Festschrift Emil Friedberg zum siebzigsten Geburtstage: Gewidmet von seinen Schülern [Reprint 2022 ed.] 9783112674529, 9783112674512

141 31 88MB

German Pages 310 [320] Year 1908

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Festschrift Emil Friedberg zum siebzigsten Geburtstage: Gewidmet von seinen Schülern [Reprint 2022 ed.]
 9783112674529, 9783112674512

Table of contents :
Inhalt
Einleitung zu einer Ausgabe der Evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts im Herzogtum Preußen
Der Ursprung von Staat und Kirche
Neue Beiträge zum Austritt aus der Kirche
Die Klosterklausur nach dem griechischen Kirchenrecht
L'elemento esterno dell'azione, materia del reato, nel Diritto penale canonico
I tributi ecclesiastici nella scienza della finanza
Le immunità ecclesiastiche
Le origini elvetiche della formula del Conte di Cavour: «Libera Chiesa in libero Stato
Le statue di Graziano e di Niccolò de Tudeschis nel monastero di S. Procolo in Bologna
La teoria delle relazioni fra lo Stato e la Chiesa secondo Riccardo Hooker (1554—1600)
Erezione delle collegiate, e concessione delle insegne competenza
Zur rechtlichen Stellung der hellenischen Kirche. (Ein Beitrag zur Kenntnis ihrer Verfassung und ihres Verhältnisses zum Staat)
Öffentliche Angelegenheit, politischer Gegenstand und politischer Verein nach preußischem Recht

Citation preview

FESTSCHRIFT EMIL FRIEDBLK ZUM

SIEBZIGSTEN

GEBURTSTAGE

GEWIDMET

VON SEINEN SCHÜLERN FRANCESCO BRANDILEONE ANDREA GALANTE HEINRICH G-EFFCKEN MATTIA MORESCO DEMETRIOS PETRAKAKOS SILVIO PIVANO KONSTANTIN RH A L L I S K A R L RIEKER FRANCESCO RUFFINI FRANCESCO SCADUTO DOMENICO SCHIAPPOLI ARTHUR B. SCHMIDT EMIL SEHLING

LEIPZIG VERLAG VON VEIT & COMP. 1908

Druck von Metzger & Wittig in Leipzig.

£Hochverehrter SKerr Qeheimer

Seitdem LUDWIG

KARL

RICHTER

FRIEDRICH

EICHHORN

0lat!

und

AEMILIUS

die Grundsätze der historischen

Schule

auch für das Kirchenrecht zu den herrschenden erhoben haben, ist die Wissenschaft des Kirchenrechts unter den Schülern

RICHTERS

herrlich aufgeblüht.

Wenn als die Aufgaben der historischen Schule für das Kirchenrecht wohl bezeichnet worden sind: „Vollständige Beschaffung des

geschichtlichen

Materials, Streng kritische Behandlung der Quellen,

Exakte dogmen-geschichtliche Erforschung der einzelnen Rechtsinstitute, Objektive wissenschaftliche Bearbeitung des konfessionellen Kirchenrechts", so haben Sie, hochverehrter Herr, in allen diesen Punkten Bahnbrechendes deutsamsten

und Grundlegendes geschaffen.

Quellenpublikationen,

vor

allem

Die bedie

erste

kritische Ausgabe des Corpus iuris canonici, die scharfsinnigsten

Untersuchungen

auf

zahlreichen

Gebieten

des

kirchlichen und des kirchenstaatlichen Rechts, insonderheit des Eherechts, der Grenzen von Staat und Kirche, der Bischofswahlen, die grundlegenden Arbeiten im Evangelischen Verfassungsrecht, die vortrefflichste Zusammenfassung des

gesamten

Rechtsstoffes in dem führenden Lehrbuch

des

Kirchenrechts verdankt die Wissenschaft Ihnen. Die Unterzeichneten stehen zu Ihnen aber noch in einem besonderen Verhältnisse: sie verehren in Ihnen den Lehrer und Meister, zu dessen durch die Betonung des juristischen Charakters der Kirchenrechtsdisziplin besonders ausgezeichneten Betrachtungs- und Behandlungsweise sie sich offen und freudig bekennen.

Dreizehn Lehrer an deutschen,

italienischen und griechischen Hochschulen haben sich in dieser Festschrift vereinigt, um ihrem Meister den schuldigen Tribut ihres Dankes und ihrer Verehrung darzubringen; sie verbinden

damit den innigsten Wunsch,

hochverehrter

Herr,

beschieden

sein

daß es Ihnen,

möge,

noch

viele

Jahre in gleicher, ungeschwächter Kraft und Frische das leuchtende Vorbild und den Stolz Ihrer dankbaren Schüler zu bilden. Sehling

Rieker

Schmidt

Moresco

Pivano

Rufflni

Scaduto

Rhallis

Schiappoli

Brandileone

Petrakakos

GefTcken

Galante

EMIL

SEHLING,

Professor in Erlangen.

Seite

Einleitung zu einer Ausgabe der Evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts im Herzogtum Preußen

1

K A B L REEKEB, Professor in Erlangen.

Der Ursprung von Staat und Kirche

39

A B T H Ü B B . SCHMIDT, Professor in Gießen.

Neue Beiträge zum Austritt aus der Kirche

73

KONSTANTIN RHALLIS, früherem Unterstaatssekretär im königl. griechischen Kultusministerium in Athen, Privatdozent in Athen.

Die Klosterklausur nach dem griechischen Kirchenrecht

115

DOMENICO SCHIAPPOLI, Professor in Pavia.

L'elemento esterno dell' azione, materia del reato, nel Diritto penale canonico 142 MATTIA MORESCO, Priyatdozent in Genua.

I tributi ecclesiastici nella scienza della

finanza

157

SILVIO PIVANO, Professor in Camerino.

Le immunità ecclesiastiche

183 FBANCESCO BOTTINI, Professor in Turin.

Le origini elvetiche della formula del Conte di Cavour: «Libera Chiesa in libero Stato» 199 FBANCESCO BBANDILEONE, Professor in Bologna.

Le statue die1 Graziano e di Niccolò de Tudeschis nel monastero di S. Procolo in Bologna 221

ANDREA GALANTE, Professor in Innsbruck.

La teoria delle relazioni fra lo Stato e la Chiesa secondo Riccardo Hooker (1554-1600)

Seite

229

FRANCESCO SCADÜJO, Professor in Neapel..

Erezione delle collegiate, e concessione delle insegne competenza . . . .

245

DEMETBIOS PETRAKAKOS, Privatdozent in Athen.

Zar rechtlichen Stellung der hellenischen Kirche. (Ein Beitrag zur Kenntnis ihrer Verfassung und ihres Verhältnisses zum Staat) . 269 HEINRICH GEFFCKEN, Professor in Köln a. Rli.

Öffentliche Angelegenheit, politischer Gegenstand und politischer Verein nach preußischem Recht

287

Einleitung zu einer Ausgabe der Evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts im Herzogtum Preußen. Von

Emil Sehling. I. Seit dem Frieden zu Thorn vom 19. Oktober 1466 umfaßte das Gebiet des Deutschen Ordens das ganze Bistum Samland und den größeren Teil von Pomesanien, während das Palatinat Marienburg, die Diözesen Leslau, Ermeland und Kulm unter Polen standen. Das Ordensgebiet bildeten also die heutige Provinz Ostpreußen ohne das Ermeland, dazu von dem heutigen Westpreußen die Kreise Rosenberg und Marienwerder. Der Bischof von Samland, Georg von Polentz, war der Reformation ebenso geneigt, wie der Markgraf Albrecht von Hohenzollern, der seit 1511 Hochmeister des Deutschen Ordens war. Herzog Albrecht war schon seit 1522 für die neue Lehre gewonnen. In einem Sendschreiben „an die Herren Deutschen Ordens" vom 28. März 1523 hatte Luther ernste Worte an den Orden gerichtet. Seit 1523 pflog der Hochmeister mit Luther eine rege Korrespondenz, welche bis 1525 einen geheimen Charakter trug. Vgl. darüber VOIGT, Gesch. Preußens IX, 687, 688; DE W E T T E , Luthers Briefe Bd. 2; TSCHACKEBT, Reformationsgesch. des Herzogtums Preußen (Publik, aus preuß. Staatsarchiven Bd. 43) Bd. 1 (Leipzig 1890) S. 23 ff. und die dazu gehörigen Zitate im Urkundenbuch; TSCHACKEBT, Zur Korrespondenz Luthers, in Z. f. Kirchengesch. 1890. S.274ff., 620; vgl. ferner die Aufsätze im Preuß. Prov.-Kirchenbl. 2, 201ff.,3, 1ff.(Korrespondenz Herzog Albrechts mit Luther, Melanchthon und Sabinus); TSCHACKEBT, Herzog Albrecht, in Schriften des V. f. Reformationsgesch. Nr. 45 S. 15 ff. In regem Briefverkehr stand der Herzog auch mit den Nürnbergern. (Vgl. den interessanten Brief des Hochmeisters an Hieronymus Ebner und Caspar Nützel in Nürnberg, vom 16. Juli 1524, worin der Herzog für die mitgeteilten Nachrichten dankt und über den Gang der Festschrift f. E. FRIEDBKRG.

1

2

Emil Sehling

Religionsverhandlungen zu Regensburg berichtet, auch die Regensburger Beschlüsse in Abschrift beifügt.) Wie verdächtig der Hochmeister bereits 1524 dem Papste erschien, kann man aus einem Berichte des Markgrafen Johann Albrecht an den Hochmeister, datiert Rom, Freitag vor Judica (d.i. 11. März) 1524, entnehmen [Staatsarchiv Königsberg. Briefarchiv der d. Ordenszeit 1524. 11. März. Sehr. 4. 22]. Der Brief des Markgrafen Johann Albrecht an den Markgrafen Casimir, datiert Rom, 12./9. 1524 (Staatsarchiv Königsberg, Briefarchiv der d. Ordenszeit 1524. 12./9. Rom. XII. 30) verzeichnet das Gerücht, der Hochmeister wolle lutherisch werden und sich verheiraten. Und am 24./9. 1524 teilt Markgraf Johann Albrecht dem Hochmeister die Ungnade des Papstes wegen der Ausbreitung der lutherischen Lehre im Ordenslande mit (Vgl. Staatsarchiv Königsberg. Briefarchiv der d. Ordenszeit. 1522—1525. 1524. 24./9. Rom. XII. 14). Auf diese Gerüchte und die damit in Zusammenhang stehenden Angelegenheiten beziehen sich allerlei weitere Schreiben aus den Jahren 1524 und 1525, im Staatsarchive zu Königsberg. Briefarchiv der d. Ordenszeit. So des Grafen Gabriel zu Ortensburg, d. d. Wien, 16. September 1524 (cit. loc. B. 126), der seine Bemühungen bei Erzherzog Ferdinand im Interesse des Hochmeisters wegen dessen Verhaltens in der lutherischen Lehre schildert. So des Georg Pusch an den Hochmeister d. d. Rom, vom 8. April 1525 (cit. loc. II. 147). Und eine rege Korrespondenz bestand zwischen den verschiedenen Hohenzollernschen Fürsten über diese Angelegenheit, vgl. z. B. Staatsarchiv Königsberg. Briefarchiv der d. Ordenszeit. 1524. Oct. 26, Brief des Markgrafen Casimir an den Hochmeister (cit. loc. XII. 85), des Hochmeisters an seinen Bruder Johann Albrecht, Coadjutor zu Magdeburg und Halberstadt, d. d. Onolzbach, 27. Nov. 1524, das Schreiben Georg Yogiers an den Hochmeister, vom 15. März 1525 (Tschackert, Urkundenbuch 332). Schon im Jahre 1524 erschien der Hochmeister als ein Schutzpatron der neuen Lehre. So wendet sich am 8./9. 1524 Hans von Seckendorf, Amtmann zu Baiersdorf bei Erlangen, an ihn und bittet um Verwendung für einen beim Bischöfe von Bamberg „von wegen des gottes worts" gefangenen Prediger von Forchheim. (Der Brief wird dem Hochmeister offenbar von der Ehefrau des Geistlichen überreicht.) (Staatsarchiv Königsberg. Briefarchiv der d. Ordenszeit. 1524. 8. September B. 91.) Am 16. August 1524 schreibt der Hochmeister an Heinrich v. Könneritz, Hauptmann zu Joachimsthal, über die Verrichtung Pflugs und Schlicks in Böhmen, die dort den Evangelischen drohenden

Einleitung xu einer Ausgabe der Evangel. Kirekenordnimgen usw. Gefahren und den ev. Städtebund zu Speyer. (Staatsarchiv Königsberg. Briefarchiv der d. Ordenszeit. 1524. 16. August. I X . a. 117. 615.) Während so an der Spitze des Landes sich die Wendung zur neuen Zeit vorbereitete, war die Bewegung auch von unten her in Fluß gekommen. In den Städten gärte es um 1523 und 1524 schon bedenklich, besonders in Königsberg, wo seit 1523 der von Wittenberg auf Bitten nach einem christlichen Prediger entsandte Johannes Briessmann wirkte. Aus Neidenburg berichtete der Pfleger Friedrich Truchseß von Waldenburg am 2. Oktober 1524 über das „ungebürliche Benemen des poln. Caplans", der den ev. Gottesdienst gestört habe (Staatsarchiv Königsberg. Briefarchiv der d. Ordenszeit. 1524. Oct. 2. S. auch TSCHACKEBT, Urkundenbuch [ÜB.] Nr. 258.) Der Herzog ließ sich über diese Vorgänge eingehend referieren. So am 26./2. 1524 durch Christoph von Gattenhofen über die Ausbreitung der Lehre zu Königsberg. (Gedruckt: Gebser, Königsberger Univ. Programm, Weihn. 1840. S. 6/7. II. Der Boden war vorbereitet. Die Bischöfe gingen voran. In Pomesanien erklärte sich der Bischof Erhard von Queiß sofort nach seinem Regierungsantritte 1523 für die neue Lehre. Am 8. April 1525 hob Albrecht für den ganzen Orden die Ordensgelübde auf und nahm im Frieden von Krakau, am 9. April 1525, das Gebiet von König Sigismund von Polen als weltliches, erbliches Herzogtum zu Lehen. AM 28. Januar 1524 erließ Bischof Polentz bereits das erste Reformationsmandat, wonach in Zukunft deutsch getauft werden solle. Es ist anzunehmen, daß das 1524 in Königsberg gedruckte Taufbüchlein Luthers den Pfarrern als Formular dabei dienen sollte. Über die Bedeutung dieses Mandates und die weiteren Reformen des Bischofs vgl. TSCHACKERT 1, 95, 1, 76 ff.

Da Königsberg bereits Pfingsten 1524 als evangelische Stadt zu betrachten ist, wandte der Bischof Polentz seine Fürsorge den anderen Städten seiner Diözese zu, wie Bartenstein, Wormditt, Neidenburg. Selbst über die Grenzen des Ordenslandes hinaus erstreckte sich die neue Bewegung. So wirkte in Braunsberg, welches noch vom Hochmeister aus der Zeit des Polnischen Krieges her besetzt war, ein evangelischer Prediger. Nach dem Frieden mit Polen mußten allerdings die vom Hochmeister besetzten Punkte Ermelands wieder herausgegeben werden. Der Bischof von Ermeland, Ferber, unterdrückte die Reformation in seiner Diözese. Vgl. das strenge Mandat vom 20./1. 1524. TSCHACKEBT 1, 74. Daher „der katholische Keil zwischen die ev. Gegenden von Königsberg und Marienwerder". 1*

3

4

Emil Sehling

In Pomesanien publizierte Bischof Erhard von Queiß Ende 1524 ein Reformationsprogramm „Themata episcopi Riesenburgensis", welches an reformatorischer Bedeutung das Reformationsmandat Georg von Polentz' weit übertrifft und daher als die erste offizielle reformatorische Ordnung abgedruckt zu werden verdient (No. I). TSCHACKERT, Ü B . Nr. 3 0 0 .

TSCHACKERT 1, 1 0 3 ff.

Bischof Polentz trat 1525 seine weltliche Herrschaft an Herzog Albrecht ab und blieb Bischof mit ausschließlich kirchlichen Befugnissen. (Diese bestanden nach einer Aufzählung des späteren Bischofs von Pomesanien, Paul Speratus, in der Verpflichtung: jährliche Synoden zu halten, Kirchen zu visitieren, irrige Ehesachen zu entscheiden und die Disziplinargewalt über alle kirchlichen Beamten auszuüben, ausgenommen „große Mißhandlung, als Dieberei, Brand, Mord u. dgl." TSCHACKERT, ÜB. Nr. 1 2 8 2 ) . Queiß folgte 1 5 2 7 diesem Beispiele. Damit war die Verfassung der neuen Kirche gegeben, als eine evangelisch-bischöfliche unter dem Schutze des Landesherrn. An der bestehenden Kirchenverfassung brauchte also kaum etwas geändert zu werden. Dagegen fehlte es noch an einer festen Ordnung für Gottesdienst und kirchliches Leben, da die einzelnen Maßnahmen der Überleitung in die neue Ordnung (vgl. TSCHACKERT, Reform.-Gesch. 1. S. 76 ff.) natürlich nicht genügten. Eine Verordnung Albrechts vom 6. Juli 1525 leitete die neue Ära ein und bereitete auf die neuen Ordnungen vor. Vgl. zu dieser Ordnung TSCHACKERT, Reform.-Gesch. 1, 1 1 8 . 1 1 9 ; ÜB. Nr. 3 7 1 ; ein Auszug bei JACOBSON, Gesch. der Quellen des Kirchenr. des preuß. Staats, T . I, Bd. II (Königsberg 1 8 3 9 ) , S. 2 3 . Da es sich nur um eine mehr provisorische Anordnung handelt, verdient sie nicht den Abdruck. Grundlegende Ordnungen ließen nicht mehr lange auf sich warten. Georg von Polentz und Erhard von Queiß hatten den Auftrag erhalten, ein umfassendes Kirchengesetz für den Gottesdienst auszuarbeiten. Sie führten diesen Auftrag „mit rath ihrer mitbrüder, der prediger zu Königsberg (damit sind wohl gemeint Briessmann Speratus, Poliander; vgl. über diese TSCHACKERT 1, 33 ff. 123 ff. 348 ff.) und Bewegung aller Umstände" aus, und legten die Ordnung dem Landtage vor. Am 10. Dezember 1525 einstimmig angenommen, wurde sie nach Schluß des Landtags gedruckt und März 1526 publiziert, unter dem Titel: Artikel der Zeremonien und andrer Kirchenordnung. Vgl. HARTKNOCH, Preußische Kirchenhistoria (Frankfurt u. Leipzig 1686) 2, 277 ff.; ARNOLDT, Kurzgefaßte Kirchengesch, des Königreichs

Einleitung zu einer Ausgabe der Evangel. Kirchetnordmmgm usw.

5

Peußen (Königsberg 1769), S. 263ff.; (HENNIG), De constitutionibus ecclesiasticis Lutheranorum in Borussia a tempore reformationis usque ad nostram aetatem. Progr. I, 7. (Regim. 1803); JACOBSON, Gesch. der Quellen des ev. Kirchenr. des preuß. Staats, Königsberg 1839. I. 2. S. 25 ff.; TSCHACKEBT 1, 129 ff. ÜB. Nr. 418. Über eine .lateinische Übersetzung von 1530 vgl. HENNIG, a. a. 0 . S. 9.

Der Gottesdienst ist nach dieser ersten Ordnung noch stark katholisch; nach Luthers Vorschlägen in der Übersetzung des Taufbüchleins, der Formula missae et communionis, und der Schrift „Von der Ordnung des Gottesdienstes in der Gemeinde" von 1523. Die Elevation beim Abendmahl wurde 1544 abgeschafft (s. u.). Im Auszuge findet sie sich bei RICHTER 1 , 2 8 ff. und JACOBSON, Nr. H . Sie soll hier zum ersten Male wieder ganz abgedruckt werden nach dem Originaldruck. (Exemplar im Staatsarchiv Königsberg, Etatsministerium 37 a.) (Nr. H.) Übrigens sind nicht alle Bestimmungen der Ordnung ins Leben getreten, z. B. die lectio continua in der Messe nur in Königsberg, wo sie aber 1568 fiel (COSACK, Paulus Speratus, Braunschweig 1861, S. 70). Auf dem Landtage zu Königsberg im Dezember 1525 wurde ferner eine Landesordnung in 80 Artikeln beraten. Diese Artikel sind überwiegend polizeilichen Inhalts. Einige Artikel kirchenrechtlichen Inhalts hat JACOBSON, Anhang Nr. III abgedruckt; nach ihm RICHTER, a . a . O . 1, 33ff. Inhaltsangabe bei FABER, Preuß. Archiv. Samml. 1, 155 (Königsberg 1809); TSCHACKEBT 1, 128 ff. — Von diesen 80 Artikeln wurden 13 durch den Druck publiziert (Königsberg, HANS WEINBEICH 1526); es ist also wohl zu vermuten, daß sie allein in Geltung treten sollten und in Geltung getreten sind. Wir drucken sie daher erstmalig wieder vollständig nach dem Originaldruck (Exemplar im Staatsarchiv Königsberg. Etats-Ministerium 37 a) ab. (Nr. HI.) Zu Artikel 10 „Von Bockheiligen" vgl. die Darstellung der heidnischen Gebräuche der Preußen bei TSCHACKEBT 1, 10 ff. und außerdem den interessanten Bericht „Wahrhafftige beschreibung der Sudawen auf Samlandt sambt ihren Bockheiligen und Ceremonien" von HIERONYMUS MALETUS, im Staatsarchiv Königsberg. J. 2. o. D. (IV. 22. 337). HI. Zur Durchführung dieser Gesetze sollte ein „Umzug" d. h. eine Visitation stattfinden. Die Kommissare Adrian von Waiblingen und Speratus erhielten dazu Vollmachten vom Herzog und den beiden Bischöfen. Abgedruckt bei NICOLOVIÜS, Die bischöfl. Würde in Preußens ev. Kirche. Königsberg 1834. S. 1 0 2 — 1 0 4 . Vgl. TSCHACKEBT, UB. Nr. 459.

6

Emil Sehling

Eine Visitationsinstruktion vom 31. März 1526 regelte in neun Punkten die Aufgaben der Kommission. Diese Instruktion ist aus dem Staatsarchiv Königsberg abgedruckt von JACOBSON, Anbang Nr. IV (vgl. aucb TSCHACKEBT, ÜB. Nr. 4 6 0 ) und gelangt hiernach als erste Visitationsinstruktion zum Wiederabdruck. (Nr. IV.) Bemerkenswert ist, daß sie sowohl vom Landesherrn als den Bischöfen, den kirchlichen Vorgesetzten, erlassen wurde. Ein landesherrliches Kirchenregiment war neben dem bischöflichen Organismus nicht vorhanden — wenigstens nicht theoretisch. 1527 erschien in zwei Abteilungen das erste evangelische Gesangbuch Preußens. Vgl. TSCHACKEBT 1 , 1 5 2 (vgl. dort auch die Bemerkungen gegen COSACK, Paul Speratus, der die Lieder des Gesangbuchs ausschließlich dem Speratus zuschreibt). Von evangelischem Geiste getragen waren die Verordnungen des Herzogs gegen unordentliches Leben und Wesen. Es sei hier genannt das „Mandat gegen Müssiggänger" vom 5 . / 2 . 1 5 2 7 (TSCHACKEBT, ßeform.-Gesch. 1, 154; ÜB. Nr. 549. 553. Die Anordnungen der Visitationskommissare wurden vom Herzog zur Beobachtung eingeschärft. (TSCHACKEBT, ÜB. Nr. 533.) Diese Visitation von 1526 hatte sich aber noch nicht auf alle Gemeinden erstreckt, insonderheit nicht auf die Gebiete Natangen und Masuren. Der Herzog erließ daher am 24./4. 1528 ein neues Mandat an die beiden Bischöfe zur Abhaltung einer Visitation in allen Pfarreien. (Vgl. TSCHACKEBT, ÜB. Nr. 597. Gedruckt bei NICOLOVIUS, S. 104 ff.; danach hier Nr. V.) Im Natangischen Kreis (Friedland, Barten, Bartenstein, Brandenburg und Mühlhausen) führte Polentz mit Speratus die Visitation durch. (Über diese Visitation vgl. TSCHACKEBT, Reform.Gesch. 1, 154 ff.; ÜB. Nr. 601. 601a.) Ob Bischof Queiß überhaupt visitiert hat, steht nicht fest. (Er starb im September 1 5 2 9 . ) Michael Meurer, als Archidiakonus sein Stellvertreter, hat im östlichen Masuren 1529 die Visitation durchgeführt. Vgl. TSCHACKEBT 1, 1 5 5 ff.; ÜB. Nr. 6 3 1 . 6 3 2 . IV. Durch diese Visitationen wurde auch die Neuordnung der beiden evangelischen Diözesen vollendet. Vgl. das Nähere TSCHACKEBT 1, 1 5 5 . Auf Grund der bei den Visitationen gemachten Erfahrungen hatte Meurer die Abhaltung von Synoden durch die Bischöfe für wünschenswert erklärt (ÜB. Nr. 630). Gemeint waren Synoden zu Zwecken der Visitation und Aufsicht (vgl. S E H L I N G , Kirchenordnungen 1, 69ff.). Schon die Visitationsinstruktion von 1528 hatte zu diesem Behufe vierteljährliche Synoden der Erzpriester und jährliche Synoden der Bischöfe vorgesehen. Offenbar waren sie nicht ins Leben getreten.

Einleitung zu einer Ausgabe der Evcmgel. Kirchmordnungen usw. Jetzt nahm der Herzog diese Idee von neuem auf. Er projektierte für 1530 drei Diözesansynoden und eine Landessynode. Eine Epidemie („der englische Schweiß") verhinderte die Ausführung. Diese Seuche raffte den Bischof Queiß dahin; als sein Nachfolger wurde Speratus vom Herzog ernannt. Im Januar 1530 nahm der Herzog den Plan wieder auf. Er befahl den Zusammentritt einer Landessynode und folgender drei Provinzialsynoden: für die samländische Geistlichkeit zu Königsberg am 2. Februar, für die masurische zu Rastenburg (hier residierte Meurer als Stellvertreter des Bischofs) am 16. Februar, für die pomesanische zu Marienwerder am 7. März; die Landessynode sollte zu Königsberg am 12. Mai stattfinden. Vgl. das Ausschreiben vom 11. Januar 1530. TSCHACKEBT, UB. Nr. 707. Abgedruckt bei JACOBSON, Anhang. Nr. V.

Nach diesem Ausschreiben sollten „christliche statuta synodalia publiziert und ausgegeben werden". Als Vorlage hierzu arbeitete Speratus eine Schrift aus, „Constitutiones synodales evangelicae". Zu dieser fügten der Herzog am 6./1. 1530 eine Vorrede (die aber wohl auch von Speratus geschrieben war), und die Bischöfe Polentz und Speratus eine zweite Vorrede (deren Verfasser Speratus war) hinzu. Es sollte hiermit für die evangelische Geistlichkeit Preußens ein „offiziell gültiger dogmatischer Leitfaden" gegeben werden. Diese Synodalconstitutionen sind uns nur in einer und zwar nicht vollständigen Handschrift aus dem 17. Jahrhundert erhalten (von CÖLBE geschrieben wie TSCHACKEBT 1, 168 vermutet).

Die Con-

stitutiones sind bisher stets als das erste symbolische Buch der preußischen Kirche vor der A. C. bezeichnet worden. Wenn nun TSCHACKEBT gewiß Recht hat, gegen diese Auffassung zu polemisieren und darauf hinzuweisen, daß die Constitutiones kein Bekenntnis der Kirche, sondern nur eine theologische Lehrschrift zur Unterweisung der Geistlichkeit waren, so scheint er mir andrerseits doch den Umstand zu gering anzuschlagen, daß diese Schrift das „offizielle" Lehrbuch für die Geistlichkeit sein, von den Synoden geprüft und von der gesetzgebenden Autorität im Staate publiziert und anbefohlen werden sollte. Daß dies geschehen, ist allerdings nicht mit Sicherheit nachzuweisen. Wenn man aber die Vorreden bedenkt, namentlich diejenige des Herzogs selbst, und das vorangehende Mandat, so erscheint es doch nicht ganz ausgeschlossen, daß die Constitutiones von der Synode angenommen und dann auch vom Herzog publiziert worden sind. Daß sie den Beifall der Synode gefunden haben werden, hält auch TSCHACKEBT für wahrscheinlich. Dagegen spricht allerdings die von TSCHACKEBT (mangels neuer Funde) S. 167 Anm. bewiesene Tatsache, daß die Schrift nicht gedruckt

1

8

Emil Sehling

worden ist, und uns überhaupt nur in einer einzigen (unvollständigen) Handschrift des 17. Jahrhunderts erhalten ist. Dies wäre bei einem für die Unterweisung der g a n z e n Geistlichkeit Preußens und den täglichen Unterricht bestimmten Werke (oder gar, wie man früher annahm, bei einem „Symbol" für die Kirche) doch höchst sonderbar. Vielleicht kann man sich mit folgender Erklärung begnügen: Das Werk war angenommen und für die Publikation durch den Druck vorbereitet, als diese durch das Erscheinen der Augustana, deren Anerkennung der Herzog sofort bei Strafe des Bannes anordnete, überflüssig wurde. Ein Abdruck ist daher hier nicht am Platze. (Vgl. eine Übersicht bei TSCHACKEET 1, 169 Anm. 2.) In der schon erwähnten Handschrift der „Constitutionen" folgt als ein Anhang eine lateinische Übersetzung und Überarbeitung der Kirchenordnung von 1525 unter dem Titel „Articuli ceremoniarum e germanico in latinum versi et nonnihil locupletati". Die Zeremonienartikel sind unter Benutzung des Luther sehen Katechismus (1529) erweitert. Vgl. über die Änderungen bei COSACK, Speratus. S. 1 1 4 — 1 1 7 . Ihre Verfasser sind Polentz und Speratus. Diese Articuli betrachtete man früher wohl als die zweite Kirchenordnung Preußens. TSCHACKEET hält sie für Vorlagen für die Synoden, die auch den Beifall der Synoden gefunden hätten ähnlich wie die Constitutiones. Ich halte dies auch für wahrscheinlich. Zwar die von TSCHACKEET 1, 171 Anm. versuchte Beweisführung aus der Vorrede der Bischöfe ist nicht durchschlagend, da „de ceremoniis" doch nicht gerade von f o r m u l i e r t e n Artikeln verstanden werden muß, wie ja auch z. B. „de judieiis ecclesiasticis" niemand auf solche deutet, aber die von TSCHACKEET hervorgehobene Tatsache, daß in den späteren Erlassen des Herzogs immer nur von der ersten Kirchenordnung von 1525, nicht von den „erweiterten lateinischen Artikeln von 1530" die Eede ist (TSCHACKEET 1, 171 Anm. 1) spricht für die Annahme, daß wir es auch hier, wie bei den Constitutiones, mit nicht definitiv gewordenen Entwürfen zu tun haben. Jedenfalls gehören, bei dieser ungeklärten Sachlage, die „Articuli" nicht in unsere Sammlung. V. Visitationen bildeten auch im Herzogtum Preußen die wichtigsten Wege für die Durchführung reformatorischer Maßnahmen. Eine ausführliche Geschichte derselben fehlt und kann von mir an dieser Stelle nicht geliefert werden. Ich werde daher nur das Notwendigste mitteilen. Unterstützt und angeregt von Herzog Albrecht, der wiederholt den Visitationen in eigener Person beiwohnte (z. B. in den Jahren 1542 und

Einleitung zu einer Ausgabe der Evangel. Kirchenordnungen usw.

9

1543), waren die Bischöfe unermüdlich tätig, ihres Amts zu walten. Speratus, Mörlein, Heßhusius, Venediger und Wiegand haben mit größter Pflichttreue die Regelung auch der geringsten Dinge geleitet und überwacht. Aus den vorhandenen Visitationsakten heben sich als besonders wichtig hervor: Die Visitationen von 1541—1543, 1569, 1575/76, 1578/79, 1585/86; wenigstens sind wir über diese Visitationen genauer unterrichtet und das erhaltene Material bietet speziell für unsere Zwecke Besonderes. Daneben finden sich aber auch noch Akten aus anderen Visitationen. Über manche Visitationen mögen Urkunden nicht mehr vorhanden sein. Die nachfolgende Skizze kann daher auf Vollständigkeit Anspruch nicht erheben. In historischer Reihenfolge nenne ich außer den oben schon erwähnten Visitationen — von Visitationen, die Polentz in Samland und Meurer in Masuren 1530 abhielten, wissen wir nur ganz wenig (TSCHACKERT 1, 1 7 2 ) — die folgenden: 1. Die Visitation von 1533. Im Jahre 1533 visitierte Speratus die Amter Barten und Brandenburg, worüber Foliant 1272 des Staatsarchivs Königsberg näheren Aufschluß gibt. Dort findet sich auch eine von Speratus selbst geschriebene Verordnung für die drei Kirchspiele Löwenstein, Dietrichsdorf und Laggarben, welche die Tätigkeit der Pfarrer in diesen drei Kirchspielen betrifft. Die sonstigen Anordnungen haben kein allgemeines Interesse. 2. Über eine Visitation von 1538 gibt uns ein Band F. 37 a Etatsministerium im Staatsarchiv Königsberg (frühere Bezeichnung 4 Sehr. 23 Fach. 15. III) Aufschluß. Derselbe enthält unter anderem einen Visitationsbericht des Bischofs von Pomesanien Paulus Speratus vom 31. Januar 1538, der offenbar für den Landesherrn bestimmt war. Hierin klagt der Bischof über Unwissenheit der Gemeindeglieder, mangelhaften Kirchenbesuch, schlechten Eingang des Decem, wiederholt den fürstlichen Befehl wegen der Leistungen an die Geistlichkeit (JACOBSON Nr. VII) und gibt als Grund für die mangelhafte Beobachtung der Landes- und Kirchenordnung an, daß die Hauptleute sie wohl nicht alle im Drucke besäßen. „Deshalb habe ich einen kurzen Auszug gemacht und solcher Landes- und Kirchenordnung, auch hernach ausgegangener Bevehl Artikel in einander gezogen, könnt nicht schaden, man ließe sie drucken". Dieser Wunsch ist offenbar nicht in Erfüllung gegangen. Der Auszug des Speratus ist mir nicht zu Gesicht gekommen. 3. Eine gründliche Visitation begann mit dem Ende des Jahres 1541

10

Emil Behling

Der Landesherr hatte unter dem 29. September 1540 bereits genaue Weisungen gegeben über „Unkosten und Unterhaltung der Visitationen".

Mandat vom 29./9. 1540; TSCHACKERT, ÜB. Nr. 1281.

Die Visitation von 1541 erstreckte sich auf die drei Kreise Natangen, Barten, Brandenburg und hatte die genaue Registrierung des Vermögens der geistlichen Stiftungen zum Inhalt. (Geistliche Güter, Lehen, Brüderschaften, Erbzinse, Pfennigzinse, Erbgelder). Über diese Visitation geben uns die Folianten 1273 und 1274 des Staatsarchivs Königsberg Auskunft. In 1273 finden wir das Original des „Kredenzschreibens" des Herzogs an Michael von Drahe, d. dKönigsberg, den 19. November 1541. Auf Grund der Berichte dieses Visitators Michael von Drahe erließ der Herzog ein Reskript am 2. Oktober 1542 (Fol. 1273. Bl. 264). Im Zusammenhang mit dieser Visitation steht die Bewilligung einer Steuer seitens des Adels und der kleinen Städte „zu ufrichtung eines partikulars". (Vgl. über das Schulwesen unten.) Die beachtenswerten Berichte der Städte über ihre geistlichen Güter, ausstehenden Zinsen usw. ersehen wir in Fol. 1274. 4. Über weitere Visitationen der Jahre 1542 und 1543 geben uns Aufschluß: der Fol. 1271 für den Natangschen Kreis, der Fol. 1272 für die Ämter Barten und Brandenburg, der Fol. 1275 für die Ämter Preußisch - Holland, Mohrungen, Preußisch-Mark, Riesenburg, Schönberg, Marienwerder. Für Riesenburg vgl. auch SCHWALM, Gesch. der Stadt Riesenburg. Riesenburg 1896. S. 70. An diesen Visitationen nahm der Herzog selbst Anteil. Dies wurde noch in späteren Jahren dankbarst anerkannt. Vgl. die Darstellung bei der Stadt Zinten. Vgl. auch TSCHACKERT, Herzog Albrecht S. 49 ff. Den wichtigsten Gegenstand dieser Visitation bildeten die finanziellen Verhältnisse. Über die „Eidesformel" der Pfarrer und den Befehl vom 1. Februar 1543 siehe unten S. 26. 5. Aus den nächsten Jahren finden wir wenige oder gar keine Nachrichten über Visitationen. (Eine Visitation in Rastenburg vom Jahre 1545 betraf im wesentlichen finanzielle Dinge, bestimmte z. B., daß Kaiende-, Laut- und Taufgeld nicht mehr erhoben werden solle; vgl. BECKHOHN, Rastenburg. Rastenburg 1880. S. 41.) Zwar beschäftigte sich der Herzog nach wie vor mit diesem so wichtigen Institut, wie die unten zu erwähnenden Ordnungen zur Genüge beweisen, aber zu eigentlichen größeren Visitationen scheint es nicht gekommen zu sein. Offenbar nahmen die Osiandrischen Händel alle Kräfte gefangen. Es ist uns allerdings im Staatsarchiv Königsberg. J. 2. 1540—1547 ein

Einleitung x/u einer Ausgabe der Evangel. Kirchenordntmgm ttsw.

11

Visitationsmandat der beiden Bischöfe vom 9. November 1547 erhalten (welches NICOLOVIUS, a. a. 0. S. 145/51 ohne Quellenangabe abgedruckt hat) und welches richtiger als ein Ausschreiben des Herzogs Albrecht bezeichnet werden muß, das die Visitation anordnet und bei der persönlichen Verhinderung des Landesherrn die beiden Visitatoren abordnet, aber wir sind nur davon unterrichtet, daß Briessmann, der Präsident des Bistums Samland, im Herbste 1547 auf Samland und Natangen Visitationen abgehalten hat (vgl. TSCHACKEBT, ÜB. Nr. 2 0 4 1 ) . Im Jahre 1551 wurde eine neue große Visitation geplant. Hier offenbarte sich der Einfluß, den inzwischen Osiander auf die preußischen Verhältnisse gewonnen hatte. Der Herzog hatte sich von einigen Königsberger Theologen ein Gutachten für eine Visitation ausarbeiten lassen und dieses Osiander zur Begutachtung überschickt. Der Bericht Osianders vom 9. Februar 1551 ist im Staatsarchiv Königsberg, Etatsministerium F. 37 a erhalten und darf wohl hier, weil bisher nicht publiziert, etwas näher betrachtet werden. Osiander schreibt: „Ich habe F. D. befehl sampt den beigelegten etlicher theologen ratschlagen die Visitation belangende verlesen und lasse mir den ersten artikel gefallen, das die gemeinen priester sich aller heuer ausgegangener translation der bibel enthalten, ausgenommen die lateinische Hieronymi und die deutsche Lutheri." Der „Ratschlag" der Theologen liegt bei und handelt im ersten Punkt von der Notwendigkeit der Einheit in Lehre und Zeremonien. Im Punkt II empfiehlt dieser „Ratschlag" z u r Auslegung: die Augsb. Conf., Melanchthons Loci communes, Luthers Hauspostille, Brenz Postille, Luthers beide Katechismen. Zu diesem zweiten Punkte bemerkt Osiander: „hab ich leider der kürz so viel gefanden, das Philipp Melanchthons büchlein mer schedlich denn nutzlich sei". Man solle die Geistlichen lieber an Luthers Schriften weisen. In Punkt III klagt der „Ratschlag" über Ungleichförmigkeit in den Zeremonien. Der Fürst möge „unser Königsbergische Kirchenceremonien, wie die zu aller zeit gehalten worden, schriftlich verfassen lassen". Der Punkt IV klagt über unchristliches Leben und gibt zu bedenken, ob man nicht etwa „auf christlichen gebrauch den bann wieder aufrichten" möchte. Zu Punkt III und IV bemerkt Osiander, daß über die Zeremonien die Visitatoren wohl am besten Entscheidung treffen könnten; was den Bann anlange, so sei er völlig mit der Wiedereinführung einverstanden; die Hauptsache sei aber die reine Lehre und darauf müsse bei der Visitation besonders geachtet werden. Zu diesem Zwecke stellt er daher am Schlüsse ein ganz ausführliches Frage-Programm auf. Dieses letztere findet

12

Emü Sehling

sich ohne irgendwelche Angaben abgedruckt bei Jacobson, Anhang Nr. XIV. Die sehr bald heftig einsetzenden Osiandrischen Streitigkeiten haben wohl den Gedanken der Visitationen in den Hintergrund treten lassen. Wenigstens habe ich aus dieser Periode nur vereinzelte Nachrichten über solche gefunden, so aus dem Jahre 1562 für ßartenstein (Kirchenarchiv Bartenstein. Visitationsabschied vom 8. September 1562), aus dem Jahre 1564 für Balga (Staatsarchiv Königsberg Fol. 1279), aus dem Jahre 1565 für Langheim (Kirchenarchiv zu Langheim). Im Juni 1568 visitierte Bischof Venediger Mühlhausen im Kreise Preußisch-Holland (Pfarrarchiv Preußisch-Holland. M. IV. A.; dortselbst ist auch der Visitationsrezeß erhalten, vgl. Altpreuß. Monatsschr. 33, 305 ff.), und auch die zum Patronat der Dohna's gehörige Gemeinde Hennsdorf (vgl. unter Hermsdorf). Für Neidenburg wird eine Visitation von 1561 genannt von Gekgokovius, Die Ordensstatt Neidenburg. Marienwerder 1883. S. 90 ff. Für Rastenburg eine solche von 1565 von Beckhobn, Rastenburg. S. 43 (dort Inhaltsangabe des Rezesses). Nach Überwindung des Osiandrismus beginnt auch im Visitationswesen ein neues, frisches Leben. 6. Die Visitation des Jahres 1569. Bischof Mörlein von Samland visitierte seine Diözese. Näheres finden wir im Staatsarchiv Königsberg Fol. 1276. Ich hebe als wichtigstes Beispiel hervor den Visitationsabschied für das Kirchspiel Fischhausen, vom 27. April 1569 und teile daraus sogleich an dieser Stelle folgendes mit: Der Pfarrer erhält außer der Besoldung 4 Hufen Landes. Scheunen und Gräben unterliegen der Baulast des Kirchspiels. Jedes Kirchspiel schickt ein Fuder Holz. Für Läuten zum Begräbnis mit allen Glocken sind 10 Gr., für Läuten mit einem Teil der Glocken sind 5 Gr. zu entrichten; ganz arme Personen zahlen nichts. Für den alten Pfarrer ist zur Versorgung ein Haus zu bauen. Genaue Regelung erfolgt für das Inventar, den Decem, das Rauchgeld, das Schüler-Geld. „Insonderheit soll mit Fleiß zugesehen werden, daß die Instleute bei den Fischern, welche die Fischerei mit den wirten um die helfte brauchen und der herrschaft ebenso wohl als der wirte zinse geben muß, auch den geburlichen decem halb so viel als der rechte wirt ablegen." Ahnliche Abschiede finden sich für die Kirchspiele: St. Albrecht, vom 28. April 1569. eodem loco Bl. 67. (Hier wird den Kirchvätern noch besonders ans Herz gelegt, daß sie zur Versorgung der Pfarr-Witwen und -Waisen Haus und Land kaufen sollen.)

Einleitung zu einer Ausgabe der Evangel. Kirchmordnungen usw.

13

German, vom 3. Mai 1569. eodem 1. Bl. 107 (auch erhalten im Kirchenarchiv zu Germau). Über die Kirche zu Germau vgl. GEBAUER in Preuß. Prov.-Bl. 1837. 1. Bl. 517 ff. Kreuz, vom 2. Mai 1569. eodem 1. Bl. 169. Tirenberg, vom 5. Mai 1569. eodem 1. Bl. 223. Kumeyen, vom 7. Mai 1569. eodem 1. Bl. 271. Medenau, vom 19. Mai 1569. eodem 1. Bl. 327. Laptan, vom 13. Mai 1569. eodem 1. Bl. 397 (auch im Kirchenarchiv zu Laptan; deponiert im Staatsarchiv Königsberg). Powunden, vom 13. Mai 1569. eodem 1. Bl. 467. Foliant 1277 enthält die Visitationsakten der Yogtei Schacken. Yisitator war ebenfalls Mörlein. Visitationsabschiede finden sich für die Kirchspiele: Rudau . . . . cit. loco Bl. 1 Pubeten . . . . „ „ Bl. 34 St Lorenz . . . „ „ Bl. 73 Wargen . . . . „ „ Bl. 102 Judenkirch . . . „ „ Bl. 150 Sarkau und Kuntz „ „ Bl. 172 Scharken. . . . „ „ Bl. 200 Pestnicken . . . „ „ Bl. 238 Caymen . . . . „ „ Bl. 260. Diese Abschiede sind sowohl unter sich fast gleichlautend, als auch mit denjenigen des Folianten 1276 übereinstimmend, natürlich mit den durch die lokalen Verhältnisse bedingten Abweichungen. Hervorgehoben sei eine Bestimmung über das „Tafelgeld", d. h. die Kollekten in der Kirche. Die Leute sollen darauf aufmerksam gemacht werden, daß es in ihrem eigenen Interesse liege, in der Kollekte reichlich zu geben; denn wenn das Tafelgeld, welches zu der Kirche Nutzen verwendet werde, viel eintrüge, so brauchten sie weniger Schoß zu entrichten. Von. 1569 stammen auch noch die Visitationsabschiede fiir Juditten (Kirchenarchiv zu Juditten) und Neuhausen (Bischof Mörlein, 4. Juli 1569. Kirchenarchiv Neuhausen. Eine Abschrift aus dem 18. Jahrh.). Endlich wird eine Visitation von 1571 für Rastenburg genannt, vgl. BECKHOBN, Rastenburg. S. 44 ff.; dortselbst auch Inhaltsangabe des Rezesses, der übrigens wesentlich nur Einkommensverhältnisse betrifft. Die Abschiede bieten überwiegend nur lokales Interesse, und es mögen daher obige Mitteilungen genügen.

14

Emil Sekling

7. Die nächste größere Visitation, von welcher wir Kunde besitzen, war diejenige von 1575. Vorher liegen noch einige Visitationen, von denen aber nur spärliche Nachrichten überliefert sind. So findet sich für Bartenstein ein Visitationsrezeß vom 26. März 1570 im Kirchenarchiv zu Bartenstein, für Caymen ein Abschied von 1571 im Kirchenarchiv zu Caymen, und für Langheim ein Abschied von 1571 im dortigen Kirchenarchiv. Aus dem Jahre 1574 sind uns Nachrichten erhalten über eine Visitation, welche Venediger in Rosengarten und Doben abhielt. Vgl. BBAUN, Alte und neue Bilder aus Masuren. Eine Geschichte der Stadt und des Kreises Angerburg. 1888. S. 144 ff. Die Visitation von 1575 hat in Samland zunächst Bischof Mörlein und dann sein Nachfolger Tilemann Heßhusius vorgenommen. Es kommen hier in Betracht die Folianten 1278—1279 im Staatsarchiv Königsberg. Bischof Mörlein visitierte das Amt Bartenstein. In der Stadt Bartenstein unterzog er die kirchlichen Verhältnisse einer gründlichen Nachprüfung auf Grund des alten Rezesses von 1538, insbesondere kontrollierte er die Verhältnisse des gemeinen Kastens. Der von ihm gegebene neue Abschied vom 26. Februar 1575 (Staatsarchiv Königsberg Fol. 1278 Bl. 3 ff.) betrifft nur den gemeinen Kasten. Er wird hier nicht abgedruckt. Ein weiterer Visitationsabschied für das Kirchspiel Bartenstein und St. Johannis daselbst (cit.loco Bl. 41 ff.) betrifft überwiegend nur die Einkünfte von Kirche und Pfarre und das Bauwesen (z. B. Regelung der Baupflicht für die Zäune). Ähnlich verhält es sich mit den Abschieden für das Kirchspiel Gallingen vom 2. März 1575 (cit. loco. Bl. 149 ff.), und für das Kirchspiel Schippenbeil (cit. loc. Bl. 195). Für Schippenbeil vgl. Gesamiete Nachrichten von Ost-Preußen. Stadt Schippenbeil. Königsberg 1778 (ohne Angabe eines Verfassers). S. 95 ff. LIECK, Die Stadt Schippenbeil. Königsberg 1874. S. 196 ff. Hier wird erwähnt, daß das alte Kirchenbuch schon vor 1667 verloren gegangen sei, daher Nachrichten erst von 1655 an erhalten seien (d. h. im Archiv zu Schippenbeil). Aus dem 17. Jahrh. zitiert LIECK viele Rezesse. Aus Foliant 1278 hebe ich weiter den Abschied hervor, welchen Bischof Tilemann Heßhusius, Bischof von Samland, am 5. September 1575 für das Kirchspiel Borcken traf (cit. loco. Bl. 291). Aus dem Folianten 1279 erkennen wir den gründlichen Eifer des neuen samländischen Bischofs. Hier finden wir zahlreiche, sehr eingehende Verordnungen des Bischofs. Ich hebe hervor:

Einleitung zu einer Ausgabe der Evangel. Kirchenordnungen usw.

15

Den Abschied für das Kirchspiel Balga vom 11. Mai 1575 (auch im Kirchenarchiv zu Balga). „ „ der Kirchen „zum Heiligenbeil" (Fol. 1279 Bl. 47 ff. Das Kirchenarchiv zu Heiligenbeil besitzt — wie hier nebenbei bemerkt sei — die Stiftungsurkunde des St. Georgen-Hospitals vom 24. November 1563. Der Eezeß vom 14. März 1575 ist auszugsweise abgedruckt in EYSENBLÄTTEB, Gesch. der Stadt Heiligenbeil. Königsberg 1896. S. 48 ff. „ „ für Brunau vom 16. Mai 1575 (eodem loco. Bl. 141 ff.). „ „ „ Waltersdorf vom 17. Mai 1575 (Bl. 197 ff.). „ „ „ Lindenau vom 19. Mai 1575 (Bl. 237 ff.). „ „ „ Hohenfirst vom 21. Mai 1575 (Bl. 319 ff.). „ „ „ Eichholz vom 24. Mai 1575 (Bl. 351 ff.). „ „ Tiefensee vom 25. Mai 1575 (Bl. 399 ff). „ „ „ „ Zinten vom 27. Mai 1575 (B1.443ff. Auch im Kirchenarchiv zu Zinten). „ „ „ Hermansdorf vom 29. Mai 1575 (Bl. 531 ff.). „ „ „ Deutsch-Tyrau vom 31. Mai 1575 (Bl. 585 ff). „ „ „ Bladia vom 2. Juni 1575 (Bl. 639 ff.). Diese Abschiede weisen untereinander große Ähnlichkeit auf, sie sind offenbar alle nach einem feststehenden Formular geschrieben worden. Es genügt daher ein markantes Beispiel zum Abdruck zu bringen. Ich wähle dafür den Abschied für Zinten. Zu den vorstehenden sind auch noch zu rechnen die Abschiede für das Kirchspiel Preußisch-Eylau (Kirchenarchiv zu Eylau), und die Einwidmungsurkunde von Canditten (Kirchenarchiv zu Canditten). 8. Mit dem Jahre 1576 beginnen die gründlichen Visitationen der Ämter Riesenburg, Deutsch-Eylau, Schönberg, Osterode, PreußischHolland durch den pomesanischen Bischof Wiegand. Kurz vor 1576 hatte bereits eine Visitation durch Venediger stattgefunden. Die Visitationsakten Wiegands aus den Jahren 1576, 1577, 1578, 1579, 1580, 1581 liefern besonders wichtige Ergebnisse. Ich zitiere in historischer Reihenfolge folgende Visitationsabschiede: Abschied für Riesenburg. Vom 8. Juli 1576 (Staatsarchiv Königsberg Fol. 1280 Bl. 29 ff.). (Hierin wird unter anderem die Fürsorge für den alten Pfarrer eingeschärft. Man soll ein Haus für ihn bauen. Der Pfarrer soll alle halbe Jahre Schulexamen abhalten, in Gegenwart des Rats oder anderer Personen; er soll wöchentlich die Schule visitieren; Ehehändel soll er an den Bischof bringen oder sich wenigstens dort Rats erholen; „auch niemanden für seine Person der

16

Emü Behling

Kirchenbuße unterwerfen, es sei ihm denn zuvor vom Consistorio zuerkannt". Abschied für Trommenau. Vom 14. Oktober 1576 (Staatsarchiv Königsberg Fol. 1280 BL 89). Hier findet sich folgender Satz: „Was mit der Tafel in den stock gesamlet sol in ein viertel jähr nicht berührt werden, sondern es sol der stock verschlossen bleiben und alle quartal durch die kirchväter sämptlich gezehlet werden; was darin befunden, alsbalde in die kirchenregister under den titel einnähme von der tafel eingeschrieben und in den kästen gelegt werden", damit man wisse „was ein jedes jähr aus der tafel gefalle und die ausgabe nichts besonders, sondern mit dem andern kirchengelde verrechnet werden". Kirchenstühle dürfen nicht ohne Bewilligung der Kirchenväter gebaut werden. Abschied für Freystadt. Vom 8. Dezember 1576 (Staatsarchiv Königsberg Fol. 1280 Bl. 131). Dgl. für Bischofswerda (eodem 1. Bl. 164). Dgl. für Deutsch-Eylau. Vom 28. November 1576 (eodem 1. Bl. 211). Dgl. für Monteck (eodem 1. Bl. 235). Dgl. für Grampten. Vom 27. November 1576 (Fol. 1280). [Nachlässigkeit im Kirchenbesuche wird bestraft beim ersten Male mit 1 Gr., beim dritten Male mit 5 Gr. zum Nutzen der Kirche. Der Pfarrer soll achtgeben, ob Leute ihre Kinder „in das Papstthum" vermieten, oder wohl selbst sich hineinbegeben; solche Personen der Obrigkeit anzeigen, auch dem Bischof, damit dieser sie mit öffentlicher Kirchenbuße belege.] Abschied für Herzogenwalde. 1576 (Fol. 1280 Bl. 268). Dgl. für Summerau, vom Dezember 1576. [Hier wird der polnischen Sprache halber ein Kaplan gehalten. Dieser wird aber von der Visitation „ganz schlecht und einfeltig" befunden und deshalb verwarnt; sonderlich soll er „dem polnischen Volke den Catechismum fleißig furtragen".] Abschied für die Stadt Rosenberg. Vom 3. Dezember 1576. (Fol. 1280 Bl. 338. Hier soll ein polnischer Kaplan angenommen werden). Abschied für Goldau. Vom 17. Dezember 1576 (eod. loe. B1.379). In das Jahr 1577 fallen folgende Abschiede: Abschied für die Stadt Osterode (eodem loc. Bl. 427). [Daraus wird unter Osterode ein Auszug mitgeteilt.] Abschied für die Kirche „zum Osterwein". Vom 13. Juni 1577 (eodem loc. Bl. 463). DgL für Geyerswalde. Vom 15. Juni 1577 (eodem loc. Bl. 501).

Einleitung xu einer Ausgabe der Evangel. Kirchenordnungen usw.

17

Dgl. für Goringen. Vom 17. Juni 1577 (eodem loc. Bl. 518). Dgl. für Erepelnau. Vom 18. Juni 1577 (eodem loc. Bl. 533). [Der Pfarrer soll „vor allem den heiligen Catechismus dem volke fleißig vortragen und für der predigt deutlichen erkleren, auch nachmittage des sontags dem volk erkleren. Alle jähr soll er ein jedes dorf besonders besuchen und daselbst die leute, junge und alte, Kind, und gesinde, verhören; . . . der hendel, so für das consistorium gehören, sich nicht ohne bevehl underwinden, sondern dieselben an den Hern Bischof oder das consistorium remittiren . . . ] Abschied für Schmickwalde. Vom 19. Juni 1577 (eodem loc. Bl. 557). [Hier wird der Katechismus alle Sonntage nach der Predigt rezitiert. Wer seinen Katechismus nicht lernen will, wird nicht zum Sakrament zugelassen und erhält kein christliches Begräbnis.] Abschied für Leippe. Vom 21. Juni 1577 (eodem loc. Bl. 585). [Hier hatten sich zwei Gemeinden, Leippe und Marienfeld, die ursprünglich uniert waren, eigenmächtig getrennt, und je einen Pfarrer angenommen; sie werden wieder vereinigt und zwar per aequalitatem.] Eine gründliche Visitation fand in der Zeit vom 15. Juni bis 28. Juni 1578 durch den pomesanischen Bischof, Johann Wiegand im Amt Holland, statt. Das im Staatsarchiv Königsberg Fol. 1280 Bl. 597 ff. erhaltene Visitationsprotokoll erstreckt sich auf sämtliche zehn Kirchspiele: Städte Holland, Mühlhausen; Dörfer Marienfeld, Laucke, Deutzschendorf, Hermsdorf, Döbern, Schmauch und Tyrenberg (Filiale), Hirsfeldt und Grunhagen. Abschiede finden sich für: Holland. Vom 25. Juni 1578 (cit. loco Bl. 641). Derselbe wird auszugsweise mitgeteilt. Marienfeld. Vom 18. Juni 1578 (eodem loco Bl. 670). [Hier werden als Aufseher über den Kirchenbesuch der Schultheiß und ein Ältester bestellt. Die erste Versäumnis wird mit 5 Schillingen, die dritte mit 5 Groschen bestraft; „wenn aber Schultheiß mit dem Eltisten selbst nicht kommt, sollen dieselben für jedesmal 5 groschen, sofern sie nicht genugsam ursach" geben. Mühlhausen (eodem loco Bl. 679 ff.). Der Abschied stimmt mit denen .von Holland und Marienfeld überein. Doch sei noch folgender Satz hier mitgeteilt (cit. loco Bl. 713): „Bänke und stühle in der Kirchen. Von den bänken und ständen in der kirchen, so itzt neu erbaut oder gebaut werden mögen, sol eine jede person vom stände 10 Schilling erlegen und also zu ihren lebentagen in demselben stände bleiben; sobald aber eine neue person eintritt, soll dieselbe wiederum Festschrift f. Jä. FRIBDBEBO.

2

18

Emil Sehling

10 sch. der kirchen oblegen, und denselben stand zu ihren lebentag behalten; sollich geld soll von den kirchenvetern eingenommen, zu register gebracht und verrechnet werden." Ein Begräbnis in der Kirche kostet 5 Mark. „Doch soll pfarrherrn und kirchenvetern das begräbniß in der kirchen frei umsonst haben." Abschied für Laucke. Vom 23. Juni 1578 (eodem loco Bl. 715). Dgl. für Deutzschendorf. Vom 23. Juni 1578 (eodem loco Bl. 739). Dgl. für Hermsdorf. Vom 24. Juni 1578 (eodem loco Bl. 747). Dgl. für Döbern. Vom 25. Juni 1578 (eodem loco Bl. 767). [Hier findet sich folgender Satz: „Der schulmeister ist seines amtes vermahnet und ime das er in kirchensachen dem pharrherrn gehorsame, auch die kirchen, altar, taufstein, und alle bänke fein rein und sauber halte, die Beteglöcke zu rechter zeit frue, zu mittage, und auf den abend läute, auferlegt. Insonderheit aber soll der schulmeister verpflichtet sein one alle ausrede, das er die kinder lere lesen und schreiben und ihren Catechismum, um die gebühr, und der pfarrer soll die leute oft und fleißig ermahnen, das sie die kinder zur schule halten und etwas lassen lernen."] Abschied für Schmauch. Vom 27. Juni 1578 (eodem loco Bl. 791). Dgl. für Hirsfeld. Vom 28. Juni 1578 (eodem loco Bl. 815). In das Jahr 1578 fällt auch eine Visitation des Amts Soldau durch den Bischof Wiegand. Aus den im Staatsarchiv Königsberg Fol. 1281 erhaltenen Visitationsakten wird ein Abschied für die Stadt Soldau abgedruckt werden. In der Zeit vom 18. Dezember 1578 bis 23. September 1579 nahm Bischof Wiegand eine sehr gründliche Visitation der Ämter Mohrungen, Liebstadt, Preußisch-Mark, Hohenstein und Gilgenburg vor. Das Visitationsprotokoll findet sich im Staatsarchiv Königsberg Fol. 1282 und enthält die Abschiede für die betreffenden Kirchspiele. So für Mohrungen (Bl. 47). Der Abschied für Hohenstein vom 17. März 1579 findet sich auch im Kirchenarchiv zu Hohenstein. Ein Stück daraus ist abgedruckt in TOPPEN, Gesch. des Amtes und der Stadt Hohenstein. Hohenstein 1859. S. 42 ff. Im Abschied für Usdau vom 28. Mai 1579 (cit. loco Bl. 767) finden sich unter anderen die Sätze: „Er soll nicht alle predigen aus dem buche lesen . . . . er soll ohne bewilügung des kirchspiels und erzpriesters keinen schulmeister annemen, noch absetzen, er soll auch keine öffentliche büße thun lassen, sondern vor erst mit dem erzpriester davon sich berathschlagen, und da es nöthig, dem bischof davon berichten . . . " Im übrigen bieten die zahlreichen Abschiede nichts besonders Bemerkenswertes,

Einleitung zu einer Ausgabe der Evangel. Kirchenordnungen usw.

19

sie ähneln sich sowohl untereinander als auch den sofort zu nennenden weiteren Abschieden Wiegands, aus denen einige markante Beispiele abgedruckt werden sollen. Im Jahre 1579 veranstaltete Wiegand eine Visitation der Ämter Lyck, Johannisburg, Orteisburg und Neidenburg. Aus den zahlreichen Abschieden, im Staatsarchiv Königsberg Fol. 1283, wie für Lyck, vom 7. November 1579 (Bl. 67), Johannisburg, vom 27. Oktober 1579 (BL 285), Orteisburg, vom 15. Oktober 1579 (Bl. 561), Neidenburg, vom 30. März 1579 (Bl. 745) und für zahlreiche Dörfer werde ich als charakteristisches Beispiel denjenigen für Lyck zum Abdruck bringen. Ähnlichen Charakter wie die vorstehenden weisen auch die späteren Visitationen Wiegands auf, wie diejenige, welche Wiegand im Beisein des Herrn Hans Kalckstein, Hauptmanns auf Eastenburg, des Offizials Joseph Paulinus und des Notars Johann am Ende, vom 2. bis 17. April 1581 in den Ämtern Rastenburg, Sehsten, Rein, Angerburg, Oletzko und Lotzen vornahm. Aus den zahlreichen Abschieden, die im Staatsarchiv Königsberg Fol. 1284 erhalten sind, werde ich einige zum Abdruck bringen, die zwar nur für kleine Gemeinden bestimmt waren, aber gerade deshalb besonders geeignet sind, die Verhältnisse, wie sie wirklich auf dem Lande bestanden, zu beleuchten, nämlich den Abschied: Für das Kirchspiel Sensburg, im Amte Sehsten. Vom 20. April 1581 (cit. loco Bl. 243). Für Marggrabowa, im Amt Oletzko. Vom 16. Mai 1581 (cit. loco Bl. 525). Für das „Neu angelegte Kirchspiel zu Czychen im Amt Oletzko". Vom 17. Mai 1581 (cit. loco Bl. 641). Es seien hier auch noch erwähnt die Visitationsabschiede für Langheim von 1581 (Kirchenarchiv zu Langheim) und für Leunenburg vom 12. April 1581 (Kirchenarchiv zu Leunenburg). 9. Von vereinzelten Visitationen, worüber wir noch Kunde besitzen, wie z. B. für Caymen vom Jahre 1583 (Kirchenarchiv zu Caymen), wollen wir absehen, größere Visitationen fanden erst wieder in den Jahren 1584/1585 statt. Die Visitation von 1584 betraf ganz überwiegend' finanzielle Fragen. Wir ersehen den Zweck und Charakter der Visitation am deutlichsten aus einem Mandat Georg Friedrichs vom 10. Januar 1584: „Mandat, so in allen kirchen wegen volziehung der fürstlichen Visitatorn Verabschiedung, entrichtung der ausstehenden Kirchenschnlden und ablegung des Decems abzulesen verordnet." 2*

20

Emil Sehling

Dieses Mandat ist unter anderem erhalten im Staatsarchiv Königsberg Fol. 1281 und im Kirchenarchiv zu Zinten, deponiert im Staatsarchiv Königsberg Fol. 137. In demselben wird darüber geklagt, daß nach Bericht der Visitatoren die Kirchenschulden und der Decem so unregelmäßig und unvollständig eingingen. Das von allen Kanzeln zu verlesende Mandat befiehlt daher, daß alle Decem und Schulden nach Inhalt der Visitationsabschiede und der „auf dem Rastenburgschen Landtage einhellig bewilligten und in Druck ausgegangenen Kirchenordnung" zu entrichten seien. Der Pfarrer soll die Fälligkeitstermine rechtzeitig von der Kanzel verkünden. Die Kirchenväter sollen die Eingänge in Anwesenheit des Pfarrers ins Register bringen, bei einer Buße von 4 Pfund Wachs. Im Zusammenhange mit diesem landesherrlichen Mandat, dessen Abdruck sich verüberflüssigt, steht eine Verordnung der Visitatoren, welche offenbar für die verschiedenen Ämter, mutatis mutandis, gleichlautend ergangen ist. Wir besitzen sie in zwei Exemplaren: „Abschied aller brandenburgischen Kirchen insgemein, darüber der hauptmann mit ernst zu halten und solchen den pfarrherrn und kirchenvätern in Abschriften mitzuteilen" (Staatsarchiv Königsberg Fol. 1281 Bl. 163 ff.), und „Abschied aller Balgischen Kirchen insgemein", im Depositum des Kirchenarchivs Zinten im Staatsarchiv Königsberg. Dieser Abschied, der zugleich das Ergebnis der gesamten Visitationen zusammenfaßt, beschäftigt sich vorwiegend mit den „Kirchenrechnungen". Er gibt den Kirchenvätern ein genaues Vorbild, ein Formular, eine „Trappe", nach der in Zukunft alle Kirchenrechnungen anzulegen, insbesondere die Buchungen über Decem, Schoß, Rauchgeld, Tafelgeld, Gesindegeld, Begräbnis-, Glocken-, Stand- oder Stuhlgeld und Strafgelder vorzunehmen sind. Hierbei findet sich in beiden Exemplaren die Vorschrift, daß die Preußen, die durch fürstliche Gnade zu Colmischen Leuten gemacht seien, jetzt auch wie die letzteren gebührlicherweise den Decem geben müßten. Daneben finden sich auch Bestimmungen über Baulast, Sorge für den alten Pfarrer und Pfarr-Relikten (Haus und Land). Es wird eingeschärft, was vielfach abgekommen sei, in allen Kirchen Schulzenbänke und Aufseher zu ordnen über die Kirchenbesucher. Von jedem Hause solle Sonntags wenigstens der Wirt oder die Wirtin neben den ihrigen kommen. Für jede fehlende Person ist 1 Gr. zu zahlen, die der Schulmeister einsammeln soll, „der dafür 10 Pfenningk erhält". Für Abnutzung der zinnernen, kupfernen und eisernen Gefäße ist nichts mehr, zu verrechnen, sondern jeder Pfarrer hat sein Inventar bei

Einleitung zu einer Ausgabe der Evangel. Kirchenordnungen usw.

21

Abgang wieder abzuliefern. Zäune, Fenster, Ofen soll der Pfarrer nicht verwahrlosen; was von ihm oder den Seinen mutwillig daran zerstört wird, hat er selbst zu ersetzen. Die Pfarrherren sollen keinen Schulmeiser annehmen, noch beurlauben ohne Vorwissen der Kirchenväter. . . . Ein wörtlicher Abdruck dieses Abschieds ist nicht am Platze ebensowenig ein näheres Eingehen auf diese Visitation von 1584, über welche uns für die Ämter Brandenburg und Rastenburg der Fol. 1281 des Staatsarchivs Königsberg, und für das Amt Balga das Depositum des Kirchenarchivs Zinten im Staatsarchiv Königsberg Aufschluß geben. Die rein finanzielle Seite der Visitation ist zur G enüge oben gekennzeichnet. 10. Die Visitation des Jahres 1585 wird in den Quellen als „Generalvisitation" bezeichnet. Über diesen Begriff vgl. meine Ausführungen in Ev. KOO. Bd. I S. 69 ff. Über Wesen und Bedeutung dieser Generalvisitation gibt uns vor allen Dingen die Visitationsinstruktion des Landesherrn, vom 2. Februar 1585, die uns in mehreren vom Landesherrn untersiegelten Exemplaren im Staatsarchiv Königsberg (z. B. im Fol. 1280 Nr. 1, im FoL 1280 Nr. 2, im Fol. 1280 Nr. 3) erhalten ist, Aufschluß. Die Visitation soll sich erstrecken auf die reine Lehre in Gemäßheit des preußischen Corpus doctrinae und der KonkordienformeL Die Instruktion bezieht sich dabei auf ein fürstliches Mandat vom 8. Januar 1579. ¡(Dieses Mandat ist in Abschrift den Instruktionsexemplaren beigefügt; es ist ein Abschied „auf die WiedertäuferSupplikation" und bestimmt, daß die Wiedertäufer das Land zu verlassen haben.) Nach der Sorge für die reine Lehre soll sich die Tätigkeit der Visitatoren erstrecken auf Leben und Wirken der Pfarrer, Lehrer, Gemeindeglieder, auf das Schulwesen, das Bauwesen von Kirche und Schule und das kirchliche Vermögen; besonders wird aber eine christliche Regelung des Begräbniswesens eingeschärft. Nach diesen Gesichtspunkten sind nun auch die Visitationsberichte verfaßt. Solche besitzen wir vor allen Dingen für die drei Städte Königsberg. Und zwar für die Altstadt Königsberg im Staatsarchiv Königsberg Fol. 1280 Nr. 1. Als Visitatoren waren hier bestellt: Hans Reütter, Oberster Burggraf zu Königsberg, Melchior Kreuz, Fürstl. Hofrat, M. Benediktas Morgenstern, Altstädt. Pfarrer, M. Sebastian Artomedes, Kneiphöfischer Pfarrer, M. Justus Hedio, Löbenichtscher Pfarrer, Christof Rabe, Altstädt. Bürgermeister, Hans Schnürlein, Kneiphöf. Bürgermeister, Lorenz Schulz, Löbenichtscher Bürgermeister.

22

Emil Sehling

Der Visitationsbericht schildert sehr ausführlich die Zustände in Kirche und Schulen. Im Abschnitt über die Lehre werden im Auszug zwei Fürstliche Abschiede gegen die Wiedertäufer mitgeteilt von 1559 und vom 12. Juni 1585. Bei der Visitation der Schule erhalten wir eine gründliche Schilderung des Schulwesens, und eine ausführliche Schulordnung. Auch ein genaues Verzeichnis der Bücher der Kirchenbibliothek der Altstadt, welche aus dem Nachlasse des Joh. Poliander vom Jahre 1560 stammten (a.a.O. Bl.87ff.). Es folgt dann eine ausführliche Begräbnisordnung. Am Schlüsse bestätigt Georg Friedrich in einem eigenhändig unterzeichneten und besiegelten Schreiben die vorstehend von seinen Visitatoren erlassenen Abschiede und befiehlt Gehorsam. Wir drucken lediglich die Begräbnisordnung ab (s. unter Königsberg). Die Rezesse für die altstädtische und löbenichtsche Kirche erwähnt übrigens schon HENNIG im Preuß. Archiv, Januar 1795, S. 5 Anm. Ahnlich ist der Visitationsakt für Königsberg-Löbenicht (Staatsarchiv Königsberg Fol. 1280 Nr. 2). Er enthält ebenfalls die Instruktion vom 2. Februar 1585, das Mandat vom 8. Januar 1579 (dann noch einen Extrakt aus der Visitationsinstruktion, offenbar zum praktischen Gebrauch der Visitatoren angefertigt) und den Visitationsbericht von 1585 (mit den Abschieden von 1559 und 1585 gegen die Wiedertäufer). Der Bericht enthält weiter ebenso wie für Altstadt einen ausführlichen Schulplan, Begräbnisordnung usw. Am Schlüsse folgt die fürstliche Bestätigung, wie für die Altstadt. Ein zweites Exemplar des Vorstehenden in schöner Abschrift findet sich ebenda. Aus den Anordnungen der Visitatoren werden einige unter Königsberg-Löbenicht abgedruckt werden. Die Visitation der Stadt Königsberg-Kneiphof ist niedergelegt in Fol. 1280 Nr. 3. Dieselbe stimmt mit den vorstehend beschriebenen in Inhalt und Form so sehr überein, daß ein weiteres Eingehen sich verüberflüssigt. Erwähnen will ieh die lateinische Schulordnung von Pastor Sebastian- Artomedes von 1580 und das ausführliche Inventar der kirchlichen Einkünfte. Am Schlüsse steht die Bestätigung des Landesherrn. Außer für Königsberg sind uns aus dieser Visitation urkundliche Nachrichten erhalten für das Kirchspiel Waldau im samländischen Kreise (Staatsarchiv Königsberg Fol. 1285; diese Visitationsakten weisen große Übereinstimmung mit denjenigen für Königsberg auf) und für die Stadt Welau (Staatsarchiv Königsberg Fol. 1286. Wesentlich finanziellen Inhalts). Weitere Visitationsordnungen besitzen wir

Einleitung zu einer Ausgabe der Evangel. Kirchenordnungm usw.

23

für Dexen-Klein (Kirchenarchiv von Dexen-Klein), Neuhausen (vom 6. Mai 1585. Kirchenarchiv Neuhausen) und Bartenstein (vom 15. November 1585. Kirchenarchiv zu Bartenstein). Die Visitation, welche 1586 in den Ämtern Orteisburg, Neidenburg, M a r i e n w e r d e r und Preußisch-Holland stattfand (Staatsarchiv Königsberg Fol. 1281), bietet für unsere Zwecke nichts. Der Rezeß für Marienwerder ist übrigens auch im Kirchenarchiv zu Marienwerder sowie im Ratsarchiv zu Marienwerder erhalten, vgl. TOPPEN, Gesch. der Stadt Marienwerder. Marienwerder 1875. S. 144; vgl. auch v. FLANSS, Ztschr. des histor. Vereins für den Regierungsbezirk Marienwerder. Heft 7, 78. Ebensowenig kommen die aus den Jahren 1593 und 1594 uns überlieferten Visitationen, von denen wir Bruchstücke besitzen (so für Leunenburg, Kirchenarchiv zu Leunenburg, so für die Schulvisitationen zu Saalfeld, Tilsit und Lyck von 1593/94. Staatsarchiv Königsberg Fol. 1286), hier in Frage. Über eine Lokalvisitation des Insterburgischen Kreises von 1590 vgl. unter Insterburg. Das Gesamtbild der Visitationen ist ein nicht unerfreuliches. Zunächst liefert es ein höchst ehrendes Zeugnis für den unermüdlichen Fleiß der Bischöfe, die ihres Amts in echt evangelischem Sinne walteten. Dann aber auch für das hohe Verständnis, welches die Fürsten diesem Zweige des Kirchenwesens entgegenbrachten. Andererseits liefern die Visitationen auch für Preußen den Beweis dafür, wie langsam das Evangelium in die breiten Volksschichten eindrang, und welch unsagbarer Kleinarbeit es bedurft hat, um nur die wichtigsten Grundbegriffe dem Volke einzuprägen. Es sind hier allerdings die sprachlichen Schwierigkeiten nicht zu übersehen und die Nähe des einflußreichen katholischen Polens. Von Germanisierungsbestrebungen ist dabei keine Rede; im Gegenteil. Überall wird für polnische Prediger und polnische Predigt gesorgt. Die eingewanderten Böhmen sind im Polentum aufgegangen, nicht im herrschenden Deutschtum. Für die Erhaltung der Volkssprache hat der Landesherr das Möglichste getan. Die Fürsorge für die Verbreitung des Katechismus steht in geradezu rührender Weise im Vordergrunde; daneben wird für guten Kirchenbesuch gesorgt, wenn auch mit recht weltlichen Mitteln. Die Sorge um Hebung und Erhaltung der kirchlichen und Pfarreinkünfte nimmt einen sehr breiten Raum ein; die Fürsorge für die alten Pfarrer und die Pfarrelikten bedeutet einen Ehrenpunkt. Die Verfassung der Gemeinden ist durch die Visitationen nicht besonders fortgebildet worden. Über die Annahme der Pfarrer, Kapläne und Lehrer bestehen die mannigfachsten Grundsätze. Es herrscht viel Freiheit im einzelnen.

24

Emil

Sehling

In Anbetracht der eigentümlichen, historischen, nationalen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Landes möchte ich das Gesamtbild kein ungünstiges nennen. Erwähnt sei noch aus den Kirchenarchiven, daß sich Kirchenrechnungen schon von 1529 an Torfinden. Von Kirchenregistern datiert das früheste aus dem Jahre 1579 if. (Königsberg, Stadtarchiv), ihm folgt dasjenige von Preußisch-Holland aus dem Jahre 1594 (Kirchenarchiv). Vgl. auch CONBAD, Familien-Nachrichten aus ostpr. Kirchenbüchern in HEBOLD, Vierteljahrschr. 1896. Heft 2. Wenn nach dem Vorstehenden die Visitationen eine reiche Blüte entfaltet haben, so ist dagegen von der anderen Aufsichtsform, den Synoden (vgl. meine Ev. KOO. I, 69 ff.), nichts zu berichten. Zwar waren solche wiederholt geplant (vgl. oben S. 6), aber sie scheinen nicht zur Ausführung gekommen zu sein. Ein wichtiger Generalsynodus fand 1567 in Königsberg statt, diente aber nicht Aufsichtszwecken, sondern der Beratung des Corpus doctrinae. VI. Daß Herzog Albrecht längere Zeit hindurch dem Schwenk-1 feldianismus stark zuneigte, ist bekannt (vgl. TSCHACKEBT, Zur Korrespondenz Luthers; in Ztschr. f. Kirchengesch. 1890, S. 284, Anm., 302 D). Gegen die Schwarmgeister erließ Herzog Albrecht am 1./8. 1535 ein Mandat an den Bischof Speratus, die Einheit der Lehre im Lande aufrecht zu erhalten (TSCHACKEBT, UB. Nr. 9 7 5 ) . Strenge Edikte gegen die Wiedertäufer folgten (TSCHACKEBT 1, 2 0 2 f f . ; JACOBSON, I I . Anh. Nr. V I ) . VII. Einzelnen Mängeln des Kirchenwesens, wie sie insbesondere auf den Visitationen bemerkt worden waren, wurde durch Spezialgesetze abgeholfen. Zur Sicherung der finanziellen Lage der Geistlichen ergingen 1538 Verordnungen an die Amtleute wegen Einziehung der geistlichen Abgaben. Vgl. JACOBSON I, 2, Anh. Nr. VII. Ein Exemplar: Staatsarchiv Königsberg Etatsministerium 37 a; vgl. ferner TSCHACKEBT, UB. Nr. 1112.1115. Auf einem Landtage, welcher Michaelis 1540 stattfand, wurden hierfür erneute Bestimmungen getroffen, durch die „Artikel von Erwählung und Unterhaltung der Pfarrer, Kirchen, Visitation und was weiter dazu gehörig, im Fürstentum Preußen auf gehaltener Tagfahrt zu Michael im Jahre 1540 einstimmg beschlossen". Diese Ordnung handelt von Erwählung und Unterhaltung der Pfarrer, ihr drittes Kapitel „vom Kirchgang", ein viertes „von Visitation" und ein Schlußkapitel „von Herbergen" (d.h. den Unterkunftsorten der Visitatoren). Die drei ersten Kapitel stellen Ausführungen der Art. 1—3 der Landesordnung von 1526 dar. Diese Ordnung von Michaelis (29./9.) 1540 findet sich handschriftlich im Staatsarchiv Königsberg J. 2. 1540- 1543, in einem schön

Einleitung zu einer Ausgabe der Evangel. Kirehenordnungen usw. geschriebenen Exemplar mit Verbesserungen. Es ist dies offenbar dasjenige Exemplar, nach welchem der Druck vorgenommen wurde, denn es findet sich auf dem Umschlage folgender Vermerk vor: 700 (verändert aus 500) Exemplaria zu drucken, keins zu verkaufen, auch keins über die fünfhundert nachzudrucken und zu verkaufen, sind alle in die Kanzlei zu überantworten. Inhaltsgabe bei COSACK, Speratus 1861. S. 188. Druck: Königsberg in Pr. durch Hans Weynreich 8 Bl. 4°. Exemplare: Stadtbibl. Königsberg, Kgl. Bibl. Königsberg, Staatsarchiv Königsberg, Bibliothek. In 171 4°, in 736 fol. Neudrucke: Erl. Preußen 11,154. RICHTEB, KO. 1 , 3 3 4 ; JACOBSON I, 2, Anh. Nr. I X (ohne Einleitung); vgl. TSCHACKEBT, ÜB. Nr. 1287. Hier nach dem Originaldruck. (Nr. VII.) Es findet sich im Staatsarchiv Königsberg J. 2 (G. Venediger) ein Schreiben Venedigers an Herzog Albrecht, worin er seine Meinung über eine ihm zur Äußerung überschickte, gedruckte Kirchenordnung ausspricht. Wahrscheinlich bezieht sich das im allgemeinen durchaus zustimmend lautende Schreiben Venedigers auf diese Kirchenordnung und nicht auf die nächste von 1558. Auf der gleichen Tagfahrt wurde auch eine in 10 Abschnitte geteilte Landesordnung beschlossen, die sich gegen die sittlichen Gebrechen des Volkes richtet, polizeiliche, kriminelle und Kirchenzuchtsbestimmungen, auch solche über Eherecht durcheinander gewürfelt enthält. Diese Landesordnung vom 29. September 1540 oder wie der offizielle Titel lautet: „Artikel durch Fürstliche Durchlaucht samt gemeiner Landschaft aller Stände des Fürstentums Preußen auf gehaltener Tagfahrt im Jahre 1540 einhellig bewilligt, angenommen und beschlossen" gelangt hier, soweit sie in den Rahmen unserer Sammlung gehört, zum ersten Male nach dem Originaldruck zum Wiederabdruck. Vgl. TSCHACKEBT, ÜB. Nr. 1286. Druck von Weynreich in Königsberg. 10B1. folio. Exemplar: im Staatsarchiv Königsberg. Ms. 35 Folio 4. (Nr. VIII.) Den Schluß der vorstehend besprochenen Landesordnung bilden Bestimmungen gegen „Zauberei und Bockheiligung". Die heidnischen Gebräuche wurzelten noch tief im Volke, da der deutsche Orden sich um die Christianisierung der Preußen wenig gekümmert hatte. Vgl. auch oben S. 5. Ein besonderes Mandat des Herzogs vom 24. November 1541 richtet sich gegen abergläubische Mißbräuche, speziell solche, die mit wächsernen Bildern getrieben wurden. Originaldruck 1. Seite in Plakatform. Exemplar im Staatsarchiv Königsberg J.2. 1540—1543 (TSCHACKEBT, ÜB. Nr. 1373), sowie Staats-

25

26

Emil Behling

archiv Königsberg, Bibliothek. In 763 foL Neudruck bei JACOBSON, Anh. Nr. VUL Hier nach dem Originaldruck. (Nr. IX.) V-LlX Die Ordnung des Eherechts machte, wie überhaupt in den Reformationsländern, so auch in Preußen Schwierigkeiten. So z. B. die Frage der Verwandtenehen. Der Herzog wandte sich in dieser Angelegenheit an Luther. Melanchthon antwortete, daß von dem kanonischen Eheverbot der vierte Grad fallen zu lassen sei. Daraufhin ließ der Herzog durch Brießmann und Poliander ein Mandat für die Bischöfe ausarbeiten. Poliander schrieb Einleitung und Schluß, Brießmann die Beweisführung. Am 16./2. 1539 schickte der Herzog den Entwurf den Bischöfen Polentz und Speratus zu, und beide publizierten ihn darauf ein jeder für seinen Bezirk, als „bischöfliches Mandat" durch Druck in lateinischer Sprache. Über die beiden bischöflichen Mandate vgl. TSCHACKEBT, ÜB. Nr. 1186, 1187. Ein weiteres Druckexemplar im Staatsarchiv Königsberg, Bibliothek. In 784. XXV. 4°. Ein Neudruck des samländischen Mandats bei NICOLOVIUS S. 1 2 8 — 1 3 2 . Auch die S. 25 erwähnte Landesordnung von 1540 enthielt hierüber Bestimmungen. Hier erfolgt der Abdruck nach dem Originaldruck. (Nr. VI.) Vgl. JACOBSON, I. 2. S. 3 4 ; TSCHACKEBT 1, 209 ff. — Die Konzepte und das Ausschreiben des Herzogs s. bei NICOLOVIUS, a. a. 0 . 122 ff.; vgl. TSCHACKEBT, Ü B . Nr. 1174.

Über die Handhabung der Ehegerichtsbarkeit durch Speratus s. TSCHACKEBT, Speratus, in Schriften des V. für Reformationsgesch. 1 8 9 1 BL. 8 4 ff. IX. An der am 17. Dezember 1542 begonnenen allgemeinen Visitation (vgl. oben) nahm Herzog Albrecht persönlich teil und überzeugte sich von der Unwissenheit des Volkes. Deshalb erließ er am 1./2. 1543 in deutscher und polnischer Sprache einen: „Befehlich, in welchem das volck zu Gottesfurcht, Kirchengang, Empfahung der heiligen Sacramente und anderem ermahnt werden." Vgl. TSCHACKEBT, ÜB. Nr. 1506 (deutsch), 1507 (polnisch). Handschriftliche Exemplare: im Staatsarchiv Königsberg J . 2. 1 5 4 0 — 1 5 4 7 ; im Kirchenarchiv zu Zinten; im Staatsarchiv Königsberg, Bibliothek, in Folio 141. Drucke des Mandats: deutsch und polnisch im Staatsarchiv Königsberg, Bibliothek. In 736 folio. Dieser Befehl ist ebenso wie das Rundschreiben über den Vollzug von JACOBSON I, 2, Anh. X und XI ohne Quellenangabe publiziert. Hier wird nach dem Weynreich sehen Originaldruck abgedruckt. (Nr. X.) Wie TSCHACKEBT 1, 2 1 3 Anm. bemerkt, wurden auf diesem Umzüge wahrscheinlich auch das Ordinationsformular, welches die Bischöfe verwendeten, und die von den ordinierten Pfarrern den Bischöfen zu leistende Eidesformel festgestellt.

Einleitung %u einer Ausgabe der Evangel. Kirchenordnungen usw.

27

Beide finden sich, so wie sie TSCHACKERT im ÜB. Nr. 1508 bereits abgedruckt hat, auf der Handschrift des unter Nr. X abgedruckten „Befehlichs", im Staatsarchiv Königsberg J. 2. 1540—1547, unmittelbar hinter einem handschriftlichen Vermerk geschrieben, welcher lautet: „der pfarrer und prediger aidespflicht nicht zu vergessen". Wir drucken hiernach die beiden Formulare ab. (Nr. XI.) Der Entwurf eines „Mandats christlicher Ordnung in Preußen aufgerichtet" von der Hand Martin Kannachers findet sich im Staatsarchiv Königsberg J. 2 (o. D.) Sehr. 4. 23. 11. (Er handelt von Verachtung des Gottesdienstes, von Warnung auf der Kanzel, vom Zutrinken und Übermaß desselben usw.) Martin Kannacher, oder richtiger Martin von Kannach, war Burggraf und hat zusammen mit dem Kanzler Johann von Kreytzen wiederholt in die kirchlichen und staatlichen Angelegenheiten eingegriffen (vgl. bei TSCHACKERT 1, 286; auch im Register 7um Urkundenbuch). Genaueres vermag ich über den obigen Entwurf nicht mitzuteilen. X. Die Erfahrungen auf dem Umzüge ließen eine Umarbeitung der Kirchenordnung von 1525 nötig erscheinen. Als Hauptgrund wird in dem der Ordnung vorangehenden herzoglichen Mandat und der bischöflichen Vorrede folgendes bezeichnet: Die Kirchenordnung von 1525 fehlte in den Kirchen vielfach, eine Einheit des Kultus, namentlich in der Feier des Abendmahls (die Frage der Elevation spielte hierbei eine große Rolle) erschiene wünschenswert. Der Entwurf wurde 1543 und zwar im wesentlichen von Brießmann ausgearbeitet (vgl. hierzu TSCHACKEBT 1, 2 1 6 Anm. 1). Durch ein Mandat vom 2. Juni 1544 wurde die neue Kirchenordnung gedruckt publiziert. Der Titel lautet: „Ordnung vom äußerlichen Gottesdienst und Artickel der Ceremonieen, wie es jnn den Kirchen des Hertzogthumbs zu Preußen gehalten wirt"; Exemplare des Druckes in Königsberg, KgL Bibliothek und Stadtbibliothek. Sie erschien gleichzeitig auch in lateinischer und polnischer Sprache (letztere von Laurentius Valturnius). TSCHACKEBT, UB. 1669. 1670. 1671. Erl. Preußen 2, 154; HENNIG, a. a. 0. 2 Progr. 1804. S. 5. 7. Vgl. JACOBSON I 2 , S. 3 9 FLF., namentlich Anm. 4 3 gegen AKNOLDTS Annahme einer Kirchenordnung von 1543. TSCHACKEBT 1, 2 1 3 ff. Das Mandat vom 2. Juni 1544 ist bei JACOBSON, Anh. XIIA. abgedruckt. Auf das Mandat folgt eine Vorrede der Bischöfe Polentz und Speratus. Den Predigern wurde befohlen, das Mandat und die Vorrede der Prälaten mindestens vier Sonntage vor Einführung der Kirchenordnung von der Kanzel zu verlesen. Die Kirchenordnung selbst wurde Anfang Juli eingeführt.

28

Emil V g l . TSCHACKEBT, Ü B .

Sehling

N r . 1669. 1679

Anm.

Die Kirchenordnung ist, wie in der Vorrede der Prälaten ausdrücklich bemerkt wird, im Anschluß an die Sächsische Agende von 1539 verfaßt. Die Elevation ist abgeschafft, die Exorcismen sind beibehalten. Dieserhalb war Luther befragt worden (DE WETTE, Luthers B r i e f e 5, 541; ARNOLDT, a . a . O . S. 288. 2 8 9 ; TSCHACKEBT 1, 215).

Inhalt und Charakteristik bei TSCHACKEBT 1, 217 ff.; dort auch die interessante Gegenüberstellung mit der Ordnung von 1525. Der Abdruck bei RICHTEB 2, 64 ff. ist lückenhaft. Hier wird sie ganz abgedruckt. (Nr. XII.) Besondere Anerkennung verdient die Aufnahme der böhmischen Emigranten im Jahre 1549. Hierüber gibt uns ein starker Akt im Staatsarchiv Königsberg, Etatsministerium 88 D. 1 Auskunft. Darin finden sich verschiedene Mandate über- die Regelung der Verhältnisse, insbesondere auch der Kultusverhältnisse der aufgenommenen Böhmen und Hussiten. Die Eingaben der Böhmen sind zumeist unterzeichnet „Christliche einigkeit der Brüder in Behmen und Mehren". Besonders wichtig ist hierbei die „Ordnung und Artikel, so auf befehlich des Durchlauchtigsten hochgeb. usw. herrn Albrechten des Eltern... gestellt und beschlossen durch die Ehrw. bischowe und herrn, Georg Polenz, Bischofen im Samland und herrn Paulum Speratum von Reitling, bischofen zum Pomezan von wegen der fremden elendiglich verjagten behemen, wes sie sich in iren genaden kirchen verhalten sollen" (vgl. auch TSCHACKEBT 1, 343 ff.; ÜB. Nr. 2187; vgl. auch den Katalog der Raczynskisehen Bibliothek in Posen. Posen 1885. Bd. I). Wir erfahren aus diesem Akte, daß die Böhmen, die man auch Pikarden und Waldenser nenne, nach Preußen gekommen seien, daß man zur Prüfung ihres Glaubens ihre Prediger nach Königsberg zitiert und verhört habe; sie hätten ihr Glaubensbekenntnis, gedruckt zu Wittenberg durch Georg Rau 1538, überreicht und man habe ihre Lehre untadelhaft gefunden; zwar stimmten sie in den Zeremonien nicht mit Preußen überein, das seien aber Mitteldinge, und sie wollten sich in der Zukunft nach der Landesordnung halten. Sie wurden deshalb aufgenommen und es wurden ihnen 21 Artikel vorgeschrieben, deren Verfasser Staphylus war, und die insbesondere das Verhältnis der nebeneinander bestehenden polnischen und böhmischen Predigt betrafen. Wie man aber in späteren Jahren darauf bedacht gewesen ist, das vollständige Aufgehen der Böhmen in die einheimische (polnische) Bevölkerung in kirchlicher Beziehung herbeizuführen, ist

Einleitung zu einer Ausgabe der Evangel. Kirehenordnungen usw. aus den Visitationsabschieden für die Stadt Soldau vom Jahre 1578 zu erkennen. Die Zeiten des Interims wurden glücklich überwunden. Daß man auch in Preußen zum Nachgeben bereit war, beweist ein Aktenstück im Staatsarchiv Königsberg, Etatsministerium 37 a (frühere Bezeichnung Schrank 4. 23. 9), ohne Datum, mit der Überschrift: „Welcher maßen sich die pfarherr und prediger mit predigen halten sollen". (Der äußere Umschlag führt den Titel: „Kirchenordnung in Markgraf Albrechts Fürstentum"). Ich halte dieses Stück, über welches sonst jede weitere Nachricht fehlt, für den Entwurf einer Kirchenordung auf der Grundlage des Interims. Er enthält die Konzessionen, zu denen man zwecks Annäherung an den Kultus der katholischen Kirche in Preußen bereit war. Der Verfasser („in meines gnedigen herrn Fürsten") ist unbekannt. Der Entwurf ist sehr lehrreich, gehört aber nicht in unsere Sammlung. X I . Der Herzog sorgte auch weiter für den Ausbau der Kirche, so durch ein preußisches Choral-Melodienbuch [es sei hier auch genannt: Die deutsche litanei zu zwei chören, wie man sie pflegt zu halten in dem Fürstenthum Preußen 1557 (Staatsarchiv Königsberg. Bibliothek in 2806. 8°), durch Anlegung von Bibliotheken, durch Hebung des Unterrichtswesens, namentlich aber durch die Gründung der Universität Königsberg 1544 (vgl. TOPPEN, Gründung der Universität Königsberg, Königsberg 1844; TSCHACKEBT, a.a.O. 1, 224ff.). Über den Entwurf einer neuen Visitationsordnung vgl. JACOBSON I 2, S. 42. Hervorzuheben sind auch die Bemühungen des Herzogs für die Evangelisierung der nicht-deutschen Untertanen: Preußen (Letten) Polen und Littauer (Herstellung von Katechismen in der betreffenden Sprache).

TSCHACKEBT 1, 387 ff. Aus KNOKE, Liturgisches aus der

altpreuß. ev. Kirche in Ztschr. f. Pastoraltheologie 26 (1903) S. 365 ff. altpreußische entnehme ich folgendes: Wegen der Mißbräuche, die das Dolmetschen der Tolken mit sich brachte, ließ Herzog Albrecht 1545 einen Katechismus in preußischer Sprache erscheinen; auf der linken Seite steht die deutsche, auf der rechten die preußische Fassung. In demselben Jahre folgte eine verbesserte Auflage. Eine Übersetzung des ganzen Lutherischen Katechismus verfaßte auf Veranlassung des Herzogs Pfarrer Abel Will in Bobeten. Diese erschien mit einer HerzogL Verordnung über ihre Benutzung unter dem Titel „Enchiridion. Der kleine Catechismus Doctor Martin Luthers. Teutsch und Preußisch. Gedruckt zu Königsberg in Preußen durch Johann Daubmann 1561." Die herzogliche Verordnung schreibt den Katechismusunterricht in beiden Sprachen vor. Der Druck selbst enthält bedeut-

29

30

Emil

Sehling

same Abweichungen von dem lutherischen Grundtext, und zwar im Taufformular und der Taufliturgie. Diese sind von KNOKE hervorgehoben und näher besprochen. (Ein Exemplar des Katechismus von 1545 findet sich im Staatsarchiv Königsberg, Bibliothek 473. 4°). Über die Fürsorge des Herzogs für die Verbreitung der neuen Lehre in Litauen, insbesondere seine Bemühungen um Übersetzungen der Bibel und des Katechismus in das Litauische, ist hier nicht näher zu handeln. Ich nenne die Übersetzungsversuche von Rapagellan, Moswidius, Jamus. Der Herzog hatte an der Universität Königsberg ein Alumnat zur Heranbildung litauischer Prediger begründet. Über die Gliederung der litauischen Gemeinden unter das Inspektorat Insterburg vgl. unter Insterburg. Eine reformierte Unterströmung wurde bald unterdrückt (vgl. TSCHACKERT 1, 3 2 1 ff.).

Die Berufung Osianders an die Universität Königsberg 1549 wurde für die preußische Kirche unheilvoll. Die osiandrischen Händel, deren Schilderung nicht hierher gehört — es beschäftigen sich damit zahlreiche Archivalien im Staatsarchiv Königsberg, und zahlreiche, auch durch den Druck verbreitete Mandate, so von 1553. 1554. 1555 (vgl. z. B. Staatsarchiv Königsberg, Bibliothek. In 312. 4°. In 452. 4°) — brachten Kirche und Land in die ärgste Verwirrung und schufen schließlich sogar politische Schwierigkeiten. Das Jahr 1566 bringt die Rückkehr zur alten Lehre und zum alten Kultus. In die Zeit dieser Wirren fällt auch der Versuch zur Abfassung einer neuen Kirchenordnung. Am 25. November 1558 erließ der Herzog eine neue Kirchenordnung unter dem Titel: K.O., wie es im Herzogthumb Preußen, beydes mit Lehr und Ceremonien, sampt andern, so zur Förderung und Erhaltung des Predigtampts, Christlicher Zucht, und guter Ordnung, von nöten, gehalten wird. Anderweit übersehen gemehret und publicieret. Anno Christi 1558. Verfasser war Mathäus Vogel. Nach HABTKNOCH, Altes und neues Preußen, p. 2 c. 5 § 10. S. 460 hat Vogel entworfen und Johannes Aurifaber ausgearbeitet. Die Kirchenordnung ist kurz. Mit Rücksicht auf die Pfälzer und Württemberger Kirchenordnung sind das Kreuzmachen und der Exorcismus bei der Taufe fortgefallen. Viele Geistliche widerstrebten der Einführung dieser Kirchenordnung, welcher Hinneigung zum Osiandrismus und Calvinismus vorgeworfen wurde. (Doch findet sich andererseits im Staatsarchiv Königsberg J . 2 ein „Concept ungenannter Theologen von der Partei Joh. Funcks, welche den Herzog ersuchen, die Kirchenordnung drucken zu lassen".) Auch die Landstände erklärten sich

Einleitung zu einer Ausgabe der Evangel. Kirchenordnungm usw.

31

gegen die Ordnung, weil sie ohne ihre Zustimmung erlassen war. So hat sie eine eigentliche Geltung nicht erlangt. HABTKNOCH, Preuß. Kirchenhistorie S. 398ff.; ABNOLDT S. 292ff.; H E N N I G , Comm. de reliquiis quibusdam Ph. Melanchtonis. Regiom 1 8 0 3 ; KÖNIG, Bibl. Agendarum S. 1 8 ; JACOBSON I , 2 . S. 4 5 . Letzterer druckt im Anhang Nr. XV eine Übersicht der Titel ab (aber nicht vollständig). Daß Melanchthon den Entwurf geprüft und approbiert hat, war schon bekannt. Genauer verhält es sich damit folgendermaßen. Melanchthon erhielt kein vollständiges Exemplar zugesandt, sondern nur den ersten Teil der Kirchenordnung, der von der Lehre handelt und auch diesen nur bis zu Punkt 27 des Abdrucks bei JACOBSON, Anh. Nr. XV. Das von Melanchthon durchkorrigierte Exemplar findet sich im Staatsarchiv Königsberg J. 2 o. D. (Sehr. 4. 23. 12) Kirchenordnung revidiert von Philipp Melanchthon. Melanchthon hat manche Verbesserung vorgenommen, namentlich hat er den ganzen Abschnitt über die Beichte hinzugeschrieben und am Schlüsse mit roter Tinte (es ist ihm also zweifellos nur dieser Teil vorgelegt worden) vermerkt: Finis. Ego philippus diligenter perlegi totum hoc scriptum et annotavi mea manu sieubi aliquid mutandum censui. An derselben Stelle im Staatsarchiv Königsberg findet sich ein zweites vollständiges, schön geschriebenes Exemplar mit drei Teilen; im ersten Teile, welcher auch bloß bis JACOBSON, Anh. XV Punkt 2 7 geht, sind Melanchthons Verbesserungen genau nachgetragen, und zwar so genau, daß selbst die Schlußnotiz Melanchthons „Ego Philippus etc." mit abgeschrieben ist. Der zweite Teil („der ander teil dieser KO. Von den Ceremonien und Kirchengebräuchen") hat dieselben Überschriften wie sie JACOBSON, Anh. druckt. (Nur lautet Kap. X: Ordnung der ehe einleitung oder wie man die eheleut einsegnen sol.) Der dritte Teil, welcher bei JACOBSON ganz fehlt, hat folgende Überschriften: Das dritte theill. Vonn Erwelung der Praesidenten. Wer sie erwelenn und confirmiren und wie ein jeder seiner kirchen commendirt, eingeleitet und investieret werden soll. [Enthält wesentlich nur die liturgischen Formen, da die Ernennung der Bischöfe ja vom Landesherrn erfolgt.] Wo ein jeder Präsident residiren sol und mit genügsamer Unterhaltung versehen und von wan die gewieülich zu erlegen.

32

Emil SeMing

Von der Präsidenten Ambt wie ferne sich ire Jurisdiction erstreckt und in was feilen sie richten. Von erwelung der archidiacon, archiprebitern, pfarrherrn, caplan und tolken. Von Ordination der pfarrherrn.

Wie sich ein pfarrherr in seinem amt verhalten sol. Von Unterhaltung der pfarrherrn u. anderer kirchendiener.

Von Erlaubung der kirchendiener. Von der Visitation. Die Instruktion der Visitation: Wie die Präsidenten und Visitatoren fragen und inquirieren sollen von der lehr und kirchengebräuchen 1) Was der pfarrherr zu fragen von den fürnemsten artikeln der landesordnung, wie dieselbigen so darüber halten sollen, sich gebaren, was die eltisten des kirchspiels, kirchenvetter u. etliche andere gutherzige leute der pfarrherrn und anderer kirchendiener halben sollen gefragt werden; was dem Präsidenten nach gehaltener Inquisition ferner geburt zu handeln. Von den Widerteuffern, Sakramentirern, Zauberern und auiruhrern. Casten- und Spital-Ordnung. (Dieses Kapitel ist nicht mehr ausgeschrieben, es findet sich nur noch dieser Titel vor. Wir haben es also in unserem Exemplar nur mit einem Entwurf zu tun.) Ein Exemplar der Kirchenordnung vom 25. November 1558 in Folio findet sich im Staatsarchiv Königsberg, Bibliothek fol. 79. Sie wird hier nicht abgedruckt, weil sie eine Geltung nicht erlangt hat. Diese Kirchenordnung von 1558 ist auch noch in späteren Zeiten Gegenstand der Anfeindung gewesen. In einem Bande des Staatsarchivs Königsberg, Bibliothek, A 67 fol. „Preußische Kirchensachen 1531—1763" wird von einer Hand des 17. Jahrhunderts ausgeführt, daß Preußen fünf Kirchenordnungen gehabt habe: 1542. 1544 („welche Luther selbst approbirt"), 1558 („die aber, weil von den des damals grassierenden Osiandrismus beschuldigten Lehrern verfertigt, Anno 1567 verworfen wurde"), 1567, die, weil die Exemplare ausgegangen, 1598 neu verkündet wurde. In diesem Bande befindet sich nun auch eine interessante Abhandlung des Prof. BEHM (Druck: Königsberg 1625), die sich in scharfer Form gegen eine Schrift wendet, welche den Nachweis führen wollte, daß die Kirchenordnung von 1558 in der Lehre reiner und gesunder gewesen sei, als die von 1567, welche in den Kirchen Preußens jetzt noch gelte. (Vgl. zu dieser polemischen Schrift übrigens TSCHACKERT 1, 167.) Aus den oben geschilderten Gründen traf Albrecht am 4. Oktober 1566 mit den Ständen eine Vereinbarung: „Es sol von den Bischoffen

Einleitung zu einer Ausgäbe der Evangel. Kirchenordnungm usw.

33

und anderen gelerten gottesfürchtigen kirchendienern vom jetzigen S. Michaelis tage zurechnen in Jahres frist eine recht schaffene reine unvordechtige kirchenordnunge, darinne die Lehre nach der Augspurgischen Confession anno dreissig getruckt, klärlich verfasset, gute Christliche und uberein tragende Ceremonien und Disciplin begriffen, angesetzt und beschrieben werden." Joachim Mörlein und Martin Chemnitz, aus Braunschweig berufen, vollzogen die Arbeit. Am 25. Mai 1567 (Montag nach Trinitatis) fand ein Generalsynodus zu Königsberg statt zur Beratung über das neue Corpus doctrinae. Am 30. Mai wurde dasselbe von allen anwesenden Theologen angenommen und unterschrieben. (Vgl. Staatsarchiv Königsberg J. 2. Corpus doctrinae 1567. In diesem Fache liegt auch das Exemplar, nach welchem der Druck veranstaltet wurde.) Die Ordnung erschien im Druck unter dem Titel „Repetitio corporis doctrinae Prutenici" zu Königsberg bei Johann Schmidt. Ein Neudruck stammt aus dem Jahre 1570. Alt-Preußisches Jahrbuch 1861 (EBDMANN). Vgl. auch Privilegia der Stände des Herzogtums Preußen. Fol. 8 8 — 9 0 . Ein Abdruck findet hier nicht statt. Ursprünglich hatte man an eine Neubearbeitung der Zeremonien nicht gedacht. Es sollte bei der gedruckten Ordnung von 1544 sein Bewenden haben. Nach Publikation der Repetitio wurde jedoch auch dieser Teil der Kirchenordnung einer Revision unterzogen, und zwar durch die Bischöfe von Samland und Pomesanien, Venediger und Mörlein. Druck: 1568 Königsberg in Preußen, bey Johann Daubmann. Titel: KO. und Ceremonien. Wie es in ubung Gottes Worts und reichung der hochwürdigen Sacramente, in den Kirchen des Herzogthumbs Preußen soll gehalten werden. 1571 wurde sie durch Hieronymus Maletius ins Polnische übersetzt. Literatur: HABTKNOCH, Pr. Kirchenhist S. 433, Altes und Neues Preußen S.481FFJ; SECKENDORF, Lib. 1 § 172 Nr. 4 p . 2 9 8 ; JACOBSON 1 , 2 S. 47 ff. Neudruck 1583. 1598 (vgl. KÖNIG 19). Alt-Preußisches Kirchenbuch, Königsberg 1 8 6 1 ; JACOBSON I, 2 Anh. X V I und RICHTE» 2, 297 geben die Titelüberschriften wieder. Da diese Ordnung die Grundlage für die ganze folgende Zeit gebildet hat, so wird sie hier abgedruckt und bei Übereinstimmung mit der Ordnung von 1544 (oben Nr. XII) wird auf diese verwiesen werden. (Nr. XHL) Der Abschnitt „Von den Tolcken" betrifft die Dolmetscher, welche auf niedrigeren Kanzeln stehend dem Volke die Predigt des deutsch redenden Predigers Satz fiir Satz in die Volkssprache übertrugen, da Festschrift f. E . FRIBDBBBO.

3

34

Emil Sehling

das Volk deutsch noch nicht verstand. (Vgl. HARTKNOCH, Altes und Neues Preußen. S. 90 u. 472. (Die Einführung solcher Tolken war übrigens schon auf der Ermeländischen Synode von 1497 beschlossen worden.) XII. Die Verfassung der Kirche war durch das Festhalten an den beiden Bischöfen gegeben. Das Verhältnis des Hochmeisters und Herzogs zu ihnen war kein klar geregeltes. Zwar die Bischöfe faßten ihr Amt im alten Sinne auf; sie behielten auch die Organe der katholischen Zeit, Offizial und Konsistorium, letzteres als Gericht, besonders in Ehehändeln (vgl. NICOLOVIUS S. 48 ff.) bei Zum Landesherrn standen sie in Unterordnung; diese war eine freiwillige und dem edlen Fürsten gegenüber leicht zu ertragende, und wurde als solche auch wohl kaum empfunden. Aber sie war doch vorhanden. Von ihm erhielten sie Aufträge und Befehle. Zwar gab Albrecht ihnen Gelegenheit genug, sich als „Bischöfe" zu betätigen, sie erließen z. B. im eigenen Namen an die ihnen unterstellte Geistlichkeit bischöfliche Mandate (wie die Ehemandate), aber die Befehle dazu gingen doch vom Landesherrn aus. Der Landesherr nahm bisweilen sogar persönlich an den bischöflichen Visitationen teil. Das war im lutherischen Sinne durchaus in der Ordnung, der Landesherr hatte ja als christliche Obrigkeit die Pflicht, für reine Lehre zu sorgen, vi humana, während die Geistlichkeit das gleiche verbo zu besorgen hatte. Aber tatsächlich war er seinen Bischöfen völlig übergeordnet, sie führten tatsächlich seinen Willen aus. Bezüglich der Anstellung der Geistlichen war das Verhältnis ein ähnliches (vgl. TSCHACKEBT 1, 3 5 5 ) . Es dauerte auch nicht lange, bis der Landesherr den Versuch machte, diese Unterordnung der Bischöfe, die Konzentrierung der gesamten Gewalt in seiner Hand, auch äußerlich mehr zum Ausdruck zu bringen. Der Herzog versuchte sogar das Amt der Bischöfe ganz abzuschaffen und durch minder selbständige Organe zu ersetzen. Zwar hatte Herzog Albrecht in der Regimentsnotel vom 18. November 1542 die Aufrechterhaltung der beiden Episkopate zugesichert. (Über diese Eegimentsnotel vgl. JACOBSON 1 , 2 S. 37. Abdruck in den Privilegien der Stände Preußens Fol. 51—56. Einige Stellen sind bei NICOLOVIUS, a. a. 0. S. 138—144 abgedruckt. Vgl. auch TSCHACICEET, ÜB. Nr. 1475. Wir drucken sie nicht ab, weil sie in der sofort zu nennenden Ordnung von 1568 ihre Erweiterung gefunden hat). Aber als Georg Polentz, der sich 1546 in Briessmann und nach dessen Tode 1549 in Isinder zur Unterstützung im Predigen und Visitieren einen „Präsidenten" als Verweser seiner geistlichen Jurisdiktion bestellt hatte, (vgl. die „Nottel, welcher gestalt der her

Emieitimg zu einer Ausgabe der Evangel. Kirchenordnungen usw.

35

von Samblandt sich mit Doctor Briessmann wegen der Verwaltung des bischöflichen amts, dasselbige zu verwesen, verglichen", 1546, bei NICOLOVIUS S. 144) verstarb, ließ der Herzog die Stelle unbesetzt und wollte sich mit einem „Präsidenten" begnügen. Ebenso ließ der Herzog das Bistum Pomesanien nach dem Tode des Speratus (1554) durch besondere Abgeordnete verwalten. Der Herzog wollte offenbar die schon durch den Klang des Namens und die Macht der Tradition einflußreiche „Bischöfliche Verfassung" eingehen lassen und seine Kirche der kursächsischen Konsistorialverfassung annähern. Aber er hatte die Rechnung ohne die Stände gemacht, die nicht mit Unrecht darin ein Erstarken der landesherrlichen Selbständigkeit erblickten. Sie forderten auf verschiedenen Landtagen die Wiederbesetzung der Bistümer (vgl. hierüber des näheren NICOLOVIUS S. 55 ff. 68 ff. 87 ff. 152. 155. 156. Eine lehrreiche kurze Darstellung der Rechte der Bischöfe in geschichtlicher Entwicklung findet sich handschriftlich im Staatsarchiv Königsberg J. 2. 1540 —1543) und der Herzog mußte nachgeben. Am 14. Oktober 1566 traf er eine Vereinigung mit den Ständen wegen der Wahl, Jurisdiktion, und Besoldung der Bischöfe (Privilegia der Stände Preußens Fol. 60 ff.). Eine besondere Verordnung vom 16. Juni 1567 regelte nochmals die Besoldungsfrage (abgedruckt bei NICOLOVIUS S. 160—163), und 1568 wurden wieder in Venediger und Mörlein zwei Bischöfe für Pomesanien und Samland bestellt. Diese Regelung der bischöflichen Verfassung wurde mit einigen anderen rechtlichen Punkten unter Zugrundelegung der Visitationsartikel von 1540 als eine Ordnung zusammengefaßt und unter dem Titel „Von Erwehlung der beyden Bischoff Samlandt und Pomezan, im Herzogthum Preußen, auch von ihrem ampt, Verordnung der Visitation und anderem, so zur fürderung und erhaltung des predigtampts und schulen, christlicher zucht und guter Ordnung von nöten ist" 1568 zu Königsberg von Johann Daubmann gedruckt. Dieser Druck ist in zahlreichen Exemplaren vorhanden (z. B. im Kirchenarchiv zu Germau). Neudruck 1598; GRUBE, Corpus Constit. Pruten. T. I. n. 1; NICOLOVIUS S. 164—191; Preuß. Prov.-Blätter 5 (1843) Bl. 145; RICHTER 2, 297 ff.; Alt-Preuß. Kirchenbuch Königsberg 1861. Wir drucken nach dem Königsberger Drucke von 1568. (Nr. X I V . ) Zur

Geschichte

vgl.

HARTKNOCH

S. 4 5 4 f f . ;

ARNOLDT

S. 305 ff.;

NICOLOVIUS S. 76 ff.; E r l . P r e u ß e n 2, 154; JACOBSON I , 2 S. 49 ff.

Diese Ordnung regelt die Verfassung und bildet mit den zwei vorangegangenen Ordnungen von 1568 das Fundament der preußischen Landeskirche für das 16. Jahrhundert. 3*

36

Emil

Sehling

XIII. Herzog Albrecht starb am 20./3.1568 noch vor der Publikation der Kirchenordnung und der Bischofswahl. Sein Sohn, Albert Friedrich, wurde am 19./9. 1569 mit dem Herzogtum belehnt, und in die Belehnung der Markgraf von Ansbach und der Kurfürst von Brandenburg aufgenommen. In der Konfirmation der Landesprivilegien vom 8. Mai 1573 sicherte Albert Friedrich ausdrücklich die Aufrechterhaltung der Repetitio corporis doctrinae von 1567 und der Kirchenordnung von 1568 zu (Privilegia der Stände Preußens Fol. 92a). Albert Friedrich suchte den alten Gedanken, an Stelle der Bischöfe ein Konsistorium für das ganze Land einzurichten, wieder durchzuführen. Der Plan scheiterte an dem Widerspruche der Stände und Samland erhielt 1573 in Heßhusius, Pomesanien in Wiegand 1575 einen neuen Bischof. Der Kurator des blödsinnig gewordenen Herzogs Markgraf Georg Friedrich von Ansbach (bestellt seit 1577), nahm aber den Plan wieder auf; er wünschte ebenfalls eine einfache Konsistorialverfassung wie in seinem Lande, und veranlaßte 1584 den Entwurf einer Konsistorialordnung. Die Stände, welche das Institut der Bischöfe vorzogen, leisteten energischen Widerstand. Georg Friedrich verschob die Angelegenheit, setzte sie aber 1587 durch, indem er zwei Konsistorien errichtete, für Samland zu Königsberg, für Pomesanien zu Salfeld. Als Grundlage wurde den Ständen die Konsistorialordnung von 1584 vorgelegt. Es wurden die zwei Konsistorien organisiert und, wie JACOBSON I, 2 S. 57 wohl mit Eecht vermutet, die Instruktion für dieselben auf Grund der Konsistorialordnung von 1584 aufgesetzt. Ebenso steht fest, daß sie späteren Verhandlungen (z. B. 1710) zugrunde gelegt wurde (Vgl. JACOBSON I, 2 S. 56ff.). — Vgl. auch RICHTER, Kirchenverf. 119.131. Bei ihrer Abfassung wurden benutzt die Sächsische Kirchenordnung von 1580 und die Brandenburgische Konsistorialordnung von 1573. Druck: bei JACOBSON I, 2, Anh. Nr. XVII aus dem Staatsarchiv; danach RICHTER 2, 462 und hier. (Nr. XVII.) XIV. Den Ausbau des preußischen Kirchenrechts bringt eine Anzahl allgemeiner und besonderer Verordnungen. Es seien hervorgehoben die Landesordnung des Herzogtums Preußen von 1577, mit ihren Bestimmungen in Ehesachen. Dieselben beruhen auf dem Mandat von 1539. Literatur: JACOBSON I, 2 S. 58. Druck: Landesordnung des Herzogthums Preußen, auff anno 77 zu Königsberg gehaltenem Landtage, beliebet. Gedruckt zu Königsberg bey georgen Osterbergern. anno 1577. (Nr. XV.) Wichtig für die Kirchenzucht war das Edikt vom 28. Juni 1581, wonach kein Geistlicher ohne Zustimmung der Behörde die Sakramente und das Begräbnis versagen dürfe.

Einleitung

zu einer Ausgabe

der Evangel. Kirehenordnwngen usw.

37

Wiederholt gedruckt; u. a. von NICOLOVIUS, a. a. 0. S. 314. (Nr. XVI.) Es hängt dieses Mandat mit den Lehrstreitigkeiten zusammen, die damals die preußische Kirche im historischen Zusammenhange mit der Konkordienformel besonders heftig heimsuchten und zu deren Dämpfung verschiedene Mandate erlassen werden mußten. Vgl. J A C O B SON I , 2 S . 5 8 ff.; NICOLOVIUS S . 3 1 5 .

Über die große Visitation von 1585/86 ist oben berichtet worden. Da diese Visitation die finanziellen Mängel wieder aufdeckte, erließ der Markgraf ein allgemeines Mandat vom 12. November 1589, in welchem er die Berichtigung der Schulden und jährliche Rechnungslegung anbefiehlt. Die Konfirmation der Stadt Marienwerder vom 25. April 1588 wird unter Marienwerder erwähnt. Dem wiederholten Wunsche der Stände nach Wiedereinführung der bischöflichen Verfassung hat der Markgraf nicht entsprochen. Er starb am 26. April 1602. Aus der Regierungzeit Georg Friedrichs müssen noch zwei Mandate Erwähnung finden, die in litauischer Sprache abgefaßt sind. Das eine vom 16. Dezember 1578 bezieht sich auf die Zustände in Ragnit, Wischwill, Lasdehnen, Pilkallen, Schirwind, Krampischken, Wilkischken. Ein Ausschreiben an die Hauptleute in deutscher Sprache vom 12. Februar 1579 befiehlt die Publikation. Vgl. B E Z Z E N B E B G E B in Altpreuß. Monatsschr. 14, 457 ff. Ein ähnliches Mandat vom 6. Dezember 1578 ist bereits von NESTELMAHN in N.-Preuß. Prov.-Bl. Andere Folge. I, 241 ff. (1852) publiziert und bezieht sich auf die Einwohner von Tilsit, Kaukenen, Coadjuten und Piktuppenen. Beide Mandate gewähren einen Einblick in die religiösen Zustände bei den Litauern und wenden sich namentlich gegen allerlei heidnische Gebräuche. Beide Mandate erwähnen eine Visitation, das erste als bereits vollendet, das zweite als bevorstehend. Dafür, daß Georg Friedrich die hohe Bedeutung der Schulen wohl erkannt hatte und mit allen Mitteln um die Hebung der Bildung bemüht war, geben die im Foliant 1286 Nr. 1 des Staatsarchivs Königsberg vereinigten Aktenstücke einen trefflichen Beweis. Dieselben beschäftigen sich mit der Errichtung dreier Partikularschulen zu Saalfeld. Tilsit und Lyck, und enthalten Berichte, Originalausschreiben des Landesherrn (vom 22. August 1586 Bl. 19 ff.), Fundationsurkunden für Tilsit, Lyck, Saalfeld, Schulordnungen und Nachrichten über spätere Visitationen dieser Schulen von 1593 und 1594. Es soll hierauf nicht näher eingegangen, dagegen noch auf die Schulordnungen verwiesen werden, die gelegentlich der

38

Emil Sehlmg

Einleitung xu einer Ausgabe usw.

Visitationen in den Städten überreicht wurden, z. B. in Königsberg, bei der Visitation von 1585 (vgl. bei Königsberg). Für die Zeit Herzog Albrechts sei ebenfalls auf die Visitationen verwiesen, z. B. auf diejenige von 1542, oben S. 10. Ein Ordinationszeugnis des Bischofs Wiegand vom 3. Oktober 1585 für Abraham Faber, der 1612 Pfarrer von Hermsdorf im Kreise Preußisch-Holland wurde, hat BOBKOWSKI aus dem Archive Schlobitten in Altpreuß. Monatsschr. 37, 647—648 publiziert.

Der Ursprung von Staat und Kirche. Von

Dr. jur. et lic. theol. Karl Kieker, Professor der Kechte an der Universität Erlangen.

Die begriffliche Unterscheidung von Staat und Kirche, der Dualismus einer rein weltlichen und einer rein religiösen Organisation ist uns allen heutzutage geläufig, ja selbstverständlich; wenn man aber die Sache näher betrachtet, so bildet dieser Dualismus eine Singularität der westeuropäischen und der in ihrer Kultur davon abhängigen amerikanischen Welt; der osteuropäischen und asiatischen ist sie unbekannt. Woher stammt dieser Gegensatz? Gewöhnlich denkt man sich seinen Ursprung so, daß er durch eine Art von Arbeitsteilung zwischen dem christlichen und dem nichtchristlichen Altertum entstanden sei: dieses habe den Staat, jenes die Kirche hervorgebracht; erst seitdem das Christentum in die Welt eingetreten sei, habe es nicht bloß einen Staat, sondern auch eine Kirche gegeben. Diese traditionelle Ansicht über den Ursprung von Staat und Kirche gilt es zu prüfen. Ich tue dies in der Weise, daß ich denjenigen Teil des vorchristlichen Altertums, auf dem allein unsere christliche westeuropäische Kultur beruht, das ist das griechischrömische, und das israelitisch-jüdische Altertum, daraufhin untersuche, wie weit man hier berechtigt sei, von Staat und Kirche zu reden.

I. Das griechisch-römische Altertum. Wenn ich hier das griechische und das römische Altertum zusammennehme, als Eine Größe behandle, so will ich damit nicht sagen, daß sie beide ganz gleiöh seien. Das ist vielmehr gar nicht der Fall. Aber in dem Punkte, der hier in Frage steht, unterscheiden sie sich nicht und können deshalb unbeschadet ihrer sonstigen Verschiedenheit zusammengefaßt werden.

40

Karl Rieker

Das Verhältnis von Staat und Religion im griechisch-römischen Altertum ist, wenn ich recht sehe, durch folgende Eigentümlichkeiten charakterisiert: 1. Für uns moderne Menschen ist die Religion in erster Linie ein Verhältnis zwischen dem Einzelnen und seinem Gott. Wenn A D O L F HAKNACK in seinen Vorlesungen über das Wesen des Christentums die Eigenart des religiösen Verhältnisses ausdrücken' will, gebraucht er dafür gerne die Wendung: „Gott und die Seele, die Seele und ihr Gott." Von diesem modernen Religionsbegriff müssen wir absehen, wenn wir das antike Verhältnis zwischen Staat und Religion verstehen wollen. In der ganzen vorchristlichen Welt bedeutet der Einzelne etwas nur als Glied der Gemeinschaft, der er angehört, vor allem des Staates, einerlei ob wir dabei an die griechische Polis oder an die römische Civitas denken. Der antike Mensch ist noch nicht wie der moderne ein Zentrum für sich mit eigenen Anschauungen, Gefühlen, Zielen, die zu denen der Gesamtheit unter Umständen in Widerspruch treten. Insbesondere hat das Gewissen, das den Kern der modernen Persönlichkeit ausmacht, bei ihm noch keine Stelle. Demgemäß ist die Religion im Altertum viel mehr als heutzutage eine öffentliche Angelegenheit, eine Sache des Volkes, der Gesamtheit. Der Einzelne hat wohl auch Religion, aber doch nur als Glied einer bestimmten Gemeinschaft, und er hat die Religion dieser Gemeinschaft. Der Gedanke, daß einer eine Religion habe, abweichend von der Gemeinschaft, innerhalb deren er steht und sein Dasein führt, ist dem Altertum unfaßbar. Nach der Anschauung der Griechen wie der Römer bildet die Religion, der Kultus das festeste Band jeder Gemeinschaft. Gerade so wie der Altar des Hauses die Glieder einer und derselben Familie um sich vereinigte^ so war der gemeinsame Altar jedes Gemeinwesens der Vereinigungspunkt für alle seine Angehörigen. Vor allem der Staat ist für die Alten eine Gemeinschaft nicht bloß weltlicher Angelegenheiten, sondern in erster Linie eine Gemeinschaft der sacra. Kein antiker Staat hätte seine Existenz lediglich durch bürgerliche Einrichtungen für gesichert gehalten. Das jus sacrum ist für die Römer lediglich ein Teil des jus publicum, wie U L P I A N sagt: Jus publicum in sacris, sacerdotibus, magistratibus consistit. Nichts ist in dieser Hinsicht bezeichnender, als die Art und Weise, wie der Römer M . T E E E N T I U S VABBO in seinem Antiquitates rerum humanarum et divinarum verfährt. Den ersten Teil widmet

Der Ursprung von Staat und Kirche

41

er, wie der Titel andeutet, den menschlichen Dingen, den zweiten den göttlichen und rechtfertigt diese Anordnung damit, daß zuerst der Staat da sein müsse, ehe von res divinae die Rede sein könne. Er definiert also die res divinae, den Kultus als eine Institution des Staates und legt seinem ganzen Werke den Satz zugrunde, daß, wenn es gleich Götter von Anfang an gegeben habe, doch römische Götter, von denen er zu reden gedenke, erst seit dem Bestehen des Staates anzunehmen seien.1 2. Dies führt uns gleich auf eine zweite Eigentümlichkeit des antiken Verhältnisses von Staat und Religion. Die alten Griechen und Römer waren bekanntlich keine Monotheisten. Eine Vielheit von Göttern anzunehmen, machte ihrem Denken keine Schwierigkeit, im Gegenteil: sie erschien ihnen als etwas Natürliches, Selbstverständliches, geradeso wie die Vielheit der Sprache, der Sitte, des Rechts. Jedes Volk, jeder Staat hat seine eigenen Götter, die von ihm ausschließlich verehrt werden, geradeso wie jedes Volk seine eigene Sprache, seine eigene Sitte, sein eigenes Recht hat. Jeder Staat hat seine Religion, sagt C I C E B O , der unserige die unserige. Die Religion ist nach antiker Anschauung eine politische Einrichtung, eine nationale Schöpfung, die Götter der Griechen und Römer sind keine Allerweltsgötter, sondern jeder hat sein besonderes Gemeinwesen, dessen Patron er ist. So ist die Religion im Altertum Staatsreligion im eigentlichen Sinne des Wortes, die offizielle Religion der Polis, der Civitas. Die Religion ist ein ebenso wesentlicher Bestandteil der staatlichen Ordnung wie das Recht. Der Kampf fürs Vaterland ist zugleich ein Kampf für die vaterländischen Götter. Der Römer zieht ins Feld flir Altar und Herd (pro aris focisque). Die Begriffe Vaterland und Gemeinwesen hatten für den antiken Menschen einen viel bedeutenderen Inhalt als in unseren Tagen, wo 1 Vgl. WISSOWA, Religion und Kultus der Römer (Handbuch der klassischen Altertumswissenschaft V. Bd. 4. Abt.) S. 319: „Wie bei der Begründung einer colonia civium Romanorum auf die Konstituierung des neuen Gemeinwesens sofort die Regelung seiner sakralen Verbindlichkeiten durch die ersten Magistrate unter Mitwirkung des Gemeinderates erfolgt, so denkt man sich in der Vorzeit die Begründung der römischen Staatsreligion: nachdem Romulus die Stadtgründung vollzogen und die junge Gemeinde nach außen gesichert und im Inneren gegliedert hat, ordnet sein Nachfolger die sacra populi Romani: mögen die Götter an sich auch selbstverständlich älter sein als der römische Staat, römische Staatsgötter gibt es erst nach der Begründung des römischen Reiches. Die römische Religion ist eine Staatseinrichtung sowohl was die Auswahl der Götter als was die Form ihrer Verehrung anlangt."

42

Karl

Rieker

die Religion nicht mehr an die politische Gemeinschaft geknüpft ist. Vaterlandsliebe und Frömmigkeit war dasselbe. Die Verbannung war deshalb eine so schwere und gefürchtete Strafe, weil sie nicht bloß vom vaterländischen Boden, sondern auch von den vaterländischen Göttern ausschloß. Die Verbannung der Alten war zugleich Exkommunikation. Seinen Gott konnte man nicht mit in die Fremde nehmen: er war an die heimische Scholle gebunden. Alles, was einem Menschen teuer war, das war in seinem Vaterland, seiner Vaterstadt eingeschlossen. Das Weltbürgertum mit seinem Ubi bene, ibi patria ist dem griechisch-römischen Altertum jedenfalls in seiner Blütezeit unbekannt und unverständlich. Aus dem nationalen Charakter der Götter und ihres Kultus entsprang die Toleranz der Alten, insbesondere der Römer, gegen die Verehrung fremder Götter. Die heidnischen Religionen sind nicht exklusiv; sie lassen einander gelten. Die der römischen Herrschaft unterworfenen Völker behielten in der Regel ihre Götter. Nur ist immer die Voraussetzung dabei, daß darunter der Kultus der Staatsgötter nicht litt. Solange dies der Fall war, konnte der Römer selbst fremde Götter verehren, ohne den Dienst der einheimischen aufzugeben.1 3. Die Religion spielte im griechisch-römischen Altertum eine ganz andere Rolle als heutzutage: sie beschien nicht bloß die Höhen des öffentlichen Lebens, politische Maßregeln von außerordentlicher Bedeutung, sie warf ihren Glanz auch in die Ecken und Winkel des politischen Lebens. Kein öffentlicher Akt vollzog sich, ohne daß sie dabei gewesen wäre; sie erfüllte das ganze öffentliche Leben der Alten. Keine Staatshandlung wurde in Griechenland oder Rom ohne religiöse Zeremonien, ohne Anrufung der Götter, ohne Darbringung eines Opfers vorgenommen. Eine Volksversammlung wurde nur an solchen Tagen abgehalten, von denen man sich vergewissert hatte, daß sie den Göttern angenehm seien, und stets begann sie mit einem Gebet, einem Opfer oder sonst einer religiösen Zeremonie. Der römische Senat konnte gültige Beschlüsse nur in einem Tempel fassen; wenn er anderswo als an einem geheiligten Orte getagt hätte, so wären seine Beschlüsse nichtig gewesen, weil die Götter nicht dabei gewesen wären. In Rom wie in Athen sprach man Recht nur an Tagen, welche die Religion als günstig bezeichnete; in Athen fand die Sitzung des Gerichts neben einem Altare statt und begann mit einem Opfer. 1

Vgl. dazu auch WISSOWA a. a. 0. S. 88 f.; and römischer Strafprozeß S. 520.

MOMMSEN,

Römisches Strafrecht

Der Ursprung von Staat und Kirche

43

Auch die völkerrechtlichen Akte, Verträge, Friedensschlüsse u. dergl. wurden unter den Schutz der Religion gestellt und mit der Heiligkeit ihrer Formen umkleidet.1 4. Die antike Religion bestand, wie sich schon aus ihrem Charakter als Staatsreligion ergibt, hauptsächlich im Kultus, d. h. in der sichtbaren Betätigung der religiösen Gesinnung, im Gottesdienst, in der religiösen Sitte. Nun ist ein solcher Kultus ja freilich nicht denkbar ohne einen gewissen religiösen Vorstellungskreis, ohne einen religiösen Glauben. Aber dieser spielt in der antiken Religion keine Rolle. In Griechenland und zumal in Rom hat man sich nie darum bekümmert, welche Vorstellungen sich der Einzelne über die Natur und das Wesen der Götter bildete, nie hat man daran gedacht, bestimmte Glaubensartikel aufzustellen und von ihrer Anerkennung die Zugehörigkeit zur religiösen Gemeinschaft abhängig zu machen. Es gab deshalb weder Rechtgläubige noch Ketzer. Solange man den öffentlichen Kultus nicht antastete, durfte man die überlieferten Glaubensvorstellungen in Wort und Schrift, mit den schärfsten Waffen, mit Hohn und Spott bekämpfen, ja man durfte die Existenz der Götter leugnen. Bekannt ist in dieser Hinsicht Q. Muoius SCAEVOLA. Er war einer der angesehensten Männer Roms, ein berühmter Rechtsgelehrter und zugleich Pontifex maximus, also der oberste Religionsbeamte des Staates, der Oberaufseher über alle gottesdienstlichen Angelegenheiten. Dieser Mann äußerte sich in sehr freier Weise über die herrschende Religion seines Volkes; er sprach es offen aus, daß sie mit schweren Irrtümern versetzt sei, daß er vieles, was für sie höchst wesentlich war, nur als Zugeständnis zu betrachten wisse, das der ungebildeten Masse aus Zweckmäßigkeitsrücksichten gemacht worden sei! Denken wir uns, daß bei uns ein Mann in einer ähnlichen hervorragenden Stellung, etwa ein katholischer Bischof oder der Präsident eines evangelischen Konsistoriums, sich öffentlich über das Christentum in solcher Weise aussprechen würde! Welches Aufsehen würde das erregen! Wieviele Kundgebungen würden gegen ihn veranstaltet! Der Mann wäre in seiner Stellung forthin unmöglich. Was aber geschah dem kühnen Pontifex maximus in Rom? Gar nichts. Wir hören nichts davon, daß er vom Senat wäre zur Verantwortung gezogen worden oder daß die Priesterschaft erklärt hätte, unter einem * Es ist das Verdienst des Franzosen FUSTEL Î>E COULANGES, in seinem schönen Werke La cité antique auf den innigen Zusammenhang zwischen dem öffentlichen Leben und der Religion im Altertum hingewiesen zu haben.

44

Karl Rieker

solchen Vorgesetzten nicht mehr weiter dienen zu können. S C Ä V O L A blieb nicht nur unangefochten in seinem Amte und in seinen Würden, sondern er war auch nach wie vor eine der gefeiertsten Autoritäten der römischen Theologie. Wie ist das zu erklären? Daraus, daß S C A E V O L A dem herrschenden Kultus und dem äußeren Bestände der Staatsreligion nicht zu nahe getreten war, daß er sich darauf beschränkt hatte, die herrschenden religiösen Vorstellungen zu kritisieren. Es gab im griechisch-römischen Altertum eben keine von der Obrigkeit aufrecht erhaltene und geschützte Glaubenslehre, kein Dogma, das jeder bei Strafe hätte glauben und bekennen müssen. Die griechische und die römische Religion war eine Kultusreligion: „mit einer lehrenden Religion würden die Griechen schon frühe Streit angefangen haben, die ihrige aber war lauter Dienst, lehrte nichts und war deshalb auch nicht zu widerlegen."1 Daher sagt L A C T A N Z von der heidnischen Religion (Divin. Instit. IV, 3): Deorum cultus non habet sapientiam, quia nihil ibi discitur, quod proficiat ad mores excolendos vitamque formandam; nec habet inquisitionem aliquam veritatis, sed tantummodo ritum colendi, qui ministerio corporis constat. 5. Endlich gibt es noch etwas nicht, was sonst zu einer Religion zu gehören scheint: einen Klerus. Das griechisch-römische Altertum kannte wohl Priester, aber keinen Klerus, keinen durch Geburt oder Erziehung oder Weihe von den anderen abgeschlossenen Stand, dessen Vermittlung die Menschen für ihren Verkehr mit der Gottheit brauchen. Der griechische und der römische Priester drängt sich nicht trennend zwischen die Götter und die Bürger. Jeder kann der Gottheit ohne Vermittlung eines Priesters nahen und Opfer darbringen. Jeder Hausvater ist innerhalb der vier Wände seines Hauses selbst Priester und in der älteren Zeit opferten die Könige, später die Magistrate für den Staat. Soweit aber die Priester öffentliche Opfer darbringen, sind sie lediglich Staatsdiener, handeln im Namen und Auftrag des Staates. Besonders scharf tritt der staatliche Charakter des Priestertums in Rom hervor: „Die römischen Staatspriester sind nicht Vertreter der Gottheit in dem Sinne, daß sie in deren Namen mit der Gemeinde und ihren Beamten zu verhandeln und an ihrer Statt Rechtsgeschäfte abzuschließen hätten, auch nicht Vermittler zwischen Gottheit und Mensch, durch deren Hände der Verkehr der Sterblichen mit der Gottheit gegangen wäre, sondern wie der ganze S t a a t s k u l t ein 1

JAKOB BURCKHARDT,

Griechische Kulturgeschichte Bd. II S. 133.

Der Ursprung von Staat wnd Kirche

45

Zweig der Staatsverwaltung ist, so sind die Priester Organe dieser Verwaltung, bestimmt zur Ausführung der laufenden, der Gemeinde obliegenden Leistungen an die Gottheit und zur Pflege und Bewahrung der für den Verkehr. mit der Gottheit maßgebenden Traditionen und Satzungen."1 Aus dem nationalpolitischen Charakter der antiken Religion ergab sich von selbst die Unmöglichkeit eines geschlossenen Priesterstandes. Wie jeder Staat seine eigene Religion hatte, so hatte er auch seine eigenen Priester. In Griechenland würde bei der Abschließung von Polis gegen Polis jeder Verband von Priestern des einen Gemeinwesens mit Priestern anderer Städte als Hochverrat gegolten haben: die Religion, welche sonst z. B. im Islam, im Katholizismus Völker der weitesten Ferne miteinander verbindet, hielt die Alten im Gegenteil getrennt, weil sie ganz in den Dienst des Staates, d. h. eines in der Regel mit allen Nachbarn verfeindeten Wesens gestellt war.2 Was ergibt sich nun aus alledem für das Verhältnis von Staat und Religion im griechisch-römischen Altertum? Wir finden hier nichts von einem selbständigen geistlichen Verband neben dem politischen. Es gibt überhaupt nur Ein Gemeinwesen, und das ist ebenso religiöser wie politischer Natur. Der Staat hat einen religiösen, die Religion hat einen nationalpolitischen Charakter, oder kurz gesagt: der antike Staat ist zugleich Kirche.3 Unsere moderne Vorstellung vom Staat als einem rein weltlichen Verbände paßt auf den antiken Staat nicht.' Es ist unmöglich, daß die beiden, Staat und Religion, auseinandertreten, daß die Religion als eine selbständige Organisation dem Staate gegenübertritt. Ein Konflikt zwischen imperium und sacerdotium kann nicht entstehen, weil es nur Eine Gewalt im Staate gibt: das imperium; eine zweite selbständige Gewalt, das sacerdotium, kennt das griechisch-römische Altertum nicht. Das jus sacrum ist ein Teil des jus publicum: die Götter und alles, was mit ihnen zusammenhängt, stehen innerhalb des Staates, nicht neben oder außer ihm.4 1

WISSOWA a . a . O .

s

Vgl.

S. 410.

JAKOB BUBCKHAKDT a . a . 0 .

B d . I I S.

139.

Allgemeine Staatslehre ( 2 . Aufl.) S. 2 9 3 : „Was in der modernen Welt unter zwei Gebilde — Staat und Barche — verteilt ist, ruht in der Polis in ungebrochener Einheit beisammen." — ULRICH VON WHAMOWITZ-MÖLLENDORF, Beden und Vorträge. 1901. S. 30 Anm. 1: „Der antike Staat ist immer zugleich Kirche." * Ansätze zu einer Verselbständigung des römischen jus sacrum finden sich einmal in korporativer Form, indem die sakralen Collegia als Verbandseinheiten 8

JELLINEK,

46

Karl Bieker

Q. Das israelitisch-jüdische Altertum. 1. Nach der uns überlieferten, bis vor wenigen Jahrzehnten allgemein herrschenden Anschauung hat das Volk Israel von Anfang an d. h. seit seinem Eintritt in die Geschichte unter Mose, von allen anderen Völkern des Altertums, besonders aber von den Griechen und Kömern sich dadurch unterschieden, daß es seine Existenz in einem g e i s t l i c h e n Gemeinwesen gehabt habe, daß seine Verfassung weder eine Monarchie noch eine Aristokratie noch eine Demokratie gewesen sei, sondern nach einem von Josephus geprägten Ausdrucke eine Theokratie. Das eigentliche und wahre Oberhaupt des Volkes sei Jahwe, der Gott Israels, gewesen, er habe sein Volk regiert, indem er ihm seinen Willen teils durch Propheten und Richter, teils durch den Hohepriester kundgetan habe. Im Hohepriester habe dies geistliche Gemeinwesen sein sichtbares Haupt, in den Priestern und Leviten seine Beamte, in der Stiftshiitte, später im Tempel zu Jerusalem seinen Mittelpunkt, im Gesetz Mosis die erschöpfende Ordnung und Richtschnur seines gesamten öffentlichen und privaten Lebens gehabt. So habe hier auf Grund der mosaischen Verfassung ein Unikum im Altertum, ein geistlicher Priesterstaat, ein heiliges Gemeinwesen, ein Kirchenstaat bestanden. Allerdings habe sich dieser von Mose begründete geistliche Staat im Laufe der Zeit in einen monarchischen verwandelt, indem Samuel dem Volke auf sein Verlangen einen König geben mußte. Allein dies sei eben im Widerspruch mit der theokratischen Idee geschehen; dadurch sei Jahwe gewissermaßen als alleiniger Herrscher über sein Volk abgesetzt worden und ein Mensch an seine Stelle getreten. Ursprünglich sei jedoch das Volk Israel ein Gottesstaat gewesen und hätte es nach dem Willen seines Gottes auch stets bleiben sollen; anerkannt wurden, und sodann in anstaltlicher Form, indem den Göttern der Gemeinde eine irdische Rechtsfähigkeit beigelegt wurde: die Götter galten als Eigentümer des Göttergutes, d. h. des zu ihren Gunsten dem menschlichen Verkehr schlechthin entzogenen Sachenkreises (vgl. Gierke , Genossenschaftsrecht Bd. III S. 62 f.). — Wohl läßt sich am Ausgang des griechisch-römischen Altertums wahrnehmen, wie Staat, Nation und Religion nicht mehr zusammenfallen, sondern allmählich auseinandergehen, wie die Religion für sich allein weiterlebt und zum Selbstzweck wird (vgl. darüber besonders Eduard Meter, Geschichte des Altertums Bd. III S. 225 ff. und Entstehung des Judentums S. 221 f.; Boüsset, Die Religion des Judentums im neutestamentlichen Zeitalter, 2. Aufl. S. 60 ff.), allein der Ursprung von Staat und Kirche hat seine Wurzel nicht in dieser allgemein religionsgeschichtlichen Strömung, sondern in einer bestimmten geschichtlichen Erscheinung, die uns im folgenden Abschnitt beschäftigen wird.

Der Ursprung von Staat und Kirche

47

die Errichtung des Königtums wäre demgemäß lediglich als ein Abfall von Jahwe, als eine Störung der geistlichen Verfassung des Volkes Israel zu beurteilen. Die neuere Forschung hat diese Auffassung der israelitischen Geschichte als die Übertragung eines viel späteren Zustandes auf frühere Verhältnisse nachgewiesen. Die sog. mosaische Gesetzgebung ist in der Hauptsache erst unmittelbar vor dem babylonischen Exil oder während desselben entstanden. Legt man die Darstellung der älteren historischen Schriften des A. T. und die Reden der vorexilißchen Propheten zugrunde, so ergibt sich uns ein ganz anderes Bild vom politischen Zustande des Volkes Israel in jener früheren Periode. Danach war das Volk Israel ein Volk wie die anderen Völker im Altertum, und das Verhältnis von Staat und Religion bei ihm dasselbe wie anderswo. Das israelitische Gemeinwesen war genau so wie das griechische und römische ein national-religiöses Gemeinwesen. Die Verehrung des Gottes Jahwe bildete lange Zeit das einzige Band, das die verschiedenen Stämme des Volkes zusammenhielt; später, am Ende der Richterzeit, kam das Königtum hinzu und bildete eine neue Klammer für die immer wieder auseinanderstrebenden Stämme. Das Königtum war das Ergebnis einer natürlichen politischen Entwicklung geradeso wie anderswo auch; der Gedanke, daß diese Einrichtung mit den Beziehungen Jahwes zum Volke Israel in Widerspruch stehe, war jener älteren Zeit durchaus fremd. „Dem vorexilischen Israel ist das Königtum der Höhepunkt der Geschichte und die größte Segnung Jahwes". 1 Der König, nicht der Hohepriester, bildet in jener Zeit den Mittelpunkt der Nation. Die Vorstellung eines feindlichen Gegensatzes zwischen dem himmlischen und dem irdischen Könige lag dem hebräischen Altertum so ferne, daß sich seine Propheten auch die ideale Zukunft ihres Volkes nicht ohne einen irdischen König, den Messias, denken konnten. J a , erst auf Grund des irdischen Königtums eines Saul, eines David bildete sich die Vorstellung von einem Königtum Jahwes, das aber zunächst ganz ideal gedacht war und sich in keinem feindlichen Gegensatze zum irdischen Königtum befand. Wohl gab es auch hier wie sonst im Altertum Priester, aber sie sind in jener älteren Zeit noch keine notwendigen Mittler zwischen Gott und dem Menschen: „Schlachten und Opfern darf jedermann, und auch da, wo Priester vorhanden sind, ist von systematischer Absonderüng des Heiligen und von einer Scheu, es zu berühren, nichts 1

WELLHAUSEN, Geschichte Israels.

Bd. I (1878) S. 265.

48

Karl Rieker

zu spüren."1 Von Saul und David wird uns erzählt, daß sie in eigener Person geopfert haben, ohne daß jemand etwas Arges daran gefunden hätte. Salomon vollzog selber die Einweihung des von ihm erbauten Tempels: er trat an den Altar und betete dort auf den Knien mit ausgereckten Armen, dann erhob er sich und segnete das Volk (1 Reg. c. 8). Erst allmählich bildete sich ein besonderer Priesterstand, ein Klerus, der den Verkehr des Volkes mit seinem Gott vermittelt. Einen wichtigen Schritt in dieser Richtung tat die deuteronomische Gesetzgebung im Reiche Juda unter dem Könige Josias, indem sie sämtliche Kultusstätten außerhalb Jerusalems für illegal und den salomonischen Tempel für den einzigen Ort erklärte, wo Gott wohne und sich schauen lasse und wo der Mensch sich ihm nahen und mit Opfern, und Gaben sein Antlitz suchen dürfe. Nicht nur daß dadurch die jerusalemische Priesterschaft ein erdrückendes Übergewicht über die Priester der Provinzialstädte und Landgemeinden erhielt, die dadurch mit einem Schlage stellen- und brotlos geworden waren, es erschien nun auch das Recht zu opfern und Gott zu nahen als ein besonderes Vorrecht der Priesterschaft des Zentralheiligtums. Und man kann daher sagen, daß damit der Gegensatz von Klerus und Laien gefunden ist.3 Freilich stellt darum das Volk Israel vor dem Exil noch lange keine Theokratie dar, das Reich Juda so wenig wie das nördliche, das Zehnstämmereich, das ein früheres Ende nimmt als jenes und mit der Wegführung des Volkes in die assyrische Gefangenschaft aus der Geschichte verschwindet, aber immerhin bildet die deuteronomische Reform recht eigentlich „die Brücke vom alten Israel mit seinen Königen, königlichen Beamten, Priestern und Propheten zum Judentum mit Gesetz und Schriftgelehrten, Hohepriestern, Priestern, Leviten und Gemeindebeamten". — Das Volk will jetzt ein heiliges Volk sein; der Staat ordnet seine Aufgaben einer religiösen unter und setzt seine Kraft für ein religiöses Ideal ein.3 Wohin diese Richtung schließlich führt, sehen wir an dem Buche des im Exil lebenden Propheten Ezechiel, in dessen Zukunftsbilde für den weltlichen Herrscher nur noch eine untergeordnete Stelle ist und die Priesterschaft die Hauptrolle spielt. 1 WEIXHAUSEN a . a . 0 . S . 134. 8 BEETHOLET, Der Verfassungsentwurf

des Hesekiel in seiner religionsgeschichtlichen Bedeutung, 1896 S. 7. Cornau,, Der israelitische Prophetismus. 6. Aufl., 1906 S. 91. 8 STADE, Biblische Theologie des A. T. Bd. I (1905) S . 265. 269.

49

Der Ursprung von Staat und Kirche

2. Das Ende des Reiches Juda bezeichnet die Wegführung des besten, wenn auch vielleicht nicht größten Teiles der Bevölkerung in die babylonische Gefangenschaft 586. Nach einiger Zeit erhielten die weggeführten Juden vom König Cyrus die Erlaubnis zur Rückkehr in ihre Heimat, und eine beträchtliche Anzahl von ihnen machte davon Gebrauch. Es beginnt damit die Geschichte des Judentums. Was nach Palästina zurückkehrt und sich da ansiedelt, ist nicht mehr das Volk Israel, es ist nur ein Teil davon, und zwar derjenige Teil, dem es ein heiliger Ernst ist, das Gesetz Gottes im öffentlichen und privaten Leben durchzuführen und sich zu diesem Zwecke gegen die umgebende Heidenwelt mit aller Macht abzuschließen. Das Gesetz aber, um dessen Verwirklichung es sich jetzt handelt, ist das von Esra aus Babylon mitgebrachte „Gesetz Mosis", die Thora. Die Durchführung dieses Gesetzes charakterisiert das nachexilische Judentum im Unterschied von der vorexilischen Zeit.1 Bis vor kurzem hat man in dem (nachexilischen) Judentum nur die dunkle Folie für die lichte Gestalt des Christentums erblickt, die Zeit der Apokryphen und Pseudepigraphen, durch welche die religiöse Entwicklung, die vom A. T. zum N. T. führt, unterbrochen worden sei, eine Periode starrer Gesetzlichkeit, formalistischer Religionsübung, geistiger Leere und Unfruchtbarkeit, religiöser Minderwertigkeit. Die Wissenschaft der letzten Jahrzehnte hat diese Anschauung wesentlich umgestaltet Sie lehrt uns die Zeit des (nachexilischen) Judentums als eine der schöpferischsten Perioden in der Geschichte des menschlichen Geistes anzusehen, als eine Zeit, in der der Grund zu einer Reihe von Ideen und Einrichtungen gelegt worden ist, die uns heute ganz geläufig und gewohnt sind. Unser sonntäglicher Gottesdienst ist aus den regelmäßigen Versammlungen der Juden am Sabbat in den Synagogen hervorgegangen, denn diese waren „nicht Gotteshäuser im antiken Sinne, bestimmt zur Wohnung der Gottheit und zu ihrer Bedienung, sondern Gotteshäuser im modernen Sinne, bestimmt zur Versammlung und Erbauung der Menschen".2 Damit jeder Jude die heiligen Schriften selbst lesen konnte, wurde die Bibel zur Fibel, die Gemeinde zur Schule, und auf diese Weise entstand der erste Volksschulunterricht. Im Buch Daniel finden wir die erste 1

Man unterscheidet innerhalb des Judentums zwei Perioden: das vormakkabäische Judentum und das nachmakkabäische Judentum oder Spätjudentum; wir können hierauf nicht weiter eingehen. S WELLHAUSEN, Israelitische und jüdische Geschichte. Vierte Ausgabe, 1901 S. 196 f. Festschrift t E. FRTEDBBBS.

4

Karl Rieher

50

religiöse Betrachtung der Weltgeschichte als eines zusammenhängenden Ganzen und damit die ersten Keime einer Geschichtsphilosophie. Mit Recht hat man darum neuerdings dieses (nachexilische) Judentum als die Vorstufe des Christentums bezeichnet: „statt der dunkle Hintergrund zu sein, auf welchem' das Christentum als etwas ganz anderes sich abhebt, erscheint heute das Judentum als die Unterlage, auf welcher die jüngere Generation emporwächst und über welche sie sich erhebt". 1 Von der allergrößten Bedeutung aber ist das Judentum für unser Thema, für die Frage nach dem Ursprung von Staat und Kirche. Achten wir einmal auf die äußere Lage der Juden in Palästina! Was uns da vor allem in die Augen fällt, ist der Mangel der p o l i t i s c h e n S e l b s t ä n d i g k e i t . Die politische Rolle des Volkes Israel ist mit dem Exil ausgespielt. Diese Juden, die sich nach ihrer Rückkehr aus Babylon in und um Jerusalem angesiedelt haben, sind kein Reich, kein selbständiger Staat. Sie stehen unter fremder Oberhoheit, zuerst der Perser, dann Alexanders des Großen, hierauf der Ptolemäer; lange Zeit bilden sie sodann einen Teil des syrischen Reiches; auch die Makkabäerzeit brachte iinen die politische Selbständigkeit doch nur für eine kurze Periode (etwa von 142 — 63 vor Christus); endlich wurde Palästina eine Provinz des alle Länder verschlingenden römischen Weltreiches. Aber diese Fremdherrschaft war im ganzen nicht drückend. Die Oberhoheit der Ptolemäer wie die der Seleuciden fand ihren Ausdruck hauptsächlich in der Aufstellung militärischer Befehlshaber und in der Auferlegung regelmäßiger Abgaben. In allen inneren Angelegenheiten ließen sie den Unterworfenen ein großes Maß von Freiheit. Und unter der Römerherrschaft war es auch nicht viel anders. So war den Juden die Sorge für die politischen Angelegenheiten durch Fremdlinge abgenommen; mit um so größerem Eifer konnten sie sich den inneren widmen. Diese inneren Angelegenheiten waren aber für die Juden wesentlich religiöser Natur: auf diese waren die Juden nicht bloß durch den Verlust ihrer politischen Selbständigkeit, sondern auch durch ihre ganze Vergangenheit hingewiesen. Ihre vaterländische Religion, der Dienst Jahwes, war das kostbarste Gut, das sie in das Exil mitgenommen und aus dem Exil wieder in die Heimat gebracht hatten. BAIDENSPEEGEE , Das spätere Judentum als Vorstufe des Christentums. S. 8 . Vgl. WELLHAUSEN a. a. O . S . 2 0 7 : „Das ältere Judentum ist die Vorstufe des Christentums". 1

1900

Der Ursprung von Staat und Kirche

51

Diese Jahwe-Religion unterschied sie von der umgebenden Heidenwelt fast noch mehr als ihre Nationalität. Um ihrer Religion willen taten sie alles, litten sie alles, kämpften sie wie Helden, starben sie den Märtyrertod. Für ihre Religion verlangten die Juden freie Hand; an der politischen Selbständigkeit lag den meisten nicht so viel, wenn das Volk nur seine geistliche Selbständigkeit hatte, wenn es nur nach seiner Religion leben durfte. Ihre Religion verkörperte sich aber den Juden in der Thora, in dem von Gott seinem auserwählten Volke durch Moses geoffenbarten Gesetze. „Die pünktlichste Beobachtung dieses Gesetzes war eine Pflicht der Religion, ja die oberste und im Grunde genommen einzige Pflicht der Religion".1 Die ganze Frömmigkeit des Juden ging darin auf, dieses Gesetz mit allen seinen Einzelheiten zu erfüllen. All das Unglück, das die Juden getroffen, rührt davon her, daß das Gesetz nicht beobachtet worden ist (vgl. bes. Nehem. Kap. 9). Die Thora ist nach der Anschauung des späteren Judentums nicht nur der Zweck Gottes bei der Schöpfung und Erhaltung der Welt, sondern auch der spezifische Heilsbesitz Israels, der seinen Vorzug vor allen anderen Völkern begründet. Für ihre Religion kämpften die Juden, wenn sie für ihr Gesetz und seine freie Übung stritten. Der Aufstand gegen die Seleuciden drehte sich nicht um die politische Unabhängigkeit, sondern um das Gesetz Gottes. Judas der Makkabäer machte seinem Volke Mut mit den Worten: „Wir müssen uns wehren und f ü r unser Leben und Gesetz streiten" (1. Makkab. 3, 21), und der syrische Feldhauptmann Lysias ermahnt seinen König und dessen Hauptleute: „Laßt uns Frieden mit diesem Volke machen und zulassen, daß sie ihr Gesetz halten wie zuvor; denn sie zürnen und streiten allein darum, daß wir ihnen ihr Gesetz abtun wollen" (1. Makkab. 6, 58 f.). Wer den Juden zumutete, auf die Thora und das Leben nach der Thora zu verzichten, der verlangte von ihnen, sie sollen aufhören Juden zu sein. Denn Jude sein und nach der Thora leben ist für den Judaismus dasselbe.2 Wie gestaltete sich nun unter diesen Umständen die Verfassung des jüdischen Volkes? Da die inneren Angelegenheiten, die seiner Autonomie überlassen blieben, eben die religiösen Angelegenheiten waren, so ergab sich von selbst, daß derjenige Stand, dessen Beruf 1 SchUbeb, Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi Bd. II. 3. and 4. Aufl. S. 305. 2 Vgl. Bousset, Die Religion des Judentums im neutestamentlichen Zeitalter. 2. Aufl. 1906 S. 136 ff.

4*

52

Karl Rieker

die Pflege der Religion bildete, der P r i e s t e r s t a n d , der eigentlich führende und regierende Stand wurde. Die Priester waren die Ersten im Volke, auch nachdem die Schriftgelehrten neben sie getreten waren; „sie waren die Söhne Aarons und im Besitze des höchsten Privilegiums, das gedacht werden konnte: des Privilegiums, alle Opfer des Volkes und jedes Einzelnen Gott darzubringen". Niemand konnte ohne ihre Mitwirkung Gott nahen. Neben und unter den Priestern standen als Kultusbeamte zweiten Ranges die Leviten, die dienenden Gehilfen der Söhne Aarons; auch sie bildeten wie die Priester einen durch natürliche Abstammung begründeten festgeschlossenen Stand.1 Neben der Priesterschaft lag die Leitung des Volkes in den Händen des großen S y n e d r i u m s zu Jerusalem, das wohl aus dem Zusammenschluß der Geschlechtsoberen, der Priester sowohl wie der Laien, entstanden ist.2 An der Spitze der Priesterschaft und des Synedriums stand der aus dem Priesteradel der jerusalemischen Aristokratie hervorgegangene H o h e p r i e s t e r , der nicht bloß Priester, sondern zugleich Fürst d. h. das Oberhaupt des jüdischen Volkes war. Er stellte die sichtbare Spitze des ganzen Gemeinwesens in der judaistischen Zeit dar und verwaltete auch die weltlichen Angelegenheiten, soweit solche den Juden verblieben waren. So bildete das ganze Volk der Juden ein Lager in drei konzentrischen Kreisen von abgestufter Heiligkeit: zuerst die Priester, dann die Leviten, dann die Laien.3 Alles gruppierte sich um das Zentralheiligtum in Jerusalem, die Una sancta des Judentums. Für einen weltlichen König war in diesem geistlichen Gemeinwesen kein Platz mehr; an seine Stelle ist der Hohepriester getreten, er trägt den Purpur und das Diadem, das Haus Davids ist vom Hause Sadoks verdrängt.4 Was ergibt sich uns nun, wenn wir das jüdische Volk nach dem Exile mit dem Volk Israel vor dem Exile vergleichen? Was wir jetzt vor Augen haben, ist etwas ganz anderes: das ist kein religiöspolitisches Gemeinwesen mehr, wie es das Volk Israel einst in den Tagen Sauls und Davids gewesen war, sondern das ist lediglich ein geistliches Gemeinwesen, ein Priesterstaat, hier ist das erfüllt, was eine spätere Darstellung Jahwe zu den Kindern Israel am Berge 1

SCHÜBER a . a . 0 . B d . I I S . 2 2 6 .

2

SCHABER a . a . 0 . B d . I I S . 1 9 1 .

8

WEIXHAUSEN,

4

SHEND,

Israelitische und jüdische Geschichten, S . 182. Lehrbuch der alttestamentlichen Religionsgeschichte, 1. Aufl. S . 342.

Der Ursprung von Staat und Kirche

53

Horeb sagen läßt: „Ihr sollt mir ein Priesterkönigreich sein und ein heiliges Volk" (2. Mos. 19, 6). Das nachexilische Judentum ist das zu einer religiösen Gemeinde, zu einer geistlichen Republik zusammengeschrumpfte Volk Israel, das jüdische Volk ist zur Kirche geworden. Hier haben wir also das, was das griechisch-römische Altertum nicht hervorgebracht hat: eine Kirche, d. h. einen selbständigen religiösen Verband, eine ganz der Pflege der Religion gewidmete Gemeinschaft. Als solche heißt das jüdische Volk bnjs, ixxlrjata, dasselbe Wort, das im N. T. für Kirche gebraucht wird. Aber bemerken wir wohl: diese Kirche hat die Fremdherrschaft zu ihrer Voraussetzung. Nur deshalb bilden die Juden ein geistliches Gemeinwesen, weil die Sorge für die politischen Angelegenheiten ihnen abgenommen ist. Dieser jüdische Gottesstaat ist ein unpolitisches Kunstprodukt und hätte nicht entstehen können, solange das Volk einen richtigen Staat bildete wie die anderen Völker des Altertums. „Die jüdische Kirche ist entstanden ; als der jüdische Staat unterging, dadurch trat die Scheidung von Geistlichem und Weltlichem ein".1 Freilich, das was dieser „Kirche" gegenüberstand, die politische Macht, der die Juden in Palästina Untertan sein müßten, war nun nicht etwa „Staat" im Sinne unseres Themas, yar kein rein weltliches, sondern ein religiös-politisches Gemeinwesen, so gut wie irgend ein anderes im Altertum, war also Staat und Kirche zugleich in dem von uns oben (S. 7) angegebenen Sinne. Insofern scheint also mit der Situation des Judentums der Dualismus von Staat und Kirche noch nicht gegeben zu sein. Wir müssen nun aber noch weiter folgendes bedenken. Nach der älteren, vorprophetischen Anschauung ist Jahwe lediglich der Gott des Volkes Israel; die anderen Völker haben ihre eigenen Götter, denen nach dem Glauben der alten Israeliten ebenso eine reale Existenz zukommt wie ihrem Jahwe. Jahwe ist Israels Gott wie Kemosch der Gott Moabs, Milkom der Gott Ammons, Baal Sebub der Gott Ekrons. Es ist das durchaus der Standpunkt des Altertums, den wir schon früher (S. 3) kennen gelernt haben.2 Mit den Propheten beginnt eine Betrachtung, für die Israel wesentlich anders erscheint als die übrigen Völker: es tritt aus ihrem Kreise heraus und wird über sie emporgehoben. Der Gegensatz zwischen Israel 1

1

WELLHAUSEN a . a . 0 .

Vgl.

BERTHOLET,

S. 1 8 3 A N M . 1.

Die Stellang der Israeliten und Juden zu den Fremden,

1896.

Karl Rieker

54

und den übrigen Völkern wird so allmählich zu einem religiösen: Israel ist ein heiliges Volk, weil es das einzige Volk des Einen wahren Gottes ist, und die anderen Völker sind fortan H e i d e n , ihre Götter sind Nichtgötter, Götzen. Auch diejenigen, die über die Juden in Palästina die Macht haben, sind Heiden, Unheilige und Unreine, ihr Staatswesen bildet das heidnische Gegenstück zur jüdischen Gemeinde, der Gemeinde der Heiligen. Dazu kommt noch etwas anderes. Diese Anschauung von den anderen Völkern als den Heiden, den Unreinen ruht zugleich auf dem tieferen Grunde einer dualistischen Weltanschauung, die sich im (nachexilischen) Judentum entweder von innen heraus oder durch Einflüsse von außen (aus dem Parsismus?) entwickelt hat. F ü r die Juden bildet die Welt nicht mehr wie für ihre Väter vor dem Exil eine sittlich-religiöse Einheit, ein von ihrem Gott geschaffenes und regiertes Ganzes: der Himmel und die Erde und alles was ist, zerfallen ihnen vielmehr in zwei einander gegenüberstehende, sich gegenseitig befehdende Reiche, das Reich des Guten und das Reich des Bösen. 1 In diesen Dualismus, der die gesamte Welt durchzieht, gehört nun auch der Gegensatz zwischen der jüdischen Gemeinde, dem Volke Gottes auf der einen Seite, und der Weltmacht, der sie zurzeit unterworfen sind, auf der anderen Seite hinein. Aber dieser Gegensatz zwischen Kirche und Staat, zwischen dem Volke Gottes auf der einen und der Weltmacht auf der anderen Seite, wird von den Juden selbst als ein anormaler, provisorischer Zustand empfunden. Wir sehen dies einmal an ihren wiederholten gewaltsamen Versuchen, dem Volke Gottes die politische Selbständigkeit wieder zu erringen, einen Nationalstaat aufzurichten, und noch deutlicher an ihrer Eschatologie, ihrer Zukunftshoffnung. Sie ist das wichtigste Stück in der Weltanschauung des Judentums. Die Juden dachten sich den gegenwärtigen Weltlauf durch eine scharfe Kluft vom künftigen Weltlauf getrennt. „Der gegenwärtige steht unter der Herrschaft der widergöttlichen Mächte, des Satans und seiner Engel; er ist darum in Sünde und Übel versunken. Der künftige steht unter der Herrschaft Gottes und seines Gesalbten; in ihm herrscht darum 1

Erleichtert wurde dem späteren Judentum die Vorstellung von einem Eeiche des Bösen dadurch, daß ihm das Böse eine einheitliche Erscheinung bildete und die Weltmacht, der Sitz und Träger des Bösen, wie eine einheitliche geschichtliche Größe erschien: „die verschiedenen Weltreiche, die Israel im Laufe der Jahrhunderte geknechtet haben, treten wie eine in sich geschlossene gottfeindliche G e s t a l t auf" (VOLZ, Jüdische Eschatologie von Daniel bis Akiba, 1 9 0 3 S. 81).

Der Ursprung von Staat und Kirche

55

lauter Gerechtigkeit und Seligkeit. Einen Zusammenhang zwischen beiden gibt es kaum: durch einen wunderbaren Akt Gottes wird der eine vernichtet und der andere ins Dasein gerufen". 1 Was ihnen die Gegenwart versagte, das erwarteten die Juden von der Zukunft. Sie waren einst eine Nation, ein Staat, ein Reich gewesen, sie hofften das wieder zu werden im künftigen Weltlauf: das Reich Davids sollte wieder aufgerichtet werden, dann werden die Heiden nicht mehr über das Volk Gottes herrschen, sondern ihm Untertan sein.

III. Das Christentum. 1. Die geschichtliche Entwicklung des israelitisch-jüdischen Altertums schließt ab, wie wir gesehen haben, mit einem Dualismus: auf der einen Seite steht die jüdische Gemeinde, das auserwählte Volk, das Volk Gottes, auf der andern Seite die heidnische Weltmacht, der dieses Volk zurzeit unterworfen ist. Nichts Gemeinsames verbindet die beiden; jede Berührung mit den Heiden macht die Juden unrein; es sind zwei verschiedene Welten, in denen die Juden und die Heiden leben. Wie verhält sich nun das Christentum in diesem Stück zum Judentum? Die Antwort auf diese Frage ist nicht schwer zu finden: es hat die Erbschaft des Judentums angetreten, es hat jenen Dualismus mit übernommen. Die Gründe dieser Erscheinung zu entdecken ist ebenfalls nicht schwer. Einmal ist das Christentum in die Welt eingetreten, wenn man so sagen darf, unter der Flagge des Judentums, es ist, menschlich betrachtet, aus diesem hervorgegangen. Die ersten Christen waren nicht bloß ihrer Abstammung nach Juden, sondern sie betrachteten sich auch, nachdem sie Jünger Jesu geworden waren, als Juden: sie waren strenge Gesetzesbeobachter und hielten sich auch eifrig zum Tempel; damit erfüllten sie die oberste Pflicht der Juden. 2 Man kann daher wohl sagen: „das ursprüngliche Christentum ist seiner Erscheinung nach christliches Judentum gewesen".3 Das wurde nun freilich anders, als im Laufe der Zeit das Christentum auch aus den Reihen des Heidentums sich rekrutierte, als den Judenchristen Heidenchristen zur Seite traten. Aber auch 1

2

SCHÜBEB a. a. 0 . B d . I I S. 5 0 2 .

Vgl. HARNACK , Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, 1902 (1. Aufl.) S. 32. ' HABNACK, Grundriß der Dogmengeschichte, 1898 (3. Aufl.)'S. 43.

56

Karl Richer

jetzt noch wird der Zusammenhang des Christentums mit dem Judentum mittelst einer Gedankenreihe aufrecht erhalten, die sich bei allen Schriftstellern des nachapostolischen Zeitalters findet: die Christen sind das wahre Israel, nicht die Juden; daher gebühren ihnen alle Ehrenprädikate des Volkes Israel; sie sind die zwölf Stämme, und so sind Abraham, Isaak und Jakob die Väter der Christen; die Gottesmänner des A. T. sind Christen gewesen.1 Und wenn sich die Christen frühe schon als ein dem römischen Weltreich gegenüberstehendes Ganzes fühlten, so ist dies nur daraus zu erklären, daß die Christen sich einfach an die Stelle Israels setzten und sich deshalb als Volk, als ein Ganzes empfanden, das dem römischen Staat als ein ebenbürtiger Faktor gegenübertrat. 2 Dazu kommt nun aber noch ein zweiter Grund, der viel schwerer ins Gewicht fällt. F ü r die Christen ergab sich dieselbe ablehnende Stellung zu dem damaligen Staat, dem römischen Weltreich, daraus, daß sie von derselben weltfremden Gesinnung erfüllt waren wie die Juden. Das römische Weltreich mit seinen Ordnungen und Einrichtungen ist für sie ein Stück Welt, das zeigt uns schon das viel zitierte Wort Jesu Matth. 22, 21: Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist! Dieses Wort hat den Gegensatz der jüdischen Gemeinde und des römischen Staates zur Voraussetzung: auf der einen Seite steht Gott, auf der anderen Seite der Kaiser, d. h. das Weltreich. Wir modernen Christen, jedenfalls die Protestanten, stehen auf dem Standpunkt, daß wir eben dadurch, daß wir dem Kaiser, d. h. der weltlichen Obrigkeit, geben, was des Kaisers ist, auch Gott geben, was Gottes ist, der Gehorsam gegen die Staatsgewalt und der Dienst Gottes bilden für uns keinen Gegensatz. Anders Jesus: für ihn ist der Kaiser, der Repräsentant des römischen Staates, auch der Repräsentant der Welt; man gehorcht ihm, man gibt ihm, was man ihm schuldig ist, aber doch nur, weil man muß, weil er die Gewalt auf Erden hat, aber man dient damit nicht Gott, der Gottesdienst ist etwas anderes. Es ist dieselbe Anschauung, die sich in dem Zuruf des Apostels 1 HARNACK, Die Mission usw. S . 4 9 Anm. 3 . GRÄFE, Das Urchristentum und das Alte Testament, 1907 S. 13 f. 2 Vgl. HARNACK, Die Mission usw., S. 190, der, soviel.ich sehe, als erster auf diesen Punkt hingewiesen hat und dazu die Bemerkung macht: „das große Problem ,Kirche und Staat' tritt schon hier in die Erscheinung, und die schroffe Form, die es hier empfing, ist maßgebend geworden für die folgenden Zeiten".

Der Ursprung von Staat und Kirche

57

Paulus an die Philipper kundgibt (3, 20): „Unser Vaterland ist im Himmel" (ijfiwv yäo r6 noliTiVfia kv ovoavolq vTiäo/ai). Derselbe Apostel bezeichnet (2. Kor. 4, 4) den Satan als den Herrn dieser Welt (ö ifeog TOV aimvog TOVTOV) und erklärt es der „Heiligen" für unwürdig, in einer Streitsache das Gericht der „Ungerechten" in Anspruch zu nehmen (1. Kor. 6, 1). Das erste Gleichnis des Hirten Hermas beginnt mit den Worten: „Ihr wisset, daß Ihr in der Fremde wohnet, Ihr Knechte Gottes; denn Euere Stadt ist weit weg von dieser Stadt!" Denselben Gedanken drückt Tertullian so aus: „Nichts ist uns mehr fremd als das Politische". 1 Bedarf es noch weiter Zeugnisse dafür, daß der ersten Christenheit der Staat als ein rein weltliches, profanes Institut erschien, als eine Einrichtung, mit der man besser nichts zu tun hat, als etwas Unreines, Sündhaftes, mit einem Wort als „Welt"? Welches Interesse sollten die Christen an einem Gemeinwesen nehmen, von dem sie geradeso wie die Juden fest überzeugt waren, daß es binnen kurzem vergehen und dem Reiche Gottes Platz machen werde? Es ist dieselbe eschatologische Stimmung, die wir bei den Christen wie bei den Juden treffen: „Wir haben hier keine bleibende Stadt (iro'Aiq), sondern die zukünftige suchen wir" (Brief an die Hebräer 13, 14). An dieser Grundanschauung vom römischen Weltreich und der irdischen Obrigkeit wird dadurch nichts geändert, daß mitunter eine wohlwollendere Beurteilung der römischen Staatsgewalt sich findet wie in den bekannten „staatsfreundlichen" Stellen Rom. 13, 1 ff., 1. Tim. 2, 1 ff., Tit. 3, 1, 1. Petr. 2, 13 ff. und anderen. Einmal erscheint darin Staat und Obrigkeit doch nur als notwendiges Übel, nicht als positives Gut, und sodann sind solche und ähnliche Äußerungen in den drei ersten Jahrhunderten auch wohl diplomatischer Klugheit entsprungen: sie sollen aufrührerische, revolutionäre Bestrebungen der Christen unterdrücken, daß sie nicht auch wie die Juden es getan, zum offenen Kampf gegen das Römerreich schreiten.2 1

Apolog. c. 38. Vgl. KNOPF, Das nachapostolische Zeitalter, 1905 S. 109 f.: „Ein gutes Teil dieser (loyalen) Haltung ist ohne Zweifel durch offizielle Apologetik veranlaßt. Man stellt sich loyaler und ergebener dar, als man tatsächlich im Innersten empfindet, weil man nicht unbefangen sprechen will und darf, sondern den Blick nach außen, auf die heidnischen Kreise, und nach oben, auf die Regierung, gerichtet hält. Den Vorwurf, Umstürzler, Feinde des Menschengeschlechtes und der staatlichen Ordnung zu sein, beantworteten die Christen damit, daß sie für den Staat und seine Lenker beteten. Im Hintergrunde mag bei dieser loyalen Haltung der Wunsch geschwebt haben, religio licita zu werden, und wenn nicht 1

58

Karl Rieker

So war also in diesem Stück kein Unterschied zwischen den Christen und den Juden: hier wie dort dieselbe Spannung zwischen der „Gemeinde" und dem Staate. Ja man kann wohl sagen: bei den Christen war diese Spannung noch größer als bei den Juden. Die jüdische Gemeinde ruhte stets auf dem Untergrunde einer Nation; auch im ersehnten Zukunftsreiche war es das Volk der Juden, das den Mittelpunkt dieses Reiches bildete und um das herum sich die anderen Völker gruppierten. Die Christengemeinde war grundsätzlich international, sobald sie die engen Schranken des Judenchristentums überwunden hatte: in Christo gab es keinen Juden noch Griechen, sondern alle waren eines (Gal. 3, 27). Während es beim Judentum immerhin nicht als ein Ding der Unmöglichkeit erscheinen mußte, daß es wieder ein nationaler und politischer Organismus werde, mit andern Worten, daß der zurzeit vorhandene Dualismus zwischen Kirche und Staat aufhöre, war dies beim Christentum ganz ausgeschlossen: es ist seinem innersten Wesen nach unpolitisch, international, kann es nie zu einem politischen Dasein bringen, steht in einem grundsätzlichen Gegensatz zu jeder Weltmacht. Am Ende der Tage steht auch für den Christen ein Keich, aber es ist so wenig national und politisch wie die Christengemeinde selbst. Die Spannung zwischen der Christengemeinde einerseits und dem römischen Weltreich andrerseits wurde aber nicht bloß von jener empfunden, sondern auch von diesem, wie in den bekannten sogen. Christenverfolgungen zutage tritt. Diese, zum Teil mehr gelegentlichen, lokalen, zum Teil aber auch allgemeinen, planmäßigen Charakters, haben etwas Auffallendes an sich, einmal wegen der sonst von der römischen Staatsgewalt bewiesenen Toleranz gegen fremde Kulte und sodann wegen der speziell dem Judentum erzeigten Schonung. Was den ersten Punkt betrifft, so ist zu bedenken, daß diese Toleranz den Polytheismus zur Voraussetzung hat: es stand jedem Angehörigen des römischen Staates frei, die Befriedigung seines religiösen Bedürfnisses zu suchen wo er wollte, aber doch immer unter der Bedingung, daß er den öffentlichen Göttern die ihnen gebührenden Ehren und Zeremonien nicht grundsätzlich verweigerte. Zu diesem offiziellen Kultus gehörte aber insbesondere der Kaiserkultus, der die national und religiös getrennten Völker des Reiches zu einer gemeinsamen ausdrücklich, so doch stillschweigend stete Duldung zu erlangen." — Die „staatsfreundliche' Seite des Christentums der ersten drei Jahrhunderte hat H A B N A C K in seinem Beitrag zur „Kultur der Gegenwart" Teil I Abteilung IV (1906) S. 129 bis 160 nachdrücklich betont.

Der Ursprung von Staat und Kirche

59

Gottesverehrung vereinte. Auch ist ja im Wesen des Polytheismus die Möglichkeit einer Kumulation verschiedener Kulte begründet, aber nicht im Wesen des Christentums: die Christen vermochten die Verehrung ihres Gottes nicht mit der der übrigen Götter, am allerwenigsten mit der des Kaiser-Gottes zu verbinden; die Anbetung anderer Götter war für sie eine Verleugnung des Einen wahren und lebendigen Gottes, deren sie sich nicht schuldig machen wollten. Auf die Römer aber machte dieses ablehnende Verhalten der Christen gegen die offiziellen Götter den Eindruck der Gottlosigkeit, des Atheismus. Was aber den anderen Punkt betrifft, so waren freilich die Juden so strenge Monotheisten und Gegner jedes polytheistischen Kultus wie die Christen, und doch erfuhren sie von der römischen Staatsgewalt eine ganz andere Behandlung als die Christen; ihnen wurde nicht wie diesen die Anbetung, Huldigung vor dem Bilde der Götter und des Kaisers zugemutet Wie ist das zu erklären? Einmal handelte es sich beim Judentum um eine alte, aus grauer Vorzeit stammende Religion; dem römischen Charakter aber war ein tiefer Respekt vor dem Bestehenden, Überlieferten, durch das Alter Geheiligten eigentümlich. Das Christentum dagegen war etwas Neues, eine Religion von gestern her, die den Römern keine Ehrfurcht einzuflößen imstande war. Sodann war die jüdische Religion eine nationale Religion, war der Glaube eines bestimmten Volkes, und hatte darum trotz alles propagandistischen Eifers nicht eigentlich einen offensiven Charakter. Anders die christliche Religion: sie war keine Volksreligion, sondern eine Weltreligion. Die Christen erschienen den Römern als eine internationale Gesellschaft, die darauf ausgeht, die Grundlage des bestehenden Staatswesens zu zerstören. Und hatten die Römer denn nicht von ihrem Standpunkt aus Recht? Machen wir uns einmal klar, was die Römer nur dunkel empfanden! Mit dem Christentum war eben in Beziehung auf das Verhältnis von Staat und Religion etwas ganz Neues in die Welt eingetreten. Bisher war der Staat, wie wir gesehen haben, zugleich Kirche gewesen, bisher hatte es nur ein Gemeinwesen, und zwar ein ebenso religiöses wie politisches, gegeben. Die Einheit von Staat und Religion hat das Christentum gesprengt. Es gab jetzt Menschen, die dem bisherigen Staate nicht mehr mit Leib und Seele angehörten, die der Obrigkeit über ihr Gewissen, ihren Glauben keine Gewalt einräumten, Menschen, die bereit waren, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist, aber doch nur unter der Bedingung, daß sie Gott geben durften, was Gottes ist.

60

Karl Rieker

Es gab jetzt Menschen, denen der Staat nicht mehr alles war, ja, die sich als Bürger eines anderen, viel höheren Reiches betrachteten und den Göttern des römischen Staates geradezu die schuldige Verehrung verweigerten. Wir können das Neue, das mit dem Christentum in die Welt eingetreten, gar nicht mehr so recht nachempfinden, weil es für uns etwas ganz Geläufiges und Gewohntes ist: eine Religion, die eine selbständige Macht ist, die sich weder an einen bestimmten Staat noch an eine einzelne Nation anlehnt, die etwas für sich ist: eine Wahrheit, eine Kraft, auch wenn der Staat sie verfolgt und unterdrückt. Dürfen wir uns da noch wundern, wenn das Christentum in die Erbschaft des Judentums getreten und den Dualismus von Kirche und Staat nicht bloß übernommen, sondern sogar noch verschärft hat? Die christliche Gemeinde tritt an die Stelle der jüdischen: auch als sie sich von ihr innerlich und äußerlich abscheidet, hält sie an jenem Dualismus fest. Der Gegensatz, in dem die Christen zum römischen Staate stehen, treibt sie dazu, sich eigene Ordnungen und Einrichtungen zu schaffen. Wir dürfen darin nicht einfach nur die Betätigung der Autonomie einer Körperschaft innerhalb des römischen Weltreiches erblicken, denn die christliche Kirche stand jedenfalls bis zu ihrer Anerkennung durch die Staatsgewalt nicht innerhalb des römischen Staates, sondern neben ihm, und das christliche Kirchenrecht will nicht im Rahmen des damaligen öffentlichen Rechts Bestimmungen treffen, sondern es tritt diesem als ein selbständiges Recht gegenüber. Das christliche jus sacrum ist nicht ein Teil des jus publicum, es tritt überhaupt nicht als ein menschliches, sondern als ein göttliches Recht auf. Und zwar erhalten nicht bloß die einzelnen Gemeinden eine Organisation nach Maßgabe des Kirchenrechts, sondern auch die Kirche als Ganzes, die Gesamtgemeinde, die Christenheit. Die vielen Bischöfe bilden eine Einheit, den Episkopat. Der Bischof ist nicht bloß das Haupt seiner Gemeinde und Diözese, er ist auch Organ der Gesamtkirche. Wo der Bischof ist, da ist die Kirche; wer sich nicht zu seinem Bischöfe hält, der gehört nicht zur Kirche. So steht die christliche Kirche im 3. und 4. Jahrhundert bereits dem römischen Weltreiche als eine einheitliche, geschlossene Organisation gegenüber; sie fühlt sich als eine dem Staate ebenbürtige Macht; sie ist in diesem Stück ganz in die Fußtapfen der jüdischen Gemeinde getreten. Mit genialem Blick hat dies WELLHAUSEN gesehen, wenn er sagt: „Die (christliche) Kirche ist die Fortsetzung der

Der Ursprung von Staat wnd Kirche

61

jüdischen Theokratie, von der sie den Namen entlehnt und als deren Nachfolgerin sie sich betrachtet, eine weltumfassende, religiöse Gemeinschaft, die im Gegensatz zu dem politischen Weltreiche steht".1 2. Unter Konstantin dem Großen trat die bedeutungsvolle Wendung in der Kirchenpolitik des römischen Staates ein. Die christliche Kirche sah sich damit vor eine wichtige Entscheidung gestellt: sollte sie nunmehr nach antiker Weise sich mit dem Staate zu einem ununterscheidbaren Ganzen, zu einem religiös-politischen Gemeinwesen verschmelzen, oder sollte sie ihre Selbständigkeit und Eigenart gegenüber dem Staate als eine besondere religiöse Organisation auch fernerhin behaupten, mit anderen Worten den Dualismus von Staat und Kirche fortsetzen? Die Entscheidung ist im Morgenlande anders ausgefallen als im Abendlande. Im Bereiche der morgenländischen Christenheit ist nach dem Vorbilde des altbyzantinischen Reiches eine derartige Verschmelzung von Staat und Kirche, von Nation und Christentum eingetreten, daß man wohl sagen darf: hier ist das antike Verhältnis von Staat und Religion erneuert und fortgesetzt, hier ist das jus sacrum wiederum zu einem Teil des jus publicum geworden. Genau betrachtet, stehen sich hier bis auf den heutigen Tag nicht zwei selbständige Organisationen, eine geistliche und eine weltliche, gegenüber, sondern es besteht nur ein Gemeinwesen, das ebenso geistlicher wie weltlicher Art ist. Soweit man da überhaupt von einer Kirche reden kann, bildet sie nur einen Teil des nationalstaatlichen Gemeinwesens, die dem Kultus zugewandte Seite des Staates.2 Anders im Abendland. Hier hat sich die Kirche in ihrer Selbständigkeit gegen den Staat behauptet, auch nachdem das Christentum Staatsreligion geworden war. Wenn ich recht sehe, sind es hauptsächlich zwei Faktoren gewesen, denen die Fortdauer des Dualismus von Staat und Kirche im Abendlande zugeschrieben werden muß Der eine Faktor ist die Institution des Papsttums. Am Bischöfe zu Rom hat die abendländische Christenheit frühe, vielleicht schon vom zweiten Jahrhundert an, einen festen Mittelpunkt gehabt, wie ihn die morgenländische Christenheit nie besaß. Die abend1

Israelitische und jüdische Geschichte, 4. Ausgabe S. 393. Vgl. bes. KATTENBÜSCH, Vergleichende Konfessionskunde Bd. I (1892). K A R L MÜLLER, Kirchengeschichte Bd. I (1892) S. 282 ff. — Daß es übrigens auch hier nicht an Selbständigkeitsbestrebringen fehlte, zeigt die lehrreiche Monographie von SCHWARZLOSE, Der Bilderstreit, ein Kampf der griechischen Kirche um ihre Eigenart und Freiheit, 1890. s

62

Karl Rieker

ländische Kirche, mit dem Bischof zu Rom an der Spitze, bildete eine Einheit, ein geschlossenes Ganzes und vermochte auch nach Konstantin ihre Selbständigkeit gegen die Staatsgewalt zu wahren. Erleichtert wurde ihr diese Aufgabe durch die Verlegung der Residenz des römischen Kaisers nach Konstantinopel: nun erschien der Bischof von Rom als der Vertreter römischer Kultur und römischen Rechts im Abendlande. Je mehr er an Macht und Ansehen in der abendländischen Christenheit stieg, um so eher konnte er als das gleichberechtigte geistliche Oberhaupt des Reiches neben das weltliche Oberhaupt, den Kaiser, treten. Bereits im Jahre 494 spricht der Papst Gelasius I. in einem Briefe an den Kaiser Anastasius aus, daß die Welt durch zwei Prinzipien regiert werde, durch die geheiligte Autorität der Päpste und durch die königliche Macht;1 und der Kaiser Justinian bezeichnet im Jahre 535 als die größten Gaben, die Gott den Menschen gegeben, das Sacerdotium und das Imperium.2 Diese beiden erscheinen so als gleichberechtigte Mächte im römischen Weltreiche: das Sacerdotium steht nicht mehr wie im alten Rom unter, sondern neben dem Imperium! Wie groß ist der Unterschied zwischen der Stellung des Patriarchen zu Konstantinopel und der des Papstes zu Rom! Jener repräsentiert die Unterordnung der Kirche unter die Staatsgewalt, dem pontifex maximus im alten Rom vergleichbar, dieser ihre Selbständigkeit gegen den Staat! Wenn es nach HABNACK (Wesen des Christentums S. 154) ein Verdienst des römischen Katholizismus ist, den Gedanken der Selbständigkeit von Religion und Kirche gegenüber den auch hier nicht fehlenden Ansätzen zur Staatsomnipotenz auf geistigem Gebiet aufrecht erhalten zu haben, so gebührt ein wesentlicher Anteil an diesem Verdienst der Institution des Papsttums. Der andere Faktor, der die Selbständigkeit der abendländischen Kirche miterhalten half, ist nicht eine Institution, sondern eine Person, der Kirchenvater AUGUSTIN. Er hat den Gegensatz zwischen der christlichen Kirche und dem römischen Weltreiche, der durch die Anerkennung des Christentums als Staatsreligion gewissermaßen gegenstandslos geworden war, aufs neue verschärft und vertieft, indem er den bis dahin festgehaltenen Unterschied zwischen der Kirche und dem Reiche Gottes aufhob und lehrte, die Kirche sei selbst das Reich Gottes. Zwar denkt Augustin dabei nicht an die sichtbare, hierarchisch verfaßte Kirche, die ecclesia quae per episcopos gubernatur, sondern 1 Ep. 12 bei THIEL, Epistolae Romanoram Pontificum. tom. I p. 349. * Nov. 6.

Der Ursprung von Staat und Kirche

63

an die unsichtbare Kirche, die ecclesia in qua sancti regnant.1 Allein mit Recht bemerkt HABNACK: „da es für Augustin schließlich doch nur eine Kirche gibt, so gilt alles, was von der Kirche gilt, auch von der empirischen Kirche. Zu allen Zeiten hat er den alten, längst auf die Kirche angewandten Terminus ,Reich (Stadt) Gottes' auf die katholische Kirche bezogen, dabei natürlich nicht daran denkend, daß die Kirche corpus permixtum sei, sondern verum."2 Dazu kommt nun noch eine andere Gleichsetzung, die Augustin vollzogen hat. Der civitas Dei steht gegenüber die civitas terrena: während jene auf Abel zurückgeht, ist diese von Kain gegründet; zu ihr gehören alle qui secundum hominem vivunt, die reprobi; sie ist die societas impiorum. Diese civitas terrena nun ist für Augustin im (heidnischen) Römerreich verkörpert; ja für ihn deckt sich in gewisser Weise der Begriff des weltlichen Reiches überhaupt mit dem der civitas terrena. Denn jeder Staat setzt den durch die Sünde verursachten Gegensatz zwischen Herrschenden und Beherrschten voraus (prima servitutis causa peccatum est).8 Augustin hat nur das Fazit der bisherigen Entwicklung gezogen. Die christliche Kirche hat immer schon eine Gemeinschaft für sich gebildet, wenn auch zuletzt nicht mehr im feindlichen Gegensatz zum Staate, so doch ihm gegenüber als Gegenstaat. Dies hat nun Augustin ins Bewußtsein erhoben und begrifflich formuliert, indem er dem Staate die Kirche als das Reich Gottes, als den wahren, vollkommenen Staat entgegensetzt. Dadurch hat er ein Doppeltes erreicht. Einmal ist dadurch das Selbstbewußtsein der Kirche mächtig gesteigert worden: sie steht jetzt da nicht bloß als eine Gemeinschaft, die alle Bedingungen ihrer Existenz und ihres Gedeihens in sich selber trägt, die selbst ein Reich, ein Staatswesen ist, sondern auch als eine Gemeinschaft, die jede andere Gemeinschaft auf Erden unendlich weit überragt und von ewiger Dauer ist, weil sie die civitas Dei, das Reich Gottes selbst darstellt. Sodann ist dadurch der dem ganzen Altertum unbekannte Begriff des Staates als eines rein weltlichen, ungöttlichen Gemeinwesens geschaffen worden. Ist die Kirche das Reich Gottes, dann bleibt für den Staat nichts anderes übrig als die Rolle eines Vertreters des Bösen: er ist die Organisation der

1

Siehe den Nachweis bei REUTER, Augustinische Studien 1887 S. 118 ff. • Lehrbuch der Dogmengeschichte Bd. III (1. und 2. Aufl.) S. 136. 8 Vgl. besonders LOOFS, Leitfaden der Dogmengeschichte, 4. Aufl. 1906 S. 413 f.

64

Karl Rieker

Sünde, des Unrechts, eine Schöpfung des Teufels, ein magnum latrocinium. Dem Einflüsse Augustins ist es zuzuschreiben, daß der urchristliche Dualismus von Staat und Kirche von der abendländischen Christenheit bis auf den heutigen Tag festgehalten worden ist. Ein Blick auf die morgenländische Christenheit lehrt uns, dies als ein Glück anzusehen und dem römischen Katholizismus dankbar zu sein, daß er die Selbständigkeit der Kirche gegen den Staat behauptet hat, denn er hat damit die Selbständigkeit der christlichen Religion gerettet und der abendländischen Kultur einen größeren Dienst geleistet, als der morgenländische Katholizismus in seinem Gebiete geleistet hat. Er hat das Christentum definitiv vom Staate und von der Nation emanzipiert und damit bestätigt, daß es sich in der christlichen Religion um ein Gut handle, das weit über alle irdischen Güter, auch über den im Altertum so hochgeschätzten Staat hinausliegt. Die Freiheit der Kirche, für die der römische Katholik bis auf den heutigen Tag so nachdrücklich eintritt, bedeutet für ihn die Freiheit der christlichen Religion von weltlichen Mächten, insbesondere von dem Staate, den er nach Augustins Vorgang immer noch als eine sündhafte, jedenfalls als eine im Vergleich mit der Kirche minderwertige Gemeinschaft schätzt. Nicht dagegen handelt es sich für ihn dabei um Gewissensfreiheit, um die Religionsfreiheit des Individuums; diese ist dem römischen Katholizismus so fremd wie noch dem altlutherischen und altreformierten Protestantismus. Eine prinzipielle Lösung jenes Dualismus ist aber auf dem Standpunkte des römischen Katholizismus nur durch die völlige Unterordnung der Staatsgewalt unter die Kirchengewalt möglich; die Bulla Unam sanctam hat diesen Standpunkt zwar schroff, aber konsequent formuliert. Für das Mittelalter war der Gegensatz zwischen Staat und Kirche bis zu einem gewissen Grade insofern aufgehoben, als das heilige römische Reich deutscher Nation ebenso geistlichen wie weltlichen Charakters war, nur freilich, daß es sich dann innerhalb dieses Verbandes wieder um das Verhältnis der beiden Zentralgewalten, der weltlichen und der geistlichen, handelte. Immerhin zeigt sich das ganze Mittelalter hindurch das Bestreben, den Dualismus von Staat und Kirche auf die eine oder auf die andere Weise in einer höheren Einheit aufzulösen (in der Sprache des Mittelalters: ad unum reducere). 3. Wie verhält sich nun der P r o t e s t a n t i s m u s zu diesem Gegensatz? Das ist nun freilich kein eindeutiger Begriff; hier handelt es sich um den alten echten Protestantismus, wie er uns im Altluthertum und im Kalvinismus entgegentritt, nicht um den modernen

Der Ursprung von Staat rmd Kirche

65

Protestantismus, wie er sich seit dem Ausgange des 17. Jahrhunderts entwickelt hat.1 a) Die Stellung des altlutherischen Protestantismus zu dem aus dem Mittelalter überlieferten Dualismus von Staat und Kirche ist durch zweierlei bestimmt: einmal durch eine andere Schätzung des Staates und der weltlichen Obrigkeit, und sodann durch eine andere Auffassung der Kirche, als sie der mittelalterliche, unter dem direkten Einfluß von Augustin stehende Katholizismus besitzt. Der Staat und die weltliche Obrigkeit werden vom Altluthertum höher eingeschätzt als von Augustin und dem römischen Katholizismus: sie sind ein positives Gut, nicht bloß ein notwendiges Übel. Die weltliche Obrigkeit ist eine religiöse Institution und hat ihren selbständigen, zwar nicht in der Offenbarung Gottes, aber in der Lex naturae, dem von Gott geordneten natürlichen, vernünftigen, allgemeinen Sittengesetz wurzelnden Beruf als Custos utriusquae tabulae, d. h. des die Lex naturae zum Ausdruck bringenden Dekalogs. Was aber die Barche betrifft, so ist sie nicht identisch mit der sichtbaren Anstalt, sondern die auf die Predigt des Evangeliums und die rechte Sakramentsverwaltung gegründete, unsichtbare, d. h. nur für den Glauben wahrnehmbare Gemeinschaft der Gläubigen. Es gibt weder eine sichtbare allgemeine Kirche, noch sichtbare Einzelkirchen, denn auch die Landeskirchen sind keine selbständigen Anstalten, sondern nur die geistliche Seite des lutherischen Religionsstaates. Der Religionsstaat, und zwar der konfessionelle Religionsstaat ist diejenige Organisation, in welcher der lutherische Protestantismus die Aufhebung des Dualismus von Staat und Kirche findet. Im lutherischen Religionsstaat sind Staat und Kirche eins geworden in der Idee eines von christlichen Gedanken und nach den Grundsätzen der lutherischen Lehre geleiteten Gemeinwesens, dessen Obrigkeit im Gehorsam gegen Gottes Wort und das Bekenntnis der Kirche ihres göttlichen Berufes waltet und dabei von der Geistlichkeit sich beraten läßt. Diese Lösung des Dualismus von Staat und Kirche war nun aber mit so schweren Nachteilen erkauft, daß die Unhaltbarkeit des lutherischen Religionsstaates von der Mitte des 17. Jahrhunderts an 1

Ich kann mich nur dem anschließen, was T R Ö L T S C H in seinem Vortrag über „Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt" (München und Berlin 1906) S. 13 ff. über den Begriff des Protestantismus ausführt Festschrift f. E.

FKIBDBERG.

5

66

Karl Rieker

immer deutlicher zutage trat. Einmal war das Christentum, das die lutherische Obrigkeit schützen und aufrecht erhalten sollte, im Sinne eines bestimmten dogmatischen Standpunktes gemeint: das Christentum der lutherischen Dogmatik, behaftet mit all der Einseitigkeit und Härte des altlutherischen Standpunktes und darum für den modernen Menschen unerträglich. Sodann bot die ganze Religions- und Kirchenyerfassung des altlutherischen Staatswesens keine rechtliche Garantie für die Selbständigkeit und Unantastbarkeit der christlichen Wahrheit: die Kirche war in einer Weise im Staate aufgegangen, daß sie lediglich einen Teil des Staates bildete, die geistlichen Behörden, Superintendenten und Konsistorien, waren landesherrliche Behörden, die von der weltlichen Obrigkeit angestellt und instruiert wurden. Daß darin eine große Gefahr für die Selbständigkeit des Evangeliums lag, zeigt am besten der Territorialismus: in ihm setzt sich die Theorie und Praxis des lutherischen Religionsstaates fort, aber ohne ihre religiösen Motive und Ziele; das altlutherische jus circa Sacra wird aus einer heiligen Pflicht der weltlichen Obrigkeit zu einem profanen Rechte, zu einer pars superioritatis territorialis. Und endlich war der altlutherische Religionsstaat eine Zwangsanstalt so gut wie die mittelalterliche katholische Kirche, und die landeskirchliche Gebundenheit des Einzelnen schloß jede Gewissensfreiheit aus. b) Der K a l v i n i s m u s sucht die Aufhebung des Dualismus von Staat und Kirche auf anderem Wege zu erreichen: in der Form der Theokratie, d. h. der völligen Unterordnung des gesamten privaten nicht bloß, sondern auch öffentlichen Lebens unter die Herrschaft des göttlichen Wortes. Jener Dualismus ist also hier auf Kosten des Staates beseitigt, nicht, wie im Altluthertum, auf Kosten der Kirche. Es hängt dies mit dem altreformierten Kirchenbegriff zusammen. Ganz und gar ausgeschlossen erscheint es vom kalvinischen Standpunkte, daß die Kirche, das Reich Christi auf Erden, die Gemeinschaft der Heiligen, je im Staat aufginge oder auch nur lediglich die eine, geistliche Seite des Gemeinwesens darstellte. Die sichtbare Kirche ist dem Reformierten ein Lebensgebiet für sich, ein selbständiger Organismus: sie hat ihr eigenes Oberhaupt, Jesum Christum; sie hat ihre eigenen Regeln, nicht wandelbare Gesetze von Menschen, sondern die für alle Zeiten gültigen Vorschriften der heiligen Schrift; sie hat ihre eigenen Behörden, die Presbyterien und Synoden, ihre eigenen Beamten, die Pfarrer, Ältesten und Diakone; sie hat ihre eigene Jurisdiktion, die geistliche Zucht- und Strafgewalt. Sie ist mit einem Worte ein Gemeinwesen für sich, eine Organisation neben der staatlichen! Auf der anderen Seite schätzt der Kalvinist den

Der Ursprung von Staat und Kirche

67

Staat und die weltliche Obrigkeit lange nicht so hoch ein wie der Lutheraner: der Staat ist an und für sich nur ein Stück Welt und tritt lediglich dadurch, daß er sich der Regel des göttlichen Gesetzes unterwirft, zum Reiche Christi in ein näheres positives Verhältnis; die weltliche Obrigkeit ist nichts weiter als das brachium seculare, eine Hilfsorganisation der Kirche. Auch hier findet sich wie bei den Römisch-katholischen die Vergleichung von Staat und Kirche mit Leib und Seele des Menschen. Kalvins Ideal ist: das ganze Gemeinwesen soll ein Gottesstaat auf Erden, das ganze Volk ein heiliges Gottesvolk sein; dazu mit ihrer Zwangs- und Strafgewalt zu helfen, ist die heilige Pflicht der weltlichen Obrigkeit. Wie aber, wenn sie sich dessen weigert, wenn in der Politik des Staates die weltlichen Interessen über die religiös-kirchlichen die Oberhand gewinnen und die theokratische Ordnung sich nicht durchführen läßt? Dann heißt die Losung des Kalvinismus: Trennung von Staat und Kirche, Freiheit und Unabhängigkeit der Kirche! Denn das ist ja klar: eine Staatsgewalt, die Christum nicht als ihren Herrn anerkennt, die sich nicht unter die Autorität des göttlichen Gesetzes beugt, ist für den Kalvinisten ein Stück Welt; ihr kann er keinerlei positive Einwirkung auf die Regierung und Verwaltung der Kirche einräumen, denn das bedeutete ja in diesem Falle die Herrschaft der Welt über das Reich Christi. Darum ist es unter solchen Umständen für die Kirche besser, wenn sie ganz auf sich selber gestellt ist, wenn sie in der Lage ist, ausschließlich nach ihren Gesetzen zu leben, und der Staat sich darauf beschränkt, ihr den allgemeinen Rechtsschutz zu gewähren, sich aber im übrigen jeglichen Eingriffs in das kirchliche Gebiet enthält und sich auf das Zeitliche, Diesseitige, Materielle beschränkt. 1 4. Wir sind damit bereits zur Neuzeit gelangt und haben nur noch die Frage zu erörtern: Wie stellt sich der m o d e r n e S t a a t zum Dualismus von Staat und Kirche? Die Antwort auf diese Frage läßt sich nicht in eine einfache und glatte Formel fassen. Zunächst kann man sagen: der moderne Staat hat jenen Dualismus überwunden, sofern er in seinem Gebiete souverän ist und keine zweite oberste Gewalt neben sich anerkennt, mit anderen Worten sofern er für sich die Kirchenhoheit, das jus circa sacra, in Anspruch nimmt, und demgemäß die Kirchen und Religionsgesellschaften in ' Nähere Ausführungen über das Verhältnis von Staat und Kirche im Gebiet des Kalvinismus finden sich in meiner Schrift „Grundsätze reformierter Kirchenverfassung" 1899 S. 174—205. 5*

68

Karl Rieker

rechtlicher Hinsicht weder über ihm, noch neben ihm, sondern unter ihm stehen. Das bedeutet: welche rechtliche Stellung die Kirche im Staate einnehmen soll, das bestimmt nicht die Kirche, sondern der Staat. Die Kirche steht in rechtlicher Hinsicht zur Disposition des Staates, weil er die einzige oberste Gewalt in seinem Gebiete ist.1 Es ist deshalb falsch, die sogenannte Trennung von Staat und Kirche, wie sie in der nordamerikanischen Union, in Belgien und neuestens auch in Frankreich besteht, so zu verstehen, als sei hier die Kirche dem Staate koordiniert, als gebe es hier zwei gleichberechtigte Organisationen nebeneinander: Staat und Kirche. Denn auch in diesen Staatswesen steht die Kirche innerhalb des Staates, nicht neben ihm, empfängt von ihm die Regelung ihrer rechtlichen Stellung inneihalb des Staatsgebiets, und wenn sie auch noch soviel Freiheit und Selbständigkeit genießt, so untersteht sie zum mindesten dem staatlichen Vereins- und Versammlungsrecht. Es ist daher diese ganze Bezeichnung „Trennung von Staat und Kirche" irreführend, weil sie kein selbständiges Prinzip ausdrückt, etwa im Gegensatz zu einem Prinzip der Verbindung von Staat und Kirche, denn die Ordnung des Verhältnisses von Staat und Kirche in den einzelnen Staaten unterscheidet sich heutzutage nur noch gradweise, nicht mehr grundsätzlich, weil für alle das Prinzip der Souveränität des Staates auch im Verhältnis zur Kirche gilt. Es wäre nun aber falsch, daraus den Schluß zu ziehen, daß damit der moderne Staat zur Einheit und Einheitlichkeit des antiken Staates zurückgekehrt sei, der, wie wir gesehen haben, den Dualismus von Staat und Kirche ebenfalls nicht kennt. Zu einer solchen Einheit zurückzukehren, hindert den modernen Staat ein Dreifaches. Einmal und vor allem ist der moderne Staat nicht wie der antike ein geistlich-weltliches, sondern ein lediglich weltliches Gemeinwesen, anders ausgedrückt: er ist nicht zugleich Staat und Kirche, sondern bloß Staat; er hat keine geistliche, religiöse, sondern ausschließlich weltliche, diesseitige Zwecke und Ziele. Dadurch unterscheidet er sich nicht bloß vom antiken, sondern auch vom Staat des Mittelalters und der Reformationszeit.2 1

Di,e Konkordate freilich bedeuten einen Abfall von diesem Prinzip, das die auf ein jus divinum sich berufende römisch-katholische Kirche nicht anzuerkennen vermag. 4 Vgl. dazu RIEKER, Die rechtliche Stellung der evangelischen Kirche Deutschlands, 1893 S. 230 ff, TRÖLTSCH, in „Die Kultur der Gegenwart", Teil I, Abt. IV 8. 392 f.

Der Ursprung von Staat und Kirche

69

Sodann hat der moderne Staat es meist nicht mit e i n e r alleinseligmachenden Kirche zu tun, sondern mit einer Mehrheit, mitunter Vielheit von Kirchen, ja auch mit nichtchristlichen Religionsgesellscbaften, von denen jede behauptet, daß sie die religiöse Wahrheit wenn auch nicht ausschließlich, so doch in einer höheren und reineren Form vertrete als die anderen. Da ist-es ihm unmöglich, sich mit einer von ihnen zu identifizieren und er sieht sich zur Neutralität gegenüber den verschiedenen Religionsgesellschaften in seinem Gebiet geradezu genötigt.1 Endlich ist ihm die Rückkehr zum Standpunkt des antiken Staates dadurch verwehrt, daß er der Staat eines überwiegend christlichen Volkes ist und als solcher nicht die antike Einheit von Staat und Religion herstellen kann, ohne die Gefühle seiner christlichen Untertanen aufs tiefste zu verletzen. Besteht das Neue, das mit dem Christentum in die Welt eingetreten ist, eben in der Erkenntnis, daß die religiöse Wahrheit nicht an die Grenzen des Staates oder der Nation gebunden ist und keinen Gegenstand obrigkeitlichen Zwanges bildet, so ergibt sich daraus für den modernen Staat das selbstverständliche Gebot, seinen Bürgern in Sachen der Religion das größtmögliche Maß von Freiheit zu gewähren, das sich mit der öffentlichen Ordnung verträgt, und da, wo das Gewissen in Frage steht, sich jeglichen Zwanges zu enthalten. Damit ist zugestanden, daß der moderne Staat trotz seiner Souveränität den Dualismus von Staat und Kirche doch nicht ganz überwunden hat. Er dauert fort in einer doppelten Gestalt. Einmal genießen in fast allen westeuropäischen Staaten und in den überseeischen Gemeinwesen, die ihre Kultur von ihnen empfangen haben, die Kirchen und Religionsgesellschaften für ihre inneren Angelegenheiten, die in den einzelnen Staaten verschieden abgegrenzt werden, das Recht der Autonomie, d. h. der Selbstgesetzgebung und Selbstverwaltung, sei es nun, daß sie dieses Recht als einfache Vereine oder als Körperschaften des öffentlichen Rechtes genießen. Die Staatsgewalt enthält sich auf diesem Gebiete grundsätzlich jeglichen Eingriffes und beschränkt sieb auf die Wahrnehmung ihrer Kirchenhoheitsrechte. Sodann ist in dieser Staatengruppe dem Einzelnen Glaubens- und Gewissensfreiheit gewährleistet; er hat also ein Gebiet für sich, in das der Staat sich nicht eindrängt, vor dem er Halt nfiacht. 1 Vgl. Riekeb a. a. 0. S. 241 ff. Tböltsch, Die Trennung von Staat und Kirche, der staatliche Religionsunterricht und die theologischen Fakultäten, 1907 S.13 ff.

70

Karl Rieker

Das Individuum geht im Staate nicht mehr auf, ist nicht bloß Staatsbürger, sondern auch etwas für sich. Die moderne Entwicklung hat somit den Dualismus von Staat und Kirche insofern überwunden, als heutzutage die Kirche nicht neben dem Staate steht als eine ihm in rechtlicher Hinsicht gleichstehende Organisation, sondern innerhalb des Staates und der staatlichen Rechtsordnung, und sie hat ihn insofern nicht überwunden, als es nach wie vor eine Kirche oder richtiger Kirchen gibt, der Einzelne also nicht bloß dem Staate angehört, sondern auch einer Kirche. Ist nun anzunehmen, daß die weitere Entwicklung darüber hinaus, zur völligen Aufhebung jenes Dualismus führen werde? Bekanntlich war der Theologe R I C H A B D R O T H E dieser Meinung. Ihm ist der Staat in seiner Vollendung die allumfassende religiös-sittliche Lebensgemeinschaft, die Kirche die nur und ausschließlich religiöse Gemeinschaft, die dazu bestimmt ist, immer mehr dem Staate Platz zu machen und schließlich ganz zu verschwinden, denn die Religion, und zumal die absolute Religion, das Christentum, ist im Leben der Menschen normalerweise nichts Abgesondertes, für sich allein Bestehendes, sondern durchdringt und erfüllt alle Verhältnisse wie die Seele den Leib. Die Existenz des Christentums als Kirche bedeutet aber eben seine Verkümmerung und Verengung, seine Beschränkung auf e i n e besondere Seite des menschlichen Lebens, die religiöse. Aus dieser ihm nicht angemessenen Gestalt ist das Christentum durch die Reformation befreit worden. Sie hat die kirchliche Form des Christentums im Prinzip aufgehoben und an ihre Stelle die sittlichpolitische gesetzt, mit anderen Worten: Träger, Organ des Christentums ist jetzt nicht mehr die Kirche, sondern der Staat, die politische Gemeinschaft als solche; auf ihn gehen mehr und mehr die Funktionen über, die bisher die Kirche ausgeübt hat: „Wenn nun so der Staat in seiner Vollendung überhaupt das menschliche Leben in seiner vollständigen Totalität umschließt: wo bleibt dann noch ein Raum übrig für die Kirche, wo auch nur noch ein Punkt, auf dem sie sich anbauen könnte neben dem Staat? — Der vollendete Staat schließt die Kirche schlechthin aus." 1 An dieser Theorie ist viel Wahres und Berechtigtes. Das Auseinandergehen von Staat und Kirche muß uns als etwas Anormales 1 RICHABD ROTHE, Die AnfäDge der christlichen Kirche und ihrer Verfassung. Erster Band 1837 S. 46 f.

Der Ursprung von Staat und Kirche

71

erscheinen: an die Stelle einer den ganzen Menschen umfassenden Gemeinschaft treten zwei, von denen jede die Hälfte des Menschen für sich in Anspruch nimmt und ihn dadurch in Gewissenskonflikte bringt. Zu leugnen ist auch nicht, daß der Staat im Laufe der Zeit der Kirche immer mehr Aufgaben abgenommen hat, so daß ihr Arbeitsfeld heutzutage viel kleiner ist als im Mittelalter: man denke an die Armenpflege, den Jugendunterricht. Auf der anderen Seite aber spricht doch so manches gegen jene Theorie: vor allem die Vielheit der Kirchen und Konfessionen, in die das Christentum auseinandergegangen ist. Sollen sie alle im Staat aufgehen oder nur eine von ihnen, und welche soll dies dann sein? Es ist bezeichnend, daß R O T H E immer nur von „der Kirche" spricht, wie wenn es nur eine gäbe. Ehe seine Hoffnung sich verwirklichen kann, müßte vor allem der große konfessionelle Gegensatz, an dem wir zumal in Deutschland schwer zu tragen haben, verschwunden sein. Nun ist aber nach menschlicher Voraussicht nichts so dauerhaft wie der Gegensatz von Katholizismus und Protestantismus. Sodann aber: soviel auch der Staat der Kirche schon abgenommen hat und noch abnehmen wird, zweierlei wird er ihr stets belassen müssen: den Kultus und den Religionsunterricht. Zwar erklärt R O T H E auch sie für wesentliche Funktionen der menschlichen Gemeinschaft als solcher, des Staates.1 Allein das bedeutete doch die rollständige Verleugnung des modernen Staatsbegriffes, der gerade die Weltlichkeit des Staates betont und die Pflege der Religion als etwas dem Staate Fremdes betrachtet. Das bedeutete die Rückkehr zum Standpunkt des, antiken Staates, der nicht bloß Staat, sondern auch Kirche ist! Endlich aber, was am meisten gegen R O T H E S Theorie spricht: die Gewissensfreiheit kann nicht bestehen, wenn der Staat zugleich Kirche ist. Der Staat ist seinem Wesen nach eine Zwangsanstalt; soll er zugleich Kirche sein, dann erstreckt sich sein Zwang auch auf das Gebiet, auf dem der moderne Mensch den Zwang am wenigsten ertragen kann-, aul das Gebiet des Gewissens und Glaubens, dann ist es um die Selbständigkeit der Religion geschehen, dann geben wir das wertvollste Gut preis, das uns das Christentum gebracht hat; Wir werden also der Kirche als einer besonderen religiösen Organisation nie entbehren können: ihre Existenz gewährleistet uns die Selbständigkeit des religiösen Gutes, seine Unabhängigkeit von jedem weltlichen Gute, auch vom Staate. Nicht als ob das Christen1

A . a. O. S. 32—37.

72

Karl Kieker: Der Ursprung von Staat und Kirche

tum nicht auch ohne diese sichtbare Organisation zu existieren vermöchte: welcher Christ möchte daran zweifeln? Aber seine Existenz wird ihm durch sie erleichtert, womit nicht geleugnet werden soll, daß diese Existenzform gewisse Gefahren für die christliche Religion in sich birgt, um derentwillen eben R O T H E das Aufhören der Kirchengestalt des Christentums herbeisehnte. Damit ist aber auch die Fortdauer des Dualismus von Staat und Kirche gegeben: R O T H E S „vollendeter Staat, der die Kirche schlechthin ausschließt", wird nie erscheinen.

Neue Beiträge zum Austritt aus der Kirche. Von

Arthur B. Schmidt in Gießen.

Die Frage des Austritts aus der Kirche hat gerade in den letzten Jahren die öffentliche Meinung stärker beschäftigt. Es war nicht nur der Kampf, der in Rußland gegen die bisherige starre Fesselung des einzelnen an die dominierende Staatskirche geführt wurde; auch in Deutschland stand die Frage seit Jahren dauernd auf der Tagesordnung. Wohl war in Deutschland nicht erst die Gewissensfreiheit in hartem Ringen zu erkämpfen. Sie stand längst als eines der Grundrechte des deutschen Volkes fest und seit Jahrzehnten galt in der größeren Zahl der deutschen Einzelstaaten eine liberale Gesetzgebung, die die Garantien für die volle freie Loslösung von der bisherigen Religionsgemeinschaft schuf. Was die Frage des kirchlichen Austritts nicht von der Tagesordnung verschwinden ließ, war ihre Aufnahme in den Toleranzantrag des Zentrums und der Streit der Meinungen, der zusammen mit dem Toleranzantrag auch diesen Punkt immer von neuem in die Arena zog. Neben diesem Kampfe, der sich im Rahmen der Reichstagsverhandlungen und der Tagespresse abspielte, ging eine ungleich stillere, stetige Entwicklung in der Gesetzgebung derjenigen deutschen Einzelterritorien, die bisher eine staatskirchengesetzliche Regelung des Bekenntniswechsels entbehrten. Eine von mir im Jahre 1893 veröffentlichte Monographie1 suchte 1 A B T H U B B. SCHMIDT, Der Austritt aus der Kirche; eine kirchenrechtliche und kirchenpolitische Abhandlung. Leipzig (Duncker u. Humblot) 1893. Die Literatur hat die Ergebnisse dieser Arbeit überwiegend angenommen. Die folgenden Untersuchungen zitieren die Monographie des Jahres 1893 abgekürzt mit „Austritt". Als Sonderarbeit auf gleichem Gebiete ist nur ein Aufsatz von K . KÖHLER „Über den Austritt und Ausschluß aus der Kirche" in der Deutschen Zeitschr. f. Kirchenrecht (DZK.) Bd. 3 (1893) S. 1—29 zu verzeichnen. Er erschien unabhängig wenige Wochen später. (Vgl. hierzu auch die Ausführungen des gleichen Verfassers in s. Lehrbuch des deutsch-evangel. Kirchenrechts, Berlin

74

Arthur B. Schmidt

den in Deutschland geltenden Rechtszustand für unsere Frage festzustellen. Sie sammelte das zersplitterte partikulare deutsche Gesetzesmaterial und bemühte sich, durch Kritik und Vorschläge den Boden de lege ferenda vorzubereiten. Mannigfache Anfragen und Mitteilungen aus der Praxis ließen in den folgenden Jahren den angesponnenen Faden nicht abreißen. Hier knüpfen die vorliegenden Untersuchungen an. Sie berichten kurz über das, was der Toleranzantrag für unsere Frage gebracht hat (I), stellen die Ergebnisse der deutschen partikularen Gesetzgebung in dem letzten anderthalb Jahrzehnt zusammen (II) und fügen einen Uberblick über die wichtigere ausländische Gesetzgebung hinzu (III).

I. Die Vorschläge des Toleranzantrags. Der Antrag der Zentrumsfraktion des Reichstags, der am 23. November 1900 unter den Namen der Abgeordneten LIEBER, GRÖBEB, PICHLER, SPAHN und BACHEM als „Entwurf eines Reichsgesetzes, betr. die Freiheit der Religionsübung" vorgelegt wurde, brachte in §§ 3 und 4 eingehendere Bestimmungen über den Austritt aus der Kirche. Beide Paragraphen waren im wesentlichen dem geltenden preußischen Rechte (Ges. v. 14. Mai 1873, betr. den Austritt aus der Kirche §§ 1, 2, 3) nachgebildet. Als Entscheidungsalter sah § 2 Abs. 2 des Entwurfs das vollendete 12. Lebensjahr vor. Die Kommissionsverhandlungen, wie die Verhandlungen im Reichstagsplenum, schufen nur wenige Abänderungen. Wichtig war, daß das Entscheidungsalter auf das vollendete 14. Lebensjahr heraufgesetzt wurde. Dem § 3 wurde ferner als vierter Absatz die Vorschrift hinzugesetzt, das Verfahren solle kosten- und stempellos sein. Alle übrigen Abänderungen, die in § 3 getroffen wurden, waren lediglich redaktioneller Natur. Endlich wurde dem 1895 S. 45ff.) Eine zusammenfassende, bis auf die neueste Zeit vervollständigte Darstellung s. bei E. FRIEDBERG, Lehrbuch des kathol. u. evangel. Kirchenrechts 5. Aufl. (Leipzig 1903) S. 94; vgl. hierzu auch K. RIEKER, Die rechtliche Stellung der evangel. Kirche Deutschlands (Leipzig 1893) S. 383 ff. Über neuere partikularrechtliche Literatur 3. u. S. 83 Anm. 3. — Für das Problem der religiösen Erziehung der Kinder das mannigfach in unsere Fragen hinübergreift, verweise ich von neueren Veröffentlichungen nur auf K. A. GEIGER, Die religiöse Erziehung der Kinder im deutschen Rechte (Paderborn 1903) und 0. SCHWAAB, Zur Frage der religiösen Kindererziehung (Tübing. Diss. 1906). Beide Arbeiten stellen die neuere Literatur und die neuere Rechtsentwicklung Deutschlands zusammen. Einzelheiten hierfür s. gleichfalls u. S. 83 Anm. 3. — Von Interesse für unsere Fragen ist auch FREYER , Der Staat und die Kirchensteuer in Deutschland (ArchKathKR. Bd. 87, 1907 S. 407 ff.).

Neue Beiträge »um Austritt aus der Kirche

75

§ 4 ein § 4a angefügt, der trotz Nichtmitgliedschaft eine Zahlungspflicht vorschreibt, „wenn ein gemeinschaftlicher Genuß oder ein besonderes Rechtsverhältnis besteht."1 Die so gewonnene Fassung wurde bei allen späteren Wiederholungen des Toleranzantrags in den Jahren 1903/04, 1905/06 und 1907 beibehalten.2 Sie hat folgenden Wortlaut: § 6. Nach beendetem vierzehnten Lebensjahre steht dem Kinde die Entscheidung über sein religiöses Bekenntnis zu. § 7. Der Austritt aus einer Religionsgemeinschaft mit bürgerlicher Wirkung erfolgt durch ausdrückliche Erklärung des Austretenden gegenüber der Religionsgemeinschaft. Die Erklärung ist dem Amtsgerichte des Wohnorts gegenüber abzugeben; von diesem ist sie der zuständigen Behörde der Religionsgemeinschaft mitzuteilen. Die Erklärung kann schriftlich in öffentlich beglaubigter Form abgegeben werden. Über den Empfang der Erklärung ist eine Bescheinigung zu erteilen. Das Verfahren ist kosten- und stempelfrei. § 8. Die Abgabe der Austrittserklärung bewirkt, daß der Ausgetretene zu Leistungen, welche auf der Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft beruhen, nicht mehr verpflichtet wird. Leistungen, welche bei dem Inkrafttreten dieses Gesetzes kraft besonderen Rechtstitels entweder auf bestimmten Grundstücken haften, oder von allen Grundstücken einer gewissen Klasse in dem Bezirk ohne Unterschied des Besitzers zu entrichten sind, werden durch die Austrittserklärung nicht berührt. § 9. Niemand kann zu Leistungen an eine Religionsgemeinschaft, zu welcher er nicht gehört, herangezogen werden, wenn nicht ein gemeinschaftlicher Genuß oder ein besonderes Rechtsverhältnis besteht.

Es ist bezeichnend für die in Deutschland gegenwärtig unbedingt herrschende Auffassung, daß über die materielle Seite der Frage des kirchlichen Austritts volles Einverständnis besteht. Die ängstliche Zurückhaltung, die ihr gegenüber in den 70er Jahren und noch bis gegen die Wende des 19. Jahrhunderts herrschte, die Furcht vor gefährlicher Propaganda und vor Massenaustritten ist verschwunden. 1

Der Toleranzantrag vom 23. Nov. 1900 und die Reichstagsverhandlungen aus den Jahren 1900—1902 werden von mir nach dem Abdrucke bei H E I N E S , „Der sog. Toleranzantrag" im ArchKathKR. zitiert: Antrag mit Begründung, 1. Beratung vom 5. Dez. 1900, Kommissionsbericht 8. im ArchKathKR. 3. F. Bd. 6 (Bd. 82 der ges. Folge) 1902, 2. (selbständig paginiertes) Quartalheft (— mit der von H E I N E R veranstalteten Sonderausgabe in den Seitenzahlen übereinstimmend —); 2. Beratung (29. Januar, 1., 2., 3. Mai 1902) s. im ArchKathKR. 3. F. Bd. 8 (Bd. 84 der ges. Folge) 1904 S. 517ff., 3. Beratung (5. Juni 1902) a. a. 0 . S. 771 ff. * V o r l a g e 1903/04 s. Drucks, d. Reichstags 11. Legislaturper. 1. Session 1903/05 Bd. 1 Nr. 22, Beratung 133., 136., 142., 144. Sitz. (Stenogr. Ber. 1903/05 Bd. 6), Bericht der Kommission, Drucks. Bd. 11 Nr. 791. — V o r l a g e 1905/06: Drucks. 11. Legislaturper. 2. Session 1905/06 Bd. 3 Nr. 40, Beratung 27. Sitz. (Stenogr. Ber. 1905/06 Bd. 1), 32. Sitz. (a. a. 0 . Bd. 2). — V o r l a g e 1907: Drucks. 12. Legislaturper. 1. Session 1907 Nr. 48.

76

Arthur

B.

Schmidt

Eine Auskunft, wie sie Verfasser noch in den 90er Jahren offiziell erhielt, der Austritt ohne Ubertritt zu einer anderen Religionsgemeinschaft sei in dem in Betracht kommenden Bundesstaate unmöglich, würde heute undenkbar sei. Zu lebhafteren Auseinandersetzungen kam es bei der parlamentarischen Behandlung des Toleranzantrags nur über die Frage der Kompetenz. Im Namen des Bundesrats erklärte der Reichskanzler in der Reichstagssitzung vom 5. Dezember 1900, die verbündeten Regierungen sähen sich außerstande, einem Antrage zuzustimmen, der die verfassungsmäßige Selbständigkeit der Bundesstaaten auf einem Gebiete beschränken wolle, das die Einzelstaaten der Zuständigkeit ihrer Landesgesetzgebung vorbehalten müßten.1 Die gleiche Anschauung klang aus einem Teil der Reden der Abgeordneten wieder.2 Andere, vor allem die Antragsteller, widersprachen.8 Persönlich bin ich der Ansicht, daß der Erlaß eines Reichsgesetzes über die von uns behandelte Frage — nur auf sie beschränke ich mich bei dieser Feststellung — eine Erweiterung der Zuständigkeit der Reichsgesetzgebung und als solche eine Verfassungsänderung bedeutet.4 Es ist unrichtig, daß bereits frühere Reichsgesetze, so vor allem das Jesuitengesetz, eine allgemeine Erstreckung der Reichsgesetzgebung auf das Gebiet der Staatskirchenhoheit herbeigeführt haben.5 Wie die Kompetenzänderung für den Erlaß reichsgesetzliche Bestimmungen über den kirchlichen Austritt zu erfolgen hat, — ob durch ausdrückliche vorherige Abänderung der Reichsverfassung oder ohne eine solche formale Änderung durch die Einigung von Bundesrat und Reichstag über Schaffung den kirchlichen Austritt regelnder Bestimmungen6 —, bedarf an dieser Stelle nicht der Untersuchung.7 1 2

ArchKathKR. 1902 S. 4. Vgl. z. B. die Ausführungen des Grafen STOLBERG -Wernigerode a. a. O.

1902 S . 1 4 ,

des

Abgeordneten

D r . STOCKMANN S . 52FF.

v. STAUDT, ArchKathKR. 1904 S. 766. 8

V g l . u . a. A r c h K a t h K R .

und

des

Abgeordneten

1902 S . 5FF. (LIEBER), 614FF. (GRÖBER, S. a u c h

ArchKathKR. 1904 8. 768), '123 (BACHEM), aber auch hinsichtlich der Zuständigkeit für die von uns behandelte Frage S.119 (BASSERMANN), 121 (Graf BERNSTORFF), 124 (SCHRÄDER).

* Diese Behauptung ist auch gegenüber der Einwendung, „daß die vorgeschlagene Bestimmung in der Hauptsache die Vermögens- und privatrechtlichen Wirkungen, also die genossenschaftlichen Rechte der einer Kirche angehörenden Personen behandelt" (Abg. GRÖBER, ArchKathKR.1904 S. 768), aufrecht zu erhalten. 6 Abweichender Ansicht z. B. Abg. GRÖBER, 'ArchKathKR. 1902 S. 118. 4 Unter Wahrung des Art. 78 der Reichsverfassung. 7 Für diese staatsrechtlich interessante Kontroverse s. LABAND, Das Staatsrecht des Deutschen Reichs (2. Aufl.) Bd. 2 S. 34, HÄNEL, Studien zum deutschen Staats-

Neue Beiträge xwn Austritt aus der Kirche

77

Jedenfalls kommt allen diesen Bedenken eine weitergehende praktische Bedeutung bei Bereitwilligkeit der gesetzgebenden Faktoren nicht zu. Bereits im Jahre 1871 erklärte es E. F R I E D B E R G 1 für „einen im Grunde genommen nicht sehr bedeutungsvollen Streit, ob das Deutsche Reich befugt sei, die Verhältnisse des Staats zur katholischen Kirche zu regeln". Seien Reichstag und Reichsregierung übereinstimmend der Ansicht, daß eine solche Grenzregulierung im Interesse des Reiches liege, so biete die Verfassung hinreichende Handhaben, dieses Ziel zu erreichen. Auch W. K A H L betont mit Recht, daß eine staatsrechtliche Schranke für eine derartige Erweiterung der Reichskompetenz nicht bestehe.2 Erscheint es' infolgedessen mehr als Zweckmäßigkeits-, wie als Kompetenzfrage, so ist vom Standpunkte der Zweckmäßigkeit aus einer reichsrechtlichen Regelung dieser Frage entschieden das Wort zu reden. Mit dem Austritte aus der Kirche sind nicht nur rein kirchliche, sondern wichtige das öffentliche, wie das bürgerlichrechtliche Gebiet treffende Folgen verbunden. Vor allem gilt dies hinsichtlich der Frage der Beiträge zu den Lasten der verlassenen Religionsgemeinschaft. Hier die Rechtseinheit durchzuführen und die vorhandenen Ungleichheiten zu beseitigen, muß als eine nicht abzuweisende und zugleich als eine dankbare Aufgabe der Reichsgesetzgebung bezeichnet werden. Es wird auch von denen, die einer reichsgesetzlichen Regelung unserer Frage ablehnend gegenüberstehen, zugegeben, daß die Durchführung der Möglichkeit eines Austritts aus der Kirche in den Einzelstaaten verschiedenartig sei, „hier bequem, dort unbequem, nach Seite der Wirkungen bald mehr, bald weniger vollkommen entwickelt". Es fehle nur für die reichsgesetzliche Ausgleichung dieser Verschiedenheiten an einem materiellen Reichsinteresse.8 Solchem Bedenken gegenüber ist einzuwenden, daß es sich in diesen vielfach tiefgreifenden Verschiedenheiten nicht um Bestimmungen handelt, die lediglich das partikulare Gebiet treffen, sondern um Fragen, an denen die Gesamtheit gleichmäßig interessiert ist, um Gedanken, die grundsätzlich übereinstimmend im Reiche durchgeführt werden rechte Bd. 1 S. 258, ZORN, Staatsrecht des Deutschen Reichs Bd. 1 S. 432; andererseits Gr. METER, Staatsrecht!. E r ö r t e r u n g e n S. 6 4 A n m . 1, Gr. METER-ANSCHÖTZ,

Lehrbuch des deutschen Staatsrechts (6. Aufl. 1905) § 164 Anm. 3, v. RÖNNE, Staatsrecht des Deutschen Reichs Bd. 2, 1 S. 31 ff., WESTERKAMP, Über die Reichsverfassung S. 133, ARNDT, Kommentar zur Reichsverf. Anm. 2 zu Art. 78 u. a. 1 „Das Deutsche Reich und die katholische Kirche" (HOLTZENDORFFS Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtspflege, Jahrg. 1871) S. 457. s Lehrsystem des Kirchenrechts und der Kirchenpolitik Bd. 1 S. 185. 8 W. KAHL, Die Bedeutung des Toleranzantrags für Staat und evangel. Kirche (Deutsch-evangel. Blätter, 27. Jahrg. 1902) S. 50.

78

Arthur B. Schmidt

sollten. Vor allem handelt es sich bei diesen den kirchlichen Austritt treffenden Vorschriften um eine Ergänzung und Weiterführung von Gedanken, die das Reichsgesetz vom 3. Juli 1869 in sich schließt, und die wir längst gewohnt sind, als wertvolles deutsches Gemeingut zu betrachten. So erscheint mir die reichsgesetzliche Regelung des kirchlichen Austritts nicht weniger notwendig, wie die der religiösen Erziehung der Kinder, für die das Erfordernis der einheitlichen reichsrechtlichen Gestaltung immer von neuen betont werden muß. Einer so weit gehenden Herübernahme der Materien des Toleranzantrags in die Reichsgesetzgebung stehen m. E. kirchenpolitische Bedenken nicht entgegen.1 Vom n a t i o n a l e n Standpunkte aus und im Interesse einer l i b e r a l e n Fortentwickelung wäre sogar eine den Beschlüssen des Reichtags folgende reichsrechtliche Regelung der genannten Fragen um so freudiger zu begrüßen, weil sich die vom Reichstag angenommenen Sätze über den kirchlichen Austritt zum Teil eng an die Bestimmungen des vielfach bekämpften preußischen Kirchengesetzes vom 13. Mai 1873 anlehnen, das trotz aller Anfeindungen die modernen freiheitlichen Bahnen fiir unsere Frage gewiesen hat.2 Mit dieser zustimmenden Erklärung soll nicht gesagt sein, daß wir alle E i n z e l s ä t z e der §§ 6—9 zur Annahme empfehlen wollen. Von Interesse ist es zunächst festzustellen, wie sich die nach den Beschlüssen des Reichstags abzugebende Austrittserklärung zu der Austrittserklärung im bisherigen Recht verhält. § 7 Abs. 1 fordert, damit dem Austritt bürgerliche Wirkung zukommt, eine „ausdrückliche Erklärung des Austretenden gegenüber der Religionsgemeinschaft". Diese Erklärung ist aber von dem Austretenden nicht direkt an die Religionsgemeinschaft zu erstatten, sondern an das Amtsgericht, das 1 Für die reichsgesetzliche Regelung der religiösen Erziehung der Kinder bedarf es, wie ausdrücklich bemerkt werden soll, einer Kompetenzerweiterung nicht. ! Über die systematische Stellung der im Text erwähnten Materien kann hier nicht eingehender gehandelt werden. Für richtig würde ich es nach wie vor halten, die Vorschriften über die religiöse Erziehung der Kinder mit dem BGB. zu verbinden. Die Vorschriften über den Austritt aus der Kirche könnten am besten in eine organische Verbindung mit dem Beichsges. vom 3. Juli 1869 gebracht werden, das sich zu einem „religiösen Beichsgrundgesetz" (KAHL, Deutschevangel. Blätter 27. Jahrg. 1902 S. 54) erweitern läßt. — Während der Korrektur erhalte ich einen von Amtsrichter DOSENHEIMER (Ludwigshafen) im „Dissident" 1. Jahrg. Nr. 7 veröffentlichten Aufsatz, der gleichfalls für die Begelung der Frage des kirchlichen Austritts durch ein Beichsgesetz eintritt Auch die letzte Versammlung der Vertreter der freireligiösen Gemeinden (Görlitz) hat beschlossen, sich in gleichem Sinne mit einer Petition an den Bundesrat u. Beichtag zu wenden.

Neue Beiträge mm

Austritt

aus der Kirche

79

seinerseits verpflichtet ist, die Erklärung an die zuständige Behörde der bisherigen Religionsgemeinschaft mitzuteilen. Erst mit dieser Mitteilung wird der beabsichtigte Rechtserfolg herbeigeführt. Dieser Weg unterscheidet sich von dem z. B. in Preußen und Hessen eingeschlagenen Verfahren dadurch, daß (abgesehen von der Notwendigkeit einer zweimaligen Erklärung, zwischen deren Einzelphasen eine Bedenkfrist liegt) im preußischen und hessischen Recht die Mitteilung an die Religionsgemeinschaft keine konstitutive Bedeutung besitzt.1 Juristisch betrachtet liegt dem neuen in § 7 vorgeschlagenen Verfahren ein richtiger Gedanke zugrunde. Es ist keine unbillige gesetzliche Zumutung, wenn der Entwurf die Erklärung gegenüber der R e l i g i o n s g e m e i n s c h a f t , der der Austrittsbereite bisher angehört hat, fordert. Das Erfordernis einer Erklärung gegenüber der bisherigen Gemeinschaft ist sogar folgerichtiger und anderweiten Erklärungen, die eine rechtlich befreiende Wirkung erstreben, entsprechender, als ein Verfahren, bei dem die verlassene Gemeinschaft, lediglich eine rechtlich nicht erhebliche Benachrichtigung erhält. Unbedingt gefordert werden muß nur eine Ordnung des Verfahrens, das die Erklärung durch den Austrittsbereiten, vor einer s t a a t l i c h e n , nicht vor einer geistlichen Behörde abgeben läßt2, und dieser Forderung entspricht § 7. Die Form der vor dem Amtsgerichte des Wohnortes abzugebenden Erklärung geht aus einem Vergleich des § 7 Abs. 2 Satz 1 mit Satz 2 hervor. Der Regel nach wird eine persönliche, mündliche Erklärung gefordert.3 Eine schriftliche Abgabe, wie sie § 7 Abs. 2 Satz 2 ergänzend vorsieht, ist im allgemeinen nicht empfehlenswert.4 Sie läßt sich nur ertragen, wenn sie (wie dies a. a. 0 . geschieht) an eine öffentliche Beglaubigung gebunden ist. Unbedingte Zustimmung verdient, daß das Verfahren kosten- und stempelfrei ist; die Entscheidung darf keinesfalls durch Rücksicht auf die Kosten 1 Auffallenderweise ist dieser Unterschied gegenüber dem bisherigen Recht, soweit ich zu sehen vermag, in der Diskussion weniger scharf betont worden. Erst der von der sozialdemokratischen Fraktion unter dem 1. März 1906 gestellte Antrag (Drucks. 11. Legislaturper. 2. Session 1905/06 Nr. 216) scheint die Erklärung „gegenüber der Religionsgemeinschaft" ausschalten zu wollen. — Darüber, daß nach § 7 des Entwurfs die bürgerlichen Wirkungen erst mit der Mitteilung der Austrittserklärung an die kirchliche Behörde eintreten, besteht kein Zweifel. S. z. B. R O E R E N , Der Toleranzantrag des Zentrums (Frankfurter zeilgemäße Broschüren Bd. 21 Heft 2) 8. 53. 8 Vgl. A u s t r i t t S. 280. 3 So auch der überwiegende Teil der bisher geltenden Partikularrechte. (S. die Zusammenstellung bei A. SCHMIDT, Austritt S. 283 Anm. 671.) 4 S. A u s t r i t t S. 283.

80

Arthwr B. Schmidt

beeinträchtigt werden.1 Ein Mangel in dem durch § 7 des Entwurfs geordneten Verfahren ist es dagegen entschieden, daß im Unterschiede von dem bisher in Deutschland herrschenden Grundsatz2 in § 7 keine Bedenkfrist gefordert wird. Die Bedenkfrist des geltenden Rechts wurde als antiquiert, ihre Beseitigung als ein Fortschritt bezeichnet.3 Eine solche Frist ist jedoch erforderlich, um übereilten Entschließungen, die vielleicht nur aus Augenblickserregungen hervorgegangen sind, vorzubeugen, um Mißverständnisse aufzuklären und eine nochmalige Beratung durch Dritte zu ermöglichen.4 So betrachtet erscheint die Forderung einer Bedenkfrist nicht als eine unbillige Zumutung und Beschränkung, sondern als eine Maßregel, die im Interesse des Austrittsbereiten sowohl, wie seiner bisherigen Religionsgemeinschaft gesetzliche Anerkennung verlangt.6 Hält man eine solche Anerkennung im Gesetz für notwendig, so empfiehlt sich das auch von anderen deutschen Einzelstaaten nachgeahmte Beispiel des § 2 des preußischen Gesetzes vom 14. Mai 1873. Danach hat der Austrittserklärung ein Antrag vorauszugehen; zwischen dem Antrage und der entscheidenden Erklärung hat eine Frist von mindestens vier Wochen zu liegen. Von dem Antrage ist die Bekenntnisgemeinschaft, der der Antragsteller angehört, ohne Verzug in Kenntnis zu setzen. Ich verkenne nicht, daß auf diese Weise im Laufe des Verfahrens eine doppelte Mitteilung an die Religionsgemeinschaft des Austrittsbereiten (die Mitteilung des Antrags und diejenige der eigentlichen Austrittserklärung) zu erstatten ist und daß dadurch das Verfahren komplizierter wird. Legt man aber aus praktischen Erwägungen auf die Bedenkfrist entscheidenden Wert, so ist dieser Nachteil zu tragen, um so mehr, als beide Mitteilungen an die betreffende Religionsgemeinschaft der staat1

Vgl. hierzu ArchKathKR. 1902 S. 185, 188; 1904 S. 769, 776; auch K A H L , a. a. 0 . S. 48ff.; H I E B E B , Der Toleranzantrag (Bibliothek für Politik und Volkswirtschaft Heft 2) S. 25. Die Gebühren betragen in Preußen 3 Mark (Preuß. Gerichtekostengesetz v. 6. Okt. 1899 § 107), in Schwarzburg-Sondershausen 10 bis 100 Mark (Schwarzburg-Sondersh. Ges. v. 22. Dez. 1899 betr. die Abänderung des Gerichtskostenges, v. 24. Januar 1888 Art. 1 LXVI zu S. 116). Für Hessen s. Ges. v. 12. Aug. 1899 über den Urkundenstempel (Reg.-Bl. 1899 S. 529) Tabelle Nr. 6 (a. a. O. S. 552; Stempel 6 Mark). 2 Ein Bedenkfrist gilt in Preußen, Sachsen, Württemberg, Hessen, Braunschweig, Sachsen-Meiningen, Schwarzburg-Sondershausen, Reuß ä. und j. L., Hamburg. Vgl. die Zusammenstellung bei A. SCHMIDT, Austritt S. 284 Anm. 674. 3 S . z. B. die Erklärung des Abgeordneten STOLLE (ArchKathKR. 1902 S. 105), auch die des Abgeordneten GRÖBER (a. a. 0. 1904 S. 768). * Näheres hierzu s. A u s t r i t t S. 284. 6 So auch K A H L a. a. 0 . S. 49.

81

Neue Beiträge zum Austritt aus der Kirche

liehen Behörde vom Gesetze zugewiesen werden können. Wie die Dinge in der Praxis liegen, ist kaum zu befürchten, daß dadurch eine allzustarke Belastung der zuständigen Amtsgerichte erfolgen wird. Eine solche doppelte Mitteilung findet außerdem bereits im geltenden Rechte (z. B. Preußen, Hessen, Lübeck) statt, ohne daß dadurch praktische Schwierigkeiten entstanden sind. Eine kritische Betrachtung verlangt vor allem die Abgrenzung des D i s k r e t i o n s a l t e r s in § 6 des Entwurfs. Es ist darüber viel gesprochen worden. Als Entscheidungsalter enthielt die ursprüngliche Fassung des Antrags das vollendete 12. Lebensjahr. Es wurde mit Recht als unannehmbar bezeichnet. Unzweifelhaft wäre damit einer ungesunden Propaganda und Pro selytenm acherei Tür und Tor geöffnet, die Kinder der Familie (besonders bei gemischten Ehen) schwer gefährdet worden. Aber auch bei einem Entscheidungsalter von 14 Jahren, wie es die Beschlüsse des Reichstags angenommen haben, ist diese Gefahr nicht als gehoben zu betrachten. Es ist richtig, daß in Anlehnung an einen Beschluß, des Corpus Evangelicorum vom 12./14. April 1752 der geographisch größere Teil Deutschlands bisher das vollendete H.Lebensjahr als Diskretionsalter angenommen hat.1 Verfasser hat aber bereits in früheren Untersuchungen auf das Bedenkliche dieser niedrigen Altersgrenze hingewiesen und hat darin in den Reichstagsverhandlungen von mancher Seite Zustimmung gefunden.2 Es fehlt auch nicht in den deutschen Partikularrechten an Belegen für ein höheres Entscheidungsalter. So nehmen Baden, Schwarzburg-Sondershausen, Lübeck und Frankfurt a./M. das vollendete 16. Lebensjahr,3 Kurhessen, Sachsen-Weimar, Sachsen-Koburg-Gotha und Waldeck das vollendete 18. Lebensjahr an.4 Nicht wenige Einzelstaaten gehen sogar noch weiter und fordern (teilweise wenigstens für den Austritt mit künftiger Dissidentenstellung) das 21. Lebensjahr.5 Es ist dringend zu wünschen, daß wir auf dem Gebiete des Diskretionsalters durch eine reichsgesetzliche Bestimmung aus diesem Rechtspartikularismus herauskommen. Gerade hier versteht es das Volk nicht, weshalb jene tief1

A u s t r i t t S. 82ff. 91, 272. * A. a. 0. S . 273, vgl. die Ausführungen des Abgeordneten HIEBEB, ArchKathKK. 1902 S. 175. 3 A u s t r i t t S. 99; betreffs Württembergs (16. Lebensjahr für Knaben, 14. für Mädchen) s. a. a. 0. S. 112 ff. Für Lübeck und Schwarzburg-Sondershausen vgl. aber auch unten S. 82 Anm. 3 und zu dieser Differenzierung A u s t r i t t S. 272. 4 A u s t r i t t S. 100, 272. 5 A u s t r i t t S. 101 ff. Bayern, Königreich Sachsen, Braunschweig, SachsenAltenburg, Sachsen-Meiningen, Anhalt, Reuß ä. und j. L. Vgl. hierzu auch unten 82 Anm. 3. F e s t s c h r i f t f. E . FKIKDBERG.

6

82

Arthur B. Schmidt

greifenden Unterschiede noch Bestand haben sollen. Praktische Erwägungen müßten aber die künftige Reichsgesetzgebung dazu führen, über das vollendete 14. Lebensjahr hinauszugehen. Mit 14 Jahren, — das sollten die Erfahrungen der Praxis gezeigt haben —, besitzt ein Mensch noch nicht die erforderliche ßeife, um über die weitere Zugehörigkeit zu seiner bisherigen Bekenntnisgemeinschaft, besonders über das eventuelle Abstreifen jeder kirchlichen Zugehörigkeit, zu entscheiden. Ich denke bei diesen Erwägungen nicht an erschwerende Maßregeln, — solche möchte ich von dem kirchlichen Austritt, soweit es immer angeht, ferngehalten wissen —, sondern daran, daß eine solche Entschließung wirklich den Ernst besitzt, der ihr zukommt und den ihr gerade diejenigen wünschen sollten, denen an gesunden kirchlichen Verhältnissen gelegen ist. Es sollen nicht die Bedenken wiederholt werden, die bereits an anderer Stelle angeregt worden sind;1 jedenfalls ist es eine willkommene Hilfe, daß auch ein so genauer Kenner der Verhältnisse wie W. K A H L mit Nachdruck für ein Hinaufgehen wenigstens bis zum vollendeten 16. Lebensjahr eintritt.2 Zu denken sollte ferner geben, daß gerade die neuere deutsche Partikulargesetzgebung,3 die sich mit der Frage des kirchlichen Austritts beschäftigt hat, überwiegend über das 14. Lebensjahr hinausgegangen ist. Nicht unwichtig erscheint mir endlich, daß die Schweiz das Diskretionsalter durch die Bundesverfassung auf das vollendete 16. Lebensjahr festgesetzt hat. Die Vorschrift des § 8 des Entwurfs (Rechtsfolgen des Austritts) schließt sich in Abs. 1 und 2 wörtlich4 an § 3 Abs. 1 und 3 des preußi1

A u s t r i t t S. 273f. Deutsch evangel. Blätter 27. Jahrg. S. 52. So auch Abgeordneter H I E B E S (vgl. ArchKathKR. 1902 S. 174f., auch die oben S. 80 Anm. 1 zitierte Schrift S. 22ff.). Abgeordn. BASSERMANN beantragte im Reichstag die Einsetzung des vollendeten 18., Abgeordn. SCHRÄDER die des vollendeten 21. Lebensjahres (ArchKathKR. 1902 S. 175, 176). Ich würde nicht widersprechen, wenn noch über das vollendete 16. Lebensjahr hinaufgegangen werden sollte, verkenne aber nicht, daß sich hierfür schwer eine Mehrheit finden wird und daß sich gegen eine solche Steigerung auch praktische Einwendungen geltend machen lassen. — Vgl. hierzu auch MIRBT, Der Toleranzantrag des Zentrums 2. Aufl. (Leipzig 1902) S. 12. 8 S a c h s e n - W e i m a r (Ges. v. 10. April 1875: 18. Lebensjahr), L ü b e c k [s. unten S. 86 Anm. 1: 16. Lebensjahr; für den Austritt im Sinne der beiden Gesetze vom 18. Januar 1895 und 18. März 1904 (s. unten S. 92) Volljährigkeit], S c h w a r z b u r g - S o n d e r s h a u s e n [unten S. 86 Anm. 1: 16. Lebensjahr, unter ausdrücklicher Aufrechterhaltung der Altersgrenze des vollendeten 21. Lebensjahrs bei Austritt mit Dissidentenstellung (vgl. hierzu A u s t r i t t S. 370 f. und unten S. 86 Anm. 1)], A n h a l t (Ges. v. 24. März 1904: Volljährigkeit): 4 Abs. 2 mit geringfügigen redaktionellen Änderungen. 4

Neue Beiträge zum Austritt aus der Kirche

83

sehen Gesetzes vom 14. Mai 1873 an. Sie haben sich auch anderweit bewährt und verdienen volle Billigung. Weggelassen hat der Toleranzantrag und die darauf fußende Beschlußfassung des Reichstags den § 3 Abs. 2 des preußischen Vorbildes; m. E. nicht mit Recht. Die Folge ist, daß nach § 8 des Entwurfs die Beitragspflicht sofort mit dem Austritt erlischt. Es ist diese Maßregel im Interesse des Austretenden liberal gedacht, sie berücksichtigt aber nicht die besonderen Verhältnisse der Kirchengemeinden, die mit einem wissenschaftlichen oder künstlerischen Verein nicht auf gleiche Stufe gestellt werden dürfen. So wie § 8 nach der Beschlußfassung des Reichstags lautet, ist er imstande, die geordnete Finanzverwaltung einer Kirchengemeinde, die wie jede größere Finanzverwaltung mit Jahresbudgets rechnen muß, im Falle einer größeren Zahl von Austrittserklärungen völlig zu zerstören.1 Ich betrachte auch die Scheidung, die das preußische Recht und mit ihm Hessen, Sachsen-Meiningen, Reuß ä. L., sowie Württemberg zwischen ordentlichen Leistungen und Beiträgen zu den Kosten eines außerordentlichen Baues vornehmen, aus praktischen Gründen für berechtigt.2 Zu billigen ist der Zusatz, den der gegenwärtige § 9 des Entwurfs gemacht hat; Beispiele hierfür bieten Simultanverhältnisse und das Patronat.

II. Die deutsche Landesgesetzgebung seit dem Jahre 1893. Die rechtliche Entwickelung innerhalb der Einzelstaaten, aus der unsere früheren Untersuchungen das Ergebnis zogen, hat seitdem nicht geruht.3 Teils sind es Einzelfragen (wie die Regelung des Diskretions1

Vgl. hierzu den Bericht des Referenten zu dem Entwurf des späteren preuß. Gesetzes vom 14. Mai 1873 bei A. SCHMIDT a. a. 0. S . 285 Anm. 676, ferner a. a. 0. S. 296 und die dort Anm. 709 zitierten Motive zu den einschlagenden badischen und hessischen Gesetzen. Auch HUSSAKEK, Grundriß des Staatskirchenrechts (im „Grundriß des österr. Rechts") S. 10 bezeichnet diese Sätze (im Gegensatz zum österreichischen Recht) für „praktisch angemessen". * Alles Nähere s. A u s t r i t t S. 297ff. 8 Eine Zusammenstellung soll die wichtigeren Neuerungen und zugleich die zur Ergänzung der S. 73 Anm. 1 genannten Schrift dienende neuere partikularrechtliche Literatur aufführen: Preußen. Es darf hier auf die eingehenden Ausführungen von P. SCHOEN, Das evangel. Kirchenrecht in Preußen II, l..Abt. (1906) S. 240ff. verwiesen werden. Vgl. ferner LÜTTGBET, Evangel. Kirchenrecht in Rheinland und Westfalen (Gütersloh 1905) S. 776ff., GOSSNEB, Preußisches evangel. Kirchenrecht S. 11, 12, 24ff., 34. Für die Kostenfrage s. Gerichtskostenges. v. 6. Okt. 1899 (vgl. oben S. 80 Anm. 1). Die von mir im A u s t r i t t S. 97 S. vertretene, vom Kammergericht 1893 nicht gebilligte Ansicht (s. Entsch. d. Strafsen. d. KG. v. 27. April 1893, Centr.-Bl. S. 665), daß auch für das Ges. v 14. Mai 1873 das vollendete 14. Lebensjahr maßgebend sei, ist neuer6*

84

Arthur

B.

Schmidt

alters oder die Ordnung des Austritts von Ausländern), die eine Fortbildung erfuhren. Teils sind es umfassendere Gesetzgebungen, mit dings vom Kammergericht angenommen worden (Entach. v. 2". Okt. 1903, Jahrb. 27 A S. 19). Hinsichtlich des Gebietes des ehemaligen Herzogtums Nassau s. den ErlaB des bischöflichen Ordinariats von Limburg vom 19. Aug. 1897 [abgedr. ArchKathKR. Bd. 74 (3. F. Bd. 2), 1898 S. 356. Der Erlaß schärft die Verordnung v. 1. Juli 1828 ein, wonach derjenige Pfarrer, der einen Konvertiten in die Kirche aufgenommen hat, dem Geistlichen, zu dessen Gemeinde der Übergetretene vorher gehörte, von dem Zeitpunkt der vollzogenen Aufnahme Kenntnis zu geben hat. Für Hannover s. BAUSTÄDT, Handb. für d. kirchl. Verwaltung T . 1 (2. Aufl. Hannover 1907) S . 129. — B a y e r n . J. STANGL, Konkordat u. Religionsedikt; 1. Teil: Die Religionsverhältnisse der Minderjährigen nach der bayrischen Verfassungsurkunde (München 1895), K. A. G E I G E R , Die Wahl des Glaubensbekenntnisses nach bayerischem Recht (Regensburg 1891), E. EBB, Die Begründung der kirchl. Mitgliedschaft (Würzburg 1902), M. v. SEYDEL, Das Staatsrecht des Königreichs Bayern, 3 . Aufl., herausgegeben von GRASSMANN (MARQUARDSEN, Handbuch II, 4, 1903), K. A. G E I G E R , Religiöse Erziehung der Kinder in Bayern nach Glaubenswechsel des einen Elternteils (Arch. KathKR. Bd. 79, 1899, S. 566 ff.). Verwiesen sei ferner auf die umfassenden Literaturnotizen bei K. A. G E I G E R , Die religiöse Erziehung, der Kinder im deutschen Rechte (Paderborn 1903) S. 184ff. — S a c h s e n . Nach Verordn. vom 30. Dez. 1901 ( F I S C H E R S Zeitschr. f. Praxis u. Gesetzgeb. der Verwalt., zunächst für das Königr. Sachsen 24, 176) werden Personen, die vor ihrem Zuzug nach Sachsen aus ihrer Religionsgemeinschaft rechtmäßig ausgetreten sind, auch in Sachsen als ausgetreten angesehen. Bekanntmachung des Landeskonsistoriums vom 4. Dez. 1903 über den Zeitpunkt des Übertritts von einer anderen Konfession zur evangelischlutherischen Kirche ( F I S C H E R a. a. 0 . 27, 191). — W ü r t t e m b e r g . G A U P P - G Ö Z , Das Staatsrecht des Königreichs Württemberg (3. Aufl. 1904, MARQUARDSEN, Handbuch III. I, 2). S. besonders S. 405 Anm. 4. Das Verfahren regeln die Vorschriften des Konsistorialerlasses v. 12. Juli 1892 (abgedr. Allg. Kirchenbl. f. d. evang. Deutschi. 43. Jahrg. 1893 S. 322), und für den Übertritt von Ausländern der Konsistorialerlaß v. 4. Januar 1894 (a. a. 0. 43. Jahrg. 1894 S. 440). Material für den Austritt aus der evangel. Landeskirche enthält auch E. K Ä L B E R , Über die Zugehörigkeit zur evangel. Landeskirche Württembergs (Tübing. Diss. 1905) S. 33ff. — B a d e n . W I E L A N D T , Das Staatsrecht des Großherzogtums Baden (MARQUARDSEN, Handbuch III. I, 3) S. 307ff. — H e s s e n . KÜCHLER-BRAUN-WEBER, Das Verfassungs- und Verwaltungsrecht des Großherzogtums Hessen 3. Aufl. Bd. II (1894) S. 425ff., 571 ff, Nachtrag (IV. Bd., 1896) S. 19, Z. 43, 44, S. 21, Z. 59; Zeitschr. f Staats- u. Gem.-Verw. 20, S. 169 ff. Für das AG. z. BGB. Art. 112 s. unten S. 86 Anm. 1. — M e c k l e n b u r g - S c h w e r i n . Zu den bei A. SCHMIDT, Austritt S. 342ff.angeführten Verordnungen s. noch E. M I L L I E S , Zirkular-Verordnungen des Oberkirchenrats (Schwerin 1895). — S a c h s e n - W e i m a r . S. unten S. 85 bei Anm. 2 und S. 88. — B r a u n s c h w e i g . S. 85 Anm. 3 u. S. 87. SCHMIDT-PHISELDECK, Das evangel. Kirchenrecht des Herzogtums Braunschweig (Wolfenbüttel 1894) S. 35 ff. — A n h a l t . S. 85 unten in Anm. 5. M Ü L L E R , Zusammenstellung der die evangel. Landeskirche des Herzogtums Anhalt betreffenden Gesetze u. Konsistorialverfugungen (Dessau 1904; liegt v o r dem Ges. v. 24. März 1904, s. S. 222f.). — S c h w a r z b u r g - S o n d e r s h a u s e n . S. 86 unten in Anm. 1. — S c h w a r z b u r g R u d o l s t a d t . S. 86 unten in Anm. 1. — Wal deck. F R E I S E N , Staat u. kathol-

Neue Beiträge xum Austritt aus der Kirche

85

Hilfe deren diejenigen deutschen Staaten, die bisher über die Frage des kirchlichen Austritts keine oder nur unvollkommene Vorschriften besaßen, eine Ordnung im modernen Sinne anstrebten. Zeitlich geordnet steht an der Spitze dieser neueren, umfassenderen Legislationen Lübeck mit einem Gesetz vom 16. Januar 1895, betreffs den Austritt aus der evangelisch-lutherischen Landeskirche im lübeckischen Staate.1 Es folgen das Großherzogtum Sachsen-Weimar mit seinem Gesetz von 10. April 1895, betreffend die Konfession der Kinder aus gemischten Ehen zwischen Evangelischen und Katholiken, sowie den Konfessionswechsel der Evangelischen und Katholiken,2 das Herzogtum B r a u n s c h w e i g mit dem häufiger genannten Gesetz vom 29. September 1902, die Ordnung der kirchlichen Verhältnisse der Katholiken betreffend,3 nochmals L ü b e c k mit dem Gesetz vom 18. März 1904, betreffend den Austritt aus der römisch-katholischen Kirchengemeinde im lübeckischen Staate 4 und endlich das Herzogtum Anhalt mit dem Gesetz vom 24. März 1904, betreffend den Austritt aus der Kirche.8 Vereinzelt findet sich in den Ausführungsgesetzen Kirche in den deutschen Bundesstaaten (STÜTZ, Kirchenrechtl. Abhandlungen 25. u. 26. H.) I S. 358ff. — R e u ß ä. L. Verordnung v. 18. Januar 1897 betreffend den Übertritt' von Ausländern von einer christlichen Konfession zur anderen (abgedr. Allg. Kirchenbl. 47. Jahrg. 1898 S. 56, auch in den Materialien zum Toleranzantrag, Arch.KathKR. 1902 S. 314). Der Übertritt von einer christlichen Konfession zur anderen ist Reichsausländern und Angehörigen anderer deutscher Bundesstaaten im Fürstentum nur dann gestattet, wenn sie in ihrem Heimatsstaate kein Domizil mehr besitzen, vielmehr ihren gewöhnlichen Wohnsitz im Fürstentum haben. Für die Form des Bekenntniswechsels s. unten S. 91. Betreffs der Bestimmung des Diskretionsalters im AG-, z. BGB. § 136 s. S. 86 Anm. 1. — R e u ß j. L. S. 86 unten in Anm. 1. — L ü b e c k . S. unten S. 91 ff. 1 Samml. der lübeckischen Verordnungen u. Bekanntmach. 1895 Nr. 4. Abgedr. auch DZK. Bd. 5 S. 333 und ArchKathKR. 1895 S. 88. 1 Regierungsbl. 1895 S. 125. Abgedr. auch DZK. Bd. 5 S. 446ff. Entwurf s. Landtagsverhandl. 1895 Schriftenwechsel S. 154ff., für die parlamentarischen Verhandlungen s. Landtagsverhandl. 1895 Stenographenprotokolle 1. Beratung (Sitz, vom 7. Febr. 1895) S. 132ff., Kommissionsbericht a. a. O. S. 235ff., 2. Beratung (Sitz, vom 18.März 1895) S. 341 ff.—Ausführungsverordn. vom 16. April 1895 (Regierungsbl. 1895 S. 133ff., Allg. Kirchenbl. Jahrg. 44, 1895 S. 452). Eine Kommentierung des Gesetzes vom 10. April 1895 lieferte ORTLOFF in der DZK. Bd. 6 S. 51 ff. » Abgedr. DZK. Bd. 13 S. 283ff., ArchKathKR. 1903 S. 130ff. * Samml. der lübeckischen Gesetze u. Verordnungen 1904 Nr. 25; abgedr. auch DZK. Bd. 15 S. 188. Wegen der Bestimmung in § 118 des lüb. AG. z. BGB. s. unten S. 86 Anm. 1. 6 Abgedr. DZK. Bd. 15 S. 179ff. Entwurf s. Landtagsverhandl. 1904 Drucksache Nr. 15. 1. Lesung: 2. Sitzung vom 25. Febr. 1904 (41. Landtag, Stenograph. Protokolle 1904 S. 28ff.). Kommissionsantrag: Drucksache(1904) Nr. 21. 2. Lesung: 8. Sitzung vom 10. März 1904 (41. Landtag, Stenograph. Protokolle S. 176ff.).

86

Arthur B. Schmidt

zum BGB. in Verbindung mit der religiösen Erziehung der Kinder Material für unsere Fragen.1 Der sofort hervortretende gemeinsame Zug der einschlagenden neueren Gesetzgebung ist das Bemühen einer Anlehnung an das preußische Gesetz vom 14.Mail873. Vor allem gilt dies von dem A n h a l t i n i s c h e n Gesetz und den beiden Gesetzen Lübecks. Aber auch in dem W e i m a r i s c h e n Gesetz vom 10. April 1895 tritt — besonders in § 10 (Wirkungen des Austritts) — der Einfluß der preußischen Gesetzgebung deutlich hervor. Es kann zunächst überraschen, daß Lübeck die einschlagenden Fragen nicht in einem gemeinsamen, alle Bekenntnisgemeinschaften treffenden Gesetz geregelt hat. Der Lübecker Senat hatte auch bereits im Jahre 1891 einen Gesetzentwurf „betreffend den Austritt aus einer c h r i s t l i c h e n Religionsgemeinschaft" vorgelegt. Der Bürgerausschuß lehnte jedoch unter dem 13. Juli 1892 diesen Entwurf in Verbindung mit der Verwerfung des Gesetzentwurfs über die Bildung einer Kirchenkasse für die evangelisch-lutherischen Gemeinden der Stadt und der Vorstädte ab. Unter dem 12. September 1894 erneuerte der Senat seine frühere allgemeine Vorlage. Sie ging wieder Hand in Hand mit dem Antrag auf Bildung einer allgemeinen Kirchen3. Lesung: 10. Sitzung vom 14. März 1904 (a. a. 0 . S. 248ff.). Vgl. hierzu FEEISBN a. a. 0 . II S . 91 ff. (STÜTZ, Kirchenr. Abhandl. Heft 27). 1 So eingehender S c h w a r z b u r g - S o n d e r s h a u s e n im AG. z. BGB. (Ges. v. 19. Juli 1899) Artikel 51 (Religiöse Kindererziehung) § 8: „Wer das 16. Lebensjahr vollendet hat, ist berechtigt, seine Konfession nach eigener freier Überzeugung zu wählen." Daran schließt Artikel 51 § 9 genauere Vorschriften über die Form des Bekenntniswechsels, auf die noch näher eingegangen werden soll (s. unten S. 90). Zugleich hält Artikel 51 § 10 das Dissidentengesetz vom 1. März 1872 (abgedr. A u s t r i t t S. 870ff.) aufrecht. Eine erneute Bekanntmachung des Dissidentengesetzes vom 1. März 1872 erfolgte durch Ministerialbekanntmachung vom 1. März 1900 (Gesetzsamml. 1900 S. 155; auch abgedr. DZK. Bd. 10 S. 428ff.). Die Kostenfrage wurde durch Gesetz vom 22. Dez. 1899 betreffend die Abänderung des Gerichtskostenges, vom 24. Januar 1888 (abgedr. in den Materialien zum Toleranzantrag ArchKathKR. 1902 S. 312, s. auch oben S. 80 Anm. 1) neugeregelt. — Andere Ausführungsgesetze zum BGB. kommen lediglich mit Vorschriften über das Diskretionsalter in Betracht. So L ü b e c k : AG. z. BGB. (Ges. v. 30. Okt. 1899) § 118: „Nach Vollendung des 16. Lebensjahres kann ein Mindeijähriger selbständig bestimmen, welchem religiösen Bekenntnisse er angehören will." H e s s e n : AG. z. BGB. (Ges. v. 17. Juli 1899) Art. 112 (s. hierzu A u s t r i t t S. 336f.); R e u ß ä. L.: AG. z. BGB. (Ges. v. 26. Okt. 1899) § 136 Z. 7 u, 8; R e u ß j. L.: AG. z. BGB. (Ges. v. 10. Aug. 1899) § 49. Durch die an letzter Stelle genannten beiden Ausführungsgesetze wurde die Lücke, die bisher in den beiden Fürstentümern bestand (vgl. A u s t r i t t S. 102, 125) ausgefällt [Diskretionsjahr 14. Lebensjahr; für den Austritt aus der Landeskirche bleibt das vollendete 21. Lebensjahr (s. A u s t r i t t S. 378 u. 381) aufrecht erhalten].

Neue Beiträge zum Austritt am der Kirche

87

kasse für die evangelisch-lutherischen Gemeinden. Der Bürgerausschuß war geneigt, der erneuten Vorlage zu entsprechen, beschränkte aber den Gesetzentwurf betreffend den Austritt aus einer christlichen Religionsgemeinschaft auf den Austritt aus der e v a n g e l i s c h - l u t h e rischen Landeskirche. Eine Einbeziehung der römisch-katholischen Gemeinde Lübecks schien bei der Rechtslage dieser Gemeinde nicht geboten zu sein. Erst im Jahre 1904 trat eine Änderung ein. Im Januar 1903 hatte der Vorstand der römisch-katholischen Gemeinde in Lübeck den Antrag gestellt, der katholischen Gemeinde der Stadt das Besteuerungsrecht einzuräumen. Senat und Bürgerausschuß waren bereit, diesem Antrag zu entsprechen. Die Begleiterin dieser Neuordnung war die Gesetzgebung vom 18. März 1904. Beide Gesetze, das vom 12. September 1894 und das vom 18. März 1904, stimmen wörtlich miteinander überein; als praktisch für die katholische Gemeinde nicht bedeutsam ist in dem letztgedachten Gesetze nur § 3 Abs. 2 des Gesetzes vom 12. September 1894 weggelassen. In den Materialien zu dem Braunschweigischen Gesetz vom 29. September 1902 klingen die Angriffe wieder, die gegen die kirchlichen Verhältnisse des Herzogtums im Lande und vor allem im Reichstag erhoben worden waren.1 Die Regierung hatte — in erster Linie wohl durch diese Angriffe bewogen — einen Entwurf betreffend die Änderung des Gesetzes vom 10. Mai 1867 über die Ordnung der kirchlichen Verhältnisse der Katholiken vorgelegt.2 Seine Bestimmungen betrafen die Vollziehung der Taufe, die religiöse Erziehung der Kinder, die Vornahme von Begräbnissen unter Mitwirkung eines katholischen Geistlichen und ergriffen nur in Artikel IV durch Abänderung des § 14 des Gesetzes vom 10. Mai 1867 die von uns behandelte Frage. Die mit der Prüfung des Entwurfs betraute Kommission arbeitete einen Gesetzentwurf aus, der unter Zustimmung der Regierung den Verhandlungen des Landtags zugrunde gelegt wurde»3 Die Änderungen, die hierbei in der uns berührenden Frage herbeigeführt wurden, sind nicht bedeutend. Die neue Fassung bringt noch schärfer zum Ausdruck, daß es sich bei § 14 (jetzt § 9 des Gesetzes) nur um den Wechsel zwischen dem evangelischen und katholischen Bekenntnis handelt. Die bisher bestehende Form des Bekenntniswechsels selbst 1

Vor allem in dem Kommissionsbericht (Anlage 103 der Verhandl. des 26. ordentl. Landtags), der die erhobenen Angriffe sofort bekämpfte. Die Verhandlungen selbst s. in der 27., 28. u. 29. Sitzung vom 15., 20. u. 21. Nov. 1902 (Verhandl. des 26. ordentl. Landtags). * Vgl. Anlage 20 der Verhandl. des 26. ordentl. Landtags. 3 S. Anlage 103 und 156 a. a. 0.

88

Ärihur B. Schmidt

bleibt unberührt. Eine Petition der katholischen Geistlichen des Landes hatte den Antrag gestellt, dem § 14 den Zusatz zu geben: „Die Aufnahme eines Konvertiten ohne die im Gesetze vorgeschriebenen Bedingungen ist ohne staatsrechtliche Wirkungen. Die Annahme derselben zu religiösen Handlungen ist straffrei." Der Kommissionsbericht erhebt gegen die Antragsteller den Vorwurf, „daß sie sich durch diesen Vorschlag eine Brücke bauen möchten, vermöge deren sie nahezu alle Vorschriften dieses Gesetzes übertreten könnte^, ohne sich eine Bestrafung zuzuziehen". Durch die Annahme dieses Antrags „werde der Gesetzlosigkeit Tür und Tor geöffnet; es erübrige wohl, weiter darauf einzugehen". Die bereits im Gesetz vom 10. Mai 1867 angenommene Grenze des Diskretionsalters ist im Gesetz vom 29. Sept. 1902 (§ 8) beibehalten.1 Beibehalten ist auch die Vorschrift, daß eine Befreiung von dieser Altersgrenze ausgeschlossen sei. Die Strafandrohung gegen die Überschreitung der §§ 8 und 9 beträgt 60 Mark. Auch das Sachsen-Weimarische Gesetz vom 10. April 1895 ist keine volle Neuschöpfung, sondern fand ältere Bestimmungen vor, zu denen es als Novelle trat. Das Großherzogtum besaß bereits einschlagende Vorschriften im Gesetz vom 6. Mai 1857 über das Verhältnis der katholischen Kirchen und Schulen2 und im Gesetz vom 1U. Februar 1864 die kirchlichen Dissidenten betreffend.8 Diese gesetzlichen Bestimmungen trennten den Austritt mit Anschluß an eine andere Kirche vom Austritt mit künftiger Dissidentenstellung und stellten für beide Fälle gesonderte Voraussetzungen und Formvorschriften auf.4 Bei dieser Zweiteilung ist es auch nach dem Gesetz vom 10. April 1895 geblieben. Wichtig für unsere Frage ist jedoch, daß das Gesetz vom 10. April 1895 auch den Austritt mit Übertritt in eine andere Bekenntnisgemeinschaft in stärkerem Maße dem Gesetz vom 10. Februar 1864 angenähert hat. Wurde bei Bekenntniswechsel nach dem Gesetz vom ti. Mai 1857 der Austritt aus der bisherigen Gemeinschaft dadurch perfekt, daß der Übertretende vor dem Pfarrer der neuen Gemeinschaft und vor zwei Zeugen das Glaubensbekenntnis ablegte, so fordert gegenwärtig im gleichen Falle das Gesetz vom 10. April 1895 die Erklärung des Austritts vor einem Gericht oder vor einem Notar und die Überweisung dieser Erklärung an das Amtsgericht des Wohnortes oder dauernden Aufenthaltortes (§ 8 1

Ygl. hierzu A u s t r i t t S. 107ff., 272 Anm. 635. Regierungsbl. 1857 S. 43ff.; abgedr. A u s t r i t t S. 352 ff. 3 Regierungsbl. 1864, 6; abgedr. A u s t r i t t S. 353 ff. * Vgl. A u s t r i t t S. 222ff. 1

Neue Beiträge zum Austritt aus der Kirche

89

Abs. 2).1 Das Amtsgericht hat hierauf den erfolgten Austritt in das von ihm zu führende „Austrittsregister" einzutragen und binnen einer Woche einen Registerauszug dem Vorstände der Kirchengemeinde, der der Ausgetretene bisher angehörte, zuzufertigen (§ 9). Wichtig ist ferner, daß der § 10 des Gesetzes vom 10. April 1895 Vorschriften über die Befreiung von den Lasten der bisherigen Bekenntnisgemeinschaft aufgestellt hat. Damit sollte, wie die Begründung erklärt, 2 eine empfindliche Lücke ausgefüllt werden. In engem Anschluß an die preußische und an die hessische Gesetzgebung,3 wird hierbei zwischen den ordentlichen Lasten und der Beitragspflicht zu den Lasten eines außerordentlichen Baues unterschieden. Die ersteren enden mit dem Beginn des auf die Austrittserklärung folgenden Kalenderjahres, die letztere dauert bis zum Ablauf des zweiten auf die Austrittserklärung folgenden Kalenderjahres. Die Motive nehmen darauf Bezug, daß gerade anläßlich kirchlicher Bauten einzelne Austritte erfolgten und Massenaustritte wiederholt angedroht worden seien; 4 hiergegen solle § 10 die erforderliche Sonderbestimmung bieten. Auch § 11, der über die Aufnahme in die neugewählte Kirche handelt, enthält eine Neuerung. § 10 Abs. 'J des Gesetzes vom 6. Mai 1857 hatte bisher für den Übertritt die bereits erwähnte Erklärung vor dem Pfarrer und zwei Zeugen vorgeschrieben und dabei bestimmt, daß die Aufnahme nicht öffentlich und vor versammelter Gemeinde erfolgen solle. Der § 11 Abs. 1 des neuen Gesetzes überläßt die Festsetzung der Form, in welcher die Aufnahme in die evangelische oder katholische Kirche zu erfolgen hat, der aufnehmenden Kirche selbst. Festgehalten wird nur an dem Gebot, daß diese Aufnahme nicht öffentlich vor versammelter Gemeinde stattfinden dürfe. Die Begründung des Gesetzes bezeichnet den Konfessionswechsel mit Recht als eine innere Angelegenheit des Übertretenden und will alles vermieden wissen, was für die verlassene Kirche etwas Verletzendes in sich schließen könne. Fehlen besondere Bestimmungen oder Vereinbarungen, so hat der Aufgenommene zu denjenigen Lasten seiner 1

Wenn die Austrittserklärung nicht vor diesem Gericht selbst abgegeben wird. — Vorherzugehen hat nach § 8 Abs. 1 des Gesetzes vom 10. April 1905 eine Erklärung des Austrittsbereiten an den zuständigen Pfarrer seiner bisherigen Bekenntnisgemeinschaft. Ungünstig ist hierbei, daß § 8 Abs. 1 nicht die Belehrung durch den Pfarrer, die § 10 Z. 2 des Gesetzes vom 6. Mai 1857 vorschreibt, beseitigt hat. Vgl. hierzu unten S. 90. 8 Landtagsverhandlungen 1895, Schriftenwechsel S. 157. Bestimmungen über die Lasten enthielt auch das Dissidentengesetz Vom 10. Februar 1864 nicht. 3 Vgl. A u s t r i t t S. 297 ff., auch o. S. 83. 4 S. an dem S. 85 in Anm. 2 angegebenem Orte S. 157.

90

Arthur B. Schmidt

neuen Kirchengemeinde beizutragen, die nach dem Tage der Aufnahme fällig werden ( § 1 1 Abs. 2). Für das Anhaltinische Gesetz vom 24. März 1904 ist bereits auf seine Verwandtschaft mit der preußischen Gesetzgebung hingewiesen worden. Diese Verwandtschaft erscheint in § 1 Satz 1 (Austritt durch Erklärung in Person vor dem Amtsgericht), § 2 Abs. 1 (vorherige Antragstellung, Mitteilung des Antrags an die bisherige Kirchengemeinde des Austrittsbereiten), § 2 Abs. 2 (Bedenkfrist von mindestens 4, höchstens 6 Wochen), § 2 Abs. 3 (Erteilung einer Bescheinigung), § 3 Abs. 1 und 2 (Wirkungen des Austritts = § 3 Abs. 1 und 2 des preuß. Gesetzes vom 14. Mai 1873), § 3 Abs. 3 ( = § 4 des preuß. Gesetzes), § 5 (Berechnung nur barer Auslagen des Verfahrens, = § 6 des preuß. Gesetzes). Unterschiede finden sich in § 1 Satz 2 (Diskretionsalter)1 und in § 2 Abs. 1 Satz 2. Das anhaltinische Gesetz fordert in § 2 Abs. 1 Satz 2 von demjenigen, der den vorbereitenden Antrag stellt, die Beifügung „einer Bescheinigung des zuständigen Pfarrers, daß der Antragsteller demselben die Absicht des Austritts in Person angezeigt hat". Zur Ausstellung dieser Bescheinigung wird der Pfarrer für verpflichtet erklärt.2 Die unbedingte Forderung einer persönlichen Mitteilung an den zuständigen Pfarrer findet sich auch in einer Reihe anderer Partikularrechte.3 Sie kann denkbarerweise zu Konflikten führen, die im Interesse der Stellung des Pfarrers vermieden werden möchten. Immerhin bietet die Forderung einer bloßen persönlichen Anzeige an den Geistlichen noch nicht die gleichen schweren Bedenken, wie die weitergehende Forderung in Art. 51 § 9 des Schwarzburg-Sonderhausenschen AG. zum BGB. Es wird hier in Art. 51 § 9 in Verbindung mit der persönlichen Anzeige gefordert, daß der Geistliche den Austrittsbereiten „über die Wichtigkeit des Schrittes belehre und darüber, daß dieses geschehen, ein Zeugnis auszustellen hat". Das Vorbild für diese Bestimmung bildete das sächsische Mandat vom 20. Februar 1827 § 2, dessen Bestimmungen in die Gesetzgebung von

1

Vgl. Austritt S. 272 und o. S. 81 Anm. 5. Preußen besitzt als Diskretionsalter das vollendete 14., Anhalt das vollendete 21. Lebensjahr. Der Entwurf des Anhaltinischen Gesetzes v. 24. März 1904 sah das vollendete 16. Lebensjahr vor. Bei der Behandlung des Entwurfs im Landtag kam. es zu sehr lebhaften Debatten gerade über diese Frage (vgl. Verhandl. des 41. Landtags S. 177 ff.). Sie endeten mit einer namentlichen Abstimmung, bei der das Entscheidungsalter auf das 21. Lebensjahr hinaufgesetzt wurde. s Dies ist zutreffend. Vgl. Austritt S. 280. 8 S. Austritt a. a. 0.

Neue Beiträge zum Austritt aus der Kirche

91

Sachsen-Weimar (G-esetz vom 6. Mai 1857) und Eeuß ä. L. (Gesetz vom 24. Dezember 1875 § 2) übergegangen sind.1 Es ist einer solchen Vorschrift entschieden entgegenzutreten. Der Geistliche wird hier, ohne nach der Lage des Enzelfalls eine Entscheidung treffen zu können, zu einer seelsorgerischen Tätigkeit unbedingt verp f l i c h t e t und wird dadurch einer widerstrebenden Person gegenüber nur zu leicht in eine Lage gebracht, welche der Würde der Religion, wie der Würde seiner Stellung widerspricht.5 Die beiden Gesetze L ü b e c k s vom 18. Januar 1895 und 1 A u s t r i t t S. 318, 354, 379. Die Vorschrift des älteren Gesetzes SachsenWeimars vom 6. Mai 1857 ist auch in die Neugestaltung des Gesetzes vom 10. April übergegangen (§ 8 Abs. 1: „Wer nach vollendetem 18. Lebensjahre aus der evangelischen oder aus der katholischen Kirche austreten will, muß dem zuständigen Geistlichen seiner Konfession seine Willensmeinung erklären, worauf ihn dieser über die Wichtigkeit des Schrittes zu belehren und darüber, daß dieses geschehen, ein Zeugniss auszustellen hat." § 8 Abs. 2 Satz 2 fügt hinzu: „In allen Fällen ist dem letzteren (d. h. dem Amtsgericht des Wohnortes oder dauernden Aufenthaltsortes) das Zeugniss über die Belehrung zu übergeben." Erschwerend wirkt jedoch, daß im Ges. v. 10. April 1895 als Abs. 4 hinzugekommen ist: „Weigert sich der zuständige Geistliche, das Zeugniss auszustellen, so ist er vom Amtsgericht aufzufordern, die Ausstellung binnen vier Wochen zu bewirken. Erfolgt die Ausstellung innerhalb dieser Frist nicht, so ist von dem Erfordernisse der Zeugnissbeibringung abzusehen." In der hierdurch begründeten Rechtslage ist zu scheiden zwischen der Position, die der Übertrittsbereite zugewiesen erhält, und deijenigen, in die der Geistliche versetzt wird. Für den Austrittsbereiten betrachtet der Gesetzgeber als obligatorisch die Erklärung an den zuständigen Geistlichen, die Belehrung und Zeugnisausstellung (vgl. auch hierzu § 8 Abs. 5). Dieser normale Gang des Verfahrens erfährt für den Austrittsbereiten nur dann eine Durchbrechung, wenn der zuständige Geistliche sich weigert, das Zeugnis auszustellen. Eine solche Weigerung soll dem Austrittsbereiten nicht zum Nachteil gereichen; es ist vielmehr in diesem Falle von einer Zeugnisbeibringung abzusehen. Auch für den Geistlichen erscheint nach dem Wortlaute des § 8 Abs. 1 Belehrung und Zeugnisausstellung obligatorisch zu sein („hat"). Diese Annahme widerlegt jedoch Abs. 4, die von dem Geistlichen einen solchen Zwang fernhalten will und damit für ihn die Erfüllung der Aufgaben des Abs. 1, die zugleich für den Übertrittsbereiten eine Voraussetzung der entscheidenden Erklärung in Abs. 2 (Erklärung vor Gericht oder Notar und ^Überweisung dieser Erklärung an das zuständige Amtsgericht) bildet, fakultativ macht. Es entstehen hierdurch vom Standpunkte des Übertrittsbereiten aus mancherlei Unklarheiten und Schwierigkeiten, die auch der berichtende Landtagsausschuß nicht beseitigt hat. (Was hat der Übertrittsbereite bei fehlendem Zeugnis nachzuweisen? Anmeldung und Belehrung? Darf der Geistliche auf Grund des Abs. 4 nur die Zeugnisausstellung oder auch die Belehrung ablehnen? u. a. m.). Am besten wäre es gewesen, die in Bede stehende Bestimmung wäre gestrichen worden. Einzelheiten hierzu s. bei ORTLOFF , DZK. Bd. 5 S. 95 ff. ! A u s t r i t t S. 281 ff.

92

Arthur B. Schmidt

18. März 1904 1 fordern für die Austrittserklärung die Erklärung in Person vor dem Stadt- und Landamte. Der Aufnahme dieser Erklärung muß ein hierauf gerichteter schriftlicher Antrag an das Stadt- und Landamt vorausgehen.2 Eine Abschrift dieses Antrags ist dem Vorstände der Kirchengemeinde, die der Austretende verlassen will, ohne Verzug vom Stadt- und Landamte zuzustellen. Die Aufnahme der entscheidenden Austrittserklärung selbst findet nicht vor Ablauf von vier Wochen von der Antragstellung ab statt 3 (§ 1). Der erfolgte Austritt ist vom Stadt- und Landamte dem Vorstande der Kirchengemeinde mitzuteilen (§ 2). Der Austritt bewirkt, daß der Ausgetretene zu Leistungen, die auf der persönlichen Angehörigkeit zur Kirchengemeinde beruhen, nicht mehr verpflichtet ist. Für periodisch wiederkehrende Leistungen tritt diese Wirkung erst mit dem Ablauf des Rechnungsjahres ein, in dem der Austritt stattgefunden hat (§ 3). Für den Austritt aus der evangelisch-lutherischen Landeskirche ist in § 3 Abs. 2 des Gesetzes vom 18. Januar 1895 der Sonderzusatz gemacht, daß Leistungen, die nicht auf der persönlichen 1 Für das G e s . v. 18. J a n u a r 1895 s. Antrag des Senats v. 12. Sept. 1894, Bericht der Kommission v. 8. Nov. 1894 (1894 Nr. XIV), Anträge des Senats [v. 5. Dez. 1894) an die Bürgerschaft für die Versamml. v. 17. Dez. 1894 (S. 1E>7 ff.), Protokoll der Bürgerschaft v. 17. Dez. 1894 (Prot-Nr. 8). Für das Ges. v. 18. M ä r z 1904 s. Antrag des Senats v. 26. Aug. 1903, Protokolle des Bürgeraussch. v. 1903 Nr. 23 Z. 18, Nr. 24 Z. 5, Bericht der Kommission v. 12. Januar 1904 (1904 Nr. I). 2 Der Kommissionsantrag v. 8. Nov. 1894 hatte beantragt, in § 1 Abs. 2 zu setzen: „Bei der Erklärung ist eine von dem Vorsitzenden des Kirchenvorstandes deq'enigen Gemeinde, welcher der Austretende angehört, ausgestellte Bescheinigung darüber vorzulegen, daß der Austretende mindestens einen Monat zuvor dem Kirchenvorstande dieser Gemeinde die Absicht des Austritts angezeigt habe". Der Senat widersprach. Gerade darin, daß schon diese erste Anzeige an die Staatsbehörde zu richten sei, liege eine größere Gewähr dafür, daß der Austretende in den Stand gesetzt werde, seine Absicht rechtzeitig zur Ausführung zu bringen. Überdies müsse Bedenken getragen werden, einem Kirchenvorstande die Verpflichtung aufzuerlegen, dem Gemeindemitgliede, das seinen beabsichtigten Austritt aus der Landeskirche anzeige, eine Bescheinigung über die erfolgte Anzeige auszustellen und dadurch, wenn auch nur formell, zur Ausführung der Austrittsabsicht mitzuwirken. Jedenfalls würde es, wenn der Kirchenvorstand etwa aus Gewissensbedenken die Ausstellung jener Bescheinigung ablehnen oder verzögern sollte, an Zwangsmitteln gegen ihn fehlen. Dem zum Austritt aus der Landeskirche Entschlossenen müsse aber die Geltendmachung dieses Kechts nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften unbedingt gewährleistet werden (Anträge des Senats v. 5. Dez. 1814 S. 159). 8 Im Entwurf stand nach dem Vorbilde Preußens eine sechswöchentliche Präklusivfrist. Sie ist auf Wunsch des Bürgerausschusses beseitigt worden.

Neue Beiträge xwrn Austritt aus der Kirche

93

KircheDangehörigkeit beruhen —, insbesondere Leistungen an die Kirchen, Geistliche und Kirchenbeamte, die entweder kraft besonderen Rechtstitels auf bestimmten Grundstücken haften oder von allen Grundstücken einer bestimmten Klasse innerhalb des Bezirks ohne Unterschied des Besitzers zu entrichten sind, — durch den Austritt nicht berührt werden.

III. Der kirchliche Austritt im Rechte des Aaslands. 1. Während in Deutschland die Fragen des kirchlichen Austritts selbst in den kleineren Territorien von der Gesetzgebung lebhaft ergriffen und beantwortet wurden, hat die ausländische Gesetzgebung dieses Gebiet vielfach noch nicht betreten.1 So besitzen über Form und Wirkungen des Austritts keine gesetzlichen Bestimmungen E n g l a n d , 2 F r a n k r e i c h , I t a l i e n , S p a n i e n , P o r t u g a l , Holland, Griechenland, Rumänien, 3 B e l g i e n , L u x e m b u r g . Der Grund für diese Erscheinung liegt bei der größeren Zahl der eben genannten Territorien nicht darin, daß dem Bekenntniswechsel oder dem Austritt mit Dissidentenstellung Widerstand geleistet werden soll. Der überwiegende Teil der Staatsgesetzgebung will vielmehr volle Freiheit lassen. Er begnügt sich aber damit, den allgemeinen Grundsatz weitgehender Glaubens- und Gewissensfreiheit aufzustellen und die Regelung der Zugehörigkeit bezw. Nichtzugehörigkeit zu einer Bekenntnisgemeinschaft als innere Angelegenheit der Religionsgemeinschaften selbst anzusehen. So betrachtet man in F r a n k r e i c h das Recht des Bekenntniswechsels oder des Austritts ohne Anschluß an eine andere Religionsgemein1 E s ist dabei nicht zu verkennen, daß in den konfessionell stärker geschlossenen romanischen Ländern das Bedürfnis nach einer Regelung unserer Frage ungleich weniger im Vordergrund steht, als in Deutschland. Ebenso fehlt es dort, wo (wie z. B. in E n g l a n d ) die Religionsgenossenschaften keine persönlichen Steuern von ihren Mitgliedern erheben, an einem besonders wesentlichen Beweggrunde zu einer staatsgesetzlichen Regelung. Die Abgaben, die die Kirche von E n g l a n d vom Grundbesitz erhebt, liegen auf dem Grund und Boden selbst und sind unabhängig von dem Bekenntnis des Besitzers. 4 Für die kirchlichen Verhältnisse E n g l a n d ^ s. die Ubersicht bei HERZOO, Realencyklapädie für protest. Theologie u. Kirche, 3. Aufl., Bd. 5 (1898) S. 379 ff., W E T Z E R U. W E I T E , Kirchenlexikon, 2. Aufl., Bd. 4 Sp. 5R7 ff. lind die neueste Zusammenstellung im Kirchlichen Handlexikon Bd. 1 (München 1907) S. 1302. * Die Verfassung R u m ä n i e n s verbürgt die Freiheit aller Kulte und die Unabhängigkeit der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte vom religiösen Bekenntnis. Vgl. hierzu H E R Z O G , Realencyklopädie, 3 . Aufl., Bd. 1 7 ( 1 9 0 6 ) S. 2 2 7 s. o. Rumänien, W E T Z E R U. W E L T E , Kirchenlexikon, 2 . Aufl., Bd. 1 0 Sp. 1 3 6 1 ff.

94

Arthur B. Schmidt

schaft durch Art. 10 der Erklärung der Rechte von 1789 als gewährleistet. Ein Zwang zur Annahme oder Aufgabe einer Religion ist ausgeschlossen. Der Austritt aus der Kirche ist nach bürgerlichem Recht frei und formlos.1 An dieser Rechtslage hat auch die neueste Entwicklung Frankreichs, das Kultusgesetz vom 2. Januar 1907, nichts geändert.2 Nicht anders in B e l g i e n , wo die Verfassung vom 25. Februar 1831 Art. 1 §§ 14, 15 volle Kultusfreiheit gewährt. Auch hier zieht Literatur und Praxis unbestritten den Schluß, daß die Kultusfreiheit dem Einzelnen das Recht einräumt, „öffentlich einem Kultus nach seiner Wahl anzugehören oder auch gar keinen zu bekennen." 3 Volle Gewährleistung der Glaubens- und Gewissensfreiheit enthalten ferner die Verfassungen der N i e d e r l a n d e 4 und L u x e m burgs. 5 Wie in Belgien (Art. 15 der Verfassung) stellt auch dieVer1 L E B O N in MARQUARDSEN S Handbuch Bd. IV, 1. Halbband, 6. Abteil. S. 31. Die Frage des Entscheidungsalters in Frankreich s. bei L E B O N S . 31, A. SCHMIDT, Austritt S. 2 1 , K. S C H M I D T , Konfession der Kinder (Freiburg 1890) S. 3 2 . Ein unter väterlicher Gewalt stehendes Kind kann vor Eintritt der Volljährigkeit bzw. vor Entlassung aus der väterlichen Gewalt eine selbständige Wahl des Glaubensbekenntnisses nicht vornehmen. Für die Streitfrage, ob mit dem Ableben beider Elternteile die Bestimmung der Konfession auf den Vormund übergeht s. K. SCHMIDT a. a. 0 . S . 54, 56, L A U R E N T , Principes du droit civil (Paris 1878) Bd. 5. S. 10 (beide für Bejahung) auf der einen Seite, A U B R Y et RAU, Cours de droit civil français (4. éd.) Bd. 1 § 111 S. 4 3 3 and die bei G E I G E R , Die religiöse Erziehung der Kinder S. 300 Anm. 6 angeführten Entscheidungen (für Verneinung) auf der anderen Seite. * Vgl. J . F R I E D R I C H , Die Trennung von Staat und Kirche in Frankreich (Gießen 1907). 3 V A U T H I E R in MARQUARDSENS Handbuch Bd. IV, 1 . Halbband 5 . Abteil. S . 2 2 8 . Vgl. auch B A R A , Rapports de l'état et des religions (Brüssel 1 8 5 9 ) , N Y S S E N S , De l'église et de l'état 4 Verfassungsurkunde Art. 1 6 4 — 1 6 6 ; D E H A R T O G in MARQUARDSEN s Handbuch IV, 1. Halbband 4. Abteil. S. 16, auch S. 68 ff. 6 Verfassungsurkunde §§ 19—22, StGB. Art. 142, E Y S C H E N , Das Staatsrecht des Großherzogtums Luxemburg in MARQUARDSENS Handbuch IV, 1. Halbband 5. Abteil. S. 177 ff. Eine Reihe von Mitteilungen, welche ich der Güte des Herrn Staatsministers Dr. E Y S C H E N verdanke, ermöglicht mir, das Bild, das in MARQUARDSEN s Handbuch gegeben ist, zu vervollständigen. Die Form des Austritts oder der Beitrittserklärung zur katholischen Kirche ist, wie bereits bemerkt, staatsgesetzlich nicht speziell geregelt. Die Zugehörigkeit zur katholischen Kirche hat keine persönliche Beitragspflicht zu den Kultuskosten im Gefolge. Vielmehr sind die Kultuskosten in erster Linie von den gemäß Dekret v. 30. Dez. 1809 gebildeten Kirchenfabriken und subsidiär dem Kommunalfiskus aufzubringen (Dekret v. 30. Dez. 1809 Art. 37, 92, Gemeindegesetz v. 24. Febr. 1843 Art. 89 Nr. 9). Art. 99 des Dekrets v. 30. Dez. 1809 sieht allerdings eine außerordentliche persönliche Beitragspflicht vor; die Bestimmung ist jedoch bisher niemals praktisch geworden, da der eventuelle Fehlbetrag stets von der Gemeinde ge-

Neue Beiträge mm Austritt am der Kirche

95

fassung Luxemburgs (Art. 20) als normale Folge der Kultusfreiheit fest, daß niemand gezwungen werden könne, auf irgend eine Weise an den Handlungen und Feierlichkeiten eines Kultus teilzunehmen oder die Feiertage desselben zu beobachten. Für I t a l i e n bezeichnet wohl Art. 1 der Verfassungsurkunde die römisch-katholische Religion „als einzige Staatsreligion", „die anderen Kulte" als „nur in Übereinstimmung mit den Gesetzen zugelassen". Es ist aber richtig, daß diese Vorschrift „fast zum toten Buchstaben" geworden ist.1 Tatsächlich besteht Gewissens- und Kultusfreiheit. Der Austritt aus einer Bekenntnisgemeinschaft ist frei erlaubt, gleichgültig, ob sich daran ein Übertritt zu einer anderen Religionsgemeinschaft oder volle Konfessionslosigkeit anschließt.2 Die Beobachtung bestimmter Formen wird hierbei von seiten des Staates nicht gefordert. deckt werden konnte und gedeckt wurde. Durch großherzoglichen Beschluß vom 16. April 1894 wurde das Statut der auf Grund der Organischen Artikel des 18. Germinal des Jahres X gebildeten protestantischen Kirchengemeinde genehmigt (vgl. hierzu EYSCHEN a. a. 0 . S . 2 0 0 ) und damit die juristische Persönlichkeit der protestantischen Kirchengemeinde anerkannt. Gemäß Art. 2 dieses Statuts gehören zur protestantischen Kirchengemeinde „alle Protestanten reformierten und augsburgischen Bekenntnisses im Herzogtum Luxemburg, welche sich in das Kirchenregister haben eintragen lassen". Die Eintragung in das .Register ist somit Voraussetzung der Mitgliedschaft. Die Mitgliedschaft zieht jedoch keine persönliche Beitragspflicht nach sich, da die Anerkennung des öffentlichen Charakters des Konsistoriums für die Stadt Luxemburg die rechtliche Verpflichtung begründet, für Bau und Unterhaltung des Kirchengebäudes aufzukommen, während das Gehalt des Predigers (ebenso wie die Besoldung der katholischen Pfarrer) dem Staate zur Last fällt. Die Verhältnisse der jüdischen Gemeinde sind komplizierter Natur, da die Bestimmungen, die der heutigen Organisation zugrunde liegen, nicht allgemein als zu Recht bestehend angenommen werden (Einzelheiten s. bei EYSOHEN a. a. 0 . S. 2 0 2 ff.). — Ein Diskretionsjahr ist in Luxemburg von der Staatsgesetzgebung nicht bestimmt worden. Als geltend werden angesehen die im bürgerlichen Gesetzbuch für Luxemburg (d. i. im Code Napoléon) festgelegten Grundsätze bezüglich der Rechte und Pflichten der Eltern gegen ihre Kinder. Ein Gutachten des Staatsrats vom 27. Januar 1888 erklärt, daß auf Grund der §§ 372, 373 des bürgerl. Gesetzbuchs der Vater als Haupt der Familie allein darüber zu bestimmen hat, welcher Konfession sein Kind angehören soll, oder ob es als religionslos zu behandeln sei, und daß das elterliche Bestimmungsrecht bis zur Volljährigkeit oder Mündigkeitserklärung allein ausschlaggebend sei. Vgl. zu dem letztgedachten Punkt auch GEIGER, Die religiöse Erziehung S. 299 ff. und die dort genannten. 1 BRUSA in MARQUABDSENS Handbuch Bd. I V , 1. Halbband, 7 . Abteil. S . 67ff., 425 ff. * G E I S E L , Das italienische Staatskirchenrecht (Sonderabdr. aus ArchKathKE. Bd. 54, 55) S. 30, SCHIAPOLLI, Manuale del diritto eccles. P. I (Turin 1902) S. 66 Nr. 86, S. 67 ff. Nr. 87 („di professare questa o quella religione, o di non averne alcuna");

96

Arthur B. Schmidt

Ungünstiger liegen die Verhältnisse für unsere Frage in G r i e c h e n l a n d und P o r t u g a l . Die g r i e c h i s c h e Verfassungsurkunde erklärt in Art. 1 die griechisch-orthodoxe Kirche zur herrschenden Staatskirche; andere Bekenntnisse werden lediglich toleriert. Die herrschende Ansicht folgert hieraus, daß ein Austritt aus der Staatskirche nach staatlichem wie nach kirchlichem Recht unzulässig sei. Tatsächlich gehören auch Fälle des Übertritts zur römisch-katholischen Kirche oder zum Protestantismus zu den Seltenheiten. Selbst die Mitglieder der kleinen protestantischen Gemeinde Athens haben nur zum Teil den Ubertritt äußerlich vollzogen.1 Ahnlich ist die Rechtslage in P o r t u g a l , dessen Verfassung gleichfalls die römisch-katholische Kirche zur Staatskirche erklärt und die Zugehörigkeit zu einer anderen Bekenntnisgemeinschaft nur bei Ausländern anerkennt. Wohl zieht die Verfassung der Verfolgung eines portugiesischen Untertanen aus Gründen der Religion beengende Schranken, immerhin ist zur Ausübung des überwiegenden Teils der politischen Rechte die Leistung eines Eides erforderlich, der die Erhaltung und Verteidigung der heimischen Religion verspricht.2 Keine andere Konfession, als die römisch-katholische, darf auch in Portugal Kultusgebäude errichten, die das Aussehen von Kirchen besitzen. Diesen Bestimmungen gegenüber ist es verständlich, daß die Zahl der nichtkatholischen Christen in Portugal eine kleine ist. Nur der englische Einfluß hat die Bildung evangelischer Gemeinden mit Mitgliedern, die das portugische Staatsbürgerrecht besitzen, ermöglicht.3 In S p a n i e n hielten die Verfassungen von 1812 und 1845 die Ausschließlichkeit der römisch-katholischen Religion aufrecht. Erst die politischen Vorgänge des Jahres 1868 führten zu der durch Staatsgesetz vom 5. Mai 1869 anerkannten Religionsfreiheit.4 Die s. auch FRIEDBERÖ e RUFFINI, Tratatto del diritto eccles. § 94 S . 383 ff.; SCADUTO, Diritto ecclesiastico vigente in Italia Bd. 2 S 768 Nr. 501, S. 773 ff. Nr. 503, S. 815 Nr. 528. — Für die religiöse Erziehung der Kinder gilt das für Frankreich in Anm. 1 S. 94 Gesagte. Die eigene Entscheidung des Kindes ist demnach an das vollendete 21. Lebensjahr gebunden. CKISPI war für das vollendete 14. Lebensjahr eingetreten, war aber in der Minderheit geblieben. Einzelheiten s. bei SCHIAPOLLI a. a. 0. S . 71 ff. Nr. 96, 97, 98 und bei SCADUTO a. a. 0. Bd. 2 S . 830ff. Nr. 534. 1 S. HEBZOO, Realencyklopädie, 3. Aufl., Bd. 7 S. 168 Z. 1 s. v. „Griechenland1'. 2 TAVABES DE MEDEIEOS in MARQU ARDSENS Handbuch, Bd. IV, 1. Halbband 9. Abteil. S. 135 ff. 3 HEBZOG, Realencyklopädie, 3. Aufl., Bd. 1 5 (1904) S . 5 6 8 s. v. „Portugal". 4 Die Verfassung von 1869 rechnet auch nicht mehr nur mit andersgläubigen Ausländern, sondern auch mit dem Falle, daß sich „ S p a n i e r zu einer anderen, als der katholischen Religion bekennen".

97

Neue Beiträge zum Austritt aus der Kirche

Rückkehr der Bourbonen und die neue Verfassung von 1876 bedeuteten den Beginn einer rückläufigen Bewegung. Zwar soll nach § 2 der Verfassung des Jahres 1876 auf spanischem Gebiete „Niemand wegen seiner religiösen Meinung oder wegen Ausübung seines Kultus belästigt werden". Aber gemäß § 3 sind „andere Zeremonien und öffentliche Kundgebungen, als die der Staatsreligionen (d. i. der römischkatholischen Kirche) nicht gestattet."1 Wer die Geschichte der nichtkatholischen Gemeinden Spaniens in den letzten 30 Jahren kennt, kennt auch die Schwierigkeiten, die durch eine wiederstrebende Auslegung des § 3 2 allen Nichtangehörigen der spanischen Staatskirche bereitet wurden. 2. In Rußland hat sich ein zäher Kampf um Glaubens- und Gewissensfreiheit während der letzten Jahre vor unseren Augen abgespielt. Das ältere Recht fußte in erster Linie auf den engen Vorschriften des Statuts über Verhütung und Verhinderung von Verbrechen: „Der vornehmste und herrschende Glaube im Reich ist das christliche, rechtgläubige katholisch-orientalische Bekenntnis". Alle anderen christlichen Bekenntnisse sind „ausländische Bekenntnisse." Wohl wurde „den Christen ausländischen Bekenntnisses" und mit ihnen den Juden, Mohamedanern und Heiden Glaubensfreiheit zugesichert (Art. 65). Hinzugefügt wurde aber in Art. 70: „Einzig und allein die herrschende Kirche ist berechtigt, innerhalb der Reichsgrenzen die ihr nicht angehörenden Untertanen zur Annahme ihrer Glaubenslehren zu bewegen." Und Art. 36 fügte hinzu: „Sowohl den im rechtgläubigen Bekenntnis Geborenen als auch denjenigen, welche von anderen Bekenntnissen zu demselben übertreten, wird von ihm abzufallen und einen anderen Glauben, sei es auch ein christlicher, anzunehmen verboten." Eine Ergänzung dieser starren Sätze bildeten die strengen Bestimmungen des Strafgesetzbuchs, die mit Gefängnisstrafe bis zu vier Monaten denjenigen bedrohen, der dem geplanten Übertritt zur orthodoxen Kirche „Hindernisse in den Weg legt", während auf „die Verführung" zum Übertritt von dem griechisch-katholischen zu einem anderen Bekenntnisse Entziehung von Standesrechten und Deportation als Strafe stand.3 1 TORRES CAMPOS in MABCIUAKDSENS Handbuch, Bd. I V , 1. Halbbd. 8. Abteil. S. 11, 16ff.; WETZEE U. W E I T E , Kirchenlexikon, 2. Aufl., Bd. 11 Sp. 546 ff. 1 Vor allem durch die Auslegung des Ausdrucks „öffentliche Kundgebungen". Vgl. HEBZOO, Realencyklopädie, 3. Aufl., Bd. 18 (1906) S . 578 s. v. „Spanien". ' Einzelheiten s. bei M. VON (DETTINGEN, Abriß des russischen Staatsrechts (Berlin 1 8 9 9 ) S. 3 8 ff. ENQELMANN , Staatsrecht des russischen Reichs in MARQUARD3EN s Handbuch (IV, 2. Halbband 1. Abteil. S. 15) enthält hierüber keine

Festschrift £ E . FKIEDBBBQ.

^

98

Arthur S. Schmidt

Wenn irgendwo, so taten gerade auf diesem Gebiete Reformen dringend not. Tatsächlich gab es viele tausende von der orthodoxen Kirche abgefallener Raskolniki und Sektierer, denen verboten war, offen ihren Glauben zu bekennen und geistliche Handlungen durch die Geistlichen desjenigen Bekenntnisses, dem sie innerlich angehörten, in Anspruch zu nehmen. Ganz abgesehen hiervon fehlten diesen Personen die wichtigsten bürgerlichen Rechte. Ihre Geburten, Ehen und Todesfälle wurden der Regel nach nicht registriert. Für sie bestanden keine Familienrechte und keine festen vermögensrechtlichen Gesetze. Weil das Recht die Möglichkeit eines Austritts ausder orthodoxen Kirche ausschloß, wurde der von ihr Abgefallene der Kirche zur Vermahnung überwiesen, sein Vermögen unter Vormundschaft gestellt und Sorge getroffen, daß die minderjährigen Kinder vor gleichen Verirrungen bewahrt wurden.1 Die Besserung dieser auf die Dauer unhaltbaren Zustände ist gekommen. Sie knüpft an die kaiserlichen Erlasse vom 26. Februar 1903 und 12. Dez. 1904 an. Punkt VI des Erlasses vom 12. Dez. 1904 bestimmte: „Zur Festigung des von Uns im Manifest vom 26. Februar 1903 geäußerten festen und herzlichen Wunsches, die durch die Grundgesetze des Reichs geheiligte Duldung in Glaubenssachen aufrecht zu halter, sind die Gesetze über die Hechte der Baskolniki, sowie der Personen, die fremden Bekenntnissen angehören, einer Revision zu unterziehen; abgesehen hiervon sind bereits gegenwärtig auf administrativem Wege entsprechende Maßnahmen zur Beseitigung jeglicher Beschränkungen in der Religionsausübung, die im Gesetz nicht direkt vorgesehen sind, zu ergreifen."

Auf Grund dieser Bestimmung faßte das Ministerkomitee in seinen Sitzungen vom 25. Januar, 1., 8., 15. und 22. Februar und l.März 1905 Resolutionen über Glaubensduldung. Sie weisen die Linien des Toleranzedikts vom 17. April 1905. Das Ministerkomitee will die prävalierende und herrschende Stellung der orthodoxen Kirche anerkannt wissen. Es wirft aber die Frage auf, ob es mit dieser Stellung der orthodoxen Kirche vereinbar ist, daß zwangsweise diejenigen bei ihr gehalten werden, die nur äußerlich zu ihr gehören, ihr aber innerlich entfremdet sind. Hierbei gelangt das Ministerkomitee zu der Antwort, daß Zwang und Nötigung auf dem Gebiete des Glaubens auszuschließen sei. Das Ziel, das erreicht wird, ist die Anerkennung des freien Übertritts von einem christlichen Bekenntnis zu einem verwertbaren Ausfährungen. — Freiere Verhältnisse bestanden nur im Großfurstentum Finnland. Vgl. MICHELTN in MARCIUARDSENS Handbuch a. a. 0. S. 324. 1 Vgl. die Resolution des Ministerkomitees über G'V sksfuüv Kap. 27 daselbst 743, dasjenige des Pantokrators das. 671, dasjenige des Klosters des Erzengels Michael am Afxentiosberge der Eparchie Chalkedon das. 787, dasjenige von Nilos, Abt und Stifter des Klosters zijg &sox6xov von Machäras in Acta V, 421, dasjenige von Gregor Pakurianos Kap. 23 in Bv'Q. Xqov. XI (1904) 44, das Statut der Bruderschaft vom heil. Grabe vom April 1755 in A. Papad. Keram. A. I. 2. ELI, 45—46, d«s Dekret des Erzbischofs Sophronios von Zante und Kephalonia vom 23. November 1759 in Katramis 'Avakexta etc. 394, Art. 7 der Protokole der 10. Sitzung vom 29. April 1833 der Siebener-Kommission für Organisation der kirchl. Verhältnisse im Königreich Griechenland, wie auch den nach diesen Protokollen verfaßten Entwurf eines kirchlichen Statuts des Königreichs Griechenland in Art. 93. Vgl. auch Art. 130 K. K. 4

DMITRIEVSKIJ T y p . 7 8 7 .

6

Ebendort 743, Anm. 5.

Die Klosterklauswr nach dem griechischen Kirche/weckt

125

Kap. 39 des Klosters xijg &soxdxov xfjg EvtgyexiSog1 können in das Kloster behufs Gottverehrung eintreten „al ßirn xal ¿¡gtrij, evysveip rs xal negttpaveip Siaßöijxoi, anaviiag de ayav xal imxtxtiQi](ikvcog, xai, el Svvaröv, ävotjxi (ävcoitjxi), 'Iva ovxcog eyv/xev xö xs evXaßig in' avxatg GVvrrjQilv, xal xo svkaßeg iavxaig nagatpvkÜTxsiv". Gegensätzlich wird nach dem Typikon des Pantokrator auch diesen der Eintritt ins Kloster verwehrt: „Fvvatxsg slg xtjv fiovrjv ovx elaskevaovrai, äßaxog §i aixalg 'iaxai i] fiovrj, xäv xivsg xciv negi 'Hhov ßafiöjv, ijxoi xüv 'EXsyu&v bei DMITRIEVSKIJ Typ. 7 4 3 , und Typikon des Pantokratorklosters, ebendas. 671. 8 Vgl. Kan. 17 des VII. ökumenischen Konzils (II. von Nicäa), das Statut der Brüderschaft vom Heil. Grabe vom April 1755 bei A. Papadop. Keram. A. I. 2. HI, 4 5 - 4 6 ; Nov. 133, Kap 3; Basilik. 19, IV, I; Synopsis Basilic. M. XVn, 6 : „ E i ÖVSQÖOV XÖ ftovaaxT/Qtov anavxa nqanuv ävSqag", MATTH. VLASTAR. in 2vvx. VI, 394 und BENESEWITZ: „EiSr/asig nsqi xü>v ev t£> BaxonsSim xai xfj XavQp xov ayiov 'A&avaoiov TOV 'A&tovfoov evQiaxofievav XEIQOIY(jä èoQzfjv ztjg xoiavxijs àyiag éxxlrjijias V ßovloftsv7j naqayevéaitai, evxrjs X&qiv, (tèxqi xrjs ÜQte zijg àfias Xstxovqyias fiovov f i f j xmXvea&a ' xijvixavxa de xaxèas ìmoxcoqeixai. dia TOVTO ànayoqevovxes xmaxqivo/jev alkoxé note nlr/v tris dijifo&simis rjfiéqag èv ty fiovfj zavzrj naqafevéo&ai." Nach Kap. 27 des Typikon des Klosers zrjg &eoióxov zàv Hhov ßmpöv, rjxoi xùv ékey/iàv in DMITRIEVSKIJ Typ. 743 wird den Weibern der Eintritt ins Kloster auch zu den Ostertagen und den übrigen Festen der Gottesmutter verboten: „ei ¡ir) pàvov xijs Xoifir/as^g xai xovxo X"Ql" nqoaxwrjaeag." Vgl. auch Kap. 48 desselben Typikon, ebendort 767. 4 Typikon des Pantokratorklosters bei DMITRIEVSKIJ Typ. 6 7 1 . 6 Auch nach dem römisch-katholischen Kirchenrechte ist der Eintritt von Weibern in die Klausur der Männerklöster verboten, was sich indes nicht auf die innerhalb des Klosterbereiches belegenen, wenn auch ummauerten Gärten (vgl. FERRARIS S.V. conventus art.3. Nr.lO,ll)noch auf die klösterlichen Kirchen erstreckt (ob auch auf die Sakristei, s. FERRARIS Nr. 14, 15 und AVANZINI-PENNACCHI I, 776ff.). — Pius V. sah, daß die gute Ordnung des mönchischen Lebens in vielen Klöstern, vor allem der Karthäuser, von Weibern gestört wurde, welche auf Grund von päpstlichen Privilegien zur Beichte und anderen Dingen in die. Männerklöster kamen, und widerrief daher durch die Konst. vom 24. Oktober 1566 „Regularium personarum" (Bull. II, 212), welche durch seine Konst. „Decet" vom 16. Juli 1570 vervollständigt wurde (das. 213), diese Privilegien, indem er

128

Konstantin

Bhallis

den Weibern den Eintritt in die Männerklöster verbot, und den Äbten und sonstigen Vorgesetzten, Mönchen und Regularkanonikern die Zulassung der Weiber, und jene mit der dem Papste reservierten Excommunicatio latae sententiae, und diese mit der Strafe der privatio officiorum, der Unfähigkeit zur Erlangung von Amtern und der suspensio a divinis ipso facto incurrenda bedrohte. Siehe HINSCHICS V , 7 9 0 , A n m . 8 .

Diese ebenerwähnten Strafen bestätigte auch Papst Gregor XIII. durch seine Konst. „Ubi gratiae" von 1575. Benedikt XIV. widerrief infolge der Wahrnehmung der in der Praxis nicht beobachteten strengen Durchführung dieser Verbote durch seine Eonst. vom 3. Januar 1742 „Regularis disciplinae" (Bull. Bened. I, 46) alle die kirchlichen Würdenträgern und anderen Personen erteilten Privilegien für Gestattung von Ausnahmen von dem Verbot des Eintritts in die Klausur, in dem er den Übertretern seiner Konst. die dem Papste reservierte Excommunicatio latae sententiae androhte. Siehe HINSCHIDS V, 7 9 0 , Anm. 1 0 . Auch § 7 der Konst. Pius' IX. „Apostolicae sedis" droht die dem Papste vorbehaltene excommunicatio latae sententiae den die Klausur der Männerklöster verletzenden Weibern, an, wie auch den Äbten und sonstigen Mönchen, welche Weiber in die Klausur der Männerklöster zulassen. „Mulieres violantes regularium virorum clausuram et superiores aliosve eas admittentea." Und unter dem Begriff superiores sind die in dem Kloster für Wahrung der guten Ordnung zu sorgen habenden zu verstehen, nämlich abbati, priores, rectores, ministri, guardiani, vicarii usw., nicht aber auch die nur lehramtliche Pflichten ausübenden Professoren, Lehrer usw. Dagegen fallen unter den Begriff aliosve admittentes besonders die Pförtner, nicht aber auch dienende Laien, wenn sie „etiam ad malum finem" Weiber einführen oder zulassen. Vgl. PENNACCHI I, 790 und HOLL WECK, Die kirchlichen Strafgesetze, Mainz 1899, § 152 S. 229 Anm. 5 i. f. Nur für die Männerklöster der vom Papste anerkannten Mönchsorden, in specie sie dicta, wo vota solemnia herrschen, zu denen auch der Jesuitenorden zählt, gelten die Konstitutionen über die clausura papalis, nicht aber auch, wie irrigerweise DAVIS in Nouvelle Revue Theologique I X , 2 4 8 annimmt, für die Klöster der Kongregationen, wo vota Simplicia gegeben werden, wie der Redemptoristen, Lazaristen, Passionisten, Pallo tiner, Väter vom heil. Geiste, Maristen usw., wenn sie auch eine Klausur beobachten. Vgl. AVANZINI-PENNACCHI I , 7 8 8 f f . ; D'ANNIBALE N r . 1 2 7 ; BUCCEBONI S . 1 0 1 ; GONELLA S . L L L ; HILABUS A SEXTEN S.

192.

Der Strafe werden die in den Klausurraum eintretenden Weiber unterworfen außer 1. den für ihr Handeln kein Verständnis habenden, sei es aus geistiger Störung, sei es wegen jugendlichen Alters, wie noch nicht siebenjährige Mädchen (puellae infantes) und noch nicht ehemündige Mädchen, falls sie nicht doli capaces sind. Bonacina de clausura qu. 5, p. 2 , Nr. 1 ; PENNACCHI I, 7 8 8 ; HINSCHIÜS V, 7 9 1 ; HEINEB, Zensuren S. 1 9 0 ; BUCCERONI S. 1 0 1 ; GONELLA S. 1 1 0 ; D'ANNIBALE Nr. 128. —, 2. den katholischen Kaiserinnen, Königinnen, deren Töchtern und deren Gefolge. Bezüglich dieser wurden in der Praxis schon früher die von den oben erwähnten Konst. Pius' V. und Gregors XIII. angedrohten Strafen nicht angewendet, weil in ihnen nur Herzoginnen und Gräfinnen angeführt werden. V g l . FEBRABIS N r . 2 2 ;

AVANZINI-PENNACCHI I , 7 8 7 ;

HEINER 1 9 1 ;

B.

DOLHAGABAY:

La loi de la clöture dans les convents d'hommes in Revue des sciences ecclé-

Die Klosterklausur nach dem griechischen Kirehenrecht

129

2. von jungen bartlosen Leuten,1 seien sie auch Söhne, leibliche Verwandte oder sonstwie Verwandte.2 Bartlose erachtet die von dem Athos-Protos Paulus im Juli siastiques L X X V (1897), 230 ff. — 3. Frauen edler Abkunft, welche zum Eintritt in den Klausurraum eine besondere päpstliche Erlaubnis nahmen, als Abkömmlinge oder Verwandte der Stifter der Klöster, oder Frauen in Verwandtschaft oder Verschwägerung mit dem klösterlichen Landesherrn, welche aus Rechtstitel oder Herkommen das Eintrittsrecht erworben haben. Aber sie müssen stets den Bischöfen die ihnen durch päpstliches Schreiben (breve oder bulla) gegebene Erlaubnis vorweisen, und, falls sie den Eintritt zur Beiwohnung des Gottesdienstes oder zur Erfüllung anderer religiöser Pflichten wünschen, den Äbten schon vorher ihre Ankunft anzeigen, damit ihr Eintritt in die Kirche möglichst ohne Belästigung der Mönche geschieht. Vgl. KonBt. „Regularis" Benedikts XIV. von

1742 u n d

HINSCHIÜS, V

792.

Die Auferlegung der Strafen setzt die vorsätzliche Verletzung der Klausur voraus, was nicht der Fall, wenn Weiber, welche zu den in den Klöstern abgehaltenen Liturgien und Litaneien kommen, denen alle Gläubigen beiwohnen dürfen, den Klausurraum betreten, desgleichen wenn sie zur Anhörung der Predigten sich in der Klosterkirche einfinden, uud bei der zusammenströmenden Menge Eintritt und Austritt mit anderen Weltlichen nicht durch das Kirchentor, sondern durch die Klausurraum und Kirche verbindende Tür erfolgen. Vgl. §§ 3 und 4 der Konst.: „Decet" Pius' V. Diese Ausnahme, obwohl nur für die Karthäuser-Kongregation der h. Jungfrau vom Berge eingeführt, hat die Theorie und die Praxis als für alle Orden gültig angenommen. Manche Interpreten nehmen sogar an, daß diese Ausdehnung auf alle Mönchsorden durch oraculum vivae vocis erfolgt sei. Vgl. FERRARIS Nr. 23, 26; AVANZINI-PENNACCHI I , 7 9 8 ; HINSCHIÜS, V ,

791.

Die Verletzung der Klausur infolge schwerer Nachlässigkeit bei der Beaufsichtigung zieht keine Auferlegung von Strafe nach sich, obgleich es sich um eine schwere Sünde handelt. 1 Vgl. das Typikon des Kaisers Johannes Tzimiskis von 972 bei METER H. U. 147, 149; die Goldbulle des Kaisers Alexius I. Komnenos von April 1088 in Acta VI, 45—46; Kap. 23 des Typikon Gregors Pakurianos in Bv£. Xqov. X I (1904) Anhang, 44, Jir¡yr¡oiv (isQixìjv zùiv ématoloiv 'AXs^íov ßaaiXsttg xai NixoXáov naiQiáq/ov, i¡revo[Áévrp> xajà StaqiÓQOvg xaigovg in MEYER, H. U. 175, die Schreiben der Patriarchen von Konstantinopel Joachim I. aus dem Jahre 1498, das. 211—212, und Dionysius IV. in E. A. X X I I I (1903) 507. Nach Art. IV des Synodal-Tomus des Patriarchen Gabriel III. vom August 1705 716QÌ zfjg TCÜV £ívaiziúv öioixyoeag (To xavovixòv Sixaiov zov HazQ. &qòvov làty ' leQoavXvfiav etc. Konst. 1868, 122): „áyéveia naiöia xal èli veaQovza, xa xcti amava 7iaq avioig óvo¡ia'C,ó¡iava, ovie TÒV AQ/tentaxonov etuáyeiv eis iò FIOVAiov, xiti ioti; ßovXo/isvovg eiaúyeiv avrà /ir¡dóXü>g ¿v ev&ov oixrjou xrjg ¡lovrjg, nXX'avioi [tövot xov oixeiov naqideiaov xaioixijaovai, xac covxov enifieXCog yeuqyrjoovoi xai