden heraus das Material für die eigene Strafverfolgung des Steuerpflichtigen zu gewinnen". Dem sei durch ein prozessuales Verwertungsverbot oder - noch besser - dadurch Rechnung zu tragen, daß eine Offenbarungsbefugnis gemäß Abs. 4 N r . 5 a nicht bestehe, wenn die Behörde ihre Kenntnis aus der dem Steuerpflichtigen obliegenden Offenbarung beziehe. In diese Richtung ging auch die Stellungnahme von Reiß". Zwar sei es nicht zu beanstanden, daß der Steuerpflichtige im Besteuerungsverfahren seine Mitwirkung an der Aufklärung steuerrechtlich erheblicher Tatsachen auch dann nicht versagen dürfe, wenn er dabei die Begehung allgemeiner Straftaten offenbaren müßte. Indessen verbiete § 136 a StPO ganz allgemein - auch dann, wenn ein zwingendes öffentliches Interesse an der Verfolgung bestehen würde - die Anordnung von Zwang zur Erlangung einer Aussage oder eines Geständnisses, und eine verbotswidrig erlangte Aussage dürfe zur Strafverfolgung nicht verwertet werden. Darin liege nur eine Ausformung des aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitenden Grundgedankens, daß niemand gezwungen werden dürfe, selbst zu seiner Überführung im Strafverfahren beizutragen. Wenn es danach auch nicht verboten sei, im Besteuerungsverfahren unter steuerrechtlichen Gesichtspunkten ggbf. auch Zwang zur Ermittlung von Nichtsteuerstraftaten anzuwenden, so sei doch kein Grund erkennbar, der die Finanzbehörden berechtigen (oder bei Auskunftsersuchen der Staatsanwaltschaft zwingen) würde, zu Zwecken der Strafverfolgung die unter Zwang erlangten Kenntnisse im Widerspruch zu rechtsstaatlichen Grundsätzen preiszugeben. Solange nicht der Gesetzgeber (oder ein Spruch des Bundesverfassungsgerichts) die Verfassungswidrigkeit von § 30 Abs. 4 N r . 5 A O durch Einschränkung der Mitteilungsbefugnis oder -pflicht oder Schaffung eines strafprozessualen Verwertungsverbots beseitigt habe, erscheine Verurteilung auf Grund von Aussagen, die im Besteuerungsverfahren unter Anwendung oder Androhung von Zwang zustande gekommen sind, nicht zulässig. Im Gegensatz zu dieser Stellungnahme führt nach Samson35 der § 30 Abs. 4 N r . 5 a zwar „in rechts34 35

Reiß, NJW 1977, S. 1436. Samson, SK. BT., § 355 Rdn. 25.

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staatlich bedenklicher Weise" einen Zwang zur Selbstbelastung herbei, doch seien die von Lenckner36 daraus gezogenen Folgerungen wegen der in § 393 Abs. 2 Satz 2 A O getroffenen Regelung zweifelhaft. IV. Die Stellungnahme des Bundesverfassungsgerichts Wie schon (oben I 3) erwähnt, hat jetzt BVerfGE 56, 37 sich ausführlich und grundsätzlich zu Fragen der Auswirkung eines Selbstbelastungszwanges aus verfassungsrechtlicher Sicht geäußert. Da bei der Durchführung des Vorhabens, die Bedeutung dieser Entscheidung für den oben unter I 3 umschriebenen Bereich zu prüfen, immer wieder auf deren Ausführungen im einzelnen zurückgegriffen werden muß, bedarf die Entscheidung zunächst einer ausführlicheren kommentierenden inhaltlichen Wiedergabe. 1. Ausgangspunkt war die Verfassungsbeschwerde eines Gemeinschuldners, der auf Antrag des Konkursverwalters über bestimmte, die Ubereignung von Vermögensgegenständen betreffende Fragen vernommen werden sollte, aber die Aussage verweigerte, weil gegen ihn bezgl. des Beweisthemas ein Ermittlungsverfahren wegen Verdachts des Konkursvergehens anhängig sei, und weil er sich durch Beantwortung der Fragen möglicherweise selbst einer strafbaren Handlung bezichtigen müsse. Das Konkursgericht ordnete daraufhin gegen ihn gemäß §§75, 101 Abs. 2 K O Beugehaft an, weil er nach § 100 K O auskunftspflichtig sei und ihm kein Recht zur Aussageverweigerung zustehe. Auch eine sofortige Beschwerde wurde vom Landgericht mit der Begründung zurückgewiesen, daß die Auskunftspflicht nach § 100 K O notfalls auch die Offenbarung eigener strafbarer Handlungen umfasse; ein Verweigerungsrecht sei in der K O nicht vorgesehen und werde auch im Schrifttum zutreffend verneint. Gegen diese Entscheidung richtet sich die Verfassungsbeschwerde. 2. Im Verfahren vor dem BVerfG äußerte sich der Bundesminister der Justiz namens der Bundesregierung dahin, es sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, daß die K O kein Aussageverweigerungsrecht des Gemeinschuldners für den Fall der Selbstbezichtigung vorsehe. Eine unbeschränkte Aussagepflicht sei in der geltenden Rechtsordnung kein Ausnahmefall. Insbesondere sei, wie B G H Z 41, 318 (oben II 3) ausgesprochen habe, ein Schuldner von der Verpflichtung, dem Berechtigten Auskunft zu erteilen und diese eidesstattlich zu versichern, auch dann nicht frei, wenn er sich damit einer strafbaren Handlung bezichtigen müsse. Selbst das Straf- und Zivilprozeßrecht sähen Maßnahmen vor, die einer Selbstbezichtigung nahekommen könnten, und auch das SteuJ6

Vgl. oben Fn. 31.

Einige Bemerkungen zu dem Satz „nemo tenetur se ipsum accusare"

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errecht enthalte keinen ausnahmslosen Schutz gegen die Folgen einer erzwungenen oder erzwingbaren Selbstbezichtigung. Das Schweigerecht des Beschuldigten im Strafprozeß und das Aussageverweigerungsrecht des Zeugen entsprächen zwar rechtsstaatlichen Grundsätzen; die Stellung des Gemeinschuldners sei aber mit der eines Zeugen oder des Beschuldigten nicht vergleichbar. Die Konfliktsituation, in die er gerate, ergebe sich aus seinem eigenen möglicherweise schuldhaften Verhalten. Seine Vernehmung sei oft das einzige Mittel zur Aufklärung konkursrelevanter Tatsachen, und sein Interesse, sich nicht selbst strafbarer Handlungen zu bezichtigen, müsse jedenfalls dort zurücktreten, wo es mit den Interessen der Gläubiger an möglichster Geringhaltung ihres Ausfalls im Konkursverfahren kollidiere. Der Gemeinschuldner werde dadurch auch nicht übermäßig belastet, da die konkursgerichtliche Anwendung von Zwangsmitteln zur Auskunft unter dem Gebot der Verhältnismäßigkeit stehe. 3. BVerfGE 56, 37 hat zwar die Verfassungsbeschwerde für unbegründet erklärt, da bei Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes eine unbeschränkte Auskunftspflicht des Gemeinschuldners verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei. Es hat aber - als wesentliches Novum - gleichzeitig unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten eine Lücke der konkursrechtlichen Regelung darin gesehen, daß kein Verbot bestehe, die geoffenbarten strafbaren Handlungen gegen seinen Willen als Beweismittel in einem Strafverfahren gegen ihn zu verwerten. Diese Lücke zu schließen sei, solange nicht der (einfache) Gesetzgeber regelnd eingreife, zunächst Aufgabe des Richters. Dieser Spruch beruht auf einer Gesamtschau des Verlaufs der Rechtsentwicklung unter Analysierung von Fallgruppen, in denen das Problem der Selbstbezichtigung eine Rolle spielt, und unter Würdigung der im einzelnen unterschiedlichen Regelungen von Schutzvorkehrungen gegen unzumutbare Selbstbezichtigung bzw. von Schutzvorkehrungen gegen unzumutbare Auswirkungen eines zulässigerweise bestehenden Zwangs zur Selbstbezichtigung. Dabei werden aber auch - und das erscheint bei Würdigung der Tragweite der Entscheidung bedeutungsvoll - die einschränkenden Voraussetzungen gekennzeichnet, unter denen beim Fehlen gesetzlicher Schutzvorkehrungen eine richterliche Lückenschließung in Betracht kommt (unten IV 11c). 4. Zunächst befaßt sich die Entscheidung mit der verfassungsrechtlichen Qualifizierung einer mit Zwang zur strafrechtlichen Selbstbelastung rechtlich vorgeschriebenen Auskunftspflicht: weil die Auskunftsperson dadurch in die Konfliktsituation geraten kann, sich entweder selbst einer strafbaren Handlung zu bezichtigen oder durch Falschaussage ggf. ein neues Delikt zu begehen oder wegen Schweigens Zwangsmitteln ausgesetzt zu sein, ist die erzwingbare Auskunftspflicht

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„als Eingriff in die Handlungsfreiheit sowie als Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts im Sinn des Art. 2 Abs. 1 GG zu beurteilen. Ein Zwang zur Selbstbezichtigung berührt zugleich die Würde des Menschen, dessen Aussage als Mittel gegen ihn selbst verwendet wird". 5. Z u m Schutz

gegen

unzumutbare

Eingriffe

und

Beeinträchtigungen

sehe das geltende R e c h t unterschiedliche V o r k e h r u n g e n v o r . E s k e n n e allerdings kein ausnahmslos

geltendes

Gebot,

daß n i e m a n d z u A u s k ü n f -

ten o d e r z u sonstigen H a n d l u n g e n g e z w u n g e n w e r d e n dürfe, d u r c h die er eine v o n i h m b e g a n g e n e strafbare H a n d l u n g offenbart.

Vielmehr

u n t e r s c h i e d e n sich die R e g e l u n g e n u n d die darin v o r g e s e h e n e n S c h u t z v o r r i c h t u n g e n je n a c h der R o l l e der A u s k u n f t s p e r s o n u n d der Z w e c k b e stimmung der Auskunft. „Diese Differenzierung steht mit Art. 2 Abs. 1 GG jedenfalls insoweit in Einklang, als Art und Umfang des durch dieses Grundrecht gewährten Schutzes auch davon abhängen, ob und inwieweit andere auf die Information der Auskunftsperson abgewiesen sind, ob insbesondere die Auskunft Teil eines durch eignen Willensentschluß übernommenen Pflichtenkreis ist"37. 6. D e n Personenkreis

anlangend

reicht der S c h u t z gegen Selbstbezichti-

g u n g e n a m w e i t e s t e n für Zeugen, Beschuldigte

im Strafverfahren

Prozeßparteien

oder

und

in entsprechenden

insbesondere Verfahren.

für Hier

w e r d e n aber für die w e i t e r e E r ö r t e r u n g diejenigen Fälle a u s g e k l a m m e r t , in d e n e n ein Z w a n g z u r M i t w i r k u n g bestehe, der z u strafrechtlichen N a c h t e i l e n f ü h r e n k ö n n e , bei denen es sich aber u m passive

Duldungs-

o d e r V e r h a l t e n s p f l i c h t e n handele. A l s Beispiele w e r d e n g e n a n n t

die

E n t n a h m e v o n B l u t p r o b e n u n d U n t e r s u c h u n g e n z u r Feststellung d e r A b s t a m m u n g g e m ä ß § § 81 ä f f S t P O , § 3 7 1 a Z P O u n d die „ W a r t e p f l i c h t a m U n f a l l o r t " g e m ä ß § 1 4 2 S t G B (richtige B e z e i c h n u n g h e u t e : „ U n e r laubtes E n t f e r n e n v o m U n f a l l o r t " ) 3 8 . A u c h sie w ü r d e n z w a r im Schrift" BVerfGE 56, 41 f. " In diesem Zusammenhang wäre auch zu nennen die zwecks Identitätsfeststellung vorgenommene Gegenüberstellung des Beschuldigten zugleich mit anderen Vergleichspersonen, die - gegen die h.M. - nach Grünwald, JZ 1981, S. 423 einen Verstoß gegen die Menschenwürde darstellt, wenn der Beschuldigte durch Schmerzzufügung (z.B. zur Verhinderung des Grimassenschneidens) für die Gegenüberstellung gefügig gemacht werden soll. Was §372a ZPO anlangt, so besteht die hier „jede Person" treffende erzwingbare Pflicht, abstammungsrelevante Untersuchungen zu dulden, für den zu Untersuchenden insoweit, als sie ihm „nach den Folgen ihres Ergebnisses für ihn oder einen der in § 383 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 bezeichneten Angehörigen . . . zugemutet werden kann". Im Fall O L G Frankfurt NJW 1979, S. 1257 hatten die zu Untersuchenden die Duldung verweigert, weil sie sonst ihren Bruder der Gefahr der Strafverfolgung wegen Meineids aussetzten; das sei unzumutbar. Ihre Weigerung wurde für unberechtigt erklärt: § 372 a ZPO enthalte keine dem § 8 1 c Abs. 3 StPO entsprechende Einschränkung. Die Gefahr der Strafverfolgung könne, aber sie müsse nicht die Unzumutbarkeit der Untersuchung begründen (Abwägungsfrage des Einzelfalls), weil bei anderer Auslegung die wesentlichen Interessen des

Einige Bemerkungen zu dem Satz „nemo tenetur se ipsum accusare"

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tum teilweise als bedenklich bezeichnet3', könnten aber im vorliegenden Zusammenhang außer acht bleiben, „denn sie greifen in die personale Freiheit der Willensentschließung jedenfalls weniger ein als die Nötigung, durch eigene Äußerungen strafbare Handlungen offenbaren zu müssen".40 Hier ist aber vorgreifend auf die unten VI 3 c zitierte Entscheidung BVerfGE 55, 144 zu verweisen, wo deutlich unterschieden wird zwischen der durch Selbstbezichtigungszwang berührten Aussagefreiheit und der durch Selbstbezichtigungsgesichtspunkte nicht beeinträchtigten Pflicht, die Einsichtnahme in Bücher und Geschäftspapiere zu dulden. Gegen eine in Äußerungen bestehende - also „aktive" Offenbarungspflicht werde der oben genannte Personenkreis durchgängig durch Zubilligung eines Schweige- oder Aussageverweigerungsrechts geschützt. 7. Da Selbstbezichtigungen gerade wegen ihrer strafrechtlichen Auswirkungen einen schwerwiegenden Eingriff darstellten, seien Schutzvorrichtungen vor allem dort entwickelt worden, wo die Aussage speziell strafrechtlichen oder ähnlichen Zwecken diene41. Prototyp einer solchen Schutzvorrichtung sei das Schweigerecht des Beschuldigten im Strafprozeß und das Verwertungsverbot des § 136 a StPO für erzwungene Aussagen. Das Verbot der Selbstbezichtigung sei hier eine durch Art. 2 Abs. 1 in Verb, mit Art. 1 G G gebotene Wertentscheidung zugunsten des Persönlichkeitsrechts des Beschuldigten, hinter dem das Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit zurücktreten müsse: „Die Menschenwürde gebiete, daß der Beschuldigte frei darüber entscheiden könne, ob er als Werkzeug zur Uberführung seiner selbst benutzt werden dürfe".

8. Ein solches Schweigerecht bestehe entsprechend „in anderen Verfahren, in denen dem Betroffenen ähnliche Sanktionen wegen seines Verhaltens drohen, etwa im Disziplinarverfahren sowie im berufsgerichtlichen Verfahren" (das Bußgeldverfahren wird hier nicht genannt; s. dazu unten VI 3 a). Hier sei, um zu vermeiden, daß das Schweigerecht im Disziplinar- und Ehrengerichtsverfahren unterlaufen werde, von der Rechtsprechung der Schutz gegen Selbstbezichtigung strafbarer HandKindes an der Feststellung seiner Abstammung und der Allgemeinheit an der ordnungsgemäßen Durchführung des Rechtsstreits außer acht blieben. Nach Stürner NJW 1981, S. 1759 Fn. 25 wäre auch hier zu überlegen, ob die Belastungsproblematik nicht durch ein strafprozessuales Verwertungsverbot gelöst werden könnte. Beschränkt sich aber, wie auch BVerfGE 55, 144 (oben im Text) annimmt, die Geltung von „nemo tenetur..." nur auf die Aussagefreiheit, so kommt nach geltendem Recht eine Konfliktlösung nur auf dem von OLG Frankfurt bezeichneten Wegen über die Zumutbarkeit der Duldung in Betracht. 39 Hinweis auf Sautter, AcP Bd. 161 (1962) 215. 40 BVerfGE 56, 42. 41 BVerfGE 56, 43.

32

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lungen oder Pflichtverletzungen auch auf das Vorstadium vor förmlicher Verfahren ausgedehnt worden. 42

Einleitung

9. Der Schutz gegen Selbstbezichtigung gelte auch für die Parteien des Zivilprozesses und anderer vergleichbarer Verfahren, seine Inanspruchnahme führe aber nur dazu, daß die Partei lediglich das Risiko einer für

42 B V e r f G E 56, 44 unter Verweisung auf B D H E 4, 59 betr. Beamte; B G H S t . 27, 374 betr. Rechtsanwälte und - unter Hinzufügung „einschränkend" - auf B V e r w G E 43, 227 betr. militärische Geheimsachenbearbeiter. Die Bedeutung der Verweisung auf B V e r w G E 43, 227 (Wehrdienstsenat) bedarf einer Klarstellung. In dieser Entscheidung war einem Soldaten, der „Geheimsachenbearbeiter der Sicherheitsstufe I I " war, von seinem Kompaniechef eine Meldung über den Stand seiner Schulden abgefordert worden. Er erstattete eine falsche Meldung und wurde deshalb wegen Verstoßes gegen § 13 SoldatenG („[1] D e r Soldat muß in dienstlichen Angelegenheiten die Wahrheit sagen. [2] Eine Meldung darf nur gefordert werden, wenn der Dienst dies rechtfertigt") in Verb, mit § 11 SoldatenG (Gehorsamspflicht) disziplinarisch bestraft. Mit seinem Rechtsmittel machte er geltend, er habe sich in einer Konfliktsituation befunden, weil er sich des leichtsinnigen Schuldenmachens hätte bezichtigen müssen. Er hatte damit keinen Erfolg. Wenn ein Soldat als Beschuldigter im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren oder in einem gegen ihn gerichteten förmlichen Disziplinarverfahren die Unwahrheit sage, dann reiche allerdings die Wahrheitspflicht des § 13 Abs. 1 SoldatenG nicht in diese Verfahren hinein. Daß ein Beamter auch außerhalb des Diszplinarverfahrens zur Verweigerung der Auskunft gegenüber einem Dienstvorgesetzten berechtigt sei, wenn er sich der Gefahr disziplinarischer Verfolgung aussetzen würde, werde aus dem grundgesetzlichen Schutz der Einzelpersönlichkeit und dem daraus folgenden allgemeinen Verbot des Zwangs zur Selbstbezichtigung hergeleitet. In dieser Weise lasse sich aber der Konflikt im Soldatenrecht, wie er gegenüber dem Befehl zur Abgabe einer Schuldenerklärung bestehen könne, nicht lösen. In der Nichtbefolgung eines dienstlichen Befehls läge nur dann kein ahndbarer Ungehorsam, wenn dieser die Menschenwürde verletze ( § 1 1 Abs. 1 Satz 3 SoldG). „ D a v o n kann jedoch bei einem Befehl zur Abgabe einer Schuldenerklärung, der nur deshalb erteilt worden ist, um festzustellen, ob der Soldat noch als Geheimsachenbearbeiter tragbar ist, von vornherein nicht gesprochen werden, auch wenn er sich bei Ausführung des Befehls selbst einer Pflichtverletzung bezichtigen müßte". Die Frage könne nur sein, inwieweit die Abgabe einer falschen Meldung zur Vermeidung einer Selbstbezichtigung schuldhaft pflichtwidrig sei. Insoweit bedürfe es einer Güterabwägung zwischen dem Interesse der Bundeswehr an einer wahrheitsgemäßen Meldung und dem des Soldaten an einer Nichtoffenbarung pflichtwidrigen Verhaltens. D a s militärische Anliegen der Bundeswehr, zuverlässig orientiert zu werden, werde hier „im Regelfall Vorrang beanspruchen können, soll nicht ihr gesamtes militärisches Meldewesen in Frage gestellt werden. Die Verpflichtung des Soldaten zur Treue geht seinen eigenen Interessen vor. Ist das Wohl des Staates betroffen, muß der Staatsdiener notfalls auch Nachteile für seine eigene Person in Kauf nehmen. Etwas anderes könnte allenfalls dann gelten, wenn sich der Soldat bei wahrheitsgemäßer Meldung besonders schwerwiegender Handlungen bezichtigen müßte". Im vorliegenden Fall habe die Bundeswehr die wahrheitsgemäße Schuldenmeldung benötigt, um gegebenenfalls einen überschuldeten und damit ein Sicherheitsrisiko darstellenden Geheimnisträger ablösen zu können. „Dieses dem Allgemeinwohl dienende Anliegen hat einen höheren Wert als das Interesse des Beschuldigten an der Verheimlichung einer leichtfertigen Schuldenwirtschaft". Danach könne die Konfliktsituation nur bei der Strafzumessung berücksichtigt werden.

Einige Bemerkungen zu dem Satz „nemo tenetur se ipsum accusare"

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sie ungünstigen Tatsachenwürdigung trüge43. Der Grund des nach allen Verfahrensordnungen bestehenden Schutzes der Zeugen durch Gewährung eines Zeugnisverweigerungsrechts liege in dem „selbstverständlichen rechtsstaatlichen Grundsatz eines fairen Verfahrens", wonach die Persönlichkeit davor bewahrt werden müsse, „von anderen Verfahrensbeteiligten als bloßes Objekt der Wahrheitsermittlung verwendet zu werden"44. 10. Während aber so das geltende Recht Zeugen, Prozeßparteien und Beschuldigten durchweg ein Schweige- und Aussageverweigerungsrecht für den Fall der Selbstbezichtigung zubillige, „gilt dies nicht in gleicher Weise für solche Personen, die aus besonderen Rechtsgründen rechtsgeschäftlich oder gesetzlich verpflichtet sind, einem anderen oder einer Behörde die für diese notwendigen Informationen zu erteilen". Hier kollidiert das Interesse des Auskunftpflichtigen mit dem Informationsbedürfnis anderer, deren Belange in unterschiedlicher Weise berücksichtigt werden45. Zu dieser Personengruppe rechnet die Entscheidung auch den den Ausgangspunkt bildenden Fall des Gemeinschuldners (unten IV 11). Bei der nun folgenden Darstellung der Unterschiede wird vor allem unterschieden, ob es sich um ältere oder neuere oder um „aus vorkonstitutioneller Zeit überkommene" Regelungen handelt. a) Altere gesetzliche Regelungen dieser Art begnügten sich durchweg damit, lediglich eine uneingeschränkte Auskunftspflicht vorzuschreiben und Maßnahmen zur Bekräftigung oder Erzwingung der Auskünfte vorzusehen. In der Regel handele es sich dabei um Fälle, in denen allein der Auskunftspflichtige zu den erforderlichen Informationen imstande sei und der Auskunftsberechtigte ohne diese Auskunft erheblich benachteiligt wäre oder seine Aufgaben nicht ordnungsgemäß wahrnehmen könnte. Hauptanwendungsfälle seien schuld-, familien- oder erbrechtliche Auskünfte und Rechenschaftspflichten (§§ 259 ff BGB), z. T. dadurch gekennzeichnet, daß die den Gegenstand der geforderten Auskunft bildenden Handlungen einem von der Auskunftsperson durch eigenen Willensentschluß übernommenem Pflichtenkreis angehörten. Entsprechende Regelungen bestünden auch für den Vollstreckungsschuldner (§ 807 ZPO) und „im beachtlichen Umfang" im Bereich des Wirtschaftsverwaltungsrechts46. Hier werde nach bisheriger höchstrichterlicher Rechtsprechung47 der Auskunftsperson kein Auskunftsverwei-

43 44 45 46 47

BVerfGE 56, 44. BVerfGE 56, 45 mit Verweisung auf BVerfGE 38, 105, 111; BGHSt. 17, 245, 246. BVerfGE 56, 45. AuskunftspflichtVO v. 13.7.1923, RGBl. I, 723. Verweisung auf B G H Z 41, 318 (dazu ausführlich oben II 3) und RGSt. 60, 290.

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gerungsrecht zugebilligt, da sie anderenfalls besser gestellt würde als der pflichtgemäß Handelnde. b) In neueren Gesetzen sei die Konfliktslage abweichend geregelt, meist durch Zubilligung eines Auskunftsverweigerungsrechts, wenn die Beantwortung den Auskunftspflichtigen oder bestimmte Angehörige der Gefahr strafgerichtlicher Verfolgung oder eines Verfahrens nach dem O W i G aussetzen würde, so in §46 Abs. 5 GWB (hier: nachdem dies während der parlamentarischen Behandlung als rechtsstaatlich unentbehrlich bezeichnet worden war), in § 15 Abs. 3 BundesleistungsG, § 44 Abs. 3 AußenwirtschaftsG, § 4 6 Abs. 1 WaffenG, §§10 Abs. 2, 32 Abs. 1 BundesseuchenG 48 . Doch sei eine solche Regelung nicht durchgängig erfolgt; dies gelte etwa für § 18 Abs. 3 des GetreideG 4 '. Andere Konfliktsregelungen bestünden darin, daß zwar eine uneingeschränkte Auskunftspflicht vorgesehen sei, aber die Angaben grundsätzlich der Geheimhaltung unterliegen50, oder daß gar die Auskunftserteilung grundsätzlich nur als „SolP'-Vorschrift vorgesehen sei51. c) Eine andersartige Konfliktlösung

habe die AO 1977 getroffen:

„Da der Fiskus weitgehend auf die Angaben des Steuerpflichtigen angewiesen ist und der unehrliche Steuerpflichtige nicht gegenüber dem ehrlichen begünstigt werden soll, wird zwar an der Auskunftspflicht festgehalten. Das Gesetz untersagt aber den Einsatz von Zwangsmitteln, soweit der Steuerpflichtige Steuerstraftaten offenbaren müßte und ergänzt dies für andere Straftaten durch ein begrenztes strafrechtliches Verwertungsverbot (§ 393)".52

In diesem Zusammenhang wird - referierend 53 - ausgeführt, daß „schon vorher" im Schrifttum (folgen Zitate) ein weitergehendes Auskunftsverweigerungsrecht des Steuerschuldners aus der grundrechtlichen Gewährleistung der Menschenwürde und dem Grundrecht des Art. 2 Abs. 1 G G mit der Begründung hergeleitet worden sei, in der Konfliktsituation müßten die Rechte des Einzelnen dem Interesse des Steuerfiskus an der Ermittlung der materiellen Wahrheit vorgehen. Die Zahl der hier beispielsweise aufgeführten Regelungen ließe sich vermehren; z. B. § 23 GaststättenG, § 41 Abs. 4 Lebensmittel- und BedarfsgegenständeG, §§ 5 Abs. 3, 6 Abs. 4 AltölG i.d.F. vom 10.12.1979 (BGBl. I 2113). 49 Vom 3.8.1977, BGBl. I 1521; Verweisung auf die AuskunftspflichtVO (Fn.46). 50 So nach §§ 10, 11 BundesstatistikG v. 14.3.1980, BGBl. I 289. 51 So § 26 Abs. 2 VwVfG 1976, wo eine im Entwurfsstadium erwogene Verpflichtung fallen gelassen wurde, weil den Beteiligten nicht zugemutet werden könne, auch zur Aufklärung ihn belastender Umstände beizutragen. 52 Der Hinweis auf das „begrenzte" strafrechtliche Verwertungsverbot für Nichtsteuerstraftaten wird bei den späteren Erörterungen (unten VI 4) eine Rolle spielen; nach der Art des Zitierens kann nicht zweifelhaft sein, daß dieser Hinweis sich auf die in § 393 Abs. 2 und hier einschließlich des Satzes 2 - getroffene Regelung bezieht. " BVerfGE 56, 47 f.

Einige Bemerkungen zu dem Satz „nemo tenetur se ipsum accusare"

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Darüber hinaus würden „entsprechende Konfliktlösungen" im Schrifttum (folgen Zitate) auch für die sonstigen Fälle gefordert, in denen der Gesetzgeber im Interesse staatlicher Behörden oder privater Auskunftsberechtigter an einer uneingeschränkten Auskunftspflicht und an Zwangsmaßnahmen zu ihrer Erfüllung festhalte: soweit überhaupt ein Zwang zur Selbstbezichtigung vertretbar sei, dürften die erzwungenen Auskünfte nur für die nach dem jeweiligen Gesetz zulässigen Zwecke verwertet und nicht Unbefugten offenbart werden; auf jeden Fall dürften erzwungene Auskünfte über strafbare Handlungen nicht an die Strafverfolgungsbehörden weitergeleitet und von diesen nicht gegen die Auskunftsperson verwertet werden. Die Bedeutung dieses Referats über Schrifttumsäußerungen ist schwer erkennbar, insbesondere soweit es sich um die „schon vorher" geforderte Erweiterung der Verweigerungsrechte des Steuerschuldners handelt. Eine Stellungnahme des BVerfG ist mit dem Referat nicht verbunden; eine die Schrifttums wünsche generell oder im einzelnen billigende Auffassung des BVerfG kann aus ihm nicht hergeleitet werden. Die Summe der mitgeteilten Wünsche nach weitergehender Berücksichtigung des „nemo tenetur..." dient wohl eher der Einstimmung auf die für die Stellung des Gemeinschuldners gefundene Lösung. 11. Auf der Grundlage der vorstehend skizzierten Gesamtschau zieht BVerfGE 56, 48 ff. nunmehr die Folgerungen für die Behandlung des Gemeinschuldners. a) Anders als der Personengruppe der Beschuldigten, Zeugen und Prozeßparteien stehe ihm kein Auskunftsverweigerungsrecht zu. Wenn er auch nach herrschender Meinung im Konkursverfahren die Stellung einer Partei einnehme, so unterscheide er sich von den Parteien eines Zweiparteienverfahrens bereits dadurch, daß eine unterlassene Mitwirkung nicht zu seinen Lasten (oben IV 9), sondern zu Lasten der Gläubiger gehe. Materiell sei er einer der wichtigsten Informationsträger im Konkursverfahren, auf dessen Auskünfte die Gläubiger und Verfahrensorgane zur ordnungsgemäßen Abwicklung des Konkurses angewiesen seien. Zu den von ihm geschädigten Gläubigern stehe er in einem besonderen Pflichtenverhältnis; entsprechend den Erfordernissen des Konkurses habe das Gesetz seine Befugnisse und Pflichten besonders ausgestaltet (also Einreihung in die Personengruppe oben IV 10). Wenn die herrschende Meinung daraus entnehme, daß der Gemeinschuldner (bei Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes) uneingeschränkt auskunftspflichtig sei und den Interessen der Gläubigern der Vorrang vor seinem Interesse an einem Schutz gegen erzwungene Selbstbezichtigungen gebühre, so sei das verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

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„Die durch Art. 2 Abs. 1 G G gewährleistete Rechtsposition findet ihre Grenze an den Rechten anderer. Das Grundrecht gebietet daher keinen lückenlosen Schutz gegen Selbstbezichtigungen ohne Rücksicht darauf, ob dadurch schutzwürdige Belange Dritter beeinträchtigt werden". D a das G r u n d g e s e t z 5 4 die S p a n n u n g I n d i v i d u u m Sinne der G e m e i n s c h a f t s b e z o g e n h e i t u n d

Gemeinschaft im

Gemeinschaftsgebundenheit

der P e r s o n entschieden habe, müsse sich der E i n z e l n e „diejenigen Schranken seiner Handlungsfreiheit gefallen lassen, die der Gesetzgeber zur Pflege und Förderung des sozialen Zusammenlebens in den Grenzen des allgemein Zumutbaren vorsieht, vorausgesetzt, daß dabei die Eigenständigkeit der Person gewahrt bleibt". U n z u m u t b a r u n d m i t d e r M e n s c h e n w ü r d e u n v e r e i n b a r sei z w a r ein Z w a n g , d u r c h e i g e n e A u s s a g e n die V o r a u s s e t z u n g e n f ü r eine s t r a f g e r i c h t l i c h e V e r u r t e i l u n g „ o d e r die V e r h ä n g u n g e n t s p r e c h e n d e r S a n k t i o n e n " liefern z u m ü s s e n . „Handelt es sich dagegen um Auskünfte zur Erfüllung eines berechtigten Informationsbedürfnisses, ist der Gesetzgeber befugt, die Belange der verschiedenen Beteiligten gegeneinander abzuwägen. Er kann dabei berücksichtigen, daß es im Konkursverfahren - anders als bei den erwähnten verwaltungsrechtlichen Auskunftspflichten, die der Gesetzgeber in neueren Regelungen55 durch ein Aussageverweigerungsrecht für den Fall der Selbstbezichtigung ergänzt hat - nicht allein um ein staatliches oder öffentliches Informationsbedürfnis, sondern zugleich um die Interessen geschädigter Dritter geht. Nur durch eine uneingeschränkte Auskunftspflicht kann der Gemeinschuldner daran gehindert werden, Teile der Konkursmasse dem berechtigten Zugriff seiner Gläubiger zu entziehen. Die Zubilligung eines Auskunftsverweigerungsrechts würde gerade denjenigen ungerechtfertigt bevorzugen, der zum Nachteil der Gläubiger besonders verwerflich gehandelt hat. Zwingt der Gesetzgeber den Gemeinschuldner dazu, für seine Verbindlichkeiten gegenüber seinen Gläubigern einzustehen und durch seine Auskunft zu deren bestmöglicher Befriedigung beizutragen, dann verletzt das noch nicht seine Menschenwürde." b ) I n d e s s e n ist d i e s e v e r f a s s u n g s r e c h t l i c h e A b s e g n u n g d e r b i s h e r h e r r s c h e n d e n M e i n u n g , d a ß ( u n t e r B e r ü c k s i c h t i g u n g des G r u n d s a t z e s

der

Verhältnismäßigkeit) der Gemeinschuldner uneingeschränkt auskunftsp f l i c h t i g sei, n u r die eine Seite d e r M e d a i l l e : w e n n die Z u m u t b a r k e i t d e r Selbstbezichtigung (nur) d u r c h das v o r r a n g i g e Interesse an m ö g l i c h s t w e i t g e h e n d e r B e f r i e d i g u n g g e r e c h t f e r t i g t ist, s o e n d e t d a m i t aus v e r f a s sungsrechtlicher

Sicht eine weitergehende

Auswertbarkeit

Z w a n g O f f e n b a r t e n , d . h . es b e d a r f die u n b e s c h r ä n k t e e i n e r „Ergänzung

54 55

durch

ein strafrechtliches

Verwertungsverhot".

Verweisung auf BVerfGE 4, 7, 15; 8, 274, 329; 27, 344, 351. Vgl. oben IV 10 b.

des

unter

Aussagepflicht Denn

Einige Bemerkungen zu dem Satz „nemo tenetur se ipsum accusare"

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„das Persönlichkeitsrecht des Gemeinschuldners würde unverhältnismäßig beeinträchtigt, wenn seine unter Zwang herbeigeführten Selbstbezichtigungen gegen seinen Willen zweckentfremdet und der Verwertung für eine Strafverfolgung zugeführt würd e n . . . ; die Zumutung der Selbstbezichtigung für Zwecke des Konkursverfahrens „rechtfertigt es nicht, daß er zugleich zu seiner Verurteilung beitragen muß und daß die staatlichen Strafverfolgungsbehörden weitergehende Möglichkeiten erlangen als in anderen Fällen der Strafverfolgung".

c) Zur der Frage nach den Voraussetzungen und der Art der Schließung der aus verfassungsrechtlicher Sicht bestehenden Lücke enthält die Entscheidung 56 verhältnismäßig wenige Ausführungen. Sie sind aber wesentlich, da sie den Weg, aber auch die Grenzen der Lückenausfüllung beschreiben: „Die in soweit bestehende Lücke zu schließen, obliegt grundsätzlich dem Gesetzgeber, zumal nur er das Verwertungsverbot näher ausgestalten und durch Offenbarungsverbote absichern kann. Erweist sich aber eine aus vorkonstitutioneller Zeit überkommene Regelung aus verfassungsrechtlichen Gründen als ergänzungsbedürftig, dann stellt sich auch für den Richter die Aufgabe, Gesetzeslücken bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber in möglichst enger Anlehnung an das geltende Recht und unter Rückgriff auf die unmittelbar geltenden Vorschriften der Verfassung zu schließen (vgl. BVerfGE 37, 67, 81; 49, 286, 301; ferner BVerfGE 32, 23, 34). Diese Ergänzung lehnt sich an die in § 136 a StPO und in § 393 Abs. 2 A O bereits vorgesehenen Verwertungsverbote an und steht im Einklang damit, daß dem Gemeinschuldner in einem strafrechtlichen Verfahren wegen begangener Konkursdelikte ohnehin ein Schweigerecht zusteht."

d) Das dissenting vote57 des einen der 8 Richter bemängelt lediglich, daß die Lückenschließung insofern nicht weit genug gehe, als das BeweisVerwertungsverbot einer Ergänzung durch ein Verbot der Offenbarung der erzwungenen Selbstbelastung „an Unbefugte" bedurft hätte (gedacht ist dabei wohl an ein Verbot der Offenbarung gegenüber den Strafverfolgungsorganen); nur so könne „in einer dem Persönlichkeitsrecht angemessenen Weise verhindert werden, daß durch eine dysfunktionale Weitergabe, auf die der Gemeinschuldner keinen Einfluß hat, sein verfassungsmäßig abgesichertes Aussageverweigerungsrecht umgangen wird."

Darauf ist hier nicht weiter einzugehen. Wenn die Senatsmehrheit dem nicht gefolgt ist, so mag vielleicht außer anderen Gründen auch die Erwägung maßgebend gewesen sein, daß eine Verwertung der Aussage im Strafverfahren nicht schlechthin, sondern nur dann ausgeschlossen sein soll, wenn sie gegen den Willen des Gemeinschuldners erfolgt, dessen Entschließung nicht voraussehbar ist.

54 57

BVerfGE 56, 51. BVerfGE 56, 52.

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V. Beschränkung des Beweisverwertungsverbots auf „aus vorkonstitutioneller Zeit überkommene Regelungen" Von den von BVerfGE 56, 41 (oben IV 11c) angezogenen Entscheidungen, die die Schließung verfassungsrechtlich bestehender Lücken bei „aus vorkonstitutioneller Zeit überkommenen Regelungen" betreffen, befaßte sich BVerfGE 37, 67 mit dem Fall, daß die Prozeßfähigkeit eines zum Prozeßbevollmächtigten bestellten Rechtsanwalts zweifelhaft ist. Nach bisheriger Auffassung wirkt seine Prozeßunfähigkeit auch auf die Wirksamkeit seiner Prozeßhandlungen für die vertretene Partei zurück, so daß das Prozeßgericht Zweifeln an der Prozeßfähigkeit ggf. auch von Amtswegen nachzugehen habe. Verfassungsrechtlich sei diese Regelung „in ihrer prozeßrechtlichen Bedeutung" nicht zu beanstanden. Jedoch könne sich die - formell nur für die im einzelnen Rechtsstreit geltende Behandlung eines zugelassenen Rechtsanwalts als prozeßunfähig weit über den einzelnen Prozeß für seine gesamte durch Art. 12 G G geschützte Berufsausübung auswirken. Daraus ergebe sich die Notwendigkeit einer abgesonderten Entscheidung mit besonderen Rechtsschutzgarantien bei Zweifeln an seiner Prozeßfähigkeit. Dem trage bereits das geltende Recht Rechnung, wenn dauernde Unfähigkeit zur Ausübung des Anwaltsberufs wegen Schwäche seiner geistigen Kräfte in Frage steht: Dann ist es Sache der Justizverwaltung, in dem durch die B R A O geregelten Verfahren über die Zurücknahme der Zulassung zu entscheiden und die berufsrechtlichen Belange des Anwalts sind gewahrt, wenn das Prozeßgericht nicht selbst über die Prozeßunfähigkeit entscheidet, sondern die Klärung im Verfahren nach § 14 Abs. 1 Nr. 4 B R A O abwartet. Wie aber, wenn das Prozeßgericht die Geschäfts- und Prozeßfähigkeit des Anwalts nur (ganz oder partiell) für bestimmte Angelegenheiten (hier: in politischen Prozessen) in Frage stellt? Dann ist die Rückwirkung der fehlenden Prozeßfähigkeit auf die Wirksamkeit der Prozeßhandlungen prozeßrechtlich unbedenklich, aber „in berufsrechtlicher Hinsicht im Licht des Art. 12 Abs. 1 G G in Verbindung mit dem Rechtsstaatsbegriff lückenhaft". „Erweist sich eine derartige aus vorkonstitutioneller Zeit überkommene prozeßrechtlich unbedenkliche Regelung als ergänzungsbedürftig, weil die grundrechtliche Sicherung der Berufsfreiheit und das Rechtsstaatsgebot eine stärkere Berücksichtigung der berufsrechtlichen Auswirkungen erfordern, dann obliegt die Schließung der nunmehr erkannten Lücke nicht stets und ausschließlich dem Gesetzgeber. Dieser ist zwar in erster Linie zu der Ergänzung berufen, zumal er allein in der Lage ist, ohne Bindung an die bereits vorhandenen prozeßrechtlichen Vorschriften eine in jeder Hinsicht und für alle Instanzen befriedigende Regelung einschließlich der Kostenfrage zu treffen. So lange diese ergänzende Regelung fehlt, stellt sich aber auch für den Richter die Aufgabe, Gesetzeslücken nach den fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft in möglichst enger Anlehnung an das geltende Recht zu schließen (vgl. B V e r f G E 34, 2 6 9 , 2 8 7 ) " .

Einige Bemerkungen zu dem Satz „nemo tenetur se ipsum accusare"

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Im vorliegenden Fall biete sich, da eine analoge Anwendung des Verfahrens nach §§ 14 BRAO, das ausdrücklich nur auf den Fall dauernder Berufsunfähigkeit abgestellt sei, nicht in Betracht komme, am ehesten eine entsprechende Anwendung derjenigen zivilprozessualen Vorschriften an, die einen durch Zwischenurteil abzuschließenden Zwischenstreit mit Dritten betreffen (vgl. §§ 71, 135, 387 ZPO). Anders ist die Gedankenführung in BVerfGE 49, 286, wonach - in Klärung der bis dahin sehr streitigen Rechtslage - die Eintragung eines als „männlichen Geschlechts" im Geburtenbuch eingetragenen Transsexuellen jedenfalls dann zu berichtigen („weiblich") ist, wenn es sich nach den medizinischen Erkenntnissen um einen irreversiblen Fall von Transsexualismus handelt und eine geschlechtsanpassende Operation durchgeführt worden ist. Zwar fehle es an einer Regelung dieses Falles im Personenstandsgesetz. Da aber die (im einzelnen dargelegte) verfassungsrechtliche Lage zu einer unmittelbar aus dem Grundrecht des Art. 2 Abs. 1 in Verb, mit Art. 1 Abs. 1 folgenden Verpflichtung der Gerichte (zur Berichtigung) führe, möge zwar eine „Gesetzeslücke" bestehen, es könne aber jedenfalls nicht von einer „Lücke rechtlicher Regelung" gesprochen werden. „Gewiß erscheint es im Interesse der Rechtssicherheit geboten, daß der Gesetzgeber die personenstandsrechtlichen Fragen einer Geschlechtsumwandlung und deren Auswirkungen regelt58. So lange dies aber nicht geschehen ist, stellt sich für die Gerichte keine andere Aufgabe als etwa im Fall der Gleichberechtigung von Mann und Frau vor Inkrafttreten des Gleichberechtigungsgesetzes.. ," 5 '.

Vergleicht man BVerfGE 49, 286 einerseits mit BVerfGE 37, 67 und andererseits mit BVerfGE 56, 37, so wäre also zu unterscheiden zwischen einer „Gesetzeslücke", die vom Richter durch verfassungskonforme Auslegung zu schließen ist, und einer „Lücke rechtlicher Regelung", bei denen die Schließung der aus verfassungsrechtlicher Sicht bestehenden Lücke durch den Richter mittels „Ergänzung" nur bei „aus vorkonstitutioneller Zeit überkommenen Regelungen" in Betracht kommt. Eine weitere Befassung mit dem Gegensatz „Gesetzeslücke - Lücke rechtlicher Regelung" ist hier nicht möglich. Der eindeutige Ausspruch in BVerfGE 56, 57 lautet jedenfalls, was den Satz „nemo t e n e t u r . . . " anlangt, dahin, daß eine richterliche „Ergänzung" nur in Frage steht, wenn er sich auf einem anderen Rechtsgebiet nach dessen Regeln (Beweisverwertungsverbot im Strafverfahren oder „in anderen Verfahren, in denen dem Betroffenen ähnliche Sanktionen wegen seines Verhaltens drohen") auswirken soll, und eine solche Ergänzung durch Schließung einer „Lücke rechtlicher Regelung" nur bei „aus vorkonstitutioneller Zeit überkommenen Regelungen" in Betracht kommt. 5

" Was inzwischen durch Gesetz v. 10.9.1980, BGBl. I 1654 erfolgt ist. BVerfGE 49, 305.

59

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VI. Auswirkungen von BVerfGE 56, 37 Der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts entschied zwar nur über die Konfliktlage des Gemeinschuldners im Konkursverfahren. Da die dafür gefundene Lösung sich aber aus einer Gesamtschau über die Rechtsentwicklung und der Betonung der verfassungsrechtlichen Bedeutung des Satzes: „nemo tenetur..." herleitet, erhebt sich die Frage welche Folgerungen sich aus dem „Gemeinschuldner-Beschluß" für die oben unter II dargestellten drei Fallgestaltungen und für die Streitfragen betr. die steuerrechtliche Konfliktlösung (oben zu III) ergeben. 1. Zivilrechtliche und zivilprozessuale Offenbarungspflichten Am wenigsten problematisch erscheint die Rechtslage bei den Konfliktslagen, die sich aus § 807 und § 889 ZPO ergeben können (oben II 3.). Hier handelt es sich im Sinne von BVerfGE 56 5160 um „aus vorkonstitutioneller Zeit überkommene Regelungen", da sie, was die Konfliktlage anlangt, in der Zeit der Herrschaft des Grundgesetzes keine inhaltliche Änderung erfahren haben. Mit den hiernach Auskunftspflichtigen hat sich BVerfGE 56, 45 (oben IV 10) befaßt und die gleichen Erwägungen, aus denen die unbeschränkte Auskunftspflicht des Gemeinschuldners hergeleitet wird - die bei Zubilligung eines Auskunftsverweigerungsrechts zu gewärtigende Schädigung der Gläubiger und die Bevorzugung des Unredlichen gegenüber dem Redlichen - rechtfertigen auch die Lösung, daß die Belange des auf die umfassende Information angewiesenen Auskunftsberechtigten den Vorrang genießen vor dem Selbstbezichtigungszwang des Auskunftspflichtigen. Insoweit hat also BGHZ 41, 318 seine Bedeutung behalten. Andererseits gilt aber auch hier, daß der uneingeschränkte Offenbarungszwang nur der Befriedigung der Belange der Auskunftsberechtigten dienen soll und aus verfassungsrechtlicher Sicht die erzwungene Selbstbezichtigung „zweckent- • fremdet" würde, wenn sie der Verwertung für eine Strafverfolgung zugeführt würde; die Regelung der §§ 807, 889 ZPO wird also (kraft einer der Verbindlichkeit der Entscheidungen des BVerfG nach § 31 Abs. 1 BVerfGG entsprechenden autoritativen Wirkung des Spruchs) „ergänzt" durch ein Verbot, eine unter Gesetzeszwang geoffenbarte strafbare Handlung gegen den Willen des Auskunftspflichtigen in einem Strafverfahren gegen ihn zu verwerten. 2. Durchführung verhots

und Reichweite des

Ergänzungs-Beweisverwertungs-

a) Für dieses ergänzende Beweisverwertungsverbot ergeben sich aus der Entscheidung des BVerfG - verständlicherweise, da es sich ja nur aus 60

S. auch BVerfGE 37, 81.

Einige Bemerkungen zu dem Satz „nemo tenetur se ipsum accusare"

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verfassungsrechtlicher Sicht mit der Konfliktlage zu befassen hat verhältnismäßig wenig Anhaltspunkte. Deutlich ist nur: Der konkursrechtliche Selbstbezichtigungzwang für den Gemeinschuldner verletzt noch nicht seine Menschenwürde; die Notwendigkeit des ergänzenden strafrechtlichen Beweisverwertungsverbots ergibt sich daraus, daß der Selbstbezichtigungzwang doch in das durch Art. 2 Abs. 1 G G geschützte Persönlichkeitsrecht eingreift61. Daraus folgt, daß das Verwertungsverbot der Disposition des Gemeinschuldners unterliegt: „Seine Aussage darf nicht gegen seinen Willen in einem Strafverfahren gegen ihn verwendet werden" 62 . Es besteht auch nach der Auffassung der die Entscheidung tragenden Senatsmehrheit 63 kein Verbot, die erzwungene Selbstbezichtigung „an Unbefugte" zu offenbaren. Im übrigen wird in der Begründung des Beschlusses64 ausgeführt, die Ergänzung (um ein Beweisverwertungsverbot) lehne sich an die in § 136 a StPO und in § 393 Abs. 2 A O 1977 bereits vorgesehenen Verwertungsverbote an und stehe im Einklang damit, daß dem Gemeinschuldner in einem strafrechtlichen Verfahren wegen begangener Konkursdelikte „ohnehin" ein Schweigerecht zustehe. Diese zusätzliche Begründung wirkt freilich eher verdunkelnd als erhellend. Läßt man beiseite, daß (ohne weitere Erläuterung) der „Einklang" zwischen dem strafprozessualen Schweigerecht (§§ 136 Abs. 1 Satz 2, 163 a Abs. 4 Satz 2, 243 Abs. 4 Satz 1 StPO) und dem durch „Ergänzung" geschaffenen Schweigerecht („gegen seinen Willen") nur darin besteht, daß das strafprozessuale Schweigerecht auf das die Aussagen außerhalb des Strafverfahrens erfassende „Ergänzungs-Schweigerecht" ausgedehnt ist, so scheint die „Anlehnung" an § 136 a StPO - im Blick auf den konkursrechtlichen Aussagezwang - wohl darin zu bestehen, daß nach § 136 a Abs. 1 Satz 2 Zwang nur angewandt werden darf, soweit das Strafverfahrensrecht dies zuläßt, und daß § 136a Abs.3 (Verwertungsverbot auch bei Zustimmung des Beschuldigten zur Verwertung) wegen der Rechtmäßigkeit des konkursrechtlichen Aussagezwangs unanwendbar ist. Und schließlich soll wohl auch die „Anlehnung" an § 393 Abs. 2 A O in diesem Zusammenhang nicht mehr besagen, als daß auch sonst nach geltendem Recht die Kenntnis von Tatsachen, die außerhalb eines Strafverfahrens in Erfüllung gesetzlicher (hier: steuerrechtlicher) Pflichten offenbart worden sind, im Strafverfahren nicht als Beweismittel gegen den Offenbarenden verwertet werden darf. " BVerfGE 56, BVerfGE 56, " Vgl. aber das 64 BVerfGE 56, 62

41. 37 (Leitsatz). „dissenting Vote", s. oben IV 11 d. 52.

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b) So verstanden bedeutet das Beweisverwertungsverbot „kraft Ergänzung", daß alles, was der Auskunftspflichtige, sich selbst bezichtigend, außerhalb des Strafverfahrens offenbart hat, weil er in Erfüllung einer gesetzlichen Pflicht handelte, im Strafverfahren nicht gegen seinen Willen gegen ihn verwendet werden darf. Es kommt also nicht darauf an, ob - wie im Ausgangsfall von BVerfGE 56, 37 - bereits ein Zwangsmittel wegen Verweigerung der Auskunft angeordnet war, auch nicht ob es angedroht war. Es genügt, daß der Auskunftspflichtige zur Vermeidung sonst drohender Zwangsmittel und in diesem Sinn „freiwillig" in Erfüllung der mit Selbstbezichtigungzwang verbundenen uneingeschränkten Auskunftspflicht offenbarte. Da andererseits das Βeweisverwertungsverbot nicht unbedingt ist (nicht „gegen seinen Willen"), kann es den Strafverfolgungsorganen, die von der Selbstbezichtigung - auch ggf. durch Übersendung der Konkursakten - Kenntnis erhalten haben, nicht verboten sein, den Pflichtigen - selbstverständlich nach Belehrung über das erweiterte Schweigerecht - zu befragen, ob er mit einer Verwertung einverstanden sei. c) Das Verwertungsverbot erstreckt sich objektiv auf das durch Selbstbezichtigung Offenbarte. Es besteht also auch dann, wenn Dritte, die gleichviel auf welche Weise (z.B. im Fall des Gemeinschuldners als Teilnehmer an der Gläubigerversammlung, in den Fällen der §§ 807, 889 ZPO als Gläubiger oder Auskunftberechtigte) - von der Selbstbezichtigung Kenntnis erhalten haben, diese Kenntnis an die Strafverfolgungsorgane weiterleiten. Anders liegt es dagegen, wenn ein Dritter ohne Kenntnis der Selbstbezichtigung auf Grund eigener Kenntnisse und Ermittlungen Strafanzeige erstatten würde: dann würde zwar - bei fehlender Zustimmung des Beschuldigten zur Verwertung („gegen den Willen") - die Selbstbezichtigung als Beweismittel in jeder Form ausscheiden, aber nichts entgegenstehen, die Ermittlungen lediglich auf der Grundlage des Anzeigeninhalts durchzuführen. d) In diesem Zusammenhang taucht aber auch das viel umstrittene Problem der „Fernwirkung des Verwertungsverbots" wieder auf, hier in Form der Frage, ob auch die Verwertung solcher neuen Beweismittel verboten ist, deren Erlangung zwar selbständig erfolgte, aber erst durch die Selbstbezichtigung außerhalb des Strafverfahrens ermöglicht wurde, jedenfalls nicht unabhängig von ihr möglich gewesen wäre. Hier gehen die Meinungen im Schrifttum nach wie vor auseinander65. 65 Die Übersicht des Verf. über den Meinungsstand - nach dem Stand von 1976 LöweRosenberg, 23. Auf., 1976, Einl. Kap. 14 Rdn.40ff. mag (ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit) für die spätere Zeit etwa durch folgende Hinweise ergänzt werden: gegen Fernwirkungsverbot Kleinknecht 35. Aufl., 1981, Einl 53; KMR/Müller 7. Aufl., 20 zu

Einige Bemerkungen zu dem Satz „nemo tenetur se ipsum accusare"

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Auch die Rechtsprechung hat keine Klärung gebracht: BGHSt. 29, 244 betrifft nur das Sonderproblem der Fernwirkung des Verwertungsverbots aus § 7 Abs. 3 des Gesetzes zu Art. 10 G G vom 13. 8.1968; aus BVerfGE 44, 353, 383 (betr. Beschlagnahme von Akten einer Suchtberatungsstelle) läßt sich kein allgemeines Fernwirkungsverbot entnehmen". Auch BVerfGE 56, 37 schweigt zu dieser Frage. Freilich hatte schon Stürneii7 auf die Möglichkeit hingewiesen, daß die Ausführungen dieser Entscheidung über die verfassungsrechtliche Bedeutung von „nemo t e n e t u r . . . " „den Trend verstärken könnten, anstehende Streitfragen im Lichte eines ,Grundrechts auf Schweigen' zu lösen". Und in der Tat kann nach Streck68 „auf dem Hintergrund dieser Werthöhe und Wertintensität", die die Entscheidung dem Schutzrecht des Beweisverwertungsverbots beimesse, „kein Zweifel daran bestehen, daß das Verwertungsverbot, wie es das BVerfG versteht, mit unmittelbarer Fernwirkung ausgestattet ist". Streck gießt freilich insofern wieder Wasser in den Wein, als er auf die praktischen Schwierigkeiten für die Verteidigung hinweist, die Verbindung zwischen der Aussage, die unter dem Beweisverwertungsverbot stehe, und erweiterter Beweisbeschaffung der Strafverfolgungsbehörde festzustellen. „Dies muß Anlaß für die Verteidigung sein, der verbotenen Fernwirkung größte Aufmerksamkeit zu widmen". Indessen sieht BVerfGE 56, 37, 51 die Gestaltung des Verwertungsverbots als eine grundsätzlich dem (einfachen) Gesetzgeber obliegende Aufgabe an, „zumal nur er das Verwertungsverbot näher ausgestalten und durch Offenbarungsverbote absichern kann" (oben IV 11c). Aus der Ubergangsregelung, die das BVerfGE für „aus vorkonstitutioneller Zeit überkommene Regelungen" bis zum Eingreifen des (einfachen) Gesetzgebers getroffen hat, kann deshalb keine Stellungnahme zur Frage der Fernwirkung entnommen werden. In diesem Sinne auch Stürnei „Das BVerfG hat bei einer Abwägung letztlich in Kauf genommen, daß die erzwungene Selbstbelastung kaum vermeidbare negative Fernwirkung entfalten kann. Die Befürworter eines Fernwirkungsverbots können die Entscheidungen daher nicht für sich beanspruchen. Vielmehr weist der vom BVerfG entschiedene Fall gerade auf die praktischen Grenzen der Durchsetzbarkeit eines Fernwirkungsverbots, wie sie schon immer aufgezeigt worden sind."

§ 136 a; LR/Meyer 23. Aufl., 1976, Rdn.51 f. zu § 136 a; Schlücbter, Strafverfahren (1981) S.352, 3 ; für Fernwirkung Dencker Verwertungsverbote 1974, S. 76 ff. ; Roxin 16. Aufl., 1980, S. 127f.; Rüping, Theorie und Praxis der Strafverf. (1979); S.412; derselbe: Beweisverbote als Schranken der Aufklärung im Steuerrecht (1981) S. 35 ff. 66 Ebenso Stümer N J W 1981, 1758; a. M. Rogali, ZStW Bd. 91 (1980) S. 1 ff., 38 ff., 40. 67 N J W 1981, 1757. " Strafverteidiger 1981, 363. 69 N J W 1981, 1758.

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e) Eine kurze Bemerkung mag noch dem in BVerfGE 56, 41, 50 mehrmals wiederkehrenden Hinweis gelten, daß die an sich uneingeschränkte Auskunftspflicht des Gemeinschuldners - und das gleiche würde dann auch für die Fälle der §§ 807, 883 Abs. 2, 889 ZPO gelten im Einzelfall als unverhältnismäßig zu beanstanden sein könne. Stürner70 meint, bei diesem Hinweis sei wohl an Bagatellforderungen gedacht, deren Vollstreckung die Aufdeckung schwerer Verbrechen notwendig machen würde; bei einem solchen Verständnis des Hinweises beschleiche aber, „den an Rechtsklarheit und Rechtssicherheit orientierten, unter einfachrechtlichen Normen subsumierenden Zivilisten ein unbehagliches Gefühl. Soll der Anspruch auf Herausgabe einer Urkunde scheitern, nur weil der derzeitige Besitzer ein besonders großer Betrüger sein könnte und die Urkunde für den Gläubiger kaum überragenden Wert hat?"

Diese Bedenken erscheinen nicht begründet. Es mag offen bleiben, ob es wirklich praktisch vorkommt, daß ein Auskunftspflichtiger eine Auskunftsverweigerung damit begründet, er müsse sich sonst „schwerer Verbrechen" bezichtigen. Jedenfalls bezieht sich die Erwähnung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf die Stellungnahme des Bundesjustizministers im Anhörungsverfahren71, der - zu einer Zeit, als die Schaffung des Schutzes des Gemeinschuldners gegen Selbstbezichtigung durch das „strafrechtliche Verwertungsverbots" nicht abzusehen war die Vermeidung einer „übermäßigen Belastung" durch Herbeiführung der Selbstbezichtigung vermittels Anwendung von Zwangsmitteln in der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgebots sah; mit der Konstitutierung des Ergänzungs-Beweisverwertungsverbots ist jedenfalls die Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes als Mittel der Konfliktlösung entfallen72. 3. Zur Frage des Zwanges zur Selbstbezichtigung von Ordnungswidrigkeiten

durch

Offenbarung

a) Entsprechend dem Ausgangsfall, in dem der Gemeinschuldner seine Aussageverweigerung damit begründet hatte, er müsse sich möglicherweise „einer strafbaren Handlung" bezichtigen, wird in BVerfGE 56, 37 die Selbstbezichtigung durch Offenbarung von Ordnungswidrigkeiten nicht erwähnt; es ist nur von der Schließung einer Lücke in der Konkursordnung durch ein „strafrechtliches" Verwertungsverbot die Rede73. An N J W 1981, 1760. BVerfGE 56, 41, oben IV 2. 72 Zur Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes vgl. i. Übrigen BVerfGE 55, 144 (unten VI 3 c. a.A.). 73 BVerfGE 56, 37, 41, 51. 70

71

Einige Bemerkungen zu dem Satz „nemo tenetur se ipsum accusare"

45

anderer Stelle74 wird allerdings ausgeführt, ein dem strafprozessualen Schweigerecht entsprechendes Schweigerecht bestehe auch in anderen Verfahren, in denen dem Betroffenen „ähnliche Sanktionen" wegen seines Verhaltens drohten; nur als Beispiele werden Disziplinar- und Berufs-(Ehrengerichts-)verfahren genannt. Damit erhebt sich die Frage, ob zu den anderen Verfahren mit drohenden „ähnlichen Sanktionen" auch das Bußgeldverfahren mit den im OWiG vorgesehenen Reaktionen gehört, ob also auch dann, wenn nach einer aus vorkonstitutioneller Zeit überkommenen Regelung eine uneingeschränkte Auskunftspflicht besteht und sich der Pflichtige durch deren Erfüllung nur einer Ordnungswidrigkeit bezichtigen müßte, diese Regelung durch ein Verwertungsverbot für das Bußgeldverfahren zu ergänzen ist. Eine Variante des Themas wäre, daß nach einer aus vorkonstitutioneller Zeit überkommenen Regelung eine uneingeschränkte Auskunftspflicht besteht, und der Pflichtige sich einer Gesetzwidrigkeit bezichtigen müßte, die nach früherem Recht eine Straftat (leichteres Vergehen oder Übertretung) war, kraft der Umwandlung nach Art. 13 EGStGB 1974 aber nur noch als Ordnungswidrigkeit ahndbar ist. Ohne diese Sanktionsumwandlung läge nach BVerfGE 56, 37 die Notwendigkeit der Ergänzung durch ein Beweisverwertungsverbot für das Strafverfahren vor; hat sich dies geändert, weil an die Stelle des Strafverfahrens das Bußgeldverfahren getreten ist? Und wie steht es schließlich - eine Frage, zu der sich aus BVerfGE 56, 37 unmittelbar nichts ergibt, weil sie außerhalb des eng begrenzten Entscheidungsbereichs (Ergänzung aus vorkonstitutioneller Zeit überkommener Regelungen durch Verbot der Verwertung der Selbstbezichtigung als Beweismittel in einem Strafverfahren oder ähnlichen Sanktionsverfahren) liegt - , wenn das Gesetz im öffentlichen Interesse eine Auskunftspflicht begründet, und als Erzwingungsmittel Geldbuße nach dem OWiG androht, der Pflichtige aber die Erfüllung verweigert, weil er sich dadurch einer anderen Ordnungswidrigkeit selbst bezichtigen müßte? Stürner75 wendet sich („wohl entgegen dem BVerfG") gegen die Annahme, „in Bagatellverfahren, insbesondere im Ordnungswidrigkeitsverfahren" gebiete der Satz „nemo tenetur..." aus verfassungsrechtlicher Sicht die Ergänzung der Regelung durch ein Verbot der Verwertung der Aussage in einem Bußgeldverfahren. Das gehe „sehr weit, m.E. viel zu weit. Ein Verstoß gegen die Menschenwürde dürfte z.B. schwerlich vorliegen, wenn der Fahrzeughalter zur Aufklärung von Verkehrsordnungswidrigkeiten den Fahrer anzugeben hätte und im Weigerungsfalle selbst ein Bußgeld zahlen müßte, wie dies auch neuerdings wieder zur Diskussion gestanden hat7'. Wo es 74 75 76

BVerfGE 56, 43. NJW 1981, 1763. Verweisung auf Deutscher Richterbund, Information 12/1980, S.61.

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um solche Bagatellverfahren geht, ist die Verfassung ein zu schweres Geschütz; man kann sie allenfalls mit dem Argument „Wehret den Anfängen" bemühen. Uberhaupt wäre generell zu überlegen, ob auf verfassungsrechtlicher Ebene die entkriminalisierte Ordnungswidrigkeit genau den gleichen Regeln folgen muß wie die Kriminalstrafe. Zwar erscheinen Beugehaft oder Zwangsgeld zur Aussageerzwingung auch im O r d nungsverfahren verfassungsrechtlich fragwürdig; hingegen könnte es verfassungsrechtlich tragbar sein, die Auskunftsverweigerungen selbst als Ordnungswidrigkeit

zu

bewerten".

Hier klingen ähnliche Erwägungen an wie in der oben77 zitierten Entscheidung BVerwGE 43, 227. In JA 1982, 34 polemisiert, bei dem Wort „Bagatellverfahren" einhakend, Bottke gegen Stiirners Ausführungen, denn „Bagatellverfahren" kenne auch das Strafprozeßrecht und es sei nicht einzusehen, wie innerhalb der „Strafverfahren" nach „Schweregesichtspunkten" zu unterscheiden sein solle. Damit wird aber das Anliegen von Stürner verkannt, der bei den „Bagatellverfahren" schwerlich an Strafverfahren von geringer Bedeutung denkt, sondern (ohne sie freilich näher zu bezeichnen) an Verfahren, die wie „insbesondere" das Bußgeldverfahren, nicht die Festsetzung von Strafen, sondern anderer Sanktionen und Maßnahmen zum Gegenstand haben. b) Was Ordnungswidrigkeiten anlangt, deren sich ein Betroffener bei uneingeschränkter Aussage- oder Auskunftspflicht selbst bezichtigen müßte, so wird allerdings ein neuralgischer Punkt berührt, wenn man an die Flut von Verkehrsstraftaten und -ordnungswidrigkeiten denkt, in denen nicht klärbar ist, wer als Fahrzeugführer in Betracht kommt und der (durch das amtliche Kennzeichen ermittelte) Halter mit einem „Ich war nicht der Fahrer" jede Aussage verweigert. Hier bietet sich immerhin in gewissem Umfang eine präventive Abhilfe in Form der Auferlegung der Führung eines Fahrtenbuchs (§ 31 a StVZO) an. Eine dagegen gerichtete Verfassungsbeschwerde, die - der Sache nach - auch mit Vorwurf grundgesetz- und rechtsstaatwidriger Verletzung des „nemo tenetur..." begründet war, hat jüngst BVerfG (Vorprüfungsausschuß)78 nicht zur Entscheidung angenommen: Die Auferlegung diene in erster Linie präventiv-polizeilichen Zwecken; „sie dient der Erhaltung von Ordnung und Sicherheit im Straßenverkehr und damit letztlich auch der Gewährleistung der Bewegungsfreiheit und körperlichen Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 G G ) aller Bürger - den Beschwerdeführer nicht ausgenommen".

Eine mit der Auferlegung der Fahrtenbuch-Führungspflicht verbundene Auferlegung, „möglicherweise auch bei der Ahndung eines Verkehrsverstoßes als Ordnungswidrigkeit oder Straftat" mitzuwirken, verstoße nicht gegen Art. 2 Abs. 1 oder Art. 1 GG. 77 78

IV 8, Fn. 42. NJW 1982, S. 568.

Einige Bemerkungen zu dem Satz „nemo tenetur se ipsum accusare"

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„Wer selbst die Freiheit des Straßenverkehrs in Anspruch nimmt und seine Sicherheit gewährleistet wissen will, dem können in den Grenzen der Grundrechte und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auch Mitwirkungspflichten auferlegt werden, die gerade der Gewährleistung dieser Freiheit und Sicherheit für alle zu dienen bestimmt und geeignet sind. Allein durch die hier in Rede stehende - in erster Linie polizeilich begründete - Mitwirkungspflicht werden etwaige Aussage- und Zeugnisverweigerungsrechte in Ordnungswidrigkeiten- oder Strafverfahren... noch nicht b e r ü h r t . . . "

c) Werfen wir, bevor wir zu der generellen Frage zurückkommen, welche Auswirkungen sich aus BVerfGE 56, 37 ergeben könnten, wenn sich der nach gesetzlichen Vorschriften Aussage- oder Auskunftspflichtige durch die Erfüllung der Pflicht selbst einer Ordnungswidrigkeit bezichtigen müßte, zunächst einen Blick auf die in „neueren Gesetzen" getroffene Regelung (Fallgruppe oben IV 10 b), soweit sie die behördliche Überwachung von Betrieben, Anlagen und dergl. regeln. Dann ist (im Wortlaut je nach der Überwachungsaufgabe wechselnd) etwa vorgesehen, daß die Behörden oder ihre Beauftragten die nötigen Ermittlungen anstellen, dabei auch Auskünfte über Herkunft, Aufbewahrung und Verbleib bestimmter Materialien fordern, in Bücher und Belege über bestimmte Vorgänge Einsicht nehmen, deren Vorlage und sonstige der Überwachung dienende Mitwirkungsakte verlangen können. Verlangte Auskünfte sind wahrheitsgemäß zu erteilen; der Auskunftspflichtige kann aber die Auskunft auf solche Fragen verweigern, deren Beantwortung ihn selbst oder einen der in § 383 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 ZPO bezeichneten Angehörigen der Gefahr strafgerichtlicher Verfolgung oder eines Verfahrens nach dem OWiG aussetzen würde (so z.B. § 31a BinnenschiffahrtsG - BSchVG - i.d.F. vom 8.1.1969, BGBl. I 65; § 6 des Ges. über Maßnahmen zur Sicherung der Altölbeseitigung i. d. F. vom 11.12.1979, BGBl. I 2113; §46 GWB i.d.F. vom 24.9.1980, BGBl. I 1761). Von diesen Vorschriften war § 31 a BSchVG Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde, die in BVerfGE 55, 174 = NJW 1981, 1087 nicht zur Entscheidung angenommen wurde. Ein nach dieser Vorschrift Mitwirkungspflichtiger hatte die Einsichtnahme in Bücher und Geschäftspapiere verweigert, war deswegen mit Geldbuße belegt worden (§ 37 Abs. 1 Nr. 5 BSchVG) und machte in der dagegen gerichteten Verfassungsbeschwerde Verletzung seines Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG geltend. Die Begründung der Nichtannahme bringt eine wesentliche Aussage über den Inhalt des „nemo tenetur...": Der in §§55, 136 Abs. 1 Satz 2 StPO, § 46 Abs. 1 OWiG und in Verb, mit § 55 StPO „als selbstverständlich vorausgesetzte, von der Achtung vor der menschlichen Würde geprägte Grundsatz, daß niemand gezwungen werden darf, gegen sich selbst auszusagen", gewährleiste das Auskunftsverweigerungsrecht nach §31 a BSchVG. Daraus folge aber nicht, daß auch andere Erkenntnismöglichkeiten, die den Bereich der Aussagefreiheit nicht berührten, von den Betroffenen unter Hinweis auf diese Freiheit

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eingeschränkt und behindert werden dürften. Ein Recht, über die Auskunftsverweigerung hinaus zur Verdeckung einer Ordnungswidrigkeit auch die Einsichtnahme in die Bücher und Geschäftspapiere zu versagen, lasse sich weder dem Grundgesetz noch dem § 31 a BSchVG entnehmen; die vom Gesetz zugelassene Einsichtnahme in die Bücher und Geschäftspapiere verstoße auch nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, da sie ein objektiv taugliches Uberwachungsmittel sei und ein wirksames, aber gleichwohl die Handlungsfreiheit des Pflichtigen weniger einschränkendes Uberwachungsmittel nicht ersichtlich sei (s. dazu oben VI 2 e am Ende). Mit diesen Erwägungen erledigt sich auch das in BayObLGSt. 1964, 50 (oben II 1) behandelte Problem: Die Pflicht zur Beschickung von Trophäenschauen ist eine Überwachungsmaßnahme, nicht anders als z.B. die Pflicht, Abschußlisten zu führen und diese der Behörde zur Einsichtnahme vorzulegen. Die Nichterfüllung berührt nicht den Bereich der Aussagefreiheit. Aus dem Satz „nemo tenetur..." ergibt sich kein Recht des Pflichtigen, zur Verdeckung einer Ordnungswidrigkeit die Erkenntnismöglichkeit der Behörde einzuschränken. Sinnvollerweise muß Entsprechendes auch für die in BayObLGSt 1962, 163 (oben II 2) erörterte Frage der Anzeigepflicht nach § 14 GewO gelten; aus der Aussagefreiheit ergibt sich kein Recht, die gebotene Anzeige zu unterlassen, um zu verhindern, daß die Uberwachungsbehörde möglicherweise daraus die Nichterfüllung nach anderer Richtung bestehender Mitwirkungspflichten folgern kann. d) Wo aber wirklich die Aussagefreiheit in Frage steht, kann der Auffassung von Stürner, daß es für die Geltung des Satzes „nemo tenetur..." einen grundsätzlichen Unterschied begründe, ob sich der Betroffene der Gefahr strafgerichtlicher Verfolgung oder nur der Gefahr eines Verfahrens nach dem OWiG wegen einer Ordnungswidrigkeit aussetze, nicht gefolgt werden. Denn auch wenn man den Streit um den „Wesensunterschied" zwischen Straftat und Ordnungswidrigkeit79, den § 46 OWiG und die in „neueren Gesetzen" (vorstehend zu c) getroffene Regelung außer Betracht läßt, so gibt es doch keine „aus der Natur der Sache" sich ergebende exakte Grenzlinie zwischen „echtem" kriminellen Unrecht und „bloßer" Ordnungswidrigkeit, sondern die Zurechnung eines sanktionsbewehrten Gesetzesverstoßes zum kriminellen Unrecht oder zur Ordnungswidrigkeit ist Sache des (einfachen) Gesetzgebers und für den Betroffenen bildet es - und das ist für „nemo tenetur..." entscheidend - oft genug nur einen für ihn kaum belangvollen „graduellen Unterschied", ob sein Verhalten eine Straftat oder eine Ordnungs" Dazu LR/Schäfer (Fn.65), Einl., Kap. 3 Rdn.92ff.

Einige Bemerkungen zu dem Satz „nemo tenetur se ipsum accusare"

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Widrigkeit darstellt; kann doch eine kleine Geldstrafe wegen eines leichten Vergehens ihn viel weniger fühlbar treffen, als eine hohe Geldbuße wegen einer „schweren" Ordnungswidrigkeit 80 . Auch de lege ferenda spricht wohl alles dagegen, daß der Gesetzgeber hinsichtlich der Geltung des „nemo t e n e t u r . . . " geneigt sein könnte, zwischen Selbstbezichtigung einer Straftat oder „nur" einer Ordnungswidrigkeit (oder gar innerhalb des Strafrechts81) Unterscheidungen zu treffen. 4. Auswirkungen

auf Regelungen der AO 1977?

a) Nach 5 393 Abs. 1 AO 1977 dürfen zwar Zwangsmittel (§ 328) gegen den Steuerpflichtigen nicht angewandt werden, wenn er dadurch gezwungen würde, sich selbst wegen einer von ihm begangenen Steuerstraftat oder Steuerordnungswidrigkeit zu bezichtigen. Seine Pflicht zur Mitwirkung bei der Ermittlung des Sachverhalts bleibt aber nach herrschender Ansicht bestehen; dies äußert sich darin, daß ihm bei Verweigerung der Auskunftspflicht nachteilige und belastende Schätzungen der Steuerschuld drohen. Auch besteht wegen der Begrenzung eines Verwertungsverbots in § 393 Abs. 2 A O kein Verbot, das ohne Anwendung von Zwangsmitteln, aber unter dem Druck der Mitwirkungspflicht Offenbarte im Strafverfahren zu verwerten. Gegen diese Folgerungen der herrschenden Meinung wendet sich Streck", weil sie mit dem üblichen Argument, der Steuerhinterzieher dürfe nicht besser behandelt werden als der Steuerehrliche, nicht gerechtfertigt werden könnten: wenn der „Verfolgte" das aus Art. 1, 2 G G ableitbare „Urrecht" in Anspruch nehme, könne dies die Finanzverwaltung nicht als Pflichtverletzung mit nachteiligen Schätzungen „sanktionieren". Und solle der Hinterzieher strafrechtlich schlechter behandelt werden dürfen als der Dieb, Betrüger oder Totschläger, nur weil er im übrigen nicht besser behandelt werden solle als der gutwillige Zahler? Gäbe es kein probates Mittel zur Lösung dieses Konfliktes, „so kann es im Einzelfall richtig sein, den Hinterzieher steuerlich besser zu behandeln als den gutwilligen Steuerzahler, um ihn strafrechtlich nicht schlechter zu behandeln als sozial schädlichere' Kriminelle". BVerfGE 56, 37 zeige nunmehr aber den Weg zur richtigen und angemessenen Lösung der Konfliktsituation des § 393 Abs. 1 A O , nämlich Mitwirkungszwang des Steuerpflichtigen, ,0 Vgl. dazu BVerfG, N J W 1977, S. 1629 - Geltung des Verbots gemeinsamer Verteidigung, § 146 StPO, kraft des § 46 O W i G auch in gerichtlichen Bußgeldverfahren - und BVerfG, M D R 1980, 26 betr. Zulässigkeit des Fahrverbots sowohl als Nebenstrafe einer. Straftat nach § 44 StGB wie auch als Nebenfolge einer Ordnungswidrigkeit nach § 25 StVG. " Vgl. dazu Rieß, G A 1981, 47 zu den Vorschlägen von Bianca Fischer. »2 Strafverteidiger 1981, 364.

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aber nur für Zwecke der Besteuerung, dagegen Verwertungsverbot der Selbstbezichtigung im Steuerstrafverfahren, verbunden mit einem Fernwirkungsverbot. Das entspreche, ohne daß es eines gesetzgeberischen Eingriffs bedürfe, einer verfassungskonformen Auslegung des § 393 A O . Freilich sei zu erwarten, daß die „Bindungen von Traditionen, Üblichkeiten und Rechtsbeharrung einer solchen klaren Trennung von Abgaben- und Verfahrensrecht mit Ablehnung gegenüberstehen. Es sei auch eingeräumt, daß sich die Steuerfahndungspraxis erheblich ändern müßte". b) Auswirkungen auf §393 Abs. 2? „Das BVerfG deutet im Gemeinschuldnerbeschluß" - so führt Stürner83 aus „kurz an, daß das öffentliche Informationsbedürfnis regelmäßig dem Schutz vor Selbstbezichtigung nachstehe. Man wird diese Rangordnung zu ergänzen haben: sofern das öffentliche Interesse an Wahrheitsvermittlung auf bestimmten Gebieten höher zu bewerten ist, geht der Schutz vor Selbstbelastung dem öffentlichen Interesse an Strafverfolgung vor".

Bei erzwingbaren Aufklärungspflichten (verwiesen wird u. a. auf § 328 AO) verlange der Schutz vor Selbstbelastung entweder Aussageverweigerungsrechte oder strafprozessuale Verwertungsverbote. Da das Verwertungsverbot im Fall der §§ 393 Abs. 2 Satz 2, 30 Abs. 4 Nr. 5 A O entfalle, „liege es nahe", diese Gesetzeslücke durch Weigerungsrechte zu schließen. Diese Ausführungen lassen m. E. offen, ob die „nahe liegende" Schließung der Lücke als Aufgabe des Gesetzgebers gedacht ist oder ob sie schon nach der lex lata im Wege verfassungskonformer Auslegung durch die Rechtsprechung durchzuführen wäre. c) Der Verfasser der vorliegenden Zeilen glaubt sich bei seiner Stellungnahme zu den vorstehenden Ausführungen wie auch zu den oben unter III 5 b, c dargestellten Einwendungen kurz fassen zu können. Seine Ausführungen sollen, wie eingangs dargelegt, nur der Frage gelten, welche Auswirkungen sich unmittelbar aus BVerfGE 56, 37 im Sinne einer sofort kraft bindenden Spruchs des Bundesverfassungsgerichts eintretenden Ergänzung der lex lata ergeben. Insoweit ist aber nochmals auf die im Lauf der Erörterungen wiederholt angesprochene begrenzte Bedeutung des Gemeinschuldnerbeschlusses hinzuweisen, wie sie zusammenfassend in BVerfGE 56, 51 niedergelegt ist: Lücken zu schließen „obliegt grundsätzlich dem Gesetzgeber, zumal nur er das Verwertungsverbot näher ausgestalten und durch Offenbarungsverbote absichern kann". N u r bei den „aus vorkonstitutioneller Zeit überkommenen Regelungen" stellt sich für den Richter alsbald die Aufgabe, bis zu einer

»3 N J W 1981, 1761.

Einige Bemerkungen zu dem Satz „nemo tenetur se ipsum accusare"

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Neuregelung durch den Gesetzgeber aus verfassungsrechtlichen Gründen bestehende Gesetzeslücken zu schließen, und zwar „in möglichst enger Anlehnung an das geltende Recht", wobei gerade auf die „in § 136 a StPO und in § 393 Abs. 2 A O bereits vorgesehenen Verwertungsverbote" hingewiesen wird. § 393 A O (und damit auch § 30 Abs. 4 Nr. 584 auf den § 393 Abs. 2 Satz 2 verweist) aber ist nicht nur keine „vorkonstitutionelle überkommene Regelung", sondern eine Regelung aus neuester Zeit, die unbeschadet der Differenz während der parlamentarischen Erörterungen um die „richtige" oder zweckmäßige Ausgestaltung , so doch jedenfalls in dem Bemühen um Verfassungskonformität getroffen worden ist. Sollte künftig der (einfache) Gesetzgeber Anlaß zu Änderungen sehen, so würde er nicht unter dem Zwang einer aus BVerfGE 56, 37 sich ergebenden Notwendigkeit handeln, wie auch die Rechtsprechung außerhalb des in BVerfGE 56, 51 umschriebenen Bereichs einer Ergänzungsnotwendigkeit Abweichungen vom geschriebenen Recht nicht damit begründen könnte, dem verfassungsgerichtlichen Gebot zu entsprechen.

M In diesem Zusammenhang mag, soweit es sich um das „zwingende öffentliche Interesse an einer Strafverfolgung " des § 30 Abs. 4 Nr. 5 A O handelt, auch auf die in § 46 Abs. 9 G W B i . d . F . vom 2 4 . 8 . 1 9 8 0 (BGBl. I 1761) (und ähnlich in § 5 Abs. 5 AltölG i . d . F . vom 11.12.1979, BGBl. I 2113) getroffene Regelung verwiesen werden, wonach die durch Überwachungsmaßnahmen erlangten Kenntnisse und Unterlagen u. a. nicht für ein Verfahren wegen einer Steuerstraftat verwendet werden dürfen, außer wenn an dessen Durchführung ein zwingendes öffentliches Interesse besteht.

Justizgewährungspflicht und Abblocken von Verteidigungsvorbringen KARL PETERS

I. Allgemeine Probleme Sowohl der Begriff Justizgewährungspflicht als auch der Begriff des Abblockens bedarf einer näheren Umschreibung. Trotz der gründlichen Behandlung des Begriffs Justizgewährungspflicht durch Eberh. Schmidt führt er im strafprozessualen Schrifttum und in der Rechtsprechung ein stilles Dasein1. Es geht darum, diesen Begriff in seiner strafprozessualen Bedeutung auszuschöpfen. Den Begriff des Abblockens 2 habe ich in meinem Lehrbuch mit Leben zu füllen versucht. 1.

Justizgewährungspflicht Justizgewährungspflicht bedeutet zunächst einmal die Verpflichtung des Staates zur sachgemäßen Behandlung von Rechtsstreitigkeiten, persönlichen und sachlichen Rechtslagen sowie der Verfolgung von Straftaten Gerichte zu schaffen, ihnen die reale Möglichkeit zur Wahrnehmung der Rechtspflege und zum Rechtsprechen nach Wahrheit und Gerechtig-

1 Zum Begriff der Justizgewährungspflicht grundlegend: Goldschmidt, Der Prozeß als Rechtslage, 1925, S.78ff., 138ff., 263ff.; Niese, Doppelfunktionelle Prozeßhandlungen, 1950, S.24, 59, 60; Eberh. Schmidt, Lehrkommentar zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungsrecht, Teil I, 2. Aufl., 1964, S. 35-48 (allgemein); Teil II, 1957, Vorb. z. 8. u. 9. Abschnitt Rdn. 4 (S.226), Vorb. z. § 155 Rdn.8, Vorb. z. Buch Rechtsmittel Rdn. 2 (S. 846) (zum speziellen Problem). Einschränkend gegenüber Eberh. Schmidt KMR-Sax 7. Aufl., 1980, Einl. X Rdn. 9 ff.

Die Strafprozeßrechtslehre, sofern sie überhaupt den Begriff erwähnt, beschränkt sich gegenüber diesen ausführlichen Stellungnahmen in aller Regel auf kurze Bemerkungen: Baumann, Grundbegriffe und Verfahrensprinzipien des Strafprozeßrechts, 3. Aufl., 1979, S. 20; Gössel, Strafverfahrensrecht, 1977, S. 164; Henkel, Strafverfahrensrecht 2. Aufl., 1968, S. 15, 84, 244 ff.; Κ .Peters, Strafprozeß, 3. Aufl., 1981, S.21, 134; Zipf, Strafprozeßrecht 2. Aufl., 1977, S.17ff. Statt des Begriffs Justizgewährungspflicht wird auch vom Justizgewährungsanspruch gesprochen, so Kern/Wolf, Gerichtsverfassungsrecht 5. Aufl., 1975, S. 5, 175 ff. Dieser Begriff wird in der Tat in einem engeren Sinn, nämlich als Anspruch des einzelnen hinsichtlich der Verfahrensgestaltung verstanden. Aus dem zivilprozessualen Schrifttum sei hingewiesen auf Baumann, Grundbegriffe und Verfahrensprinzipien des Zivilprozesses, 2. Aufl., 1979, S. 20, 160. 2 D e r Begriff ist in meinem Lehrbuch Strafprozeß (3. Aufl., 1981) wiederholt verwandt (S. 28, 77, 83, 672).

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keit 3 zu gewähren. Es handelt sich bei der Justizgewährung um die Erfüllung einer im materiellen Staatsrecht begründeten Aufgabe. Das Gebot der Justizgewährung richtet sich als erstes an den Gesetzgeber. Er hat Gerichte zur Verfügung zu stellen, den Rahmen ihrer Aufgaben durch die Setzung des materiellen Rechts zu bestimmen, die Gerichtsverfassung und das Gerichtsverfahren zu regeln. In seiner Aufgabenerfüllung ist der Gesetzgeber teils gebunden, teils frei. So kann er nicht beliebig die Justizgewährung einschränken. Es gibt streng einzuhaltende Maßstäbe von der Sache und dem Verfassungsauftrag her sowohl dem Inhalt als der Form nach 4 . Das Ziel ist ihm durch die Ausrichtung auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Rechtsfrieden vorgegeben. E r muß eine Gestaltung finden, die die Justiz funktionsfähig macht. Andererseits gibt es frei zu findende Grenzen des Umfangs und der Form. Die Einzelheiten unterliegen sachbezogenen Zweckmäßigkeitserwägungen 5 . Die organisatorische Umsetzung des Gesetzeswillens in die Realität geschieht durch die Justizverwaltung. Sie hat die Aufgabe, die im Justizbereich arbeitenden Organe einzurichten und sachgemäß zu besetzen. Das bedeutet Einsetzung geeigneter und befähigter Amtsträger. Die Eignung hängt nicht nur von der jeweiligen Persönlichkeit, sondern auch von ihrer Ausbildung ab. Der Zusammenhang von Justizgewährung und Ausbildung sollte nicht übersehen werden. Der nicht hinreichend ausgebildete Richter ist nicht in der Lage, die Erreichung des Justizgewährungsziels zu garantieren. Daraus ergibt sich je nach der Gerichtssparte die Möglichkeit von verschiedenartigen Ausbildungswegen. Die Ausbildung muß sowohl die Fähigkeit zum juristischen Urteil als auch die Fertigkeit zur Sachverhaltsermittlung gewährleisten. Die Konkretisierung der Justizgewährungspflicht liegt in der alltäglichen Arbeit der Richter und der sonstigen Justizorgane. Von ihnen hängt es ab, ob Justizgewährung gegenüber den Justizbetroffenen geschieht oder nicht. Weitere Voraussetzungen der Erfüllung der Justizgewährung sind Unabhängigkeit des Richters und Bindung an Gesetz und Recht.

3 Mit Nachdruck wird von Eberh. Schmidt, Lehrk. I (Fn. 1), S. 44, Wahrheit und Gerechtigkeit als bestimmtes Element der Justizgewährung bezeichnet. Die Gefahr, die daraus folgt, dieses Ziel aus Realitätsgründen zu relativieren, wird uns noch zu beschäftigen haben. 4 Es steht dem Gesetzgeber nicht frei, schwere Delikte folgenlos bleiben zu lassen: Vgl. BVerfGE 39,1 zur Frage der Abtreibung. Wohl aber kann er darüber frei entscheiden, wie weit Strafrecht und Strafverfolgung in den unteren Bereich der Kriminalität hineinragen sollen. 5 Gesichtspunkte wie Möglichkeiten, Praktikabilität, Finanzierbarkeit und Verhältnismäßigkeit spielen eine Rolle.

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Um die Erhaltung dieser Grundlagen der Justizgewährung muß um so mehr gerungen werden, als sie immer wieder Angriffen und Versuchungen ausgesetzt sind. Staatliche Einflußnahmen auf die Rechtspflege, sei es durch Anweisungen, unmittelbare oder mittelbare Drohungen oder Warnung, sind in dem nach 1945 aufgebauten Rechtsstaat kein nennenswerter Störungsfaktor. Die Beeinträchtigung der richterlichen Unabhängigkeit geht aber mehr von der Gesellschaft aus. Gezielte Angriffe aus dem gesellschaftlichen Bereich, unsachliche Kritik an der Rechtsprechung, Demonstrationen oder Bürgerinitiativen sind durchaus geeignet, auf die Dauer einen Verunsicherungs- oder Abkapselungsprozeß in die Wege zu leiten. Die Verunsicherung kann soweit gehen, daß Regierung und Politiker sich scheuen, offensichtliche Rechtsbrüche an die Justiz heranzutragen, wohl aber eine Ausschaltung ihrer Tätigkeit hinzunehmen. Folgen richterlicher Verunsicherung durch Gesellschaftsgruppen können Anlaß dazu sein, daß die Justiz zu lasch oder im Übermaß verfährt. Es wäre einer eigenen Abhandlung wert, sich mit den gesellschaftlichen Einwirkungen auf die Justiz auseinanderzusetzen. Mir geht es in dieser Abhandlung jedoch um ein justizinternes Problem, um das Problem des Verhältnisses zwischen Richter und Betroffenem. Die Justizgewährungspflicht verwirklicht der Richter im konkreten Verfahren nach den ihm gesetzten prozessualen Rahmenbedingungen. Das wird mit dem Begriff der Justizförmigkeit 6 zum Ausdruck gebracht. Die Pflicht zur Justizförmigkeit hat wie die sie umfassende Justizgewährungspflicht nicht nur einen strafprozeßrechtlichen, sondern auch einen verfassungsrechtlichen Charakter. Justizförmigkeit ermächtigt und bindet zugleich verfassungsrechtlich die rechtsprechende Gewalt7. Im Verfahren begegnet der einzelne der Rechtspflege mit seinem Anspruch auf Justizgewährung. Wie in aller Regel Rechte mit Pflichten verbunden sind, so enthält der Justizgewährungsanspruch des einzelnen die Pflicht, sich auch seinerseits justizförmig zu verhalten. Das gilt in der Straf-

6 Der Begriff der Justizförmigkeit ist von grundlegender Bedeutung für die systematische Erfassung des Strafprozesses. Vgl. Eberh. Schmidt, Lehrk. Teil I (Fn. 1), Rdn.22, 41, 244; E. Schlechter, Das Strafverfahren, 1981, Rdn. 1, 2, 3, 4 2 . JustizgewährungspflichtJustizförmigkeit-Verteidigung verbindet H. Müller, Verteidigung und Verteidiger im System des Strafverfahrens, dargestellt am Beispiel der zürcherischen Prozeßordnung, Zürich, 1975, S. 1 f. 7 Anders ausgedrückt: Strafprozeßrecht ist in seinen grundlegenden Vorschriften konkretisiertes Verfassungsrecht. Das ist von Bedeutung für den grundrechtlichen Schutz strafprozessualer Rechtsstellungen. Die Kennzeichnung verfahrensrechtlicher Vorschriften als „einfaches Recht" geht nicht selten auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu weit. Dazu mein Lehrbuch Strafprozeß 3. Aufl., 1981, S.28, 633. Ganz allgemein: Ingo Müller, Rechtsstaat und Strafverfahren, 1880.

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rechtspflege für alle P r o z e ß b e t e i l i g t e n , w i e Beschuldigter 8 , Z e u g e , Sachverständiger, Privatkläger, N e b e n k l ä g e r . V o r g ä n g e u n d A k t e unterliegen u n t e r d e m G e s i c h t s p u n k t der J u s t i z g e w ä h r u n g u n d d e r J u s t i z a n n a h m e s o w o h l materiellrechtlichen als a u c h p r o z e s s u a l e n W e r t u n g e n . D a s gilt für alle Stufen der U m s e t z u n g in die R e a l i t ä t : G e s e t z g e b u n g , V e r w a l t u n g , R e c h t s p r e c h u n g , soziales V e r h a l ten d e r G e m e i n s c h a f t s g l i e d e r . M a ß s t a b der materiellrechtlichen

Wer-

t u n g sind W a h r h e i t u n d G e r e c h t i g k e i t , R i c h t i g k e i t u n d R e c h t m ä ß i g k e i t . M a ß s t a b der f o r m e l l r e c h t l i c h e n W e r t u n g ist die G e e i g n e t h e i t , den W e g der materiellen Z i e l s e t z u n g z u eröffnen u n d z u gewährleisten'. Dieses Ziel k a n n verfehlt w e r d e n d u r c h F o r m l o s i g k e i t ' 0 als a u c h d u r c h F o r m ü b e r t r e i b u n g . I m V e r f a h r e n erfolgen die beiden W e r t u n g e n in der W e i s e stufenartig, daß z u n ä c h s t die formelle P r ü f u n g v o r g e n o m m e n w i r d . Sie f ü h r t z u einer „ V o r e n t s c h e i d u n g " ,

die den P r o z e ß in die materielle

8 Der Verfahrensboykott als das schärfste Mittel der Prozeßverfahrensbehinderung durch den Beschuldigten und den Verteidiger stellt nicht nur prozeßwidriges Verhalten dar, sondern auch Verletzung der verfassungsrechtlichen Justizunterworfenheit. Für den Verteidiger ergibt sich zudem ein schwerer Verstoß gegen seine Standespflichten. ' Das Prozeßziel wird nicht immer erreicht. Es kann zu tatsächlich und rechtlich falschen Urteilen kommen. Mit Recht weist Eberh. Schmidt, Lehrk. Teil I (Fn. 1) Rdn. 284 Anm. 508 darauf hin, daß verharmlosende Theorien, zu der auch die von mir vertretene Auffassung von der rechtsgestaltenden Kraft (Lehrb. S. 479) des Fehlurteils zählt, nicht über das Bittere für den Betroffenen hinwegtäuschen kann. Eberh. Schmidt sieht in der von ihm abgelehnten Auffassung einen billigen Trost für den Richter. Daß auch das Fehlurteil infolge der Rechtskraft Rechtswirkungen begründet, kann in der Tat kein Trost für den Richter sein. Vielmehr verstärkt sich das ohnehin gegebene Verhängnis des Fehlurteils. Unbefriedigend empfinde ich Rechtstheorien, die das Prozeßziel tiefer ansetzen, wie der Gedanke des Rechtsfriedens als Prozeßziel. Er reicht für den Strafprozeß nicht aus. Zum Rechtsfriedengedanken vgl. vor allem Schmidhäuser, Zur Frage nach dem Ziel des Strafprozesses, Festschrift Eb. Schmidt, 1961, S.511. Die Gültigkeit des Grundsatzes der Wahrheits- (Wirklichkeits-, Richtigkeits-)findung wird auch nicht durch Beweisverbote ausgeräumt oder beschränkt, wie Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, 1981, 137 ff meint. Im Strafprozeß besagt der Wahrheitsgrundsatz, daß die Verurteilung aufgrund der richtigen Feststellung des dem Straftatbestand entsprechenden Sachverhalts erfolgen muß. Wo die Beweisführung die Richtigkeit nicht erbringt, kommt es, abgesehen von Fällen eindeutiger Unschuld, zu einem dem Gesetz entsprechenden non liquet. Die Wahrheitsfrage taucht dann nicht mehr auf. 10 Die eindringlichen Warnungen, die Eberh. Schmidt, Die Kriegsstrafverfahrensordnung im Ganzen der deutschen Strafprozeßentwicklung, ZStW Bd. 61 (1942), 428 (434 ff.) geäußert hat, gelten nicht nur für die Zeit, in der sie gesprochen worden sind. Formauflokkerungen, erst recht Formlosigkeit, meist mit Zweckmäßigkeitserwägungen begründet, bedeuten nur allzu leicht eine Gefährdung der Wahrheit und Gerechtigkeit. Gefährliche Auswirkungen können auch relativierende Auffassungen haben („relative Wahrheit", „Unmöglichkeit mathematischer Sicherheit - sog. Wahrscheinlichkeitstheorien"). Sie führen zu einer zu frühen Überzeugungsgewinnung. Sie entlasten den Richter zu vorzeitig. Es gibt nur ein entweder oder. Entweder hat der Angeklagte den Menschen getötet oder nicht, entweder hat er das unterschlagene Geld erhalten oder nicht, entweder hat er die Sache entwendet oder nicht. Je nach dem ist das Urteil „wahr und gerecht" oder nicht.

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Prüfung überführt. Damit ist freilich die Möglichkeit gegeben, die sachliche Prüfung über Gebühr einzuschränken. Die materiellrechtliche Prüfung beschränkt sich im Verfahren keineswegs nur auf Rechtserwägungen. Sie setzen vielmehr die richtige Sachverhaltsfeststellung voraus, ohne die die Beantwortung der Rechtsfragen in der Luft hängen. Der Maßstab Wahrheit und Richtigkeit richtet sich auf die Tatsachenforschung, ohne die Gerechtigkeit und Rechtmäßigkeit nicht verwirklicht werden können. Daraus folgt, daß nicht nur die Rechtsanwendung klar, bestimmt, folgerichtig und systementsprechend sein muß, sondern daß auch die Tatsachenforschung gewährleistet sein muß. Die Justizgewährungspflicht ist daher nur erfüllt, wenn auch die aus der Sachverhaltsaufklärung ergebenden Sachnotwendigkeiten erfüllt sind. 2. Abblocken von Einwänden „Abblocken" von Einwänden im Prozeß bedeutet die prinzipielle Verkürzung verfahrensrechtlich eingeräumter Möglichkeiten der Betätigung von Prozeßbeteiligten. „Abblocken" geht über den bloßen Irrtum des Richters im Einzelfall hinaus. Entscheidend ist vielmehr, daß eine auf grundsätzlicher Einstellung beruhende Entscheidung mit der Tendenz auf Allgemeingültigkeit die prozessualrechtlich gewährte Ausgeglichenheit in Frage stellt und damit die Richtung auf Strukturveränderung anzeigt. Aber nicht immer beruht das Abblocken auf Tendenzänderung. Es kann auch auf Tendenzverharrung gegründet sein, nämlich dann, wenn sich die Unhaltbarkeit bisher eingenommener Positionen infolge der Erkenntnisentwicklung ergibt, die alten Positionen aber beibehalten werden. Entscheidend ist in beiden Fällen die mangelnde Fähigkeit oder Bereitschaft zum Anhören. Justizgewährung setzt ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Justiz und Strafverteidigung voraus. Sowohl die eine als auch die andere Seite kann bestrebt sein, ihren Machtbereich auszudehnen und den Handlungsbereich des anderen einzuengen. Diese Verstärkung der eigenen Position und die Verkürzung der anderen Position vollzieht sich ganz überwiegend im Bewußtsein der „Verteidigung der Rechtsordnung". Sie ist in einer einseitigen Sicht der Handlungsbeteiligten begründet. Sie erfolgt im juristischen Freiraum. Dieser ergibt sich vor allem dort, wo der Gesetzgeber den Prozeßbeteiligten Handlungsfreiheit durch Einräumen von Ermessen, Beurteilungsvariationen und Auslegungsmöglichkeiten eröffnet. Die Ausnutzung juristischer Freiräume hängt ab von dem Selbstverständnis des jeweiligen Amtsträgers, der gegenseitigen Einschätzung und der Interessenabwägung. D a dem Richter die Entscheidungsbefugnis zusteht, kommt es wesentlich auf ihn an wie der Prozeß verläuft und welches dessen Endergebnis ist. Es ergeben sich vor allem dann Spannungen unter den Prozeßbeteiligten, wenn die eine oder

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andere Seite vermeintlich oder wirklich die vom Gesetzgeber erstrebte Balance nicht mehr einhält. Wenn nicht alles täuscht, unterliegt der heutige Strafprozeß in erhöhtem Maß bedauerlichen Spannungen zwischen Gericht/Staatsanwaltschaft einerseits und Strafverteidiger/Beschuldigter andererseits. Es wäre eine allzu leichte Vereinfachung, die Verantwortung für derartige Spannungen einseitig der einen oder anderen Seite zuzuschreiben. Klagen kommen von beiden Seiten. D e m Strafverteidiger und dem Angeklagten werden Prozeßboykott, Prozeßverschleppung, einseitige Ausnutzung der prozessualen Position und unehrliche Prozeßführung vorgeworfen. Der Vorwurf gegenüber dem Richter geht vor allem auf Beschränkung der Verteidigung durch Abschneiden von Verteidigungsvorbringen, durch Uberdehnung gesetzlicher Befugnisse, durch ungenügende Bereitschaft zum Anhören und Abwägung des Angehörten. So wichtig auch das Thema „Verhinderung der Justizgewährung von außen her" sein mag, so muß es doch unberücksichtigt bleiben, um der anderen Frage „Einschränkung der Justizgewährung durch die prozessuale Gestaltung der Justizverwirklichung" willen. Gründe dafür können sich aus den Funktionen der Strafrechtspflege, aus der richterlichen Amtsauffassung, dem richterlichen Selbstverständnis, dem richterlichen Erfahrungsbereich, aus Praktikabilitäts- und Zweckmäßigkeitserwägungen und dem auf der Universität und in der Justiz gewonnenen Ausbildungsfundus ergeben. Auf diesen Grundlagen beruhen Gesetzesanwendung und Gesetzesauslegung sowie Sachverhaltsaufnahme und Sachverhaltswürdigung. II. Einzelprobleme 11

1. Freie Beweiswürdigung Die Verpflichtung, die Wahrheit zu suchen und Gerechtigkeit zu üben, wird kein Richter in Abrede stellen. Aber was ist wahr und was ist gerecht? Die Wahrheitssuche wird nicht nur vom Richter, sondern auch von der Wissenschaft durch die Erkenntnis der Grenzen menschlichen Bemühens bestimmt. Die an sich durchaus vorhandene Skepsis kann vor allem in der Strafrechtspflege zu einer zurückhaltenden Vorsicht, aber auch zu einer zu frühen Selbstberuhigung führen. Der eine Richter belastet mit dem Unsicherheitsrisiko sich selbst und sein Urteil, indem er mit äußerster Vorsicht die Beweisaufnahme und die Beweiswürdigung durchführt 12 , der andere hält eine gewisse Risikobelastung des Angeklag11

Das Schrifttum zur freien Beweiswürdigung ist in meinem Lehrbuch (Fn. 2), S. 270 angeführt; zur Problematik ausführlich dort S. 281 ff., 603, 612 ff. 12

A l l e r d i n g s k a n n er d a n n e r l e b e n , d a ß d a s U r t e i l in d e r R e v i s i o n s i n s t a n z a u f g e h o b e n

wird. Das geschieht mit der Begründung, der Richter habe allgemeine theoretische Zweifel

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ten um der Aufrechterhaltung der Rechtsordnung und ihrer Funktionsnotwendigkeit willen für geboten. Dabei wirkt sich aus, was der Richter zur Bewältigung seiner Aufgaben gelernt hat und was für Erfahrungen er in seinem Amt und in seinem Leben gemacht hat. So stehen Richter mit verschiedenem Kenntnis- und Erfahrungsstand nebeneinander13. Der zur Abwicklung gebotene Kenntnisstand ist freilich nur bruchstückhaft. Der notwendigen Rechtsausbildung steht ein auffallender Mangel an Bildung in den die Aufklärung betreffenden Realien, vor allem auf dem Gebiet der Kriminalistik und der Aussagepsychologie 14 gegenüber. Die vorhandene Lücke wird durch persönliche Meinungen, Eindrücke, Uberzeugungen und Erfahrungen ausgefüllt. Ein großes Teilgebiet strafprozessualer Verwirklichung liegt damit im Subjektiven. Ob aber die Meinungen und Uberzeugungen hinreichend abgesichert sind, bleibt eine offene Frage. Auch die Berufung auf die gewonnenen Erfahrungen 15 läßt die Antwort offen, ob diese objektiv zutreffend sind, ob sie nicht vielmehr der objektiven Kontrolle bedürfen. Zudem ist die Berufung auf die Erfahrung auch deswegen fragwürdig, weil in der Strafrechtspflege auch Berufsrichter ohne Erfahrungen oder doch mit nur begrenzten Erfahrungen in Strafverfahren tätig sind". Aber selbst, wo hinreichende Erfahrungen gewonnen sind, bleibt es offen, ob gerade der konkrete Vorgang erfahrungsgemäß abgelaufen ist17. Die Erfahrung, daß ein Angeklagter oft die Unwahrheit sagt, daß der Verteidiger nicht selten bei der Uberzeugungsbildung angewandt. Er habe zu hohe Anforderungen an die Uberzeugungsbildung gestellt. Einzelheiten zur Problematik der Überzeugungsbildung beim Freispruch bei Löwe-Rosenberg (künftig abgekürzt: L R ) - M e y e r , StPO, 23. Aufl., 1978, § 3 3 7 Rdn. 116. Zum einen Fall der Uberzeugungsbildung bei Freispruch vgl. meine Besprechung J R 1977, 81. 13 Darin liegt ein wesentlicher Grund für die in meinem Buch: Justiz als Schicksal, 1979, sichtbar gemachte Problematik der Zufälligkeit des Ausgangs von Prozessen im Bereich objektiv unsicheren Sachverhalts. 14 Zu den Ausbildungsproblemen habe ich eingehend in: Fehlerquellen im Strafprozeß, Bd. II, 1972, 331 ff. mit Vorschlägen Stellung genommen; neuerdings auch im Lehrbuch (Fn.2), S.47, 281, 283, 384; kritisch auch Bender/Roder/Nack, Tatsachenfeststellung vor Gericht Bd. I, Vorwort S. I: „Geschehen ist bis heute . . . in der psychologischen Ausbildung der Richter nichts." 15 Mit Recht meint Bender (Fn. 14), S. VI „Und mit der Berufserfahrung ist es so eine Sache". 16 Damit gewinnt der „erfahrene" Richter, wohl in der Regel der Vorsitzende, ein ihm nicht zustehendes Ubergewicht gegenüber den weniger oder unerfahrenen Richtern. Das bedeutet jedenfalls hinsichtlich der Berufsrichter eine grundsätzliche Ungleichheit, an der sich in der Justiz offenbar niemand stört. Damit wird die Frage des gesetzlichen Richters berührt. Eine mit mehreren Richtern besetzte Strafkammer erfüllt ihren Sinn nur, wenn alle Berufsrichter die „Erfahrungen", die zur Amtsausübung nötig sind, haben. 17 Hier ergibt sich ein seltsamer Widerspruch. Die Beweisregeln, denen allgemeine Erfahrungen vieler Jahrhunderte zugrunde liegen, werden ersetzt durch die persönlichen Erfahrungen des Richters, die im Grunde genommen, selbst zu Beweisregeln werden.

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einseitig verfährt, daß Verwandte und Freunde zugunsten des Angeklagten falsch oder doch abmildernd aussagen, verdrängen die Vorstellung, daß es im Einzelfall umgekehrt sein kann. Der sicherlich seltenere aber keineswegs so seltene Fall, daß Geständnisse falsch sind, daß Zeugen, die einen guten Eindruck machen, zuungunsten eines Angeklagten lügen, daß Sachverständige sich zuungunsten des Angeklagten irren, daß vorgelegte Urkunden verfälscht sind oder doch fälschlich ausgelegt werden, wird durch angebliche Erfahrungen oder den gewonnenen Eindruck18 falsch beurteilt. Die Erfahrungen sind eben nicht ausreichend. Nicht hinreichend sind die Grundlagenkenntnisse, die Zweifel zu begründen. Was in solchen Fällen Verteidiger und Angeklagter, unter Umständen sogar anerkannte Sachverständige, dem richterlichen Vorstellungsbild zuwider dartun, berührt nicht die einmal gefaßte Meinung, die beim Richter zur in Wirklichkeit unbegründeten und unbegründbaren Gewißheit geworden ist. Alles das wäre nicht so schlimm, wenn es nicht zu rechtsstaatlich nicht abgesicherten Beurteilungen und zu schwerwiegenden vermutlich oder gar eindeutig unrichtigen Entscheidungen führen würde. Daß dem so ist, läßt sich an durchgeführten Wiederaufnahmeverfahren nur begrenzt erkennen, weil die fehlerhaften Ergebnisse der freien Beweis Würdigung als solche keinen Wiederaufnahmegrund darstellen". So sind auch bei solchen Fehlurteilen Wiederaufnahmeanträge, wenn sie überhaupt gestellt werden, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Es wäre schon der Mühe wert, derartig gescheiterte oder erst gar nicht beantragte Wiederaufnahmeverfahren auf den Richtigkeitsgrad der Sachverhaltsfeststellungen zu untersuchen. Aber abgesehen davon, welche Beurteilung richtig ist oder nicht, muß verwundern, mit welcher Gelassenheit die Verschiedenheit der Bewertung von gleichen Sachverhalten und Beweislagen als unabwendbare schicksalhafte Folge der freien Beweiswürdigung hingenommen wird. Es seien nur folgende allgemein bekannte Tatsachen angeführt: Freispruchsantrag des Staatsanwalts wegen Nichtbeweisbarkeit der Schuld - Verurteilung durch das Gericht, verschiedene Sachverhaltsbewertungen in der ersten Instanz und in der Berufungsinstanz, verschiedene Beurteilung vor und nach dem aufhebenden Revisionsurteil20, entgegengesetzte Beurteilung bei abgetrennten Zur Problematik des Eindrucks vgl. mein Lehrbuch S. 380 f. " Wenn in den Tübinger Untersuchungen zu den Fehlerquellen im Strafprozeß nur durchgeführte Wiederaufnahmeverfahren ausgewertet worden sind, so geschah das deshalb, um zunächst einmal von einem allseitig, wenigstens prinzipiell als fragwürdig erkannten Urteilsmaterial auszugehen. Zum Problem richterlicher Uberzeugungsbildung im Rahmen der durchgeführten Wiederaufnahmeverfahren vgl.: Fehlerquellen im Strafprozeß Bd. II, 1972, 230. 20 Vgl. Haddenhorst, Die Einwirkung der Verfahrensrüge auf die tatsächlichen Feststellungen im Strafverfahren, 1971. 18

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Verfahren trotz der gleichen Prozeßlage 21 . Ich vermag das nicht als eine unumstößliche Verfahrensnotwendigkeit hinzunehmen. Es gibt Fälle genug, in dem mit hoher Wahrscheinlichkeit oder gar Sicherheit die Mängel der einen oder anderen Betrachtungsweise anhand kriminalistischer und psychologischer Erkenntnisse dargetan werden können22. Es gibt sehr betrübliche Fälle, in denen allen wissenschaftlich erkennbaren Vorsichtsregeln zum Trotz Verurteilungen erfolgen. Das beruht sowohl auf dem Mangel historischer Kenntnisse als auch auf der fehlenden kriminalistischen und psychologischen Unterrichtung. An dem Gewißheitsurteil des Richters prallen allzu leicht Einwände der Verteidigung ab. Eine übliche Formel, mit der Einwände des Beschuldigten abgetan werden, ist die Verwendung eines in der früheren Rechtspflege ungebräuchlichen Wortes: „Schutzbehauptung". Niemand wird bestreiten, daß die Beweiswürdigung auch subjektive Momente enthält und enthalten muß. Zunächst muß aber erst einmal ein objektiver Unterbau begründet werden. Es ist schon recht bedrückend, wenn allen gegebenen oder fehlenden, doch zu erwartenden Umständen entgegen Wertungen, sei es beim Urteil, sei es vorher beim Haftbefehl, vorgenommen werden. Das drängt zu der Frage, ob eigentlich der Staat die sachnotwendigen Voraussetzungen für eine einwandfreie Justizgewährung schafft. Ausbildungsfragen, Fragen der notwendigen Sachkenntnis und Fragen der Übertragung des Richteramtes sind eben nicht nur Organisationsprobleme. Die Revisionsgerichtsbarkeit wird trotz einiger anerkennenswerter Versuche des Übels nicht Herr 23 . 21 Beispiel: Zwei in Sozietät arbeitende Rechtsanwälte werden teils in sich deckenden, teils in nicht gleichen Sachverhalten aber auf Grund der Aussagen zweier, übrigens häufig straffällig gewordener Ehepaare des Meineids, der Urkundenfälschung und der Beihilfe zu derartigen Delikten in zwei getrennten Verfahren abgeurteilt. Verfahrens verlauf: beide Verurteilungen werden durch den BGH aufgehoben. Die Sache gegen A wird wegen mangelnden Eröffnungsbeschlusses an das Landgericht X, die andere Sache an das benachbarte Landgericht Y zurückverwiesen. A wird erneut verurteilt. Das Gericht glaubt sich zwar nicht auf die Aussagen des einen Ehepaares stützen zu können, hält aber die Aussage des anderen Ehepaares für tragfähig. Das Gericht Y spricht den Rechtsanwalt Β frei, weil es aus eingehend dargelegten Gründen beide Ehepaare für unglaubwürdig hält. Ergebnis: rechtskräftige Verurteilung des A zu einer hohen Freiheitsstrafe, rechtskräftiger Freispruch des B.

Auch hier wären empirische Untersuchungen sinnvoll. Immerhin kommen auch revisionsrichterliche Eingriffe in der Überzeugungsbildung vor. Vgl. Fezer, Die erweiterte Revision - Legitimierung der Rechtswirklichkeit? 1974. Einen Uberblick über die keineswegs einheitliche Rechtsprechung bringt mein Lehrbuch (Fn. 2), S. 612 ff. Daß die Problematik der Uberzeugungsbildung in neuerer Zeit von dem Bundesgerichtshof immer stärker empfunden wird, läßt sich an den Zeitschriften-Jahrgängen 1981 deutlich erkennen. Vgl. Strafverteidiger 1981, 55: ungenügende Identifizierung eines Angeklagten aus einem älteren Lichtbild - eine wichtige m. E. gegensätzliche 22

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2. Prozessuelle Fragen Justizgewährung kann auch dadurch beeinträchtigt werden, daß den Beschuldigten begünstigende Formvorschriften eng, jedoch Vorschriften, die der Justiz zugute kommen, weit ausgelegt werden. Daß derartige Vorkommnisse nicht nur in der Phantasie eines Fälle bildenden Theoretikers sich abspielen, sei an Hand der gerichtlichen Praxis näher dargetan. a) § 304 Abs. 1 StPO läßt die Beschwerde gegen Entscheidungen des Gerichts zu, „soweit sie nicht ausdrücklich einer Anfechtung entzogen sind". Entgegen diesem klaren Wortlaut hat BGHSt. 10, 9124 die Beschwerde auch dort ausgeschlossen, wo es an einer gesetzlichen Ausschlußvorschrift fehlt25. Dieser Ausschluß bedient sich des Analogieverfahrens. Die Beschwerde soll auch dann ausgeschlossen sein, „wenn Sinn und Zweck der Entscheidung einer Anfechtung von vornherein entgegenstehen". Auf diese Weise wird eine eindeutige Gesetzesvorschrift durch eine einen Beurteilungsspielraum gewährende Auslegung eingeschränkt. Damit werden Interessen des Beschuldigten durch Richterrecht berührt. Das läßt sich an § 154 Abs. 2 StPO darlegen. Durch den Ausschluß von Tatteilen, sei es real- oder idealkonkurrierenden Teilen, können nicht nachweisbare Vorgänge der strengen Beweisführung in der Hauptverhandlung entzogen werden. Das wiederum kann zur Erschwerung einer Entlastung führen. Das ist der Fall, wenn in dem oder den eingestellten Teilen mit einem Freispruch zu rechnen ist, der sich wegen des Zusammenhangs auf den weiterverfolgten Teil auswirken müßte. Beispiele dafür habe ich in der Besprechung des Beschlusses des O L G Bamberg26 gebracht. Es ist keineswegs richtig zu nennen, daß die Einstellung nach § 154 Abs. 2 StPO für den Angeklagten keine BeEntscheidung zu BGHSt. 29, 18 = J R 1980, 168 mit Bespr. von mir-, S. 114: lückenhafte Beweiswürdigung bei der Identifizierung eines Täters, S. 169: unzulängliche Identifizierung eines Täters, S. 221: unzulängliche Feststellung des Tötungsvorsatzes, S.222: unzulässiger Schluß aus einer nicht angeklagten, unbewiesenen Tat, S. 508: unzulängliche Gesamtwürdigung bei einem Tötungsvorgang, S. 605: Nichthaltbarkeit eines angewandten Erfahrungssatzes. Vgl. ferner NStZ 1981, 33 = J R 1981, 304 mit Bespr. von mir (Uberzeugungsbildung aufgrund mehrerer Wahlmöglichkeiten). Für das angeschnittene Thema spielt auch das Problem eigener richterlicher Sachkunde eine Rolle. Dazu (eigene Entscheidung über die Schuldfähigkeit) die das tatrichterliche Urteil aufhebenden Entscheidungen: Strafverteidiger 1981, 271, 605. Ob es aber in der Revisionsinstanz so verläuft wie in den angeführten Entscheidungen, ist eine durchaus offene Frage. Es lassen sich zahlreiche Gegenbeispiele anführen. 24 Sich ihm anschließend die Praxis der Oberlandesgerichte, jüngst noch O L G Bamberg, Strafverteidiger, 1981, 402 mit eingehender Besprechung von mir S.411. 25 Vgl. LR-Gollwitzer (Fn. 12), § 304 Rdn.25; Kleinknecht, StPO 34. Aufl., 1981, § 304 Rdn. 6. 26 Strafverteidiger, 1981, 411.

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schwer bedeuten könne 27,28 . Die Prüfung der Frage, ob eine Beschwer vorliegt, ist aber nur möglich, wenn die Beschwerde dem klaren Wortlaut des Gesetzes entsprechend zugelassen wird. Die Erweiterung der die Beschwerde ausschließenden Fälle führt über § 336 S. 2 StPO zu einer Einengung der Revision. Der Bundesgerichtshof hat in zwei neueren Entscheidungen Beschwerden gegen Oberlandesgerichtsentscheidungen für unzulässig gehalten, da der Beschwerdegrund außerhalb der in § 304 Abs. 4 Satz 2 angeführten Voraussetzungen lag2'. Beide Entscheidungen sind richtig. Den Umfang der Nachprüfung bestimmt das Gesetz. Es ist allein dafür zuständig, den Raum der Justizgewährung zu bestimmen, sofern es sich um den Raum handelt, der dem Ermessen des Gesetzgebers unterliegt. Ebensowenig wie die Zulässigkeit eines Rechtsmittels durch die Gerichte über den Wortlaut des Gesetzes ausgedehnt werden kann, ebensowenig ist es erlaubt, die Zulässigkeit über das Gesetz hinaus einzuengen. Das Gesetz ist strikt anzuwenden. b) Nach § 344 Abs. 2 StPO hat Beschwerdeführer bei der formellen Rüge „die den Mangel enthaltenen Tatsachen" anzugeben. Während es bei der materiellrechtlichen Rüge weiß, was es zu prüfen hat, nämlich ob die aus dem Urteil erkennbaren Tatsachen den Rechtspruch nach materiellem Recht rechtfertigen, würde die formelle Rüge, deren Grundlagen in aller Regel aus dem Urteil des Tatrichters nicht zu erkennen sind, das Gericht völlig im dunklen lassen, welche Umstände es prüfen soll. Der Revisionsführer muß daher den Gegenstand der gewünschten Überprü-

27 Die hier abgelehnte Auffassung beruht auf einem für den abstrakt denkenden Juristen typischen Sezierungsdenken. Ihm liegt die Auffassung zugrunde, daß man ein Stück eines Zusammenhangs herausschneiden könne, ohne daß damit die Gesamtwürdigung beeinträchtigt werden könne. Vgl. den in Fn. 21 erörterten Rechtsanwaltsfall, in dem das zuletzt den RA A verurteilende Gericht glaubt, aus einer Gruppenaussage zwei Aussagen als unzuverlässig ausschließen zu können, ohne sich des inneren Zusammenhangs bewußt zu sein. 28 O L G Bamberg in der zit. Entscheidung (Fn. 24) glaubt generell eine Beschwerde dadurch ausschließen zu können, daß es der Einstellung nach § 154 Abs. 2 StPO die Vermutung der Unschuld zuschreibt. Trotz Kenntnis dieser Entscheidung hat sich O L G München v. 17.7.1981 - 1 Ws 76/81 - auf die lapidare Feststellung beschränkt, daß mit der vorläufigen Einstellung nur von der Verfolgung abgesehen worden ist, ohne daß damit feststeht, daß der Verurteilte den Diebstahl (der Quittung) nicht begangen hat. Auf die Entscheidung des O L G Bamberg geht das O L G München in keinem Wort ein. Von dem Diebstahl der Quittung hing in dem konkreten Fall die Möglichkeit der Annahme der Veruntreuung eines angeblich dem Angeklagten übergebenen Geldbetrags ab.

Stellt man die beiden Entscheidungen (OLG Bamberg, O L G München) einander gegenüber, so sind beide mit entgegengesetzter Begründung zum nachteiligen Ergebnis des jeweils Betroffenen gekommen. 29 BGHSt. 30, 32 = J R 1981, 306 mit Besprechung von mir; Strafverteidiger 1981, 510.

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fung kennzeichnen. Geschieht das hinreichend, so ist dem Begründungserfordernis entsprochen. Jede Uberdehnung der an sich schon strengen Formerfordernisse bei der Revisionsbegründung durch richterliche Auslegung geht auf Kosten des Angeklagten, der auf die Zuverlässigkeit seines Verteidigers, erst recht des ihm gestellten Pflichtverteidigers, angewiesen ist. Eine Erschwerung der gesetzlichen Formen durch Richterrecht macht den betroffenen Laien zum Spielball der Juristen. Zu denken sollte die Äußerung von Hans Dabs geben: „Die Materie ist so speziell und verzwickt, daß nach Äußerungen der Revisionsgerichte selbst allgemein tüchtige und namhafte Anwälte versagen. Das liegt in erster Linie an der außerordentlichen Strenge der Formvorschriften und ihrer Auslegung in der Rechtsprechung"30. Dieser sicherlich über die Problematik des § 344 Abs. 2 StPO hinausgehende Satz macht eine bedrückende Tatsache deutlich. Das ohnehin schwierige gesetzliche Revisionsrecht wird durch die richterliche Auslegung noch schwieriger. Das Ergebnis ist geradezu sinnlos, wenn selbst tüchtige und namhafte Verteidiger mit der Materie nicht mehr fertig werden31. Sicherlich sind Formen unentbehrlich32. Sie müssen aber auf das Notwendige und vom Durchschnittsjuristen Leistbare beschränkt bleiben und dürfen vom Richter nicht überdehnt werden. Wie der BGH in zwei ähnlich gelagerten Fällen den § 344 Abs. 2 einmal überdehnt, ein andermal „entgegenkommend" auslegt, sei an zwei Entscheidungen dargelegt. In dem Urteil des BGH vom 6.2.1980 (BGHSt. 29, 303 = J R 1980, 520 mit Bespr. von mir) wurde eine formelle Revisionsrüge behandelt, die sich darauf beschränkte auszuführen, „daß die Frist von fünf Wochen zur Abgabe des Urteils zu den Akten nicht eingehalten" worden sei. Das Datum der Urteilsverkündgung und des Ablaufs der Abgabefrist waren nicht angegeben worden. Der BGH sah in der Revisionsbegründung nur die Wiederholung des Gesetzes. Die Revision wurde als unzulässig verworfen. Dabei war klar, was der Revisionsführer beanstandete. Mit einem Blick in das Urteil wäre das Urteilsdatum von den Revisionsgerichten ebenso leicht festzustellen gewesen, wie der dem Urteil beigefügte Vermerk des Urkundenbeamten der Geschäftsstelle über den Abgabetermin. î0 Dahs/Dahs, Handbuch des Strafverteidigers 4. Aufl., 1977, Rdn.753. " Bei sehr beanspruchten Verteidigern kann ein Mangel in der Revisionsbegründung auf Überlastung beruhen. Soll für sie der Angeklagte „haften"? 32 U m dem übertriebenen Formalismus zu begegnen, schlägt der Diskussionsentwurf für ein Gesetz über die Rechtsmittel in Strafsachen, vorgelegt von der Bund-LänderArbeitsgruppe „Strafverfahrensreform", 1975 in § 323 (Begründung S. 85) Formauflockerung vor. Dazu mein Gutachten zum 52. Deutschen Juristentag Wiesbaden, 1978, C 70. Mußvorschriften sind m . E . unverzichtbar. Nur müssen sie in einem angemessenen Rahmen bleiben, der vom Richter einzuhalten ist.

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Dem entgegen ein anderer Strafsenat des B G H in seiner Entscheidung vom 17.9.1981 - Strafverteidiger 1982, 5, besprochen von mir - . Hier war die Revision darauf gestützt worden, daß das angefochtene Urteil nicht innerhalb der von § 268 Abs. 2 StPO vorgeschriebenen Frist verkündet worden sei. Auch hier fehlten die Zeitangaben. Jedoch scheute sich dieser Senat nicht, durch einen Blick in die Akten den gerügten Mangel festzustellen. Die Revision wurde für zulässig erachtet und das angefochtene Urteil aufgehoben". Eine Erweiterung der gesetzlichen Voraussetzungen halte ich für eine Verletzung der richterlichen Fürsorgepflicht und darüber hinaus für eine Beschränkung der Justizgewährung34. Wegen unzulässiger Begründung der Verfahrensrüge hat der B G H " die Revision des Angeklagten, durch die die Nichtbeiziehung von Spurenakten trotz eines Beweis-(ermittlungs)antrags gerügt wurde, verworfen. Nach Ansicht des B G H hätte der Revisionsführer angeben müssen, aus welchen Tatsachen sich die Erforderlichkeit der Hinzuziehung der Akten ergebe. Der Jubilar hat in der Besprechung dieses Urteils durchaus zutreffend auf die Merkwürdigkeit dieser Begründung hingewiesen. Denn der Grund, weswegen der Revisionsführer diese Angaben nicht machen konnte, lag gerade in dem ablehnenden Beschluß der Strafkammer, der die nähere Angabe der Tatsachen unmöglich machte. Der Kern der Revision lag in der Aktenunvollständigkeit, ein Verfahrensmangel, der in sehr verschiedener Weise vorkommt: Fehlen von Vernehmungsniederschriften (Nürnberger Jugenddemonstrationsfall), Fehlen von staatsanwaltschaftlichen Zwischenverfügungen durch Herausnahme aus den Hauptakten und Übernahme zu den Handakten, Nichthinzuziehung von sachbezogenen Beiakten oder von personalbezogenen Beiakten (ζ. B. Ehescheidungsakten, Personalakten bei Beamten, Vollzugsakten) oder lückenhafte Wiederherstellung der Akten bei Aktenverlust oder Vorenthaltung bestimmter Aktenteile aus Geheimnisgründen (V-Mann-Problem). So verschieden die Problematik im einzelnen ist, immer tappen Gericht und Verteidigung im Dunklen. Sind die Akten für die Verteidigung nicht zugänglich, fehlt es an der Möglichkeit, den Revisionsmangel durch Tatsachen zu erhärten. Es wird ihr die Begrüßenswert auch O L G Hamburg NStZ 1981, 364. Eine ähnliche Beschränkung durch die Rechtsprechung findet im Klageerzwingungsverfahren statt. Hier wird der Anzeigende betroffen, der im Einzelfall freilich auch ein Verurteilter sein kann. Nach § 1 7 2 Abs. 4 StPO muß der Antrag die Tatsachen und Beweismittel enthalten. Darüber hinaus verlangt die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte eine in sich geschlossene Darstellung. Bezugnahme auf die Ermittlungsakten und sonstige Beiakten werden für unzulässig erklärt. Der Antrag soll aus sich verständlich und beurteilbar sein (vgl. Kleinknecht, Fn. 25, § 172 Rdn. 26). 33

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35 Urteil v. 2 6 . 5 . 1 9 8 1 1 StR 48/81 - BGHSt. 30, 131 = Strafverteidiger 1981, 500 m. Anm. Dünnebier.

N J W 1981, 2267

=

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wichtige Funktion der Verfahrens- und damit der Sachkontrolle genommen. Sofern ihr die Funktionsbeschränkung durch behördliches oder gar gerichtliches Verhalten auferlegt wird, fehlt es an dem verfahrensgebotenen Justizschutz. Die Entscheidung des B G H wird freilich verständlich, wenn man sich das Dilemma vorstellt, in dem sich bei der geschilderten Revisionsrüge die Revisionsrichter befinden. Auf der einen Seite besteht die Möglichkeit, daß die Heranziehung der Spurenakten Tatsachen erbringt, die infolge von Anhaltspunkten, die einen anderen als den vom Gericht festgestellten Tathergang nahelegen, die Zuverlässigkeit, wenn nicht gar die Richtigkeit und Gerechtigkeit des Urteils in Frage stellen. Auf der anderen Seite wiederum besteht die Möglichkeit, daß die Spurenakten für die Überzeugungsbildung völlig unergiebig sind. Im ersten Fall führt die Verwerfung der Revision zur Aufrechterhaltung eines möglicherweise unrichtigen Urteils. Im zweiten Fall führt die Aufhebung eines einwandfreien Urteils zur Wiederholung einer umfangreichen Beweisaufnahme, ohne daß sich am Ergebnis etwas ändert. Bei dieser Sachlage kann, sofern man, wie es mir richtig zu sein scheint, die Spurenakten infolge ihrer Tatverbundenheit als Teil der Prozeßakten ansieht36, die Lösung vernünftigerweise nur in einer Zwischenentscheidung des Revisionsgerichts liegen. Durch diese ist dem Verteidiger die Einsicht in die Spurenakten, soweit sie nicht einem Dienstgeheimnis unterliegen ( z . B . V-Mann), zu gewähren und eine Frist (Begründungsfrist von einem Monat entsprechend § 344 StPO) zur Ergänzung der Revisionsbegrün36 Die Entscheidung des BGH - Strafverteidiger 1981, 500 - ist, worauf Dünnebier (S. 504 f.) zutreffend hinweist, nicht überzeugend. Sie gibt im Gegenteil zu schwerwiegenden Bedenken Anlaß. Der Umfang der Aktenbestimmung und die Entscheidung über deren Erheblichkeit kann trotz aller - im übrigen keineswegs gesicherten - „Objektivität" nicht der Staatsanwaltschaft, die nur die Rolle eines neben der Verteidigung stehenden Prozeßbeteiligten einnimmt, überlassen bleiben. Verwirrend ist auch die Verknüpfung des durch die Klageerhebung bestimmten Untersuchungsgegenstandes und des Aktenumfangs. Gefährlich ist die Ausklammerung der Spurenakten aus dem gegen den Angeklagten durchgeführten Verfahren auch deswegen, weil sich aus den Spurenakten wichtige Anhaltspunkte für die Täterschaft eines anderen ergeben können, die bei der Beweiswürdigung zugunsten des Angeklagten Zweifel an dessen Täterschaft bewirken können. Zu dem Problem der Spurenakten außer Dünnebier in der genannten Urteilsbesprechung Beulke, Das Einsichtsrecht der Strafverteidiger in die polizeilichen Spurenakten, in dieser Festschrift, S. 285; Burghardt, Die aktenmäßige Behandlung kriminalpolizeilicher Ermittlungsvorgänge, Schriftenreihe des Bundeskriminalamts Wiesbaden, 1969, S. 164; Kleinknecht (Fn. 25), §147 Rdn. 10; Wasserburg, NJW 1980, 2441; NStZ 1981, 211; ferner mein Lehrbuch (Fn.2), 218f.; O L G Koblenz Beschl. vom 12.3.1981, NJW 1981, 1570 hält die Spurenakten jedenfalls dann für Bestandteil der Akten, wenn die Staatsanwaltschaft auf sie Bezug genommen hat; im übrigen läßt das O L G die Frage offen. Jedoch kann es auf den Zufall der Erwähnung der Spurenakten durch die Staatsanwaltschaft nicht ankommen. Vor allem kann sie die Spurenakten nicht erwähnen, wenn sie von ihrer Existenz keine Kenntnis oder sich um die Kenntnis nicht bemüht hat.

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dung einzuräumen. Sieht man die Auswertung der Spurenakten nur als eine unselbständige Ergänzung der ursprünglichen Revisionsschrift an, ergeben sich wegen Überschreitung der Monatsfrist keine Schwierigkeiten. Sieht man die Ergänzung als eine selbständige Revisionsbegründung an, so würde der Gedanke der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand eingreifen. Ein solcher Zwischenentscheid mag zwar im Revisionsverfahren etwas Außergewöhnliches sein. Wie aber der in meinem Lehrbuch37 erwähnte Repetitorfall zeigt, kommen derartige Aufklärungsmaßnahmen auch im Revisionsverfahren vor. Sie können sogar notwendig sein, um die Verteidigung nicht zu verkürzen und das Verfahren nicht unnötigerweise zu verlängern. c) Das gespannte Verhältnis zwischen Justiz und Verteidigung wird durch die auffallend häufige Verwerfung der Revision des Verurteilten „als offensichtlich unbegründet" (§ 349 Abs. 2 StPO) genährt. Mehr als 80 % der eingelegten Revisionen verfallen auf diese Weise der Verwerfung38. Eine Bestimmung, die zur Entlastung des Revisionsgerichts als Ausnahmevorschrift gedacht wird, ist zum Regelvorgang gemacht worden. Warnende Stimmen blieben ungehört 39 . Aus einem mündlichen Regelverfahren ( § 3 5 1 StPO) ist ein schriftliches Verfahren geworden. Dieser Wandel ist von außerordentlicher Tragweite. Das für das Revisionsverfahren bedeutsame Rechtsgespräch entfällt. Eine Entfaltung der Revisionsbegründung im mündlichen Vortrag wird unmöglich gemacht. S. 625. Nach den von Rieß, Verhandlungen des 52. Deutschen Juristentages (Sitzungsbericht L S.28) vorgelegten Zahlen wurden 1976 88,2% Entscheidungen des BGH durch Beschluß nach § 349 Abs. 2 bis 4 StPO erledigt. Die in der angegebenen Prozentzahl enthaltenen Beschlüsse zugunsten des Verurteilten sind für unser Thema in Abzug zu bringen. Sarstedt (Verh. d. 52. DJT, S. 236) berichtet von mehr als 90 % Beschlußverwerfungen bei der Revision. Umfassende statistische Angaben bei Rieß, Statistische Beiträge zur Wirklichkeit des Strafverfahrens, Festschrift Sarstedt 1981, S. 253 ff., 286, 320, 323. Danach wurden 1978 75,8 % und 1979 77,3 % aller erledigten Revisionen durch Beschluß nach § 349 Abs. 2 StPO verworfen. 37

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39 Solche Bedenken wurden geäußert: von richterlicher Seite Härtung, DRZ 1950, 219; Seibert, DRZ 1948, 371; Wimmer, NJW 1950, 201; Erbs, Handkommentar zur Strafprozeßordnung 1950 zu § 349 Anm.I; von anwaltlicher Seite: Denkschrift zur Reform des Rechtsmittelrechts und der Wiederaufnahme des Verfahrens im Strafprozeß, erarbeitet und vorgelegt vom Strafrechtsausschuß der Bundesrechtsanwaltskammer 1971, S. 52; von Stackelberg, NJW 1960, 505; Dahs/Dahs, Handbuch des Strafverteidigers (Fn.30) Rdn. 831; von wissenschaftlicher Seite: Beling, Deutsches Reichsstrafprozeßrecht, 1928, S.424; Henkel, Strafverfahrensrecht, 2.Aufl., 1968, S.380 Fn. 18; R. von Hippel, Der deutsche Strafprozeß, 1941, S. 589; Eberh. Schmidt, Lehrk., Teil II, 1957, § 349 Rdn. 4, 5; Κ .Peters, Strafprozeß, 2. Aufl., 1966, S.577; 3. Aufl., 1981, S.622f„ bereits früher JZ 1958, 436; JZ 1965, 489; J R 1977, 477; Gutachten zum 52. Deutschen Juristentag Wiesbaden, 1978, C 81. S. auch Fezer, Die Funktion der mündlichen Verhandlung im Zivilprozeß und Strafprozeß, 1970, S. 86; Kühne, Strafprozeßlehre, 1978, Rdn. 682 spricht sehr plastisch von einer „Revisionsguillotine".

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Dem kommt eine um so größere Bedeutung zu, als die Revisionsbegründungsfrist in größeren Strafsachen namentlich für einen viel beschäftigten Verteidiger ohnehin kurz bemessen ist. Die in § 275 StPO dem Richter gewährte Fristverlängerung für die Abgabe des schriftlichen Urteils findet für die Revisionsbegründung keine Parallele. Bestimmte Revisionsrügen, wie die Aufklärungsrüge oder die Verletzung des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung, sind in einer kurzen schriftlichen Begründung nur schwer überzeugend darzutun. Es ist nicht selten schwer vorauszusehen, auf welchen Gesichtspunkt das Revisionsgericht abstellt. Die mündliche Verhandlung in der Revisionsinstanz gewährleistet auch, daß jeder der an der Verhandlung teilnehmenden Richter durch den Vortrag des Verteidigers mit den Revisionsgründen und deren rechtlichen und tatsächlichen Gegebenheiten vertraut gemacht wird. Damit wird verhindert, was im Beschlußverfahren nur schwer zu verhindern ist, daß der Berichterstatter (und ggf. auch der Vorsitzende) durch eine verkürzte Darstellung der Sach- und Rechtslage aus seiner Sicht das Übergewicht bei der Entscheidung erhält40. Den Unzulänglichkeiten der heutigen Revisionspraxis wird durch die Bekanntgabe der Stellungnahme der Staatsanwaltschaft (§ 349 Abs. 3 StPO) nur wenig abgeholfen. Die Gegenäußerung setzt sich nur gedrängt mit der Revisionsbegründung auseinander. Bei umfangreichen Revisionsbegründungen wird nicht selten nur der eine oder andere Punkt erörtert41. Die Zwei-Wochen-Frist ist nicht selten ungebührlich kurz. Auch wenn sich gegen die Stellungnahme der Staatsanwaltschaft beachtenswerte Einwände erheben lassen, sind in einem bloßen schriftlichen Verfahren die Erfolgsaussichten für die Verteidigung schon im Hinblick auf die ständige Zusammenarbeit von Gericht und Staatsanwaltschaft erheblich herabgesetzt42. Es ist wohl mehr als eine Stilfrage, 40 Daß unsere Strafprozeßordnung die Mündlichkeit zu einem Grundprinzip erhoben hat, das nicht nur für den Tatrichter gilt, ist völlig aus dem Bewußtsein der Revisionsgerichte gerückt worden. Die Unterschätzung des Prinzips kommt deutlich in dem Rechtsstreit vor der EuMRK zum Ausdruck, der im Strafverteidiger 1981, 379 mitgeteilt wird. 41 Darauf weist mit Recht Hamm, Aus der Beschlußverwerfungspraxis (§ 349 Abs. 2 StPO) der Revisionsgerichte, Strafverteidiger 1981, 249 (250) hin. Damit ergibt sich die Frage, ob eine solche verkürzte Gegenerklärung der Staatsanwaltschaft den Erfordernissen des § 349 Abs. 2, 3 StPO entspricht. Die Antwort muß verneinend ausfallen. Denn soweit die Gegenerklärung der Staatsanwaltschaft auf einzelne Revisionsgründe nicht eingeht, bleiben der Verteidigung Gegengründe, auf die sie eingehen könnte, verschlossen. 42 Nach LR-Meyer (Fn. 12), § 349 Rdn. 13 (ebenso neuerdings Beschluß des Dreierausschusses des BVerfG vom 19.1.1982 - 2 BvR 1391/81 - ) kann das Revisionsgericht die Verwerfung der Revision als offensichtlich unbegründet mit anderer Begründung vornehmen, als sie die Staatsanwaltschaft beim Revisionsgericht in ihrem Antrag gegeben hat. Diese Auffassung nimmt dem § 349 Abs. 3 seine Schutz- und Garantiefunktion. Sie

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ob es wirklich angebracht ist, in der Verwerfungsbegründung die Gegenäußerung der Staatsanwaltschaft wörtlich zu wiederholen und sich ihr in einem Satz anzuschließen. Wenn dann noch - wie ich es in einem Beschwerdeverfahren erlebte - das Oberlandesgericht seitenlang eine rechtlich und tatsächlich durchaus anzweifelbare Stellungnahme der Staatsanwaltschaft wiedergibt und diese ohne eigene Ausführungen einfach übernimmt, und dabei auf die bei ihr (der Staatsanwaltschaft) übliche Sachlichkeit hinweist ( O L G München Beschl. vom 17.6.1981 1 Ws 76/81 - ) , dann bedeutet das einen Solidarisierungsvorgang, der kaum mit der strafprozessualen Gewalttrennung vereinbar ist. Für die Verwerfung der Revision als offensichtlich unbegründet durch Beschluß nach § 349 Abs. 2 StPO ist es von untergeordneter Bedeutung, ob die Worte „als offensichtlich unbegründet" im Beschlußtenor oder in der Beschlußbegründung stehen. Es geht nicht um das Prestige des Verteidigers, sondern um die Gerechtigkeit. Ich meine sogar, daß die Worte „offensichtlich unbegründet" mit aller Deutlichkeit an herausragender Stelle stehen bleiben sollen. Sie können sowohl dem Verteidiger zur Gewissenserforschung und dem Richter zur Mahnung dienen. Das Problem des § 349 Abs. 2 StPO sollte nicht entschärft werden. Wesentlicher ist die Frage, wieso es zu dieser Ausuferung des § 349 Abs. 2 StPO kommen konnte. Es mag zugegeben werden, daß viele Verteidiger das Revisionsrecht nicht beherrschen. Aber ebenso sicher ist, daß auch Verteidiger, die das Revisionsrecht genau kennen und sogar Spezialisten der Materie sind, derartigen Beschlüssen anheim fallen. Es mag auch zugegeben werden, daß eine gewisse Rechtsmittelfreudigkeit besteht. Es mag weiter zugegeben werden, daß die allgemeine Autoritätseinbuße auch die Gerichte betrifft und damit die Einlegung von Rechtsmitteln fördert. Aber auf der anderen Seite fragt man sich doch, ob die Qualität der Rechtsprechung noch dieselbe ist, wie es früher der Fall war. Eine etwaige Vermehrung von eingelegten Rechtsmitteln braucht nicht nur das Zeichen eines Rechtsmittelmißbrauchs zu sein. Sie könnte vielmehr auch Ausdruck einer Unruhe über die Richtigkeit der getroffenen Feststellungen sein, die nur schwer in eine stichhaltige Revisionsbegründung

beschränkt auch die Verteidigung. Wenn sie sich möglicherweise überzeugend gegen die Begründung des Antrags der Staatsanwaltschaft wendet, kann sie plötzlich vom Revisionsgericht mit einem völlig neuen und unerwarteten Argument überrascht werden. Sie hat einen Kampf mit Windmühlen ausgefochten. Nicht auf das gemeinsame Ergebnis (Staatsanwaltschaft und Revisionsgericht) kann es ankommen; entscheidend ist vielmehr die übereinstimmende Begründung. Hat die Staatsanwaltschaft die für das Revisionsgericht maßgeblichen Gründe selbst nicht erkannt, kann die Revision kaum „als offensichtlich unbegründet" angesehen werden. Die hier abgelehnte Auffassung gibt überdies einer unter Umständen unzulänglichen und oberflächlichen Begründung der Staatsanwaltschaft eine konstitutive Bedeutung.

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z u ü b e r t r a g e n ist. A u c h d a n n bleibt die V e r w e r f u n g der R e v i s i o n n a c h § 3 4 9 A b s . 2 S t P O eine b e u n r u h i g e n d e T a t s a c h e . G i b t es w i r k l i c h so viele untaugliche Strafverteidiger, wie es n a c h d e m U m f a n g d e r V e r w e r f u n g e n n a c h § 3 4 9 A b s . 2 S t P O d e r Fall sein m ü ß t e ? O d e r fallen n i c h t d o c h d u r c h a u s b e g r ü n d e t e u n d der

Gerechtigkeit

dienende R e v i s i o n e n d e m G e d a n k e n der V e r f a h r e n s e n t l a s t u n g , V e r f a h rensvereinfachung und Verfahrensbeschleunigung z u m Opfer? Will m a n w i r k l i c h K l a r h e i t finden, so bedürfte es einer eingehenden e m p i r i s c h e n U n t e r s u c h u n g der n a c h § 3 4 9 A b s . 2 S t P O entschiedenen Fälle. E s w ä r e einer U n t e r s u c h u n g w e r t , sich m i t den Verwerfungsfällen z u befassen, bei d e n e n die V e r t e i d i g e r der A u f f a s s u n g sind, daß die V e r w e r f u n g als offensichtlich u n b e g r ü n d e t u n h a l t b a r w a r . E i n e solche empirische U n tersuchung 4 3 k ö n n t e a u c h K l a r h e i t d a r ü b e r verschaffen, wie der Begriff „offensichtlich u n b e g r ü n d e t " wird. meinem

Daß

v o n den R e v i s i o n s g e r i c h t e n

gängige F o r m u l i e r u n g e n

Lehrbuch44

darzulegen

verstanden

n i c h t haltbar sind, h a b e ich in

versucht.

Leerformeln

können

nicht

d a r ü b e r h i n w e g t ä u s c h e n , daß die W o r t e „offensichtlich u n b e g r ü n d e t " h e r a u s i n t e r p r e t i e r t sind 4 5 . Bei der A u s l e g u n g des Begriffs ist v i e l m e h r 43 Die Untersuchung müßte durch ein unabhängiges wissenschaftliches Institut durchgeführt werden. Um überhaupt zu abgesicherten Ergebnissen zu kommen, muß das zu untersuchende Material hinreichend groß sein. Es müßten mehrere hundert Verfahren einbezogen werden. Es wäre nicht zu beanstanden, wenn das Material von den Strafverteidigern beigebracht würde, die sich in ihren Rechten verkürzt fühlen. Beizubringen ist: a) die Revisionsbegründung b) die Gegenerklärung der Staatsanwaltschaft c) die etwaige Stellungnahme des Verteidigers zu dieser Stellungnahme d) der Verwerfungsbeschluß, sowie eine etwaige Verfassungsbeschwerde. Als Beispiel sei auf Hamm, Aus der Beschlußverwerfungspraxis (§ 349 Abs. 2 StPO) der Revisionsgerichte, Strafverteidiger 1981, 249, 315) verwiesen. Zu trennen ist die Praxis des BGH und der Oberlandesgerichte. Von Interesse ist es zu erfahren, ob es sich um eine erste Revision oder um eine Revision nach bereits erfolgreicher Erstrevision handelt. Zu achten ist auch auf den Gegenstand und den Umfang des Verfahrens. Die Untersuchungen erfordern eine genaue Kenntnis der Rechtsproblematik, sowohl der Rechtsprechung als auch der Wissenschaft. Es kommen gelegentlich umfangreiche Verwerfungsbeschlüsse gemäß § 349 Abs. 2 StPO mit subtilen Rechtsfragen vor. Sarstedt, Sitzungsbericht L des 52. Deutschen Juristentages Wiesbaden, 1978, S. 36 berichtet von einem 17 Seiten langen Verwerfungsbeschluß. Mir selbst wurde kürzlich von einem Verteidiger ein Beschluß von 16 Seiten zugesandt. Selbstverständlich kann die Länge des Beschlusses mit der Vielzahl der Rügen zusammenhängen. Sie kann sich aber auch aus der Kompliziertheit der Materie erklären. Auch solche Unterscheidungen wären in der angeregten Untersuchung zu treffen. 44 3. AuO. (Fn.2), S.623. 45 Zutreffend wird in der Begründung des DE-Rechtsmittelgesetzes (Fn. 32) darauf hingewiesen, daß damit ein vom Gesetzgeber als Beschränkungsmerkmal gedachter Begriff entfallen ist (S. 94). Freilich kann dem Schluß, den die Begründung daraus zieht: Verzicht auf die Worte „offensichtlich unbegründet" nicht gefolgt werden. Mit Recht weist

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darauf abzustellen, ob die Revisionsrüge ernst zu nehmende rechtliche Erwägungen enthält. Diese Frage läßt sich nicht anhand der bisherigen Rechtsprechung beantworten. Geschieht das, so bekommen Präjudizien eine ihnen nach unserem Recht nicht zustehende Bedeutung. Außerdem würde das zu einer Rechtserstarrung führen. Zu den Seltsamkeiten der Beschlußverwerfung nach § 349 Abs. 2 StPO gehört, daß lange Rechtsausführungen gebracht werden, die es deutlich machen, daß so „offenbar unbegründet" die Revision doch nicht gewesen sein kann. Der Vorwurf, daß über § 349 Abs. 2 StPO ernsthafte Revisionsrügen „abgeblockt" werden, ist „offenbar" begründet. d) Bedenklich ist auch die Entwicklung der Praxis der strafprozessualen Wiederaufnahme46. Wenn Karlheinz Meyer*7 die Auffassung vertritt, daß von einer „Abwehrhaltung" der Gerichte gegen Wiederaufnahmeverfahren ernsthaft keine Rede mehr sein könne, so stimmt das mit der Strafprozeßwirklichkeit nicht überein. Ich habe den Eindruck, daß das Gegenteil der Fall ist48. Die Verlagerung der Zuständigkeit auf ein bisher unbeteiligtes Gericht (§ 140 a GVG) hat den Erwartungen zuwider nicht zu einer größeren Offenheit der Gerichte gegenüber Wiederaufnahmeanträgen geführt. Stärker als die befürchtete Voreingenommenheit des verurteilenden Gerichts wirkt sich die allgemeine Abneigung der Richter gegen die Wiederholung eines rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens aus. Dabei ist die Tendenz auffallend, Wiederaufnahmeanträge bereits im Zulassungsverfahren scheitern zu lassen. Der ablehnende Zulassungsbeschluß enthält in einem nicht mehr zu billigenden Umfang Sachentscheidungen. Die Gerichtspraxis ist weder mit der EntstehungsgeschichSarstedt, Sitzungsbericht L zum 52. Deutschen Juristentag Wiesbaden 1978, S. 37 darauf hin, daß es nicht Aufgabe des Gesetzgebers sein kann vor mißbräuchlicher Praxis zurückzuweichen und zudem damit noch eine weitere Anwendung der Beschlußverwerfung herbeizuführen. Meyer-Goßner, Abschaffung des Schöffengerichts und Vereinfachung des Verfahrens vor dem Strafrichter, Festschrift Sarstedt, 1981, S. 197 (226) tritt wie der DE für die Streichung des „ominösen Worts" offensichtlich ein. Meyer-Goßner befürwortet die derzeitige Praxis der Revisionsgerichte. 44 Das auch für die hier behandelten Fragen bedeutsame Schrifttum ist in meinem Lehrbuch (Fn.2), S.634 und bei Bottke, Wiederaufnahmeverfahren, NStZ 1981, 135 Fn.5 zusammengefaßt. 47 LR-Meyer (Fn. 12), Vor § 359, Rdn. 63. 41 Eine Wiederaufnahmestatistik fehlt auch heute noch. Die Zahl der gestellten Wiederaufnahmeanträge, der Unzulässigkeits- und Unbegründetheitsbeschlüsse ist nicht bekannt. Wohl läßt sich die Anzahl der Wiederaufnahmehauptverhandlungen feststellen. Doch fehlt es dabei wiederum an Zahlen über den Verfahrensausgang, sowie über den Gegenstand der Verfahren. Nach Mitteilung aus dem Bundesjustizministerium beläuft sich der Anteil von Wiederaufnahmeverhandlungen vor der Strafkammer erster Instanz und zweiter Instanz jährlich auf insgesamt etwa 180 Verhandlungen, je zur Hälfte auf die Instanzen verteilt. Die amtsgerichtlichen Verfahren sind nur schwer verwertbar, weil sie die Ordnungswidrigkeiten mitumfassen.

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te der (jetzigen) §§ 359, 368 StPO noch mit der strafprozessualen Systematik vereinbar. Auf die Entstehungsgeschichte geht Schöneborn49 näher ein. Er weist darauf hin, daß nach dem "Willen des Gesetzgebers das Zulassungsverfahren nur einer abstrakten Schlüssigkeitsprüfung dienen sollte. Die prozessualen Wertkategorien haben im Prozeßsystem ihren klar abgegrenzten Raum. Die Zulässigkeit eines Rechtsmittels oder Rechtsbehelfs oder einer sonstigen Prozeßhandlung bedeutet, daß der Weg zu einer Sachentscheidung frei ist. Die Zulässigkeitsfrage befaßt sich damit, ob ein weiterer Denk- und Beurteilungsvorgang stattfinden kann und muß, nämlich ob die Sache prüfungsgeeignet ist. Auch das Gesetz unterscheidet, wie aus § 244 Abs. 3 StPO erkennbar ist, zwischen „zulässig" und „begründet". Die Zulässigkeit betrifft die Frage, ob eine sachliche Prüfung stattfinden darf, die Begründetheit die Frage, welches Ergebnis die sachliche Prüfung hat. Wird die Sachprüfung in die Zulässigkeitsprüfung verschoben oder besser gesagt vorgeschoben, so wird der Beschwerdeführer darum gebracht, in dem für die Begründetheitserörterung festgelegten Verfahren seine Angaben vorzubringen, unter Beweis zu stellen und sich so zum Beweisergebnis zu äußern (vgl. § 369 Abs. 3 StPO). Die in der Praxis übliche Verschiebung der Sachentscheidung in das Zulässigkeitsverfahren bedeutet Abblocken des dem Antragsteller gesetzlich zugesicherten Beweisverfahrens und einer hinreichenden Außerungsmöglichkeit, d.h. Verkürzung seiner Verteidigungsrechte. Auf diese Weise wird die Wiederaufnahme des Verfahrens zu einem Windei. Diese Erwägungen sind nicht nur von theoretischer Bedeutung, sondern von einer äußerst erheblichen praktischen Beachtlichkeit. Das läßt sich anhand gescheiterter Wiederaufnahmeverfahren näher belegen. In meinem Buch „Justiz als Schicksal" habe ich derartige Fälle geschildert. Einen systematischen Beginn hat Schöneborn in seinem Buch „Strafprozessuale Wiederaufnahmeproblematik" dankenswerterweise vorgelegt, in dem er mehr als 60 im Beschwerdeverfahren vom O L G Frankfurt behandelte Wiederaufnahmefälle analysiert hat50. In 36 Fällen wurde der Wiederaufnahmeantrag als unzulässig, in 17 Fällen als unbegründet verworfen. Nur in zwei Fällen wurde der Antrag für begründet erklärt, wobei der eine mit Einstellung nach § 153 StPO, der andere mit einem Teilfreispruch endete. Die restlichen Fälle wurden außerhalb des § 359 Nr. 5 StPO verworfen. Bemerkenswert ist die Feststellung Schöneborns, daß keineswegs die nach dem Wiederaufnahmeantrag möglicherweise Strafprozessuale Wiederaufnahmeproblematik, 1980, S. 79. Paralleluntersuchungen hinsichtlich der Rechtsprechung anderer Oberlandesgerichte sind wünschenswert, um zu prüfen, ob die Rechtsprechung des einen Oberlandesgerichts nur für dieses Gericht typisch ist oder ob sie von allgemeiner N a t u r ist. 49

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aussichtsreicheren Fälle das Zulässigkeitsverfahren erfolgreich passieren51. Unter den für begründet erklärten Wiederaufnahmeanträgen befanden sich solche, deren Erfolglosigkeit sich mit einiger Sicherheit voraussehen ließ (ζ. B. Benennung längst bekannter Zeugen, Gefängnisinsassen als Zeugen), bei denen jedoch das Begründetheitsverfahren keine Schwierigkeiten erwarten ließ, so daß die Erledigung im Begründetheitsverfahren sich mühelos oder müheloser als im Zulässigkeitsverfahren erwarten ließ. Ist diese Beobachtung richtig, so bedeutet das, daß je komplizierter die Beweiswürdigung ist und je mehr Schwierigkeiten sich für die Durchführung des Begründetheitsverfahrens ergeben und je mehr Hindernisse sich einer ablehnenden Entscheidung im Begründetheitsverfahren voraussichtlich ergeben werden, um so mehr besteht die Tendenz der ablehnenden Entscheidung im Zulassungsverfahren. Eigene Erfahrungen sprechen dafür, daß es tatsächlich so ist. Erleichtert wird dieser Weg dadurch, daß man von der Beweiswürdigung des Richters im Grundverfahren ausgeht, selbst wenn sie nach kriminalistischen Erkenntnissen und Erfahrungen noch so fragwürdig ist, selbst wenn realiter nicht feststellbar ist, wie er das neue Vorbringen und die neuen Beweismittel gewertet hätte. Es gilt die „Vermutung der Richtigkeit des rechtskräftigen Urteils", selbst wenn für sie nur wenig beizubringen ist. Es ist kaum möglich, ein umfangreiches, viele Aktenbände umfassendes Verfahren im Wiederaufnahmeverfahren neu aufzurollen, wenn es nicht gelingt mittels einfacher Beweise, die die offensichtliche Unrichtigkeit belegen (z.B. eindeutiges Alibi, völlige Unzuverlässigkeit des Hauptzeugen, Schuldunfähigkeit wegen Geisteskrankheit) das frühere Urteil nahezu als falsch in Frage zu stellen. Je weniger die früheren Tatsachenfeststellungen Ausfluß der richterlichen Persönlichkeit sind, je weniger sie dieser zuzuschreiben sind, je allgemeinverständiger der unterlaufene Fehler ist, um so besser sind die Aussichten eines Wiederaufnahmeverfahrens. Alles das hat nichts mit bewußtem Denken des früheren Richters zu tun, sondern entwächst dem beruflichen Untergrund, dem mehr oder weniger alle Berufssparten ausgesetzt sind. Auch das Wiederaufnahmeproblem unterliegt der richterlichen Berufsausbildung, der Berufshaltung, dem Berufsverständnis und den damit verbundenen berufspsychologischen Gegebenheiten. Im Wiederaufnahmeverfahren vollzieht sich ein seelischer Zwiespalt in dem Richter. Sicherlich weiß auch er um die Möglichkeit menschlichen Irrtums. Aber die sich daraus ergebende Skepsis gegenüber seinem Amt wird überdeckt durch die ständige Begegnung mit der Lüge und der Täuschung, die ihm die Rechtsfindung erschweren.

51

Vgl. Fälle S. 145 ff. und die Fälle S. 168 ff.

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Die Abwehrhaltung gegenüber dem Wiederaufnahmeverfahren hat tiefliegende Gründe. Daraus ergibt sich jedoch die Gefahr, daß die Einzelgerechtigkeit zu kurz kommt. Die Abwehrhaltung kann so stark werden, daß der Antragsteller nicht mehr das ihm zukommende Verfahren, die ihm vom Gesetz gewährte Außerungsmöglichkeit und das gebotene Zuhören erhält. Das führt vor allem zur Erbitterung der Betroffenen und deren Verteidiger, wenn der Eindruck entsteht, daß die (unter Umständen) umfangreichen Akten nicht sorgfältig durchgearbeitet werden, daß vorzeitig (im Zulässigkeitsbeschluß) das Wort abgeschnitten wird, oder der Antrag durch widersprüchliche Gründe zur Ablehnung gebracht wird. Wie groß die Dunkelziffer von Fehlurteilen bei im Zulässigkeitsverfahren abgelehnten Wiederaufnahmeanträgen ist, läßt sich nicht sagen. Das ergibt sich schon aus dem Begriff der Dunkelziffer. Sicher ist, daß sich hinter dieser Ziffer manches ungerecht erlittene Leid verbirgt.

III. Ziel der Ausführungen Entscheidend kommt es darauf an, zwischen der „Sache der Justiz" (Zuverlässigkeit, Beständigkeit, Gerechtigkeit und Wahrheit) und „der Sache des einzelnen" ein abgewogenes Verhältnis zu finden. Der Pflicht zur Justizgewährung wird nur entsprochen, wenn auch das Interesse des Betroffenen gesichert ist und wahrgenommen wird. Im Laufe der Strafrechtsgeschichte zeigt sich immer wieder die Gefahr, daß die Verteidigung des Betroffenen verkürzt wird. Es ist die Aufgabe der Wissenschaft zu mahnen. Solche Warnungen geschehen nicht, um die ohnehin schwere Aufgabe der Justiz noch mehr zu belasten, sie geschehen auch nicht aus Kritiksucht gegenüber der Rechtspflege, sondern im Bemühen darum, mitzuwirken, daß die Rechtsprechung in rechtlich und tatsächlich abgesicherter Weise den Weg der Wahrheit und Gerechtigkeit findet und daß der einzelne vor unnötigem Leid bewahrt bleibt.

Sozialstaatsprinzip und Strafverfahren HEINZ M Ü L L E R - D I E T Z

I. Der verehrte Jubilar, mit dem Jahre gemeinsamer Tätigkeit in der Strafvollzugskommission verbinden1, ist immer wieder für eine rechtsstaatliche Ausgestaltung des Strafverfahrens eingetreten. Ihm ging und geht es aber nicht allein um die Begrenzung staatlicher Eingriffe in Rechte des Einzelnen auf das verfassungsrechtlich zulässige und ein kriminalpolitisch vernünftiges Maß2. Vielmehr hat er auch kein Hehl aus seiner Auffassung gemacht, daß der Staat dem Beschuldigten3 und natürlich auch dem Verurteilten4 Fürsorge schuldet. Das gibt Anlaß, einmal der in der Literatur meist stiefmütterlich behandelten Frage nachzugehen, was denn eigentlich Verwirklichung des Sozialstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 G G ) im Strafverfahren bedeutet oder doch bedeuten könnte. II. 1. Es gehört zu den meist unter Wert gehandelten Binsenweisheiten, daß sich das Sozialstaatsprinzip bisher weder auf das Strafverfahrensrecht selbst noch auf faktische Ausgestaltung und Handhabung des Strafprozesses nachhaltig(er) ausgewirkt hat. Tatsächlich standen und stehen die vielfältigen Änderungen, welche die StPO in der letzten Zeit erfahren hat, unter anderen Vorzeichen 5 . Haben doch namentlich Ge-

1 Hanns Dünnebier gehörte als Stellvertretender Vorsitzender der Strafvollzugskommission an, Verf. war von 1969 an ihr Mitglied. 2 Beispielhaft etwa die Beiträge von H. Dünnebier zur Untersuchungshaft in: Probleme der Strafprozeßreform. Hrsg. von Lüttger, 1975, 29 ff., sowie zur Verhaftung und vorläufigen Festnahme in: Löwe-Rosenberg: Strafprozeßordnung und Gerichtsverfassungsgesetz (LR), 23. Aufl. (1978). ' LR-Dünnebier (Fn.2) § 119 Rdn.44. 4 Namentlich im Straf- und Maßregelvollzug unter dem Blickwinkel des Resozialisierungsgedankens. Vgl. ζ. B. Dünnebier: Uber die Vereinheitlichung von Strafe und Sicherungsverwahrung. In: Tagungsberichte der Strafvollzugskommission. Hrsg. vom Bundesministerium der Justiz, I. Bd. (1968) 86 ff. ; ders.: Vorschläge für Änderungen des vorläufigen Referentenentwurfs eines Strafvollzugsgesetzes (Ms. 1971). 5 Vgl. z.B. H.-L.Schreiber: Tendenzen der Strafprozeßreform. In: H.-L.Schreiber (Hrsg.): Strafprozeß und Reform (1979) 15ff.; Zipf: Kriminalpolitik, 2. Aufl. (1980) 141 ff.; Rieß: Prolegomena zu einer Gesamtreform des Strafverfahrensrechts. In: Festschrift für Schäfer (1980) 155ff. (166); Achenbach: Kriminalpolitische Tendenzen in den

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sichtspunkte, die auf Sicherung der Funktions- und Leistungsfähigkeit sowie auf Steigerung der Wirksamkeit der Strafrechtspflege zielen, Gesetzgebung und Rechtspraxis maßgeblich beeinflußt. Demgegenüber hat das Sozialstaatsprinzip auf dem Gebiet des materiellen Strafrechts stärkere Spuren hinterlassen. Vor allem hat es die Reform des Strafvollzugsrechts nach Zielsetzung und Ausgestaltung nachhaltig geprägt. Bedeutet Verwirklichung des Sozialstaatsprinzips Gewährung staatlicher Hilfe im umfassenden Sinne an denjenigen, der aus eigener Kraft zur Lebensbewältigung nicht in der Lage ist, mit seinen - verschuldeten oder unverschuldeten - Schwierigkeiten nicht fertig zu werden vermag, dann haben insoweit gerade die „Grundsätze der Strafzumessung" sowie die Reform des Sanktionensystems und des Strafvollzuges erste Zeichen gesetzt. Dies gilt jedenfalls dann, wenn man die präventive Orientierung strafrechtlicher Sanktionen und das Resozialisierungskonzept des StVollzG mit dem Sozialstaatsprinzip in Zusammenhang bringt oder gar darauf zurückführt. Eine solche Position haben sich etwa Mitautoren des AE-StGB Allgemeiner Teil (1966/69) zu eigen gemacht'. Sie lag denn auch der Diskussion zur Reform des Strafvollzuges zugrunde7. Vor allem aber hat jene Position bekanntlich das BVerfG im sog. LebachUrteil eingenommen. So hat es die Aufgabe des Strafvollzuges, „die Grundlage für die Resozialisierung zu schaffen", mit dem „Selbstverständnis einer Gemeinschaft" begründet, „die die Menschenwürde in den Mittelpunkt ihrer Wertordnung stellt und dem Sozialstaatsprinzip verpflichtet ist" 8 . Dem BVerfG zufolge treffen das allgemeine, also Gemeinschaftsinteresse an der Verhütung von Straftaten und am Ausgleich sozialer Benachteiligungen sowie das individuelle Interesse des Verurteilten an gesellschaftlicher (Wieder-)Eingliederung im (Re-)Sozialisierungsziel zusammen, das auf den Grundwerten der Menschenwürde und der Sozialstaatlichkeit fußt'. Damit ist die Wahrnehmung individujüngeren Reformen des Besonderen Strafrechts und des Strafprozeßrechts. JuS 1980, 82 ff. (85 ff.) ; Seebode: Neue Entwicklungen im Strafverfahrens- und Polizeirecht - aus der Sicht der Wissenschaft. In: Polizei und Kriminalpolitik. Hrsg. vom Bundeskriminalamt (1981) 101 ff. 6 Vgl. Roxin: Franz von Liszt und die kriminalpolitische Konzeption des Alternativentwurfs. ZStW 1969, 613 ff. (637 ff., 645). Vgl. auch Calliess: Theorie der Strafe im demokratischen und sozialen Rechtsstaat (1974) 199 ff. 7 Vgl. namentlich Würtenberger: Reform des Strafvollzugs im sozialen Rechtsstaat (1967). In: Kriminalpolitik im sozialen Rechtsstaat (1970) 191 ff.; Schüler-Springorum: Strafvollzug im Übergang (1969) 260ff.; Müller-Dietz: Strafvollzugsgesetzgebung und Strafvollzugsreform (1970) 93 ff. Zusammenfassend Müller-Dietz: Grundfragen des strafrechtlichen Sanktionensystems (1979) 151 f. » BVerfGE 35, 202 (235). ' BVerfGE 35, 236.

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alpräventiver Funktionen durch den Staat mit den Mitteln des Strafrechts zugleich sozialstaatlich legitimiert. In dieser Perspektive trägt nicht zuletzt das individualpräventive Konzept der Folgenorientierung (§ 46 Abs. 1 Satz 2 S t G B ) sozialstaatliche Züge 10 . Auf der einen Seite gilt für richterliche Strafbemessung und Strafvollstreckung gleichermaßen der Grundsatz des „nil nocere": Negative Auswirkungen strafrechtlicher Sanktionierung sollen nach Kräften vermieden werden. Auf der anderen Seite sollen strafrechtliche Sanktionen durch Art und Ausgestaltung in möglichst weitgehendem Umfange individualpräventiv wirken, namentlich die (Re-)Sozialisierung des Verurteilten fördern. In diesem Sinne soll etwa die Strafaussetzung zur Bewährung in Form von Weisungen gleichsam Präventions- oder Resozialisierungshilfe leisten (vgl. § 5 6 c Abs. 1 StGB) 1 1 . Bekanntlich bildet die Unterstellung unter die Aufsicht und Leitung eines Bewährungshelfers (§ 56 d Abs. 1 und 3 S t G B ) die kriminalpolitisch bedeutsamste Weisung. Die Einrichtung des Sozialen Dienstes der Justiz figuriert gleichsam als personelle und institutionelle Absicherung jener individualpräventiven Zielsetzung 12 . Dabei kann hier dahinstehen, ob und inwieweit man bereits in den Bemühungen um Schaffung einer „Sozialen Strafrechtspflege", die bis in die 20er Jahre zurückreichen", eine Vorwegnahme sozialstaatlicher Gedanken sehen kann. Daß die kriminalpolitischen Intentionen in diese Richtung gehen, wird man trotz berechtigter Vorbehalte gegenüber der Etikettierung des reformierten S t G B als „Resozialisierungsstrafrecht" 14 und ungeachtet rückläufiger Tendenzen schwerlich bestreiten können. Erst recht ruht das Strafvollzugsrecht - nach dem skizzierten Verständnis des BVerfG 1 5 - auf sozialstaatlicher Grundlage. Beispielhaft dafür ist die Verpflichtung des Strafvollzuges, im Hinblick auf die soziale Integration des Gefangenen möglichst umfassende Sozialisations10 Dazu z . B . Müller-Dietz: Probleme der Strafzumessung. In: Recht und Gesetz im Dialog. Saarbrücker Vorträge (1982) 43 ff. 11 Vgl. etwa Müller-Dietz: Die Bewährungshilfe in Praxis und kriminologischer Forschung. In: Kury (Hrsg.): Prävention abweichenden Verhaltens. Maßnahmen der Vorbeugung und Nachbetreuung (1982). 12 Vgl. Kemer: Soziale Dienste der Justiz im Konfliktfeld der Institutionen und Handlungserwartungen. BewHi 1980, 64ff.; Müller-Dietz: Sozialer Dienst in der Strafrechtspflege - Grundfragen institutionalisierter Sozialarbeit-. In: Freiwillige Mitarbeit in der Straffälligenhilfe und professionelle Sozialarbeit. Hrsg. von der Niedersächsischen Gesellschaft für Straffälligenbetreuung und Bewährungshilfe e.V. (1980) 127 ff.

Vgl. Buerschaper: Soziale Strafrechtspflege (1920). So z . B . Maihofer: Gesamte Strafrechtswissenschaft. In: Festschrift für Henkel (1974) 75 ff. 15 BVerfGE 35, 235 f. 13 14

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hilfe zu leisten (vgl. § 2 Satz 1, §§ 3, 4 Abs. 1, § 71 StVollzG). Entsprechende Konkretisierungen dieser Zielvorstellung lassen sich - zumindest der Norm und der Theorie nach16 - auf verschiedensten Arbeits- und Lernfeldern des Strafvollzuges ausmachen. 2. Hinter jenen - hier nur exemplarisch und fragmentarisch angedeuteten - Ausprägungen des Sozialstaatsprinzips im materiellen Strafrecht und im Strafvollzugsrecht ist die Entwicklung des Strafprozeßrechts an Umfang und Gewichtung zurückgeblieben. Die Spuren, die das Sozialstaatsprinzip auf diesem Feld hinterlassen hat, sind eher marginal. Noch am bedeutsamsten mag die Verpflichtung der Staatsanwaltschaft erscheinen, ihre Ermittlungen auf die für eine etwaige Sanktionsbemessung erforderlichen Informationen über Persönlichkeit und soziales Umfeld des Beschuldigten zu erstrecken (§ 160 Abs. 3 StPO) 17 . Hierher kann man auch die Institution der (Erwachsenen-)Gerichtshilfe selbst rechnen, der vor allem die Aufgabe obliegt, solche sowie für sog. Nachtragsentscheidungen (§§ 453-461 StPO) erforderlich werdende Informationen zu beschaffen (vgl. §§ 160 Abs. 3, 463 d StPO) 18 . Weitergehende strukturelle Veränderungen, die eine Umgestaltung des Strafverfahrens im sozialstaatlichen Sinne zum Gegenstand haben, sind bisher ausgeblieben. Allzu vordergründig wäre es, dies allein auf schwindende finanzielle Ressourcen zurückzuführen, welche die Leistungsfähigkeit und -kapazität des Staates immer mehr einschränken und eine verschärfte Kontrolle von Forderungen und Bedürfnissen im Rahmen der Ausgabenpolitik zur Folge haben. Gewiß spielt auch dieser Gesichtspunkt eine Rolle; indessen darf nicht verkannt werden, daß selbst in einer Zeit finanzieller Engpässe über Art und Umfang staatlicher Leistungen die Prioritäten entscheiden, die haushaltspolitisch gesetzt - vielleicht auch verfassungsgerichtlich durchgesetzt werden1'. Nicht minder dürfte zu jenen sozialstaatlichen Defiziten des Strafprozeßrechts beigetragen haben, daß in der Grundsatzfrage, was Verwirklichung des Sozialstaatsprinzips im, für oder durch das Strafverfahren bedeutet, keine hinreichende Klarheit 16 Vgl. Fn.7. Vgl. ferner Müller-Dietz: Strafvollzugsrecht. 2. Aufl. (1978) 61; Calliess/ Müller-Dietz: Strafvollzugsgesetz. 2. Aufl. (1979) Einl. Rdn. 30ff.; Hoffmeyer·: Grundrechte im Strafvollzug (1979) 73 ff., 257ff.; Heinz Baumann: Die Entlassenenhilfe in der Bundesrepublik Deutschland (1980) 43 f.; Calliess: Strafvollzugsrecht. 2. Aufl. (1981) 53f. 17 Dazu etwa Roxin: Strafverfahrensrecht. 16. Aufl. (1980) § 10 Β III, § 57 Β I; Peters: Strafprozeß. 3. Aufl. (1981) § 2 6 ; Schlächter: Das Strafverfahren (1981) Rdn. 77; Kleinknecht: Strafprozeßordnung. 35. Aufl. (1981) § 160 Rdn.l7ff. 18 Vgl. neuerdings Lange: Die Gerichtshilfe und ihr Einbau in das Erkenntnisverfahren des überkommenen Strafprozesses. Diss. Freiburg 1980; Bottke: Bemerkungen zur Gerichtshilfe für Erwachsene. MSchrKrim. 1981, 62 ff. " Vgl. Müller-Dietz (Fn. 12) 151.

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besteht. Zwar mag man sich - wie so oft - im Grundsätzlichen darüber einig sein, daß jene Staatszielbestimmung den Staat auch qua Strafprozeß in Pflicht nimmt; doch ist damit noch längst nicht entschieden, welche Schlußfolgerungen hieraus für die Ausgestaltung des Strafverfahrens(rechts) zu ziehen sind oder sich wenigstens ziehen lassen. III. Das kann durchaus am Sozialstaatsprinzip selbst und/oder seiner (bisherigen) verfassungsrechtlichen Exegese liegen. Fragen, die hier offenbleiben oder umstritten sind, teilen sich notgedrungen der Auseinandersetzung mit dem Sozialstaatsprinzip auf der verfahrensrechtlichen Ebene mit. Denn natürlich können Vorstellungen dazu, was und wieviel das Sozialstaatsprinzip für das Strafverfahren(srecht) bedeutet, erst dann entwickelt werden, wenn feststeht, was jenes Prinzip ganz allgemein verfassungsrechtlich aus- und besagt. In der Tat begegnen - wie die folgende Analyse zeigen wird grundsätzliche Schwierigkeiten jedem Versuch, das Sozialstaatsprinzip gewissermaßen als Basisnorm zu interpretieren, aus der sich ein mehr oder minder geschlossener Kanon verfahrensrechtlicher Regeln und Institute ableiten ließe. Für das jeweilige Rechtsgebiet a priori feststehende, konkretisierte oder wenigstens im einzelnen abfragbare Ergebnisse liefert es nicht. Zum einen eröffnet es Gestaltungsspielräume, die der inhaltlichen Ausfüllung im Wege politischer Entscheidung bedürfen. Zum anderen bedarf es allemal der Transformation sozialstaatlicher Zielvorstellungen im Lichte spezifischer Sachgesetzlichkeiten, der besonderen Eigenart und Qualität des Regelungsbereiches. Das jeweilige Rechtsgebiet, seine Strukturbedingungen strahlen auf die rechtliche und praktische Umsetzung jenes Prinzips aus. 1. Wie bereits angedeutet (vgl. II), begründet das Sozialstaatsprinzip die Verpflichtung des Staates, die soziale Ordnung mit der Zielsetzung und im Sinne sozialer Gerechtigkeit - nicht zuletzt verstanden als Chancengleichheit - zu gestalten 20 . Diese sehr allgemeingehaltene Umschreibung, der sich eine Vielzahl anderer, wenngleich meist ähnlicher Definitionen gegenüberstellen ließe 21 , ist natürlich wenig aussagekräftig. 20 Vgl. etwa Huh: Rechtsstaatliche Grenzen der Sozialstaatlichkeit. Der Staat 1979, 183ff. (188ff.). Die Beiträge zum Sozialstaatsprinzip sind inzwischen Legion. Vgl. z . B . Salomon: Der soziale Rechtsstaat als Verfassungsauftrag des Bonner Grundgesetzes (1965); Forsthoff (Hrsg.): Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit (1968); Zacher: Soziale Gleichheit. AöR 1968, 341 ff. (360ff.); Herzog: Das Sozialstaatsprinzip als Regulativ im System der Sozialen Sicherheit. In: Freiheit und Bindung im Recht der sozialen Sicherheit (1972) 32 ff.; Wiegand: Sozialstaatsklausel und soziale Teilhaberrechte. DVB1.1974,658 ff.; Noack: Sozialstaatsklausel und juristische Methoden. Probleme einer Interpretation der

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Das B V e r f G hat ganz allgemein aus der Sozialstaatsklausel eine Verpflichtung des Staates abgeleitet, „soziale Sicherheit zu garantieren" 22 . Diesen Grundsatz hat es namentlich für den Bereich der wirtschaftlichen Vor- und Fürsorge, so etwa der Sozialversicherung, formuliert 23 . „Je besser das System der sozialen Sicherheit ausgestaltet ist, desto eher werden . . . nicht nur schutzwürdige individuelle Belange gewahrt, sondern wird zugleich dem Allgemeinwohl gedient 24 ." Einen konkreten Anwendungsfall des Sozialstaatsprinzips erblickt das B V e r f G vor allem in der Beseitigung individueller Notlagen und Situationen sozialer Ungleichheit. Danach ist der Staat gehalten, denjenigen Bürgern oder Gruppen die erforderlichen sozialen Hilfen zu gewähren, die - aus welchen Gründen auch immer - an der freien Entfaltung ihrer Persönlichkeit und an der Wahrnehmung ihrer Rechte gehindert sind. Dabei können Lagen sozialer Ungleichheit den Staat qua Gesetzgeber nicht allein aus sozialstaatlichen Gründen, sondern auch wegen des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 G G ) zum Tätigwerden verpflichten; typisches Beispiel dafür ist ein ungleicher Zugang zum Gericht für Bemittelte und Unbemittelte 25 . Uberhaupt figurieren Gleichheitssatz und Sozialstaatsprinzip relativ häufig als gemeinsamer Maßstab für die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit einer Norm 2 6 . Als Hilfsbedürftige in diesem Sinne sieht das BVerfG etwa Behinderte und Straffällige an. Dementsprechend rechnet es die „Fürsorge für Hilfsbedürftige" „zu den selbstverständlichen Pflichten eines Sozialstaats" 27 . Im - bereits erwähnten - Lebach-Urteil hat das B V e r f G diesem Gedanken deutlichere Konturen zu geben versucht: „Das Sozialstaatsprinzip verlangt staatliche Vor- und Fürsorge für Gruppen der GesellArt. 20 Abs. 1 und 28 Abs. 1 des Grundgesetzes (1975); Hartwicb: Sozialstaatspostulat und gesellschaftlicher Status quo. 3. Aufl. (1978); Matz: Freiheit im heutigen Sozialstaat. Zum Verhältnis von Freiheitsrechten und Teilhaberechten. In: Rauseber (Hrsg.): Die Herausforderung der Freiheit heute (1978) 23 ff.; Starck: Gesetzgeber und Richter im Sozialstaat. DVB1.1978, 937ff.; ders.: Ist der kategorische Imperativ ein Prinzip des Sozialstaats? ZRP 1981, 97 ff. ; Benda: Die Sozialstaatsklausel in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und des Bundesverfassungsgerichts. RdA 1979, 1 ff.; ders.: Bundessozialgericht und Sozialstaatsklausel. N J W 1979, 1001 ff.; Stern: Der soziale Rechtsstaat im Leitbild europäischer Gegenwart. In: Verfassungsgerichtsbarkeit im sozialen Rechtsstaat (1980) 23 ff. Vgl. Hub (Fn. 20) 188 f. BVerfGE 51, 1 (27). 23 Vgl. z . B . BVerfGE 39, 316 (326ff.); 44, 70 (89); 45, 376 (387ff.); 48, 227 (234f.); 51, 1 (27); 53, 164 (184); 5 5 , 1 0 0 (111 ff.). Dazu auch Isensee: Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge (1973); E. von Hippel: Grundfragen der Sozialen Sicherheit (1979). 2< BVerfGE 45, 376 (387f.). 25 Vgl. BVerfGE 9, 124 (131); 51, 295 (302). 26 Vgl. BVerfGE 39, 116 (326f.); 44, 283 (290); 45, 376 (386ff.); 51, 295 (302); 52, 264 (272); 54, 251 (273); 55, 100 (111 f.). 27, BVerfGE 40, 121 (133); 43, 13 (19); 44, 353 (375). 21

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schaft, die auf Grund persönlicher Schwäche oder Schuld, Unfähigkeit oder gesellschaftlicher Benachteiligung in ihrer persönlichen und sozialen Entfaltung behindert sind; dazu gehören auch die Gefangenen und Entlassenen" 28 . Denkt man diese Überlegungen zu Ende, dann heißt Verwirklichung des Sozialstaates, die materiellen Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit schaffen oder sichern (helfen)29. So verstanden soll er letztlich Freiheit gewährleisten, indem er denjenigen Personen oder Gruppen, denen die dafür erforderlichen Mittel fehlen, zu dieser Möglichkeit verhilft. Sozialstaatlichkeit ist also kein Selbstzweck, sondern Bedingung für die Möglichkeit von Freiheit. N u r von daher und allein in diesem Rahmen legitimieren sich soziale (Integrations-)Hilfen des Staates und Maßnahmen zum Abbau sozialer Ungleichheit. Das liegt auf der Linie jener Meinung, die in der Literatur anscheinend an Boden gewinnt. Danach nimmt das Sozialstaatsprinzip den Staat qua sozialer (Verteilungs-)Gerechtigkeit und Chancengleichheit in Pflicht. So steht etwa „das ungeschriebene Recht auf Fürsorge" außer Diskussion30. „Ohne Sozialstaat ist Freiheit, zumindest in der Gegenwart, nicht zu retten. Er stellt die materielle, insbesondere ökonomische Basis dar, auf der sich Freiheit entfaltet" 31 . In diesem Sinne soll dem Einzelnen ein allgemeiner „grundrechtlicher status positivus" zukommen, der namentlich Ansprüche „auf materielle Hilfe zur Sicherung des Existenzminimums" und „auf Fürsorge zur Wahrung der sozialen Identität" gewährleistet32. 2. Ein solches Verständnis des Sozialstaatsprinzips liefert freilich nur eine erste Orientierung. Inhalt und Grenzen sind damit noch nicht umrissen. Das gilt vor allem für die vieldiskutierte und umstrittene Frage, ob und inwieweit jenes Prinzip als unmittelbare Anspruchsgrundlage für benachteiligte und hilfsbedürftige Bürger in Betracht kommt. Sie ist auch und gerade für das Strafverfahren(srecht) bedeutsam, wenn die These richtig ist, daß hier nach wie vor erhebliche sozialstaatliche Defizite zu verzeichnen sind. In seiner bisherigen Rechtsprechung hat das BVerfG dem Sozialstaatsprinzip in erster Linie Pflichten des Gesetzgebers entnommen, die 2!

BVerfGE 35, 236. So namentlich Huh (Fn. 20) 191 ff. Vgl. auch Lorenz: Bundesverfassungsgericht und soziale Grundrechte. JB1. 1981, 16ff. (23 f.). 30 Isensee: Verfassung ohne soziale Grundrechte. Der Staat 19 (1980) 367 ff. (372). 51 Huh (Fn. 20) 191. 32 Breuer: Grundrechte als Quelle positiver Ansprüche - Zur gewandelten Rolle der Grundrechte im sozialen Rechtsstaat - . Jura 1979, 401 ff. (404 ff.). Vgl. auch Wank: Verteilungsgerechtigkeit im Arbeitsrecht. Jura 1981, 393 ff. (394 f.). n

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jeweils erforderlichen sozialen Hilfen vorzusehen und Lagen sozialer Ungleichheit abzubauen. Damit ist zugleich zum Ausdruck gebracht, daß konkrete Leistungsansprüche des Einzelnen in der Regel erst nach entsprechendem Tätigwerden des Gesetzgebers entstehen (können). Dem BVerfG zufolge ist grundsätzlich das Gesetz das Medium, durch das sich der Sozialstaat entfaltet. Hiernach „enthält das Sozialstaatsprinzip primär nur einen Gestaltungsauftrag an den Gesetzgeber"33. Dementsprechend hat das BVerfG darauf hingewiesen, „daß es auch im modernen Sozialstaat der nicht einklagbaren Entscheidung des Gesetzgebers überlassen bleibt, ob und inwieweit er im Bereich der darreichenden Verwaltung Teilhaberechte gewähren will" 34 . Begründet wird diese These zumeist mit dem Hinweis auf den - politischen - Entscheidungsspielraum, die Wahlfreiheit des Gesetzgebers, dem häufig mehrere Möglichkeiten zur Verwirklichung des Sozialstaatsprinzips zur Verfügung stünden: Wenn nur das Ob, die Verpflichtung „zur sozialpolitischen Aktivität" 35 , aber nicht das Wie verfassungsrechtlich feststeht, kann die Entscheidung, auf welche Weise jene verfassungsrechtliche Verpflichtung einzulösen ist, grundsätzlich nicht in den Zuständigkeitsbereich der Gerichte fallen36. „Die Konkretisierung im einzelnen ist . . . Sache des Gesetzgebers"37. Insoweit kann sich daher auch kein bestimmter Anspruch des Einzelnen aus dem Sozialstaatsprinzip ergeben38. Das BVerfG schließt zwar nicht aus, daß im Einzelfall Ansprüche unmittelbar aus dem Sozialstaatsprinzip folgen können; doch stellen solche Sachlagen eben wegen des Gestaltungsspielraums und der Entscheidungsbefugnis des Gesetzgebers tendenziell eher Ausnahmefälle dar39. Denkbar erscheint dies nach der Rechtsprechung etwa dann, wenn zur Konkretisierung des Sozialstaatsgebots (und des Gleichheitssatzes) nur eine einzige Lösung in Betracht kommt. Im Numerus-clausus-Urteil hat das BVerfG beispielsweise Ansprüche auf Zutritt zu bestimmten Ausbildungseinrichtungen u. a. unmittelbar auf das Sozialstaatsprinzip gestützt40. Im übrigen ist das BVerfG aber darauf beschränkt, die Verfassungswidrigkeit einer Norm (oder eines Zustandes, etwa eines verfassungswidrigen Regelungsdefizits) festzustellen, ohne nun seinerseits durch eigene Entscheidung dem Gesetzgeber die GestaltungsaufgaBVerfGE 50, 57 (108). BVerfG N J W 1972, 1561 (1564) = BVerfGE 33, 303. 35 BVerfGE 53, 164 (184). 36 Vgl. z.B. BVerfGE 44, 70 (89); 44, 283 (290); 48, 227 (234); 55, 100 (113). 37 BVerfGE 51, 115 (125). 3» Vgl. BVerfGE 39, 302 (315). 55 Vgl. etwa BVerfGE 44, 290. 40 Vgl. BVerfGE 33, 303. 33

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be abnehmen zu können. Für den Regelfall bleibt es demnach dabei, daß Rechtsansprüche des Einzelnen erst durch entsprechende legislatorische Entscheidungen geschaffen werden, also gesetzlicher Grundlage bedürfen. Diese Auffassung herrscht in der Literatur vor. Auch hiernach liegt die Kompetenz zur Begründung von Leistungsansprüchen und Teilhaberechten primär beim Gesetzgeber: „Die Entscheidung über die notwendigen Prioritäten und Konkretisierungen im sozialstaatlichen Verteilungs- und Zuteilungsprozeß bleibt jedenfalls grundsätzlich eine politische Aufgabe des Gesetzgebers" 41 . Der unmittelbare Rückgriff auf die Verfassung bildet die Ausnahme; er figuriert gewissermaßen als Notbehelf zur Sicherung existentieller Bedürfnisse des Einzelnen: „Positive Ansprüche unmittelbaren verfassungsrechtlichen Ursprungs setzen danach voraus, daß die grundrechtliche Freiheit notleidend wird und der Bürger ohne staatliche Hilfe zur autonomen Ausübung seiner Freiheit nicht mehr in der Lage ist"42. 3. Darüber hinaus gehen Rechtsprechung (des BVerfG) und Literatur davon aus, daß das Sozialstaatsprinzip im Rahmen der Gesetzesauslegung den Richter bindet43. Verfassungsprinzipien verpflichten bekanntlich nicht allein den Gesetzgeber, sondern auch den rechtsanwendenden Juristen qua Gesetzesvollzug. Insofern fließen sie - grundsätzlich auf der Basis entsprechender Rechtsnormen und durch sie vermittelt - in die Entscheidungspraxis der Gerichte und Verwaltungsbehörden ein. Gleichsam in der „Natur der Sache" liegt es, daß dieser zweite Realisierungsmodus des Sozialstaatsprinzips wegen der Bindung des Richters an Gesetz und Recht ungleich begrenzter ist. Hierher gehört namentlich die auf jenes Prinzip gestützte, gesetzesüberschreitende, etwa lückenausfüllende Tätigkeit des Richters. Sie kann dem BVerfG zufolge dort in Betracht kommen, wo eine gegen den Gleichheitssatz und das Sozialstaatsgebot verstoßende Regelungslücke besteht. Dann „stellt sich auch für den Richter die Aufgabe, die fehlende Regelung in möglichst enger Anlehnung an das geltende Recht nach den fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft zu ersetzen"44. 4. Indessen gehen manche Ansätze über die skizzierten Vorstellungen der h. M. hinaus. Für sie reichen Aussagefähigkeit, verfassungsrechtliche

41 Breuer (Fn. 32) 403. Vgl. auch Maunz/Düng/Herzog/Scholz: Grundgesetz, Art. 20 VIII Rdn. 28. « Breuer (Fn. 32) 404. 43 Vgl. Huh (Fn. 20) 188f.; Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 20 VIII Rdn. 6, 24ff. 44 BVerfGE 54, 251 (276).

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Qualität und normativer Gehalt des Sozialstaatsprinzips wesentlich weiter. Charakteristisch dafür sind vor allem jene von Zielvorstellungen sozialer Verteilungsgerechtigkeit geleiteten oder motivierten Versuche, diesen Verfassungsrechtssatz im Sinne einer konkreten Anspruchsnorm zu interpretieren oder zu handhaben, die bestimmte Rechte auf soziale Hilfen und Leistungen begründet oder den Staat zu bestimmten institutionellen Vorkehrungen verpflichtet. Sie stehen im unmittelbaren Zusammenhang mit den verfassungsexegetischen Tendenzen, „aus den abstrakten Leitgedanken des Grundgesetzes konkrete soziale Grundrechte zu deduzieren" 45 . Danach begründet das Sozialstaatsprinzip - je nach Rechtsmaterie und Art sozialer Defizite - bestimmte Leistungsund Regelungspflichten, die Gesetzgebung und Verwaltung zu erfüllen gehalten sind. Hierdurch sollen in verfassungsunmittelbarer Weise angebliche oder wirkliche - Versäumnisse des Gesetzgebers auf dem Gebiet sozialer Leistungen und Verteilungsgerechtigkeit gleichsam „geheilt" werden. Die Diskussion, die inzwischen über Methode und Inhalt dieser Sozialstaatsinterpretation geführt wird, trägt vielfältige Züge. Sie reichen von staatsphilosophischen Analysen der Staatszwecke und des Verhältnisses Staat-Bürger bis hin zu ökonomischen Erwägungen über die Leistungsfähigkeit des Staates und die Belastbarkeit seiner Bürger. Nun ist es hier nicht möglich, jene Auseinandersetzung in ihrer ganzen Breite aufzunehmen. Es ist aber wohl auch nicht erforderlich, um die Problematik einer Verfassungsauslegung zu verdeutlichen, die letztlich in eine normative Uberbeanspruchung des Sozialstaatsprinzips mündet. Schon dieser Verfassungsrechtssatz wird durch eine solche Verfassungsexegese (seinem Gehalt nach interpretativ) überfordert, nicht erst die Leistungsfähigkeit des Staates. Denn es ist schlechterdings methodisch nicht darzutun, wie ein bestimmter Katalog von Leistungen und Rechtsinstituten verfassungsunmittelbar zwingend und einleuchtend sollte begründet werden können 46 . In der Tat läuft jeder derartige Versuch darauf hinaus, „das Sozialstaatsprinzip politisch und ideologisch (zu) überfrachten" und die demokratische Entscheidungsinstanz, den Gesetzgeber, dem die Aufgabe (rechts-)politischer Gestaltung pri45 Isensee (Fn. 30) 371. Zur Diskussion über die Problematik sozialer Grundrechte ferner Brunner: Die Problematik der sozialen Grundrechte (1971); Wiegand (Fn.20); Lorenz (Fn.29). Vgl. auch Kirsch: Das Recht auf dies und das Recht auf das. Soziale Grundrechte und liberale Ordnungspolitik. FAZ Nr. 13 vom 16.1.1982, 13. w Zur Methode der Verfassungsauslegung etwa H . J . K o c h (Hrsg.): Die juristische Methode im Staatsrecht (1977) 120ff.; E.Stein: Verfassungsgerichtliche Interpretation der Grundrechte als Konkretisierung des Rechtsstaates. In: Kaltenbrunner (Hrsg.): Auf dem Weg zum Richterstaat (1979) 83 ff.; Schuppert: Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation (1980) 15 ff.

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mär zukommt, zu überspielen47. Das ist denn auch der Grundtenor der Kritik, die sich gegen solche deduktiven Verfahren, die unmittelbare Herleitung von Leistungsansprüchen aus dem Sozialstaatsprinzip oder darauf gestützten sozialen Grundrechten richtet48. Danach verbietet sich in der Regel ein direkter „Durchgriff" auf die Verfassung, sind Aktualisierung und Konkretisierung jenes Prinzips primär Sache und Aufgabe des Gesetzgebers. 5. Damit läßt sich als - vorläufiges - Resümee zweierlei festhalten: Zum einen begründet das Sozialstaatsprinzip legislatorische Pflichten. Es erteilt dem Gesetzgeber einen Gestaltungsauftrag, der dahin geht, in denjenigen Sozialbereichen Leistungsangebote und - kompensatorische - soziale Hilfen des Staates vorzusehen, in denen existentielle Notlagen oder Lagen sozialer Ungleichheit, die an der freien Entfaltung der Persönlichkeit hindern, mit eigenen Mitteln und aus eigener Kraft nicht hinreichend bewältigt werden können. Hier gilt also der Solidargedanke, daß die Gemeinschaft in dem Maße einzutreten gehalten ist, in dem der Einzelne - aus welchen Gründen auch immer - zur persönlichen und sozialen Entfaltung nicht in der Lage ist, von seiner Freiheit, die ihm die Verfassung einräumt, keinen (hinreichenden) Gebrauch machen kann. Jedoch läßt sich dem Sozialstaatsprinzip grundsätzlich kein konkret abrufbarer Leistungs- und Regelungskatalog entnehmen, den es dann lediglich noch in Gesetzesform zu gießen gälte. Vielmehr obliegt regelmäßig dem Gesetzgeber die Entscheidung darüber, in welcher Weise er seinem sozialstaatlichen Gestaltungsauftrag nachkommt. Für die Bandbreite verfassungsrechtlich legitimer und legitimierter Gestaltungsmöglichkeiten sind nicht zuletzt Struktur und Besonderheiten der jeweils zu regelnden Rechtsmaterie maßgebend. Zum zweiten ist das Sozialstaatsprinzip als Maxime und Zielvorstellung der Gesetzesauslegung bedeutsam. Freilich sind die Möglichkeiten des Richters zur Realisierung dieses Verfassungsprinzips im Wege der Interpretation wegen seiner Bindung an Gesetz und Recht ungleich stärker eingeschränkt als die des Gesetzgebers. Im Ergebnis verbleibt damit für verfassungsunmittelbare (und gesetzesunabhängige) Konkretisierung des Sozialstaatsprinzips lediglich ein schmaler Bereich. Schon dies läßt vermuten, daß aus der Verfassung kein wie immer geartetes System eines „sozialstaatlichen Strafverfahrens" deduziert werden kann, sondern daß ihr vor dem Hintergrund der Strukturbedingungen des Strafprozesses vielmehr nur Anhaltspunkte für eine solche Ausgestaltung entnommen werden können. Vor solchen Schwierigkeiten stünde auch der - weitergehende - Interpretationsver47 Stern (Fn.20) 33. « Vgl. z.B. Isensee (Fn.30) 371 ff., 378ff.; Huh (Fn.20) 195ff.

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such, aus dem „grundrechtlichen status positivus" bestimmte Ansprüche oder Institute abzuleiten49. IV. 1. Dieser verfassungsrechtliche Befund spiegelt sich bis zu einem gewissen Grade auch in der strafprozessualen Reformdiskussion wider. Soweit die inhaltliche Bindung des Strafverfahrens(rechts) an das Sozialstaatsprinzip überhaupt erkannt wird50, verweist man entweder auf bereits anerkannte oder bestehende Institute und Institutionen, wie die gerichtliche Fürsorgepflicht51 und die Gerichtshilfe52, oder erhebt rechtspolitische Forderungen, deren Verwirklichung recht eigentlich Domäne des Gesetzgebers ist. In diesem Sinne sind denn auch durchweg jene Reformpostulate zu verstehen, die mit dem Sozialstaatsprinzip begründet oder wenigstens in Zusammenhang gebracht werden53. Sie ranken sich bezeichnenderweise um die Person des Beschuldigten oder Angeklagten, mögen sie nun auf weiteren Ausbau der Gerichtshilfe und gerichtlichen Fürsorgepflicht, stärkere Orientierung der Ermittlungen und Entscheidungspraxis am individualpräventiven Folgenkonzept, Gewährung sozialer Hilfen in Untersuchungshaft, Erhöhung der Prozeßkompetenz (des Beschuldigten) oder Verbesserung der forensischen Kommunikationssituation zielen54. Insofern richten sich diese Forderungen konsequenterweise an die Adresse des Gesetzgebers, der das Verfahren im sozialstaatlichen Sinne regeln müsse, und an die Justizverwaltung, die für eine entsprechende (personelle) Ausstattung der Strafrechtspflege zu sorgen habe. In der Diskussion wurde aber auch deutlich, daß und was die Praxis selbst mit " Wie es etwa Breuer (Fn. 32) 404 ff. getan hat. 50 So findet sich z.B. im KMR, Kommentar zur Strafprozeßordnung, 7. Aufl. (1980), hrsg. von H. Müller, Sax, Paulus das Stichwort „Sozialstaatsprinzip" nicht. Die Fürsorgepflicht selbst (Einleitung XII Rdn. 1 ff.) wird hier als „ein Unterfall des Gebots des ,fair trial'" aufgefaßt (Rdn. 4). 51 Vgl. etwa Schorn: Die Fürsorgepflicht im Strafverfahren. MDR 1966, 639ff.; von Lübbecke: Fürsorgepflichten im Strafprozeß? GA 1973, 200ff.; Maiwald: Zur gerichtlichen Fürsorgepflicht im Strafprozeß und ihre Grenzen. In: Festschrift für Lange (1976) 745ff.; Giehring: Rechte des Beschuldigten, Handlungskompetenz und kompensatorische Strafverfolgung. In: HassemerlLüderssen (Hrsg.): Sozialwissenschaften im Studium des Rechts. Bd. III Strafrecht (1978) 181 ff. (204 ff.); Hegmann: Fürsorgepflicht gegenüber dem Beschuldigten im Ermittlungsverfahren (1980); Plötz: Die gerichtliche Fürsorgepflicht im Strafverfahren (1980). 52 Vgl. Fn. 18. 53 Zur Bedeutung des Sozialstaatsprinzips für das Strafverfahren(srecht) Giehring (Fn. 51) 201 f.; Zipf (Fn. 5) 32 ff.; Roxin (Fn. 17) § 2 D; Peters (Fn. 17) § 5 Abs. 3 Satz 2; Schlächter (Fn. 17) Rdn. 77. Zusammenfassend Müller-Dietz: Die Stellung des Beschuldigten im Strafprozeß. ZStW 1981, 1177 ff. (1253 ff.). 54 Vgl. namentlich Schreiber (Fn. 5) 23 ff.

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den vorhandenen Mitteln und Möglichkeiten zur Realisierung sozialstaatlicher Zielvorstellungen beitragen kann. Die Beispiele stärkerer Inanspruchnahme der Gerichtshilfe (und ihrer Erkenntnisse)55 sowie einer kommunikationsfreundlichen Gestaltung der Hauptverhandlung56 mögen pars pro toto stehen. 2. Darüber hinaus ist für die bisherigen Überlegungen zur Bedeutung des Sozialstaatsprinzips für das Strafverfahren(srecht) charakteristisch, daß sie letztlich m punktuelle Ansätze münden, die jeweils unterschiedliche Phasen des Verfahrens und Prozeßsituationen betreffen. Gewiß lassen sich insoweit Schwerpunkte und Tendenzen ausmachen. So kann man namentlich drei herausragende Positionen konstatieren: - die vom materiellen Strafrecht her bestimmte Orientierung am individualpräventiven Folgenkonzept ; - die Stärkung der Beschwerdemacht und Prozeßkompetenz des Beschuldigten; - die Gewährung sozialer (Integrations-)Hilfen, etwa zum Ausgleich sozialer Benachteiligung oder Begleitschäden des Verfahrens, vor allem besonders einschneidender strafprozessualer Zwangsmaßnahmen. Jedoch lassen diese Ansätze allenfalls Konturen eines sozialstaatlich verfaßten Strafverfahrens erkennen. Ein mehr oder minder geschlossenes Bild vermitteln sie nicht. Vielmehr bedürfen die Inhalte und Grenzen erst noch der Klärung und Präzisierung. 3. Daß bisher ein konsistentes System eines sozialstaatlichen Strafverfahrens nicht entwickelt wurde, ja vermutlich gar nicht entwickelt werden konnte, hängt offenkundig mit der skizzierten strukturellen Problematik jener Staatszielbestimmung selbst zusammen. Wenn die Sozialstaatsklausel sogar in den unmittelbar einschlägigen Bereichen der Sozial-, Arbeits- und Wirtschaftsverfassung rechtspolitischer Gestaltung größere Freiräume eröffnet, dann reicht diese Entscheidungsfreiheit auf dem zumindest prima facie ferner liegenden Gebiet des Strafverfahrens(rechts) eher noch weiter. Es kommt hinzu, daß die normative Umsetzung und Konkretisierung eines derart allgemeinen Prinzips im komplexen Gefüge des Strafprozesses mit seinen verschiedenen Verfahrensstadien, -rollen, -interessen und Erscheinungsformen ohnehin schon auf erhebliche praktische Schwierigkeiten stößt. Deshalb erscheint sehr wohl denkbar, daß unterschiedliche Verfahrensregelungen und -modelle 55 Dazu Renschler-Delcker: Die Gerichtshilfe in der Praxis der Strafrechtspflege. In: Empirische Kriminologie (1980) 293 ff. 56 Vgl. Giehring (Fn.51) 206f.; Schock: Die Reform der Hauptverhandlung. In: Schreiber (Fn. 5) 52 ff.

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sozialstaatlichen Anforderungen entsprechen. Dann wird man aber schwerlich bestimmte Prozeßstrukturen und -institute als die einzigen ausgeben können, die sich sozialstaatlich rechtfertigen lassen. An sozialstaatliche Reformvorstellungen läßt sich nun einmal nicht die Elle rechtsstaatlicher Eindeutigkeits-, Bestimmtheits- und Richtigkeitskriterien anlegen. 4. Schließlich darf man auch nicht übersehen, daß im Strafverfahren nur in begrenztem Umfange Raum für individuelle Leistungsansprüche ist. Diese stellen indessen ein wesentliches, wenngleich nicht allein ausschlaggebendes Element des Sozialstaatsprinzips dar. Das Strafverfahren bezweckt demgegenüber Verdachtsklärung 57 . Gewährung sozialer Hilfen und Ausgleich sozialer Benachteiligungen sind nicht seine Funktion. Sie kommen nur aus Anlaß und wegen des Verfahrens - namentlich zur Erhöhung von Verteidigungschancen einerseits, (Re-)Sozialisierungsmöglichkeiten andererseits sowie zur Minimierung negativer Auswirkungen - in Betracht. In sozialstaatlicher Perspektive erscheinen nicht minder prozeßstrukturelle und institutionelle Regelungen bedeutsam, die dem Betroffenen lediglich mittelbar - auf dem Umwege über eine kommunikations- und sozialisationsfreundliche Ausgestaltung des Prozesses - zugutekommen. Nach alledem wird man daher allenfalls ein ungefähres Bild eines sozialstaatlich legitimierbaren Strafprozesses entwerfen können, das auf die maßgebenden Topoi verweist.

V. Sucht man die bisherigen Reformvorstellungen über eine sozialstaatliche Ausgestaltung des Strafverfahrens(rechts) stärker zu strukturieren, so werden im wesentlichen zwei Zielrichtungen deutlich58. Zum einen geht es darum, die verfahrensrechtlichen Konsequenzen aus der individualpräventiven Komponente des materiellen Strafrechts zu ziehen59. Man kann dies mit der verfahrensmäßigen und institutionalisierten Orientierung an Folgenkonzept und (Re-)Sozialisierungsziel umschreiben. Zum anderen handelt es sich um eigenständige prozessuale Ansätze, die eine Stärkung der Stellung des Beschuldigten (Angeklagten) bezwecken. Hier steht also die Verbesserung der Partizipations- und Kommunikationsstruktur im Vordergrund. Indessen ist diese Zweiteilung allenfalls als heuristisches Modell brauchbar. Denn in mancher Hinsicht überschneiden sich beide ZielsetVgl. Müller-Dietz (Fn. 53) 1261 ff. « Zum folgenden Müller-Dietz (Fn.53) 1254 ff. 59 Vgl. Wassermann: Präventive Kriminalpolitik im Strafverfahren. In: Schwind/Berckhauer/Steinhilper (Hrsg.): Präventive Kriminalpolitik (1980) 71 ff.; Müller-Dietz (Fn. 10); ders. (Fn.53) 1189ff. 57 5

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Zungen inhaltlich, namentlich in ihren (rechtlichen) Schlußfolgerungen. Das ließe sich in etwa am Beispiel des Tat- oder Schuldinterlokuts demonstrieren, dessen Einführung sowohl dem individualpräventiven Folgenkonzept als auch der Verbesserung der forensischen Kommunikationssituation zugutekommen soll. Ebenso erscheint denkbar, daß eine kommunikationsfreundliche Ausgestaltung der Hauptverhandlung - unter gewissen Voraussetzungen jedenfalls - sowohl die Verteidigungsmöglichkeiten des Angeklagten erhöht als auch seine Sozialisationschancen fördert. Erst recht können soziale Hilfen, die einem Beschuldigten in Untersuchungshaft gewährt werden, dazu beitragen, seine Situation im Verfahren selbst zu verbessern, und einer (späteren) sozialen Eingliederung vorarbeiten. 1. Auf der „materiellrechtlichen Linie" liegen namentlich jene Forde-

rungen, die dem Ausbau der Gerichtshilfe, der Zweiteilung der Hauptverhandlung nach Maßgabe des Tat- oder Schuldinterlokuts60 und damit einer stärkeren Berücksichtigung individualpräventiver Zwecke, namentlich des (Re-)Sozialisierungsziels in Verfahrensgestaltung und Sanktionsbemessung gelten. Ihre Verwirklichung schließt etwa die Teilnahme der Gerichtshilfe an der Hauptverhandlung und ihre Anhörung in dem Verfahrensabschnitt ein, welcher der Sanktionsbemessung dient". Freilich stößt die prozessuale Folgenorientierung dort auf verfassungsrechtliche Grenzen, wo es um die Rechtsstellung des Beschuldigten geht62. Kraft der Unschuldsvermutung darf dieser für Strafzwecke auch für das (Re-)Sozialisierungsziel - nicht in Anspruch genommen werden. Das hat etwa zur Konsequenz, daß um einer optimalen Rechtsfolgenbemessung und Einwirkung auf den Beschuldigten willen keinerlei Informations- oder Mitwirkungspflichten begründet werden dürfen. Ebenso setzen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, Beschleunigungsgrundsatz und Belastung der Strafrechtspflege der Einführung des Tat- oder Schuldinterlokuts Schranken. In leichteren Strafsachen lassen sich weder ein solcher Ermittlungsaufwand noch durch die Zweiteilung der Hauptverhandlung bedingte Verfahrensverzögerungen vertreten; insoweit drängt sich eine Beschränkung auf Schöffengerichts- und Strafkammersachen auf. 60 Vgl. Schöch/Schreiber: Ist die Zweiteilung der Hauptverhandlung praktikabel? ZRP 1978, 63 ff.; Schock: Strafzumessung und Persönlichkeitsschutz in der Hauptverhandlung - Erfahrungen aus einer Erprobung des informellen Tatinterlokuts. In: Festschrift für Bruns (1978) 457ff.; Dölling: Die Zweiteilung der Hauptverhandlung (1978); Schreiber: Die Zweiteilung der Hauptverhandlung. BewHi 1980, 132ff.; Wolter: Schuldinterlokut und Strafzumessung. GA 1980, 81 ff. 61 Vgl. Schock (Fn. 56) 55, 71 f. 62 Dazu z.B. Miiller-Dietz (Fn.53) 1263f.

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2. a) Besonderes Gewicht beanspruchen in sozialstaatlicher Perspektive die prozeßspezifischen Reformüberlegungen, die auf Erhöhung sozialer Handlungskompetenz, soziale Hilfen in Krisensituationen und Lagen besonderer Belastung, Verbesserung der forensischen Kommunikationssituation und damit insgesamt auf Stärkung der Stellung des Beschuldigten zielen. Sie knüpfen nicht zuletzt an die praktische Erfahrung an, daß viele Beschuldigte nicht über ausreichende soziale Handlungskompetenz verfügen, zu einer sachgerechten Wahrnehmung ihrer Rechte und Interessen im Verfahren nicht (ausreichend) in der Lage sind63. Das gilt namentlich für Jugendliche und Unterschichtangehörige. Schwierigkeiten kann auch eine Erweiterung prozessualer Befugnisse - so etwa von Anwesenheits- und Mitwirkungsrechten im Vorverfahren - nur begrenzt abhelfen. Denn die Einräumung von Rechten gewährleistet ja per se keineswegs, daß der Beschuldigte von ihnen auch entsprechenden Gebrauch machen kann. Eher könnte schon die gerichtliche Fürsorgepflicht den Interessen des Angeklagten entgegenkommen. Aber sie beschränkt sich im wesentlichen auf das Hauptverfahren und auf Hinweis- und Belehrungspflichten, die eigenes prozessuales Handeln des Betroffenen keineswegs entbehrlich machen64. Deshalb kommen hier als Abhilfen in erster Linie solche Regelungen in Betracht, die eine sachgemäße Vertretung der Rechte und Interessen des Beschuldigten während des ganzen Verfahrens ermöglichen und dem Beschuldigten selbst Chancen eröffnet, sich in der für ihn so belastenden Hauptverhandlung zu artikulieren. Damit bietet sich als ein Weg der Ausbau der notwendigen Verteidigung über das geltende Recht (§§ 140 f. StPO) hinaus an. Zu denken wäre vor allem an eine Einbeziehung solcher Fälle, in denen der Beschuldigte wegen Fehlens oder fühlbarer Beeinträchtigung seiner Handlungskompetenz seine Rechte und Interessen selbst nicht genügend vertreten kann65. Noch weitergehend hat der Arbeitskreis Strafprozeßreform vorgeschlagen, dem Staat die durch einen Wahlverteidiger entstehenden Kosten zu überbürden (§ 3 des Entwurfs)66. Der Arbeitskreis rechtfertigt seinen Vorschlag ausdrücklich mit dem sozialstaatlichen Topos der „Chancengleichheit": „So lange nicht sichergestellt ist, daß die mit einer wirksamen Strafverteidigung verbundenen Möglichkeiten und Chancen 6Î Vgl. Leodolter: Das Sprachverhalten von Angeklagten vor Gericht (1975); Dürkop: Der Angeklagte. Eine sozialpsychologische Studie zum Verhalten vor Gericht (1977); Giehring (Fn.51) 189ff.; Wassermann (Hrsg.): Menschen vor Gericht (1979); MiillerDietz (Fn.53) 1232 f. 64 Vgl. etwa Hegmann (Fn.51) 20ff. 65 Vgl. Müller-Dietz (Fn.53) 1237ff. (1241). 66 Arbeitskreis Strafprozeßreform: Die Verteidigung. Gesetzentwurf mit Begründung (1979) 49 ff.

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im Strafverfahren von jedermann in gleicher Weise wahrgenommen werden können, bleibt jedes Verfahrensgesetz hinter dem sozialstaatlichen Auftrag der Gesetz zurück"67. So richtig diese Feststellung ist, so sehr belegt die Problematik des darauf gegründeten Vorschlags die Richtigkeit der These, wieviel das Sozialstaatsprinzip dazu beiträgt, den Blick für Lagen sozialer Ungleichheit zu schärfen, und wie wenig es an Konkretisierung der Abhilfen leistet. Denn es lassen sich möglicherweise noch andere Regelungsmodelle denken, die gleichfalls sozialstaatlichen Anforderungen gerecht werden. b) Daß der Bereich der Untersuchungshaft - namentlich im Vergleich zum Strafvollzug - in sozialstaatlicher Hinsicht defizitär erscheint, ist spätestens seit Inkrafttreten des StVollzG einsichtig geworden. Heute stellt sich der Untersuchungsgefangene, was die Gewährung sozialer Hilfen i. w. S. und den Ausgleich negativer Auswirkungen des Freiheitsentzuges anlangt, in der Regel schlechter als der Strafgefangene68. Das ist gewiß ein rechtlich wie faktisch unerträglicher Zustand. Welche finanziellen und praktischen Barrieren sich einer sozialstaatlichen Ausgestaltung der Untersuchungshaft entgegenstellen, ist bekannt. Zum Teil wurden aber auch rechtliche Hinderungsgründe bemüht, die vor allem in der Unschuldsvermutung kulminieren sollen. Inzwischen ist jedoch deutlich geworden, daß dem Staat soziale Förderung des Untersuchungsgefangenen und Gewährung von Integrationshilfen keinesfalls verwehrt sind, sofern sie nur Angebotscharakter tragen, d.h. auf der Basis der Freiwilligkeit in Anspruch genommen werden können. In diesem Sinne muß man den Staat unter dem Vorzeichen des Sozialstaatsprinzips sogar für verpflichtet halten, „dem Untersuchungsgefangenen Hilfen anzubieten, die zur Kompensation sozialer und persönlicher Defizite beitragen und die Eingliederung in die Gesellschaft erleichtern können"69. Gerade weil die besondere psychische und soziale Notlage vieler Untersuchungsgefangener nach „menschliche(r) Zuwendung und Hilfe" verlangt70, ist es geboten, den Untersuchungshaftvollzug organisatorisch und personell so auszugestalten, daß er ein Mindestprogramm an Beratung und Betreuung zu prästieren vermag, Arbeitskreis (Fn. 66) 25. Vgl. Preusker: Untersuchungshaft in der Praxis. In: Probleme der Untersuchungshaft. Hrsg. von der Evang. Akademie Bad Boll (1977) 64 ff. Wolter: Untersuchungshaft, Vorbeugungshaft und vorläufige Sanktionen. ZStW 1981, 452 ff., spricht geradezu von der „Sozialstaatsfeindlichkeit" des geltenden Untersuchungshaftrechts. " Müller-Dietz: Grundfragen der Untersuchungshaft. In: Probleme der Untersuchungshaft (Fn. 68) 4 ff. (17). 70 Preusker: Zur Notwendigkeit eines Untersuchungshaftvollzugsgesetzes. ZfStrVo 1981, 131 ff. (135). 67 68

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das natürlich auch die jeweils erforderlichen Entlassungsvorbereitungen und Eingliederungshilfen umfaßt71. Dies gilt unabhängig von der jüngst aufgeworfenen Frage, ob und inwieweit es möglich und sinnvoll ist, „die Untersuchungshaft in ein behandlungsorientiertes Gesamtkonzept einzubeziehen", das sich auf sämtliche Formen strafrichterlich angeordneten Freiheitsentzuges erstreckt72. Solche Vorschläge liegen nunmehr vor. 1981 hat J. Baumann den „Entwurf eines Untersuchungshaftvollzugsgesetzes" vorgelegt, der ausdrücklich die „Notwendigkeit von Resozialisierungsangeboten" im Vollzug der Untersuchungshaft reklamiert73. Dementsprechend sieht dieser Entwurf sogar einen Anspruch des Gefangenen auf Arbeit sowie auf Teilnahme an Ausbildungs-, Fortbildungs- und Therapiemaßnahmen vor, „soweit das mit dem Haftzweck vereinbar ist und Sicherheit und Zusammenleben in der Anstalt nicht ernstlich gestört werden" (§ 4 Abs. 2 und 3)74. Aus rechtsstaatlichen Gründen sind die „Gelegenheit zur Arbeit, Ausbildung und Weiterbildung" (§ 32) sowie die Gewährung sozialer Hilfen (§§ 44 ff.) als Angebote konzipiert75; Verteidigungsinteressen sollen den Vorrang haben (§§ 32 Satz 2, 46 Satz 2). Wie immer man zu diesen Vorschlägen im einzelnen stehen mag: Sie verweisen einmal mehr auf sozialstaatliche Defizite des heutigen Untersuchungshaftvollzuges und auf rechtliche Möglichkeiten, ihnen abzuhelfen. c) Zu den sozialstaatlichen Petita der Verfahrensreform rechnet seit einiger Zeit auch die Umgestaltung der Hauptverhandlung, die den vielberedeten Abbau von Sprach- und Kommunikationsbarrieren ermöglicht. Unter solchen Barrieren leiden bekanntlich wiederum jene Angeklagten in besonderem Maße, deren soziale Handlungskompetenz ohnehin schon reduziert ist. Ritualisierende Formen und Öffentlichkeit der Hauptverhandlung pflegen solche Schwierigkeiten, sich zu artikulieren, noch zu verstärken; sie schränken damit auch die Verteidigungsmöglichkeiten ein76. Gewiß kann der erörterte Ausbau des Instituts der notwendigen Verteidigung bis zu einem gewissen Grade Abhilfe schaffen. Er vermag aber für sich allein nicht jene Atmosphäre herzustellen, die es dem Angeklagten ermöglicht, eine - im wahrsten Sinne des Wortes - aktive Rolle in der Verhandlung zu spielen. Abbau des Formenzwangs, kooperativer Verhandlungsstil und Ausschluß der Öffentlichkeit lauten denn 71 72 73 74 75 76

Vgl. Wolter (Fn.68) 497. Dazu Preusker (Fn. 70) 136. Baumann: Entwurf eines Untersuchungshaftvollzugsgesetzes (1981) 12 f. Dazu Baumann (Fn. 73), 23, 25. Vgl. Baumann (Fn.73) 69, 71, 90 ff. Vgl. z . B . Giehring (Fn.51) 189ff.; Müller-Dietz (Fn.53) 1255f., Fn.63.

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auch die Vorschläge, die zur Verbesserung der Partizipations- und Kommunikationsstruktur unterbreitet werden. Sie sind fraglos in Motivation und Zielsetzung bedenkenswert, stoßen indessen auf verfahrensimmanente Grenzen, die sich in der neueren Diskussion zunehmend herauskristallisiert haben. So muß der ordnungsgemäße Ablauf der Verhandlung gewährleistet werden können. Soll die (öffentliche) Hauptverhandlung überhaupt bewußtseinsbildend im Sinne von Funktion und Zielsetzung des Verfahrens wirken können, müssen auch deshalb Minima in der äußeren Gestaltung und im prozeduralen Geschehen beachtet werden. Dies haben gerade Erfahrungen mit der mißverständlich sog. Hauptverhandlung am runden Tisch gezeigt. Andererseits lassen sie erkennen, daß durchaus noch Spielräume in der offeneren, freieren und flexibleren Gestaltung der Verhandlung existieren 77 . Werden sie ausgeschöpft, verliert auch der in seinem Sprach- und Verhaltensrepertoire eingeschränkte Angeklagte eher seine Hemmungen, sich zu äußern; er kann dann vermutlich dem Gang der Erörterungen besser folgen. Verfehlt wäre es indessen wiederum, an eine solche Verfahrensgestaltung (normative) Erwartungen hinsichtlich der Mitwirkungs-, wenn nicht gar Geständnisbereitschaft des Angeklagten zu knüpfen. Kooperation kann zwar angestrebt, aber rechtlich nicht erzwungen werden. Im übrigen dient eine kommunikationsfreundliche Ausgestaltung der Hauptverhandlung primär nicht dazu, die Erkenntnismöglichkeiten des Gerichts zu verbessern; vielmehr soll sie die Stellung und damit die Verteidigung des Angeklagten stärken 78 . N o c h am ehesten ließe sich ein kooperativer oder zumindest kommunikationsfreundlicher Verhandlungsstil unter Ausschluß der Öffentlichkeit praktizieren. Jedoch begegnete eine generelle (Wieder-)Einführung des nichtöffentlichen Verfahrens nach dem Muster des J G G natürlich Bedenken. Auch wenn die rechtsstaatlichen Begrenzungen des Offentlichkeitsgrundsatzes im „Medienzeitalter" - nicht zuletzt unter dem Vorzeichen des Persönlichkeitsschutzes - stärker denn je hervorgetreten sind79, so wird dennoch nirgends die Konsequenz gezogen, dieses funda-

77 Vgl. Schreiber: Die Hauptverhandlung am „Runden Tisch"; Schöch: Jugendgerichtsverhandlung am „Runden Tisch". In: Festschrift für Stutte (1979) 271 ff., 279ff. 78 Vgl. Müller-Dietz (Fn.53) 1262 f. 79 Vgl. etwa Franke: Die Bildberichterstattung über den Angeklagten und der Offentlichkeitsgrundsatz im Strafverfahren (1978); Scherer: Gerichtsöffentlichkeit als Medienöffentlichkeit (1979); von Becker: Straftäter und Verdächtige in den Massenmedien (1979); Marxen: Medienfreiheit und Unschuldsvermutung. G A 1980, 365 ff.; Proske: Gerichtssaalberichterstattung. In: Kriminalität und Massenmedien (1981) 24ff.; Bornkamm: Pressefreiheit und Fairneß des Strafverfahrens (1981).

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mentale Prinzip der Rechtspflege aufzugeben80. Was im Lichte solcher Überlegungen als Möglichkeit verbleibt, ist daher allenfalls der Ausschluß der Öffentlichkeit in bestimmten Abschnitten der Hauptverhandlung oder die Einführung eines nichtöffentlichen Verfahrens für Strafsachen, in denen ohnehin kooperatives Verhalten der Prozeßbeteiligten zu erwarten ist, eine Kontrolle durch die Öffentlichkeit nicht erforderlich erscheint. Beide Konzepte haben inzwischen Befürworter gefunden. Im Falle der Einführung des Tat- oder Schuldinterlokuts bietet es sich geradezu an, den zweiten Teil der Hauptverhandlung, welcher der Rechtsfolgenbemessung dient, nichtöffentlich auszugestalten81. Das erleichtert die Kommunikation und verstärkt den Schutz der Persönlichkeit. Hier bündeln sich gewissermaßen rechts- und sozialstaatliche Zielsetzungen. Auch der Vorschlag der sog. Alternativprofessoren, für im wesentlichen geständige Täter ein Strafverfahren mit nichtöffentlicher Hauptverhandlung einzuführen, wird mit rechts- und sozialstaatlichen Erwägungen begründet82. Durch die neuartige „dritte Verfahrensspur", die für die kleine und mittlere Kriminalität gedacht ist, soll das rechtsstaatlich als bedenklich empfundene Instrument des § 153 a StPO ersetzt werden. Auf der einen Seite soll das Verfahren gegen kooperationsbereite Täter dieser Kategorie wieder in die Hand des Richters gelegt werden. Auf der anderen Seite soll solchen Beschuldigten die stigmatisierende und resozialisierungsfeindliche Wirkung einer öffentlichen Hauptverhandlung erspart werden83. Auch hier vertraut man also darauf, daß vor allem der Ausschluß der Öffentlichkeit eine zugleich schonende, kommunikationsfreundliche und integrierende Gestaltung der Hauptverhandlung ermöglicht. 3. Die letztgenannten Vorschläge verweisen auf einen noch grundsätzlicheren Aspekt, der das in der verfassungsrechtlichen Diskussion so häufig erörterte Verhältnis von Rechtsstaatsprinzip und Sozialstaatsprinzip betrifft84. Gemeinhin gilt, daß hier ein Spannungsverhältnis besteht, das eine sorgsame Ausbalancierung beider Prinzipien erfordert85. Für die strafprozessuale Reformdiskussion scheint nun eine Gemengelage beider Prinzipien charakteristisch. Jedenfalls treffen sie recht häufig in den rechtlichen - Konsequenzen oder Ergebnissen zusammen. Indessen 80 Vgl. z. B. Schmidthals: Wert und Grenzen der Verfahrensöffentlichkeit im Strafprozeß (1977); BGHSt. 22, 297 (301). " Vgl. Schock (Fn.56) 72 ff. 82 Alternativ-Entwurf. Novelle zur Strafprozeßordnung: Strafverfahren mit nichtöffentlicher Hauptverhandlung. Bearb. von Baumann et al. (1980) 7. 83 Alternativ-Entwurf (Fn. 82)-S. 6 f. 84 Vgl. Fn. 20. 85 So auch Zipf (Fn. 5) 34 f.

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existieren durchaus Sachlagen, in denen Rechts- und Sozialstaat - oder was man jeweils darunter versteht - miteinander in Konflikt geraten können. Erinnert sei nur an den Fall aufgezwungener Pflichtverteidigung, in dem Autonomieprinzip und das - zumindest auch - sozialstaatliche Interesse an Fürsorge für den Beschuldigten sowie seiner möglichst sachgerechten Verteidigung einander widerstreiten 86 . Für solche Fälle halten weder die Verfassung noch Verfahrensmaximen Lösungen bereit, die im Sinne offenkundiger Evidenz jedermann überzeugen müßten und allseitiger Zustimmung sicher sein könnten.

VI. 1. Der Überblick über die bisherigen Ansätze und Vorschläge zur Verwirklichung des Sozialstaatsprinzips läßt erkennen, daß in zunehmendem Maße diejenigen Akzente gesetzt werden, die das spezifische Petitum jenes Verfassungsgrundsatzes zum Ausdruck bringen: Im Mittelpunkt steht die Gewährung sozialer (und teilweise kompensatorischer) Hilfen, die spezifischen Notlagen und Schwierigkeiten von Beschuldigten Rechnung tragen und ihm letztlich ermöglichen sollen, ein menschenwürdiges Leben - wie es in § 2 Satz 1 StVollzG heißt - „in sozialer Verantwortung" führen zu können. Nach Funktion und Inhalt zielen die intendierten oder vorgeschlagenen Rechtsinstitute und Leistungsangebote darauf ab, - Chancengleichheit hinsichtlich der Wahrnehmung von Rechten und Interessen der Verteidigung herzustellen, - dem Beschuldigten in besonderen Problemlagen und Krisensituationen (wie etwa der Untersuchungshaft) die zur Lebensbewältigung und gesellschaftlichen Eingliederung notwendigen sozialen Hilfen zu vermitteln, - eine am individualpräventiven Folgenkonzept, namentlich am (Re-)Sozialisierungsziel orientierte Verfahrensgestaltung und Rechtsfolgenbemessung zu ermöglichen. An dieser Auflistung von Schwerpunkten fällt auf, daß sie sich im wesentlichen auf den Beschuldigten konzentrieren. Andere Verfahrensbeteiligte oder -betroffene treten nur als Personen oder Amtsträger ins Blickfeld, denen die Erfüllung des sozialstaatlichen Auftrags im Strafprozeß obliegt. Das gilt etwa für den Gerichtshelfer, soweit er rechtsfolgenorientierte Ermittlungshilfe leistet und darüber hinaus dem Beschuldigten etwa erforderliche soziale Hilfen vermittelt. Das trifft ferner auf den Staatsanwalt zu, soweit er seine Ermittlungen im Sinne des individualpräventiven Folgenkonzepts auch auf die Persönlichkeit und das sozia86

Vgl. Müller-Dietz

(Fn.53) 1242 f.

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le Umfeld des Beschuldigten erstreckt. Das gilt gleichermaßen für das Gericht, soweit es durch entsprechende Ausgestaltung und Handhabung des Verfahrensablaufs für eine kommunikationsfreundliche Atmosphäre in der Hauptverhandlung sorgt und soweit es in der Sanktionsbemessung individualpräventiven Gesichtspunkten Rechnung trägt. Und das trifft schließlich auf den Sozialen Dienst der Haftanstalt zu, der dem Untersuchungsgefangenen soziale Hilfen zur Bewältigung seiner Krisensituation und zur (Wieder-)Eingliederung gewährt. 2. Diese Konzentration sozialstaatlicher Ansätze auf den Beschuldigten läßt indessen außer acht, daß jenes Verfassungsprinzip ausnahmslos, d.h. ohne Beschränkung auf bestimmte Personengruppen, gilt, sich vielmehr an solchen Problemlagen und Krisensituationen orientiert, die im Blickwinkel der Chancengleichheit staatliche Hilfe erfordern. Anknüpfungstatbestand für entsprechende staatliche Leistungen oder Maßnahmen i. w. S. ist also nicht - oder jedenfalls nicht allein - die jeweilige Rolle, die jemand im Strafverfahren einnimmt, sondern die besondere Notlage, in der er sich befindet. Gewiß ist in diesem Sinne der Beschuldigte die herausragende Figur, weil sich das Strafverfahren nun einmal gegen ihn richtet und ihn deshalb am meisten belastet. Vor allem er ist strafprozessualen Zwangsmaßnahmen und der Gefahr einer Stigmatisierung ausgesetzt. Aber er ist keineswegs der einzige Verfahrensbeteiligte oder -betroffene, dessen Rechte und Interessen im Verfahren notleiden können. In diesem Sinne gehört namentlich das Straftatopfer zu demjenigen Personenkreis, der im sozialstaatlichen Sinne hilfsbedürftig ist oder doch sein kann. Soweit es freilich um den Schutz der Persönlichkeit - etwa eines Zeugen - geht, ist bereits das geltende Recht um Wahrung der Intimsphäre bemüht87. Indessen bleibt zu erwägen, ob nicht auch das Problem des Ausgleichs von Straftatschäden eine ausgeprägt sozialstaatliche Komponente aufweist. So hat etwa der Gesetzgeber den Erlaß des Gesetzes über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG) vom 11.5.1976 (BGBl.I 1181) auf die soziale Verpflichtung des Staates gegenüber dem Verbrechensopfer gestützt88, wird die „Entschädigung der Verbrechensopfer als öffentliche Aufgabe" verstanden8', die rechtssystematisch dem Bereich staatlicher Sozialleistungen im Sinne des BSHG zuzuordnen ist50. „Noch 87 Vgl. z. B. §§ 55, 68 a StPO, § 172 N r . 2 G V G . Eine andere Frage ist, ob das geltende Recht solchen Schutzbedürfnissen hinreichend Rechnung trägt. S8

Vgl. Schulz-Lüke/Wolf:

" Schoreit:

Gewalttaten und Opferentschädigung (1977) 1 f.

Entschädigung der Verbrechensopfer als öffentliche Aufgabe (1973).

90 Vgl. Schoreit/Düsseldorf: (1977) 21 ff.

Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten

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allgemeiner wird die Kollektivierung des Risikos von Verbrechensopfern als konsequenter Ausbau des Sozialstaates bewertet"". Freilich ist die Entschädigung von Straftatopfern außerhalb des Strafverfahrens angesiedelt; als versorgungsrechtliches Instrument, das nach den Vorschriften der Kriegsopferversorgung ausgestaltet ist, stellt sie keinen Anwendungsfall des Sozialstaatsprinzips im Strafprozeß dar. Deshalb böte es sich eher an, den allgemeinen Aspekt der Wiedergutmachung von Straftatschäden in den Kontext unserer Überlegungen zu rücken. Indessen scheint er nicht hierher zu gehören, weil und insofern eben das Sozialstaatsprinzip staatliche Leistungs-, Gewährleistungs- und Handlungspflichten begründet und den Einzelnen nicht unmittelbar, sondern nur als Mitglied der Solidargemeinschaft in Pflicht nimmt. Eher wäre hier zu fragen, ob das Sozialstaatsprinzip nicht insoweit Handlungspflichten des Staates begründet, als es um die Schaffung der rechtlichen Voraussetzungen geht, die eine Schadenswiedergutmachung ermöglichen oder wenigstens erleichtern. Wenn der Staat schon - aus vielerlei Gründen - nicht gehalten und in der Lage ist, in umfassender Weise für eine Entschädigung der Verbrechensopfer zu sorgen92, dann könnte immerhin eine sozialstaatliche Pflicht in Betracht kommen, diejenigen (verfahrens-)rechtlichen Hindernisse aus dem Wege zu räumen, die sich einer Schadenswiedergutmachung durch den Täter entgegenstellen, und nach Kräften solche Schadensersatzleistungen (rechtlich) zu fördern. In diesem Sinne wäre zu erwägen, ob das Straftatopfer bereits im materiellen Recht, etwa im Rahmen des Sanktionensystems und der Rechtsfolgenbemessung, stärker berücksichtigt werden kann und soll, als dies derzeit qua Bewährungsauflage ( § 5 6 b Abs. 2 Nr. 1 StGB) der Fall ist". Erst recht müßte die verfahrensrechtliche Stellung des Straftatopfers, das gegenwärtig in erster Linie als Anzeigeerstatter und Zeuge in Erscheinung tritt, gestärkt werden. Freilich haben sich erste Überlegungen, wie sich der Gedanke der Schadenswiedergutmachung, der sowohl im materiellen Strafrecht94 als auch im Strafprozeß-

" JunS: Entschädigung des Opfers. In: Kirchhoff/Sessar (Hrsg.): Das Verbrechensopfer (1979) 379 ff. (380). 92 Vgl. Räfner: Die Entschädigung des Opfers für Gewalttaten. NJW 1976, 1249 f. (1249). Vgl. aber Schneider: Das Verbrechensopfer im Sozialprozeß. J Z 1977, 621 ff. (629). " Ein erster Schritt könnte darin bestehen, der Schadenswiedergutmachung Vorrang vor der Beitreibung der Geldstrafe und der Verfahrenskosten einzuräumen. Ob es darüber hinaus vertretbar und sinnvoll wäre, die Geldstrafe ihrerseits vorab zum Ausgleich des Straftatschadens heranzuziehen oder neue Sanktionen in dieser Richtung vorzusehen, bedürfte gewiß noch weiterer Prüfung. 94 Vgl. Seelmann: Strafzwecke und Wiedergutmachung. Ztschr. f. Evang. Ethik 1981, 44 ff.

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Heinz Miiller-Dietz

recht95 ein vergleichsweise stiefmütterliches Dasein fristet, rechtlich institutionalisieren ließe, noch nicht zu ausgereiften Konzepten verdichtet. VII. Faßt man die bisherige Diskussion zusammen, so werden im wesentlichen folgende Grundzüge eines sozialstaatlichen Strafverfahrens sichtbar: 1. Offenkundig lassen sich die sozialstaatlichen Ansätze im Strafverfahren(srecht) nur schwer auf einen einheitlichen Nenner bringen. Ein mehr oder minder geschlossenes System von Regeln, Instituten und Leistungsansprüchen läßt sich aus dem Sozialstaatsprinzip nicht ableiten. Vielmehr besteht augenscheinlich die spezifische Qualität dieser Staatszielbestimmung darin, daß sie das „soziale Gewissen" schärft, d. h. daß sie den Blick auf besondere Problembereiche und Fragestellungen lenkt, die im Sinne sozialer Handlungskompetenz und Integration des Betroffenen defizitär erscheinen, und damit Lösungen vorarbeitet, die zur Beseitigung oder Verringerung jener Defizite beitragen können. Als Maßstab und einheitsstiftendes Element bietet sich der Gedanke der Chancengleichheit an. 2. Beseitigung oder Verringerung von Lagen oder Folgen sozialer Ungleichheit im Verfahren ist in erster Linie Aufgabe des Gesetzgebers. Sozialstaatlich wird der Richter qua Gesetzesauslegung und Rechtsanwendung in Pflicht genommen. Zur Herstellung von Chancengleichheit kommen nicht selten verschiedene (Regelungs-)Modelle in Betracht. Dabei spielt die Komplexität der Verfahrensstruktur und -Situationen eine wesentliche Rolle. Insofern existiert unter dem Vorzeichen des Sozialstaatsprinzips eine mehr oder minder große Bandbreite legislatorischer Gestaltungsmöglichkeiten. 3. Das Sozialstaatsprinzip begründet Leistungs-, Gewährleistungs- und Handlungspflichten des Staates vor allem gegenüber dem Beschuldigten. Gegen ihn richtet sich das Strafverfahren. Ihn treffen dessen Auswirkungen und Begleitschäden vielfach am stärksten. Indessen gilt das Sozialstaatsprinzip umfassend. Es kommt grundsätzlich jedermann zugute, der sich in einer nur mit staatlicher Hilfe behebbaren sozialen Notlage befindet. Insofern können staatliche Leistungen oder Gewährleistungen auch anderen Verfahrensbeteiligten oder -betroffenen gegenüber notwendig werden, bei denen der Anknüpfungstatbestand vorliegt. 95

Vgl. Jung: Der Verletzte im Strafverfahren. ZStW 1981, 1147ff.; Wulf: Opferschutz im Strafprozeß. DRiZ 1981, 374 ff.

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Dies trifft namentlich auf den Personenkreis der Straftatopfer zu, unabhängig davon, ob und inwieweit sie als Zeugen in das Verfahren einbezogen sind. Insoweit stellt sich die Frage, ob der Staat aus sozialstaatlichen Gründen gehalten ist, (materiell- und) verfahrensrechtlich eine Schadenswiedergutmachung durch den Täter zu ermöglichen oder zu erleichtern, soweit eine öffentliche Entschädigung von Verbrechensopfern nicht in Betracht kommt. 4. In der Gestaltung des Strafverfahrens überlagern sich häufig rechtsund sozialstaatliche Elemente. Ihr Verhältnis zueinander läßt sich generell weder als das grundsätzlichen Konflikts noch als das völliger Ubereinstimmung charakterisieren. Soweit das Sozialstaatsprinzip im Sinne der Herstellung von Chancengleichheit Vermittlung von Verfahrenskompetenz anstrebt, die der Einzelne zur Wahrnehmung seiner Rechte benötigt, erfüllt es gleichsam mittelbar rechtsstaatliche Funktionen; denn es trägt dann dazu bei, daß der Einzelne von seinen (Freiheits-)Rechten den ihm zustehenden Gebrauch machen kann. In diesem Sinne sind Sozial- und Rechtsstaat aufeinander bezogen, in gewissem Umfange voneinander abhängig. Solche Übereinstimmung zwischen beiden Verfassungsprinzipien wird etwa dort sichtbar, wo es um die Gewährleistung einer sachgemäßen Verteidigung geht. Man könnte insoweit davon sprechen, daß mit sozialstaatlichen Mitteln ein Optimum an Rechtsstaatlichkeit angestrebt wird. Das schließt indessen Konflikte, die Notwendigkeit eines Ausgleichs zwischen beiden Prinzipien nicht aus. So kann die rechtsstaatlich begründete Unschuldsvermutung mit sozialstaatlich zu rechtfertigenden Ansätzen der Behandlung und Resozialisierung in Widerspruch geraten. In solchen Fällen wird - wie gerade dieses Beispiel zeigt, sich aber auch noch anderwärts belegen läßt - in der Regel dem Rechtsstaatsprinzip Vorrang zukommen. Leistungsangebote, namentlich Integrations- und Sozialisationshilfen dürfen dem Berechtigten grundsätzlich nicht - auch nicht in wohlmeinender fürsorgerischer Absicht - aufgezwungen werden. Etwas anderes kann nur dort gelten, wo zugleich ein legitimes rechtsstaatliches Interesse daran besteht, daß der Berechtigte die ihm angebotene Leistung auch tatsächlich in Anspruch nimmt. Einen Testfall in dieser Hinsicht stellt die aufgezwungene Pflichtverteidigung dar.

Über den Zugang strafprozessualer Willenserklärungen W E R N E R SCHMID

I. 1. Prozeßrechtsgeschäftliche Willenserklärungen der Verfahrensbeteiligten sind empfangsbedürftig, gleichviel ob es sich dabei um Erwirkungshandlungen (Beweis- und Aussetzungsanträge, Richterablehnung usw.) oder aber um Bewirkungshandlungen (Rechtsmittelerklärungen insbesondere) dreht. Solange nicht die Erklärung dem Gericht (oder der Staatsanwaltschaft) als Empfänger zugekommen ist, ist sie noch nicht „in mundo" 1 . 2. Willenserklärungen der Verfahrensbeteiligten können mündlich oder schriftlich gegenüber der je nach dem Verfahrensstand zuständigen Stelle abgegeben werden. Mündliche Erklärungen sind abzugeben gegenüber dem sachlich, örtlich und funktionell zuständigen Spruchkörper, also etwa gegenüber der 3. Großen Strafkammer des Landgerichts X, oder aber gegenüber dem statt seiner vor oder außerhalb der Hauptverhandlung tätig werdenden beauftragten oder ersuchten Richter. Diesen mündlichen Erklärungen unmittelbar gegenüber dem Gericht stehen in gewissen Fällen die gleichfalls zu den mündlichen Erklärungen zählenden Äußerungen zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle gleich2. Schriftliche Erklärungen sind zwar gleichfalls „bei Gericht" anzubringen. Dies erfordert aber nur den Eingang des Schriftstücks bei der richtigen, also örtlich und sachlich zuständigen Gerichtsanstalt, also beim Amtsgericht, Landgericht usw. Das Gesetz verläßt sich hier offenbar darauf, daß die Sendung schon innerhalb der Gerichtsanstalt alsbald den Weg zu dem jeweiligen Spruchkörper finden wird. Der Erklärende hat dann das Seinige schon getan, wenn das Schriftstück in die Verfügungsgewalt einer im Namen der Gerichtsanstalt empfangsberechtigten Person gelangt ist. 3. Was alles dazu gehört, damit ein Schriftstück rechtzeitig in diese „Verfügungsgewalt" des Empfängers gelangt, ist freilich weithin umstritten. Strafprozeßordnung, Zivilprozeßordnung und Gerichtsverfassungsgesetz schweigen dazu. Aus den nicht einheitlichen Formulierun-

1

Vgl. Beling, Reichsstrafprozeßrecht (1928), S.173. Diese Form der Prozeßerklärung soll demnächst an anderer Stelle abgehandelt werden. 2

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Werner Schmid

gen, daß Anträge auf Gewährung der Wiedereinsetzung oder auf Beweiserhebung vor der Hauptverhandlung bei Gericht „zu stellen", daß Rechtsmittel bei Gericht „einzulegen" seien, daß die Revisionsanträge samt Begründung „anzubringen" seien usw., läßt sich für die Zugangsfrage schwerlich etwas gewinnen3. Auch der nicht selten praktizierte Rückgriff auf § 130 BGB 4 hilft nicht weiter, weil ja auch dort die Anforderungen an den „Zugang" empfangsbedürftiger Erklärungen (unter Abwesenden) nicht ausgeführt sind. a) Notwendig dafür ist sicherlich allemal, daß das Schriftstück in corpore (nicht etwa bloß durch telefonische Mitteilung seinem Inhalt nach) in den Machtbereich des Empfängers gerät. Das genügt allein freilich noch nicht stets: bei Erklärungen unter Abwesenden muß vielmehr in der Regel noch eine den Umständen nach angemessene Frist verstreichen, binnen deren sich der Adressat bei gewöhnlichen Umständen Kenntnis vom Inhalt der Erklärung verschaffen kann, sofern diese Kenntnisnahme nach den Regeln anständigen Verkehrsverhaltens auch von ihm erwartet werden muß5. Bei Erklärungen unter Anwesenden durch unmittelbarpersönliche Ubergabe eines Schriftstücks oder bei Übergabe an einen Empfangsvertreter entfällt diese Frist, zumindest in der Regel, selbstverständlich. b) Notwendig ist ferner bei Erklärung durch Ubergabe eines Schriftstücks für das unverzügliche Wirksamwerden dieser Erklärung, daß die Schrift unmittelbar-persönlich dem Empfänger oder einem hierzu rechtsgeschäftlich bevollmächtigten Vertreter (Empfangsvertreter) übergeben wird. Andernfalls, d.h. bei Übergabe lediglich an einen „Empfangsboten", der das Schriftstück bloß rein tatsächlich in Empfang nimmt und nehmen soll, kommt es für die Rechtzeitigkeit des Zugangs immer noch auf die Kenntnisnahme bzw. das Kenntnisnehmen-Können in der Person des Empfängers oder seines Vertreters an. Wie es sich demgegenüber damit bei schriftlichen Erklärungen unter Abwesenden verhält, bedarf noch der Klärung. 4. Man muß dafür stets, mehr als bislang, zwei Arten der Erklärung scheiden: einmal ebendiese unmittelbar-persönliche Übergabe eines Schriftstücks als Form der Erklärung unter Anwesenden (unten II), zum 5 Man sehe etwa die unnützen Wortspiele in RGZ 76, 127, 128; RG J W 1910, S.480 (Einlegung in Briefkasten sei nicht Einreichung); in R G J W 1889, S.277 (Anbringen bei Gericht sei nicht bloßes Hineinbringen); in B G H VersichR 1976, S.641 (Einwurf in Briefkasten sei nicht Einreichung); in RGSt. 22, 124 (Einlegung eines Rechtsmittels sei nicht Hineinlegen der Schrift ins Zimmer des Urkundsbeamten). 4 Vgl. etwa R F H E 24, 31 = DJZ 1929, S.377; OVG Jena J W 1921, S.294 (m. Anm. Kann)·, BPatG DVB1. 1963, S.77; BAG NJW 1963, S.554, 555; B F H E 125, 498, 499. 5 Vgl. Henrichs, JArbBl. 1973, ZivR S.263.

Über den Zugang strafprozessualer Willenserklärungen

anderen die schriftlich geschehende Äußerung gegenüber (unten III).

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Abwesenden

a) Beide Spielarten der schriftlichen Erklärung werden üblicherweise, was deren Zugang und den Zeitpunkt dieses Zugangs angeht, fast überall gleichbehandelt6. So ist bisher in der Regel auch die Praxis der Zivil- und Strafgerichte verfahren: Was für die unmittelbar-persönliche Übergabe eines Schriftstücks an einen dazu empfangsbefugten, d. h. in Vertretung des Erklärungsempfängers „Gericht" handelnden Beamten galt (oder zu gelten schien), das wurde unbesehen auf die schriftliche Erklärung unter Abwesenden übertragen. Der Einwurf in den Gerichtsbriefkasten sollte demgemäß, jedenfalls wenn er nach Dienstschluß geschah, noch nicht den fristgemäßen Zugang der Erklärung bedeuten. Zugegangen sein sollte eine solche Briefsendung vielmehr erst mit der körperlichen Entgegennahme des Schreibens durch einen dazu befugten, in Vertretung des Gerichts handelnden Justizangehörigen. b) Nun hat sich - wie unten III. darzustellen ist - im Bereich der schriftlichen Erklärungen unter Abwesenden einiges grundlegend verändert: schon der rechtzeitige Einwurf eines fristgebundenen Schriftstücks in einen Briefkasten des zuständigen Gerichts soll den Zugang bewirken, ohne Rücksicht auf den Zeitpunkt der Entnahme und auf die Qualifikation des Entnehmenden. Es läge von da aus nur nahe, nunmehr auch in umgekehrter Richtung diese Gleichschaltung zu praktizieren, d. h. dasjenige, was heute für den fristwahrenden Einwurf einer Sendung in den Gerichtsbriefkasten gilt, auch auf die unmittelbar-persönliche Abgabe an irgendeinen Gerichtsbediensteten zu übertragen. Daß dies höchst bedenklich wäre, liegt auf der Hand: Im Fall der Erklärung unter Anwesenden kommt es doch auch auf diese körperliche Entgegennahme und auf die Vertretungsmacht des Entgegennehmenden an, während man bei der Entnahme aus dem Briefkasten auf die Vertretungsmacht des Entnehmenden, ja selbst auf die fristgerechte Entnahme oder Entnahmemöglichkeit durchaus verzichten kann. Man muß nur mit einer entsprechenden, am bequemsten aus dem unerschöpflichen Arsenal der Rechtsstaatlichkeit zu entnehmenden Begründung die Interessen der auf die Ausschöpfung prozessualer Fristen angewiesenen Verfahrensbeteiligten entsprechend höher stellen als die Organisations- und Finanzierungsprobleme und überdies althergebrachten Gepflogenheiten der Rechtspflege. Denn, wer eine Sendung in den amtlich angebrachten Briefkasten (beweisbar) rechtzeitig einwirft, der nutzt doch nur die vorweg allgemein kundgetane immerwährende Empfangsbereitschaft des Gerichts7. 6

7

Vgl. Henrichs (Fn. 5). Beling, (Fn. 1), S.173.

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II.

1. Strafprozeßordnung und Gerichtsverfassungsgesetz schweigen über die Zugangserfordernisse auch bei schriftlichen Erklärungen unter Anwesenden. Der Landesgesetzgeber kann deshalb, gestützt auf § 153 GVG (Einrichtung von Geschäftsstellen) bestimmen, wer von den Angehörigen eines Gerichts oder der Staatsanwaltschaft zur fristwahrenden Entgegennahme schriftlicher Erklärungen und zur Beurkundung dieses Vorgangs befugt ist. Da in der Regel auch einschlägige landesgesetzliche Vorschriften fehlen, besteht hier ein weiter, obschon unter Verfassungsund Gesetzesvorbehalt stehender Freiraum für Justizverwaltungsvorschriften und, soweit auch solche nicht bestehen, für dienstliche Verfügungen der einzelnen Gerichtsvorstände8. a) Zuständig sind danach allemal die zu Urkundsbeamten der Geschäftsstelle ernannten Justizbediensteten9. Die Empfangs- und Beurkundungsbefugnis steht dabei allen Urkundsbeamten des jeweiligen Gerichts zu. Sie ist nicht etwa auf die Tätigkeit für die eine oder andere Abteilung, Kammer usw. oder auf die zivil- oder strafgerichtliche Sparte beschränkt. Vollends kommt es auf die innerdienstliche Einteilung zum Dienst zu dieser oder jener Tageszeit nicht an. Gegenteilige Vorschriften und Zuweisungen haben nur Bedeutung für die innere Ordnung des Geschäftsbetriebs; die Dienststellung nach außenhin entscheidet alleine10. Rundweg zu verwerfen ist deshalb auch die (nicht näher begründete) Ansicht des Urteils RG LZ 1915, S. 711, daß der Urkundsbeamte der 3. Strafkammer nicht in der Lage sei, eine an die 1. Strafkammer gerichtete Rechtsmittelschrift fristwahrend anzunehmen. Auch ein gerade vom Dienst befreiter, aber nicht etwa vom Dienst suspendierter Urkundsbeamter kann sehr wohl Schriftsätze wirksam entgegennehmen". Daß eine besondere Briefannahmestelle eingerichtet ist, hindert die Verfahrensbeteiligten nicht, ihre Prozeßerklärungen schriftlich auch bei anderen Urkundspersonen ebendieses Gerichts abzugeben12.

8 Vgl. RGSt. 10, 74, 75; RG J W 1938, S.3229 = DJ 1938, S.2042; O L G Naumburg Goltd A 39, 362; O L G Hamm Rpfleger 1958, S.313, 314. Aus älterer Zeit s. etwa Pr. GeschO für die Gerichtsschreibereien der LGe., PrJMinBl. 1879, Nr. 32, Anlage 2; Pr. GeschO für die Gerichtsschreibereien von 1899, von 1906 (PrJMinBl. 1906, S.392); Anhaltische DienstO v. 2 0 . 7 . 1 8 8 6 usw. 9 RGSt. 60, 329, 330; O L G Celle GA 1959, S.283. 10 RG J W 1894, S. 168; 1904, S.211; 1908, S.364; 1938, S.2153; O L G Stuttgart WürttJb. 21, 220; KG J W 1916, S. 1550 = L Z 1917, S. 80; bedenklich s. Weber, J W 1927, S. 2717. 11 Unklar s. insofern O L G Jena GoltdA 69, 431. 12 KG J W 1916, S. 1550 = L Z 1917, S.80.

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b) Die Justizverwaltung ist nicht gehindert, auch dem Hausmeister eines Gerichtsgebäudes, allen oder doch einigen Wachtmeistern der Botenmeisterei oder immerhin dem dort geschäftsleitenden Oberwachtmeister die Befugnis zur fristwahrenden Entgegennahme von Schriftstücken zu verleihen13. Soweit dies indessen nicht geschehen ist, können solche Justizangehörige Schriftstücke nicht wirksam, insbesondere nicht fristwahrend entgegennehmen14. Daß der hiernach Unzuständige der Sendung immerhin einen amtlichen Eingangsstempel aufgedrückt hat, ändert daran nichts15. Hat er den Übergebenden bewußt oder unbewußt in einen Irrtum über die Wirksamkeit und den Zeitpunkt der Einlieferung versetzt, so kann dies allerdings einen Wiedereinsetzungsgrund abgeben16. 2. Die Mitglieder des laut Geschäftsverteilungsplans, also funktionell zuständigen Spruchkörpers sind gleichfalls zur Empfangnahme schriftlicher Erklärungen in der anhängigen Sache befugt, und zwar gleichviel, ob das einzelne Mitglied des (vielleicht überbesetzten) Spruchkörpers auf Grund der internen Geschäftsverteilung in der Kammer, im Senat usw. bislang schon tätig geworden ist oder künftig tätig werden wird. Eine Amtspflicht des Richters zur Annahme (und Beurkundung der Annahme) besteht freilich nicht; er kann den Rechtssuchenden auch an die (geöffnete) Geschäftsstelle oder auf den fristwahrenden Einwurf in den Briefkasten des Gerichts verweisen. a) Die ältere Rechtsprechung hat allerdings eine solche Empfangsbefugnis und Vertretungsmacht des mit dieser Sache befaßten Richters nur bei entsprechenden Anordnungen der Landesjustizverwaltung und nur in deren Schranken bejaht und im übrigen die ausschließliche Zuständigkeit der bestellten Urkundsbeamten behauptet17. Zum Teil hat man, gestützt auf dienstliche Verfügungen einzelner Gerichtspräsidenten, die Befugnis zur fristwahrenden Entgegennahme auf den jeweiligen Gerichtspräsi13 Vgl. etwa RGRspr. 2, 613; RG LZ 1914, S. 1136; RG JW 1938, S.2153; O L G Oldenburg NdsRpfl. 1955, S. 159; O L G Hamm Rpfleger 1958, S.313 sowie BGH Rpfleger 1953, 29, 30. " RGSt. 10, 74 = RGRspr. 6, 85; RG JW 1889, S.277; 1905, S.52; 1908, S.364; 1929, S.3157; 1931, S.2019; 1938, S.2153; RG LZ 1914, S. 1136; RG Recht 1923, Nr. 1282; O L G Dresden SächsArch. 1909, S.25; O L G Hamburg Vogtsche Sammlung 3, 233 und HansGZ 1924, S.B201; 1928, S . B 6 2 ; O L G Naumburg GoltdA 39, 362; LG Hirschberg J W 1925, S. 1044; s. auch BGH VersichR 1976, S. 1063. 15 RG JW 1908, S. 364, 365 = DJZ 1908, S. 427. 16 Vgl. etwa O L G Dresden SächsArch. 1915, S. 79; R F H StuW 1927, S. 177. 17 RG JW 1913, S. 1003; O L G Dresden JW 1931, S. 1139 = HRR 1931, Nr. 1408; O L G Hamburg Vogtsche Sammlung 3, 233 und OLGRspr. 31, 54, 55; KG KGB1. 1920, S. 86. Ebenso s. Kleinknecht StPO 35. Aufl., 1981, §341 Rdn. 10; Meyer LR. 23. Aufl., 1977, § 341 Rdn. 25; Pikart KK, 1982, § 341 Rdn. 7.

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denten und auf den Vorsitzenden des jeweils befaßten Spruchkörpers beschränkt18. b) Dieser enge Standpunkt ist indessen anscheinend stillschweigend aufgegeben worden und zwar zu Recht: der Richter hat in dieser Sache zu entscheiden und dabei auch über die prozessualen Formalien zu befinden. Es ist kein tragfähiger Grund ersichtlich, warum er sich zur Annahme und Beurkundung des Zugangs stets der Geschäftsstelle bedienen müßte, die doch als Hilfsorgan des Gerichts, letztlich des Spruchkörpers, konstruiert ist. Die Formulierung, daß ein Schriftstück „bei Gericht" anzubringen sei, will jedenfalls nur die Einlegung des Rechtsmittels beim judex ad quem ausschließen15. Ebensowenig erlauben es die in ganz andere Richtung, nämlich auf Abgrenzung der empfangsbefugten Urkundsbeamten von anderen Justizbediensteten, zielenden landesrechtlichen Vorschriften, ein argumentum e contrario gegen die Annahmebefugnis der zur Entscheidung in der Sache berufenen Richter zu ziehen20. c) Nicht gewahrt wird allerdings die Frist, wenn Schriftstücke von Mitgliedern anderer, nicht funktionell zuständiger Kammern und Senate entgegengenommen werden. Es kann sich hier objektiv nur um private Gefälligkeit, nicht um dienstliche Annahme des Schriftstücks handeln21. Eine zur Fristwahrung geeignete „Geschäftsführung ohne Auftrag" gibt es insoweit nicht. Das unbefugte, obschon dienstlich erscheinende Verhalten eines unzuständigen Richters wird freilich grundsätzlich stets einen Wiedereinsetzungsgrund abgeben. d) Daß auch Gerichtspräsidenten und ihre Vertreter im Bereich der Justizverwaltung zur Empfangnahme strafprozessualer Schriftsätze zuständig sind, bezweifelt die Entscheidung OLG Hamm Rpfleger 1958, S. 313; RG HRR 1932, Nr. 2205 hat die Frage immerhin offengelassen. Man wird sie bejahen müssen: Mögen auch die Geschäftsstellen gemäß § 153 GVG den einzelnen Spruchkörpern oder mehreren von ihnen jeweils zugeordnet sein, so sind sie doch nicht nur Organe der jeweiligen " Vgl. O L G Naumburg GoltdA 39, 362; O L G Dresden aaO. " BayObLGSt. 21, 37, 40. 20 RGSt. 60, 329, 330; RG J W 1908, S.364f.; O L G Naumburg GoltdA 39, 362; O L G Rostock DJZ 1898, S.391 = AlsbergE 1, 109; O L G Hamm Rpfleger 1958, S.313 sowie Adam, J W 1903, S. 409, 410 unter Hinweis auf Reichstagsmaterialien. Unentschieden s. allerdings RG H R R 1932, Nr. 2205 = Recht/DRiZ 1932, Nr. 730 und O L G Köln J W 1937, S. 1438; abl. s. etwa Meyer (Fn. 17). 21 R G H R R 1932, Nr. 2205 = Recht/DRiZ 1932, Nr. 730; O L G Köln J W 1937, S. 1438; weitergehend s. allerdings Lindemann, J W 1937, S. 1439 wegen der verwickelten und noch dazu revisionsrechtlich „schwachen" Grundsätze über die funktionelle Zuständigkeit.

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gerichtlichen Spruchkörper, sondern auch Justizverwaltungsstellen, deren Vorgesetzter der Gerichtspräsident ist. 3. Die Empfangsbefugnis entscheidet auch über Zugang und Wirksamkeit einer schriftlichen Prozeßhandlung der Verfahrensbeteiligten, wenn das Schriftstück außerhalb des Gerichtsgebäudes übergeben wird: etwa wenn der zur dienstlichen Entgegennahme befugte Urkundsbeamte oder der mit der Sache befaßte Richter den Schriftsatz auf dem Weg zum oder vom Arbeitsplatz oder gar in seiner Wohnung dienstlich entgegennimmt22. a) In aller Regel wird dabei das Schriftstück die Anschrift des Gerichts oder gar des für zuständig gehaltenen Spruchkörpers tragen. Nichts hindert indessen, durch sachgemäße Auslegung eines nach Dienstschluß des Gerichts aufgegebenen, die Anschrift eines Gerichtsmitglieds oder des Urkundsbeamten tragenden Telegramms anzunehmen, daß es in Wahrheit an das Gericht, zu Händen des namentlich bezeichneten Beamten, gerichtet war. Es wäre sinnlos und treuwidrig, davon auszugehen, daß der Absender von dem Richter X oder gar dem Urkundsbeamten Y als Privatleuten die Revision eines Strafkammerurteils verlangen wollte23. b) Eine Amtspflicht zur dienstlichen Annahme von Schriftstücken ausserhalb der Dienststunden im häuslichen Bereich besteht nicht. Das schließt aber keineswegs die Berechtigung zu einer solchen Diensthandlung aus24. Nicht zu billigen ist es deshalb, wenn Meyer25 seine gegenteilige Ansicht darauf stützt, daß die Revision „beim Gericht" und nicht „beim Richter" einzulegen sei: der Richter, vollends der Vorsitzende Richter des befaßten Spruchkörpers ist doch „das Gericht"; durch ihn als Organwalter handelt doch der als „Gericht" abstrakt vom Gesetz festgelegte Spruchkörper. Es handelt sich hier gewiß nicht um rein private Botentätigkeit, wenn ein Richter, wo auch immer, das fristgebundene Schriftstück dienstlich annimmt. Zweifeln könnte man allenfalls, ob die Justizverwaltung generell oder speziell durch Verfügung den Urkundsbeamten oder gar den Richtern verbieten kann, fristgebundene 22 RGSt. 31, 4, 6; RGZ 1, 429, 431; RG J W 1894, S.168; 1904, S.211; 1929, S.3157 = H RR 1929, Nr. 1698; O L G Colmar ElsaßLothrZ 31, 499; KG DJZ 1920, S.661; B G H AnwBl. 1954, S. 106; Weber, J W 1927, S.2717; s. ferner R G J W 1905, S.52 = Recht 1905, Nr. 342, aber auch (ablehnend) RGRspr. 2, 369; BayObLGSt. 3, 233, 234 und RG LZ 1915, S. 711. 23 Ganz verfehlt s. insofern RG GerS 100, S.262; s. auch Kleinknecht (Fn.17) § 341 Rdn. 1, aber auch R G J W 1894, S. 168. 24 RGSt. 31, 4, 6; RG J W 1929, S. 3157 = H RR 1929, Nr. 1698; KG J W 1916, S. 1550 = LZ 1917, S. 80; O L G Dresden GoltdA 64, S.564. 25 Meyer (Fn. 17).

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Schriftstücke dienstlich außerhalb des Gerichtsgebäudes (und/oder der Dienststunden) wirksam entgegenzunehmen 26 . RG JW 1905, S. 52 hat ja ein solches Verbot geradezu vom Dienstherrn gefordert. Zumindest dem Richter gegenüber wären solche Verbote aber rundweg als unzulässig anzusehen. c) Wird das Schriftstück nicht dem Empfangsbefugten zu Hause unmittelbar übergeben, sondern dort in seiner Abwesenheit abgegeben oder ohne sein Wissen in den privaten Briefkasten eingeworfen, so ist die Frist allenfalls dann gewahrt, wenn der Richter oder Urkundsbeamte die Sendung noch vor dem Fristablauf an sich nimmt, aus dem Kasten holt und sich für die Annahme als Diensthandlung entscheidet27. Anders kann dies nur dort sein, wo - wie im Fall RG JW 1927, S. 2717 (m. Anm. Weber) = JR 1927, N r . 1878 = Recht 1927, N r . 2324 - der private Briefkasten durch Verfügung des Gerichtspräsidenten ersatzweise, für die Zeit nach Dienstschluß, zur amtlichen Annahmestelle erklärt worden ist; dann wird es - wie sonst beim Einwurf in den Gerichtsbriefkasten allein auf den rechtzeitigen Einwurf ankommen. 4. Auf die Einhaltung der Dienststunden kommt es für wirksame Entgegennahme von Rechtsmittelerklärungen und anderen fristgebundenen Prozeßhandlungen weder für den Gerichtsbeamten noch für den Richter an. Ein Verbot wirksamen dienstlichen Handelns läßt sich aus dieser Minimal-Regelung dienstlicher Tätigkeit nicht ableiten28. a) Allerdings dürfen sich die Beteiligten nicht darauf verlassen, daß sie auch noch nach Dienstschluß stets jemand vorfinden, der wirksam schriftliche Erklärungen entgegennimmt oder gar mündliche Äußerungen protokolliert 29 . Daran hat sich durch den unten (III.) dargestellten Wandel in der Praxis zum Eingang durch Einwurf in den Gerichtsbriefkasten nichts geändert. Es läßt sich daraus eine Amtspflicht zur unmittelbaren Entgegennahme selbst dann nicht herleiten, wenn sich ein zur Annahme Befugter noch nach Dienstschluß im Gerichtsgebäude aufhalten sollte. Wenn sich ein solcher Empfangsberechtigter allerdings zwar dem Ablieferer gegenüber auf den Dienstschluß beruft, die Sendung 26 RGSt. 31, 4, 6; BayObLGSt. 3, 233; OLG Hamburg OLGRspr. 31, 35; 43, 147 = LZ 1922, S.473; s. auch OLG Dresden JW 1931, S. 1139. 27 RG JW 1929, S. 3157 = HRR 1929, Nr. 1698; OLG Colmar ElsaßLothrZ 33, S. 501. 2 » RGSt. 31, 4, 6; RG Recht 1923, Nr. 1282; PrDiszH DJZ 1929, S. 1621; OLG Hamburg HRR 1929, Nr. 2061; KG JW 1916, S. 1550 = LZ 1917, S. 80; OLG Rostock DJZ 1898, S. 391 = AlsbergE 1, 109 sowie OLG Oldenburg NdsRpfl. 1955, S. 159. 29 RGSt. 10, 74, 75; RG JW 1908, S.365; 1929, S.3157; RG GruchotB 54, 1127; OLG Colmar aaO; OLG Dresden SächsArch. 1909, S.25; BGHZ 23, 307 = NJW 1957, S. 750; BVerfG MDR 1976, S.733 m. Anm. Vollkommer, Rpfleger 1976, S.240. Vgl. auch Bkm. des BayjustMin. v. 30.5.1920, BayJMBl. 1920, S. 92.

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indessen dennoch annimmt, so schadet es nichts, wenn er hinzufügt, daß er dies eigentlich nur privat und aus Gefälligkeit tue: dies ist dennoch eine Diensthandlung 30 . Anders wäre dies freilich bei Annahmeverweigerung im häuslichen Bereich. b) Die Entgegennahme eines Schriftsatzes durch einen dazu nicht Befugten wahrt die Frist nicht. Das gilt insbesondere für die nicht seltene und gutgemeinte Entgegennahme durch dazu nicht ermächtigte Hausmeister, Nachtwächter, Reinemachefrauen usw. innerhalb des Gerichtsgebäudes 31 . Daran kann auch der - unten geschilderte - Wandel in der Auffassung zum Einwurf in den Gerichtsbriefkasten nichts ändern. 5. Für die Einreichung eines Schriftstücks und dessen fristwahrenden Zugang kommt es, wie gesagt, auf das Tätigwerden eines Befugten gerade im Gerichtsgebäude oder gar in dessen Dienstzimmer grundsätzlich nicht an; der Urkundsbeamte bleibt eben auch dann Urkundsbeamter, wenn er etwa auf dem Flur des Gebäudes oder, falls er bei einer Strafverhandlung Protokoll führt, in einer Pause den - eine andere Sache betreffenden - Schriftsatz entgegennimmt. Umgekehrt reicht freilich auch das bloße Niederlegen eines Schriftsatzes irgendwo im Gebäude nicht aus, ebenso nicht das Durchschieben unter der zur Nachtzeit abgeschlossenen Haustüre des Gerichtsgebäudes 32 . Auch das Niederlegen eines fristgebundenen Schriftstücks, mit oder ohne Mitwirkung eines anderen Justizangehörigen, auf dem Schreibtisch des zur Zeit abwesenden Urkundsbeamten oder Kammervorsitzenden soll nicht geeignet sein, die Frist zu wahren 33 . Dem ist, zumindest für den Regelfall, zuzustimmen. Es geht hier ja um eine Erklärung unter /Iwwesenden, für die andere Regeln gelten als für diejenige gegenüber einem Abwesenden. 6. Die formgerechte Beurkundung des (rechtzeitigen) Eingangs eines Schriftstücks bei Gericht ist keine Wirksamkeitsvoraussetzung. Sie schafft nur ein (zwar gewichtiges) Beweismittel, aber eben doch nur eines neben anderen. Der Beweis für den Eingang der Erklärung und für dessen Zeitpunkt kann im Strafprozeß, soweit erforderlich, im Wege des Freibeweises auch auf andere Weise, ja selbst gegen den EingangsverVgl. OLG Hamburg HRR 1929, Nr. 2061. Vgl. die oben Fn. 14 zitierte Rspr. 52 Vgl. OLG Dresden SächsArch. 1909, S.25; OLG Stuttgart WürttZ 1917, S.60; OLG Hamm NJW 1956, S. 1168 sowie OVG Jena JW 1921, S.294, 295; OVG Münster DÖV 1974, S. 105. 53 RGSt. 10, 74, 75 ; 22, 124; RG JW 1929, S.3157 = HRR 1929, Nr. 1698; OLG Colmar GoltdA 31, 178; OLG Kiel GoltdA 41, 155, 156 = AlsbergE 1, 112; OLG Stuttgart WürttZ 1917, S.60; Löwe-Rosenberg, 19. Aufl., 1934, Vor § 42 Anm.5d sowie OLG Stuttgart Büro 1976, S.685; LG Hamburg MDR 1973, S.138. Bejahend s. aber OLG Posen GoltdA 39, 363. 30 31

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merk geführt werden33". Eine Rechtsvermutung von der Art des § 418 Z P O besteht für den Bereich der Strafprozeßordnung nicht; Mängel in der Beurkundung schwächen freilich hier wie dort die Beweiskraft des Eingangsvermerks 34 . Unschädlich ist es indessen, wenn der Beurkundungsvermerk erst einige oder gar geraume Zeit nach dem Einlauf des Schriftstücks, womöglich erst nach Fristablauf, angebracht wird35.

III. 1. Bei der Einlieferung schriftlicher Prozeßerklärungen durch Einwurf in den Gerichtsbriefkasten, also bei schriftlichen Äußerungen gegenüber Abwesenden, haben Zivil- und Strafgerichte lange Zeit den Zeitpunkt des fristwahrenden Zugangs nach derselben Formel bestimmt wie bei der unmittelbar-persönlichen Ubergabe an einen Gerichtsbeamten. a) Erforderlich war danach, daß das Schriftstück nach der Entnahme aus dem'Briefkasten noch innerhalb der etwa laufenden Frist an einen in Vertretung des Gerichts handelnden, zur Empfangnahme und Beurkundung36 Befugten, regelmäßig also an den Urkundsbeamten der Geschäftsstelle, gelangte. Der Einwurf in den Briefkasten selber vor oder nach, ja sogar während der Dienststunden des Geschäftsstellenpersonals bedeutete demnach noch keineswegs den (rechtzeitigen) Zugang bei Gericht37·38. 331 Vgl. RGSt. 42, 161,162; RG JW 1929, S. 1054 = HRR 1929, Nr. 473 = DRiZ 1929, S. 77; RKriegsG 1,43,44; Niethammer, ZWehrR 1939/40, S. 291 ; s. ferner BGH VersichR 1961, S. 1046. 54 OLG Oldenburg OLGSt. § 314 StPO, S. 1; zur Widerlegung des Eingangsstempels s. etwa BGH VersichR 1973, S. 186; 1977, S. 721; BVerwG NJW 1969, S. 1730; BVerwG VerwRspr. 29, 1021. 35 RG Recht 1906, Nr. 126; OLG Oldenburg NdsRpfl. 1955, S. 159. Zur Strafbarkeit falscher Datierung s. RGSt. 42, 161, 162; 48, 416; 75, 402; OLG Königsberg HRR 1939, Nr. 1493. 36 Die beiden Befugnisse werden idR gekoppelt; richtig s. aber RMilG 10, 264; RKriegsG 1, 43, 44. Auf die Befugnis auch zum Öffnen der Sendungen sollte es freilich nicht ankommen; s. OLG Stuttgart Wiirttjb. 21, 220. 37 Vgl. RGSt. 60, 329; RG JW 1929, S. 1054 = HRR 1929, Nr. 473; RG Recht 1907, Nr. 3895; RG GerSekrZ 20, 340; RG GesuR 13,215; OLG Dresden SächsAnn. 6,196 und SächsArch. 1909, S.25; OLG Hamburg Vogtsche Sammlung 3, 233; OLG Hamburg HansGZ 1924, S.B201; OLG Rostock MecklbZ 22, 135; LG Fürth BayZ 1926, S.264; s. ferner LR, 19. Aufl., 1934 vor § 42/5 a; Meyer (Fn.17) Rdn.3 sowie Jauernig, ZZP 74, 201. 38 Noch strenger verfuhr im allgemeinen die zivilgerichtliche Praxis; s. etwa RGZ 76, 127, 128; RG JW 1910, S.480; 1929, S.3157 (m. Anm. Jonas ebda, und Roquette, JW 1930, S. 145); 1931, S.2019, 2020; 1936, S.2136, 2137; 1938, S.2153; RG Recht 1923, Nr. 1282; KG KGB1. 1904, S.18, 19; BGH AnwBl. 1954, S. 106, 107; BGH ZZP 73, 215ff.; BGH NJW 1973, S. 1082; BGH VersichR 1976, S. 1063; OLG Freiburg JZ 1953, S. 122; OLG Hamm AnwBl. 1958, S. 194; OLG Saarbrücken NJW 1973, S.854, 855; s. ferner RFH StuW 1923, Nr. 380; 1928 II, Nr. 219 und auch BVerwG VerwRspr. 29, 1021.

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b) Eine - über den Wiedereinsetzungsantrag verfolgbare - Amtspflicht des Gerichts, für eine reale Ubergabemöglichkeit auch noch nach dem allgemeinen Dienstschluß zu sorgen, etwa durch Einrichtung eines Jourdienstes oder durch Bevollmächtigung des Hausmeisters, wurde in jener Zeit rundweg abgelehnt39. Das lief praktisch auf eine wesentliche Verkürzung der gesetzlich zugestandenen Handlungs- und Erklärungsfristen jeweils um mehrere Stunden hinaus und führte überdies nicht selten zu einer Ungleichbehandlung der bei verschiedenen Gerichten Rechtssuchenden. Man sah dies sehr wohl, tröstete sich aber damit, daß die Verfahrensbeteiligten die Beschränkungen als vorgegeben hinnehmen und sich bei ihrer Zeitplanung eben entsprechend einrichten müßten40. 2. Einige Gerichte verfuhren allerdings schon in den zwanziger Jahren weniger streng, indem sie gezielt den Belangen der Beteiligten den Vorrang gaben: wenn das Schriftstück immerhin noch während, der Dienstzeit in den Briefkasten eingeworfen wurde, d. h. zu einem Zeitpunkt, zu dem für diesen Tag noch mit Entnahme und Entgegennahme durch den Urkundsbeamten gerechnet werden konnte, dann sollte die Frist - trotz eigentlich verspäteter Entgegennahme - doch als gewahrt angesehen werden41. Die Zivil- und Strafgerichte hielten demgegenüber freilich noch bis in die sechziger Jahre an der alten Linie fest42: „Die Einreichung einer Rechtsmittelschrift ist nicht schon dadurch vollzogen, daß sie in den Briefkasten oder sonstwie in die Räume des Amtsgerichts gelangt, sondern erst dadurch, daß sie von dem zu ihrer Entgegennahme befugten Beamten in Empfang genommen worden ist."43 Etwas anderes sollte nur beim rechtzeitigen Einwurf in die allmählich aufgekommenen Nachtbriefkästen44 gelten. Die Einrichtung solcher Übergabesurrogate deutete man so, daß der Aufsteller damit auf die unmittelbar-körperliche Entgegennahme, ja selbst auf die nur während der Dienststunden des Personals realisierbare Entgegennahme und Kenntnisnahme verzichteVgl. RGSt. 31, 19, 20 und insbes. O L G Dresden SächsArch. 1909, S.25. O L G Dresden ebda.; s. auch R F H E 24, 31, 33 = DJZ 1929, S.377. 41 Vgl. etwa R F H E 24, 31, 33 = J W 1928, S.2804 = DJZ 1929, S.377; R F H RStBl. 1936, S. 994 = J W 1936, S.3599; PrDiszH DJZ 1929, S. 1621 = J W 1930, S.1268; O V G Jena J W 1921, S.294 (m. Anm. Knauth und Kann)·, PrOVGE 33, 455; 38, 48; PrVerwBl. 19, 312; s. auch Jebens, PrVerwBl. 1903, S. 773 ff. sowie O L G Hamburg Vogtsche Sammlung 3, 233 = DJZ 1908, S. 824. Bemerkenswert zurückhaltend s. auch RGZ 1, 429, 430. 39 40

42 Einschränkend s. allerdings O L G Frankfurt Frkf. Rdsch. 41, S. 167; im alten Stile z . B . B G H VersichR 1973, S.87; 1976, S.641. 45 So O L G Celle GA 1959, S. 283 im Anschluß an R G J W 1938, S. 2159. 44 Zum Streit um den Nachtbriefkasten des KG s. etwa Wiener, Sonnen, Häger, in J R 1927, S.212, 444, 530 und KG J W 1927, S. 719. Kritisch zum Funktionieren des Nachtbriefkastens s. z . B . AnwBl. 1974, S.314; 1976, S.334.

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te45. Immer hielt man indessen noch daran fest, daß die Anbringung solcher Nachtbriefkästen nur ein nobile officium der Gerichte und Justizbehörden sei46. 3. Erst in den siebziger Jahren wandelte sich die Auffassung fast allgemein. a) Zum einen trat der Gedanke hervor, daß die Verfahrensbeteiligten einen grundgesetzlich geschützten Anspruch auf umfassendes rechtliches Gehör und damit auf volle Ausschöpfung der eingeräumten Rechtsmittelfristen hätten47. Zum anderen hielt man nunmehr die Schaffung von Ubergabesurrogaten durch das Aufstellen von Nachtbriefkästen für eine echte Amtspflicht der Gerichte und Justizbehörden, so daß beim Fehlen eines solchen Geräts regelmäßig ein Wiedereinsetzungsgrund gegeben war48 und zwar ohne Rücksicht darauf, ob der erst nach Dienstschluß Einwerfende das Fehlen des Nachtbriefkastens gekannt hatte oder immerhin hätte kennen müssen 49 . b) Wenn nun der (rechtzeitige) Einwurf in den Nachtbriefkasten den fristwahrenden Zugang schon bewirkte oder aber bei versäumter Frist wegen Fehlens eines Nachtbriefkastens grundsätzlich allemal Wiedereinsetzung gewährt wurde, dann war es nur noch ein einziger Schritt, von den Besonderheiten des Nachtbriefkastens abzusehen und jedem (beweisbar) rechtzeitigen Einwurf in einen Gerichtsbriefkasten die Wirkung zuzusprechen, daß damit schon das Schriftstück dem Gericht zugegangen war, ohne daß es noch auf die rechtzeitige Entnahme und Annahme durch einen Vertretungsberechtigten ankam 50 . Allerdings tastete man sich zum Teil noch arg vorsichtig vorwärts, etwa indem man sich hinter (schwer nachvollziehbaren) Unterscheidungen zwischen fristgebundenen und anderen Prozeßhandlungen versteckte 51 .

45 Vgl. etwa B G H VersichR 1973, S. 87. Schroff gegen dieses „Ansehenwollen" s. BVerfGE 52, 203 = N J W 1980, S.580, 581. 44 Vgl. Jonas, JW 1929, S.3157; s. auch B G H Z 2, 31, 34. 47 BVerfGE 41, 323, 326f. = NJW 1976, S.747 u.ö.; BVerfGE 52, 203 = N J W 1980, S. 580; vorher s. schon O L G Schleswig NJW 1954, S. 325; O L G H a m m JMB1NRW 1957, S. 178; B A G N J W 1960, S. 1543; BVerwG NJW 1974, S. 73; BSozG M D R 1964, S. 90. 48 B G H M D R 1960, S.223 = ZZP 73, S.215; B A G E 9, 215 = NJW 1960, S.1543; B A G ZMR 1955, S.320; BVerwG NJW 1962, S. 1268; BSozG N J W 1963, S.2342; B F H BStBl. 1968 II, S.589; 1971 II, S.597. 49 Anders s. insoweit B G H Z 23, 307 = NJW 1957, S. 750. 50 So in der Tat schon BVerwGE 18, 51 = NJW 1964, S. 1239; BVerwG NJW 1968, S. 1394; 1969, S. 1730; 1974, S. 73; B F H E 114, 321 = NJW 1975, S. 1384; B F H E 119,19 = BStBl. 1976 II, S.570; B F H DSteuerR 1976, S.499 = HFinR 1976, S.371. 51 Vgl. etwa BVerwG N J W 1964, S.788; BSozG SozR 4100 § 81 Nr. 3 und SozGbkt. 1979, S. 479, 480; B F H HFinR 1978, S. 173.

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c) Die Rechtsprechung der Zivil- und Strafgerichte verharrte demgegenüber, mit ganz wenigen Ausnahmen, auf der althergebrachten Linie; insbesondere tat dies das Bayerische Oberste Landesgericht in Strafsachen in mehreren Entscheidungen". Von da aus ist es nur allzu verständlich, daß schließlich das Bundesverfassungsgericht in einem Beschluß vom 3.10.1979" das ganze alte Gedankengebäude einfach beiseitefegte und folgenden Leitsatz dekretierte: „Es ist mit dem Grundgesetz nicht vereinbar, wenn ein Gericht den Eingang eines fristgebundenen Schriftsatzes in einem Zivilprozeß deshalb als verspätet ansieht, weil der rechtzeitig in die Verfügungsgewalt des Gerichts gelangte Schriftsatz nicht innerhalb der Frist von dem zu seiner Entgegennahme zuständigen Bediensteten der Geschäftsstelle amtlich in Empfang genommen worden sei." Die dem zugrundeliegenden dogmatischen Bemerkungen stehen freilich auf schwachen Beinen: Das Gericht unterscheidet nicht zwischen schriftlichen Erklärungen unter Anwesenden und gegenüber Abwesenden. Die Überlegungen zum Wortsinn der „Einreichung" sind letztlich nur eine petitio principii und letztlich läßt das Gericht außer acht, daß es eben nicht nur um die Handhabung des § 207 Abs. 2 ZPO, sondern um eine ganz grundsätzliche, weit über den anhängigen Fall hinausgehende Frage ging. Letztlich trägt diese Entscheidung denn auch nur, aber in jedem Fall ausreichend, der mit Emphase vorgetragene Wille des Gerichts, unnötige, obschon althergebrachte, nur auf Justizpraxis und Verwaltungsvorschriften beruhende Beschränkungen des Rechtsschutzes abzuräumen und damit den Beteiligten die volle Nutzung der ihnen gesetzlich gewährten Befugnisse zu ermöglichen. Angesichts dessen kann man - was den fristwahrenden Einwurf in den Gerichtsbriefkasten anlangt - dem Bundesverfassungsgericht nur beitreten. 4. Die Ansicht des Bundesverfassungsgerichts hat sich denn inzwischen auch und gewiß nicht nur wegen der Bindungsvorschrift des § 31 BVerfGG fast überall durchgesetzt". So gesehen hat damit der Nachtbriefkasten seine frühere Bedeutung weithin verloren. Sie erschöpft sich letztlich darin, daß er bloß noch kontrollierend funktioniert55, indem seine technische Ausstattung es ermöglicht, die vor Mitternacht eingeworfene Post automatisch und zuverlässig von der erst später eingeworfenen zu sondern. Der Beweis des fristwahrenden Eingangs ist darum 52 Vgl. BayObLGSt. 1968, S . 8 5 und 103 = N J W 1969, S.201 f.; B a y O b L G VRS 43, 123, 124 = Rpfleger 1972, S. 176; B a y O b L G bei Rüth, D A R 1974, S. 187; 1975, S.208. Anders s. allerdings O L G Frankfurt AnwBl. 1975, S. 171; L G Mannheim Justiz 1964,

5. 317. 5 ) BVerfGE 52, 203 ff. = E u G r Z 1979, S.551 = N J W 1980, S.580. 54 Etwas säuerlich der Hinweis in B G H N J W 1981, S. 1789 auf § 31 BVerfGG. 55 B A G N J W 1981, S.298, 299.

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mit dem Nachtbriefkasten leicht zu führen. Das ist aber auch alles: in der prozessualen Wirkung unterscheidet sich der (beweisbar) rechtzeitige Einwurf in den gewöhnlichen Briefkasten des Gerichts nicht mehr von demjenigen in einen Nachtbriefkasten. 5. In Zivilsachen hat der Bundesgerichtshof nunmehr in zwei Beschlüssen die Ansicht des Bundesverfassungsgerichts übernommen, freilich nur für den Fall des Einwurfs in einen Gerichtsbriefkasten noch während (!) der Dienststunden 56 . Den schwierigeren Fall, den Einwurf in einen gewöhnlichen Briefkasten erst nach (!) Dienstschluß, hat der Bundesgerichtshof in NJW 1981, S. 1789 ausdrücklich noch offengelassen. Eine einschlägige Entscheidung der Strafsenate steht anscheinend überhaupt noch aus. Es wird aber auch hier dem Bundesgerichtshof gar nichts anderes übrigbleiben, als der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts zu folgen. Vor einer Gefahr muß in diesem Zusammenhang aber gewarnt werden, daß man jetzt wiederum - nur in umgekehrter Richtung - zur Gleichschaltung der schriftlichen Erklärung unter Anwesenden (durch Ubergabe) und derjenigen gegenüber Abwesenden (durch Einwurf in den Briefkasten oder andere Übergabesurrogate) kommt. Der nur zum Briefkasteneinwurf entwickelte, aber zu weit gefaßte Leitsatz des Bundesverfassungsgerichts könnte dazu verleiten, auch alle die oben unter II. dargestellten Grundsätze über den Zugang durch Ubergabe an einen Vertretungsberechtigten über den Haufen zu werfen.

IV. 1. Die Einrichtung eines Postschließfaches des Gerichts schafft ähnliche Zugangsprobleme wie das Anbringen eines Briefkastens57. a) Nach der älteren Auffassung stellt das Einsortieren der Sendung in das Postschließfach (PSF) nur dann den Zugang der Sendung dar, wenn und solange nach den (billigenswerten) örtlichen Gepflogenheiten und Gegebenheiten und nach der Lebenserfahrung noch am selben Tage mit der Abholung zu rechnen ist: nicht also bei Einlegung der Sendung erst nach Dienstschluß des Gerichts und schon gar nicht nach Schalterschluß 56 B G H N J W 1981, S. 1216 = JuS 1981, S.692; B G H N J W 1981, S.1789 = M D R 1981, S. 740. Vgl. auch schon B G H M D R 1979, S. 1006 = NJW 1979, S.2032. 57 Vom PSF zu scheiden sind die nicht selten bei den Postämtern eingerichteten Abholfächer für Selbstabholer (s. FinG Hannover EFinG 1962, S. 82 = AnwBl. 1962, S. 97). Über interne Postaustauschfächer bei Gericht s. B G H VersichR 1961, S. 923; 1976, S. 1063; s. ferner RG J W 1910, S.202 und R G Z 99, 20, 23 sowie LSozG Stuttgart SozGbkt. 1966, S. 123. Zu einer vom Gericht und vom örtlichen Anwaltsverein eingerichteten und von einem Justizbeamten betreuten Annahmestelle s. BVerfG Rpfleger 1981, 285.

Über den Zugang strafprozessualer Willenserklärungen

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der Post58. Eingeräumt wird allerdings, daß die Verfahrensbeteiligten durch die Einrichtung des PSF grundsätzlich nicht schlechter gestellt werden dürfen, als wenn die Justiz sich die Sendungen ins Haus bringen ließe. Die ins PSF eingelegten Schriftstücke werden deshalb immerhin dann als rechtzeitig zugegangen behandelt59, zumindest aber wird Wiedereinsetzung gewährt, wenn die Sendung bei Hauszustellung noch rechtzeitig ans Gericht gekommen wäre60. b) Von da aus haben einige Gerichte bereits den letztlich unumgänglichen Schritt vollzogen, jedenfalls für die im Strafprozeß einzig bedeutsamen Rechtsmittelerklärungen und vergleichbare fristgebundene Prozeßhandlungen: schon mit dem Einsortieren der Sendung in das PSF gilt sie als dem Gericht zugegangen, ohne Rücksicht auf spätere Abholung oder auch nur Abholgelegenheit noch am selben Tag61. Der ordentlichen Gerichtsbarkeit wird nichts übrigbleiben, als sich dieser Praxis anzuschließen, und dies selbst dann, wenn man die vom Bundesverwaltungsgericht62 bei dieser Gelegenheit wiederaufgegriffene Scheidung zwischen ankunfts- und empfangsbedürftigen Willenserklärungen bloß für eine Zweckkonstruktion hält. c) Völlig verfehlt ist jedenfalls die zu §§ 42 ff. StPO ergangene Entscheidung L G Hamburg MDR 1981, S. 422: danach sollen fristgebundene Schriftstücke, die am letzten Tag der Frist nach 12.30 Uhr in das fürs Gericht bestimmte Postfach einsortiert werden, regelmäßig als nicht mehr rechtzeitig zugegangen behandelt werden, sofern sie nicht mehr abgeholt werden und das Gericht damit rechnen dürfe(?), daß in der Zeit nach 12.30 Uhr bis Dienstschluß nur ein unverhältnismäßig geringer Teil aller Sendungen eines Tages in die Schließfächer gelangt. Dieser Be58 RGSt. 31, 19, 20; RErbhG H R R 1938, Nr. 556; PrOVG J W 1922, S. 120 und Recht 1922, Nrn. 180, 1121; B G H LM § 130 BGB Nr. 2 = J R 1955, S. 179; O L G Celle NdsRpfl. 1961, S. 129 und N J W 1974, S. 1386; OVG Münster VerwRspr. 22, S.506; s. ferner BVerwG N J W I960, S. 1587. Zum Einsortieren von Eilbriefen ins PSF s. abl. O V G Münster MDR 1980, S. 346, von Einschreibebriefen s. O L G Celle a. a. O . ; B F H DSteuerZ 1976, S. 77. 59 RErbhG H R R 1938, Nr. 556; RGSt. 2, 271, 272 ; 31, 19, 20; O L G Celle NdsRpfl. 1961, S. 129; R F H J W 1937, S.1924; B F H BStBl. 1954 III, S.350; B F H HFinR 1978, S. 173; vgl. auch (für den allg. Briefverkehr) RGZ 142, 402 = J W 1934, 153 m. Anm. Oertmann. 60 Unklar insofern B F H BStBl. 1976 II, S.76 = Steuerberater 1976, S.149: das Finanzamt könne sich auf die Verspätung nicht berufen (Wirksamkeit? Wiedereinsetzung?).

" Vgl. BVerwG DVB1. 1961, S.827 = JVB1. 1961, S.254; BVerwG N J W 1964, S.788 = J R 1965, S. 111; BSozG MDR 1978, S.83 = SozR 4100 § 81 N r . 3 ; BSozG SozGbkt. 1979, S.479; B F H E 125, 498 = HFinR 1978, S.486; O V G Lüneburg ZMR 1954, S.61. 62 Vgl. BVerwG N J W 1964, S.788 = (ausführlicher) J R 1965, S . l l l ; BVerwG N J W 1960, S. 1587 und schon Kann, J W 1921, S.294f. Vgl. ferner B F H HFinR 1978, S. 173

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schluß läßt die ganze jüngere Entwicklung im Zugangsrecht außer acht; Karwacki, MDR 1981, S. 690 bezeichnet diese Entscheidung zu Recht als schlechthin verfassungswidrig. 2. Der Zeitpunkt des Zugangs bei Einschreibe- und Wertbriefen ans Gericht bedarf noch der Klärung. a. Daß am letzten Tag vor Fristablauf während(!) der Dienststunden ein solcher Brief im Gerichtsgebäude nicht zugestellt werden kann, dürfte kaum vorkommen; gegebenenfalls wäre für den Absender wohl stets ein Wiedereinsetzungsgrund gegeben63. Sofern dagegen nach(!) Dienstschluß vergeblich die Zustellung eines Einschreibebriefes versucht und danach oder auch ohne Zustellungsversuch ein Benachrichtigungszettel in den Briefkasten geworfen oder in das Postschließfach das Gerichts eingelegt wird, fragt es sich, ob damit auch schon die eingeschriebene Sendung als fristwahrend zugegangen gilt oder ob es dafür noch deren Abholung oder doch wenigstens des Einwurfs oder der Einlegung des Zettels zu einer Zeit bedarf, zu der üblicherweise das Behältnis noch geleert und der Einschreibebrief am Schalter empfangen werden könnte64. b) Die Praxis der Zivilgerichte geht überwiegend dahin, daß erst die Abholung der Sendung beim Postamt - den Mißbrauchsfall vorbehalten - deren Zugang bewirkt65. Weitergehend hat indessen die strafprozessuale Praxis mehrfach angenommen, daß schon mit dem Eingang des Benachrichtigungszettels auch die Verfügungsgewalt über die Einschreibesendung auf das Gericht übergegangen sei, so daß es auf den Zeitpunkt der späteren Abholung nicht mehr ankomme66. Die Begründung hierfür bleibt unklar: der Zettel mag in der Regel als Ausweis für die Abholberechtigung dienen; es mag auch sein, daß - wie im Falle RGSt 44, 350 dargelegt - die Einrichtung eines Schließfachs den Absender nicht schlechter stellen darf, als wenn sich das Gericht die Post ins Haus bringen ließe. Das ändert aber doch nichts daran, daß - mit oder ohne Einschaltung des Postschließfachs - die Post an der gesondert verwahrten Sendung weiterhin alleinigen Gewahrsam hat! Vor allem aber erfaßt diese Lösung diejenigen Fälle nicht, in denen der BenachrichtigungszetVgl. BVerwG DVBl. I960, S.397. " Über Zustellungen gerichtlicher Verfügungen durch Einschreiben s. Behn, SozVers. 1981, S. 57ff.; SozG Freiburg MDR 1979, S.525. 65 Vgl. O L G Celle N J W 1974, S. 1386; LG Essen VersichR 1968, S.660; BAG N J W 1963, S. 554, 555; R F H J W 1937, S. 1924; Hess.VGH ZfZölle 1968, S.212; s. ferner O L G Hamburg Vogtsche Sammlung 1, 620 = AlsbergE 1, 110. 66 RGSt. 44, 350, 351 = BlfPatMZ 1911, S.210; RG Recht 1918, Nr. 1747; anders s. aber RG J W 1902, S.299; s. ferner O L G Dresden SächsArch. 1930, S.98, 99; Meyer (Fn. 17). 63

Ü b e r den Zugang strafprozessualer Willenserklärungen

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tel erst nach Dienstschluß des Gerichts oder Schalterschluß der Post ins Schließfach eingelegt wird. Es könnte sein, daß die sicherere und leichter beweisbare Versendungsart des eingeschriebenen oder Wertbriefes leicht dem Absender im Prozeßrechtsverkehr erhebliche Nachteile bereitet67. 3. Nicht selten ist für mehrere Gerichte und Justizbehörden eine gemeinsame Briefannahmestelle (GASt.) eingerichtet und deren Bediensteten die Befugnis eingeräumt, anstelle der einzelnen Gerichte oder Behörden und ihrer Urkundsbeamten Schriftstücke fristwahrend entgegenzunehmen. a) Bei richtiger Adressierung der Sendung genügt ohne Frage schon die offene oder verschlossene Abgabe bei ebendieser Annahmestelle zur Fristwahrung68, ebenso der Einwurf in den Briefkasten ebendieser GASt. als deren vorgeschobene Empfangsstelle69. Das gilt selbst dann, wenn der entgegennehmende oder den Briefkasten leerende Beamte bestimmte Sendungen, etwa Einschreibe- und Wertbriefe, nicht selbst öffnen darf. Vorausgesetzt ist allerdings stets, daß die Justiz im Besitz des Schriftstücks bleiben und dies nicht etwa bloß nach Abstempelung und Rückgabe als Quittung für den Einlieferer dienen soll70. b) Nicht selten gelangen jedoch Schriftstücke mit falscher Anschrift an die GASt. : etwa wenn der Verteidiger - der Regelung für den Zivilprozeß folgend - das Rechtsmittel im Strafverfahren an den judex ad quem statt an den judex a quo gerichtet oder sich der Nebenkläger mit seinem Zulassungsantrag an die Staatsanwaltschaft statt an das Gericht gewandt hat. aa) Soweit der Beamte der GASt. den Fehler erkannt und deshalb das Schriftstück - innerhalb oder auch außerhalb der Erklärungsfrist unmittelbar an die „richtige", d.h. nach StPO und GVG zuständige Stelle weitergeleitet hat, ist der Fehler behoben: er hat dann trotz der falschen Bezeichnung auf Grund seiner besseren Rechtskenntnisse und an Hand des Inhalts und Begehrens des Schriftstücks durch eigene Auslegungsarbeit den wahren Willen des Erklärenden erkannt und ihm gemäß gehandelt71. Das gleiche muß dann gelten, wenn die von der 47 Vgl. dazu BVerwG NJW I960, S.979 (m. Anm. Schmidt, NJW 1960, S. 1488); BVerwG JR 1966, S. 356; BFH DSteuerR 1976, S. 560 und schon RFH StuW 1927, S. 178. 68 RG Recht 1914, Nr.2957; RG JW 1938, S.2153; KG JW 1932, S. 1409 = HRR 1932, Nr. 1626; BGH MDR 1973, S. 752; BAG NJW 1969, S. 766. " So Jauernig, ZZP 74, 200. 70 RGSt. 67, 385, 387; s. aber auch RG DJ 1938, S.2042; RGZ 145, 233 = JW 1935, S. 40, 41; BGH AnwBl. 1954, S.106. 71 BGH JR 1953, S.430; BGH v. 28.5.1954, 5 StR 241/54 (dazu s. Sarstedt, JR 1954, S. 392); ebenso wohl auch OLG Bremen NJW 1950, S. 395; s. ferner BGH (Z) NJW 1961,

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GASt. zunächst angegangene „falsche" Stelle das Schreiben noch rechtzeitig^) an die richtige Adresse weitergegeben haben sollte; die Nichterfüllung dieser fürsorgerischen Obliegenheit wird im Strafprozeß grundsätzlich stets einen Wiedereinsetzungsgrund abgeben72. bb) Oft wird indessen, sei es wegen der Flut eingehender Briefschaften oder wenn Briefe verschlossen weitergereicht werden73, die fehlerhafte Adressierung nicht erkannt; der Schriftsatz gelangt an die falsche Stelle und kommt von da in der Regel erst post festum an die richtige Instanz. Die bisherige Praxis hat hier überwiegend den fristwahrenden Eingang bei der GASt. verneint und den Einlieferer damit allemal auf den durchaus nicht stets erfolgreichen Wiedereinsetzungsantrag verwiesen74. Das Schrifttum ist demgegenüber, zumeist im Anschluß an Sarstedts Anmerkungen in J R 1954, S.391 und an Küpers Bemerkungen in J R 1976, S.29f., zumeist anderer Ansicht75. Auch in der strafgerichtlichen Rechtsprechung ist gelegentlich die Ansicht vertreten worden, daß die irrige Adressierung den fristwahrenden Eingang bei der GASt. nicht hindere76. cc) Trotz mancher Bedenken wird dennoch die abwehrende Auffassung der in Anm. 74 angeführten Praxis den Vorzug verdienen: Die GASt. ist - trotz BGH MDR 1960, S. 1001 = J R 1960, S.381 - nicht nur bloße Durchlaufstelle. Zum Zugang über sie gehört ebenso wie beim unmittelbar-persönlichen Empfang aus der Hand des Einlieferers und trotz der oben geschilderten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein entsprechender Willensakt des Beamten der GASt77. Als- Urkundsbeamter für alle angeschlossenen Stellen muß er sich entscheiden, ob er für diese oder jene tätig wird, welcher die eingegangene Sendung nun zugerechnet werden soll. Folgt er dabei, vorwerfbar oder nicht, der dem S. 361 = ZZP 74, S. 193 (m. Anm. Jauernig); L A G Berlin ArbuR 1962, S.90; unschlüssig s. B G H N J W 1951, S.71. Anders, aber unrichtig O L G Hamburg MDR I960, S.768 = AnwBl. 1960, S. 196 (m. Anm. Fromm). B G H MDR 1960, S. 1001 = J R 1960, S. 381 will ggf. darauf abstellen, ob die umdirigierte Schrift noch rechtzeitig beim zuständigen Gericht angelangt ist. 72 Vgl. jetzt zu einem ähnlichen Fall O L G Zweibrücken MDR 1982, S. 166. 73 Vgl. dazu B G H VersichR 1978, S.562; B F H BB 1975, S.406. 74 O L G Dresden J W 1930, S. 2081 ; BayObLGSt. 1974, S.141 = VRS 48, S.216 = J R 1976, S.26 (m. Anm. Küper)·, B G H MDR 1967, S.299; B G H N J W 1975, S.2294 = VersichR 1975, S. 1148; B G H VersichR 1977, S. 720; BAG N J W 1975, S. 184. 75 Vgl. etwa Gollwitzer L R 23. Aufl. 1977, § 314 Rdn. 3 Kleinknecht (Fn. 17), Vor § 42 Rdn. 11; anders aber Pikart KK, 1982, § 341 Rdn. 21 .Jauernig, ZZP 74, 202 will darauf abstellen, ob der Annahmebeamte den wirklichen Empfänger erkennen konnte. 76 KG J R 1955, S. 152; O L G Hamm JMB1NRW 1956, S.141; vielleicht auch O L G Bremen N J W 1950, S.395; s. ferner O V G Berlin J R 1952, S.372. 77 Vgl. RGSt. 67, 385, 387.

Über den Zugang strafprozessualer Willenserklärungen

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Absender zur Last fallenden falschen Anschrift, so ist das Schriftstück nur dieser falschen Stelle zugegangen. Der Gedanke, daß die Verfahrensbeteiligten die Rechtsmittelfristen voll ausschöpfen können, ändert daran nichts; er vermag überdies die Beteiligten nicht von der Beachtung wenigstens der Minimal-Sorgfalt zu befreien78. Bei strafprozessualen Rechtsmittelerklärungen braucht sich der Beschuldigte zudem ja nur an die ihm gegebene Belehrung (§ 35 a StPO) zu halten. dd) Ein soeben veröffentlichter Beschluß des Bundesgerichtshofs vom 30.9.1981 7 ' könnte in der Rechtsprechung zum falsch adressierten Schriftsatz einen Wandel ankündigen. Es heißt dort, zu einem allerdings recht absonderlichen Fall, unter anderem: „... Für welches der der Briefannahmestelle angeschlossenen Gerichte der entgegennehmende Beamte tätig werden wollte, ist nach der neuen Rechtsprechung (BVerfGE 52, 203; BGH BB 1981, S.581) nicht entscheidend, da es allein auf die vollzogene Ubergabe und nicht auf eine Mitwirkung des Gerichts in Form eines Annahmeakts ankommt." V. Es ließe sich noch manches über weitere Zweifelsfragen in der Lehre und Praxis des Zugangs strafprozessualer Willenserklärungen der Verfahrensbeteiligten sagen - sapienti sat! Eine Frage mag aber doch noch angeschlossen werden: ob man nämlich auch künftig bei schriftlichen prozessualen Erklärungen gegenüber Gerichten und Staatsanwaltschaften an dem überkommenen Erfordernis des fristgerechten Zugangs bei ebendieser Stelle festhalten soll79*. Ein guter Teil der oben geschilderten Probleme des rechtzeitigen Zugangs könnte aus der Welt geschafft werden, wenn für die Fristwahrung grundsätzlich auf den Poststempel des Absendetages abgestellt würde! Schwierigkeiten würden gewiß auch hier nicht ganz ausbleiben; ihre Zahl würde sich aber wesentlich verringern. Die schon im Ansatz abwehrende Äußerung des Bundesjustizministeriums in DRiZ 1978, S. 189 läßt hier freilich nicht allzu viel erhoffen80.

78 79

Vgl. BVerfGE 44, 27ff.; s. ferner B G H M D R 1969, S. 125. B G H VersichR 1981, S. 1182 = AnwBl. 1981, S . 4 9 9 ; s. dazu Lang, AnwBl. 1982,

S.62. 7 , 1 Das B a y O b L G hat jüngst ( M D R 1982, S.601) die oben ( F n . 7 4 ) geschilderte Rspr. aufgegeben: ein unrichtig adressiertes Schriftstück soll nunmehr auch dann mit seiner Einreichung bei der GASt. dem gichtigen' Empfänger zugehen, wenn es von der Einlaufstelle, der unrichtigen Adressierung entsprechend, an das unzuständige Gericht weitergeleitet werde. 80

Vgl. auch Oswald, D A R 1977, S . 3 2 0 ; Späth, VersichR 1975, S.16.

Überlegungen zur Bedeutung des Legalitätsprinzips im rechtsstaatlichen Strafverfahren KARL HEINZ GÖSSEL

I. Problemlage Meinungsäußerungen zum Legalitätsprinzip bewegen sich auf der ganzen Breite eines durch gegensätzliche Pole begrenzten Bandes. Wird es einerseits als unverzichtbare Säule eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens betrachtet 1 , als „einer der Marksteine, welche die Grenzlinie zwischen einer freiheitlichen Ordnung und einer totalitären Willkürherrschaft bezeichnen" 2 , so wird andererseits auf die „Gefahr der Uberbelastung der Rechtspflege" 5 durch eben dieses Prinzip, auf dessen anscheinende Aushöhlung 4 und Entzauberung 5 hingewiesen, der Verlust der „ursprüngliche(n) theoretische(n) Basis" geltend gemacht6 und schließlich ein „Grabgesang für das Legalitätsprinzip" 7 angestimmt. Wie häufig in Fällen dieser Art, wird die Vielfalt dieser Stellungnahmen begleitet von einer bemerkenswerten Uneinheitlichkeit der Meinungen über Herkunft, Bedeutung und auch Inhalt der Begriffe des Legalitätsprinzips und des dazu als gegensätzlich aufgefaßten Opportunitätsprinzips. Einigkeit besteht lediglich insoweit, als unter dem Legalitätsprinzip eine - wie auch immer geartete - staatliche Verpflichtung zur Verfolgung strafbarer Handlungen verstanden wird, während das dazu entgegengesetzte Opportunitätsprinzip die strafverfolgende Tätigkeit in ein mehr oder weniger gebundenes Belieben der Strafverfolgungsorgane stellt 8 . Ausgehend von diesem kleinsten gemeinschaftlichen Konsens sollen Inhalt und Bedeutung des Legalitätsprinzips im Lichte rechtsstaatlicher Erfordernisse kritisch beleuchtet werden.

1 Löwe-Rosenberg (LR) - Schäfer, Kommentar zur StPO und zum GVG, 23. Aufl., 1976 Einleitung Kapitel 13, Rdn.26. 2 Wtllms, JZ 1957, S.465. 3 Peters, Strafprozeß, 3. Aufl., 1981, S. 161. 4 Vgl. Grauhan, GA 1976, S.225, 238f. 5 Zipf, Peters-Festschrift 1974, S.487, 494. ' Roxin, Strafverfahrensrecht, 16. Aufl., 1980, S. 62 f. 7 Baumann, ZRP 1972, S.273; vgl. schon Serwe, Kriminalistik 1970, S.377. 8 Vgl. z . B . Kleinknecht, Kommentar zur StPO, 35.Aufl., 1981, § 1 5 2 Rdn. 1 und Schäfer (Fn. 1), Rdn. 27.

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II. Strafverfolgung als rechtsstaatlich gebundene staatliche Machtausübung Strafgewalt ist Staatsgewalt. Wird dies auch für den heutigen deutschen Strafprozeß allgemein anerkannt', so wird doch diese triviale Erkenntnis bei der Erörterung strafprozessualer Probleme immer noch zu wenig beachtet10. 1. Die Bedeutung

des Rechtsstaatsprinzips

für die

Strafverfolgung

a) In Art. 28 Abs. 1 GG ist niedergelegt, daß die gesamte staatliche Ordnung und damit auch der Teilbereich staatlicher Macht- und Gewaltausübung vom Rechtsstaatsprinzip getragen und zugleich beherrscht wird", und deshalb ist Risset zuzustimmen, der „das Rechtsstaatsprinzip als Organisationsprinzip des Strafprozesses" bezeichnet hat12. Damit erscheint es legitim, der Bedeutung und den Auswirkungen des Rechtsstaatsgedankens für das Legalitätsprinzip näher nachzugehen13. b) Wenn auch das „Rechtsstaatsprinzip" alles andere als eindeutig definiert ist, so sind doch gewisse Wesenselemente dieses Prinzips allgemein anerkannt, deren Berücksichtigung für die hier verfolgten Zwecke ausreicht. Formal bedeutet Rechtsstaat zunächst „Begrenzung staatlicher Macht" 14 durch das Gewaltenteilungsprinzip15, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz16, schließlich durch den Primat des Rechts und damit die Selbstbindung des Staates an die Rechtsordnung17, womit Vorhersehbar9 S. dazu meine Ausführungen in GA 1980, 325 nebst Nachweisen in Fn. 8 und in ZStW Bd. 94 (1982), S.8. 10 S. aber die diesen Aspekt ganz besonders berücksichtigende Monographie von Heyden, Begriff, Grundlagen und Verwirklichung des Legalitätsprinzips und des Opportunitätsprinzips, 1961. " Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 12. Aufl., (1980), S. 76. 12 Die verfassungsrechtliche Stellung des Rechtsanwalts..., Diss., Marburg 1980, S. 68. 13 Dabei wird natürlich nicht übersehen, daß das Rechtsstaatsprinzip nur ein wesentlicher Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung ist, die das Strafverfahren natürlich in ihrer Gesamtheit beeinflußt. Die weiter wesentlichen Elemente der republikanischen, föderativen, demokratischen und vor allem sozialen Staatsordnung müssen im Rahmen der vorliegenden Untersuchung außer Betracht bleiben und können dies auch, weil diese genannten Elemente in das Rechtsstaatsprinzip eingegangen sind und - cum grano salis nur über dieses wirken; näheres dazu in meinen Ausführungen in ZStW Bd. 94 (1982), S. 15 f. 14 Hesse ( F n . l l ) , S.78. 15 Hesse (Fn. 11); S. 79; Maunz, Deutsches Staatsrecht, 23. Aufl., (1980); S. 74. " BVerfGE 35, 382, 400. " Hesse ( F n . l l ) , S.79Í.

Überlegungen zur Bedeutung des Legalitätsprinzips

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keit und Meßbarkeit staatlichen Handelns wie auch dessen Kontrolle durch unabhängige Gerichte und damit zugleich Rechtssicherheit vorausgesetzt werden18. Darüber hinaus werden auch materiale Elemente des Rechtsstaatsprinzips allgemein anerkannt19: Unter anderem die in den Grundrechten getroffenen Wertentscheidungen20 und die Pflicht zur Erhaltung und Verwirklichung der Gerechtigkeit - und deshalb sprechen Maunz/Dürig/Herzog mit Recht vom Rechtsstaat als Gesetzesund zugleich Gerechtigkeitsstaat21. 2. Das Strafverfahren als rechtsstaatliches Verfahren Die Bindung staatlicher Gewalt an Gesetz und Gerechtigkeit hat in Art. 20 Abs. 3 G G ihren Ausdruck gefunden22 - wie dieser Verfassungssatz die gesamte staatliche Gewaltausübung bestimmt, so natürlich auch die strafverfolgende Gewalt. a) Daß aber diese Verpflichtung auf Gesetz und Gerechtigkeit die Rechtsstaatlichkeit des Strafverfahrens allein noch nicht sichern kann, lehrte bereits das Beispiel des gemeinrechtlichen Inquisitionsprozesses: Schon die Machtfülle des praktisch einzigen Strafverfolgungsorgans „Inquisitionsgericht" führte trotz der Verpflichtung auf die materielle Gerechtigkeit dazu, staatlichen Zweckmäßigkeitserwägungen hinsichtlich der Erhaltung und Erweiterung der staatlichen Macht im allgemeinen wie einer möglichst wirksamen Verbrechensverfolgung im besonderen den Vorzug gegenüber der Verwirklichung der Gerechtigkeit einzuräumen und dabei den Angeschuldigten zum bloßen Objekt der strafverfolgenden staatlichen Tätigkeit zu degradieren23. b) Wie das Gewaltenteilungsprinzip zur Uberwindung des jeder Gewaltanwendung immanenten Strebens nach unbeschränkter, lediglich an Zweckmäßigkeitserwägungen gebundener Machtausübung durch die Zerschlagung der einheitlichen Staatsgewalt in die einander kontrollierenden Teilgewalten der Legislative, Exekutive und Judikative führte, so auch die Zerschlagung des einheitlichen Strafverfahrens des gemeinrechtlichen Inquisitionsprozesses in mehrere Stadien unter der Herrschaft verschiedener und voneinander unabhängiger Verfahrenssubjekte24. Erst durch die Abtrennung der Ermittlungstätigkeit und der Initiative zur gerichtlichen Verfolgung strafbarer Handlungen von der aburteiMaunz, (Fn. 15), S. 75. " Hesse (Fn. 11), S. 79 ff. 20 Hesse ( F n . l l ) , S. 82ff. 21 Kommentar zum Grundgesetz, Art. 20, Rdn. 58 und 59. 22 Vgl. meine Ausführungen in GA 1980, S.331 m . w . N . 23 Näheres dazu in meinen Ausführungen in GA 1980, S. 326 ff. und ZStW Band 94 (1982), S. 10 ff., 13 ff. 24 Siehe dazu Herrmann in: Verhandlungen des 45. DJT, Band II D, S . D 4 1 , D 4 2 . 18

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lenden Tätigkeit selbst konnte es gelingen, in der Tätigkeit des nunmehr mit richterlicher Unabhängigkeit ausgestatteten Aburteilungsorgans „die Vorherrschaft der materiellen Gerechtigkeit über die Zweckmäßigkeit der Machtausübung sicherzustellen"25. III. Die Pflicht zur Strafverfolgung im rechtsstaatlichen Strafverfahren Nunmehr kann bereits versucht werden, das Legalitätsprinzip in seiner Beziehung zu rechtsstaatlicher Verfahrensweise zu untersuchen. Dabei allerdings sieht man sich einer unerwarteten Schwierigkeit gegenüber: Allzu oft wird der Begriff „Legalitätsprinzip" in unterstellter allgemeiner Einigkeit als fest umrissene und inhaltlich genau bestimmte Bezeichnung verwendet - leider aber zu unrecht. Dies macht eine Klärung notwendig. 1. Versuch einer Begriffsbestimmung des Legalitätsprinzips Zipf eröffnet dem Legalitätsprinzip wohl den weitesten Raum: Nach seiner Auffassung erfordert dieses Prinzip „die umfassende und lückenlose Erledigung der Kriminalität durch die staatlichen Verfolgungsorgane"26. Vergleicht man diese Begriffsbestimmung mit der gesetzlichen Vorschrift des § 152 Abs. 2 StPO, die nach allgemeiner Auffassung das Legalitätsprinzip als sogar strafbewehrte (§§ 258, 258 a StGB) Maxime der Strafverfolgung aufstellt27, so werden zwei grundsätzlich verschiedene Möglichkeiten zur Bestimmung des Legalitätsprinzips sichtbar. Es ist einmal möglich, die hier behandelte Maxime als reine Idee der Strafverfolgung und damit als abstrakten Allgemeinbegriff zu erfassen, zum anderen aber auch rein nominalistisch als eine ausschließlich durch das positive Gesetz bestimmte Regelung der Strafverfolgung28. a) Zipf formuliert das Legalitätsprinzip gleichsam in seiner idealen Reinheit. Ganz überwiegend dagegen werden allein die gesetzlichen Bestimmungen zur Definition der hier behandelten Maxime herangezogen: Nach dem Legalitätsprinzip sei die Staatsanwaltschaft gemäß § 152 Abs. 2 StPO verpflichtet, unter den dort genannten Voraussetzungen wegen aller verfolgbarer Straftaten einzuschreiten - und in §§ 160 und 170 Abs. 1 StPO werden Konkretisierungen dieser „Einschreitungspflicht" zur Sachverhaltserforschungs- (§ 160 StPO) und - unter be25

Siehe meine Ausführungen in G A 1980, S. 333. Peters-Festschrift 1974, S.487, 493. 27 Vgl. z.B. LR-Meyer-Goßner, (Fn. 1), § 152 Rdn.8. 28 Weitere Definitionsmöglichkeiten im Lichte der im Universialienstreit diskutierten Möglichkeiten - vgl. dazu z. B. Stegmüller (Hrsg.), Das Universalienproblem, 1978 sollen hier außer Betracht bleiben. 26

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stimmten Umständen - Anklageerhebungspflicht (§ 170 Abs. 1 StPO) erblickt 2 '. Die Diskrepanz ist offenkundig. Verlangt die Idee des Legalitätsprinzips gleichsam die „totale" Strafverfolgung, so erscheint die gesetzliche Regelung der §§ 152 Abs. 2, 160 und 170 Abs. 1 StPO nur mehr als eine verkümmerte Ausprägung dieses Prinzips: Seinem gesetzlichen Wortlaut nach allein die Staatsanwaltschaft verpflichtend 30 , an die Voraussetzung zureichender tatsächlicher Anhaltspunkte und, bei der Anklageerhebung, an „genügenden Anlaß zur Erhebung der öffentlichen Klage" gebunden und überdies durch beliebige gesetzliche Vorschriften einschränkbar. b) Damit ist zunächst der Frage nachzugehen, ob und in welchem Umfang rechtsstaatliche Erfordernisse die Bindung der Strafverfolgung an das Legalitätsprinzip gebieten. aa) Bedenkt man zunächst den formalen Aspekt des Rechtsstaatsgedankens 3 ', so führt die damit angesprochene Begrenzung der staatlichen Macht mit Heyden konsequent zum „Grundsatz der ausnahmslosen Anwendung der Rechtssätze" 32 : Die Selbstbindung des Staates an die Rechtsordnung erlaubt es nicht, die Anwendung der Gesetze in das Belieben der je betroffenen staatlichen Organe zu stellen. Damit aber scheint es notwendig, die Idee des Legalitätsprinzips möglichst vollständig i. S. der Definition von Zipf zu verwirklichen: Die einzelnen Straftatbestände und das materielle Strafrecht insgesamt machen regelmäßig33 die Verhängung strafrechtlicher Sanktionen zur Pflicht - und damit scheint es in der Tat geboten, eine Strafpflicht des Staates anzunehmen 34 , die konsequent gebietet, mit allen nur möglichen Mitteln Straftaten aufzuspüren und zu verfolgen. Der hier berücksichtigte formale Aspekt des Rechtsstaatsgedankens verlangt indessen lediglich die Anwendung und Durchführung der jeweiligen Rechtssätze ohne Rücksicht auf deren konkreten Inhalt. Gleiches gilt, wenn zusätzlich der Gedanke der demokratischen Legitimierung herangezogen wird, der die Durchsetzung des im Gesetz zum

29 Vgl. z . B . Geerds, Schröder-Gedächtnisschrift 1978, S.389; Heyden (Fn. 10), S.3; Lüttger, G A 1957, S. 193f.; Schroeder, Peters-Festschrift 1974, S.411, 413ff.; Weisend, Anklagepflicht und Ermessen 1978, S. 17; vgl. ferner die Dissertationen von Hertz, Die Geschichte des Legalitätsprinzips, Freiburg 1935, S. 1 und von Jeutter, Sinn und Grenzen des Legalitätsprinzips im Strafverfahren, München 1976, S. 6 f. 30 Mittermaier in: Aschrott, Reform des Strafprozesses, 1906, S. 148, 149. 51 O b e n II 1 b. 32 Fn. 10, S. 10. 33 Ausnahme z. B. § 60 StGB. 34 So z . B . v. Kries, Lehrbuch des Deutschen Strafprozeßrechts, 1892, S.267.

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Ausdruck kommenden Volkswillens verlangt55. Dem aber steht keineswegs entgegen, Rechtssätze zu erlassen und zu befolgen, welche die Pflicht zur Anwendung der materiellen Strafrechtssätze gleichsam entgegengesetzt bis hin zur Aufhebung beschränken. Der Grundsatz der gesetzlichen Bindung und die daraus folgende Verpflichtung aller staatlichen Stellen zur ausnahmslosen Anwendung der Rechtssätze zwingt nur zur Beachtung des Legalitätsprinzips insoweit, als es gesetzlich ausgeformt ist und ebenso zur Beachtung aller gesetzlich vorgesehenen Ausnahmen. Ein Gesetz, das die Strafverfolgung in das - rechtsstaatlich gebundene - Ermessen der Strafverfolgungsbehörden stellen würde, wäre demgemäß mit der Verpflichtung zum ausnahmslos gesetzmäßigen Handeln ebenso vereinbar, wie eine dem Legalitätsprinzip entsprechende Strafverfolgungspflicht36. bb) Es sind - natürlich - allein die materialen Aspekte des Rechtsstaatsprinzips, die es erlauben, den Inhalt konkreter Rechtsregeln zu überprüfen. Und so soll jetzt gefragt werden, ob das auf die Verwirklichung der materialen Gerechtigkeit zielende Element des Rechtsstaatsgedankens zur Bejahung einer staatlichen Strafverfolgungspflicht führt, und, wenn ja, in welchem Umfang. Früher wurde vielfach eine vollständige und lückenlose Strafverfolgung i. S. eines idealen Legalitätsprinzips verlangt. Birkmeyer etwa vertrat die Auffassung, die Straftat stelle „einen Bruch der Rechtsordnung selbst dar"37; weil „die Gerechtigkeit . . . im öffentlichen Interesse Sühne . . . durch Bestrafung des Verbrechers" verlange, erwachse dem Staat ein Strafanspruch38, den er „um der Gerechtigkeit willen" auch zu verfolgen verpflichtet und der „seiner freien Disposition entzogen" sei39. Wenn auch eine solche Vorstellung von „Gerechtigkeit" gewiß möglich ist, so erscheint es doch mehr als fraglich, ob das Rechtsstaatsprinzip des geltenden Staatsrechts diese Gerechtigkeitsvorstellung beinhaltet und also das Staatsrecht demgemäß zu einer ausnahmslosen und allumfassenden Strafverfolgung zwingt. Dabei ist trotz der sich hier aufdrängenden trivialen Feststellung der prinzipiellen Unerkennbarkeit von „Gerechtigkeit" zu bedenken, daß nicht nach der Gerechtigkeit schlechthin gefragt ist, sondern nach der vom Rechtsstaatsprinzip des geltenden Staatsrechts verlangten Gerechtigkeitsvorstellung. Daraus erhellt zunächst, daß die Gerechtigkeitsvorstellungen bestimmter sogenannter Straftheorien leHeyden, (Fn. 10), S . l l . Ebenso schon Jahrreiß, Lange-Festschrift 1976, S. 765, 774\ s. ferner (Fn. 29), S. 67; anders wohl Heyden (Fn. 10), S. 13. 37 Deutsches Strafprozeßrecht 1898, S.64. 38 Fn. 37, S. 63. 39 Fn.37, S.64; weitere Nachweise bei Weigend (Fn.29), S.65. 35 36

Weigend

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diglich mit einer staatsrechtlichen Gerechtigkeitsidee übereinstimmen können, zur Beantwortung der hier gestellten Frage aber untauglich sind40: Insoweit wird Mittermaiers rigorose Auffassung verständlich, demzufolge das Legalitätsprinzip „mit dem Strafrecht . . . gar nichts zu tun" hat41. Wenn der Problematik des verfassungsrechtlich bedeutsamen Gerechtigkeitsbegriffs hier auch nicht annähernd vollständig nachgegangen werden kann, so ist doch allgemein anerkannt, daß der in Art. 3 G G normierte Gleichheitssatz ein wesentliches Element der materiellen Gerechtigkeit darstellt - und deshalb soll hier mit der überwiegenden Meinung im strafrechtlichen Schrifttum die Frage nach der „gerechten" Strafverfolgung im Rahmen des Legalitätsprinzips auf die Frage nach der Gleichheit der Rechtsunterworfenen i. S. d. Art. 3 G G hinsichtlich der Strafverfolgung eingeschränkt werden42. Der sich erneut aufdrängenden trivialen Erkenntnis von der prinzipiellen Unerkennbarkeit diesmal des Gegenstandes „Gleichheit", muß auch hier der Hinweis auf die vom Grundgesetz in Art. 3 verlangte Wahrung der Gleichheit entgegengehalten werden - und hier ist allgemein anerkannt, daß „der Gleichheitssatz nur" verbietet, „daß wesentlich Gleiches ungleich... behandelt wird. Der Gleichheitssatz ist verletzt, wenn sich ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonstwie sachlich einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenz oder Gleichbehandlung nicht finden läßt, kurzum, wenn die Bestimmung als willkürlich bezeichnet werden muß" 43 . Damit aber kann die gestellte Frage bereits beantwortet werden: Die vom Rechtsstaatsprinzip geforderte Wahrung und Verwirklichung der materialen Gerechtigkeit in ihrer Einschränkung auf die Wahrung des Gleichheitssatzes verlangt nicht etwa die ausnahmslose und umfassende Verfolgung aller Straftaten, verbietet es vielmehr nur, die Entscheidungen über die Verfolgung von Straftaten willkürlich zu treffen 44 . Damit aber wird der Staat durch seine Verpflichtung auf die materielle 40 Auf die weitere Frage, ob die sogenannten Vergeltungslehren mit Recht als absolute Straftheorien bezeichnet werden, und ob sie in der Tat samt und sonders zu der oben dargelegten Auffassung von Birkmeyer führen, kommt es damit gar nicht mehr an (vgl. aber z.B. Roxin - Fn.6, S.62 - ) . Diese Frage ist freilich zu verneinen, vgl. dazu Gössel, Über die Bedeutung des Irrtums im Strafrecht I, 1974, z.B. S. 178ff., 183ff., 208ff. 41 In: Aschrott, (Fn.30), S. 148, 149. 42 Ebenso schon Jahrreiß, (Fn.36), S.774; Willms, JZ 1957, S.465; für Gleicheit i.S. der zuteilenden Gerechtigkeit sprechen sich aus Geerds, SchlHA 1964, S.57, 58 und Schmidhäuser, J Z 1973, S.529, 530; vgl. ferner Peters (Fn.3), S.158 und Grauhan, GA 1976, S. 225, 238, die aber Gleichbehandlung und Gerechtigkeit als selbständige Begriffe nebeneinander stellen. 43 BVerfGE 1, 14, Í2; ständige Rechtsprechung; zustimmend Hesse (Fn. 11), S. 178; ebenso Maunz (Fn. 15), S. 145. 44 Vgl. ζ. B. Willms; Peters; Grauhan und Jahrreiß wie Fn. 42.

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Gerechtigkeit keinesfalls dazu gezwungen, bei der Strafverfolgung das Legalitätsprinzip zugrundezulegen. Vielmehr steht es dem Gesetzgeber frei, die strafverfolgende staatliche Tätigkeit in differenzierender Weise zu regeln, soweit die je gewählte Differenzierung an sachgerechten Gesichtspunkten orientiert ist und das Willkürverbot beachtet45. cc) Unter Verbindung des formalen rechtsstaatlichen Aspekts der Gesetzesgebundenheit mit dem material-rechtsstaatlichen Aspekt der inhaltlichen Ausrichtung des staatlichen Handelns am Maßstab der Gerechtigkeit hat das BVerfG anerkannt, daß „die Idee der Gerechtigkeit" neben der Beachtung des Gleichheitssatzes „auch die Aufrechterhaltung einer funktionstüchtigen Rechtspflege" verlangt, „ohne die der Gerechtigkeit nicht zum Durchbruch verholfen werden kann"46. Ausdrücklich und eindeutig wird diese Pflicht in einer späteren Entscheidung konkretisiert: „Der Rechtsstaat kann sich nur verwirklichen, wenn sichergestellt ist, daß Straftäter im Rahmen der geltenden Gesetze verfolgt, abgeurteilt und einer gerechten Bestrafung zugeführt werden . . . das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, die Pflicht des Staates, die Sicherheit seiner Bürger und deren Vertrauen in die Funktionsfähigkeit der staatlichen Institutionen zu schützen, und der Anspruch aller in Strafverfahren Beschuldigter auf Gleichbehandlung erfordern vielmehr grundsätzlich, daß der Strafanspruch durchgesetzt" wird47. Damit hat das BVerfG eine besondere Verpflichtung des Staates anerkannt, „durch seine Organe auf justizförmigem Wege zu untersuchen und zu entscheiden, ob und in welchem Maße Strafbarkeit wegen eines Verbrechens besteht" - eine Verpflichtung, die Henkel als „Justizgewährungspflicht" beschreibt und die er anschaulich und mit Recht als Ergebnis der grundsätzlichen Übernahme der früher privaten strafverfolgenden Tätigkeit durch den Staat beschreibt: das vom Staat „übernommene Strafrecht enthält als Korrelat die Justizgewährungsp/ZzcÄi"48. Eine so verstandene Justizgewährungspflicht wurzelt damit in der vom Rechtsstaatsprinzip verlangten Aufrechterhaltung einer funktionstüchtigen Rechtspflege49.

45 I.Erg, ebenso Weigend (Fn.29), S. 76 und Zipf (Fn. 5), S.498; Grauhan, GA 1976, S.225, 238; s. auch Jung, Straffreiheit für den Kronzeugen? 1974, S.61. 46 BVerfGE 33, 367, 383 m. w . N . ; a.A. Grünwald, J Z 1976, S.773, dagegen die weit überwiegende Meinung, vgl. z . B . Rieß, NStZ 1981, S.2, J und Gössel, ZStW Band 94 (1982), S. 26 f. 47 BVerfGE 46, 214, 222f. 4S Strafverfahrensrecht, 2. Aufl., 1968, S.15. 49 Soweit Eb. Schmidt, Lehrbuchkommentar zur StPO und zum GVG, Teil I, 1964 Rdn. 16 f., 385 f. die Justizgewährungspflicht aus dem Grundrecht auf Gewährung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) herleitet, ist zu bedenken, daß dieses Grundrecht erst wirksam werden kann, nachdem den Rechtsunterworfenen z . B . über Art. 19 Abs.4 GG der Zugang und den Gerichten bereits eröffnet ist: Niemand hat Anspruch darauf,

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Jetzt endlich erlaubt der Rechtsstaatsgedanke eine erste Aussage zum Legalitätsprinzip. Der Grundsatz der Aufrechterhaltung einer funktionstüchtigen Rechtspflege verpflichtet alle staatliche Gewalt insoweit auf das Legalitätsprinzip, als der Strafanspruch grundsätzlich durchzusetzen ist50. Indessen erkennt das BVerfG, worauf schon die Verwendung des Wortes „grundsätzlich" aufmerksam macht, „eine Reihe festumgrenzter Ausnahmen" an, „die dem Staat unter bestimmten Umständen ein Absehen von der weiteren Strafverfolgung vorschreiben oder gestatten" 51 . Und solche Ausnahmen hatte das BVerfG schon früher nach dem „Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zwischen Mittel und Zweck" 5 2 anerkannt, ein Prinzip, welches als Bestandteil der ausgleichenden materiellen Gerechtigkeit im Rechtsstaatsprinzip selbst wurzelt53. Damit aber steht fest: Das Rechtsstaatsprinzip zwingt den Staat grundsätzlich, wenn auch nicht ausnahmslos, zur Verfolgung strafbarer Handlungen, weshalb das Legalitätsprinzip in der Tat als ein Erfordernis rechtsstaatlicher Verfahrensweise anzuerkennen ist54. Nunmehr läßt sich auch die Ausgangsfrage 55 beantworten. Die strafverfolgende Tätigkeit des Staates hat sich einmal als durchaus abhängig von rechtsstaatlichen Erfordernissen erwiesen. Zum anderen führt der rechtssaatliche Grundz. B. sich mit seinem Begehren auf Strafverfolgung direkt an die Gerichte zu wenden. Entsprechendes gilt, soweit in der „formelle(n) Justizverweigerung" eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) gesehen wird (vgl. BVerfGE 3, 359, 364). Im übrigen sind auch Art. 101 und 103 GG Merkmale des Rechtsstaatsprinzips. 50 Vgl. BVerfGE 46, 214, 222f. 51 BVerfGE 46, 214, 223. 52 BVerfGE 16, 194, 202. 53 S. dazu Holzlöhner, Die Grundsätze der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit als Prinzipien des Strafverfahrens, Diss. Kiel 1968, S. 119ff.; Witt, Verhältnismäßigkeitsgrundsatz . . . , Diss. Mainz 1968, S.57; ferner BVerfGE 19, 342, 348f.; Schultz/Leppin, Jura 1981, S.521, S29ff. 54 Dabei wird nicht übersehen, daß eine Reihe von Staaten mit langer, noch heute bestehender rechtsstaatlicher Tradition wie etwa die Niederlande und die USA sich dem Opportunitätsprinzip verschrieben haben (vgl. nur Weigend - Fn. 29 - S. 14). Wollte man aber allein schon deshalb die Herleitung des Legalitätsprinzips aus dem Rechtsstaatsprinzip verneinen, so würde die Diskussion unangemessen beschränkt und verkürzt. Im übrigen ist zu bedenken, daß die Erfahrungen des Auslandes mit dem Opportunitätsprinzip nicht durchwegs positiv sind (s. nur für die Niederlande Weigend, aaO S. 91 f.) und das überdies die Frage schließlich nicht verwehrt sein darf, ob nicht auch in Staaten mit unbezweifelbar rechtsstaatlicher Organisation sich in Einzelfällen rechtsstaatswidrige Elemente finden - der „Handel" etwa über Ob und Wie der Anklage in den USA legt diese Frage zumindest nahe. Im übrigen wäre darüber hinaus zu klären, ob nicht bei genauerer Betrachtung die Anerkennung des Opportunitätsprinzips in ausländischen Rechtsordnungen der Sache nach doch die Anerkennung einer Verfolgungspflicht enthält. 55

Oben III 1 b, vor aa.

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satz der Aufrechterhaltung einer funktionstüchtigen Rechtspflege zwar zu einer Pflicht zur Strafverfolgung, die jedoch nicht ausnahmslos i. S. eines idealen Legalitätsprinzips besteht: Der ebenfalls im Rechtsstaatsprinzip wurzelnde Grundsatz der Verhältnismäßigkeit läßt Ausnahmen zu. Deshalb ist der Gesetzgeber grundsätzlich frei, Umfang und Inhalt des Legalitätsprinzips zu regeln, und es erscheint deshalb sinnvoll, die derzeitige gesetzliche Ausformung des Legalitätsprinzips kritisch zu würdigen. c) Damit läßt sich feststellen: grundsätzlich kann das Legalitätsprinzip sowohl als ausnahmslose Verpflichtung zur allumfassenden Strafverfolgung definiert werden als auch als bloße grundsätzliche Verfolgungspflicht, die Ausnahmen zuläßt und anerkennt. Im Hinblick darauf, daß das rechtsstaatliche Verhältnismäßigkeitsprinzip Ausnahmen vom Verfolgungszwang gestattet und möglicherweise sogar gebietet, empfiehlt es sich, das Legalitätsprinzip als eine grundsätzliche, Ausnahmen zugängliche allgemeine Verpflichtung der Staatsgewalt zur Verfolgung strafbarer Handlungen zu bestimmen. Vor einem Definitionsversuch ist indessen ein weiterer Gedanke zu berücksichtigen. Ist die Staatsgewalt wegen des rechtsstaatlichen Grundsatzes der Aufrechterhaltung einer funktionstüchtigen Rechtspflege zur Durchsetzung des Strafanspruchs verpflichtet 56 , so gilt dies natürlich für die gesamte strafverfolgende Tätigkeit von der Ermittlung bis hin zur Strafvollstreckung 57 - und ebenso sind Ausnahmen von dieser grundsätzlichen Durchsetzungspflicht während der gesamten Strafverfolgung zulässig. Dies erlaubt eine Präzisierung des Inhalts des Legalitätsprinzips: es erfaßt die Strafverfolgung von der Ermittlung strafbarer Handlungen über deren Aburteilung bis hin zur Vollstreckung der deswegen ausgesprochenen Sanktionen und der endgültigen Erledigung unter Einschluß etwaiger Wiederaufnahmeverfahren. Demnach soll im folgenden unter Legalitätsprinzip die grundsätzliche Verpflichtung der Staatsgewalt zur Verfolgung strafbarer Handlungen während der gesamten Dauer des Strafverfahrens einschließlich etwaiger Wiederaufnahmeverfahren verstanden werden. 2. Das Legalitätsprinzip de lege lata Erfaßt das Legalitätsprinzip die gesamte strafverfolgende Tätigkeit der Staatsgewalt, so ist bei der Betrachtung und Beurteilung der gesetzlichen Ausformung des Legalitätsprinzips die dem Gewaltenteilungsprinzip entsprechende Aufteilung der Strafgewalt zu beachten, hier also insbesondere die Abtrennung der der Rechtsprechung i. S. des Art. 92 G G 56 57

Oben III lbcc. BVerfGE 46, 214, 222f.

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zugehörigen aburteilenden gerichtlichen Tätigkeit von der Tätigkeit der Staatsanwaltschaft, der neben ihrem Ermittlungsauftrag insbesondere abgesehen von der Privatklage - die Initiative zur Auslösung der gerichtlichen Tätigkeit durch die Anklage in allen ihren Formen übertragen ist58. a) Für die Tätigkeit der Staatsanwaltschaft ist die grundsätzliche Pflicht zur Durchsetzung des Strafanspruchs vornehmlich in § 152 Abs. 2 und in § 170 Abs. 1 StPO niedergelegt, darüber hinaus als generelle Ermittlungspflicht in § 160 StPO, die durch spezielle Ermächtigungen zur Vornahme bestimmter Ermittlungshandlungen z.B. in § 100 StPO flankiert wird59. aa) Die in § 152 Abs. 2 StPO normierte Pflicht der Staatsanwaltschaft, „wegen aller verfolgbaren Straftaten einzuschreiten", ist in den §§ 160 Abs. 1 und 170 Abs. 1 StPO näher konkretisiert: Einmal als Pflicht zur Sachverhaltserforschung, zum anderen als Pflicht zur Ausübung ihres durch die Anklage auszuübenden Initiativrechtes zur Auslösung der gerichtlichen Strafverfolgung 60 . Damit aber ist die strafverfolgende Tätigkeit der Staatsanwaltschaft noch nicht ausreichend bestimmt. Wenn auch die Verfahrensherrschaft mit der Anklageerhebung von der Staatsanwaltschaft auf das Gericht übergeht, so dauert doch die Ermittlungspflicht noch während des gerichtlichen Verfahrens an und kann sogar dessen rechtskräftigen Abschluß etwa hinsichtlich der Durchführung von Wiederaufnahmeverfahren überdauern" - und überdies ist die Staatsanwaltschaft zur Durchsetzung des Strafanspruchs zur Vertretung der Anklage im gerichtlichen Verfahren wie auch u. U. zur Einlegung von Rechtsmitteln verpflichtet 62 . Von dieser so ihrem Inhalt nach bestimmten Verfolgungspflicht allerdings statuiert das Gesetz selbst nicht unerhebliche Ausnahmen. bb) Die in § 152 Abs. 2 StPO normierte Einschreitenspflicht ist zunächst an das Vorliegen „zureichende(r) tatsächliche(r) Anhaltspunkte" geknüpft: Die Staatsanwaltschaft ist damit also keineswegs zu einer etwaigen Dunkelfelderforschung 62 oder sonst zur Nachforschung nach solchen Tatsachen verpflichtet, die sie zu einem Einschreiten nach § 152 Abs. 2 StPO berechtigen würde 63 . Die Verfolgungspflicht der Staatsan58

S. dazu Gössel, G A 1980, S.325, 333f. Vgl. Schroeder (Fn. 29), S. 413 f. 60 Vgl. z.B. Schroeder (Fn.29), S.413; Weigend (Fn.29), S.17; Lüttger, GA 1957, S. 193; s. auch im übrigen Fn.29. " Vgl. dazu KMR-Müller, Kommentar zur StPO, 7. Aufl., § 161 R d n . l und Gössel, Strafverfahrensrecht 1977, S. 116. 62 Ebenso: Peters (Fn. 3), S. 161 f.; vgl. aber ζ. B. Zipf (Fn. 5), S. 489. u Vgl. dazu die geschichtlichen Beispiele bei Weigend (Fn. 29), S. 25. 59

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waltschaft setzt erst ein, wenn ihr tatsächliche Umstände positiv bekannt sind, die Anhaltspunkte dafür bieten, daß Straftaten begangen wurden. Dabei hat die Staatsanwaltschaft aus der Natur der Sache einen - ersten Entscheidungsspielraum: O b die ihr bekannten Tatsachen zureichende Anhaltspunkte für die Begehung einer verfolgbaren Straftat darstellen, ist allein ihrer Beurteilung überlassen. Entsprechendes gilt für die Anklagepflicht gemäß § 170 StPO. Diese Pflicht besteht nur, wenn die Staatsanwaltschaft zu der Auffassung gelangt, daß die durchgeführten Ermittlungen „genügenden Anlaß zur Erhebung der öffentlichen Klage" bieten - und es obliegt allein ihr, diese Frage mit der Folge der Anklagepflicht zu bejahen oder aber mit der in §170 Abs. 2 StPO vorgesehenen Einstellung zu verneinen. cc) Die Einschreitenspflicht bezieht sich ferner nur auf verfolgbare Straftaten: Auch hier obliegt es der Beurteilung der Staatsanwaltschaft, die Verfolgbarkeit etwa unter dem Gesichtspunkt der Immunität oder des Fehlens von Verfahrensvoraussetzungen wie z. B. eines Strafantrags zu beurteilen. dd) Die wohl nachhaltigste Einschränkung der Verfolgungspflicht normiert das Gesetz insoweit, als § 152 Abs. 2 Satz 1 StPO gesetzliche Ausnahmen von der Verfolgungspflicht zuläßt. Eine weitgehende Ausnahme enthält zunächst § 376 i. V. m. § 377 Abs. 1 StPO: Bei Privatklagedelikten besteht eine Anklagepflicht nur in den Fällen, in denen ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung besteht, im übrigen aber nicht - und zu einer Mitwirkung in einem Privatklageverfahren, das vom Privatkläger initiiert wurde, ist die Staatsanwaltschaft lediglich berechtigt, nicht aber verpflichtet. Hinsichtlich der Mitwirkung steht der Staatsanwaltschaft damit ein gesetzlich nicht näher bestimmter Entscheidungsspielraum zu, während ihr hinsichtlich der Anklagepflicht ein Entscheidungsspielraum hinsichtlich des Vorliegens des öffentlichen Interesses eingeräumt ist: Erst wenn die Staatsanwaltschaft dieses Interesse bejaht, ist sie zur Anklageerhebung verpflichtet". Entsprechendes gilt in den Fällen jener Antragsdelikte, in denen das Fehlen eines Strafantrags des Verletzten durch die Erklärung der Staatsanwaltschaft über das Bestehen eines besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung ersetzt werden kann (z. B. § 232 StGB). Als letzte Gruppe gesetzlicher Einschränkungen des Legalitätsprinzips sind schließlich die Einstellungsmöglichkeiten der §§ 153 ff. StPO zu erwähnen, in denen der Staatsanwaltschaft unter bestimmten gesetzlich festgelegten Voraussetzungen ein Entscheidungsspielraum zuerkannt wird, ob sie die Strafverfolgung weiter betreiben will oder nicht. M

Vgl. Görcke, ZStW Band 73 (1961); S.561, 573.

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b) Es liegt nahe, aufgrund des § 163 StPO auch die Polizei zur Ermittlung strafbarer Handlungen für verpflichtet zu halten65. Hier ist jedoch eine Präzisierung notwendig: § 163 StPO räumt der Polizei nach weit überwiegender Auffassung lediglich eine Eilzuständigkeit ein, die indessen die allgemeine Ermittlungszuständigkeit der Staatsanwaltschaft unberührt läßt: Auch in den Fällen des § 163 StPO bleibt die Staatsanwaltschaft Herrin des Ermittlungsverfahrens, wie sich aus § 163 Abs. 2 StPO ergibt". Daraus folgt, daß die für die Staatsanwaltschaft bestehende Ermittlungspflicht in der Tat, wenn auch nur mittelbar in abgeleiteter Form, auch für die Polizei gilt. Trotz dieser mittelbaren Geltung ist die Polizei damit in weit größerem Maße der Verfolgungspflicht unterworfen 67 , als der Staatsanwalt. Die oben (2add) erwähnten Ausnahmen gelten nur für die Staatsanwaltschaft, so daß die Polizei nicht etwa unter dem Gesichtspunkt der §§ 376, 153 ff. StPO von der Ermittlung strafbarer Handlungen absehen darf. Gleiches gilt für die Verfolgbarkeit strafbarer Handlungen: Die Polizei hat ihre Ermittlungen zwar auf die für die Verfolgbarkeit maßgebenden Umstände mit zu erstrecken, muß aber die Entscheidungen über die Verfolgbarkeit der Staatsanwaltschaft überlassen, die allein das Recht hat, wegen mangelnder Verfolgbarkeit das Verfahren (§170 Abs. 2 StPO) und die Ermittlungshandlungen einzustellen. Gänzlich ohne Entscheidungsspielraum ist die Polizei allerdings nicht: O b eine erforschungsfähige Straftat i. S. des §163 Abs. 1 StPO vorliegt, ist der Beurteilung der Polizei überlassen, deren Uberprüfung durch die Staatsanwaltschaft allerdings gemäß § 163 Abs. 2 StPO de iure (wenn auch kaum de facto) sichergestellt ist: Gerade hier überschreiten die Polizeibehörden nicht selten ihre Grenzen. Ohne die Staatsanwaltschaften auch nur zu unterrichten, werden angezeigte Straftaten von Kindern und „amtsbekannt" schuldunfähigen Personen (selbst bei Raub! - im übrigen aber abgesehen von Kapitalverbrechen) nicht aufgeklärt und - z.T. unter Verkennung der §§ 413 ff. StPO - die Aufnahme von Strafanzeigen mit der Bemerkung verweigert, bei der Strafverfolgung komme „doch nichts heraus". c) Die gerichtliche Verfolgungspflicht ist einmal in § 155 Abs. 2 StPO hinsichtlich der angeklagten Tat und der angeklagten Personen ausdrücklich festgelegt, zum andern in der gerichtlichen Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) hinsichtlich der in der Anklage bezeichneten Tat nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung (§ 264 StPO). 65 Vgl. dazu Mittermaier in Aschrott (Fn.30), S. 154; Geerds, schrift 1978, S. 389 m . w . N . " Näheres dazu bei Gössel, G A 1980, S.325, 345 f . 67 Vgl. dazu Weigend (Fn.29), S.41 ff.

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aa) Die gerichtliche Verfolgung ist zunächst allgemein daran gebunden, daß die Beschuldigten „einer Straftat hinreichend verdächtig" erscheinen (§ 203 StPO). Diese auch im Privatklageverfahren sich auswirkende Regel (§ 383 Abs. 1 StPO) eröffnet dem Gericht einen ähnlichen Entscheidungsspielraum wie § 152 Abs. 2 StPO der Staatsanwaltschaft: Ob der von der Staatsanwaltschaft (dem Privatkläger) vorgelegte Sachverhalt einen hinreichenden Verdacht einer Straftat begründet, obliegt der Beurteilung des Gerichts, die allerdings im Rechtsmittelweg ( § 2 1 0 Abs. 2, § 383 Abs. 2 Satz 2 StPO, im übrigen mit Berufung und Revision) überprüfbar ist. bb) Darüber hinaus bestehen auch hier Ausnahmen von der Verfolgungspflicht. Zunächst sind die Vorschriften zu erwähnen, in denen schon das materielle Strafrecht (z.B. wegen Rücktritts vom Versuch nach § 24 StGB) eine Strafbarkeit entfallen läßt und damit eine Verfolgungspflicht i. S. einer Verurteilung gar nicht erst auslöst. Aber auch sonst kann das Gericht aufgrund einer ihm überlassenen Beurteilung z. B. wegen der den Täter treffenden Folgen der Straftat gemäß § 60 StGB von Strafe absehen, aber auch Verfahrenshindernisse oder "Voraussetzungen als gegeben oder fehlend beurteilen und das Verfahren deshalb (§§ 206 a, 260 Abs. 3 StPO) einstellen. cc) Endlich sind auch hier die §§ 153 ff. StPO zu nennen, die in einigen Fällen auch dem Gericht unter bestimmten gesetzlich festgelegten Voraussetzungen einen Entscheidungsspielraum bezüglich der Weiterverfolgung oder aber der Einstellung des Verfahrens einräumen. IV. Das Legalitätsprinzip de lege lata im Lichte des Rechtsstaatsprinzips Eine kritische Betrachtung der soeben unter III 2 dargelegten gesetzlichen Ausformung des Legalitätsprinzips im oben III 1 c dargelegten Sinne am Maßstab des Rechtsstaatsprinzips muß sich hier schon aus Raumgründen auf einige wenige Punkte beschränken. Dabei soll insbesondere bedacht werden, daß den jeweiligen strafverfolgenden staatlichen Stellen ein mehr oder weniger an gesetzliche Kriterien gebundener Entscheidungsspielraum darüber eingeräumt ist, ob und in welcher Weise die Strafverfolgung betrieben werden soll68. 1. Legalitätsprinzip und Gewaltenteilungsgrundsatz Wie an anderer Stelle ausführlich dargelegt, gehört die Strafrechtspflege im weitesten Sinne allen drei Teilbereichen der staatlichen Gewalt zu: Hinsichtlich gesetzlicher Normen auf dem Gebiete des gesamten Straf68

S.o. III 2 a bb, cc, dd; III 2b; III 2c aa, bb, cc.

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rechts einschließlich des Strafverfahrensrechts der Legislative, bezüglich der aburteilenden gerichtlichen Tätigkeit der Judikative und im übrigen beim Vollzug der vom Gesetzgeber erlassenen Normen der Exekutive". Diese inhaltliche Aufteilung ist formell u.a. dadurch abgesichert, daß innerhalb des Verfahrens mit der ermittelnden und der aburteilenden strafverfolgenden Tätigkeit zwei verschiedene Stadien unter der Herrschaft zweier voneinander verschiedener und auch unabhängiger Organe existieren: Die ermittelnde als der Exekutive zugehörige, auch polizeiliche, Tätigkeit unter der Herrschaft der Staatsanwaltschaft, und die aburteilende, als der Judikative zugehörige richterliche Tätigkeit70. Wird nun bedacht, daß das Gewaltenteilungsprinzip den hervorragenden Zweck hat, durch die Einrichtung einander hemmender und gegenseitig kontrollierender Teilgewalten das „jeder Gewaltausübung immanente Streben nach unbeschränkter" und letztlich willkürlicher Machtausübung möglichst weitgehend zu verhindern71, so läßt sich eine erste wesentliche Frage wie folgt stellen: Beachtet die gesetzliche Ausgestaltung des Legalitätsprinzips den Grundsatz der Gewaltenteilung auch in der Organisation des Strafverfahrens? Aus der Fülle der hier denkbaren Unterfragen seien hier nur einige wenige zur Diskussion gestellt. a) Zunächst sei an die triviale und allgemein anerkannte Erkenntnis erinnert, daß die Strafbarkeit eines bestimmten Verhaltens von dessen strafrechtlicher Verfolgung zu unterscheiden ist. Daraus allerdings ergibt sich eine wesentliche Konsequenz: Weil Art. 103 Abs. 2 G G und § 1 StGB zwingend die g e s e t z l i c h e Festlegung der Strafbarkeit verlangen, können weder Staatsanwaltschaft und Polizei noch die Gerichte bei ihrer strafverfolgenden Tätigkeit die Strafbarkeit eines bestimmten „Verhaltens in der sozialen Wirklichkeit" festlegen72. Mag daraus auch grundsätzlich der Vorbehalt des materiellen Rechts für die Festlegung der Strafbarkeit selbst gefordert werden73, so zwingt dies aber keineswegs dazu, Ausnahmen von der grundsätzlichen Strafverfolgungspflicht nur im Prozeßrecht und nur unter strikter Außerachtlassung materiellrechtlicher Kriterien zu statuieren74. Hier ist insbesondere zu bedenken, daß z.B. die Fälle der Einstellung nach §§ 153ff. StPO „an die Regelungsfunktion des materiellen Rechts" angrenzen75, darüber hinaus „in " Gössel, G A 1980, S.325, 333. 70 Gössel (Fn. 69), S. 333 ff. und 336. 71 Gössel (Fn. 69), S. 333 ff. 72 Rieß, NStZ 1981, S.2, 4 f . 73 Rieß, NStZ 1981, S. 5. 74 Vgl. zu dieser Problematik ζ. B. einerseits Heinitz, Rittler-Festschrift 1957, S. 327f., andererseits Naucke, Maurach-Festschrift 1972, S. 197, insbes. S. 204 ff. 75 Volk, Prozeßvoraussetzungen im Strafrecht, 1978, S.261.

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zunehmendem Maß die Austauschbarkeit materiellrechtlicher und prozessualer Regelungen erwogen"76 und die strikte Trennung von materiellem und formellem Recht verneint wird77. Es muß dem Gesetzgeber überlassen bleiben, ob er die Einschränkung des Legalitätsprinzips im hier definierten Sinne durch eine generelle Einschränkung der materiellrechtlichen Strafbarkeitsbestimmungen erreichen will oder aber durch generelle Einschränkung der Verfolgung der nach materiellem Recht strafbaren Handlungen. Das gilt auch hinsichtlich des Begriffs „geringe Schuld" in §§ 153, 153 a StPO78. Wenn auch die Schuld Verbrechensvoraussetzung ist, so doch gewiß nicht ein irgendwie geartetes Mindestquantum derselben. Wie das Ausmaß der Schuld außerhalb der Rechtsfolgei>ora«sse£ZH«ge» gemäß § 46 StGB bei der Strafzumessung zu berücksichtigen ist, so ist kein Grund ersichtlich, ein geringes Schuldmaß nicht schon bei der staatsanwaltschaftlichen Verfolgungstätigkeit mit - bei Hinzutreten der übrigen Voraussetzungen - der Einstellungsfolge zu berücksichtigen. b) Es bleibt die Aufgabe, zu verhindern, daß die einzelnen Strafverfolgungsbehörden bei ihren Entscheidungen über strafverfolgende Maßnahmen im weitesten Sinne ihre Kompetenzbereiche überschreiten79. aa) Die vor allem in den 60er Jahren besonders lebhafte und kontroverse Diskussion um die Einordnung der Staatsanwaltschaft in die Judikative erscheint heute entschieden: Weil den staatsanwaltschaftlichen Entscheidungen die Wirkung von richterlichen Entscheidungen nicht zukommt 80 und zudem die Einordnung der Staatsanwaltschaft in den Bereich der Judikative die Vereinigung der ermittelnden und aburteilenden Tätigkeit entsprechend dem überwundenen gemeinrechtlichen Inquisitionsprozeß mit sich brächte, wird heute allgemein die Staatsanwaltschaft nicht mehr der Judikative zugeordnet81 - und nach der hier vertretenen, hier nicht weiter begründbaren Auffassung ist die Staatsanwaltschaft Teil der Rechtspflege innerhalb der Exekutive82. Damit ist aber noch nicht entschieden, ob nicht die Staatsanwaltschaft in einzelnen Fällen bei ihrer strafverfolgenden Tätigkeit der Sache nach Entscheidungen trifft, die inhaltlich möglicherweise richterlicher Natur 76 77

Volk (Fn. 75), S. 263. Volk (Fn. 75), S. 99 und 267.

Anders wohl Naucke (Fn. 74), S. 206 ff. Damit wird das Legalitätsprinzip nicht etwa „zu einer bloßen Zuständigkeitsfrage entmaterialisiert" - vgl. Schroeder (Fn. 29), S. 425 - sondern lediglich die Bedeutung des Gewaltenteilungsgrundsatzes für das Legalitätsprinzip berücksichtigt. 80 Eb. Schmidt, MDR 1964, S.629, 631 m . w . N . 81 Gössel, G A 1980, S.335. 82 Näheres dazu siehe Gössel, G A 1980, S.336f. 78 79

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sind und ihr deshalb unter Verstoß gegen das Gewaltenteilungsprinzip übertragen worden sind. bb) Früher wurde hin und wieder vertreten, die Staatsanwaltschaft übe bei der Entscheidung über die Anklageerhebung oder die Einstellung des Verfahrens gemäß § 170 StPO und insbesondere bei der Anklageerhebung selbst rechtsprechende Gewalt aus83. Hier ist indessen zu bedenken, daß die Mängel des gemeinrechtlichen Inquisitionsverfahrens zu einem erheblichen Teil mit darauf beruhten, daß das Gericht selbst die Initiative zu seiner eigenen Aburteilungstätigkeit besaß - und daß dieser Nachteil mit einer dem Gewaltenteilungsprinzip entsprechenden Aufteilung der strafverfolgenden Tätigkeit mit der Übertragung der Anklagetätigkeit auf die vom aburteilenden Gericht verschiedene und diesem gegenüber selbständige Staatsanwaltschaft beseitigt wurde84. Die Anklageerhebung und die Entscheidung darüber können daher im heutigen Strafprozeß nicht mehr als ihrer Natur nach richterliche Handlungen aufgefaßt werden - die dem entgegengesetzte Meinung führt zum überwundenen gemeinrechtlichen Inquisitionsprozeß zurück. cc) Die der Staatsanwaltschaft durch § 153 ff. StPO eröffneten Einstellungsmöglichkeiten sind ebenfalls hin und wieder als ihrem Wesen nach richterliche Sachentscheidungen angesehen worden85. Indessen ist auch hier zu beachten, daß die Staatsanwaltschaft der Sache nach eine Entscheidung darüber trifft, daß keine Anklage erhoben werden soll und das Verfahren eingestellt wird. Wie schon die Entscheidung nach § 170 StPO, so betreffen auch die Entscheidungen der Staatsanwaltschaft nach § 153 ff. StPO allein die Frage, ob die Staatsanwaltschaft die Initiative zur Durchführung des gerichtlichen Verfahrens ergreifen soll oder nicht. Daß die Entscheidung über den Fortgang der Strafverfolgung anders als in den Fällen des §170 StPO z.B. von der Beurteilung über das (Nicht)Bestehen eines öffentlichen Interesses (z.B. §§ 153, 153a StPO) oder eines bestimmten staatlichen Interesses (etwa im Falle der §§ 153 c, 153 d, 153 e StPO) an der Strafverfolgung abhängig gemacht wird und zur Beendigung des Strafverfahrens führen kann, sagt nichts darüber aus, ob hier wesentlich richterliche Tätigkeit vorliegt. Ganz im Gegenteil ist nicht einzusehen, warum in diesen Fällen die Strafverfolgung nicht etwa in sämtlichen Stadien des Strafverfahrens eingestellt werden können soll - der Vorschlag von Zipf, die Einstellungsgründe zu Prozeßvoraussetzungen auszugestalten86, würde jedenfalls dieses Ergebnis haVgl. z . B . Göbel, N J W 1961, 856, 858. " S. näher Gössel, GA 1980, S.334. 85 Vgl. z. B. Heinitz (Fn. 74), S. 336. 86 Fn. 5, S. 501 f. 8Î

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ben. Im übrigen ist auch zu beachten, daß das Gesetz in einzelnen Fällen der §§ 153 ff. StPO auch dem Gericht die Einstellungsmöglichkeit gewährt, soweit das Verfahren bereits bei ihm anhängig ist (vgl. z.B. § 153 a Abs. 2, § 153 b Abs. 2 StPO). Für die Zuordnung der Einstellungsentscheidung zur richterlichen oder staatsanwaltschaftlichen Tätigkeit sind damit weder die jeweils gesetzlich normierten Einstellungsvoraussetzungen entscheidend noch die Folge der Beendigung des Strafverfahrens, sondern allein die Frage, welche konkrete Einstellungshandlung in welchem konkreten Verfahrensstadium betroffen ist. Einstellungen vor Anklageerhebung, die zu deren Vermeidung führen, sind damit ausschließlich staatsanwaltschaftliche Tätigkeit, auch wenn zum Teil richterliche Zustimmung erforderlich ist87. Dieses Ergebnis wird allerdings für die Einstellung nach § 153 a StPO deshalb entschieden bestritten, weil die „eigentliche Rechtsfolge des § 153 a . . . nicht die Einstellung des Verfahrens, sondern das Verhängen von Strafzwecken dienenden Sanktionen in Gestalt der Auflagen und Weisungen" sei88 und „das zum Wesen des Anklageprozesses gehörende System justizinterner Gewaltenteilung zwischen Richter und Staatsanwalt" verdränge, indem diese „Vorschrift für einen Teilbereich Ermittlungs- und Sanktionskompetenzen in der Hand des Staatsanwalts" vereinige89. N u n kann zwar nach den eindrucksvollen Darlegungen bei Rausch kaum bestritten werden, daß der Gesetzgeber die in § 1 5 3 a Abs. 1 StPO erwähnten Auflagen als Sanktionen ohne strafrechtliche Verurteilung 90 ansieht. Wie aber z. B. die den Täter treffenden schweren Folgen der Tat sowohl vom Richter (§ 60 StGB) als auch schon von der Staatsanwaltschaft bei der Anklageerhebung (§ 153 b StPO) berücksichtigt werden können, so ist nicht ersichtlich, warum nicht auch schon die Staatsanwaltschaft ein bestimmtes Nachtatverhalten zum Anlaß nehmen können soll, das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung zu verneinen und deshalb von der Anklageerhebung abzusehen91. Im übrigen ist zu bedenken, daß diese Auflagen nicht etwa von hoher Hand festgesetzt werden, sondern trotz ihres Sanktionscharakters nur mit Einverständnis des Beschuldigten auferlegt werden können - daß diese Freiwilligkeit im Hinblick auf die sonst angeblich drohende härtere Strafe fiktiver Natur sei92, erscheint aus den Erfahrungen der alltäglichen Praxis, in der wohl überwiegend um die Einstellungsbereitschaft bzw. die Zustimmung der Staatsanwaltschaft oder des Gerichs gerungen wird, als eine recht frag87 88 89 50 91 n

S. dazu unten 3. Kausch, Der Staatsanwalt - ein Richter vor dem Richter? 1980, S.65. Kausch (Fn. 88), S.241 f. Vgl. die bei Kausch (Fn. 88), S. 55 zitierte BT-Drucks. VI/3478, S. 47. Wie hier auch schon Hanack, Gallas-Festschrift 1973, S.339, 354 f . So Kausch (Fn. 88), S. 56.

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würdige Behauptung. Auch der von Kausch herangezogene Vergleich mit dem Rechtsmittelverzicht 93 ist wenig überzeugend. Es ist kaum einsichtig, die von der Zustimmung des Beschuldigten abhängige Festsetzung von Auflagen mit dem Verzicht von Rechtsmitteln gegen durch Richterspruch festgesetzte strafrechtliche Sanktionen gleichzustellen. Trotz der damit verbundenen Sanktionsfestsetzung ist die Einstellung nach § 153 a StPO nicht etwa wesentlich als urteilende Tätigkeit i. S. der §§ 261, 264 StPO, sondern als eine prozessuale Maßnahme der Entkriminalisierung und der Resozialisierung schon im Stadium der Anklageerhebung anzusehen, die im Hinblick auf den geringen Schweregrad der Auflagen nicht etwa dem Richter vorbehalten ist94 und schon deshalb nicht „die Rechtsprechung aus ihrer" von Art. 92 G G „geforderten Verantwortlichkeit für die Konkretisierung der Gesamtheit der Strafgesetze"95 verdrängen kann: Eine solche umfassende von Kausch behauptete Verantwortlichkeit besteht eben nicht, wie dieser Autor an anderer Stelle ausdrücklich selbst zugibt96. Der Gesetzgeber ist auch auf dem Felde des Strafverfahrens nicht gehindert, in bestimmten Fällen Sanktionsfestsetzungen auch außerhalb der rechtsprechenden Tätigkeit zuzulassen (Umkehrschluß aus Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG). dd) Entsprechendes gilt für die Beteiligung der Staatsanwaltschaft in Privatklageverfahren: Die Entscheidung über die Anklageerhebung wegen eines entsprechenden öffentlichen Interesses (§ 376 StPO) und auch die spätere Beteiligung nach Erhebung der Privatklage (§ 377 Abs. 2 StPO) greifen nicht in den Bereich der Rechtsprechung über - gleiches gilt für die Bejahung des besonderen öffentlichen Interesses bei fehlendem Strafantrag (z. B. § 232 StGB). ee) Auf die Frage, ob etwa die Polizei oder umgekehrt das Gericht ihre Kompetenzen bei ihren Entscheidungen im Bereich der Strafverfolgung überschritten, kann hier nur insoweit eingegangen werden, ob die vom Gesetz jeweils verlangte Zustimmung des Gerichts bei Einstellungen der Staatsanwaltschaft nach §§ 153 ff. StPO rechtsstaatlich vertretbar sind wie auch umgekehrt eine Zustimmung der Staatsanwaltschaft zur Einstellung durch das Gericht. Damit allerdings sind Fragen der notwendigen Kontrolle angesprochen, die sogleich behandelt werden sollen. c) So wichtig die Beachtung der jeweiligen Kompetenzen auch ist, so wenig reicht sie aus, ein unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung rechtsstaatlich bedenkenfreies Verfahren zu garantieren. Wie bereits 93

(Fn. 88) Anmerkung 50 auf S. 56 f. Zutreffend Kausch (Fn. 88), S.240. 95 Kausch (Fn. 88), S.241. * S. Fn. 94. 94

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oben97 dargelegt wurde, dient die dem Gewaltenteilungsprinzip entsprechende Aufteilung des Strafverfahrens in verschiedene Stadien unter der Herrschaft verschiedener, jeweils verschiedenen Staatsgewalten zugehörender staatlicher Organe vornehmlich dem Zweck, willkürliche Machtausübung und also willkürliche Strafverfolgungen möglichst zu verhindern. Diese Aufteilung allein kann dieses Ziel allerdings noch nicht erreichen: Nicht nur ist eine Kontrolle der übrigen Staatsgewalten durch unabhängige Gerichte erforderlich", es muß auch im übrigen sichergestellt werden, daß die im Strafverfahren eingesetzten verschiedenen Organe einander tatsächlich kontrollieren. Mit der Einrichtung der Staatsanwaltschaft als eine Behörde, deren Tätigkeit „unmittelbar auf Rechtsverwirklichung"" und die Wahrung der materiellen Gerechtigkeit gerichtet ist, ist ein solches Kontrollorgan sowohl gegenüber der ermittelnden Polizei wie auch gegenüber den aburteilenden Judikativorganen eingesetzt100. 2. Kontrolle der gerichtlichen und polizeilichen Strafverfolgungstätigkeit am Maßstab des Legalitätsprinzips Soweit etwa die Gerichte ihrer grundsätzlichen Strafverfolgungspflicht nicht nachkommen sollten, besitzt die Staatsanwaltschaft mit ihrer Rechtsmittelbefugnis ein wirksames Kontrollinstrument. Soweit das Gericht bei der Einstellung gemäß § 153 ff. StPO einen Entscheidungsspielraum besitzt, ist die notwendige Kontrolle durch die notwendige Zustimmung der Staatsanwaltschaft (z.B. § 153 Abs.2 StPO) oder durch die Voraussetzung eines Antrags der Staatsanwaltschaft (z.B. §154 Abs. 2 StPO) gewährleistet - lediglich die nur vorläufige Einstellung gemäß § 154 e Abs. 2 StPO ist nicht an die Zustimmung oder den Antrag der Staatsanwaltschaft gebunden, ist aber mit dem Rechtsmittel der Beschwerde anfechtbar. Die Kontrolle über die ermittelnde Tätigkeit der Polizei übt die Staatsanwaltschaft schon durch ihre Weisungsbefugnis aus101. 3. Kontrolle der staatsanwaltschaftlichen Strafverfolgungstätigkeit am Maßstab des Legalitätsprinzips Indessen bedürfen nicht nur Gericht und Polizei der Kontrolle durch die Staatsanwaltschaft: Auch die strafverfolgende Tätigkeit der Staatsanwaltschaft selbst bedarf ihrer. Und diese Kontrolle ist insbesondere in den Bereichen notwendig, in denen der Staatsanwaltschaft ein bestimmIV 1 vor a. Oben II 1 b. " Henkel (Fn.48), S. 133. 100 Gössel, GA 1980, S.325, 337f. 101 Näheres dazu bei Gössel, GA 1980, S.338Í. und 350 ff.

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ter Entscheidungsspielraum eingeräumt ist102. Zur Erreichung des vom Grundsatz der Gewaltenteilung erstrebten Ziels103 ist es dabei insbesondere notwendig, daß diese Kontrolle durch ein Organ ausgeübt wird, das einem anderen Teil der Staatsgewalt zugeordnet ist als die Staatsanwaltschaft selbst: Damit ist grundsätzlich die gerichtliche Kontrolle staatsanwaltschaftlicher Tätigkeit zu verlangen104. a) Die wohl wichtigste Entscheidungbefugnis besitzt die Staatsanwaltschaft bei den Entscheidungen über die Anklageerhebung oder die Einstellung des Verfahrens gemäß § 170 StPO. Weil der Staatsanwaltschaft hier, abgesehen von den Privatdelikten, ein Entscheidungsmonopol zukommt (§ 152 Abs. 1 StPO), erweist sich hier die Möglichkeit einer Kontrolle als besonders wichtig. aa) Eine wesentliche rechtsstaatliche Sicherung ist bereits im Legalitätsprinzip selbst zu erblicken, das mit Recht ganz überwiegend „als notwendiges Korrelat" zum „Anklagemonopol" angesehen wird105. Dies allein kann indessen noch nicht als ausreichend angesehen werden: Geht es doch gerade darum, die Einhaltung des in §§ 152 Abs. 2 und 160 StPO niedergelegten Legalitätsprinzips durch die Staatsanwaltschaft zu kontrollieren. Und eine solche Kontrolle ist notwendig: Zwar auch, aber weniger bezüglich ihrer Pflicht zum Einschreiten gemäß § 152 Abs. 2 und § 160 StPO, sondern vor allem bezüglich des der Staatsanwaltschaft eingeräumten Entscheidungsspielraums darüber, ob die gesetzlichen Voraussetzungen ihrer Pflicht zur Ermittlung oder zur Anklageerhebung vorliegen (zureichende tatsächliche Anhaltspunkte; verfolgbare Straftaten). Anschaulich schildert Fuld aus der Anfangszeit der Staatsanwaltschaft: „Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß bei der Entscheidung der Frage, ob im öffentlichen Interesse die Verfolgung einer strafbaren Handlung geboten sei, von Seiten der Staatsanwaltschaften häufig in unrichtiger und fehlsamer Weise verfahren worden ist. Nicht nur subjektive Momente beeinflußten die Entschließungen der Staatsanwaltschaften, sondern auch Erwägungen, welche dem Ideenkreise der politischen und sozialen Interessengegensätze und Kämpfe angehörten, und gerade diese Tatsache hat

102 Die Frage, ob es sich dabei um Ermessen, Beurteilungsspielraum oder um eine sonstige verwaltungsrechtliche Kategorie von Entscheidungsfreiheit handelt - vgl. dazu z . B . Weigend (Fn.29), S. 169ff. - , ist dabei zweitrangiger Natur: Zunächst ist die generelle Kontrollmöglichkeit solcher staatsanwaltschaftlicher Entscheidungen sicherzustellen. 105 Oben 1 c. 104 Oben II 1 b. 105 Krause, G A 1964, S. 110, 114; vgl. ferner z.B. BGHSt 15, 155, 159: Ohne das Legalitätsprinzip „wäre das Anklagemonopol der Staatsanwaltschaft unberechtigt"; Thiersch in: Aschrott (Fn.30), S.206; LR-Schäfer (Fn.l), Einleitung 13 Rdn.26; Gössel (Fn. 61), S. 30 f.

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in weiten Kreisen große Verstimmung erregt und jenes Mißtrauen gegen die gleichmäßige Handhabung des Anklagemonopols verursacht, mit dem wohl oder übel als einem gegebenen Faktor gerechnet werden muß. Auf der einen Seite machte sich eine maßlose Uberspannung des Begriffs des öffentlichen Interesses geltend, auf der anderen Seite eine außerordentlich engherzige Auffassung."11".

Daß auch heute noch die Gefahr besteht, die Entscheidung über die Anklageerhebung oder Verfahrenseinstellung gemäß § 170 Abs. 2 StPO nach Gesichtspunkten politischer Zweckmäßigkeit zu treffen, sollten nicht nur die schrecklichen Erfahrungen der NS-Vergangenheit lehren, sondern auch das Verhalten der Staatsanwaltschaften bei der Verfolgung von Straftaten gewalttätiger Schüler und Studenten in jüngerer Vergangenheit - und nicht unerwähnt bleiben sollen jene unverfolgt bleibenden strafbaren Handlungen, die in deutschen Amtsstuben zugunsten vorrangiger staatlicher Interessen (z.B. die Ausstellung falscher Pässe etc. für Geheimdienstangehörige) vorgenommen werden. Mögen diese Beispiele glücklicherweise auch nur eine exotisch-reale Bedeutung haben, so spielen doch sehr häufig reine Zweckmäßigkeitserwägungen bei den Entscheidungen gemäß § 170 StPO eine Rolle, die einer Kontrolle bedürfen: Rieß hat mit Recht darauf hingewiesen, „daß der Normbefehl" des § 160 Abs. 1 StPO „in deliktsspezifisch unterschiedlicher Weise" nur „teilweise erfüllt wird": „Der Aufklärungsaufwand wird nach antizipierten Erfolgseinschätzungen und nach der Deliktschwere dosiert"107. Die demnach notwendig zu kontrollierende Einhaltung des Legalitätsprinzips wird überdies durch die materiell-rechtlichen Strafvorschriften der §§ 344, 258 a StGB erzwungen, jedoch schon deshalb in zweifelhaft wirksamer Weise, weil die Staatsanwaltschaft jedenfalls selbst wegen dieser Taten ermitteln müßte. Im übrigen ist eine gewisse Kontrolle durch den „hierarchischen Aufbau der Anklagebehörde und in der damit verbundenen innerdienstlichen Aufsicht" gegeben, wenngleich auch hier die volle Wirksamkeit, z. B. bei etwaigen Weisungen zur Unterlassung von Anklagen, nicht stets gewährleistet erscheint108. So wesentlich aber die bisher erwähnten Instrumente auch sind: die vom Gewaltenteilungsprinzip verlangte gerichtliche Kontrolle109 können sie nicht ersetzen110.

106 Fuld, in: Aschrott (Fn. 30), S. 601 ; vgl. ferner auch v. Holtzendorff in: Verhandlungen des 12. DJT 1874, Band I, S. 64, 68, 70ff.; Dietz in: Verhandlungen des 29. DJT 1908, S. 51, SS f.; Ostendorf, RuP 1980, S.200. 107 NStZ 1981, S.2, 4. 108 Vgl. Weigend (Fn.29), S. 84 ff. m Maunz (Fn. 18), s. auch oben II 1 b. u ° S. dazu z . B . Niese, SJZ 1950, Sp. 890.

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bb) Hinsichtlich der Erhebung der Anklage steht eine effektive Kontrolle außer Zweifel: Die gerichtliche Uberprüfung des von der Staatsanwaltschaft mit der Anklage vorgelegten Sachverhalts im Zwischenverfahren (§ 203 StPO) und erst recht im Hauptverfahren (§§ 261, 264, 266 Abs. 1 StPO) verhindert willkürliche Anklagen wohl im höchstmöglichen Umfang: Weil „die Staatsanwaltschaft an unnötigen Anklagen wegen der mit einem Freispruch verbundenen Desavouierung gar kein Interesse hat, so sorgen ihre eigenen dienstlichen Belange dafür, daß sie der Verdachtsfrage gegenüber objektiv bleiben kann"111. Entsprechendes gilt für die Einlegung von Rechtsmitteln durch die Staatsanwaltschaft. Auch für die ermittelnde Tätigkeit der Staatsanwaltschaft kann nichts anderes gelten. Soweit nicht einzelne Ermittlungshandlungen selbständige Rechtsgutsbeeinträchtigungen enthalten und schon deshalb gerichtlich nachprüfbar sind112, ist zu bedenken, daß die Ermittlungshandlungen der Staatsanwaltschaft nur der Vorbereitung der Entscheidung über die Anklageerhebung dienen und die hier vorgesehene richterliche Kontrolle gemäß § 204 StPO und später durch die Aburteilung auch hinsichtlich der Ermittlungstätigkeit als ausreichend erscheint. cc) Die obigen Darlegungen unter aa) lassen indes eine gerichtliche Kontrolle auch hinsichtlich der Unterlassung von Anklagen als geboten erscheinen. Eine solche Kontrolle existiert nun in der Tat: Gegen Einstellungen nach § 170 Abs. 2 StPO ist entweder das Anklageerzwingungsverfahren gemäß §172 StPO statthaft, oder aber, falls ein Privatklagedelikt vorliegt, das Privatklageverfahren (s. dazu unten b). Beide Möglichkeiten der gerichtlichen Kontrolle aber sind schon insoweit eingeschränkt, als sie nur von den durch die angebliche Straftat jeweils Verletzten genutzt werden können. Darüber hinaus aber ist zu bedenken, daß das Klageerzwingungsverfahren seiner rechtlichen Ausgestaltung wie praktischen Bedeutung nach nur ein reichlich unvollkommenes, wenn nicht ein der Bedeutungslosigkeit nahekommendes schwächliches Kontrollinstrument darstellt113 - dies allerdings liegt zu einem erheblichen Teil auch daran, daß es häufig genug aus rein querulatorischen Motiven in Gang gesetzt wird, weshalb nicht ganz unverständlich erscheint, wenn die rechtsstaatliche Bedeutung dieses Verfahrens als einer notwendigen Kontrolle staatsanwaltschaftlicher Tätigkeit hin und wieder aus dem Blick gerät.

111 Eb. Schmidt, Einführung in die Geschichte der Deutschen Strafrechtspflege, 3. Aufl., § 2 8 9 ; s. v. Holtzendorff (Fn. 106), S . 6 9 ; a . A . aber Rieß, Schäfer-Festschrift 1980, S. 155, 195. 1,2 115

Vgl. z . B . Gössel ( F n . 6 1 ) , S . 5 0 f . m . w . N . ; s. auch § 98 A b s . 2 Satz 2 StPO. Vgl. Görcke, ZStW Band 73 (1961); S.569.

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Unter diesen Umständen erscheint es nicht abwegig, nach anderen Möglichkeiten einer wirksamen Kontrolle gegen willkürlich unterlassene Anklagen zu suchen. In der früheren Reformdiskussion ist besonders häufig die Forderung nach einer Art mittelbarer gerichtlicher Kontrolle aufgestellt worden, indem das Anklagemonopol der Staatsanwaltschaft entweder beseitigt oder aber oder durch eine subsidiäre Anklage anderer Personen nach Ablehnung der Erhebung der öffentlichen Klage durch die Staatsanwaltschaft eingeschränkt werden sollte. Diese Vorschläge gingen hier von der Zulassung einer allgemeinen Popularklage durch einen quivis ex populo nach dem Vorbild des englischen Rechts neben der Anklageberechtigung der Staatsanwaltschaft (sogenannte prinzipale Popularklage)114 über die subsidiäre Popularklage (die vom quivis ex populo erst nach der Ablehnung der Anklageerhebung durch die Staatsanwaltschaft erhoben werden können sollte) bis hin zur Privatklage, die nur dem Verletzten entweder neben der staatsanwaltschaftlichen Anklage (prinzipale Privatklage) oder nur nach vorgängiger vergeblicher Anrufung der Staatsanwaltschaft (subsidiäre Privatklage) offenstehen sollte. Die Befürworter der prinzipalen wie der subsidiären Popularklage waren indessen in der Minderzahl 115 und zwar mit Recht: „Die Erfahrung lehrt, wie . . . oft böser Wille, Leidenschaftlichkeit, Rache, vielleicht auch Eigennutz die Triebfedern sind, welche den Ankläger spornen, welches Spiel mit frivolen Anklagen getrieben wird, wie Drohungen mit Anklagen zu Erpressungen benutzt werden"116 - kurz, daß die Popularklage in ihren beiden Formen jedenfalls den notwendigen Schutz des Beschuldigten vor „ungerechtfertigte(n) und schikanöse(n) Verfolgungen" 117 außer Acht ließen. Diese Einwendungen dürften auch noch heute aktuell sein, so daß auf diese Weise die notwendige Kontrolle der Staatsanwaltschaft jedenfalls nicht zu erreichen versucht werden sollte118. Gleiches gilt aber auch für die (subsidiäre wie prinzipale) Privatklage des Verletzten (zu der im geltenden Recht verankerten prinzipalen Privatklage hinsichtlich bestimmter Delikte s. unten b). Aus diesen Gründen bleibt also nur die direkte gerichtliche Kontrolle. Trotz seiner derzeit geringen Bedeutung dürfte das Klageerzwingungsverfahren durch eine Änderung des bisherigen Verfahrens gleichwohl zu einem wirksamen Kontrollinstrument umgestaltet werden können. Zunächst sollte das Verfahren dadurch vereinfacht werden, daß gegen den die Anklageerhebung ablehnenden Bescheid direkt Beschwerde zum 114

Vgl. dazu Gneist, Vier Fragen zur deutschen Strafprozeßordnung, 1874, S. 50; v. Holtzendorff (Fn. 106), S. 77. 115 Vgl. Mittermaier und Fuld in Aschrott (Fn.30), S. 160 f. u. S . 6 0 3 f . 116 Dalcke, G A Bd. 7 (1859); S. 734, 743. 117 Lobe, GS 1928, S. 37, 45. 118 Stock, Rittler-Festschrift 1957, S. 309f.; Weigend (Fn.29), S. 86f.

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Gericht erhoben werden kann und der umständliche und zudem meist erfolglose Weg über den Generalstaatsanwalt vermieden wird. Freilich muß die Möglichkeit einer Abhilfe entsprechend § 306 StPO eröffnet werden. Über die Beschwerde sollte allerdings nicht das tatferne O L G entscheiden (das in Bayern nicht einmal für die Entscheidung über die Revisionen zuständig ist), sondern ein erfahrenes Tatgericht, wie z . B . eine Strafkammer, deren Entscheidung allerdings ebenso unanfechtbar sein müßte, wie die jetzige Entscheidung des Oberlandesgerichts. Die Beschwerdezuständigkeit dürfte zur Wahrung der verschiedenen Kompetenzbereiche von Gericht und Staatsanwaltschaft natürlich nur einem anderen Gericht (Spruchkörper) übertragen werden, als dem zur Verhandlung über die etwaige Anklage zuständigen1". Auch dürfte das Gericht auf die Beschwerde weder selbst das Verfahren eröffnen noch die Staatsanwaltschaft zur Anklageerhebung verpflichten: Das Gericht dürfte lediglich dazu berechtigt sein, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Staatsanwaltschaft unter Beachtung der Rechtsansicht des aufhebenden Gerichts zu verpflichten, erneut über die Anklageerhebung zu entscheiden. Um eine wirksamere Kontrolle des Legalitätsprinzips zu ermöglichen, sollte der Kreis der Anfechtungsberechtigten von den bisher „Verletzten" auf jedermann ausgedehnt werden, der an der Strafverfolgung ein berechtigtes Interesse geltend machen kann. b) Ein besonderes Schmerzenskind dürfte die Praxis der Staatsanwaltschaft bei der Entscheidung gemäß § 376 StPO sein. aa) Während einerseits zu beobachten ist, daß bei bestimmten Privatklagedelikten wie etwa Beleidigungen im Straßenverkehr die Staatsanwaltschaft fast ohne Rücksicht auf den Einzelfall nahezu unnachsichtig das öffentliche Interesse fast stets bejaht und kaum jemals zu einer Einstellung nach §§ 153, 153 a StPO zu bewegen ist, muß andererseits festgestellt werden, daß im übrigen die Privatklage immer mehr als ein Institut zur Arbeitserleichterung der Staatsanwaltschaft benutzt wird. Dies führt insbesondere dazu, daß selbst schwerwiegende Straftaten von der Staatsanwaltschaft nicht mehr angeklagt werden: An der Verfolgung von Beleidigung, Körperverletzung, Sachbeschädigung und Hausfriedensbruch z . B . zwischen Nachbarn, die wegen ihrer hohen Hypothekenbelastung und auch aus sonst beachtlichen Gründen den „bösen" Nachbarn nicht entweichen können, soll deshalb kein öffentliches Interesse bestehen, weil der Kreis der Betroffenen quasi privat sei, wie auch bei z . B . erheblichen Körperverletzungen rachsüchtiger und in ihrer Eitelkeit verletzter Ehemänner zum Nachteil ihrer die Scheidung begehrenden Ehefrauen. Daß hier ein massives öffentliches Interesse daran Anders aber wohl

Thiersch,

in Aschrott (Fn. 30), S. 209.

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besteht, daß jedermann in Ruhe auch vor seinem Nachbarn leben können muß, scheint so mancher Staatsanwaltschaft nicht klar zu sein und in den Fällen der Körperverletzungen zwischen Ehegatten darf die polemische Frage nicht ungestellt bleiben, ob die Staatsanwaltschaft erst dann eingreifen will, wenn die Mißhandlungen zum Tode geführt haben. Auch ohne weitere Beispiele - was leicht möglich wäre - anzuführen, erscheint in diesem Bereich das Fehlen einer Kontrolle der staatsanwaltschaftlichen Strafverfolgungstätigkeit besonders schmerzlich. bb) Im Prinzip ist in diesen Fällen eine gerichtliche Kontrollmöglichkeit durch die Erhebung der Privatklage durchaus gegeben - sie erweist sich aber deshalb als ineffektiv, weil der weitaus größte Teil aller Privatklagen entweder nach § 383 Abs. 1 StPO zurückgewiesen oder gemäß § 383 Abs. 2 StPO eingestellt wird - und dies in einem Verfahren, das sich, vorsichtig ausgedrückt, allzu häufig praeter legem abspielt: in einem „Informationstermin" werden alle Beteiligten angehört und anschließend unter Zurückweisung der Privatklage bzw. unter Einstellung des Verfahrens eine quasi außer strafrechtliche „Sanktion" im Wege der Kostenentscheidung getroffen. Selbst wenn es einmal zu einer Verurteilung im Privatklageverfahren kommt120, so wird sehr häufig mit einer unanfechtbaren - Einstellung im Rechtsmittelzug gemäß § 390 Abs. 5 StPO zu rechnen sein. Soll die Privatklage wieder ihre ursprüngliche Bedeutung als Instrument zur Kontrolle der Staatsanwaltschaft oder auch nur als wirksamer Ersatz für das Ausbleiben staatlicher Anklage erlangen, so werden die Zurückweisungsmöglichkeit und die Möglichkeit der Einstellung nach §§ 383 Abs. 1 und 2, 390 Abs. 5 StPO zu beseitigen sein mit der Folge, daß nur von den allgemeinen Einstellungsmöglichkeiten nach §§ 153 ff. StPO Gebrauch gemacht werden kann - an die Stelle der Zustimmung der Staatsanwaltschaft hat demgemäß die Zustimmung des Privatklägers zu treten. Natürlich kann die Gefahr schikanöser und querulatorischer P,rivatklagen nicht geleugnet werden. Aber dieser Gefahr kann zunächst durch die entsprechende Anwendung der §§ 202 bis 211 StPO (also einschließlich der Möglichkeit, einen etwaigen Nichteröffnungsbeschluß anzufechten) entgegengewirkt werden. Im übrigen müßte überlegt werden, ob nicht der Kreis der Privatklagedelikte eingeschränkt oder sogar das Privatklageverfahren abgeschafft werden sollte mit der Folge, daß insoweit stets im Offizialverfahren zu prozedieren wäre - die jetzige Lage, bei der faktisch im Bereich der Privatklagedelikte von einem ausreichen-

120 Zu den verschwindend geringen Chancen s. z.B. Hirsch, Lange-Festschrift 1976, S. 815.

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den Strafrechtsschutz nicht mehr die Rede sein kann, erscheint jedenfalls gänzlich inakzeptabel. cc) Mit einer derartigen Neuordnung des Privatklageverfahrens dürfte das allzu häufig aus sachfremden Motiven betriebene sehr fragwürdige Nebenklageverfahren entbehrlich werden: es erscheint als Kontrollinstrument deshalb überflüssig, weil die Staatsanwaltschaft die Strafverfolgung ja schon betreibt. c) Auch im Bereich der Einstellungen gemäß §§ 153 ff. StPO erscheint die Praxis der Staatsanwaltschaft nicht immer bedenkenfrei. Auch hier ist festzustellen, daß ganz allgemein bei bestimmten Delikten wie ζ. B. wiederum im Straßenverkehr und ζ. B. nach dem Waffengesetz regelmäßig ohne Rücksicht auf den Einzelfall die Staatsanwaltschaft weder einstellungsbereit ist noch vor Gericht ihre Zustimmung zur Einstellung erklärt - dies erscheint besonders mißlich in den Fällen, in denen der Sitzungsstaatsanwalt nach seiner persönlichen Beurteilung die Einstellungsvoraussetzungen zwar für gegeben hält, sie aber im Hinblick auf den späteren Bericht gegenüber dem vorgesetzten Staatsanwalt gleichwohl verneint. Aber auch umgekehrt erscheint es notwendig, die Einstellung durch die Staatsanwaltschaft einer gerichtlichen Kontrolle zu unterziehen. aa) Im Fall der Einstellungsbereitschaft durch die Staatsanwaltschaft erscheint eine ausreichende Kontrolle in den Fällen gewährleistet, in denen das Gericht der Einstellung zuzustimmen hat, auch wenn diese Kontrolle aus gewiß beachtlichen Gründen z.T. nicht für ausreichend erachtet wird121. Eine gerichtliche Kontrolle der Einstellung der Staatsanwaltschaft fehlt indessen in den brisanten Fällen des Absehens von der Verfolgung aus politischen Gründen und bei Auslandstaten (§§ 153 c, 153 d, 153 e StPO) - entsprechendes gilt bei Erpressung im Zusammenhang mit politisch motivierten Straftaten (§ 154 c StPO). Ebenso fehlt eine Kontrolle in den Fällen der Einstellungen gemäß §§ 154 und 154 b StPO - wegen des nur vorläufigen Charakters der Einstellungen gemäß §§ 154 d und 154 e StPO ist das Fehlen einer gerichtlichen Kontrolle hier akzeptabel. Auch unter Berücksichtigung der teilweise notwendigen gerichtlichen Zustimmung zur Einstellung erscheint es aber erforderlich, die Einstellung der Staatsanwaltschaft nach §§ 153 ff. StPO einheitlicher gerichtlicher Nachprüfung zu unterwerfen. Eine solche Nachprüfung dürfte hier deshalb unabweisbar sein, weil auch heute noch gilt, was Hellmuth Mayer für einen früheren deutschen liberalen Rechtsstaat feststellte: „die strafprozessualen Rechte des Verletzten" sollen „keines121

Vgl. Zeigend

(Fn.29), S.54.

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falls dem Ermessen der staatlichen Anklagebehörde" ausgeliefert werden122. Eine solche gerichtliche Kontrolle sollte einheitlich für alle Fälle der § 153 ff. StPO durch eine Änderung des § 172 Abs. 2 Satz 3 StPO insoweit herbeigeführt werden, als auch in diesen Fällen das Klageerzwingungsverfahren in der oben a cc a. E. vorgeschlagenen Form für statthaft erklärt werden sollte123. bb) Um die Weigerung der Staatsanwaltschaft zur Einstellung überprüfen zu können, wäre auf Antrag des Beschuldigten oder seines Verteidigers eine förmliche Entscheidung der Staatsanwaltschaft vorzusehen, die auf Beschwerde von dem Gericht (Spruchkörper) unanfechtbar zu überprüfen wäre, das auch im Klageerzwingungsverfahren tätig wird. cc) Im gerichtlichen Verfahren sollte allein das Gericht die Einstellung ohne Zustimmung der Staatsanwaltschaft aussprechen können, jedoch nur aufgrund des Eindrucks der Hauptverhandlung in überprüfbarer Weise in einem rechtsmittelfähigen Urteil. Der an sich erwägenswerte Vorschlag von Zipf, die Einstellungsgründe zu Prozeßvoraussetzungen auszugestalten124, würde zwar ebenso zu êiner dazu sehr einfachen gerichtlichen Kontrolle führen - indessen dürfte diese deshalb zu weit gehen, weil dann die Einstellungsvoraussetzungen von Amts wegen in jedem Stadium des Verfahrens zu überprüfen wären und Rechtsmittelverzicht, Teilrechtskraft und begrenzte Revisionsrügen insoweit keine Nachprüfungsbegrenzung äußern könnten. 4. Legalitätsprinzip und gesetzliche Bestimmtheit Ein letztes Problem kann hier nur noch angedeutet werden: Das Rechtsstaatsprinzip verlangt, daß die Äußerungen staatlicher Gewalt auf hinreichend konkretisierten gesetzlichen Vorschriften beruhen und daß überdies die Einschränkungen des Legalitätsprinzips durch den Gesetzgeber nicht willkürlich getroffen werden dürfen und auf eine vertretbare Abwägung der Strafverfolgungsinteressen mit etwa entgegenstehenden anderen Interessen beruhen125. Diesen weit überwiegend staatsrechtlichen Fragen kann an dieser Stelle indessen nicht mehr nachgegangen werden.

H.Mayer, J Z 1955, S.601, 602. Vgl. schon Till Kalsbach, Die gerichtliche Nachprüfung von Maßnahmen der Staatsanwaltschaft im Strafverfahren 1967, z.B. S. 137f. 124 Fn.5, S. 501. 125 Vgl. dazu Zipf, wie Fn. 124. 122 123

Legalitätsprinzip - Interessenabwägung Verhältnismäßigkeit Uber die Grenzen von Strafverfolgungsverzicht und Strafverfolgungsverschärfung zur Aufrechterhaltung des inneren Friedens PETER RIESS

I. Als Anfang 1981 in Berlin Krawalle aus Anlaß sogenannter Hausbesetzungen und der staatlichen Reaktion hierauf ausuferten und vielerorts bei einer „kompromißlosen" Strafverfolgung „bürgerkriegsähnliche Zustände" befürchtet wurden, entwickelte sich eine heftige politische Auseinandersetzung über die Frage, ob und wieweit eine Zurücknahme von Strafverfolgungsmaßnahmen oder gar ein völliger Verzicht auf den staatlichen Sanktionsanspruch rechtlich zulässig und politisch geboten sein könne, um den inneren Frieden aufrechtzuerhalten. Beispielhaft für die unterschiedlichen politischen Positionen ist etwa die Kontroverse zwischen Friedrich Graf von Westphalen und Jürgen Schmude im Rheinischen Merkur vom 27. März 1981 und 29. Mai 1981. In Berlin führte diese Auseinandersetzung zu ernsthaften Konflikten innerhalb der Justiz und zwischen Justiz und Polizei. Umgekehrt wurden die sogenannten „Massenverhaftungen von Nürnberg", der Erlaß von Haftbefehlen gegen rund 140 meist jugendliche und heranwachsende vermeintliche Teilnehmer einer zu Gewalttätigkeiten ausartenden Demonstration, im Februar 1981 jedenfalls teilweise in der Öffentlichkeit als eine Maßnahme interpretiert, die dazu diente oder jedenfalls die erwünschte Nebenfolge hatte, durch „forsches Auftreten" der Strafverfolgungsorgane das Vertrauen des Bürgers in die Fähigkeit des Staates zur Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit zu stärken. O b diese Interpretation richtig ist oder nicht, kann hier offenbleiben. Sie wurde jedenfalls teilweise akzeptiert, wenn nicht gar begrüßt, teilweise löste sie heftige Gegenreaktionen aus, die einen Vertrauensverlust in die Justiz signalisieren. Diese vorwiegend politisch geführte Diskussion hat ein rechtliches Erkenntnisdefizit deutlich gemacht. Obwohl sich das Legalitätsprinzip seit Jahren besonderer Aufmerksamkeit erfreut, wird kaum diskutiert, wie sich der Extremfall rechtlich verarbeiten läßt, daß die Verfolgung von Tatverdächtigen den inneren Frieden ernsthaft gefährden kann. Dabei wird die schlichte Berufung auf das Legalitätsprinzip in seiner

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heutigen gesetzlichen Ausprägung der verwickelten Problematik ebensowenig gerecht wie die pauschale Beschwörung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Die Verwendung derartiger Schlagworte könnte dem Versuch eher hinderlich sein, die Situation rechtlich zu strukturieren. Mehr als eine solche Strukturierung, die der nachfolgende Beitrag versucht, erscheint freilich derzeit nicht erreichbar. Ausgegangen werden soll von folgender Grundsituation: Es stehe fest, daß der Verdacht strafbarer Handlungen besteht, der nach den Vorschriften der Strafprozeßordnung eine ermittelnde Tätigkeit der Strafverfolgungsbehörden einschließlich der Durchführung nach außen wirkender Zwangsmaßnahmen (Beschlagnahme, Durchsuchung u. ä.) erforderlich macht. Es stehe weiter fest, daß diese Aufklärung einen genügenden Anlaß zur Erhebung der öffentlichen Klage (§ 170 Abs. 1 StPO) ergeben habe. Es soll ferner als hochwahrscheinlich angenommen werden, daß die strafprozessual gebotenen Handlungen der Strafverfolgungsorgane (Ermittlungen, Zwangsmaßnahmen, Klageerhebung) Unruhen, Krawalle und Gewalttätigkeiten auslösen würden. Können in einem solchen Konflikt (wenn es - was ebenfalls zu prüfen ist - einer ist) die unter dem Sammelbegriff Legalitätsprinzip zu fassenden Handlungspflichten der Strafverfolgungsbehörden ganz oder teilweise zurücktreten? Ist es, was als Gegenstrategie in die Betrachtung einzubeziehen ist, zulässig, der bedrohten inneren Sicherheit durch eine besonders energische Strafverfolgung zur Hilfe zu kommen? II. Bevor auf den eigentlichen Konflikt zwischen Legalitätsprinzip und den Bedürfnissen der Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit eingegangen wird, sind die Spielräume zu überprüfen, die das geltende Verfahrensrecht (möglicherweise) bietet. Denn da das Gesetz für das Legalitätsprinzip im weitesten Sinne (Verfolgungs-, Aufklärungs- und Anklagepflicht) Einschränkungen enthält, braucht für die Lösung des Konflikts auf übergeordnete Normen und Normenzusammenhänge nicht zurückgegriffen zu werden, wenn schon diese Bestimmungen Verfolgungszurückstellung oder Verfolgungsverzicht ermöglichen. Solche „Durchbrechungen" des Legalitätsprinzips scheinen sich in der Tat anzubieten. 1. Einen ersten möglichen Ansatzpunkt bieten die Nichtverfolgungsermächtigungen in den §§ 153 und 376 StPO. § 376 StPO gebietet die Strafverfolgung durch die Staatsanwaltschaft bei Privatklagedelikten (vgl. § 374 StPO) nur dann, wenn dies im öffentlichen Interesse liegt. Bei den typischerweise mit Hausbesetzungen verbundenen Straftaten wäre diese Ermächtigung zum Verfolgungsverzicht formell anwendbar,

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wenn sich der Tatverdacht allein auf Hausfriedensbruch (§ 123 StGB) oder Sachbeschädigung (§ 303 StGB) richten würde, Delikte, bei denen darüber hinaus das Antragserfordernis eine weitere Strafverfolgungsbremse darstellen kann. § 376 StPO scheidet freilich (von schwereren Vorwürfen ganz abgesehen) bereits dann aus, wenn der Tatverdacht ζ. B. schweren Hausfriedensbruch (§ 124 StGB) oder gemeinschädliche Sachbeschädigung (§ 304 StGB) zum Inhalt haben würde. Bei allen Vergehen gestattet aber § 153 StPO Strafverfolgungsverzicht, wenn kein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung besteht und die (potentielle) Tatschuld des Verdächtigen als gering anzusehen wäre. Letzteres ist eine Frage des Einzelfalles, die bei den hier in Betracht kommenden Fällen weder pauschal bejaht noch verneint werden kann. Der Schlüsselbegriff bei Anwendung der §§ 153, 376 StPO ist hier jedoch das „öffentliche Interesse an der Strafverfolgung". Der hier erwogene Verfolgungsverzicht ließe sich nur dann auf diese Vorschriften stützen, wenn es zulässig wäre, die befürchteten Nebenwirkungen strafverfolgender Tätigkeit mit dem öffentlichen Interesse an der Strafverfolgung dergestalt zu verknüpfen, daß die erwartete Unruhe das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung beseitigen würde. Es müßte im teleologischen Zusammenhang der Vorschriften legitim sein, anzunehmen, daß das öffentliche Interesse entfalle (nicht entstehe), weil andernfalls eine Gefährdung des öffentlichen Friedens drohe. Dem steht nicht die im Vordringen befindliche Meinung entgegen, die das öffentliche Interesse im Sinne des § 153 StPO mit den präventionsbezogenen Strafzumessungsgründen gleichsetzt und ein solches außerhalb der materiell-rechtlich zulässigen General- und Spezialprävention als Rechtfertigung für die Strafverfolgung bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen der §§ 153, 376 StPO nicht anzuerkennen bereit ist. Denn diese Einschränkung des Begriffs würde sich lediglich auf seine die Verfolgung gebietende prozessuale Funktionen beziehen. Sie würde es ausschließen, bei geringer Schuld (oder im Falle der Privatklagefähigkeit) die Notwendigkeit der Strafverfolgung mit Überlegungen zu begründen, die außerhalb der anerkannten Strafzwecke liegen. Hier geht es indessen um die umgekehrte Funktion, Strafverfolgungsverzicht mit Umständen zu bejahen, die die materiell-rechtliche Strafwürdigkeit nicht aufheben oder verringern. Aber es wäre eine petitio principii, dahingehend zu argumentieren: Weil bei Strafverfolgung mit Krawallen, gewalttätigen Demonstrationen und ähnlichem zu rechnen sei, sei eine Strafverfolgung nicht „verhältnismäßig", deshalb bestehe kein öffentliches Interesse an ihr und folglich sei, wenn die sonstigen Voraussetzungen gegeben seien, nach § 153 StPO einzustellen oder nach § 376 StPO die Strafverfolgung dem Verletzten anheimzustellen. Diese Argumentation nimmt die Antwort vor-

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weg, daß es dem öffentlichen Interesse entspricht, hier nicht zu verfolgen. Dagegen kann eingewandt werden, daß die Verteidigung der Rechtsordnung, die langfristige Aufgabe, das Vertrauen in die friedenssichernde Funktion des Strafrechts zu sichern, es erfordere, gerade hier den Sanktionsanspruch der Rechtsgemeinschaft durchzusetzen. Von diesem Standpunkt her, der aus der tatsächlichen Situation ein erhöhtes Rechtsbewährungsbedürfnis ableitet (und sich damit innerhalb legitimer Strafzwecke befindet), bestünde gerade hier ein gesteigertes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung. Der Formalbegriff des öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung ist in der hier vorausgesetzten Lage nur durch Abwägung unterschiedlicher Interessen und Rechtsgüter zu konkretisieren. Diese Abwägungen sind mit denen identisch, auf die wir stoßen werden, wenn wir uns dem Bereich außerhalb der ausdrücklich normierten Grenzen des Legalitätsprinzips zuwenden. Die Einstellungsmöglichkeiten nach den §§ 153, 376 StPO haben für die hier zu behandelnde Frage keine nennenswerte materielle Bedeutung, sondern verlagern den andernfalls mit Hilfe übergesetzlicher Regeln zu beurteilenden Konflikt auf die Ebene der Gesetzesauslegung. 2. Von den übrigen Begrenzungen des Legalitätsprinzips aus dem Katalog der §§ 153 ff. StPO scheiden die Einstellungs- bzw. Nichtverfolgungsermächtigen nach den §§153a, 153 b, 153 c Abs. 1, 153 e, 154, 154 a, 154 b, 154 c und 154 d StPO teils aus tatsächlichen und teils aus rechtlichen Gründen für die hier interessierende Sachlage erkennbar aus. Dagegen gestatten § 153 c Abs. 2 und insbesondere § 153 d StPO das Absehen von der Strafverfolgung, soweit die Durchführung des Strafverfahrens die Gefahr eines schweren Nachteils für die Bundesrepublik Deutschland herbeiführt oder der Verfolgung sonst „überwiegende öffentliche Interessen" entgegenstehen. Die hier erwähnten „öffentlichen Interessen" sind nun, anders als in den Fällen der §§ 153, 376 StPO das „öffentliche Interesse an der Strafverfolgung", ohne Zweifel Umstände, die weder mit den Strafzumessungsbestimmungen des materiellen Strafrechts noch mit innerstrafprozessualen Interessen an der Strafverfolgung oder ihrem Unterbleiben etwas zu tun haben. In ihnen erkennt die Rechtsordnung vielmehr ausdrücklich an, daß auch außerhalb der sonst in den §§ 153 ff. StPO vertypten und in erster Linie auf strafrechtliche und strafverfahrensrechtliche Wertungen verweisenden Begrenzungen des Legalitätsprinzips hochgradige Gemeinschaftswerte der Verfolgungspflicht entgegenstehen können. Die engen sonstigen inhaltlichen und formellen Voraussetzungen beider Vorschriften stehen allerdings ihrer direkten Anwendung für unsere Konfliktfälle regelmäßig entgegen; der methodische Weg einer

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Gesetzesanalogie dürfte angesichts ihres nicht nur formellen, sondern auch materiellen Ausnahmecharakters verschlossen sein. Immerhin sind, was den direkten Rückgriff auf die Bestimmungen angeht, durch die Bezugnahme auf die Zuständigkeitskataloge in § 74 a und 120 GVG auch die Tatbestände der §§ 129, 129 a StGB erfaßt. Nun bilden diese Tatbestände, die in Einzelfällen auch hier in Frage kommen können, regelmäßig mit anderen im Katalog nicht genannten Delikten eine einheitliche prozessuale Tat, und es ist eine durchaus weiterer Prüfung bedürftige Frage, ob und wieweit sich die Nichtverfolgungsermächtigung auch hierauf bezieht. Es wäre zu erwägen, danach zu differenzieren, ob die hinzutretenden Tatbestände leichter oder schwerer wiegen als die Katalogtaten, und jedenfalls hinsichtlich derer, deren Strafdrohung hinter der Katalogtat zurückbleibt, anzunehmen, daß sie von der Nichtverfolgungsermächtigung mit erfaßt werden. Dennoch wäre es einigermaßen ungereimt, eine gesetzliche Ermächtigung zum Verfolgungsverzicht nur dann zu bejahen, wenn die in Betracht kommenden Straftaten tateinheitlich mit mitgliedschaftlicher Betätigung in einer kriminellen Vereinigung zusammentreffen und damit einen erhöhten Unrechtsgehalt aufweisen. Das kann und braucht hier nicht vertieft zu werden, weil der Rückgriff auf § 153 d StPO, so wichtig diese Vorschrift für unsere späteren Überlegungen sein wird, unser Problem nicht löst. Auch der Begriff des „überwiegenden, der Strafverfolgung entgegenstehenden öffentlichen Interesses" muß inhaltlich konkretisiert werden und führt damit wieder auf die bereits präzisierte Frage zurück, wann der durch drohende Krawalle erzwungene Strafverfolgungsverzicht das öffentliche Interesse an Strafverfolgung zu beseitigen oder (hier) ein ihr entgegenstehendes überwiegendes Interesse zu begründen vermag. Das ist aber, wie noch zu zeigen sein wird, auch außerhalb des Anwendungsbereichs gesetzlicher Nichtverfolgungsermächtigungen die Kernfrage. 3. Sie ist auch zu beantworten, wenn nicht gänzlicher Strafverfolgungsverzicht durch Nichterhebung der an sich nach § 1 7 0 Abs. 1 StPO gebotenen öffentlichen Klage in Frage steht, sondern nur eine Reduzierung der vorbereitenden ermittelnden Tätigkeit der Strafverfolgungsorgane, der in § 160 Abs. 1 StPO statuierten Erforschungspflicht. Sie ist, wie allgemein anerkannt, Bestandteil des Legalitätsprinzips und wird durch dessen Reichweite bestimmt. Eine solche Reduzierung der Ermittlungspflicht der Staatsanwaltschaft ist in doppelter Weise vorstellbar. Die Strafverfolgungsbehörden können einmal - etwa um eine Beruhigung des Klimas abzuwarten - nach Sachlage gebotene und alsbald mögliche Ermittlungen rein zeitlich vorübergehend zurückstellen. Insoweit bietet der Grundsatz der freien Gestaltung des Ermittlungsverfahrens jedenfalls in der Praxis nicht unerhebliche und auch für diesen

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Konflikt nutzbare Ermessensspielräume. Wann und mit welcher Intensität die Strafverfolgungsbehörden tätig werden, richtet sich auch nach ermittlungstaktischen Gesichtspunkten. Hierbei dürfte auch berücksichtigt werden können, ob einer sofortigen Ermittlung überwiegende öffentliche Interessen anderer Art entgegenstehen. Doch hat das Grenzen: Sie liegen einmal in dem (nicht nur im Interesse des Beschuldigten bestehenden) Beschleunigungsgebot und zweitens darin, daß die Ermittlungszurückstellung nicht die Aufklärung des Sachverhalts und damit das Legalitätsprinzip im engeren Sinne in Frage stellen darf. Reduzierung der Ermittlungstätigkeit stellt es auch dar, wenn die Intensität der erforderlichen Ermittlungen hinter das strafprozessual gebotene Maß zurückgenommen wird, etwa indem die Strafverfolgungsbehörden Zwangsmaßnahmen wie Durchsuchungen oder Beschlagnahmen unterlassen oder Haftanordnungen nicht beantragen oder nicht vollstrecken. Unter rein dogmatisch-systematischem Blickwinkel wäre ein solches Vorgehen strafverfahrensrechtlich nicht gedeckt, da alle Zwangsmaßnahmen unter dem verfassungsrechtlichen Prinzip der individuellen Verhältnismäßigkeit stehen. Sie dürfen daher im Einzelfall ohnehin nur angeordnet und durchgeführt werden, wenn sie zur Aufklärung des Sachverhalts unerläßlich sind; ihr Unterlassen trotz der sie gestattenden Voraussetzungen bedeutet daher stets eine Verletzung der mit dem Legalitätsprinzip verbundenen Erforschungspflicht. Trotz dieser dogmatisch wohl stringenten Zusammenhänge eröffnet indessen in der Rechtswirklichkeit die Unscharfe namentlich des Verhältnismäßigkeitsprinzips den Strafverfolgungsorganen auch hier gewisse Handlungs- und Beurteilungsspielräume. Kann somit auch bei einer Reduzierung der Verfolgungsintensität zumindest die praktische Möglichkeit nicht verneint werden, durch eine „behutsame" Gestaltung des Ermittlungsverfahrens öffentliche Unruhe zu vermeiden, so kommt es auch hier auf die Frage an, ob ein solches Vorgehen durch „überwiegende (außerprozessuale) öffentliche Interessen" geboten sein kann und welche Abwägungen hierbei vorzunehmen sind. III. 1. Daß die in der Form des Legalitätsprinzips statuierte Verfolgungspflicht auch außerhalb der gesetzlich normierten Grenzen zeitweilig oder gänzlich entfallen kann, läßt sich als allgemeine Möglichkeit nicht bestreiten. Dies wäre nur bei methaphysischer Überhöhung der Aufgabe des materiellen Strafrechts denkbar, die die Hegel'sehe „Negation der Negation des Rechts" absolut setzte und auf den Grundsatz hinausliefe: «fiat justitia, pereat mundus». Daß die entscheidende Wurzel des Legali-

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tätsprinzips in dieser Auffassung liegt, wird heute nicht mehr ernsthaft vertreten; es wäre auch mit der Gesetzeslage unvereinbar. Gebotene Strafverfolgungsmaßnahmen haben - was unbestritten anerkannt ist - jedenfalls soweit und solange zu unterbleiben, wie anders das Leben unbeteiligter Dritter nicht geschützt werden kann; Hauptbeispiele bilden die bei Geiselnahme denkbaren und in der Wirklichkeit vorkommenden Situationen. Für einen (in Grenzen) vergleichbaren Fall (Freipressung von Straftätern bei erpresserischer Geiselnahme und Fortsetzung der Strafverbüßung nach Ende der Gefahrenlage) hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 46, 215, 222 ff.) zwar die prinzipielle Verpflichtung des Staates zur Durchsetzung des Sanktionsanspruchs der Rechtsgemeinschaft betont. Es läßt jedoch Ausnahmen als denkbar erkennen, wenn es darlegt, Rechtsstaatlichkeit, Friedenssicherungspflicht des Staates und Gleichbehandlungsgrundsatz erforderten grundsätzlich die Durchsetzung des Strafanspruchs, und die Verfolgungsorgane seien von Verfassungs wegen verpflichtet, alle zumutbaren Anstrengungen hierzu zu unternehmen. Rechtssystematisch geht es hierbei um den Rückgriff auf den Notstandsgedanken, der in der Form eines Interessenabwägungsprinzips als allgemeiner Rechtsgrundsatz unserer Rechtsordnung zugrundeliegt und als rechtfertigender Notstand in den §§ 228, 904 BGB, 34 StGB eine partielle gesetzliche Anerkennung gefunden hat. Als allgemeines Konfliktlösungsschema gilt er aber auch außerhalb dieser speziellen Regelungen mit sachlogischer Notwendigkeit, ohne daß das Verfahrensrecht insoweit Besonderheiten aufweist. Nach diesem Interessenabwägungsprinzip ist dem unter Berücksichtigung aller Umstände des konkreten Falles höherwertigen der durch die konfligierenden Normenkomplexe geschützten rechtlichen Interessen auch unter Verletzung des geringerwertigen insoweit der Vorrang einzuräumen, als dies die einzige (zumutbare) Möglichkeit darstellt, ihm Anerkennung zu verschaffen. Rechtsgrundlage für die hier zu rechtfertigende Reduktion des Legalitätsprinzips kann nur dieser allgemeine Rechtsgrundsatz sein. Es wäre verfehlt, hier unmittelbar auf § 34 StGB zurückzugreifen. Denn es geht nicht nur und nicht einmal in erster Linie um eine Rechtfertigung eines tatbestandsmäßigen Verhaltens des einzelnen Amtsträgers, etwa unter dem Gesichtspunkt der Strafvereitelung im Amt (§ 258 a StGB). Der Konflikt muß bereits generell auf der verfahrensrechtlichen Ebene gelöst werden, so daß der einzelne Amtsträger, der sich an diese verfahrensrechtlichen Maßstäbe hält, schon nicht tatbestandsmäßig handelt. Die umstrittene Frage, ob § 34 StGB oder der allgemeine Notstandsgrundsatz auch staatliches Handeln zu rechtfertigen vermag, stellt sich in unserem Zusammenhang nicht, soweit es um Strafverfolgungsverzicht geht. Denn die Bedenken gegen eine solche Erstreckung des Notstandes

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richten sich nicht gegen das staatliche Handeln als solches, sondern nur dagegen, daß sich der Staat durch diesen Rückgriff zusätzliche Eingriffsermächtigungen verschafft. Hier geht es aber zunächst um das Unterlassen eines Eingriffs (der Strafverfolgung), der an sich gesetzlich vorgeschrieben ist, und damit um das Gegenteil. 2. Ungeeignet ist allerdings die Verwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips zur Rechtfertigung von Strafverfolgungsverzicht außerhalb der gesetzlichen Ermächtigungen. Interessenabwägung und Verhältnismäßigkeitsprinzip sind trotz mancher Verwandtschaft rechtstheoretisch voneinander zu trennen. Dem Verhältnismäßigkeitsprinzip ist namentlich der Bezug zur Eingriffskomponente staatlichen Handelns immanent. Es dient der einzelfallbezogenen Begrenzung staatlicher Eingriffe, deren generell umschriebene Voraussetzungen vorliegen, und bedarf als Bezugspunkt eines individuellen Betroffenen, an dessen Belastung sich die „Verhältnismäßigkeit" messen läßt. In bezug auf das Legalitätsprinzip und die Belastung des Beschuldigten durch Strafverfolgung und gegebenenfalls Bestrafung wird man die §§ 153, 153 a, 153 b und 154 StPO als (möglicherweise abschließende) gesetzliche Ausprägungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes interpretieren können. Das ohnehin schon recht diffuse Verhältnismäßigkeitsprinzip verliert aber jede feste Kontur, wenn man es ohne hinreichend deutliche Bezugspunkte mit einer allgemeinen Interessenabwägung gleichsetzt. 3. Ausprägungen des Interessenabwägungsprinzips sind aber diejenigen Vorschriften, die den Verzicht auf den staatlichen Strafanspruch wegen der „Gefahr eines schweren Nachteils für die Bundesrepublik Deutschland" oder bei Entgegenstehen „sonstiger überwiegender öffentlicher Interessen" gestatten (§ 153 c Abs. 2, § 153 d StPO). Sie könnten den Rückgriff auf die Interessenabwägung als allgemeines Regulativ zur Begrenzung des Legalitätsprinzips versperren, wenn man in ihnen eine abschließende gesetzliche Regelung zu sehen hätte. Doch wird man das nicht annehmen können. Beide Vorschriften regeln im Interesse der Rechtsklarheit erkennbar nur Teilbereiche von besonderer Aktualität und insoweit auch Kompetenz und Verfahren. So verdankt § 153 c Abs. 2 StPO mit seiner Beschränkung auf außerhalb des Geltungsbereichs des StGB und der StPO begangene Taten seine Existenz der besonderen Situation des geteilten Deutschland, während sich § 153 d StPO durch die Bezugnahme auf den Zuständigkeitskatalog der §§ 74 a, 120 GVG als ein Instrument flexibler Reaktion auf dem Gebiet des Staatsschutzes darstellt. Beide Vorschriften erlauben deshalb ohne weiteres weder eine Analogie noch rechtfertigen sie einen generellen Umkehrschluß. Abgesehen hiervon: Ist, wie hier angenommen wird, das Interessenabwägungsprinzip ein allgemeiner Rechtsgrundsatz, der mit

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sachlogischer Notwendigkeit gilt, dann kann der Gesetzgeber ihn nicht durch eine von der Materie her punktuelle Regelung im übrigen für einen ganzen Sachbereich ausschließen. Er hat allenfalls, wie in § 34 StGB, §§ 228, 904 BGB die Möglichkeit der generellen näheren Konkretisierung.

IV. Die Anwendung des Prinzips der Interessenabwägung auf unseren Konfliktsfall erfordert die Analyse und Bloßlegung der durch die konfligierenden Normen geschützten rechtlichen Interessen und ihres Gewichts. 1. Zu klären ist zunächst, da auch der Interessenabwägungsgedanke beim Rang der betroffenen Rechtsgüter ansetzen muß und das Güterabwägungsprinzip mit einschließt, welche Rechtsgüter hinter dem formalen Legalitätsprinzip stehen, inwieweit sie durch Verfolgungsverzicht und Verfolgungszurückstellung gefährdet werden und umgekehrt, welchem Rechtsgut bei strikter Anwendung des Legalitätsprinzips die Gefahr droht, die durch seine Verletzung abgewendet werden soll. a) Das Legalitätsprinzip, dessen Preisgabe hier in Frage steht, hat weit mehr als eine formale Ordnungsaufgabe, es ist im Verfassungsrecht verankert. Im hier interessierenden Zusammenhang ist namentlich sein Bezug zum Gleichheitssatz und seine Verbindung mit der Komponente des Rechtsstaatsprinzips hervorzuheben, die die Aufrechterhaltung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege und die prinzipielle Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs gebietet. Nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts kann sich der Rechtsstaat nur verwirklichen, wenn sichergestellt ist, daß der Straftäter im Rahmen der geltenden Gesetze verfolgt und abgeurteilt wird; aus dieser verfassungsrechtlichen Aufgabe des Staates hat es die Pflicht abgeleitet, die Durchführung von Strafverfahren sicherzustellen. Der Verzicht auf die Verwirklichung des Strafanspruchs außerhalb der gesetzlich geregelten Fälle ist nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts dem Staat von Verfassungs wegen untersagt (BVerfGE 46, 215, 223). Das Bundesverfassungsgericht beruft sich zur Begründung dieser Auffassung nicht nur auf den Gleichheitssatz; es bezieht sich auch auf die Pflicht des Staates, die Sicherheit seiner Bürger und deren Vertrauen in die Funktionsfähigkeit der staatlichen Organe zu schützen. In anderem Zusammenhang verknüpft es die rechtsstaatliche Notwendigkeit einer effektiven Strafrechtspflege mit dem Charakter des Staates als „Friedens- und Ordnungsmacht", der die Institution Staat rechtfertige (BVerfGE 49, 24, 57).

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Der materielle Sinn des Legalitätsprinzips ist nach dieser Auffassung seine rechtsfriedenssichernde Funktion. Es stabilisiert und sichert das Vertrauen der Bürger in die Fähigkeit der Staatsorgane, die öffentliche Sicherheit und Ordnung aufrechtzuerhalten und den inneren Frieden zu sichern. Allein diese Fähigkeit wiederum gewährleistet die Anerkennung des Gewaltmonopols des Staates. Nur soweit die Rechtsgemeinschaft sich in ihrem Vertrauen nicht enttäuscht sieht, daß der Staat die von ihm gesetzte Ordnung auch durchzusetzen vermag, kann von ihr erwartet werden, daß ihre Mitglieder auf eigene Gewaltanwendung zum Schutz ihrer rechtlich anerkannten Interessen verzichten. Deshalb erfordert das Legalitätsprinzip auch keine lückenlose Strafverfolgung; es ist für sachgerecht ausgestaltete gesetzliche Begrenzungen offen. Seine rechtsfriedenssichernde Funktion wird nicht wesentlich beeinträchtigt, wenn Verfolgungsverzicht unter richtiger Anwendung der normierten Begrenzungen geübt wird. Das Vertrauen in die Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung wird nicht dadurch gefährdet, daß der Staatsanwalt auf Strafverfolgung verzichtet, soweit das Gesetz ihm das ausdrücklich gestattet, vorausgesetzt freilich, daß diese gesetzlichen Begrenzungen als gerechte Differenzierungen von der Rechtsgemeinschaft akzeptiert werden. Anders aber, wenn Verfolgungsverzicht durch äußere Einflüsse erzwungen wird und damit außerhalb der normierten Grenzen des Legalitätsprinzips eintritt. Dann wird evident, daß der Staat im Teilbereich Strafverfolgung seine Aufgabe als Friedens- und Ordnungsmacht nicht mehr zureichend erfüllen kann. Je spektakulärer, je häufiger oder je gravierender solche Unterlassungen sind, desto stärker wird das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit des Staates als Friedens- und Ordnungsmacht erschüttert und damit sein nur durch diese Funktion begründbares Gewaltmonopol in Frage gestellt. Normativ nicht gedeckte Durchbrechungen des Legalitätsprinzips gefährden den Rechtsfrieden und die öffentliche Sicherheit. Die Sicherheit und das Sicherheitsgefühl der Allgemeinheit sind diejenigen Rechtsgüter, die tangiert werden, wenn auf die Durchsetzung des Legalitätsprinzips verzichtet werden soll. b) Ziel des erwogenen Verzichts auf Strafverfolgung ist es, Krawalle und Gewalttätigkeiten, kurz ein Bild der Unfriedlichkeit zu vermeiden. Dabei geht es nur vordergründig und nicht stets um die Verhinderung konkreter Schäden für Sachen oder Personen. Selbst wenn es den für die öffentliche Sicherheit und Ordnung verantwortlichen Organen möglich ist, die Sach- und Personenschäden zu beherrschen, liegt eine Gefährdung der inneren Sicherheit und des Sicherheitsgefühls schon darin, daß sich solche Dinge ereignen, und der erwogene Verzicht auf Strafverfol-

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gungsmaßnahmen hat seinen Grund gerade darin, dieses Unsicherheitsgefühl nicht eintreten zu lassen. c) Eingriffsgut und Erhaltungsgut fallen damit nahezu zusammen; es geht allemal darum, daß durch die eine oder andere Verhaltensweise (Legalitätsprinzip durchsetzen und Krawalle in Kauf nehmen oder auf den Anspruch des Legalitätsprinzips verzichten und Krawalle vermeiden) die friedenssichernde Funktion des Staates in Frage gestellt wird. Gefährdet ist stes das Vertrauen in Rechtssicherheit und Rechtsfrieden. Das Gewicht der betroffenen Rechtsgüter bietet mithin keinen Maßstab für die hier vorzunehmende Interessenabwägung. 2. Diese Gleichwertigkeit bewirkt jedoch bei der dem Notstandsgedanken entspringenden Pflicht zur umfassenden Interessenabwägung noch kein non liquet. Vielmehr muß in einer wertenden Gesamtschau, die sich in der Formel von der Angemessenheit des Mittels zusammenfassen läßt, eine umfassende Abwägung aller von der Rechtsordnung anerkannten Umstände vorgenommen werden. Sie führt hier zu dem Ergebnis, daß einem Verzicht auf die staatliche Strafverfolgungspflicht regelmäßig erhebliche Bedenken entgegenstehen. a) Daß die Preisgabe des Legalitätsprinzips (oder auch nur der Anklageverzicht durch die erzwungene Anwendung einer gesetzlichen Ausnahme) regelmäßig das mildeste Mittel darstellt, läßt sich nicht generell sagen. Krawalle, Unfriedlichkeiten und Gewalttätigkeiten zu verhindern oder mindestens einzudämmen, stehen den Sicherheitsbehörden regelmäßig unterschiedliche Strategien zur Verfügung; durch zurückhaltenden Einsatz von Sicherheitskräften können sich je nach der Situation Provokationen und Aufschaukelungen vermeiden lassen; in anderen Lagen wiederum kann der auch optisch massive Einsatz von Sicherheitskräften prohibitiv wirken. Es liegt im pflichtgemäßen Ermessen der Sicherheitsbehörden, im Rahmen des rechtlich Zulässigen die geeignete Strategie zu wählen. Hier ist die Wahl einer das Legalitätsprinzip achtenden, notfalls auch auf massierten Einsatz der Sicherheitskräfte zurückgreifenden Strategie gegenüber einer Aufopferung der durch das Legalitätsprinzip gesicherten Werte allemal das mildere Mittel. Droht von der Durchführung rechtlich gebotener strafprozessualer Verfolgungsmaßnahmen Unfriedlichkeit, so muß daher in jedem Fall zunächst versucht werden, die öffentliche Sicherheit mit polizeilichen Mitteln aufrechtzuerhalten. b) Auch eine hochgradige, auf andere Weise nicht abwendbare Wahrscheinlichkeit von Gewalttätigkeiten rechtfertigt keine pauschale Aufgabe des Legalitätsprinzips, weil es oft fraglich ist, ob der Strafverfolgungsverzicht das geeignete Mittel darstellt. Denn es geht ja nicht

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darum, einen einzelnen konkreten Krawall zu vermeiden, sondern insgesamt dem Klima der Unfriedlichkeit entgegenzuwirken. Wenn rechtlich gebotene Strafverfolgungsmaßnahmen zu Gewalttätigkeiten führen, dann droht aber in der Regel die Gefahr der Unfriedlichkeit nicht nur in dieser Situation. Wer Unfrieden sucht und bewirken kann, wird einen anderen Vorwand finden, ihn herbeizuführen. Die in die Abwägung einzubeziehende Rettungschance muß daher skeptisch betrachtet werden. c) Sie ist erst recht fraglich, wenn man die beiden Handlungsalternativen unter dem Aspekt vergleicht, bei welcher von ihnen dem (hier identischen) Rechtsgut (Vertrauen in die Fähigkeit des Staates zur Aufrechterhaltung des inneren Friedens) die größere Gefahr droht. Wird - vor den Augen der Öffentlichkeit - durch Reduzierung der Strafverfolgungspflicht ein Krawall abgewandt, so steht der augenblicklichen Erhaltung des Sicherheitsgefühls der schleichende und langfristige Verlust von Sicherheitsgefühl gegenüber, der zu erwarten ist, wenn sich die Erkenntnis allgemein verbreitet, daß der Staat bei der staatlichen Strafverfolgung „erpreßbar" sei. Wenn mit Hilfe der Drohung der Unfriedlichkeit der Durchsetzung des Strafanspruchs einmal erfolgreich begegnet werden konnte, kann dies das Bereitschaftspotential steigern, dem Anspruch auch künftig auf gleiche Weise zu begegnen. Dabei wirkt die Verknüpfung von Gewalt und beschwichtigender Reaktion besonders anstößig, denn sie stellt zwei rechtliche Grundwerte in Frage: das friedenssichernde Gewaltmonopol des Staates und die dem Gleichheitssatz entspringende Notwendigkeit, Strafrecht ohne Ansehen der Person zu verwirklichen. Ob in einer längerfristigen Perspektive die Nichtdurchsetzung des Sanktionsanspruchs der Rechtsgemeinschaft ein angemessenes und taugliches Mittel ist, Gewaltbereitschaft zu verringern, ließe sich daher mit guten Gründen prinzipiell bezweifeln. 3. Der deshalb naheliegende Schluß auf eine absolute Vorrangstellung der durch das Legalitätsprinzip im weiteren Sinne bestimmten Verhaltensnormen der Strafverfolgungsorgane gegenüber dem (anders nicht erreichbaren) Bedürfnis, den inneren Frieden zu sichern, läßt sich dennoch nicht ziehen. Da das einheitliche, hier zu schützende Interesse die Fähigkeit des Gemeinwesens ist, den inneren Frieden und die Austragung von Konflikten mit friedlichen Mitteln zu gewährleisten, sind auch bei der Einschränkung der strafverfolgenden Tätigkeit Abstufungen und Bewertungsunterschiede zu beachten. a) Sie können einmal bei dem Umfang des Verzichts auf den staatlichen Strafverfolgungsauftrag ansetzen. Wenn es nur um zeitliche oder inhalt-

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liehe Reduzierung der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungstätigkeit geht, so sind (jedenfalls faktisch) nicht unerhebliche Beurteilungsspielräume für die Strafverfolgungsbehörden vorhanden. Werden sie in Richtung auf ein behutsames Vorgehen voll ausgeschöpft, so kann das auch langfristig das zu stützende Bewußtsein der Rechtssicherheit nicht ernsthaft gefährden. Deshalb ist bei solchen Spielräumen zur Aufrechterhaltung der augenblicklichen Sicherheit dieses behutsame Vorgehen nicht nur zulässig, sondern regelmäßig aus Gründen der Interessenabwägung geboten. Ob man über diese Spielräume hinausgehend die Ermittlungstätigkeit reduzieren kann, ohne den Verfolgungsanspruch gänzlich aufzugeben, ist fraglich, wird aber in besonderen Situationen wohl nicht verneint werden können. Doch wird dies nur in Frage kommen, wenn sowohl Wahrscheinlichkeit als auch Grad der augenblicklichen Sicherheitsgefährdung ganz besonders hoch sind, während andererseits die Wahrscheinlichkeit gering sein muß, daß der zeitweilige Ermittlungsverzicht in einen endgültigen Sanktionsverzicht umschlägt. Entscheidend wird hierbei eine besonders sorgfältige Abwägung aller Umstände der konkreten Situation sein. b) Sehr viel prekärer ist unter dem Gesichtspunkt des Vertrauens in die Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung der durch drohende Gewalt erzwungene Totalverzicht auf den staatlichen Strafanspruch; es liegt nahe, eine solche Möglichkeit gänzlich zu verneinen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die anstößige Verknüpfung zwischen drohender Gewalt und Strafverfolgungsverzicht besonders aufdringlich ist und Bereiche betroffen sind, die üblicherweise dem uneingeschränkten Legalitätsprinzip unterliegen. Wird die öffentliche Klage etwa nicht erhoben, obwohl die Tatschuld nicht gering erscheint oder sich gar auf ein Verbrechen richtet, und wird sie etwa erkennbar deshalb nicht erhoben, weil gerade für den Fall der öffentlichen Klage Gewalt angedroht wird, so liefe es auf eine Preisgabe der Friedens- und Ordnungsfunktion des Staates hinaus, hier nachzugeben; es erscheint ausgeschlossen, in diesem Fall die kurzfristige Erhaltung der öffentlichen Sicherheit höher zu bewerten als die preisgegebene Rechtsbewährung. Allerdings ist diese Argumentation, was hier nur angedeutet werden kann, nur dann in sich stimmig, wenn die Strafrechtspflege insgesamt glaubwürdig ist. Der Strafverfolgungsverzicht infolge befürchteter Gewalt stellt nicht die einzige Gefährdung des Legalitätsprinzips dar. Ihn schon im Ansatz als rechtmäßiges Mittel zu verneinen, wird um so zweifelhafter, je weniger die Strafverfolgungsbehörden sich im übrigensei es auch in extremen Situationen - an die Verpflichtung halten, ihr Aufklärungs- und Anklageverhalten unparteiisch und sachgerecht zu

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handhaben, und je mehr sie einem - sei es auch nur verbalen - Druck von welcher Seite auch immer nachgeben. Man könnte weitergehen und die These wagen, daß die Glaubwürdigkeit der Strafrechtspflege als wesentliches Element der Bewährung der Rechtsordnung schon dadurch in Frage gestellt wird, daß meinungsbildende Kreise Zumutungen dieser Art an die Strafverfolgungsbehörden richten. Unabhängig von diesen Vorbehalten mögen unter gewissen, sehr engen Voraussetzungen auch von dem Vorrang der Anklagepflicht Ausnahmen denkbar sein. So mag es Fälle geben, in denen ein bestimmtes Verhalten zwar formal strafbar ist, seine Strafwürdigkeit nach allgemeiner Rechtsüberzeugung aber nur noch als minimal angesehen wird. Hier kann gerade die Diskrepanz zwischen Strafbarkeit und Strafwürdigkeit mitursächlich dafür sein, daß eine kompromißlose und buchstabengetreue Strafverfolgung die Unruhe auslöst, die sich in die innere Sicherheit gefährdenden Aktionen manifestiert. Maßgebendes Kriterium ist freilich der Konsens über die mangelnde Strafwürdigkeit. Daß deren Verneinung allein durch die „pressure group", die den Verfolgungsverzicht durch Androhung von Gewalt erzwingen will, nicht ausreichen kann, ist eine bare Selbstverständlichkeit. Wegen der Ordnungsfunktion des gesetzten Rechts reicht es aber ebensowenig aus, daß die Strafwürdigkeit nur von einem Teil der Rechtsgemeinschaft in Zweifel gezogen wird, mag er auch gesellschaftlich nocht so relevant sein, und daß diese Auffassung im übrigen gefühlsmäßig als verständlich oder nachvollziehbar toleriert wird. Nur bei generell bejahter Diskrepanz zwischen formeller Strafbarkeit und mangelnder Strafwürdigkeit wäre die Durchsetzung des Strafanspruchs nur noch wenig geeignet, das Rechtsbewußtsein der Allgemeinheit zu stärken; die Wirkung könnte sich auf die Einübung eines bloßen Gesetzesgehorsams reduzieren. Man sollte das nicht gänzlich abwerten. In einer gewaltenteilenden Demokratie ist es in erster Linie Aufgabe des parlamentarisch legitimierten Gesetzgebers, der mangelnden Strafwürdigkeit durch Aufhebung der Strafbarkeit Rechnung zu tragen. Die schützenswerte Verteidigung der Rechtsordnung umfaßt auch diesen Aspekt des formalen Gesetzesgehorsams, wenn auch mit geringerer Verbindlichkeit. Bei der Abwägung der verschiedenen Interessen und beim Gewicht des Legalitätsprinzips wird man aber den Rückgriff auf die materielle Strafwürdigkeit des strafbaren Verhaltens in engen Grenzen als zulässig und geboten ansehen müssen. Meist wird es in den hier gemeinten seltenen Ausnahmefällen allerdings des Rückgriffs auf das notstandsrechtliche Interessenabwägungsprinzip deshalb nicht bedürfen, weil sich diese Situationen unmittelbar unter die gesetzlichen Ausnahmen vom Legalitätsprinzip, namentlich unter § 153 StPO subsumieren lassen. Denn fehlende Strafwürdigkeit

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einer bestimmten Tat (oder bestimmter Tatmodalitäten) wird häufig mit einer geringen Schuld des Täters korrespondieren und regelmäßig auch unter speziai- und generalpräventiven Gesichtspunkten das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung beseitigen. 4. Nach allem läßt die Interessenabwägung nur einen sehr schmalen Bereich übrig, in dem ein Verzicht auf strafverfolgende Tätigkeit ohne strafprozessuale Ermächtigung mit dem Interesse an der Aufrechterhaltung des inneren Friedens gerechtfertigt werden kann. Mit der Sicherung des Rechtsfriedens durch den Staat als Friedens- und Ordnungsmacht fallen Eingriffs- und Erhaltungsgut zusammen. Die schleichende Gefährdung des Rechtssicherheitsgefühls durch die „Erpreßbarkeit" des Staates stellt per saldo die größere Gefahr für die innere Sicherheit dar als das vorübergehende Vorkommen von Gewalt, und eine „Beschwichtigungsstrategie" durch Strafverfolgungsreduktion ist vielfach kaum das geeignete Mittel, ein vorhandenes Potential an Unfriedlichkeit gänzlich zu eliminieren. Einige, wenn auch in ihrem Umfang nicht zu überschätzende Spielräume bieten sich bei der Intensität der Ermittlungstätigkeit, wo ein behutsames Vorgehen geboten sein kann, um Unruhen zu vermeiden. Die theoretische Möglichkeit des gänzlichen SanktionsVerzichts ist an so enge Voraussetzungen gebunden, daß sie gegenwärtig in den Bereich der Spekulation gehört. 5. Die Situation würde sich, was hier nur beiläufig behandelt werden kann, nur in Nuancen anders darstellen, wenn dem deutschen Strafverfahrensrecht kein begrenztes Legalitätsprinzip, sondern ein gebundenes Opportunitätsprinzip zugrundeliegen würde. Denn die Interessenabwägung setzt nicht am formalen Legalitätsprinzip an, sondern greift auf dessen materielle Grundlage zurück, nämlich den verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz und die aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Pflicht des Staates zur Bewahrung des Sicherheitsgefühls unter anderem durch die Aufrechterhaltung einer effektiven Strafrechtspflege. An diese verfassungsrechtlichen Vorgaben wäre aber auch eine Strafverfolgungsbehörde gebunden, der das Prozeßrecht größere Beurteilungsspielräume bei der Entscheidung darüber einräumen würde, unter welchen Voraussetzungen Straftaten verfolgt werden oder von der Verfolgung abgesehen werden kann. V. Dem Strafverfolgungsverzicht zur Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit steht als Gegenstrategie gedanklich die Möglichkeit der Strafverfolgungsverschärfung gegenüber. Sie würde davon ausgehen, daß es angebracht sein könnte, durch eine demonstrativ energische Strafverfol-

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gung, durch eine sachlich nicht unerläßliche „Forschheit" dem durch Krawalle erzeugten Gefühl der Rechtsunsicherheit den Eindruck der Fähigkeit des Staates entgegenzusetzen, den Rechtsfrieden zu wahren. 1. Eine prinzipielle Schranke gegenüber derartigen Ansätzen folgt aus dem Zweck des Strafverfahrens. Dabei ist es gleichgültig, ob man Wahrheit und Gerechtigkeit, erreicht auf justizförmigem Wege, als oberste Verfahrenszwecke versteht, oder ob man den Verfahrenszweck in der Wiederherstellung gestörten Rechtsfriedens sieht. Auch die zweite Formel darf nicht so verstanden werden, als ob das Strafverfahren beliebig als Instrument zur Erreichung allgemeinen Rechtsfriedens eingesetzt werden dürfe. Die hier gemeinte Wiederherstellung des Rechtsfriedens verlangt die Ausrichtung des Verfahrens an Wahrheit, Gerechtigkeit und Rechtssicherheit und damit die schonende Anwendung prozessualer Machtmittel und die Beachtung der verfahrensrechtlichen Förmlichkeiten; gemeint ist allein die Wiederherstellung des durch die Straftat gestörten Rechtsfriedens durch den Einsatz des Gewaltmonopols des Staates. Ebensowenig läßt sich auf der Grundlage von Prozeßzweckauffassungen, die nicht den herrschenden entsprechen, der Einsatz des Strafverfahrens zur demonstrativen Befestigung des Sicherheitsgefühls rechtfertigen. Das gilt sowohl für den Legitimationsansatz Luhmanns als auch für die konflikttheoretischen Ansätze, die dem Strafverfahren eine problemlösende Aufgabe zuweisen wollen. Keines der zur Zeit vertretenen Erklärungsmodelle für Strafverfahren gibt der Möglichkeit Raum, das Verfahren ohne ausdrückliche gesetzliche Grundlage als präventives Mittel zur Wiederherstellung eines allgemeinen Sicherheitsgefühls einzusetzen. 2. Das bedeutet nicht schlechthin, daß es unzulässig wäre, das generalpräventive Interesse an energischer strafrechtlicher Gegenreaktion gegen das Klima der Unfriedlichkeit zu berücksichtigen. a) Der legitime Strafzumessungsgrund der Verteidigung der Rechtsordnung gestattet es, den positiven Rechtsbewährungsaspekt der Generalprävention auf die Sanktionsbemessung durchschlagen zu lassen. Da unbestritten die materiell-rechtliche Verteidigung der Rechtsordnung auch das prozessuale „öffentliche Interesse an der Strafverfolgung" (§§ 153, 376 StPO) begründen kann, besteht eine strafprozessual legitime Möglichkeit, Rechtssicherheitsbedürfnisse der Allgemeinheit, die durch ein Klima der Unfriedlichkeit erzeugt werden, zu befriedigen. Das Bestreben, zukünftigen Gewalttätigkeiten vorzubeugen und das Gefühl der Rechtssicherheit zu stärken, rechtfertigt deshalb die Nichtanwendung der §§ 153, 376 StPO unter Berufung auf ein (generalpräventiv motiviertes) öffentliches Interesse an der Strafverfolgung. Doch

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hat das enge Grenzen. Die Strafzumessung wird durch das Schuldprinzip limitiert, das strafverfahrensrechtliche Vorgehen durch Gleichheitssatz, Verhältnismäßigkeitsprinzip und fair-trial-Grundsatz. b) Auch im Verfahrensablauf können die Bedürfnisse einer das Rechtsbewußtsein stärkenden Strafverfolgung mit den Prozeßzwecken konvergieren. Das gilt etwa für die Bemühung um eine (angemessen) zügige Durchführung des Strafverfahrens. Die rasche Aburteilung von Gewalttätern wirkt dem Eindruck mangelnder Effektivität des Strafverfahrens entgegen und dient damit der Verteidigung der Rechtsordnung; sie entspricht den objektiven Zielen des Strafverfahrens und sie erfüllt den Anspruch des Beschuldigten auf Aburteilung in angemessener Frist (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK). Allerdings darf, worauf noch einzugehen sein wird, das Bemühen um angemessen zügige Aufklärung und Aburteilung nicht in das Bestreben nach „standrechtlicher Soforterledigung" umschlagen. 3. Jede weitere Verfolgungsverschärfung ist nach dem System und dem Zweck des Verfahrensrechts von Gesetzes wegen verschlossen. Das ist für die Verfolgung eines Unschuldigen im Sinne von § 344 StGB ebenso evident wie für die Rechtsbeugung nach § 336 StGB, die auch durch unrichtige Anwendung des Verfahrensrechts begangen werden kann. Es gilt aber auch, wenn den Strafverfolgungsbehörden Beurteilungs- und Ermessensspielräume in der Art der Verfahrensgestaltung eingeräumt sind. Denn Zweck des Strafverfahrens ist es, eine der Wahrheit und Gerechtigkeit möglichst nahekommende Entscheidung vorzubereiten und zu treffen. Ein Ermessen, daß sich nicht hieran, sondern an den Bedürfnissen präventiver Sicherheitspolitik orientieren würde, wäre nicht mehr pflichtgemäß, sondern rechtswidrig und - weil den Verdächtigen als Mittel für strafverfahrensrechtlich nicht legitimierte Präventions'interessen einsetzend - als Verstoß gegen die Menschenwürde (Art. 1 G G ) verfassungswidrig. Dieses Verbot, strafrechtlich und strafprozessual nicht (über die Verteidigung der Rechtsordnung und das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung) zulässige und durch den Verfahrenszweck nicht (nach Art und Umfang) gedeckte Strafverfolgung zum Zweck der Abschrekkung einzusetzen, läßt sich auch nicht unter Berufung auf ein allgemeines Interessenabwägungsprinzip überschreiten. Dabei kann auch hier dahinstehen, ob limitierte staatliche Eingriffsbefugnisse überhaupt nicht unter Notstandsgesichtspunkten erweiterbar sind. Hier genügt die Feststellung, daß weder das Erhaltungsgut (innere Sicherheit) das Aufopferungsgut (rechtsstaatlich gebundenes Strafverfahren) überwiegt, noch daß es sich bei der Verfolgungsverschärfung überhaupt um ein geeignetes Mittel handelt. Denn der Rechtsbewährungsgedanke würde durch

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einen den Grundwerten der Rechts- und Verfasssungsordnung nicht entsprechenden, mißbräuchlichen Einsatz des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts nicht gestärkt werden können. 4. Das Verbot der Zweckentfremdung des strafprozessualen Instrumentariums für „präventiv-polizeiliche Drohgebärden" gilt umfassend, weil ein solches Vorgehen nicht in der Lage sein kann, die rechtsfriedenssichernde Aufgabe eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens zu erreichen. Zur Befestigung der Rechtstreue ist langfristig nur das leidenschaftslose, allein an Wahrheit und Gerechtigkeit orientierte Vorgehen der Strafverfolgungsbehörden geeignet. Nun besteht gegenwärtig kaum die Gefahr, daß jemand diesem Zweckentfremdungsverbot dadurch zuwiderhandelt, daß er Unschuldige verfolgt oder übermäßige Strafen verhängt. Die Verlockungen zur Grenzüberschreitung liegen in scheinbar harmloseren Bereichen. Abgesehen vom demonstrativen Einsatz strafprozessualer Zwangsmaßnahmen, dessen Unzulässigkeit sich schon aus dem (hier richtig angewandten) Verhältnismäßigkeitsprinzip ergibt, ist die Art der Erhebung der öffentlichen Klage als „Drohgebärde" besonders geeignet. Der Ruf nach dem beschleunigten Verfahren der §§212 ff. StPO findet unter anderem hierein seine Erklärung; er wirkt deshalb auf den ersten Blick überzeugend, weil es ein strafprozessual legitimes Vorgehen zu sein scheint, unter Ausnutzung vorhandener strafverfahrensrechtlicher Möglichkeiten der Tat die Strafe auf dem Fuße folgen zu lassen. Doch hat der verehrte Jubilar schon vor fast einem Vierteljahrhundert (GA 1959, 272 ff.) eindrucksvoll auf die Gefahren hingewiesen, die bei unsachgemäßer Anwendung des beschleunigten Verfahrens den Verteidigungsinteressen des Angeschuldigten drohen. § 212 StPO setzt voraus, daß der Sachverhalt einfach und die sofortige Aburteilung möglich ist, und das heißt nicht nur technisch möglich, sondern auch als fair-trial möglich. Man wird folglich bei der Frage, ob es zulässig ist, auf öffentliche Gewalttaten mit dem beschleunigten Verfahren zu reagieren, unterscheiden müssen: Nichts ist gegen diese Verfahrensweise einzuwenden, wenn der Sachverhalt wirklich einfach und die sofortige Aburteilung wirklich möglich ist, ohne daß die Verteidigungsinteressen des Angeschuldigten, sein Anspruch auf rechtliches Gehör und die distanzierte, emotionsfreie Neutralität des Richters beeinträchtigt werden. Allzu häufig wird dies nicht der Fall sein. Den Rufern nach der extensiveren Anwendung des § 212 StPO bei Krawallen dürfte es vielfach jedoch um etwas Anderes gehen, nicht um die sachgerecht zügige Durchführung des Strafverfahrens unter Verzicht auf die bei einfachen Sachverhalten entbehrlichen Zwischenschritte, sondern um die volle Ausschöpfung der Möglichkeit

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der sofortigen Aburteilung unter Ausnutzung der extrem kurzen Ladungs- und Vorbereitungsfrist, die Dünnebier mit Recht als regelmäßig zu kurz bezeichnet hat, und um den Richterspruch noch in der emotionalen Situation der Gewalttätigkeit mit dem Ziel, weitere zu verhindern. So eingesetzt wird das beschleunigte Verfahren ein dysfunktional und damit unzulässig verwendetes Mittel zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung. VI. Da nach dem Ergebnis unserer Untersuchung einige, wenn auch sehr begrenzte Handlungsspielräume bei Verfolgungsverzicht und Verfolgungsverschärfung zur Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit deutlich geworden sind, ist noch kurz auf die Frage einzugehen, wem die Entscheidungsbefugnis darüber zusteht, von diesen Handlungsspielräumen Gebrauch zu machen. 1. Sofern die hier entwickelten Abwägungsgesichtspunkte zur inhaltlichen Konkretisierung gesetzlich bestimmter strafprozessualer Beurteilungsspielräume verwendet werden, ist die Entscheidungskompetenz diesen Vorschriften zu entnehmen. Sie weisen der Staatsanwaltschaft eine wichtige, aber nicht allein entscheidende Rolle zu. a) Die Entscheidung liegt entweder in der Hand der Staatsanwaltschaft allein oder in der von Gericht und Staatsanwaltschaft gemeinschaftlich. Ersteres ist der Fall, wenn die Staatsanwaltschaft - in deren alleiniger Verantwortung die Gestaltung des Ermittlungsverfahrens liegt - die Reduzierung der alsbaldigen Ermittlungspflicht im Sinne eines behutsamen Vorgehens erwägt oder wenn sie bei privatklagefähigen Delikten über das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung (§ 376 StPO) zu entscheiden hat. Letzteres kommt regelmäßig in Betracht, wenn Strafverfolgungsverzicht über die direkte Anwendung des § 153 StPO verwirklicht werden soll. Die entscheidende Funktion kommt der Staatsanwaltschaft auch dort zu, wo im umgekehrten Fall das durch Gewalttätigkeiten ausgelöste Bedürfnis nach Verteidigung der Rechtsordnung (in Form des öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung) einer vom Gericht erwogenen Verfahrenseinstellung nach § 153 Abs. 2 StPO entgegensteht. Eine umgekehrte Sperrwirkung liegt in der weitgehenden Richterkompetenz für die Anordnung von Zwangsmaßnahmen. b) Eine eigene Entscheidungskompetenz der Polizei besteht regelmäßig nicht, so wichtig ihr sachverständiger Rat für die Beurteilung der Sicherheitslage auch im Einzelfall sein mag. Für die - verschwindend wenigen - Fälle zulässige Verfolgungsverschärfung ist dies offensichtlich. Es gilt aber auch für den umgekehrten Fall des Strafverfolgungsverzichts. Denn die Bestimmung des Ablaufs des strafrechtlichen Ermitt-

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lungsverfahrens steht ebenso wie die Anwendung der gesetzlich normierten Ausnahmen von der Anklagepflicht nach der Grundstruktur des Strafverfahrens ausschließlich der Staatsanwaltschaft zu. Der Vorrang staatsanwaltschaftlicher Entscheidungsbefugnis gilt grundsätzlich auch für das „ob" und „wie" der Durchsetzung strafprozessualer Zwangsmaßnahmen. § 36 Abs. 2 StPO weist der Staatsanwaltschaft die Verantwortung für die Vollstreckung derartiger Entscheidungen zu. Sie kann sich zu ihrer Unterstützung für die technische Durchführung der Polizei im Wege der Amtshilfe oder ihrer Hilfsbeamten nach § 152 Abs. 1 G V G bedienen. Es ist insoweit nicht Aufgabe der Polizei, zu entscheiden, ob wegen generell befürchteter Unruhen die Vollstreckung der Zwangsmaßnahme zu unterbleiben hat. Anders kann sich die Situation nur ausnahmsweise darstellen, wenn die Vollstreckung der einzelnen Zwangsmaßnahme es aktuell erforderlich macht, daß zu ihrer Sicherung die Polizei Maßnahmen der Gefahrenabwehr trifft. Für diesen Fall (und nur für ihn) ist für die an der Vollstreckung beteiligten Amtsträger die gemeinsame Richtlinie der Justiz- und Innenressorts verbindlich, die (unbeschadet der Beschwörungsformeln zur vertrauensvollen Zusammenarbeit) im Konfliktsfall der Polizei die Entscheidungsprärogative zuweist. c) Allerdings sind Polizei und Staatsanwaltschaft hierarchisch gegliedert und in den allgemeinen Exekutivaufbau eingebunden; die einzelnen Funktionsträger sind, jedenfalls im Grundsatz, weisungsgebunden, die jeweiligen Spitzen folglich weisungsverpflichtet. Daraus ergibt sich sofern die Grenzen zulässiger Weisung nicht überschritten werden - bei unterschiedlicher Beurteilung der Gesamtsituation aus polizeilicher und justitieller (staatsanwaltschaftlicher) Sicht letztlich die (landesverfassungsrechtlich unterschiedliche) Befugnis der politischen Exekutivspitze zur Entscheidung, die nur dort eingeschränkt ist, wo Richtervorbehalte zu beachten sind. 2. Für den Strafverfolgungsverzicht außerhalb der normierten Begrenzungen des Legalitätsprinzips, der hier (vgl. oben IV 3 b), wenn auch mehr theoretisch und nur unter engen Voraussetzungen für möglich gehalten wird, scheidet eine Entscheidungsbefugnis der Polizei von vorne herein aus. Fraglich kann nur sein, ob die Staatsanwaltschaft hier allein verzichten kann (und damit den Verzicht auch allein verantworten muß), oder ob entsprechend §§ 153, 153 a StPO die richterliche Mitwirkung erforderlich ist. Vergleichbar ist die Situation mit der in § 153 c Abs. 2 und in § 153 d StPO geregelten; es handelt sich um die dem Prinzip des überwiegenden Interesses entspringende Berechtigung, außerstrafprozessuale öffentliche Interessen gegen das Strafverfolgungsinteresse durchschlagen zu lassen. Diese beiden Vorschriften sehen aber,

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anders als die §§ 153, 153 a StPO, für den Verfolgungsverzicht die richterliche Zustimmung nicht vor. Gleiches wird man auch in dem hier interessierenden Fall anzunehmen haben. Aus der Parallele mit den §§ 153 c, 153 d StPO wird man weiter schließen dürfen, daß derartige Entscheidungen der Staatsanwaltschaft auch dem Klageerzwingungsverfahren nicht zugänglich wären (§ 172 Abs. 2 Satz 3 zweiter Halbsatz StPO). VII. Das Verhältnis der strafprozessual korrekten Durchsetzung des Sanktionsanspruchs der Rechtsgemeinschaft zu dem präventiven Bedürfnis, die innere Sicherheit aufrechtzuerhalten, läßt sich nach allem nach einer ersten Sichtung des Problemfeldes im Sinne einer vorläufigen Zwischenbilanz folgendermaßen zusammenfassen: 1. Strafverfolgungsverschärfung aus präventiven Gründen ist nur über das schmale Einfallstor der Verteidigung der Rechtsordnung und des hiervon abhängigen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung in den §§ 153, 376 StPO legitim. Ein darüber hinausgehender, den Verfahrenszwecken nicht entsprechender Einsatz strafprozessualer Handlungsspielräume, der von der Absicht getragen ist, die Fähigkeit des Staates zu demonstrieren, die innere Sicherheit zu gewährleisten, ist gesetzwidrig und läßt sich auch unter Notstandsgesichtspunkten nicht rechtfertigen. 2. Für einen Strafverfolgungsverzicht bieten die gesetzlichen Nichtverfolgungsermächtigungen in den §§ 153, 376 StPO keinen materiellen Maßstab und damit nicht ohne weiteres eine Grundlage, selbst wenn sie formell in Betracht kommen. Ansatzpunkt einer Konfliktlösung kann in allen Fällen nur das den rechtfertigenden Notstand tragende Interessenabwägungsprinzip sein. Dabei führt die Interessenabwägung regelmäßig nicht zu einem Vorrang des augenblicklichen Sicherheitsbedürfnisses zu Lasten des Strafverfolgungsauftrags, weil das Vertrauen in die Fähigkeit des Staates, den inneren Frieden zu sichern, durch die Art mitbestimmt wird, wie dieser Strafverfolgungsauftrag ausgeführt wird. Eine andere Bewertung kann nur in besonderen Fällen geboten sein. Eine behutsame Wahrnehmung der Ermittlungspflicht (Strafverfolgungsreduktion) kommt dabei eher in Betracht als der gänzliche Verzicht auf den Sanktionsanspruch. Er ist allenfalls unter Bedingungen möglich, für die es zur Zeit keine Anhaltspunkte gibt. 3. Beide Aspekte lassen sich in der Formel zusammenfassen, daß eine am Recht orientierte, emotionslose und unparteiische Strafverfolgung, die sich Zumutungen des Tages nicht beugt, dem inneren Frieden am besten dient. Das ist eigentlich eine triviale Erkenntnis, doch wird die Notwendigkeit erkennbar, sie auszusprechen.

Durchsuchungen von Personen, Räumen und Sachen Strafprozessuale Probleme und kriminalistische Erkenntnisse FRIEDRICH GEERDS

In einer Zeit, die strafprozessuale Zwangsmittel wie staatlichen Zwang überhaupt differenzierter als früher betrachtet und sich sogar im Interesse der Bürger um präzisierend zu ändernde Vorschriften bemüht 1 , erscheint es angebracht, die Aufmerksamkeit auf die im Strafverfahren häufigen Durchsuchungen zu lenken. Denn ebenso wie bei anderen Zwangsmaßnahmen kann hier nicht nur die Rechtsanwendung mitunter Zweifel wecken, sondern selbst eine in den wesentlichen Zügen seit vielen Jahrzehnten geltende Regelung 2 kann als solche oder doch in wesentlichen Punkten nunmehr als fragwürdig erscheinen. Dies gilt u. E. auch für die strafprozessualen Vorschriften über Durchsuchungen, deren juristische Problematik zudem weit über das Strafprozeßrecht hinausreicht. Einerseits ist hier an die sowohl für opponierende Betroffene und ihre Sympathisanten als auch für den damit betrauten, seine Befugnisse jedoch überschreitenden Beamten wichtigen Grenzen zu denken, was jeweils Strafbarkeit bedeuten kann 3 . Zum anderen aber ist auf die im Grundgesetz verbürgten Grundrechte hinzuweisen, die durch derartigen Zwang mehr oder minder nachhaltig eingeschränkt werden 4 . D o c h geht es keineswegs nur um Rechtsfragen. Vielmehr werfen Durchsuchungen als typische Vorstufe von Beschlagnahme oder Festnahme bzw. Verhaftung zugleich mancherlei tatsächliche Probleme auf, mit denen sich vor allem, aber keineswegs nur die Kriminalistik befaßt. 1 Zu einem Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums mit weiterer Literatur und Judikatur Rieß, Peter: Neuordnung des Rechtsschutzes gegen strafprozessuale Zwangsmaßnahmen, ZRP 1981, 101 ff. 2 Zu den Vorläufern der Regelung und zur Geschichte dieser Zwangsmittel überhaupt ausführlich mit reichhaltigem Schriftum Günther (= Günther, Edgar: Die Durchsuchung von Räumen und Sachen. Eine strafprozessual-kriminalistische Studie zu den §§ 102 ff. StPO unter Berücksichtigung der Geschichte und der Regelungen im ausländischen Recht, Diss. Frankfurt a.M., o . O . 1973), S. 53 ff., 35 ff. und auch Michallek (= Michallek, Klaus: Die Durchsuchung von Personen. Eine strafprozessuale und kriminalistische Studie unter Berücksichtigung des ausländischen Rechts, Diss. Frankfurt a.M., München 1979), S. 29 ff. 3 Während bei Betroffenen und Dritten hier vor allem die §§ 113, 223 ff., 185 ff. StGB in Betracht kommen, ist bei den Beamten insb. an die §§ 240,239, 340, 344 StGB sowie an ein Disziplinarverfahren zu denken. 4 Darauf hat insb. schon E. Schmidt (= Schmidt, Eberhard: Deutsches Strafprozeßrecht. Ein Kolleg, 1967) S. 103 f., Rdn. 176, 177 hingewiesen.

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Deshalb sollten u. E. schon bei der hier nicht selten heiklen Rechtsanwendung mehr als bisher die einschlägigen, wenngleich gewiß noch nicht erschöpfenden Erkenntnisse der Kriminalisten genutzt werden. Ihnen kommt überdies aber auch Gewicht für die Rechtsentwicklung zu, zumal da Tatfragen im oft doch etwas theoretisch anmutenden Reformgerangel leicht zu kurz kommen. Um derartige Fragestellungen hat sich gerade der Jubilar besonders verdient gemacht. Als Inhaber verantwortlicher Positionen in der Strafrechtspflege hat er sich in der Rechtspraxis, aber auch bei Gesetzgebungsarbeiten und anerkennenswerterweise nicht zuletzt im Schrifttum mit sichtbarem Erfolg bemüht, seine als qualifizierter Jurist in der täglichen Arbeit gewonnenen Erfahrungen insb. im Bereich des Strafverfahrens nutzbar zu machen. Deshalb steht zu hoffen, daß auch die folgenden Überlegungen auf sein Interesse rechnen dürfen. Die strafprozessualen Durchsuchungen verkörpern u . E . ein besonders geeignetes Demonstrationsobjekt, um die uns wichtig erscheinende Wechselwirkung von Rechts- und Tatsachenwissenschaften zu beleuchten. Nach einem knappen Uberblick über die geltende Regelung der Strafprozeßordnung soll daher der Versuch unternommen werden, die sich im Zusammenhang mit Durchsuchungen ergebenden tatsächlichen Probleme aus der Sicht des Kriminalisten zu betrachten. Sodann wird zu prüfen sein, ob und inwieweit man derartige Erkenntnisse der Kriminalistik für Rechtsanwendung und ggf. Rechtsentwicklung nutzen könnte und sollte. I. Die strafprozessualen Vorschriften Unsere Strafprozeßordnung regelt im Zusammenhang mit Beschlagnahme und Sicherstellung in den §§ 102-107, 110 StPO die in einem Strafverfahren zulässigen Durchsuchungen im wesentlichen zusammenfassend, wenngleich hier und das Modifikationen auszumachen sind. Im Interesse des hier gebotenen knappen Uberblicks, der sich aber beim zu erwartenden Leserkreis verantworten läßt, sehen wir zum einen von der mit Willen des Betroffenen erfolgenden „Durchsicht" ab, mit der man dieselben Zwecke durchweg leichter erreichen kann5. Einer 5 D a hier einmal gewisse rechtliche Grenzen wegfallen und man überdies tatsächlich mit mehr oder weniger großer Kooperation des Betroffenen rechnen kann, sollte man sich in der Praxis, sofern das möglich und aussichtsreich erscheint, um die für ein solches Vorgehen grundlegende Zustimmung des oder der Betroffenen bemühen. Auf die M ö g lichkeit einer „Einwilligung des Betroffenen", die eine Durchsuchungsanordnung erübrige, weisen daher mit Recht Krause/Nehring (= Krause, Oiexmai/Nehring, Günther: Strafverfahrensrecht in der Polizeipraxis, 1978), S. 291 (§ 106, Rdn. 5) hin. So zumindest für die Fälle des § 103 S t P O auch LR-Meyer (= Löwe/Rosenberg, Die S t P O und das G V G . Großkommentar, 2 3 . A u f l . v. H . Dünnebier u . a . , 1 9 7 6 - 1 9 8 0 ) , § 1 0 4 , R d n . l , allgemeiner § 103, Rdn. 1.

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Durchsuchung als Zwangsmaßnahme bedarf es nur, wenn man derartige Ermittlungen gegen oder ohne den Willen des Betroffenen durchführen muß oder will. Zum anderen müssen wir wegen des begrenzten Raumes einige besondere Vorschriften, die auch bei Durchsuchungen bedeutsam werden können, übergehen oder sie nur im jeweiligen Sachzusammenhang streifend erwähnen 6 . Schließlich können wir aus demselben Grunde allgemeine Probleme strafprozessualer Zwangsmittel nur kurz andeuten oder müssen sie - wie ζ. B. Fragen des Rechtsschutzes 7 oder Konsequenzen gesetzwidrigen Verhaltens der Strafverfolgungsorgane (etwa Beweisverbote) 8 - ausklammern. Für den hier notwendigen kurzen Uberblick über die einschlägigen strafprozessualen Vorschriften empfiehlt es sich, folgende vier Bereiche zu unterscheiden. 1.

Voraussetzungen Die wesentlichen Voraussetzungen' für Durchsuchungen in Strafsachen enthalten die §§ 102, 103 StPO, die zwar grundsätzlich unterscheiden, ob die Durchsuchung bei einer Straftat verdächtigen oder bei einer insoweit unverdächtigen Person erfolgt, demgegenüber aber im Grunde nicht zwischen Durchsuchungen von Räumen, anderen Sachen oder Personen differenzieren10. a) 5 102 StPO: Durchsuchungen bei einem Tatverdächtigen 11 setzen zunächst einen Tatverdacht voraus, der sich überdies gegen den von der fraglichen Durchsuchung Betroffenen richten muß. Damit werden diese Fälle zugleich von denen des § 103 StPO abgegrenzt. Ausschlaggebend 6 Das gilt einmal für die im Hinblick auf Mißbräuche nicht unproblematische Vorschrift des § 108 StPO, die doch mehr zur Beschlagnahme gehört. Ähnlich ist das bei der in § 109 StPO geregelten Kennzeichnung. Außer für die bereits erwähnten §§ 81 a, 81 c StPO gilt das für andere Fälle von Zwang, die entweder wie die Straßenkontrolle in § 111 StPO Sonderregelungen darstellen oder wie in den §§127 Abs. 2, 112 ff., 164 StPO auch Charakteristika von Durchsuchungen aufweisen können. 7 Dazu mit weiteren Hinweisen für die Personendurchsuchung Michallek (Fn. 2), S. 87ff., 121 ff.; für Durchsuchung von Räumen und anderen Sachen Günther (Fn.2), S. 102ff., 141 ff.; sowie allgemein Rieß (Fn. 1), S. 102ff. 8 Hierzu mit weiteren Angaben für Durchsuchungen von Sachen und Räumen Günther (Fn.2), S. 106, 185ff.; für die Personendurchsuchung auch Michallek (Fn.2), S.91, 172ff. ' Ausführlich zum folgenden mit weiteren Hinweisen für Durchsuchungen von Räumen und (anderen) Sachen Günther (Fn.2), S.77ff.; und für Personendurchsuchungen Michallek (Fn.2), S.49ff. 10 Bei „anderen" Personen könnte man entgegen der hM, die das bejaht, lediglich darüber streiten, ob für § 103 StPO auch Personendurchsuchungen in Betracht kommen. 11 Das Gesetz spricht außer von Tätern oder Teilnehmern einer Straftat umständlich ferner von Personen, die der Begünstigung, Strafvereitelung oder Hehlerei verdächtig sind, als ob es sich hier nicht um Straftaten handeln würde. Die Formulierung spiegelt trotz ζ. T. veränderter Termini Rechtsvorstellungen des 19. Jahrhunderts wieder.

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ist hier also der s t r a f p r o z e s s u a l e T a t v e r d a c h t i. S. v o n § 1 5 2

Abs. 2

S t P O ; es m ü s s e n tatsächliche A n h a l t s p u n k t e für eine v e r f o l g b a r e Straftat vorliegen, die eine strafgerichtliche V e r u r t e i l u n g als m ö g l i c h erscheinen lassen 1 2 . E i n e B e s o n d e r h e i t

ist hier die, d a ß dieser sogen,

einfache

T a t v e r d a c h t sich überdies gegen denjenigen richten m u ß , d e r v o n dieser D u r c h s u c h u n g betroffen wird 1 3 . G e g e n s t a n d einer s o l c h e n D u r c h s u c h u n g b e i m V e r d ä c h t i g e n k ö n n e n n a c h § 1 0 2 S t P O sein: 1. die W o h n u n g u n d andere R ä u m e , zu denen wie in § 1 2 3 S t G B - das befriedete B e s i t z t u m z u zählen ist 14 , 2 . andere dieser P e r s o n g e h ö r e n d e , insb. a u c h bewegliche Sachen 1 5 u n d 3. die P e r s o n des V e r d ä c h t i g e n 1 6 selbst. H i e r d e u t e n sich also gewisse F o r m e n der D u r c h s u c h u n g an. Schließlich n e n n t § 1 0 2 S t P O m i t E r g r e i f u n g eines B e s c h u l d i g t e n o d e r A u f f i n d u n g v o n Beweismitteln 1 7 z w e i b e s t i m m t e Z w e c k e 1 8 , die z w a r die 12 Zum einfachen Tatverdacht mit weiteren Hinweisen Kleinknecht (= Kleinknecht, Theodor: StPO, GVG, Nebenges, u. erg. Bestimmungen, 35. Aufl., 1981), § 152 Rdn.4. Speziell für Durchsuchungen nach § 102 StPO siehe Schliichter (= Schlüchter, Ellen: Das Strafverfahren, 1981), S.278f., Rdn. 326; Krause/Nehring (Fn.5), (§102, Rdn.l); Michalik (Fn. 2), S. 51 ff.; Günther (Fn.2), S. 81 ff., 84. 13 So sehr deutlich Krause/Nehring (Fn.5), § 102, Rdn.2; Kühne (= Kühne, Hans Heiner: Strafprozeßlehre, 1978), S.97ff., 157; Michallek (Fn.2), S.56ff.; Günther (Fn.2), S. 84f. In diesem Sinne auch Roxin (= Roxin, Claus: Strafverfahrensrecht, 16. Aufl., 1980), S. 197: Ein pauschaler, nicht konkretisierter Verdacht gegen eine Person reicht nicht aus. Vgl. auch Schulz!Berke-Müller (= Berke-Müller, VzaMFabis, Bernhard: StPO, Mit Erläut. f. Polizeibeamte im Ermittlungsdienst, 6.Aufl., 1980), § 102, Abs. 1, Anm.B. 14 Vgl. für das „befriedete Besitztum" auch § 104 Abs. 1 StPO. Vorausgesetzt wird Innehabung, die z. B. beim Hotelgast für sein Hotelzimmer und beim Hausgast für sein Gästezimmer, nicht aber bei nur vorübergehendem Aufenthalt (z. b. für die Gaststätte, den Arbeitsraum oder die besuchte Wohnung) zu bejahen ist. Bei derartigen Räumen ist ggf. nach § 103 StPO zu verfahren. Im übrigen vgl. LR-Meyer (Fn.5), § 102, Rdn. 12; Kleinknecht (Fn. 12), § 102, Rdn. 5; Henkel (= Henkel, Heinrich: Strafverfahrensrecht, 2. Aufl., 1968); S.293 Krause/Nehring (Fn.5), § 102, Rdn.3. 15 Es muß sich um vom Betreffenden tatsächlich genutzte (Eigentum nicht notwendig, Gewahrsam genügt) bei sich geführte Sachen handeln; Sachen, die er - wie Kleidung - am Körper trägt, fallen in den Bereich der Personendurchsuchung. So im einzelnen LR-Meyer (Fn.5), §102, Rdn. 18; Kleinknecht (Fn. 12), §102, Rdn.6; Schlüchter (Fn. 12), Rdn.328.1; Krause/Nehring (Fn.5), § 102, Rdn.5; Schulz/Berke-Müller (Fn. 13), § 102 Anm.C 3; Günther (Fn.2), S.80f. 14 Insoweit begrenzend wirkt jedoch der später in das Gesetz eingefügte § 81 a StPO. Darauf hat schon E. Schmidt (Fn. 4), Rdn. 189 hingewiesen; vgl. ferner LR-Meyer (Fn. 5), § 102 Rdn. 17; Kleinknecht (Fn. 12), § 102, Rdn. 6; Krause/Nehring (Fn. 5), § 81 a Rdn. 3; Schulz/Berke-Müller (Fn. 13), § 102 Anm. C 2 und ausführlich Michallek (Fn.2), S.43ff. 17 Diese brauchen anders als in § 103 StPO ihrer Art nach nicht bestimmt zu sein; Kleinknecht (Fn. 12), § 102, Rdn. 11; Peters (= Peters, Karl: Strafprozeß. Ein Lehrbuch, 3.Aufl., 1981), S.424 (noch nicht bekannt); E.Schmidt (Fn.4), Rdn. 190 (irgendwelcher Art). 18 Zu den Beweismitteln zählt man mit Recht auch Spuren, die nicht der Beschlagnahme fähig sind; für Verfalls- und Einziehungsgegenstände gelten diese Vorschriften auf Grund

Durchsuchungen von Personen, Räumen und Sachen

175

Durchsuchung deutlich als eine tatsächliche Vorstufe der Festnahme bzw. Verhaftung oder der Beschlagnahme erscheinen lassen, aber in der Praxis nur selten begrenzend wirken. Denn für beide Zwecke genügt die Vermutung", daß sich dies mit der fraglichen Durchsuchung erreichen läßt. Das ist nur dann zu verneinen, wenn nach Lage der Dinge sicher ist, daß die Durchsuchung insoweit erfolglos bleiben muß. b) § 103 StPO: Durchsuchungen, die andere Personen als den einer Straftat Verdächtigen betreffen, sind in § 103 StPO geregelt. Der Kreis der betroffenen Personen ergibt sich hier zunächst einmal negativ aus dem zu § 102 StPO Gesagten20. Allerdings muß deshalb auch hier einfacher Tatverdacht vorliegen, der sich zudem nicht in der bei § 102 StPO geschilderten Weise gegen den von der Durchsuchung Betroffenen richten darf21. Da diese Vorschrift sich im übrigen auf den vorangehenden § 102 StPO bezieht, ist für den Gegenstand der Durchsuchung klar, daß außer Wohnung, anderen Räumen und befriedetem Besitztum ebenfalls diesem Betroffenen gehörende (unbewegliche oder bewegliche) Sachen in Betracht kommen22. Ist der Anwendungsbereich insoweit derselbe, kann man darüber streiten, ob § 103 StPO auch die Personendurchsuchung (Unverdächtiger) umfaßt23.

von § 111 b Abs.2 Satz 2 StPO entsprechend. Siehe im übrigen LR-Meyer (Fn.5), § 102, Rdn.20, 22; Kleinknecht (Fn. 12), § 103 Rdn.3, § 102, Rdn.9, 10. " Z u dieser Auffindungsvermutung näher Kleinknecht (Fn. 12). §102, Rdn. 11; Schlächter (Fn. 12), Rdn.326; Krause/Nehring (Fn.5), §102 Rdn.7. Henkel (Fn. 14), S. 293 spricht von einer allgemeinen, nicht notwendig durch besondere Anhaltspunkte begründeten Erfolgs-Vermutung (Roxin, Fn. 13), S. 197 von „schlichter Vermutung"; vgl. ferner Schulz/Berke-Müller (Fn. 13), § 102 Anm.E2; Meurer (= Meurer, Dieter: Grundkurs Strafrecht IV. Strafprozeßrecht, 1981), S. 185 f. 20 Dabei spielt, da es um Sachbeweise geht, das Zeugnisverweigerungsrecht keine Rolle; vgl. ζ. B. LR-Meyer (Fn. 5), § 103, Rdn. 3; Kleinknecht (Fn. 12), § 103, Rdn. 1, 5. !1 Es genügt allerdings, daß sich ein bestehender Tatverdacht noch nicht gegen eine bestimmte Person - also auch nicht gegen den Betroffenen - richtet. 22 Ebenso LR-Meyer (Fn.5), §103, Rdn.5; Krause/Nehring (Fn.5), §103, Rdn.2. Unzutreffend Schulz/Berke-Müller (Fn. 13) §103, Anm. A, die Zulässigkeit nur für Räume bejahen, jedoch dabei auf den Streit für Personendurchsuchungen hinweisen. 23 Da Ergreifung des Beschuldigten hier entfällt, kann als Zweck nur das Auffinden von Beweisen beim Nichtverdächtigen in Betracht kommen. Verwendet das Gesetz den Terminus Durchsuchung zunächst allgemein, was auf denselben Anwendungsbereich wie in § 102 StPO hindeuten könnte, spricht es später nur von „zu durchsuchenden Räumen". Obgleich im Hinblick auf andere Sachen keine durchgreifenden Bedenken bestehen, kann man sich bei der Personendurchsuchung nicht ohne weiteres auf den später geschaffenen § 81 c StPO stützen, wie das die hM tut, die diese auch in Fällen des § 103 StPO (bei Nichtverdächtigen) für zulässig hält; vgl. LR-Meyer (Fn.5), § 103, Rdn.5; Kleinknecht (Fn. 12), §103, Rdn. 2; Peters (Fn.17), S.424; Roxin (Fn.13), S. 196; Krause/Nehring (Fn.5), § 103 Rdn.3. Unter Bezugnahme auf den früher lebhaften Streit mit weiteren

176

Friedrich Geerds

Als zulässige Z w e c k e n e n n t § 103 A b s . 1 S t P O a u ß e r E r g r e i f u n g des Beschuldigten

u n d V e r f o l g u n g v o n Spuren einer Straftat ferner

B e s c h l a g n a h m e b e s t i m m t e r Gegenstände 2 4 . E r g e b e n sich -

die

abgesehen

von der gegenüber § 102 S t P O begrenzend wirkenden Bestimmtheit25 des O b j e k t s - s o m i t n u r bei der B e s c h l a g n a h m e gewisse, nicht erhebliche A b w e i c h u n g e n v o n d e m in § 1 0 2 S t P O g e n a n n t e n A u f f i n d e n v o n B e weismitteln, ist die hier wesentliche, rechtlich b e g r e n z e n d

wirkende

B e s o n d e r h e i t die folgende. I n Fällen des § 103 S t P O m ü s s e n b e s t i m m t e T a t s a c h e n vorliegen, die dafür s p r e c h e n , daß sich die gesuchte P e r s o n , Spur o d e r Sache tatsächlich in den z u d u r c h s u c h e n d e n R ä u m e n befindet 2 6 . D i e s e B e s c h r ä n k u n g gilt allerdings nicht, w i e § 103 A b s . 2 S t P O klarstellt, für R ä u m e , in denen der B e s c h u l d i g t e ergriffen w o r d e n ist o d e r die er w ä h r e n d der V e r f o l g u n g b e t r e t e n hat 2 7 . E i n e andere A u s n a h m e für H a u s s u c h u n g e n findet sich in § 103 A b s . 1 Satz 2 S t P O , w e n n es u m das E r g r e i f e n eines w e g e n einer in § 1 2 9 a S t G B g e n a n n t e n

Tat

d r i n g e n d V e r d ä c h t i g e n geht 2 8 .

Hinweisen aA Michallek (Fn.2), S. 67 ff., 116. Grundlegend zur körperlichen Untersuchung Dzendzalowski (= Dzendzalowski, Horst: Die körperliche Untersuchung. Eine strafprozessual-kriminalistische Untersuchung zu den §§ 81 a und 81 c StPO, KrimWissAbh Bd. 5, Lübeck 1971 ( = Diss. Frankfurt a.M.), S. 15 ff. 24 Im einzelnen dazu mit weiterer Literatur und Judikatur LR-Meyer (Fn. 5), § 103, Rdn. 6 ff. 25 Diese ist außer für „Gegenstände", die genau feststehen müssen, für alle hier genannten Objekte zu fordern, die Ziel einer Durchsuchung sein können; für die hM LRMeyer (Fn. 5), § 103 Rdn. 2; Peters (Fn. 17), S. 424; E. Schmidt (Fn. 4), Rdn. 190; Schlächter (Fn. 12), Rdn. 331; Krause/Nehring (Fn.5), §103, Rdn. 3; Schulz/Berke-Müller (Fn. 13), § 103 Anm. B. Hier etwas abweichend Kühne (Fn. 13), S. 157, Fn. 1, der meint, einfacher (Tat-)Verdacht genüge, die hM fordere „stärker konkretisierten Verdacht". In Wahrheit fordert die hM bei § 103 StPO im Hinblick auf die Zielobjekte - anders als in § 102 StPO - mit der Bestimmtheit zwar insoweit konkretisierten, aber keinen stärkeren Verdachtsgrad als den des „einfachen Tatverdachts". 26 Dasselbe muß nämlich, obwohl es nicht ausdrücklich gesagt wird, auch für die Durchsuchung anderer Sachen eines Unverdächtigen und ggf. seine Person gelten. Kleinknecht (Fn. 12), §103 Rdn. 4 sagt treffend, daß auf Grund bestimmter „bewiesener" Tatsachen die Annahme gerechtfertigt sein müsse, die konkret gesuchte Spur oder Sache zu finden. Vgl. ferner Schlüchter (Fn. 12), Rdn.332; Krause/Nehring (Fn.5), § 103 Rdn.3. Auch hier überzeugt die Kritik von Kühne aaO nicht, obwohl er richtig auf „einfachen Verdacht" abstellt. Wesentlich für die hM sind allein bestimmte Tatsachen, die einen Erfolg der Durchsuchung als möglich/(wenn auch gering) wahrscheinlich erscheinen lassen. 27 Diese Ausnahme bezieht sich außer auf Wohnungen auch auf befriedetes Besitztum, also die gesamte Haussuchung. 28 Bei diesen als besonders schwer gewerteten Straftaten genügt es, wenn auf Grund von Tatsachen anzunehmen ist, daß sich der Beschuldigte im fraglichen Gebäude befindet; vgl. im einzelnen Kleinknecht (Fn. 12), § 103, Rdn. 6 ff.

Durchsuchungen von Personen, Räumen und Sachen

177

2.

Einschränkungen Bei Vorliegen dieser Voraussetzungen dennoch zu beachtende Einschränkungen29 sind - wenn man vom schon hier zu beachtenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit30 absieht - vierfacher Art. Einmal ergibt sich für alle Formen der Durchsuchung, daß Gegenstand nicht etwas sein darf, das - wie bestimmte Mitteilungen usw. - nach § 97 StPO unter den dort genannten Umständen nicht der Beschlagnahme unterliegt; hier liegen genau genommen schon die Voraussetzungen nicht vor, soweit es um Beschlagnahmegegenstände geht. Eine spezielle, jedoch für alle Durchsuchungen geltende Einschränkung ergibt sich einmal aus dem Völkerrecht für Personen, die Exterritorialität genießen, sowie ihnen gehörende Räume und Sachen. Entsprechendes gilt zum anderen nach Verfassungsrecht für Abgeordnete des Bundes (Art. 46 Abs. 1 GG) und der Länder (§ 152 a StPO), soweit diese strafrechtlich nicht verfolgt werden dürfen (Immunität)31. Ferner werden durch Verfassungsvorschriften (z.B. Art.40 Abs.2 Satz 2 GG) Haussuchungen dadurch eingeschränkt, daß diese in Gebäuden gesetzgebender Körperschaften trotz Vorliegens aller anderen Voraussetzungen erst nach vorheriger Zustimmung des Parlamentspräsidenten zulässig sind. Schließlich gibt es - ebenfalls nur für Haussuchungen32 - in § 104 StPO noch eine besondere Einschränkung, die - wenngleich modifiziert - zur Nachtzeit (§ 104 Abs. 3 StPO) zu beachten ist. Für diese gilt nach §104 Abs. 1 StPO zumindest in der Regel, daß Wohnungen, Geschäftsräume und befriedetes Besitztum ungeachtet §§ 102, 103 StPO nur durchsucht werden dürfen bei Verfolgung auf frischer Tat, Gefahr im Verzuge und zur Wiederergreifung eines Gefangenen33. Von diesem regelmäßigen Verbot der Haussuchung zur Nachtzeit macht § 104 Abs. 2 StPO jedoch wiederum eine Ausnahme für Räume, die auch zur Nachtzeit jedermann zugänglich oder die der Polizei als sogen, „ver-

29 Zum folgenden mit weiteren Angaben eingehend Michallek (Fn. 2), S. 61 ff.; Günther (Fn.2), S. 88 ff. 30 Für die hM mit weiteren Nachweisen LR-Meyer (Fn.5), § 102, Rdn.23; Schlächter (Fn. 12), Rdn.326; Michallek (Fn.2), S.62ff.; allgemein schon E.Schmidt (Fn.4), Rdn.180. 31 Vgl. im einzelnen LR-Meyer (Fn.5), § 102, Rdn.26, § 9 4 , Rdn.35. Anders ist dies regelmäßig bei Durchsuchungen nach § 103 StPO, d.h. bei Nichtverdächtigen; siehe LRMeyer (Fn.5), § 103, Rdn. 12. 32 So ausdrücklich Henkel (Fn. 14), S.293; Krause/Nehring (Fn.5), § 104, Rdn. 1. 33 Eingehender zum Ganzen LR-Meyer (Fn. 5), § 104, Rdn. 3ff.; Kleinknecht (Fn. 12), § 104, Rdn.3ff.; Krause/Nehring (Fn.5), § 104, Rdn.2-4.

178

Friedrich Geerds

ruchte Orte" oder „verrufene Räume" 34 bekannt sind. Für diese Räumlichkeiten gelten auch bei Haussuchungen zur Nachtzeit die allgemeinen Vorschriften der §§ 102, 103 StPO. 3.

Anordnungsbefugnis Die Anordnungsbefugnis ist für alle Durchsuchungen einheitlich und relativ übersichtlich geordnet, wobei die außerordentliche Kompetenz in der Praxis jedoch die Regel darstellen dürfte. Denn nach § 105 Abs. 1 StPO sind Durchsuchungen von einem Richter anzuordnen. Jedoch ist nach derselben Vorschrift bei Gefahr im Verzuge, die in der Praxis häufig zu bejahen sein dürfte, außer dem Staatsanwalt auch sein Hilfsbeamter (§ 152 G V G ) zu einer solchen Anordnung befugt 55 ; die Gefahr im Verzuge ist vor allem vom Zweck der Maßnahme her zu beurteilen 36 . 4.

Durchführung Für die Durchführung 37 einer ordnungsgemäß angeordneten Durchsuchung, die in der Praxis üblicherweise der Polizei überlassen wird, enthalten die §§ 105 Abs. 2, 3, 106, 107 StPO einige Vorschriften, neben denen hier vor allem noch § 110 StPO zu beachten ist. § 105 Abs. 2 StPO betrifft Haussuchungen, die nicht im Beisein eines Richters oder Staatsanwalts durchgeführt werden; er schreibt vor, daß dann möglichst 38 als Zeugen ein Gemeindebeamter oder zwei Gemeindemitglieder beigezogen werden sollen. Bei Durchsuchungen in Dienstgebäuden oder Einrichtungen bzw. Anlagen der Bundeswehr ist nach § 105 Abs. 3 StPO die vorgesetzte Dienststelle der Bundeswehr um die Durchführung zu ersuchen; die ersuchende Stelle ist jedoch zur Mitwirkung berechtigt. 34 Das Gesetz zählt im einzelnen auf: Herbergen oder Versammlungsorte bestrafter Personen, Hehlerei-Niederlagen, Schlupfwinkel des Glücksspiels, illegalen Drogen- und Waffenhandels. Im einzelnen vgl. LR-Meyer (Fn. 5), § 1 0 4 , Rdn. 12ff.; Kleinknecht (Fn. 12), § 104, Rdn. 7. Bedenken gegen die Formulierungen „Versammlungsorte bestrafter Personen" und „Schlupfwinkel..äußerte zu Recht Kühne (Fn. 13), S. 158. 35 § 105 Abs. 1 Satz 2 StPO modifiziert dies für Fälle des § 103 Abs. 1 Satz 2 StPO (§ 129 a StGB). Bei dort etwas erweiterten Voraussetzungen wirkt allerdings die begrenzende Kompetenzregelung seltsam, wenngleich hier außer dem Richter bei Gefahr im Verzuge auch der Staatsanwalt anordnen darf. 36 Zur Gefahr im Verzuge vgl. LR-Meyer (Fn.5), § 1 0 5 , Rdn. 2, § 9 8 , Rdn. 17f.; Kleinknecht (Fn. 12), § 105, Rdn. 2; Michallek (Fn.2), S. 73 f.; Günther (Fn.2), S. 90 f. 37 Zum folgenden ausführlich mit weiterem Schrifttum für die Personendurchsuchung Michallek (Fn. 2), S. 75 ff. und für Durchsuchungen von Räumen und Sachen Günther (Fn.2), S.97ff. 38 Das bedeutet nicht absolute Unmöglichkeit; es genügt, daß der durch Suche nach dazu bereiten Zeugen zu erwartende Zeitaufwand nach pflichtgemäßem Ermessen nicht mehr hingenommen werden kann oder gar den Erfolg vereitelt. Zu dieser Problematik m . w . N . LR-Meyer (Fn.5), § 1 0 5 , R d n . l l ; Schlüchter (Fn. 12), Rdn.328.2; Krause/ Nehring (Fn.5), § 105, Rdn.4.

Durchsuchungen von Personen, Räumen und Sachen

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Bei Durchsuchung von Räumen oder Sachen ist auf Grund des § 106 Abs. 2 S t P O in Fällen des § 103 S t P O dem (unverdächtigen) Inhaber derselben ihr Zweck vor Beginn bekanntzumachen, sofern es sich nicht um Räume im Sinne von § 104 Abs. 2 S t P O (verruchte Stätten) handelt 39 . Bei der (Personen-)Durchsuchung von Frauen ist schon nach geltendem Recht der für körperliche Untersuchungen maßgebende § 81 d S t P O entsprechend zu beachten 40 . In jedem Falle einer Durchsuchung von Räumen und Sachen ist deren Inhaber nach § 106 Abs. 1 Satz 1 S t P O berechtigt, der Durchsuchung beizuwohnen. Ist er abwesend, so ist nach Satz 2 dieser Vorschrift sein Vertreter oder ein erwachsener Angehöriger, Hausgenosse oder Nachbar hinzuziehen, sofern dies tatsächlich möglich ist. Obgleich dies in der Strafprozeßordnung nicht ausdrücklich gesagt wird, ergibt sich aus ihrem Wesen als Zwangsmittel, daß alle Durchsuchungen mit Gewalt gegen Sachen durchgeführt werden dürfen, sofern dies notwendig und verhältnismäßig erscheint 41 . Gewalt gegen Personen ist dagegen bei Durchsuchungen von Räumen oder anderen Sachen an sich unzulässig, weil sich der Zwang auf Sachen bezieht; die Zulässigkeit kann sich jedoch aus anderen Vorschriften ergeben 42 . Dagegen ist bei einer Personendurchsuchung, wenn man deren Zweck erreichen will, auch Gewalt gegen die Person des (tatverdächtigen) Betroffenen zulässig, soweit dies der Zweck der Maßnahme erfordert und die Verhältnismäßigkeit gewahrt wird 43 .

39 W a r u m dies auf Fälle des § 103 Abs. 1 S t P O beschränkt sein soll und nicht bei Verfolgung eines Beschuldigten gelten soll, ist ebensowenig einzusehen wie der in § 106 Abs. 1 Satz 2 S t P O enthaltene Verzicht auf Information des Inhabers der „verruchten" Räume. 40 In diesem Sinne zutreffend LR-Meyer ( F n . 5 ) , § 102, Rdn. 17; Kleinknecht § 103, Rdn. 2 ; Krause/Nehnng (Fn. 5), § 81 d Rdn. 1.

(Fn. 12),

41 Selbstverständlich haben die durchführenden Beamten dabei ihre Dienstvorschriften zu beachten. Ausführlicher hierzu LR-Meyer ( F n . 5 ) , § 1 0 5 , Rdn. 13; Kleinknecht (Fn. 12), § 106, Rdn. 10; Krause/Nehring ( F n . 5 ) , § 105, R d n . 3 ; Kühne (Fn. 13), S. 114f., S. 159, Michallek (Fn. 2), S. 80 ff., Günther (Fn. 2), S. 100 f. 42 Insb. gilt dies für § 164 StPO, die Festnahme von Störern, bei welcher sich die Gewalt gegen die Person auch gegen den Inhaber der zu durchsuchenden Räume oder Sachen richten kann. Siehe u . a . auch LR-Meyer (Fn.5), § 1 0 6 , Rdn.4; Kleinknecht (Fn. 12), § 106, R d n . 3 ; Krause/Nehring ( F n . 5 ) , : 105, R d n . 3 . Mit dem Passus „je nach Sachlage" hier ziemlich undifferenziert Schulz/Berke-Müller (Fn. 13), § 102 A n m . F . 43 Zu der im Grundsatz einhelligen Ansicht LR-Meyer (Fn. 5), § 105, Rdn. 13; Krause/ Nehring (Fn. 5), § 105, Rdn. 3 weisen darauf hin, daß der Betroffene kurzfristig festgehalten und an einen geeigneten O r t gebracht werden kann, sofern die Personendurchsuchung nicht an O r t und Stelle vorgenommen werden kann. Hier ergeben sich also ähnliche Abgrenzungsschwierigkeiten zum eigentlichen Freiheitsentzug wie bei den §§ 81 a, 81 c S t P O . Dazu auch Michallek ( F n . 2 ) , S. 81 f.

180

Friedrich Geerds

Im Rahmen jeglicher Durchsuchung ist Einsichtnahme ( = „Durchsicht") in Papiere44 des Betroffenen nach § 110 Abs. 1 StPO außer dem Richter nur dem Staatsanwalt erlaubt. Andere Beamte sind, wie Absatz 2 klarstellt, dazu nur nach entsprechender Genehmigung des Inhabers befugt, haben sie anderenfalls amtlich zu verschließen und an die Staatsanwaltschaft abzuliefern. Gegenstände, die bei Durchsuchungen sichergestellt oder in Beschlag genommen werden, sind ( = sollen) nach § 109 StPO genau zu kennzeichnen, was aber schon zur Durchführung der Beschlagnahme gehört 45 . Nach beendigter Durchsuchung hat der Betroffene auf Grund von § 1 0 7 StPO 46 das Recht, eine schriftliche Mitteilung zu verlangen, die den Grund der Durchsuchung und in Fällen des § 102 StPO auch die fragliche Straftat bezeichnen muß47. Ferner ist er nach § 107 Satz 2 StPO befugt, ein Verzeichnis der sichergestellten Gegenstände oder bei Erfolglosigkeit der Durchsuchung eine entsprechende Bescheinigung (sogen. Negativbescheinigung) zu verlangen.

II. Kriminalistische Probleme bei Durchsuchungen O b und wann eine Durchsuchung in diesem stets zu beachtenden rechtlichen Rahmen angeordnet und durchgeführt wird, insb. auch wie dies zweckmäßig zu geschehen hat, hängt wesentlich von den im Einzelfalle gegebenen Tatsachen ab. Mit diesen befaßt sich vor allem der Kriminalist im Rahmen der Kriminaltaktik, die man als die Lehre vom taktisch richtigen, d.h. technisch, psychologisch und ökonomisch zweckmäßigen Vorgehen der Strafverfolgungsorgane beim Aufklären oder Verhindern von Straftaten umschreiben kann48. Dabei ist einmal an 4,1 Maßgebend für die weite Auslegung dieses Begriffs ist der Sinn dieser Vorschrift, die Geheimsphäre zu schützen; vgl. im einzelnen LR-Meyer (Fn. 5), § 110, Rdn. 2; Kleinknecht (Fn. 12), § 110, Rdn. 1 ; Schlächter (Fn. 12), Rdn. 329. 45 Den allgemeineren Charakter dieser Vorschrift betonen auch LR-Meyer (Fn.5), § 109, Rdn. 1 ; Krause/Nehring (Fn. 5), § 109, Rdn. 1. 46 Es handelt sich auch hier um eine Ordnungsvorschrift, deren Verletzung die Rechtsgültigkeit der Durchsuchung nicht berührt; LR-Meyer (Fn.5), § 107, Rdn. 1. 47 Mit Recht meinen Krause/Nehring (Fn.5), § 107, Rdn.2, in Fällen des § 103 StPO sollte dem Nichtverdächtigen aus Billigkeitsgründen (mündlich) mitgeteilt werden, daß er nicht verdächtigt werde. Das erscheint überflüssig, weil das nach § 106 Abs. 2 Satz 1 StPO schon in der vor Beginn vorgeschriebenen Bekanntmachung und bei der fraglichen Bescheinigung (§ 107 Satz 1 StPO) im Zusammenhang mit dem Rechtsgrund - auf Verlangen also schriftlich - erfolgen muß. 48 Hierzu mit weiterem Schrifttum Groß/Geerds II (= Groß/Geerds. Handbuch der Kriminalistik, Bd. II, 10. Aufl. d. v. H. Groß begr. Werkes v. F. Geerds, Berlin 1978) S. 1 ff.; (Geerds, Friedrich: Kriminalistik, Lübeck 1980), S. 165ff.

Durchsuchungen von Personen, Räumen und Sachen

181

die sich vor allem auf Sachbeweise beziehenden Erkenntnismöglichkeiten der Kriminaltechnik 4 ' anzuknüpfen, zum anderen aber auch der für Strafsachen wichtige Personalbeweis zu beachten, mit welchem sich als Spezialgebiet die Vernehmungstechnik und -taktik 50 eingehender befaßt. Kann man die Fahndung 51 , das planmäßige Forschen nach Personen oder Sachen, die so oder so im Zusammenhang mit einer Straftat stehen oder stehen können, gewissermaßen als den Allgemeinen Teil der Kriminaltaktik ansehen, so müssen wir uns hier doch auf die spezielle, tatsächliche Problematik der Maßnahmen zur Sicherung des Verfahrens 52 beschränken 53 . Ebenso wie die Rechtsanwendung bei den zuvor geschilderten Vorschriften der Sachlage möglichst angepaßt werden sollte, gibt es auch sonst Probleme tatsächlicher Art, über welche Juristen und Kriminalisten unterrichtet sein sollten, um ihre Aufgabe - tatsächlich betrachtet optimal erfüllen zu können. Sehen wir im folgenden von allgemeineren Fragestellungen - wie Waffengebrauch und überhaupt Eigensicherung der Beamten 54 - ab, so erscheint es aus der Sicht des Kriminalisten angebracht, anders als das geltende Recht zunächst einmal drei Formen von Durchsuchungen zu unterscheiden; denn die tatsächlichen Gegebenheiten divergieren hier erheblich. Sowohl wegen der größeren Häufigkeit als auch im Interesse klarer Darstellung empfiehlt es sich, von denjenigen Formen der Untersuchung auszugehen, die primär Sachen betreffen. Hier ist zweckmäßig mit der Durchsuchung von Räumen zu beginnen, weil sich daraus der für „Durchsuchung anderer Sachen" verbleibende Bereich ergibt. Erst danach soll die Personendurchsuchung erörtert werden.

n Eingehender dazu Geerds (Fn. 48), S. 111 ff., ausführlicher der 1977 erschienene Bd. I des in Anm. 48 genannten Werkes Groß/Geerds, S. 437 ff. 50 Dazu mit weiterem Schrifttum Geerds (Fn. 48), S. 201 ff., insb. Geerds, Friedrich: Vernehmungstechnik, 5. Aufl. d. v. F. Meinert begr. Werkes, 1976. 51 Umfassender zu diesem Gebiet Groß/Geerds II (Fn.48), S.45ff., Geerds (Fn.48), S. 179 ff. 52 Vgl. hier die Darstellung bei Groß/Geerds II (Fn.48), S. 105ff.; auch Geerds (Fn.48), S. 191 ff. 53 Allgemein zu Durchsuchungen siehe Meixner (= M ebener, F.: Kriminaltaktik in Einzeldarstellungen, 1954), S. 153 ff., Zbinden (= Zbinden, Karl: Kriminalistik. Strafuntersuchungskunde, 1954), S. 133 ff., Bauer 3 (= Bauer, Günther: Moderne Verbrechensbekämpfung Bd.3, 1977), S.262ff.; ferner z.B. Bartsch, Georg: Die Durchsuchung - eine krim.-taktische Maßnahme, Kriminalistik 1949, 129ff.; Escbenbach: Fehler bei der kriminalpolizeilichen Ermittlungsarbeit, in: Das kriminalpolizeiliche Ermittlungsverfahren, hrsg. v. BKA, 1957, S. 55; Bramow: Festnahmen, Durchsuchungen und Beschlagnahmen (kriminologisch-kriminalistisch), aaO. S. 183 ff. 54

Siehe m . w . N . Groß/Geerds

II (Fn.48), S. 107f.

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1. Durchsuchung von Räumen Vereinfachend als Haussuchung bezeichnet ist die Durchsuchung von Räumen vom Gegenstand her auf Wohnungen, Geschäftsräume, entsprechende Gebäude sowie das dazugehörige befriedete Besitztum (und die darin befindlichen Sachen) beschränkt55. Daß sich hier besondere Probleme gegenüber anderen Durchsuchungen ergeben, zeigen schon die insoweit Platz greifenden rechtlichen Einschränkungen56. Die Durchsuchung von Räumen dient kriminalistisch im Hinblick auf Sachbeweise vor allem einmal der Spurensuche und -Sicherung57, die eine Auswertung der Spuren - ggf. mit Hilfe kriminaltechnischer Untersuchungen58 - ermöglichen soll59, deren Ergebnisse ggf. bei weiteren Ermittlungen und später zu Beweiszwecken genutzt werden können. Zum anderen kann es das Ziel sein, hier einen Tatverdächtigen zu ergreifen. Kriminalistisch bedeutsam, aber auch für Strafjuristen aufschlußreich sind vor allem zwei Problembereiche'0: Wichtig für die tatsächlichen Gegebenheiten ist zunächst einmal der Zeitpunkt, an welchem eine derartige Durchsuchung angeordnet bzw. genauer gesagt durchgeführt wird. Denn die Anordnung bedeutet keineswegs immer, daß es zweckmäßig ist, die Durchsuchung der fraglichen Räume sogleich durchzuführen. Vielmehr ist kriminalistisch zu bedenken, daß der Tatverdächtige - und zwar gewöhnlich ohne Rücksicht darauf, ob die Durchsuchung bei ihm oder anderweitig stattfindet, - dadurch in aller Regel gewarnt wird62; er kann so zur Flucht oder zu anderen Praktiken veranlaßt werden, welche die weiteren Ermittlungen erschweren oder gar vereiteln. Voreiligkeit ist daher verfehlt; der Zeitpunkt einer Haussuchung will auch in tatsächlicher Hinsicht bedacht sein. Allgemein kann man insoweit nur sagen, daß Eile durchweg um so

55 Zum folgenden siehe insb. die Darstellung bei Günther (Fn.2), S. 107 ff., Groß/ Geerds II (Fn.48), S. 115 ff., Geerds (Fn.48), S. 194 ff. 56 Dies alles ist wichtiger als die in den §§ 102, 103 StPO erfolgende Differenzierung zwischen derartigen Durchsuchungen bei Tatverdächtigen und bei anderen Personen, wenngleich sich dies selbstverständlich zuweilen auch auf die tatsächliche Art und Weise des Vorgehens auswirken kann. " Zur Spurenkunde allgemein mit weiteren Hinweisen Geerds (Fn.48), S. 124ff. 58 Zu den Möglichkeiten der Kriminaltechnik in diesen Fällen siehe mit weiteren Hinweisen Günther (Fn.2), S. 107ff. 59 Eingehender zur Spurenauswertung Geerds (Fn.48), S. 134ff. sowie Groß/Geerds I (Fn. 49), S. 549 ff. 60 Allgemein siehe hier Graßberger, Roland: Die Psychologie der Hausdurchsuchung, Kriminalistik 1955, 2 ff., Zhinden (Fn. 53), S.135f. " Hierzu mit weiterem Schrifttum Günther (Fn.2), S. 121. Allgemein empfiehlt Meixner (Fn. 53), S. 60, im Rahmen des Möglichen Tageslicht anzustreben. 62 Zu dieser Warnfunktion gerade auch erfolgloser Durchsuchungen Meixner (Fn. 53), S. 54 f.

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weniger angebracht erscheint, je länger die fragliche Straftat zurückliegt63. Aber auch bei unklarem Ermittlungsstand kann Zuwarten angezeigt sein, wenn der Kreis der Tatverdächtigen - insb. Hintermänner unbekannt ist, weil die Warnfunktion einer Haussuchung prompt zu entsprechenden Verschleierungspraktiken führen dürfte. Für das Vorgeben64 bei einer zur richtigen Zeit erfolgenden Raumdurchsuchung ist allgemein zu sagen, daß selbstverständlich die von der Lage des Falles, insb. vom Zweck der Maßnahmen abhängigen einschlägigen Erkenntnisse der Spurensuche und -Sicherung zu beachten sind, wenn man keine Chancen verpassen und Beeinträchtigen von Beweisen vermeiden will; falscher Eifer ist fehl am Platze. So sind ζ. B. in Fällen, in denen es um latente, schwer auszumachende oder schwierig zu sichernde Spuren geht, entsprechend ausgebildete Beamte, ggf. damit vertraute externe Sachverständige rechtzeitig beizuziehen. Selbst wenn die zu durchsuchende Ortlichkeit kein Tatort im strikten Sinne ist, sind dennoch in etwa die Grundsätze ordentlicher Tatortarbeit65 zu beachten. Mit derartigen Durchsuchungen beauftragte Beamte sollten nicht nur an das denken, wonach sie suchen, sondern überdies anwesende Personen im Auge behalten, um ggf. drohende Manipulationen verhindern oder aus dem Verhalten Rückschlüsse ziehen zu können66. Im übrigen lassen sich beim Vorgehen zwei Fallgruppen mehr oder weniger deutlich unterscheiden, weil insbesondere die Möglichkeiten der Planung und Vorbereitung verschieden geartet sind. In Fällen einer vorbereiteten Durchsuchung67 verfügt man über eine mehr oder minder lange Zeit für Planung und organisatorische Vorkehrungen. Diese sollte genutzt werden, um alles optimal auf mit der Zwangsmaßnahme konkret verfolgte Ziele abzustellen. Wichtig sind neben der bereits erwähnten Zeit erkennbarer Umfang des Einsatzes und örtliche Gegebenheiten; bei diesen ist u.a. zu berücksichtigen, welche und wie viele Personen voraussichtlich anwesend sein dürften. Nur so läßt sich in etwa einschätzen, welche personellen und sachlichen Mittel erforderlich sind, um die Durchsuchung reibungslos und erfolgreich durchzuführen68. Außer den für eine wirksame Spurensuche und -sicheIm gleichen Sinne Meixner (Fn. 53), S. 55. Allgemein zu diesem Fragenkreis Gunther (Fn.2), S. 122ff.; Bauer 3 (Fn.53); S.268ff.; Groß/Geerds II (Fn.48), S. 117ff.; auch Geerds (Fn.48), S. 195f. 65 Zu dieser mit einschlägigem Schrifttum Groß/Geerds II (Fn.48), S.24ff. sowie Geerds (Fn.48), S. 175ff. 64 Graßberger, Kriminalistik 1955, 2 schlägt deshalb ständige, wenngleich belanglose Unterhaltung mit dem Betroffenen vor, weil die Sprache Reaktionen gut verrate. 67 Ausführlicher dazu Günther (Fn.2), S.117ff., 122ff., Groß/Geerds II (Fn.48), S. 118ff., auch Geerds (Fn.48), S.195f„ Bauer 3 (Fn.53), S.266f.; siehe aber schon Graßherger, Kriminalistik 1955, 3 f. 68 Hierzu und zum folgenden siehe beispielsweise Bauer 3 (Fn. 53), S. 270 ff. 63

M

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rung nötigen und geeigneten Beamten muß genügend Personal verfügbar sein, um anwesende Dritte zu beobachten, für Absperrung zu sorgen und ggf. Störmanöver zu verhindern. Ferner ist an das wahrscheinlich benötigte Arbeitsgerät zu denken. Daß alle diese Vorbereitungen möglichst geheimzuhalten sind, versteht sich von selbst. Naturgemäß lassen sich angesichts der Vielfalt der tatsächlichen Möglichkeiten keine allgemeingültigen Regeln für Durchsuchung von Räumen aufstellen". Dennoch kann man einige beherzigenswerte kriminaltaktische Erfahrungen und Grundsätze festhalten70. Durchsuchungen von Räumen sind im Zweifel zweckmäßig auf einen etwas größeren räumlichen Bereich zu erstrecken als den Kernbereich, in dem man am ehesten „fündig" zu werden hofft 71 . Das Durchsuchen selbst muß systematisch erfolgen72, was in diesen Fällen vorher überlegt sein kann und sollte (ggf. Aufgabenteilung). Bei der Arbeit ist zwar besonders auf „Kernbereiche" zu achten, dürfen aber Spuren im „Randbereich" 73 nicht gefährdet werden. Systematische und gründliche Suche ist u. a. deshalb geboten, weil erfahrene und vorsichtige Kriminelle mit derartigen Ermittlungsmaßnahmen zu rechnen pflegen, sich also beim Verstecken von Beute oder Tatmitteln sowie durch Vermeiden bzw. Verbergen anderer Spuren darauf einstellen74. Hat man für die fragliche Durchsuchung Hinweise, z.B. von einer V-Person, erhalten, sollte man sich hüten, dies ohne zwingenden Grund durch gezieltes Vorgehen erkennbar werden zu lassen75. Bei der Durchsuchung anwesende dritte Personen, die sich grundsätzlich nicht entfernen dürfen, sind im Hinblick auf ihr Verhalten, eventuelle Manipulationen oder Störmanöver stets im Auge zu behalten, was zweckmäßig durch eigens dafür abgestellte Beamte geschieht. Ist zugleich eine Personendurchsuchung durchzuführen, sind insoweit die alsbald unter 3. darzulegenden Grundsätze zu beachten. Selbstverständlich ist die Intensität solcher Durchsuchungen in der Praxis unterschiedlich, weshalb man das Gebot der Gründlichkeit nicht undifferenziert sehen darf. Es wäre weltfremd, in allen Fällen insoweit

" Vgl. auch Meixner (Fn.53), S.55; Groß/Geerds II (Fn.48), S. 118 ff. 70 Zur Art der Annäherung und dem Verhalten dabei siehe z. B. Meixner (Fn. 53), S. 57 f. ; vgl. im übrigen die Ratschläge S. 60 ff. 71 Natürlich setzen Vorschriften und verfügbare Mittel auch hier Grenzen; es sollten nur weitere Möglichkeiten offen gehalten werden, wenn man etwa bei der Tatortarbeit an mögliche Fluchtwege denkt. 71 Vgl. insb. Günther (Fn.2), S. 124 ff., Graßberger, Kriminalistik 1955, 5. 73 Hierzu auch Graßberger, Kriminalistik 1955, S.5. 74 Siehe hier Graßberger, Kriminalistik 1955, S . 5 f . ; Meixner (Fn.53), S.59, Bauer 3 (Fn.53), S.269. 75 So schon Meixner (Fn. 53), S. 59.

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ein Höchstmaß zu verlangen, was u. U. unverhältnismäßigen Zeit- und Arbeitsaufwand bedeuten kann76. Vor allem im Hinblick auf Art und Schwere der fraglichen Straftat sowie den konkreten Stand der Ermittlungen lassen sich beim Vorgehen zwei Stufen unterscheiden 77 . Eine besonders „gründliche" Durchsuchung ist außer beim Verdacht schwerer Delikte kriminaltaktisch vor allem angezeigt, wenn nach bestimmten Personen oder Sachen gefahndet wird und überdies bereits hinreichend sichere Anhaltspunkte dafür vorhanden sind, daß diese sich in den fraglichen Räumen befinden. Aber auch in anderen Fällen kann eine ansonsten ungünstige Ermittlungssituation eine „gründliche" Suche als angezeigt und verhältnismäßig erscheinen lassen. In manchen, keineswegs seltenen Fällen sind Durchsuchungen von Räumen aus sowohl rechtlichen als auch tatsächlichen Gründen nicht mit dieser Intensität durchzuführen; das braucht kriminaltaktisch nicht bedenklich zu stimmen, kann vielmehr durchaus vernünftig sein. Genügt in etlichen Fällen eine stichprobenartige Durchsuchung, um sich zu vergewissern, kann ein solches Vorgehen nicht nur dort, wo Spuren in großer Zahl zu erwarten sind, sondern ferner sowohl bei zweifelhafter Erfolgsaussicht als auch bei minderschweren Taten oder aber sonst günstigem Stand der Ermittlungen sinnvoll sein. Man muß sich dann nur überlegen, wie man mit relativ geringen Mitteln dennoch einen optimalen Erfolg zu erzielen vermag. Besondere Probleme ergeben sich, wenn Durchsuchungen gleichzeitig an verschiedenen Stellen durchzuführen sind. Außer auf die übliche Geheimhaltung ist hier besonders darauf zu achten, daß wirklich gleichzeitig begonnen wird, um Warnungen und andere Verschleierungspraktiken zu vermeiden. Bleibt eine Haussuchung, wie in der Praxis nicht gar so selten, erfolglos, so kann es u . U . sinnvoll sein, nach kurzer Zeit eine zweite Durchsuchung durchzuführen 78 ; mitunter fühlt sich der Betroffene nach dem ersten „Fehlschlag" sicher und läßt die zuvor praktizierte Vorsicht außer acht, was nunmehr für die Beamten Erfolg bedeuten kann. Komplizierter liegen häufig unvorbereitete Durchsuchungen79 von Räumen, zu denen es in der Praxis vor allem dann - und keineswegs selten - kommt, wenn auf Grund eigener Wahrnehmung sofort eingeschritten werden muß; denn ist der Betroffene auf Grund anderer Ermittlungen „gewarnt", so ist natürlich mit „Vorkehrungen" zu rechn

Siehe zu tatsächlichen Schwierigkeiten Meixner (Fn. 53), S. 55 f. ; Bauer 3 (Fn. 53), S.275Í. 71 Siehe im einzelnen Günther (Fn. 2), S. 131 ff. 78 Vgl. mit Hinweisen Günther (Fn.2), S. 127; Groß/Geerds II (Fn.48), S. 119 f. ™ Dazu auch Günther (Fn.2), S.135f.; Bauer 3 (Fn. 53), S.267.

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nen. Die Problematik des Zeitpunkts reduziert sich hier mithin auf die Frage, ob eine Durchsuchung überhaupt sofort durchgeführt werden soll, die im übrigen nicht besonders vorbereitet werden kann. Was das Vorgehen in diesen Fällen anlangt, ist man naturgemäß auf die vorhandenen personellen und sachlichen Mittel angewiesen; mitunter bleibt jedoch Zeit, weiteres Personal und Arbeitsmaterial hinzuzuziehen. Ist dies der Fall, so kann man sich zunächst auf das Absperren beschränken und mit der eigentlichen Arbeit warten, bis weitere Kräfte, insb. dafür notwendige Experten eingetroffen sind. Ansonsten kann man sich bei derartigen Durchsuchungen nur an dem orientieren, was an Hand der allgemeinen Erkenntnisse bei Vorbereitung solcher Maßnahmen genauer durchdacht und den Gegebenheiten des konkreten Falles angepaßt wird. Hier spielt also neben dem Geschick des die Durchsuchung leitenden Beamten vor allem seine Erfahrung und die seiner Mitarbeiter eine ausschlaggebende Rolle. 2. Durchsuchung von Sachen Die Durchsuchung von anderen Sachen als Räumen und dergl. weist zwar auch tatsächlich betrachtet viele Gemeinsamkeiten mit den soeben (1.) behandelten Fällen auf, weicht aber dennoch in mancher Hinsicht davon ab, was die der Kriminalist auch der Strafjurist berücksichtigen sollte80. Derartige Durchsuchungen, die man zahlenmäßig keineswegs unterschätzen darf, betreffen in der Praxis außer Kraftfahrzeugen vor allem Handgepäck von Personen 81 . Da diese Dinge u . U . auch bei einer Haussuchung durchsucht werden müssen, erscheint es sinnvoll, die sich hierbei ergebenden Besonderheiten etwas näher zu beleuchten. Der Zeitpunkt'1 ist hier in der Mehrzahl der Fälle weniger problematisch. Man hat häufig kaum eine Wahl außer der, von der Sachdurchsuchung abzusehen, wenn man mit einem solchen Sachverhalt konfrontiert wird. N u r unter besonderen Umständen - man denke etwa an Zoll- und Steuerdelikte im Grenzverkehr oder Fälle, in denen man zuvor entsprechende Hinweise erhalten hat, - kann man sich Gedanken darüber machen, wann eine solche Durchsuchung im konkreten Falle zweckmäßig erscheint, d. h. am ehesten Erfolg verspricht. Für das Vorgehen bei einer solchen Durchsuchung von Sachen gilt zusätzlich zu dem für Haussuchungen Gesagten, daß die Begleitumstände oft ungünstiger sind, weil man ebenso wie auf den Zeitpunkt auch auf m Zum folgenden siehe - im Zusammenhang mit der Haussuchung - Günther (Fn. 2), S. 107ff., 116ff.; Groß/Geerds II (Fn.48), S. 117ff.; Geerds (Fn.48), S. 194ff. !1 Soweit dieses nicht wie Kleidungsstücke in den Bereich der Personendurchsuchung fällt. 82 Vgl. wiederum Günther (Fn.2), S. 121.

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den Ort üblicherweise keinen oder nur geringen Einfluß nehmen kann; die tatsächlichen Verhältnisse sind daher oft schwieriger als bei Haussuchungen einzuschätzen. Gewiß verlagert sich, was den Hintergrund anlangt, das Verhältnis hier mehr auf Straftaten geringerer krimineller Intensität. Doch heißt das keineswegs, daß derartige Sachdurchsuchungen nicht auch bei schweren Verbrechen bzw. kriminell intensiven Tatverdächtigen erfolgen. Dann aber sind die Beamten durch die für sie oft ungünstigen Verhältnisse besonders gefährdet; sie sollten sich also nicht durch die hier etwas anderen Quantitäten täuschen lassen. Vorbereitete Durchsuchungen83 sind hier - anders als bei Haussuchungen - eher die Ausnahme. Man hat deshalb in der Praxis noch seltener Gelegenheit als dort, sich auf die Sachdurchsuchung in der wünschenswerten Weise vorzubereiten. Bei Vorbereitung ist außer an Razzien, Groß- und Alarmfahndungen - mit mehr oder weniger Zeit bzw. vorbereiteten Plänen - insoweit noch an Grenzfahndung und internationale Fahndung84 sowie an Fälle zu denken, in denen infolge von Hinweisen oder anderen Ermittlungen bereits Anhaltspunkte dafür vorliegen, daß eine zu gegebener Zeit durchzuführende Durchsuchung Erfolg versprechen dürfte. Hier kann man sich mit Personal und sachlichen Hilfsmitteln in etwa auf den konkreten Einsatz einstellen, um eine möglichst wirksame Spurensuche und -Sicherung zu gewährleisten, die wiederum - wie bei Haussuchungen - je nach Lage des Falles mehr oder weniger gründlich, jedoch immer systematisch erfolgen muß. Die verfügbare Zeit pflegt aber in der Regel kürzer als bei Haussuchungen zu sein. In den in der Praxis mithin häufigen Fällen unvorbereiteter Durchsuchung'5 derartiger Sachen sind die Beamten auf die jeweils vorhandenen, im Vergleich zur Haussuchung regelmäßig geringeren personellen und sachlichen Mittel und damit vor allem auf ihre Erfahrung und ihr Geschick angewiesen. 3. Durchsuchung von Personen Noch größer als bei den anderen Formen der Durchsuchung sind die tatsächlichen Unterschiede bei Durchsuchung von Personen86. Dabei

" Siehe auch hier insb. die Darstellungen bei Günther (Fn. 2), S. 117ff., 122ff. und Groß/Geerds II (Fn. 48), S. 118 ff. m Zu diesen besonderen Arten der Fahndung allgemein Groß/Geerds II (Fn. 48), S. 100 ff. und Geerds (Fn.48), S. 189 ff. mit weiterem Schrifttum. 8S Dazu Günther (Fn.2), S. 135 f. " Hierzu und zum folgenden siehe - auch zur praktischen Bedeutung - die eingehenderen Darstellungen bei Michallek (Fn.2), S. 96ff.; Groß/Geerds II (Fn.48), S. 121 ff., insb. S. 124ff., mit weiterem Schrifttum; ferner Zbinden (Fn.53), S. 137ff.; Bauer 3 (Fn.53), S.273ff.; Geerds (Fn.48), S. 196ff.

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sehen wir nicht nur von ähnlichen Maßnahmen ab, die - wie gesagt - bei Anwendung anderer Zwangsmittel (z.B. §§127, 112ff., 164 StPO) ergriffen werden, sondern auch von der körperlichen Untersuchung (§§ 81 a, 81 c, 81 d StPO) 87 ; diese tangiert - bis zu medizinischen Eingriffen gehend - vor allem die körperliche Unversehrtheit des davon Betroffenen. Dies später in die Strafprozeßordnung eingefügte, heute vor allem - aber nicht nur - bei Entnahme von Blutproben angewandte Zwangsmittel ist allerdings nicht immer leicht von der Personendurchsuchung abzugrenzen, weshalb insoweit manches strittig ist88. In den Bereich der von der körperlichen Untersuchung abzugrenzenden Personendurchsuchung gehören vor allem diejenigen Gegenstände, die der Betroffene als Kleidung an sich oder in ähnlicher Weise bei sich trägt8'. Mit der Sicherung von Beweisen (oder Beschlagnahmegegenständen) geht es um das Erlangen von Sachspuren; der schon bei anderen Sachen seltene Zweck der Ergreifung eines Beschuldigten entfällt hier. Da sich der Zwang jedoch unmittelbar gegen die Person richtet, kommt dem Eigenschutz der Beamten - wie bei der vergleichbaren Festnahmedurchsuchung - besonderes Gewicht zu. Der Zeitpunkt90 einer Personendurchsuchung ist ähnlich wie bei Sachdurchsuchungen in der Praxis nur selten vorab zu bestimmen, weshalb für einen dazu befugten Beamten regelmäßig lediglich die Frage bleibt, ob er überhaupt so einschreiten soll oder nicht. Besonders deutlich unterscheidet sich aus der Sicht des Kriminalisten das Vorgehen" bei einer Personendurchsuchung von den zuvor erörterten Formen. Das kann keineswegs überraschen, weil durch den Zwang hier nicht das Hausrecht und mehr als in das Eigentum in die körperliche Unversehrtheit und das Persönlichkeitsrecht eines Menschen eingegriffen wird. Zudem ist es naturgemäß etwas anderes, ob man in einer " Hierzu umfassend die Untersuchung von Dzendzalowski (Fn. 23). 8! Daß es nicht nur um Aktivitäten von Medizinern geht, zeigt insb. § 81 d StPO. Hier sei zur Abgrenzung nur gesagt, daß für uns die Personendurchsuchung selbst in Form einer Leibesvisitation dort endet, wo das Ablegen von Kleidungsstücken zum Entblößen des Körpers führt; somit ist auch das Suchen in Leibeshöhlen eines Menschen u. E. eindeutig der körperlichen Untersuchung zuzuordnen. So Dzendzalowski (Fn. 23), S.21; E.Schmidt (Fn.4), Rdn. 192, 189; Peters (Fn. 17), S.423; Micballek (Fn.2), S.48f.; Günther (Fn. 2), S. 76; Groß/Geerds II (Fn. 48), S. 122; Bauer 3 (Fn. 53); S. 273. Für das geltende Recht hinsichtlich der natürlichen Leibeshöhlen aA jedoch die hM, z. B. Kleinknecht (Fn. 12), §102, Rdn. 6; Roxin (Fn. 13), S. 181; Schlüchter (Fn.12), Rdn. 328.1; Krause/Nehring (Fn. 5), § 81 a, Rdn. 3. »' In diesem Sinne bereits E.Schmidt (Fn.4), Rdn. 189. Auch Meurer (Fn.19), S. 183 setzt sie praktisch mit der Durchsuchung von Sachen, die jemand bei sich trägt, gleich. Ähnlich schon Zhinden (Fn.53), S. 138 f. und Bauer 3 (Fn.53), S.273. 90 Speziell zu dieser Problematik Michallek (Fn.2), S. 104f. 91 Eingehend zu diesem Komplex Michallek (Fn. 2), S. 106 ff. ; Groß/Geerds II (Fn. 48), S. 124ff.; vgl. auch Geerds (Fn.48), S. 197f.

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Wohnung oder in einem Kraftfahrzeug bzw. einer Reisetasche oder aber an einem Menschen, insb. der von ihm getragenen Kleidung, Spuren suchen und sichern will. So divergieren die tatsächlichen Gegebenheiten beträchtlich. Obwohl man ebenfalls zwischen vorbereiteter und unvorbereiteter Personendurchsuchung unterscheiden kann, sei allgemein vorausgeschickt, daß auch diese Durchsuchung mit unterschiedlicher Intensität erfolgen kann92. Doch ist es in der Praxis häufiger so, daß demgemäß zu unterscheidende Stufen bei der Durchführung einander folgen. An das oberflächliche Abklopfen oder Abtasten der Kleidung als „erster Stufe" schließt sich dann die genauere Durchsuchung der Taschen und ihres Inhalts an, die ggf. schon an einem anderen Ort erfolgt, wenn der Betroffene z.B. im Freien gestellt wird. Schließlich kann es in der „dritten Stufe" zum Ablegen einzelner Kleidungsstücke und deren genauer Untersuchung mit technischen Hilfsmitteln kommen; dieses durchweg besondere Ortlichkeiten erfordernde Vorgehen kann - wie angedeutet - zu einer körperlichen Untersuchung überleiten, wenn der Betroffene sich völlig (bzw. weitgehend) entkleiden muß oder sein Körper für Untersuchungszwecke benötigt wird93. Eine solche Stufenfolge ist möglich, aber - wie gesagt - keinesfalls immer nötig94. In den zahlenmäßig hier gleichfalls zurücktretenden Fällen einer vorbereiteten Personendurchsuchung95 hat man gewisse Zeit, um sich nicht nur über den Zeitpunkt96, sondern vor allem auch über Ziel und Zweck der Zwangsmaßnahme klarzuwerden. Man kann sich ferner nicht nur über den Ort der Durchsuchung und dort möglicherweise anwesende Dritte schlüssig werden, sondern Vorsorge dafür treffen, daß gründlichere Maßnahmen - insb. der dritten Stufe - alsbald an anderem, geeigneten Ort mit den für eine sachgemäße Spurensicherung notwendigen Mitteln durchgeführt werden können. Bei der Personendurchsuchung selbst, bei welcher auf systematisches und ggf. besonders gründliches Vorgehen zu achten ist, verdienen zwei Punkte besondere Aufmerksamkeit. Einmal darf auch hier weder etwas übersehen noch eine Spur beeinträchtigt werden, was bei falschem Eifer Vgl. Michallek (Fn.2), S.98f.; Groß/Geerds II (Fn.48), S. 124. Für Annahme einer körperlichen Untersuchung hier schon E.Schmidt (Fn.4), Rdn.189, 192. 94 So unterscheidet ζ. B. Michallek (Fn. 2), S. 99 f. als besondere Typen die allgemeine Personendurchsuchung (ζ. B. bei Razzien), die gründliche Leibesvisitation (sogen. „Filzen") und die Festnahmedurchsuchung, die jeweils vorbereitet oder unvorbereitet vorkommen. 95 Eingehend dazu mit weiteren Hinweisen Michallek (Fn.2), S. 101 ff.; Groß/Geerds / / ( F n . 4 8 ) , S. 124f. % Was den Zeitpunkt anlangt, ist - soweit möglich - Tageslicht künstlicher Beleuchtung vorzuziehen. 92 93

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und nicht besonders qualifizierten Beamten vorkommt. Zum anderen muß man besondere Vorsicht walten lassen, um nicht unangenehme Überraschungen zu erleben, die vom Verschwindenlassen von Beweisen bis zu gefährlichen Attacken reichen97. Deshalb sollte man gerade in der ersten Stufe, dem Abtasten der Kleidungsstücke, auf eventuelle Waffen oder andere gefährliche Gegenstände beim Betroffenen achten'8. Während dieser Tätigkeit sind der Betroffene und ggf. anwesende Dritte daher wiederum sorgfältig zu beobachten, um Reaktionen und rechtzeitig etwaige Störmanöver zu erkennen". Bei den in der Praxis häufigeren unvorbereiteten Personendurchsuchungen sind alle diese auf Erfahrung beruhenden Grundsätze besonders zu beherzigen, weil die tatsächlichen Verhältnisse zuvor weitgehend unbekannt und daher nicht kalkulierbar sind, wie das u. a. fatale Fälle der Festnahmedurchsuchung 100 beweisen. Gerade deshalb ist hier bei systematischer Arbeitsweise Vorsicht und Umsicht am Platze. III. Zur Bedeutung kriminalistischer Erkenntnisse für Rechtsanwendung und Rechtsentwicklung Vergegenwärtigen wir uns alle diese, gewiß noch zu vertiefenden kriminalistischen Erkenntnisse, so drängt sich einem die Frage auf, ob und inwieweit man dieselben strafprozessual sowohl für die Rechtsanwendung de lege lata als u. U. sogar für die Rechtsentwicklung nutzen könnte. Uns scheint, daß man ebenso wie im Strafrecht auch im Strafprozeßrecht trotz des hier naturgemäß größeren Einflusses der Praxis die Anwendung der geschilderten Vorschriften nicht selten zu abstraktdogmatisch betrachtet. Das erklärt nicht nur gewisse Zweifelsfälle und Unsicherheiten in der Rechtspraxis, selbst bei deren rechtlicher Überprüfung, sondern ebenso manche Punkte der insoweit nicht gerade überzeugenden gesetzlichen Regelung. Ebenso wie solide Kenntnis der Tatsachen - d. h. auch der geschilderten Erkenntnisse der Kriminalistik - die Rechtsanwendung, insbesondere was Anordnung und Durchführung von Zwang anlangt, wirklichkeitsnah und damit treffsicherer gestaltet, ist u. E. klar, daß auch die Gesetzgebung die Lebenswirklichkeit ernster als bisher nehmen sollte. Dies ist abschließend für den konkreten Bereich an Hand einiger Konsequenzen zu verdeutlichen, wenngleich dies oder das sicherlich noch weiterer Diskussion bedarf.

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Ausführlicher zum Vorgehen insb. Bauer 3 (Fn. 53), S. 273 ff. " Dazu mit fatalen Fällen aus der Praxis Michallek (Fn.2), S. 107f.; Meixner (Fn. 53), S.63f.; Groß/Geerds II (Fn.48), S. 125. " Siehe hierzu Michallek (Fn. 2), S. 111 f. 100 Vgl. außer Fn. 98 auch den bei Groß!Geerds II (Fn. 48), S. 126 geschilderten Fall.

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1. Rechtliche Unterscheidung der Formen einer Durchsuchung Grundsätzlich erhebt sich zunächst einmal die Frage, ob man nicht schon in der gesetzlichen Regelung wegen ihres doch recht verschiedenartigen Gegenstands deutlicher als bisher zwischen den einzelnen Formen der Durchsuchung etwa so unterscheiden sollte, wie das hier im kriminalistischen II. Teil geschehen ist101. Dafür sprechen u. E. einmal juristische und rechtspolitische Erwägungen, denen mehr Gewicht zukommt als einer ersichtlich durch Zusammenfassung nur vermeintlich vereinfachenden Gesetzestechnik. Denn von den typischerweise dadurch in Mitleidenschaft gezogenen Grundrechten her divergieren Durchsuchungen von Räumen, Sachen und Personen augenscheinlich, obwohl man oberflächlich betrachtet sagen könnte, diese Art von Zwang richte sich stets gegen Sachen102. Bei der Durchsuchung von Räumen, der Haussuchung, geht es jedoch primär um das durch Art. 13 Abs. 1 G G verfassungsrechtlich garantierte Hausrecht103, wenngleich es daneben auch oder mitunter nur auf das Eigentum ankommt. Dieses durch Art. 14 Abs. 1 G G geschützte Grundrecht ist demgegenüber das für Durchsuchungen anderer Sachen typische Eingriffsobjekt, was naturgemäß auch rechtlich eine andere Situation bedeutet. Die Durchsuchung von Personen richtet sich zwar als solche vor allem auf Kleidung und mit sich geführte Gegenstände; materiell aber handelt es sich weniger um einen Eingriff in das Eigentum als einen in das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG)104 und das Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG). Ebenso zeigen sich überdies bei diesen drei Formen der Durchsuchung sowohl in den Voraussetzungen als auch in der Durchführung trotz gewisser Gemeinsamkeiten, wie insbesondere der II. Teil ergeben hat, tatsächliche Unterschiede, denen u.E. auch rechtliches Gewicht zukommt. Es geht des öfteren eben nicht um bloße Modifikationen einer einheitlichen Regelung, wie das die gegenwärtige Fassung der Strafprozeßordnung vermuten lassen könnte, sondern um ihrer Art nach unter101 So schon im geltenden Recht zwischen Haussuchung, Sach- und Personendurchsuchung differenzierend Peters (Fn. 17), S.423; Meurer (Fn. 19), S. 183. Speziell für die Personendurchsuchung Michallek (Fn.2), S. 114 ff., insb. S. 161 ff., für, insoweit allerdings zusammenfassend, Durchsuchung von Räumen und Sachen Günther (Fn.2), S. 151 ff. Zu einschlägigen Regelungen ausländischer Rechte für die Personendurchsuchung Michallek, S. 123ff.; für die Durchsuchung von Räumen und Sachen Günther, S. 143 ff. 102 Denn Spurensuche und -Sicherung am Körper eines Menschen fällt - wie dargelegt unter das später geschaffene Zwangsmittel der körperlichen Untersuchung, welche sogar ärztliche Eingriffe umfaßt. 103 So ζ. B. auch Peters (Fn. 17), S. 391 ; Kühne (Fn. 13), S. 114. 104 In diesem Sinne schon Peters (Fn. 17), S. 391 und Kühne (Fn. 13), S. 114 speziell für die körperliche Durchsuchung.

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schiedliche Zwangsmaßnahmen, bei denen lediglich mehr oder minder weitgehende Gemeinsamkeiten festzustellen sind. Deshalb sprechen auch die Erkenntnisse der Kriminalistik dafür, schon im Gesetz zwischen diesen Formen der Durchsuchung grundsätzlich zu unterscheiden. Verhältnismäßig eindeutig dürfte dies für die Personendurchsuchung sein, die auch in ihrer rechtlichen Problematik der körperlichen Untersuchung näher steht als anderen Durchsuchungen. Obwohl man bei der Durchsuchung von Räumen und anderen Sachen dennoch mit entsprechenden Modifikationen an zusammenfassender Regelung festhalten könnte, ist keineswegs sicher, ob das wirklich ein Vorteil ist105. Deshalb sollen auch hier im Hinblick auf etwaige Konsequenzen die Unterschiede noch etwas näher beleuchtet werden106. 2. Durchsuchungen von Personen Für die u. E. gesondert, ggf. so oder so im Zusammenhang mit der körperlichen Untersuchung107 zu regelnde Personendurchsuchung108 sind vor allem folgende Punkte wichtig, wenn man darauf verzichtet, den Gegenstand im Gesetz zu definieren, der einerseits durch körperliche Untersuchungen und andererseits durch die Sachdurchsuchung begrenzt wird10'. Bei den Voraussetzungen, die sich dem Gegenstand nach auf die Person, ihre Bekleidung und die darin mitgeführten Sachen beschränkt, ist jedenfalls die Personendurchsuchung bei Tatverdächtigen zulässig110. Da eine gesteigerte Intensität etwa im Sinne des hinreichenden Tatverdachts (§§170 Abs. 1, 203 StPO) weder geboten noch praktikabel

105 Eine Frage der Gesetzestechnik wird es sein, ob man alle Durchsuchungen in einem Abschnitt mit der körperlichen Untersuchung zusammenfaßt oder nur diese mit der Personendurchsuchung. Denn davon hängt ab, ob man in den Abschnitten mit gemeinsamen Vorschriften oder besser mit Verweisungen arbeitet. 10t Außer Betracht bleiben im folgenden wichtige Probleme allgemeinen Charakters wie der sonstige Rechtsschutz des Betroffenen oder Folgen von Gesetzesverstößen der Strafverfolgungsorgane wie Beweisverbote. Ebenso muß davon abgesehen werden, auf aus anderen Regelungen zu entnehmende Grenzen einzugehen wie Beschlagnahmeverbote bei bestimmten Sachen oder Völker- bzw. staatsrechtliche Durchsuchungsverbote oder -beschränkungen. 107 Dieses - wie gesagt - angrenzende Zwangsmittel hat bei Augenschein und Sachverständigenbeweis, obwohl der Zwang gewöhnlich beweismäßig darauf hinausläuft, sicher keinen optimalen Standort gefunden. 108 Eingehend zum Wesen der Personendurchsuchung mit reichhaltigem Schrifttum Michallek (Fn. 2), S. 31 ff. und S. 47 f. zur Abgrenzung von anderen Formen der Durchsuchung. m So auch Michallek (Fn. 2), S. 164, der dies Lehre und Rechtsprechung überlassen möchte. Zu erwägen wäre lediglich ein für die Praxis wohl klärender Zusatz wie „Die Durchsuchung einer Person, insb. der Sachen, die sie an sich oder bei sich t r ä g t . . . " . 110 Dies bestätigen außer der hM zu § 103 StPO auch Sonderfälle (nicht nur der StPO).

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erscheint1", muß die mit der „Vermutung" des § 102 StPO nicht zu erreichende Begrenzung auf andere Weise erzielt werden. Stellt man deshalb vom Ziel her auf „zum Beweis geeignete Spuren" ab, was mangels Beweisbedürftigkeit der Beschlagnahme unterliegende Gegenstände umfaßt, sollte man künftig vor allem das Vorliegen bestimmter Tatsachen (wie in § 103 StPO) verlangen, die darauf hindeuten, daß solche Spuren in der Kleidung des Betroffenen zu finden sind112; ein Erfolg der Personendurchsuchung muß also zumindest - tatsächlich begründet - als möglich erscheinen. Wichtig für den Anwendungsbereich ist ferner, ob man eine Personendurchsuchung auch bei Unverdächtigen zulassen will. Dafür spricht außer den Bedürfnissen der Verbrechensbekämpfung in der Praxis der beim insoweit zweifelhaften § 103 StPO wenig überzeugend zitierte § 81 c StPO113, der bei ähnlicher Sachlage sogar gewichtigere Eingriffe in Grundrechte erlaubt114. Um jedoch das anerkennenswerte stärkere Interesse einer unverdächtigen Person, nicht ohne wirklich zwingende Gründe derartigem Zweck unterworfen zu werden, gebührend zu berücksichtigen115, sollte man hier u.E. darauf abstellen1", daß die Personendurchsuchung nach Lage der Dinge „als zur Erforschung der Wahrheit unerläßlich" anzusehen ist; setzt man noch den Passus „und angemessen" hinzu, so dürfte eine sachgerechte Abwägung - insb. hinsichtlich der Schwere der fraglichen Tat und der Lage der Ermittlungen - möglich sein. Für Einschränkungen ergeben sich, wenn man unserem Vorschlag bei Personendurchsuchung Unverdächtiger folgt117, kaum noch Probleme; vielmehr kann man sich für Zulässigkeit derartigen Zwangs bei einem

Ablehnend auch Michallek (Fn.2), S.165. Ebenso Michallek (Fn.2), S. 165f. 113 Trotz seiner Reformbedürftigkeit; dazu siehe insb. Dzendzalowski (Fn. 23), S. 91 ff. 114 Stützt man sich dort auf Erfordernisse der Praxis, so liegen die Dinge hier nicht anders, zumal da es ebenfalls nur um Sachspuren geht und der Eingriff in Grundrechte an Intensität hinter § 81 c StPO zurückbleibt. 115 Für eine differenzierende Regelung auch Michallek (Fn. 2), S. 163 unter Hinweis auf die schwedische Regelung. Auch hier läßt sich mit höherer Intensität des Tatverdachts nichts erreichen. Hier aA jedoch Michallek (Fn.2), S. 168, der sogar dringenden Tatverdacht verlangen möchte. Es ist aber wenig überzeugend, den Grad des Verdachts hinaufzuschrauben, der sich gegen einen anderen als Täter richtet, und so von dem für Zwangsmittel üblichen einfachen Tatverdacht abzuweichen. Vielmehr muß man zum Schutze des Nichtverdächtigen außer auf entsprechende Erfolgsaussichten der Personendurchsuchung bei ihm darauf abstellen, daß diese Zwangsmaßnahme für das Verfahren gegen den Tatverdächtigen wirklich notwendig ist. 111

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117 Denn dann wäre hier die Zulässigkeit bereits auf Fälle der Notwendigkeit beschränkt.

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Tatverdächtigen durchaus auf den allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlassen118, der u. U. im Gesetzeswortlaut erwähnt werden könnte. Bei der Anordnung, die regelmäßig außer dem Richter u. E. künftig auch dem entsprechend juristisch qualifizierten Staatsanwalt zustehen sollte119, muß eine außerordentliche Kompetenz für dessen Hilfsbeamten (§ 152 GVG) erhalten bleiben120. Jedoch sollte man bei diesen „schlichten" Personendurchsuchungen zumindest auf Verlangen des Betroffenen eine richterliche Nachprüfung vorsehen121. Zur Durchführung sind außer im Hinblick auf hiermit möglicherweise verbundene Gewalt gegen Personen gewisse über den allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hinausgehende Vorschriften ratsam. Während für die Einsichtnahme in beim Betroffenen gefundene Papiere weiterhin die Grundsätze des heutigen § 110 StPO - wie für alle Durchsuchungen - gelten sollten, ist neben der ebenfalls allgemein gebotenen vorherigen Unterrichtung des Betroffenen über den Grund der Zwangsmaßnahme - soweit dies tatsächlich möglich ist - zu fordern, daß Gewalt gegen die Person nur angewendet werden darf, soweit das beim Verhalten des Betroffenen und Berücksichtigung aller Umstände als notwendig erscheint. Ferner ist für die Personendurchsuchung bei Frauen eine § 81 d StPO entsprechende Regelung vorzusehen bzw. auf jene zu verweisen, weil zumindest bei Leibesvisitationen insoweit kein sachlicher Unterschied besteht122. Im übrigen könnte man - ähnlich wie in § 142 Abs. 1 öStPO - den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz noch etwas dahin konkretisieren, daß bei Personendurchsuchungen unnötiges Aufsehen zu vermeiden ist, bei unumgänglicher Belästigung des Betroffenen außer auf Schonung seines Rufes darauf zu achten ist, daß Schicklichkeit und Anstand gewahrt werden123. Siehe im gleichen Sinne Michallek (Fn. 2), S. 168. Zumal da hier organisatorisch vermutlich eher zu erreichen sein dürfte, daß ein solcher auch außerhalb der üblichen Dienststunden erreichbar wäre. Dies würde der u. E. wünschenswerten stärkeren Beteiligung der Staatsanwälte an der Ermittlungstätigkeit entsprechen. 118

120 Ebenso Michallek (Fn. 2), S. 169 f. Das aber genügt, weil sich Befugnisse ähnlicher Art z. B. für Polizeibeamte aus § 127 Abs. 2 StPO bei vorläufiger Festnahme ergeben. Zu überlegen wäre im Zusammenhang mit der außerordentlichen Kompetenz lediglich, ob man das dafür vorausgesetzte Merkmal „Gefahr im Verzuge" nicht doch etwas präziser fassen könnte. 121 Diese Nachprüfung kann in Form einer Bestätigung (Antrag auf gerichtliche Entscheidung) erfolgen oder bei erledigten Zwangsmaßnahmen auf Feststellung der Rechtswidrigkeit hinauslaufen. - Zu den auch die Durchsuchungen umfassenden Reformarbeiten Rieß, ZRP, 1981, S. 102 f. 122 So schon Michallek (Fn.2), S. 171. 123 In gleichem Sinne Michallek (Fn.2), S. 171. Diese Grenzen dürften jedoch ebenso für körperliche Untersuchungen maßgebend sein.

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3. Durchsuchung von Räumen Die Durchsuchung von Räumen, die vor allem in das durch das Grundgesetz geschützte Hausrecht und überdies ggf. in das Eigentum eingreift, läßt angesichts gewisser Besonderheiten ebenfalls eine gesonderte Regelung124 als angezeigt erscheinen, die hier insb. für Einschränkungen und Durchführung von Vorteil wäre. Bei den Voraussetzungen wäre dieses Zwangsmittel dem Gegenstande nach auf dem Hausrecht unterliegende Räume und darin befindliche Sachen zu beschränken125. Ziel und Zweck einer solchen Haussuchung läßt sich jedoch ebenfalls besser als mit dem schiefen Ausdruck „Beweismittel", mit dem man vor allem unterschiedliche Arten von Beweisen bezeichnet, mit „zum Beweis geeigneten Spuren" charakterisieren126. Im übrigen ist am Begriff des einfachen Tatverdachts festzuhalten127. Der eigentliche wunde Punkt des geltenden § 102 StPO ist die kaum begrenzend wirkende „Vermutung"; deshalb sollte man auch bei Haussuchungen in jedem Falle bestimmte, nachprüfbare tatsächliche Anhaltspunkte verlangen, die einen Erfolg als möglich erscheinen lassen128. Die insoweit entfallende Differenzierung zwischen den §§ 102, 103 StPO ließe sich u . E . entweder bei unverdächtigen Betroffenen oder aber allgemein durch das zusätzliche Erfordernis erreichen, daß diese Maßnahme nach Lage der Dinge „als zur Erforschung der Wahrheit unerläßlich (und angemessen)" erscheinen müßte129. Bei so gestalteten Voraussetzungen vereinfachen sich die heute kompliziert geregelten Einschränkungen in Zukunft erheblich. Die gegenwärtig in § 103 Abs. 2 StPO enthaltene Ausnahme für bestimmte Räumlichkeiten oder Personen dürfte dann nicht mehr als zwingend erscheinen130; diese Umstände wären bei der eben skizzierten Abwägung zu berücksichtigen, könnten daher wohl der Rechtsanwendung überlassen werden. Vor allem ist das grundsätzlich anzuerkennende Verbot der Haussuchung bei Nacht zu diskutieren. Obwohl man sich hier am § 104 124 So im Grunde auch Günther (Fn. 2), S. 172, der allerdings vorschlägt, Durchsuchungen von Räumen und anderen Sachen zusammenfassend zu regeln. 125 Dies könnte man mit „Wohnung, andere Räume, das dazu gehörige Besitztum und die darin befindlichen Sachen" umschreiben. Vgl. auch Günther (Fn. 2), S. 174. 126 Ebenso schon Günther (Fn.2), S. 174. 127 Eine höhere Intensität ist selbst dann nicht angezeigt, wenn man den §§ 102, 103 StPO entsprechend auch künftig zwischen Zwang gegen verdächtige und unverdächtige Personen unterscheiden möchte, was sich u . E . jedoch auf andere Weise sachgerechter erreichen ließe; dazu siehe unten. Im gleichen Sinne Günther (Fn.2), S. 175f.

Ebenso Günther (Fn.2), S. 176f. Uns scheint, daß man mit dem Zusatz „und angemessen" einer allgemeinen Fassung den Vorzug geben kann, weil man dann bei verdächtigen und anderen Personen hinreichend differenzieren kann. 130 In der Richtung schon Günther (Fn. 2), S. 178. 128

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StPO orientieren könnte, lassen sich teilweise notwendige Ausnahmen einfacher und besser formulieren 131 . Die Anordnung sollte man hier ebenfalls einem Richter oder Staatsanwalt vorbehalten132, daneben bei „Gefahr im Verzuge" oder dergl. eine außerordentliche Kompetenz für Hilfsbeamte (§ 152 GVG) vorsehen133. Sofern das nicht allgemein erfolgt134, wäre auch hier bei Verlangen des Betroffenen eine richterliche Nachprüfung vorzusehen. Im Rahmen der Durchführung135 geht es außer um die vor Anwendung von Zwang, sofern möglich, gebotene Unterrichtung der Betroffenen über den Grund dafür136, um die Anwesenheit des Betroffenen und weiterer Zeugen. Diese für Haussuchungen - auch im Interesse der Beamten - bedeutsame Anwesenheit sollte anders als in § 106 Abs. 1 StPO zwingend vorgesehen werden; man könnte lediglich einen Vorbehalt für tatsächliche Unmöglichkeit des Herbeischaffens von Zeugen machen. Eine § 105 Abs. 3 StPO entsprechende Regelung ist beizubehalten137. 4. Durchsuchung anderer Sachen Die Durchsuchung anderer Sachen138, deren Anwendungsbereich einerseits durch die Haussuchung und andererseits durch die Personendurchsuchung begrenzt wird, ließe sich am besten im Anschluß an die Haussuchung regeln. Da es hier lediglich um Eingriffe in das Eigentum geht, liegt manches anders als sonst bei Durchsuchungen. In den Voraussetzungen läßt sich der Anwendungsbereich einfach mit „anderen Sachen" umschreiben; durch einen Hinweis auf der Personendurchsuchung 139 oder Haussuchung unterfallende Sachen140 wäre der

131 Vgl. im einzelnen Günther (Fn.2), S. 178 f. Wenn man beispielsweise außer den auch zur Nachtzeit jedermann zugänglichen Räumen noch solche Räumlichkeiten vom Verbot ausnimmt, bei denen Tatsachen dafür sprechen, daß sie ein flüchtiger Tatverdächtiger betreten hat oder die als Schlupfwinkel für bestimmte kriminelle Machenschaften benutzt werden; ob diese - wie in § 104 Abs. 2 StPO - noch näher zu spezifizieren wären, erscheint zweifelhaft, aber diskutabel. Beachte jedoch im letztgenannten Punkte die nicht unberechtigten Bedenken von Kühne (Fn. 13), S. 158. 132 Ebenso Günther (Fn.2), S. 180f., der bei Anordnung durch den Staatsanwalt richterliche Bestätigung verlangt. 133 Gleicher Ansicht Günther (Fn.2), S. 181. 134 Vgl. Fn. 121. 135 Siehe dazu auch die Vorschläge von Günther (Fn.2), S. 182ff. 136 Sofern dies nicht allgemein vorgeschrieben werden sollte. 137 Die Einsichtnahme in Papiere des Betroffenen (§110 StPO) sollte bei allen Durchsuchungen dem Richter oder dem Staatsanwalt vorbehalten bleiben. 13 ' Allgemein siehe hier die Vorschläge von Günther (Fn.2), S. 170ff., der allerdings Haussuchung und Sachdurchsuchung zusammenfassend regeln möchte. 139 Zu dieser Abgrenzung Günther (Fn. 2), S. 75. 1,0 Z.B. „Die Durchsuchung anderer als in den §§ x, y StPO genannten Sachen ...".

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insoweit ergänzende Charakter dieses Zwangsmittels klargestellt. Für Anwendungsbereich (bei verdächtigen und unverdächtigen Personen), Tatverdacht und Ziel der Maßnahme (zum Beweis geeignete Spuren) sollte nichts anderes als das oben Gesagte gelten141. Jedoch ist auch hier vorbehaltlich bestehender Sonderregelungen - z . B . für den Grenzverkehr - zu verlangen, daß bestimmte tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen müssen, die einen solchen Erfolg als möglich erscheinen lassen142. Könnte man insoweit eine zusammenfassende Regelung mit den Haussuchungen noch für angezeigt halten, so ergeben sich bei den Einschränkungen doch bemerkenswerte Divergenzen, weil es hier um durchweg nicht schwerwiegende, zudem auf Eigentum beschränkte Eingriffe geht. Deshalb halten wir unter den genannten Voraussetzungen selbst bei unverdächtigen Betroffenen nicht nur eine Beschränkung auf das „zur Erforschung der Wahrheit Unerläßliche" für entbehrlich143, sondern meinen, daß insoweit der allgemeine Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ausreichen sollte; auf ihn könnte man ggf. im Gesetz hinweisen144. Im übrigen entfällt hier - wie im geltenden Recht - naturgemäß das Verbot der Haussuchung zur Nachtzeit mit seinen Ausnahmen, weil die fraglichen Sachen den Strafverfolgungsorganen ohnehin in der Öffentlichkeit zugänglich sein dürften. Die Anordnung sollte ebenso wie bei Personendurchsuchung und Haussuchung vorgeschlagen geregelt werden145, könnte also ggf. mehr oder weniger zusammenfassend erfolgen. Bei der Durchführung146 liegen die Verhältnisse der Sachdurchsuchung jedoch häufiger anders als bei Haus- oder gar Personendurchsuchung. Obwohl auch hier vorherige Unterrichtung des Betroffenen über den Grund des Zwanges, sofern möglich, angezeigt ist, besteht u . E . kein Bedürfnis nach Anwesenheit von Zeugen, zumal da der Betroffene in aller Regel ohnehin zugegen sein wird147. Lediglich die Einsichtnahme in Papiere des Betroffenen147 ist ebenso wie sein Verlangen nach einer Bescheinigung in der sonst bei Durchsuchungen üblichen Weise zu regeln. Bei Sachdurchsuchungen sind also lediglich die für alle Zwangsmittel typischen Grenzen zu beachten.

Ebenso im Grunde Günther (Fn. 2), S. 174 ff. Insoweit ist dem Vorschlag von Günther (Fn. 2), S. 176 f. zuzustimmen. 143 Hier aA Günther (Fn.2), S. 177 f., was aber mit dem Haussuchungen umfassenden Regelungsvorschlag zusammenhängen mag. 144 Vgl. auch insoweit Günther (Fn.2), S. 177. 145 Siehe wiederum Fn. 121. 146 Allgemein siehe auch die Vorschläge von Günther (Fn. 2), S. 182 ff., der dabei wohl oft die Haussuchung im Auge hat. 147 Dies alles entspricht dem geltenden Recht. 141

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Diese knappen Hinweise zu den drei Formen von Durchsuchungen in Strafsachen zeigen u. E. hinreichend, daß man gerade im Interesse der Rechtsanwendung künftig schon im Gesetz entsprechend differenzieren sollte. Die bei bemerkenswerten Unterschieden dennoch zu konstatierenden Gemeinsamkeiten, die partiell zusammenfassende Vorschriften oder Verweisungen zulassen, sind zudem überwiegend allgemeiner Natur, d. h. sie gelten auch für andere Zwangsmittel. Dann aber ist es eine Frage der Gesetzestechnik, nicht der Systematik, ob man derartige Rechtsgrundsätze bei den einzelnen Zwangsmitteln - ggf. mehr oder minder zusammenfassend - formuliert bzw. darauf verweist oder sie allgemein für alle Zwangsmittel regelt148. Doch sollte über die rechtliche Problematik hinaus klar geworden sein, daß die sich auf Tatsachen beziehenden Erkenntnisse der Kriminalistik für den StrafJuristen nicht nur bei der Rechtsan wendung, sondern auch bei der Rechtsentwicklung von Nutzen sind, wenngleich man über daraus zu ziehende einzelne Konsequenzen durchaus streiten könnte. Anliegen dieses Beitrags war es insoweit, die bisher nicht immer hinreichend erkannte Wechselwirkung zwischen Rechts- und Tatsachenwissenschaften zu verdeutlichen, die insb. auch für den Praktiker wichtig sein dürfte. Und gerade das hierfür gewählte Beispiel der strafprozessualen Durchsuchungen sollte augenscheinlich werden lassen, wie und in welchem Ausmaß die Kriminalistik nicht nur dazu beitragen kann, die Arbeit in der Praxis zu verbessern, sondern auch die juristische Diskussion auf eine solidere Grundlage zu stellen.

148 Ähnlich ist es beim hier ausgeklammerten Rechtsschutz des Betroffenen oder Konsequenzen rechtswidrigen Vorgehens der Strafverfolgungsorgane wie Beweisverboten.

Die Beschlagnahme von Geschäftsunterlagen des Beschuldigten bei Zeugnisverweigerungsberechtigten Rückblick und Ausblick G Ü N T H E R WEINMANN

I. Die Strafrechtliche Abteilung des 49. Deutschen Juristentages wurde von Generalstaatsanwalt a. D. Dr. Hanns Dünnebier als Vorsitzendem geleitet1. Man beriet am 20. und 21.9.1972 die Frage, welche strafrechtlichen Mittel sich für die wirksame Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität empfehlen. Einer der Referenten forderte in einer These, Steuerund Bankgeheimnisse dürften gegenüber der Aufklärung von Wirtschaftsstraftaten grundsätzlich keine Schranke bilden2. In diesem Zusammenhang beklagte ein Diskussionsteilnehmer, daß nach geltendem Recht in Verfahren gegen Wirtschaftsstraftäter bestimmte Beweismittel oft nicht verwertbar gemacht werden könnten3. Er beantragte zu beschließen, daß Geschäftsaufzeichnungen und Geschäftspapiere, die zu führen und aufzubewahren gesetzlich vorgeschrieben ist, auch dann der Durchsicht, Beschlagnahme und Verwertung unterliegen, wenn diese einem Steuerbevollmächtigten, Wirtschaftsprüfer, Rechtsanwalt oder Notar anvertraut sind, oder von Letztgenannten, was in zunehmendem Maße festzustellen sei, im Auftrage des Straftäters bearbeitet werden4. Dieser Antrag wurde, als der Vorsitzende am 20.9.1972 abstimmen5 ließ, mit großer Mehrheit angenommen6. Erst danach und am darauffolgenden Sitzungstag regte sich Unmut in der Versammlung über diesen Beschluß. Ein Teilnehmer7 berichtete, wie empört Anwaltskollegen reagiert hätten und beantragte, denselben wieder aufzuheben. Wenn das Beschlagnahmeverbot des § 97 StPO beseitigt werde, würden die Hand-

1 Verhandlungen des 49. Deutschen Juristentages (DJT) vom 19.-22.9.1972 in Düsseldorf, Band II, Sitzungsberichte, 1. Teilband, Abschnitt M, Seiten 1 bis 206, München 1972. 2 Prof. Dr. Noll, Thesen für den 49. DJT (Fn. 1) M, S. 199, Nr. 3. 3 Staatsanwalt Hans Jürgen Sommer (Fn. 1), M, S. 88. 4 Fn. 1, M S. 89. s Die Beratungen der Abteilungen des Juristentages sollen mit Beschlüssen enden, Zwischenabstimmungen sind zulässig; vgl. § 22 Abs. 2 der Satzung des DJT. ' Fn. 1, M, S. 102; Abstimmungsergebnis: 75 Ja-Stimmen, 24 Gegenstimmen, 11 Enthaltungen. 7 Rechtsanwalt Dr. Erich Schmidt-Leichner (Fn. 1), M, S. 175.

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akten des Verteidigers freigegeben, das gesetzliche Schweigerecht aufgehoben und die Anwälte Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft8. Es brodelte im Forum, die Wogen von Rede und Gegenrede gingen hoch, ein Rechtsanwalt wollte seinen Mitgliedsausweis des Deutschen Juristentages „vor ihrem Gesicht zerreißen"9, wenn die Abteilung sich nicht anders als beschlossen entscheide. In dieser für Juristentagsverhältnisse dramatischen und in der Sache fast verfahrenen Situation, ergriff der Vorsitzende Dünnebier das Wort und wies den Weg zur erneuten Abstimmung10, die damit endete, daß der Beschluß vom Vortage wieder aufgehoben wurde". Die kontroverse Diskussion über die strittige Frage, ob und inwieweit Geschäftsunterlagen des Beschuldigten bei den Personen, die das Zeugnis verweigern dürfen, beschlagnahmt werden können, ist lebhaft, bisher jedoch ergebnislos geführt worden12. II. Die Vorschrift des § 97 StPO, die es hier in dem Teilaspekt der Beschlagnahme von Geschäftsunterlagen" zu untersuchen gilt, erlebte eine nicht unumstrittene, bewegte Geschichte, die ihren vorläufigen Abschluß mit dem 3. Strafrechtsänderungsgesetz vom 4.8.1953 gefunden hat. Die StPO vom 1.2.1877" normierte, erstmals für das gesamte Deutsche Reich, eingeschränkte Beschlagnahmemöglichkeiten. Gemäß § 80 StPO von 1877 unterlagen schriftliche Mitteilungen zwischen dem Beschuldigten und denjenigen Personen, die wegen ihres Verhältnisses F n . l , S . 1 7 5 , 176. ' F n . l , S. 184 und Fn. 7. 10 F n . l , S. 190. 11 F n . l , S. 191. 12 Hier die wesentlichsten Abhandlungen zum Thema: Mayer, SchlHA 1955, S.348; Wilhelm, N J W 1959, S. 1 7 1 6 ; Creifelds, G A 1960, Heft 1; Kunert, M D R 1973, S . 1 7 9 ; Welp, in Festschrift für Gallas, 1973, S.391 ff.; Bringewat, N J W 1974, S. 1740; Haffie, N J W 1974, S. 1983 und N J W 1975, S.808; Waldowski, AnwBl. 1975, S. 1 0 6 f f . ; Freund, N J W 1975, S. 2057 und N J W 1976, S.2002; Krämer, BB 1975, S. 1225; Achenbach, N J W 1976, S. 1068; Gehre, N J W 1977, S . 7 1 0 ; Krekeler, N J W 1977, S . 1 4 1 7 f f . ; Heilmaier, DStR 1980, S . 5 1 ; Birmanns, M D R 1981, S . 1 0 2 ; Gülzow, N J W 1981, S.265; Felix, KöStDialog 1981, S.4056; Stypmann, wistra 1982, S. 11. 15 Der Sammelbegriff Geschäftsunterlagen ist weit auszulegen; gemeint sind Geschäftspapiere und Geschäftsunterlagen, die alles Geschriebene, Gedruckte, auf Tonträger u. a. Aufgenommene mit Bezug auf eine geschäftliche Unternehmung umfassen. Dazu gehören in erster Linie die Geschäftspapiere, die nach dem Gesetz aufzubewahren sind (Handelsbücher, Buchungsbelege, Kontenblätter, Inventar, Bilanzen), nicht weniger jedoch der Briefverkehr, Verträge, Aufschriebe, Handelsbriefe u. a. m. im kaufmännischen oder gewerblichen Unternehmen; vgl. auch Franzen/Gast/Samson, Steuerstrafrecht, 2. Aufl., München 1978, § 379 A O Rdn. 16. 14 RGBl. S.253. 8

Beschlagnahme von Geschäftsunterlagen bei Zeugnisverweigerungsberechtigten 201

zu ihm zur Verweigerung des Zeugnisses berechtigt sind, der Beschlagnahme nicht, falls sie sich in den Händen derselben befanden und diese nicht einer Teilnahme, Begünstigung oder Hehlerei verdächtig waren. Als Vorbild für diese Vorschrift diente hauptsächlich eine Bestimmung der Strafprozeßordnung des Königreichs Württemberg 15 , wonach Briefe, welche der Beschuldigte „an den Verteidiger oder Beichtvater" gerichtet hat, nicht beschlagnahmt werden durften. In den Motiven zur StPO von 1877 ist festgehalten, daß die gegen Beschlagnahme geschützte Korrespondenz sämtliche schriftliche Mitteilungen umfaßt, die der Beschuldigte an die zur Verweigerung des Zeugnisses Berechtigten16 gerichtet oder von ihnen erhalten hat17. Im Reichstag wurde das Bedürfnis für ein Beschlagnahmeprivileg mit deutlichen Worten bejaht18, jedoch grenzte das Beschlagnahmeverbot die Ermittlungsmöglichkeiten nicht weiter ein, als das zugebilligte Zeugnisverweigerungsrecht reichte19. Bald regte sich Kritik an der neuen Regelung, die die Freiheit des schriftlichen Verkehrs zwischen dem Verdächtigen und seinem Verteidiger nicht deutlich genug klarstelle20. Allerdings wurden noch vor dem 1. Weltkrieg Stimmen laut, die warnten, Beschlagnahmeverbote allzu eng mit dem Zeugnisverweigerungsrecht zu verknüpfen 21 . Damals wurde, soweit ersichtlich erstmals, auf das heute noch bestehende Spannungsverhältnis zwischen Beschlagnahmefreiraum und Wahrheitsermittlungsinteresse gerade bei Wirtschaftsstraftaten hingewiesen. Es wurde bemerkt, weitgehende Verbote der Beschlagnahme (so beim Rechtsanwalt) „könnten dahin führen, daß der Verdächtige unbequeme Schriftstücke, beispielsweise ein Bankrotteur seine Bücher oder Sachen, einfach . . . in das Büro eines Anwalts schaffe und dadurch dem Gerichte entziehe" 22 . Einem Asylrecht für Beiseiteschaffen oder Verdunkeln dürfe nicht die Tür geöffnet werden, schon deshalb, weil die Verweigerungs15

Art. 134 Abs. 2 Wiirtt.StrafPrO v. 17.4.1868, Reg.Bl. S.205. G e m . § § 4 2 , 43 der S t P O v. 1877 gewisse Verwandte, Verschwägerte, Verlobte, Geistliche, Verteidiger des Beschuldigten und öffentliche Anwälte. 17 Hahn, Die gesamten Materialien zur StPO, Berlin 1880, Bd. I, S. 124, 125. 18 Hahn aaO, vor allem Bd. I, S. 545, w o ein Beitrag des Abgeordneten Windthorst wiedergegeben ist, der die Uberwucherung der Hausdurchsuchungen anprangert und von seiner Erfahrung berichtet, „wie wenig man gesichert ist, daß die Herren Hausbesucher (vom Gefundenen) einen diskreten Gebrauch machen." " Richter, Die Beschlagnahme von Geschäftsunterlagen . . . in : Tagungsberichte der Sachverständigenkommission zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität, Bd. XV, Ani. 12, Bonn 1979. 20 Entwurf eines Gesetzes betr. Änderung des G V G und der StPO von 1908, in: Materialien zur Strafrechtsreform, 11. Band, S. 137, 222, 223, Bonn 1960. 21 Bericht der 7. Kommission des Reichtags, 12. Legislaturperiode, II. Session, von 1910, zur Vorbereitung des Entwurfs einer StPO, in: Materialien zur Strafrechtsreform, 13. Bd., S. 3153 ff., Bonn 1960. 22 F n . 2 1 , S. 3208. 16

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berechtigten „keineswegs immer die nötige Gewähr gegen die Duldung solcher Mißbräuche böten" 23 . Eine hier erwähnenswerte Änderung der einschlägigen Vorschriften über die Beschlagnahme schriftlicher Mitteilungen zwischen dem Beschuldigten und privilegierten Personen kam indessen nicht zustande, trotz Vorschlägen im Schrifttum 24 und in der Rechtsprechung 25 . Es gab zwar wenig Diskussion darüber, daß die Beschlagnahme von schriftlichen Mitteilungen zwischen dem Beschuldigten und aussageverweigerungsberechtigten Personen unzulässig ist, sofern diese nicht teilnahmeverdächtig waren. Umstritten war jedoch nach altem Recht, ob andere Aufzeichnungen und Mitteilungen, wie Notizen, Tagebücher, Krankenblätter, Kranken)ournale der Beschlagnahme unterliegen. Der Schwerpunkt der Stoßrichtung gegen ein „unklar redigiertes Gesetz mit teilweise unklarer Entstehungsgeschichte" 26 und die Zielvorstellung, die Beschlagnahmemöglichkeiten einzuschränken, lag in erster Linie bei den umstrittenen Weigerungsrechten der Arzte hinsichtlich Krankenblättern und sonstigen Aufzeichnungen 27 , bzw. des aus dem Leib eines Patienten herausoperierten Fremdkörpers, und der Rechtsanwälte bezüglich ihrer Handakten 28 . Die Auseinandersetzung darüber kam allerdings jahrzehntelang nicht voran, weil die Prüfung, ob die Beschlagnahme bestimmter Sachen und Aufzeichnungen zulässig sei, sich vorwiegend mit der Auslegung von § 97 S t P O a. F. befaßte 29 . Erst im Jahre 1953 unternahm der Gesetzgeber größere Schritte. Das Grundgesetz bestimmte für Abgeordnete zwingend die Unzulässigkeit der Beschlagnahme, soweit das Zeugnisverweigerungsrecht des Abgeordneten reicht 30 . Das 3. Strafrechtsänderungsgesetz vom 4.8.1953 3 1 erweiterte folgerichtig die Vorschrift über Freiheiten von der Beschlagnahme ganz wesentlich. Entsprechend der Anknüpfung an § 53 Abs. 1 Ziff. 1 - 3 S t P O wurden in die ursprüngliche Liste der Zeugnisverweigerungsberechtigten (Geistliche, Verteidiger, Rechtsanwälte und Ärzte) neu die Wirtschaftsprüfer, vereidigten Buchprüfer, vereidigten BücherFn. 21. v. Hippel, Über Grenzen der Beschlagnahme, ZStW 47, S.523. 25 Ebermayer, Die Unruhen in Berlin-Moabit und das Zeugnisverweigerungsrecht der Ärzte, DJZ 1910, S. 1219, 1220; Chrzescinski, Beschlagnahme von Handakten, DJZ 1926, S. 70; RG in DRiZ 1927, Nr. 1082. 26 v. Hippel Fn. 24. 27 Ebermayer, Fn.25; Löwe-Rosenberg 19. Aufl., 1934, §97, Anm.9; Roth JW 1911, S. 130ff.; Beling ZStW 31, 743. 28 Seibert, JZ 1951, S.584. 29 Maaßen, MDR 1952, S.377, Anm. zu OLG Celle, Beschluß v. 18.1.1952, Ws 502/ 51, MDR 1952, S.376. 30 Art. 47 Satz 2 GG. 31 RGBl. I, 735. 23

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