Eschatologie und Schöpfung: Festschrift für Erich Gräßer zum siebzigsten Geburtstag 3110155451, 9783110155457

Die Reihe Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft (BZNW) ist eine der ältesten undrenommierteste

264 79 15MB

German Pages 468 Year 1997

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Eschatologie und Schöpfung: Festschrift für Erich Gräßer zum siebzigsten Geburtstag
 3110155451, 9783110155457

Table of contents :
Vorwort
Endzeitliche Völkermission und antiochenische Christologie
Heilen und Heilung in der Alten Kirche
Albert Schweitzers Ethik und die Menschenrechte. »Ethik ist bis ins Unendliche erweiterte Verantwortung«
»Jedes menschliche Geschöpf« und »treuer Schöpfer«. Schöpfungstheologische Aspekte in 1.Petr 2,13; 4,19
Denkende Frömmigkeit und frommes Denken. Das ›elementare Denken‹ als Schnittpunkt von Philosophie und Religion bei Albert Schweitzer
Die Schöpfungsthematik in der Johannesoffenbarung
»Einer ist Gott – Einer ist Herr«. Erwägungen zu Struktur und Aussage des Bekenntnisses 1.Kor 8,6
Die Krise der Städte und die Stadt Gottes
Textinterpretation und Hermeneutik des Einverständnisses. Kritische Anmerkungen zu den Theorien von Hans-Georg Gadamer und Peter Stuhlmacher
»Neue Schöpfung« – Grund und Maßstab apostolischen Handelns (2.Kor 5,17)
Eschatologie und Schöpfung bei Lukas. Eine kosmische Liturgie im dritten Evangelium
Die Auferstehung der Toten. Adam und Christus nach l.Kor 15
Anthropologie und Eschatologie im Hebräerbrief. Bemerkungen zum theologischen Interesse einer frühchristlichen Schrift
»Die Juden zuerst und ebenso die Griechen«
1.Thessalonicher 4,13–18 im Lichte des gegenwärtigen Forschungsstandes
Im Spannungsfeld von Protologie und Eschatologie. Zur kurzen Geschichte der aktiven Beteiligung von Frauen in paulinischen Gemeinden
Soteriologie und Ethik im Kontext von Eschatologie und Schöpfungslehre in 2.Clem 1
Das Reich des Menschensohnes. Ein Beitrag zur Eschatologie des Matthäus
Rechenschaft über die Hoffnung im Vertrauen auf Gottes Treue. Zur Selbstprüfung der Kirche im Blick auf Israel
Über Empfänger und Anlaß des Hebräerbriefes
Das messianische Zwischenreich bei Paulus
Die Sonne im Markusevangelium. Hinweise zur Eschatologie und Schöpfungslehre des Markus
Die Exegese des Hebräerbriefs als Herausforderung für die Praktische Theologie
Ethik im Kontext eines evolutionären Weltbildes
Israels Zukunft und die Parusieverzögerung bei Lukas
Albert Schweitzers Interpretation des Galaterbriefs. Ein Impuls für die heutige Paulus- und Actaforschung
Bibliographie Erich Gräßer 1992–1997

Citation preview

Eschatologie und Schöpfung Festschrift für Erich Gräßer

W G DE

Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentüche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche

Band 89

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1997

Eschatologie und Schöpfung Festschrift für Erich Gräßer zum siebzigsten Geburtstag Herausgegeben von Martin Evang, Helmut Merklein und Michael Wolter

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1997

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek -

CIP-Einheitsaufnahme

[Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche / Beihefte] Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche. — Berlin ; New York : de Gruyter Früher Schriftenreihe Reihe Beihefte zu: Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche Bd. 89. Eschatologie und Schöpfung. - 1997 Eschatologie und Schöpfung: Feschrift fur Erich Gräßer zum siebzigsten Geburtstag / hrsg. von Mardn Evang ... — Berlin ; New York : de Gruyter, 1997 (Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche ; Bd. 89) ISBN 3-11-015545-1

ISSN 0171-6441 © Copyright 1997 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen Printed in Germany Druck; Werner Hildebrand, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin

Vorwort Die Gattung »Festschrift« entwickelt ihre eigene Dynamik. Festschriften werden immer umfangreicher, die durch sie Geehrten werden zahlreicher, und deren Alter hat sinkende Tendenz. Erich Gräßer hat es konsequent abgelehnt, an Festschriften vor dem siebzigsten Geburtstag des zu ehrenden Jubilars mitzuarbeiten. Am 23. Oktober 1997 vollendet er nun selbst das siebzigste Lebensjahr. Kein Zweifel, daß er eine Festschrift verdient hat! Das ist nicht nur die Überzeugung derer, die an diesem Band mitgewirkt haben. Das Werk Erich Gräßers deckt nahezu das gesamte Gebiet neutestamentlicher Exegese und Theologie ab. Der Titel der Festschrift markiert nur die theologisch nicht mehr überschreitbaren Eckpunkte: Eschatologie und Schöpfung. Was Erich Gräßer zwischen diesen Eckpunkten - und beeinflußt von ihnen - gestaltet hat, soll unter vier thematischen Aspekten gewürdigt werden: Den Ausgangspunkt - auch chronologisch - bildet das Thema der Eschatologie. Ihm widmete er seine Dissertation »Das Problem der Parusieverzögerung in den synoptischen Evangelien und in der Apostelgeschichte«. Die zuerst 1957 veröffentlichte und zuletzt 1977 in dritter Auflage erschienene Arbeit gehört seit langem zu den Standardwerken. Monographisch hat er das Thema noch einmal aufgenommen in der Studie »Die Naherwartung Jesu« (1973). Erich Gräßer sieht klar, daß »die Glaubwürdigkeit der eschatologischen Botschaft auf dem Spiel (steht), wenn Jesus sich tatsächlich im Zentralen, der Ansage der Gottesherrschaft, geirrt haben sollte« (Problem 3 , S. VII). Er widersteht aber der Versuchung, die Zeitlichkeit der Ansage Jesu auszuhöhlen, und setzt auf die neuen Interpretationshorizonte, die die Botschaft Jesu in der ebenfalls apokalyptischen Glaubenserfahrung von Ostern gewinnt (ebd., S. XXII). Mit diesem Ansatz, den er in zahlreichen Einzelstudien zum historischen Jesus, zu den Synoptikern und zur Apostelgeschichte weiter entfaltete, hält er sich die kerygmatische Option seines Lehrers Rudolf Bultmann offen, obwohl er in der Einschätzung Jesu nicht unerheblich von ihm abweicht. Ein zweiter Themenbereich ist der Exegese und Auslegung des Hebräerbriefes gewidmet. Das Fundament dazu legte die Habilitationsschrift »Der Glaube im Hebräerbrief« (1965). Seither hat Erich Gräßer eine Fülle von Beiträgen zu dieser Schrift vorgelegt, die von ihrer theologischen Konzeption her in eine Reihe mit Paulus und dem Evangelisten Johannes zu stellen ist. Ein Teil dieser Aufsätze wurde anläßlich seines 65. Geburtstags unter dem Titel »Aufbruch und Verheißung« herausgegeben (1992). Die Krönung seiner diesbezüglichen Arbeiten stellt aber der große Kommentar zum He-

VI

Vorwort

bräerbrief in der Reihe des »Evangelisch-Katholischen Kommentars« (EKK) dar, dessen erster Band 1990 erschien. Der zweite Band folgte 1993, und der dritte und letzte Band erschien im Frühsommer dieses Jahres. Erich Gräßer hat einen dezidiert theologischen Kommentar vorgelegt, ohne allerdings die gerade im Hebräerbrief äußerst komplexen religions- und traditionsgeschichtlichen Probleme zu vernachlässigen. Dem Anliegen des Auetors ad Hebraeos, die Glaubenskrise durch »bessere Theologie« zu bewältigen (Hebr I, S. VIII), hat Erich Gräßer mit einer kongenialen Interpretation entsprochen. Der dritte Themenkreis ist inhaltlich facettenreich, doch entspringen die einzelnen Segmente einem dezidierten hermeneutischen Interesse. Obwohl entschiedener Verfechter der historisch-kritischen Methode, hat Erich Gräßer nie einen Zweifel an seinem theologischen Impetus gelassen. Seinem großen Vorbild Rudolf Bultmann verpflichtet, war ihm die Vermittlung von Exegese und Verkündigung ein beständiges Anliegen. Er selbst hat diese Vermittlung regelmäßig durch Predigtmeditationen praktiziert. Freimütig hat er auf aktuelle Herausforderungen reagiert, wenn er das Evangelium in Gefahr sah, und sich mehrfach zur politischen Theologie geäußert. Er widersprach einer Auflösung der Christologie in die Anthropologie, wie sie in den 60er und 70er Jahren postuliert wurde, und in ähnlicher Weise erhob er in den 80er Jahren mehrfach seine Stimme gegen die Erklärung seiner Rheinischen Landeskirche zum Verhältnis von Juden und Christen, was ihm manch herbe Kritik eingebracht hat. Aber es fragt sich, ob das Beharren auf der Christologie als der differentia specifica Christiana nicht zur Redlichkeit des jüdisch-christlichen Dialogs gehört und einer Verständigung mehr nützt als manch eilige Verwischung der Unterschiede. Der größere Teil seiner Arbeiten zu diesem Thema liegt gesammelt in dem Band »Der Alte Bund im Neuen« vor (1985). - Seit dem Ende der 70er Jahre begleitet ihn ein weiteres Thema, das man in dieser Eindeutigkeit bei einem Exegeten kaum vermutet und das in der Theologie erst allmählich den gebührenden Platz findet. Schon 1978 wandte sich Gräßer gegen eine »falsche Anthropozentrik« und plädierte für eine »Theologie der Schöpfung«. Seither wurde er nicht müde, den sprachlosen Lebewesen seine Stimme zu leihen und sich in Wort und Tat für den Tierschutz einzusetzen. Und in der Tat kann wird man sich nur schwer seiner Einsicht entziehen können, daß der Umgang mit dem Leben das Kriterium für die Ernsthaftigkeit einer humanen Ethik ist. Damit ist schon das Stichwort genannt, das zum vierten Thema überleitet. Theologisch steht es wie das eben genannte unter der Perspektive der Schöpfung. Es hat für Erich Gräßer aber einen konkreten Namen bekommen: Albert Schweitzer. Den meisten Zeitgenossen nur als der berühmte Urwalddoktor bekannt, war Schweitzer zugleich Musiker und Theologe. Es gibt kaum eine Problemstellung in der modernen Jesus- und Paulusforschung, in die nicht schon Albert Schweitzer verwickelt gewesen wäre, und Erich Gräßer gebührt das Verdienst, den Theologen Schweitzer wieder ins

Vorwort

VII

Bewußtsein gerückt zu haben. Neben vielen kleineren Beiträgen ist hier vor allem die Monographie »Albert Schweitzer als Theologe« zu nennen (1979), die auch auf den Prediger Schweitzer aufmerksam macht. Daß Erich Gräßer vor allem von der Ethik Schweitzers fasziniert war und ist, wird angesichts seines Eintretens für eine die ganze Schöpfung umfassende Verantwortung des Menschen nicht verwundern. Das Schweitzersche Programm einer »Ehrfurcht vor dem Leben« ist für Erich Gräßer immer deutlicher zum Prinzip einer christlichen Ethik geworden. Erich Gräßer ist Präsident der Wissenschaftlichen Albert-Schweitzer-Gesellschaft und Mitherausgeber der »Werke aus dem Nachlaß« Albert Schweitzers. Die Gedankenbewegung von hinten nach vorne - von der Eschatologie zur Schöpfung - ist nur auf den ersten Blick erstaunlich. Sachlich ist sie höchst konsequent, da eine Eschatologie nur dann weiß, wovon sie redet, wenn sie sich auf die Schöpfung bezieht, und umgekehrt von der Schöpfung nur in eschatologischer Perspektive christlich geredet werden kann. Forschungsgeschichtlich hat Erich Gräßer den Weg von Bultmann zu Schweitzer gebahnt. Das Ergebnis gleicht einer Ellipse mit zwei Brennpunkten. Mit Rudolf Bultmann und seiner Kerygmatheologie teilt Erich Gräßer die Überzeugung von der Kraft des Wortes. Ihm verdankt er die existentiale Hermeneutik, und mit der liberalen Theologie Albert Schweitzers teilt Erich Grässer die Überzeugung, daß Theologie sich in der ethischen Herausforderung der Praxis zu bewähren hat. Mit der keineswegs naheliegenden Vermittlung von Bultmann und Schweitzer hat Erich Gräßer ein eigenständiges Werk mit zukunftsweisenden und zukunftsbeständigen Perspektiven geschaffen. Alle, die Erich Gräßer kennen, wissen, daß die Ökumene für ihn eine wichtige Rolle gespielt und er sie mit der größten Selbstverständlichkeit praktiziert hat. Sichtbar wird dies in seiner Tätigkeit als Herausgeber des »Ökumenischen Taschenbuch-Kommentars zum Neuen Testament« (ÖTK) und seine bereits erwähnte Mitarbeit am »Evangelisch-Katholischen Kommentar« (EKK). Hinzu kommen noch seine selbstverständliche Teilnahme an gemeinsamen Gottesdiensten und interkonfessionellen Lehrveranstaltungen in Bonn und Jerusalem. Erich Gräßer hat in dieser Hinsicht katholischen und evangelischen Studierenden ein überzeugendes Beispiel gegeben und vor allem auch das theologische Gespräch zwischen den beiden Bonner theologischen Fakultäten in ganz außerordentlicher Weise gefördert. Wir verstehen die Festschrift als ein Zeichen des Respekts vor einem großen wissenschaftlichen Werk und bekunden mit ihr zugleich der Person Erich Gräßer unsere Dankbarkeit. Wir wünschen uns, daß er noch viele Jahre am wissenschaftlichen Gespräch teilnehmen wird, und wir wünschen ihm, daß er noch lange Jahre Freude an diesem Gespräch hat. *

*

*

Daß es möglich wurde, Erich Gräßer zu seinem 70. Geburtstag in dieser Form zu grüßen, verdanken wir der freundlichen Bereitschaft der Autoren,

VIII

Vorwort

an dieser Festschrift mitzuarbeiten, sowie Herrn Dr. Hasko von Bassi vom Verlag Walter de Gruyter, der sich spontan bereit erklärt hat, diese Festschrift in den Beiheften zur ZNW zu publizieren. Wir möchten ihnen allen darum an dieser Stelle herzlich danken. Darüber hinaus geht unser Dank auch an die Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neues Testament der Bonner Evangelisch-Theologischen Fakultät, Dr. Reinhard von Bendemann, Kordula Leis, Dirk Schinkel und Martin Ufer, für ihre Mithilfe bei den Korrekturen sowie vor allem an Brigitte Schmitz, die die Hauptlast bei der Erstellung der Druckvorlage getragen hat.

Bonn, am 23. Oktober 1997

Martin Evang Helmut Merklein Michael Wolter

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

V

BECKER, JÜRGEN

Endzeitliche Völkermission und antiochenische Christologie

1

BRENNECKE, H A N N S CHRISTOF

Heilen und Heilung in der Alten Kirche

23

BULTMANN LEMKE, A N T J E

Albert Schweitzers Ethik und die Menschenrechte. »Ethik ist bis ins Unendliche erweiterte Verantwortung«

47

E V A N G , MARTIN

»Jedes menschliche Geschöpf« und »treuer Schöpfer«. Schöpfungstheologische Aspekte in l.Petr 2,13; 4,19

53

GÜNZLER, C L A U S

Denkende Frömmigkeit und frommes Denken. Das >elementare Denken< als Schnittpunkt von Philosophie und Religion bei Albert Schweitzer

69

H A H N , FERDINAND

Die Schöpfungsthematik in der Johannesoffenbarung

85

HOFIUS, OTFRIED

»Einer ist Gott - Einer ist Herr«. Erwägungen zu Struktur und Aussage des Bekenntnisses 1.Kor 8,6

95

HONECKER, MARTIN

Die Krise der Städte und die Stadt Gottes

109

HORNIG, GOTTFRIED

Textinterpretation und Hermeneutik des Einverständnisses. Kritische Anmerkungen zu den Theorien von Hans-Georg Gadamer und Peter Stuhlmacher

123

KERTELGE, K A R L

»Neue Schöpfung« - Grund und Maßstab apostolischen Handelns (2.Kor 5,17)

139

KLEIN, GÜNTER

Eschatologie und Schöpfung bei Lukas. Eine kosmische Liturgie im dritten Evangelium

145

χ

Inhaltsverzeichnis

LINDEMANN, ANDREAS

Die Auferstehung der Toten. Adam und Christus nach l.Kor 15

155

LOHR, HERMUT

Anthropologie und Eschatologie im Hebräerbrief. Bemerkungen zum theologischen Interesse einer frühchristlichen Schrift

169

LOHSE, EDUARD

»Die Juden zuerst und ebenso die Griechen«

201

MERK, OTTO

l.Thessalonicher 4,13-18 im Lichte des gegenwärtigen Forschungsstandes

213

MERKLEIN, H E L M U T

Im Spannungsfeld von Protologie und Eschatologie. Zur kurzen Geschichte der aktiven Beteiligung von Frauen in paulinischen Gemeinden

231

PRATSCHER, W I L H E L M

Soteriologie und Ethik im Kontext von Eschatologie und Schöpfungslehre in 2.Clem 1

261

ROLOFF, JÜRGEN

Das Reich des Menschensohnes. Ein Beitrag zur Eschatologie des Matthäus

275

SAUTER, GERHARD

Rechenschaft über die Hoffnung im Vertrauen auf Gottes Treue. Zur Selbstprüfung der Kirche im Blick auf Israel

293

SCHMITHALS, W A L T E R

Über Empfänger und Anlaß des Hebräerbriefes

321

SCHRÄGE, WOLFGANG

Das messianische Zwischenreich bei Paulus

343

SCHREIBER, JOHANNES

Die Sonne im Markusevangelium. Hinweise zur Eschatologie und Schöpfungslehre des Markus

355

SCHRÖER, HENNING

Die Exegese des Hebräerbriefs als Herausforderung für die Praktische Theologie

375

W Ö L F E L , EBERHARD

Ethik im Kontext eines evolutionären Weltbildes

387

W O L T E R , MICHAEL

Israels Zukunft und die Parusieverzögerung bei Lukas

405

Inhaltsverzeichnis

XI

ZAGER, WERNER

Albert Schweitzers Interpretation des Galaterbriefs. Ein Impuls für die heutige Paulus- und Actaforschung Bibliographie Erich Gräßer 1992 - 1997

427 449

Endzeitliche Völkermission und antiochenische Christologie v o n JÜRGEN BECKER

Es war einst ein Römer 1 , der sich beklagte, daß in den griechischen Bibliotheken eine schier unendliche Büchermenge lagere, die so entstanden sei, daß von vielen dasselbe gesagt würde und eben darum die Bibliotheken gedrängt voll Bücher stünden. 2 Dieses Urteil mag für die Gegenwart neues Gewicht erhalten. Die gegenwärtige Explosion der Literaturfülle läßt uns dann natürlich die Vergangenheit weniger dramatisch beurteilen. Allerdings gibt es in der neutestamentlichen Wissenschaft einige entscheidende Probleme, über die der Dialog weitergeführt werden muß. Dazu gehört die historische Aufhellung und systematische Einschätzung der Zeit von Jesu Tod bis zu den ältesten Paulusbriefen (l.Thess; l.Kor). Hier erscheint das fast exponential ansteigende Literaturangebot ebenso überwältigend wie uferlos vielfältig. Diese rund zwanzig Jahre sind dabei nicht einmal in erster Linie für den Historiker darum ein Problem, weil die Zahl und Kennzeichnung der Überlieferungen, Wortfelder und Motive, die als Bausteine für ein Bild dieser Zeit dienen können, so sehr variiert. In diesem Punkt der Materialerhebung ist die Variantenbreite gar nicht so übermäßig groß. Kritischer zu sehen ist schon die Energie, mit der man von diesen Traditionen usw. möglichst viel sehr früh datiert und etwa dem Stephanuskreis schon fast alles, was »vorpaulinisch« sein kann, zugewiesen hat. Hier wird wohl doch ein methodisch unkontrollierter »Verschiebebahnhof« sichtbar. Problematischer allerdings sind die konzeptionellen Aspekte und Geschichtsbilder, mit deren Hilfe diese Geschichte nachkonstruiert wird. Da schwören die einen auf mehrere »frühchristliche Anfange« oder »Christentümer«, 3 wobei der Bezug zum Wirken Jesu im Schatten des Interesses liegt. Dieser Ansatz kann zu dem Urteil führen, es sei unmöglich, von einer Einheitlichkeit des österlichen Neuanfangs auszugehen. Da sich Vielfalt gegenseitig relativiert, sei damit die Frage der Normativität deplaziert. Also solle

M.T.Cicero, Tusc.Disp. 11,6. Diese Aussage hat wohl auch eine topische Seite; vgl. nur Koh 12,12. Der Ausgangspunkt dafür ist W.Bauer, Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum, Tübingen 1934 (BHTh 10).

2

Jürgen Becker

man auch nicht mehr vom »Urchristentum« reden. Die anderen 4 deuten denselben Geschichtsabschnitt als homogene innerlich notwendige Entfaltung. Eine intensive Kontinuität zu Jesus ist selbstverständlich. Ostern läßt Jesus in einem erweiterten Licht sehen. Das Neue der Ostererfahrung wird klein gehalten. Die Normativitätsfrage erhält einen hohen Stellenwert. So folgen die einen der Anschauung, anfangliche, spontan entstehende Vielfalt wird langsam geordnet; die später festgestellte Normativität ist dabei eine fragliche Setzung. Die anderen huldigen eher einem organologischen Geschichtsbegriff. Wie sich etwa ein Same entelechisch entfaltet, so wächst aus dem Anfang die Christenheit. Diese und andere Gesamtauffassungen müssen sich immer wieder an den Texten bewähren. Ich selbst neige einer anderen Gesamtinterpretation zu 5 : Die erste urchristliche Generation hatte zwei innovative Situationen zu bewältigen, deren Nachwirkungen langfristig und großflächig die weitere Christentumsgeschichte bestimmte: die Verarbeitung der Ostererfahrung und der Weg Antiochias zur Völkermission. Die erste Situation erbrachte für den Bezug zum gekreuzigten Jesus und zu seinem Gesamtwirken eine ganz spezifische Transformation. Die damit auch einsetzende christologische Entwicklung führt nicht zu »Christentümern«. Man versteht sich vielmehr bei aller möglichen inneren Vielfalt als eine klar umrissene Sondergruppe an den jüdischen Synagogen, die Oster- und Geisterfahrung gemeinsam teilt, die vom neuen christologischen Bezug auf Jesu Wirken und Geschick lebt, die dieselbe Geschichtsauffassung (Jesu Wirken und Geschick sind beginnende Endzeit) und Hoffnung besitzt und dasselbe ekklesiologische Selbstverständnis als Endzeitgemeinde innerhalb des Frühjudentums ihr eigen nennt. Anders steht es mit dem Entscheid Antiochias. Da hier die bis dahin selbstverständliche innerjüdische Einbindung gesprengt wird (Gal 3,26-28; Rückschluß aus l.Thess und l.Kor), weil sich nun die antiochenische Gemeinde aus Juden- und Völkerchristen außerhalb des Judentums »in Christus« und nicht mehr aufgrund von Beschneidung und Gesetz als Einheit definiert, vermehrt sich nicht nur quantitativ die Vielfalt um eine weitere Nuance, sondern ab jetzt gibt es in der Diskussion um den rechten christlichen Weg zwei ekklesiologische Grundverständnisse, die bis in die Alternative von legitim und illegitim miteinander streiten (Act 15,1.5; Gal 1,6-9 usw.). Christliche Einheit, die nach wie vor von der Mehrheit und den maßgeblichen Gestalten des Urchristentums gewollt ist (Act 15; Gal 2), bedarf von nun ab auch immer der Grenzziehungen. So sicher es weiterhin natürlich

Typisch für diese Position: M.Hengel, Christologie und neutestamentliche Chronologie: Neues Testament und Geschichte. FS Oscar Cullmann, Zürich/Tübingen 1972, 43-67; ders., Der Sohn Gottes, Tübingen 2 1977. Ich habe sie in: Das Urchristentum als gegliederte Epoche, Stuttgart 1993 (SBS 155) skizziert.

Endzeitliche Völkermission und antiochenische Christologie

3

vornehmlich dieses gibt: gegenseitige Achtung von positionellen Standpunkten und Integration von verschiedenen Traditionen in eine neue Einheit. Gravierend bei der Einschätzung dieser rund zwanzig Jahre nach Jesu Tod wirkt sich weiter der Umgang mit den Quellen aus. Mag das, was einige schnell und pauschal die »Hyperkritik« an der Apostelgeschichte nennen, methodisch auch nicht mehr den neuesten Stand der Forschung hergeben, daß aber nun der Umgang mit der Apostelgeschichte so zum Ziel kommen soll, daß sie recht unmittelbar als maßgebliche Geschichtsquelle gilt und weitgehend historischer Kritik entzogen wird 6 , erweckt Unbehagen und Kopfschütteln 7 : Denn der gern getätigte pauschale Verweis auf die Althistoriker, die ihren narrativen Quellen hohen Geschichtswert zuerkennen, hilft so allgemein wenig. Erstens ist sich diese Zunft darin selbst nicht einig. Zweitens gibt es doch wohl auch noch zwischen Thukydides und Lukas Unterschiede. Drittens - und das ist entscheidend - ist weder ein Althistoriker noch ein Neutestamentier von der Aufgabe befreit, sorgfältig zuerst das narrative Geflecht eines Textes und die Gesprächslage zwischen Autor und Leser zu erheben und sodann nach der Diachronie eines Werkes zu forschen, bevor er sich endlich angesichts der erzählten Welt in eine geschichtliche Erörterung begibt. Genau hier liegt aber durchweg ein konstitutiver Mangel bei den Autoren, die den Geschichtswert des Lukaswerkes so hoch schätzen. Sie gehen, wo immer es ihnen beliebt, vom Text viel zu unmittelbar in historische Wahrscheinlichkeitserwägungen über. Auch sei daran erinnert: Was man sich als möglich zurechtlegt und vorstellen kann, ist nicht nur meistens recht subjektiv, ergibt aber vor allem noch lange nicht das, was einst war. Wer sein Geschichtsbild im wesentlichen durch Vorstellbares, Mögliches und Wahrscheinliches beherrschen läßt, hat die Komplexität, das Unerwartete und das Querliegende der Geschichte domestiziert. Der besondere Geschichtswert der Apostelgeschichte kann sich weiter nur so ergeben, daß man die Paulusbriefe als kritischen Gesprächspartner zu Lukas herabstuft 8 oder hier zu harmonistischer Vereinnahmung Zuflucht nimmt. Doch ist es methodisch geboten, z.B. Gal lf und die paulinische Korrespondenz mit Korinth gleichrangig mit entsprechenden Actapassagen Vgl. zum Diskussionsstand: K.Haacker, Stephanus in der Geschichte des Urchristentums: ANRW II/26/2 (1995) 815-938.1924-1933: 1531ff; B.Wander, Trennungsprozesse zwischen Frühem Christentum und Judentum im 1. Jahrhundert n. Chr., Tübingen/Basel 1994 (TANZ 16) 45ff. Das um so mehr, als eine inhaltliche und detaillierte Auseinandersetzung mit den Einzelbeobachtungen der Actaforschung seit M.Dibelius dabei meist nicht stattfindet, vielmehr nur z.B. konstatiert wird: »Die verschiedenen kritischen Wellen haben sich ... totgelaufen« (H.Botermann, Der Heidenapostel und sein Historiker: ThBeitr 24 [1993] 62-84: 62). Das ist der Vorschlag von Botermann, Heidenapostel (s.o. Anm. 7) 65ff, die zwischen einer »Geschichtsschreibung« wie Acta und den »Überresten« - dazu zählt sie u.a. die Paulusbriefe - qualitativ unterscheidet.

4

Jürgen Becker

ins Gespräch zu bringen. Denn welchen inhaltlichen Grund sollte es geben, gedeutete Geschichte des Paulus und gedeutete Geschichte des Lukas qualitativ zu unterscheiden? Es gibt sogar Gründe, in bestimmten Fällen Paulus einen Vorrang einzuräumen. Harmonistische Exegese streitet in der Regel ab, daß sie textglättendes Vorgehen bejaht. Man weiß, das ist methodisch fragwürdig. Neuerdings wird dies jedoch offen zur Methode im Bedarfsfall erhoben 9 . Aber wer bestimmt den Bedarfsfall? Wie will man dann den Vorwurf der Willkür parieren? Also wird es dabei bleiben: Die Acta-Forschung ist gut beraten, die kritische Beschäftigung mit der Apostelgeschichte seit M.Dibelius nicht pauschal beiseite zu stellen, vielmehr deren Fragen und Antworten in die neuere Methodendebatte um die Erhebung und Beschreibung der erzählten Welt des Lukas einzubringen. Nach diesem Arbeitsgang wird sie der historischen Frage nicht ausweichen dürfen. Sie wird ihre Erwägungen in diesem Terrain anstellen, ohne der narrativen Verknüpfung bei Lukas vorab einen Vorrang einzuräumen. Diese kann nämlich lukanisches Konstrukt sein. jfe * *

Ht

*

Das Bedenken der zwei grundsätzlichen Probleme entläßt natürlich nicht von der Aufgabe, nun zu skizzieren und zu begründen, wie man sich selbst die Konturen der Zeit zwischen Ostern und dem antiochenischen Entscheid vorstellt. Wer diese Zeit in den Blick nimmt, für den muß die charismatisch-visionäre Ostererfahrung der Jünger Jesu Ausgangspunkt aller Erwägungen sein. Dabei gilt es erstmal, das narrative Konstrukt von Lk 24; Act lf als solches zu durchschauen. 10 Die Oster- und Geisterfahrung ist dem heutigen Betrachter nur noch so zugänglich, daß ihm die damit gesetzte neue Wirklichkeitsauffassung, wie sie die Osterzeugen vollzogen, zur Interpretation offensteht. Die Osterzeugen sind dabei eine definierbare einheitliche Größe, deren sie einende gemeinsame Erfahrung eine neue Überzeugungsgemeinschaft schuf. So sagen es alle Evangelien und Paulus (l.Kor 15,Iff). Die theologische Arbeit dieser einen Überzeugungsgemeinschaft wurde Grundlage der gesamten Kirchengeschichte. Was war die Grundfrage derer, die die Erfahrung mit dem Doppelaspekt von Pfingsten und Ostern machten? Die Leitfrage mag etwa so gelautet haben: Wenn das empirische Israel weiter unter dem »Zorn Gottes« steht und der Tod Jesu keinesfalls das Ende der sich durchsetzenden Gottesherrschaft bedeutet, wer nimmt dann an dem sich mit dem österlichen Pfingsten ein entscheidendes Stück weiter durchsetzenden Endzeithandeln Gottes mit seinem vornehmlichen Zielen auf Israel an dieser Vollendung teil? Die Antwort lautete ungefähr so: Die Menschen aus Israel, die der sich um die Apoy

So Wander, Trennungsprozesse (s.o. Anm. 6) 52.

10

Ich darf für Einzelnes auf Becker, Urchristentum (s.o. Anm. 5) 29ff verweisen.

Endzeitliche Völkermission und antiochenische Christologie

5

stel scharenden Endzeitgemeinde zugehören, also in dem Christusgeschehen insgesamt den rettenden Gott erkennen, dürfen begründete Hoffnung hegen, Teilnehmer am endgültigen Heil zu sein. Die sich in dieser Frage und Antwort aussprechende Wirklichkeitsdeutung hat der Jubilar mit Recht so beschrieben, daß bei ihr direkte Kontinuität zur Verkündigung Jesu und gleichzeitige christologische Transformation zu beobachten seien. 11 Einige ausgewählte Aspekte, wie sie für die Geschichte des Urchristentums von allgemeiner und grundlegender Bedeutung waren, seien dazu stichwortartig näher angedeutet: 1. Die Ostererfahrung ist erster Ausdruck der gegenüber der Jesuszeit neuen Geisterfahrung. »Geist« ist der neue Modus der Nähe Gottes, der bisher in der von Jesus vollzogenen »Gottesherrschaft« Nähe herstellte. Seit Ostern ist das Urchristentum insgesamt eine charismatische Größe, eine geistdurchwirkte Endzeitgemeinde. Ich ziehe diese Formulierung einer Bezeichnung als »Erneuerungsbewegung« vor, mit der G. Theißen großen Erfolg hat, weil dieses Kompositionssubstantiv doch wohl nur mit einer Langfristerwartung Sinn gibt. Es wird wohl doch auch der Tendenz nach weniger Israel »erneuert«, als aus Israel und innerhalb Israels die Endzeitgemeinde »gesammelt«. 2. In bezug auf das urchristliche Gottesbild bedeutet die Ostererfahrung: War das Zentralwort der Verkündigung Jesu, nämlich die Gottesherrschaft, Ausdruck endzeitlicher Güte gegenüber dem gerichtsbedrohten Israel, so wird dieses Gottesbild nun durch das von Gott selbst vollendete Geschick Jesu definiert: Der Gott der Güte hat sich endgültig als »Antlitz Jesu Christi«12 bestimmt. Gottes Handeln an ihm ist ein für allemal seine maßgebliche Selbstbestimmung geworden. Im christologischen Endzeitgeschehen äußert sich Gott selbst den Menschen gegenüber in letzter Verbindlichkeit. Dies sollen die Osterzeugen an Israel weitergeben. 3. Jesu Wirken und Geschick werden nun für das ganze Urchristentum in christologischer Deutung normativ. Der Endzeitprophet der sich mit seinem Wirken endgültig durchsetzenden Gottesherrschaft wird nicht wie Mose und die Propheten eine Gestalt der Vergangenheit, sondern der personale Inbegriff endzeitlichen Heils (vgl. nur l.Kor 16,22). So erhält er den Status des »Menschensohnes« nach Dan 7; äthHen 37-71. Ja, überhaupt stehen bald verschiedene Christologien nebeneinander oder werden integrativ vereint, doch nirgends gibt es ein Zurück hinter diesen Grundentscheid, mit dessen Sichtweise dann auch die synoptische Tradition neu durchdacht wird.

11

E.Gräßer, Das Problem der Parusieverzögerung in den synoptischen Evangelien und in der Apostelgeschichte, Berlin/New York 3 1977 (BZNW 22) XXII.

12

E.Schillebeeckx, Jesus, Freiburg u.a. 3 1975, 472ff.

6

Jürgen Becker

4. In den drei genannten Punkten äußert sich ein besonderes Geschichtsbild. Jesu Wirken zugunsten der Gottesherrschaft war als beginnende Endzeit verstanden. Diese spezifische Naherwartung bleibt, leicht abgewandelt, als ein Kontinuitätsmoment der nachösterlichen Zeit bestehen. Denn zum einen konnte die Geisterfahrung als Ausgießung des endzeitlichen Geistes gedeutet werden (vgl. l.Thess 4,8 mit Ez 36,27 und Act 2,17ff mit Joel 3, Iff), von dem auch frühjüdische Kreise als zukünftiger Erwartung zu reden wußten (vgl. nur Jub 1,22-25). Zum anderen führte die Christologisierung der Botschaft von der sich jetzt schon und bald endgültig durchsetzenden Gottesherrschaft zur Hoffnung des schon vor der Tür stehenden kommenden Jesus-Menschensohnes (1. Kor 16,22; l.Thess 1,10). 5. Durch Ostern wird aus der von Jesus intendierten Endzeitgemeinschaft, die dem Ziele nach ganz Israel umfassen sollte, eine institutionelle Größe, die innerhalb Israels neben der synagogalen Einbindung in privaten Zusammenkünften Taufe und Herrenmahl feierte. Es mag unbequeme Probleme geben, die Ekklesiologie dieser frühen Gemeinden näher zu erfassen, sicher dürfte sein, daß sie mit den beiden genannten gottesdienstlichen Feiern ein besonderes Stück institutioneller Einheit für das ganze Christentum schufen. Nun lassen sich diese Gesichtspunkte sicherlich verfeinern und erweitern. Das jedoch soll jetzt zurückgestellt werden. Von Bedeutung ist allerdings der Hinweis, daß unter dieser Perspektive die Einheit des frühen Urchristentums zu bedenken ist. Wer dem auch nur modifiziert folgt, für den ist der geschichtlich einheitliche Anfang des Urchristentums kein Konstrukt, sondern ein geschichtlicher Aspekt dieses Phänomens. Doch wie steht es nun innerhalb dieser gemeinsamen Basis mit der Vielfalt? Wer sich dieser Frage zuwendet, wird für die Zeit bis zum antiochenischen Weg, will er nicht allgemein und postulatorisch bleiben, den Stephanuskreis ins Visier nehmen, galiläische Gemeinden bemühen und wohl auch noch die personellen Veränderungen in der Jerusalemer Urgemeinde in Betracht ziehen. Dabei findet mit Recht der nicht gut durchschaubare, aber als solcher sichere Wechsel in der Führungsspitze der Jerusalemer Urgemeinde nur ganz mäßiges Interesse (vgl. dazu nur l.Kor 15,3b-7; Gal 1,18f; 2,9.12). Die zu karge Kost der spärlichen Indizien läßt es jedenfalls nicht zu, solche verschiedenen theologischen Richtungen hier anzunehmen, die nicht mehr zum Konsens zusammenfanden. Des weiteren bereitet es dem Historiker ernsthaft Mühe, überhaupt galiläische Gemeinden in dieser frühen Zeit dingfest zu machen. 13 Wie längst bekannt, erwähnt Paulus ausnahmslos und mehrfach nur Gemeinden in Jeru13

Vgl. dagegen den Optimismus bei L.Schenke, Die Urgemeinde, Stuttgart u.a. 1990, 198ff.

Endzeitliche Völkermission und antiochenische Christologie

7

salem und Umgebung (l.Thess 2,14; 2.Kor 1,16; Gal 1,22; Rom 15,19.3032). Bei einigen dieser Stellen ist nicht einzusehen, warum er galiläische Gemeinden, falls er sie gekannt hätte, nicht hätte erwähnen sollen. Ihm die Auffassung zuzuordnen, Galiläa sei für das Christentum ein weißer Fleck auf der Landkarte, liegt nahe. Auch aus dem einzigen redaktionellen Indiz in Act 9,31 sollte man besser keine historischen Rückschlüsse auf galiläische Gemeinden ziehen, zumal man Galiläa im lukanischen Programm Act 1,8 schmerzlich vermißt. Weiter sind die Notizen in Mk 14,28 = 16,7 eindeutige Repräsentanzen markinischer Theologie. Die Stellen sprechen auch nicht von galiläischen Gemeinden für die Frühzeit nach Ostern, sondern wollen die theologisch für Markus so wichtige Wirksamkeit Jesu in Galiläa abschließend noch einmal akzentuieren. Darum ist ein Rückschluß von der erzählten Welt des Markus auf frühe Gemeinden in Galiläa äußerst gewagt. So bleiben nur indirekte Rückschlüsse aus synoptischen Einzeltraditionen, vor allem den Wundergeschichten, übrig. Ortsangaben und Lokalkolorit der Wundertraditionen haben aber so ihre Tücken: Der glatte Schluß auf eine Entstehungsgemeinde und den Ort der Tradierung ist methodisch fragil. 1 4 Auch weiß niemand die Entstehungszeit solcher Traditionen sicher genug zu kalkulieren. Die Annahme früher galiläischer Gemeinden nach Ostern hat also nicht viel für sich, es spricht sogar vieles gegen eine solche These. Wer trotz dieser Quellenlage mit galiläischen Gemeinden rechnet, kann dann natürlich, befreit von den relativ engen Verhältnissen Jerusalems, verschiedene Eigenentwicklungen postulieren. 1 5 So werden Kreise vorgeschlagen, die nun Jesu zurückliegendes Wirken unter dem Stichwort der Gottesherrschaft deuten. Daneben soll es eine eigenständige weisheitliche Richtung gegeben haben, die Ausgangspunkt zweier Entwicklungslinien wurde, nämlich einer konsequent weisheitlichen und einer apokalyptischen. Aber wird hier nicht getrennt, was schon im Frühjudentum sehr oft und längst miteinander verzahnt, bei Jesus selbst in eine Gesamtanschauung eingebunden war und endlich auch in der frühen Zeit der Sammlung der Logienquelle und beim Evangelisten Markus vereint anzutreffen ist? Erinnert das nicht doch an die formale Analogie der These E.Käsemanns, bei dem der unapokalyptische Jesus von einem Frühjudentum herkam, das apokalyptisch geprägt war, und dessen Nachfolger wiederum apokalyptisch dachten? Bisher jedenfalls scheint folgende Doppelthese noch nicht widerlegt: 1. Galiläische Gemeinden vor dem antiochenischen Weg sind nicht nachgewiesen. Der (mehrfach gestaffelte) indirekte Rückschluß auf sie ist fragwürdig, ja widerlegbar. 2. W o galiläische Gemeinden dennoch angenommen wer-

Darauf beruht für Schenke, ebd. 198ff der entscheidende Beweisgang für galiläische Gemeinden mit eigenem Profil. Vgl. J.Becker, Jesus von Nazaret, Berlin/New York 1996, 78ff. Die folgende Möglichkeit der Ausdifferenzierung fußt auf F.Vouga, Geschichte des frühen Christentums, Tübingen/Basel, 1994 (UTB 1733) 29ff.

8

Jürgen Becker

den, ist es bisher nicht gelungen, für sie insgesamt oder für verschiedene Gruppen von ihnen ein eigenes theologisches Profil zu zeichnen. Der vielgeplagte Text in Act 6f; 8; 11,19ff 1 6 hat für alle, die nach frühen Ausdifferenzierungen und Gegensätzen im Urchristentum Ausschau halten, ansprechende Vorteile: Die Unterscheidung von »Hellenisten« und »Hebräern« (Act 6,1), die Namensliste des Führungskreises (Act 6,5f) im Unterschied zu den zwölf Aposteln (Act 1,12-26) und das Martyrium des Stephanus mit anschließender Flucht der Christen sind auch für den, der nicht unmittelbar aus der erzählten Welt des Lukas in die Historie zu springen gewillt ist, hinreichende Indizien für eine soziologisch faßbare geschichtliche Größe, also einer frühen christlichen Gemeinde neben der von den Aposteln angeführten. Der Stephanuskreis, der im urchristlichen Schrifttum sonst nirgends erwähnt wird 1 7 , besitzt noch eine weitere Auffälligkeit: Diese Gruppe öffnet nach dem Martyrium des Stephanus die bis dahin in Fortsetzung des Wirkens Jesu auf Palästina eingeschworene Israelmission, indem sie bis auf die Höhe von Zypern an solchen Diasporasynagogen missioniert (Act 11,19), die offenkundig einst ihre Heimat waren. Da noch niemand eine manchmal postulierte galiläische Mission ins benachbarte Syrien hinein nachgewiesen hat, bleibt diese Angabe die einzige Möglichkeit, um zu begründen, inwiefern es z.B. in Damaskus überhaupt Christen gab, an denen Paulus Anstoß nehmen und die er verfolgen konnte. So wird man Lukas gerne abnehmen, daß er auch in diesem Fall Geschichtswissen vermittelt. Dies gilt um so mehr, als es dem lukanischen Konzept widerspricht, wenn die vorbildliche Eintracht seiner Urgemeinde (Act 2,42-47; 4,32-37) durch den Streit zwischen »Hellenisten« und »Hebräern« gestört wird. Auch muß er die innovative und selbständige Missionsstrategie der Hellenisten ausdrücklich durch der Apostel Tätigkeit notdürftig »korrigieren« (mit Act 8,14ff rückt Lukas 8,4ff gerade, und Act 10 muß bei ihm vor 11,19ff stehen). Man wird hinzufügen: Gut begründbar ist auch noch die Auffassung, daß mit Stephanus und seinen Anhängern erstmals griechisch sprechende Diasporajuden, nun in Jerusalem lebend, mit dem Christentum in Kontakt ka-

16

Zur Forschungsgeschichte vgl. E.Gräßer, Acta-Forschung seit 1960: ThR 42 (1977) 168: 17-25; H.-W.Neudorfer, Der Stephanuskreis in der Forschungsgeschichte seit F.C. Baur, Gießen/Basel 1983; H.Räisänen, Die 'Hellenisten' der Urgemeinde: ANRW II/ 26/2 (1995) 1468-1514; K.Haacker, Die Stellung des Stephanus in der Geschichte des Urchristentums: ANRW II/26/2 (1995) 1515-1553; D.Sänger, Die Verkündigung des Gekreuzigten und Israel, Tübingen 1994 (WUNT 75) 226ff; E.Rau, Von Jesus zu Paulus, Stuttgart u.a. 1994.

17

Daß Paulus ihn unerwähnt läßt, könnte damit zusammenhängen, daß er auch die bedeutendste Gründung der Hellenisten, also Antiochia, weitgehend verschweigt. Vgl. dazu zuletzt A.Dauer, Paulus und die christliche Gemeinde im syrischen Antiochia, Weinheim 1996 (BBB 106) 127ff.

Endzeitliche Völkermission und antiochenische Christologie

9

men. 18 Sie fühlten sich in Jerusalemer Synagogen, in denen sich Diasporajuden sammeln und ihren Gottesdienst in griechischer Sprache veranstalten, zuhause (Act 6,9). Hingegen gehen Petrus und sein Anhang zu aramäisch abgehaltenen Synagogengottesdiensten. Solche Einbindung in bestimmte Synagogen etwa in Jerusalem und in den Städten im römischen Reich mit größerem jüdischen Anteil war ein Normalfall jüdischen Lebens. Die Einheit des Judentums wurde dadurch nicht tangiert. Auch theologische Sonderwege müssen damit nicht verbunden gewesen sein. Oft haben dabei einfach nichttheologische Faktoren eine Rolle gespielt (ethnische und kulturelle Herkunft). Wenn Judenchristen in Jerusalem sich zu verschiedenen Synagogen halten, muß dies also z.B. nicht von verschiedenen oder sogar sich widersprechenden Theologien her begründet gewesen sein. Wer das theologische Profil des Stephanuskreises näher erfassen möchte, ist auf drei Kardinalaussagen angewiesen: auf die Aussagen zum Charismatikertum des Stephanus, auf die jüdische Anklage gegen Stephanus und auf die große Rede dieses ersten christlichen Märtyrers. Die beiden letzten Themen sind oft so besprochen worden, daß sie für Stephanus und seinen Anhang eine besondere Gesetzes- und/oder Tempelkritik hergeben sollten, die diese Hellenisten von der sonstigen Urgemeinde unterschieden haben soll. Das wird dann gerne mit ihrem besonderen Pneumatikertum (erstes Thema) begründet. Eine nähere Analyse der drei Themen führt allerdings nicht zu dem gewünschten Ergebnis. Lukas schildert in Act 6,3.5.8.10.15 Stephanus (neben den Fünf in 6,5) als Charismatiker, der durch geistgeleitete Taten und Disputationen auffiel. Kann man diese literarische Kennzeichnung historisch auswerten? In keinem Fall darf man das Charismatikertum des Stephanus und eine ihm unterstellte Tempel- und Gesetzeskritik verbinden, denn die Anklagen gegen Stephanus sind für Lukas objektiv falsch. Es sind für Lukas Verleumdungen, mit denen Stephanus nichts zu tun hat, wie gleich zu zeigen ist. Im übrigen schildert Lukas auch sonst Jesu Wirken (Act 2,22; 4,30), der Apostel Tätigkeit (2,4. 43; 3,16; 4,8-10.30; 5,12-16.32f), die Mission des Philippus (8,6f.39), die Gestalt des Barnabas (11,24) und der Gläubigen Status (2,38; 8,15-19; 9,31; 10,44) als charismatisch. Das geschieht zum Teil mit gleichen Worten wie bei Stephanus. Für Lukas ist also die ganze Urgemeinde charismatisch (2,17-19!), erst recht alle herausragenden Personen. Wie sollte es für den auch anders sein, der den Geist zur treibenden Kraft der Ausbreitung des Christentums macht! Stephanus ist also innerhalb des urgemeindlichen Gesamtrahmens typisch geschildert. Zwar wird der Historiker aus allgemeinen, durch Paulus gestützten Erwägungen heraus dem Urchristentum eine besondere Geistdurchwirktheit nicht absprechen - im Gegenteil (vgl. nur l.Thess lf; l.Kor 12-14; Gal 3,1-5)! Aber er wird aufgrund von

18

Jesus beschränkte sein Wirken auf den Nordwestteil am See Genezaret und mied Städte mit hellenistischer Bevölkerung. Joh 12,20ff ist ein Anachronismus.

10

Jürgen Becker

Act 6 nicht speziell Stephanus historisch als besonderen Charismatiker zeichnen können. Vom narrativen Stephanus führt an dieser Stelle kein methodisch sicherer Weg zu einer besonderen Biographie des historischen Stephanus. Die in Act 6,11.13f formulierte jüdische Anklage gegen Stephanus 19 wird von Lukas ausdrücklich als Falschzeugnis deklariert und hat bei ihm konsequenterweise für die später vollzogene Steinigung keine Bedeutung. Damit steht sie mit Anklagen wie Lk 23,2; Act 16,20f; 17,6f.l8f; 18,13; 21,21. 28f; 22,28f; 24,5f; 25,7f in einer Reihe. Sie alle sind literarisches Mittel des Lukas mit dem Sinn, daß der Leser darin eine objektiv falsche und verleumderische Anklage erkennen soll. 20 Das wird dem Leser der Act auch sachlich deutlich gemacht: Alle großen Repräsentanten des Urchristentums läßt Lukas selbstverständlich am Tempelkult teilnehmen (vgl. nur Act 3,1; 5,12.20f.42; 21,26f; 22,17). Sogar der Völkerapostel Paulus wird darin als gesetzestreu beschrieben (Act 16,Iff; 21,18ff; 23,6ff; 24,10ff). Ein aufmerksamer Leser kann also Lukas nur so verstehen, daß die Anklage gegen Stephanus absurd ist. Das verbietet es, die Anklage ganz oder teilweise historisierend auszuwerten. Sie hilft also nicht, Stephanus eine gesetzes- und/ oder tempelkritische Haltung zuzuerkennen. Das gelingt auch mit der Rede in Act 7,2ff nicht. Lukas jedenfalls will durch sie die Anklage der Juden umkehren (7,52f!). Im übrigen sind Mose (7,30ff) und David (7,45f) mit den Themen von Gesetz und Tempel so positiv verwoben, daß der Tempelbau Salomos (7,47) nicht plötzlich negativ gewertet sein kann. Kein Leser der Rede wäre auf diesen Umschwung vorbereitet. Das Wissen, daß Gottes Wohnung umfassender ist als ein von Menschen gemachter Tempel (7,49f), ist im übrigen so allgemeine jüdische Auffassung, ja, es steht schon beim alttestamentlichen Salomo selbst (l.Kön 8,27) und kann nach den Ausführungen des Lukas über die verleumderische Anklage der Juden und über das positive Mose- und Davidbild, wie es Stephanus entfaltet, nicht als solenne und im Christentum neue Tempelkritik gedeutet werden. 21 Man lese dazu nur die illustrative Stelle bei Philo, Spec. Leg. 1,16-70. Doch selbst wenn man in der Abfolge von Act 7,46f einerseits und 7,48-50 andererseits Tempelkritik wahrnehmen will, dann allenfalls eine gegen die Meinung, der Tempel sei indirekterweise Gottes Wohnung, nicht aber zugunsten der Auffassung, der Opferkult sei mit Christus abgeschafft. Die Opferthematik kommt in 7,48-50 nämlich gar nicht vor. Der lukanische Leser soll also keine Spannungen in der Rede finden. Dies besagt nicht, daß nicht doch faktisch solche vorhanden sein könnten. Aber wer immer hier ein älteres Stratum meint rekonstruieren zu können, kommt dann in keinem Fall über die allgemeine Hypothese hinaus, daß es sich um 19

Zum tempelkritischen Wort in Act 6,14 vgl. Becker, Jesus (s.o. Anm. 14) 400ff.

20

Vgl. Haacker, Stephanus (s.o. Anm. 16) 1521ff.

21

Vgl. Räisänen, Hellenisten (s.o. Anm. 16) 1492.

Endzeitliche Völkermission und antiochenische Christologie

11

ein typisches Modell einer hellenistisch-judenchristlichen Predigt handelt aus welcher Zeit vor der Abfassung der Act auch immer. Zum historischen Stephanus kann er nur mit einer Art salto mortale gelangen. Dieser gewagte Sprung ist nicht jedermanns Sache. Das ist gut so: Denn welche Methodik sollte solchen Sprung absichern? 22 Dennoch gibt Lukas auf andere Weise etwas Wichtiges über den Stephanuskreis preis: Er schafft nämlich von Stephanus bis zur Cornel iusperikope in Act 10 ein Übergangsfeld in bezug auf die Ausweitung der missionarischen Zielpersonen. Philippus, der Hellenist, missioniert, indem er die Grenzen des Judentums etwas dehnt, ohne daß die synagogale Einbindung dieser Mission aufgekündigt wird (Act 9,19f; ll,19f). Er missioniert bei den »schismatischen«, aber beschnittenen und Mose treuen Samaritanern (Act 8,4-8). Er tauft den Äthioper, d.h. Sudanesen, der den Gott Israels verehrt, gleichwohl als Verschnittener 23 kein Mitglied der Kultgemeinschaft Israels sein kann (Dtn 23,2): Samaritaner und Verschnittene können also nun in das judenchristliche Israel aufgenommen werden, ohne daß auf die damit verbundenen jüdischen Probleme Rücksicht genommen wird! Damit nicht genug! Lukas, der bewußt nicht Paulus, sondern Petrus zum ersten »Völkermissionar« 24 macht, läßt diesen Apostel anschließend Analoges tun: In Lydda kommen - freilich vor Act 10 noch etwas versteckt - »alle Bewohner«, d.h. doch nicht nur hellenistische Juden, zum Glauben (vgl. auch 9,42). Etwas später wohnt Petrus bei Simon, der als Gerber einen »unreinen« Beruf ausübt, ohne daß die Reinheitsproblematik eine Rolle spielt (Act 9,43).

22

Wer die Petrusrede in Act 15,7-12 als Analogie heranzieht, kann eine Bestätigung der vorgetragenen Position erhalten: Die Rede ist von der urchristlichen Erwählungssprache geprägt, wie sie auf seine Weise Paulus im l.Thess benutzt. D.h. die Rede kann nicht biographisch Petrus zugewiesen werden, wohl aber ist sie typisch für ein bestimmtes allgemeines Denken im frühen Urchristentum.

23

Daß der Kämmerer »Eunuch« ist, ist fünfmal gesagt (8,27.34.36.38.39). Das soll natürlich ein Lesesignal sein, zumal Lukas die Person so einfuhrt, daß er als erstes seine Verehrung des Gottes Israels angibt, dann seine ethnische Herkunft, dann sein religiöses Hindernis, dann seine hohe Stellung (Act 8,26f). Lukas setzt so die Grenzüberschreitung von Act 8,4ff mit einem neuen, dazu passenden Fall fort: Die Samaritaner und der Sudanese haben gemeinsam, daß sie denselben Gott Israels verehren, und zugleich aus der Sicht Israels ein verschiedenes Hindernis, zur Kultgemeinschaft Israels gehören zu können. »Eunuch« ist also nicht als neutrale Amtsbezeichnung zu verstehen, sondern aus der Perspektive Israels heraus als religiöser Makel. Es gibt im übrigen kein hinreichendes Indiz, daß in der hinter Act 8 stehenden Tradition der »Eunuch« anders verstanden war.

24

Für Lukas gibt es also zwischen dem Stephanuskreis und Petrus keinen theologischen Dissens. Philippus hat nun die Initiative, Petrus folgt, freilich um die »unvollkommene« Mission des Philippus zu vollenden (Act 8,14ff) und um die theologische Begründung für den neuen Weg zu geben (Act 10).

12

Jürgen Becker

Dieses von Lukas literarisch geschaffene, an zwei Personen demonstrierte Übergangsfeld wird dann theologisch in Act 10 grundlegend aufgearbeitet. Da Act 10 bewußt vor den Jerusalemer Konvent gestellt ist - die Petrusrede auf dem Konvent nimmt den Ertrag von Act 10 auf (Act 15,7-12) erschließt für Lukas die Corneliusperikope das Ergebnis des Konvents. Läßt sich von dieser lukanischen Ansicht, wie sie dem Leser als bewußt konstruierte Welt begegnet, zu Rückschlüssen auf der historischen Ebene kommen? Jedenfalls nicht in bezug auf Einzelheiten, Motive und Begründungen, wohl aber doch so, daß die Richtung der Mission, wie sie die Hellenisten einschlugen, sachlich beschrieben werden kann. 2 5 Gesichert ist nämlich erstens, daß die im hellenistischen Geist gegründete Gemeinde in Antiochia bald soweit geht, daß sie zu Adressaten ihrer Mission auch Stadtund Umlandbewohner macht, die bisher in keiner positiven Beziehung zum Judentum standen (Act 11,20; 15; Gal lf), also z.B. noch das römisch-hellenistische Pantheon verehrten und erst auch noch für den jüdisch-christlichen Monotheismus gewonnen werden mußten (vgl. l.Thess 1,9; l.Kor 8,1-6). Dieser Schritt ist am besten zu erklären, wenn die in Act 8,14-40 literarisch eingefangene Ausdehnung der bisher geltenden jüdischen Grenze historisch typisch für die Mission der Hellenisten war. Dieser Umstand wäre jedenfalls eine überaus plausible Vorbereitung für den nachfolgenden kühnen Schritt Antiochias. Gestützt wird diese Annahme zweitens durch einen Blick auf die Verfolgung, die der Pharisäer Paulus in Damaskus inszenierte. Sein pharisäisches Ärgernis an den hellenistischen Christen an der Synagoge in Damaskus ist dann genau diese Dehnung der Grenzen jüdischer Identität. Er erhebt vom Gesetz her Einspruch gegen solche Entschränkung. Paulus indiziert diese Sachlage dadurch, daß er seine Verfolgertätigkeit und seinen Eifer für das Gesetz im gleichen Atemzug nennt (Gal l,13f; Phil 3,6). Das paßt zu Act 15,1.5, wo es ausgerechnet pharisäische Juden sind, die Christen wurden und nun gegen Antiochias Weg denselben Einspruch einlegen wie einst Paulus in Damaskus. Drittens gilt es zu bedenken, warum Paulus ausgerechnet in Damaskus und dann besonders lange in Antiochia seine geistige Heimat findet. Dies wird gerade auch für Antiochia plausibel, wenn gilt: Die Auffassung, die Paulus einst verfolgte, bejaht er nun innerlich und treibt sie vorwärts. Letzlich wird die Grenzüberschreitung der Hellenen von einem ganz anderen Überlieferungsbereich gestützt, nämlich durch Joh 4: Es macht guten Sinn, die Ursprünge johanneischen Christentums mit der Samaritanermission der Hellenisten in Verbindung zu bringen. 2 6 Führte in Damaskus das Missionsverhalten der Christen zu Problemen an der Synagoge, die zur Verfolgung führten, läßt sich für Stephanus als der 25

Vgl. J.Becker, Paulus. Der Apostel der Völker, Tübingen 2 1992, Abschn. 4.

26

Diese ansprechende These hat O.Cullmann mehrfach bedacht, zuletzt in: Von Jesus zum Stephanuskreis und zum Johannesevangelium: Jesus und Paulus. FS Werner Georg Kümmel, Göttingen 1975, 44-56.

Endzeitliche Völkermission und antiochenische Christologie

13

führenden Person der Hellenisten vermuten, daß derselbe Grund auch bei ihm schon Bedeutung besaß. 27 Sein Martyrium beruht also vermutlich auf einem inhaltlichen Konflikt mit der Synagoge: Missionarische Grenzerweiterung wird von jüdischer Seite kritisiert. Insofern geht es also um einen Gesetzeskonflikt. 28 Wie mag der Stephanuskreis seine Mission begründet haben? Darüber gibt offenbar kein Text eine Andeutung mit historischem Wert. Vielleicht darf man ein wenig von der Diskussion anläßlich des antiochenischen Weges zurückprojizieren. Davon ist später zu sprechen. Jedenfalls reicht wohl eine endzeitliche Auslegung von Jes 56,1-8 als Grund nicht aus, trifft sie doch nur das Problem des Eunuchen, nicht aber auch die Samaritanermission. Von der antiochenischen Begründung her ist die pneumatische Deutung immer noch die wahrscheinlichste - auch für den Stephanuskreis (s.u.). Eine eigens dafür von Stephanus neu konzipierte Christologie sollte man nicht bemühen. Jedenfalls hat der seit F. Ch. Baur beliebte Trend, Apostelkreis und Stephanuskreis irgendwie auch in theologischer Antithese zu sehen, bei Lukas keinen Anhalt. 29 Natürlich darf man hier Lukas kritisch gegenlesen. Aber der Widerspruch muß begründet werden. Das vorgetragene Stephanusbild bedarf keiner Christologie zur Begründung, u.a. weil Stephanus weiter, wie die gesamte bis dahin existierende Christenheit, innerjüdisch denkt.

Nach allem, was von Jesu Wirken noch erkennbar ist, wäre es voll verständlich, wäre die nachösterliche Christenheit den Weg zu den Völkern nicht gegangen. Mag Jesus eine offene Einstellung zu Nichtisraeliten gehabt und seine Einschätzung der Reinheitstora indirekt die Grenze zu den Völkern durchlässiger gestaltet haben 30 , seine Verkündigung zielte auf das nach seiner Meinung verlorene Israel, das er mit der sich endzeitlich durchsetzenden Gottesherrschaft retten wollte. So ist es leicht einzusehen, wenn der 27

Die Vision des Stephanus wird man für diese Frage zurückstellen müssen, da sie zu stark von Lukas selbst geprägt ist, vgl. A.Weiser, Die Apostelgeschichte, Gütersloh/Würzburg 1981 (ÖTK 5/1) 190.

28

Die Zurückstellung einer theologisch-sachlichen Deutung zugunsten einer sozialpsychologischen Erklärung, wie sie Haacker, Stephanus (s.o. Anm. 16) 1544ff als historische These vorträgt, ist mit demselben methodischen Grundsatz zurückzuweisen, den Haacker bei der Anklage gegen Stephanus in Act 6,11.13f mit Recht ins Feld führt: Wie diese typisch lukanische Deutung ist, so ist auch das psychologische Bild der Juden in Act 6f (vgl. vor allem 6,11; 7,54.57) typisches Mittel des Lukas, um das Verhältnis zwischen Judentum und Christentum zu deuten (vgl. nur Act 13,45.50; 14,2; 17,5.13; 18,6; 19,9; 22,22; 23,12ff).

29

Lukas macht Petrus in Act 9 geradezu zum herausragenden Vertreter der HellenistenMission!

30

Vgl. Becker, Jesus (s.o. Anm. 14) 337ff.

14

Jürgen Becker

Weg Antiochias zur Völkermission nachhaltige Wellen schlug. Nach Lage der Dinge konnte dieser Entscheid nur in der Christenheit mehrheitlich mitgetragen werden, wenn der Konflikt zwischen der bis dahin selbstverständlichen, mit Jesu Lebenshorizont harmonierenden innersynagogalen Orientierung und dieser Neuerung so aufgearbeitet wurde, daß eine neue theologische Grundanschauung Anerkennung fand. Diese Notwendigkeit bestand beim Stephanuskreis eben noch nicht. Kein Ereignis aus der ersten urchristlichen Generation hat die damalige Christenheit auf eine so harte Probe gestellt. Keine Begebenheit hat sie so tief erschüttert und erstmals an den Rand der Spaltung und zur Nichtanerkennung eines Teils der Christenheit geführt (Act 15,1.5; Gal 2,2.4-6.12f) wie die neu definierte »Freiheit« der Antiochener, die sie als »Wahrheit des Evangeliums« verbreiteten (Gal 2,4.6). Auch daran, daß diese Freiheit selbst ihren Urhebern zu brisant wurde und Barnabas mit dem größten Teil der antiochenischen Christen davon etwas zurücknahm, so daß nur Paulus (und wenige Anhänger) »konsequent« blieben (Gal 2,10ff), erkennt man, wie schwierig es zunächst selbst den Neuerern war, den kühnen Schritt in den Griff zu bekommen. Auch Paulus selbst wird für seine selbständige Mission alsbald eine entsprechende Regel aufstellen, wie er den antiochenischen Entscheid neu zu sehen gedenkt: l.Kor 9,19-23. 31 Das Bild vom Jerusalemer Konvent (Act 15; Gal 2, Iff) bestätigt diesen Eindruck der Explosivität: Erstmals in der so jungen Christenheit gibt es Christen, die zu einer Gemeinde und zu deren Theologie kategorisch »Nein!« sagen (Act 15,1.5; Gal 2,4), ja trotz offiziellen Anerkennungsbeschlusses auf dem Konvent beharrlich bei ihrem Kampf gegen den antiochenisch-paulinischen »Ungeist« bleiben (Gal; Phil 3), so daß auch Paulus diese christlichen Gegner später verketzern wird (Gal 1,6-9; Phil 3,2f)· 3 2 Dieser erste Riß im Urchristentum ist kein auf Paulus allein zu personalisierendes Problem: Die Spannung enthält auch das Matthäusevangelium (vgl. 5,5f und 28,18f), das sich wohl nur Mission außerhalb Israels als gesetzestreue (5,17-19; 23,3f) Proselytenmission (analog 23,15) vorstellen kann. Zumindest indirekt wird damit paulinisches Christentum abgewiesen. Einen anderen Weg geht Markus: Er läßt in einer seiner wenigen Reden in auffälliger Breite Jesus die Reinheitstora für ungültig erklären (Mk 7; anders: Mt 23,3f) und in 2,23-3,5 den jüdischen Festkalender mit dem Kernbereich des Sabbats für Christen aufgehoben sein (das Gegenteil: Mt 24,20), um dann in Mk 12 abzuklären, inwiefern das jüdische Erbe seiner Christen-

31

Die Freiheit, die das Evangelium gewährt (vgl. den rahmenden Ring in l.Kor 9,19. 23), läßt danach zu, daß Paulus adressatenbezogen »jüdisch« oder »gesetzlos« leben kann. Solcher Umgang mit der Tora ist jüdisch nicht erschwinglich. Darum ist Paulus für Juden ein Apostat, der die Kultfähigkeit der Synagoge gefährdet.

32

Wer das Wort überhaupt gebrauchen will, könnte m.E. in bezug auf die Konventsgegner und Befürworter erstmals von »Christentümern« reden.

Endzeitliche Völkermission und antiochenische Christologie

15

he it zu definieren ist. 33 Lukas redet wohl zu einer Gemeinde, der er den umstrittenen Paulus so näherbringen will, daß er den anerkannten Petrus zu einem »Pauliner« macht (Act 10; 15) und zugleich Paulus jüdisch einfärbt. So macht er Petrus und Paulus gemeinsam zu den Hauptträgern der Mission, um die Spannungen zwischen Juden- und Völkerchristentum einzuebnen, selbst wenn er im zweiten Teil seiner Acta nicht verschweigt, daß der eigentliche Völkermissionar Paulus ist. 34 Der Epheserbrief gibt zwar den Juden der Verheißungen wegen einen Vorrang vor den Völkern, doch hat Christus am Kreuz das Gesetz und seine nur menschliche Klassifizierung der Menschheit in Beschnittene und Unbeschnittene zunichte gemacht und die neue kirchliche Einheit aus Juden und Völkern hergestellt, die in einem Geist Zugang zum Vater haben (Eph 2,11-18). 35 Und ein letztes Beispiel: Der judenchristlich orientierte Seher der Apokalypse streitet in Apk 2,14f gegen Gemeinden in der Asia, deren heidenchristliche Orientierung die Tora nicht ernst nimmt. Alle diese gestreuten Problemlösungen sind Folge des einen Grundentscheids, den Antiochia vollzog. So führt Antiochias Weg zur ersten tiefgehenden und dauerhaften Ausdifferenzierung des Christentums, bei der nicht nur Vielfalt in der Einheit, sondern erstmals auch Infragestellung der Einheit auf der Tagesordnung standen. Im Wissen des Späteren um diese Folgen des antiochenischen Entscheids wird der Historiker das Gewicht des antiochenischen Weges also kaum überschätzen können. Worin bestand die Neuerung? 36 Aufgrund von Missionserfolgen entstand in Antiochia ein neues Grundverständnis vom Christentum. Anstatt wie bisher im Sinne der Hellenisten zu verfahren, integrierte man nicht mehr nur unbeschnittene Völkerchristen durch die Taufe in die christliche Synagogengemeinde, sondern man verselbständigte sich außerhalb des Judentums, stellte Judenchristen und Völkerchristen einander »in Christus« gleich (Gal 3,26-28), forderte von den Völkerchristen keine Beschneidung noch Toraobservanz, besonders nicht die Reinheitstora, auch nicht die Beachtung der Regeln nach Lev 17f, und erwartete von den Judenchristen, daß sie um der Einheit »in Christus« willen dennoch volle Gemeinschaft mit den Völkerchristen praktizierten. So wurde aus der besonderen, die Völker abgrenzenden Erwählung Israels eine unmittelbare und endzeitliche Erwählung aller Völker (einschließlich Israels) durch das Evangelium von Jesus Christus zur Endzeitgemeinde 37 , deren inneres Leben aus Gerechtigkeit, Friede und

33

Vgl. dazu U.Mell, Die »anderen« Winzer, Tübingen 1994 (WUNT 77).

34

Dazu wird sich in Bälde die Dissertation von G. Wasserberg äußern.

35

Vgl. H.Merklein, Christus und die Kirche, Stuttgart 1973 (SBS 66).

36

Ich fasse Becker, Paulus (s.o. Anm. 25) 87ff. 107ff zusammen.

37

Vgl. J.Becker, Annäherungen, Berlin/New York 1995 (BZNW 76) 79ff; Th.Söding, Der Erste Thessalonicherbrief und die frühe paulinische Evangeliumsverkündigung: BZ NF 35 (1991) 180-203.

16

Jürgen Becker

Freude im heiligen Geist, jedoch nicht mehr aus Beachten der Beschneidungsforderung oder der Speisevorschriften der Tora (Rom 14,17; Gal 2,3.12; 3,26-28) oder des jüdischen Festkalenders (vgl. Gal 4,9f) bestand, ja sogar bei selbstverständlicher Fortsetzung des Monotheismusglaubens (l.Thess 1,9; l.Kor 8,1-6) zum numinosen und nicht koscheren Fleisch eine neue Stellung bezog (l.Kor 8-10). Tat sich das Frühjudentum z.Z. des Urchristentums schon schwer, seine Abgrenzung von den Völkern zu lockern, ja konnte sich eine Zuordnung von einzelnen Heiden oder Teilen der Völker eigentlich nur vermittels der Beschneidung vorstellen, im übrigen aber Sympathisanten der Synagoge nur abgestuft aufnehmen 38 , so mußte der Entscheid Antiochias geradezu als Provokation verstanden werden: Daß Juden (-christen) auf diesem Weg sich an das Heidentum assimilierten, stand nicht nur als ernste Gefahr vor Augen, sondern lag doch wohl auch, durch Praxis belegt, auf der Hand. Das aber führt zu dem Urteil: Der Entscheid bedurfte in der Tat einer überzeugenden Begründung. Diese mußte leisten, daß es ab jetzt nicht mehr nur eine christliche Endzeitgemeinde innerhalb der jüdischen Heilsgemeinschaft gab (Juden werden Christen; Heiden werden christliche Proselyten; Gottesfürchtige werden der Synagoge wie bisher assoziiert, doch auch zugleich getauft 39 ), sondern daneben gleichrangig und ohne Diskriminierung eine mit eigenem theologischen Recht versehene Endzeitgemeinde aus den Völkern, denen das auch sie erwählende Evangelium unmittelbar und ohne jüdische Vorbedingungen galt. Diese Begründung mußten nach Lage der Dinge die Antiochener den Jerusalemer Judenchristen anbieten. Theologische Autoritäten, die bei diesen unbestritten waren, mußten nun jene auch für sich einsichtig in Anspruch nehmen. Damit boten sich drei Größen an: der Geist, die Schrift und Jesus. An erster Stelle ist in der Tat das Argument mit der Geistbegabung der Völkerchristen zu nennen. Es begegnet in der Act wie bei Paulus und besitzt darum wohl doch einen recht hohen historischen Wert (Act 10,34ff; 15,612; l.Thess 1; l.Kor 1,4-9; Gal 2,7-9; 3,1-5): Die Geistbegabung des Judenchristentums stand dabei natürlich außer Zweifel. Weil bei der Evangeliumsverkündigung der Geist nun auch auf Nichtjuden fiel, mußten auch sie von Gott unmittelbar erwählt sein. Sie müssen also nicht Juden werden, um Christen sein zu können. Daraus ließ sich folgern, sie können als Unbeschnittene ohne Gesetzesgehorsam Christen sein. 38

Eben hier lag ja das Konfliktfeld zwischen den Hellenisten und der Synagoge. Das frühjüdische Material hat jetzt W. Kraus, Das Volk Gottes, Tübingen 1996 (WUNT 85) § 5-7 zusammengestellt. Ich kann dem Ergebnis folgen, ohne seiner Paulusdeutung in bezug auf den Volk-Gottes-Gedanken zuzustimmen.

39

Zu diesen drei konzentrischen Kreisen vgl. zuletzt Wander, Trennungsprozesse (s.o. Anm. 6) 173ff. Auch die beschnittenen und Mose treuen Samaritaner, die von der christlichen Mission erreicht wurden, konnte man noch in dieses Denkmodell gut einbauen.

Endzeitliche Völkermission und antiochenische Christologie

17

umsverkündigung der Geist nun auch auf Nichtjuden fiel, mußten auch sie von Gott unmittelbar erwählt sein. Sie müssen also nicht Juden werden, um Christen sein zu können. Daraus ließ sich folgern, sie können als Unbeschnittene ohne Gesetzesgehorsam Christen sein. Zu erwarten war, daß auch auf den Schriftbeweis zugegangen wurde. Sind die Propheten, der Psalter, ja die ganze Schrift auf die Endzeit zu deuten (l.Kor 10,11; Act 2,17 usw.), wie schon das Frühjudentum und mit ihm das Judenchristentum 40 annahm, dann sollte man erwarten, daß Antiochia auch die endzeitliche Gabe des Geistes an die Völker als schriftgemäß auswies. Joel 3,1-5 (vgl. Act 2,17ff) bot sich dafür wie von selbst an. 4 1 Schwieriger war es schon, dies mit den Frauen Abrahams zu erweisen (Gal 4,21-30) oder mit Mose (2.Kor 3). Willkommen gewesen wäre Jesu Autorität. Sie stand bei den Judenchristen doch wohl hoch im Kurs. Aber hier mußten sich die Antiochener schwertun. Denn Geistaussagen sind erst sehr spät in die Jesusüberlieferung eingedrungen. Hier war also keine Brücke zu schlagen. Jesu Gesetzeskritik bleibt im Ansatz innerjüdisch und kennt den Zusammenhang von Geistbegabung auch ohne Beschneidung noch nicht. Das war ja gerade eine der antiochenischen Aporien: Die neue Geisterfahrung und ihre antiochenischen Konsequenzen waren etwas, das sich nicht einfach durch Rekurs auf Jesu Wirken verstehen ließ. Nur sehr vorsichtig konnte man vielleicht auf Jesu geistige Offenheit der Völkerwelt gegenüber und auf seine Relativierung der Reinheitstora gründen. Ob das überhaupt geschehen ist, entzieht sich heutiger Kenntnis. Erkennbar ist nur, daß etwa die markinische Gemeinde und Markus selbst später diesen Weg gingen. Ein noch anderes Terrain betritt man, wendet man sich der Christologie Antiochias zu. Sie hatte überhaupt nach Ostern eine rasante Entwicklung genommen. Sie konnte und mußte man auch in Antiochia mitgestalten 42 : Wenn der Kyrios und der sein Evangelium vergegenwärtigende Geist die Endzeitgemeinde aus allen Völkern berief, dann mußte diese Heilsgestalt auch selbst in direktem Bezug zu den Völkern und aller Welt stehen und ihnen unmittelbar das Heil vermitteln. Diese christologische Aufgabe anzugehen, war neu. Für die Urgemeinde einschließlich der Hellenisten galt ja noch der innersynagogale Horizont mit spezifischen Fragestellungen und

Schon die älteste Gestalt des Passionsberichtes dürfte von diesem hermeneutischen Grundsatz geprägt gewesen sein. Jetzt erscheint Joel 3 im Munde des Petrus. Aber Petrus muß ja für Lukas überhaupt für den Weg zu den Völkern als unbestrittener Apostel die Legitimation erbringen (Act 8,14ff; lOf). Sieht man von diesem Petrusbild ab, läßt sich Joel 3 viel einsichtiger Antiochia zuordnen: Der über »alles Fleisch« ausgegossenen Geist in Joel 3,1 hat in der geistbedingten Gleichheit »aller« nach Gal 3,26-28 seine Entsprechung. Den breiten Diskussionsstand zum antiochenischen Traditionsmaterial bei Paulus hat Dauer, Paulus (s.o. Anm. 17) dokumentiert.

18

Jürgen Becker

nachrangigem Blick auf die Völker. In diesem Horizont, nicht außerhalb seiner, mußte die Urgemeinde ihren jüdischen Zeitgenossen aufweisen, warum man um dieses Jesus willen eine Sonderstellung im Judentum einnahm und warum man an dem Gottesbild Jesu festhielt, obwohl Jesus eines gewaltsamen Todes gestorben war. Dazu eignete sich die Auferstehungsbotschaft, etwa in Gestalt der Auferweckungsformel. 4 3 Die Hoffnung der Endzeitgemeinde ließ sich unter Rückgriff auf die frühjüdische Menschensohnerwartung formulieren (l.Kor 16,22). Jesu Tod konnte in die jüdische Vorstellung vom gewaltsamen Prophetengeschick eingezeichnet werden 4 4 , und seine Passion war nach dem Muster des leidenden Gerechten durchsichtig zu machen. 4 5 Wie immer man diese Aufzählung vervollständigt, man wird die Grundregel aufstellen, daß alle diese Konzepte ursprünglich im innerjüdischen Horizont zu Hause gewesen sein mußten und darum auch prinzipiell miteinander verknüpfbar waren, wie sie ja auch nachweislich miteinander verbunden wurden. Sicherlich haben die Gemeinden, die den antiochenischen Entscheid bei sich praktizierten, diese judenchristlichen Deutungen Jesu nicht bestritten, sondern wohl ihrer theologischen Orientierung zugeordnet. Aber geschah das auch immer umgekehrt? Hier sind Zweifel angebracht. Zumindest gibt es Indizien, daß die Aneignung völkerchristlicher Optionen in der Christologie nur phasenverzögert und wohl auch nur selektiv geschah. 4 6 Das wirft noch einmal ein Licht auf die Besonderheit der in Antiochia ansatzweise auf den Weg gebrachten völkerchristlich akzentuierten Christologie. Wie sah nun die antiochenische Arbeit an der Christologie aus? Sie läßt sich am besten unter drei Gesichtspunkten beschreiben, nämlich der Universalisierung der Botschaft, der Konkurrenz zum römisch-hellenistischen Synkretismus und der Neuformulierung der Soteriologie angesichts der Zurückstellung des Gesetzes als Weg zum Leben. Wird das Evangelium weltweit angeboten, muß auch christologischer Inhalt durch universale Größe ausgewiesen sein. Die Universalisierung des christologischen Inhalts ist greifbar in der Formel Rom l,3b-4. 4 7 Danach ist der Erhöhte nicht mehr »nur« der, der bald als Menschensohn-Richter kommen wird ( l . K o r 16,22), sondern ist mit seiner Auferstehung eingesetzt als Sohn Gottes (vgl. Act 13,33), der schon jetzt durch die geistgewirkte Völkermission Endzeitherrscher ist. War sein irdisches Leben einst Israel einge-

43

Becker, Urchristentum (s.o. Anm. 5) 44ff.

44

Vgl. zum Überblick M.-L.Gubler, Die frühesten Deutungen des Todes Jesu, Freiburg/Göttingen 1977 (OBO 15) lOff.

45

Vgl. nochmals Gubler, ebd. 95ff.

46

Vgl. Becker, Urchristentum (s.o. Anm. 5) 56ff.

47

Vgl. dazu zuletzt U.B.Müller, »Sohn Gottes« - ein messianischer Hoheitstitel Jesu: ZNW 87 (1996) 1-32: 7ff.

Endzeitliche Völkermission und antiochenische Christologie

19

gen gegeben (z.B. Phil 2,6ff; l.Kor 8,6; Gal 4,4). 4 8 Wer so ausgezeichnet wird, hat Relevanz für die ganze Wirklichkeit, erst recht dann, wenn auch sein irdisches Leben unter die allgemeinen Bedingungen des Menschseins gestellt wird (Phil 2,6ff; auch Gal 4,4). Wer die Völker unter das Evangelium ruft, hat der Völker Religionen zur Konkurrenz. Die Völker müssen nicht »Buße tun«, weil ihnen Schuld an Jesu Tod vorgeworfen werden kann (so schon die älteste Gestalt des judenchristlichen Passionsberichtes), sondern weil sie bisher permanent den allein wahren Gott durch Vielgötterei entehrten (l.Thess 1,9; Rom l,18ff). Sie müssen neu lernen: Die Wirklichkeit, in der sie leben und zu der sie gehören, verdankt sich dem einen Gott und dem einen Schöpfungsmittler Jesus Christus. Gott allein ist »Vater« aller Dinge (l.Kor 8,6; Phil 2,11; l.Kor 15,24) und Christus der einzige »Herr« des Alls (l.Kor 8,6). 4 9 Darum akklamiert ihm die Gemeinde: »Herr ist Jesus!« (Rom 10,9; l.Kor 12,3). Dabei schwingt in der Regel die Abgrenzung gegen andere Numina mit oder ist zumindest im Kontext verbalisiert (z.B. l.Kor 8,1-6; 12,2f). Der Kyriostitel, in der paganen Umwelt für Numina allgemeines Götterprädikat, erhält nun exklusiv christologische Bedeutung. Es macht darum guten Sinn, daß überhaupt erst die Antiochener die Hoheit Christi mit dem Kyriostitel beschrieben. In dem Gebetsruf an den Menschensohn »Marana-tha!« (l.Kor 16,22) liegt jedenfalls eine Anrede vor. Daß sie titular zu begreifen sei, läßt sich philologisch nicht beweisen. Da Gott im Frühjudentum mit titularem Kyrios bezeichnet wurde 50 , ist es sehr fraglich, ob judenchristlicher Monotheismus in seiner jüdischen Umwelt so weit gehen konnte, dem Auferstandenen die titulare Gleichstellung mit Gott zuzuerkennen. Eine Gebetsanrede an den Erhöhten (und kurz vorher Exekutierten!) war schon ein mächtiger Affront. Doch dafür gab es noch ein Vorbild: Immerhin richtete sich in äthHen 48,5; 62,9; 63,1-10 die Doxologie der Gerichteten im Rahmen des Endgerichts an den Menschensohn. Allerdings bleibt der Abstand zwischen Gott und Menschensohn im äthHen sachlich und verbal voll gewahrt. Diesen Unterschied nehmen die Antiochener im übrigen dadurch auf, daß sie vom Vatergott und Kyrios Jesus reden (l.Kor 8,6; Phil 2,11; vgl. Eph 4,5f). Wer das Heilsangebot an Evangelium, Geist und Taufe bindet und Beschneidung und Gesetz aus den Bedingungen zur Heilserlangung ausklammert, der muß nicht nur seinen Kirchenbegriff und die Lebensbedingungen in der Kirche gegenüber dem Judenchristentum in veränderter Weise fest-

48

Einen Forschungsüberblick gibt J.Habennann, Präexistenzaussagen im Neuen Testament, Frankfurt a.M. u.a. 1990 (EHS.T 362).

49

Vgl. R.Kerst, l.Kor 8,6 - ein vorpaulinisches Taufbekenntnis?: ZNW 66 (1975) 130139.

50

Vgl. die Belege bei J.A.Fitzmyer, Art. κύριος: EWNT 11,811-820: 816f.

20

Jürgen Becker

Wer das Heilsangebot an Evangelium, Geist und Taufe bindet und Beschneidung und Gesetz aus den Bedingungen zur Heilserlangung ausklammert, der muß nicht nur seinen Kirchenbegriff und die Lebensbedingungen in der Kirche gegenüber dem Judenchristentum in veränderter Weise festlegen (vgl. Gal 3,26-28; Rom 14,17; l.Kor 6,9-11 usw.), 51 sondern auch beschreiben können, welches soteriologische Gewicht der Christusgestalt des Evangeliums zukommt. Inwiefern kann Christus Sünde und Tod zunichte machen, wenn der Weg des Gesetzes mit seiner Verheißung von Gerechtigkeit und Leben nicht mehr gelten soll? Hier gab es zwei Möglichkeiten, nämlich das gesamte Leben Jesu unter soteriologischen Vorzeichen zu deuten oder speziell Jesu Tod so zu bedenken. Für die erste Möglichkeit stand z.B. die Figur der präexistenten Weisheit, die als Mittlerin von Sohnschaft und Leben galt (vgl. Weish 2,13; 6,19f; 9,10f), zur Verfügung. Dementsprechend formulierte man soteriologische Sendungsaussagen mit fester Struktur wie etwa Gal 4,4; Joh 3,16 usw.: Der gesandte Sohn vermittelt Sohnschaft und Leben. Doch auch der Hymnus in Phil 2,6-11 52 dürfte eine entsprechende Heilsaussage enthalten. Versteht man Anfang und Ende der ersten Strophe des Hymnus (2,6f.8) als Rahmen, der sich gegenseitig erklärt, dann bedeutet die Entäußerung die Ermöglichung, das Todesschicksal auf sich nehmen zu können. Also gibt die »Gottesgestalt« ihr Nicht-Sterben-Können preis. Dazu paßt, daß ganz allgemein gilt: Gottheit und Menschheit unterscheiden sich durch den Fundamentalgegensatz von Unsterblichkeit und Sterblichkeit. Die »Sklaverei« der Menschheit (V.7) ist dann als nichtendes Todesgeschick zu verstehen (vgl. z.B. Weish 2,Iff). Die zweite Strophe (Phil 2,9-11) spricht eingangs von einer Erhöhung dessen, der das menschliche Todesgeschick auf sich nahm, die den Ursprungsstatus dieser Gestalt übersteigt. Setzt man hier als neue Fähigkeit ein, nicht nur unsterblich zu sein, sondern sogar Leben weitergeben zu können (vgl. Phil 3,20f; Joh 5,26; Act 3,15; 5,31 usw.), dann ergibt sich wiederum - die strukturelle Analogie zur ersten Strophe stellt sich ein - eine schöne Beziehung zum Schluß: Die dreigestaffelte Wirklichkeit ehrt den Kyrios, also betet ihn auch die zuletzt aufgezählte Unterwelt an. Damit anerkennt sie, daß das Leben Sieger über den Tod ist. Der Tod ist also »verschlungen in den Sieg« (l.Kor 15,54f). So besingt der Hymnus den Kyrios mit seinem spezifischen Geschick als endzeitlichen Urmenschen, der die Todesverfallenheit der adamitischen Menschheit überwunden hat.

51

Dazu gehören auch die formelhaften Wendungen »in Christus« und »im Herrn«. Zur ersten Wendung bei Paulus vgl. zuletzt U.Schnelle, Wandlungen im paulinischen Denken, Stuttgart 1989 (SBS 137) 93ff und L.Klehn, Die Verwendung von »in Christus« bei Paulus: BN 74 (1994) 66-79.

52

Zur Analyse vgl. zuletzt U.B.Müller, Der Brief des Paulus an die Philipper, Leipzig 1993 (ThHK 11/1) 89ff.

Endzeitliche Völkermission und antiochenische Christologie

21

Die zweite Möglichkeit, speziell Jesu Tod soteriologisch zu erfassen, ist mit der formelhaften Wendung gegeben, die den Heilstod »für uns« geschehen erklärt (l.Kor 11,24; 2.Kor 5,21; vgl. auch l.Kor 15,3b-4; Rom 8,3). Über diese Aussage ist in jüngster Zeit viel gestritten worden. Es gibt nach wie vor starke Gründe, diese Christusdeutung innerhalb antiochenischer Theologie anzusiedeln. 53 Die These, die hier nicht mehr entfaltet werden kann, lautet nun: Diese angedeuteten Bemühungen der Antiochener um eine ihrer Situation angemessenen Christologie haben auch in der Mischung aus hellenistisch-jüdischer Kultur und paganem Synkretismus einen eigentümlichen religionsgeschichtlichen Hintergrund. Dieser und die Grundprobleme, die Antiochia neu lösen mußte, lassen erkennen, daß die (vornehmlich) paulinischen Traditionssplitter, die zur Nachzeichnung antiochenischer Christologie herangezogen wurden, nicht ein zufalliges Nebeneinander verschiedener christologischer Konzepte sind, sondern Deklination einer »Basisgrammatik« und damit als Einheit begriffen werden will. Diese im einzelnen differenzierte, gleichwohl in ihrer Tiefe einheitliche Christologie ist neben der innerjüdisch orientierten Christologie des Judentums, die in formal ähnlicher Weise Einheit und Vielfalt widerspiegelt, die zweite Ausbildung urchristlicher Bemühung, den beiden besonderen Erfahrungen des Geistes zu Ostern und beim Gewinnen von Nichtjuden für den neuen Glauben zu entsprechen.

53

Vgl. Becker, Annäherungen (s.o. Anm. 37) 334ff; Räisänen, Hellenisten (s.o. Anm. 16) 1506.

Heilen und Heilung in der Alten Kirche v o n HANNS CHRISTOF BRENNECKE

Wir wissen aus dem Neuen Testament, daß Jesus Kranke geheilt und damit auch seine Jünger beauftragt hat. 1 Daraufhat sich seit dem 18./19. Jh. dann auch die neuzeitliche evangelische Mission immer berufen, für die die Verbindung von Verkündigung des Evangeliums und die Heilung und Pflege Kranker geradezu konstitutiv geworden ist.2 Und das bekanntlich nun nicht nur in der Person Albert Schweitzers3, wie offenbar im deutschen protestantischen Milieu bis heute weit verbreitet angenommen wird. Hier soll es nun um die Frage gehen, ob auch schon das frühe Christentum etwa Jesu Krankenheilungen und die Berichte von Krankenheilungen der Jünger als Auftrag oder gar Verpflichtung zu heilen verstanden haben könnte, und wie es diesen Auftrag oder diese Verpflichtung dann wahrgenommen hat. Das eine Christentum der Frühzeit ist nun allerdings weithin eine Fiktion. Handelt es sich doch entgegen dem von einigen Kirchenvätern und manchen unserer Lehrbücher propagierten Wunschbild um ganz verschiedene »Christentümer«, die eben auch verschiedene Antworten gegeben haben4, genauso wie wir auch heute nicht von der Christenheit reden können. Unter >Frühes Christentum< verstehen wir im allgemeinen eine Epoche von nahezu einem halben Jahrtausend vom 1. Jh. bis zum Zusammenbruch der spätantiken Strukturen im Römischen Reich des 6. Jh. 5 , eine Periode 1

G.Theißen/A.Merz, Der historische Jesus, Göttingen 1996, 256-284 (Lit.); O.Betz, Art. Heilung/Heilungen. I. Neues Testament: TRE 14 (1985) 763 r 768; E.Fascher, Jesus, der Arzt: ders., Frage und Antwort, Berlin 1968, 9-41; E.Schweizer, Jesus Christus, Herr über Krankheit und Tod: Universitas 3 (1948) 513-519.641-647; F.Kudlien, Art. Heilkunde: RAC 14 (1988) 223-249; R. u. M.Hengel, Die Heilungen Jesu und medizinisches Denken: Der Wunderbegriff im NT, hg.v. A.Suhl, Darmstadt 1980 (WdF 295) 338-373; G. Fichtner, Christus als Arzt. Ursprünge und Wirkungen eines Motivs, Berlin 1982 (FMSt 16) 1-19; J.H.Croon, Art. Heilgötter: RAC 13 (1986) 1190-1232: 1219-1221.

2

W.U.Eckart, Art. Mission. IX. Ärztliche Mission: TRE 23 (1994) 73-80.

3

E.Gräßer, Albert Schweitzer als Theologe, Tübingen 1979 (BHTh 60).

4

Bei einer solchen Sicht kommt weder die konfessionelle Aufspaltung noch die soziale Differenzierung auch im Christentum in den Blick. Allerdings ist ebenfalls daran zu erinnern, daß das Christentum von außen, auch bei seinen nichtchristlichen Kritikern, weithin als eine Einheit angesehen wurde.

5

H.Frohnes/H.-W.Gensichen/G.Kretschmar, Kirchengeschichte als Missionsgeschichte. I. Die alte Kirche, München 1974; Ch.Markschies, Arbeitsbuch Kirchengeschichte,

24

Hanns Christof Brennecke

also, die in der Geschichte der christlichen Kirche von einer ungeheuren Dynamik und von wirklich revolutionären Zäsuren wie der sogenannten >konstantinischen Wendebiblischen TierschutzethikQualitätssicherung< des in Frage stehenden Leidens.

»Jedes menschliche Geschöpf« und »treuer Schöpfer«

65

das Resümee: »Deshalb sollen auch die, die nach Gottes Willen leiden, ihre Seelen dem treuen Schöpfer anbefehlen durch Wohlverhalten.« Warum wählt der Verfasser hier die eigentümliche Gottesprädikation πιστός κτίστης? Eine Antwort ergibt sich aus folgender Überlegung. Um die Adressaten instandzusetzen, dem äußeren Druck nicht zu weichen, hat der Verfasser ihnen ihre prekäre Situation theologisch gedeutet: Gott ist im Leiden der Seinen nicht abwesend, er hat sehr wohl etwas damit zu tun! Wenn Leiden πρός πειρασμόν geschieht, ist es ja Gott, der es verordnet oder doch zugelassen hat! Wenn paradoxerweise beim und am unschuldigen Opfer von Schmähungen δόξα aufstrahlt, ist es doch Gott, der diesen Zusammenhang verfügt hat und funktionieren läßt! Und Gott ist es doch, dessen Gericht sich in der Bedrängung der Christen vollzieht! Mit dieser theologischen Leidensdeutung hat der Verfasser hinter den empirischen Leidensverursachern Gott als den eigentlichen Urheber sehen gelehrt. Darauf reflektiert die Formulierung oi π ά σ χ ο ν τ ε ς κατά το θέλημα τοϋ θεοΰ, »die, die nach Gottes Willen leiden«. An der Spitze dieses Ausdrucks steht ein adverbales καί (ώστε και oi π ά σ χ ο ν τ ε ς κτλ.), das eine konzessive Nuance hat: »Deshalb sollen auch (bzw. sogar) die, die nach Gottes Willen leiden ...«, anders gefügt: »Deshalb sollen die, die leiden, obwohl sie nach Gottes Willen leiden ...« Sie sollen, wie mit Anspielung auf Ps 30,6 LXX formuliert wird, »ihre Seelen anbefehlen«, und zwar »dem treuen Schöpfer«. Das konzessiv nuancierende καί und die Gottesbezeichnung π ι σ τ ό ς κ τ ί σ της tragen dem Umstand Rechnung, daß Gott zuvor als der eigentliche, letztliche Urheber des Leidens vor Augen gestellt worden ist. Obwohl er das ist, obwohl die unter ihren Widersachern leidenden Christen nach Gottes Willen leiden, sollen sie sich ihm anbefehlen. Oder anders: Keinem anderen als dem, unter dem sie letztlich leiden, der - theologisch betrachtet - ihnen durch ihre Widersacher feindlich begegnet, sollen sie sich anbefehlen. Πιστός κτίστης nennt Gott unter dem Aspekt, der solch paradoxe Hingabe plausibel erscheinen läßt: Als κτίστης ist er allen geschöpflichen Leidensverursachern schlechterdings überlegen, und weil er πιστός ist, sind die bei ihm deponierten 30 ψυχαί zu ihrem Heil verläßlich aufgehoben. Angesichts der empirischen und theologisch qualifizierten Leidenserfahrungen kennzeichnet πιστός κτίστης Gott in seiner Heilsmächtigkeit und der Verläßlichkeit seines Heilswillens. Die Adressaten sollen sich dem treuen Schöpfer anbefehlen έν άγαθοποιία, »durch Wohlverhalten«. Dieser zunächst verblüffende Zusatz klärt sich von 2,23 her, wo es - im Rahmen der an Sklaven gerichteten Paränese »Dieses ihr Selbst sollen sie Gott >anvertrauen< (παρατίθεσθαι), wie man einem zuverlässigen Menschen einen Wertgegenstand zur Verwahrung übergibt (vgl. παραθήκη ...)«: Goppelt, l.Petr (s.o. Anm. 12) 316; vgl. Achtemeier, l.Petr (s.o. Anm. 12) 318. Πιστός steht also in enger semantischer Relation zu παρατίθεσθαι. Dies gilt schon für Ps 30,6 LXX: εις χείρας σου παραθήσομαι τό πνεϋμά μοο / έλυτρώσω με κύριε ό θεός της αληθείας (hebr. ΓΙΟΝ

66

Martin Evang

von Christus hieß: »Als er beschimpft wurde, schimpfte er nicht zurück; als er litt, drohte er nicht, stellte es vielmehr dem anheim, der gerecht richtet.« Die Parallele ist am Tage: παρατίθεσθαι τας ψ υ χ ά ς π ι σ τ ω κ τ ί σ τ η entspricht παραδιδόναι τω κ ρ ί ν ο ν τ ι δικαίως, und ά γ α θ ο π ο ι ΐ α steht positiv für das Verhalten, das durch ούκ ά ν τ ε λ ο ι δ ό ρ ε ι und ούκ ή π ε ί λ ε ι negativ bezeichnet ist. Ist in 4,19 sachlich dasselbe gesagt wie in 2,23, so leuchtet doch ein, warum es in 4,19 anders gesagt werden mußte: An den κ ρ ί ν ω ν δικαίως kann sich nur dessen Heilsgewißheit knüpfen, von dem - wie von Christus - gesagt werden kann: άμαρτίαν ούκ έ π ο ί η σ ε ν ούδέ ευρέθη δόλος έν τω στόματι αύτοΰ (2,22). Die Adressaten hingegen, denen soeben ihr Leidensgeschick als anfanglicher Vollzug des auch ihnen zukommenden Gerichts eben dieses gerechten Richters gedeutet worden ist, müssen an Gott als den verwiesen werden, dessen Heilsentscheid durch die Unheilserfahrung des Gerichts, das »vom Hause Gottes her beginnt« (4,17), nicht aufgehoben wird - eben an den treuen Schöpfer 31 .

V Ziehen wir eine kurze Bilanz! Die textsemantische und -pragmatische Analyse konnte bei beiden κτισ-Mosaiksteinchen in l.Petr ermitteln, warum und wozu sie der Verfasser verwendet hat. In 2,13 dient ihm κ τ ί σ ι ς aufgrund der essentiellen semantischen Opposition »Geschöpf vs. Schöpfen (bzw. >Mensch als Geschöpf vs. GottJammertal< hier verbreiten. Der Gedanke an den Tod und ein Leben nach dem Tode kann zu Fatalismus und Apathie führen, so daß man das Leben hier nur mit halbem Herzen lebt oder es nur noch >durchmacht< und >überstehtalles aus1975 (KEK 13), hinterließ hinsichtlich der religionsgeschichtlichen Einordnung diesen Eindruck.

10

Doch sollte man die religionsgeschichtliche Erforschung des Hebräerbriefes seit Ernst Käsemann nicht lediglich als gescheitertes Unternehmen ansehen. Viel zu wenig würde dabei ihre positive Seite gewürdigt: Der Blick für mögliche oder unmögliche Herleitungen wurde erheblich geschärft, und es ist ein sehr weitgehender exegetischer Konsens über die Schwierigkeiten einer monolinearen Erklärung hergestellt.

11

Die von K.Berger und C.Colpe zusammengestellten formalisierten »Kategorien zur Bestimmung des Verhältnisses zwischen frühchristlichen Texten und solchen der Umwelt« (vgl. K.Berger/C.Colpe, Religionsgeschichtliches Textbuch zum Neuen Testament, Göttingen/Zürich 1987 [TNT 1] § 3, S. 18-26; ferner C.Colpe, Nicht »Theologie der Religionsgeschichte«, sondern »Formalisierung religionsgeschichtlicher Kategorien zur Verwendung für theologische Aussagen«: ders., Theologie, Ideologie, Religionswissenschaft. Demonstrationen ihrer Unterscheidung, München 1980 [ThB 68] 278-288, der die Kategorisierungen jedoch nicht für das Verhältnis der biblischen Texte zur umgebenden jüdischen Tradition entwickelt; vgl. 281 Anm. lc) wären mißverstanden, wollte man sie als Versuch der Verhältnisbestimmung von Ideen zueinander ohne Rücksicht auf den jeweiligen literarischen und historischen Kontext auffassen. Vgl. in diesem Sinne K. Berger, Exegese des Neuen Testaments. Neue Wege vom Text zur Auslegung, Heidelberg 2 1984, 191.

172

Hermut Lohr

zweig eindeutig zuordnen könnte12, andererseits ist das Ergebnis dieser Kombination doch so eigenartig, daß der Hebr nach wie vor als der große Außenseiter innerhalb der frühchristlichen Tradition erscheint. Neben der Besinnung auf möglichst präzise Beschreibung der in den Texten tatsächlich begegnenden Motive hilft die Überlegung, daß religiöse Entwürfe, in welcher Form sie auch immer dargeboten werden: als Traktat, als Brief, im Rahmen einer geschichtlichen Erzählung o.a., ein bestimmtes Interesse verfolgen, bestimmte Akzente setzen oder spezifische Probleme lösen wollen. Auch theologischen Texten lassen sich sprachliche Funktionen zuordnen, und selten beschränkt sich ein Text allein auf die darstellende, referentielle Dimension13. Im Spannungsfeld zwischen Übernahme des Bekannten, eigener Akzentsetzung und Weiterentwicklung entfaltet sich Theologie. Auch die religionsgeschichtliche Fragestellung muß daher die Funktionalität der Texte in historisch zu beschreibenden Kommunikationsvorgängen oder -versuchen zur Geltung bringen. Eine Geschichte religiöser Ideen abgesehen vom Kontext der Texte bliebe der Vorstellung einer lingua sacra verhaftet, welche zeitlos gültig über das Göttliche informiert. Die frühjüdischen und -christlichen Quellen lassen ein solch einseitiges Selbstverständnis nicht erkennen. So ist auch die Frage nach den Motiven oder dem Basismotiv des Hebr nicht zu klären ohne die andere nach seinem Interesse und der Funktion, welche den Vorstellungen oder Traditionen im Kontext zukommt.14

Wobei wir die wichtige Frage nach den spezifischen Unterscheidungsmerkmalen verschiedener Traditionen wegen ihrer historischen Komplexität hier ausklammern müssen. Andererseits darf die Erkenntnis, daß gegebenenfalls nicht der referentielle, sondern andere Aspekte im Zentrum der Pragmatik eines Textes stehen, nicht zu der Annahme verleiten, dieser referentielle Aspekt sei völlig zu vernachlässigen, der Autor meine gar nicht, was er sage. Die Funktionalisierung hebt den Wahrheitsanspruch der Referenz nicht zwangsläufig auf. Um ein Beispiel aus der Hebr-Exegese zu wählen: Die Tatsache, daß Aussagen, welche die nahe Parusie betonen, vorwiegend in paränetischen Zusammenhängen begegnen, erlaubt nicht ohne weitere Indizien den Schluß, der Autor habe die Parusie gar nicht als nahe erwartet. In das Herz der antiken Autoren können wir nicht blicken. So dient die Frage nach dem Interesse des Textes (bzw. seines Autors; vgl. differenzierend zur Unterscheidung zwischen Autor und Text und ihrer Leistungsfähigkeit für die Interpretation von Texten E.D.Hirsch jr., Prinzipien der Interpretation, München 1972, bes. 15-42; G.Genette, Die Erzählung, München 1994, 283-295 zum Problem der Differenzierung zwischen realem und impliziertem Autor) auch der methodischen Präzisierung motivkritischer und religionsgeschichtlicher Untersuchungen (m.E. läßt sich auch die Klärung der Frage nach dem konkreten historischen Ort des Hebr nur auf diesem Wege fördern). Gegenüber der Annahme impliziter Voraussetzungen ist die Beschreibung des textlich Manifesten methodisch zu bevorzugen, da kontrollierbarer. Die Forschungsgeschichte seit Käsemanns Studie bis heute zeigt, daß eine bloß motivkritisch orientierte

Anthropologie und Eschatologie im Hebiäerbrief

173

Wenn im folgenden die Frage nach der wechselseitigen Bedingtheit von Anthropologie und Eschatologie im Hebräerbrief neu gestellt wird 15 , so sind damit Anstöße in exegetischer und systematisch-theologischer Hinsicht beabsichtigt: Zum einen ist von der synchron-pragmatischen Konzentration der Exegese ein Ausweg aus den immer noch belastenden Aporien der religionsgeschichtlichen Problematik des Hebr und so eine Bereicherung gerade auch des historischen Wissens über den Text zu erhoffen. Damit soll die Arbeit an den Motiven und Vorstellungszusammenhängen des Textes keinesfalls entwertet oder ignoriert werden; vielmehr ist eine Ergänzung der bisherigen Vorgehensweise durch die für die Hebr-Exegese sonst, aber auch für Untersuchungen zu anderen neutestamentlichen Eschatologien, etwa der des Paulus, ja durchaus geläufige Frage nach dem pragmatischen Interesse angestrebt. Und dadurch, daß nach Eschatologie und Anthropologie gefragt wird, soll zum anderen die Aufmerksamkeit auf einen Themenkomplex gelenkt werden, der aus den oben angedeuteten systematisch- oder praktischtheologischen Gründen das wissenschaftliche Gespräch nicht (mehr) bestimmt, der aber für das Verständnis nicht nur antiker Eschatologie unverzichtbar ist. Daß so die Auseinandersetzung mit dem Hebr auch gegenwärtige theologische oder philosophische Reflexion auf den Menschen neu bedenken lassen kann, bleibt zu hoffen.

II Die durch das Thema »Anthropologie und Eschatologie« sich einstellende Konzentration auf individual-eschatologische Fragen ist kein allein einer theologischen oder anthropologischen Vorliebe der Exegese sich verdankender Vorgang. Vielmehr entspricht dieses Interesse einer Gedankenbewegung des Textes selbst. Zwar entwickelt der Hebr keine ausführliche und wohlbegründete Lehre vom Menschen, doch wird neben dem offenbaren und seelsorgerlich-paränetisch so massiv eingesetzten Gemeinde- und Gottesvolkgedanken ein Aspekt der Argumentation sichtbar, der am Individuum (und sei es auch im Plural) und seinem Geschick orientiert ist. Auch in dieser Tendenz erweist sich der auctor ad Hebraeos wieder als der aufmerksame Seelsorger, als welchen ihn die Exegese schon in verschiedener Hinsicht wahrgenommen hat. Denn es ist ein bestimmtes pastorales Interesse des Textes,

Untersuchung der Frage nach dem Zentrum des Hebr nicht zu konsensfahigen Ergebnissen gelangen kann. Ein ausführlicher Forschungsüberblick kann hier nicht geboten werden. Zu beobachten ist, daß, wo Arbeiten zur Eschatologie des Hebr auf den Zusammenhang mit der Anthropologie hinweisen, dies meist in motivkritisch orientierter religionsgeschichtlicher Perspektive und unter der recht problematischen Gegenüberstellung von genuin jüdischer und hellenistischer bzw. hellenistisch beeinflußter Tradition geschieht.

174

Hermut Lohr

welches den Aussagezusammenhang von Anthropologie und Eschatologie im Hebr verstehbar macht. Bezeichnend ist bereits die Beobachtung, daß das Lexem άνθρωπος im Hebr, sieht man von der Ausnahme im Zitat 2,6 ab, stets zur Bezeichnung einer Differenz eingesetzt wird: Nach 5,1.5 steht der von Menschen genommene Hohepriester dem Christus gegenüber 16 . 6,16.17 unterscheidet zwischen dem von Menschen untereinander und dem von Gott gegenüber Abraham geleisteten Eid. In 7,8 wird die Verzehntung durch sterbliche Menschen (gemeint sind konkret die Priester aus dem Stamm Levi) derjenigen durch Melchisedek, der weder Beginn der Tage noch Ende des Lebens hat (V.3), abwertend gegenübergestellt. 7,28 stellt ähnlich wie Kap. 5 den durch das Gesetz eingesetzten menschlichen Hohenpriestern den durch das Schwurwort Gottes (das sich in Ps 110,4 niedergeschlagen hat) eingesetzten Sohn entgegen. 8,2 unterscheidet das vom κύριος (gemeint ist Gott) errichtete wahre Stiftszelt von menschengemachten Heiligtümern. 9,27f vergleicht das zweite Kommen des Christus mit dem Todesgeschick und dem nachfolgenden Gericht für die Menschen. Und zuletzt stellt 13,6, im Zitat von Ps 117,6, der Hilfe des »Herrn« (wiederum ist Gott gemeint) die mögliche Bedrohung durch Menschen gegenüber. Zweierlei wird deutlich: Zum einen wird unterschieden zwischen Mensch und Gott bzw., und das ist besonders aufschlußreich, dem »Sohn« oder Christus. Aufgrund dieser Beobachtung rückt die Tatsache, daß Hebr von den »Brüdern« Jesu als Kindern Gottes sprechen kann (2,10-18) 17 , in ein besonderes Licht und kann im Sinne des Textes insgesamt nicht heißen, daß Jesus und die Menschen ganz allgemein und umfassend durch die gleiche Natur verbunden sind. Und zum anderen zeigen die Aussagen, daß für den Hebr ein entscheidendes Konstituens des Mensch-Seins in seiner zwangsläufigen Sterblichkeit besteht, eine Tatsache, die für Gott, den Sohn 18 oder auch Melchisedek nicht gilt. 16

Damit ist nicht gesagt, daß 5,1-4 und 5ff nur im Sinne einer kontrastierenden Gegenüberstellung zu interpretieren sind. Ausführlich zu der dem Abschnitt inhärenten Gedankenfiihrung M.Bachmann, Hohepriesterliches Leiden. Beobachtungen zu Hebr 5,110: ZNW 78 (1987) 244-266; Lohr, Umkehr (s.o. Anm. 8) 37-40.

17

Wie immer man das logische Subjekt der Konstruktion von V.10 faßt, so erfordert es der gedankliche Kontext, unter den hier ohne Attribut genannten »Söhnen« wiederum die Söhne Gottes zu verstehen.

18

Der Sohn kann zwar sterben, und er stirbt tatsächlich den Tod des hohepriesterlichen Selbstopfers, doch würde man der Christologie des Hebr, die immer schon von Ostern bzw. der soteriologischen Interpretation des Kreuzes her denkt, nicht gerecht, rechnete man die biologische Notwendigkeit des Sterben-Mwsseni zu den Bedingungen der Existenz des Gottessohnes. Trotz der so häufigen Rede von »Jesus« und seinen menschlichen Zügen ginge man also fehl, wollte man den Hebr zum Zeugen einer Niedrigkeitschristologie oder Jesulogie machen. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Treffend formuliert H.J.Holtzmann, Lehrbuch der neutestamentlichen Theologie, Freiburg i.Br./Leip-

Anthropologie und Eschatologie im Hebräerbrief

175

In 2,14f wird die zentrale Bedeutung der Todesgrenze für die menschliche Existenz betont: Das Heilswerk Christi besteht ganz wesentlich in der Besiegung des hier auch personal durch den δ ι ά β ο λ ο ς repräsentierten Todes, eine Auffassung, welche mit der Sühnevorstellung von V . 1 7 konkurriert 1 9 . Die Todesverfallenheit und daraus folgende Erlösungsbedürftigkeit des σ π έ ρ μ α ' Α β ρ α ά μ im Unterschied zu den Engeln werden herausgearbeitet. Und es sind die Bedingungen der menschlichen Existenz, denen sich der Erlöser ebenfalls unterwirft: Um zu erlösen, geht er in die gleiche Bedingtheit ein, die in V . 1 4 durch die Anteilhabe an »Blut und Fleisch« 2 0 ausgedrückt ist. Die hier verwendete Partizipationsterminologie ( κ ο ι ν ω ν έ ω ; μ ε τ έ χ ω ) hat zur Diskussion um die Frage geführt, ob damit - in bezug auf Jesus wie auf die »Kinder« - eine gewisse Distanz des Wesenskerns gegenüber den Bedingungen der irdischen Existenz zum Ausdruck gebracht werden soll. Für den Sohn ist dies nach den hymnischen Prädikationen in Kap. 1 nicht zweifelhaft. Der »Abglanz seiner Herrlichkeit und Abdruck seines Wesens« (1,3), wie der Hebr in Anlehnung an Worte aus der Sapientia Salomonis (7,25f) formuliert, ist nicht zwangsweise und auf ewig auf die irdische Existenzweise festgelegt. Für die ab 2 , 1 0 genannten »Söhne« (seil. Gottes), die mit den Worten aus Ps 21,23 2 1 und Jes 8,18 2 2 (2,12.13) auch als Brüder Jesu bezeichnet werden können (2,11), ist dies nicht so eindeutig festzulegen. Z u m einen fällt es schwer, semantisch eine große Differenz zwischen κ ο ι ν ω ν έ ω (die Kinder) und μ ε τ έ χ ω (der Sohn) plausibel zu machen, zumal sie der Stringenz des Gedankens in dieser Passage widerspräche, der j a gerade die Identität der

zig, II 1897, 297: »Denn untergehen konnte er im Tode nicht 7 16 , und zwar vermöge des ihm 9 14 im Unterschiede von Menschen einwohnenden >ewigen Geistes«. 19

Der Sieg über Teufel und Tod einerseits und die Sühne für Sünden andererseits sind kaum aus einem geschlossenen Vorstellungszusammenhang zu erklären. Der Hebr verknüpft den Themenkomplex von Tod, Teufel und Versuchlichkeit mit dem Hohepriestermotiv durch den Aspekt der Solidarität im Leiden, vgl. noch 4,15. Die Befreiung von der Sünde als Sündensühnung, das zentrale Thema der Schrift, kann dann angeschlossen werden. Vgl. K.G.Kuhn, Πειρασμός - αμαρτία - σάρξ im Neuen Testament und die damit zusammenhängenden Vorstellungen: ZThK 49 (1952) 200-222.

20

Die Wendung ist im neutestamentlichen Griechisch in dieser wie auch in der umgekehrten Reihenfolge σάρξ καϊ αϊμα belegt; vgl. einerseits Eph 6,12 (und s. Joh 1,13), andererseits Mt 16,17; l.Kor 15,50; Gal 1,16.

21

In der Septuaginta lautet der Vers: διηγήσομαι τό δνομά σου τοις άδελφοϊς μου, έν μέσω εκκλησίας υμνήσω σε. Zu der Abweichung des Zitats von der LXX im Hebr und möglichen Gründen vgl. F.Schräger, Der Verfasser des Hebräerbriefes als Schriftausleger, Regensburg 1968 (BU 4) 88 mit Anm. 1.

22

Jes 8.18LXX: ιδού έγώ καϊ τά παιδία, ä μοι έδωκεν ό θεός.

176

Hermut Lohr

Bedingungen zwischen Sohn und Söhnen herausarbeiten will. 23 Damit wäre freilich noch nichts über den Ursprung und den Ausgang von Sohn und Söhnen im Vergleich gesagt, d.h., die Gleichheit der Existenzbedingungen bezieht sich möglicherweise nur auf die zeitlich sehr begrenzte Phase des irdischen Menschenlebens. Doch widerspricht dem die Aussage von 2,11, welche die Ursprungsgleichheit von Heiligendem und zu Heiligenden herausarbeiten will. Über den Sinn dieser Aussage ist viel diskutiert worden, insbesondere wurde gefragt, wer oder was denn dieses Eine sei. Versuchen wir uns der Frage von einer analytischen Betrachtung des Textaufbaus her zu nähern, so ergibt sich folgendes: Der in Kap. 1 entwickelte Gedankengang zur Überlegenheit des Sohnes über die Engel wird in 2,5ff wieder aufgenommen. Dieser Zusammenhang macht es wenig wahrscheinlich, wie bisweilen angenommen wird 24 und dem Ursprungssinn des Zitates entspräche, daß der mit Hilfe von Ps 8 ausgedrückte Gedanke der Unterordnung des Alls (τά πάντα) sich zunächst auf den Menschen allgemein bezieht. Mit anderen Worten: Die Fortsetzung zu V.5 (»nicht nämlich hat er [seil. Gott] Engeln die kommende Welt untergeordnet, über die wir sprechen«) kann nicht lauten: »sondern den Menschen«. Vielmehr ist schon hier, bevor der Psalmvers zitiert wird, eine christologische Aussage intendiert, die dann allerdings erst in der Auslegung von V.9 ganz deutlich geäußert wird. Daraus folgt, daß das »Zeugnis« (V.6: διεμαρτύρατο) des Psalms auch als christologisches zu interpretieren ist. Die im Psalm gewählte und in der direkten Auslegung von V.8b-10 nicht aufgenommene Begrifflichkeit (άνθρωπος; οίος άνθρωπου) legt zwar den Gedanken an die Betonung der menschlichen Existenz allgemein näher als

23

Während κοινωνέω im Hebr sonst nicht vorkommt, begegnet μετέχω noch zweimal, nämlich in 5,13 und in 7,13. An keiner der beiden Stellen soll m.E. eine besondere Distanz zu dem Objekt, an welchem man Anteil hat (Milch für die Unmündigen; Stamm Juda), herausgearbeitet werden. Auch die Formulierungen, welche das stammgleiche Substantiv μέτοχος verwenden (1,9; 3,1.14; 6,4; 12,8), lassen eine solche Intention nicht erkennen. Anders z.B. Holtzmann, Lehrbuch (s.o. Anm. 18) 297: »Ganz wie Rm 8 3 nimmt er Hbr 2 1 4 (doch zu beachten das nicht Gleichheit, sondern nur Gleichartigkeit besagende παραπλησίως) der Menschen Fleisch und Blut an, wird 2 1 7 ihr Bruder (doch zu beachten das zur vollen Gleichheit ebenfalls nicht ausreichende όμοιωθήναι)«. Richtig daran ist gewiß, daß für den Hebr Jesus nicht einfach Mensch ist, auch nicht in der Gleichartigkeit mit den zu Erlösenden.

24

Vgl. die Übersicht bei W.R.G.Loader, Sohn und Hoherpriester. Eine traditionsgeschichtliche Untersuchung zur Christologie des Hebräerbriefes, Neukirchen-Vluyn 1981 (WMANT 53) 32 Anm. 9 (S.32-34 zur Widerlegung); neuestens D.F.Leschert, Hermeneutical Foundations of Hebrews, Lewiston u.a. 1994 (NABPR.DS 10) 79-121, bes. 106. Anders E.Gräßer, Beobachtungen zum Menschensohn in Hebr 2,6: ders., Aufbruch (s.o. Anm. 6) 155-165.

Anthropologie und Eschatologie im Hebräerbrief

177

denjenigen an die verdeckte Einführung eines Hoheitstitels25. Von daher könnte die in V.lOff (besonders ab V.14) verhandelte Thematik indirekt das Psalmwort aufnehmen. 26 Dem Verfasser kommt es beim Psalmzitat aber entscheidend zunächst nicht auf die Menschlichkeit Jesu an, die später eigens ausführlich begründet wird, und zwar mit Vorstellungen, die dem Psalm ganz fremd sind 27 . Ihm geht es hier vielmehr um die eschatologische Stellung Jesu über allem, die jetzt noch nicht wahrnehmbar ist. Der Gegensatz ist nicht der zwischen Engeln und Menschen (dies wäre ein völlig singulärer Gedanke für den Hebr28), sondern weiterhin der zwischen Engeln und dem Sohn. In V.lOff wird dann deutlich eine thematische Weiterentwicklung erreicht, kenntlich dadurch, daß die Terminologie von Ps 8 ganz verlassen wird. Vielmehr bestimmen nun die Begriffe αδελφός (aus Ps 22, vorbereitet in V . l l ) und παιδία (aus Jes 8; aufgenommen in V.14) den Bezug zur Schrift. So richtig es ist, daß zumal ab V.14 der Akzent auf dem Eingehen in die Bedingungen menschlicher Existenz liegt, so ist doch auffällig, daß der aus Ps 8 ja ganz geläufige Begriff άνθρωπος nicht aufgegriffen wird, ein Argument dafür, daß die Auslegung dieses Schriftwortes nun nicht mehr im Mittelpunkt steht und daß andererseits Ps 8 vom Verfasser eben nicht als Aussage über die allgemein gültigen Bedingungen menschlicher Existenz, sondern christologisch aufgefaßt wurde. 29

25

Der Menschensohntitel für Jesus wird im Hebr nirgends (sonst) verwendet. Darüber hinaus wäre unsere Passage der einzige Beleg für eine Verwendung des Titels in den Briefen des Neuen Testaments. Das Richtige trifft in.Η. Η.-F.Weiß, Der Brief an die Hebräer, Göttingen 1991 (KEK 13), wenn er auf S.197 formuliert: »Jesus, der Erniedrigte, das ist der >MenschMenschensohn< von Ps 8,5! Das ist - wenn man so formulieren will - eine >anthropologische< Deutung von Ps 8,5, die aber - sofern es hier ja um Jesus in seiner >menschlichen< Erniedrigung geht! - im Gesamtkonzept des Hebr ihrerseits wiederum unter einem christologischen Vorzeichen steht.«

26

Wie umgekehrt das Stichwort »Engel« in V.16 noch einmal - vor 12,22 zum letzten Mal! - begegnet.

27

Ein Argument gegen die Annahme, wie V.8b-9 sei auch V.lOff Auslegung von Ps 8 und hier des Stichwortes άνθρωπος, ergibt sich aus der Beobachtung, daß im Gegensatz zu V.8b.9 in V.lOff keine Stichwortaufnahme erfolgt; άνθρωπος begegnet in den entscheidenden Versen 14ff überraschenderweise gar nicht!

28

Die Gegenüberstellung von Engeln und Menschen als Ziel des Heilshandelns Christi in V.16 dient dem Zweck, die Notwendigkeit zum Eingehen in die Bedingungen menschlicher Existenz für Jesus herauszuarbeiten.

29

Gut ist an der Auslegung von Ps 8 in V.8b.9 die Einführung des eschatologischen Vorbehaltes zu beobachten: Während der Psalm die Unterordnung des Alls unter den Menschen als bereits geschehen in Parallele zur Krönung mit δόξα und τιμή setzt, ist für den Hebr diese Krönung zwar schon wahrzunehmen (V.9: βλέπομεν), aber eben nicht als Unterwerfung des Alls unter den Sohn (V.8: οοπω όρωμεν), sondern in einer gewissen Paradoxie gerade im Leiden (V.9).

178

Hermut Lohr

Es bleibt die Frage nach Funktion und Sinn der rätselhaften Aussage in V . l l . Soll die gemeinsame Herkunft von Heiligendem und zu Heiligenden von Gott oder von Menschen behauptet werden? An die erste Annahme wurden gerne Überlegungen zum religionsgeschichtlichen Einfluß auf den Hebr geknüpft; das Schreiben konnte aufgrund dieser Passage als Zeugnis einer kosmischen Syngeneia-Vorstellung verstanden werden 30 : Es gebe eine präexistente Seelenverwandtschaft von Erlöser und zu Erlösenden, die sich auch in den Bedingungen menschlicher Existenz durchhält. Dagegen steht die Interpretation auf die gemeinsame menschliche Abkunft, sei es allgemein, sei es von Adam, Abraham oder aus dem Volk. Im letzten Fall wird gerne von einer Kultregel gesprochen, die der Hebr hier aufnehme und die besage, daß der Priester aus dem Volk genommen sein soll 31 . Der Hinweis auf den gemeinsamen göttlichen Ursprung würde im Kontext die Rede von den »Kindern« und den »Brüdern« erläutern und stünde im Einklang mit den vorher getroffenen hoheitschristologischen Aussagen. Über die Bedingungen menschlicher Existenz und die Erlösungsbedürftigkeit wäre dann in V . l l noch nichts gesagt; V.14 brächte also einen gänzlich neuen Gedanken. Versteht man die Aussage im Sinne einer gemeinsamen Menschlichkeit von Heiligendem und zu Heiligenden, so wäre nicht nur der Gedanke von Kindschaft und Bruderschaft plausibel gemacht, sondern zugleich wäre das in V. 14 breit entfaltete Thema bereits angestimmt. Zwei Gründe widerraten m.E. dennoch dieser Deutung: 1. Problematisch bleibt die Annahme, daß der Verfasser nach den Ausführungen zumal des ersten Kapitels so ungeschützt die Menschlichkeit Jesu ausdrücken wollte 32 , und es würde mit der sonst im Brief entwickelten Christologie nur schwer zusammenstimmen 33 . 30

Vgl. Käsemann, Gottesvolk (s.o. Anm. 5) 90-95 und die seine religionsgeschichtlichen Thesen aufnehmenden Exegeten. Vgl. den Überblick bei Gräßer, Hebr I (s.o. Anm. 5) 135f.

31

Vgl. Hofius, Katapausis (s.o. Anm. 6) 216 Anm. 830: »Priestertum setzt Blutsverwandtschaft voraus«. Daß die Annahme einer solchen Kultregel im sonstigen Hebr durchaus Anhalt hätte, könnte die Exegese von 5,1-3 oder von 13,10 erweisen. Zur Deutung des letztgenannten Verses s. H.Löhr, Thronversammlung und preisender Tempel. Beobachtungen am himmlischen Heiligtum im Hebräerbrief und in den Sabbatopferliedern aus Qumran: Königsherrschaft Gottes und himmlischer Kult im Judentum, Urchristentum und in der hellenistischen Welt, hg.v. M.Hengel/A.M.Schwemer, Tübingen 1991 (WUNT 55) 185-205: 203 Anm. 141. Dazu paßt, daß das in V.ll verwendete Verb άγιάζειν im Hebr kultische Konnotationen trägt, vgl. Lohr, Umkehr (s.o. Anm. 8) 274f.

32

Nota bene: έξ ενός πάντες kann nicht die bloße Anteilhabe an den Bedingungen menschlicher Existenz meinen, es geht um den Ursprung!

33

Der Hinweis auf 7,14 (der Herr stammt aus Juda) taugt nicht zum Gegenbeweis. Denn die Pointe der Beweisführung dort liegt nicht in dem Nachweis der menschlichen Ab-

Anthropologie und Eschatologie im Hebräerbrief

179

2. In V.10 werden die zu Heiligenden Söhne (seil. Gottes) genannt. Es ist kaum anzunehmen, daß der Gedankengang gleich im nächsten Vers durch das neue und gleichzeitig recht verhüllt ausgesprochene Motiv der menschlichen Abkunft abgebrochen wird. Viel plausibler ist die Annahme, daß der Gedanke der Gotteskindschaft mit einer anderen Formulierung, welche bereits in den kultischen Bereich vorausweist, vertieft wird. Durchaus also kann V . l l eine Kultregel aufnehmen, doch ist es nicht wahrscheinlich, daß es um die Abkunft des Priesters aus dem Volk geht. Vielmehr dürfte eine Gotteskindschaft des Retters wie der ihm Anvertrauten 34 in allgemeiner Weise ausgesagt werden, aus welcher dann auch die Solidarität Jesu mit den Bedingungen menschlicher Existenz folgen kann, wobei diese aber noch eigens ausgeführt werden müssen (V.14ff). 3 5

III Wird in 2,14-16 der Tod des Menschen (und implizit der Kampf gegen den Teufel) als Gegenstand des Heilshandelns Christi direkt in den Blick genommen, so spielt dieses Thema in der sonstigen Soteriologie des Briefes keine direkte Rolle mehr. Ihr Interesse richtet sich vielmehr auf die Sünden der Menschen, die es zu sühnen gilt. Von diesem Gedanken her entwickelt der Hebr Christologie und Soteriologie. Nur in der beiläufigen Bemerkung in 9,27f begegnet noch einmal der Tod als theologisches Thema 36 , Tod und Gericht erscheinen als untrennbares Paar. Offenbar übernimmt der auetor ad Hebraeos hier beiläufig eine Vorstellung, die nach dem Tode ein Gericht

kunft Jesu, sondern in dem Hinweis auf die Zugehörigkeit zu einer anderen Priesterordnung; vgl. E.Gräßer, An die Hebräer. II. Hebr 7,1 - 10,18, Zürich/NeukirchenVluyn 1993 (EKK XVII/2) 41 f. Nach V. 16 ist Jesus Priester geworden nicht nach dem Gesetz fleischlichen Gebotes, sondern nach der Kraft ungehinderten Lebens. Wieder bilden Endlichkeit und Tod die differentia specifica. 34

Ich halte es für möglich, daß hier der Erwählungsgedanke begegnet und auch auf die Terminologie Einfluß genommen hat. Daß der Hebr alle Menschen als Gotteskinder ansähe, ist nicht gesagt. Das Problem einer Allversöhnung ist nicht entfaltet, aber der Verfasser kennt die theoretische Möglichkeit endgültiger Verwerfung gewesener Christen. Ein Erwählungsdualismus ist dabei charakteristischerweise nicht impliziert.

35

Wie O.Hofius, Der Vorhang vor dem Thron Gottes. Eine exegetisch-religionsgeschichtliche Untersuchung zu Hebräer 6,19f und 10,19f, Tübingen 1972 (WUNT 14) 93 Anm. 265 (auf S.94) zu Recht bemerkt, wäre auch ein (hier nicht deutlich ausgearbeiteter) Hinweis auf die Präexistenz der menschlichen Seele noch kein untrügliches Indiz für Gnosis; auch das Frühjudentum kannte diese Vorstellung.

36

In Kap. 7 (vgl. V.8.23) dient der Verweis auf die Sterblichkeit des Menschen dazu, die Ewigkeit des Priestertums Melchisedeks bzw. Jesu pointiert herauszustellen. Im elften Kapitel ist Sterblichkeit oder Tod Hinweis auf das noch nicht erlangte Verheißungsgut (vgl. V.13 und 35).

180

Hermut Lohr

annahm, wobei aus dieser Passage keine Aussagen über den Zustand der Menschen nach dem Tode zu erheben sind. Die ähnlich beiläufige und parallele Formulierung in 6,2 läßt es aber als plausibel erscheinen, daß hier Gerichtsgedanke und vorgängige (leibliche) Totenauferstehung zusammengedacht werden, ohne je einzeln erwähnt werden zu müssen. Vergißt der Hebr also die soeben betrachteten Grundaussagen über die Bedingungen menschlicher Existenz in der weiteren Argumentation? Ist 2,14-16 nichts als ein theologischer Ausrutscher? Plausibler scheint mir die Annahme, daß wir im zweiten Kapitel auf eine anthropologische Anschauung des Hebr stoßen, die nicht mehr explizit erörtert oder soteriologisch weiter ausgearbeitet wird, die aber in deutlicher Wechselbeziehung zu eschatologischen Aussagen des Briefes steht und einen gedanklichen Zusammenhang einführt, der für die parakletische Theologie des Textes insgesamt Bedeutung hat. Der Abschnitt wäre dann nicht zufalliges Rudiment einer mythischen Anschauung, sondern bewußt zu Beginn des Textes piazierte Verknüpfung anthropologischer, soteriologischer und eschatologischer Aussagen im Hinblick auf die Adressaten. Es ist nämlich durchaus fraglich, ob dem Hebr der Glaube an die Auferstehung der Toten, oder sagen wir: des Fleisches, das zentrale Anliegen seiner Äußerungen zur Eschatologie war. Anders formuliert: Die Pointen der eschatologischen Aussagen des Hebr liegen nicht nur in dem Verweis auf ein Leib und Seele (das sind hier zunächst unsere Begriffe!) bereitetes Jenseits, sondern gerade auch in der Paraklese für das Diesseits. Der Verfasser kann sich dazu u.a. einer dichotomischen Anthropologie bedienen. Ein Blick auf die anthropologischen Begriffe und ihre Verwendung bestätigt diese These. Der Begriff σάρξ, dem wir bereits in 2,14 in der Konnotation »Blut und Fleisch« begegnet waren, findet sich im Hebr sonst noch in 5,7; 9,10.13; 10,20; 12,9. Ohne diese Passagen in ihrem Kontext hier einzeln behandeln zu können, lassen sich folgende Feststellungen treffen: Dem Begriff wohnt nicht so sehr ein pejorativer als vielmehr ein limitierender Aspekt inne. Wenn in 5,7 von den ήμέραι της σαρκός Jesu gesprochen wird, so impliziert dies bestimmte Bedingungen und Möglichkeiten der Existenz37 und zugleich eine auch temporale Begrenzung. Denn am Ende steht die »Vollendung« (V.9) 38 . Vom »Fleisch« Jesu ist auch in der schwierigen Passage 10,20 die Rede. Andernorts39 habe ich dargelegt, daß hier nicht Vorhang und Fleisch - so die geläufige Deutung - identifiziert werden, sondern daß zumal das irdische Leben Jesu als Weg seines Fleisches be-

37

Z.B. halte ich es nicht für vorstellbar, daß man vom Präexistenten oder vom Erhöhten die in V.7 beschriebenen menschlichen Gefühlsäußerungen hätte aussagen können.

38

Zum Konzept der τελείωσις im Hebr vgl. Lohr, Umkehr (s.o. Anm. 8) 276-285.

39

Vgl. Lohr, Thronversammlung (s.o. Anm. 31) 195-197.

Anthropologie und Eschatologie im Hebräerbrief

181

zeichnet wird: Es ist auch die konkrete (und begrenzte) Menschlichkeit, die Jesus mit hinter den Vorhang einbringt. Auch von daher ist die von J.Jeremias vorgebrachte Auffassung, der Hebr vertrete in bezug auf Jesus die Vorstellung von einem leiblosen Zwischenzustand, nicht wahrscheinlich 40 . Denn die Vorstellung, das leiblose πνεΰμα Jesu sei mit dem Blut seines Leibes in den debir des himmlischen Heiligtums eingetreten41, trägt Züge ein, die der Hebr selbst nicht ausführt. In 10,12 wird eben nicht von einer zwischen der Darbringung des Blutes und der Erhöhung zur Rechten Gottes stattfindenden Vereinigung von Geist bzw. Seele und Leib Jesu gesprochen, wie der Gedanke an den Zwischenzustand voraussetzen muß. Es ist hervorzuheben, daß Jeremias sich gegen eine Vermischung von Ascensusund Osteraussagen ausspricht, »so gewiß die Vorstellungen sekundär in den AscensusAussagen des vierten Evangeliums, wohl auch schon des Hebräerbriefs, ineinander übergehen«42 (leider beschreibt Jeremias das Phänomen für den Hebr nicht näher). Auch warnt Jeremias43 im Hinblick auf eine theologische Auswertung davor, sich an das mythische Bild zu klammern. Vielmehr sei jeweils das eigentliche Anliegen zu eruieren. Es ist aber die Frage, ob unser von den Ostergeschichten der Evangelien sowie der παράδοσις in l.Kor 15 geprägtes Verständnis der Auferstehimg Jesu tenia die einfach auf den Hebräerbrief zu übertragen ist. Zu kritisieren ist Jeremias darin, daß er die für den Hebr so wichtigen Erhöhungsaussagen aufgrund von Ps 8 und 110 in diesem Zusammenhang gar nicht erörtert. Überhaupt spricht der Hebr zwar vom Blut Jesu (9,12.14; 10,19; 12,24; 13.12.20) 44 , von seinem Fleisch (5,7; 10,20) und auch - in Anschluß an Ps 40,7-9 - von seinem Leib (10,5.10), aber niemals von seiner Seele! Und so gewiß die (sich an Jes 63.11LXX 45 anlehnende und wohl eine Mose-Exodus-Typologie implizierende) Segensformel46 in 13,20 den Gedanken an die Auferweckung Jesu von den Toten transportiert, kann diese einzige direkte Erwähnung nicht zum Zentrum der christologischen Vorstellung des Hebr erhoben werden. Gerade angesichts der Tatsache, daß der Hebr durchaus von έγείρειν έκ νεκρών und άνάστασις (6,2; 11,19.35) als Glaubensgrundwissen bzw. in bezug auf die Vorbilder des Glaubens sprechen kann47, fallt dieser Befund auf. Man 40

Vgl. J.Jeremias, Zwischen Karfreitag und Ostern. Descensus und Ascensus in der Karfireitagstheologie des Neuen Testamentes: ders., Abba. Studien zur neutestamentlichen Theologie und Zeitgeschichte, Göttingen 1966, 323-331: 326-328.330; zustimmend Hofius, Katapausis (s.o. Anm. 6) 181 Anm. 359; Rose, Wolke (s.o. Anm. 8) 330f.

41

So nur implizit Jeremias, Zwischen (s.o. Anm. 40) 327.330, ausgeführt von Hofius, Katapausis (s.o. Anm. 6) 181 Anm. 359 und ihm folgend Rose, Wolke (s.o. Anm. 8) 330f.

42

Jeremias, Zwischen (s.o. Anm. 40) 330.

43

Ebd. 331.

44

Wobei die Erwähnung des Blutes Jesu sich aus der zugrunde liegenden soteriologischen Konzeption kultischer Sühne ergibt, nicht aus einem anthropologischen Interesse!

45

Dort heißt es: και έμνήσθη ήμερων αιωνίων ό άναβιβάσας έκ της γης τον ποιμένα των προβάτων.

46

Mit dieser Bezeichnung ist die Funktion der Phrase im Zusammenhang des Hebr beschrieben.

47

Dazu s. u. S. 186-190.

182

Hermut Löhr

kann mit H.Braun 4 8 von einer Reserviertheit des Hebr gegenüber dem Auferstehungsleib Jesu sprechen. Nur aufgrund der Tatsache, daß der Leib des Auferstandenen für die theologische Konzeption des Hebr keine besondere Bedeutung hat, funktioniert erst der in 13,11-13 durchgeführte und paränetisch ausgeweitete Vergleich mit den Opfertieren, deren Leiber (hier im Gegensatz zum Blut) außerhalb des Lagers verbrannt werden. Charakteristisch ist in 13,20 auch die auf Sach 9,11LXX 4 9 anspielende Weiterführung des Theologumenons von der Auferstehung Jesu hin zum Bundesblutgedanken, die der traditionellen urchristlichen Auferweckungsfonnel fremd war. So wäre sogar zu fragen, ob die Aussage in 13,20 nicht eine andere Formulierung des sonst vom Hebr mit der Vorstellung vom Eintritt in das himmlische Allerheiligste umschriebenen Sachverhaltes sein könnte. 5 0 In 1 2 , 9 wird σ ά ρ ξ nicht christologisch verwendet; es w e r d e n die Väter nach d e m Fleisch, d. h. die leiblichen Väter, d e m π α τ ή ρ π ν ε υ μ ά τ ω ν 5 1 , d.i. Gott, gegenübergestellt. V . 1 0 bringt die Begrenzung der irdisch-väterlichen Gewalt im Vergleich mit der göttlichen Züchtigung s o w o h l in Hinsicht auf ihre Wirkung und Bedeutsamkeit als auch in bezug auf ihre Dauer deutlich z u m Ausdruck: »Denn jene haben uns gezüchtigt für wenige Tage nach ihrem Gutdünken, dieser aber tut es zu unserem Besten, damit wir an seiner Heiligkeit Anteil erlangen.« Sarx und P n e u m a treten durch den H i n w e i s auf die j e unterschiedliche V a terschaft in eine g e w i s s e Diastase, ohne daß hieran unmittelbar eine dichotomische Anthropologie ablesbar w ä r e 5 2 . In 9 , 9 f und 13f werden σ ά ρ ξ und

48

Vgl. H.Braun, An die Hebräer, Tübingen 1984 (HNT 14) 478.

49

Καϊ σύ ev αΐματι διαθήκης έξαπέστειλας δέσμιους σου εκ λάκκου οΰκ έχοντος ύδωρ .

50

Vgl. Loader, Sohn (s.o. Anm. 24) 53f: »Jesu Exodus und sein Eintritt in die himmlische Welt hatten gleich nach seinem Tode stattgefunden; seine leibliche Auferweckung drei Tage später. Die Alternative wäre, daß der Vf sich die Auferweckung Jesu nicht leiblich vorstellt (also anders als die traditionelle Aussage in 6,2, die die Auferstehung der Christen wahrscheinlich leiblich aufgefaßt hatte) und sie als Eintritt bzw Rückkehr in die himmlische Welt verstanden hätte. Hat der Vf überhaupt so genau darüber nachgedacht? Leider ist es nicht möglich, die Auffassung des Vf über die Auferweckung Jesu deutlich zu erkennen. Uns fehlt es an ausreichendem Beweismaterial. Wir halten es aber für wahrscheinlich, daß er Jesu Auferweckung als Rettung aus dem Todesbereich und damit als seinen Eintritt in die himmlische Welt versteht und 13,20 darauf bezieht [...] Die Aussagen des Vf über die Erhöhung, die τελείωσις und die jetzige Stellung Jesu sind darin verankert, daß Gott Jesus aus dem Tode herausgeführt hat. Bei all dem geht es ihm allerdings nicht darum, die Vergangenheit zu rekonstruieren, sondern darum, den lebendigen Herrn und seine Hilfe für die Gemeinde hervorzuheben.«

51

Zur Frage, wie die πνεύματα hier zu interpretieren sind, vgl. G.Theißen, Untersuchungen zum Hebräerbrief, Gütersloh 1969 (StUNT 2) 63 Anm. 29. 121f.

52

Denn V.9 formuliert ja nicht streng parallel; während von den »Vätern unseres Fleisches« (τούς μεν της σαρκός ήμών πατέρας) gesprochen wird, ist Gott allgemeiner und mit jüdischer Tradition - als »Vater der Geister« eingeführt, so daß man erwägen

Anthropologie und Eschatologie im Hebräerbrief

183

σ υ ν ε ί δ η σ ι ς einander gegenübergestellt, und zwar, dem Kontext des Kapitels insgesamt angepaßt, in Hinsicht auf den jeweiligen Opferkult und seine Wirksamkeit. Der Kult am irdischen Zeltheiligtum mit seinen Gaben und Opfern kann den Dienenden nicht nach dem Gewissen vollenden (V.9), es handelt sich bei den Kultbestimmungen um δικαιώματα σαρκός (V.10). Eine sehr begrenzte Wirksamkeit wird diesem irdischen Kult dann in V. 13 doch zugesprochen; das Blut der Böcke und Stiere und die Asche der roten Kuh verhelfen zur »fleischlichen Reinheit« der Befleckten 53 , während das im »ewigen Geist« gewirkte Selbstopfer Christi »unser Gewissen«, welches durch »tote Werke« belastet ist, reinigt (V.14). Offenbar sind auch hier äußerliche Sphäre und Wesensmitte des Menschen, die auf den Verkehr mit Gott hin orientiert sein kann, voneinander unterschieden. Zugleich werden unterscheidende anthropologische Termini metonymisch für zwei Heils- und Kultordnungen und ihre Wirksamkeit verwendet. Der Mensch wird aber keinesfalls unter der Herrschaft eines sarkischen, bösen oder pneumatischen, guten Prinzips oder Geistes gesehen; einen durchgängigen anthropologischen Erwählungsdualismus kennt der Hebr nicht. Nur an zwei Stellen ist der Begriff π ν ε ΰ μ α anthropologisch verwendet, sicher in 4,12 und - weniger gewiß - in 12,23 54 . Die Passagen 2,4; 3,7; 6,4; 9,8; 10,15.29 verstehen τό πνεΰμα t o α γ ι ο ν eindeutig im Sinne einer göttlichen Wesenheit, als Prinzip oder Mittler göttlicher Offenbarung. Als himmlische Wesen sind auch die πνεύματα in 1,7 (Zitat Ps 104,4). 14 sowie vielleicht in 12,9 (Gott als Vater der πνεύματα) 5 5 zu verstehen. Wenn in 4,12 von der Trennung u.a. von ψ υ χ ή und πνεΰμα durch den Logos Gottes 56 gesprochen wird, so kann man zwar von Rudimenten einer trichokann, daß πνεΰμα hier nicht als anthropologischer Terminus zu interpretieren ist. Auf der anderen Seite ist die Wendung τοϋς μεν της σαρκός ήμών πατέρας im Sinne einer begrenzten und in der Gottesbeziehung überbotenen Vaterschaft und damit doch vielleicht einer dichotomischen Anthropologie aufzufassen. 53

Woran der auctor ad Hebraeos hierbei präzise denkt, ist kaum sicher zu sagen. Am ehesten würde ein Bezug etwa auf die kultischen Reinheitsbestimmungen in Lev und Num passen. Deutlicher Hinweis ist jedenfalls die Asche der roten Kuh, die nach Num 19 zur Herstellung des Reinigungswasser benötigt wird.

54

Die attributivische Formulierung in 12,23 και π ν ε ό μ α σ ι δικαίων τ ε τ ε λ ε ι ω μ έ ν ω ν schließt m.E. jedoch aus, daß die hier genannten »Geister« nichts anderes als Geistwesen waren. Vielmehr macht der Bezug auf die »vollendeten Gerechten« deutlich, daß es hier um die Menschengeister der Gerechten geht - wiederum also ein Zeugnis für dichotomische Anthropologie. Über ein mögliches späteres Schicksal der Leiber erfahren wir allerdings nichts. Ausführlicher u. S. 190-195.

55

Dazu o. Anm. 52.

56

Die Trennung von Psyche und Geist, Mark und Bein wird dem Logos Gottes zugeschrieben - Bild und Sache scheinen hier ineinander zu fließen. Eine spezifisch gnostische Deutung der Begrifflichkeit, wie sie etwa von Theißen, Untersuchungen (s.o. Anm. 51) 63 Anm. 30 vorgeschlagen wurde, ist nicht zwingend.

184

Hermut Lohr

tomischen Anthropologie im Hebr sprechen; ein eigentliches differenzierendes anthropologisches Interesse hat diese Aussage jedoch nicht. Sechsmal findet sich der Begriff ψ υ χ ή im Hebr; neben der schon angesprochenen Passage 4,12 noch in 6,19; 10.38.39; 12,3 und 13,17. In 6,19 wird die Hoffnung als »Anker der Seele« beschrieben, die hinter den Vorhang des himmlischen Heiligtums reicht, das von Jesus, dem ewigen Priester, bereits erreicht ist. Eine seltsame Verquickung des zentralen soteriologischen Motives des Hebr, Jesu Eintritt in den himmlischen debir, mit der schon pagan-antik öfter belegten Vorstellung vom Anker als Symbol der Hoffnung 57 ! Suchen wir den anthropologischen Gehalt des merkwürdig verunglückten Bildes zu eruieren, so kann wohl gesagt werden, daß die Seele derjenige Teil des Menschen ist, der vornehmlich mittels der Hoffnung auf das Eschaton bezogen sein kann. In 10,38 zitiert der Verfasser aus Hab 2,4 nach der Septuaginta. Mit den Details der Textform des Zitates müssen wir uns hier nicht auseinandersetzen, entscheidend ist, daß gerade das im Zitat eher beiläufige ή ψ υ χ ή μου (anstelle hebr. 1Ü33) in der Auslegung von V.39 aufgenommen wird in der Konsoziation mit περιποίησις 5 8 . Wieder erscheint die ψ υ χ ή als das in besonderer Weise angesprochene »Organ« des Menschen, das es zwar im Hinblick auf von der Zukunft Erwartetes, aber eben schon jetzt in der πίστις zu bewahren gilt. Auch in 12,3 erscheint die ψ υ χ ή als das Organ des Menschen, dessen Bewährung im Glaubenskampf besonders gefordert ist. Der Verfasser fordert dazu auf, in der Nachahmung Christi den Agon (V. 1) mit Ausdauer zu bestehen. Die Gefahr besteht in der Ermüdung der ψ υ χ ή . Auch das letzte Vorkommen von ψ υ χ ή in 13,17 zeigt, daß der Verfasser des Hebr die Seele als den Teil des Menschen betrachtet, der in ausgezeichneter Weise in der Frage des Glaubens und seiner Bewährung involviert ist. Die Gemeindeführer, denen zu gehorchen in dem genannten Vers gemahnt wird, sind mit der Aufsicht über die Seelen der Gemeindeglieder betraut und als solche rechenschaftspflichtig. Fünfmal spricht der Hebr vom σώμα (10,5.10.22; 13,3.11). Im Psalmzitat 10,5 (zitiert ist Ps 40,7 nach der LXX 59 ) und seiner Auslegung im 57

Nicht zuletzt in der frühesten christlichen Kunst taucht das Motiv des Ankers als Hoffnungszeichen auf; vgl. dazu die neuen wichtigen Arbeiten von F.Tristan, Les premiferes images chritiennes. Du Symbole ä l'icöne. II e - VI e sifecle, Paris 1996, 88-99; P.Prigent, L'art des premiers chrötiens. L'h6ritage culturel et la foi nouvelle, Paris 1995, Register 273 s.v. Die Wendung läßt an die Formulierung von Ez 13.19LXX denken: καϊ έβεβήλουν με πρός τ ό ν λ α ό ν μοο ε ν ε κ ε ν δρακός κριθών και ε ν ε κ ε ν κ λ α σ μ ά τ ω ν άρτου τοϋ ά π ο κ τ ε ΐ ν α ι ψ υ χ ά ς , ας ούκ έδει ά π ο θ α ν ε ϊ ν , και τοϋ π ε ρ ι π ο ι ή σ α σ θ α ι ψ υ χ ά ς , ας οόκ έδει ζ ή σ α ι κτλ.

59

Hebr folgt hier der (christlichen?) Septuaginta-Lesart der Textzeugen Ν, Α und B, während das dem hebr. CT 3 TN entsprechende ώτία in der Überlieferung der griechischen Bibel vom Psalterium Gallicanum sowie Aquila, Symmachus und Theodotion geboten wird.

Anthropologie und Eschatologie im Hebräerbrief

185

zehnten Vers geht es um den Opferleib Christi, welcher den nicht gefalligen und nicht wirksamen Tieropfern entgegengestellt ist. In 13,1 lf wird eine allgemeine Kultregel 60 zur Deutung des Selbstopfers Christi »draußen vor dem Tor« eingesetzt; mit den σώματα sind offenbar die außerhalb des Lagers zu verbrennenden Leiber der geopferten Tiere gemeint; den Gegensatz bildet das Blut, welches ins Heiligtum gebracht wird. Anthropologisch differenzierend eingesetzt wird hingegen die Rede vom σώμα in 10,22 und 13,3. In der Wiederaufnahme der Mahnung in 10,19ff fordert V.22 dazu auf, den durch Jesu Blut eröffneten Weg ins Heiligtum zu beschreiten. Reinheitsterminologie wird eingeführt. Die für den Zugang zum heiligen Bereich notwendige Reinheit ist umfassend; sie betrifft den ganzen Menschen in voneinander unterschiedenen Dimensionen: Reines Herz wie reines σώμα sind notwendig und möglich 61 . Der Mensch ist so andererseits nicht ganz σώμα, dieser Begriff bezeichnet vielmehr nur einen und, bedenkt man die Gegenüberstellung zu καρδία und σ υ ν ε ί δ η σ ι ς (vgl. 9,13f) 6 2 , den eher äußerlichen Aspekt des Menschen. Wiederum ist kein scharfer Dualismus, wohl aber eine dichotomische Anthropologie impliziert. Dieses Bild wird auch durch die Aussage von 13,3 bestätigt: Indem der Verfasser die Adressaten an ihr Sein im Leibe erinnert, will er ihr Mitgefühl und ihre Fürbitte für die (am Leibe) Mißhandelten wecken. Leiblichkeit erscheint als Existenzbedingung des Menschen, macht ihn jedoch auch verletztbar. Und es ist vorausgesetzt, daß der Mensch nicht einfach mit dem σώμα zu identifizieren, nicht nur Leib ist. Das sich durch diesen knappen Überblick über die anthropologische Terminologie des Hebr ergebende Bild ist eindeutig: Die Seele ist der Teil des Menschen, der in hervorragender Weise auf das Heil und die letzten Dinge bezogen ist. Am Zustand der Seele 63 entscheiden sich Heil oder Verderben des Menschen insgesamt. Die für den Hebr besonders charakteristische Rede von der ψ υ χ ή des Menschen im soteriologischen und eschatologischen Kontext zeigte, daß es dem Verfasser nicht um eine differenzierende Lehre vom Menschen geht. Vielmehr kann er anthropologisch differenzierende Begriffe einsetzen, um einerseits Begrenzungen, andererseits Ausrichtungen und Bezüge des Menschen in der Gegenwart zu beschreiben. Der Mensch ist nicht ψ υ χ ή , der Begriff steht also nicht metonymisch für den ganzen Menschen. Vielmehr ist Der pejorative Aspekt der alten Kultordnung tritt hier merklich in den Hintergrund. Zu den traditionsgeschichtlichen Hintergründen der hier verwendeten Reinheitsterminologie vgl. Lohr, Umkehr (s.o. Anm. 8) 263-266. Hinter der Formulierung wird m.E. zu Recht - eine Anspielung auf die Taufe vermutet. Doch ist festzuhalten, daß die Gegenüberstellung von καρδία und σώμα im zehnten Kapitel nicht identisch ist mit dem Gegensatz von σάρξ und σ ο ν ε ί δ η σ ι ς in Kap. 9. Der sehr viel weniger prominente Gewissensbegriff des Hebr ist in seiner Funktion vergleichbar.

186

Hermut Lohr

die ψυχή der Ort oder das Organ im Menschen, an welchem sich Heil oder Unheil entscheiden und und schon jetzt manifestieren. Hier transzendiert der Mensch die quasi biologischen Gegebenheiten der Fleischlichkeit, ohne daß aus dieser angedeuteten Dichotomie eine dualistische Anthropologie konstruiert würde, die etwa den Menschen als wesentlich seelenhaft lediglich in das Gefängnis des Leibes gesperrt sähe. Es verbindet sich mit der Rede von der ψυχή (wie auch mit derjenigen von der συνείδησις) des Menschen auch nicht explizit die Vorstellung einer Präexistenz oder Gottgleichheit desselben. Einen Mythos vom Weg der Seele in und außerhalb des Leibes, von einer »Himmelsreise der Seele«64, bietet der Hebr jedenfalls nirgends.

IV Die im Hebr ablesbare Vorstellung vom Geschick des Menschen im Eschaton ist vielmehr diejenige der (leiblichen) Auferstehung von den Toten. Schon die summarische Aufzählung der nun nicht mehr zu wiederholenden Grundlehren des Glaubens in 6,2 verbindet Auferstehung der Toten und ewiges Gericht und zeugt damit für die vorausgesetzte und mit den intendierten Lesern geteilte kollektive und endeschatologische Erwartung des Verfassers. In 9,27 wird zwar nicht von der Auferstehung, sondern nur von Tod und Gericht als allgemeinem Menschenschicksal gesprochen. Immerhin kann aber erwogen werden, ob mit der Tradition und in Korrespondenz zu der Äußerung in 6,2 - und vielleicht auch parallel zur Wiederkunft Christi die Erwartung einer allgemeinen Totenauferstehung impliziert ist. Der Akzent liegt freilich nicht hier, sondern auf der im folgenden Vers ausgedrückten Erwartung der zweiten Parusie Christi. Auffallig bleibt jedoch gerade angesichts von 9,27f die Tatsache, daß der Hebr auf die Auferstehung Christi von den Toten, eine der zentralen Heilsaussagen der Evangelien oder auch der paulinischen Theologie, nur in der Segensformel in 13,20 - und hier wiederum in charakteristischer Annäherung an die auch im neunten Kapitel präsente Vorstellung vom Bundesblut - zu sprechen kommt. Die Theologie des Hebr ist eindeutig nicht von der Historizität von Ostern her konstruiert, so sehr man die massive Präsenz von Erhöhungs- und Hoheitsaussagen in bezug auf Christus oder auch die Erörterung in 2,14ff als Auslegungen der Osterbotschaft verstehen kann. Von besonderer Bedeutung ist die Hoffnung auf die Auferstehung von den Toten und, allgemeiner gesprochen, das in zeitlichen wie räumlichen Kategorien konzipierte Jenseitsschicksal, für das elfte Kapitel des Briefes. Freilich würde die Auslegung auch hier fehlgehen, suchte man allgemeine Aussagen über die Konstitution des Menschen und das von ihm nach dem Tode zu Erwartende. Vielmehr führt der Text eine Reihe von Zeugnissen 64

Vgl. Käsemann, Gottesvolk (s.o. Anm. 5) 52-58.

Anthropologie und Eschatologie im Hebräerbrief

187

und Zeugen aus der (in der Schrift dargestellten 65 ) Heilsgeschichte an, die das auf das Eschaton gerichtete Wesen der π ί σ τ ι ς veranschaulichen und, indem sie auf Jesus als α ρ χ η γ ό ς und τ ε λ ε ι ω τ ή ς (12,2) hinführen, Ermutigung für die Gegenwart bieten. Der Thematik des Abschnittes entsprechend wird die Grenze der Zeit und der Zeitlichkeit proleptisch überschritten durch die π ί σ τ ι ς , welche auf Kommendes ( έ λ π ι ζ ο μ έ ν ω ν ό π ό σ τ α σ ι ς ) und nicht Vorfindliches (πραγμάτ ω ν έ λ ε γ χ ο ς ού β λ ε π ο μ έ ν ω ν ) gerichtet ist. Obwohl so, nach der eigenartigen Schöpfungsaussage von V.3, in V.4-31 ausführlich, ab V.32 generalisierender und dann auch anonym, einer Reihe von großen Gestalten aus der heiligen Schrift die π ί σ τ ι ς in dem eingangs umschriebenen Sinne zugesprochen wird, begnügt sich der Verfasser theologisch nicht mit dieser Transzendierung des Vorfindlichen im Sinne einer nicht mehr allein am Welthaften orientierten Existenz, sondern stellt zum (vorläufigen) 66 Abschluß der Paradigmenreihe das Defizit der π ρ ε σ β ύ τ ε ρ ο ι in aller Schärfe heraus: »Und diese alle, welche durch den Glauben Zeugnis erhielten, erlangten nicht die Verheißung [d.h. das Verheißene], weil Gott für uns etwas Besseres vorgesehen hatte, daß jene nicht ohne uns vollendet würden.«

Den π ρ ε σ β ύ τ ε ρ ο ι fehlt es also nicht an der π ί σ τ ι ς , wohl aber an der τελ ε ί ω σ ι ς , der eschatologischen Vollendung, in der nach dem theologischen Konzept des Hebr die Glaubenszeugen der Vorzeit den Adressaten nicht vorangehen. Anführer und Vollender ist vielmehr Christus. 6 7 Schon in 11,13-16 war dieser Vorbehalt angedeutet, aber noch nicht im Vergleich mit der jetzigen Generation ausgeführt worden. Aus dieser Passage wird zugleich deutlich, daß das Verheißungsgut, hier die himmlische Stadt oder Heimat, für die Alten durchaus nicht prinzipiell unzugänglich ist 68 . Zu ihren Lebzeiten jedoch wurde dieses Ziel nicht erreicht. Im weiteren Verlauf des

65

Der Schriftbezug oder -beweis wird jedoch nirgends explizit angesprochen.

66

Kap. 11 erreicht erst mit 12,1-3, dem Hinweis auf Christus und der paränetischen Anwendung, seinen Abschluß. Dennoch bilden ll,39f mit dem generalisierenden Verweis auf οδτοι πάντες eine gewisse inclusio mit V.2 (jeweils wird μαρτυρεΐν verwendet) und formen so einen Einschnitt, zumal eben die »Alten« im Gegensatz zu Jesus nicht »vollendet« wurden. Außerdem deutet V.40 die dann in 12,1-3 ausgeführte Applikation auf die Leser des Hebr an.

67

Mit dieser Argumentation erreicht der Verfasser zweierlei: Zum einen wird, ohne daß das Thema von altem und neuem Bund in Kap. 11 explizit präsent wäre, doch die Überlegenheit der neuen Heilsordnung festgehalten. Die alte Kultordnung ist eben nicht unabhängig von der in unserem Sinne alttestamentlichen Zeit und ihren Repräsentanten zu denken, auch wenn es aus dieser Zeit immer wieder Verweise und Verheißungen auf das Kommende gibt. Zum anderen bleibt das den Hebr prägende solus Christus des Heils gewahrt; der Präexistenzgedanke wird soteriologisch nicht ausgewertet: Allumfassendes Heil gibt es erst seit der Kreuzigung Jesu.

68

11,16 formuliert: ήτοίμασεν γάρ αύτοΐς π ό λ ι ν .

188

Hermut Löhr

Gedankenganges wie des Briefes insgesamt ist der Verfasser aber nicht daran interessiert darzulegen, wann oder wie die Glaubenszeugen dieses Verheißungsgut erlangt haben bzw. erlangen werden 6 9 . Von Interesse sind die Glaubenszeugen gar nicht im Hinblick auf ihr eigenes eschatologisches Geschick, sondern als Zeugen der auch uns gegebenen Hoffnung. 7 0 Dieses argumentative Interesse des elften Kapitels insgesamt prägt sich auch in den Äußerungen über das postmortale Geschick in einzelnen Glaubensbeispielen aus. Von einem solchen postmortalen Geschick im wörtlichen Sinne läßt sich allerdings im Falle des in 11,5 erwähnten Henoch nicht sprechen. Denn mit der Tradition - und mit Gen 5,24LXX 7 1 - sagt der Verfasser, Henoch sei entrückt worden (μετετέθη) und habe den Tod nicht gesehen 7 2 . Diese durch die Tradition gelenkte Aussage, die ihre Pointe im Sinne des Hebr durch die Betonung der π ί σ τ ι ς Henochs erhält, ist mit den bereits zur Kenntnis genommenen generellen Äußerungen über das Unvollendetsein der alttestamentlichen Glaubenszeugen kaum auszugleichen. Das traditionelle HenochBild, das seine Aufnahme als Exempel geradezu erzwang, behält hier das Übergewicht gegenüber dem argumentativen Duktus des Kapitels insgesamt.

69

Zu 12,23 s.u. S.190f.

70

Daß der Verfasser aus der Tradition die Vorstellung vom leiblosen Zwischenzustand gekannt haben kann, steht außer Frage. Exegetisch ist aber zu fragen, ob ein solches Theologumenon vorausgesetzt werden muß, um die Aussageabsicht des Hebr recht zu verstehen. Es gilt sich hier zu entscheiden, welche methodischen Konsequenzen man aus der Uneindeutigkeit der Quellen zieht.

71

Kai εύηρέστησεν Ενωχ τω θεω καν οόχ ηύρίσκετο, οτι μετέθηκεν αότόν ό θεός .

72

Rose, Wolke (s.o. Anm. 8) 179-184 bietet einen Überblick über frühjüdische Aussagen zu Henoch. Er interpretiert die Wendung ιοΰ μή ίδεϊν θάνατον als »apologetisch-polemische Spitze gegen all diejenigen Anschauungen im antiken Judentum, die Henoch auf die Seite der Gottlosen rechnen« (184). Abgesehen von der Frage nach dem Alter dieser Tradition ist jedoch festzustellen (so auch Rose, Wolke [s.o. Anm. 8] 182), daß die Annahme, Henoch sei nicht entrückt worden, sondern gestorben, nicht von selbst die andere impliziert, er gehöre zu den Gottlosen; vgl. nämlich Targum Onqelos zu Gen 5,24: ή ν T i m ^ i ί - η K r ^ r m τ π π - p ' r m "ι"1 ΓΡΓΡ ΓΙ "'DK »And Enoch walked in (the) fear of the Lord; then he was no more, for the Lord had caused him to die« (Übers.: Μ.Aberbach/B.Grossfeld, Targum Onkelos to Genesis. A Critical Analysis Together with an English Translation of the Text, Denver 1982, 48. 48f Anm. 5 zu den Tendenzen der Überlieferung: Die Sterblichkeit Henochs sei Symbol der Fehlerhaftigkeit und Menschlichkeit und werde polemisch gegen sektiererische Benutzungen der Henoch-Figur eingesetzt. Sind also manche der targumischen und rabbinischen Auffassungen nicht eher - ganz indirekte Reaktion als traditionsgeschichtlicher Untergrund der Hebr-Aussage?). Mir scheint es am natürlichsten anzunehmen, Hebr verwende ohne bestimmte polemische Absicht die ihm bekannte frühjüdische Tradition von der Entrückung Henochs.

Anthropologie und Eschatologie im Hebräerbrief

189

Von der Hoffnung auf die Totenauferstehung zeugt V.19. Im zweiten Abraham-Beispiel (nach 11,8-12) wird auf die sogenannte aqedah, die Überlieferung über die Opferung Isaaks nach Gen 22, angespielt. Die Tatsache, daß Abraham den Verheißungsträger darbringt (V.17: π ρ ο σ ε ν ή ν ο χ ε ν ; προσέφερεν 7 3 ), wird als Erweis seines Glaubens gewertet. Abraham konnte diese Tat vollbringen, weil er auf die aus Toten erweckende Macht Gottes rechnete (V.19: λ ο γ ι σ ά μ ε ν ο ς οτι και έκ ν ε κ ρ ώ ν έ γ ε ί ρ ε ι ν δυνατός ό θεός). Tatsächlich habe er Isaak wiedererlangt, und zwar έ ν παραβολή; Abraham habe Isaak zurückgewonnen als Gleichnis für die (zukünftige, eschatologische) Totenauferstehung. D.h., die Auferstehung von den Toten erscheint in dem zweiten Abrahambeispiel als Hoffnung bereits für die Glaubenszeugen des Alten Bundes, welche durch diese jedoch nicht erreicht wurde. Sie bleibt der zukünftigen Zeit vorbehalten. Die Bewahrung des Verheißungsträgers ist als Zeichen für die Rettung vom Tod im Eschaton interpretiert. Noch einmal kommt der Hebr auf die Auferstehung zu sprechen, nämlich in 11,35. In der seit 11,32 gebotenen summarischen Behandlung der Glaubensgeschichte von der Richterzeit an heißt es in V.35, daß Frauen aus der Auferstehung ihre Toten wieder empfingen (έλαβον γ υ ν α ί κ ε ς έξ Αναστάσεως τοϋς ν ε κ ρ ο ύ ς αύτών). Was gemeint ist, wird aus der Fortsetzung in der zweiten Vershälfte deutlich: »Andere aber wurden gemartert und empfingen nicht die Erlösung, damit sie einer besseren Auferstehung teilhaftig würden.«

Der Hebr operiert offenbar mit einer Konzeption von zwei Arten der Auferstehung, die in der für ihn typischen Komparativik voneinander abgesetzt werden. In dem ersten Fall ist die Wiedergewinnung der Toten aus der Auferstehung so zu verstehen, daß Gestorbene wieder zum (irdischen) Leben erweckt wurden. Die davon unterschiedene »bessere« Auferstehung, welche nicht bereits die Erlösung brachte, muß als eschatologisches, (zumindest zur Zeit der Augenzeugen) noch nicht eingetretenes und nicht einfach in den irdischen Zustand zurückversetzendes Geschehen angesehen werden. Für das elfte Kapitel des Hebr ergibt sich so ein recht geschlossenes Bild der eingesetzten eschatologischen Vorstellung: Die Glaubenszeugen der früheren Zeit sind in ihrem Glauben auf das Nicht-Vorfindliche, Jenseitige, Himmlische und auch Zukünftige bezogen, was sie noch nicht erlangt haben. Die Auferstehung von den Toten begegnet keinesfalls als das einzige sperandum, doch kann man gewiß sagen, daß der Verfasser die Auferstehung als endzeitliches Geschehen erwartete. Auferstehung gibt es in der Zeit der Zeugen nur gleichnishaft (die Errettung Isaaks in der aqedah) und als innerweltliche unterschieden von der eschatologischen. Die Hoffnung auf endzeitliche Totenauferstehung wird jedoch nicht so eingeführt, daß ihre Zur Frage, ob Hebr das Geschehen als vollendet, Isaak also als getötet betrachtete, vgl. Rose, Wolke (s.o. Anm. 8) 235-238.

190

Helmut Lohr

Details erörtert und die Leser entsprechend über die Eschata unterwiesen würden. Der referentielle Aspekt von Kommunikation durch Texte steht nicht im Vordergrund. Vielmehr ist auch die Hoffnung auf die Auferstehung funktional is iert zur Bezeichnung der Differenz zwischen der von den Alten bezeugten eschatologischen Hoffnung und ihrer noch ausstehenden Verwirklichung. Anthropologisch differenzierende Aussagen begegnen in diesem Kontext nicht, was m.E. heißen muß, daß der Hebr die leibliche Totenauferstehung erwartete.

V Dem recht eindeutigen Bild von Kap. 11 in bezug auf die Glaubenszeugen der Vorzeit, welche das Verheißungsgut nicht erlangten, fügt sich die Passage 12,22-24 nicht glatt ein. Das Problem bei der Zusammenschau der beiden Textstücke besteht vor allem darin, wie die sich in der himmlischen Welt befindenden πνεύματα δικαίων τ ε τ ε λ ε ι ω μ έ ν ω ν näher bestimmen lassen. 74 Die Rede von den πνεύματα deutet an, daß damit offenbar nicht Menschen in einer leib-seelischen Ganzheit als in der himmlischen Transzendenzsphäre vorgestellt werden, sondern als »Geister«75. Zwei Fragen sind zu stellen, um die Funktion der Aussage besser zu verstehen: 1. Wer ist mit den »vollkommenen Gerechten« gemeint? Handelt es sich um die in Kap. 11 erwähnten Glaubenshelden der früheren Zeit, welche die Verheißung im Sinne des verheißenen Gutes bzw. die Vollendung, wie ll,39f zum Ausdruck bringt, noch nicht erlangt haben? 2. Welche Bedeutung hat die Tatsache, daß der Zutritt zu den »Geistern« der vollendeten Gerechten betont wird? Ist die Vorstellung impliziert, daß die Geister noch mit den Leibern wieder vereint werden müssen? Ist der anAuch die Identifikation der »Gemeinde der Erstgeborenen, aufgeschrieben in den Himmeln« bereitet Schwierigkeiten. Setzt man voraus, daß es um Menschen, nicht um Engelwesen geht, ist insbesondere zu fragen, ob es sich um bereits Verstorbene (dem Kontext und der Intention der Passage nach schiene mir dies passender; in welchem leib-seelischen Zustand sie im »Himmel« wären, bliebe dabei - im Gegensatz zu den »Geistern der vollendeten Gerechten« - offen) oder noch lebende Menschen (dann würde die Wendung gleichsam zwischen irdischer Heilsgemeinde und himmlischer Welt vermitteln) handelt. Vgl. Lohr, Thronversammlung (s.o. Anm. 31) 200f mit Anmerkungen; anders Weiß, Hebr (s.o. Anm. 25) 679 (die Ausdrucksweise des Hebr bleibe hier »eigentümlich >in der Schwebe< zwischen Himmel und Erde«), vgl. ebd. 676 (Lokalisierung des Beschriebenen dennoch insgesamt »im Himmel«). Eine sichere Antwort ist an diesem Punkt kaum zu gewinnen. Da diese dichotomische Anthropologie, wie wir sahen, im Hebr auch sonst ihre Spuren hinterlassen hat, ist der Ausdruck nicht so isoliert, wie z.B. J.W.Thompson, The Beginnings of Christian Philosophy, Washington 1982 (CBQ.MS 13) 44 Anm. 17 meint (Thompson vermutet vom Verfasser aufgenommene und umgearbeitete apokalyptische Tradition).

Anthropologie und Eschatologie im Hebräerbrief

191

gedeutete Aufenthalt im himmlischen Jerusalem also ein vorläufiger, ist für die vollendeten Gerechten das Heil noch nicht vollständig erreicht? Und wie ist in diesem Zusammenhang die Feststellung zu verstehen, die vorgestellten Adressaten des Schreibens seien schon zum himmlischen Jerusalem »herzugetreten« (προσεληλύθατε)? Die »vollendeten Gerechten« können, so die drei grundsätzlichen Möglichkeiten, in einem sachlichen Zusammenhang mit den in Kap. 11 erwähnten Glaubenszeugen stehen, diese also meinen oder zumindest mit einbegreifen; oder sie sind eine Gruppe, die gerade die Zeugen der Vorzeit ausschließt; oder aber die genannten Gerechten stehen in keinem Zusammenhang mit den vorher Erwähnten, die Frage nach der Relation der beiden Gruppen ginge also an Interesse und Intention des Hebr vorbei. Jeder der drei Vorschläge birgt Probleme. Die dritte Lösung, die der Interpretation die Frage nach dem Verhältnis der in Kap. 11 genannten Verstorbenen und der nun im himmlischen Jerusalem präsenten Geister verwehrt, muß eine gewisse Widersprüchlichkeit in der Gedankenführung des Hebr annehmen. Die zweite Möglichkeit hat darin ihre Schwierigkeit, daß der Ausschluß der Glaubenszeugen der Vorzeit im Kontext nirgends explizit ausgesagt ist. Und die erste vorgeschlagene Lösung muß das Verhältnis zu ll,39f klären. Die Wendung in 12,23 steht im weiteren Kontext von 12,18-24, einem Stück, das thematisch eine gewisse Fortsetzung noch in V.25ff findet 76 . Zwei Offenbarungen, nach V.24 mit der Erwähnung des Mittlers des neuen Bundes darf man auch sagen: zwei Bundschlüsse, werden einander antithetisch (V.18: ού γάρ; V.22: άλλά) gegenübergestellt, indem der Zutritt zu der einen und nicht zu der anderen behauptet wird. Dem entsprechen weitere Oppositionen; berührbar/irdisch steht gegen himmlisch, Sinai gegen Zion, Mose gegen Christus. Die paränetische Auswertung dieser Synkrisis wird in V.25 gegeben, der so auch die Intention des Vorhergehenden beleuchtet: »Seht zu, daß ihr nicht den abweist, der spricht. Wenn nämlich jene nicht entflohen, welche den auf Erden Redenden, der Weisung gab, 7 7 abwiesen, um wieviel weniger [πολύ μ ά λ λ ο ν ] wir, die wir den von den Himmeln Redenden abwenden.«

Aus dem Vergleich der beiden Offenbarungen resultiert die Einschärfung der größeren Verantwortung gegenüber dem jetzt vom Himmel erfolgten Reden Gottes. Rückblickend wird man zugleich feststellen können, daß die 76

Zu den Einzelheiten vgl. Lohr, Thronversammlung (s.o. Anm. 31) 257-259.

77

Gemeint ist nach der auf das Haggai-Zitat überleitenden Wendung in V.26a sowie nach der in 18 bis 21 beschriebenen Situation eindeutig Gott selbst. Die Unterscheidung der Offenbarungsordnungen ist also interessanterweise nicht begründet in einem Unterschied in der Dignität des jeweiligen Urhebers. Dieses Ineinander von Gleichheit und Unterschiedenheit prägt den Hebr von 1,1 an: Derjenige, der redet, ist in jedem Falle Gott selbst.

192

Hermut Lohr

Verse 18-24, indem sie die Höherwertigkeit der mit Jesus verbundenen Heilswirklichkeit herausstellen, zugleich eines ihrer größten Probleme relativieren wollen: ihre Unanschaulichkeit. Während nämlich, folgt man dem biblischen Bericht, die Sinaioffenbarung allen spürbar (und furchteinflößend) war, behauptet V.22-24 den Zutritt zur Gottesstadt und ihren Bewohnern, ohne daß explizit gesagt würde, wo und wie dies greifbar, erfahrbar wäre. Wie so oft im Hebr läuft also auch in 12,18ff die Argumentation auf die Einschärfung der Verantwortung der Adressaten angesichts der Größe des gegebenen Heilsgutes zu. Die kumulative Aufzählung der transzendenten Größen in V.22-24 mit dem Höhepunkt in der Nennung des Blutes Jesu 78 gewinnt von daher ihren guten Sinn: Die himmlische Welt und ihre Verheißungsgüter werden in den bunten Farben der Palette gemalt, welche die Tradition dem Verfasser zur Verfügung stellte. Es geht nicht um eine ausführliche Himmelsgeographie, um die Offenbarung von Geheimwissen oder eine Unterrichtung über das eschatologische Schicksal des Menschen. Es geht nicht um Lehre, sondern hier, zum Abschluß 79 und vor den z.T. katalogischen Mahnungen des 13. Kapitels, um die letzte große theologisch konzentrierte Paränese des Briefes. Die Passage ist also auf die Gegenwart der Adressaten bezogen. Sie ist nicht vordringlich an der Zukunft, dem Eschaton als zeitlich Vorausliegendem, interessiert. Daraus ist nicht der Schluß zu ziehen, der Hebr kenne kein vorausliegendes Eschaton. Diese Annahme ist schon durch die bereits im zweiten Kapitel begegnende Rede von der ο ι κ ο υ μ έ ν η μέλλουσα eindeutig ausgeschlossen. Und es ist, wie die Forschungsgeschichte erweist, schwer zu entscheiden, ob im Text insgesamt eine zeitlich orientierte einer räumlichen Kategorien verpflichteten Eschatologie eingeordnet wurde oder umgekehrt. Entscheidend ist das Interesse des 12. Kapitels, das Heil als jetzt schon vorhandenes (wenn auch nicht sichtbares) zu behaupten, ja sogar die Zugänglichkeit in der Erfahrung zu postulieren, um eine größere Bereitschaft zur Verantwortung bei den Adressaten zu wecken.

Es kann m.E. nach dem Kontext nicht gemeint sein, das Blut Jesu schreie zum Himmel und beschleunige so das Ende; so jedoch K. Erlemann, Naherwartung und Parusieverzögerung im Neuen Testament. Ein Beitrag zur Frage religiöser Zeiterfahrung, Tübingen/Basel 1995 (TANZ 17) 221. Eher könnte man fragen, ob die geläufige Deutung, das Blut Abels schreie nach Rache, das vom Hebr Gemeinte trifft. Denn immerhin heißt es in V.24 nicht, wie man eigentlich erwarten müßte, παρά τό "Αββλ (so lesen nur P 4 6 , Kodex L in einer Ergänzung, wenige andere Handschriften sowie die syrische Tradition), sondern es wird der maskuline Artikel im Akkusativ verwendet. Das Reden Abels selbst ist nach 11,4 dasjenige des Gerechten, vor Gott Wohlgefälligen. F.J.Schierse, Verheißung und Heilsvollendung. Zur theologischen Grundfrage des Hebräerbriefes, München 1955 (MThS 1/9) 17 l f hat recht, wenn er den Abschnitt als »rhetorische Glanzleistung und gedanklichen Höhepunkt« beschreibt. Freilich kann man Schierse nicht zustimmen, wenn er V. 18-24 als »theoretische Darlegung« der »auswertenden Paränese« von V.25-28 gegenüberstellt (172).

Anthropologie und Eschatologie im Hebräerbrief

193

Es ist ferner mit keinem Wort angedeutet, daß der summarisch geschilderte Heilszustand ein bloß vorläufiger ist. Die angedeutete Himmelsgeographie in V.22-24 gibt keine weitere Differenzierung zu erkennen, als ob ein noch größeres Heil erwartet, aber hier nicht angesprochen würde. 8 0 Das Problem des von manchen Exegeten empfundenen Widerspruches zu 11,39f ist nicht durch eine vorgängige Entscheidung in bezug auf die jeweils geEs ist daher m.E. weder nötig noch möglich, das Theologumenon vom Zwischenzustand der leiblosen Geister oder Seelen (die in den Quellen verwendete Terminologie schwankt) hier wiederzufinden. Auch das jüdische Vergleichsmaterial nötigt nicht zu dieser Annahme. Will man nicht auf die in ihrer Interpretation umstrittene Passage Jub 23,31 rekurrieren (»Und ihre Knochen werden in der Erde ruhen. Und ihr Geist wird viel Freude haben, und sie werden erkennen, daß es der Herr ist, der Gericht hält und der Güte wirkt an Hunderten und an Tausenden und an allen, die ihn lieben«; [Übers.: K.Berger, JSHRZ 2/3, 446, der jedoch einen Subjektwechsel innerhalb des Verses annimmt, vgl. die Anm. z.St. zur Diskussion]), so genügt der Hinweis auf ein Stück aus dem sog. »Brief des Henoch« (vielleicht 2.Jh. v.Chr.; vgl. dazu insgesamt J.T.Milik/M.Black, The Books of Enoch. Aramaic Fragments of Qumrän Cave 4, Oxford 1976, 47-57; E.Schürer, The History of the Jewish People in the Age of Jesus Christ [175 B.C. - A.D. 135], A New English Version Rev. and Ed. by G.Vermes/F.Millar, Edinburgh, III/l 1986, 254-256; E.Isaac, 1 [Ethiopic Apocalypse of] Enoch: The Old Testament Pseudepigrapha, hg.v. J.H.Charlesworth, Garden City, N.Y., I 1983, 5-12: 6f), lHen 103,2-4: »For I have read the tablets of heaven;/ And I have seen the book(s) of the holy ones,/ And I have found inscribed and written therein concerning you (i.e. the righteous):/ That all good things and joy and honour are prepared/ And written down for the spirits of the righteous dead,/ And manifold good shall be given to you in recompense for your labours,/ And your lot will be superior to the lot of the living./ And the spirits of you righteous who have died will live and rejoice and be glad,/ And their spirit shall not perish, nor their memorial from before the face of the Great One/ Unto all the generations of the ages: wherefore no longer fear their reproaches« (Übers.: M.Black, The Book of Enoch or I Enoch. A New English Edition, Leiden 1985 [SVTP 7] 96f)- Zur Stelle vgl. vorsichtig G.Stemberger, Der Leib der Auferstehung, Rom 1972 (AnBib 56) 40-44; Volz, Eschatologie (s.o. Anm. 4) 20: »Ich halte es für ausgeschlossen, die Schilderung in Hen 103 [...] bloß auf einen Zwischenzustand zu beziehen«; G.W.E.Nickelsburg, Resurrection, Immortality, and Eternal Life in Intertestamental Judaism, Cambridge, Mass./London 1972 (HThS 26) 123f (»Enoch 102-104 does not presume a resurrection of the body« [123]) sowie insgesamt Μ.Hengel, Judentum und Hellenismus. Studien zu ihrer Begegnung unter besonderer Berücksichtigung Palästinas bis zur Mitte des 2. Jh. v.Chr., Tübingen 21973 (WUNT 10) 365: »Auch dieses Beispiel [seil. Sib. 4,180f; H.L.] zeigt, wie die Grenzen zwischen angeblich >jüdisch-semitischen< und >hellenistischen< Vorstellungsformen quer durch das palästinische Judentum und die Diaspora des Westens gingen. Außerdem mußte [...] eine spiritualisierte Form der individuellen Heilserwartung nach dem Tode die auf das nahe Eschaton ausgerichtete Hoffnung nicht ausschließen.« Einen nicht in falschen Alternativen befangenen Einblick in die vorausgesetzte alttestamentliche Anthropologie und Jenseitserwartung eröffnet die knappe Darstellung von O.Kaiser, Tod, Auferstehung und Unsterblichkeit im Alten Testament und im frühen Judentum - in religionsgeschichtlichem Zusammenhang bedacht: ders./E.Lohse, Tod und Leben, Stuttgart u.a. 1977 (BiKon) 7-80.

194

Hermut Lohr

meinte Personengruppe zu lösen, denn der Text gibt hierfür keine ausreichenden Anhaltspunkte. 81 Denkbar wäre allerdings, daß die in l l , 3 9 f ausgesagte »Vollendung nicht ohne uns« hier nun nicht mehr relevant ist, weil »wir« - gewiß proleptisch - im Zutreten auch vollendet sind 82 . Wie immer man sich hier entscheidet, so ist es in jedem Fall möglich, das je unterschiedliche Argumentationsinteresse festzuhalten, dort das Nichterlangen der Verheißungsgüter durch die Alten »ohne uns«, hier die Präsenz des vollständigen Heils, das ermutigt und in die Verantwortung ruft. In 12,22-24 wird eine Auffassung von der Präsenz und Zugänglichkeit der Heilsgüter sichtbar, die sich in räumlichen Kategorien ausdrückt. Man kann von vertikaler Eschatologie sprechen, solange man diese nicht zum kontradiktorischen Gegensatz einer mit zeitlichen Kategorien operierenden Jenseitsvorstellung erhebt. Entscheidend auch für eine historische Einordnung ist vielmehr die Pragmatik des Textes: In der Betonung des zeitlichen Voraus wird die Unabgeschlossenheit und noch zu erhoffende Vollendung des Heils betont, in der Akzentuierung der räumlichen Transzendenz die Präsenz bei gleichzeitiger erfahrener Unanschaulichkeit. Es darf dabei nicht übersehen werden, daß im Gegensatz zu anderen Passagen des Hebr, die von der Seele sprechen, in 12,22ff in bezug auf die Adressaten keine anthropologische Differenzierung vorgenommen wird. Zur Beschreibung der Himmelsbewohner steht die eine Dichotomie implizierende Wendung von den »Geistern der vollendeten Gerechten« neben anderen Begriffen, die solche Unterscheidung nicht vornehmen. Offenbar werden hier aus der Tradi-

81

Das Problem eines möglichen Widerspruchs kann überhaupt nur dann so vordringlich werden, wenn man die Frage nach einem geschlossenen Welt-Bild des Hebr historisch und theologisch für entscheidender hält als diejenige nach seinem argumentativen Interesse. Es sind aber die Quellen selbst, die zeigen, daß unterschiedliche Konzeptionen zumal in der Eschatologie auf einer Textebene begegnen können. Ganz zutreffend kann daher der eher von der referentiellen als von der direktiven Funktion der Texte her fragende Aufsatz von N.Walter, »Hellenistische Eschatologie« im Neuen Testament: Glaube und Eschatologie. FS Werner Georg Kümmel, Tübingen 1985, 335-356: 354 formulieren: »Wie überbrücken sie [seil, die Glaubenszeugen Israels; H.L.] die Zeit (oder: wie überbrückt Gott für sie die Zeit) zwischen dem Ende ihrer irdischen Wanderschaft und dem >Tag< des Amtsantritts des himmlischen Hohenpriesters Jesus? Diese Frage stellt sich für den Autor nicht; vielleicht würde er sie einfach als spitzfindig und unangemessen abgewiesen haben. Jedenfalls ist sie für ihn im Blick auf seine Leser uninteressant. Für sie genügt es, zu wissen, daß seit dem ein- für allemal gültigen Versöhnungsgeschehen im Tode Jesu Christi [...] das himmlische Heil, die himmlische κ α τ ά π α υ σ ι ς für sie - und gewiß auch für die Glaubenden Israels - bereitsteht.«

82

So die Lösung von F.Hahn, Hebräer 12,18-25a: GPM 20 (1965/66) 74-84: 79. Unklar bleibt, warum Hahn dann betont: »Wird an dieser Stelle von π ν ε ύ μ α τ α (>GeisternToten in Christtx von Vers 16«.5 - Mit einer »gewisse(n) Ausnahme« (l.Kor 15,20) wird bei Paulus mit Christus nicht der Euphemismus »schlafen«, »entschlafen« verbunden, sondern die Realität des Gestorbenseins (άπέθανεν; V.14; vgl. l.Thess 5,10). 6 Die an sich verständliche Trauer der Gemeinde um ihre Verstorbenen verweist auf das Grundproblem, wobei der »motivierende Vergleichssatz< in V.13b den maßgebenden Hinweis gibt: »wie die übrigen, die keine Hoffnung haben«. Auch die Heiden sind durchaus nicht in jeder Hinsicht ohne Hoffnung 7 , aber für die Gemeinde gilt: »In ihrer Trauer über die Toten dürfen Christen nicht dastehen vergleichbar hoffnungslosen Heiden. Ihr Hoffnungsbesitz müßte vielmehr, gemessen an den Heiden, genau gegenteiliges Verhalten hervorrufen: Nicht die traurige Skepsis, sondern frohe Gewiß-

2

Gräßer, Bibelarbeit (s.o. Anm. 1) 11.

3

Diese Gliederung findet sich zumeist in der älteren Forschung; vgl. auch, von Gräßer angeführt, E.v.Dobschütz, Die Thessalonicher-Briefe, Göttingen 7 1909 (KEK 10) 183 ff.

4

Gräßer, Bibelarbeit (s.o. Anm. 1) 12.

5

Ebd.

6

Ebd. 12f.

7

Wie Gräßer u.a. mit Verweis auf M.Dibelius, An die Thessalonicher I.II, An die Philipper, 3 1937 (HNT 11) z.St. verdeutlicht.

l.Thess 4,13-18 im Lichte des gegenwärtigen Forschungsstandes

215

heit«. Es geht »nicht um Totenklage um das, was man verloren hat«, es geht »um das, was aus den Toten einmal wird«8. Hier ist, so Gräßer, noch zu spezifizieren (und frühere Forschung unseres Jahrhunderts und die Diskussion Anfang der 60er Jahre kritisch zurechtzurücken). Es ist das Fehlurteil zu korrigieren, Paulus habe bei seiner Missionspredigt Auferstehung Christi und Auferweckung der Toten »nicht klar genug« geschieden oder gar die Verbindung von beidem nicht verkündigt oder »gar nicht gelehrt« 9 . Nicht ob es überhaupt eine Totenauferstehung gebe, steht zur Diskussion, sondern allein, wie V. 15-17 zeigen: »Was wird aus den entschlafenen Christen bei der Wiederkunft Christi?« 10 In V.15-17(a) liegt mutmaßlich ein urchristlicher Prophetenspruch vor, auf dessen inhaltlich »spätjüdisch-apokalyptische« Bilderwelt verwiesen wird. »Das Endergebnis ... ist in äußerster Kargheit ausgesagt: >Und so (dann) werden wir allzeit bei dem Herrn seindaß die Toten in Christtx« diejenigen sind, »>die bestimmt sind von dem, was Christus für sie getan hat: Tod und Auferstehung. Paulus verweist die Thessalonicher also von dem Noch-nicht der Parusie zurück auf das Schon-jetzt der Heilstat Gottes in Christo JesuHerrenwort< (ebd. 183ff); Einzelheiten können hier nicht diskutiert werden.

53

Ebd. 201.

54

Ebd. 194ff.204 (Zitat).207; zu 4,17 mit besonderer Bezugnahme auf Siber, Mit Christus (s.o. Anm. 12) 253 mit Anm. 3; zu V.17b s.o. bei Anm. 12.

55

Holtz, l.Thess (s.o. Anm. 49) 185.

56

Bestimmender Zug im ganzen Kommentar; vgl. auch T.Holtz' Besprechung von Harnisch, Existenz (s.o. Anm. 1): ThLZ 99 (1974) 252ff.

57

C.A.Wanamaker, Commentary on 1 & 2 Thessalonians, Exeter 1990 (NIGTC).

58

Ebd. 164ff (auch zum Folgenden).

59

Vgl. auch Jurgensen, Saint Paul (s.o. Anm. 1) 482.

60

A.J.Malherbe, Exhortation in 1 Thessalonians: ders., Paul and the Popular Philosophers, Minneapolis 1986, 49-66.

222

Otto Merk

auch die verschiedenen paganen Kulte vorgestellt werden. 61 Besonderes Gewicht kommt den neueren, bereits forschungsgeschichtlich relevanten Positionen zu, die zur Erhellung des Hintergrundes sowie der Anfrage der Thessalonicher und der daraus resultierenden Argumentation des Paulus am adäquatesten sind. Diskutiert werden A.J.Malherbe, R.Jewett, H.Koester, G.Lüdemann, W.Marxsen, der speziell gnostische Hintergrund in den Rekonstruktionen von W.Schmithals und W.Harnisch wird abgelehnt.62 Mit Recht stellt Mason für die angelsächsische Forschung heraus: »The three most recently proposed solutions to the situation in Thessalonians are (1) Malherbe's attempt to examine the rhetoric of 1 Thessalonians against the background of similar used by Dio Chrysostom and Seneca, (2) Donfried's examination of 1 Thessalonians in light of a survey of cults in Thessalonica, and (3) Jewett's proposal that it was not gnostic enthusiasm which was present in the Thessalonian congregation, but millenarian enthusiasm«63. Malherbes These werde dem eschatologischen Abschnitt zu wenig gerecht und vermöge keine unmittelbare Verbindung zwischen an sich richtig eingeschätzter consolatio und Eschatologie herzustellen, sei aber doch bemüht, dem griechischen Denken der Thessalonicher entgegenzukommen. l.Thess 4,13-18 von der antiken Rhetorik her zu erklären, seien Grenzen gesetzt.64 Donfrieds These 65 betone den Zusammenhang zwischen Martyrien und Auseinandersetzung mit den in der Stadt Thessalonich gepflegten Kulten und sei auch darin bedeutsam, daß l.Thess 4,13-18 in den Mittelpunkt des Briefes rücke und 4,16 auf Märtyrer der Gemeinde verweise.66 Jewetts These habe keinen Anhalt im l.Thess und im besonderen in 4,13-18. 67 Nach dieser Vorklärung wird in Kap.4 der Abschnitt 4,13-18 in eingehender Prüfung des >Herrenworts< daraufhin untersucht, ob eine gemeinsame Tradition für l.Thess 4,16f und l.Kor 15,5lf (2.Kor 4,14) hypothetisch vermutet und für V. 16.17a begründet und vergleichbare »theophanies and arrival sayings« aufgespürt werden können. 68 Umfangreiche traditionsgeschichtliche Nachweisungen führen den Verfasser zu dem Ergebnis, »that Paul related two se61

J.P.Mason, The Resurrection According to Paul, New York u.a. 1993, Kap.l (1-9); Kap.2 (11-43); Kap.3 (45-87), 45 (Zitat).

62

Ebd. 74ff.

63

Ebd. 76.

64

Ebd. 77ff. 122 (und die dort angeführten Untersuchungen).

65

Vgl. K.P.Donfried, The Cults of Thessalonica and the Thessalonian Correspondence: NTS 31 (1985) 336-356.

66

Mason, Resurrection (s.o. Anm. 61) 80f; vgl. 122f. Dieser Sicht gilt Masons besonderes Interesse.

67

Ebd. 8Iff in der Beurteilung von R.Jewett, The Thessalonian Correspondence. Pauline Rhetoric and Millenarian Piety, Philadelphia 1986.

68

Mason, Resurrection (s.o. Anm. 61) Kap.4 (89-130), bes. 97f.

l.Thess 4,13-18 im Lichte des gegenwärtigen Forschungsstandes

223

parate traditions (a parousia tradition and a change tradition) to form a coherent picture of the end events« 69 , nämlich für l.Thess 4,16f zu einer in Differenzierungen mit 2.Bar 30,1-4 vergleichbaren Sicht, die Paulus in unserem Abschnitt paränetisch und griechischem Denken gemäß auswerte und somit auch eine Verbindung zur griechisch bestimmten Gedankenwelt herstelle. 70 Masons traditionsgeschichtliche Überlegungen greifen besonders auf die Forschung der 80er Jahre zurück. 71 Sie sind in diesem Sinne nicht neu und jetzt auch nicht auf ihre - hinterfragbare - Stimmigkeit 72 zu prüfen, wohl aber ist - auch im Hinblick auf die Forschung des letzten halben Jahrzehnts - festzuhalten: Es zeigt sich, daß in der Antwort des Paulus jüdischeschatologische Argumentation und pagane historische Situation der Thessalonicher, also religionsgeschichtlich verschiedene Welten mit ihren Implikationen, im Horizont des für die Leser Verstehbaren und Annehmbaren verbunden werden mußten und daß eine Erörterung der Wandlung eschatologischen Denkens bei Paulus durch neues situationsbedingtes Zueinanderordnen von Traditionen durch den Apostel im Argumentieren gegenüber andersartigen »Herausforderungen« 73 in anderem Licht erscheint.

III Die jüngsten Beiträge - seit 1990 - dienen der Klärung anstehender offener Fragen und sind auch dann hilfreich, wenn sie zu alten Lösungsversuchen neue Aspekte und Begründungen in die Diskussion einbringen. Vornehmlich folgende Schwerpunkte ergeben sich derzeit: 1. Die Rhetorikforschung versucht eine neue Abgrenzung der Perikope. Eine rhetorische Gesamtgliederung des l.Thess habe nach I. »Exordium« 69

Ebd. 134; vgl. 100ff.l05ff.

70

Ebd. 121ff. 133ff.

71

Vgl. G.Löhr, 1 Thess 4,15-17: Das »Herrenwort«: ZNW 71 (1980) 269-273; D.Gewalt, IThess 4,15-17; lKor 15,51 und Mk 9,1 - Zur Abgrenzung eines »Herrenwortes«: LingBibl 51 (1982) 105-113; Lüdemann, Paulus (s.o. Anm. 47) 249ff; R.H.Gundry, The Hellenization of Dominical Tradition and Christianization of Jewish Tradition in the Eschatology of 1-2 Thessalonians: NTS 33 (1987) 161-178: 167f; A.F.J.Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse, Gütersloh 1976 (JSHRZ V/2) z.St. (142 mit Anm. zu Kap.XXX); ders., 1 Thessalonians 4,13-18 in its Background in Apocalyptic Literature: Paul and Paulinisra. FS Charles Kingsley Barrett, London 1982, 67-73.

72

Die Aufnahme von verschiedenem apokalyptischen >Material< und eine gemeinsame Traditionsgrundlage sind deutlicher in ihren Akzentuierungen zu profilieren. Zu kurz kommt bei Mason, obwohl gesehen, die >Gegenprobeurchristlicher Prophetenspruch< - redaktionell gestaltet und durch apokalyptisches Gut gedeutet vorliegen könnte (doch vgl. Resurrection [s.o. Anm. 61] 100 Anm. 34).

73

Vgl. auch Gewalt, IThess 4,15-17 (s.o. Anm. 71) 108.

224

Otto Merk

(1,1-10), II. »Narratio« (2,1 - 3,10), III. »Partitio« (3,11-13) dann IV. die »Probatio« (4,1 - 5,3) zu berücksichtigen, die im Unterabschnitt »C.« 4,13 5,3 umschließe, der wiederum in sechs Untergliederungen aufzuschlüsseln sei. So urteilt F.W.Hughes.74 Ihm schließt sich K.P.Donfried75 an, und beide bezeichnen die Gliederung als der Sachlage der »Probatio« angemessen als »third proof: »concerning those who have fallen asleepTrostbriefes< zuzuordnen, wofür l.Thess 4,13.18; 5,11 besonders herangezogen werden. 7 8 So aber sind das eschatologische Anliegen dieser Abschnitte und das Spezifische des Einander-Tröstens in ihrem Bezug zueinander nicht erfaßbar. 7 9 2. Kontrovers wird weiterhin die Frage einer (möglichen) Entwicklung des eschatologischen Denkens des Paulus beurteilt. H.Jurgensens breite Erfassung der einschlägigen Untersuchungen zeigt eine lange und in sich diffe74

F.W.Hughes, The Rhetoric of IThessalonians: The Thessalonian Correspondence, hg. v. R.F.Collins, Leuven 1990 (BEThL 87) 94-116 (bes. 104f.ll4f).

75

K.P.Donfried, The Theology of IThessalonians: ders./I.H.Marshall, The Theology of the Shorter Pauline Letters, Cambridge MA 1993, 1-79: 6.

76

Unter anderer Fragestellung vgl. auch Harnisch, Existenz (s.o. Anm. 1) 16ff.53ff.

77

Vgl. eindrücklich B.C.Johanson, To All the Brethren. A Text-Linguistic and Rhetorical Approach to IThessalonians, Stockholm 1987 (CB.NT 16) 118ff.l35f (Zitat); in ähnliche Richtung weisend mit wichtigen zusammenfassenden Aspekten zur neueren Diskussion vgl. R.Kieffer, L'eschatologie en IThessaloniciens dans une perspective rh6torique: The Thessalonian Correspondence (s.o. Anm. 74) 206-219: 21 lff.216f.

78

Zusammenfassend und die Forschung aufarbeitend vgl. J.Chapa, Consolatory Patterns? IThes 4,13.18; 5,11: The Thessalonian Correspondence (s.o. Anm. 74) 220-228; ders., Is First Thessalonians a Letter of Consolation?: NTS 40 (1994) 150-160.

79

Vgl. O.Merk, Miteinander. Zur Sorge um den Menschen im Ersten Thessalonicherbrief: »Daß allen Menschen geholfen werde ...«. FS Manfred Seitz, Stuttgart 1993, 125-133: 128f. 132 Anm. 26.

l.Thess 4,13-18 im Lichte des gegenwärtigen Forschungsstandes

225

renzierte (Vor-)Geschichte dieser Fragestellung. Eine punktuell wichtigste neuere Positionen zusammenfassend erörternde Auswahl der Diskussion bietet U.Schnelle, Wandlungen im paulinischen Denken (1989) 80 mit dem Ergebnis: »Gegenüber IThess 4,13-18 tritt die Schilderung der Parusieereignisse zurück, 1 Kor 15,5lf ist ganz konzentriert auf die Frage nach dem Übergang in die neue postmortale Seinsweise« 81 , um abschließend zu den verschiedenen Belegen insgesamt festzuhalten: »Es dürfte deutlich geworden sein, daß in zentralen Bereichen der paulinischen Eschatologie von einer Entwicklung, d.h. von einem der sich ändernden historischen Situation entsprechenden folgerichtigen Fortschreiten des Denkens des Apostels gesprochen werden kann« 82 , auch wenn eine sich durchhaltende Naherwartung in seinen Briefen konstatiert werden muß. - Wie Schnelle urteilt sein Lehrer G.Strecker, Theologie des Neuen Testaments (1996) 83 im Vergleich von l.Thess 4,13ff mit l.Kor 15,5lf: »Präzisere Bestimmung des Schicksals der Lebenden (gegenüber 1 Thess 4 wird als neuer Gedanke in V.51f die >Verwandlung< der Lebenden wie auch der Gestorbenen ausgesagt)« 84 . Und J.Becker hält - bei inzwischen erfolgten Modifikationen zu früheren Ausführungen - fest: Es »bleibt die Naherwartung der ersten urchristlichen Gemeinden (z.B. 1 Thess 4,13ff.; Rom 13,11), selbst wenn dabei eine differenzierende Entwicklung Platz greift« 85 . - Eine gegenüber Entwicklungen im eschatologischen Denken des Paulus zurückhaltendere Einschätzung und auch unmittelbare Ablehnung ist in gleicher Weise erkennbar. Nicht nur Jurgensens eigene Position ist ein Beispiel dafür, die bei ihm für zahlreiche frühere Vertreter der Forschung steht. 86 - In den gegenwärtigen Forschungsstand hineinreichend hatte A.Lindemann schon 1986 grundsätzliche Bedenken gegen solche Entwicklungstendenzen geäußert. 87 Diese hat er wenige Jahre später in einer vergleichenden Untersuchung von l.Thess 4,13ff

80

U.Schnelle, Wandlungen im paulinischen Denken, Stuttgart 1989 (SBS 137) 37ff.

81

Ebd. 42.

82

Ebd. 48.

83

G.Strecker, Theologie des Neuen Testaments, bearb., erg. u. hg.v. F.W.Horn, Berlin/New York 1996, 222ff.

84

Ebd. 226.

85

J.Becker, Das Urchristentum als gegliederte Epoche, Stuttgart 1993 (SBS 155) 49.102; ders., Paulus. Der Apostel der Völker, Tübingen 1989, 468ff.471ff; bei Jurgensen nicht erfaßt sind Begründung und Auflistung von Autoren für eschatologische Wandlung bei K.Müller, Die Leiblichkeit des Heils. IKor 15,35-58: R6surrection du Christ et des Chr6tiens (1 Co 15), hg.v. L.de Lorenzi, Rom 1985 (SMBen 8) 171-255: 230ff.249ff.

86

Vgl. z.B. Jurgensen, Saint Paul (s.o. Anm. 1) 460ff.

87

A.Lindemann, Erwägungen zum Problem einer »Theologie der synoptischen Evangelien«: ZNW 77 (1986) 1-33: 30f.

226

Otto Merk

und l.Kor 15,51f begründet und kritisch dahin präzisiert, daß »die These von einer >Entwicklung< der paulinischen Eschatologie in der Zeit zwischen dem Ersten Thessalonicherbrief und dem Ersten Korintherbrief ... mithin wenig Wahrscheinlichkeit« »besitzt«. »Geändert hat sich nicht das Denken des Paulus, sondern die Adressaten sind verschieden; ihre jeweils spezifische Problematik erforderte eine spezifisch differenzierte Reaktion des Apostels.«88 - Diese Einschätzung teilt im wesentlichen unter anderer Begründung und Fragestellung H.Merklein89, und J.DelobeP0 betont im Vergleich der entsprechenden Belege aus l.Thess und l.Kor: »Perhaps it is possible to integrate the various statements throughout Paul's letters as different aspects of an overall concept«. Verschiedene Situationen und unterschiedliche Fragestellungen in den einzelnen Gemeinden zwingen dazu. »From a methodological point of view, it seems advisable not to underestimate the basic difference in the Sitz-im-Leben to which Paul's letters react, and not to >overextend< the data into an artificial harmonization«. - Zurückhaltend in der Beurteilung eschatologischer Entwicklung bei Paulus sind auch J.Gnilka91 und E.Lohse. 92 - Zudem läßt der deutlich besonders in der amerikanischen Forschung immer stärker herausgearbeitete konkrete Gemeindehintergrund auch in den jeweils in eine solche konkrete Situation hineingehenden Briefen des Paulus verstärkt aktuelle Zuspitzung und Neuformulierung theologischer Grundentscheidungen des Apostels erkennen, die es nicht zwingend machen, von Entwicklung oder Wandlung seines eschatologischen Denkens innerhalb der wenigen Jahre zu sprechen, aus denen uns begründet paulinische Briefe vorliegen (etwa 50-55/56 n.Chr.). Das Konstante ist für Paulus der eruierbare Grundansatz seines theologischen Denkens, das Variable das in actu in seinen Gelegenheitsbriefen argumentativ um seiner Gemeinden willen und doch getreu seiner im Glauben gründenden und begründeten Position Eingebrachte.

88

A.Lindemann, Paulus und die korinthische Eschatologie. Zur These von einer >Entwicklung< im paulinischen Denken: NTS 37 (1991) 373-399: 376ff.391 (Zitat). Diese Sicht fallt auch dann nicht, wenn man - entgegen Lindemann - in l.Thess 4,13ff auf entschlafene Christen deutet, wofür zudem die Situation in Thessalonich spricht.

89

H.Merklein, Der Theologe als Prophet. Zur Funktion prophetischen Redens im theologischen Diskurs des Paulus: NTS 38 (1992) 402-429 (bes. 414-419.418 Anm. 45).

90

J.Delobel, The Fate of the Dead According to 1 Thes 4 and 1 Cor 15: The Thessalonian Correspondence (s.o. Anm. 74) 340-347: 347 (nachfolgende Zitate).

91

J.Gnilka, Theologie des Neuen Testaments, Freiburg u.a. 1994 (HThK.S V) 21f; ders., Paulus von Tarsus. Zeuge und Apostel, Freiburg u.a. 1996 (HThK.S VI) 236f.

92

E.Lohse, Paulus. Eine Biographie, München 1996, 240ff.

l.Thess 4,13-18 im Lichte des gegenwärtigen Forschungsstandes

227

3. Lebhaft diskutiert wird weiterhin das >Herrenwort< (l.Thess 4,15-17a). Schon vor Jahrzehnten hat W.G.KümmeP3 das Zentrum der Diskussion getroffen: »Daß l.Thess 4,16f. ein echtes Jesuswort enthält, das den Märtyrerjüngern verheißt, daß sie als erste an der Auferstehung teilhaben werden und den Herrn >einholen< sollen (...), ist unglaubhaft angesichts der Tatsache, daß das Wort nicht nur die paulinische Formel έ ν Χ ρ ι σ τ ώ enthält, sondern auch im Namen der christlichen Gemeinde formuliert ist«. - Entfallt heute zwar eine unmittelbare Rückführung auf ein Jesuswort, so sind doch Umfang wie Tradition strittig, und es ist zu fragen, ob nicht ein urchristlicher Prophetenspruch, von Paulus aktuell gedeutet, vorliegt. Nach der Einführung (als >ZitatHerrenwort< nahe 94 , doch die von Paulus verwendete »Wir-Form, die den Apostel mit der Gemeinde zusammenschließt«, läßt daran zweifeln. 95 - Allein im Jahre 1996 wurden drei - leicht variierende - mutmaßliche >Vorgaben< des von Paulus ergänzten Traditionsstücks veröffentlicht. 96 G.Strecker hält fest: »Paulus hat dieses in jüdisch-christlicher-apokalyptischer Tradition vorgefundene Herrenwort auf die Situation der Gemeinde und seine Person bezogen und dadurch inhaltlich verändert« 97 ; J.Gnilka charakterisiert das Stück als »von einer apokalyptisch gefärbten Überlieferung abhängig« und bestimmt έν Χ ρ ι σ τ ώ , die zeitliche Abfolge »zuerst« - »dann« und den Hinweis »zugleich mit ihm« (V.16f) als paulinische Zufügung/Aktualisierung 98 , während E.Lohse hervorhebt: »Obwohl Paulus dem Herrenwort für seine Argumentation maßgebende Beweiskraft beimißt, hat er sich nicht gehindert gesehen, den Wortlaut so zu verändern, daß er unmittelbar auf die in der Gemeinde aufgekommenen Fragen Antwort gibt«. Er »gibt seinen Inhalt so wieder, daß er vom Kerygma her begriffen wird und die Gemeinde unmittelbar betrifft« 99 . Die Genannten stehen im besten Sinne in der Kette früher vorgelegter Lösungsversuche 100 , die hier nicht erneut vorgestellt und diskutiert werden können,

93

W.G.Kümmel, Verheißung und Erfüllung. Untersuchungen zur eschatologischen Verkündigung Jesu, Zürich 3 1956 (AThANT 6) 46 Anm. 107 (Zitat).

94

Vgl. Holtz, l.Thess (s.o. Anm. 49) 183ff.

95

Lohse, Paulus (s.o. Anm. 92) 69.

96

Strecker, Theologie (s.o. Anm. 83) 225; Gnilka, Paulus (s.o. Anm. 91) 236; Lohse, Paulus (s.o. Anm. 92) 69.

97

Strecker, Theologie (s.o. Anm. 83) 225.

98

Gnilka, Paulus (s.o. Anm. 91) 236 mit Anm. 20; ders., Theologie (s.o. Anm. 91) 21f.

99

Lohse, Paulus (s.o. Anm. 92) 69.

100 jUrgeasen, Saint Paul (s.o. Anm. 1) passim; vgl. auch ältere und neuere Zusammenfassungen bei Harnisch, Existenz (s.o. Aran. 1) 39ff; R.F.Collins, Tradition, Redaction, and Exhortation in 1 Thess 4 , 1 3 - 5 , 1 1 : ders., Studies on the First Letter to the Thessalonians, Leuven 1984 (BEThL 66) 154-172: 157-162; Mason, Resurrection (s.o. Anm. 61) 90ff.

228

Otto Merk

aber sämtlich urchristliche bzw. paulinische Eingriffe in das zu rekonstruierende Traditionsstück zeigen. - Eine weiterführende - gelegentlich von der älteren Forschung angeregte - Überlegung bietet H.Merklein: Für ihn ist V.15b als herkömmlicher Beginn des Zitats zugleich auch dessen Begrenzung, »nicht die vorweggenommene Zusammenfassung, sondern der entscheidende Grundsatz«, dessen Erläuterung durch apokalyptisches Traditionsgut in V.16f erfolgt. 101 Noch wichtiger ist ihm aber »die textpragmatische Frage«, die sich ihm darin bündelt und beantwortet, daß Paulus den Thessalonichern bereits Bekanntes in seiner Argumentation sagt. 102 Paulus führt kein >Herrenwort< in V.15a ein, sondern mit der Formulierung έν λόγω κυρίου (nicht λόγος κυρίου) »beansprucht« er, »daß seine Rede in der Weise des Sprechens des Herrn geschieht. Er spricht in der Autorität des Herrn. Unter dieser Rücksicht wird man die Alternative >Herrenwort< oder >Prophetenwort< zugunsten des letzteren entscheiden, allerdings mit der präzisierenden Maßgabe, daß Paulus nicht (fremdes) Prophetenwort zitieren, sondern selbst prophetisch reden will«.103 Dies trifft sich in Sache und Struktur mit l.Kor 15,50ff. Jeweils deutet Paulus unter Zuhilfenahme apokalyptischer Traditionen, mehr noch, indem er das »Credo der Gemeinde« (Gräßer) hier wie dort als Basis hat und von ihm her »klärungsbedürftige(n) Sachverhalte« deutet. 104 Geht es doch um die »Auferstehung der Toten« als »eine selbstverständliche Konsequenz des Kerygmas«, wie Merklein sowohl zu l.Thess 4,13ff als auch zu l.Kor 15,50ff auch an des Paulus starker Reduzierung jüdisch-apokalyptischer Vorstellungen zeigt. 105 Das »Ziel« solcher prophetischer Deutung aber »wird in den paränetischen Schlußfolgerungen von 1 Thess 4.18 und 1 Kor 15.58 dann auch textlich realisiert«106. Dieser Lösungsversuch gewährt dann freilich doch die Frage, ob in diese paulinische Prophetie in l.Thess 4,16-17a und l.Kor 15,50f vergleichbare und möglicherweise schon in der Tradition verbundene/sachlich benachbarte Vorstellungen eingeschlossen sind 107 , ohne daß eine ausformulierte, von

101

Merklein, Prophet (s.o. Anm. 89) 410f.

102

Ebd. 411f.

103

Ebd. 413 mit Anm. 39; Verweis u.a. auf v.Dobschütz, Thess (s.o. Anm. 3) 193 und die Belege 3.Kön 21,35 (LXX) und Sir 48,3, »wo ebenfalls έν λόγω κυρίου zur Einleitung prophetischer Rede dient«; im übrigen vgl. Jurgensen, Saint Paul (s.o. Anm. 1) 492ff; Donfried, Theology (s.o. Anm. 75) 39ff.

104

Merklein, Prophet (s.o. Anm. 89) 423; vgl. unter anderer Fragestellung auch Th.Söding, Die Trias Glaube, Hoffnung, Liebe bei Paulus. Eine exegetische Studie, Stuttgart 1992 (SBS 150) 97.

105

Merklein, Prophet (s.o. Anm. 89) 423.

106

Ebd. 424.

107

Vgl. z.B. Mason, Resurrection (s.o. Anm. 61) 100ff.l31ff; Gnilka, Theologie (s.o. Anm. 91) 21f.

l.Thess 4,13-18 im Lichte des gegenwärtigen Forschungsstandes

229

Paulus redaktionell gestaltete >Vorgabe< nachgewiesen werden kann. 1 0 8 Schließlich ermöglichten Merkleins Überlegungen, l.Thess 5,20f über die allgemeine Schlußparänese hinaus sachgemäß für die Thessalonicher-Gemeinde einzubringen. Daß Paulus mit seiner eigenen, deutenden Prophetie urchristlicher Prophetie verbunden bleibt, zumal wenn er der Gemeinde bereits Bekanntes deutet, läßt sich - und hier ist Merkleins Ansatz weiterzuführen - auch für l.Thess 4,15b geltend machen: Paulus stellt den deutenden Versen 16.17a eine ihm eigene - und vielleicht in der Sache auch anderen urchristlichen Zeugen -, in seinem missionarischen Dienst unabhängig von Situation und Anfrage der Thessalonicher zuteil gewordene prophetische Sicht als Leitsatz voran, die im Licht des grundlegenden Kerygmas (V.14) zugleich Erfahrungen der Urchristenheit in rund eineinhalb bis zwei Jahrzehnten seit Tod und Auferweckung Jesu Christi spiegelt und diese existentiell im Glauben tröstlich und zukunftsgerichtet verstehen lehrt. - Jedenfalls: l.Thess 4,15-17a als >Prophetenwort< zu interpretieren, bleibt von Merkleins wegweisendem Ansatz her der weiteren Forschung aufgetragen. Ein Forschungsüberblick kann nicht abschließend sein, sondern immer nur den gegenwärtig erreichten Stand einer Fragestellung - und dies zumeist nur in Auswahl - aufzeigen, aber er kann auch zurücklenken zu früheren Einsichten, die theologisches Denken heute punktuell bereichern können. In diesem Sinne sei zum Schluß auf eine Vorlesung von Martin Heidegger aus dem Winter-Semester 1920/21 verwiesen, die zu Teilen schon bekannt war, aber erst 1995 mit den ihr zugehörenden Aufzeichnungen und Entwürfen veröffentlicht wurde: Phänomenologie des religiösen Lebens, deren >Zweiter Teil< die »Phänomenologische Explikation konkreter religiöser Phänomene im Anschluß an Paulinische Briefe« enthält. 109 Ohne eine Analyse der Ausführungen sei zur Eschatologie in l.Thess angeführt: »Die Hoffnung, die die Christen haben, ist nicht einfach Unsterblichkeitsglaube, sondern im christlichen faktischen Leben gegründetes gläubiges Durchhalten«. »Wenn wir glauben (Zentraltatsache!), dann ist in diesem Glauben ein Sichverhalten zu der Frage [sc. l.Thess 4,13ff] gegeben (Auferstehung), das weder spekuliert noch vor allem nicht in Zweifel kommt. Die Entschlafenen, sofern sie Gläubige sind, gehen nicht verloren: sie werden dabei sein, und das ist das Entscheidende. Wenn wir glauben, haben wir die echte Hoffnung, d.h. den genuinen Bezug zu dem in der Frage Gemeinten! (Glaube an den gestorbenen und auferstandenen (Christus) besagt in sich gehaltlich: das Wie des Tatsächlichen!)«. »Man muß sich hüten, die Erwartung des Paulus als in seiner Generation und ihn mitbetreffend ins Objektge108

Vgl. zutreffend Delobel, Fate (s.o Anm. 90) 342-344.

109

M.Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, Frankfurt a.M. 1995 (M.Heidegger, Gesamtausgabe. II. Abt. Vorlesungen 1919-1944 = Gesamtausgabe Bd. 60) (bes. 67ff.87ff. 137ff. 149ff).

230

Otto Merk

schichtliche umzudeuten... Paulus hat geglaubt..., er hat aber nicht >falsch< geglaubt; es gibt hier kein wahr und falsch. Entsprechend ist die Frage der »Entwicklung* seiner Anschauung zu behandeln«. 110 Diese Zeilen schrieb Martin Heidegger gleichsam am Vorabend jener Epoche, die im theologisch-philosophischen Gespräch das heute >Alte Marburg< werden ließ, dessen Endphase der Jubilar Erich Gräßer miterlebte und dessen Erbe er in seinem eigenen Lebenswerk und nicht zuletzt in seiner »Bibelarbeit über l.Thess 4,13-18« theologisch-hermeneutisch in kritischer Neubesinnung weiterträgt.

110

Ebd. 151ff (aus: »Aufzeichnungen und Entwürfe zur Vorlesung«).

Im Spannungsfeld von Protologie und Eschatologie Zur kurzen Geschichte der aktiven Beteiligung von Frauen in paulinischen Gemeinden v o n H E L M U T MERKLEIN

Nicht nur katholischerseits hat das Apostolische Schreiben von Papst Johannes Paul II. über die nur Männern vorbehaltene Priesterweihe für einige Aufregung gesorgt. 1 Der Papst erklärte, »daß die Kirche keinerlei Vollmacht hat, Frauen die Priesterweihe zu spenden, und daß sich alle Gläubigen der Kirche endgültig an diese Entscheidung zu halten haben«2. Durch diese Erklärung scheint sich die theologische Problemlage allerdings nicht entspannt, sondern eher verschärft zu haben, da zur Frage auf der Sachebene (nach der Frauenordination) nun auch noch die Frage auf der Metaebene (nach der lehramtlichen Autorität und ihren Begründungen) gestellt wurde. 3 Auf diese Frage soll und kann hier nicht eingegangen werden. Auch die zugrunde liegende Sachfrage kann exegetisch und historisch nur indirekt angegangen werden. Von einer Ordination bzw. Priesterweihe von Frauen ist im paulinischen Schrifttum und im gesamten Neuen Testament nicht die Rede. Allerdings - so ist sofort hinzuzufügen - sieht der Befund im Blick auf die Männer nicht viel anders aus. 4 Von einer Ordination von

Apostolisches Schreiben Ordinatio sacerdotalis vom 22. Mai 1994. Der Text liegt in deutscher Übersetzung vor in den Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 117: Apostolisches Schreiben von Papst Johannes Paul II. über die nur Männern vorbehaltene Priesterweihe - Erklärung der Kongregation für die Glaubenslehre zur Frage der Zulassung der Frauen zum Priesteramt, Bonn 1994 2 1995. Ordinatio sacerdotalis (s.o. Anm. 1) Nr. 4. Vgl. dazu das Heft 3 der ThQ 173 (1993) zum Thema »Frauenordination«, insbesondere die Beiträge von: E.Schüssler Fiorenza, Neutestamentlich-frühchristliche Argumente zum Thema Frau und Amt (173-185); W.Beinert, Dogmatische Überlegungen zum Thema Priestertum der Frau (186-204); P.Hünermann, Lehramtliche Dokumente zur Frauenordination (205-218). Zur hermeneutischen Problematik einer »androzentrischen« Betrachtungsweise vgl. E.Schüssler Fiorenza, Die Frauen in den vorpaulinischen und paulinischen Gemeinden: Frauen in der Männerkirche, hg.v. Β. Brooten/N.Greinacher, München/Mainz 1982 (GT.P 40) 112-140: 116-121; dies., In Memory of Her. Α Feminist Theological Reconstruction of Christian Origins, New York 1983, 3-95; B.Brooten, Frühchristliche Frauen und ihr kultureller Kontext: Einwürfe, München, II 1985, 62-93; L.Schottroff, Wie berechtigt ist die feministische Kritik an Paulus? Paulus und die Frauen in den ersten christlichen Gemeinden im Römischen Reich: ebd. 94-111: 94-99; L.Schottroff/

232

Helmut Merklein

Männern ist allenfalls in den Spätschriften des Neuen Testaments die Rede. Im paulinischen Bereich hören wir erst in den Pastoralbriefen von einer Handauflegung (l.Tim 4,14; 2.Tim 1,6). Hier taucht erstmals der (in den authentischen Paulusbriefen noch nicht erwähnte) Begriff des Presbyters (πρεσβύτερος) auf (l.Tim 5,17.19; Tit 1,5; l.Tim 4,14 [πρεσβυτέριov]) 5 , dem allerdings noch nicht die sakrale Konnotation wie dem davon abgeleiteten deutschen Wort »Priester« eignet. Der sakral konnotierte ιερεύς kommt als Bezeichnung christlicher Funktionsträger im Neuen Testament nicht vor. Es ergibt sich also der Befund, daß die Frage nach einer sakral verstandenen Ordination im Neuen Testament zumindest auf der begrifflichen Ebene überhaupt nicht zur Debatte steht. Gerade dieses Vakuum eröffnet die Möglichkeit, die tatsächlichen Funktionen von Frauen im Bereich der paulinischen Tradition unprätentiös in den Blick zu fassen und nach den sachlichen Motiven für die nicht unbeträchliche Entwicklung zu fragen, die dort zu verzeichnen ist. Den Anfang dieser Entwicklung markiert Gal 3,28 mit dem Grundsatz, daß in Christus »männlich und weiblich« nicht mehr gilt. Am Ende steht l.Kor 14,34 bzw. l.Tim 2,8-15 mit der These, daß »die Frauen in der Gemeindeversammlung schweigen« sollen. Diese Entwicklung steht unter vielerlei theologischen, ekklesiologischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen. Auffallig ist, daß die relevanten Aussagen fast immer im theologischen Kontext des Schöpfungsgedankens bzw. der Frage nach dem Verhältnis von Schöpfungs- und Erlösungsordnung stehen. Dem soll im folgenden das Hauptaugenmerk gelten.

1. »... da ist nicht mehr männlich und weiblich« (Gal 3,28) Paulus beschließt seine Ausführungen über die Heilsgeschichte in Gal 3,622 mit dem Hinweis, daß das Gesetz alles unter die Sünde zusammengeschlossen hat (Gal 3,22). Der Vorteil des Juden, das Gesetz zu haben, wendet sich also zugleich gegen ihn, sofern es Juden und Heiden als Sünder erweist (vgl. Gal 2,15-21). Heil kann es für Juden und Heiden daher nur durch den Glauben geben (Gal 3,23f). Beide finden eine neue Existenz in der Einheit in Christus (Gal 3,28). Die neben >Jude vs Grieche< genannten Gegensatzpaare >Sklave vs Freier< und >männlich vs weiblich< schießen über die Argumentation des Kontextes hinaus. Dies ist ein erster Hinweis für das Vorliegen von Tradition. Deren Abgrenzung im einzelnen - nur V.28 oder

S.Schroer/M.-Th.Wacker, Feministische Exegese, Dannstadt 1995, bes. die Beiträge von M.-Th.Wacker, Geschichtliche, hermeneutische und methodologische Grundlagen (1-79), und L. Schottroff, Auf dem Weg zu einer feministischen Rekonstruktion der Geschichte des frühen Christentums (175-248). 5

Für das Neue Testament vgl. weiter Act 20,17; Jak 5,14.

Im Spannungsfeld von Protologie und Eschatologie

233

V.26-28 insgesamt - ist allerdings umstritten.6 Für V.28 läßt sich auf die gleichen Gegensätze in l.Kor 12,13 und Kol 3,11 verweisen. 7 Beide Stellen teilen mit V.27 den Taufzusammenhang, der in Kol 3,10.12 und V.27b zudem mit dem Bekleidungsmotiv verbunden ist. Nimmt man dazu noch den Wechsel von der 1. Person (Plural) in V.25 in die 2. Person (Plural) in V.26 8 und die betont mit π ά ν τ ε ς eingeleiteten Verse 26a und 28b, die sich wie eine Klammer um das Ganze legen, dann wird man vielleicht doch von V.26-28 als vorpaulinischer Tradition ausgehen müssen. Wo diese Tradition entstanden ist, kann nur vermutet werden. Möglicherweise hat Paulus sie in Antiochien kennengelernt. Traditionsgeschichtlich steht sie wohl im Zusammenhang mit der urchristlichen Reflexion von Joel 3,1-5. 9 Inhaltlich wird die Taufe als »Christus anziehen« ausgelegt (V.27ab). Damit ist nach antiker und paulinischer Metaphorik nicht nur ein äußeres Überkleidetwerden, sondern ein Christusgleichwerden gemeint. Entsprechend zielt das εις ε ί ν α ι έ ν Χ ρ ι σ τ ώ in Gal 3,28b auf die Gewinnung einer neuen Identität in Christus. 10 Sie ist eine eschatologische Wirklichkeit bzw. eine Folge des in Christus geschenkten Heils, für das die bisherigen religiösen, sozialen und sexuellen Identitäten hinfällig sind. Aus der konkreten Formulierung der Gegensätze, die immer Privilegiertes (Jude, Freier,

6

Zu Gal 3,26-28 vgl. besonders: M.Bouttier, Complexio Oppositorum: sur les Formules de 1 Cor. XII.13; Gal. ΙΠ.26-28; Col. 111.10,11: NTS 23 (1976) 1-19; H.Thyen, »... nicht mehr männlich und weiblich ...«. Eine Studie zu Galater 3,28: F.Crüsemann/H.Thyen, Als Mann und Frau geschaffen. Exegetische Studien zur Rolle der Frau, Gelnhausen/Berlin 1978, 107-201; H.Paulsen, Einheit und Freiheit der Söhne Gottes - Gal 3,26-29: ZNW 71 (1980) 74-95; G.Dautzenberg, Zur Stellung der Frauen in den paulinischen Gemeinden: Die Frau im Urchristentum, hg.v. dems./H.Merklein/K.Müller, Freiburg/Basel/Wien 1983 (QD 95) 182-224 (Lit.); N.Baumert, Antifeminismus bei Paulus?, Wüizburg 1992 (FzB 68) 13-52.

7

Ähnliche Motivzusammenhänge begegnen in l.Kor 7,18f.21-23; Gal 5,6; 6,15; 2.Kor 5,17.

8

Der umgekehrte Wechsel von der 2.Person (Plural) in die 1.Person (Plural) erfolgt allerdings erst wieder in Gal 4,3; in Gal 3,29 - 4,2 bindet Paulus die Tradition an seine heilsgeschichtliche Sicht zurück.

9

In Joel 3,1-5 ist davon die Rede, daß der Geist in der Endzeit unterschiedslos auf alle ausgegossen wird: »(1) Danach aber wird es geschehen, daß ich meinen Geist ausgieße über alles Fleisch. Eure Söhne und Töchter werden Propheten sein, eure Alten werden Träume haben, und eure jungen Männer haben Visionen. (2) Auch über Knechte und Mägde werde ich meinen Geist ausgießen in jenen Tagen. ... (5) Und es wird geschehen: Wer den Namen des Herrn anruft, wird gerettet...«. Joel 3,1-5 insgesamt wird in Act 2,16-21 zitiert. Aus Joel 3,5a wird eine Art christlicher Selbstbezeichnung; vgl. l.Kor 1,2; Rom 10,13; Act 2,21; 9,14.21; 22,16; 2.Tim 2,22.

10

In Gal 3,28 geht es noch nicht um den Leib-Christi-Gedanken; vgl. H.Merklein, Entstehung und Gehalt des paulinischen Leib-Christi-Gedankens: ders., Studien zu Jesus und Paulus, Tübingen 1987 (WUNT 43) 319-344: 324-327.

234

Helmut Merklein

männlich) und Unterprivilegiertes (Grieche, Sklave, weiblich) zusammenstellen, wird man schließen dürfen, daß es um die Beseitigung von Unterprivilegierung geht. Die Frage ist nur, was das bedeutet. Sollen die Unterschiede aufgehoben bzw. sogar rückgängig gemacht werden? Oder sollen sie für bedeutungslos erklärt bzw. gehalten werden? Die Antwort wird in bezug auf die einzelnen Gegensatzpaare möglicherweise schon deswegen unterschiedlich ausfallen, weil die Beseitigung der Unterschiede - je nach Gegensatzpaar - unterschiedlich realisierbar ist. Während beispielsweise die Aufhebung der sozialen Unterprivilegierung eines Sklaven tatsächlich möglich ist (durch Freilassung), kann die geschlechtliche Differenz nicht einfach rückgängig gemacht werden. Eine besondere Problematik stellte die Überwindung des Gegensatzes von Jude und Heide dar. Wie differierend, ja divergierend hier die Antworten ausfallen konnten, dokumentieren die Spannungen, zu denen es deswegen im Urchristentum kam. 11 Dies kann hier nicht weiter verfolgt werden. Statt dessen konzentrieren wir uns auf die Frage, was es bedeutet, daß es in der »in Christus« erreichten eschatologischen Wirklichkeit des Heils »männlich und weiblich nicht gibt (ουκ evi 1 2 )«. Die neutrische Formulierung ist auffällig, weicht sie doch von der personalen Formulierung der beiden anderen Gegensatzpaare ab. Sie steht offensichtlich unter dem Eindruck des ersten Schöpfungsberichtes: Gen 1,27 LXX: και έποίησεν ό θεός τόν ανθρωκον, κατ' εικόνα θεοο έποίησεν αότόν, άρσεν και θηλυ έποίησεν αύτούς.

Dieser Rückgriff mag einer mehr oder weniger zufälligen Anlehnung entstammen, könnte sich aber auch einer bewußten Gegenüberstellung von Schöpfungs- und Erlösungsordnung verdanken. In jedem Fall wird die konkrete Formulierung dazu angeregt haben, die »in Christus« erreichte eschatologische Erlösungswirklichkeit in Relation zur Schöpfungswirklichkeit zu reflektieren. Verschiedene Interpretationsmöglichkeiten sind denkbar: 13 (1) Prinzipiell-innovatorische Interpretation: Sie versteht ούκ ένι αρσεν καν θήλο als Negation von Gen 1,27. In der Endzeit wird die schöpfungsmäßige Differenzierung wieder rückgängig gemacht. Die Schöpfungsord-

11

Konkret ging es um zwei Fragen: Ist die Beschneidung für das Christ-Werden verpflichtend? Müssen die Heidenchristen wegen des Zusammenlebens mit den Judenchristen auf eine bestimmte jüdische Lebensweise (z.B. Speisegebote) verpflichtet werden oder müssen sie sich wenigstens von bestimmten Dingen fernhalten (vgl. z.B. Jakobusklauseln)? Vgl. Gal 2,1-10.11-21; 4,8-10; Act 15,1-35.

12

ενι steht für ενεστιν; vgl. W.Bauer, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, Berlin/New York 6 1988, s.v.; F.Blaß/A.Debrunner, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, bearb.v. F.Rehkopf, Göttingen 15 1979, § 98. Vgl. Baumert, Antifeminismus (s.o. Anm. 6) 315-328 und 38-52 (zur Auslegungsgeschichte).

13

Vgl. Schottroff, Kritik (s. o. Anm. 4) 100-102.

Im Spannungsfeld von Protologie und Eschatologie

235

nung wird durch die Erlösungsordnung aufgehoben. Konsequent durchdacht, führt dies zur Auffassung, daß die schöpfungsmäßigen, leiblich-sexuellen Unterschiede negativ zu bewerten sind, so daß die Erlösung in der Wiedergewinnung der uranfänglichen Einheit besteht (vgl. EvThom 22.114) 1 4 . Wenngleich diese Einheit in ihrer vollen Verwirklichung erst der postmortalen bzw. jenseitigen Existenz vorbehalten ist, so gab es - vor allem in der Gnosis - zumindest Tendenzen zu einer Realisierung dieser Einheit in der Praxis: Wenn in Christus die schöpfungsmäßigen Differenzen prinzipiell überwunden und aufgehoben sind, dann dürfen die sexuellen Unterschiede zumindest nicht mehr gelebt und praktiziert werden. Das in Christus überwundene Mann- und Frau-Sein ist aszetisch auszuschalten. Solche Erwägungen - allerdings noch unterhalb der Schwelle einer prinzipiellen gnostischen Schöpfungs- und Leibfeindlichkeit - dürften auch hinter der korinthischen Parole stehen, die Paulus in l.Kor 7,1b zitiert: »Es ist gut für den Menschen, eine Frau nicht anzufassen«. 15 (2) Praktisch-innovatorische Interpretationen: Die Schöpfungsordnung wird prinzipiell nicht geleugnet, sondern bejaht. Es wird aber betont, daß die Unterschiede der Schöpfungsordnung im Rahmen des durch die Erlösung gewonnenen neuen Seins belanglos sind und daher in der christlichen Praxis keine Rolle mehr spielen dürfen. Im Unterschied zu (1) zielt die Praxis hier aber nicht auf eine individualethische bzw. aszetische Umsetzung, sondern auf eine Realisierung im Raum der Gesellschaft oder der Gemeinde. Entsprechend lassen sich zwei Konkretionen vorstellen: (2a) Gesellschaftlich-revolutionäre Innovation: Sie wäre dann gegeben, wenn das Urchristentum den Grundsatz von Gal 3,28 als Motivation und Aufruf zur revolutionären Veränderung der Gesellschaft verstanden hätte und für eine Emanzipation der Frau in der römischen oder jüdischen Öffentlichkeit eingetreten wäre. Soziologisch gesehen, wäre ein solches Verständnis sogar bestimmten emanzipatorischen Tendenzen des 1. Jahrhunderts entgegengekommen, gewann tatsächlich aber keine erkennbare Bedeutung in der Praxis des Urchristentums. Das ist zumindest für die Anfangszeit der ersten apostolischen Generation, als man mit der unmittelbar bevorstehenden Parusie Christi und dem endgültigen Ende dieses Äons rechnete, auch nicht verwunderlich. Sozialrevolutionäre Bestrebungen wären in diesem Kontext eher gegen das Konzept. Als sie hätten aktiviert werden können, nämlich in der zweiten und dritten Generation, wo man sich auf eine fortdauernde Zeit einstellen mußte, hat man sich anders entschieden. 16

14

Vgl. dazu (mit weiteren Belegen): Paulsen, Einheit (s.o. Anm. 6) 80-84.

15

Vgl. H.Merklein, »Es ist gut für den Menschen, eine Frau nicht anzufassen«. Paulus und die Sexualität nach l.Kor 7: ders., Studien (s.o. Anm. 10) 389-391.395f.

16

S.u. zum Kolosserbrief und zu den Pastoralbriefen.

236

Helmut Merklein

(2b) Innergemeindliche Innovation: Sie wäre dann gegeben, wenn die erlösungsmäßige Belanglosigkeit der Geschlechterdifferenz zumindest im Raum der Gemeinde in die Praxis umgesetzt worden wäre, so daß Männer und Frauen gleichermaßen an den in der Erlösungsordnung begründeten Gaben und Funktionen teilhaben konnten. Eine Aufhebung der Schöpfungsordnung ist damit nicht angezielt. Im Gegenteil, die prinzipielle Gutheit der schöpfungsmäßigen Geschlechterdifferenz ist die Voraussetzung der Praxis auf der Ebene der Erlösungsordnung. (3) Theoretisch-konservative Interpretation: Ähnlich wie bei der zuvor genannten Interpretation bleibt auch hier die Schöpfungsordnung in Geltung. Im Unterschied dazu wird aber die erlösungsmäßige Belanglosigkeit der Geschlechterdifferenz prinzipiell gefaßt. Sie besteht »in Christus« bzw. »coram Deo«, so daß Auswirkungen auf die Praxis weder nötig noch wünschenswert sind. Gerade weil »in Christus« die Unterschiede irrelevant sind, kann man alles beim Alten lassen. Veränderungen sind nicht nötig - weder in der Welt noch in der Gemeinde. Das ist zweifellos die Haltung, die bis heute die kirchliche Praxis beeindruckt hat, wenngleich sie auch theologisch nicht ohne Probleme ist. 17 Doch ist weder die Wirkungsgeschichte noch die theologische Problematik im Rahmen unserer Fragestellung von vordringlichem Interesse. Hier geht es zunächst um die historische Frage: Für welche Option hat sich Paulus entschieden?

2. Die prophezeienden Frauen in Korinth (l.Kor 11,2-16) Der Text enthält eine Reihe von schwer entscheidbaren Einzelproblemen, auf die hier nur insoweit eingegangen werden kann, als sie im Rahmen unserer Fragestellung von Bedeutung sind. 18 Das gilt auch für das zugrundeliegende Sachproblem, für das unterschiedliche Lösungen vorgeschlagen werden. Möchte Paulus, daß die Frauen beim gottesdienstlichen Beten oder

17

Die Erlösung (neue Schöpfung) bleibt gänzlich theoretisch. Die Gemeinde, von der man alle erlösungsbedingten Innovationen fernhält, verbleibt praktisch im Bereich des alten Äons. Welt, die man Sozialrevolutionär nicht zu verändern braucht, und Gemeinde, die die Sozialstrukturen der Welt einfach übernimmt, kommen auf der gleichen Ebene zu stehen und sind in der Praxis kaum mehr unterscheidbar.

18

Eine umfassende Darstellung und Diskussion der Probleme findet sich bei W.Schrage, Der erste Brief an die Korinther. II. IKor 6,12 - 11,16, Solothurn/Düsseldorf u. Neukirchen-Vluyn 1995 (EKK VII/2) 487-541 (Lit.); zur religionsgeschichtlichen Problematik vgl. M.Küchler, Schweigen, Schmuck und Schleier. Drei neutestamentliche Vorschriften zur Verdrängung der Frauen auf dem Hintergrund einer frauenfeindlichen Exegese des Alten Testaments im antiken Judentum, Freiburg, Schw./Göttingen 1986 (NTOA 1) 73-112; vgl. auch Baumert, Antifeminismus (s.o. Anm. 6) 53-108.

Im Spannungsfeld von Protologie und Eschatologie

237

Prophezeien eine irgendwie geartete Kopfbedeckung verwenden? 19 Oder sollen sie ihr Haupthaar nicht offen herunterhängen lassen, sondern eine geordnete Frisur tragen? 20 Entsprechend wäre dann bei den Männern vorauszusetzen, daß sie keine Kopfbedeckung tragen bzw. ihr Haupthaar nicht lang herunterhängen lassen sollen. In jedem Fall - und das ist für uns das Entscheidende - will Paulus eine gerade am Haupt in Erscheinung tretende Geschlechtsrollensymbolik gewahrt wissen. 21 Dafür führt er mehrere Argumente an: 2.1. Als erstes Argument für die unterschiedliche Geschlechtsrollensymbolik führt Paulus an, daß der Mann das »Haupt« der Frau ist (V.3), so daß eine Frau, die keine Kopfbedeckung trägt bzw. ihr Haar offen herunterhängen läßt, ihr »Haupt« entehrt (V.5). Der Mann dagegen entehrt sein »Haupt«, wenn er eine Kopfbedeckung bzw. langes Haar trägt (V.4). Paulus operiert hier mit einer Analogie, bei der das positive Setzen einer geschlechtsspezifischen Symbolik auf dem Haupt der Frau deren Relation zum Mann als ihrem Haupt ausdrücken soll, während das Nicht-Setzen einer solchen Symbolik beim Mann gerade dessen Haupt-Sein zur Frau veranschaulichen soll. 22 Die Analogie ist eingebettet in eine übergeordnete Reihe, wonach Gott das »Haupt« Christi, Christus das »Haupt« des Mannes und der Mann das »Haupt« der Frau ist (V.3). 23 Daß es Paulus nicht um die Konsolidierung von Herrschaftsstrukturen geht, ergibt sich schon daraus, daß damit das Verhältnis von Gott und Christus nicht zutreffend zu beschreiben ist. In l.Kor 8,6 wird das Verhältnis von Gott und Christus als das von Schöpfer (έξ ού τα πάντα) und Schöpfungsmittler (δι* ού τά π ά ν τ α ) bestimmt. Doch scheint sich diese Verhältnisbestimmung nur schwer auf Mann und Frau übertragen zu lassen. Eine gewisse Vermittlung ergibt sich, wenn man die paulinische Aussage aus der Perspektive von Gen l,26f LXX liest. 19

Zu den verschiedenen Möglichkeiten der Kopfbedeckung vgl. G.Theißen, Psychologische Aspekte paulinischer Theologie, Göttingen 1983 (FRLANT 131) 161-180, bes. 162-167.

20

Vgl. A.Isaksson, Marriage and Ministry in the New Testament, Lund 1965 (ASNU 24) 165-186; J.B.Hurley, Did Paul Require Veils or the Silence of Women? A Consideration of I Cor. 11:2-16: WThJ 35 (1973) 190-220; Schüssler Fiorenza, Frauen (s.o. Anm. 4) 132-135; dies., Memory (s.o. Anm. 4) 227.

21

Zur »Geschlechtsrollensymbolik« vgl. Theißen, Aspekte (s.o. Anm. 19) 173-180.

22

Falls es um die Frage der Frisur und nicht um die Frage der Kopfbedeckung geht, ist die Analogie allerdings begrenzt, da ja auch das nicht lang herabhängende, sondern geschorene Haar des Mannes nicht einfach eine natürliche Null-Position ist, sondern selbst auf einer positiven kulturellen Setzung beruht.

23

Es bleibt allerdings zu beachten, daß die Reihe nicht deszendent von Gott bis zur Frau verläuft, sondern jeweils von Christus her entwickelt ist: Das Haupt jeden Mannes ist Christus, das Haupt der Frau ist der Mann, das Haupt Christi aber ist Gott.

238

Helmut Merklein

Gen l,26f LXX: και είπεν ό θεός Ποιήσωμεν άνθρωπο ν κατ' εικόνα ήμετέραν (TJQ'JXI) καϊ καθ' όμοίωσιν (13Π1073), και άρχέχωσαν ... (27) καϊ έποίησεν ό θεός χόν ανθρωπον, κατ' εικόνα θεοΰ έποίησεν αύτόν, αρσεν και θήλυ έποίησεν αύτούς.

Christus wäre demnach das »Abbild« (είκών), nach dem Gott den Menschen geschaffen hat. Expliziert man die Erschaffung des Menschen im Sinne von Gen 2 als sukzessive Erschaffung von Mann und Frau, wäre der Mann in zumindest analoger Weise das Bild, nach dem die Frau δμοιος αύτώ, als »seinesgleichen« (Gen 2,20), geschaffen wurde. Mit dem Gedanken der κεφαλή will Paulus dann weniger eine Über- bzw. Unterordnung als vielmehr den prozessualen Charakter der Schöpfung festhalten. Dieser Prozeß darf nicht im Sinne einer von oben nach unten fortschreitenden Negativität gelesen werden, sondern muß im Sinne einer die Schöpfung erst ermöglichenden Vermittlung gedeutet werden. Das gilt in ganz grundsätzlicher Weise für den Schöpfungsmittler Christus, durch den das theologisch nicht unproblematische Verhältnis von Gott und Schöpfung zumindest (philosophisch) erleichtert wird. Das gilt in analoger Weise dann auch für die von Christus vermittelte Schöpfung des Menschen, die im Fortschreiten der Vermittlung vom Mann zur Frau die Differenzierung erreicht, durch die eine (anthropozentrisch gedachte) Schöpfung erst ihren Bestand erhalten kann. Diese Art von Exegese wird man heute kaum mehr nachvollziehen können. Sie beruht auf einer methodisch unzulässigen Verquickung von priesterschriftlichem und jahwistischem Schöpfungsbericht. Die Anwendung des κεφαλή-Begriffes auf den Mann setzt (übrigens wie schon der jahwistische Schöpfungsbericht) eine patriarchale Gesellschaftsordnung voraus, die dann fast zwangsläufig als in der Schöpfungsordnung vorgegeben angesehen wurde. Tatsächlich konnte damit die Differenz von Mann und Frau kaum ohne das Konnotat der Über- und Unterordnung gedeutet werden. Für all das wird man nicht unbedingt Paulus verantwortlich machen dürfen. Was die Kombination von Gen 1 und 2 betrifft, so folgt er wohl einer damals gängigen Auslegungstradition. 24 Was die Gesellschaftsordnung betrifft, so ist Paulus ein Kind seiner Zeit. Unabhängig von diesen kaum mehr nachvollziehbaren Ober- und Untertönen bleibt als der eigentliche Kern des paulinischen Sachanliegens aber die Differenz von Mann und Frau als notwendig zur Schöpfung gehörige Gegebenheit festzuhalten. Diese Schöpfungsgegebenheit will Paulus offensichtlich über die Einhaltung einer bestimmten Rollensymbolik gewahrt wissen.

Der Ausgangspunkt ist eine allein auf den Mann (Adam) bezogene Deutung von Gen l,26f; vgl. dazu: Küchler, Schweigen (s.o. Arnn. 18) 83-85; Schräge, l.Kor II (s.o. Anm. 18) 509. Zu Gen 1.2-3 vgl. F.Crüsemann, »... er aber soll dein Herr sein«. Genesis 3,16. Die Frau in der patriarchalen Welt des Alten Testamentes: ders./H.Thyen, Mann (s.o. Anm. 6) 13-106: 52-68.

Im Spannungsfeld von Protologie und Eschatologie

239

2.2. Das zweite Argument, das Paulus in V.7 bringt, hängt eng mit dem ersten zusammen und bestätigt die obigen Ausführungen, sofern der Begriff der είκών nun explizit genannt wird: Der Mann ist ε ί κ ώ ν und δόξα Gottes (V.7a). Die Nähe zu Gen l,26f LXX ist evident, zumal der Schöpfungsmittler Christus hier gar keine Rolle zu spielen scheint. Deutlich ist wieder die Kombination von Gen 1 und Gen 2, wenn die Frau als δόξα des Mannes bezeichnet wird (V.7b). Ungeklärt ist, warum Paulus den Mann ε ί κ ώ ν και δόξα Gottes nennt, während er von der Frau nur sagt, daß sie δόξα des Mannes ist. Beide Fragen klären sich m.E. am leichtesten, wenn man είκών καϊ δόξα als Variante zu κατ' εικόνα ήμετέραν καν καθ' ό μ ο ί ω σ ι ν aus Gen 1,26 LXX versteht. In Gen 1,26 bezeichnet ε ί κ ώ ν das repräsentative Abbild, während όμοίωσις ( Π Ί ΰ Ι ) die Ähnlichkeit bzw. Gleichheit im Wesen bzw. Verhalten meint. 25 In der LXX bezieht sich beides auf den Menschen (άνθρωπος), d.h. auf Mann und Frau, während im Blick auf die Frau in Gen 2,20 von δμοιος αύτω gesprochen wird. Dies ist im Horizont von Gen 1 und 2 völlig korrekt, da ε ί κ ώ ν und όμοίωσις als Begriffskombination nur auf das Verhältnis Gott - Mensch, nicht aber auf das Verhältnis Mann - Frau angewendet werden können. Im Blick auf letzteres hingegen kann nur von όμοίωσις o.ä. gesprochen werden. Nach dem hebräischen Text ist der Mensch als Abbild ( U f t 1 ? ^ ) , d.h. als Repräsentant und Stellvertreter Gottes auf Erden geschaffen. Die Voraussetzung dafür ist die Gleichheit bzw. Ähnlichkeit im Wesen und im Verhalten mit Gott (Ί die sich vor allem aus der Vernünftigkeit des Menschen ergibt. Die LXX verändert die Aussage insofern, als sie nicht mehr davon spricht, daß der Mensch als Abbild, sondern nach dem Bild, d.h. einem Urbild, geschaffen wurde. Aber auch unter dieser Voraussetzung ist es sinnvoll, im Blick auf die Frau deren Gleichheit bzw. Ähnlichkeit (ομοιον αύτω) mit dem Mann (Gen 2,23!) und nicht dessen Urbildlichkeit für die Frau herauszustellen. Es besteht kein Anlaß, für Paulus anderes vorauszusetzen, zumal er bezüglich der είκών-Aussage merkwürdig zwischen der Auffassung der hebräischen und der griechischen Bibel schwankt. Einerseits läßt sich mit dem paulinischen Gedanken der Schöpfungsmittlerschaft Christi die Aussage der LXX dahingehend präzisieren, daß Christus das Urbild (είκών) ist, nach dem der Mensch geschaffen wurde. Andererseits kann Paulus den Mann unmittelbar είκών Gottes nennen, was an die Vorstellung der hebräischen Bibel vom Menschen als Abbild Gottes erinnert. Im übrigen wird man aus dem Umstand, daß in V.7 nur der Mann als Abbild und Abglanz Gottes bezeichnet wird, nur schwerlich folgern dürfen, daß die Frau kein Abbild 25

Zur Diskussion vgl. Schräge, l.Kor II (s.o. Anm. 18) 509-511; zur alttestamentlichen Problematik vgl. W.Groß, Art. Gottebenbildlichkeit. I. Altes Testament: LThK 3 IV,871-873; zur religionsgeschichtlichen Begründung vgl. B.Ockinga, Die Gottebenbildlichkeit im Alten Ägypten und im Alten Testament, Wiesbaden 1984 (ÄAT 7), bes. 148-153; Ch.Dohmen, Die Statue von Teil Fecher je und die Gottebenbildlichkeit des Menschen: BN 22 (1983) 91-106.

240

Helmut Merklein

Gottes ist. Es handelt sich wohl um eine verkürzende Redeweise, die sich wiederum der exegetischen Kombination von Gen 1 und 2 verdankt. Positiv wird man daher sagen können, daß für Paulus Mann und Frau Abbild und Abglanz Gottes sind (Gen 1), die Frau dies aber als Abglanz des Mannes ist (Gen 2). Das Argument besitzt objektiv nahezu die gleichen methodischen und sachlichen Schwächen wie das erste. Doch bleibt zu beachten, daß Paulus es pragmatisch nicht zur Begründung der Überlegenheit des Mannes gegenüber der Frau, sondern allein dazu einsetzt, um das von der Frau geforderte κ α τ α κ α λ ύ π τ ε σ θ α ι des Hauptes für den Mann auszuschließen (vgl. V.7a mit V.5f). Es geht also Paulus wieder um die Wahrung der Geschlechtsrollensymbolik, in der er die schöpfungsmäßig vorgegebene Geschlechterdifferenz zum Ausdruck kommen sieht. In diese Richtung weisen auch die Verse 8f, die das in V.7 Gesagte unter direktem Rekurs auf Aussagen des jahwistischen Schöpfungsberichtes begründen: Daß der Mann nicht aus der Frau, sondern die Frau aus dem Mann ist (V.8), gibt die Sicht von Gen 2,21-23 wieder, wonach Gott die Frau aus der Rippe des Mannes »gebaut hat«. Und daß der Mann nicht wegen der Frau, sondern diese wegen des Mannes geschaffen wurde (V.9), ist nichts anderes als eine Adaption von Gen 2,18, wobei der άνθρωπος (Adam), dem Gott eine Hilfe schaffen will, im Sinne des Kontextes als »Mann« vereindeutigt wird. 2.3. Das dritte Argument, das in V.10 folgt, ist eine äußerst harte Nuß. Es soll daher nur insoweit diskutiert werden, als es im Rahmen unserer Fragestellung von Bedeutung ist. Problematisch ist vor allem, was es bedeutet, daß die Frau έ ξ ο υ σ ί α ν έ χ ε ι ν έπΐ της κεφαλής. Zielt εξουσία auf eine Kopfbedeckung, die als Symbol für die Unterordnung der Ehefrau unter die Macht des Ehemannes (Π1ΕΓΙ) bzw. allgemein für die Unterordnung der Frau unter den Mann dienen soll? 26 Doch geht es im Kontext weder speziell um die Stellung der Frau in der Ehe noch um die Forderung einer allgemeinen Unterordnung der Frau unter den Mann. Insbesondere in Verbindung mit der These, daß es nicht um die Kopfbedeckung, sondern um die geordnete Frisur der Frauen gehe, hat man daher darauf aufmerksam gemacht, daß »εξουσία ein Abstraktum« sei und »nicht die passiv erfahrene fremde Vollmacht und Autorität« bezeichnen könne, »sondern nur die eigene der Frau, die sie selbst ausübt«27, έπί ist dann nicht lokal zu verstehen (»auf«), sondern bezeichnet den Gegenstand, »über« den die Frau Vollmacht haben soll. Dieser Überlegung wird man zustimmen können, wobei allerdings zwei Modifikationen anzubringen sind. Zum einen kann die Frage, wie die Frau die (d.h. ihre) Gewalt (εξουσία) über ihr Haupt zum Ausdruck bringen soll, offen bleiben: sei es durch eine Kopfbedeckung, sei es durch eine geordnete Frisur. Zum andern muß die έξουσία unbeschadet ihres aktiven 26

Vgl. Küchler, Schweigen (s.o. Anm. 18) 90-98; Schräge, l.Kor II (s.o. Anm. 18) 513-515.

27

Schräge, l.Kor II (s.o. Anm. 18) 514.

Im Spannungsfeld von Protologie und Eschatologie

241

(von der Frau ausgehenden) Charakters aber zugleich ein Ausdruck zwar nicht für eine praktische Unterordnung der Frau unter den Mann, so aber doch für deren schöpfungsmäßige Bezogenheit auf den Mann sein, wie sie in den vorausgehenden Versen 7-9 zum Ausdruck gebracht wurde. Dies fordert das verseinleitende δια τ ο ύ τ ο , das sich sonst zu einer inhaltslosen Floskel verflüchtigen würde. Argumentativ geht es also darum, daß die Frau wegen ihrer schöpfungsmäßigen Besonderheit über ihren Kopf Gewalt haben soll. Die am Kopf in Erscheinung tretende Geschlechtsrollensymbolik wird von Paulus also als Anerkennung der schöpfungsmäßigen Position gewertet. Als sachlicher Grund dafür werden die Engel angegeben (δια τους αγγέλους). Auch hier ist die Deutung überaus umstritten. 28 Vom Kontext her wird man am ehesten an die Präsenz der Engel beim Gottesdienst denken. 29 Daß eine Frau, die ihren Kopf nicht in Gewalt (έξουσία) hat, die Engel verführen könnte (vgl. Gen 6; äthHen 6-11 30 ), wird nicht ausdrücklich gesagt und legt sich auch unter Voraussetzung eines aktiven Verständnisses von έξουσία nicht nahe. Es genügt der bloße Gedanke der Engelpräsenz, die eine Beachtung einer bestimmten Geschlechtsrollensymbolik verlangt, in der die Schöpfungsordnung zum Ausdruck kommt. 2.4. Die Verse 11-12 weisen mancherlei Übereinstimmungen mit Gal 3,28, aber auch Unterschiede dazu auf. 31 Allerdings handelt es sich nicht, wie häufig behauptet wird, um eine Einschränkung, sondern um die Fortführung und Aufgipfelung der bisherigen Argumentation. 32 Die in der Schöpfungsordnung begründete Differenz zwischen Mann und Frau gilt auch in der Erlösungsordnung: έν κυρίω! Den Beweis dafür liefert für Paulus die simple Erfahrung: Weder der Mann noch die Frau können ohne das andere Geschlecht »im Herrn« sein; denn wie die Frau - nicht nur aufgrund des Schöpfungsgeschehens von Gen 2, sondern in Fortführung der die Geschlechterdifferenz begründenden Schöpfungsordnung - aufgrund der Zeugung »aus dem Mann« (έκ τοϋ άνδρός) ist (V.12a) und daher nicht »ohne den Mann« (χωρίς άνδρός) »im Herrn« sein kann (V.IIa), so ist auch der Mann, der »im Herrn« ist, dies nicht »ohne die Frau« (χωρίς γυναικός) (V.IIb), weil er - ebenfalls in Fortführung der die Geschlechterdifferenz begründenden Schöpfungsordnung von der Frau geboren - nur »durch die Frau« (δια της γ υ ν α ι κ ό ς ) »im Herrn« sein kann. Die Geschlechterdifferenz ist geradezu die Voraussetzung für das Im-Herrn-Sein. Dieses hebt das Mann- und Frau-Sein nicht auf. Selbstverständlich bleibt der 28

Vgl. ebd. 515-517.

29

In ähnlicher Weise setzt Qumran die Präsenz der Engel in der Gemeinde voraus; vgl. 1 QSa II 3-9; CD XV 10-18 ( = 4 QD a = 4 Q 266, Frg. 17 I).

30

Vgl. dazu Küchler, Schweigen (s.o. Anm. 18) 220-230.

31

Vgl. Dautzenberg, Stellung (s.o. Anm. 6) 21 lf.

32

Zur Diskussion vgl. Schräge, l.Kor II (s.o. Anm. 18) 517f.

242

Helmut Merklein

Mann auch »im Herrn« ein Mann, und bleibt die Frau »im Herrn« eine Frau. Die von Gal 3,28 angezielte Nivellierung der Gegensätze steht für Paulus unter streng soteriologischem Vorzeichen. Die sexuelle Differenz ist für das Heil (und das gilt analog natürlich auch für die religiöse, ethnische und soziale Differenz) ohne Bedeutung. Für das Heil zählt allein der Glaube und die dadurch gewonnene neue Identität »in Christus« (das εις ε ί ν α ι έν Χ ρ ι σ τ ώ nach Gal 3,28). Demgegenüber ist die sexuelle Identität zwar nicht aufgehoben, aber belanglos. Spätestens hier wird deutlich, daß Paulus eine prinzipiell-innovatorische Interpretation von Gal 3,28 nicht zu teilen vermag. Die Erlösungsordnung hebt die Schöpfungsordnung nicht auf. 2.5. Damit hat die paulinische Argumentation eigentlich ihren Höhepunkt erreicht. V.13 wendet sich wieder unmittelbar an die Leserinnen und Leser und appelliert an deren eigenes Schicklichkeitsgefühl (πρέπον), das ein Beten der Frau unter Mißachtung der Geschlechtsrollensymbolik ausschließen soll. Offensichtlich spürt Paulus aber, daß das π ρ έ π ο ν nur Konvention ist, die prinzipiell variabel ist. Eben deshalb versucht er es in V.14f mit dem Verweis auf die »Natur« (φύσις) auf eine objektive Ebene zu heben. Auf Details kann nicht eingegangen werden. 33 Grundsätzlich kann man zumindest aus heutiger Sicht - einwenden, daß Paulus »Natur« und »Kultur« verwechselt, d.h. (ethische) Konvention (πρέπον) mit (kultureller) Konvention begründet. Doch ist die Grenze zwischen Natur und Kultur immer nur schwer lupenrein zu bestimmen. So mag es dahingestellt bleiben, ob Paulus mit V.14f seine Leserinnen und Leser erreichen konnte. Offensichtlich ist er davon selbst nicht vollends überzeugt. Deshalb kommt er einem möglichen Streit mit dem Hinweis auf eine allgemeine christliche Sitte (die Gewohnheit der Gemeinden Gottes) zuvor. 34 Das π ρ έ π ο ν , das ihm möglicherweise nicht natürlich zu objektivieren gelungen ist, ist damit zumindest soziologisch bzw. ekklesiologisch objektiviert. Die Verse 13-16 stellen sicherlich die schlechtesten Argumente im Gesamtzusammenhang dar. Genau genommen, sind es gar keine Argumente (die von der Sache her überzeugen wollen), sondern Appelle an die Einsicht der Leserinnen und Leser. 35

Problematisch ist vor allem die Bedeutung von άντϊ π ε ρ ι β ο λ α ί ο υ . Soll damit das Haar selbst als Umhang ausgewiesen werden? Dann müßte man voraussetzen, daß Paulus für eine geordnete Frisur eintritt (allerdings: warum kann nicht auch das herabhängende gelöste Haar »Umhang« sein?). Oder ist der »Umhang« des langen Haares nur die natürliche Voraussetzung für eine Kopfbedeckung als Geschlechtsrollensymbol? Unter welchen Voraussetzungen diese Sitte zustande kam und wo ihre religionsgeschichtlichen Wurzeln lagen, muß hier offen bleiben. Das erkennt man schon am Stil: V.13a ist unmittelbare Anrede in der 2.Person Plural; V. 13b. 14.15a sind Fragesätze; und V.16b bringt das soziale »Wir« ins Spiel. Sachlich referentiell ist nur V. 15b gehalten.

Im Spannungsfeld von Protologie und Eschatologie

243

Damit können wir den Ertrag für unsere Fragestellung formulieren. Unabhängig von der Güte und Überzeugungskraft der paulinischen Appelle (V. 13-16) und unabhängig von deren tatsächlicher Akzeptanz in Korinth ist es ganz eindeutig die Intention des Paulus, eine bestimmte Geschlechtsrollensymbolik als Ausdruck einer schöpfungsmäßig vorgegebenen Geschlechterdifferenz aufrechtzuerhalten. Die Art und Weise, wie er den Zusammenhang von Symbolik und schöpfungsmäßiger Gegebenheit argumentativ herstellt (V.3-10), mag heute nicht mehr nachvollziehbar sein. Das ändert aber nichts an der Ernsthaftigkeit seines Sachanliegens. Die Frage ist nur: Warum beharrt Paulus so unnachgiebig auf der Aufrechterhaltung der Geschlechtsrollensymbolik? Nun ist es unschwer zu erkennen, daß die Argumente insbesondere der Verse 3-10 eine patriarchale Gesellschaftsordnung voraussetzen und diese, sofern sie sie unreflektiert mit der Schöpfungsordnung verquicken, auch schöpfungsmäßig stabilisieren. Dennoch wird man sich hüten müssen, dies als Intention des Textes auszuwerten. Gewiß wird Paulus von einem festgefügten (überwiegend patriarchalisch bestimmten) Rollenspiel von Mann und Frau ausgegangen sein. Aber wie Paulus dieses Rollenspiel in Familie und Ehe oder in Staat und Gesellschaft sich konkret vorgestellt hat, läßt sich aus unserem Text nicht beantworten; die Unterordnung der Frau unter den Mann ist nicht sein pragmatisches Ziel. Das einzige Rollenspiel, das Paulus in unserem Text thematisiert, ist das gemeindliche. Das Erstaunliche dabei ist, daß Paulus - scheinbar gegenläufig zur Betonung der Differenz der Geschlechtsrollensymbolik - ein völlig gleiches Rollenspiel von Mann und Frau in der Gemeinde voraussetzt. Mit größter Selbstverständlichkeit geht Paulus - und das gilt offensichtlich ebenso für seine Leserinnen und Leser - davon aus, daß Männer und Frauen gleichermaßen »beten« und »prophezeien« (V.4f). Daß hierbei nicht an den privaten Bereich, sondern an den Raum der Gemeinde zu denken ist, ergibt sich schon aus dem Charakter der Prophetie, die im übrigen, was den Aufbau der Gemeinde angeht, von Paulus als das bedeutendste Charisma favorisiert wird (vgl. l.Kor 14). Aus dieser Spannung von gleichem gemeindlichen Rollenspiel und differenter Geschlechtsrollensymbolik ist Anlaß und Intention des Textes zu erklären. Das gleichermaßen für Mann und Frau vorausgesetzte Beten und Prophezeien dokumentiert ganz eindeutig, daß im Raum der Gemeinde eine Praxis üblich war, die zumindest sachlich dem Axiom von Gal 3,28 - »da ist nicht mehr männlich und weiblich« - gerecht wurde. Daß das Axiom von Gal 3,28 möglicherweise sogar der Auslöser für diese Praxis gewesen ist, läßt sich m.E. aus dem differenzierten Reflex darauf in V . l l f wahrscheinlich machen. Die eschatologische Erlösungsordnung hat die Praxis der Gemeinde beeinflußt und geprägt. Daß Paulus dies nicht betonen muß, sondern als selbstverständlich voraussetzen kann, läßt darauf schließen, daß der Konflikt, den er mit unserem Text bewältigen will, aus einer unterschiedlichen Interpretation von Gal 3,28 resultiert. Offensichtlich haben die korinthischen

244

Helmut Merklein

Frauen (oder wenigstens einige davon) beim gottesdienstlichen Beten und Prophezeien die sonst übliche Geschlechtsrollensymbolik aufgegeben. Warum sie dies getan haben, läßt sich nur über die Reaktion des Paulus erschließen. Wenn dessen Pochen auf die schöpfungsmäßige Differenz nicht gänzlich auf einem Mißverständnis beruhen sollte, dann wird man annehmen dürfen, daß die Aufgabe der Geschlechtsrollensymbolik der Ausdruck für eine überwunden geglaubte Schöpfungsordnung war. Gal 3,28 wurde von den Frauen offensichtlich prinzipiell-innovatorisch interpretiert. Die neue Schöpfung »in Christus« hebt die alte schöpfungsmäßige Geschlechterdifferenz auf. Freilich kann diese prinzipielle eschatologische Wirklichkeit, die sich mit der weiter vorhandenen Erfahrungswirklichkeit stößt, nur symbolisch realisiert werden. Die korinthischen Frauen tun dies, indem sie die Symbolik der alten Wirklichkeit aufgeben. Dem widerspricht Paulus. Selbstverständlich ist für ihn die Geschlechterdifferenz für das eschatologische Heil belanglos, und selbstverständlich gibt es daher für ihn auch keine sexuelle Prädisposition für die Ausübung einer für die Gemeinde entscheidenden Funktion. Aber Paulus sperrt sich gegen eine eschatologische Aushebelung der Schöpfungsordnung. Die eschatologische Erlösungsordnung, das ε ί ν α ι ev Χ ρ ι σ τ ώ , setzt nicht nur die Schöpfungsordnung voraus, sondern sanktioniert und heiligt sie. Es wird deutlich, daß Paulus die Gegensätze von Gal 3,28 und deren Belanglosigkeit nicht einheitlich beurteilt. Denn während er sich einen Wandel zum Beispiel in der sozialen Relation zumindest vorstellen kann (vgl. l.Kor 7,21f), verwahrt er sich gegen eine auch nur symbolische Aufhebung der geschlechtlichen Differenz. Daß er in dieser Hinsicht so konservativ denkt, hat sicherlich damit zu tun, daß die Geschlechterdifferenz in der Schöpfung grundgelegt ist. Und diese kann Paulus aufgrund seiner jüdischen Herkunft nicht anders als gut bezeichnen. Im übrigen wird das Herrenwort von der Unauflöslichkeit der Ehe (vgl. l.Kor 7,10f) ihn in dieser Haltung noch bestärkt haben. Für unsere Fragestellung ergibt sich damit das Resultat: Paulus hat den Grundsatz von Gal 3,28 im Blick auf die Geschlechterdifferenz nicht prinzipiell, sondern praktisch-innovatorisch interpretiert. Die Geschlechterdifferenz wird durch die Erlösung nicht aufgehoben, wenngleich sie für das eschatologische Heil belanglos ist. Aus der Fortdauer der schöpfungsmäßigen Differenz, die er einschärft, leitet Paulus aber keine (eschatologische oder ekklesiale) Privilegierung des männlichen Geschlechtes ab. 3 6 Die Belanglosigkeit der Geschlechterdifferenz »in Christus« wird nicht nur theoretisch (coram deo) ins Auge gefaßt. Die Identität »in Christus« findet vielmehr ihre praktische Konkretion in der Gemeinde. Männer und Frauen üben im Raum der Gemeinde selbstverständlich die gleiche Funktion aus. Paulus schreitet in Korinth nur ein, weil dort die in Christus erreichte und in der

Dies ist um so bemerkenswerter, als Paulus bei der Interpretation der Schöpfungsberichte unreflektiert durchaus patriarchale Elemente einträgt.

Im Spannungsfeld von Protologie und Eschatologie

245

Gemeinde praktizierte Gleichheit als Ausdruck einer eschatologisch aufgehobenen Schöpfungsordnung interpretiert wurde. Man könnte sagen: Paulus will Mann und Frau als Schöpfungsgegebenheit festhalten, hat aber - wie auch die Gemeinde in Korinth - kein Problem, die Frauen gleichermaßen an den gemeindlichen Funktionen teilhaben zu lassen. Daß dieser Befund keine korinthische Eintagsfliege ist, zeigt der nächste Text.

3. Die Grußliste Rom 16,1-16 In Rom 16,1-16 begegnen wir einer langen Grußliste 37 , in der - schon das ist beachtlich - eine große Zahl von Frauennamen vorkommen. Neben 19 Männern erscheinen immerhin 10 Frauen! Die Epitheta, mit denen die Namen versehen werden, sind relativ gleichmäßig auf beide Geschlechter verteilt. Ein Funktionsüberhang der Männer ist nicht zu erkennen. Auf einige der genannten Frauen lohnt es sich etwas genauer einzugehen. (1) In V.lf wird relativ ausführlich »unsere Schwester Phöbe« vorgestellt. Sie wird als δ ι ά κ ο ν ο ς της ε κ κ λ η σ ί α ς της έν Κ β γ χ ρ ε α ϊ ς bezeichnet (V.l). Man wird sich hüten müssen, aus der Kombination von »διάκονος + >FrauTopos< im Rahmen der urchristlichen Paränese: NTS 40 (1994) 261-280.

250

Helmut Merklein

ner liebt die ( = eure) Frauen (αγαπάτε τάς γ υ ν α ί κ α ς ) und seid nicht aufgebracht gegen sie.

Steht diese Anweisung nicht im Widerspruch zu Gal 3,28? Während dort die Belanglosigkeit der Geschlechterdifferenz betont wurde, wird nun die Unterordnung der (Ehe-)Frau unter den (Ehe-)Mann gefordert. Doch wäre solche Gegenüberstellung allzu vordergründig. Es bedarf der Differenzierung. Die Belanglosigkeit des Geschlechts stand in Gal 3,28 unter dem Aspekt des eschatologischen Heils. Paulus selbst verurteilte eine prinzipielle Interpretation, in der die schöpfungsmäßigen Unterschiede nivelliert wurden, hielt aber eine vom Geschlecht unabhängige Beteiligung gleichermaßen von Männern und Frauen im Raum der Gemeinde für selbstverständlich. Dem widerspricht Kol 3,18f in keiner Weise. Kol 3,18f ist auf einen völlig anderen Sachverhalt ausgerichtet, der bei Paulus noch nicht bedacht wurde. Erstmals wird das Verhältnis von Mann und Frau gesellschaftlich reflektiert. Das antike Haus ist keineswegs mit der bürgerlichen Familie gleichzusetzen, die sich eher dem Privatbereich zuordnet. Das Haus war vielmehr von grundlegender Bedeutung für die antike Gesellschaft, nicht zuletzt unter wirtschaftlicher Hinsicht und Zielsetzung, der deshalb auch die zwischenmenschlichen Beziehungen zu- und unterzuordnen waren. Daß das Haus als sozialethische Herausforderung noch nicht zur Zeit des Paulus, sondern erst in der anschließenden Generation bedacht wurde, ist kein Zufall. Es hängt, wie schon angedeutet, mit dem Nachlassen der Naherwartung bzw. mit der Notwendigkeit, sich auf Zeit einzustellen, zusammen. Aus heutiger Sicht könnte man sich gewiß vorstellen, daß bei den falligen gesellschaftlichen Reflexionen mehr von der Innovationskraft von Gal 3,28 zum Zuge gekommen wäre. Ähnlich wie die Praxis im Raum der Gemeinde von der eschatologischen Wirklichkeit geprägt wurde, hätte man diese auch zur Veränderung der Gesellschaft einsetzen können. Faktum ist, daß man dazu nur wenig Neigung verspürte. 54 Immerhin ist es bemerkenswert, daß Kol 3,18f in der Rezeption des Epheserbriefes (Eph 5,22-33) mit der Überschrift versehen ist: »Ordnet euch einander unter (ύποτασσόμενοι άλλήλοις ...)!« (Eph 5,21). In der Sklavenmahnung von Kol 3,22-25 wird überdies deutlich, daß der eigentliche »Herr«, der über Herren und Sklaven steht, der κύριος Χ ρ ι σ τ ό ς ist. Sachlich sind damit auch die anderen Relationen (von Mann und Frau und von Vätern und Kindern) relativiert und einem gemeinsamen Bezugspunkt untergeordnet. Dennoch bleibt eine Spannung. Für das praktische Verhalten im Haus wird in den Haustafeln die Unterordnung der Frau unter den Mann eingeschärft. Was war der Grund für diese Entscheidung? Man muß die urchristliche Option im Rahmen der damaligen gesellschaftlichen Auseinandersetzung sehen. Zwar wäre es anachronistisch, von einer antiken Frauenemanzipations54

Vielleicht war dafür der theologische Druck einer fortlaufenden Zeit noch nicht groß genug!

Im Spannungsfeld von Protologie und Eschatologie

251

bewegung zu sprechen. Doch gab es in der frühen Kaiserzeit durchaus emanzipatorische Tendenzen, die ihrerseits im Gegenzug patriarchalische Tendenzen auf den Plan riefen. Der Ausgleich zwischen diesen beiden Fronten wurde im Rückgriff auf die literarische Gattung der »Ökonomik« gesucht, der Lehre von der rechten Führung eines ο ί κ ο ς . 5 5 Die Folge war eine gemäßigte Haltung zwischen den extremen Fronten: Dem Hausherrn (pater familias) wird in traditioneller Weise die potestas zuerkannt, er soll diese aber in allen häuslichen Beziehungen maßvoll und mit Respekt ausüben. Die Frau soll sich dem Mann »unterordnen«, der Mann aber soll die Frau »lieben«, d.h. ihr mit Respekt und Hochachtung begegnen. Die neutestamentliche Haustafeltradition läßt bis in den Sprachgebrauch hinein erkennen, daß das Urchristentum aus den verschiedenen Modellen des damaligen gesellschaftlichen Diskurses eines, nämlich das mittlere, herausgreift. Von ihren inhaltlichen Grundsätzen her ist die Ethik der Haustafeln nicht spezifisch christlich, sondern folgt der Linie der »Ökonomik«. Sie ist also sozial- oder kulturgeschichtlich bedingt. Von daher besteht kein Grund, sie aus Gründen der Schöpfungslehre, des Naturrechts oder der Christologie bzw. Eschatologie als unabänderlich festzuschreiben. Allerdings muß man sehen, daß diese Ethik im konkreten Fall der Kol-Haustafel christologisch motiviert wird: Die Frauen sollen sich den Männern unterordnen, »wie es sich ziemt im Herrn«. Die Unterordnung scheint jetzt nicht nur einer bestimmten gesellschaftlichen Option zu entsprechen, sondern in der Erlösungsordnung verankert zu sein. Das hat wirkungsgeschichtlich gesehen zweifellos weitreichende Folgen gehabt und zur Stabilisierung einer patriarchalen Ordnung in der Kirche und der späteren christlichen Gesellschaft beigetragen. Interessanterweise fehlt in der Kol-Haustafel noch jede schöpfungsmäßige Begründung oder Motivation. Dies geschieht erst in der Haustafel des Epheserbriefes, und zwar in zweifacher Weise. In Eph 5,22 wird der Mann als κεφαλή της γ υ ν α ι κ ό ς bezeichnet. Das erinnert an l.Kor 11,3, wird hier aber ekklesiologisch mit dem Haupt-Sein Christi gegenüber der Kirche begründet. In Eph 5,31 wird direkt der (zweite) Schöpfungsbericht zitiert, wobei die angeführte Schriftstelle Gen 2,24 allerdings nicht die Unterordnung der Frau, sondern die Einheit von Mann und Frau betont. Diese Zurückhaltung unterstreicht m.E. relativ kräftig, daß schöpfungstheologische Begründungen für die Unterordnung der Frau unter den Mann im Urchristentum keineswegs apriori feststanden, sondern erst im

55

Vgl. dazu: Müller, Haustafel (s.o. Anm. 53) 284-290; Gielen, Tradition (s.o. Anm. 53) 55-62. Zur Kontinuität der Ökonomikliteratur von Piaton bis in die frühe Kaiserzeit vgl. D.L.Balch, Let Wives be Submissive. The Domestic Code in I Peter, Chico, CA 1981 (SBL.MS 26) 21-49. Zur Stellung der Frau in der Antike allgemein vgl. S.B.Pomeroy, Frauenleben im klassischen Altertum, Stuttgart 1985; Thraede, Ärger (s.o. Anm. 53) 35-93; Stegemann/Stegemann, Sozialgeschichte (s.o. Anm. 50) 311322.

252

Helmut Merklein

Zuge eines längeren Reflexionsprozesses eingebracht wurden. 56 Auch von daher bestätigt sich, daß der in l.Kor 11,3-9 vorausgesetzte prozessuale Charakter der Schöpfung nicht ohne weiteres als Etablierung einer Herrschaftsstruktur gedeutet werden darf. Im übrigen bedarf die christologische Motivation, mit der die Unterordnung der Frau begründet wird, einer kritischen theologischen Reflexion. Denn gerade weil der Inhalt der Forderung sich nicht unmittelbar aus dieser Motivation ableiten läßt, wird der Grund für diese nicht zuletzt in der zeitgenössischen Problematik zu suchen sein. Unter dieser Rücksicht ist daran zu erinnern, daß die Entwicklung des Urchristentums sehr stark an das »Haus« gebunden war. Das »Haus« war der Ort, in dem die christlichen Versammlungen stattfanden. In ihm wurde die Gastfreundschaft gepflegt, über die der Kontakt mit anderen Gemeinden aufrechterhalten wurde. Als Wohnsitz und Standort durchreisender Verkündiger (Apostel) war es der Ausgangspunkt missionarischer Aktivitäten. 57 Das Urchristentum war geradezu auf (die wenigen) Leute angewiesen, die (etwas geräumigere) Häuser besaßen und diese für Gemeindezwecke zur Verfügung stellten. 58 In dieser Hinsicht gehörte das »Haus« zur ökonomischen Basis des Urchristentums. Von daher wird verständlich, daß die christliche Gemeinde, sobald sie sich institutionell zu stabilisieren begann, selbst mit den Sorgen und Ängsten befaßt wurde, die zu der genannten gesellschaftlichen Auseinandersetzung führten. Emanzipatorische Bestrebungen enthielten in gewisser Weise die Tendenz zur Auflösung des »Hauses« oder konnten zumindest so verstanden werden. Eine radikale Erschütterung des ökonomischen Faktors »Haus« hätte aber die Grundlage der christlichen Gemeinden und der urchristlichen Mission gefährdet. So entschloß man sich - mit gewissen Modifikationen, auf die oben wenigstens hingewiesen wurde - zur Übernahme der mittleren gesellschaftlichen Option, die sich auf die »Ökonomik« berief. Gal 3,28 wurde wenigstens insoweit auch gesellschaftlich wirksam, als man das radikal patriarchalische Modell ablehnte. Das ökonomisch ausgewogene Modell,

56

Interessanterweise finden die schöpfungstheologischen Motivationen über die Christologie ihren Eingang in die Argumentation.

57

Vgl. dazu: Gielen, Tradition (s.o. Anm. 53) 84-99.

58

Man wird nicht fehlgehen, wenn man vermutet, daß solchen Hausbesitzern aufgrund ihrer Gastgeberrolle mit einer gewissen Selbstverständlichkeit die Funktion des Versammlungs- und Gemeindeleiters zufallen konnte. Dies wird man vor allem für die Personen erwägen dürfen, die im Zuge der Formel ή κατ' ο ί κ ο ν N.N. εκκλησία erwähnt werden: Priska und Aquila (Rom 16,3-5; l.Kor 16,19), Archippus (Phlm 2), Nympha (Kol 4,15). Zu Phöbe s.o. zu Rom 16,lf. Zu ή κατ' ο ί κ ο ν N.N. εκκλησία vgl. Gielen, Interpretation (s.o. Anm. 48).

Im Spannungsfeld von Protologie und Eschatologie

253

bei dem die letzte Entscheidungsgewalt beim Haushaltsvorstand verblieb 59 , diesen aber zu einer respekt- und verständnisvollen Haltung gegenüber den übrigen Mitgliedern des Hauses verpflichtete, schien dem Urchristentum die angemessene Antwort zu sein, mit der man als Christ έν κ υ ρ ί ω auf die anstehende gesellschaftliche Herausforderung reagieren sollte. Als Fazit kann festgehalten werden: Die Haustafel des Kolosserbriefes stellt den Versuch dar, in einer bestimmten Situation gesellschaftlicher Auseinandersetzung konkrete christliche Verhaltensmuster zu entwerfen. Im Unterschied zu l.Kor 11,2-16, wo es um das Verhalten von Frauen im Raum der Gemeinde ging, steht die Anweisung der Haustafel an die (Ehe-) Frauen im sozialen Kontext des Hauses und der ihm - insbesondere aus ökonomischen Gründen - zukommenden gesellschaftlichen Bedeutung. Insofern liegt die Stellungnahme der Haustafel schon jenseits der Grenzen der hier behandelten Fragestellung, stellt indirekt aber das notwendige sozialgeschichtliche Bindeglied zu den Aussagen der Pastoralbriefe dar. Gerade wegen dieser thematischen Randlage lassen sich unvoreingenommen einige Erwägungen zur aktuellen Bedeutung und Rezeption der Haustafeltradition anstellen. Sie macht deutlich, daß christliches Verhalten nicht unbedingt vorgegeben ist, sondern in vielen Fällen sich erst im Gespräch und in Auseinandersetzung mit den Herausforderungen der jeweiligen Zeit und Gesellschaft herausbildet. Was bisher als apostolische Weisung vorhanden war, muß anders und gegebenenfalls neu gesagt werden. Jedenfalls war der Verfasser des Kolosserbriefes davon überzeugt, mit der Haustafel eine Lösung im Sinne des Apostels vorgetragen zu haben, obwohl dieser selbst dazu nichts gesagt hatte. Bei einer Übertragung auf heute ist zu berücksichtigen, daß das »Haus« seine ökonomische Bedeutung (jedenfalls hierzulande) verloren hat, noch mehr, daß es ein »Haus« im antiken Sinne gar nicht mehr gibt. An seine Stelle ist - zumindest als bürgerliches und kirchliches Idealbild - die »Familie« getreten, die sowohl in ihrer Binnenstruktur als auch in ihrem Verhältnis zur Gesellschaft vor völlig anderen Problemen steht als das »Haus« des Kolosserbriefes. Daher gibt es heute auch kaum jemanden, der das Geschlechterverhältnis in Ehe und Familie allen Ernstes damit regeln wollte, daß er von den Frauen Unterordnung unter die Männer und von den Männern Liebe zu ihren Frauen verlangen wollte. Zu Recht! Denn wenn man heutzutage - dem Anliegen der Haustafeln vergleichbar - die gesellschaftliche Bedeutung von Ehe und Familie aufrechterhalten und stärken will, wird man beispielsweise für einen »partnerschaftlichen« Umgang der Geschlechter miteinander plädieren müssen, wie es im Kontext einer auf Freiheit und Gleichheit aufgebauten Gesellschaft angezeigt ist. Dagegen wird man auch nicht einwenden dürfen, daß die Unterordnung der Frauen in der Haustafel mit ώς άνήκεν έν κ υ ρ ί ω motiviert ist. έν κυρίω will nicht einfach das materiale ethische Verhalten (die Unterordnung) in alle Ewig-

Dies konnte in der Praxis durchaus auch eine (alleinstehende) Frau sein.

254

Helmut Merklein

keiten dogmatisch festschreiben. Vielmehr soll gesagt werden, daß dieses Verhalten die a n g e m e s s e n e Antwort darstellt, die man »im Herrn« auf die konkrete Herausforderung der Situation geben k a n n . 6 0

5. »Die Frau schweige

in der Gemeinde«

(l.Kor

14,33b-36;

l.Tim

2,8-15)

l . K o r 1 4 , 3 3 b - 3 6 stellt wahrscheinlich eine Glosse dar, die ein späterer Interpolator zur Zeit der S a m m l u n g der Paulusbriefe e i n g e s c h o b e n h a t . 6 1 Inhaltlich b e w e g t sich die Regel auf d e m Niveau v o n l . T i m 2 , 8 - 1 5 , weshalb die beiden Stellen hier z u s a m m e n behandelt werden s o l l e n . 6 2 Mit den Pastoralbriefen befinden wir uns wohl in der zweiten nachapostolischen Genera-

60

Die Formulierung ώς άνήκεν εν κυρίφ legt es auch nicht nahe, ev κορίω strikt christologisch bzw. soteriologisch zu interpretieren. Έ ν κυρίφ hat hier eher eine ekklesiologische Note und gibt den Bereich an, in dem sich etwas geziemt: das christlich bzw. unter Christen Gehörige.

61

Vgl. ausführlich: G.Dautzenberg, Urchristliche Prophetie. Ihre Erforschung, ihre Voraussetzungen im Judentum und ihre Struktur im ersten Korintherbrief, Stuttgart u.a. 1975 (BWANT 104) 257-273; außerdem: G.Fitzer, »Das Weib schweige in der Gemeinde«. Über den unpaulinischen Charakter der mulier-taceat-Verse in l.Kor 14, München 1963 (TEH 110); C.K.Barrett, The First Epistle to the Corinthians, New York u.a. 1968, 330-333; H.Conzelmann, Der erste Brief an die Korinther, Göttingen 2 1981 (KEK 5) 298f; G.D.Fee, The First Epistle to the Corinthians, Grand Rapids, Mich. 1987 (NIC) 699-708. Anders: Schottroff, Kritik (s.o. Anm. 4) 105f, die dann aber mit einer Inkonsequenz des Paulus rechnen muß (107); vgl. Schüssler Fiorenza, Memory (s.o. Anm. 4) 230-233; Stegemann/Stegemann, Sozialgeschichte (s.o. Anm. 50) 340f: Der »vermeintliche Gegensatz zwischen l.Kor l l ( , 5 f ) und l.Kor 14(,33b36)« soll mit »zwei Sozialerfahrungen« erklärt werden: »Einerseits gottesdienstliche Begehungen (Beten, Prophezeien usw.), andererseits aber auch Beratungen bzw. Lehrgespräche (didachi: l.Kor 14,6.26)« (340). Dies ist schon deswegen nicht durchführbar, weil die Prophetie für Paulus die für den Gemeindeaufbau wichtigere Gnadengabe ist (l.Kor 14,1-5; die »Prophetie« steht in der Regel vor der »Lehre«, vgl. l.Kor 14,6; 12,28) und zudem selbst zur Belehrung beiträgt (vgl. l.Kor 14,31). Auch ist nicht einzusehen, warum den Frauen, die an der missionarischen und gemeindlichen Verkündigung teilhaben konnten (337f), die Teilnahme an der innergemeindlichen Lehre untersagt werden sollte. Daß in l.Kor 14,35 nicht »Lehre, sondern beschlußfassende Versammlung, Klärung einer Entscheidung und ihres Hintergrundes gemeint sind«, d.h. »Frauen in beratenden Versammlungen nicht reden sollen« (Baumert, Antifeminismus [s.o. Anm. 6] 127), läßt sich m.E. dem Text nicht entnehmen.

62

Zu Einzelproblemen des Textes vgl. J.Roloff, Der erste Brief an Timotheus, Zürich/Neukirchen-Vluyn 1988 (EKK XV) 125-147; L.Oberlinner, Die Pastoralbriefe. I. Kommentar zum ersten Timotheusbrief, Freiburg/Basel/Wien 1994 (HThK XI/2.1) 82109; Küchler, Schweigen (s.o. Anm. 18) 9-53; U.Wagener, Die Ordnung des »Hauses Gottes«. Der Ort von Frauen in der Ekklesiologie und Ethik der Pastoralbriefe, Tübingen 1994 (WUNT 2/65) 67-113.

Im Spannungsfeld von Protologie und Eschatologie

255

tion am Ende des 1. Jahrhunderts. 63 Erstmals beginnt sich ein institutionell verfaßtes Amt abzuzeichnen. Die entscheidenden Funktionsträger heißen έ π ί σ κ ο π ο ς (l.Tim 3,2 [vgl. 3,1]; Tit 1 J ) M und πρεσβύτερος (l.Tim 5,17.19; Tit 1,5; vgl. l.Tim 4,14). Die Frage des Monepiskopates und des Verhältnisses von Episkopen und Presbytern kann hier auf sich beruhen. 65 Die Aufgabe der Episkopen und Presbyter ist die Gemeindeleitung (vgl. l.Tim 3,1-5; 5,17; Tit 1,5-9). Darunter wird man sich aber nicht nur eine äußere Administration vorstellen dürfen. Der wichtigste Inhalt des Leitungsamtes ist vielmehr die Lehre (l.Tim 3,2; 5,17; Tit 1,9). In dieser Hinsicht übernehmen die Episkopen und Presbyter die Aufgabe der Apostelschüler (Timotheus und Titus) (l.Tim 4,11.13; 2.Tim 2,24; 4,2; Tit 2,1), die ihrerseits damit wiederum den Dienst des Apostels fortsetzen (l.Tim 2,7; 2.Tim 1,11). So entsteht eine fortlaufende Kette, durch die der Bestand der παραθήκη, des anvertrauten Gutes der Lehre des Evangeliums bzw. der Tradition 66 , gesichert werden soll (vgl. l.Tim 6,20; 2.Tim 1,12.14; 3,10). Ein sakraler Charakter wird dem Leitungsamt in den Pastoralbriefen noch nicht beigemessen. In der Ausübung des Lehramtes setzen die Episkopen und Presbyter vor allem die Wortverkündigung fort, die bislang in den Händen der Apostel bzw. innergemeindlich in den Händen der Propheten und Lehrer lag. 67 Dabei kommt es zu einer bemerkenswerten Veränderung. Während zur Zeit des Paulus auch Frauen noch selbstverständlich an der Aufgabe der Verkündigung teilhaben konnten, werden sie nun, wo das Verkündigungs- bzw. Lehramt institutionalisiert wird, davon ausgeschlossen. l.Kor 14,34: Die Frauen sollen in den Gemeindeversammlungen (έκκλησίαι) schweigen. l.Kor 14,35: Es gehört sich nicht (αίσχρόν έ σ τ ι ν ) für eine Frau, in der Gemeindeversammlung (εκκλησία) zu reden. l.Tim 2,12: Einer Frau gestatte ich nicht, daß sie lehre, auch nicht, daß sie über ihren Mann herrsche, vielmehr soll sie sich still verhalten (είναι έν η σ υ χ ί α ) . 63

Vgl. Schnelle, Einleitung (s.o. Anm. 52) 379-385.

64

Vorher schon in Phil 1,1 (zusammen mit); Act 20,28.

65

Der philologische Befund ist, daß έ π ί σ κ ο π ο ς nur im Singular und πρεσβύτερος nur im Plural vorkommt. H.v.Campenhausen u.a. haben von da aus auf den monarchischen Charakter des Bischofs geschlossen (ders., Kirchliches Amt und geistliche Vollmacht in den ersten drei Jahrhunderten, Tübingen 2 1963 [BHTh 14] 117). Wahrscheinlich ist der Singular aber generisch zu verstehen. Doch sollte man nicht von einer einfachen Gleichsetzung, sondern von einer »faktischen Identität von Presbytern und Episkopen« sprechen; so: J.Roloff, Apostolat - Verkündigung - Kirche, Gütersloh 1965, 265.

66

Vgl. dazu ebd. 244-248.

67

Ein gewisses Übergangsstadium zeichnet sich mit den »Hirten und Lehrern« des Epheserbriefes ab (Eph 4,11), für den die »Apostel und Propheten« schon eine Größe der Vergangenheit sind (Eph 2,20). Vgl. H.Merklein, Das kirchliche Amt nach dem Epheserbrief, München 1973 (StANT 33) 332-383.

256

Helmut Merklein

Diese restriktiven Aussagen stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit der einsetzenden Institutionalisierung. Es ist kein Zufall, sondern entspricht der Bedeutung des Hauses im Urchristentum, wenn nun die Gemeinde selbst nach dem Modell des ο ί κ ο ς organisiert wird. 68 Die Gemeinde ist das »Haus Gottes« (l.Tim 3,15), dessen eigentlicher »Hausherr« (δεσπότης: 2.Tim 2,21) Gott ist. Der örtliche Gemeindeleiter ist der »Haushalter Gottes« (θεοϋ ο ι κ ο ν ό μ ο ς : Tit 1,7). Das Ideal des Bischofs ist nach l.Tim 3,1-7 der gute Hausvater: (2) Der Bischof soll untadelig sein, der Mann einer einzigen Frau 6 9 , nüchtern, besonnen, von würdiger Haltung, gastfreundlich, fähig zu lehren (διδακτικός); (3) er soll kein Trinker sein, nicht gewalttätig, sondern rücksichtsvoll, nicht streitsüchtig, nicht geldgierig; (4) er soll seinem eigenen Haus gut vorstehen (τοϋ ιδίου οίκου καλώς προϊστάμενος), seine Kinder zu Gehorsam anhalten (τέκνα έ χ ο ν τ α έν υποταγή) ... (5) Wer seinem eigenen Haus nicht vorstehen kann, wie soll der für die Gemeinde Gottes (εκκλησία θεοΰ) Sorge tragen?

In dem Maße, wie sich die Gemeinde am Leitbild des »Hauses« orientierte, wurden offensichtlich auch Elemente der Haustafelethik, mit der man der gesellschaftlichen Bedeutung des Hauses gerecht zu werden versuchte, ekklesiologisch virulent und auf die Gemeinde übertragen. Dies betraf insbesondere die Position der Frauen in der Gemeinde, wobei zwischen Lehrund Leitungsamt einerseits und karitativen Funktionen andererseits zu unterscheiden ist. Während letztere in Form des Diakonenamtes (l.Tim 3 , I I ) 7 0 , vielleicht auch schon des sich herausbildenden Witwenstandes (l.Tim 5,915), für Frauen durchaus zugänglich waren, wurde ersteres ihnen ausdrücklich versagt. Der Einfluß der Haustafelethik macht sich bis in den Sprachgebrauch hinein bemerkbar, wenn etwa als Gegenbegriff zum Reden in der Gemeinde die Unterordnung (ύποτάσσεσθαι, υποταγή) erscheint (l.Kor 14,34; l.Tim 2,11), die Frauen auf ihre Ehemänner als die ihnen angemessene Bezugsinstanz festgelegt werden (l.Kor 14,35a) und ihnen ausdrücklich die Herrschaft über den Mann verboten wird (l.Tim 2,12). Die Gründe für dieses Zurückdrängen der Frauen sind vielfaltig. Auf die religionsgeschichtlichen Wurzeln einer Angst vor der erotischen Wirkung der Frau (vgl. l.Tim 2,9.14) im (hellenistischen) Judentum muß an dieser

68

Vgl. dazu J.Roloff, Die Kirche im Neuen Testament, Göttingen 1993 (GNT 10) 254256; G. Schöllgen, Hausgemeinden, OIKOE-Ekklesiologie und monarchischer Episkopat: JAC 31 (1988) 74-90.

69

Was ausgeschlossen werden soll, ist die sukzessive Polygamie.

70

Bei den »Frauen« von l.Tim 3,11 handelt es sich nicht um die Ehefrauen der Diakone, sondern um Amtsträgerinnen; vgl. Lohfink, Diakone (s.o. Anm. 38) 332-334. Auf die Frage, welche Funktion die männlichen Diakone (l.Tim 3,8-13) ausgeübt haben, muß hier nicht eingegangen werden; für die weiblichen Diakone ist die Lehr- und Leitungsfunktion aufgrund von l.Tim 2 , l l f jedenfalls ausgeschlossen.

Im Spannungsfeld von Protologie und Eschatologie

257

Stelle nicht eingegangen werden. 71 Die Erklärung, die christliche Gemeinde hätte sich auf die traditionelle Position des Judentums zurückgezogen, greift zu kurz. 72 Man wird wohl nicht an der Erkenntnis vorbeikommen, daß in der restriktiven Regelung ein gehöriger Schub patriarchaler Ängste und patriarchalen Hegemoniestrebens in der Gemeinde zum Zuge kam. Dies mag im Kontext einer Sorge um die Außenwirkung der Gemeinde in einer patriarchal geprägten Umwelt gestanden haben 73 , hatte möglicherweise aber auch innergemeindliche Anlässe. Insbesondere die Erklärung, daß die Frau »durch Kindergebären das Heil findet« (σωθήσεται δια τ ε κ ν ο γ ο ν ί α ς : l.Tim 2,15), könnte darauf hinweisen, daß die eigentlichen Adressatinnen Frauen waren, die in gnostischer Interpretation der Eschatologie die Schöpfungsordnung für überholt ansahen (in Auslegung von Gal 3,28?) und die Prolongation der alten Welt durch Kindergebären ablehnten. 74 Der Verfasser des 1. Timotheusbriefes hätte dann, wenngleich mit unzureichenden Mitteln, die schon von Paulus eingeklagte Gültigkeit der Geschlechterdifferenz in der Erlösungsordnung eingefordert. In jedem Fall dürfte deutlich sein, daß die Stellungnahme der Pastoralbriefe - ähnlich wie die der Haustafel des Kolosserbriefes - kontingent, d.h. zeit- und situationsabhängig ist. Das gilt auch für die theologischen Argumente, die in diesem Zusammenhang angeführt wurden. Im wesentlichen handelt es sich um Rückgriffe auf die alttestamentlichen Schöpfungsberichte. Was die Vorherrschaft des Mannes betrifft (l.Tim 2 , l l f ) , wird man insbesondere an Gen 3,16 zu denken haben. 75 Dem Argument, daß Adam und nicht Eva zuerst erschaffen wurde (2.Tim 2,13), steht der zweite Schöpfungsbericht Pate (Gen 2,18.2125). Im übrigen wird auf die Verführung Evas verwiesen, die aber in einseitiger Auslegung von Gen 3,6-19 als Alleinverführte vorgestellt wird (2.Tim 2,14). 76 Die Argumente mögen in der Gemeinde des Verfassers ihre Plausibilität gehabt haben. Doch resultiert diese dann aus einer bestimmten zeitbedingten Auslegungstradition, nicht aus den Texten selbst. 77

71

Vgl. Küchler, Schweigen (s.o. Anm. 18) 32-50 und passim.

72

Dafür ist die Position des Judentums doch etwas differenzierter, als gemeinhin angenommen wird; vgl. P.R.Trebilco, Jewish Communities in Asia Minor, Cambridge 1991 (MSSNTS 69) (zu den Möglichkeiten von Frauen vgl. bes. 104-126); B.Brooten, Women Leaders in the Ancient Synagogue, Chico 1982 (BJSt 36).

73

Aus diesem Kontext könnte etwa die Polemik von 2.Tim 3,6f stammen.

74

Vgl. K.Koschorke, Die Polemik der Gnostiker gegen das kirchliche Christentum, Leiden 1978 (NHSt 12) 114f.

75

Daran ist möglicherweise auch beim Verweis auf das »Gesetz« in l.Kor 14,34 zu denken; vgl. Küchler, Schweigen (s.o. Anm. 18) 58-63.

76

Den Abstand zu Paulus mag man daran erkennen, daß dieser noch von der Sünde Adams sprach (Rom 5,12-21)!

77

Vgl. Küchler, Schweigen (s.o. Anm. 18) 32-53 und passim.

258

Helmut Merklein

Damit können wir das Fazit ziehen: Mit der beginnenden Institutionalisierung des Leitungs- und Lehramtes in den Pastoralbriefen wurden die Möglichkeiten, die Frauen anfangs im Raum der Gemeinde in bezug auf Verkündigung und Lehre hatten, abrupt abgeschnitten. Der Grundsatz von Gal 3,28 war nur mehr aufrechtzuerhalten, wenn man ihn Sinne des »coram Deo« verstand. Die Übertragung der im gesellschaftlichen Diskurs vertretenen Stellungnahme zum »Haus« auf den gemeindlichen Bereich hob die Spannung zwischen Schöpfungs- und Erlösungsordnung, die Paulus noch zu wahren wußte, weitgehend auf. Eine theologisch recht einseitig konzipierte Schöpfungsordnung wurde zur ausschließlichen Kriteriologie für das, was Frauen in der Gemeinde möglich ist. Die Einheit in Christus (εις ε ί ν α ι έ ν Χ ρ ι σ τ ώ ) , die bei Paulus den Frauen noch grundsätzlich den gleichen Raum in der Gemeinde einräumte wie den Männern, verlor ihre praktische Bedeutung. Dies war die Voraussetzung, unter der die Kirchen- und Ämterordnung entstanden ist, die bis heute in der katholischen Kirche maßgeblich ist. Damit ist die kurze Geschichte einer aktiven Beteiligung von Frauen in der Gemeinde schon zu Ende, und wir können uns einigen Schlußerwägungen zuwenden.

6. Schlußerwägungen und Ausblick Der Durchgang durch die paulinische Tradition zeigt eine rasante Entwicklung. Zur Zeit des Paulus hatten Frauen auch Anteil an der Wortverkündigung. Sie betätigten sich als Missionarinnen (»Apostel«) und traten in der Gemeindeversammlung als Prophetinnen auf. Die prophetische Rede diente dem Aufbau der Gemeinde (l.Kor 14,3f); sie geschah, »damit alle lernen und ermahnt werden« (l.Kor 14,31). Im Blick auf den Gemeindeaufbau stellte sie das wichtigste Charisma dar (vgl. l.Kor 14,1.3-5.19.39). Nimmt man - nach Eph 4,1 lf - die Relevanz für den Aufbau des Leibes Christi als Kriterium für das sich herausbildende Amt 7 8 , dann hatten Frauen zumindest amtsträchtige Funktionen inne. Daß Frauen dann nicht als Trägerinnen des sich etablierenden Amtes eingesetzt wurden, hängt mit der urchristlichen Entwicklung zusammen. In der unmittelbar nachapostolischen Generation sprach sich die christliche Gemeinde unter gesellschaftlicher und ökonomischer Rücksicht für ein häusliches Ethos aus, das Grundgedanken der »Ökonomik« aufgriff und einem gemäßigten Patriarchalismus entgegenkam. Als eine Generation später die Gemeinde im Zuge einer sich ausprägenden Gemeindeordnung und Institutionalisierung sich ihrerseits am antiken Hauswesen orientierte, wurden die Frauen auch in der Gemeinde zurückgedrängt. Es ist kein Zweifel, daß wir es hier mit einer höchst kontingenten Entwick-

78

Vgl. Merklein, Amt (s.o. Anm. 67) 57-117.

Im Spannungsfeld von Protologie und Bschatologie

259

lung zu tun haben, die kaum im Sinne einer Ontologie der Kirche ausgewertet werden kann. Die Begründungen, die damals für ein Zurückdrängen der Frauen ausschlaggebend waren, sind heute völlig entfallen. Wenn Frauen heute nach mehr Beteiligung im Raum der Gemeinde verlangen, geschieht dies nicht im Affront gegen die Schöpfungsordnung, sondern eher, weil sie ihr eigenes Frau-Sein selbstbewußter wahrnehmen und in die Öffentlichkeit einbringen wollen. Das »Haus« im antiken Sinn hat seine gesellschaftliche Relevanz verloren. Läßt es sich dann noch als Leitbild einer heutigen Kirche aufrechterhalten? Viele der vor allem aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen haben deswegen auch Frauen zum Prediger- oder Priesteramt zugelassen. Nun tun sich diese Kirchen in dieser Hinsicht wohl auch leichter als die »alten« Kirchen. Für die katholische Kirche beispielsweise stellt sich sofort auch die Frage der Kontinuität von Lehramt und Tradition. Dies war auch der Grund für die eingangs zitierte päpstliche Erklärung. Vielleicht ist es hilfreich, daran zu erinnern, daß auch die oben geschilderte Entwicklung in paulinischen Gemeinden ein Teil der kirchlichen Tradition ist. Man wünschte sich, daß die Kirche von heute mit der gleichen Flexibilität auf die gesellschaftlichen und kirchlichen Herausforderungen reagierte wie die urchristlichen Gemeinden, um so - in welcher Weise auch immer - eine angemessene Antwort auf die veränderte gesellschaftliche Situation und Stellung der Frauen geben zu können. Dabei ist eine recht verstandene Gleichberechtigung ja nicht eine modische Tageserscheinung, sondern ein Menschenrecht, das nach heutiger theologischer Interpretation in der Schöpfungsordnung verankert ist. Warum sollte da das Eins-Sein in Christus, das Männern und Frauen aufgrund der Erlösungsordnung gleichermaßen zukommt, nicht doch noch Möglichkeiten eröffnen, wenn man darüber nachdenkt?

Soteriologie und Ethik im Kontext von Eschatologie und Schöpfungslehre in 2.Clem 1 v o n WILHELM PRATSCHER

Eschatologie und Schöpfungslehre sind e b e n s o w i e Soteriologie und Ethik wichtige Themenbereiche in der Arbeit des verehrten Jubilars Erich Gräßer, angefangen v o n seiner Dissertation bis hin zu seinen Arbeiten über Albert Schweitzer 1 . W a s sich in bezug auf diesen T h e m e n k o m p l e x v o m 2 . C l e mensbrief her sagen läßt, soll im f o l g e n d e n kurz skizziert werden. Das Hauptthema des 2. Clemensbriefes ist die Betonung einer entsprechenden Lebensführung als Voraussetzung für die Erlangung des zukünftig e n Heils. Insofern scheint der Verfasser tatsächlich über weiteste Strecken »eine handfeste Werkgerechtigkeit« 2 zu predigen. Gleichwohl spielen ( w e n n auch unzureichend vermittelt 3 ) Christologie und Soteriologie in der Predigt 4 eine nicht zu unterschätzende R o l l e 5 , auch w e n n sie quantitativ g a n z stark zurücktreten. S i e finden sich insbesondere in Kap. I 6 , das deshalb im f o l genden näher untersucht werden soll, w o b e i der hier v o r l i e g e n d e K o n n e x mit Eschatologie und Schöpfungslehre v o n besonderem Interesse ist. 1

Ohne jetzt einzelne Arbeiten herauszugreifen, verweise ich auf das Verzeichnis seiner Veröffentlichungen: Aufbruch und Verheißung. Gesammelte Aufsätze zum Hebräerbrief, Berlin/New York 1992 (BZNW 65) 318ff.

2

Ph.Vielhauer, Geschichte der urchristlichen Literatur. Einleitung in das Neue Testament, die Apokryphen und die Apostolischen Väter, Berlin/New York 1975, 742. Auch sonst wird dem Schreiben (nicht zu Unrecht) Gesetzlichkeit vorgeworfen, z.B. von R.Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, hg.v. O.Merk, Tübingen 9 1984, 520ff oder K.Wengst, Didache (Apostellehre), Barnabasbrief, Zweiter Klemensbrief, Brief an Diognet, Darmstadt 1984 (SUC 2) 235. Besonders pointiert urteilt E.Öfftaer, Der zweite Klemensbrief. Moralerziehung und Moralismus in der ältesten deutlichen Moralpredigt, Diss.Theol. Erlangen 1976, 267: »eine recht dürre Moralepistel«.

3

Wie besonders Bultmann, Theologie (s.o. Anm. 2) 521 betont.

4

Das Dokument ist, wie längst erkannt, kein Brief, sondern eine Predigt. Selbstbezeichnungen sind σομβουλία (15,1) und Βντεοξνς (19,1).

5

Nach A.Lindemann, Die Clemensbriefe, Tübingen 1992 (HNT 15) 196 sind »die christologischen bzw. soteriologischen Aussagen ... in gleicher Weise ernst zu nehmen wie die Mahnungen, deren Zahl bei einer συμβουλία bzw. έ ν τ ε ο ξ ι ς naturgemäß überwiegt«. Dem ist zuzustimmen, freilich ist mit einer quantitativen Betrachtung die qualitative Frage erst recht gestellt.

6

Vgl. weiter Kap. 2 sowie 3,1.3; 9,5; 11,6; 15,3.

262

Wilhelm Pratscher I

In der Regel gilt 2.Clern als kaum strukturiert. Daß die Predigt im ganzen »ohne einheitlichen Gedankengang« ist7, muß zwar im wesentlichen zugestanden werden8, das gilt aber nicht für Kap. 1. Hier scheint eine klare Struktur vorzuliegen, die folgendermaßen beschrieben werden könnte: 1-2: 3: 4: 5: 6-8:

These: Christologie und Soteriologie Folgerung I: Ethik Erneute Begründung: Soteriologie Folgerung II: Ethik Erneute Begründung: Soteriologie

V . l - 2 formulieren die These: Die richtige Christologie setzt die gottgleiche Stellung Jesu Christi in der eschatologischen Richterfunktion voraus, wobei die zukünftige Rettung mit der durch das Leiden schon erwirkten verbunden ist. V.3.5 thematisieren die Folge, die Gegenleistung, die den Angesprochenen aufgetragen ist, wobei das jeweils nur in Frageform geschieht, ohne daß diese Gegenleistungen konkretisiert werden. Christologie und Soteriologie haben keinen eigenen Stellenwert, sondern dienen als Motivation des Tuns. V.4.6-8 verstärken diese motivierende Funktion nur noch. Es wird auf das Heilshandeln Jesu verwiesen, das aus dem Status des Unheils in den des Heils versetzte.9

O.Bardenhewer, Geschichte der altkirchlichen Literatur, Freiburg i.B., I 2 1913, 488. Entsprechend variieren die Angaben in der Literatur, vgl. die Zusammenstellung bei Lindemann, Clemensbriefe (s.o. Anm. 5) 191. K.P.Donfried, The Setting of Second Clement in Early Christianity, Leiden 1974 (NT.S 38) 103ff nimmt an, der Verfasser zitiere in 1,4-8 einen in seiner Gemeinde tradierten Hymnus (»hymnic confession«). In der Tat sind gravierende Besonderheiten festzuhalten. Die wichtigsten: Zum einen ist in 1,4-8 die σωτηρία ein gegenwärtiges Heilsgut, hervorgerufen durch das Heilshandeln Jesu: Das Geschenk des Lichtes, die Annahme an Sohnes statt, die Rettung vor dem Untergang, die Berufung aus dem Nichts. Demgegenüber ist im übrigen Text das Heil zukünftig (4,1; 6,7; 7,2; 8,2 u.ö.). Immerhin fehlt der Rückverweis auf das vergangene Heilshandeln nicht ganz (vgl. nur 2,7; 3,1.3; 9,2). Es liegt zwar eine deutliche Differenz vor, aber keine ausschließliche. Zum anderen fallt - wiederum sehr bemerkenswert - die Differenz im Stil und im Vokabular auf: Im Hymnus kommen (im Unterschied zum sonstigen Text) häufig Partizipien vor, und auch eine Reihe von Hapax legomena finden sich (πηρός, νέφος, άμαύρωσις, άχλός, απώλεια und θέλησις). Ein unmittelbares Zitat scheint also durchaus gut denkbar (übernommen wird die These von Öffner, Klemensbrief [s.o. Anm. 2] 143), zumindest formuliert der Verfasser in Anlehnung an den traditionellen frühchristlichen Sprachgebrauch (der in seiner Gemeinde natürlich lebendig gewesen sein wird) und nimmt wohl auch einzelne Wendungen wörtlich auf. Nur können wir kaum sagen, ob es sich tatsächlich um wörtliche Zitate eines vorgegebenen Hymnus handelt, und vor allem, ob sie so umfangreich sind, wie Donfried annimmt; zurückhal-

Soteriologie und Ethik in 2.Clem 1

263

II Der Verfasser verweist die Angesprochenen, die ά δ ε λ φ ο ί 1 0 , in V.l unmittelbar a u f die Notwendigkeit des richtigen Verständnisses v o n Jesus Christus: ο ϋ τ ω ς δ ε ι ή μ δ ς φ ρ ο ν ε ί ν π ε ρ ί Ί η σ ο δ Χ ρ ι σ τ ο ϋ 1 1 . D i e Predigt beginnt also mit einer dogmatischen Grundforderung 1 2 . Ihr Inhalt: Ü b e r J e sus Christus ist s o zu denken ώς π ε ρ ί θ ε ο ϋ , ώς π ε ρ ί κ ρ ι τ ο ΰ ζ ώ ν τ ω ν κ α ί ν ε κ ρ ώ ν . Hinter dem ώς π ε ρ ί θ ε ο ΰ steht eine christologische Tradition, die Jesus ganz eng an Gott heranrückt und ihm schließlich überhaupt das Gottesprädikat zubilligt (vgl. nur Phil 2 , 6 ; Joh 1 , 1 ; 2 0 , 2 8 und besonders Ignatius, Eph. inscr.; 1 , 1 ; R o m . 6 , 3 u . ö . ) 1 3 . 2 . C l e m bezeichnet z w a r Christus hier nicht als G o t t 1 4 , es w ä r e freilich von seinem christologischen Ansatz her ohne weiteres m ö g l i c h 1 5 . E i n e genauere Explikation des Verhältnisses von Christus zu Gott fehlt. E s ist z . T . nicht erkennbar, ob der Verfasser in der Rede von κ ύ ρ ι ο ς , θ ε ό ς oder dgl. Gott oder Christus meint. Daß hier kein unreflektierter Sprachgebrauch vorliegt 1 6 , wird man vielleicht doch nicht annehmen, jedenfalls geht es »um die gar nicht hoch genug einzuschätzende W ü r d e « 1 7 Christi. tend: Wengst, Didache (s.o. Anm. 2) 270 Anm. 7; Lindemann, Clemensbriefe (s.o. Anm. 5) 199f. 10

Die übliche Anrede ist αδελφοί (5,1.5; 13,1; 14,1.3; 16,1), gelegentlich erweitert durch μου (7,1; 10,1; 11,5). In 19,1 werden Brüder und Schwestern angesprochen ein wichtiges Indiz für literarkritische Operationen.

11

Eine Auseinandersetzung mit ebionitischer Christologie (so z.B. J.B.Lightfoot, The Apostolic Fathers, London, 1/2 1890 [ = Hildesheim/New York 1973] 21 l f u.a.) liegt kaum vor, da sich diese These den ganzen Brief hindurch nicht mehr stützen läßt. Vielmehr dürfte eine Auseinandersetzung mit gnostischen Positionen vorliegen, so m.R. die neuere Interpretation; vgl. besonders eindrücklich R.Warns, Untersuchungen zum 2.Clemensbrief, Diss.Theol. Marburg 1985 (1989) passim.

12

Lindemann, Clemensbriefe (s.o. Anm. 5) 200.

13

Von diesem Sprachgebrauch her schließt C.Stegemann, Herkunft und Entstehung des sogenannten zweiten Klemensbriefes, Diss.Theol. Bonn 1974, 124 auf eine Herkunft der Predigt aus Syrien. Die Argumentation ist zwar nicht zwingend, aber doch sehr wahrscheinlich.

14

In der späteren Interpretation von 2.Clem 1,1 scheint das Gottesprädikat für Christus freilich unproblematisch gewesen zu sein, wie Photius, Bibl. 126 zeigt (vgl. O.de Gebhardt/A.Harnack, Clementis Romani ad Corinthios quae dicuntur epistulae, Leipzig 2 1876 [Patr.Apost.Opera 1/1] 110). Photius interpretiert hier allerdings völlig zu Recht vom Briefcorpus her: 12,1 redet von der Parusie Christi als der επιφάνεια τοϋ θεοΰ.

15

Entsprechend setzt 2.Clem 1,2 auch ein »Leiden Gottes« voraus; vgl. dazu Ignatius, Eph. 1,1; Rom. 6,3; Melito, Fragm. 7 (Otto, Corp.Apol. IX,416) oder Tatian, Or. 13 tun.

16

Stegemann, Herkunft (s.o. Anm. 13) 87.

17

Ebd.

264

Wilhelm Pratscher

Weiters ist über Jesus Christus zu denken ώς περί κ ρ ι τ ο ϋ ζώντων και ν ε κ ρ ώ ν . Daß damit eine Steigerung des ώς περί θεοϋ gegeben sein soll 18 , leuchtet nicht recht ein, da das Richten nur eine Teilfunktion göttlichen Handelns ist. Die nächsten sprachlichen Parallelen sind Act 10,42 und Polykarp, Phil. 2,1 (κριτής ζώντων καϊ νεκρών) 1 9 ; es liegt sprachlich und motivlich traditionelle Redeweise vor 20 . Mit dem Gerichtsmotiv kommt der eschatologische Aspekt in den Blick, wobei die Eschatologie für den Verfasser als futurische verstanden wird. Jesus Christus entscheidet als Richter auch über das zukünftige Sein der Angesprochenen. Sie werden die ganze Predigt hindurch zu einem Verhalten aufgerufen, das ein Bestehen im zukünftigen Gericht ermöglicht 21 . Die Hinzufügung von κριτής zu θεός ist somit nicht zufällig, sondern dient dazu, den eschatologischen Aspekt der Christologie herauszustreichen, um so eine (um nicht zu sagen: die) wesentliche Begründung für die folgenden moralischen Unterweisungen zu formulieren. Von der Gerichtsthematik her ist in V . l auch der Term σωτηρία futurisch-eschatologisch bestimmt. Es ist das zukünftige Heil, das durch das μικρά φ ρ ο ν ε ΐ ν 2 2 nicht gefährdet werden soll. Gleichwohl ist σωτηρία im Gesamtkontext von Kap. 1 nicht auf den futurischen Aspekt beschränkt. In V.7 bezeichnet es das Heil vom vorchristlichen Status aus, umschließt also mindestens den gegenwärtigen Heilszustand, wenn es ihn nicht sogar ausschließlich meint, wie es jedenfalls beim Verb έ σ ω σ ε ν (1,4.7) der Fall ist 23 . V.2 stellt den durch das Stichwort σωτηρία bereits angedeuteten soteriologischen Aspekt der Christologie in den Mittelpunkt. Φ ρ ο ν ε ΐ ν μικρά περί αύτοΰ (seil. Χ ρ ί σ τ ο υ ) knüpft direkt an das μικρά φ ρ ο ν ε ΐ ν περί της σωτηρίας von V.l an. Das Stichwort σωτηρία wird in dem έ λ π ί ζ ο μεν λ α β ε ί ν wiederaufgenommen 24 , dazwischen steht das αύτός = Χρισ τ ό ς . Mithin hängt das zukünftige Heil am richtigen Verständnis Jesu. 18

R.Knopf, Die Lehre der zwölf Apostel - die zwei Clemensbriefe, Tübingen 1920 (HNT.Erg.Bd. 1) 153.

19

2.Tim 4,1; l.Petr 4,5 und Barn 7,2 reden vom κρίνειν ζώντας καϊ νεκρούς. Das Herrsein über Lebende und Tote thematisiert Rom 14,9.

20

Wengst, Didache (s.o. Anm. 2) 270 Anm. 2.

21

Die Parusieerwartung hat »spornenden Charakter« (E.Gräßer, Das wandernde Gottesvolk. Zum Basismotiv des Hebräerbriefes: ders., Aufbruch (s.o. Anm. 1) 247 Anm. 80.

22

Μικρά φ ρ ο ν ε ΐ ν ist vielleicht am besten mit »geringschätzen«, »unterschätzen« zu übersetzen.

23

Zum gegenwärtigen Heilsstand gehört all das, was l,3ff über das vergangene Heilswirken Jesu formuliert; richtig Knopf, Lehre (s.o. Anm. 18) 153.

24

Έ λ π ί ζ ε ι ν und λαμβάνειν sind in 2.Clem eschatologisch geprägt; vgl. 8,4; 11,5.7; 20,3; dazu Donfried, Setting (s.o. Anm. 9) lOOf.

Soteriologie und Ethik in 2.Clem 1

265

Wird dieser gering geschätzt, hat das fatale Folgen: Es bedeutet nichts anderes, als w e n i g v o n ihm zu erwarten, seine Heilsbedeutung z u verkennen. D i e soteriologisch geprägte Christologie und die futurische Eschatologie hängen untrennbar z u s a m m e n . Jene ist der Realgrund dieser, d i e s e der Erkenntnisgrund jener. D i e Heilsbedeutung Christi zu verkennen ist Sünde, w i e implizit an den folgenden Ausführungen zu erkennen ist, nach denen schon das b l o ß e Hören einer unzureichenden Rede v o n Christus Sünde genannt wird: κ α ι o i ά κ ο ύ ο ν τ ε ς ώς π ε ρ ί μ ι κ ρ ώ ν ά μ α ρ τ ά ν ο μ ε ν 2 5 . S c h o n im Zuhören partizipiert man an der Herabsetzung Christi und macht sich insofern mitschuldig. D e m Verfasser geht es also ganz betont u m die Respektierung der Würde und Heilsbedeutung Christi. D e n n daran hängt das Heil der Adressaten - und dieses (bzw. auch sein eigenes) ist das letzte Ziel, das der Verfasser durch die ganze Schrift hindurch verfolgt. Ist mit der mangelnden Respektierung der Würde und Heilsbedeutung Christi die Sünde schon zureichend festgestellt, so e r f o l g e n nun noch z w e i soteriologische Präzisierungen, die einen j e w e i l s unterschiedlichen Verstehens- und Traditionszusammenhang voraussetzen. Beide Male geht es um Unkenntnis.

An dieser Stelle liegt ein textkritisches Problem vor. Von den insgesamt drei Handschriften des 2.Clera lesen die beiden griechischen, die Codices Alexandrinus (A) und Hierosolymitanus (H), die genannte Lesart. Ebenso dürften Timotheus von Alexandrien (Test.Patr.) und Severus von Antiochien (adv. Ioannem Grammaticum) diese Version voraussetzen, wie Zitate von 2.Clem l , l f in jeweils syrisch überlieferten Handschriften dieser Werke zeigen (Brit.Mus. Add. 12156 bzw. 12157); vgl. dazu J.B. Lightfoot, The Apostolic Fathers, London, 1/1 2 1890 ( = Hildesheim/New York 1973) 180ff. Von den Editoren bzw. Kommentatoren vertreten diese Version u.a. Φ.Βρυέννιος, Toö ev ά γ ί ο ι ς πατρός ήμών Κλήμεντος επισκόπου 'Ρώμης αί δύο πρός Κορινθίους έ π ι σ τ ο λ α ί κτλ., έν Κ ω ν σ τ α ν τ ι ν ο υ π ό λ ε ι 1875, 114; Gebhardt/Harnack, Epistulae (s.o. Aran. 14) 110; Wengst, Didache (s.o. Aran. 2) 238. Dagegen setzt die syrische Übersetzung (S) voraus: και οί άκούοντες ώς περί μικρών άμαρ τάνουσιν, και ήμεϊς άμαρτάνομεν, gefolgt u.a. von Lightfoot, Fathers 1/2, (s.o. Anm. 11) 212; F.X.Funk/K.Bihlmeyer, Die Apostolischen Väter, Tübingen 3 1970 (SQS 2/1/1) 71; Knopf, Lehre (s.o. Anm. 18) 154; Lindemann, Clemensbriefe (s.o. Anm. 5) 199. Die Entscheidung zwischen beiden Lesarten dürfte von der äußeren Textkritik her im Sinne von Α und Η zu fallen sein. Die inneren Kriterien sind freilich nicht so deutlich. So spricht der Artikel οί eher gegen Α und H; nach Lightfoot, Fathers 1/2 (s.o. Anm. 11) 212 ist diese Lesart »awkward and misplaced«, freilich spricht schon Photius, Bibl. 126 von der Nachlässigkeit des 2.Clem in bezug auf Sprache und Stil. Zudem wäre das plötzliche Auftauchen der 3.Pers.Pl. innerhalb der sonst durchgängig verwendeten l.Pers.Pl. sehr merkwürdig (wenn freilich nicht unmöglich). Eine Trennung der Angeredeten in Gäste, von denen in 3.Pers. gesprochen wird, und Gemeindeglieder, die in l.Pers. angesprochen werden (Lindemann, Clemensbriefe |s.o. Anm. 5] 200), scheint noch unglaubwürdiger zu sein, da das μικρά φρονεϊν auch in V. 1 die Gemeindeglieder meint. Nicht zuletzt bieten Α und Η die kürzere Lesart.

266

Wilhelm Pratscher

Zum einen: Sünde besteht darin, nicht zu wissen, πόθεν έκλήθημεν καν ύπό τ ί ν ο ς και εις δν τ ό π ο ν . Die Frage nach dem Woher und Wohin ist typisch für gnostisches Welt- und Selbstverständnis 26 , wie es paradigmatisch Clemens von Alexandrien für die Valentinianer bezeugt (Exc. Theod. 78,2 [GCS. Clem.Alex. 111,131]): τ ί ν ε ς ήμεν, τί γ ε γ ό ν α μ ε ν ποϋ ήμεν, [ή] ποϋ έ ν ε β λ ή θ η μ ε ν ποϋ σπεύδομεν, πόθεν λυτρούμεθα' τί γ έ ν ν η σ ι ς , τί ά ν α γ έ ν ν η σ ι ς . 2 7 Die Rede vom »Woher« des Berufenseins setzt zumindest intentional iter die Präexistenz der Angesprochenen voraus; das muß nicht notwendigerweise in den gnostischen Bereich verweisen, wäre aber in diesem Kontext gut erklärbar. Noch weniger ist die Frage nach dem Wohin allein für die Gnosis charakteristisch. Sie ist vielmehr ein, wenn nicht das entscheidende Motiv futurischer Eschatologie und ein allgemein urchristlicher Topos; wie Joh 14,2f zeigt, nicht bloß in apokalyptischer Ausprägung. Im Kontext des 2.Clem ist die Frage nach dem zukünftigen Ort von wesentlich größerer Bedeutung als die nach dem vergangenen. Der Verfasser spekuliert nicht primär über die Vergangenheit, sondern reflektiert über die Zukunft und das gegenwärtige Handeln, das dieser vorausgehen muß. Zum anderen: Die Vergangenheit spielt nun aber doch für V.2 noch eine entscheidende Rolle; allerdings ist es nicht die Präexistenz individuellen Seins, sondern das Heilshandeln Jesu Christi. In dem ύπό τ ί ν ο ς der vorangegangenen Formel ist dieser soteriologische Aspekt schon enthalten, jetzt wird er noch verdeutlicht. Sünde ist demnach auch, nicht zu wissen, οσα ύπέμεννεν Ί η σ ο ϋ ς Χ ρ ι σ τ ό ς παθεϊν έ ν ε κ α ημών. Παθεϊν als Ausdruck für das Heilshandeln Jesu im Leiden und Tod ist traditionell (Mk 8,31; 9,12 etc.; in späterer Zeit Ignatius, Smyrn. 2,1; 7,1; Barn 5,5; 7,2; MartPol 17,2 u. ö.). 2.Clem greift hier das frühchristliche Theologumenon vom stellvertretenden Sühneleiden bzw. -tod auf, tut das allerdings im unmittel26

Die Interpretation des π ό θ ε ν durch »e peccatis et perditione« (so Gebhardt-Harnack, 111 mit Hinweis auf Tit 3,3f u.a.) trifft zwar einen Teilaspekt, erklärt aber nicht die Herkunft der Formel insgesamt. Die Frage nach dem Woher und Wohin kommt auch in ganz profanem Kontext vor, Donfried, Setting (s.o. Anm. 9) 102 Anm. 2 verweist u.a. auf Jdt 10,12, wo Judith von assyrischen Soldaten befragt wird, doch trägt dergleichen freilich nichts zur Interpretation der formelhaften Redeweise bei (richtig Wengst, Didache [s.o. Anm. 2] 270 Anm. 3).

27

Vgl. weiters bes. Ev.Ver. 22,5.14f; 40,30ff. Zum Vergleich von 2.Clem 1,1-3,2 mit der valentinianischen Gnosis insbesondere des Evangelium Veritatis vgl. A.Frank, Studien zur Ekklesiologie des Hirten, II Klemens, der Didache und der Ignatiusbriefe unter besonderer Berücksichtigung der Idee einer präexistenten Kirche, Diss.Theol. München 1975, 235ff. Daß 2.Clem in der Auseinandersetzung mit der Gnosis steht und dabei auch gnostische Terminologie und Motive verwendet, ist nicht zu bestreiten, auch wenn im einzelnen jeweils Fragen gestellt werden können; vgl. H.Köster, Einführung in das Neue Testament im Rahmen der Religionsgeschichte und Kulturgeschichte der hellenistischen und römischen Zeit, Berlin 1980, 670ff; Wengst, Didache (s.o. Anm. 2) 226f bietet übersichtlich wichtige Parallelen.

Soteriologie und Ethik in 2.Clem 1

267

baren Kontext wie überhaupt in der ganzen Predigt nicht mehr. Es ist kaum zu sagen, weshalb nicht. Ist der Gedanke für den Verfasser so selbstverständlich, daß er ihn nicht näher ausführen muß, oder ist er ihm im Grunde eher fremd und erweist er damit nur der christlichen Tradition Reverenz? 28 Immerhin: V . l f formulieren das christologisch-soteriologische Grundaxiom, von dem aus die weiteren Ausführungen zu sehen sind: Christus, in seiner Stellung Gott gleich, umfaßt das Leben der Gemeinde vom Anfang bis zum Ende: vom heilschaffenden Leiden und der Berufung in das neue Sein bis hin zum zukünftigen Gericht. Das hat dann auch entsprechende Folgen für die Gestaltung des Lebens, wie der Verfasser in zwei parallelen Gedankengängen (V.3 und V.5) ausführt, wozu er jeweils ergänzend (und verstärkend) das Heilshandeln Jesu thematisiert (V.4 und V.6-8). Mit drei Fragen wird in V.3 der Hörer auf die sachgemäße Reaktion auf das Heilshandeln verwiesen: τ ί ν α οδν ήμεΐς αύτω δώσομεν ά ν τ ι μ ι σ θ ί αν, ή τ ί ν α κ α ρ π ό ν ά ξ ι ο ν οδ ήμϊν αύτός έδωκεν; π ό σ α δέ α ύ τ ω όφείλομεν δ σ ι α . Das entscheidende Stichwort ist α ν τ ι μ ι σ θ ί α . Im NT kommt es nur Rom 1,27 und 2.Kor 6,13 vor im Sinne von (negativer) Vergeltung bzw. (positiver) Erwiderung 29 . Der Term ist von größter Bedeutung für die Paränese des 2.Clem 30 . Das Heilshandeln Jesu erfordert eine Gegengabe seitens der Beschenkten, eine Gegenleistung 31 . Es liegt ein Rechtsverhältnis vor: Für das dem Menschen zuteilgewordene Heilshandeln Christi hat der Beschenkte eine Gegenleistung zu erbringen, andernfalls er des Geschenks wieder verlustig geht. Leistung zieht Leistung nach sich. Die Gültigkeit der Leistung Christi hängt vom Vorhandensein menschlicher Gegenleistung ab das ist ganz gesetzlich gedacht. Andererseits - und das ist ebenso wichtig ist menschliche Leistung eine Reaktion auf das vorhergehende(I) göttliche Handeln. Auch wenn dieses Vorgeordnetsein nur am Anfang der Predigt eine Rolle spielt, steht es doch durch diese Betonung am Anfang gleichsam wie ein Vorzeichen über dem Ganzen und sollte die (gewiß nicht zu übersehende) Gesetzlichkeit im Denken des Verfassers zumindest relativieren. Das könnte auch durch die zweite Frage geschehen, die vom καρπός redet (vgl. Gal 5,22; Rom 6,22; Mt 3,8). Doch wird auch hier durch die Charakterisierung άξιος ou ήμϊν αύτός έδωκεν wieder ein Entsprechungsverhältnis vorausgesetzt, allerdings durch das άξιος auch jede platte Moral

28

Der Hinweis auf das Leiden gewinnt auf jeden Fall eine große Bedeutung, wenn die Auseinandersetzung mit gnostischen Gruppen berücksichtigt wird. 2.Clem steht dabei ganz eindeutig auf dem Boden der Großkirche, gleichgültig, wie sein Reflexionsstand in bezug auf traditionelle frühchristliche Theologumena im einzelnen beschaffen ist.

29

In der LXX fehlt der Term.

30

Er findet sich außer in 1,3 noch in 1,5; 9,7; 11,6; 15,2.

31

So an allen Stellen mit Ausnahme von 11,6, wo der Term den eschatologischen Lohn Gottes für die guten Werke bezeichnet.

268

Wilhelm Pratscher

transzendiert und ein Gespür für eschatologisch motivierte Ethik bewahrt: das unbegrenzte göttliche Geschenk ermöglicht eine ganzheitliche Hingabe. Die dritte Frage hat durch das ό φ ε ί λ ο μ ε ν allerdings wieder einen stärker gesetzlich-rechtlichen Akzent. Die Beschenkten stehen in der Schuld des Gebers und sind zumindest aufgefordert (um nicht zu sagen: gezwungen), sie adäquat abzutragen: πόσα δσια. "Οσια meint das Gott Gebührende 32 , das Gott Gefällige, also religiöse Vollzüge im weitesten Sinne 33 . "Οσια steht parallel zu α ν τ ι μ ι σ θ ί α und καρπός, betont aber stärker den religiösen Charakter des Aufgetragenen. Auf die drei Fragen von V.3 folgen in V.4 drei Aussagesätze, die allerdings keine Antworten darstellen, sondern weitere Begründungen für das geforderte Tun. Sie haben ebenso wie V.lf soteriologischen Charakter und verstärken somit die dortige Begründung. Zunächst durch die Metapher des uns geschenkten Lichtes. Φως steht für das Heilsgut und ist schon vom metaphorischen Gehalt her als rechte Gotteserkenntnis zu verstehen, von V.6 her (wo das Motiv noch genauer ausgeführt wird) konkret als Befreiung von der heidnischen Gottesverehrung. In der frühchristlichen Tradition ist die Lichtmetaphorik weit verbreitet 34 . Als Bezeichnung des gegenwärtigen (Joh 1,4; 8,12; 12,35; l.Petr 2,9; l.Clem 36,2; 59,2 u.ö.) oder des zukünftigen (Kol 1,12; Ignatius, Rom. 6,2 u.ö.) Heilsstandes ist φως traditionell. Der Term findet sich in 2.Clem nur hier, zudem deutet der Verfasser einen Motivzusammenhang nur an, ohne ihn näher auszuführen. Eine zweite aphorismenartige Beschreibung des Heilsereignisses argumentiert mit einem Vergleich aus dem Familienleben: ώς πατήρ υιούς ημάς π ρ ο σ η γ ό ρ ε υ σ ε ν . Die Annahme an Sohnes bzw. an Kindes statt ist wiederum traditionelle Bezeichnung des gegenwärtigen (Rom 8,14; 9,26; 2.Kor 6,18; l.Joh 3,1 u.ö.) wie des zukünftigen (Mt 5,9.45par.; Lk 20,36 u.ö.) Heilsstandes. Die unterschiedliche Verwendung dieses Motivs in der Tradition spiegelt sich auch 2.Clem. Während nach der vorliegenden Stelle Christus die Sohnschaft schon zugesprochen hat, wird dies nach 9,10 Gott erst in Zukunft tun. Eine nähere theologische Vermittlung dieser unterschiedlichen Verwendung erfolgt nicht. 2.Clem geht es nicht um theologi-

32

Im Gegensatz zu δίκαια = das Menschen Gebührende, so seit Piaton, Gorg. 507b.

33

Lightfoot, Fathers 1/2 (s.o. Anm. 11) 213: »religious duties« (unter Hinweis auf Euripides, Suppl. 368: όσια περί θεούς); Knopf, Lehre (s.o. Anm. 18) 154: »was sich auf die Götter bezieht, was man ihnen zu leisten schuldig ist«; Wengst, Didache (s.o. Anm. 2) 239: »frommen Dank«; Lindemann, Clemensbriefe (s.o. Anm. 5) 199: »heilige Leistungen«.

34

Vgl. H.Conzelmann, Art. Ur-Worten* ..., die mit der archetypischen Sehnsucht des Menschen nach Gott zusammenhängen«.

Soteriologie und Ethik in 2.Clem 1

269

sehe Explikationen, sondern um die Begründung der Paränese, und dazu dienen sowohl präsentische wie futurisch-eschatologische Aussagen. Die dritte Formulierung des Heilshandelns Jesu ist άπολλυμένους ήμας εσωσεν. Σ ω ζ ε ι ν beschreibt das vergangene Heilshandeln Jesu (neben 1,4 auch 1,7; 2,7; 3,3; 9,2), meint jedoch die erst im Eschaton erfolgende endgültige Rettung (4,lf; 8,2; 13,1; 14,1; 15,1 u.ö.). Ein bestimmter Konnex zwischen den drei Beschreibungen der Entstehung des gegenwärtigen Heilsstandes besteht nicht. Zumindest die beiden ersten könnten ohne weiteres durch andere ersetzt werden. Aus Gründen der Symmetrie mit V.3 ist die Dreizahl aber zumindest naheliegend 35 . Parallel zu V.3f folgt in V.5-8 ein neuer Argumentationsgang. V.5 ersetzt die dreigliedrige Frage von V.3 durch eine zweigliedrige: π ο ί ο ν οδν α ΐ ν ο ν αύτω δώσωμεν 3 6 ή μισθόν αντιμισθίας ων έλάβομεν 3 7 . Die eine der beiden genannten Reaktionen auf das Heilshandeln Jesu Christi ist αίνος. Der Term kommt im Neuen Testament nur Mt 21,16 (in einem Zitat aus Ps 8,3) und Lk 18,43 vor und bezeichnet dort den Gott dargebrachten Lobpreis. In 2.Clem 9,10 wird das Lob ebenfalls Gott dargebracht. Dieses Gott Gebührende steht nach V.5 auch Christus zu, ganz im Einklang mit dem in V. 1 Ausgeführten. Α ί ν ο ς meint traditionellerweise das verbale Lob. 2.Clem 9,10 nennt auch das Lob mit dem Herzen, und im Kontext der gesamten Predigt ist insbesondere das Lob Gottes bzw. Christi durch das gesamte Tun im Blick. Die Wendung μισθός αντιμισθίας greift letzteres auf. Sie ist offenbar auf rhetorische Wirkung aus 38 und versucht, die Notwendigkeit des Tuns zu unterstreichen 39 . 35

Ausschlaggebend dürfte dabei die Kürze der jeweils drei Formulierungen sein. Im folgenden, zu V.3.4 parallelen Argumentationsgang in V.5.6-8, fehlt diese Symmetrie allerdings schon wieder. Sollte Kap. 1 aber wirklich (wie Donfried, Setting [s.o. Anm. 9] annimmt) ein traditioneller Hymnus vorliegen, ist er im Aufbau jedenfalls sehr lokker.

36

Α liest δώσωμεν (ebenso Lightfoot, Fathers 1/2 (s.o. Anm. 11) 213; Gebhardt/Harnack, epistulae [s.o. Anm. 14] 112), Η δώσομεν (ebenso Funk/Bihlmeyer, Väter [s.o. Anm. 25] 71; Wengst, Didache (s.o. Anm. 2) 238). Varianten in bezug auf ο oder ω sind auch sonst bezeugt, z.B. Rom 5,1; l.Kor 13,3; vgl. F.Blass/A.Debrunner, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, bearb.v. F.Rehkopf, Göttingen 14 1975, § 28. Eine sachliche Differenz zwischen beiden Formen besteht nicht.

37

ων έλάβομεν erinnert an V.4 und wird in V.6-8 fortgeführt.

38

Knopf, Lehre (s.o. Anm. 18) 154: »geziert«; Lindemann, Clemensbriefe (s.o. Anm. 5) 202: »etwas gekünstelt«. Die Übersetzungen von Lindemann, ebd. 199 (»Lohn als Gegenleistung«) und Wengst, Didache (s.o. Anm. 2) 239 (»Entgelt als Gegenleistung«) sind in ihrem Bemühen um möglichst große Nähe zum Text holprig.

39

Warns, Untersuchungen (s.o. Anm. 11) 175f sieht in V.3.5 (in Anklang an ActJoh 109) eine Anlehnung an die Abendmahlsliturgie des Verfassers. Doch sind die Frageform und der Term α ί ν ο ς als Gemeinsamkeiten eher wenig; Zurückhaltung auch bei Lindemann, Clemensbriefe (s.o. Anm. 5) 201.

270

Wilhelm Pratscher

V.6-8 bieten den zweiten Durchgang der Darstellung des Heilswerkes Jesu Christi, jetzt im Einst-Jetzt-Schema. V.6 beschreibt größtenteils das Einst. Zunächst geschieht das recht allgemein: πηροί ο ν τ ε ς τή διανοίςι. Πηρός kommt in der frühchristlichen Literatur nur hier vor, es meint »gelähmt, verstümmelt, geschwächt, in bezug auf die Augen blind« 40 . Vom folgenden Kontext her ist nicht eine partielle, sondern eine totale Verwirrung des Denkens im Blick. Konkret gemeint ist die Anbetung von Götterstatuen, was auf eine (wenigstens überwiegende) heidenchristliche Herkunft der Angesprochenen hinweist. Die Materialien λίθοι, ξύλα, χρυσός, άργυρος und χ α λ κ ό ς kommen in anderer Reihenfolge auch in der Polemik gegen heidnische Götterstatuen Apk 9,20 vor 41 . Das weitverbreitete Motiv ist traditioneller Topos der hellenistischen Synagoge und geht auf die griechische Aufklärung zurück 42 . Es ist dem Verfasser offenbar sehr geläufig. Die folgenden Ausführungen über die ehemalige heidnische Existenz sind wieder recht allgemein gehalten. Zunächst: Das frühere Leben war nur 43 Tod, wiederum ein traditioneller Gedanke (Mt 8,22 par.; Joh 5,24f; Eph 2,1.5; Kol 2,13 u.ö.); weiter: das frühere Leben war von Finsternis eingehüllt, und dort, wo Sehvermögen sein sollte, war nur Dunkel; schließlich: Nebel umhüllte 44 die Adressaten früher. Die Lösung aus der Finsternis besteht im Öffnen der Augen: άνεβλέψαμεν ... τη αύτοϋ θ ε λ ή σ ε ι . Die Metapher »Finsternis« wird gleich durch drei Termini ausgedrückt: άμαύρωσις, ά χ λ ύ ς und ν έ φ ο ς , ein Zeichen, wie wichtig es dem Verfasser ist, den Kontrast für das spätere lichtvolle Dasein zu zeichnen. Wiederum liegt im Nebeneinander von »Finsternis« und »Sehend-werden« ( = Licht) geprägte Terminologie der hellenistisch-judenchristlichen Missionspredigt vor (Act 26,18; Rom 2,19f; Eph 5,8; l.Petr 2,9; l.Clem 59,2 u.ö.).

40

W.Bauer, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, Berlin/New York 6 1988, 1322.

41

Diogn. 2,2 nennt: Stein, Kupfer, Holz, Silber, Eisen und Ton; Kerygma Petrou 2b (NTApo 5 11,39): Holz, Steine, Kupfer, Eisen, Gold und Silber; dieselben Materialien auch schon Dan 5,23; vgl. weiter Ps 113,12; 134,15; PsSal 13,10-13 u.a.

42

Z.B. Heraklit, Fragm. 5 (FVS 24) 24; vgl. schon Knopf, Lehre (s.o. Anm. 18) 154f. Daß Heiden stets zwischen der Materie einer Statue und der sie symbolisierenden Gottheit unterschieden, ist kaum anzunehmen, insofern zielt die Polemik wenigstens auf Richtiges; sie ist gleichwohl weithin bloße Polemik.

43

Βίος όλος und ούδέν drücken die Differenz zwischen dem Einst und dem Jetzt drastisch aus.

44

Die zweimalige Verwendung von περικεϊσθαι unterstreicht das rettungslose Verlorensein in der undurchdringlichen Finsternis, die von innen her nicht beseitigt werden kann.

Soteriologie und Ethik in 2.Clem 1

271

V. 7 setzt die Beschreibung des Heilshandelns Jesu durch ή λ έ η σ ε ν und έ σ ω σ ε ν fort 45 . Das vorchristliche Sein ist gekennzeichnet durch π ο λ λ ή πλάνη, άπώλεια und μηδεμία έλπίς. Πλάνη und α π ώ λ ε ι α greifen vorher Gesagtes auf (V.6: πηρός bzw. 4: ά π ό λ λ υ μ ι ) , έ λ π ί ς ist neu und verstärkt die ehemalige, jetzt gnadenhaft überwundene 46 objektive Hoffnungslosigkeit 47 . Der Vers ist (ebenso wie das ganze Kap. 1) ganz präsentisch-eschatologisch ausgerichtet. Licht, Sohnschaft, Rettung, Erbarmen sind gegenwärtige Heilsgaben, die auf dem vergangenen Heilshandeln beruhen. Ein Defizit an Heilserfahrung ist nicht im Blick. Das gilt auch für V.8, in dem abschließend dieses vergangene Heilshandeln formuliert wird 48 : έ κ ά λ ε σ ε ν γαρ ήμας ούκ όντας και ήθέλησεν έκ μή δ ν τ ο ς ε ί ν α ι ήμας. Κ α λ ε ΐ ν ist frühchristliche Bekehrungssprache (Rom 8,30; l.Kor 1,9; l.Thess 2,12; Eph 4,1; l.Petr 5,10; l.Clem 59,2 u.ö.). In 2.Clem erfolgt die Berufung durch Gott (10,1; 16,1) oder durch Christus (1,2.8; 2,4.7 u.ö.). Im vorliegenden Kontext sind vor allem ούκ οντάς und έκ μή δ ν τ ο ς von Interesse, da hier traditionelle schöpfungstheologische Terminologie auftaucht 49 . Im Zusammenhang der Betonung der unvergleichbaren und unableitbaren Macht Gottes wird im hellenistischen Judentum formelhaft auch von der Schöpfung aus dem Nichts gesprochen 50 , erstmals wie es scheint, 2.Makk 7,28: ούκ έξ ό ν τ ω ν έ π ο ί η σ ε ν αύτά ό θεός; weiters insbesondere bei Philo, Spec.Leg. IV, 187: τά γαρ μή οντα έ κ ά λ ε σ ε ν εις τό είναι (weiter Opif. 81; Migr.Abr. 183 u.ö.). Auch im apokalyptischen (syrBar 21,4; 48,8) wie im rabbinischen Judentum (GenR 1,9) ist die Vorstel45

Daß letzteres noch durch σ π λ α γ χ ν ι σ θ ε ί ς erweitert wird, zeigt die pierophore Redeweise des Verfassers; έ λ ϊ ε ΐ ν und σ π λ α γ χ ν ί ζ ε β θ α ι kommen in 2.Clem nur hier vor; σωζεσθαι ist dagegen geradezu ein Lieblingswort des Verfassers.

46

Ei μή την παρ' a ü t o ö hebt das betont am Ende von V.7 heraus.

47

Έ λ π ί ς ist nicht subjektive Hoffnung, sondern »die begründete Hoffnung« (Lindemann, Clemensbriefe [s.o. Anm. 5] 202). Daß die Heiden keine Hoffnung haben, ist nur von dem einen Retter Jesus Christus (εί μή τήν παρ' αϋτοϋ) her deutlich, vgl. analog die Beschreibung der vorchristlichen Existenz unter dem Gesetz in Rom 7,14ff.

48

Zwar wird es in Kap. 2,1 - 3,1 wieder genannt, doch nur rückblickend, zusammenfassend und durch das Zitat Jes 54,1 gleichzeitig begründend und weiterführend.

49

Die Schöpfungsthematik kommt noch in Kap. 14 und 15 vor, allerdings in einem anderen Zusammenhang. 14,1 wird im Rahmen christologisch-ekklesiologischer Ausführungen die Schaffung der pneumatischen Kirche »vor Sonne und Mond« betont, um anschließend (V.2) Gen 1,27 als Beleg für die Syzygie Christus-Kirche zu benutzen (vgl. dazu W.Pratscher, Das Kirchenverständnis des 2. Klemensbriefes: Die Kirche als historische und eschatologische Größe. FS Kurt Niederwimmer, Frankfurt a.M. u.a. 1994, lOlff). In 15,2 wird formelhaft von Gott als »unserem Schöpfer« gesprochen. Eine zu 1,8 analoge soteriologische Auswertung der Schöpfungsthematik fehlt.

50

Dahinter steht die Rede vom öv bzw. dem μή öv der griechischen Philosophie, die freilich nicht schöpfungstheologisch ausgerichtet ist.

272

Wilhelm Pratscher

lung zu finden, ebenso wie im frühen Christentum, etwa wenn Rom 4,17 betont, daß Gott das Nichtseiende ins Dasein rufe, in Kol 1,16, daß alles von Gott in Christus geschaffen sei, in Joh 1,3, daß alles durch den Logos geschaffen sei 5 1 , Hermas, Mand. 1,1 oder Vis. 1,1,6, daß Gott alles Bestehende aus dem Nichts geschaffen habe. 5 2 Dabei muß freilich gesehen werden, daß hier nirgends eine fest formulierte, eindeutige Lehre von der creatio ex nihilo entwickelt wurde, wohl aber ist diese erst im 2.Jh.n.Chr. explizierte Lehre intentional iter schon erkennbar. 53 Auch 2.Clem 1,8 ist natürlich kein Beleg für eine entwickelte creatio ex nihilo-Lehre, denn es geht hier »weder um die Schöpfung der Welt noch um die der Menschen, sondern allein um die Berufung der Menschen zum Glauben« 54 . Die Schöpfungsterminologie dient nur dazu, das neue Sein der Glaubenden zu beschreiben - hier befindet sich der Verfasser wiederum in einer langen Tradition (2.Kor 5,17; Gal 6,15; Eph 2,10.15 u.ö.), wobei in diesen Parallelen die Rede vom Nicht-Sein nicht vorliegt. Soweit ich sehe, wird in der frühchristlichen Literatur nur l.Clem 1,8 das vorherige heidnische Sein der Glaubenden als Nicht-Sein und das Heilshandeln als Ruf aus diesem Nicht-Sein bezeichnet. 55 Das Heilsgeschehen wird somit (wie in anderen Texten) schöpfungstheologisch beschrieben, allerdings in einer unge-

51

In Kol 1,16 und Joh 1,3 ist das vorherige »Nichts« in dem »Alles«, das geschaffen wird, impliziert.

52

Vgl. auch Ps.Clem.Hom. 111,32; Const.Apost. VIII, 12,7.

53

G.May, Schöpfung aus dem Nichts. Die Entstehung der Lehre von der creatio ex nihilo, Berlin/New York 1978 (AKG 48) spricht z.B. in bezug auf GenR 1,9 davon, die Vorstellung der creatio ex nihilo sei »der Sache nach« gegeben; was die neutestamentlichen Aussagen über die Schöpfung »intendieren«, sei ebenfalls mit der Vorstellung der creatio ex nihilo zu umschreiben. May betont allerdings z.R.: »Erst durch die Gnosis wird der Schöpfungsglaube zum theologischen Problem, und aus der Begegnung mit der philosophischen Metaphysik sollte sich die Notwendigkeit ergeben, die Freiheit und Voraussetzungslosigkeit von Gottes Schaffen begrifflich zu formulieren« (27); ähnlich auch schon H.-F.Weiß, Untersuchungen zur Kosmologie des hellenistischen und palästinischen Judentums, TU 97, Berlin 1966, 59ff u. passim.

54

Weiß, Untersuchungen (s.o. Anm. 53) 143.

55

Rom 4,17 steht zwar als Teil des Abrahammidraschs auch in einem heilsgeschichtlichen Zusammenhang, doch bezeichnet der Ruf aus dem Nicht-Sein ins Sein dort nicht den Beginn des Glaubens, sondern den der physischen Existenz von Welt und Mensch. Gottes heilsgeschichtliches Handeln steht in seiner Mächtigkeit parallel zu seinem Handeln in Totenerweckung und Schöpfung. Der Ton liegt »auf der stets präsenten Schöpferkraft Gottes, die sich ebenso darin erweist, daß er das Nichtseiende ruft, daß es sei, wie darin, daß er Toten neues Leben schafft« (U.Wilckens, Der Brief an die Römer. I. Rom 1-5, Zürich u.a./Neukirchen-Vluyn 21987 [EKK VI/1] 275). Eine gewisse terminologische Parallele liegt auch Rom 9,25 vor, wo Hos 2,25 im Konnex der Aufnahme von Heiden in die Kirche zitiert wird: καλέσω τόν οΰ λαόν μου λαόν μου (ähnlich l.Petr2,10).

Soteriologie und Ethik in 2.Clem 1

273

wohnlichen und, wie es scheint, durchaus kreativen Weise. Blindheit, Finsternis, Tod, Irrtum oder Verlorenheit, die in V.4.6f die vorchristliche, heidnische Existenz beschreiben, werden nun in einer aus der griechischen Philosophie stammenden und im hellenistischen Judentum zur Explikation des Schöpfungsglaubens verwendeten Terminologie neu formuliert. Dies geschieht nur andeutungsweise, der Verfasser läßt diese neue Terminologie gerade anklingen, ohne sie näher auszuführen - und ohne später noch darauf zurückzukommen. 56

III Zentrales Thema des 2. Clemensbriefes ist die Betonung des rechten Tuns als Voraussetzung des zukünftigen Heils. Die Adressaten werden unermüdlich aufgefordert, durch entsprechendes Verhalten in der Gegenwart ihre zukünftige Existenz zu sichern. Eschatologische Ausführungen dienen deshalb vornehmlich, um nicht zu sagen ausschließlich, zur Motivierung gegenwärtigen Tuns. Die Eschatologie steht ganz im Dienst der Paränese. Der stark mit der Angst vor der Zukunft operierenden Paränese fehlt so weithin das befreiende und entkrampfende Moment frühchristlicher Anweisungen zur Gestaltung der glaubenden Existenz, wie es etwa in der paulinischen Begründung der Paränese vorliegt. Dies gilt freilich nicht für den Anfang der Predigt. Kap. 1 (und in einem Nachhall 2,7; 3,1) ist das vorgängige und voraussetzungslose Heilshandeln Jesu Christi Grund für die Paränese. Die Predigthörer werden hier auf das verwiesen, was ihnen geschenkt ist - und in einer Reihe von Aussagen wird dieses Geschenk gepriesen: Licht, Kindschaft, Rettung vor dem Verderben u.dgl. Erst auf der Basis dieses Geschenks erfolgt die Aufforderung zum Tun. Dieses stellt den Hörer nicht auf sich selbst, seine Aktion ist nur Reaktion; die Paränese ist also nicht gesetzlich - und doch ist vor allem im Stichwort Αντιμισθία (im Gegensatz insbesondere zu καρπός) ein Ton im Spiel, der dann im folgenden prägend sein wird; der Verfasser betritt hier die Ebene einer auf Leistung beruhenden Gegenseitigkeit, die in Kap. 1 sonst nicht gegeben ist. Der Verfasser rezipiert in diesem Eingangsteil quantitativ und qualitativ die grundlegende frühchristliche Begründung der Paränese durch das Heilshandeln Jesu Christi. Die Ethik wird motiviert durch die Soteriologie. Damit setzt der Prediger gleichsam ein Vorzeichen, das die Predigt über gelten sollte; ein Vorzeichen, dessen theologischen Gehalt er freilich im folgenden nicht im entferntesten einzuhalten vermag. Er bleibt hinter seinem eigenen Anspruch zurück (was wiederum die Bezugnahme auf Traditionsgut nahelegt, das er nicht wirklich sachgemäß aufgreift).

Auch das könnte wieder ein Hinweis darauf sein, daß der Verfasser in Kap. 1 ein vorliegendes Traditionsstück zitiert oder zumindest terminologisch aufgreift.

274

Wilhelm Pratscher

Die in Kap. 1 im Zentrum stehende Soteriologie wird eingerahmt durch eschatologische und protologische Aussagen. In V.8 dient die Schöpfungsterminologie dazu, das (vergangene) Heilshandeln zu beschreiben; V . l f ist in der Rede von Christus als dem Richter über Lebende und Tote und von dem zukünftigen Heil die futurische Eschatologie vorgeschaltet. Eine sachliche Verbindung zwischen Eschatologie und Soteriologie erfolgt nicht - wie es scheint, hat der ganz pragmatisch ausgerichtete Verfasser daran kein Interesse.

Das Reich des Menschensohnes Ein Beitrag zur Eschatologie des Matthäus v o n JÜRGEN ROLOFF

Dreimal ist im Matthäusevangelium vom »Reich des Menschensohnes« (Mt 13,41; 16,28) bzw. vom »Reich Jesu« (Mt 20,21) die Rede. Dem Problem, das durch diese innerhalb der synoptischen Evangelien singuläre Terminologie gestellt ist, soll in den folgenden Überlegungen nachgegangen werden.

I Wir wählen 16,28 als Ausgangspunkt, weil sich von hier aus die Problemstruktur am leichtesten erschließt. Matthäus hat in 16,27f mehrere signifikante Veränderungen gegenüber seiner Markus-Vorlage (Mk 8,38 - 9,1) eingebracht. Seiner offenkundigen Intention, die Jünger als ausschließliche Adressaten des Rufes Jesu in die Nachfolge herauszustellen (Mt 16,24), entspricht der Verzicht auf die erste Hälfte des Menschensohnspruchs (Mk 8,38a) mit der Warnung an »dieses ehebrecherische und sündige Geschlecht«, das sich Jesu und seiner Worte schämt. Übernommen wird nur die zweite Hälfte mit dem Ausblick auf das zukünftige Kommen des Menschensohnes »in der Herrlichkeit seines Vaters mit seinen Engeln« (Mt 16,27a), freilich ergänzt um den für Matthäus charakteristischen Zusatz: και τότε αποδώσει έ κ ά σ τ ω κατά την π ρ α ξ ι ν αύτοϋ (Mt 16,27b). Weder auf den Gegensatz zwischen den feindseligen Menschen und dem Menschensohn noch auf das Geheimnis von dessen Identität mit dem in die Niedrigkeit der Nachfolge rufenden irdischen Jesus ist hier abgehoben 1 , sondern

Das Problem des Gebrauchs des Menschensohn-Prädikats bei Matthäus kann hier nur am Rande erörtert werden. S. dazu J.D.Kingsbury, Matthew. Structure, Christology, Kingdom, Philadelphia 1975, 113-122; U.Luz, Das Evangelium nach Matthäus. II. Mt 8-17, Zürich/Braunschweig u. Neukirchen-Vluyn 2 1996 (EKK 1/2) 497-503: 497 (Lit.!); R.Schnackenburg, Die Person Jesu Christi im Spiegel der vier Evangelien, Freiburg u.a. 1993, 120-122. Grundsätzlich kann festgehalten werden: Bei Matthäus kann sich das Menschensohn-Prädikat auf drei Phasen der Geschichte Jesu beziehen, nämlich auf öffentliches Wirken, auf Leiden, Tod und Auferstehung sowie auf die Parusie. Mit Luz, ebd. 501 sehe ich eine Präferenz für den Gebrauch der Bezeichnung da, wo es um Jesu Geschichte und seinen Weg geht. Ähnlich C.Colpe, Art. ό οϊός τοϋ άνθρωπου: ThWNT VIII,464: Matthäus bietet speziell mit seinen Neubildungen

276

Jürgen Roloff

allein darauf, daß das Verhalten der Jesus Nachfolgenden, d.h. seiner Jüngergemeinde, dem kommenden eschatologischen Gericht unterstellt werden soll. Der grandiose Ausblick auf die Parusie des Menschensohnes markiert also den bei Matthäus durchweg gegenwärtigen Gerichtshorizont; auf der Ebene des Makrotextes wird 16,27 deshalb als Vorverweis auf die Weltgerichtsszene 25,31-46 gelten können. Die am weitesten gehende Veränderung liegt jedoch in 16,28 vor. Sie gilt dem - vermutlich ursprünglich der Bewältigung des Problems der Parusieverzögerung dienenden - >Terminwort< Mk 9,1. Zunächst ist das Bemühen deutlich, es stärker in den vorhergegangenen Kontext zu integrieren: Die Einleitungsformel και ε λ ε γ ε ν αύτοϊς entfallt. Aber während im übrigen der erste Teil des Log ions, der Hinweis auf »die hier Stehenden«, fast wörtlich übernommen wird, erfährt der zweite Teil eine völlige Neuformulierung: Aus εως αν ϊ δ ω σ ι ν την β α σ ι λ ε ί α ν τοΰ θεοϋ έληλυθυΐαν εν δυνάμει wird έως αν ϊ δ ω σ ι ν τον οίον τοϋ άνθρωπου έ ρ χ ό μ ε ν ο ν έ ν τη β α σ ι λ ε ί ς α ύ τ ο ϋ . Was gab den Anlaß zu dieser Veränderung? Das formalstilistische Argument, die Einführung des Menschensohnes verstärke die Rückbindung an V.27 2 , kann schwerlich zur Erklärung herhalten, denn eben diese Rückbindung wird durch die Neueinführung der βασιλεία des Menschensohnes in Frage gestellt, nachdem die Rede vom Kommen des Menschensohnes in der δόξα des Vaters (V.27a) doch sehr viel eher den Gedanken an die Gottesherrschaft bzw. die βασιλεία των ουρανών nahegelegt hätte. Noch weniger hilfreich ist der inhaltliche Erklärungsversuch, die nochmalige betonte Erwähnung des Menschensohnes wolle tröstend auf dessen unmittelbar bevorstehende Parusie verweisen, stehe also im Zeichen akuter Naherwartung 3 . Das beruht auf einer petitio principii, da Indizien solcher Naherwartung sonst eher fehlen. Demgegenüber dürfte Erich Gräßer, dem diese Zeilen gewidmet sind, bereits vor vier Jahrzehnten auf die richtige Spur verwiesen haben, indem er die These vertrat, Matthäus verlagere »den Schwerpunkt von der Sache der Vollendung auf die Gestalt des Vollenders, nämlich auf den υιός τοϋ άνθρωπου«; sein Interesse sei ein dogmatisch-christologisches, »insofern er die unbestimmte Aussage von Mc 9 1 konkretisiert: der >Menschensohn< repräsentiert und bringt das Reich.« 4

»eine Synthese aller bis zu ihm und durch ihn entstandenen Bedeutungen«, wobei es durchweg zu einer »statischen Identifikation mit Jesus« kommt. Anders Kingsbury, a.a.O. 114, der nachweisen will, »that Matthew's primary interest in the term Son of Man has to do with its association with the parousia.« So Luz, MtEv II (s.o. Anm. 1) 495. So Luz, ebd. 495. E.Gräßer, Das Problem der Parusieverzögerung in den synoptischen Evangelien und in der Apostelgeschichte, Berlin 1957 (BZNW 22) 133. Ähnlich bereits E.Lohmeyer, Das Evangelium des Markus, Göttingen 1 1 1951 (KEK 1/2) 172.

Das Reich des Menschensohnes

277

Matthäus ist es also darum zu tun, den Zusammenhang zwischen »Menschensohn« und »Reich« herauszustellen. Damit scheint die auffallige redaktionelle Einführung des Menschensohnes erklärt zu sein5. Umso größere Rätsel gibt dann freilich die Art und Weise des hier vorausgesetzten Zusammenhanges auf. Es ist wahr: »Daß für Matthäus dieser Menschensohn Jesus ist, versteht sich von selbst«6. Keineswegs von selbst versteht sich hingegen, daß man aus dieser Stelle eine Identität von βασιλεία των ουρανών und »Reich des Menschensohnes« herauslesen dürfte, obwohl eine Reihe von Auslegern eben dies für eine kaum der Diskussion würdige Selbstverständlichkeit halten7. Eine Reihe von Beobachtungen sprechen nämlich gegen eine solche Gleichsetzung. Zunächst ist hier auf den sonstigen Gebrauch des βασιλεία-Begriffs bei Matthäus zu verweisen. Es handelt sich für ihn um einen theologischen Zentralbegriff, den er sorgsam differenzierend einsetzt8. So ersetzt er bekanntlich fast durchweg das traditionell vorgegebene Attribut τοϋ θεοϋ durch das nach rabbinischer Art Gott umschreibende Attribut των ούρανών. Seine zu vermutende Intention dabei ist es, jede gedanklich-spekulative Objektivierung zurückzuweisen. Diese Redeweise setzt ohne Zweifel das Einverständnis der Adressaten dahingehend voraus, daß eben kein anderer als Gott zugleich Urheber, Inhalt und Ziel der βασιλεία ist. Sie kann es sich von dieser Voraussetzung her leisten, das Selbstverständliche formelhaft zu umschreiben. Umso überraschender ist darum die Rede vom »Reich des Menschensohnes«. Indem hier mittels eines adnominalen Genitivs der Menschensohn mit der βασιλεία verbunden wird, ist diese Selbstverständlichkeit durchbrochen. So wird ein semantisches Signal gesetzt, das die besondere Aufmerksamkeit der Leser herausfordern und so auf die spezifische Besonderheit des hier Auszusagenden hinweisen will. Signifikant 5

Nicht aus Mk oder Q stammende Menschensohn-Stellen finden sich nur 10,23; 13,37.41; 16,13.28; 17,12; 19,28; 24,30; 25,31; 26,2, sind also vergleichsweise selten.

6

Gräßer, Problem (s.o. Anm. 4) 133.

7

So R. Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition, Göttingen 4 1958 (FRLANT 29) 203 Anm. 1; D.Marguerat, Le jugement dans l'6vangile de Matthieu, Genf 1981, erklärt kurz und bündig, »que la βασιλεία du Fils de l'homme n'est autre...pour Mt, que le royaume des cieux consid6r6 sous Tangle du jugement« (94); Matthäus setze beides gleich »sans sombrer dans l'aporie« (95); ähnlich Colpe, Art. υιός τοΰ ανθρώπου (s.o. Anm. 1) 463 (Matthäus verbinde in 16,28 »Gericht des Menschensohns u Einbruch der Gottesherrschaft ... zu einem einheitlichen Vorgang«). Differenzierter urteilt G.Strecker, Der Weg der Gerechtigkeit. Untersuchung zur Theologie des Matthäus, Göttingen 1962 (FRLANT 82) 166f Anm. 7: In den der Redaktion zugeschriebenen Stellen 16,28 und 20,21 liege eine Identifikation beider Begriffe vor, 13,41 (von Strecker für vormatthäisch gehalten) unterscheide jedoch beide Größen.

8

Hierzu und zum folgenden U.Luz, Art. βασιλεία: EWNT 1,487-489.

278

Jürgen Roloff

verstärkt wird dieses semantische Signal durch die Verbindung von >Menschensohn< und βασιλεία mittels der Präposition έ ν ( + Dativus sociativus) 9 . Sonst nämlich erscheint bei Matthäus die β α σ ι λ ε ί α durchweg im Zusammenhang anderer Zuordnungsverhältnisse: den Menschen ist sie nahegekommen (3,2; 4,17) bzw. kommt zu ihnen (6,10); man kann sie suchen (6,33), um sie als Besitz zu erhalten (5,3.10; 25,34) und in sie einzugehen (5,20; 7,21); ebenso kann sie weggenommen werden (21,3); vor allem aber ist sie der Bereich zukünftiger Heilsverwirklichung (8,11; 13,43). In alledem überschneiden sich geschehenshafter und räumlicher Aspekt in vielfältiger Weise. Gleiches gilt für das Verhältnis zwischen Jesus und der β α σ ι λ ε ί α . Einerseits ist sie der Inhalt seiner Botschaft: Jesus verkündigt das Evangelium von der β α σ ι λ ε ί α (4,23; 9,35); er erzählt sie in seinen Gleichnissen als Geschehen (13,24.31 u.ö.). Zum anderen aber - und hier drängt sich wieder der räumliche Aspekt in den Vordergrund - gibt er vollmächtig seinen Jüngern die Schlüssel zur βασιλεία (16,19) und blickt beim letzten Abendmahl auf die zukünftige Mahlgemeinschaft έν τή β α σ ι λ ε ί ς του πατρός μου aus (26,29). In alledem ist eine unmittelbare Zusammengehörigkeit zwischen Jesus und der β α σ ι λ ε ί α vorausgesetzt, die ihn von den übrigen Menschen auch den Jüngern - unterscheidet. Es ist deshalb wohl auch keineswegs ein bloßer Zufall, wenn nirgends von einem Eingehen Jesu in die βασιλεία die Rede ist 10 : Wo Jesus ist, da ist vielmehr die βασιλεία gleichermaßen gegenwärtig und wirksam; Jesus ist ihr Repräsentant. Was darum im Ausblick auf die zukünftige sichtbare Vollendung der βασιλεία von Jesus gesagt werden kann und muß, ist lediglich, daß er seinen Ort in der Mitte dieses Vollendungsgeschehens haben werde. Daß dieses Vollendungsgeschehen die β α σ ι λ ε ί α »seines Vaters« ist - und nicht etwa Jesu eigene βασιλεία -, wird gerade in 23,36 hinreichend deutlich herausgestellt. Nun könnte es freilich so aussehen, als lasse sich das Problem der Querständigkeit von Mt 16,28 innerhalb des Hauptstromes der matthäischen βασιλεία-Aussagen durch den Aufweis einer intertextuellen Beziehung entschärfen. Dies wäre nämlich der Fall, wenn sich herausstellte, daß Dan 7 der im Hintergrund stehende Bezugstext wäre. In Dan 7,14 ist von dem »Reich« des »Menschensohn-Ähnlichen« die Rede 11 . Jedoch erweist sich bei näherem Zusehen eine direkte Bezugnahme auf diesen Text als extrem unwahrscheinlich. Wäre sie intendiert gewesen, so hätte Matthäus sie durch 9

Vgl. F.Blass/A.Debrunner, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, bearb.v. F. Rehkopf, Göttingen 1 4 1975, § 198,2. Die Erwägung einer hier vorliegenden »Korrektur oder Vertauschung« von (ursprünglichem) εις und έν ist weder textlich noch sachlich begründet und bestätigt indirekt nur das Ungewöhnliche der Formulierung.

10

Im Unterschied zu Lk 22,43 (vgl. 22,30).

11

Darauf verwiesen zuletzt W.D.Davies/D.C.Allison, The Gospel According to Saint Matthew, Edinburgh, II 1991 (ICC) 678.

Das Reich des Menschensohnes

279

Übernahme weiterer Motive innerhalb des näheren Kontextes für seine Leser kenntlich machen müssen. Als Ort dafür wäre die Gerichtsschilderung in V.27a in Frage gekommen. Dort aber fehlt jeder direkte Bezug auf Dan 7; die Bildmotive verweisen vielmehr auf die Gerichtstradition der Bilderreden des äthiopischen Henoch 12 . Vor allem aber wird der auffallendste Zug von Mt 16,28, nämlich das »Kommen des Menschensohnes έν τη β α σ ι λ ε ί ς αύτοΰ«, also die charakteristische Bewegung von oben nach unten, von Dan 7,14 gerade nicht gedeckt. Dort geht es vielmehr um die Verleihung des »Reiches« an den Menschensohn-Ähnlichen durch Gott, d.h. um die Übertragung königlicher Stellung und Rechte auf ihn 13 . So muß es im Blick auf Mt 16,28 bei der Feststellung bleiben: Im Unterschied zu seiner sonstigen Rede von der βασιλεία τ ω ν ούρανών spricht Matthäus hier von der dem Menschensohn, d.h. Christus, eigenen, von ihm gebrachten β α σ ι λ ε ί α , und er tut dies keineswegs beiläufig, sondern betont und absichtsvoll. Bereits Adolf Schlatter hat den Befund in klassischer Präzision auf den Begriff gebracht: »Von Christus wird gesagt: έ ρ χ ε τ α ι έν τη β α σ ι λ ε ί ς . Er hat sie, sie ist die seine, und er bringt sie mit sich« 14 . Verhält es sich aber so, dann muß nach den konkreten theologischen Vorstellungen, die Matthäus mit dieser Unterscheidung verbindet, gefragt werden. Genauer: Es stellt sich die Aufgabe einer theologischen Ortsbestimmung des Reiches des Menschensohnes (bzw. Jesu) innerhalb der matthäischen Eschatologie, Christologie und Ekklesiologie. Anhaltspunkte dafür kann vor allem die zweite eindeutige Belegstelle für die Wendung »Reich des Menschensohnes« (13,41) einschließlich ihres Kontextes (13,36-43) liefern. Als dritter, wenn auch weit weniger eindeutiger Beleg wird aber auch noch die Erwähnung des Reiches Jesu in 20,21 heranzuziehen sein.

II Die Deutung des Unkrautgleichnisses (13,36-43) gilt mit gutem Grund als ein überwiegend von der theologischen Handschrift des Matthäus geprägtes Stück. Joachim Jeremias schrieb sie in ihrer Gesamtheit der Redaktionsar-

12

S. hierzu die detaillierte Beweisführung bei J.Theisohn, Der auserwählte Richter. Untersuchungen zum traditionsgeschichtlichen Ort der Menschensohngestalt der Bilderreden des Äthiopischen Henoch, Göttingen 1975 (StUNT 12) 178f.l87f.

13

Vgl. J.Jeremias, Neutestamentliche Theologie. I. Die Verkündigung Jesu, Gütersloh 1971, 101, der konsequent Mt 16,28 von Dan 7,14 her erklären möchte und darum als Übersetzung vorschlägt: »als König kommend«. Doch das ist ein schwerlich überzeugender exegetischer Gewaltakt.

14

A.Schlatter, Der Evangelist Matthäus. Seine Sprache, sein Ziel, seine Selbständigkeit, Stuttgart 5 1959, 524f.

280

Jürgen Roloff

beit des Evangelisten zu 15 , und viele sind ihm darin gefolgt 16 . Einige neuere Ausleger haben dem widersprochen, ohne freilich eine einheitliche, in sich schlüssige Gegenmeinung etablieren zu können. Dabei zeichneten sich zwei Grundtendenzen ab, denen beiden die Beobachtung eines erzählerischen Bruches zwischen V.39 und V.40 zugrundeliegt. So will die eine in V.37-39 ein vormatthäisches Traditionsstück identifizieren, um lediglich V.40-43 als matthäische Schöpfung gelten zu lassen 17 . Die andere hingegen hält umgekehrt V.37-39 für matthäisch und will V.40-43 als vormatthäisches apokalyptisches Traditionsstück identifizieren 18 . Diese zweite Position hat wohl die ungleich stärkeren Argumente auf ihrer Seite und ist insofern bedenkenswert 19 . Immerhin ist V.40-43 formal eine in sich geschlossene Gerichtsszene, die mit allem traditionellen Inventar ausgestattet ist. Die Möglichkeit, daß Matthäus sie als geschlossenes Traditionsstück übernommen hätte, ist darum nicht auszuschließen. Allerdings erkennen auch die Vertreter dieser Position an, daß die theologisch zentralen Begriffe in V.40-43, darunter vor allem »Reich des Menschensohnes« und »Reich ihres Vaters«, durch den Evangelisten eingetragen worden sind 20 . So hat die Debatte um mögliche traditionelle Vorlagen für unsere Fragestellung sachlich nur untergeordnete Bedeutung. In methodischer Hinsicht ist sie hingegen insofern aufschlußreich, als man an ihr geradezu symptomatisch die Folgen einer einseitigen Fixierung auf die Diachronie erkennen kann. Der erzählerische Bruch zwischen V.3739 einerseits und V.40-43 andererseits wurde zwar wahrgenommen, führte jedoch sogleich zu einem quellenkritischen Erklärungsversuch, ohne daß andere - alternative oder supplementäre - Erklärungsmöglichkeiten auf der Synchronebene des Textes hinreichend bedacht worden wären. Sehr viel

15

J. Jeremias, Die Gleichnisse Jesu, Göttingen 7 1965, 79.84.

16

So u.a. G.Baumbach, Das Verständnis des Bösen in den synoptischen Evangelien, Berlin 1963 (ThA 19) 59; G.Barth, Auseinandersetzungen um die Kirchenzucht im Umkreis des Matthäusevangeliums: ZNW 69 (1978) 158-177: 167f; Luz, MtEv II (s.o. Anm. 1) 338f.

17

So J.Friedrich, Gott im Bruder?, Stuttgart 1977 (CThM.BW 7) 66-87 aufgrund einer methodisch anfechtbaren wortstatistischen Untersuchung; H.Weder, Die Gleichnisse Jesu als Metaphern, Göttingen 2 1980 (FRLANT 120) 124 aufgrund kaum überzeugender inhaltlicher Argumente.

18

So Theisohn, Richter (s.o. Anm. 12) 190-202, der ein von den Gerichtsschilderungen des äthHen beeinflußtes apokalyptisches Traditionsstück als Vorlage vermutet; ihm folgt J.Gnilka, Das Matthäusevangelium. I. Kommentar zu Kap. 1,1 - 13,58, Freiburg u.a. 3 1993 (HThK 1/1) 499f.

19

Zur Widerlegung der ersten Position vgl. Luz, MtEv II (s.o. Anm. 1) 338f.

20

Gnilka, MtEv I (s.o. Anm. 18) 500 nennt ferner: »die Ärgernisse und Täter der Gesetzlosigkeit, die Formel vom Heulen und Zähneknirschen, die Vollendung des Äons, die Weckformel«.

Das Reich des Menschensohnes

281

mehr spricht nämlich dafür, daß dem Bruch textimmanent die Funktion zukommt, die erzählerische Spannung zwischen den beiden Erzählungsteilen V.37-39 und V.40-43 aufzubauen. Konstituiert wird diese Spannung durch das beide Teile übergreifende zentrale Thema des Reiches des Menschensohnes. Dieses Thema wird zwar erst in V.40 ausdrücklich benannt, aber es ist bereits in V.37-39 Gegenstand der Erzählung. Die Verse 37-39 geben sich zwar formal als Aneinanderreihung allegorisierender Aufschlüsselungen einzelner Begriffe des Gleichnisses vom Taumellolch (13,24-30) 21 . Daß es jedoch dabei um mehr und anderes als um einen Erklärungskatalog von Einzelheiten geht, ergibt sich bereits aus der gegenüber dem Gleichnis veränderten Abfolge. Die einzelnen Begriffserklärungen werden nämlich so zusammengefügt, daß ein neuer, eigenständiger Erzählungszusammenhang entsteht. Konstitutiv für ihn ist das Gegeneinander zweier Handlungsträger, des Menschensohnes und seines Feindes, des διάβολος. Beide führen konträre Aktionen aus. Dabei wird zunächst die Aktion des Menschensohnes mit ihrem Ergebnis geschildert (V.37.38a): Er sät - guten Samen - auf den Acker der Welt, nämlich - die Söhne des Reiches. Sodann folgt, gleichsam spiegelbildlich, aber verkürzt, die Aktion des διάβολος (V.38b.39a). Bis hierher ergibt sich eine chiastische Anordnung: A. der den guten Samen Säende -» der Menschensohn B. der Acker -» die Welt C. der gute Same -» die Söhne des Reiches C . der Taumellolch -» die Söhne des Bösen A . der den schlechten Samen Säende -» der Teufel Durch den Chiasmus wird der Menschensohn in die Anfangsposition, der Teufel hingegen in die Endposition gerückt. So gewinnt der Menschensohn die Stellung des zentralen Aktanten, während die Stellung des Teufels am Schluß diesen deutlich subordiniert. Jeder Eindruck einer Gleichgewichtigkeit der Aktionen beider ist damit vermieden. Die Aktion des Teufels erscheint als bloße nachgeordnete Re-Aktion auf das Erscheinen und Handeln des Menschensohnes. Auffällig ist im übrigen, daß die Erwähnung des Ackers (B) ohne Pendant in der Gegenüberstellung bleibt. Und doch ist sie keineswegs funktionslos. Sie bildet nämlich den Bezugspunkt für die Aussage über das Reich des Menschensohnes in V.41b und wurde vermutlich deshalb vom Erzähler eingebracht. V.39b ist ebenfalls nur in formaler Hinsicht Ausdeutung zweier Einzelheiten des Gleichnisses, nämlich der Ernte und der Engel. Im Erzählzusammenhang besteht seine Funktion nämlich in der Herausstellung einer zeitlichen Differenz: Es wird übergeblendet zur συντέλεια τοϋ αιώνος, der

21

Ebd. 499.

282

Jürgen Roloff

»Vollendung der Weltzeit«. Dadurch wird das vorher Erzählte in die Perspektive der Vorgeschichte des zukünftig Erwarteten gerückt. Dieses zukünftig, bei der »Vollendung der Weltzeit«, Erwartete wird nun im zweiten Teil (V.40-43) in Form einer stark apokalyptisch gefärbten Gerichtsszene dargestellt. Wie schon im ersten Teil, ist auch hier wieder der Menschensohn der zentrale Handlungsträger. Und zwar wird durch sein Handeln der Rückbezug auf den ersten Teil hergestellt: Er »sendet seine Engel«, damit sie έκ της βασιλείας αύτοΰ »alle Ärgernisse und Täter der Gesetzlosigkeit einsammeln« und »in den Feuerofen werfen« (V.41f). Gegenüber dieser negativen Seite des Gerichts wird die positive nur recht formelhaft und summarisch in einem Ausblick auf ihr abschließendes Ergebnis angedeutet: Die Gerechten werden an dem ihnen zugewiesenen Heilsort »leuchten wie die Sonne« (vgl. Dan 13,3 Theod.). Dieser Heilsort aber wird abschließend mit der typisch matthäischen Wendung βασιλεία τοϋ πατρός (αύτών) gekennzeichnet (vgl. 26,29). Im Blick auf unser Thema ergibt sich aus diesem Text zunächst die Bestätigung des aus 16,28 erhobenen Befundes: Matthäus unterscheidet zwischen der βασιλεία των οόρανών und der βασιλεία des Menschensohnes. Nur die erstere ist Heilsinhalt und - als βασιλεία τοϋ πατρός - zugleich endzeitlicher Heilsort. Das ist zunächst eine nur negative Feststellung. Doch darüber hinaus ermöglicht der offenkundige Rückbezug von V.41 auf die in V.37f entfaltete Vorgeschichte eine genauere inhaltliche Erfassung dessen, was Matthäus unter dem Reich des Menschensohnes versteht. Demnach scheint ein Zusammenhang zwischen dem Reich des Menschensohnes und dem κόσμος (d.h. der Menschenwelt) zu bestehen. Zum einen nämlich wird der κόσμος als der »Acker« gekennzeichnet, auf dem der Menschensohn seinen guten Samen, nämlich die »Söhne des Reiches«, ausgesät hat (V.38). Zum anderen aber wird beim zukünftigen Gericht der Menschensohn »aus seinem Reich Ärgernisse und Übeltäter« entfernen lassen (V.41b). Das könnte zunächst eine unmittelbare Identifikation der Welt mit dem Reich des Menschensohnes nahelegen. In diesem Falle wäre der Teufel der illegitime Eindringling, der seinen »Samen« auf den nicht ihm, sondern dem Menschensohn gehörenden Acker gesät hätte. Diese Deutung hätte den Vorteil, daß sie durch einen zentralen Zug des ursprünglichen Gleichnisses (13,24: έν τω άγρω αύτοϋ) abgedeckt wäre. Trotzdem dürfte sich von V.38 her eine stärkere Differenzierung nahelegen: Der Menschensohn sät auf den Acker der Welt die »Söhne des Reiches«. Beim Wort genommen heißt das: das Reich entsteht in der Welt erst dadurch, daß der Menschensohn in sie die der βασιλεία zugehörigen Menschen hineingibt. Indem aber nun gleichzeitig der Widersacher die ihm und seiner gottfeindlichen Sphäre zugehörigen Menschen in die Welt hineingibt, wird die βασιλεία bedrängt und an ihrer Entfaltung gehindert. Erst das kommende Gericht wird durch die Entfernung der dem Widersacher zugehörigen Menschen der βασιλεία des Menschensohnes den ihr zugehörigen Raum - näm-

Das Reich des Menschensohnes

283

lieh den gesamten κόσμος - eröffnen. Aber wie dem auch sei: Auf alle

Fälle ist der Bezug des Reiches des Menschensohnes auf die gesamte Menschenwelt eine unverkennbare Pointe der matthäischen Gleichnisdeutung. Dieser Bezug ist nichts Statisches. Zieht man die zeitliche Differenz zwischen den beiden erzählten Phasen V.37-39 und V.40-43 sowie die durchgehende Handlungsträgerschaft des Menschensohnes in beiden Phasen in Betracht, so wird deutlich: Thema der Gleichnisdeutung ist das Handeln des Menschensohnes, das auf die Durchsetzung seines Reiches in der gesamten Menschenwelt ausgerichtet ist. Dieses Handeln kommt trotz der Gefahrdung durch den Widersacher zum Ziel, und zwar in der Weise, daß der Menschensohn als Weltrichter die Folgen des Wirkens des Widersachers endgültig aus »seinem Reich« austilgt. Durch das Gericht bewirkt der Menschensohn also, daß sein Reich als das in Erscheinung tritt, was es bereits nach seiner ursprünglichen Absicht sein sollte, nämlich als die Sammlung der »Söhne des Reiches« in der gesamten Menschenwelt. Freilich kann dieses In-Erscheinung-Treten nicht das Endziel des erzählten Geschehens sein. Dieses Ziel ist vielmehr der Eingang der »Söhne des Reiches« in das »Reich ihres Vaters« (V.43). Das liegt nicht nur auf der Linie der hier eingesetzten apokalyptischen Gerichtstopik 22 , sondern entspricht auch ganz dem sonstigen Duktus matthäischer Eschatologie. Trotzdem ist dieser abschließende eschatologische Ausblick für die Erhebung der erzählerischen Intention des Matthäus von eher untergeordneter Bedeutung. In der Gleichnisdeutung geht es weder primär um die Beantwortung der Frage nach dem individuellen Schicksal der Menschen im Gericht, noch gar um Warnung oder Drohung 23 . Im Mittelpunkt steht allein das Wirken und Handeln Jesu bzw. des Menschensohnes. In welcher Weise begegnet es der Welt und wie kommt es innerhalb eines vorausgesetzten zeitlichen Ablaufs zu seinem Ziel? Es ist also eine primär christologische Fragestellung, die sich semantisch in der Rede von der β α σ ι λ ε ί α des Menschensohnes verdichtet. Damit ist zugleich der Unterschied zum ursprünglichen Gleichnis benannt: In 13,24-30 steht die Frage nach dem Schicksal der Heilsbotschaft, die sich für Jesu Jünger angesichts der Präsenz des Bösen stellt, im Zentrum, um mit der Mahnung zur Geduld und dem »Vertrauen auf die Gewißheit der kommenden Scheidung« 24 im Gericht be-

22

Vgl. vor allem äthHen 58,3: »Und die Gerechten werden im Licht der Sonne und die Auserwählten im Licht des ewigen Lebens sein, und die Tage ihres Lebens (werden) ohne Ende und die Tage der Heiligen ohne Zahl (sein)«; ferner äthHen 38,4; 39,7; 50,1. Hierzu Theisohn, Richter (s.o. Anm. 12) 193-200.

23

Anders Luz, MtEv II (s.o. Anm. 1) 341: Der Text sei paränetisch zu verstehen als Warnung an die Jünger: Sie sollen »aufpassen, daß sie nicht zu den σ κ ά ν δ α λ α und den Tätern der Gesetzlosigkeit gehören«. Doch dabei werden die traditionellen Gerichtsmotive m.E. überbewertet.

24

Weder, Gleichnisse (s.o. Anm. 17) 125.

284

Jürgen Roloff

antwortet zu werden. Das ist eine im Ansatz eschatologische Perspektive, die zumindest tendenziell auf eine ekklesiologische Fragestellung hin offen ist. Ob die matthäische Vorstellung vom Reich des Menschensohnes, trotz ihrer primären christologischen Ausrichtung, auch ekklesiologische Implikationen hat, wird im folgenden zu bedenken sein.

III Die direkte Identifikation des Reiches des Menschensohnes mit der Kirche hat eine gewichtige Auslegungstradition hinter sich. Sie herrschte seit altkirchlicher Zeit nahezu ungebrochen und wurde auch von den Reformatoren vertreten, für die sie ein willkommener Beleg ihres Verständnisses der Kirche als eines corpus permixtum war 25 . Auch unter neueren kritischen Exegeten, soweit sie sich nicht für eine unmittelbare Gleichsetzung der βασιλ ε ί α τοΰ θεοϋ bzw. der βασιλεία των ούρανών entscheiden mochten 26 , fand sie manche Befürworter 27 . Dagegen wurden beachtliche Einwände erhoben. Um nur deren wichtigste zu nennen: Die Erwähnung des κόσμος als des Ackers, auf den der Menschensohn sät, greift über die Kirche hinaus, und gleiches gilt von dem Gericht des Menschensohnes, das als universales Weltgericht dargestellt ist und sich gerade nicht auf den Bereich der Kirche beschränkt; Matthäus, der den Begriff έ κ κ λ η σ ί α unmittelbar vorher (16,18) betont eingeführt hatte, gebraucht ihn in 13,41 gerade nicht 28 ; der Begriff »Reich des Menschensohnes« ist »als endzeitlich-messianologische Größe konzipiert« und nicht ekklesiologisch, denn: »Die Benennung der Basileia nach dem Menschensohn drückt dessen einzigartige und bleibende Bedeutung im heilsgeschichtlichen Prozeß aus, weil Heil, Gericht und Vollendung an ihn gebunden sind« 29 . Das sind sicher zutreffende Beobachtungen. Sie schließen eine unmittelbare Identifikation von Kirche und Reich des Menschensohnes aus. Trotzdem bleiben die Kritiker in ihrem abschließen-

25

Vgl. insbesondere Confessio Augustana VIII: Die Kirche ist »die Versammlung aller Glaubigen und Heiligen, jedoch dieweil in diesem Leben viel falscher Christen und Heuchler, auch öffentlicher Sünder unter den Frommen bleiben«.

26

S.o. Anm. 5.

27

Z.B. G.Bornkamm, Enderwartung und Kirche im Matthäusevangelium, in: ders./G.Barth/H.J.Held, Überlieferung und Auslegung im Matthäusevangelium, Neukirchen-Vluyn 4 1965 (WMANT 1) 41; R.Schnackenburg, Gottes Herrschaft und Reich, Freiburg u.a. 4 1965, 115; H.E.Tödt, Der Menschensohn in der synoptischen Überlieferung, Gütersloh 2 1963, 64; Baumbach, Verständnis (s.o. Anm. 16) 60.

28

A.Vögtle, Das christologische und ekklesiologische Anliegen von Mt 28,18-20: ders., Das Evangelium und die Evangelien. Beiträge zur Evangelienforschung, Düsseldorf 1971, 253-272: 267ff.

29

Gnilka, MtEv I (s.o. Anm. 18) 502.

Das Reich des Menschensohnes

285

den Urteil über diese Problematik auffallend unentschieden. Sie räumen ein, daß das Reich des Menschensohnes etwas mit der Kirche zu tun haben dürfte, lassen jedoch die nähere Bestimmung dieses Verhältnisses offen. So kommt Anton Vögtle zu dem Schluß: »Sicher ist die Kirche im Spiel in dieser Gleichnisdeutung« 30 . Aber wie, das bleibt letztlich offen. Will man in dieser Frage weiterkommen, so genügt es nicht, nach Möglichkeiten einer Identifizierung von Kirche mit einzelnen Zügen des Textes zu suchen. Dieses Verfahren ist nicht zuletzt auch deshalb fragwürdig, weil es in der Gefahr steht, von einem Kirchenverständnis auszugehen, das nicht mit dem des Matthäus kongruent ist 31 . Auszugehen ist vielmehr von der Christologie. An welcher Stelle stehen die fraglichen Aussagen innerhalb des christologischen Gesamtduktus des Evangeliums? Hinsichtlich 13,40.42 ist der Befund eindeutig. Hier handelt es sich um eine Parusie-Aussage: Der έ ν τη σ υ ν τ ε λ ε ί ς τοϋ αιώνος zum Vollzug des abschließenden Gerichts erscheinende Menschensohn wird »sein Reich« durch die Aussonderung von »Ärgernissen und Übeltätern« reinigen. Sehr viel schwieriger ist die Entscheidung im Blick auf V.37f. In welcher Phase der Christusgeschichte setzt Matthäus das Aussäen durch den Menschensohn auf »seinem Acker«, der Menschenwelt, an? Als so gut wie ausgeschlossen kann die Gleichsetzung des Menschensohnes von V.37 mit dem irdischen Jesus gelten, obwohl sie sich auf den ersten Blick von der erwarteten Analogie zu anderen Gleichnissen (13,24.31.33) her nahelegen könnte. Zu ihr würde nämlich die Gleichsetzung des Ackers mit dem κ ό σ μ ο ς nicht passen, zumal gerade Matthäus das vorösterliche Wirken Jesu streng auf Galiläa und Judäa begrenzt sein läßt (vgl. 10,5). Hinzu käme dann als weitere Schwierigkeit die Inkonzinnität mit dem Gericht, das nach Matthäus über »alle Völker«, nicht nur über das vom vorösterlichen Jesus angesprochene Israel, ergeht 32 . Fällt diese Deutung aus, so bleiben theoretisch noch zwei weitere Möglichkeiten. Die eine könnte sich als Konsequenz aus der weisheitlichen Komponente der matthäischen Christologie ergeben. Für Matthäus ist Jesus die inkarnierte Weisheit. Über Q hinausgehend, wo Jesus als der endzeitliche prophetische Lehrer der Weisheit dargestellt war, setzt er ihn mit der Weisheit gleich. Er legt ihm Aussagen, deren traditionelles Subjekt die präexistente Weisheit war (Sir 21,23f), in fast unveränderter Form in den Mund (Mt 11,28-30); ja er läßt ihn sich unmittelbar mit dem in der Vergan-

30

Vögtle, Anliegen (s.o. Anm. 28) 267; vgl. Gnilka, MtEv I (s.o. Anm. 18) 502: Das Reich des Menschensohnes »greift über die Kirche hinaus, Kirche ist zur Welt hin offen.«

31

Eine bemerkenswerte Ausnahme bildet die Kommentierung von 13,36-43 bei Luz, MtEv II (s.o. Anm. 1)341.

32

S. hierzu Vögtle, Anliegen (s.o. Anm. 28) 269.

286

Jürgen Roloff

genheit liegenden Wirken der Weisheit in Israel identifizieren (23,34) 33 . So ist es die Weisheit selbst, die in Jesus das Wort nimmt und, zurückblickend auf ihre vielfaltigen Versuche der Sammlung Israels, die Vergeblichkeit ihres bisherigen Wirkens beklagt (23,37). Das kommt in unmittelbare Nähe zur Präexistenzvorstellung, insbesondere zu den Aussagen über das Wirken des präexistenten Logos (Joh 1,3.12). Auf diesem Hintergrund erscheint die Überlegung darüber nicht ganz abwegig, ob nicht die Beschreibung des Wirkens des Menschensohnes in Mt 13,38 demselben Vorstellungskomplex angehören könnte. Denn wenn hier davon die Rede ist, daß der Menschensohn auf seinem »Acker«, dem κ ό σ μ ο ς , die »Söhne des Reiches« als guten Samen aussät, so ließe sich das unschwer in die Nähe der Aussagen über das heilvolle Wirken des präexistenten Logos als »Licht der Menschen« in Joh 1,4 34 rücken 35 . Sollte also in Mt 13,37f das auf die gesamte Menschheit bezogene Wirken des präexistenten Sophia-Christus in den Blick genommen sein? Doch gegen diese Möglichkeit sprechen so schwerwiegende Argumente, daß sie nicht ernsthaft in Betracht gezogen werden kann. Matthäus kommt zwar in seinen Aussagen über die Weisheit in die Nähe der Präexistenzvorstellung; nirgends läßt er jedoch erkennen, daß sie ein seine christologische Konzeption bestimmender Faktor wäre. Und selbst im Falle, daß sie für ihn eine Rolle spielte, hätte er sie schwerlich eingesetzt, um ein auf die gesamte Menschenwelt gerichtetes Handeln des Präexistenten auszusagen. Das nämlich hätte der Israel-Konzentration seiner Christologie - und nicht zuletzt auch der Ausrichtung der Weisheitstradition auf Israel - diametral widersprochen. So bleibt, wie bereits Anton Vögtle erkannte 36 , als einzige realistische Deutungsmöglichkeit der Bezug von Mt 13,37f auf das Wirken des Menschensohnes in der Epoche zwischen seiner Erhöhung zum himmlischen Herrscher und seiner Parusie als Weltrichter 37 . Das heißt: Matthäus interpretiert hier jenes Geschehen, das er und seine Gemeinde in der Gegenwart erfahren und in das hinein sie unmittelbar verwickelt sind. In dieser Gegen33

Vgl. J.J.Suggs, Wisdom, Christology, and Law in Matthew's Gospel, Cambridge, Mass. 1970, 70f; E.Schweizer, Theologische Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 1989 (GNT 2) 127.

34

S. hierzu R.Schnackenburg, Das Johannesevangelium. I. Einleitung und Kommentar zu Kap. 1-4, Freiburg u.a. 1965 (HThK IV/1) 218.

35

In verstärktem Maße würde dies für die Aussage Joh 1,12 (Der Logos gibt den »Seinen« in der Welt »Vollmacht, Kinder Gottes zu werden«) gelten, falls sie im ursprünglichen Hymnus auf das Wirken des Logos vor seiner Menschwerdung bezogen gewesen wäre (so z.B. J.Becker, Das Evangelium des Johannes. I. Kapitel 1-10, Gütersloh/Würzburg 1979 [ÖTK 4/1] 70f). Doch das ist nach wie vor strittig.

36

Vögtle, Anliegen (s.o. Aran. 28) 269f.

37

So auch Kingsbury, Matthew (s.o. Anm. 1) 143; R.Pregeant, Christology Beyond Dogma. Matthew's Christ in Process Hermeneutic, Philadelphia/Missoula 1978, l l l f .

Das Reich des Menschensohnes

287

wart sät der erhöhte Christus in der ganzen Welt die »Söhne des Reiches«. Er tut das, indem er seine Jünger aussendet und sie anweist, πάντα τα έθνη, also die gesamte Menschheit, das von ihm Gebotene zu lehren (28,19). Gezeichnet wird hier also das Bild der nachösterlichen Mission, und zwar unter christologischem Aspekt und im eschatologischen Horizont: Initiator und handelndes Subjekt ist der erhöhte Menschensohn selbst; sein Handeln findet sein abschließendes Ziel und seine Erfüllung erst in der noch ausstehenden Zukunft, d.h. in der von ihm als dem zum Gericht erscheinenden Weltrichter vorzunehmenden Scheidung zwischen Gerechten und Ungerechten. Erst in der Epoche nach Ostern ist das Saatfeld des Menschensohnes der gesamte κόσμος 3 8 . Erst mit der Erhöhung Jesu nämlich wird die heilsgeschichtliche Begrenzung seines Auftrags auf Israel durchbrochen. Die Schlußszene des Evangeliums (28,18-20) benennt also gewissermaßen die sachliche Voraussetzung für 13,37f. Dort, in der Schlußszene des Evangeliums, geht es um die Erhöhung Jesu zum vollmächtigen Herrscher, dem schon jetzt, in der Gegenwart, alle έξουσία im Himmel und auf Erden gegeben ist. Ihr Thema ist keineswegs - wie hier nur angedeutet werden kann - die Einsetzung Jesu in die Stellung des Menschensohn-Weltrichters 39 , sondern die Einsetzung der Jünger als Vollzugsorgane des in der Vollmacht des Weltherrschers lehrenden Jesus. Als Ertrag dieser Überlegungen ergibt sich: Das Reich des Menschensohnes ist nach 13,37 die gesamte Menschenwelt, in der der Erhöhte in der Gegenwart seine Herrschaft in der Weise ausübt, daß er durch seine Boten seine Botschaft verkündigen läßt. Die Realisierung dieses Reiches geschieht nicht auf dem Wege der gewaltsamen Durchsetzung, sondern ausschließlich durch Glaube und Gehorsam. Deswegen haben in der gegenwärtigen Weltzeit noch feindliche Kräfte und Mächte Raum, die seine Realität verdunkeln. Erst im kommenden Gericht und der dann zu vollziehenden Scheidung wird diese Realität rückwirkend sichtbar werden können. Das Reich des Menschensohnes ist nicht die Kirche. Und zwar nicht etwa deshalb, weil es mit der Kirche nichts zu tun hätte, sondern weil die von Matthäus hier wie auch in 28,18-20 gewählte Perspektive allein die Modalitäten der Herrschaft Jesu Christi über die Welt im Blick hat. Daß er beides voneinander trennen kann, hängt mit der nüchternen Kargheit seiner Ekklesiologie zusammen. Die Kirche ist die Gemeinschaft der in die Jüngerschaft Berufenen, zum Tun des von Jesus verbindlich ausgelegten Willens Gottes Verpflichteten. Sie hat zwar die Verheißung des Mit-Seins Jesu und des Be-

38

Vgl. Kingsbury, Matthew (s.o. Anm. 1) 143: »Matthew ... depicts the world in postEaster times as ... the realm over which the Son of Man rules.«

39

Anders Gnilka, Das Matthäusevangelium. II. Kommentar zu Kap. 14-28 mit Einleitungsfragen, Freiburg u.a. 2 1992 (HThK 1/2) 507f; Luz, MtEv II (s.o. Anm. 1) 501; Schnackenburg, Person (s.o. Anm. 1) 121 (ebd. Anm. 67 weitere Vertreter dieser Position).

288

Jürgen Roloff

wahrtwerdens gegenüber allen Bedrohungen (16,18), aber sie ist weder sichtbare Realisierung des Reiches des Menschensohnes noch gar Vorwegnahme des »Reiches der Himmel«. Die Zugehörigkeit ihrer Glieder zum Reich des Menschensohnes wird sich erst im Gericht erweisen, daran nämlich, ob ihnen der Eingang in das »Reich des Vaters« gewährt werden wird (22,11-14) 40 . Das über das Reich des Menschensohnes Gesagte gilt also auch der Kirche, aber weder gilt es ihr allein, noch auch ist sie für Matthäus innerhalb des hier Gesagten ein eigener Behandlung bedürftiger Sonderfall.

IV Wir kehren nun zurück zu 16,27f, dem Ausgangspunkt unserer Überlegungen, um die zunächst noch offengebliebene Frage zu klären, welche konkreten inhaltlichen Vorstellungen Matthäus mit der Rede vom »Kommen des Menschensohnes in seinem Reich« (V.28) verbindet. Falls unsere Beobachtung zutrifft, daß er damit eine bewußte, christologisch motivierte Distinktion gegenüber der βασιλεία των ούρανών vornimmt, so steht zu erwarten, daß diese Aussage mit der von 13,36-43 sachlich kompatibel ist, zumindest jedoch, daß sie nicht zu jener im Widerspruch steht 41 . Eine solche Kompatibilität läßt sich immerhin wahrscheinlich machen. Es gibt nämlich Indizien dafür, daß 16,28 in gleicher Weise wie 13,37-39 vom Deutehorizont von 28,18-20 aus zu erschließen sein könnte 42 . An erster Stelle ist auf die Anrede an die »hier Stehenden« zu verweisen. Wenn sie nicht mehr als Reaktion auf eine akute Naherwartungsproblematik gelten kann - welchen Sinn hat sie dann? Berücksichtigt man, daß die Adressaten bei Matthäus (16,24 diff. Mk 8,34) nur die Glieder des Jüngerkreises sind, so legt sich die Antwort nahe, daß es um eine tröstende Zusage an die Jünger geht: Sie sollen schon bald, noch zu ihren Lebzeiten, die machtvolle Gegenwart des Menschensohnes »mit seinem Reich« erfahren. Diese Gegenwart wäre die Selbstkundgabe des Auferstandenen vor seinen Jüngern als himmlischer Herrscher, dem »alle Gewalt im Himmel und auf Erden« übergeben ist. Sein »Reich« ließe sich von da her inhaltlich füllen als seine weltweite Herrschaft über πάντα τά έθνη (28,19). Freilich: diese Herrschaft

40

Hierzu J.Roloff, Die Kirche im Neuen Testament, Göttingen 1993 (GNT 10) 160f.

41

Anders freilich Luz, MtEv II (s.o. Aran. 1) 495, der mit einem von Matthäus tolerierten Widerspruch zwischen 13,38.41 und 16,28 rechnet.

42

Mein folgender Auslegungsvorschlag berührt sich weithin mit dem von Davies/Allison, MtEv II (s.o. Anm. 11) 677ff zur Diskussion gestellten. Im Unterschied zu diesen Kommentatoren vermag ich allerdings in 16,28 einen gleichzeitigen Ausblick »to both the resurrection and the parousia« nicht zu erkennen, was wiederum damit zusammenhängt, daß ich 28,18-20 nicht von der Parusie-, sondern von der Erhöhungsthematik bestimmt sehe.

Das Reich des Menschensohnes

289

des Erhöhten wird nur für die Jünger als ihr Leben und Wirken bestimmende Realität erkennbar sein; ihre alle widerständigen Gewalten niederringende Macht wird erst in der Parusie des Menschensohnes und im Gericht manifest. Das scheint Matthäus andeuten zu wollen, wenn er das Attribut έν δυνάμει, das er in seiner Markus-Vorlage vorfand (Mk 9,1), nicht übernimmt. Die Abfolge der Stationen im christologischen Geschehen wäre demnach in 16,27f gegenüber 13,36-43 umgekehrt: An erster Stelle steht hier der sachlich mit 13,40-43 korrespondierende Ausblick auf das Gericht; erst an zweiter Stelle folgt der tröstende Hinweis auf die zeitliche Nähe der Manifestation des Reiches des auferstandenen Menschensohnes gegenüber den Jüngern 43 . Diese Umkehr der realen zeitlichen Abfolge läßt sich leicht erklären mit der Abhängigkeit des Matthäus von der Markus-Vorlage. Zudem gewinnt sie ihren guten Sinn innerhalb der vorausgesetzten Erzählsituation: Vor den Jüngern steht zwar nur die Drohung des kommenden Gerichts, zunächst aber gilt ihnen die Zusage der zeitlich nahen Gegenwart des Reiches des Menschensohnes.

V Die Behandlung von Mt 20,21 haben wir bis zum Schluß zurückgestellt. Auch hier ist von der βασιλεία Jesu die Rede, allerdings nicht in Verbindung mit dem Menschensohn-Prädikat. Aber das darüber Gesagte ist zu unscharf, als daß eine isolierte Betrachtung ein auch nur halbwegs eindeutiges Bild ergeben könnte. Deutlich ist lediglich, daß auch hier der Hinweis auf die β α σ ι λ ε ί α Jesu auf matthäische Redaktion zurückzuführen ist. Der Evangelist läßt in seiner Fassung des Gesprächs über die Rangordnung unter den Jüngern (20,20-28) die Mutter der Zebedaiden fordern, Jesus solle sie έν τη β α σ ι λ ε ί α σ ο υ zu seiner Rechten und Linken sitzen lassen (V.23). Dabei ersetzt er die Worte seiner Markusvorlage έν τη δόξη σου (Mk 10,37) durch έν τή β α σ ι λ ε ί α σου. Das ist ein in sich mehrdeutiger Befund. Einerseits scheint diese Eintragung vorauszusetzen, daß für die Jünger Jesu die Erwartung einer βασιλεία Jesu selbstverständlich war - so selbstverständlich, daß sogar die Mutter zweier Jünger sie an Jesus herantragen konnte. Andererseits bleibt die Legitimität dieser Erwartung, weil sie von der in ihrem Ehrgeiz fehlgeleiteten Mutter ausgeht, offen. Ernstlich zu bedenken ist darüber hinaus 43

Anders Kingsbury, Matthew (s.o. Anm. 1) 143, der 16,28 auf die Parusie beziehen, zugleich aber das Reich des Menschensohnes von 13,41 her auf die an Ostern beginnende Weltherrschaft des Erhöhten (s.o.Anm. 38) deuten will: Es gehe hier um eine Ausweitung dieses Reiches über die Parusie hinaus: »following Easter God reigns over the world in the person of Jesus Son of Man and, beyond the parousia, will continue to reign through his agency.«

290

Jürgen Roloff

auch die Möglichkeit, daß Matthäus durch die Nicht-Übernahme der Wendung έν τή δόξη σου aus Mk 10,37 eine Richtungsänderung beabsichtigt haben könnte. Diese Wendung nämlich gehört traditionell der Parusie- und Weltgerichtsthematik zu: Beim Endgericht wird der Menschensohn έν τή δόξη αϋτοϋ erscheinen (Mt 16,27; 25,31). In diesem Fall wäre die Erwartung des Reiches Jesu von der Parusie- und Gerichtserwartung abgekoppelt, und das hätte wiederum zur Folge, daß nicht eine besondere Weise der Teilhabe der Jünger am Weltgericht (vgl. 19,28), sondern, sehr viel allgemeiner, ihre Partizipation an der Macht Jesu, »wenn dieser - wie erwartet demnächst seinen königlichen Thron besteigt« 44 , zur Debatte steht. Denkt Matthäus historisierend an eine vorösterliche Erwartung der Jünger, nach der Jesus bald als messianischer König über Israel herrschen werde 45 ? Oder will er leserorientiert den Blick über die verkehrte Erwartung der Zebedaiden-Mutter hinaus auf das für seine Gemeinde wichtige Faktum der an Ostern angebrochenen Herrschaft des Erhöhten über die ganze Menschenwelt lenken? Möglich ist beides. In jedem Fall aber geht es in dem folgenden Dialog zwischen Jesus und den Zebedaiden (V.22-28) um die Klarstellung dessen, was jetzt für die Jünger ansteht, nämlich die Bereitschaft zum Leiden in der Nachfolge Jesu (V.22f) und das dienende Dasein für andere nach der Weise Jesu (V.25-28). Damit werden keineswegs Bedingungen benannt, die um der Erringung der himmlischen Herrschaftsstellung willen erbracht werden müssen. Viel eher dürfte es sich dabei um jene Anforderungen an die Jünger handeln, die sich aus der besonderen Weise ergeben, in der der Erhöhte in der Gegenwart sein Reich in der Welt zur Geltung bringt. Er tut es, indem er seine Jünger zu seinen Boten für die Welt macht, und er erwartet von diesen Boten, daß sie im leidenden Ertragen von Widerstand und in der Selbstpreisgabe des Dienens der von ihm selbst gesetzten Norm entsprechen. Nicht anders als in der gehorsamen Nachfolge realisiert sich das Reich Jesu. Verhält es sich aber so, dann kann es in diesem Reich keine besonderen Herrscherplätze geben; und darum ist auch Jesus nicht die Instanz, die sie zu vergeben vermöchte (V.23b). Sie werden vielmehr allein durch den »Vater« zugewiesen, und zwar - wie das passivum divinum οΐς ήτοίμασται andeutet - als unverdientes Geschenk der Gnade Gottes. Wenn Matthäus über seine Vorlage (Mk 10,40) hinaus die Worte ύπό τοΰ πατρός μου einfügt, so mag das ein Hinweis darauf sein, daß er hier nicht mehr an das Reich Jesu, sondern, wie schon in 13,43, an das Reich seines Vaters denkt. Freilich unterbleibt eine nähere Klärung dieser Differenz. Für sie gab der unmittelbare Kontext keinen Anlaß. 44

Gnilka, MtEv II (s.o. Anm. 39) 188.

45

So bereits Lohmeyer, Mk (s.o. Anm. 4) 221f, der allerdings die Formulierung von Mt 20,21 für die ursprüngliche hält und so auf einen realen geschichtlichen Sachverhalt zurückschließt.

Das Reich des Menschensohnes

291

VI Wir kamen zu dem Ergebnis, daß Matthäus zwischen der βασιλεία der Himmel und dem in der Auferstehung angebrochenen, bis zur Parusie reichenden Reich des Menschensohnes unterscheidet. Von daher legt sich ein Ausblick auf sachlich verwandte neutestamentliche Aussagen nahe. Wichtig ist dabei in erster Linie l.Kor 15,21-28, wo Paulus deutlich die Vorstellung einer mit der Auferweckung Jesu angebrochenen Epoche des Reiches Christi rechnet, die bis zur Entmachtung aller gottfeindlichen Mächte durch den Erhöhten und Übergabe der βασιλεία durch Christus an Gott den Vater (V.24) währen wird. Insbesondere die Verbindung des βασιλεία-Begriffs mit Christus gibt Grund zu der Annahme einer traditionsgeschichtlich vermittelten Gemeinsamkeit46: Matthäus wie Paulus dürften auf Vorstellungen frühchristlicher Apokalyptik zurückgreifen. Dieselben Traditionen lassen sich auch in der Johannesoffenbarung identifizieren. Diese nämlich schildert die Erhöhung Jesu als Inthronisation in die Stellung des Weltherrschers, dem der Vollzug des Geschichtsplanes Gottes auf das Ende hin übertragen wird (Apk 5,6-14), und sie entfaltet diese Konzeption, indem sie den »Menschensohn-Ähnlichen« als gegenwärtigen Herrscher gleichermaßen über die Welt wie über die Kirche darstellt (Apk 1,16; 2,1). Paulus und die Johannesapokalypse stimmen aber auch darin überein, daß sie ein Andauern der Christusherrschaft über den Zeitpunkt der Parusie hinaus voraussetzen: Auferstehung der Toten, Gericht und Entmachtung aller gottfeindlichen Mächte erfolgen nach der Parusie (l.Kor 15,23; Apk 19,1121); erst nach der Niederringung des Todes (l.Kor 15,26) bzw. des Satans (Apk 20,7-10) endet die Christusherrschaft47. Hier besteht nun eine wichtige Differenz zu Matthäus. Denn er scheint weder ein Andauern des Reiches des Menschensohnes über die Parusie hinaus noch eine abschließende Übergabe dieses Reiches an Gott vorauszusetzen. Diese Differenz ist verursacht durch das Zurücktreten der kosmologischen Komponente. Der Gedanke an das Reich des Menschensohnes verbindet sich für Matthäus nicht mit der Niederringung von kosmischen Mächten und Gewalten. Es ist vielmehr bestimmt durch die weltweite Gegenwart des verkündigten Evangeliums. Dem matthäischen Christus wird zwar in der Auferstehung εξουσία im Himmel wie auf Erden übertragen (Mt 28,18). Aber er übt diese in der Weise aus, daß er seine Jünger zur weltweiten Verkündigung autorisiert und diese mit seiner Gegenwart begleitet. Sein Reich, das sich in der weltweiten Verkündigung seines Willens realisiert, endet darum mit der Parusie. Sie ist verstanden als das von Jesus, dem Menschensohn, vollzogene Gericht, in dem 46

Hierzu U.Luz, Das Geschichtsverständnis des Paulus, München 1968 (BEvTh 49) 343352.

47

Ihren besonderen Akzent erhält diese Christusherrschaft in Apk 20,1-4 durch die Verbindung mit der (traditionellen?) Vorstellung des Millenniums.

292

Jürgen Roloff

für den je Einzelnen die Entscheidung über den Eintritt in die βασιλεία des Vaters fällt (Mt 25,34) - und zwar fällt diese Entscheidung aufgrund des Kriteriums des Gehorsams gegenüber seinem vorher verkündigten Willen. Eine Akzentverschiebung innerhalb der Eschatologie zeichnet sich hier ab. Matthäus hält zwar an der Naherwartung fest 48 und übernimmt zwar eine Reihe traditioneller Naherwartungstexte, aber er depotenziert sie durch die starke Gewichtung der machtvollen Gegenwart des Erhöhten in seinem Wort und der zukünftigen Entscheidung des Menschensohnes über den einzelnen Menschen 49 . Vor dem Hintergrund eines solchen verstärkten Hervortretens der Individualeschatologie wird das Fehlen von Hinweisen auf eine durch den Parusieverzug ausgelöste Krise im Matthäusevangelium verständlich.

So Gräßer, Problem (s.o. Anm. 4) 217, dessen These einer Verstärkung der Naherwartung bei Matthäus mir allerdings fraglich erscheint. Besonders markant erfolgt diese Depotenzierung dadurch, daß Matthäus die eschatologische Rede mit der (vermutlich von ihm selbst geschaffenen) Gerichtsschilderung 25,31-36 enden läßt.

Rechenschaft über die Hoffnung im Vertrauen auf Gottes Treue Zur Selbstprüfung der Kirche im Blick auf Israel v o n GERHARD SAUTER

Versteht eine christliche Kirche sich recht, wenn sie nicht auf Israel blickt? Diese Frage hat die Synode der Evangelischen Kirche im Rheinland aufgeworfen, als sie eine Ergänzung ihrer Kirchenordnung erörterte. Sie antwortete, indem sie dem Umriß ihrer Grundlagen den Satz hinzufügte: »Sie bezeugt die Treue Gottes, der an der Erwählung seines Volkes Israel festhält. Mit Israel hofft sie auf einen neuen Himmel und eine neue Erde.«1

Damit erklärt die Evangelische Kirche im Rheinland, daß sie sich von der Geschichte Israels und seiner Hoffnung her sehen und sich so selber neu verstehen will. Damit stellen sich neue Fragen, denen ich hier nachgehen möchte.2 Bisher ist das Verhältnis von »Kirche« und »Israel« in aller Regel im Blick auf die Anfänge der Kirche und ihrer allmählichen Herauslösung aus dem Judentum gesehen worden, eines für beide Seiten schmerzhaften Prozesses. Die Beziehung wurde als eine quasi genealogische betrachtet, infolgedessen zu einem historischen Sachverhalt erklärt und dem Zuständigkeitsbereich der Exegeten und Kirchenhistoriker überwiesen: Die Kirche habe diese Randbedingungen ihrer Anfänge im Grunde hinter sich gelassen, auch wenn sie immer wieder veranlaßt werde, sich mancher Gemeinsamkeiten zu erinnern. Äußerstenfalls könne man sagen, die Kirche sei aus Israel herausgewachsen. In der Lehre von der Kirche spielt dieses Verhältnis bisher kaum eine Rolle3, am ehesten noch, wenn nach den Anfängen der Kirche vor oder nach Ostern gefragt wird. Nur im ersten Falle kommt das Verhältnis zum

Verhandlungen der 45. ordentlichen rheinischen Landessynode, Tagung vom 7. bis 11. Januar 1996 in Bad Neuenahr, statt Handschrift gedruckt, o.O. o.J. [Büro der Landessynode, 1996], 88-94. Eine erste Fassung dieser Überlegungen habe ich am 24. Mai 1995 bei einem Conveniat der Evangelisch-Theologischen und der Katholisch-Theologischen Fakultät Bonn vorgetragen. Ich widme sie Herrn Kollegen Erich Gräßer, weil ihm die ökumenische Zusammenarbeit am Herzen liegt und er sich um sie verdient gemacht hat. Von K.Barths Ausführungen zur »erwählten Gemeinde Israels« im Rahmen seiner Erwählungslehre in: Die Kirchliche Dogmatik, Zollikon-Zürich; II/2 1942, 286-336 einmal abgesehen.

294

Gerhard Sauter

Judentum ernsthaft in Betracht, falls die Kirche auf das zurückgeführt werden soll, was Jesus gewollt und bewirkt hat, denn dann fällt der Blick auf Jesus von Nazareth als Glied seines Volkes. 4 Ein Vorstoß in dogmatisches Neuland dürfte erst zu erwarten sein, wenn die Ekklesiologie sich an der spannungsvollen Nähe von Israel und der Kirche orientiert, wie sie in vielen frühchristlichen Dokumenten zum Ausdruck kommt. Dem Vernehmen nach arbeitet George A. Lindbeck (Yale) an einer solchen Ekklesiologie. Es könnte wohl auch die Theologie des Neuen Testamentes befruchten, wenn versucht würde, dessen Texte daraufhin zu lesen, ob und wie ihre Autoren sich in Tuchfühlung mit Gemeinden befanden, in denen »Judenchristen« und »Heidenchristen« zusammenlebten - statt nur darauf zu achten, in welcher Nähe oder Ferne einzelne Motive der Texte zu verschiedenen jüdischen Traditionen stehen, oder nur antijudaistische Tendenzen aufzuspüren. In der Ergänzung der rheinischen Kirchenordnung wird dagegen (1) die Perspektive geändert, mit der sich die Kirche wahrnimmt, und eine Sprachform gewählt, die erlauben soll, sich an der Seite Israels zu erkennen zu geben; (2) eine vergleichende Sichtweise favorisiert, in der die Kirche sich im Rahmen einer Willenserklärung Gottes begreift, die Israel und die Kirche umschließt und einschärfen soll, daß beide wurzelhaft miteinander verbunden sind; (3) eine Gemeinsamkeit der Hoffnung behauptet, abgeleitet aus einem gemeinsamen Hoffnungsbild, das eine verbindende und verbindliche Erwartungstradition belegen soll. Diese drei Gesichtspunkte verstehen sich als theologische Wendepunkte, als Umkehr zur Erneuerung theologischen Denkens, und als solche sollen sie hier bedacht werden.

Zwei repräsentative Beispiele: H.Küng, Die Kirche, Freiburg/Basel/Wien 1967 (ÖF.E 1) 57-99: 95: »Nicht bestimmte Worte Jesu, auch nicht eigentlich seine Lehre, sondern Jesu Person als des verborgenen Messias und als des Auferstandenen war geschichtlich die Wurzel der Kirche.« - U.Kühn spricht vom »ständigen Grund der nachösterlichen Kirche im vorösterlichen Jesus«: Die Kirche, Gütersloh 1980 (HST 10) 144. - Im dogmatischen Teil des Artikels »Kirche« in TRE 18 (1989) 277-317 geht W.Härle auf dergleichen gar nicht ein, weil er die historische Frage nach den Anfängen der Kirche von der dogmatischen Frage nach ihrem »Ursprung« unterscheidet und jene historische Rückfrage übergeht. Sosehr diese Unterscheidung methodisch überzeugt - impliziert sie nicht auch einen methodischen Ausschluß der Geschichte Israels aus der Ekklesiologie? Dies muß nicht, kann aber und dürfte nicht so sein!

Rechenschaft über die Hoffnung im Vertrauen auf Gottes Treue

295

1. Wie können Christen von Gottes Treue sprechen, wenn sie dabei Israel5 im Blick haben? Die Kirche »bezeugt die Treue Gottes, der an der Erwählung seines Volkes Israel festhält«: Aus welchem Grund kann die Kirche dies sagen? Kann sie überhaupt für andere Gottes Handeln bezeugen'? Und wenn ja: Wie kann sie davon sprechen?6 Die Absicht, die hinter der geänderten Kirchenordnung steht, dürfte klar und deutlich sein: Früher war in Kirche und christlicher Theologie allzu oft von der Verwerfung Israels die Rede, abgeleitet vom jüdischen Nein zu Jesus Christus - jetzt soll das Gegenteil gesagt und damit Solidarität mit dem jüdischen Volk bekundet werden. Es bedurfte eines schwierigen Lernprozesses, um es einzusehen: Eine Verwerfung Israels auszusprechen, hatte die Kirche niemals ein Recht. Ist sie aber berechtigt, das genaue Gegenteil zu sagen? Und würde ihr früheres Fehlurteil dadurch berichtigt, daß sie nun vom Volk Israel sagt, Gott halte an seiner Erwählung fest? Woraus könnte sie das überhaupt ersehen? Aus Gottes Treue - so sagt es die geänderte Grundordnung der rheinischen Kirche - , welche die Kirche bezeugt. Eine Kirche will Gottes Treue bezeugen und sagt, daß sie dies nicht ohne den Blick auf Israel tun kann. Dies gilt es einzuschärfen! Entscheidend dürfte aber sein, wie es zu diesem Blick kommt. Darauf scheint die Kirchenordnung nicht einzugehen. Sie fixiert den Blick auf Israel. Bei näherem Zusehen zeigt sich daher, daß die Perspektive verschoben wurde. Dadurch wird eine Wahrnehmung nahegelegt, die nicht deckungsgleich ist damit, daß eine Kirche die Treue Gottes nur bezeugen kann, indem sie zugleich auf Israel blickt. Die Kirchenordnung erschließt jetzt das Verhältnis der Kirche zum heutigen Judentum aus der bleibenden Erwählung des Volkes Israel. Wenn dies »bezeugt« werden soll, kann das doch nur heißen: die Kirche vermag von Gottes Treue allein in ihrer, der Kirche, Beziehung zu Israel zu reden. Nur über Israel kann sie mit Gott zu

Nur streifen kann ich hier die Frage, ob die Verwendung der Bezeichnung »Israel« in dem Text der geänderten Kirchenordnung theologisch hinreichend reflektiert und klar genug ist. Darf sich die Kirche nicht ebenfalls als »Israel* verstehen, ohne damit dem jüdischen Volk etwas wegzunehmen und für sich zu beanspruchen? Und schließt sie sich nicht, wenn sie sagt, sie hoffe »mit Israel«, zunächst aus einer verborgenen Gemeinschaft - der Gemeinschaft des Vertrauens auf Gottes Treue - aus, um dann eine Hoffhungsgemeinschaft festzustellen, die durch ein verbindendes Hoffnungsbild begründet erscheint? Ich lasse außer acht, daß die Formulierung, die der rheinischen Synode vorlag, ein m.E. sprachlich wenig geglückter Formelkompromiß war, der kleinste gemeinsame Nenner für z.T. recht unterschiedliche Vorschläge. Jetzt muß die von der Synode beschlossene Ergänzung in ihrem Wortlaut ernst genommen und in ihrem Kontext verstanden werden. Darum verzichte ich darauf, die verwickelte Entstehungsgeschichte nochmals aufzurollen, und versuche stattdessen, zur Rezeption des Textes beizutragen.

296

Gerhard Sauter

tun bekommen. Dies soll dann auch die Gemeinsamkeit der Hoffnung unterstreichen. Das Bekenntnis zu Christus wird innerhalb dieses Verhältnisses gesehen, das Gottes Erwählung Israels und seine Verheißung für Israel geschaffen haben: Christen haben durch Jesus Christus, den Juden, Anteil daran. 7 Dieses Verständnis legt jedenfalls die »Handreichung« nahe, die den Synodalbeschluß vorbereiten sollte: »Mit Israel< bedeutet den Zusammenschluß der Kirche >mit IsraelMit Israel< bedeutet die Notwendigkeit, daß die Kirche durch Jesus Christus, den Juden als den Messias Israels und darum Retter der Welt, mit dem Volk Gottes verbunden ist« (Kirche und Israel. Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden [Handreichung für Mitglieder der Landessynode, der Kreissynoden und der Presbyterien in der Evangelischen Kirche im Rheinland Nr. 45], Düsseldorf 1993, 22). Daß Jesus Christus damit nur noch als das »Medium, durch das die Kirche aus den Heiden mit dem Volk Gottes, also den Juden, verbunden ist«, angesehen wird, ist der Kernpunkt der Kritik von N.Slenczka, Durch Jesus in den Sinaibund? Zur Änderung des Grundartikels der rheinischen Kirche: LM 34 (1995) 1720: 18. Noch einen Schritt weiter als die »Handreichung« geht B.Klappert, der meint, in Rom 9-11 sei von zwei »Gestalten des Volkes Gottes« die Rede. Mit Rücksicht auf die »Wirkungsgeschichte« der kirchlichen Judenfeindschaft möchte er deshalb die Aussage wagen, »daß die Kirche nur zusammen mit Israel und in der ständigen Orientierung an Israel die irdisch-geschichtliche Existenzform des Christus Jesus ist und bleibt« (Traktat für Israel. Die paulinische Verhältnisbestimmung von Israel und Kirche als Kriterium neutestamentlicher Sachaussagen über die Juden: Jüdische Existenz und die Erneuerung der christlichen Theologie. Versuch der Bilanz des christlich-jüdischen Dialogs für die Systematische Theologie, hg.v. M.Stöhr, München 1981 [ACJD 11] 58-137: 95). Wesentlich differenzierter folgert P. van Buren, der die dogmatische Tradition zugunsten einer - zweifellos notwendigen - Kirchenkritik nicht ausblendet. Er will aus der Trinitätslehre schließen, daß »wir, abgesehen von dem Wunder, daß der Gott Israels auch eine nichtjüdische Kirche zu sich versammelt hat, absolut nichts Uber Gott sagen könnten. Daß es Gottes Wille ist, neben seinem geliebten jüdischen Volk auch seine geliebte nichtjüdische Kirche zu haben, daß diese zweifache Realität (die aus der Geschichte des alten Israel und der nachexilischen Reform erwächst), wirklich der Wille und die Absicht Gottes ist - das ist es, was wir bekennen, wenn wir Gott als den Heiligen Geist bekennen« (Ein Modell systematischer Verhältnisbestimmung von Israel und Kirche: ebd. 138-153: 147). Eine theologische Erkenntniskritik, die jeder Kirchen- und Theologiekritik vorausgehen müßte, kann m.E. nicht umhin, solche Aussagen als Überschreitung der Grenze dessen einzuschätzen, was einer christlichen Theologie zu sagen möglich ist. Der Wunsch ist berechtigt, den Blick auf »Israel« so einzuüben, daß er zur Solidarität mit jüdischem Geschick führt. Doch dieses Bestreben kann, wenn es keinem bloßen >erkenntnisleitenden Interesse< folgt, schwerlich Aussagen über »Willen und Absicht Gottes« für andere begründen - Aussagen, die als Verhältnisbestimmungen formuliert und nicht als Verkündigung und Bekenntnis ausgesprochen werden sollen. Damit sei keinesfalls in Abrede gestellt, daß eine wirkliche Begegnung - und nicht eine theoretische Gegenüberstellung - von Christen und Juden dringend vonnöten ist. Es kommt jedoch auf eine wirkliche Begegnung, d.h. auf die Wahrnehmung des Anderen an, wie er uns entgegentritt, vielleicht sogar unverdient und unverhofft entgegenkommt.

Rechenschaft über die Hoffnung im Vertrauen auf Gottes Treue

297

Das Volk Israel wird also nicht wie andere Religionen angesehen, zu denen die Kirche ebenfalls in einem Verhältnis steht, über das sie sich Rechenschaft geben möchte. 8 Vielmehr will die Kirche sich selber erblicken, indem sie von Gottes Treue zu Israel spricht. So will sie ihr eigenes Zeugnis untermauern. Das Zeugnis für Israels Erwählung soll zum Basissatz für die Kirche werden (sonst ergäbe es keinen Sinn, diese Ergänzung der Kirchenordnung in ihre Grundartikel aufzunehmen). Der Aufblick auf Gottes Treue erwächst nun aus dem Versuch, sich selber von einem Anderen her anschauen zu wollen - eine höchst schwierige Sichtweise. Wird sie nicht zu Verrenkungen und Verzerrungen führen? Der Umweg zur Selbstwahrnehmung über eine Fremdwahrnehmung ist denen, die die Ergänzung zur Kirchenordnung formuliert haben, wohl kaum bewußt gewesen, und auch nicht, daß diese Formulierung recht verquer geraten ist: das Ja zu Israel wird verklausuliert als die Bezeugung der Treue Gottes für Israel. Dann noch im zweiten Satz eine Verbindungslinie in einer gemeinsamen Hoffnung zu sehen - dies beides kann eben nicht gelingen. Wobei die leise Verschiebung zu denken geben sollte: Es heißt nicht, die Kirche bezeuge mit Israel oder neben Israel die Treue Gottes. Wenn sie mit Israel die Hoffnung auf einen neuen Himmel und eine neue Erde teilt, will sie etwas bezeugen, das für Israel gilt - und daraus wird dann eine Gemeinsamkeit der Hoffnung geschlossen. Während der theologische Duktus umgekehrt verlaufen müßte: Die Begründung der Hoffnung wird virulent durch die Existenz des Anderen, der sich auf Gottes Erwählung beruft und darauf seine Hoffnung setzt. Wenn aber dieser Andere - das jüdische Volk - sich auf Gottes Erwählung und so auf die Treue Gottes beruft, müssen wir Christen uns fragen lassen, in welchem Verhältnis wir zu ihm stehen, wenn wir von Gott reden: vom Gott Israels als dem Vater Jesu Christi. Der Andere antwortet anders auf diese Treue: nämlich im Nein zu diesem Christus und damit auch im Nein zur Anrufung Gottes, der Jesus Christus von den Toten auferweckt hat. Dieses andere Reden von Gott nötigt zu fragen, wie es mit der eigenen Antwort auf diese Treue bestellt ist und wie sie sich zur Antwort des Anderen verhält. So jedenfalls hat Paulus in Rom 9-11 gefragt; auf diesen Text spielt der erste Ergänzungssatz zur rheinischen Kirchenordnung wohl an, will ihn vielleicht sogar auf den Punkt bringen. Der Apostel Jesu Christi, des Gekreuzigten und Auferstandenen, blickt auf Israel, wenn er auf Gottes Handeln auf- und ausblickt - eins nicht ohne das andere. Daß Paulus sein Volk nicht übersieht, rührt schwerlich grundlegend daher, daß er mit allen seinen Fasern mit ihm verwachsen bleibt und sich trotz aller Auseinandersetzun-

So sah es das Zweite Vatikanische Konzil, das folgerichtig seine Erklärung zum Verhältnis von Kirche und Israel in den Rahmen der Beziehung zu den nichtchristlichen Religionen stellte (Nostra aetate, DH 4198).

298

Gerhard Sauter

gen, die auf Leben und Tod gehen, nicht von ihm losreißen kann. 9 Das Nein Israels zu Jesus als dem Christus treibt ihn vielmehr dazu, nach Gottes Handeln zu fragen, das allem menschlichen Nein und Ja zuvorkommt. Die Reflexion auf das Nein seines Volkes führt ihn zur Frage nach dem Grund der Hoffnung - für das Volk Israel so sehr wie für die Gemeinde Jesu Christi. Die eschatologische Perspektive hält beide zusammen, die jüdische Existenz wird zur brennenden Frage der Hoffnung auf Gott: Läßt Gott seine Treue durch menschliches Handeln antasten? Dies bleibt eine offene Frage für uns. Die Störung, die Israel für die Kirche bedeutet und bedeuten muß, rührt ja nicht daher, daß Israel unbeirrbar an seinem Ja zur Treue Gottes festhält. Es darf auch nicht irritieren, daß Israel sich schon viel länger und intensiver auf Gottes Treue beruft als die Kirche. Darum stützt Paulus sich auch nicht darauf, daß die Geschichte Israels unbegreiflich ist: die Wundergeschichte eines Volkes, berufen zum Segen für die Völker, das einen zähen Lebenswillen entwickelte und ihn beibehalten hat, so sehr, daß es trotz fast ununterbrochener Bedrohung von außen und innen bis jetzt hat überleben können. Angesichts der Störung, die durch das jüdische Nein zu Jesus Christus hervorgerufen wird, ringt Paulus (wie bereits zuvor in seinem Brief) um die Wahrnehmung des Handelns Gottes. Dieser Störung will Paulus theologisch nachdenken, weil durch sie Gottes Treue in Zweifel gezogen werden könnte. Die Störung wird nun nicht wegerklärt, indem zwei unterschiedliche Möglichkeiten, sich zu Gottes Wirken zu verhalten, eingeräumt werden: ein Nein neben einem Ja zu Jesus Christus. Dafür könnte Gottes Handeln keine Erklärung bieten. Gottes Handeln ist vielmehr so sichtbar geworden, daß es eine theologische Reflexion in Gang setzt, die in eine Doxologie der Treue Gottes und seines rettenden Handelns mündet - und zwar als Konsequenz dieser Wahrnehmung, als Einsicht in ihre Grenzen, nicht als hilfloser Abbruch einer theologischen Reflexion: »Vom Evangelium her gesehen sind sie [Israel] Feinde Gottes, und das um euretwillen; von ihrer Erwählung her gesehen sind sie von Gott geliebt, und das um der Väter willen. Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt. Und wie ihr einst Gott ungehorsam wart, jetzt aber infolge ihres Ungehorsams Erbarmen gefunden habt, so sind sie infolge des Erbarmens, das ihr gefunden habt, ungehorsam geworden, damit jetzt auch sie Erbarmen finden« (Rom 11,28-31). 1 0

9

So deutet es J.Taubes, Die Politische Theologie des Paulus, München 1993, 42.

10

Die Bibelzitate folgen in der Regel der Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, Stuttgart/Klosterneuburg 1980.

Rechenschaft über die Hoffnung im Vertrauen auf Gottes Treue

299

Soweit die Formulierung der Paradoxie - nicht aber einer Erklärung des Verhaltens Israels aus dem der Gemeinde Jesu Christi oder umgekehrt. Ihre Spitze erreicht diese Paradoxie in V.32: »Gott hat alle in den Ungehorsam eingeschlossen, um sich aller zu erbarmen.«

Wie kann davon die Rede sein? »O Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unergründlich sind seine Entscheidungen, wie unerforschlich seine Wege! Denn wer hat die Gedanken des Herrn erkannt? Oder wer ist sein Ratgeber gewesen? Wer hat ihm etwas gegeben, so daß Gott ihm etwas zurückgeben müßte? Denn aus ihm und durch ihn und auf ihn hin ist die ganze Schöpfung. Ihm sei Ehre in Ewigkeit. Amen.« (Rom 11,33-36)

Die Doxologie wird hier (um ein Wortspiel Henning Schröers aufzugreifen) zur Paradoxologie. Aus Jubel und Erschrecken erwachsen, ist sie weder eine Notlösung noch ein Sprachverzicht, weil nichts Besseres einfallt und gesagt werden kann, da ein Reflexionsprozeß an seine Grenzen stößt. Die Doxologie wacht über die Hoffnung, daß von Gottes Handeln mehr und anderes erwartet wird als alles, was aus menschlicher Antwort darauf ersichtlich werden kann, möge nun diese Antwort bejahend oder verneinend ausfallen. Gottes barmherzige und erwählende Zuwendung kann nicht durch das, was von Menschen darüber gesagt wird, abgebildet oder eingeholt werden. Gottes Handeln will erwartet sein: dies ist der Hoffnungszug jedes theologischen Gedankens. Die Störung, die das jüdische Nein zu Jesus Christus im Verhältnis aller Menschen zu Gott schafft, bringt die Theologie dazu, auf mehr zu weisen, als sie auszusagen vermag. Paulus wird zur Doxologie getrieben, gerade weil er nicht auf das Verhältnis von Kirche und Israel fixiert ist. Die Doxologie faßt in dem, was nur im hoffenden Lobpreis des Wirkens und Willens Gottes gesagt werden kann, die vorherige Reflexion ein: Die Kirche wird auf das grundlose Erbarmen Gottes gestoßen, weil sie nicht aus der Reaktion der Mehrzahl der Juden, aus ihrem Nein zu Jesus Christus, auf Gottes Treue zurückschließen kann und von daher bestimmt, ob diese Treue für Israel weiter besteht oder nicht. Daß dieser Rückschluß abgeschnitten wird, eröffnet gerade die Hoffnung nicht allein für Israel, sondern ebenso sehr für die Kirche, ja letztlich für »alle«: als die in Gottes Wirken Eingeschlossenen (Rom 11,33-36). Gottes Verheißung bleibt bestehen, unbeschadet unserer Reaktionen - der positiven wie der negativen. Die Existenz Israels ist ein vestigium des extra nos eschatologischen Heils. Darum hängt Rom 9-11 mit der paulinischen Entfaltung der Rede von Gottes Gerechtigkeit und Rechtfertigung zusammen. Denn an dem Geschick Israels wird deutlich, daß auch wir Christen über uns kein Urteil sprechen

300

Gerhard Sauter

können, weil wir über Israel kein Urteil sprechen dürfen. Vom Urteil Gottes können wir nur in Form der Doxologie sprechen. 11 In der geänderten rheinischen Kirchenordnung soll dies nicht oder jedenfalls nicht nur gesagt werden. Sie will mehr sagen: die Treue Gottes bezeugen für den Anderen. Doch wie kann dies angehen? Woraus kann ersichtlich werden, daß Gott an seiner Erwählung festhält? Oder woran sonst könnte sich ein Zeugnis der Kirche halten? Muß die Fortexistenz des jüdischen Volkes nicht zur Frage drängen, was denn Gottes Treue ist, was »Festhalten an der Erwählung seines Volkes Israel« bedeuten kann, auch und gerade für alle anderen? Ist dieses Festhalten gleichbedeutend mit dem Überleben eines Volkes, so erstaunlich und erregend dies immer wieder ist, gerade angesichts aller Verfolgungen und Anstrengungen, dieses Volk als Volk auszulöschen? Von Erwählung kann in der christlichen Kirche doch wohl nur so die Rede sein, daß unaufhörlich gefragt wird: Wie finden wir uns in der durch Christus geschaffenen Wirklichkeit vor? Die Antwort kann nur lauten: Als diejenigen, die allein kraft des grundlosen Erbarmens Gottes von ihrer Gottlosigkeit befreit worden sind - und nur so für andere hoffen und sich so zu ihnen verhalten können! Durch die Existenz des Judentums wird sich die Kirche immer wieder an die Treue Gottes erinnern lassen und nach ihrem, der Kirche, Zeugnis für diese Treue fragen lassen müssen. Bezeugen kann sie allein die Grundlosigkeit der Barmherzigkeit und Treue Gottes, an der ihr eigenes Sein hängt und die sie in der Geschichte des Volkes Israel wiedererkennt - und mehr als das: diese Geschichte mahnt sie unaufhörlich, Gottes Gnade weder für sich allein zu beanspruchen noch jemals zu verkennen, daß sie aus dieser Gnade lebt und auf sie angewiesen bleibt. Für andere kann sie das sagen, was für alle geschehen ist und was Gott für alle verheißen hat. Dies darf und soll sie allerdings auch sagen. Denn nur wenn Gottes Treue für andere in Anspruch genommen werden darf, können Glaube und Hoffnung erweckt werden. Auch dafür ist Rom 9-11 eine Lektion: Wie leidenschaftlich tritt Paulus für seine jüdischen Brüder und Schwestern ein! Er möchte sich selber um ihretwillen preisgeben. Die Tiefe dieser Leidenschaft gehört jedoch zur Tragweite der Wahrnehmung der Treue Gottes, sie rührt nicht nur von der Solidarität des Apostels mit seinem Volk her.

Darum dürfte die römisch-katholische Kirche recht daran getan haben, ihr »Umdenken« im Blick auf Israel in einer Änderung der Karfreitagsliturgie zum Ausdruck zu bringen, indem sie nämlich für Israel bittet (vgl. O.H.Pesch, Das Zweite Vatikanische Konzil [1962-1965], Vorgeschichte, Verlauf, Ergebnisse, Nachgeschichte, Würzburg 1993 , 291). Der Karfreitag ist ja früher immer wieder Anlaß zu Ausfällen gegen die Juden gewesen, denen die Kollektivschuld am Tode Jesu unterstellt wurde, während das Lamm Gottes doch die Sünde der Welt trägt (Joh 1,29) - und damit unser aller Schuld.

Rechenschaft über die Hoffnung im Vertrauen auf Gottes Treue

301

Dieses Reden für andere darf aber nicht mit einer Verhältnisbestimmung verwechselt werden, welche »die Anderen« als diejenigen ansieht, mit deren Hilfe wir uns selber deutlicher erblicken können: die Wahrnehmung anderer, der Anspruch ihres Antlitzes als Quelle jeder Begegnung und als Weg zur Selbstwahrnehmung. Und ebenso wenig können wir etwas für andere derart aussagen, daß wir eine bestimmte Aussage als deren Beschreibung, als Reden über sie wirksam machen. Dies scheint aber in der Formulierung »Die Kirche bezeugt die Treue Gottes, der an der Erwählung seines Volkes Israel festhält« der Fall zu sein. Dieses Urteil steht der Kirche nicht zu, und darum muß jeder Versuch dazu sprachlich verunglücken. Jede Bezeugung der Treue Gottes bleibt ein Anstoß, weil sie denjenigen, die sie bezeugen wollen, nicht erlaubt, bei sich selber zu verharren. Deshalb ist sie auch ein Anstoß für eine jede Ekklesiologie, die auf das Judentum allenfalls zurückblickt als historische Voraussetzung für die Entstehung der christlichen Kirche. Dieser Rückblick wird gestört, wenn die Kirche in der Erwartung der Treue Gottes sich nicht nur an ihren eigenen Ursprung gewiesen sieht, sondern nach der Reichweite dieser Treue fragen lernt. Dies stößt sie weiter, drängt sie zu jüdischer Existenz in ihrer Geschichte hin. Zugleich wird die Kirche daran erinnert, daß sie als Gemeinschaft von Judenchristen und Heidenchristen entstanden ist. Nur entstanden ist? Ist sie nicht auch heute, wenngleich nur noch sporadisch, eine solche Gemeinschaft? Immer dann, wenn von »Juden und Christen«, von »Kirche und Israel« die Rede ist, darf nicht übersehen werden, daß die Kirche ursprünglich Gemeinde von Juden- und Heidenchristen ist - und bleibt!12 Das jüdische Reden von der Erwählung im Verhältnis zur kirchlichen Rede von der Treue Gottes: dadurch entstehen tatsächlich zwei unterschiedliche Traditionen. Christen reden anders von Gottes Treue, als es in jüdischer Tradition geschieht. Die Wahrnehmung der Treue Gottes wird aber durch die Existenz von Menschen, die sich auf Gottes Erwählung berufen und damit auf seine Treue, aber eben charakteristisch anders -, unaufhörlich provoziert, in positiver Weise. So wird die Kirche durch jüdische Existenz immer wieder vor die Frage nach der Treue Gottes und nach dem Charakter seiner Gnade gestellt. Dadurch wird der Kirche deutlich, daß ihre Hoffnung nicht anders begründet sein kann denn als Gewärtigsein der Treue Gottes. Vielleicht besteht der charakteristische Unterschied genau darin, daß das christliche Zeugnis der Treue Gottes die Stelle einnimmt, die im jüdischen Reden von Gott der Erwählung zukommt. Und das Gespräch miteinander könnte dann darauf aufmerksam machen, daß sich die Kirche ebenso als erwählt verstehen darf, wie Juden auf die Treue Gottes blicken - das eine ist ebenso wenig ein Besitzstand wie das andere ein bloßer Wartestand.

12

Darum reicht es m.E. nicht aus, das Judenchristentum nur als »Bindeglied zwischen Synagoge und Kirche« anzusehen (so G.Strecker, Art. Judenchristentum: TRE 17 [1988] 310-325: 323).

302

Gerhard Sauter

Erwählung und Hoffnung hängen aufs engste zusammen: Erwählungsglaube kann sich nur in der Hoffnung auf Gottes Treue aussprechen. Wird dies in der Reihenfolge der beiden Sätze der Ergänzung zur Kirchenordnung auch hinreichend deutlich? Durch die Hoffnung wird die Grenze zwischen dem, was wir sagen können, und dem, was wir noch nicht sagen können, markiert. Daraufhin kann nun die Frage beantwortet werden, die eingangs gestellt

wurde: Versteht eine christliche Kirche sich recht, wenn sie nicht auf Israel blickt? Sie kann sich anders nicht recht verstehen - und das bedeutet weit mehr, als daß das jüdische Volk und sein Geschick für die Kirche nicht gleichgültig sein können. Die Kirche braucht Israel - um Gottes willen, nicht zu irgendeiner Demonstration, auch wenn dies in allerbester Absicht und zugunsten des jüdischen Volkes geschähe. Auf Israel blicken - was heißt das? Die Worte müssen hier wirklich auf die Goldwaage gelegt werden! Halten wir uns an Rom 9-11, so bleibt unser Blick nicht haften an der Störung, die jüdisches Nein zu Jesus Christus hervorgerufen hat. Er richtet sich in spannungsvoller Weise auf Gottes Handeln, von dem nur in Hoffnung und doxologisch geredet werden kann. Diese Hoffnung steht uns jedoch nicht als Vision vor Augen. Zur Hoffnung auf Gottes Handeln werden wir dann getrieben, wenn wir nach der Begründung von Israel und der Kirche fragen: Gottes Handeln an Israel und der Kirche, das beide vereint. Es ist der Grund, der paradoxerweise die Störung bewirkt, die Kirche und Israel voneinander zu entfernen droht. Nur wenn wir die Trennung von Israel und Kirche als Dissonanz in der Antwort auf Gottes Wirken vernehmen - nicht etwa als eine Abzweigung Israels begreifen oder wie das Herauswachsen eines Triebes aus einem Stamm erklären -, bleiben wir in unserer Antwort auf dieses Wirken ausgerichtet, auch auf andere Antworten, und zwar nicht nur auf das Störungsmoment in ihnen. Sonst gliche die historische Trennung von Judentum und Christenheit den tektonischen Verschiebungen von Kontinenten, die immer weiter voneinander wegdriften. Das Brückenbauen würde dann zu einem wahnwitzigen Unterfangen, oder man müßte sich viel zu hoch in die Lüfte schwingen, um einen Überblick zu gewinnen, bei dem die Kontinente zusammenzurücken scheinen. Die Aufmerksamkeit für eine besondere Sprachform - die Doxologie ginge verloren, würde sie nur formgeschichtlich eingeordnet. Darum muß versucht werden, dieser Sprachform gemäß auch theologisch zu denken. Die doxologische Sprachform reflektiert die Grenze dessen, was wir sagen können - eine Grenze auch derart, daß wir mehr und anderes sagen, als es aus irgendwelchen religionsgeschichtlichen Vergleichen heraus oder von religionssoziologischen Standortbestimmungen her möglich wäre; davon wird gleich zu reden sein. Die Doxologie läßt aus dem eigenen Standort heraustreten - heißt ihn nicht verlassen, vielmehr sich in Gottes Wirken hineinziehen lassen. Die Doxologie vertraut sich der Für-sicht Gottes an, der Provi-

Rechenschaft

über die Hoffnung im Vertrauen auf Gottes Treue

303

denz seiner Gnade, ohne daß sie die Welt mit Gottes Augen anschauen und überblicken will. Gottes Für-sicht darf in keiner Bestimmung des Verhältnisses von Israel und Kirche und in keiner Aussage über ihr horizontales Gegenüber unterschlagen werden. Die Doxologie faßt alles, was wir über das Verhältnis zu anderen und zu uns selbst sagen können, in das unaufhörliche Staunen über das, was Gott getan hat und was er verheißen hat zu tun. Sie bleibt für Überraschungen - gerade auch im paradoxen Verhältnis von Israel und der Kirche - offen, weil sie auf die Doxa Gottes ausgerichtet ist. Richtet sich der Blick der Kirche auf Israel, so tritt auch die Menschheit in ihr Blickfeld, allerdings gleichsam gebrochen durch das Gegenüber von »Juden« und »Heiden«. Ohne Israel wäre die Menschheit kein in sich geschlossenes Phänomen: die Heidenwelt. Weil aber die Kirche eine Gemeinschaft von Judenchristen und Heidenchristen ist, können wir von der Kirche als einem anderen Gegenüber zu Israel reden, mehr noch: uns in diesem Gegenüber entdecken. Und wir können die »Welt« als Menschenwelt in ihrer Einheit nur sehen, weil der Trennungszaun zwischen Juden und Heiden nicht mehr besteht, die »trennende Wand der Feindschaft« (Eph 2,14).

2. Eine Integration der Kirche in die Geschichte der Erwählung des Volkes Gottes? Hatten wir zunächst zu bedenken versucht, ob und wie die Kirche für Israel zu sprechen vermag, so ist jetzt noch genauer zu fragen, wie die Kirche auf Israel blicken kann und wie Israel zu ihr steht. Daß die Kirche Israel nicht übersehen darf, ist dabei als unbestreitbar vorausgesetzt. Doch was heißt: auf Israel blicken? Es bedeutet etwas anderes als: von einem übergeordneten Standort aus über Israel reden - und sei es in allerbester Absicht! Wie sind Israel und Kirche zueinander gestellt? Die ergänzte rheinische Kirchenordnung erweckt den Eindruck einer Integration der Geschichte der Kirche in die Geschichte Israels - um damit anzuzeigen, daß eine Opposition gegen das Judentum und sein Geschick nie mehr in Frage kommen darf. Die Kirche, die hier spricht, will sich aus ihrem kontinuierlichen Verhältnis zum jüdischen Volk heraus neu bestimmen. Sie ist überzeugt, dies am besten dadurch tun zu können, daß sie ihr Zeugnis der Treue Gottes auf Israels Erwählung bezieht. So möchte sie eine Art Schutzbekenntnis für das jüdische Volk aussprechen und damit unter Beweis stellen, daß sie keinen (rassistischen) Antisemitismus und keinen (religiösen) Antijudaismus in ihren Reihen mehr dulden will. Sie möchte noch mehr sagen, auch wenn dies hier nicht ausgesprochen wird: Die Kirche erscheint in den Bund Gottes mit seinem erwählten Volk Israel

304

Gerhard Sauter

hineingenommen, oder anders gesagt: dieser Bund öffnet sich auch für die Kirche - durch Jesus Christus, den Juden. 13 Den Aufblick auf Gottes Gnadenhandeln in Erwählung, Gericht und Rettung und den Ausblick auf Gottes Für-sicht für alle: diesen Blick nimmt jetzt eine heilsgeschichtliche Verhältnisbestimmung mit theologischem Vermittlungsanspruch ein. Die Sicht des Zusammenhanges von »Israel« und »Kirche« fällt dann entschieden positiver aus als frühere Theorien, welche die Kirchengeschichte als Ablösung der Heilsgeschichte Israels erklären wollten: Die Kirche sei anstelle Israels in das Bundesverhältnis mit Gott eingetreten. 14 Im Gegenzug soll nun die Entstehung der Kirche als Ausweitung des Bundes Gottes mit seinem Volk Israel plausibel gemacht werden. Damit wäre zwar eine früher verbreitete Anschauung umgedreht, die Betrachtungsweise bliebe jedoch die gleiche. Sowenig wie es uns zusteht, Gottes bleibende Erwählung Israels als Alternative zur Verwerfung Israels durch die Kirche anzusehen, sowenig kann die Vorstellung, die Kirche sei ein Seitentrieb des Volkes Gottes, die Alternative zur Kirche als Ersatz Israels sein. Das Verhältnis der Kirche zu Israel dürfte nicht dadurch erneuert werden, daß ein Anschluß an die Geschichte Israels gesucht wird: die Kirche erscheint dann als ein Zweig des Judentums. Aus der notwendigen Erinnerung daran, daß zur Kirche von Anfang an Judenchristen gehörten, darf die Kirche nicht schließen: Wir stammen aus derselben Wurzel wie das Judentum. Das im neueren christlich-jüdischen Gespräch vielstrapazierte Bild des Ölbaums, in den ein Wildtrieb eingepfropft wird (Rom 11,17), ist ja keine Metapher für Herkunftsbestimmungen, sondern will ein unerhörtes Wunder markieren: Gott pflanzt in den Baum, der von der Wurzel der Barmherzigkeit Gottes und seiner Verheißungen genährt und getragen wird, gleichsam einen Fremdkörper ein, der mit dem, was aus Gottes Verheißungen hervorgeht, verwachsen darf. Zunächst bricht Gott etwas heraus - die Rettung erfolgt durch eine Katastrophe. Das bedeutet aber: Die Kirche steht in keinem geschichtlich selbstverständlichen Zusammenhang mit dem Judentum, sosehr beide einander brauchen. Wird dies übersehen, schleicht sich ein naturalistischer Historismus in die Theologie ein. Vorbereitet ist er durch die traditionsgeschichtliche Betrachtungsweise, die in der biblischen Exegese soweit fruchtbar ist, wie sie geschichtliche Verbindungslinien wahrscheinlich machen kann. Ob diese Ver13

In solcher Sicht heißt es folgerichtig bei H.-J.Kraus, die Ekklesiologie habe »einzusetzen mit der Frage nach dem heidnischen Ursprung der Christen« - die Judenchristen sind also ausgeschlossen! »Durch die Lebenshingabe des Christus empfangen >Heiden< Anteil an der Erwählung, sind Juden und Christen im Frieden Gottes vereint und zur gemeinsamen Sendung in der Völkerwelt berufen« (Systematische Theologie im Kontext biblischer Geschichte und Eschatologie, Neukirchen-Vluyn 1983, 490).

14

Dagegen wendet sich E.Gräßer entschieden in seinem Resümee von Hebr 10,1-18: An die Hebräer. II. Hebr 7,1 - 10,18, Zürich/Neukirchen-Vluyn 1993 (EKK XVII/2) 236.

Rechenschaft über die Hoffnung im Vertrauen auf Gottes Treue

305

knüpfungen dann auch theologisch tragfähig sind, ist damit noch nicht entschieden. Denn auch der beste literarische Nachweis von »Abhängigkeiten« und Präfigurationen kann noch nicht begründen, was für die Kirche verbindlich ist. Wer sich nur danach umschaut, wo Vergleichbares zu finden ist, um darauf aufzubauen, dessen Sehvermögen wird auf die Dauer verdorben. Denn unwillkürlich wird ein vergleichender Standpunkt eingenommen, der gestattet, Diskontinuitäten und Kontinuitäten zu beobachten und ein Gesamtbild zu gewinnen, das beides erklärt. Durch diese übergreifende Sicht dürfte theologische Urteilskraft ruiniert werden. Die Rekonstruktion eines Zusammenhanges, der als Prozeß fortwährender Rezeption, Umbildung und Anverwandlung in Erscheinung tritt: diese traditionsgeschichtliche Sicht hat das neuere christlich-jüdische Gespräch befruchtet. Inzwischen beherrscht sie dieses Gespräch aber auch und verdrängt damit die theologische Rechenschaft über den eigenen Ort in diesem Gespräch. Die geänderte Kirchenordnung schließt sich faktisch dieser vergleichenden Betrachtung an. Sie vollzieht nicht nur einen Perspektivenwechsel hin zur Solidarität mit Israel, weg von einem Selbstzweck christlicher Kirche -, sondern nimmt einen anderen Standort ein als den einer Kirche, die Gottes Treue bekennt: und zwar so, wie ihr diese Treue widerfahren ist, um dann die Reichweite dieser Treue zu ermessen und zu bezeugen. Stattdessen will sie sich, die Kirche, im Zusammenhang der Erwählungsgeschichte Israels wahrnehmen. Damit dieser Wechsel des Standortes markiert wird, sei daran erinnert, was Karl Ludwig Schmidt in dem denkwürdigen Gespräch mit Martin Buber, sozusagen am Vorabend der nationalsozialistischen Machtergreifung, sagte: »Die Gemeinsamkeit zwischen Juden und Christen ist allein mit der gemeinsamen Bemühung um Israel gegeben. Eine Kirche, die nichts weiß, nichts wissen will von Israel, ist eine leere Hülse.«15 Schmidt meinte damit, die Kirche dürfe an der Existenz des jüdischen Israel niemals vorbeigehen, denn in der Geschichte dieses Volkes vernehme sie Antworten auf Gottes Handeln, die sie nach Gottes Treue, seiner Gnade und seinem Gericht fragen lassen und damit den Blick der Glaubenshoffnung schärfen. Heute wird bezeichnenderweise nur der zweite Satz Schmidts in Anspruch genommen 16 , nun allerdings im Interesse einer Theologie, die statt der »Bemühung um Israel« versucht, eine beinahe ausgelöschte Beziehung zur gesamten Geschichte des jüdischen Volkes wiederzugewinnen; daraufhin möchte sie auch für sich alle Konsequenzen ziehen, die sich aus dem Gottesverhältnis dieses Volkes und seiner Geschichtserfahrungen ergeben. Wer so Israels gedenkt, 15

K.L.Schmidt/M.Buber, Kirche, Staat, Volk, Judentum. Zwiegespräch im Jüdischen Lehrhaus in Stuttgart am 14. Januar 1933: K.L. Schmidt, Neues Testament - Judentum - Kirche. Kleine Schriften, hg.v. G.Sauter, München 1981 (TB 69) 149-165: 155.

16

Etwa von P.v.der Osten-Sacken, Katechismus und Siddur. Aufbrüche mit Martin Luther und den Lehrern Israels, Berlin 2 1994 (VIKJ 15) 15.

306

Gerhard Sauter

will seine Identität in der Geschichte Gottes mit seinem Volk finden, zumindest will er sich auch dort finden. In der ergänzten Kirchenordnung kommt dies so zum Ausdruck, daß die Hoffnung mit Israel als Folge des Zeugnisses der Kirche für Gottes Festhalten an der Erwählung seines Volkes erscheint. Die Absicht hinter dieser integrierenden Anschauung ist verständlich: Die Kirche möchte sich nicht bloß in einem Gegenüber zu Israel sehen, sondern an Israels Seite. Sie will bekunden, daß sie ohne Israel nicht existieren würde, und meint dies am besten beglaubigen zu können, indem sie von Israels Erwählung spricht, in der auch ihre Hoffnung - und damit die gemeinsame Hoffnung - gründet. Eine solche Gesamtsicht wird aus Vergleichen gewonnen: Wie stehen »wir« zu Israel, wenn wir bedenken, von woher wir kommen und wo wir entsprechend dieser Herkunft zu stehen kommen? Die Antwort wird aus übergeordneten Gesichtspunkten gesucht, die erlauben, Gemeinsamkeiten und Unterschiede gegeneinander abzuwägen. Und zu diesem Zwecke werden Brückenbegriffe gesucht wie »Bund« oder, wie in der neuen rheinischen Kirchenordnung, »Erwählung«, Begriffe, die anscheinend ermöglichen, Zusammenhänge ausfindig zu machen und Kontinuität festzustellen. Solche Begriffe sind in der Tat Judentum und Christentum gemeinsam, aber sie werden hier und dort unterschiedlich gehört, und diese Differenz müßte auch ihre Verwendung bestimmen. Wie sich das heutige Judentum definiert, ist eine - soweit ich sehe - spannungsvoll offene Frage. Juden, die sich nicht mehr als religiös verstehen, werden schwerlich den Erwählungsgedanken aufgreifen, sondern eher an die Leidensgeschichte ihres Volkes und an seine vielfältige Ausgrenzung denken, vielleicht dann auch an das Stigma des Erwähltseins, das ihnen aufgedrückt wurde. Wenn Christen von Erwählung sprechen, sollten sie zuallererst des Wortes Jesu gedenken: »Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt« (Joh 15,16). Erwählung ist das Kennwort für das sola gratia und bezeichnet das Herausgerufen-Werden aus der »Welt« (vgl. Joh 15,19). Darum taugt es ganz und gar nicht für Vergleiche, vor allem ist es nicht kompatibel mit typologischen Ordnungsbegriffen, die das Verhältnis von Religionen zueinander erklären sollen. Die christliche Rede von der Erwählung der Kirche müßte sich deshalb in Frage stellen lassen, wenn sie Akzentverschiebungen beobachtet: Verschiebungen von der Berufung auf die Erwählung des Volkes Israel zur Wahrnehmung der Treue Gottes, der menschlicher Antwort auf seine Zusagen durch überraschende Äußerungen seiner barmherzigen Gnade zuvorkommt. Solche Akzentverschiebungen, wie sie etwa in Rom 9-11 markiert werden, erlauben nicht, geschichtliche Kontinuität zwischen Israels Geschichte und der Kirche festzustellen oder gar ein heilsgeschichtliches Nebeneinander von Israel und Kirche zu behaupten. Dieser Verzicht läßt jedoch ein Gespräch über verschiedene Traditionen keinesfalls abbrechen. Und wir müssen den Übergang zur christlichen Doxologie weiter im Blick

Rechenschaft über die Hoffnung im Vertrauen auf Gottes Treue

307

behalten: das Gewärtigsein der Treue Gottes. Andernfalls würden wir kurzschlüssig Israel und die Kirche auf einen gemeinsamen Nenner bringen, beide etwa dem »Bund«, den Gott mit Menschen schließt, subsumieren; dann erschiene die Kirche als durch Jesus Christus nachträglich in das Bundesverhältnis Israels hineingenommen. Doch dieser Anschluß führt zu Aporien, die zu Glaubenshindernissen werden, weil sie von ihrer ursprünglichen Lokalisierung abgelöst worden sind und sich verselbständigt haben. Der Begriff »Bund« wurde im Alten Testament eingeführt mit der Bedeutung, »ein Verhältnis ungleicher Partner« zu bezeichnen 17 und einzuschärfen, daß diejenigen, mit denen Gott seinen Bund schließt - seien es einzelne, sei es Israel 18 - sich aus diesem Verhältnis nie verabschieden können. Daraus zu schließen, »Bund« sei der Inbegriff geschichtlicher Dauer und deshalb auch die Grundlage für quasi-Eingemeindungen in die Geschichte Israels, wäre ein Schritt auf eine andere Ebene und würde nur zu Diskursvermengungen führen. Erich Gräßer urteilt deshalb zu Recht: »Diatheke eignet sich nicht als Katalysator einer gesamtbiblischen Theologie« 19 . Der systematische Theologe ist für einen solchen systematisierenden Sprachgebrauch womöglich noch empfindlicher, weil er an Begriffsentgleisungen in der Theologiegeschichte denken muß: zum Beispiel an die Föderaltheologie, die Theorie einer Abfolge von Bundesschlüssen - eine heilsgeschichtliche Rationalisierung der Bibel und des Weges der Kirche. 20 Die Verortung der Erwählungslehre in der Doxologie, wie sie sich in Rom 9-11 abzeichnet, ist dagegen ein beispielhafter Beleg dafür, daß das Verhältnis von Israel und Kirche nicht als Ergänzung einer Bundesgeschichte zu verstehen ist. Gottes Zusage seiner Erwählung stellt uns die Frage, ob wir darauf vertrauen und ihm so die Treue halten. Sie gibt uns nicht das Recht, aus menschlichen Antworten auf diese Frage die Reichweite der Treue Gottes zu ermitteln. Dergleichen versuchte etwa die Dordrechter Synode (1618/19), und dabei ist sie einem Kurzschluß erlegen: Aus dem Nein, das Menschen Gott gegenüber aussprechen können, schloß sie eine Begrenzung göttlicher Gnade, und so wurde dieses Nein zum Bestandteil der Rede von der Versöhnung. Aus der Erwählungslehre wurde der Schluß gezogen, daß Gottes Versöhnung an Grenzen stößt, wenn immer Menschen sich ihr verschließen. Gottes Versöhnungshandeln hat dann nur 17

G.v.Rad, Theologie des Alten Testaments, München, I 1957, 135.

18

Bereits im Pentateuch stehen so verschiedene Bundesschlüsse nebeneinander; s. F.-L. Hossfeld, Die vielen Bünde und der eine Gott: Pastoralblatt für die Diözesen Aachen, Berlin, Essen, Hildesheim, Köln, Osnabrück 6/1995, 165-171: 165.

19

E.Gräßer, Der alte Bund im Neuen. Exegetische Studien zur Israelfrage im Neuen Testament, Tübingen 1985 (WUNT 35) 130.

20

Vgl. G.Schrenk, Gottesreich und Bund im älteren Protestantismus, vornehmlich bei Johannes Coccejus, Gütersloh 1923 (BFChTh.M 5).

308

Gerhard Sauter

begrenzte Wirksamkeit. So wird dem Versöhnungsgeschehen die Kraft geraubt. Wenn Theologen versuchen, eine Willenserklärung Gottes zu Ende zu denken, überschreiten sie ihre Kompetenz. Verwechselt wird bei alledem der Standpunkt des Glaubens mit dem Standort in einem Gelände, in dem es auch andere religiöse Positionen gibt. Diese Positionen mögen sich im religionswissenschaftlichen Vergleich überblicken lassen, aber die Theologie sollte sich nicht zu einer solchen Perspektive aufschwingen. Denn der Glaubensstandpunkt ist keine solche Position, er läßt sich ja nicht einnehmen und behaupten, sondern er untersteht der apostolischen Mahnung: »Wer zu stehen meint, der gebe acht, daß er nicht fallt« - in eins mit dem Zuspruch: »Gott ist treu« (l.Kor 10,12f). Was der Theologie dagegen durch Vergleiche zugemutet werden könnte, sei an einer Forderung Erich Zengers erläutert: »Das aus der alttestamentlich-jüdischen Tradition begründete und in der Tat nachvollziehbare Nein der Juden zu Jesus als >Erfüllung< im Sinne von Realisierung oder gar Erledigung der Verheißungen muß deshalb in die kirchliche Entfaltung von Christologie und Soteriologie ideologiekritisch und theologiekritisch so integriert werden, daß einerseits Israels ureigene Hoffnungen damit nicht verworfen und die christlichen Hoffnungen andererseits damit nicht enteschatologisiert werden« 21 . Hier erscheint die jüdische Hoffnung als Vervollständigung der christlichen. Träfe dies zu, dann bedürfte die Christenheit des Alten Testaments, um ihren Mangel an Hoffnung auszugleichen durch eine konsequente Erwartung Gottes, konsequent als Sehnsucht nach durchgreifender und allumfassender Erlösung. Allein in dieser Perspektive wäre das jüdische Nein zu Jesus »nachvollziehbar«: Was mit diesem Jesus verwirklicht worden sein mag, ist eben nicht die Erfüllung der göttlichen Verheißungen, bestenfalls ist er der Platzhalter der Hoffnung für eine noch nicht erlöste Welt. Das Wahrheitsmoment dieser Sicht äußert sich in einer Anfrage an das Schema »Verheißung und Erfüllung«, wie es in der christlichen Theologie gängig geworden ist22. »Der >Messias Jesus< ist nicht primär eine Erfüllungsfigur, sondern eine Verheißungsfigur« - der frühchristliche und der >heidenchristliche< Messianismus sei »Ansage der Zukunft, die die Zukunft nicht vorwegnimmt, sondern sie als Gottes Zukunft in jeder Hinsicht offenhält«23. 21

E.Zenger, Vom christlichen Umgang mit messianischen Texten der hebräischen Bibel: Messias-Vorstellungen bei Juden und Christen, hg.v. E.Stegemann, Stuttgart/Berlin/ Köln 1993, 129-145: 144f.

22

Siehe die Übersicht von G.Saß, Leben aus den Verheißungen, Göttingen 1995 (FRLANT 164) 22ff. Zusätzlich zu erwähnen ist W.G.Kümmel, Verheißung und Erfüllung. Untersuchungen zur eschatologischen Verkündigung Jesu, Zürich 3 1956 (AThANT 6).

23

Zenger, Umgang (s.o. Anm. 21) 136.

Rechenschaft über die Hoffnung im Vertrauen auf Gottes Treue

309

Vom neutestamentlichen Sprachgebrauch aus gesehen, dürfte es durchaus fraglich sein, ob von Jesus Christus als Erfüllung von Verheißungen gesprochen werden darf. 2 4 Das gilt auch und gerade für 2.Kor 1,20: Jesus Christus ist »das Ja zu allem, was Gott verheißen hat«. Dazu sagt die Gemeinde Jesu Christi »Amen«: »Ja, so ist es - es werde wahr!«, und damit lobt sie Gott, d.h. sie erkennt sein Werk an und läßt es Gottes eigenes und eigenartiges Werk sein, läßt es als solches gelten. »In Christus« ist Gottes Handeln erfahren worden, Gott »festigt« die Gemeinde »in der Treue zu Christus« (V.21). Darum wird Gottt hinfort nicht anders mehr erwartet als vorgezeichnet durch diesen »Wort- und Tatbestand«. In Jesus Christus ist das Ja der göttlichen Treue von neuem und endgültig (vgl. Hebr 1,2) ausgesprochen, ja Gestalt geworden. Der Christenheit kann kein Erfüllungsglaube zugeschrieben werden, der dann durch eine Erlösungshoffnung komplettiert werden könnte und müßte. Die Zukunft Gottes wird auf solche Weise gerade nicht offengehalten - wohl aber dadurch, daß Christen sich auf die Störung einlassen, die die Hoffnung von Juden für sie bedeutet. Christliche Theologie vermag jedoch nicht - wie Zenger es von ihr verlangt - das jüdische Nein in ihrer eigenen Erwartung >unterzubringenich will schaffen< ist nicht aus dem hebräischen Text in die LXX übergegangen, weil der Übersetzer nicht an eine Neuschöpfung, sondern an eine Erneuerung der al-

27

A.Vögtle, Der Judasbrief/Der 2.Petrusbrief, Solothurn und Düsseldorf/NeukirchenVluyn 1994 (EKK XXII) 243 mit Verweis auf äthHen 91,16; ApkEl 43,10; TgPs 102,27; vgl. Jub 1,29.

28

Ebd. 252-261; ansonsten hält Vögtle den Text für theologisch bedeutungslos (261). H.Paulsen, Der zweite Petrusbrief und der Judasbrief, Göttingen 1992 (KEK XII/2) 170f beschränkt sich darauf, die jüdische Färbung der Passage nachzuzeichnen.

29

Paulsen, 2.Petr/Jud (s.o. Anm. 28) 243f.

30

E.Lohse, Die Offenbarung des Johannes, Göttingen

31

Von einer neuen Schöpfung im Kontrast zur vergehenden Welt sprechen auch äthHen 72,1; 91,16, von Neuschöpfung Jub 1,29; 4.Esr 7,75.

32

U.B.Müller, Die Offenbarung des Johannes, Gütersloh/Würzburg 349.

33

H.Kraft, Die Offenbarung des Johannes, Tübingen 1974 (HNT 16a) 263.

12

1979 (NTD 11) 107.

2

1995 (ÖTK 19)

Rechenschaft über die Hoffnung im Vertrauen auf Gottes Treue

313

ten Welt geglaubt hat; er stand dem Glauben an die Unvergänglichkeit der Welt näher als Jesaja, auch als Tritojesaja.« 34 Dieser traditionsgeschichtliche Bilderbogen ist theologisch kaum aussagekräftig. Farbig wird er eigentlich erst durch eine phänomenologische Grundierung, die als Subtext der Exegese zu lesen ist: In Jes 65 mache sich eine politisch eingefarbte Erwartung bemerkbar, welche die neue Welt im Medium der Heilsgemeinde erwartet - und womöglich, so vermutet die historisch-kritische Rekonstruktion, handelt es sich dabei um den Versuch, eine im babylonischen Exil (vgl. Jer 29 und Deuterojesaja) viel zu hoch gegriffene Heilshoffnung wieder auf den Boden der politischen Möglichkeiten herunterzuholen, damit sie wieder auf die Beine kommt. Dieser Realitätssinn sei dann den Apokalyptikern abhanden gekommen; sie hätten sich mit einer Flucht ins Transzendente zu retten versucht, damit zwar ihre Hoffnung empirisch unwiderleglich gemacht, aber ihr auch jegliche Gestaltungskraft entzogen, die über eine Realitätsverweigerung hinausreicht. Eine Hoffnung, die sich auf eine ganz andere Welt richtet, verliere darüber leicht den Spürsinn für die Möglichkeiten, die in dieser Welt schlummern mögen. Sie versetze sich in die andere Welt und meine, sich damit radikal zu verhalten, vielleicht glaube sie sich sogar dem Vergehen »dieser Welt« schon entrissen. Ist in der Christenheit eine jüdische Erwartung, vielleicht sogar die jüdische Hoffnung schlechthin, nur in dieser »apokalyptischen« Weise weitergedacht worden? Wenn ja, wäre es eine rezeptionspsychologische Horizontverschmelzung: Eine Heilshoffnung für Israel (vielleicht sogar bloß für eine Kerngemeinde, die sich im Zentrum der Heilsgeschichte sieht) geht allmählich in die Frage über, was aus der gesamten Welt werden soll - eine Frage, die sich angesichts der Schrecknisse dieser Welt aufdrängt. Die Antwort »Diese Welt muß zugrunde gehen, damit wirklich Neues geschaffen werden kann« könnte dazu verleiten, die verkehrte Welt preiszugeben. - Wäre das nicht fatal? So könnte jetzt, in unserer Zeit, gefragt werden, nachdem eine transzendent gewordene Hoffnung ihren weltanschaulichen Kredit verloren hat. Dann wäre eine neue Horizontverschmelzung vonnöten, die das ursprünglich politische Ausmaß der Erwartung eines neuen Himmels und der neuen Erde wieder einzuholen verspricht und auch die christliche Hoffnung wieder daran binden kann. Nur dies könne einer wirklich grundlegenden Erneuerung der verkehrten Welt zugute kommen, die gemeinsam mit allen Menschen guten Willens, allen voran mit jüdischen Partnern, zustande gebracht werden müßte. Steht diese Annahme etwa hinter dem zweiten Satz der ergänzten Kirchenordnung: Die Kirche »hofft mit Israel auf einen neuen Himmel und eine neue Erde«? Was zur Vorbereitung des Synodalbeschlusses 35 und zu seiner

34

Ebd.

35

Vgl. die »Handreichung« (s.o. Aran. 7) 19f.

314

Gerhard Sauter

Begründung vor der Abstimmung 36 gesagt wurde, legt diese Vermutung nahe: In der Solidarität mit Israel solle die Hoffnung auf Weltvollendung zurückgewonnen werden, die in der Kirche seit langem verkümmert sei. Das entspräche der Intention des ersten Ergänzungssatzes: Die Kirche kann wie von Gottes Treue auch von ihrer Hoffnung allein in Verbindung mit Israel reden. Darf man hinzufügen: Da die Kirche (noch) nicht mit Israel glaubt, sieht sie sich über eine gemeinsame Hoffnung mit Israel zusammengeschlossen? Dies wäre jedoch nichts weiter als die Wiederbelebung des alten Klischees, das einen Wesensunterschied von Juden und Christen erfassen sollte: Juden setzen sich politisch, also konkret, in ihrer Erwartung mit der Unerlöstheit der Welt auseinander und gewinnen so Hoffnung für diese Welt dies wird überhöht oder (je nach dem Standpunkt derer, die hier bewerten) unterboten durch eine christliche Hoffnung, in der »Himmel und Erde« etwas grundsätzlich anderes meinen, als Menschen sich vorstellen können. Die alt- und neutestamentlichen Erwartungen eines neuen Himmels und einer neuen Erde erscheinen dann, unbeschadet mancher Übereinstimmungen, unterschieden durch das Maß ihrer Konkretion, plausibel als politische Dimension der Hoffnung. Da in der christlichen Zukunftserwartung vorwiegend Wörter benutzt werden, die das Unvorstellbare bezeichnen, unterscheidet sich dies per definitionem von einer jeden Hoffnung, die durch geschichtliche Veränderung eingelöst werden will. - Andere Hoffnungstraditionen und Lebensformen der Hoffnung werden bei dieser idealtypischen Gegenüberstellung geflissentlich übersehen oder verschwiegen. Solchen Schematismen und ihren Erklärungsangeboten können wir uns nur entziehen, wenn wir nicht nur den Bildgehalt der zitierten Bibelstellen ausbeuten, sondern so genau wie nur möglich auf die Texte hinsehen und unbeirrt von vergleichenden Rücksichten fragen: »Warum steht das jetzt da eben so, wie es dasteht (nicht, wie wir uns seine Entstehung vorstellen können)?« Das dürfte im übrigen auch der rabbinischen Lesart entsprechen. In Jes 65,17 liegt aller Nachdruck darauf, daß Gott sein Schaffen verheißt: daß also alles, auf was wir ausschauen, in der Hand des Schöpfers liegt. Seinem schöpferischen Handeln gilt es Raum zu lassen. Wir, die wir diese Zusage vernehmen, werden umgeschaffen - bereits durch dieses Wort, im festen Vertrauen darauf, daß der, der sein unvorstellbares Schaffen zusagt, sein Wort halten wird. Wir werden umgeschaffen zum Lobe Gottes: das ist eingebettet in Lebensverhältnisse, in denen sich der unabsehbare göttliche Segen abzeichnet. 2.Petr 3,13 bindet die Erwartung eines neuen Himmels und einer neuen Erde an Gottes Geheiß und präzisiert das Kommende: »in denen Gerechtigkeit wohnt«. »Nach seiner Verheißung« ist bezogen auf das Kommen Christi. Es ist also nicht eine Quellenangabe, die besagt: Wir erwarten das, was 36

Synodalprotokoll (s.o. Anm. 1) 92f.

Rechenschaft über die Hoffnung im Vertrauen auf Gottes Treue

315

in dem Verheißungstext Jes 65 dokumentiert ist. Vielmehr ist die Erwartung des schöpferischen Handelns Gottes das Bindeglied zu Jes 65. Und das Subjekt des Bekenntnisses der Hoffnung nach 2.Petr 3,13 - »wir erwarten neue Himmel und neue Erde« - wird durch Gottes Verheißung erst geschaffen. »Das Objekt schafft sich das Subjekt.« 37 Von einer Hoffnung mit Israel ist an keiner Stelle die Rede, geschweige denn in späteren jüdischen Quellen von einer Hoffnung mit Christen. Spricht nicht gerade die Näherbestimmung »in denen Gerechtigkeit wohnt« dagegen? Neue Himmel und neue Erde werden durch andere Merkmale erkennbar, als sie in Jes 65,17-25 angezeigt sind. Dieser präzisierende Zusatz, der ja ganz alttestamentlich klingt, führt Gottes Gerechtigkeit gegen alle Jubeltöne über durchgreifend verbesserte Lebensbedingungen ins Feld. Die Rechenschaft über die Hoffnung im zweiten Petrusbrief wendet sich gegen »Spötter«, »die höhnisch sagen: Wo bleibt denn seine [Christi] verheißene Ankunft? Seit die Väter entschlafen sind, ist alles geblieben, wie es seit Anfang der Schöpfung war« (3,30- So reden die Verächter der Schöpfung, diejenigen, die nichts wissen wollen von dem Worte Gottes, das alles erschuf, alles erhält, alles für das Gericht bewahrt, in dem alle Gottlosigkeit zugrunde geht (3,7). Die Spötter operieren hingegen mit einem Hoffnungskriterium, das erlauben soll, die Erfüllung oder Nicht-Erfüllung der Verheißung festzustellen. Auf dieses Spiel läßt sich aber der Verfasser nicht ein, sondern er antwortet mit dem Bekenntnis der Hoffnung: mit der Bezeugung der Christusverheißung. Auch hier macht sich ein Getriebensein zur Erwartung bemerkbar: Die hoffnungslosen Spötter werden durch ihr Verhalten denunziert, das von der Sicherheit herrührt, definitiv sagen zu können, ob und wie die neue Welt heraufkommt. Sie verlassen sich nicht auf Gottes Geheiß, sondern meinen, über Indizien zu verfügen, die sie nachgewiesen sehen wollen - und weil diese ausbleiben, halten sie die Verheißung des Kommens Christi für haltlos. Sie meinen, eine urteilssichere Hoffnung zu haben, sie glauben zu wissen, wann sie noch hoffen können und wann nicht mehr. Deshalb lassen sie sich nicht durch Gottes Geheiß zu Hoffenden machen. Apk 21, Iff spricht von Gottes Kommen, seinem Wohnen unter den Menschen im »neuen Jerusalem«, das wie eine Braut vom Himmel kommt - geradezu ein Gegenbild zu dem Jerusalem aus den Tagen des Verfassers. Geschaut wird das Unvorstellbare: eine Welt ohne Tränen und Tod (21,4), ohne Nacht (21,25). Ist dergleichen überhaupt noch eine Welt, ist es »Schöpfung« nach dem Maße dessen, was wir von ihr wissen? »Man kann zwar sagen, daß die in der gegenwärtigen Welt erfahrenen lebensmindernden Faktoren nicht mehr vorhanden sein werden, aber man kann die Neuschöpfung nicht positiv beschreiben, weil das, was sie bringt, nicht eine Verbesserung und Steigerung des in der gegenwärtigen Welt Erfahrenen sein 37

H.Traub, 2.Petr 3,(3-7)8-13: GPM 44 (1989/90) 472-478: 472 Anm. 5.

316

Gerhard Sauter

wird, sondern eben das Neue schlechthin.« 38 Mit dem neuen Himmel und der neuen Erde ist das Ganze aufgehoben, werden wir verwandelt - so, daß unsere Wörter, die für unsere Realität gelten, nur noch negiert werden können und allein dadurch noch Umrisse für eine Beschreibung abgeben. In der Johannes-Apokalypse wird durchgehend zu zeigen versucht, daß die Welt, in der wir leben, nicht die ganze Wirklichkeit ist. Die grauenvolle Menschheitsgeschichte wird von einem Geschehen im Himmel begleitet, und von dorther greifen Gott und sein Christus immer wieder in die Geschehnisse auf der Erde ein. Am Ende - und davon handelt Apk 21 - kommt Gott selber unter die Menschen, er nimmt bei ihnen Wohnung. Damit werden aber die bisherigen Lebensbedingungen aufgehoben: Es wird eine Welt ohne Nacht und ohne Tränen sein, auch ohne Licht von außen, »denn ihre Leuchte ist das Lamm« (21,23). Wie das aussehen wird, wird nicht gesagt; es übersteigt ja nicht nur unsere Vorstellungskraft, sondern sprengt sie auf, weil die Polaritäten, die unsere Welterfahrung prägen, aufgehoben sind. Das einzige, was positiv hörbar wird, ist die Verheißung Gottes: »Seht, ich mache alles neu« (21,5). Damit wird unsere Wahrnehmung völlig anders konditioniert, als wenn man nach bestimmten Kriterien fragt, die erfüllt sein müssen, damit wir aufatmend feststellen können: »Ja, dies ist der neue Himmel und die neue Erde!« Die Gewißheit der Gegenwart Christi findet angesichts der Ungeheuerlichkeiten der andrängenden Welt ihre Sprache, so wird sie von neuem geboren. Das ist etwas anderes, als sich an der Erlösungsbedürftigkeit der Welt so auszurichten, daß daraus die Frage nach Gott erwächst oder auch die Hoffnung auf ihn, weil wir anders nicht leben könnten. Hoffnung findet ihre Sprache angesichts des Sieges Christi. Das bedeutet auch, daß u.U. mehr gesagt werden kann - etwa in Rom 8,19-25 -, als gesagt werden müßte, wenn angenommen wird, die Schöpfung sei unvollendet. Dann müßte Unvollkommenes komplettiert vorgestellt werden. Auch für die Zukunft der Schöpfung gilt jedoch: Wir erwarten mehr, als wir aussagen können. So dürfen wir die biblischen Hoffnungstexte nebeneinander lesen. Um einen Text wie Jes 65,17 lesen zu können, brauchen wir keine Ursprungsintentionen zu ergründen, sondern der Text kann in anderen Vernetzungen oder die Wiederkehr des Textes in anderen Texten gelesen werden. Als ein Beipiel sei Martin Luthers Zusammenschau von 2.Petr 3,13, Jes 65,17f und l.Kor 15,26 in seiner Paraphrase von Ps 8,4 genannt: »Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast«. Luther fragt: Können wir Gottes schöpferisches Werk ermessen, wenn wir unsere Augen am Himmel umherschweifen lassen oder auf die Erde starren? Nein, kann die Antwort nur lauten, denn der Beter des Psalms spricht eschatologisch, er redet von den neuen Himmeln und der 38

J.Roloff, Die Offenbarung des Johannes, Zürich 1984 (ZBK.NT 18) 199.

Rechenschaft über die Hoffnung im Vertrauen auf Gottes Treue

317

neuen Erde, von denen nur die sprechen können, die Gott zum Jubeln umgeschaffen hat (wie in Jes 65 angesagt), die dadurch in seine Welt emporgehoben werden, nachdem (wie nach 2.Petr 3 verheißen) alles vernichtet worden ist, was den Lobpreis Gottes hemmen könnte, zumal der Tod (laut l.Kor 15,26.54f). Sprechen können von alledem nur die Unschuldigen, die »jungen Kinder und Säuglinge«, mit deren Stammeln Gott seinen Feinden ein Zeichen seiner Macht setzt (Ps 8,4): die Kirche nämlich in ihrem Reden von Gott bis zum Ende der Welt. 39 Eine gemeinsame Hoffnung von Juden und Christen? Wenn Gott in Jesus Christus das Ja zu seinen Verheißungen gesprochen hat (2.Kor 1,20), dann sind diese Verheißungen in dieser Gestalt der Fixpunkt, von dem her die Bestimmung von Kirche und Israel erwartet werden darf. Nicht ein gemeinsamer Nenner! Gottes Verheißungen sind mehr als nur eine Sprachgestalt. Sie sind der Grund, auf dem Israel ebenso wie die Kirche steht - wenn sie von sich als Israel und Kirche reden! Verheißungen sind nicht identisch mit Hoffnungsvisionen, die literarisch abgrenzbar sind. Aus welchem Grunde könnten, ja müßten wir dann sagen, daß unsere Hoffnung an die Hoffnung Israels gebunden ist? Daß sie womöglich nicht ohne Israel auskommt - daß ohne Israel keine christliche Erwartung des neuen Himmels und der neuen Erde möglich sein kann? Wie ist die Hoffnung der Kirche so mit der Hoffnung Israels verbunden, daß Israels Hoffnung auch für die Kirche verbindlich wird? Gefragt wird also nicht nach einer kontingenten Gemeinsamkeit, zu der sich Christen auch beliebig verhalten könnten, sondern nach einer Verbindlichkeit für beide. Dafür reicht kein gemeinsames Hoffnungsbild aus, auch nicht als Indiz für eine verbindliche Hoffnungstradition. Die Traditionsgeschichte der Bibeltexte gibt keinen Anhalt für eine gemeinsame Hoffnung - und auch wenn es einen solchen Anhalt gäbe, wäre eine Herkunftsangabe keine theologisch hinreichende Begründung. Denn niemand kann sich der Hoffnungstradition anderer einfach so anschließen, auch wenn ihn deren Vorstellungen ansprechen mögen. Es wäre dann immer noch keine begründete Hoffnung. Können Christen die Hoffnung anderer in ihre Bekenntnisgrundlage aufnehmen - ganz abgesehen von der Frage, ob dies auch wirklich die Hoffnung dieser anderen ist? Können sie nicht ihr Verhältnis zu allen anderen und den Juden zumal! - einzig und allein im Gewärtigsein Jesu Christi wahrnehmen, der für alle gestorben ist? Sie haben kein anderes, unmittelbares oder anderswie vermitteltes Verhältnis zu anderen, auch nicht über eine gemeinsame Zukunftsperspektive. So werden wir in der Erwartung des Kommens Gottes an die Grenzen unserer Wahrnehmung geführt. Wir werden zur Hoffnung getrieben. Der Blick der Hoffnung überschneidet sich mit der Redeform der Doxologie. Jetzt 39

Operationes in Psalmos (1519-1521): WA 5,264,1-16.

318

Gerhard Sauter

zeigt sich, daß die Doxologie kein Ausdruck der Kapitulation ist - auch nicht der Kapitulation vor der Störung, die »Israel« bedeuten könnte. So kommt auch christliche Hoffnung nicht ohne den Blick auf Israel und seine Zukunft aus. Warum aber? Weder deshalb, weil das jüdische Volk einen so zähen Lebenswillen bewiesen hat, daß auch seine Zukunft gesicherter erscheint als das vieler anderer Gemeinschaften, die Kirche eingeschlossen. Noch deswegen, weil die jüdische Hoffnung plausibler ist als die christliche, da sie politisch ergiebiger ist, vielleicht dadurch auch verwundbarer, aber trotz aller Blessuren durch Fehlschläge auch mehr abgehärtet und unnachgiebiger. Warum aber dann? Durch Gottes Verheißung werden wir vielmehr gemeinsam an die Grenzen dessen geführt, was wir vor uns sehen. Von Gottes Ja ist die Bestimmung der Kirche ebenso wie die Israels zu erwarten, weil es Gottes Ja zu seinen Verheißungen ist. Die Kirche sieht sich hier gestört durch die Identifikation von Gottes Handeln mit bestimmten Lebensbedingungen - nicht bloß Israels, sondern idealen Lebensbedingungen überhaupt (was dann allzu leicht als »politisch« denunziert wird). Umgekehrt wird eine christliche Identifikation des Handelns Gottes mit einer christlichen Befindlichkeit (etikettiert als »fromme Innerlichkeit« o.ä.) in Frage gestellt und gestört durch die jüdische Weigerung, die Hoffnung auf eine neue Welt durch das Erlöstsein einzelner erfüllt zu sehen. Im Blick auf das, was wir noch nicht sagen können - und dies ist etwas anderes als das, was wir uns nicht vorstellen könnten! -, könnte hoffentlich ein Gespräch von Israel und Kirche in Gang kommen: im Blick darauf, was keiner von uns bisher aussagen kann, wovon wir aber auch nicht schweigen dürfen, weil Gott verheißungsvoll zu uns gesprochen hat, »auf vielerlei Weise ...« (Hebr 1,1). Wenn wir davon reden, schweigen wir zugleich: über das, was aus guten Gründen noch nicht gesagt werden kann, was aber, wie in Rom 9-11, zu bestimmten Redeformen treibt - sei es zu dem Stammeln von 2.Petr 3,13, einem schon grammatikalisch holprigen Versuch, das Verheißungsgut zu umreißen, das nicht durch Vergleiche mit dem Lauf der Dinge festgestellt oder nicht zur Deckung gebracht werden kann, sei es durch eine Vision wie in Apk 21,1, die durch die Audition in V.5 durchbrochen und dadurch erst durchsichtig wird. Was dürfen wir sagen, um wirklich Hoffnung zu wecken? Was als Gottes Verheißung zu Gehör kommt, bringt uns zu Gesicht, was wir uns niemals vorstellen können - auch nicht als Transzendenz unserer Vorstellungen. Eben dies wird in Apk 21 durch die Merkmale des Wohnens Gottes bei den Menschen, der Herabkunft des neuen Jerusalem, umrissen: eine Welt ohne Nacht und ohne Tränen. Weil Bestimmtes gesagt werden kann, darf Unsagbares offenbleiben. So wird Hoffnung ausgesprochen und geweckt. Israel mußte immer wieder lernen - und dies können und sollten wir von ihm lernen! -, von der zeichenhaften Erfüllung einer Verheißung her aufs

Rechenschaft über die Hoffnung im Vertrauen auf Gottes Treue

319

neue nach Gottes Handeln auszuschauen und so ausgesprochene Verheißungen neu zu verstehen. 40 Israel konnte sich nie ausruhen, war immer auf dem Wege. Was beim Eintreffen der Verheißung erlebt wird, drängt zu neuer Erwartung. Die Gottesgemeinde wird dadurch überrascht und umgeprägt. Wäre dieser Lernprozeß verbindlich? Israel bekam etwas zu erfahren, und zwar gerade, was das Junktim zwischen Gottes Verheißung und Israels corporate identity betrifft. Die Kirche hat sich gewissermaßen von diesem Erwartungsdruck gelöst, indem sie sich nicht soziologisch bestimmte, aber sie ist doch auch eine societas, keine societas perfecta, auch kein Volk, aber doch eine Gemeinde und Gemeinschaft. Daß die Kirche nicht mehr soziologisch bestimmbar ist, hängt doch wohl auch damit zusammen, daß es den Zaun zwischen Juden und Heiden nicht mehr gibt und daß damit die Perspektive auf die Menschheit als ganze begründet wird. Dieses Ungeheuerliche kann von der Kirche nicht selbst dargestellt werden. Das Gegenüber von Israel und Kirche ist virtuell eine Verheißung für die Menschheit. Die jüdische Erwartung weitet sich für das Kommen der Völker zum Zion, auf daß sie sich Gottes Herrschaft unterstellen. Die christliche Hoffnung richtet sich auf das Kommen Jesu Christi, des verborgenen Weltenherrschers, der alle Lebenden und Toten richten wird. Konkurrieren diese universalistischen Perspektiven miteinander? Folgen wir der im christlich-jüdischen Gespräch favorisierten Anschauung, Jesus von Nazareth habe Gottes Verheißungen nun auch den Heiden gebracht und sie damit in die Geschichte Gottes mit seinem Volk einbezogen, dann wäre die Christenheit nichts weiter als eine universalistische Variante des Judentums. Diese integrative Zuordnung scheitert bereits daran, daß die christliche Kirche nie eine Völkergemeinschaft darstellen konnte, auch nicht in den Blütezeiten ihrer Mission, es sei denn in pervertierter Form: wenn die christliche Kirche eine Weltkirche mit imperialem Anspruch sein will, auch unter dem Deckmantel ökumenischer globaler Einheit. Das Verhältnis der Kirche (und Kirchen) zu den Völkern, in denen sie lebte, stellt für das Judentum - gerade in der Diaspora - eine Störung dar. Und umgekehrt bildet das Judentum eine Störung für die christliche Mission. Auch wenn die Kirche eine Gemeinschaft von Judenchristen und Heidenchristen ist, kann die Begegnung des jüdischen Volkes mit dem kommenden Christus nur erhofft werden. Was »Menschheit« heißt, bleibt also im Gegenüber von Israel und Kirche eine offene Frage. Und dies ist keine abstrakte Frage nach der größten denkbaren Einheit von Menschen, sondern die Zuspitzung der Erlösungsfrage: Wird die Schöpfung von ihrem Leerlauf befreit, wird dies

40

Vgl. dazu W.Zimmerli, Verheißung und Erfüllung: EvTh 12 (1952/53) 34-59, bes. 41.51 f. Zimmerli mahnt deshalb »das Gespräch mit dem geschichtlichen Israel« an (58). »Die Kirche wird der Frage immer weniger ausweichen können, was es um diesen Israelanspruch ist, wo sein Recht, seine Grenzen, seine Verführung liegen« (59).

320

Gerhard Sauter

eine erlöste Gemeinschaft unvorstellbaren Ausmaßes, ein unausdenkbares Miteinander aller Geschöpfe sein (Rom 8,19-23). Israel und die Kirche sind Gottes Verheißungen unterschiedlich begegnet, und sie antworten darauf auf verschiedene Art und Weise. Hoffnung mit Israel ist möglich, weil die Zukunft der Kirche wie die Zukunft Israels in Gottes Verheißungen gründet. Steht Jesus Christus dazwischen? Jedenfalls steht er nicht über beiden, er tritt ihnen allen entgegen, auf verschiedene Weise vielleicht, aber wissen wir das so genau? Mit dem, was wir von anderen sagen können, sollten wir vorsichtiger sein. Eine christliche Kirche kann keine Gemeinsamkeit der Hoffnung mit Israel behaupten, ohne von einer Gemeinsamkeit des Glaubens zu sprechen. Darf sie das aber redlicherweise? Wenn wir auf vergleichbare, ähnlich klingende oder gar gleichlautende Äußerungen der Hoffnung stoßen, werden wir dadurch erst recht vor die Frage gestellt, wie solche Äußerungen begründet sind - und nicht, ob ihre Perspektiven zur Deckung kommen. Der Glaube, der in Gottes Ja zu seinen Verheißungen in Jesus Christus befestigt ist, wird zur Hoffnung getrieben. Diese Hoffnung kann sich nicht auf einer sicheren Grundlage - und hieße sie »Glaube« - konstruktiv entfalten. Sie ist eine Bewegung, die Wagnisse eingeht, weil sie eben getrieben wird, nicht weil sie aus sich selbst heraus dynamisch nach vorn drängt. In der Hoffnung wird gesagt, was uns noch nicht gegeben ist - und zwar in weit größerem Maße und auf andere Weise, als es uns im Glauben nicht gegeben ist, damit er Glaube bleibt und sich an Gottes Verheißungen festmacht, dort Anker wirft. Insofern kann der Glaube sicheren Stand gewinnen in dem, was ihm zugesagt ist: Er kann Gewißheit erlangen. Die Hoffnung bleibt auf das ausgestreckt, was wir noch nicht sagen können und doch ansagen müssen, um nicht voreilig sprachlos zu werden: den neuen Himmel und die neue Erde. Um diese Hoffnungsperspektive zu erhalten, verläßt der Glaube sich selber nicht, doch er wird von der Hoffnung, die auf derselben Ebene wie der Glaube bleibt und sich nicht über ihn hinausschwingt, unermeßlich überboten. Soweit können wir mit Israel gehen, zwar nicht Seite an Seite, aber in einer Begegnung des Lesens derselben Schriften. Mögen die Lesarten verschieden sein - auch der biblischen Texte, die in dem Ergänzungssatz zur bisherigen rheinischen Kirchenordnung anklingen -, so kann doch der Lesehinweis zusammenführen, hoffentlich sogar zu Gesprächen nicht nur über Hoffnungen, sondern aus der Wahrnehmung begründeter Hoffnung heraus und auf diese hin.

Über Empfänger und Anlaß des Hebräerbriefes v o n WALTER SCHMITHALS

Viele Probleme, mit denen sich die Ausleger des Hebräerbriefes herumgeschlagen haben, stehen heute mit Recht nicht mehr auf der Tagesordnung. Die Ansicht, das Schreiben sei ursprünglich hebräisch abgefaßt, ist längst preisgegeben. Man streitet nicht mehr um die paulinische Autorschaft, und man hat es im allgemeinen überhaupt aufgegeben, einen Autor namhaft zu machen. Daß der Hebräerbrief kein echter Brief ist, gilt ungeachtet der Unsicherheiten, ihn einer bestimmten literarischen Gattung zuzuordnen, als ausgemacht. Seine Überschrift hält man für sekundär und aus dem Inhalt der Schrift erschlossen, und auch den brieflichen Schluß nimmt niemand mehr ohne Vorbehalt für den Autor in Anspruch1, so daß sich auch die Frage nach dem bestimmten Ort, an dem die Adressaten wohnen, für die meisten Forscher als unbeantwortbar erledigt hat. Auch hat sich mit Recht die Meinung durchgesetzt, daß das feierliche Proömium ausschließt, die Schrift habe ursprünglich ein briefliches Präskript besessen. Daß sich ihr Autor an eine bestimmte Gruppe innerhalb einer größeren Gemeinde richtet, wie man bei der Voraussetzung einer römischen Adresse gerne und unter Hinweis auf den brieflichen Schluß (13,24) annahm, vermögen nur noch wenige Forscher seinem Schreiben zu entnehmen2. Auch die Suche nach einer christlichen Irrlehre, von der die Leser versucht worden sein sollen, hat man nahezu gänzlich aufgegeben. Die Art und Weise des Umgangs seines Verfassers mit dem Alten Testament wurzelt nach allgemeiner Auffassung im hellenistischen Judentum. Ein noch lebendiger Tempelkult in Jerusalem wird vom Hebräerbrief keineswegs vorausgesetzt, und dessen Abfassung in nachapostolischer Zeit steht in der Regel außer Frage. Die theologischen und die paränetischen Abschnitte der langen >Mahnrede< (13,22) werden im allgemeinen nicht mehr gegeneinander abgewogen oder gar ausgespielt, sondern gelten als die beiden Seiten einer Argumentation; die theoretischen Ausführungen zielen auf die Paränese. Und schließlich ist auch das QumranFieber, von dem manche Erforscher des Hebräerbriefs angesteckt waren, inzwischen abgeklungen.

1

Ich halte 13,13-14 für die abschließenden Worte der ursprünglichen Schrift und lasse deshalb im vorliegenden Beitrag 13,15-25 unberücksichtigt. Vgl. auch W.Schmithals, Der Hebräerbrief als Paulusbrief: Die Weltlichkeit des Glaubens in der Alten Kirche. FS Ulrich Wickert, Berlin/New York 1997, 319-337.

2

Vgl. aber z.B. H.-F.Weiß, Der Brief an die Hebräer, Göttingen 1991 (KEK 13) 74f.

322

Walter Schmithals

Andere Fragen dagegen sind offen, und mit ihnen bleibt auch der historische Ort des Hebräerbriefs und seine Einordnung in die urchristliche Theologiegeschichte umstritten. Zwar liegt am Tage, daß das Schreiben sich an Christen wendet, die unter dem Eindruck von Verfolgungen und in der Gefahr des Abfalls stehen. Ist aber die Schrift an die allgemeine Kirche gerichtet, die sich dann insgesamt in dieser Situation befinden würde, oder an eine bestimmte Gruppe in ihr? Ist das letztere der Fall, bleibt kontrovers, ob es sich bei den Adressaten um Juden- oder um Heidenchristen handelt und ob der Abfall ins Heidentum oder in die Synagoge droht. Worin sind Anlaß und Zweck der Schrift zu suchen? Und wie hängen diese Fragen miteinander zusammen, so daß sie ggf. einer gemeinsamen Antwort bedürfen?

I Ferdinand Christian Baur räumte im Rahmen seines Geschichtsbildes »dem Hebräerbrief der Zeit und der Sache nach die erste Stelle«3 in dem Vermittlungsprozeß ein, in dem Judenchristentum und Heidenchristentum in nachapostolischer Zeit zueinander finden. Zwar ist er ein Produkt des Judenchristentums, nicht des Paulinismus, aber sein Judenchristentum ist »ein freieres und geistigeres, das weit genug ist, um den Paulinismus selbst schon zu seiner Voraussetzung zu haben«4. Weil Baur in seiner bezeichnenden Weise das Interesse ganz auf den großen Entwicklungsprozeß des Christentums richtete, in dem der Hebräerbrief jene fortgeschrittene Stufe markiert, auf welcher »der Unterschied der Judenchristen und Heidenchristen in der concreten Anschauung einer über den Gegensätzen stehenden Einheit von selbst ein verschwindendes Moment des gemeinsamen religiösen Bewußtseins wird« 5 , interessierten ihn die näheren historischen Umstände und ein unmittelbarer Anlaß des Schreibens nicht, die im Blick auf den gesetzmäßigen Fortgang der Christentumsgeschichte nur zufallige Bedeutung haben können. Solche Abstinenz war den Forschern indessen um so weniger erschwinglich, je weiter sie sich von dem Geschichtsbild der Tübinger Schule entfernten, das freilich insofern allerorten bestimmend blieb, als Judenchristen und Heidenchristen die beiden deutlich unterscheidbaren Gruppierungen im frühen Christentum bilden. Sie fragten nach Schreiber und Empfänger und nach dem Anlaß der Schrift an die Hebräer, und da unabhängig von der Überschrift der Inhalt des Hebräerbriefs darauf verwies, daß die Adressaten nicht nur mit dem Alten Testament vertraut waren, sondern auch ihren 3

F.Ch.Baur, Kirchengeschichte der drei ersten Jahrhunderte, Tübingen 3 1863, 109; vgl. ders., Vorlesungen über neutestamentliche Theologie, Leipzig 1864, 230-256.

4

Baur, Kirchengeschichte (s.o. Anm. 3) 109.

5

Ebd. 116.

Über Empfänger und Anlaß des Hebräerbriefes

323

christlichen Standpunkt nicht ohne Übereinstimmung mit dessen Aussagen einzunehmen gewillt waren, galten sie durchweg als Judenchristen, und die an sie gerichtete Ansprache verfolgte demzufolge den Zweck, sie von dem Rückfall ins Judentum abzuhalten, sei es, daß ein maßvoller Judenchrist, sei es, daß ein >alexandrinisch< gebildeter Pauliner sie in solcher Weise ansprach 6 . Die Einleitungsfrage nach den Adressaten richtete sich deshalb meist gleich auf den Ort, an dem die angesprochenen Judenchristen wohnten. Schon Roth 7 hatte allerdings unter Verweis vor allem auf 6,lf die Behauptung aufgestellt, der Hebräerbrief sei an Heidenchristen gerichtet. Diese These berührte freilich den Konsens der Forschung solange nicht wesentlich, als man diesen Heidenchristen judaistische Neigungen zuschrieb: »Sie sind Heiden von Geburt, aber Judenchristen von Gesinnung.« 8 Das änderte sich, als Hermann v.Soden 1884 nicht nur den ausführlichen Nachweis versuchte, die Adressaten des Hebräerbriefs seien Heidenchristen, sondern aus dieser Einsicht auch den Schluß zog, das Schreiben ziele gar nicht auf judaisierende Neigungen der Leser, sondern der ganze exegetische Aufwand seines Verfassers habe nur den Sinn, die Größe und die allgemeine Überlegenheit des Christentums zu demonstrieren, um die in ihrem Glaubensmut erschlafften und vom Abfall in heidnisches Wesen bedrohten Christen aufzurichten und zu bestärken 9 , v.Sodens Argumentation ist primär negativ: Die Leser würden nie mit Ausdrücken angeredet, die sie deutlich als Judenchristen kennzeichnen, und an keiner Stelle sei angedeutet, daß der drohende Abfall von jüdischen Neigungen bewirkt wird oder daß die Verfolgungen von jüdischer Seite ausgehen; auch die Argumentation mit der Schrift des alten Bundes setze keineswegs zwingend Judenchristen als Leser voraus. Ein >Abfall vom lebendigen Gott< (3,6) könne keinesfalls judaisierenden Chri-

6

Ein »Labyrinth von endlosen, bald zur Rechten, bald zur Linken sich eröffnenden Sackgassen durchwandelnd, ging die Kritik von der scheinbar so berechtigten Annahme aus, daß die Beweisführungen unseres Briefes einen ganz in alttest(amentlichen) Gedankenkreisen sich bewegenden, völlig in jüdischen Anschauungen und Begriffen lebenden Leserkreis voraussetzen« (H.J.Holtzmann, Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung in das Neue Testament, Freiburg 2 1886, 340).

7

E.M.Röth, Epistolam vulgo ad Hebraeos inscriptam non ad Hebraeos, id est Christianos genere Judaeos, sed ad Christianos genere gentiles et quidam ad Ephesios datam esse demonstrare conatur, Francofürti a.M. 1836.

8

E.Schürer, Rez. A.Hilgenfeld, Historisch-kritische Einleitung in das Neue Testament (1875) und F.Bleek, Einleitung in das Neue Testament (1875): ThStKr 49 (1876) 755778: 777.

9

H.v.Soden, Der Hebräerbrief: JPTh 10 (1884) 435-493.627-656; ders., Hebräerbrief, Briefe des Petrus, Jakobus, Judas, Freiburg 3 1899 (HC 3/2) 12-18; vgl. E.Lohse, Die Entstehung des Neuen Testaments, Stuttgart u.a. 1972 (ThW 5) 125.

324

Walter Schmithals

sten drohend vor Augen gestellt werden10, und die in 6,lf vorgestellten Fundamentalartikel des Glaubens - ein eindrucksvolles positives Argument seien vernünftigerweise nur verständlich, wenn der Autor sich an ehemalige Heiden wende. v.Soden erhielt sogleich viel Beifall11, und damit gerieten die bewährten Koordinaten der Forschung durcheinander. Man beginnt nun allerorten vom >Rätsel des Hebräerbriefs« zu sprechen, und indem sich die Frage nach den Adressaten neu stellte, mußte auch die Absicht bzw. die Argumentationsweise des Verfassers von neuem bedacht werden; denn war diese bisher ohne weiteres verständlich gewesen, wenn sich der Autor an Judenchristen wandte, die in Gefahr standen, ins Judentum zurückzufallen, war sie Heidenchristen gegenüber nicht in gleicher Weise einleuchtend zu machen. Schon v.Soden selbst12 und dann auch Jülicher befreiten sich aus dem wesentlichsten Stück des entstandenen Dilemmas mit einer einfachen Synthese der überkommenen Erklärungen: Der Hebräerbrief wendet sich »an Christen schlechthin, ohne jede Reflexion auf ihre Nationalität«13; an der Frage nach der Herkunft der Christen sind weder der Schreiber noch die Empfänger der Schrift mehr interessiert. Der Autor ad Hebraeos schreibt in Wahrheit »an Christen als Christen«14. Auch der Ausleger hat also die Frage >Heide oder Jude< »absolut zu ignorieren«15. Auf diese Auskunft hat man sich in der Folgezeit weithin geeinigt16, und während Jülicher noch mit einem bestimmten, örtlich begrenzten Adressatenkreis rechnete17, nimmt man heute oft an, daß 10

Ein allerdings fragwürdiges Argument; vgl. H.Feld, Der Hebräerbrief, Darmstadt 1985 (EdF 228) 10.

11

»Ganz durchgedrungen ist ja nun diese Auffassung noch längst nicht, aber ich glaube, sie wird bleiben« (W.Wrede, Das literarische Rätsel des Hebräerbriefs, Göttingen 1906 [FRLANT 8] 1). 1950 hält A.Oepke (Das neue Gottesvolk, Gütersloh 1950, 18) die alte Ansicht für »so gut wie ganz aufgegeben«.

12

v.Soden: JPTh 10 (s.o.Anm. 9) 489-493; ders., Hebr (s.ebd.) 15f.

13

A. Jülicher, Einleitung in das Neue Testament, Tübingen

14

P.Feine/J.Behm, Einleitung in das Neue Testament, Heidelberg 8 1936, 219.

15

Jülicher, Einleitung (s.o. Anm. 13) 143.

16

Vgl. z.B. H.Windisch, Der Hebräerbrief, Tübingen 2 1931 (HNT 14) 127f; O.Michel, Der Brief an die Hebräer, Göttingen 1949 (KEK 13) 14; A.Wikenhauser/J.Schmid, Einleitung in das Neue Testament, Freiburg 6 1972, 547f; W.G.Kümmel, Einleitung in das Neue Testament, Heidelberg 1 7 1973, 353; H.Köster, Einführung in das Neue Testament, Berlin/New York 1980, nennt die Ansicht, daß das Schreiben sich speziell an Judenchristen richte, sogar »eine ganz abwegige Annahme« (711); A.Vanhoye, Art. Hebräerbrief: TRE 14 (1985) 494-505: 497; E.Gräßer, An die Hebräer. I. Hebr 1-6, Zürich/Braunschweig u. Neukirchen-Vluyn 1990 (EKK XVII/1) 24; Weiß, Hebr (s.o. Anm. 2) 59f.71f.

17

Ebenso z.B. A.Harnack, Probabilia über die Adresse und den Verfasser des Hebräerbriefs: ZNW 1 (1900) 16-41; Windisch, Hebr (s.o. Arnn. 16) 127f; Michel, Hebr (s.o.

5+6

1 9 0 6 , 141.

Über Empfänger und Anlaß des Hebräerbriefes

325

der Hebräerbrief »auf die Kirche« blickt 18 und daß ihm »die Grundprobleme einer Generation«19 vor Augen stehen, die »von der typischen Glaubensmüdigkeit ernstlich bedroht« ist, »wie sie sich beim Nachlassen der ersten Begeisterung einstellt« 20 . Die theologische Argumentation des Schreibens ist also nicht auf spezifische Empfanger hin entworfen, und insonderheit droht kein Rückfall ins Judentum, sondern: »Geschärfte theologische Denkanstrengung wird eingesetzt als Waffe gegen den kirchlichen Niedergang. Bessere Theologie und nichts als bessere Theologie!« 21 Die Forschung ist damit in einem weiten Kreisbogen wieder auf die Position Baurs eingeschwenkt, freilich in einem spiralförmig verlaufenen Kreisbogen, da sie sich aus den spekulativen Voraussetzungen des Tübinger Geschichtsbildes hinausgewunden hat. Die theologische Argumentation des Hebräerbriefs, die sich in dezidierter und zudem in einer spezifischen Weise am Alten Testament ausrichtet, ist dieser heute vorherrschenden Deutung allerdings nicht sehr günstig, und es verwundert daher nicht, wenn vor allem in der außerdeutschen Forschung gerne an der judenchristlichen Adresse des Hebräerbriefs festgehalten wird 22 . Denn auch bzw. gerade dann, wenn man dem argumentum e silentio nachgibt und einräumt, daß der Hebräerbrief den Gegensatz von Judenchristen und Heidenchristen überhaupt nicht kennt und an eine >katholische< Christenheit gerichtet ist, ist nicht leicht zu verstehen, wie sein Verfasser Anm. 16), denn »die konkreten Züge einer bestimmten Gemeinde (10,25.32-34) lassen sich nicht typisieren« (15f); Wikenhauser/Schmid, Einleitung (s.o. Anm. 16) 561f; Kümmel, Einleitung (s.o. Anm. 16) 351; Weiß, Hebr (s.o. Anm. 2) 74. 18

M.Dibelius, Der himmlische Kultus nach dem Hebräerbrief: ThBl 21 (1942) 1-11.

19

H.-M.Schenke/K.M.Fischer, Einleitung in die Schriften des Neuen Testaments, Berlin, II 1979, 272; Gräßer, Hebr I (s.o. Anm. 16) 24f.

20

Gräßer, Hebr I (s.o. Anm. 16) 24; vgl. W.Marxsen, >Christliche< und christliche Ethik im Neuen Testament, Gütersloh 1989, 240f.

21

Gräßer, Hebr I (s.o. Anm. 16) 27.

22

Vgl. z.B. J.Moffatt, A Critical and Exegetical Commentary on the Epistle to the Hebrews, Edinburgh 1924 (ICC 14) XV-XVII; C.Spicq, L'Epitre aux H6breux, Paris, I 1952 (EtB) 220-252; ders., L'Epitre aux Hfibreux, Paris 1977, 29f; W.Manson, The Epistle to the Hebrews, London 1951, passim; H.Montefiore, A Commentary on the Epistle to the Hebrews, London 1964 (BNTC) 16; S.G.Sowers, The Hermeneutics of Philo and Hebrews, Zürich 1965, 73f; F.V.Filson, >Yesterdayallgemeine< Christenheit mit seinem speziellen schriftgelehrten Fündlein der Überlegenheit des Hohenpriesters Jesus über den alttestamentlichen Hohenpriester zur Bekenntnistreue ermutigen oder verpflichten zu können. Theologie ist ihrem Wesen nach empfängerorientiert, und sie hat es zumal in einer derart kritischen kirchlichen Situation zu sein, wie sie der Verfasser des Hebräerbriefes zu bewältigen trachtet 23 . Erkennbar ist solche Empfangerorientierung aber nicht, wenn dieser Verfasser sich tatsächlich an die müde gewordene Kirche seiner Zeit überhaupt wenden sollte. Es ist darum nicht grundlos, wenn Feld 24 die schon 1913 geäußerte Ansicht von Riggenbach25 zu bedenken aufgibt, die Annahme einer judenchristlichen Adresse sei kein »alter Irrtum, sondern eine neuerlich verkannte Wahrheit, zu der man durchaus zurückkehren muß, wenn man nicht auf ein geschichtliches Verständnis des Briefes verzichten will«. Hinsichtlich der Benutzung des Alten Testaments durch den Autor ad Hebraeos hatte v.Soden erklärt, »daß hierin zwischen heidenchristlichen und judenchristlichen Gemeinden kein Unterschied war, nachdem Paulus ... demselben Autorität in seinen heidenchristlichen Gemeinden verschafft hatte«26, und diese Auskunft wird seitdem gerne unreflektiert wiederholt 27 . Indessen hat schon Harnack beobachtet, »daß Paulus das A.T. nicht als das christliche Quellen- und Erbauungsbuch von vornherein den jungen Gemeinden gegeben, sondern daß er Mission und Lehre zunächst ganz und gar auf das Evangelium selbst gründet ...« 28 , und noch von Ignatius urteilt er, dieser nehme zum Alten Testament »noch wesentlich dieselbe Stellung ein wie der Apostel« Paulus 29 . In der Tat läßt sich zeigen, daß die neutestamentlichen Autoren zwar für ethische Aussagen gerne auf das Alte Testament zurückgreifen, daß aber im ganzen frühen Christentum die wesentlichen Aussagen des Evangeliums auf dem Heilsgeschehen selbst beruhen und nur dann mit Hilfe des Alten Testaments vorgetragen werden, wenn dies um solcher Adressaten willen erforderlich ist, die sich an dessen Autorität ge-

23

Die Argumentation von F.Barth, Einleitung in das Neue Testament, Gütersloh 3 1914, zugunsten heidenchristlicher Leser stellt jedenfalls dem Verfasser ein äußerst schlechtes Zeugnis aus: »Die Argumentation aus dem Inhalt verwechselt ein Bedürfnis des Verfassers mit einem Bedürfnis der Leser« (125).

24

Feld, Hebräerbrief (s.o. Anm. 10) 9.

25

E.Riggenbach, Der Brief an die Hebräer, Leipzig u.a. 1913 (KNT 14) XXVI.

26

v.Soden: JPTh 10 (s.o. Anm. 9) 485.

27

Vgl. z.B. Kümmel, Einleitung (s.o. Anm. 16) 352f; Gräßer, Hebr I (s.o. Anm. 16) 23.

28

A.v. Harnack, Das Alte Testament in den Paulinischen Briefen und in den Paulinischen Gemeinden: SPAW 1928, 124-141: 137.

29

Ebd. 138.

Über Empfänger und Anlaß des Hebräerbriefes

327

bunden wissen30. Schon die Benutzung des Alten Testaments überhaupt bzw. als eines solchen ist also stets >leserorientiertBeschneidungsleute< mit deren eigenen Waffen schlagen. Weist also schon die ausgiebige Benutzung des Alten Testaments als solche auf irgendeine >jüdische Interessenlage< der Leser des Hebräerbriefes hin, so erst recht seine argumentative Verwendung. Es soll dem Verfasser um »Auslegung und Aktualisierung der Bekenntnisüberlieferung in Entsprechung zur Situation der Adressaten«32 bzw. um »Neuauslegung des Bekenntnisses zum gekreuzigten und erhöhten Christus«33 gehen. Schaut man indessen genauer hin, so wird das weithin traditionell formulierte Bekenntnis zu Jesus, dem präexistenten und über die Engel und Mose(!) erhabenen Sohn, der um der Sünden der Menschen willen gelitten hat, zwar immer vorausgesetzt und ständig in Erinnerung gerufen, aber dort, wo es in die exegetischen Ausführungen einbezogen wird, keineswegs >ausgelegt< und auf die Situation der Leser bezogen, um sie durch ein besseres Verständnis der Bekenntnissätze im Bekennen zu befestigen, sondern die entsprechenden Aussagen empfangen ihre Konturen stets durch den Rückbezug auf das Alte Testament: Soweit Jesus höher ist als die Engel und als Mose, ist der neue Bund höher als der alte. Jesus ist der Hohepriester des besseren Bundes, der nicht in die irdische Hütte, sondern in das himmlische Heiligtum einging, der nicht für die eigenen Sünden zu opfern brauchte, der nicht das Blut der Böcke, sondern sein eigenes Blut vergossen hat, der nicht viele Opfer darbrachte, sondern sich ein für allemal zum Opfer darbrachte usw., und die Gemeinde ist nicht zu dem schrecklichen Berg gekommen, den man nicht anrühren konnte, ohne zu sterben, sondern zu dem Berg Zion und dem Blut des neuen Bundes, das besser redet als Abels Blut. Es wird also das Alte Testament im Lichte des Christusbekenntnisses ausgelegt und in seiner Vorläufigkeit erwiesen, nicht aber das Christusbekenntnis im Lichte des Alten Testaments erklärt. »Das kann doch nicht nur ein doktrinäres Mittel sein, um Heidenchristen vor Glaubensschwäche zu warnen.«34 Denn keineswegs wird aus den alttestamentlichen Ordnungen »der Beweis für die Bedeutung des ih30

Vgl. W.Schmithals, Das Alte Testament im Neuen. Zum Problem einer >gesamtbiblischen Theologiec Christliches ABC, Gruppe 4 (1996) 247-284.

31

»Einfachen Heidenchristen mutet Paulus schon im Gal schwierige at. Schriftbeweise zu, um so viel mehr kann das Lesern gegenüber geschehen, denen ein so formvollendeter Brief wie Hb zugedacht wird, die also auf einer gewissen Bildungsstufe stehen« (Kümmel, Einleitung [s.o. Anm. 16] 352f).

32

Weiß, Hebr (s.o. Anm. 2) 56.

33

Gräßer, Hebr I (s.o. Anm. 16) 26.

34

G.Hoennicke, Das Judenchristentum im ersten und im zweiten Jahrhundert, Berlin 1908, 94.

328

Walter Schmithals

ren Ordnungen ganz entsprechenden Hohenpriesterthums Christi geführt« 35 , sondern aus dem hohenpriesterlichen Amt Jesu wird die Vorläufigkeit der alten Bundesordnung erwiesen. Daß der Autor des Schreibens »den Christen die fraglich gewordene Verheißung in ihrer unverbrüchlichen Verbürgung deutlich machen will«36, könnte man nur sagen, wenn man hinzufügte, daß er dies tut, indem er ihnen das Vorläufige und vergleichbar Wertlose des jüdischen Kultes vor Augen stellt. Das Alte Testament dient nicht dazu, das christliche Bekenntnis zu begründen oder im einzelnen zu erhellen - z.B. spielt Jes 53 im Hebräerbrief keine Rolle -, sondern nur als der den Lesern bekannte Hintergrund, vor dem sich die einzigartige Größe der Person und des Werkes Christi unmißverständlich zu erkennen gibt. Den Lesern wird insofern also das richtige Verständnis des Alten Testaments erschlossen, und zwar in dem Sinne, daß im Lichte des ihnen vertrauten Neuen das Alte als Veraltetes erscheint (8,10-13) 37 , und auf dieser Grundlage ergeht die Mahnung, am weit überlegenen Bekenntnis zu Jesus Christus festzuhalten (10,19ff) und nicht das gewonnene eschatologische Heils- und Hoffnungsgut für ein Linsengericht einzutauschen. In solcher Weise, die nicht das Bekenntnis selbst zum Gegenstand der Betrachtung macht, kann man aber nur Christen belehren und zur Bekenntnistreue verpflichten wollen, die in Gefahr stehen, das Neue und Vollkommene zugunsten des Alten und Vorläufigen preiszugeben 38 . Auch der ausführliche Nachweis, daß Jesus der Hohepriester nach der Ordnung Melchisedeks sei, ist nur unter dieser Voraussetzung zu verstehen; denn wenn die Leser in der Gefahr stehen, das Bekenntnis zu dem präexistenten Sohn, dem Abglanz der göttlichen Herrlichkeit, preiszugeben, durch den Gott die Welt geschaffen hat und der zur Rechten Gottes sitzt, so kann der Nachweis, daß dieser erhabene Gottessohn auch Priester nach der Ordnung Melchisedeks sei, sie doch nur beeindrucken, wenn er ihnen bei ihrer Hinwendung zum Judentum vorgehalten wird und sie darauf aufmerksam macht, daß es die fundamentale Urkunde des Judentums selbst ist, die sie durch seine Vorabbildung in Melchisedek auf den ewigen Sohn verweist, den zu verleugnen sie im Begriff sind; denn die Melchisedek zugeschriebenen hohen Prädikate (7,1-3) bleiben als solche doch weit hinter dem zurück, was das überlieferte christliche Bekenntnis des Hebräerbriefs von Jesu Würde zu sagen weiß. Unter dieser Voraussetzung erschließen sich auch zwanglos einzelne Aussagen, auf die hinzuweisen jene Ausleger nicht müde werden, die in den Le35

v.Soden, Hebr (s.o. Anm. 9) 14.

36

E.Gräßer, Der Hebräerbrief 1938-1963: ThR NF 30 (1964) 138-236: 149.

37

»Mit den drei Kategorien der Übereinstimmung, der Überbietung und der Vollkommenheit legt der Hebräerbrief das Alte Testament aus ...« (T.Holtz, Einführung in Probleme des Hebräerbriefes: KiZ 23 [1969] 323-327: 325).

38

»Die Gefahr, in der der Hebräerbrief seine Gemeinde sieht, ist eine der Grundgefahren der christlichen Kirche überhaupt, nämlich die der Rejudaisierung« (ebd.).

Über Empfänger und Anlaß des Hebräerbriefes

329

sern des Hebräerbriefes Judenchristen erkennen wollen. Der überraschende Übergang vom Opferkult des Priesters zu den allen frommen Mitgliedern der Synagoge vorgeschriebenen Reinheitsgeboten έπϊ βρώμασιν και πόμασ ι ν και διαφόροις βαπτισμοϊς in 9,9f, die doch >zur rechten Zeit< überholt sind, erklärt sich dann leicht als indirekte Warnung davor, wieder den Schatten zu ergreifen und das Wesen loszulassen (10,1; 9,23), zumal in 13,9 die Warnung vor den nutzlosen Speisegeboten auch direkt begegnet. Sie steht in 13,9 neben der Warnung vor δ ι δ α χ α ΐ ς π ο ι κ ί λ α ι ς και ξ έ ν α ι ς , bei denen es sich allem Gesagten zufolge um judaisierende Lehren handeln muß; denn daß »sich nicht eindeutig feststellen« lasse, worauf sich diese »isolierte Warnung« bezieht 39 , läßt sich doch nur sagen, wenn man diese Warnung zuvor auch aus der Gesamtargumentation des Hebräerbriefes isoliert, wie es auch Jülicher 40 in anderer Weise getan hat, wenn er in 13,9 »eine Irrlehre judaisierenden Charakters« bekämpft sieht, die »seit kurzem« an die Leser herantritt und »erst gegen das Ende des Briefes kurz erwähnt« wird. Vollends kann im Rahmen dieser Gesamtargumentation die abschliessende Aufforderung an die Leser in 13,13, »außerhalb des Lagers« (Ex 33,7; Lev 16,27; 24,14) zu Jesus, der auch selbst »draußen vor dem Tor« gelitten hat (13,12), hinauszugehen, um dort mit ihm seine Schmach zu tragen, gar nicht anders verstanden werden als so, daß die angeredeten Christen trotz aller damit verbundenen Gefährdungen die Synagoge definitiv zu verlassen haben 41 . Die mancherlei als Alternativen angebotenen allegorischen Deutungen des >Lagersvor dem Tor< keinesfalls allegorisiert werden darf, sondern selbst eine Allegorese der in 13,11 angezogenen Stelle Lev 16,17 darstellt und auf das konkrete Leidensgeschick Jesu verweist, dem ebenso konkret nachzufolgen die Christen sich nicht verschließen dürfen. Aus allem zuletzt Gesagten folgt keineswegs, daß die Adressaten des Hebräerbriefs Judenchristen gewesen sein müssen, d.h. ehemalige Juden, die sich haben taufen lassen und nun die Rückkehr in den väterlichen Glauben erwägen. Es ergibt sich nur, daß Christen angeredet werden, von denen befürchtet wird, sie könnten in die Synagoge abfallen, v.Sodens Nachweise, daß nirgendwo im Hebräerbrief vorausgesetzt wird, bei den Lesern handele 39

Kümmel, Einleitung (s.o. Anm. 16) 353.

40

Jülicher, Einleitung (s.o. Anm. 13) 142.

41

Vgl. Hoennicke, Judenchristentum (s.o. Anm. 34) 95.

42

Das Lager als »Typus aller menschlichen kultischen Bemühungen« (Kümmel, Einleitung [s.o. Anm. 16] 353); das Heraustreten ist »jedes Hinaustreten aus der irdischen Umgebung« auf der Wanderschaft zur Himmelsstadt (v.Soden, Hebr [s.o. Anm. 9] 108); es »korrespondiert ... dem Einzutreten zum Gnadenthron< (4,16) als einer himmlischen Wirklichkeit« (Weiß, Hebr [s.o. Anm. 2] 735); der Christ »hat auf Erden keine Heimat« (Oepke, Gottesvolk [s.o. Anm. 11] 73).

330

Walter Schmithals

es sich um geborene Juden, sondern daß viel eher von geborenen Heiden auszugehen sei, bleiben also unberührt. Nur seine Folgerung erweist sich als unhaltbar, daß es sich deshalb bei dem drohenden Abfall »um schlichten Abfall vom Christenthum zu einem Zustand der Religionslosigkeit oder heidnischen Wesens handelt«43. Oder sollte solche Differenzierung von Vordersatz und Folgesatz von vornherein ausgeschlossen sein? Ist von geborenen Heiden, die den christlichen Glauben angenommen haben, auf keinen Fall zu erwarten, daß sie ins Judentum abfallen, und könnten darum in der im Hebräerbrief deutlich wahrnehmbaren Gefahr des Abfalls ins Judentum nur Judenchristen stehen? Diese Auffassung liegt der herrschenden Interpretation des Hebräerbriefs zugrunde, die deshalb gezwungen ist, den offenkundigen Sachverhalt zu bestreiten, daß der Autor ad Hebraeos seine Leser ermahnt, nicht in die Synagoge abzufallen. Offenbar löst sich der Widerspruch nur, wenn der Begriff >Judenchristentum< auch geborene Heiden umgreifen und man einen christlichen Adressatenkreis ausfindig machen kann, dessen Angehörige im wesentlichen aus dem Heidentum kommen und die zugleich akut vom Abfall oder Rückfall in die Synagoge bedroht sind 44 . Soll der geschichtliche und theologiegeschichtliche Ort des Hebräerbriefes ermittelt werden, ist also ein Blick in die einschlägige Geschichte der frühen Christenheit erforderlich.

II Auf dem sogenannten >Apostelkonzil< zu Jerusalem wurden die Weichen für die Organisation der christlichen Mission in einer Weise gestellt, die bis zur Zerstörung Jerusalems und darüber hinaus die frühchristliche Geschichte bestimmte. Die Erzählung der Apostelgeschichte (Act 15,1-35; vgl. 11,27-30) kann den grundlegenden Bericht des Paulus (Gal 2,1-10) zwar sachlich nicht ergänzen oder erhellen, weist aber noch zu einer Zeit auf die wegweisende Bedeutung der Jerusalemer Beschlüsse hin, in der diese bereits von der geschichtlichen Entwicklung überholt worden waren. Der zentrale Beschluß sah vor, die apostolische Missionsarbeit in der Weise zu teilen, daß Paulus mit seinen Mitarbeitern unter den Heiden, Petrus aber unter den Juden das Evangelium verkündigen sollte. Es besteht heute mit Recht ein weitgehendes Einverständnis darüber, daß diese Einteilung nicht geographisch, sondern ethnographisch zu verstehen ist. Freilich ist dies >ethnographisch< zu präzisieren; denn auch Paulus war wie die mei43

V.Soden, Hebr (s.o. Anm. 9) 13.

44

Die Annahme einer aus Juden- und Heidenchristen gemischten Gemeinde (U.Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 1994, 423f) markiert zwar das vorliegende Problem, umgeht es aber zugleich; denn an keiner Stelle deutet der Hebräerbrief an, daß sein Verfasser mal die eine, mal die andere Gruppe im Blick hat.

Über Empfänger und Anlaß des Hebräerbriefes

331

sten seiner Mitarbeiter Jude, so daß nicht die Herkunft des einzelnen Christen seine Zugehörigkeit zu der einen oder anderen Gemeinde schon definitiv bestimmen konnte. Möglicherweise ist in diesem Zusammenhang nicht zufallig, daß Paulus in Gal 2,1-10 die abstrakten Begriffe άκροβυστία und περιτομή bevorzugt und die Bezeichnung 'Ιουδαίος ganz vermeidet. Jedenfalls aber hat die in Jerusalem vorgenommene Teilung der Mission konkret im Blick, daß Paulus seine Gemeinden außerhalb des Synagogeninstituts und demzufolge gesetzesfrei organisieren konnte, während Petrus mit seiner Mission innerhalb dieses Instituts verbleibt und seine Gemeinden sich dementsprechend der jeweils gebotenen gesetzlichen Lebensweise anschlossen. Man muß die Begriffe >Judenchristen< und >Heidenchristen< darum von der Frage nach der Herkunft der einzelnen Gemeindeglieder lösen und auf die beiden Gemeindeverbände beziehen, will man historisch korrekt verfahren. Hatte Paulus bis zum Zeitpunkt der Jerusalemer Vereinbarung seine Heidenmission unter Beachtung der für die Gottesfürchtigen verbindlichen gesetzlichen Bestimmungen im Rahmen der Synagoge durchgeführt, um Verfolgung zu vermeiden, konnte er nun gesetzesfreie Gemeinden außerhalb des Synagogenverbandes gründen, und sein Verzicht auf gesetzesfreie Judenmission bedeutete, daß durch seine Missionsarbeit die Existenz judenchristlicher Gemeinden in Palästina nicht gefährdet wurde. Das gemeinsame Bekenntnis wird von dieser organisatorischen Trennung nicht berührt (vgl. Gal 2,15f), und die Kollekte für Jerusalem (Gal 2,10), die Paulus bis zum Ende seiner Wirksamkeit gesammelt hat, demonstriert dauerhaft die >ökumenische< Gemeinschaft. Der Konflikt um die Tischgemeinschaft zwischen beiden Gemeinden, bei dem Jakobus sich gegen Petrus und Paulus durchsetzen konnte (Gal 2,1 Iff), hat die Abmachungen von Jerusalem als solche nicht bedroht, sondern er entzündete sich gerade angesichts der Vereinbarung einer schiedlich-friedlichen Teilung der gemeinsamen Mission an deren Vernachlässigung durch Petrus und setzte die Jerusalemer Abmachung wieder voll in Kraft. Die spärlichen Quellen erlauben uns zwar nur einen geringen Einblick in das innere Leben der hellenistischen Synagogen im judenchristlichen Missionsgebiet des Petrus in Syrien, Kleinasien und Europa (vgl. Gal 2,1 Iff; l.Kor 1,12; l.Clem 5,5-7), doch wurden diese Synagogen noch nicht von dem rabbinisch geprägten Judentum der späteren Zeit einheitlich bestimmt. Vielmehr handelt es sich bei der Diasporasynagoge um einen eher politischen Dachverband von sehr unterschiedlich ausgerichteten Gruppen aller derer, die sich zum Judentum hielten bzw. hingezogen fühlten. Denn neben den verschiedenen jüdischen Strömungen und den heidnischen Proselyten, die durch Beschneidung zum Judentum übertraten, gehörten bis zur Neuorganisation der Synagoge nach 70 auch viele gottesfürchtige Heiden der Synagoge an. Ihre Zahl ist ebenso wie die der Diasporajuden selbst zwar schwer zu bestimmen, sie kann aber nicht gering gewesen sein (vgl. Act 10,2.22; 13,16.26.43.50; 16,14; 17,17; 18,7). Die antike Judenfeindschaft und die

332

Walter Schmithals

entsprechende Polemik gegen das Judentum beruhen nicht zuletzt auf dem Ärger darüber, daß sich zahlreiche heidnische Volksgenossen von der Synagoge anziehen ließen (vgl. z.B. Iuvenal, Sat. XIV,96-104; Tacitus, Hist. V,2-5). Maßgeblich für die Zugehörigkeit zur Synagoge dürfte die Zahlung der Tempelsteuer gewesen sein; denn diese Zahlung hatte rechtliche Bedeutung, weil die Angehörigen der Synagoge schon durch Cäsar (Josephus, Ant. XIV, 10,1-26) und dann durch Augustus (Josephus, Ant. XVI,6,2-8; Philo, Leg.Gai. 156ff) von der Teilnahme am öffentlichen Kult, besonders dem Kaiserkult, befreit worden waren, nachdem sich die Juden verpflichtet hatten, zum Zeichen ihrer Loyalität zweimal täglich im Tempel zu Jerusalem ein Opfer für den Kaiser darzubringen (Josephus, Ap. 11,6; Philo, Leg.Gai. 157.280.317). Auch die Gottesfürchtigen sagten sich durch Zahlung der Tempelsteuer von der Verehrung der väterlichen Götter los (Josephus, Ant. XIV,7,2; Bell. II,409f; Tacitus, Hist. V,5) und verunreinigten sich und die Synagogengemeinschaft fortan nicht mehr durch Berührung mit den Götzen. Über das Zusammenleben der judenchristlichen Gemeinschaft mit den zahlreichen anderen synagogalen Gruppierungen erfahren wir kaum etwas. Die im einzelnen ganz undeutliche Nachricht des Sueton (Claudius 25,4), der Kaiser (41-54) habe die Juden aus Rom vertrieben (vgl. Act 18,2), weil sie >auf Anstiftung eines Chrestos< ständig Unruhe stifteten, signalisiert schwerlich eine ständige und weltweite Konfliktsituation, belegt aber immerhin die Mitgliedschaft der Judenchristen in der Synagoge. Die Christen besaßen wie alle anderen Angehörigen der Synagoge den Schutz der von Tertullian beiläufig so genannten religio licita (Apol. 21,1), also das Privileg, ihre Loyalität dem römischen Herrscher gegenüber durch die Zahlung der Tempelsteuer für das Kaiseropfer in Jerusalem abzugelten (vgl. noch Mt 17,24-27), und hatten schon deshalb alles Interesse daran, im Synagogenverband zu verbleiben. Selbstverständlich richteten sich die Bemühungen der petrinischen Mission εις την π ε ρ ι τ ο μ ή ν (Gal 2,9) auch auf die Gottesfürchtigen in der Synagoge, und wenn wir z.B. am 1.Clemensbrief beobachten, wie wenig das frühkatholische Christentum nach Aufhebung der auf dem >Apostelkonzil< vereinbarten Trennung von dem paulinischen und wie stark es von einem synagogalen Heidenchristentum bestimmt ist, müssen wir schließen, daß wie im paulinischen Heidenchristentum so auch im Judenchristentum der Synagoge die Gottesfürchtigen eine gewichtige und möglicherweise nicht selten dominierende Rolle spielten, zumal wenn wir zugleich die Klage des Paulus über den geringen Erfolg der Mission unter den geborenen Juden (Rom 9,1-5.31; 10,2f; 11,1-8) mitbedenken. Jedenfalls stoßen wir in ihnen auf jene christliche Gruppe, die uns als Adressaten des Hebräerbriefs begegnet war, nämlich auf geborene Heiden, die sich als Gottesfürchtige der Synagoge angeschlossen hatten und dementsprechend mit den jüdischen Traditionen und der synagogalen Lebensweise vertraut waren, die sich ferner früher oder später in der Synagoge dem

Über Empfänger und Anlaß des Hebräerbriefes

333

christlichen Bekenntnis geöffnet hatten und die nun in der Gefahr stehen, dieses Bekenntnis zu verleugnen. Dieser Zusammenhang läßt sich aus dem Hebräerbrief auch direkt belegen. Dessen Verfasser bereitet nämlich seinen wesentlichen Nachweis, über den er längere und nicht einfach zu fassende Ausführungen vorzutragen ankündigt (5,11), wonach Jesus der den irdischen Hohenpriestern schlechthin überlegene Hohepriester nach der Ordnung Melchisedeks sei, durch einen rhetorischen Tadel 4 5 der Leser vor, denen er vorwirft, eigentlich müßte er ihnen τά σ τ ο ι χ ε ί α της ά ρ χ ή ς (die Anfangsschritte) τ ω ν λ ο γ ί ω ν τ ο ΰ θεοδ (5,12) bzw. τ ο ν της ά ρ χ ή ς τ ο ϋ Χ ρ ι σ τ ο ΰ λ ό γ ο ν (6,1) beibringen und wiederum θ ε μ έ λ ι ο ν κ α τ α β ά λ λεσθαν (6,1), statt ihnen, wie er beabsichtigt, den λ ό γ ο ς δ ι κ α ι ο σ ύ ν η ς (5,13) bzw. ή τ ε λ ε ι ό τ η ς (6,1; vgl. 7,11) vorzutragen. Er will mit seiner Gegenüberstellung zweifellos »die Kluft betonen« 46 , die zwischen den Anfangslehren einerseits und der Botschaft von Jesus als dem Hohenpriester nach der Ordnung Melchisedeks andererseits liegt, und dieser Absicht dient auch der rhetorische Kniff, die Leser als >Unmündige< vorzuführen, denen dann doch die vollkommene Lehre zugemutet wird (ähnlich Paulus in l.Kor 3,1-4), sowie die gleichfalls rhetorische Versicherung, der Autor werde zu anderer Zeit auch die Anfangsgründe vortragen, »wenn es Gott gefallt« (6,3). Nun zählt er diese >FundamentallehrenProselytenkatechismus< 48 ; denn dann dürfte die Beschneidung nicht fehlen, wohl aber - das für die Gottesfürchtigen in der Synagoge Wesentliche am Judentum, nämlich einerseits die Bekehrung von den Götzen hin zu dem einen Gott (Dtn 6,4), andererseits die eschatologische Erwartung von Auferstehung und Gericht, und zwischen Bekehrung und Vollendung die jüdische Lebensweise, die für die Gottesfürchtigen anscheinend vor allem rituelle Waschungen und Segenshandlungen umschließt. Wenn Gräßer meint, auch die »Unterscheidung von unchristologischer Anfangsunterweisung und christologischer Fortbildung« 45

»Der Tadel ist >nicht ganz ernst gemeintGottesfürchtige< waren, und wie wenig ihm in 6 , l f die »christliche ... Elementarbelehrung« 50 oder die »Anfangsunterweisung über Christus« 51 vor Augen stehen, zeigt auch die Tatsache, daß er in 9,10 zusammen mit den Speisegeboten die in 6,2 genannten Waschungen für vorläufige Ordnungen hält, die mit dem Kommen Christi außer Kraft gesetzt sind 52 . Rhetorisch ist zwar der Vorhalt, daß man den Lesern selbst den Katechismus für die Gottesfürchtigen eigentlich noch beibringen müßte 53 , von sachlichem Gewicht dagegen die in jener Unterscheidung liegende Erinnerung, daß der Rückgang auf diese >Elementarlehren< den Rückfall in das Judentum bedeuten würde. Man kann demgegenüber nicht auf die Beschreibung der synagogalen Lehre mit ό της Αρχής τοΰ Χ ρ ι σ τ ο ύ λόγος (6,1) verweisen. Diese Verbindung von λόγος άρχής (vgl. 5,12) mit dem traditionellen λ ό γ ο ς τοΰ Χ ρ ί σ τ ο υ (Kol 3,16) bezeichnet die synagogale Unterweisung nicht als christliche Elementarlehre bzw. als »Anfangsunterweisung über Christus« 54 , sondern als Grundlage (θεμέλιον, 6,1) für das Wort von Christus.

49

Gräßer, Hebr I (s.o. Anm. 16) 336.

50

Weiß, Hebr (s.o. Anm. 2) 71.

51

Gräßer, Hebr I (s.o. Anm. 16) 325.333.

52

Daß »in der präbaptismalen Unterweisung« (Weiß, Hebr [s.o. Anm. 2] 337) oder der »Heidenmissionspredigt« (Kümmel, Einleitung [s.o. Anm. 16] 353) der Hörer zuerst unchristologisch auf die Stufe der Gottesfürchtigen versetzt wurde, um danach in der Taufunterweisung mit dem christlichen Bekenntnis bekannt gemacht zu werden, ist nirgendwo bezeugt und durch alles Bezeugte vielmehr ausgeschlossen.

53

Darum ist Windischs Schlußfolgerung ganz unzulässig: »Jedenfalls zeigt die Aufzählung wiederum, daß ein Rückfall der Leser ins Judentum nicht droht, da die gemeinsamen Grundlagen des jüdischen und christlichen Glaubens bei ihnen nicht mehr lebendig und wirksam sind* (Hebr [s.o. Anm. 16] 49). Die Leser werden gerade auf ihr Wissen davon angesprochen, daß ihr christliches Bekenntnis auf ihrem jüdischen aufbaut.

54

Gräßer, Hebr I (s.o. Anm. 16) 333; vgl. H.Braun, An die Hebräer, Tübingen 1984 (HNT 14) 157.

335

Über Empfanger und Anlaß des Hebräerbriefes

Kurzum: Die Argumentation in 5,11 - 6,3 paßt allein »auf Heiden, welche sich dem Judentum anschlossen zum Glauben an Gott und das Gericht und zum Empfange einer nur in Verbindung damit zu erlangenden Reinigung«, und die, nachdem sie »Christen geworden waren, leicht dahin kamen, daß sie auf jenen früheren Stand zurückgriffen und dabei verharren wollten«55. Uns begegnen in den Lesern des Hebräerbriefes also in der Tat jene gottesfürchtigen Heiden der Synagoge, die sich der hellenistisch-judenchristlichen Gemeinde angeschlossen haben und nun in der Gefahr stehen, von dieser wieder abzufallen. Das schließt nicht aus, daß sich unter den Adressaten auch geborene Juden befanden; in ihrer großen Mehrheit müssen sie aber Christen aus dem Kreis der Gottesfürchtigen gewesen sein.

III Jener Abfall steht im Zusammenhang mit der Reorganisation der Synagoge nach dem Ausgang des jüdischen Krieges und dem Untergang des Tempels und der Tempelaristokratie. Die Neuordnung des Judentums erfolgte auf Forderung und mit Förderung von Seiten Roms (vgl. Josephus, Ant. XII, 3,2), das den Juden weiterhin ihren Sonderstatus gewährte (Josephus, Bell. VII, 118; Dio Cassius 66,7), von Jamnia aus durch das pharisäische Rabbinat, und an die Stelle des bisher die Juden aller Richtungen durch die Tempelsteuer verbindenden Tempelkultes trat das pharisäisch verstandene Gesetz. Alle Gruppen, die diese theologische Verengung nicht mitmachen konnten, mußten die Synagoge verlassen. Dazu gehörten früher oder später auch die heidnischen Gottesfürchtigen, deren einstige Bedeutung für das Judentum die rabbinischen Überlieferungen verschweigen, und natürlich die Christen. Das Johannesevangelium überliefert uns für den entsprechenden Trennungsvorgang den Ausdruck ά π ο σ υ ν ά γ ω γ ο ς γ ί ν ε σ θ α ι (Joh 9,22; 12,42) bzw. ά π ο σ υ ν ά γ ω γ ο ν π ο ι ε ΐ ν (16,2-4). Ob es sich dabei um eine technische Bezeichnung im Hinblick auf die aus der Synagoge ausgestoßenen Mitglieder handelt, läßt sich nicht entscheiden, weil dieser Begriff außerhalb des Johannesevangeliums nicht begegnet, erscheint aber im Blick auf den johanneischen Sprachgebrauch und angesichts dessen, daß uns überhaupt kaum direkte Nachrichten über den Vorgang dieses Ausschlusses aus der Synagoge vorliegen, wahrscheinlich. In jedem Fall bezeugt er, daß das Judenchristentum bis zu diesem unfreiwilligen Ausschluß dem Verband der Synagoge angehört hatte, so daß also bis zu diesem Zeitpunkt die Vereinba-

55

C.Weizsäcker, Das apostolische Zeitalter der christlichen Kirche, Freiburg 475.

3

1902,

336

Walter Schmithals

rungen des >ApostelkonziIs< Bestand gehabt haben 56 . Außerdem erfahren wir von einem förmlichen Beschluß der Juden ( σ υ ν ε τ έ θ ε ι ν τ ο o i Ι ο υ δ α ί ο ι ) , nämlich der rechtlich agierenden Pharisäer (vgl. Joh 12,42), jeden aus der Synagoge auszuschließen, der Jesus als Christus bekennt (Joh 9,22; vgl. 16,3). Dieser Beschluß dürfte in Jamnia gefaßt worden sein, gibt aber in jedem Fall zu erkennen, vor welche Entscheidung sich die Christen in der Synagoge gestellt sahen. Die bisherige Möglichkeit, unter Beobachtung wenigstens der gesetzlichen Mindestanforderungen zusammen mit den zum Glauben bekehrten gottesfürchtigen Heiden im Synagogenverband existieren zu können, wurde ihnen genommen. Es ist darum nicht zufallig, daß der Hebräerbrief die Christologie zum entscheidenden Thema macht und zunächst unter steter Berufung auf das Alte Testament auf die überragende Größe Jesu Christi hinweist, um sodann ausführlich seine Überlegenheit als Hoherpriester nach der Ordnung Melchisedeks über die alttestamentliche Kultordnung darzulegen. Es droht also kein Abfall in eine Gesetzlichkeit,

56

In diesem Zusammenhang lohnt sich ein Blick auf 6,10, wo der Verfasser aus der Tatsache, daß die Leser im Werk der Liebe stehen, διακονήσαντες τοις άγίοις και διακονοϋντες, die Zuversicht schöpft, Gott werde sie vor dem drohenden Abfall bewahren. Damit rückt anscheinend eine andere Gruppe als die der Leser selbst in den Blick (vgl. Weiß, Hebr [s.o. Anm. 2] 354); denn inwieweit die Liebestätigkeit innerhalb der Adressatengruppe einem Abfall entgegenstehen könnte, vermag man nicht leicht zu erkennen. Darum liegt der Hinweis auf die zweifellos geprägte Sprache in Rom 15,25.31; 2.Kor 8,4; 9,1.12f (διακόνων τοις άγίοις u.a.; vgl. l.Kor 16,1) nahe, mit der Paulus sein Kollektenwerk fur Jerusalem beschreibt. Hatte er auf dem >Apostelkonzil< für die Heidenchristen die Verpflichtung übernommen, die Jerusalemer Gemeinde finanziell zu unterstützen, so konnte diese solche Unterstützung erst recht von den judenchristlichen Gemeinden in der Diaspora erwarten, und in 6,10 erfahren wir, daß die dem Judenchristentum angehörigen Leser solche Unterstützung auch geleistet haben und noch leisten. Unter diesen Umständen leuchtet die Argumentation des Verfassers unmittelbar ein: Wer in solcher Weise in treuer Verbindung mit der palästinischen Muttergemeinde bleibt, die nach der Angabe des Eusebius (Hist.Eccl. 111,5,3) schon vor dem Jahre 70 ihr Zentrum nach Pella verlegt haben soll und der Vernichtung entgangen ist, wird nicht leicht das gemeinsame Bekenntnis verleugnen. Dieses Verständnis von 6,10, das allgemein verbreitet war, solange man Paulus für den Verfasser des Hebräerbriefs hielt, wird heute z.B. noch von Strobel, Hebr (s.o. Anm. 22) 140 vertreten. Es ist keineswegs an eine Frühdatierung des Hebräerbriefs gebunden, sondern vermittelt uns einen der seltenen Einblicke in die Geschicke des Judenchristentums nach dessen Ausschluß aus der Synagoge. In diesem Zusammenhang erklärt sich auch der Tatbestand, daß die sonst so lebhaft diskutierte Frage des Sabbats und der jüdischen Festzeiten überhaupt im Hebräerbrief keine Rolle spielt. Hält die Gemeinde der Adressaten noch lebendigen Kontakt mit der palästinischen Muttergemeinde, ist davon auszugehen, daß sie noch nicht zur Sonntagsfeier übergegangen ist und sich also auch, wofür es in der Tat keine Anzeichen gibt, noch nicht mit gesetzesfreien Heidenchristen zu einer >katholischen< Gemeinde vereinigt hat.

Über Empfänger und Anlaß des Hebräerbriefes

337

die am Christusbekenntnis festzuhalten erlauben würde 57 , sondern der Abfall von diesem Bekenntnis selbst. Die Adressaten des Hebräerbriefs befinden sich in der durch die pharisäische Behörde hervorgerufenen Situation, zwischen dem christlichen Bekenntnis und der Zugehörigkeit zur Synagoge entscheiden zu müssen. Aus der Aufforderung in 13,13, aus dem Lager zu Jesus hinauszugehen, der >vor dem Tor gelitten hat< (13,12), und seine Schmach zu tragen, darf man nicht folgern, erst der Verfasser rufe die Leser auf, die Synagoge zu verlassen. Das έξερχώμεθα προς αύτόν bezieht sich auf die Übernahme der Schmach, zu der sich der Christ in der Situation der Verfolgung ständig zu entscheiden hat. Nicht das Zurückbleiben in der Synagoge droht, sondern das Zurückkehren. Die Situation scheint also fortgeschrittener als zur Zeit des Evangelisten Matthäus zu sein, der sich noch mit dem Problem der Tempelsteuer zu befassen hat (Mt 17,24-27). Diese mußte nach der Zerstörung des Tempels als fiscus Judaicus an den Tempel des Jupiter Capitol inus in Rom gezahlt werden (Josephus, Bell. VII,218; Dio Cassius 66,7) und gewährte den Zahlenden weiterhin freie Ausübung ihrer Religion. Petrus bejaht die Frage des Steuereinnehmers, ob auch Jesus die Tempelsteuer zu zahlen pflege, und er läßt sich dann von Jesus belehren, daß man freiwillig zahle, um >bei ihnen keinen Anstoß zu erregenunsere Versammlung verEs scheint, daß man zunächst als unbeschnittener Gottesfürchtiger noch in der Synagoge willkommen war, nicht aber als Christusgläubiger. Wenn unsere wenigen Nachrichten die Beobachtung zulassen, daß in der Situation des Synagogenausschlusses wohl die Absage an das Christusbekenntnis, nicht aber die Beschneidung der Nichtjuden gefordert wurde, könnte dies damit zusammenhängen, daß den Juden die Beschneidung von Nichtjuden verboten war.

338

Walter Schmithals

lassenWolke von Zeugen< und Zeugnissen dafür, daß der den Lesern zugemutete Glaube an das noch nicht sichtbare Gut der Verheißung alle Aussicht auf Erfüllung besitzt (11,2.39), mündet nicht ohne Grund in die summarische Aufzählung von Glaubenszeugen, die in Erwartung des b e s serem, das Gott verheißen hat, Spott, Marter, Gefängnis und Tod erduldet haben (11,35-40), nachdem überraschenderweise schon das Leiden Israels zur Zeit des Mose als ό ν ε ι δ ι σ μ ό ς τοϋ Χ ρ ί σ τ ο υ bezeichnet wurde (11,26). Diese Darstellung in 11,35-40 geht fugenlos in die Aufforderung über, sich an den alttestamentlichen Glaubenszeugen und an Jesus zu orientieren, der dadurch der >Wegführer< dieses Glaubens geworden ist, daß er durch das geduldige Ertragen von Kreuz und Schande hindurch zur Rechten Gottes erhöht wurde (12,2). So hat auch die Gemeinde in Geduld den ihr verordneten Kampf durchzustehen und nicht matt und mutlos zu werden, sondern den »Widerspruch der SünderNoch habt ihr im Kampf gegen die Sünde nicht bis aufs Blut widerstandene Den Begriff αμαρτία verwendet der Hebräerbrief in der Regel im Zusammenhang mit dem hohenprie63

Riggenbach, Hebr (s.o. Anm. 25) XXII.

64

v.Soden: JPTh 10 (s.o. Anm. 9) 471.

65

Πρότερον ήμέραι (10,32) heißt einfach >friiher< und erlaubt keine nähere zeitliche Bestimmung. Das dazugehörige φωτισθέντες wird meist im Sinn von >infolge eurer Erleuchtung< wiedergegeben, so daß bereits zur Zeit der Bekehrung der Leser die Situation heftiger Verfolgung eingetreten war. Nun ist zwar denkbar, daß eine Gruppe von Gottesfurchtigen aus der Synagoge ausgeschlossen wurde und sich zu einer christlichen Gemeinde umbildete. Wahrscheinlich ist dies allerdings nicht, zumal >jüdische< Gottsfürchtige von der Synagoge anscheinend zunächst weiterhin geduldet wurden. Somit wird man φωτισθέντες wie in 6,4 einfach im Sinn von >als Erleuchtete< zu verstehen haben und darauf verzichten, die Zeit der >ErleuchtungSündern< (12,3), gedacht (vgl. l.Joh 5,16). Hat der gegenwärtige Kampf noch nicht >bis aufs Blut< (vgl. 2.Makk 13,14) geführt werden müssen, sind demzufolge zwar »Martyrien ... in der Gemeinde noch nicht vorgekommen« 66 , aber für die Zukunft nicht auszuschließen, wie solche denn auch in der vergangenen Verfolgung zumindest von den Gemeindeleitern erduldet werden mußten (13,7). So oder so soll die Gemeinde die gegenwärtigen Leiden als väterliche Züchtigung Gottes auffassen und als Einübung in jene Geduld, der die >friedsame Frucht der Gerechtigkeit verheißen ist (12,4-11). Die aus diesen tröstlichen (12,5) Worten erwachsende Mahnung, die >müden Hände und die schlaffen Glieder« wieder aufzurichten und sich auch gegenseitig auf dem Weg der Glaubenstreue zu bewahren (12,12-15), mündet in eine ernste Warnung vor dem Zorn Gottes, die dem Leser noch einmal einschärft, daß es eine zweite Buße nicht gibt (12,16-29). Im Rahmen der allgemeineren Paränese zum Abschluß der Schrift (13,114) läßt 13,3 erkennen, daß es wie in der voraufgegangenen Verfolgungswelle so auch jetzt bereits wieder gefangene und gefolterte Christen gibt (vgl. 11,37). Die folgende Aufforderung, statt nach irdischem Besitz zu streben möge man sich auf Gottes Fürsorge verlassen (13,5f), läßt im Blick auf 10,34 vermuten, daß den Lesern von neuem die Konfiskation ihres Eigentums droht, zumal sie in diesem Zusammenhang aufgefordert werden, ihrer verstorbenen Lehrer zu gedenken, die anscheinend sogar das Martyrium erlitten haben (13,7). 13,9-14 schließlich faßt noch einmal die wesentlichen Aspekte der Argumentationsweise des ganzen Schreibens zusammen. Aus den >mancherlei fremden Lehren< wählt der Verfasser die >nutzlosen< Speisegebote aus, um ihnen den eigenen >Altar< gegenüberzustellen, zu dem die Angehörigen der Synagoge keinen Zutritt haben und der, worauf auch immer sich das Bild bezieht, das weitaus Bessere im Vergleich zu seinem alttestamentlichen Vor-Bild ist. Damit rückt wie häufig zuvor (1,3; 2,9.1418; 4,14-16 usw.) in einer im einzelnen freilich wenig durchsichtigen Weise das Zentrum des christlichen Bekenntnisses in den Blick, nämlich der einmalige Heilstod Jesu, und zwar diesmal unter dem beherrschenden Gesichtspunkt, daß Jesus >vor dem Tor gelitten< hat. Denn es geht dem Verfasser um die daran angeknüpfte Aufforderung, auch die Leser möchten in Erwartung der »bleibenden Stadt< aus dem Lager der >Sünder< (vgl. 12,2f) hinaus zu Jesus gehen und als die auch selbst Verfolgten (10,33) seine >Schmach< (10,33; 11,26) erdulden. Es kann also kein Zweifel daran bestehen, daß der aktuelle Anlaß für den drohenden Abfall die Situation der Verfolgung ist, wie immer man im übrigen den allgemeinen Zustand der zweiten und dritten christlichen Generation 66

Windisch, Hebr (s.o. Anm. 16) 110.

Über Empfänger und Anlaß des Hebräerbriefes

341

einschätzen mag. Diese Situation aber ist eine unmittelbare Folge der Vertreibung aus der Synagoge, so daß wir auch auf diesem Wege auf die einstige enge Verbindung der verfolgten Leser mit der Synagoge stoßen. Die aus der Synagoge ausgeschlossenen Christen verloren den allen Angehörigen der Synagoge auch nach der Zerstörung des Tempels gewährten Sonderstatus, die Befreiung von der die Loyalität bezeugenden Pflicht zum Kaiseropfer, und waren damit um so mehr der öffentlichen Verfolgung preisgegeben, als die judenchristlichen Versammlungen nie im Verborgenen hatten stattfinden müssen und die ehemaligen Angehörigen der Synagoge nun als Abtrünnige von den Juden denunziert 67 oder ggf. auch unmittelbar verfolgt wurden 68 ; denn die Synagoge hatte ein vitales Interesse daran, sich von den ausgeschlossenen Judenchristen deutlich zu distanzieren, um den eigenen Rechtsstatus zu schützen 69 . Wenn uns aus der Zeit des Kaisers Domitian (81-96) die ersten systematischen und zugleich intensiven Christenverfolgungen bezeugt sind, ist dies nicht zufallig, sondern beruht auf der Tatsache, daß die Reorganisation der Synagoge und der daraus erwachsende >Aposynagogos< der Christen wesentlich in das Ende des 1.Jahrhunderts fällt. In Joh 16,2f begegnet demzufolge der Hinweis auf den Ausschluß der Christen aus der Synagoge durch die Juden, die das Christusbekenntnis ablehnen, zusammen mit der Ankündigung der »Stunde, in der jeder, der euch tötet, meint, damit Gott einen Dienst zu erweisenAposynagogos< in der Synagoge beheimatet waren. »Very probably they were reluctant to sever their last ties with a religion which enjoyed the protection of Roman law ...« 70 , eine Situation, die ähnlich auch Justin (Dial. 47,4f) voraussetzt.

67

Vgl. Tertullian, Scorp. 10,10; ad Nat. 1,14; adv.Jud. 13,26; Justin, Dial. 16,4 - 1 7 , 1 ; 47; 108; 110,4f; 131,2; Apol. 1,31; Diognet5,17; Mart.Pol. 12,2; 13,1; 17,2; 18,1; Mart.Pionii 4,8.11; 13; Eusebius, Hist.Eccl. V,16,12; vgl. schon Lk 23,Iff; Act 13,50; 14,2.5.19; 17,5ff; 18,12ff; 23,25ff; 24,Iff; 25,7f; Apk2,9f; 3,9.

68

Vgl. Justin, Dial. 16,4; 95,4; 133,6; die nachpaulinische Stelle l.Thess 2,15f; Mk 13,9; Mt 5,1 If.

69

Vgl. J.Maier, Jüdische Auseinandersetzung mit dem Christentum in der Antike, Darmstadt 1982 (EdF 177) 135; Justin, Dial. 47,5.

70

Bruce, Hebr (s.o. Anm. 22) 9; vgl. Sowers, Hermeneutics (s.o. Anm. 22) 74.

342

Walter Schmithals

V Aus allem Gesagten ergibt sich ein in sich geschlossenes und vor allem widerspruchsfreies Bild von den Abfassungsverhältnissen des Hebräerbriefs. Seine Leser sind im wesentlichen ehemalige Heiden, die sich im Status von Gottesfürchtigen der Synagoge angeschlossen hatten und als solche >erleuchtet< (6,4; 10,32) und von der >Wahrheit< des christlichen Bekenntnisses überzeugt worden waren. Sie wurden also Mitglieder der >judenchristlichen< Gemeinde, die sich im Rahmen des Synagogeninstituts versammelte und der vermutlich nur wenige geborene Juden angehörten. Im Vollzug der Neuordnung der Synagoge nach der Zerstörung des Tempels wurden sie wegen ihres Christusbekenntnisses aus der Synagoge ausgeschlossen, ohne daß damit ihr Gemeinschaftsleben als solches aufgehoben worden wäre (10,25). Aber der Ausschluß aus der Synagoge beraubte sie des Schutzes der religio licita\ ihnen wurde nunmehr das Kaiseropfer als Loyalitätserweis abgefordert. Eine erste Verfolgung haben sie nicht ohne Opfer mit großer Tapferkeit überstanden (10,32-34; 13,7). Gegenwärtig geraten sie erneut in Bedrängnisse, und einzelne Gemeindeglieder haben sich bereits in den Schutz der Synagoge zurückbegeben (10,25). Der Autor befürchtet einen größeren Abfall. Die vorliegende Mahnrede soll die bedrängten Christen zu erneuter Standhaftigkeit ermutigen. Der Verfasser will die Leser überzeugen, daß die heilige Schrift des Judentums selbst auf Jesus als ihren Vollender hinführt und daß die Christen beim Abfall in die Synagoge aller Heilsgüter verlustig gehen; der leidende Jesus des Bekenntnisses ist der wahre Hohepriester. Im übrigen entfaltet er sein und seiner Gemeinden hellenistisch-judenchristliches Bekenntnis nicht weiter; er setzt es als bekannt voraus und stellt seine einzigartige Bedeutung heraus, die jeden Abfall unentschuldbar macht (6,4-8). Das Schreiben gehört in die Zeit um die erste Jahrhundertwende. Hinweise auf besondere lokale Verhältnisse finden sich nicht, doch haben wir kein >katholischesheidenchristliche Judenchristen< adressiertes Schreiben vor uns, und zwar eher eine Ansprache an eine örtlich begrenzte Gemeinschaft als ein allgemeines Rundschreiben.

Das messianische Zwischenreich bei Paulus v o n WOLFGANG SCHRÄGE

Die rechte Sicht der paulinischen Eschatologie ist nach wie vor umstritten, auch wenn sich ein gewisser Konsens hinsichtlich ihrer dialektischen Struktur herausgebildet hat. Diese Dialektik von präsentischen und futurischen Zügen innerhalb der paulinischen Eschatologie ist auch kaum in Frage zu stellen. Allenfalls ist kontrovers, auf welchem der beiden Pole der theologische Schwerpunkt liegt und wie ihr Verhältnis sachlich präziser zu bestimmen ist. Allerdings ist zu bezweifeln, daß diese Dialektik schon zutreffend charakterisiert wird, wenn man die Gegenwarts- und Zukunftsaussagen nebeneinander stehen läßt oder man sich mit der Feststellung begnügt, daß Paulus weder eine realized eschatology noch eine konsequente Eschatologie vertritt. In Analogie zur Jesusforschung, wo manche Autoren m.E. zu Recht für eine sich dynamisch realisierende Eschatologie eingetreten sind1, ist bei Paulus ebenso zu fragen, ob nicht auch in seiner dialektischen Eschatologie ein prozeßhaftes Denken integriert ist, das zwar nicht mit einem innergeschichtlich-organischen oder kontinuierlichen Fortschritts- oder Wachstumsgedanken identifiziert werden darf 2 , aber ebensowenig die Annahme eines dialektischen Schwebezustands ad infinitum erlaubt. Ein Reflex solchen Denkens in der Anthropologie ist m.E. unbestreitbar. Zwar dominiert auch hier das dialektische »Zwischen den Zeiten«-Stehen, doch wird z.B. das μεταμορφοΰσθαι in 2.Kor 3,18 offenbar als Verwandlungsprozeß vorgestellt, wenn dort von einem μεταμορφοΰσθαι άπό δόξης εις δόξαν gesprochen wird, was manche Autoren als eine »Fortschrittsformel« charakterisieren3. Die vielen Aussagen über das Wachsen und Zuneh-

Vgl. z.B. E.Käsemann (im Anschluß an E.Haenchen), Exegetische Versuche und Besinnungen, Göttingen, I 1960, 212. Zur Gemeinsamkeit zwischen Jesus und l.Kor 15,20-28 vgl. E.Schweizer, 1.Korinther 15,20-28 als Zeugnis paulinischer Eschatologie und ihrer Verwandtschaft mit der Verkündigung Jesu: Jesus und Paulus. FS Werner Georg Kümmel, Göttingen 1975, 301-314. Solch evolutionistisches Denken kann man eher im Epheserbrief finden; vgl. K.Erlemann, Naherwartung und Parasieverzögerung im Neuen Testament, Tübingen/Basel 1995 (TANZ 17) 217. I.Hermann, Kyrios und Pneuma. Studien zur Christologie der paulinischen Hauptbriefe, München 1961 (StANT 2) 55; ebenso M.Theobald, Die überströmende Gnade. Studien zu einem paulinischen Motivfeld, Würzburg 1982 (fzb 22) 200; vgl. auch R.Bultmann, Der zweite Brief an die Korinther, Göttingen 1976 (KEK Sonderbd.) 98: »Die Verwandlung ist also ein in Stufen, bzw. unaufhörlich sich vollziehender Pro-

344

Wolfgang Schräge

men 4 in der paulinischen Ethik sind ebenfalls nur so zu erklären, vor allem im Prozeß der Heiligung 5 . Da diese Heiligung sich aber έ ν Χ ρ ι σ τ ώ vollzieht, d.h. durch das Wirken des erhöhten Christus, erscheint damit Christus selbst als der, der das gute Werk angefangen hat und vollenden wird (l.Kor 1,8; vgl. auch Rom 16,25). Schon damit ist gegeben, daß auch das gegenwärtige Wirken des Christus nicht als tatenloses Thronen zur Rechten Gottes im Himmel vorzustellen ist. Zugleich aber wird damit auch das Verhältnis zur Wirksamkeit Gottes angesprochen, denn dasselbe β ε β α ι ο ύ ν wird auch von Gott selbst gesagt (2.Kor 1,21; vgl. auch das πιστός-Prädikat l.Thess 5 , 2 4 u.ö.). Hier soll es vor allem um die Frage gehen, wie es um das βασιλ ε ύ ε ι ν bzw. die β α σ ι λ ε ί α des Christus in l.Kor 15,23-28 steht, w o dieses endgeschichtliche Prozeßmoment augenfällig ist, auch wenn es im Duktus dieser Verse mehr ein Nebengedanke bleibt und es Paulus vor allem darauf ankommt, die universale Dimension der Auferstehung Jesu Christi zu verdeutlichen 6 , damit zugleich aber die Frage nach dem Verhältnis von Herrschaft Christi und Herrschaft Gottes aufwirft 7 .

zeß«; F.Lang, Die Briefe an die Korinther, Göttingen 1986 (NTD 7) 276, spricht von einem »fortdauernden Erneuerungsprozeß des inneren Menschen«. Vgl. als Beispiel nur das περισσεύειν έν τω έργω τοϋ κυρίου am Schluß des Auferstehungskapitels in 15,58 und weiter Theobald, Gnade (s.o. Anm. 3) 29-55. Auch die Gemeinde ist kein fertiger, sondern ein wachsender Bau (l.Kor 3,10ff). Vgl. W.Schrage, Heiligung als Prozeß bei Paulus: Jesu Rede von Gott und ihre Nachgeschichte im frühen Christentum. FS Willi Marxsen, Gütersloh 1989, 222-234, z.B. 226: »Der Prozeß der Heiligung ist stets ein solcher, in den Gott und Mensch gemeinsam verwickelt sind, weil Gott die Christen durch seinen Geist darin verwickelt und einbezieht... Das gilt nicht nur für den Anfang des Prozesses, sondern auf allen seinen Stationen«, mit Verweis z.B. auf l.Thess 5,23. Vgl. die zahlreichen Wendungen mit πας und πάντα. Zur Struktur des Abschnittes ist vor allem von Bedeutung, daß V.24b und V.28 eine inclusio bilden und die dazwischen stehenden Gedanken sachlich umspannen; vgl. G.Barth, Erwägungen zu 1.Korinther 15,20-28: EvTh 30 (1970) 515-527: 522. Zu chiastischen Analysen vgl. C.E.Hill, Paul's Understanding of Christ's Kingdom in I Corinthians 15:20-28: NT 30 (1988) 297-320; J.Lambrecht, Structure and Line of Thought in I Cor. 15,23-28: ders., Pauline Studies, Löwen 1994 (BEThL 115) 151-159. Für detaillierte Nachweise in der Einzelexegese verweise ich auf die demnächst erscheinende Auslegung in EKK VII. Gleiches gilt für die traditionsgeschichtlichen Fragen, die hier weitgehend unbeachtet bleiben müssen. Vgl. dazu vor allem U.Luz, Das Geschichtsverständnis des Paulus, München 1968 (BEvTh 49) 339-358; W.Schmithals, Theologiegeschichte des Urchristentums, Stuttgart u.a. 1994, 52-69, der in seiner Rekonstruktion ebd. 58ff aber viel zu viel weiß. Es sei jedoch schon hier notiert, daß der Rückgriff auf eine Tradition, also etwa die Rezeption des Motivs der βασιλεία Christi und ihrer Übergabe an den Vater oder das der Unterwerfung der Mächte, nichts an dessen Bedeutung für Paulus ändert. Das gilt auch für den Rekurs auf die beiden Psalmworte in V.25 (Ps 110,1) und V.27 (Ps 8,7).

Das messianische Zwischenreich bei Paulus

345

Daß Paulus dabei die eschatologische Konzeption eines messianischen Zwischenreiches vertritt, ist ebenso umstritten wie die Frage, ob er sie in ähnlichem Sinn wie die bekannten jüdischen Belege verwendet 8 . Wo die Vorstellung eines messianischen Zwischenreichs für Paulus vorausgesetzt wird, wird sie oft im ähnlichen Sinn wie Apk 20 und in den jüdischen Belegen festgelegt, als ob damit ein erst mit der Parusie beginnendes Reich bezeichnet werde 9 . Weil diese meist aus einer Kombinationsexegese mit Apk 20 gewonnene Sicht der Dinge aber kaum zutrifft, wird die Adäquatheit für Paulus überhaupt bestritten 10 . Doch wie bei »Messias«, der ja im urchristlichen Sprachgebrauch ebensowenig mit allen Konnotationen der jüdischen Messianologie gefüllt werden kann, wird man eine solche Transformation auch hier für möglich halten und das messianische Zwischenreich nicht auf den genannten apokalyptischen Sinn festzulegen brauchen, wenn damit ein paulinischer Sachverhalt angemessen beschrieben werden kann. Und das dürfte in der Tat zutreffend sein 11 , wobei als entscheidende Korrektur zu gelten hat, daß die Herrschaft Jesu Christi für Paulus mit seiner Auferstehung beginnt. Zwischenreich soll also hier nur dieses meinen, daß dieses Reich einen terminus a quo und einen terminus ad quem hat, und zwar ohne genaue zeitliche Angaben und ohne konkrete Füllung im Sinne etwa von Apk 20. Selbst »Chiliasmus« wäre nicht ganz inadäquat, wenn es denn richtig ist, daß der Name »von dem an sich nebensächlichen Zug« stammt, daß das Zwischenreich auf Erden »nach der herrschenden Meinung 1000 Jahre dauern sollte« 12 . 8

Die neben Apk 20 üblicherweise zitierten Belege, die freilich ein sehr uneinheitliches Bild erkennen lassen, sind äthHen 93,1-14; 91,12f; Sib. 3,652-660; 4.Esr 7,28ff; 12,34; syrBar 29,3; 30,1; 40,3; 74,2; vgl. W.Bauer, Art. Chiliasmus: RAC 2 (1954) 1074f; E.Lohse, Art. χιλιάς, χίλιοι: ThWNT IX,459; L.J.Kreitzer, Jesus and God in Paul's Eschatology, Sheffield 1987 (JSNT.SS 19) 29-91; vgl. ferner die mit dem l.Jh. beginnenden rabbinischen Belege bei Bill. 111,823-827.

9

So z.B. Bauer, Chiliasmus (s.o. Anm. 8) 1076; A.Schweitzer, Die Mystik des Apostels Paulus, Tübingen 1930, 68; W.Michaelis, Versöhnung des Alls. Die frohe Botschaft von der Gnade Gottes, Gümligen 1950, 72-79; M.Rissi, Was ist und was geschehen soll danach. Die Zeit- und Geschichtsauffassung der Offenbarung des Johannes, Zürich 1965 (AThANT 46) 123 u.a.

10

So z.B. H.-A.Wilcke, Das Problem eines messianischen Zwischenreichs bei Paulus, Zürich 1967 (AThANT 51).

11

Vgl. R.Bultmann, Der Mensch zwischen den Zeiten nach dem Neuen Testament, in: ders., Glauben und Verstehen, Tübingen, III 1960, 35-54: 35; H.Conzelmann, Der erste Brief an die Korinther, Göttingen 2 1981 (KEK 5) 329f; G.Klein, »Reich Gottes« als biblischer Zentralbegriff: EvTh 30 (1970) 642-670: 660; H.-H.Schade, Apokalyptische Christologie bei Paulus. Studien zum Zusammenhang von Christologie und Eschatologie in den Paulusbriefen, Göttingen 2 1984 (GTA 18) 95 u.a.

12

Bauer, Chiliasmus (s.o. Anm. 8) 1073. Üblicherweise wird dabei dieses Zwischenreich für einen Ausgleich zwischen zwei verschiedenen Formen der Hoffnung gehalten: »Die

346

Wolfgang Schräge

S e h e ich recht, rekurrieren die entscheidenden Argumente, das messianische Reich auch bei Paulus mit der Parusie beginnen zu lassen, auf die W e n d u n g ε ϊ τ α τ ό τ έ λ ο ς in l . K o r 15,24a. N a c h d e m Paulus im vorangehenden V . 2 3 v o n e i n e m eschatologischen τ ά γ μ α gesprochen hat, in d e m als α π α ρ χ ή Christus erweckt wird und dann ( έ π ε ι τ α ) die zu Christus Gehörenden έ ν τ ή π α ρ ο υ σ ί φ . α ύ τ ο ϋ , folgt dann aber in V . 2 4 ε ί τ α τ ό τ έ λ ο ς , w a s durch z w e i ο τ α ν - S ä t z e expliziert wird. D i e entscheidende Frage ist nun, w e l c h e Zeitspanne zwischen Parusie und Ende anzusetzen ist. S o wird gefragt, ob ähnlich w i e bei dem έ π ε ι τ α in V . 2 3 auch mit ε ί τ α ein Intervall anzunehmen ist oder Parusie und Ende simultan erfolgen. Eine Antwort darauf fallt s c h w e r , w e i l ε ί τ α »may introduce either what is subsequent or what is immediately consequent« 1 3 und die meisten der angeführten B e l e g e selbst wieder umstritten sind, so daß sich Befürworter w i e Bestreiter einer längeren Zeitspanne - w e n n denn überhaupt ein sukzessives M o m e n t anvisiert ist - auf dieselben Stellen b e r u f e n 1 4 . D i e Frage läßt sich nur sachlich entschei-

ältere, nationale Hoffnung sucht man später mit der universalen Eschatologie zu verknüpfen, indem das Reich des Messiaskönigs vor das Ende der Welt und den Anbruch des neuen Äons gesetzt wird«; so Lohse, Art. χ ι λ ι ά ς , χ ί λ ι ο ι (s.o. Anm. 8) 459; Wilcke, Zwischenreich (s.o. Anm. 10) 48. Man sollte das freilich nicht einfach als faulen Kompromiß abtun, sondern nach der theologischen Notwendigkeit dieser Kombination fragen, daß es z.B. nicht möglich war, die Erde und die irdischen Verheißungen einfach aufzugeben. Auch für Paulus trifft es kaum zu, daß dem messianischen Reich keine irdischen Dimensionen eignen, wenn man sich nicht durch einen falschen Dualismus von unirdischem Heil und heilloser Erde fixieren läßt oder die Herrschaft Christi auf den Bereich der Innerlichkeit reduziert. Im übrigen darf man schon in der Apokalyptik nicht scharf zwischen zeitlich-irdischem und ewigem Reich differenzieren (vgl. Kreitzer, Jesus [s.o. Anm. 8] 86 u.ö.). A.Robertson/A.Plummer, A Critical and Exegetical Commentary on the First Epistle of St.Paul to the Corinthians, Edinburgh 2 1914 (ICC 7) 354; sie selbst neigen aber zur Annahme eines Intervalls; dezidierter in diesem Sinne F.Godet, Kommentar zu dem ersten Briefe an die Korinther, Hannover, II 1888, 198: Wenn Parusie und Ende zusammenfallen würden, müsse es τότε und nicht είτα heißen; vgl. auch Ph.Bachmann, Der erste Brief des Paulus an die Korinther, Leipzig 4 1936 (KNT VII) 443: »Schon das zeitliche Verhältnis zwischen dem ersten und zweiten τάγμα - Χριστός u. oi xoü Χρίστου - läßt erwarten, daß auch der durch επειτα und der durch είτα bezeichnete Zeitpunkt als auseinanderfallend gedacht werden«. Während die genannten Autoren diese Beobachtung freilich nicht weiter auswerten, geschieht das eindeutig bei W.B.Wallis, The Problem of an Intermediate Kingdom in lCorinthians 15:28: JETS 18 (1975) 229-242: 230. Vgl. auch Rissi, Was ist (s.o. Anm. 9) 123: Gemeint sei der Zeitraum »zwischen dem zweiten (sc. V.23c) und dritten eschatologischen Ereignis«, in dem trotz der knappen Entfaltung Raum für die von Apk 20 beschriebenen Millenniumszeit bleibe, »ein Enddrama nach der Parusie«. l.Kor 15,5.7 und l.Tim 2,13; 3,10; vgl. gegenüber den in der vorigen Anm. Genannten z.B. W.D.Davies, Paul and Rabbinic Judaism, Some Rabbinic Elements in Pauline Theology, London 3 1979, 293, der außerdem auf Joh 13,4f und 19,26f verweist. Im übrigen kann nach W.Bauer, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des

Das messianische Zwischenreich bei Paulus

347

den, daß nämlich Ende und Parusie sonst z u s a m m e n f a l l e n und der B e g i n n der Herrschaft Christi (vgl. den Infinity Präsens β α σ ι λ ε ύ ε ι ν in V . 2 5 ) sonst eindeutig die Auferstehung Jesu und nicht erst die Parusie ist ( R o m 1 4 , 9 ) , Christus also seit Ostern als Herr über seine G e m e i n d e herrscht 1 5 . Erst recht ist es unhaltbar, nach der in V . 2 3 c genannten A u f e r w e c k u n g der Christen mit τ έ λ ο ς die Auferstehung des Restes der M e n s c h h e i t u m schrieben sein zu lassen 1 6 , so daß das messianische Reich z w i s c h e n einer ersten und zweiten Auferstehung zu placieren wäre, w o b e i auf weitere Schwierigkeiten der A n n a h m e einer zweiten Auferstehung hier nicht einzugehen ist. A u c h aus der Flexibilität v o n finis in 4 . E s r 1 7 ist kein Kapital für eine komplexere Bedeutung v o n τ έ λ ο ς an unserer Stelle zu s c h l a g e n 1 8 . Ohnehin darf man aus Fragmenten kein G e s a m t g e m ä l d e konstruieren, sondern wird z u g e b e n m ü s s e n , daß bestimmte Teilaspekte nicht zueinander passen. Zu solcher Unausgeglichenheit der paulinischen Vorstellungen ist w o h l auch das meist unbeachtet bleibende Indiz für eine Herrschaft nach der

Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, Berlin/New York 6 1988, 741 εϊτα »oftmals dem Zweck d. Nebeneinanderstellung unter Verflüchtigung des zeitl. Momentes« dienen. Vgl. auch G.D.F.Fee, The First Epistle to the Corinthians, Grand Rapids 1987 (NIC) 753 (»sequential in ... a more logical sense«). 15

Auch O.Cullmann, Königsherrschaft Christi und Kirche im Neuen Testament, Zollikon-ZUrich 1941 (ThSt 10) 12 läßt daran keinen Zweifel, kombiniert aber dann doch mit Apk 20: »Diese Königsherrschaft (sc. Christi) beginnt aber nicht erst in der Zeit des tausendjährigen Reiches, in der sie sich nach der Wiederkunft Christi allerdings noch fortsetzen wird, sondern sie hat bereits begonnen«; vgl. auch ders., Die Christologie des Neuen Testaments, Tübingen 2 1958, 233, wonach das tausendjährige Reich »sozusagen der allerletzte Abschnitt der Herrschaft Christi« ist, der »gleichzeitig schon in den neuen Äon hineinragt«. Zu Ostern als Herrschaftsantritt Christi vgl. weiter etwa W.Thüsing, Per Christum in Deum. Studien zum Verhältnis von Christozentrik und Theozentrik in den paulinischen Hauptbriefen, Münster 1965 (NTA NF 1) 240; F.Froitzheim, Christologie und Eschatologie bei Paulus, Würzburg 1979 (fzb 35) 146; Wilcke, Zwischenreich (s.o. Anm. 10) 98.101.

16

So Η.Lietzmann(/W.G.Kümmel), An die Korinther I.II, Tübingen 1949 (HNT 9) 80 (»die ungläubig gestorbenen Heiden und Juden, die nach Rm 11,32; 5,12-18 auch am Ende noch der göttlichen Erbarmung teilhaftig werden sollen«); J.Weiß, Der erste Korintherbrief, Göttingen 9 1910 (KEK 5) 358; Bauer, Wörterbuch (s.o. Anm. 14) 1619 u.a. Vgl. die berechtigte Kritik von Kümmel, a.a.O. 193 und Wilcke, Zwischenreich (s.o. Anm. 10), 74f.85-100.148f mit Verweis auf J.Hdring, Saint Paul a-t-il enseign6 deux rtsurrections?: RHPhR 12 (1932) 300-320.

17

Kreitzer, Jesus (s.o. Anm. 8) 60f verweist auf 7,33.113; 12,34; 11,39-46; 6,25.

18

So aber Kreitzer, Jesus (s.o. Anm. 8) 139, der das gegen eine Identifizierung mit der Parusie bei Paulus anführt; vgl. auch Schweitzer, Mystik (s.o. Anm. 9) 69; R.D.Culver, A Neglected Millennial Passage from Saint Paul: BS 113 (1956) 141-152.

348

Wolfgang Schräge

Parusie l.Kor 4,8f und 6,If zu rechnen, wonach das verheißene β α σ ι λ ε ύ ε ι ν und κ ρ ί ν ε ι ν der Christen sich erst nach der Parusie ereignen wird 19 . Aus der mit Ostern beginnenden Herrschaft Christi darf nun aber nicht geschlossen werden, daß diese β α σ ι λ ε ί α des Christus an unserer Stelle als schlechthin realisierte bzw. »eine schon gegenwärtige Größe« 20 oder als »uneingeschränkt gegenwärtige Realität«21 zu bestimmen sei. Loader hat zwar noch einmal den Nachweis erbracht, daß eine gemeinsame Tradition hinter Rom 8,34ff; l.Petr 3,18ff; Eph l,20ff; Kol 2,10; 3,1 zu vermuten ist (Titel Χ ρ ι σ τ ό ς , Erwähnung von [Tod und] Auferstehung, Mächtekatalog) 22 , interpretiert dann aber von den anderen Stellen her auch l.Kor 15 und erklärt, der Kontext lege es nahe, »that substantially the powers are already subject to him, and this surely would have been Paul's understanding, especially since the last enemy death is in fact already disempowered« 23 . Genau dies ist zu bestreiten und auch mit V.55f nicht zu belegen. Zwar wird Christus am Ende, wenn er alle Feinde bezwungen hat, die Herrschaft dem Vater übergeben, aber diese Überwindung ist ganz offenbar noch nicht geschehen. Da der zweite δταν-Satz in V.24 vorzeitig zum vorhergehenden οταν-Satz zu verstehen ist, kann das κ α τ α ρ γ ε ϊ ν aller Mächte noch nicht vollendet sein, wie V.26 bestätigt, d.h. der terminus ad quem des messianischen Zwi-

19

Nach O.Böcher, Art. Chiliasmus I: TRE 7 (1981) 723-729: 727 ist bei Paulus »möglicherweise ... mit einem befristeten Zwischenreich des Messias und seiner Mitregenten (vgl. Apk 20,4)« zu rechnen, das, »endend mit Vernichtung des Todes (I Kor 15,2426), allgemeiner Auferstehung und Gericht, für die Frommen bruchlos in die ewige Heilszeit übergeht«; vgl. auch Kreitzer, Jesus (s.o. Anm. 8) 245 Anm. 84.

20

So aber Wilcke, Zwischenreich (s.o. Anm. 10) 98, der freilich auch die deuteropaulinischen Belege für diese Bestimmung heranzieht, vor allem den Aorist μετέστησεν in Kol 1,13 (vgl. auch 2,10), diese gegenwärtige βασιλεία als schon verwirklicht ansieht und dann in V.26 (ebd. 103) die übliche Spannung zwischen »schon« und »noch nicht« findet.

21

So Klein, »Reich Gottes« (s.o. Anm. 11) 660. Richtig daran ist, daß die Herrschaft Christi nicht einfach als eine noch ausstehende zu charakterisieren ist, wie D.L.Hay annimmt (Glory at the Right Hand. Psalm 110 in Early Christianity, Cambridge 1973 [MSSNTS 18] 61: Die Herrschaft sei »conceived as primarily or exclusively future«), vor allem nicht seine zweifellos gegenwärtige Herrschaft über die Gemeinde, doch kommt das prozeßhafte Moment, daß also seine Herrschaft noch im Werden ist, dadurch nicht genügend zum Zuge. Von einer uneingeschränkten Machtausübung kann jedenfalls keine Rede sein; vgl. auch unten Anm. 27, wo offenbar auch Klein eine Einschränkung vornimmt. Das berühmte und z.B. auch von K.Barth (KD 111/2,756) zitierte Blumhardtwort »Jesus ist Sieger« muß m.E. paulinisch heißen »Jesus ist und wird Sieger«. Er ist es in der Gemeinde, er wird es in der Welt.

22

W.R.T.Loader, Christ at the Right Hand. Ps. CX.l in the New Testament: NTS 24 (1978) 199-217, wobei man über Details seiner Rekonstruktion allerdings durchaus anderer Meinung sein kann.

23

Ebd. 208.

Das messianische Zwischenreich bei Paulus

349

schenreiches ist noch nicht erreicht. Vielmehr ist ein eschatologischer Überwindungsprozeß zwischen Ostern und Parusie im Blick 24 . Somit kann weder von einer schon vollendeten noch von einer bloß ausstehenden βασιλεία gesprochen werden, und auch die andernorts berechtigte Kategorie einer dialektischen Eschatologie25 ist hier keine ganz adäquate Beschreibung. Vielmehr ist ein prozeßhaft-dynamisches βασιλεύειν des Christus ins Auge gefaßt, in dem Christus die Welt durchdringt und die gottfeindlichen Mächte entmachtet. Insofern ist eher von einer Zwischenherrschaft als einem Zwischenreich zu sprechen, dessen Grenzen fixiert werden könnten oder das mit der Kirche identisch wäre26. Der Modus der Herrschaft Christi bleibt zwar unbestimmt, und es wäre sicher verfehlt, hier die Tradition der Messiasschlacht zu bemühen, etwa an 2.Thess 2,8 zu denken, wo dasselbe καταργ ε ΐ ν erscheint (»dann wird der Gesetzlose offenbart werden, den der Herr Jesus durch den Hauch seines Mundes töten und durch die Erscheinung seiner Parusie vernichten wird«), oder gar an Apk 19,1 Iff, wo Christus mit den himmlischen Heerscharen gegen die beiden Tiere Krieg führt und sie besiegt. Andererseits ist es ebenso problematisch, hier zu spiritualisieren oder allein ein βασιλεύειν durch Wort und Sakrament o.ä. anzunehmen27, was zumal gegenüber den überirdischen Mächten wenig einleuchtet, aber sich auch mit der Symbolik von ύπό τους πόδας stößt28. Allerdings ist

24

Vgl. U.Luz, Art. βασιλεία: EWNT 1,491: Die Herrschaft Christi ist »eine Zeit des weitergehenden Kampfes gegen die Mächte, mit deren Besiegung sie endet«; vgl. auch E.-B.Allo, St. Paul premifere 6pitre aux Corinthiens, Paris 1934 (EtB) 444 (»tour ä tour ... progressivement«); auch nach K.Barth, Die Auferstehung der Toten, Zürich 4 1953, 100 sieht Paulus »den Herrn von Kampf zu Kampf und schließlich dem unbegreiflich höchsten Sieg entgegenschreiten« (kursiv im Original gesperrt). A.Lindemann fragt immerhin, ob Christus die Mächte am Ende gleichsam »in einem Zuge vernichtet oder ob sich diese Vernichtung allmählich ... ereignet«, doch wird diese Differenz im Kontext der Naherwartung als »relativ gering« angesehen (A. Lindemann, Parusie Christi und Herrschaft Gottes. Zur Exegese von l.Kor 15,23-28: WuD 19 (1987) 87107: 94 Aran. 40). Im übrigen läßt Paulus auch sonst prozeßhaftes Denken erkennen (vgl. außer oben Anm. 3 z.B. den Komparativ έγγύτερον Rom 13,11).

25

Vgl. als Beispiel das Nebeneinander der schon präsentischen Gotteskindschaft in Rom 8,16 und der noch zu erwartenden in Rom 8,23.

26

Auch von V.20 her, worauf hier nicht eingegangen zu werden braucht, ist Schlatters Kritik am Widerspruch »gegen eine über die Kirche übergreifende Verheißung« durchaus berechtigt (A.Schlatter, Paulus, der Bote Jesu, Stuttgart 4 1969, 414).

27

So z.B. G.Klein, Über das Weltregiment Gottes: ZThK 90 (1993) 251-283: 263: »Diese seine Herrschaft zeitigt sich als reines Wortgeschehen«. Vgl. aber ebd., daß sich das Herr-Sein Christi »im Niederbruch aller anderen Herren« verwirklicht, »die nach l.Kor 8,5f nach wie vor Himmel und Erde durchwalten und deren Herrschaft nur ήμΐν gestürzt ist«.

28

Vgl. dazu z.B. Rom 16,20 und weiter K.Weiß, Art. πούς: ThWNT VI,628f.

350

Wolfgang Schräge

π α σ α ν ά ρ χ ή ν και π α σ α ν έ ξ ο υ σ ί α ν και δ ύ ν α μ ι ν trotz der Parallelen in der deuteropaulinischen Literatur 29 nicht eindeutig und ebensowenig auf die Bedeutung >überirdische Mächte< festzulegen wie die »Archonten« in 2,6.830. Es bleibt die Frage, inwiefern in l.Kor 15,23-28 überhaupt von einer Herrschaft Christi ausgegangen werden darf. Ist doch in diesem Abschnitt kaum etwas so kontrovers wie die Bestimmung der Subjekte der jeweiligen Verben und Personalpronomen. Sicher ist nur, daß in V.24b die Übergabe der β α σ ι λ ε ί α durch Christus an Gott den Vater erfolgt und spätestens in V . 2 7 c Subjekt des Unterordnens Gott sein muß. Alles andere aber ist strittig, und so verwundert es nicht, daß neben primär christozentrischen auch primär theozentrische Auslegungen begegnen. Der weitestgehende Vorschlag für eine Beziehung auf Gott will schon in V.24c (οταν καταργήση κ τ λ . ) Gott als virtuelles Subjekt bestimmen 31 . Das dafür genannte Argument, daß am Schluß des vorhergehenden Satzes τω θεώ καί πατρί steht und das darum auch als virtuelles Subjekt von κ α τ α ρ γ ή σ η naheliegt, ist freilich alles andere als zwingend 3 2 . Von V.24b liegt es zweifellos näher, eine Identität der Subjekte beider δταν-Sätze vorauszusetzen, zumal es wenig sinnvoll klingt, daß Christus die Herrschaft an Gott übergibt, wenn Gott selbst zuvor alle Mächte entmachtet hat. Die β α σ ι λ ε ί α Christi - an ihr ist nach V.24b ohnehin nicht zu zweifeln - besteht eben darin, alle Herrschaft, Macht und Gewalt zunichte zu machen 33 . Dann 29

Vgl. vor allem Eph 1,21, aber auch Kol 1,13.16; Eph 2,2; 3,10; 6,12; l.Petr3,22.

30

Vgl. W.Schräge, Der erste Brief an die Korinther. I. IKor 1,1 - 6,11, Zürich/Braunschweig u. Neukirchen-Vluyn 1991 (EKK VII/1) 253f; anders freilich zu unserer Stelle die meisten anderen, die auf die Dämonen beziehen oder aber umgekehrt auf »human authority of whatever sort and wherever located« (so W.Carr, Angels and Principalities, Cambridge 1981 [MSSNTS 42] 91). Cullmann, Königsherrschaft (s.o. Anm. 15) 236 will einen engeren von einem weiteren Herrschaftsbereich unterscheiden und gebraucht das Bild von zwei konzentrischen Kreisen, doch irgendeine Differenzierung wird hier nicht sichtbar, auch wenn κύριος sich fast ausschließlich auf die Gemeinde bezieht und das darüber hinausgehende βασιλεόειν sich nur hier findet.

31

So U.Heil, Theo-logische Interpretation von l.Kor 15,23-28: ZNW 84 (1993) 27-35; vgl. auch T.Aono, Die Entwicklung des paulinischen Gerichtsgedankens bei den Apostolischen Vätern, Bern u.a. 1979 (EHS.T 137) 26f.

32

Man kann zwar zusätzlich darauf verweisen, daß das Subjekt von καταργεϊν bei Paulus sonst fast ausnahmslos Gott ist, vor allem im ersten Korintherbrief (vgl. l.Kor 6,13 und die passiva divina in 2,6; 13,8.10; 15,26); allerdings kann Paulus das Wort auch, und zwar im unmittelbaren Kontext solcher Aussagen, von Menschen gebrauchen (13,11) und in 2.Kor 3,14 von der Decke erklären εν Χριστώ καταργείται. Da auch sonst bei denselben eschatologischen Aussagen ebenso Gott wie Christus als Subjekt erscheinen kann, ist dieses Argument ohnehin nicht zwingend (vgl. u. S. 353).

33

Vgl. zu καταργεϊν W.Feneberg, »Vernichten« oder »entmachten«? Bemerkungen zu dem paulinischen Vorzugswort καταργεϊν: Kul 6 (1991) 53-60, der ebd. 54 für

Das messianische Zwischenreich bei Paulus

351

aber kann auch in dem im Anklang an Ps 111,1 LXX formulierten Satz von V.25a das Subjekt von β α σ ι λ ε ύ ε ι ν wie V.24b (θη) nur Christus sein (vgl. das γάρ), zumal εχθρούς noch einmal die Mächte zusammenfaßt und in ihrem gottfeindlichen Wesen charakterisiert34. Streiten kann man nur darüber, unter wessen Füße Christus alle Feinde niederwirft, wer sich also in dem αύτοΰ verbirgt, und hier ist wohl keine Eindeutigkeit zu erreichen. Da der Gedankengang auf die Übergabe der Herrschaft an Gott zielt, könnte man erwägen, daß das β α σ ι λ ε ύ ε ι ν Christi auch hier darauf gerichtet ist, Gott alles zu Füßen zu legen. Dagegen spricht aber, daß ύπό τούς πόδας αύτοϋ in V.27a und erst recht αύτώ in V.27c nur Christus im Blick haben kann. Christus muß also zuvor alles unter seine Füße unterworfen haben, bevor er die Herrschaft dem Vater übergibt, auch wenn er diese Herrschaft seinerseits von Gott selbst empfangen hat, weil Gott sowohl der Ursprung (vgl. auch das δει in V.25) als auch das Ziel der Herrschaft Christi ist. Ein Umschlag scheint sich in V.26 anzubahnen, d.h. Paulus scheint trotz der Wiederaufnahme von τούς εχθρούς (V.25) durch έ σ χ α τ ο ς ε χ θ ρ ό ς in V.26 bei der Überwindung des letzten Feindes zu zögern, ähnlich aktivisch wie in V.24c von einem κ α τ α ρ γ ε ΐ ν durch Christus zu sprechen. Vielmehr benutzt er das passivum divinum, das auch sonst apokalyptischem Stil entspricht35, wahrscheinlich, weil er alttestamentlich-jüdischer Tradition Tribut zollt, wonach Gott selbst den Tod auf ewig vernichten wird (Jes 25,8) 3 6 . »entmachten« plädiert, was für V.24 zutreffen mag (anders G.Delling, Axt. άργός κτλ.: ThWNT 1,454 und H.Hübner, Art. καταργέω: EWNT 11,660), wofür auch ύπό τούς πόδας τ ι θ έ ν α ι in V.25 spricht; vgl. schon Bachmann, l.Kor (s.o. Anm. 13) 445: Zu Füßen werden die Feinde »nicht als Tote, wohl aber als Bezwungene« liegen. Anders steht es aber in V.26. Jedenfalls soll der paulinische Rückgriff auf Ps 110,1 LXX, auf dessen Probleme hier nicht einzugehen ist, die Herrschaft Christi unterstreichen und hat nicht einfach die Funktion, »to articulate the supreme glory, the divine transcendence of Jesus, through whom salvation was mediated«, wie Carr, Angels (s.o. Anm. 30) 90 im Anschluß an Hay, Glory (s.o. Anm. 21) 155 annimmt. 34

Vgl. weiter Η. A.W.Meyer, Kritisch exegetisches Handbuch über den ersten Brief an die Korinther, Göttingen 1870 (KEK 5) 437; Lietzmann, Kor I.II (s.o. Anm. 16) 81; Weiß, l.Kor (s.o. Anm. 16) 359; Conzelmann, l.Kor (s.o. Anm. 11) 334; J.Lambrecht, Paul's Christological Use of Scripture in ICor. 15,20-28: ders., Pauline Studies, Löwen 1994 (BEThL 115) 125-149: 132 u.a.; anders bei θη z.B. Godet, l.Kor (s.o. Anm. 13), 200; Ch.Maurer, Art. τίθημι κτλ.: ThWNT VIII,156 und die in Anm. 31 Genannten.

35

Vgl. J.Jeremias, Neutestamentliche Theologie. I. Verkündigung Jesu, Göttingen 1971, 24; anders Lambrecht, Use (s.o. Anm. 34) 139 (das Passiv sei keine Vorbereitung des Subjektwechsels, sondern erkläre sich durch die Betonung des letzten Feindes) und Lindemann, Parusie (s.o. Anm. 24) 99. Aber die Betonung des letzten Feindes hätte durchaus auch durch den Akkusativ und ein aktivisches κ α τ α ρ γ ε ΐ ν ausgedrückt werden können.

36

Anders J.Becker, Auferstehung der Toten im Urchristentum, Stuttgart 1976 (SBS 82) 86: »Erstmals in der urchristlichen Theologiegeschichte hat nun Christus selbst Macht

352

Wolfgang Schräge

Damit ist aber offenbar der Übergang zu V.27 geschaffen, da das begründende γάρ in V.27 auf V.26 zurückverweist. Daß in dem ohne formula quotationis angeführten Zitat von Ps 8,7 in V.27a Gott das Subjekt ist, bestätigt die Parallelität zu V.28a, ferner das ύποτάξαντος in V.27b, aber auch der Aorist, den man wohl auf den göttlichen Ratschluß zu beziehen hat, Christus zum Herrn über alles einzusetzen 37 . Zwar werden alttestamentliche Zitate mit Gott als Subjekt oft genug auf Christus übertragen (vgl. schon V.25b gegenüber der LXX-Fassung von Ps 110,1), und der Aorist ließe sich notfalls im Sinne des hebräischen Perfekt verstehen 38 , doch näher liegt es zweifellos, daß wie in Eph 1,22 am ursprünglichen Subjekt des Zitates festgehalten wird 39 . Dann aber steht es so, daß der Grund dafür, daß Christus alle Feinde besiegen kann, darin zu suchen ist, daß Gott Christus alles zu Füßen gelegt hat, Christus also der von Gott Beauftragte und Bevollmächtigte ist, dessen Machtausübung im messianischen Zwischenreich sich allein Gott selbst verdankt. Zugleich macht V.27b.c noch einmal deutlich, daß Chri-stus erst am Ende, wenn das jetzt noch unrealisierte πάντα ύποτέτακται proklamiert werden wird 40 , die Herrschaft ganz in Händen haben wird. Nicht ganz sicher zu entscheiden ist endlich, wovon der ϊνα-Satz in V.28 abhängig zu machen ist. Einige beziehen ihn auf τω ύ π ο τ ά ξ α ν τ ι , also auf Gott, so daß betont wäre, daß Zweck und Ziel der Herrschaft Christi die allumfassende Herrschaft Gottes ist41. Wahrscheinlicher ist aber, daß V.28c sich auf die Hauptaussage ύποταγήσβται bezieht, also die Unterwerfung

über den Tod, die im jüdischen und frühen urchristlichen Traditionsbereich sonst immer nur Gott zukommt«; als weitere Ausnahme bei Paulus gilt Phil 3,21. 37

So z.B. Godet, l.Kor (s.o. Anm. 13) 202; Robertson/Plummer, l.Kor (s.o. Anm. 13) 356f; Bachmann, l.Kor (s.o. Anm. 13) 446f.

38

Vgl. den Hymnenstil der LXX oder Lk 1,46ff.

39

Vgl. Weiß, l.Kor (s.o. Anm. 16), 360; Ch.Senft, La premifcre ipitre de Saint Paul aux Corinthiens, Neuchätel 1979 (CNT[N] 7) 200; Lindemann, Parusie (s.o. Anm. 24) 100 u.a.; anders z.B. Lietzmann, Kor I.II (s.o. Anm. 16) 81; Conzelmann, l.Kor (s.o. Anm. 11) 336; Lambrecht, Use (s.o. Anm. 34) 138f.

40

"Οταν 8e εϊπη ist keine »exegetische Bemerkung« (so Weiß, l.Kor [s.o. Anm. 16] 360f u.a.) und nicht zu umschreiben mit »wenn er (sc. Gott) durch den Psalmisten« gesagt hat oder »wenn es aber heißt«, sondern ein futurum exactum: »Wenn (dereinst) Christus gesagt haben wird«; vgl. C.F.G.Heinrici, Der erste Brief an die Korinther, Göttingen 8 1896 (KEK 5) 472; Robertson/Plummer, l.Kor (s.o. Anm. 13) 357 (»the change from ύπέταξεν to ύποτέτακται is in favour of the reference to a future declaration rather than to what is said in the psalm«); Wilcke, Zwischenreich (s.o. Anm. 10) 104f Anm. 505; Senft, l.Kor (s.o. Anm. 39) 200; Barth, Auferstehung (s.o. Anm. 24) 100f; Ch.Wolff, Der erste Brief des Paulus an die Korinther. II. Auslegung der Kapitel 8 - 16, Berlin 1982 (ThHK 7/II) 183; Lambrecht, Use (s.o. Anm. 34) 133.138f u.a.

41

So z.B. E.Käsemann, Exegetische Versuche und Besinnungen, Göttingen, II 1964, 127.

Das messianische Zwischenreich bei Paulus

353

des Sohnes auf die Alleinherrschaft Gottes ausgerichtet ist 42 . Möglich ist aber auch, den Schlußsatz mit keinem der beiden Verben zu verbinden 43 , also alles vorher Gesagte geschieht, daß Gott alles in allem wird. Jedenfalls wird Gottes Alleinherrschaft - nur so ist »alles in allem« recht verstanden am Ziel des ganzen eschatologischen Geschehens inklusive des messianischen Zwischenreiches stehen. Der kurze Durchgang hat gezeigt, daß die Meinung, Paulus lege in unserem Abschnitt auf Präzision bewußt keinen Wert und ziehe absichtlich keine scharfen Grenzen zwischen Christus und Gott 44 , kaum zu halten ist, da gerade an unserer Stelle deutlich differenziert wird 45 . Sachlich aber ist es durchaus zutreffend, daß Gott und Christus in ihrem Wirken hier sehr eng aneinandergerückt und nicht gegeneinander ausgespielt werden, zumal auch sonst dieselben Tätigkeiten bei Paulus auf Gott und Christus zurückgeführt werden können 46 . Von dem eindeutigen ύ π ο τ ά ξ α ν τ ο ς her wird man dabei ihr Verhältnis so zu bestimmen haben, daß Christus der von Gott delegierte Statthalter und Repräsentant der Herrschaft Gottes ist. Wie sehr Paulus beide tatsächlich zusammendenkt, ergibt sich auch daraus, daß Paulus hier das ύ π ο τ ά σ σ ε ι ν auf Gott, in Phil 3,21 aber auf Christus zurückführt. Nicht zufallig hat man, ausgehend von unserer Stelle, eine Zweilinigkeit in der paulinischen Eschatologie finden wollen. So J.Weiß, der »zwei Vorstellungsreihen« unterscheidet: 1. »die der Verkündigung Jesu entsprechende, wonach die Herrschaft Gottes das einzige Ziel der Hoffnung« sei, und 2. »die messianische, wonach zunächst mit der Erhöhung Christi die βασιλεία τοϋ Χ ρ ι σ τ ο ΰ beginnt ..., die mit seiner Parusie auf Erden in aller Form aufgerichtet wird« 47 . Dabei begegnet die erste Linie normalerweise

42

So z.B. Godet, l.Kor (s.o. Anm. 13) 205; Robertson/Plummer, l.Kor (s.o. Anm. 13) 358; Bachmann, l.Kor (s.o. Anm. 13) 440 u.a.

43

So Weiß, l.Kor (s.o. Anm. 16) 361.

44

Vgl. Wilcke, Zwischenreich (s.o. Anm. 10) 105 Anm. 502: »Gott und Christus werden - logisch nicht ausgleichbar - ineinander gedacht«; vgl. auch Luz, Geschichtsverstandnis (s.o. Anm. 7) 340 Anm. 86; J.Baumgarten, Paulus und die Apokalyptik, Neukirchen-Vluyn 1975 (WMANT 44) 104, nach dem gerade »die Unbestimmtheit« die paulinische Intention treffen soll.

45

Vgl. Heil, Interpretation (s.o. Anm. 31) 35; Lindemann, Parusie (s.o. Anm. 24), 97.

46

Vgl. außer dem oben erwähnten βεβαιούν des Christus (l.Kor 1,8) und Gottes (2.Kor 1,21) z.B. βήμα in 2.Kor 5,10 und Rom 14,10. Bezieht sich καταργεΐν in V.24 auf Christus und in V.26 auf Gott, ist auch hier auf kürzestem Raum dieselbe Doppelheit gegeben.

47

Weiß, l.Kor (s.o. Anm. 16) 362; zutreffender E.Schweizer, Art. υιός κτλ.: ThWNT VIII,373: Einerseits Abgrenzung »gegen einen unitarisch verstandenen Gottesbegriff«, andererseits »gegen eine Zweigötterlehre«. Zur These eines nur künstlichen Ausgleichs zwischen der Herrschaft Gottes und der Herrschaft Christi (so H.Conzelmann, Grund-

354

Wolfgang Schräge

in traditionellen Wendungen mit κ λ η ρ ο ν ο μ ε ϊ ν 4 8 . Anders aber steht es in l.Kor 4,20 und Rom 14,17, wobei die letzte Stelle besonders interessant ist, weil hier die Herrschaft Gottes zunächst durch Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist bestimmt wird (in Opposition zum Essen und Trinken in der Diskussion um Starke und Schwache), dann aber mit begründendem γάρ hinzugefügt wird, wer Christus darin diene, sei Gott wohlgefällig. Hier kann man in der Tat von einem »Hereinragen des Reiches Gottes ins Leben der Gemeinde« sprechen 49 , muß aber hinzufügen, daß dieser Anbruch der β α σ ι λ ε ί α τοϋ θεοϋ im Dienen gegenüber Christus antizipierend Wirklichkeit wird. Man wird zwar nicht um das Eingeständnis herumkommen, daß die einzelnen Aussagen nicht ganz ausgeglichen werden 50 und beides nur ausnahmsweise miteinander verbunden wird 51 , doch lassen andere Stellen immerhin erkennen, daß man christologische und theologische Aussagen zwar nicht gegeneinander ausspielen darf, die Unterordnung Christi aber ebensowenig zu übersehen ist 52 , vor allem aber, daß die Herrschaft Christi tatsächlich als messianisches Zwischenreich zu bezeichnen ist, die über sich hinausdrängt.

riß der Theologie des Neuen Testaments, München 1967, 94) vgl. Klein, Weltregierung (s.o. Anm. 27) 261f. 48

l.Kor 6,9; 15,50; Gal 5,21; vgl. auch l.Thess 2,12.

49

Weiß, l.Kor (s.o. Anm. 16) 362.

50

Das entspricht im übrigen der Fluktuation zwischen messianischen und theologischen Zügen auch innerhalb der Apokalyptik; vgl. vor allem Kreitzer, Jesus (s.o. Anm. 8) 30-91: 90 (»great deal of functional overlap between any intermediary agent and God himself«), zu Paulus: ebd. 163.

51

Rom 14,9 zeigt immerhin, daß der Übergang von der Herrschaft Christi auf die alleinige Macht- und Hoheitsstellung Gottes nicht völlig singular ist, weil der Duktus von Rom 14,9 zu Rom 14,10-12 durchaus mit l.Kor 15 vergleichbar ist: Daß alle dem Kyrios stehen und fallen, weil Jesus Christus gestorben und lebendig geworden ist, um über Tote und Lebende zu herrschen, hat zur Konsequenz, auf das Richten und Verachten des Bruders zu verzichten, weil sich alle vor dem Richterstuhl Christi verantworten müssen; und das wird dann in V . l l mit dem Zitat von Jes 49,18 begründet, daß sich Gott alle Knie beugen und ihn alle Zungen bekennen werden.

52

Vgl. l.Kor 3,23; 11,3 u.ö.

Die Sonne im Markusevangelium Hinweise zur Eschatologie und Schöpfungslehre des Markus v o n JOHANNES SCHREIBER

Im Leben Jesu, wie es im Markusevangelium nachzulesen ist, wirkt die Sonne jeweils an entscheidender Stelle, direkt (1,32; 4,6; 13,24; 16,2) oder indirekt (4,16f; 15,33) erwähnt, als eschatologisches Phänomen und Zeichen einer neuen Schöpfung im Heilsgeschehen. Diese Einsicht zur Eschatologie und Schöpfungslehre des Markusevangelisten, die im folgenden erläutert werden soll, verdankt sich der konsequent redaktionsgeschichtlichen Methode William Wredes 1 beziehungsweise, wie ein Kritiker meinte, der »unkontrollierten >naiven< Redaktionsgeschichte«2. Diese Kritik erinnert ungewollt an den genau und unbefangen gelesenen Wortlaut des zweiten Evangeliums mit seinen zahlreichen Anschauungsmomenten, gelegentlich dem Märchenstil nahe, der jeden Bibelleser, ja jedes Kind und also auch den Wissenschaftler ohne vorgefaßte Theorie das Entscheidende lehrt 3 : Markus liefert, wie jeder Leser feststellen kann, keine Liste der von ihm benutzten Überlieferung und will erst recht nicht uns moderne Menschen heute möglichst exakt über den historischen Lebensweg Jesu von Nazareth informieren; er will vielmehr mit den von ihm ausgewählten Stoffen und den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln in seiner Zeit »dartun, daß Jesus der Christus« ist, und zwar als »Messias am Galgen, eine paradoxe Contradictio in adiecto«4 und also hier auf Erden ein Mysterion. 5 Diesem seit Wredes und

1

Vgl. die Zusammenstellung der Wrede-Zitate bei J.Schreiber, Die Markuspassion. Eine redaktionsgeschichtliche Untersuchung, Berlin/New York 2 1993 (BZNW 68) 417f.424-426.429. Die Bejahung von Wredes Methode bedeutet natürlich nicht, seine Einzelergebnisse blind zu übernehmen (vgl. dazu ebd. 84-93); seine Überlegungen zur Entstehung der Geheimnistheorie sind bekanntlich unhaltbar (vgl. ebd. 83).

2

So bezeichnet G.Schille: ThLZ 119 (1994) 899f E.Haenchens und meine, Wredes Forschungsansatz bejahende Methode der konsequenten Redaktionsgeschichte.

3

Vgl. W.Wrede, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien, Göttingen 1901, 18 (Theorie). 20 (Kind). 128 (Bibelleser). 142 (Märchenstil, Anschauungsmomente); vgl. Schreiber, Markuspassion (s.o. Anm. 1) 82.91.

4

J.Wellhausen, Einleitung in die drei ersten Evangelien, Berlin 2 1911, 44.81; vgl. Schreiber, Markuspassion (s.o. Anm. 1) 180-182 zu Wellhausen (sowie R.Bultmann und W.Marxsen).

5

Wrede (s.o. Anm. 3) 80f. 110; vgl. Schreiber, Markuspassion (s.o. Anm. 1) 79 zu Wrede (und M.Kahler).

356

Johannes Schreiber

Julius Wellhausens Forschungen jenseits allen exegetischen Streites allgemein bekannten Hauptanliegen des Evangelisten hat historisch-kritische Exegese bei der Untersuchung einzelner Theologumena im redaktionellen Gesamtgefüge dieses Evangeliums zunächst zu dienen. Unser Fragen nach der vermutlichen Entwicklung der von mancherlei Einflüssen bestimmten, von Markus bearbeiteten Überlieferung und nach den in ihr eventuell tatsächlich eruierbaren Worten des sog. historischen Jesus und Einzelereignissen aus seinem Leben kann dann und danach auf einigermaßen fundierte Antworten hoffen, aber eben nur, wenn vorher Form und Inhalt des gesamten Markusevangeliums in seiner vorliegenden Textgestalt gemäß dem vorbildlichen Vorgehen Wredes in genauer Beachtung aller Einzelheiten der Texte als geistiger Tatbestand 6 - der Messias hängt am Galgen, auch für uns ein Geheimnis - ernstgenommen wird. Dies gilt, so gewiß alle gerade genannten Arbeitsschritte zusammenhängen, aber nie zum Schaden für das Ergebnis auf den verschiedenen Ebenen (Redaktion, Tradition, Einzelereignis) unkontrolliert vermischt werden dürfen. 7 Im folgenden verweise ich zuerst auf einige exegetische Einsichten bisheriger Forschung zum Symbol der Sonne im Markusevangelium (I), zeige sodann, wie Markus im Unterschied zu Matthäus und Lukas dieses Symbol verstanden hat (II), um zuletzt mit Bemerkungen zur von Markus benutzten Tradition und deren weiterer Wirkung meine Überlegungen abzuschließen (III).

I

Bisherige Forschung hat die Verse 1,32; 16,2 wegen ihrer Zeitangaben 8 mitunter als Redaktion des Markus, die Verse 4,6; 13,24 hingegen durch-

Vgl. W.Wrede, Über Aufgabe und Methode der sogenannten Neutestamentlichen Theologie, Göttingen 1897, 9. Vgl. E.v.Dobschütz, Zur Erzählkunst des Markus: ZNW 27 (1928) 193-198: 193 (die mündliche Überlieferung wird man »nie richtig beurteilen können, wenn man sich nicht zunächst über das Verfahren der Evangelisten bei der schriftlichen Festlegung der Tradition klar geworden ist«); M.Dibelius, Die Formgeschichte des Evangeliums, Tübingen 2 1933, 218 (Urteile über die Markus vorgegebene Tradition »dürfen erst abgegeben werden, nachdem der Sinn der uns vorliegenden Markus-Darstellung erhellt ist, und zwar ohne jede Frage der Geschichtlichkeit. Erst dann lassen sich die formbildenden Kräfte aufzeigen, von denen die Gestaltung der Traditionsstücke getragen ist«); s.u. Anm. 48. Vgl. R.Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition, Göttingen 10 1995, 363 (»Zeitangaben ... durchweg Redaktionsarbeit«, wenn auch nicht immer von Mk). 366 (zu 1,32-34) und z.B. E.Klostermann, Das Markusevangelium, Tübingen 5 1971 (HNT 3) 19 (zu Mk 1,32); D.Liihrmann, Das Markusevangelium, Tübingen 1987 (HNT 3)

Die Sonne im Markusevangelium

357

weg als verschiedenartige Tradition (Gleichnis, apokalyptischer Stoff) angesehen; 4,16f gilt als sekundäre Interpretation von 4,6, und 15,33 beurteilen manche als alte Tradition, während andere hier Sekundäres oder sogar Markinisches vermuten. 9 Gemäß der eingangs mitgeteilten Entscheidung für Wredes Methode sind derartige Urteile erst in Abschn. III aufzugreifen und vorerst ohne Belang. Sie wurden jetzt nur kurz erwähnt, um anzudeuten, daß ein inhaltlicher Zusammenhang zwischen den Versen 1,32; 4,6.16f; 13,24; 15,33; 16,2 bislang nicht gesehen wurde. Der atomistischen Betrachtungsweise tradionsgeschichtlicher Forschung widersprach freilich nicht, daß z.B. Emst Lohmeyer die Symbolik von 13,24 der apokalyptischen Vorstellung vom Weltende zuordnete und von daher dann auch 15,33 so verstand, daß sich zwischen diesen beiden Stellen nun doch ein Zusammenhang ergab 10 : Das eschatologische Geschehen am Ende der Tage (13,24) geschieht mit dem Verschwinden der Sonne und der hereinbrechenden Finsternis vorweg schon bei der Kreuzigung Jesu (15,33). Eine andersartige Gemeinsamkeit wurde bislang schon oft 1 1 zwischen den Versen 1,32 und 16, lf festgestellt. Beide Stellen signalisieren, daß der Sabbat eingehalten wird. Markus beachtet hier bei seiner Berichterstattung, die eventuell, wie eben schon bemerkt, durch die Zeitangaben speziell von ihm geprägt wurde und die jedenfalls von Matthäus und Lukas (verschiedenartig) abgeändert wurden, die Gebote jüdischer Sabbatfrömmigkeit; der Krankentransport und die Heilungen im Sammelbericht von 1,32-34 geschehen deshalb erst, nachdem der seit 1,21 12 andauernde Sabbat mit dem Untergang der Sonne (1,32) definitiv zu Ende ist, und der Gang der Frauen zum Grabe kann auch erst nach dem Ende des Sabbats mit dem Aufgang der Sonne am folgenden Tage stattfinden (16,lf). Ein theologischer Zusammenhang zwischen den Versen wurde aus dieser Entsprechung im Unterschied zur eben 46.53 (zu Mk 1,32); J.Schreiber, Theologie des Vertrauens. Eine redaktionsgeschichtliche Untersuchung des Markusevangeliums, Hamburg 1967, 84.100-102. 9

Vgl. die tabellarische Übersicht zu Mk 15,33 bei J.Schreiber, Der Kreuzigungsbericht des Markusevangeliums Mk 15,20b-41. Eine traditionsgeschichtliche und methodenkritische Untersuchung nach William Wrede (1859-1906), Berlin/New York 1986 (BZNW 48) 435-451.

10

Vgl. E.Lohmeyer, Das Evangelium des Markus, Göttingen 1 7 1967 (KEK 1/2) 345. Ähnlich Lührmann, MkEv (s.o. Anm. 8) 262; H.Giesen, Der Auferstandene und seine Gemeinde. Zum Inhalt und zur Funktion des ursprünglichen Markusschlusses (16,1-8): SNTU 12 (1987) 99-139: 109, der ebd. 108f zum Sonnenaufgang von 16,2 weitere symbolische Deutungen kurz erörtert (J.Gnilka, E.Güttgemanns, R.Pesch, R.Kratz, W.Grundmann, J.Ernst).

11

Vgl. z.B. G.Volkmar, Marcus und die Synopse der Evangelien nach dem urkundlichen Text und das Geschichtliche vom Leben Jesu, Zürich 1876, 100.615 mit W.Grundmann, Das Evangelium nach Markus, Berlin 8 1980 (ThHK 2) 62.445.

12

Der Sabbat beginnt als erster Tag im Leben Jesu womöglich schon in 1,16 oder sogar schon mit 1,14 (vgl. dazu unten Anm. 36.37.61).

358

Johannes Schreiber

erwähnten zwischen 13,24 und 15,33 bislang m.W. freilich nicht ermittelt. 13 Ohne Bezug zu 1,32 vermutet Walter Grundmann im Anschluß an Rudolf Pesch für 16,2 jedoch »einen symbolischen Sinn: Sie (die Frauen) kommen zum Grab, als Jesus bereits auferstanden ist; die Sonne ist der Grabesnacht entstiegen. Die spätere christologische Aussage vom Sol invictus, dem unbesiegbaren Sonnengott, bereitet sich vor. Die Häufung der Zeitangaben weisen hin auf die Errettung des leidenden Gerechten und die Wendung notvoller Situation >am Morgen< (Ps 30,4-6; 59,15-18; 90,13-16; 143,7-9).« 14 Hartmut Gese läßt den Sol invictus bei der Erörterung biblisch-theologischer Aspekte beiseite. Er bietet dementsprechend nur die von Pesch und Grundmann angedeutete alttestamentliche Sichtweise zu Mk 16,2. 1 5 Bernd Janowski betont diese Perspektive. Er stellt seinen Untersuchungen zum Motiv der Hilfe Gottes am Morgen das Wort von der Sonne der Gerechtigkeit (Mal 3,20a) programmatisch als Motto voran 16 und zitiert zu 16,2 Geses Hinweis: »Der Morgen ist die Zeit des Erstrahlens der Schöpfung, und das Osterereignis wird mit dem Aufgang der Sonne offenbar«. 17 Diese traditionsgeschichtliche Interpretation von 16,2 erinnert an bislang schon bekannte Ergebnisse redaktionsgeschichtlicher Forschung 18 und ermuntert deshalb dazu, die Redaktion des Markus von daher zu befragen. Ist die Ostersonne von 16,2 die Sonne der Gerechtigkeit (Mal 3,20), die im kosmischen 13

Meine redaktionsgeschichtlichen Überlegungen zu 1,32; 16,2 (vgl. Schreiber, Theologie [s.o. Anm. 8] lOlf) wurden als »messerscharfer Unsinn« abgetan (R.Pesch, Ein Tag vollmächtigen Wirkens Jesu in Kaphamaum [Mk 1,21-34.35-39]: BiLe 9 [1968] 114-128.177-195.261-277: 193 Anm. 48).

14

Grundmann, MkEv (s.o. Anm. 11) 445, der ebd. Anm. 32 R.Pesch (Der Schluß der vormarkischen Passionsgeschichte und des Markusevangeliums. Mk 15,42-16,8: L'Evangile selon Marc. Tradition et rädaction, hg.v. M.Sabbe, Löwen 1974 [BEThL 34] 365-409: 409) zitiert, weil dieser im Anfang der Erzählung von 16,1-8 ein Signal dafür sieht, »daß ihr eine theologisch-symbolische Auslegung angemessen ist«. Giesen, Der Auferstandene (s.o. Anm. 10) 109 lehnt Peschs und Grundmanns Deutung zu Mk 16,2 ab und gibt im Anschluß an Gnilka eine eigene (s.u. Anm. 21). Weitere Literatur zur bisherigen symbolischen Deutung von Mk 16,2 bietet F.Neirynck, Evangelica. Gospel Studies - Etudes d'6vangile. Collected Essays, hg.v. F.van Segbroek, Löwen 1982 (BEThL 60) 181-214: 203f, der sich vornehmlich mit der Debatte über die kultische Deutung (G.Schille) befaßt.

15

H.Gese, Zur biblischen Theologie. Alttestamentliche Vorträge, München (BEvTh 78) 191.

16

B.Janowski, Rettungsgewißheit und Epiphanie des Heils. Das Motiv der Hilfe Gottes »am Morgen« im Alten Orient und im Alten Testament. I. Alter Orient, NeukirchenVluyn 1989 (WMANT 59) V.190.

1977

17

Ebd. 15.

18

Vgl. A.G.Hebert, The Resurrection-Narrative in St.Mark's Gospel: SJTh 15 (1962) 66-73: 59.64 und weiter dazu u. Abschn. III.

Die Sonne im Markusevangelium

359

Ereignis der Kreuzigung Jesu nach der Finsternis schon aufleuchtet (Mk 15,33f.37)? Wird die neue Schöpfung nach Markus also bereits im Kreuzesgeschehen realisiert und durch das leere Grab nur zusätzlich offenbar - ohne offenbar zu werden (16,8)?! Ist deshalb bei Markus in Korrespondenz zu der göttlichen Stimme von 1,11; 9,7 das einzige Bekenntnis eines Menschen zum Gottessohn, direkt auf den Todesschrei Jesu (15,37) als Offenbarungsgeschehen bezogen (15,39), am Karfreitag mit dem überraschenden Aufleuchten der Sonne nach drei Stunden und nicht am Ostertag (16,1-8) zu hören? Ist die Auferstehung des Menschensohnes mit seinem Todesschrei und dem gleichzeitigen Aufgang der Sonne bereits geschehen (vgl. 15,33f.37.39 mit 9,2f.7.9)? Ist nicht auch 16,6 ein Hinweis in diese Richtung? Redaktionsgeschichtliche Forschung wird bei der Beantwortung dieser Fragen über die erwähnten symbolischen Deutungen bisheriger Exegese neu nachzudenken haben; der »Messias am Galgen« (s.o. Wellhausen) als Mysterion (s.o. Wrede) und der Kern seines Geheimnisses, der Wille Gottes, in ihm verkörpert, muß als Zentrum der markinischen Botschaft stets und also auch bei der Betrachtung der Sonne im Markusevangelium hinreichend beachtet werden. 19 Kurzum: Die bisherigen symbolischen Deutungen bedürfen der konsequent redaktionsgeschichtlichen Betrachtungsweise Wredes, um zu einer den Absichten des Markus wirklich entsprechenden Einsicht in seine Textaussagen zu kommen. Was will Markus mit seinen speziellen Formulierungen zur Sonne im Unterschied zu Matthäus und Lukas bezeugen? Diese Frage bestimmt die Darlegungen im nächsten Abschnitt.

II Auf dem Leidensweg nach Jerusalem kündigt Jesus seine Kreuzigung und seine Auferstehung »aus den Toten« (vgl. 9,9f) als Geheimlehre (vgl. 8,30; 9,30; 10,32) dreimal an (8,31; 9,31; 10,34) - und wird keinmal verstanden (8,32f; 9,32; 10,38.41). Das eindeutig und offen (vgl. 8,32) vorausgesagte Heilsgeschehen ist und bleibt also gleichwohl für die Jesus Nachfolgenden auf dem Kreuzweg strikt ein nicht zu verstehendes Geheimnis, und zwar auch dann, wenn es vor den Intimen exzeptionell einmalig enthüllt wird (vgl. 9,2f.7 mit 9,5f.9f). Diesem Sachverhalt entspricht, im Kontext gelesen, der Sonnenaufgang von 16,2, von dem bei Matthäus und Lukas und auch bei Johannes keine

Der göttliche Wille, wie ihn Markus, in Jesus einmalig verkörpert, versteht, verursacht in seiner himmlischen Radikalitat das von Wrede im zweiten Evangelium entdeckte, hier auf Erden durchweg geltende sogenannte Messiasgeheimnis; vgl. Schreiber, Markuspassion (s.o. Anm. 1) passim, bes. 98-105.149.237f.

360

Johannes Schreiber

Rede ist: Die Ostersonne ist eine Spezialität des Markus. 20 Sie ist aber - und das ist typisch für die markinische Theologie - nicht nur, wie man im Gegenüber zur Dunkelheit des Kreuzigungsgeschehens (vgl. 15,33) auf den ersten Blick annehmen möchte 21 , der Vorschein der himmlischen Siegesnachricht: »Er ist auferstanden 22 , er ist nicht hier« (16,6). Denn im Licht dieser markinischen Ostersonne wird, kaum ist sie aufgegangen, Unverstand hörbar (vgl. 15,46f mit 16,3: »Wer wird wegwälzen uns den Stein aus der Tür der Gruft?«), der durch das nachfolgende Wunder (16,4: »Und aufblickend schauen sie, daß hinweggewälzt ist der Stein; er war nämlich sehr groß«) und das noch größere der Tatsache des leeren Grabes und der Auferstehungsnachricht des himmlischen Boten (16,5-7) nicht etwa beseitigt, sondern vielmehr ins Monströse gesteigert wird: Während die Frauen bei Matthäus (voll »gewaltiger Freude«!) und Lukas vom leeren Grab zu den Jüngern eilen, um die Osterbotschaft zu melden (Mt 28,8; Lk 24,9), fliehen sie bei Markus aus der Gruft ins Licht des Auferstehungstages voll Furcht und Schrecken und sagen, vollkommen ungehorsam, niemand nichts (16,8). Der Unverstand von 8,32f; 9,32; 10,38.41 erscheint in 16,8 in äußerst zugespitzter Form. Die Sonne ist in Mk 16,1-8 also einerseits Zeichen des Sieges - der Gekreuzigte ist tatsächlich auferstanden - und andererseits Beleuchtung einer Niederlage: Im totalen Unverstand erfahrt niemand den Sieg. Somit ist typisch für Markus, daß der himmlische Triumph hier auf Erden zuletzt eine Katastrophe bewirkt; der Gerichtsaspekt ist wie im Kreuzigungsbericht (15,33f.37f) unübersehbar. Nicht Jubel, sondern Flucht, Furcht, Entsetzen und unverständiges Schweigen bestimmen den Ostertag. Denn seine das Schweigen durchbrechende Wahrheit als Sieg wird bei Markus einzig und allein unter dem Kreuz für den erfahrbar, der den Auferstandenen, den Gottesohn von 9,2f.7, als gekreuzigten Nazarener sieht und sucht (vgl. 15,39 mit 16,6). Weil die Frauen von 16,1 stattdessen einen Toten (vgl. 15,45 [»Kadaver«] mit Lk 24,39.42f) salben wollen, wird dessen Sieg ihre Niederlage (16,8). Ihr Liebesdienst der Totensalbung entspricht nicht dem göttlichen Willen zum Leben für andere (vgl. 3,4f; 12,29-31), notfalls radikal bis zum Tode am Kreuz (vgl. 15,31.37), den der gekreuzigte Nazarener als Auferstandener in Galiläa vorbildhaft lebt (vgl. 3,6 mit 14,28; 16,7). Deshalb wird im Sonnenlicht von 16,2 der im ganzen Markusevangelium zu beobachtende Unverstand der Nachfolgenden an den Treuesten der Treuen, 20

Vgl. J.Weiß, Die drei älteren Evangelien, Göttingen 2 1907 (SNT I) 226: »diese Angabe hat nur Markus«.

21

So z.B. Giesen, Der Auferstandene (s.o. Anm. 10) 109.

22

Nicht: »er wurde auferweckt«, vgl. J.Wellhausen, Das Evangelium Marci, Berlin 1909, 135; Klostermann, MkEv (s.o. Anm. 8) 170 (Übersetzung) und dazu S.Schulz, Die Stunde der Botschaft. Einführung in die Theologie der vier Evangelisten, Hamburg 1967, 47; Schreiber, Theologie (s.o. Anm. 8) 108f. 2

Die Sonne im Markusevangelium

361

an den Frauen von 15,40Ρ 3 , als Ungehorsam und Unglaube vollends offenbar; auch sie mißachten schließlich, was sie an Wunderbarem erlebt (16,3ff) und als Weisung (16,7) empfangen haben, sie fürchten nach wie vor das Kreuz (vgl. 16,6.8 mit 10,32; 15,41). Zusätzliche redaktionelle Bezüge verdeutlichen den bislang geschilderten Sachverhalt. Die Frauen wollen den toten Jesus salben (16,1) - und irren schon in solchem Liebesdienst: Das Grab ist leer (16,6), der Tote wurde als Lebendiger im Wissen um seinen Tod und die siegreiche Verkündigung des Evangeliums bereits in Bethanien, dem Elendshaus, im Haus des aussätzigen Simon, gesalbt 24 (14,3-9). Außerdem haben die Frauen auf dem seit l,2f vorbereiteten, ab 8,27 ostentativ beginnenden Kreuzweg in den Tempel 25 (11,11) den Erlöser begleitet (vgl. 15,41). Sie haben also seine Kreuzesbzw. Lebenslehre (8,34ff) gehört und die Umwandlung des Tempels von der Räuberhöhle zum Bethaus für alle Völker ( l l , 1 5 f f ) miterlebt und deren endgültige Realisierung zwar von ferne, aber immerhin doch im Unterschied zu den Jüngern gesehen (15,37.40). Sie haben gehört, miterlebt und gesehen - und doch in dem allen wie die Intimen von 9,5f, denen der Auferstandene auf dem Kreuzweg in vom himmlischen Walker »glänzend sehr weiß« gemachten Gewändern sogar erschien 26 (9,2f), nichts verstanden. Und die Frauen irren wie die Intimen von 9,2.5f weiterhin, weil sie Jesus offensichtlich als Toten und nicht gemäß seinen wiederholten, von ihnen mitgehörten (vgl. 15,41 mit 8,31; 9,31; 10,32-34) Voraussagen als Gekreuzigten und Auferstandenen suchen (16,6). Und schließlich versagen die Frauen,

23

Die Frauen sehen den Tod Jesu im Unterschied zu dem Heiden nicht unmittelbar unter dem Kreuz (15,39), sondern nur »von ferne« (15,40). Ihre Nachfolge (15,41) gleicht in dieser Hinsicht der des treuesten Jüngers (vgl. 14,54) und endet deshalb also nicht zufallig im totalen Unverstand (vgl. Schreiber, Markuspassion [s.o. Anm. 1] llOf. 140f).

24

Ebd. 344-347. Wegen 15,41 sind die Frauen in 14,3-9 womöglich als Anwesende zu denken. Ihr Unverstand würde dann dem von 15,46f; 16,3 entsprechen.

25

Vgl. ebd. 368; ders., Theologie (s.o. Anm. 8) 191-194.

26

Vgl. Schreiber, Markuspassion (s.o. Anm. 1) 23lf. Lukas streicht den Walker (Mk 9,3) und orientiert durch Lk 9,28f die Verklärungsszene auf sein Gebetsmotiv hin (vgl. ebd. 331f) und benutzt das Motiv der Sonne in Lk 21,25; 23,45 seiner Sicht gemäß heilsgeschichtlich (vgl. Schreiber, Theologie [s.o. Anm. 8] 59 und ebd. Anm. 49). Dementsprechend bejaht Lk 4,40 den Sabbat (wie anderwärts auch, vgl. ebd. 145148); die Kombination des Sonnenmotivs mit der bei Markus eschatologisch verstandenen Stundenangabe 1,32 entfallt somit in Lk 4,40 nicht zufallig (vgl. ebd. 95. lOlf mit 149) und Mk 16,2 ebenfalls. Mt 17,2 hingegen benutzt statt des Walkers hier bei der Verklärung Jesu das in der Apokalyptik geläufige Epiphaniemotiv der Sonne (vgl. slHen 1,5; Apk 1,16) und ordnet so und durch sein Sondergut 13,43 diese Szene seiner theologischen Gesamtkonzeption auf die Parusie hin zu (vgl. Schreiber, Markuspassion [s.o. Anm. 1] 358f; ders., Theologie [s.o. Anm. 8] 52ff): Der Verklärte ist der zukünftige Weltenrichter; die markinische Vorwegnahme des Eschatons im Kreuz Christi wird so abgewandelt.

362

Johannes Schreiber

weil sie in ihrem Unverstand Jesu Voraussage über die Begegnung in Galiläa mit ihm als leibhaftig Auferstandenen (14,28) trotz der Wiederholung dieser Voraussage (16,7) mißachten (16,8). Die geschilderte Funktion der Sonne in 16,1-8 wird vollends einsichtig, wenn man die auf das Eschaton ausgerichtete (vgl. 8,38) Kreuzeslehre von 8,34ff und deren apokalyptische Zuspitzung in 13,9-13 beachtet. Die Frauen, die wegen 15,41 zusammen mit dem Volk von 8,34 Jesu Lehre genau kennen, fürchten (wie alle anderen und besonders die den Willen Gottes verschlafenden [vgl. 14,37.40] und deshalb mit allen gewarnten Intimen von 13,3.37) die Auferstehung als Kreuzesnachfolge bis zum Ende (8,34f; 13,13; 15,37). Sie fürchten das Martyrium um Jesu und des Evangeliums willen 27 und die nur so erreichbare Auferstehung (vgl. 8,35; 13,9ff). Die mit der Ostersonne aufscheinende neue Schöpfung in der Nachfolge Jesu ist für den Markusevangelisten also eine radikal eschatologisch gedachte Größe: Nur wer wie der gekreuzigte Nazarener (16,6) den Willen Gottes mit äußerster Konsequenz verwirklicht (vgl. 3,1-6 mit 3,35) und notfalls auch zum Sterben um Gottes und des Nächsten willen bereit ist (vgl. 14,35f mit 12,29-31; 15,31), vermag angesichts des Todes mit ihm wissend äufzustehen (14,42) und nicht zu fliehen (vgl. hingegen 14,50 mit 16,8). Diesem Sachverhalt entspricht die Nachricht von Mk 15,33 in besonderer Weise. Nur am Tag der Kreuzigung des Jesus von Nazareth gibt es bei Markus einen Unter- und Aufgang der Sonne (und nicht umgekehrt!), aber nun so, daß von der Sonne (im Unterschied zu Lk 23,45) direkt gar nichts verlautet, obwohl doch die Finsternis beim höchsten Stand der Sonne genau zur Mittagsstunde hereinbricht. Der Leser weiß nämlich wegen 15,34 als Kommentierung der Finsternis 28 und wegen deren Ende mit dem Todesschrei Jesu (15,37), diesem Osterereignis (vgl. 9,9 mit 15,39), um den gekreuzigten Nazarener als Auferstandenen (16,6). Darf die Finsternis von 15,33 dem göttlichen Willen entsprechend im Drei-Stunden-Takt des Kreuzigungstages (vgl. 15,1.25.33f.42) die ganze Erde von der sechsten Stunde bis zur neunten, der Todesstunde Jesu, bedecken, so wird noch einmal unterstrichen, weshalb gemäß 15,37.39 für den Christen zuletzt 8,34f; 13,11. 13 als Ostererfahrung gilt: Nur wer wie Jesus dem Willen des göttlichen Vaters auch mitten in der Finsternis und dieser entgegen absolut gehorsam ist 27

Vgl. Schreiber, Markuspassion (s.o. Anm. 1) 184 u. ebd. Anm. 49.

28

Vgl. Schreiber, Markuspassion (s.o. Anm. 1) 263: Trotz der Dunkelheit totaler Gottverlassenheit (15,33f) hält Jesus dennoch an Gott fest: »Mein Gott, mein Gott« (15,34). Vgl. außerdem ders., Kreuzigungsbericht (s.o. Anm. 9) passim, bes. 47f.6567.72f zum Zusammenhang von 15,33.37. Ahnlich, wenn auch mit anderer Akzentuierung, R.Zwick, Montage im Markusevangelium. Studien zur narrativen Organisation der ältesten Jesuserzählung, Stuttgart 1989 (SBB 18) 439f: In 15,33f wird »schon das Thema Auferstehung präludiert«. »Was üblicherweise nur im Kontext von 16,2 über die Semantik des Sonnenaufgangs bedacht wird, gilt es bereits auf den Moment des Todes zu beziehen.«

Die Sonne im Markusevangelium

363

und ihm allein vertraut, erfahrt das Eschaton in aller Grausamkeit des Todes als Heil schon jetzt; im Aufgang der Sonne am Karfreitag erstrahlt die neue Schöpfung, der Karfreitag ist schon der Ostertag des Erlösers und der ihm wirklich Nachfolgenden. Mk 16,1-8 demonstriert nur noch für die, die den gekreuzigten Nazarener suchen (vgl. 16,6), daß der Auferstandene längst unterwegs ist, um im Galiläa der Heiden dort den Seinen zu erscheinen; er geht dorthin voran - voran zum Kreuz und zur Auferstehung (vgl. 16,7 mit 10,32-34)! Die Unverständigen aber fliehen wegen dieser Nachricht (16,8). Lohmeyers Einsicht zu 13,24; 15,33 (s.o. Abschn. I) wird durch das bislang zu 15,33 Ausgeführte nicht umgestoßen, sondern nur im Sinne der theologischen Gesamtkonzeption des Markus paradox ergänzt. Mk 15,33 nimmt, beachtet man den Kontext, tatsächlich das apokalyptische Geschehen von 13,24 vorweg, und zwar in äußerster Konzentration. Denn im Unterschied zu 13,24 und allen anderen von der bisherigen Forschung zu 15,33 angeführten Vorgaben der Tradition (s.u. Abschn. III) wird in 15,33, wie eben schon ausgeführt, nicht nur der Einbruch der Finsternis, sondern auch deren Ende in der neunten Stunde ausdrücklich festgestellt. Wegen dieser Stundenangabe geschehen somit das Ende der Finsternis, Jesu Todesschrei (15,37), die Zerstörung des Tempelvorhangs (15,38) und das Bekenntnis des Hauptmanns (15,39) zum gleichen Zeitpunkt. Im Gerichtsgeschehen, von dem in 13,26 zusätzlich zu 13,24 nur noch durch das Motiv des Sehens sehr indirekt die Rede ist 29 , erstrahlt folglich mit dem Sonnenaufgang im Tode Jesu gleichzeitig schon das Heil der neuen Schöpfung: Der nicht mit Händen gebaute Tempel (vgl. 14,58 mit 15,29), das Haus des Gebetes für alle Völker (11,17), wird im Bekenntnis des Heiden (15,39) hier auf Erden schon zeichenhaft sichtbar. Von daher wird verständlich, daß der Menschensohn bei seiner Erscheinung die Auserwählten durch seine Engel nur noch zusammenführen läßt (13,26f); deren Auferstehung wurde längst vorher im Nachvollzug des Erlöserschicksals realisiert. 30 Mit der Auslegung von Mk 4,6 in 4,16f kann man alles bislang Ermittelte rekapitulieren; die Paränese lehrt, was aus der Erzählung zu entnehmen war. Die ursprünglich mit Freuden das Wort »sofort« aufgenommen haben (vgl. 4,16 mit 1,31; 15,40f: dienen 31 ), diese »Augenblicksmenschen«, bei denen das Wort auf eine dünne Erdkrume mit felsigem Untergrund gesät wurde, sie fallen »sofort« ab, wenn die Sonne aufgeht (vgl. 4,6.17 mit 16,18), d.h. Drangsal und Verfolgung um des Wortes willen drohen. Die Sonne hat somit als Zeichen des Sieges wie in 16,2ff ambivalenten Charakter und funktioniert wie in 15,33. Während Jesus, bis zum Kreuz hin verfolgt, nicht, wie die Spötter fordern (15,29-32), sich selbst rettet, sondern im Aufgang der Sonne machtvoll stirbt (15,33.37) und deshalb im Schein dieser 29

Vgl. Schreiber, Markuspassion (s.o. Anm. 1) 84 Anm. 47.186f.373 Anm. 54.

30

Vgl. ebd. 183-209.

31

Vgl. ebd. 141.

364

Johannes Schreiber

Sonne (16,2) als gekreuzigter Nazarener der leibhaftig Auferstandene ist (16,6), fallen die »Augenblicksmenschen« im Sonnenaufgang, wenn also »Drangsal oder Verfolgung um des Wortes willen geschieht«, »sofort« ab (4,17). Diese Menschen »haben keine Wurzel in sich selbst« (4,17); die dünne Erdkrume mit felsigem Untergrund bedingt die Katastrophe (vgl. 4,6f). Sicher ist somit: Zum Wachstum des Samens gehört die Sonne im Gleichklang mit Jesu Tod und Auferstehung ganz unbedingt (vgl. 15,39; 16,7). Als Symbol seines Sieges in Verfolgung und Drangsal um des Wortes willen leuchtet sie und ist als solche in 4,17 wie in 15,33 gar nicht mehr genannt. Aber sie leuchtet analog zu 15,37 im Blick auf 16,6 in 16,2 nun ausdrücklich nur für den Gekreuzigten selbst und all jene heilbringend auf, die ihn suchen (vgl. 16,6), die wie er notfalls (vgl. 14,36) bis zum Ende ausharren (vgl. 15,37 mit 13,13), also nicht flüchten wie die Frauen (16,8) und alle anderen Augenblicksmenschen, etwa die um Petrus (vgl. 4,16f mit 14,31.50), der in 8,29-33 auf dem Kreuzweg schon die Realität von 4,4.15 erfahren hat. 3 2 Übrigens wird nur bei Markus der Sämann von 4,2 in 4,14 bei der Auslegung des Gleichnisses ausdrücklich erwähnt: »Der Sämann sät das Wort.« Man wird darin einen Hinweis auf die christologisch-pneumatische Konzentration der Eschatologie und Schöpfungslehre des Evangelisten sehen dürfen. Denn nur bei Markus ist der Erlöser mit dem Wort und dem Evangelium identisch (8,31.32a.35; 10,29). Der das Wort säende Sämann ist zugleich das Wort, der Same. Aber der Same ist in der vertrackten Metaphorik von 4,16 als Wort doch auch die »auf die felsigen Böden Gesäten« (4,16). Wie paßt das zusammen? Wahrscheinlich so: Der vom Himmel herabgestiegene Geist (1,10) bestimmt Jesu ganzes Leben bis hin zu seinem machtvollen Todesschrei (15,37) und deshalb auch, daß er den Seinen im Galiläa der Heiden und in dieses Galiläa mit dem Bewußtsein von 3,4; 10,18; 12,29-31 und dem Zagen von 14,35f und dem Willen von 14,42 zum Kreuz und zur Auferstehung vorangeht (vgl. 10,32 mit 14,28; 16,7). 33 So bewirkt er hier auf Erden als Gekreuzigter und Auferstandener die neue Schöpfung mittels des mit ihm identischen Evangeliums in weltweiter Mission (13,10; 14,9) durch die ihm wirklich Nachfolgenden, aber in solchem Aufgang der Sonne zugleich das Gericht an den »auf die felsigen Böden Gesäten« (vgl. 4,16f). Dieser Wirkung des in Jesus tätigen Geistes (vgl. 1,12) korrespondiert seine Wirkung in den Christen also nicht zufällig: Der Geist ist trotz der Schwäche des Fleisches willig (14,38) und wird deshalb nur in der Mission und der Kreuzesnachfolge (13,9-11) als Ausrüstung der wahrhaft Nachfol-

32

Vgl. ebd. 197.246.

33

Vgl. ebd. 333-340.377-379 zum Galiläa der Heiden und 251 zum Geist im Nazarener. Der Aufruf 14,42 (»gehen«) entspricht 10,32; 14,28; 16,7 (»vorangehen«).

Die Sonne im Markusevangelium

365

genden und als rettende Kraft betont genannt (13,11: » ... nicht ihr ..., sondern der Geist, der heilige«). Die in Abschn. I erwähnte, von der bisherigen Forschung ermittelte Gemeinsamkeit zwischen 1,32 und 16, lf (Markus beachtet bei seiner Redaktion die Einhaltung des Sabbats) ist offenkundig richtig und bedeutet doch keine Bejahung des Sabbats. Wenn Jesus nach Markus an den Sabbaten in »ihre« Synagogen geht, um dort mit Macht und nicht wie die Schriftgelehrten zu predigen und vor allem Dämonen auszutreiben (1,21-28.39), ist die Ablehnung der damaligen jüdischen Sabbatfrömmigkeit deutlich spürbar. Wenn nun weiterhin laut 1,32 erst am Abend nach Sonnenuntergang »alle« Kranken und Besessenen zu Jesus gebracht werden können und die »gesamte Stadt« jetzt erst in der Nacht sich an der Tür 34 versammeln kann, so daß Jesus nunmehr »viele« heilen und »viele Dämonen« austreiben kann (l,33f), so ist der Sabbat nicht nur wie in 16,lf (die Ostersonne geht nach dem Sabbat auf) negativ gewertet, sondern vor allem auch der Bezug zum Sonnenuntergang von 15,33 offenkundig: Das Heil, Gesundung und neue Schöpfung, geschieht im eschatologischen Kampf gegen die Finsternis, weshalb denn auch die Gebetsstunde Jesu, die unmittelbare Verbundenheit mit dem Vater (14,35f), an der alles hängt, in der Morgenfrühe in Übereinstimmung mit 6,46f; 14,17.35f; 15,34 so liegt, daß »es noch ganz dunkel war« (1,35). Schon der Leben-Jesu-Forscher Heinrich Julius Holtzmann hat aufgrund der »schriftstellerischen Thätigkeit des Mc« in Mk 1,21-34 einen »Eröffnungstag« der Wirksamkeit Jesu gesehen, dessen Anschaulichkeit »sich fast nur die Berichte über die letzten Tage Jesu an die Seite stellen können«. 35 Abgesehen von der Frage, ob der »Eröffnungstag« wegen der markinischen Vorzugsvokabel »sofort«36 (1,21) und dem Kontext 37 schon in 1,16 oder sogar schon in 1,14 beginnt 38 , ist im Rahmen dieses Aufsatzes hervorzuheben, daß Markus, sieht man von Jesu >Tauftag< und Wüstenzeit (1,9-13) ab, durch die von Holtzmann beobachteten Besonderheiten einen Zusammenhang zwischen dem ersten und dem letzten Tag des Lebens Jesu geschaffen hat. Mit dem Sonnenuntergang und den dann erst möglichen, eben beschriebenen Heilswirkungen endet der erste Tag (1,32). Und am letzten Tag dieser dogmatischen Lebensbeschreibung (16,1-8), die durch 16,7 auf den Anfang und alles weitere in Galiläa zurückverweist, geht nur bei Markus, wie

34

Vgl. ebd. 355f zum Tür-Motiv bei Markus als zusätzlicher Verbindung zwischen l,32ff und 16,Iff.

35

Vgl. H.J.Holtzmann, Die Synoptiker, Tübingen/Leipzig 3 1901 (HC 1) lOf.

36

Vgl. Schreiber [M.Friedrich], Kreuzigungsbericht (s.o. Anm. 9) 395f.410f; ders., Theologie (s.o. Anm. 8) lOlf.

37

Vgl. Lührmann, MkEv (s.o. Anm. 8) 21f.

38

S.u. Anm. 61.

366

Johannes Schreiber

oben schon betont, die Sonne mit paradoxen Wirkungen auf (16,2). Beachtet man diese theologische Korrespondenz von erstem und letzten Tag und weiterhin mit Holtzmann, daß die Kombination der typisch markinischen Zeitangaben mit dem Sonnenmotiv in 1,32; 16,2 ein Ausdruck der »stilistischen Eigenthümlichkeit des Mc« ist 39 , und beachtet man schließlich, daß Markus diese Zeitangaben von 13,35 her im Unterschied zu Matthäus und vor allem Lukas 40 über sein ganzes Evangelium hin benutzt 41 , so wird, ganz abgesehen von anderen Momenten der Markusdarstellung, die hier nicht erneut zu erörtern sind, wahrscheinlich, daß der Evangelist Eschaton und neue Schöpfung von Kreuz und Auferstehung her so versteht, daß beides in Jesu ganzem Lebensweg hier auf Erden immer wieder schon geschehen ist und mit der Verkündigung des Evangeliums im Sinne von 8,35; 10,29-31; 13,lOf. 13 bis zu den Ereignissen von 13,24ff real weiterhin geschieht. Dazu paßt, daß Markus an keiner Stelle seiner Schrift das Endgericht und die jenseitige neue Schöpfung näher beschreibt. Texte wie Mt 13,36-43; 24,50f; 25,31-46; Lk 13,28f; 16,19-31; 23,43 gibt es bei ihm nicht. 42 Er bezeugt mit seiner Art der Auswahl und Redaktion des Traditionsstoffes, daß das Gericht an der Finsternis und ihren Dienern nicht erst bei der Parusie, sondern gleichzeitig mit dem Heil der neuen Schöpfung hier und jetzt und immer da schon geschieht, wo Gottes guter Wille zum Leben in der Liebe zu ihm und dem Nächsten dank der Gnade Gottes (vgl. 10,27) zur Tat wird (vgl. 3,4.35; 12,29-31; 13,13; 15,31) und sich also ein Mensch des Menschensohnes und seiner Worte nicht schämt (8,38). Wer dem klaren Willen Gottes konsequent wie Jesus vertraut, dem scheint die Ostersonne gemäß 15,37, der bekommt, ganz und gar unwürdig, Anteil am Geheimnis des Erlösers (15,39) und erfährt das Eschaton und die neue Schöpfung leibhaftig schon jetzt in dieser Entscheidungszeit mitten unter Verfolgungen und ewiges Leben im kommenden Äon (10,30). Er gehört zu den Auserwählten, die der Menschensohn bei seinem Erscheinen in Herrlichkeit nach dem Zusammenbruch dieser Welt durch seine Engel zusammenführt (13,24-27).

39

Vgl. Holtzmann, Synoptiker (s.o. Anm. 35) 116f; Schreiber, Theologie (s.o. Anm. 8) 84.

40

Vgl. ebd. 94.

41

Vgl. ebd. 91-103.

42

Mk 9,43-50 wird auf dem ab 8,27 stattfindenden Kreuzweg gesprochen. Die hier zu beobachtenden Motive apokalyptischer Herkunft (Gehenna, Wurm, Feuer; vgl. Jes 66,24), womöglich vom Hellenismus mitbestimmt (vgl. H.Hommel, Herrenworte im Lichte sokratischer Überlieferung: ZNW 57 [1966] 1-23, bes. 6f.l7f; auch ebd. Anm. 19: Vergil spielt auf Jes 66,24 an), sind durch 9,49f auf den Kreuzweg zum Leben bezogen (vgl. Schreiber, Theologie [s.o. Anm. 8] 198): Schon jetzt, auf diesem Weg, muß jeder Jesus wirklich Nachfolgende »durch die Feuerprobe hindurch« (Grundmann, MkEv [s.o. Anm. 11] 267).

Die Sonne im Markusevangelium

367

III Gibt es im Markusevangelium Verse, die darauf hinweisen, daß der Evangelist bei seiner Redaktionsarbeit durch bestimmte Elemente der Tradition zu seiner Art der Traditionsgestaltung inspiriert wurde? Diese Frage, so allgemein gestellt, ist schon von William Wrede und Franz Overbeck und danach immer wieder eindeutig bejaht worden 43 , auch wenn hier und da unberechtigterweise schon Wrede und also auch der redaktionsgeschichtlichen Forschung heute das Gegenteil unterstellt wurde bzw. wird. 4 4 Das mag, wie wiederum schon Wrede und Overbeck gesehen haben, damit zusammenhängen, daß die konkrete Frage im Blick auf eine ganz bestimmte Aussage, etwa die nach der Herkunft des Motivs der Sonne und deren Inspirationskraft für die Redaktion des Markus, sehr viel schwerer positiv und in nicht wenigen Fällen gar nicht mehr beantwortet werden kann: Man muß mitunter Tradition und Redaktion »vermischt lassen, wie es ist«. 45 Mit Wrede betritt man also in den folgenden Überlegungen zur Geschichte der vormarkinischen Tradition »ein dunkles Gebiet«. 46 Aber der Versuch, in die »Urgeschichte« »mit >KatzenaugenhörenTendenz< reden darf«. 65 Die Tradition von der geheimen Epiphanie des Gekreuzigten, auf die hin Markus sein ganzes Evangelium anlegt, und die in dieser Hinsicht

59

Vgl. Gese, Theologie (s.o. Anm. 15) 191; Janowski, Rettungsgewißheit (s.o. Anm. 16) 14f.l9 (Überschrift: »Der Sonnengott und die Entmachtung der Finsternis - Das Motiv der Hilfe Gottes >am Morgen< im Alten Orient«). 190 (Ergebnis und religionsgeschichtliche Frage, »ob die Vorstellung von Jahwe als dem morgendlichen Retter und Richter der auf den Sonnengott bezogenen analogen Vorstellung der altorientalischen Religionen korrespondiert und gegebenenfalls von dieser beeinflußt ist«); Schreiber, Kreuzigungsbericht (s.o. Anm. 9) 126.149-151.301f.

60

Das sog. Messiasgeheimnis gilt angesichts des in Jesus verkörperten Willens Gottes trotz aller Differenzierung zuletzt radikal gegenüber allen Menschen und entspricht der markinischen Lehre von der Gnade (10,27), wie 15,39 im Vergleich mit 9,2-6 besonders eindrücklich zeigt. Vgl. zu diesem Sachverhalt ausführlich Schreiber, Markuspassion (s.o. Anm. 1)87-91.100.136f.148f.175f. 177.249.460.

61

Der letzte von Markus geschilderte Tag (16,1-8) verweist somit auf den ersten (1,1434) und alles Nachfolgende; s.o. Anm. 36.37.

62

Wrede, Messiasgeheimnis (s.o. Anm. 3) 145; vgl. ebd. 208 (nicht selbst »ausgedacht«); H.Conzelmann, Gegenwart und Zukunft in der synoptischen Tradition: ZThK 54 (1957) 277-296: 294f.

63

Wrede, Messiasgeheimnis (s.o. Anm. 3) 206.

64

Ebd. 208.

65

Ebd. 145.

Die Sonne im Markusevangelium

371

gleich strukturierte paulinische Tradition 66 prägen die Komposition seines Evangeliums mittels der Geheimnistheorie unübersehbar. 67 Sie bedingen die für die markinische Redaktion »grundlegende und grundsätzliche Dialektik von Verborgenheit und Offenbartheit der Messianität Jesu«. 68 Diese Dialektik bestimmt deshalb auch den Gebrauch des alttestamentlichen Motivs der Sonne in 16,2ff und gibt uns, im Zusammenhang mit 13,24; 15,33 betrachtet, den Schlüssel zur Traditionsverwertung des Markusevangelisten in die Hand. Darf man in Folge dieser Einsicht Mk 16,2 weiterhin, wie in Abschn. I angedeutet, auf Mal 3,20 beziehen? Leuchtet in 16,2 also die Sonne der Gerechtigkeit? Sind von daher auch die anderen Stellen, in denen bei Markus die Sonne direkt oder indirekt eine Rolle spielt, zu deuten? Was versteht Markus unter »Gerechtigkeit«? Gabriel Hebert hat bei seinen redaktionsgeschichtlichen Exegesen ohne weitere Begründung 69 in 16,2 »an allusion to Mal. IV.2« ( = Mal 3,20) gesehen und 16,8 deshalb als »the reaction of flesh and blood to the rising of the Sun of Righteousness« verstanden. 70 Läßt sich diese Sicht, die mit den Ergebnissen von Abschn. II harmoniert, genauer begründen? Hebert hat zu Mk 1,1 ff bemerkt, daß Johannes der Täufer für Markus »the promised Elijah of Malachi IV.5« ( = Mal 3,23) ist. 71 Diese Feststellung, durchweg von allen Exegeten geteilt, bedeutet, daß das Buch des Propheten Maleachi für die Darstellung des Markus zu Beginn wesentliche Bedeutung hat. Sie kann also auch am Ende des Markusevangeliums in 16,2 von Bedeutung gewesen sein. Diese Vermutung läßt sich absichern. Wie anderwärts schon ausführlich dargelegt 72 , hat die Schrift des Propheten Maleachi für die theologische Konzeption des Markus eine eminente Bedeutung gehabt. Folgende Momente seiner Darstellung sind in dieser Hinsicht noch einmal kurz zu erwähnen. Johannes ist nicht nur gemäß Mk 1,6

66

Vgl. Bultmann, Geschichte (s.o. Anm. 8) 372f; W.Marxsen, Der Evangelist Markus. Studien zur Redaktionsgeschichte des Evangeliums, Göttingen 1956 (FRLANT 67) 147; S.Schulz, Markus und das Alte Testament: ZThK 58 (1961) 184-197: 185-189; E.Käsemann, Der Ruf der Freiheit, Tübingen 3 1968, 72f; Schreiber, Markuspassion (s.o. Anm. 1) 249f.364f.394.

67

Vgl. Wrede, Messiasgeheimnis (s.o. Anm. 3) 79 (»Geheimnis ist in ausgezeichnetem Sinne auch die Notwendigkeit des Leidens, Sterbens und Auferstehens Jesu«) und dazu Schreiber, Markuspassion (s.o. Anm. 1) 79.92f.

68

G.Strecker, Eschaton und Historie. Aufsätze, Göttingen 1979, 30.

69

Vgl. Schreiber, Theologie (s.o. Anm. 8) 21 Anm. 56 zur Kritik an Heberts Vorgehen.

70

Hebert, Resurrection-Narrative (s.o. Anm. 18) 59.64.

71

Ebd. 58.

72

Vgl. Schreiber, Markuspassion (s.o. Anm. 1) 231-233.239.367f; ders., Theologie (s.o. Anm. 8) 193f; ders., Kreuzigungsbericht (s.o. Anm. 9) 181-193.319.

372

Johannes Schreiber

der Elias redivivus 73 (Mal 3,23), sondern als solcher der Wegbereiter des Herrn zum Tempel (vgl. Mal 3,1 mit Mk l,2f; 8,27 - 11,11), der, paradox im Sinne der Geheimnistheorie gelesen, wie der Erlöser als Wundertäter angesehen wird (vgl. 6,14.20 mit 15,35f) und als Sendbote Gottes (vgl. 12,112), obwohl als solcher dunkel geahnt (6,14; 8,27f), wie der Gottessohn (vgl. 12,5-7) hingerichtet (6,27; 9,13), begraben (6,29) und erhöht (9,4) wird. Er hat wie der Gottesohn die Walkerei des Gerichtstages von Mal 3,2 auf dem Berg der Verklärung im Gehorsam gegen Gott bereits hinter sich (Mk 9,2-4). 74 Die Annahme, in Mk 16,2 sei tatsächlich die Sonne der Gerechtigkeit von Mal 3,20 gemeint, scheint mir nunmehr einigermaßen begründet zu sein. In Erinnerung an oben Ausgeführtes darf man dem Evangelisten sogar zutrauen, hier von Mal 3,20 her selbst formuliert zu haben: Die Sonne in 16,2 ist eine Besonderheit des Markus; ihren Aufgang liest man zusammen mit der für ihn typischen Art der Zeitangaben und erkennt als Leser so einen Rückbezug zum Anfang seiner Darstellung des Lebens Jesu (1,32). Beachtet man weiterhin den oben dargelegten Bezug von 15,33 zu 16,2 und den von 13,24 zu 15,33, so darf vermutet werden, daß Markus von diesen Versen her das Motiv der Sonne in 1,32; 4,6.16f übernommen bzw. selbst eingebracht und verstanden hat. Historisches aus dem Leben Jesu ist an keiner Stelle auszumachen; in 4,6.16f; 13,24 ohnehin nicht und in 1,35; 15,33; 16,2 wegen der durch die redaktionelle Verwertung der traditionellen Metapher ermittelten symbolischen Bedeutung auch nicht. Die Symbolik des Markus ist dennoch keineswegs nur Bild für eine Idee bzw. Glaubensanschauung, die man als Vorstellung vergangener Zeit registrieren und dann womöglich als religiöse Illusion abtun kann. Sie ist vielmehr für die tatsächlich geschehende, in Einzelereignissen zu konstatierende Historie höchst bedeutsam als jene Kraft, die Einzelereignisse bewirkt und große geschichtliche Zusammenhänge produziert. 75 Generell, auch ganz abgesehen von Markus, gilt: Unsere Sprache spiegelt Leben und Welt, beschreibt sie und vermag so zugleich unser Leben und unsere Welt zu prägen, ja allererst zu erschaffen - und zu zerstören. An der Geschichte der Moderne und speziell ihrer naturwissenschaftlich-technischen und ihrer politischen Entwicklung kann man diesen Sachverhalt, der jedoch als menschliches Phänomen allenthalben und also auch für den antiken Autor Markus zu beachten ist, aber m.E. von der historisch-kritischen Exegese

73

Vgl. Lührmann, MkEv (s.o. Anm. 8) 35.

74

S.o. Anm. 26.

75

Vgl. dazu Schreiber, Markuspassion (s.o. Anm. 1) 160-165.360f.452 Anm. 57; ders., Kreuzigungsbericht (s.o. Anm. 9) 242-256.

Die Sonne im Markusevangelium

373

zu wenig bedacht wird 76 , gut studieren. Zur Konkretisierung darf man knapp feststellen: Das Wort von den Juden als »Ungeziefer« bewirkte im Kontext der Nazi-Ideologie die Millionen Toten in den Vernichtungslagern, und aus den Formeln der Wissenschaft erwuchs z.B. die Katastrophe von Hiroshima, während der siegreiche Todesschrei Jesu (Mk 15,37), im Kontext von Mk 3,4.6; 12,29-31; 15,31 gelesen, immer und überall den Untergang dieser Art von Welt bedeutet und eine neue Schöpfung bewirkt 77 . Die eben angesprochene wechselseitige Abhängigkeit von Wort und Ereignis, von Tiefenschicht und Oberfläche im Ablauf der Geschichte kann im hier behandelten Fall des Sonnenmotivs als Einsicht zur Bedeutung der ermittelten Tradition für die markinische Redaktion nur überzeugen und in der angedeuteten Perspektive angemessen rezipiert werden, wenn man beachtet, was Markus dank der Offenbarung Gottes in der Gestalt des gekreuzigten Nazareners im Gleichklang, aber nun eben auch im Unterschied zu Maleachi von der Gerechtigkeit Gottes weiß. Seine Sonne ist nicht einfach die des Maleachi. Läßt sich von Maleachi zusammenfassend einerseits sagen, daß er in seiner Gerichtsverkündigung »ganz Prophet im alten Sinne« ist, so gilt andererseits doch, daß er »mit dem Wertlegen auf pünktliche Erfüllung der kultischen Pflichten und Reinhaltung des jüdischen Blutes« sich z.B. von Arnos weit entfernt, »der Recht gefordert hatte, aber nicht Kultus, und für dessen Gott die Israeliten nicht besser waren als die Kuschiten« 78 . Vergleicht man damit die theologische Position des Markus, so bedarf es keiner Begründung, daß kultische Pflichten und Reinhaltung jüdischen Blutes sein Anliegen nicht sind. Er optiert für den »Propheten im alten Sinne< (vgl. Mk 12,1-12) und benutzt deshalb in bestimmter Auswahl ausschließlich Vorgaben aus der Gerichtsverkündigung von Mal 3 zur Strukturierung seines von der Geheimnistheorie geprägten Evangeliums. Er radikalisiert auf diese Weise die Meinung des Arnos: Ob Jude oder Heide, ob Mann oder Frau, nur wer Mk 3,4; 12,29-33 im Sinne von 3,6.35; 15,31 praktiziert, erlebt Gottes Hilfe als Sonne der Gerechtigkeit wie der Gekreuzigte (15,33.37; 16,2.6) gemäß dem Maßstab von 10,18.27 mit dem Ergebnis von 13,13. 76

Hilfreich argumentieren in dieser Hinsicht z.B. Gese, Theologie (s.o. Anm. 15) 190ff und Janowski, Rettungsgewißheit (s.o. Anm. 16) 19ff im Anschluß an E.Cassirer.

77

Vgl. dazu beispielhaft H.J.Graf v.Moltke 1907-1945. Letzte Briefe aus Tegel, Berlin 1952, 48-61; D.Wenz, »... und alle seine Rechte sind wiederhergestellt (posthum)«. Die Universität Greifswald gedenkt ihres von der Besatzungsmacht hingerichteten ersten Rektors nach dem Krieg: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 219 vom 19.9.1996, 16 zu Ernst Lohmeyers Leben und Tod, der sich vor dem Tribunal als »überzeugter Christ« bekannte.

78

O.Eißfeldt, Einleitung in das Alte Testament unter Einschluß der Apokryphen und Pseudepigraphen sowie der apokryphen- und pseudepigraphenartigen Qumran-Schriften, Tübingen, 3 1964, 598f.

374

Johannes Schreiber

Diese radikale Sicht wurde schon von Matthäus und Lukas abgewandelt. Aber wenn man in die weitere Geschichte der Kirche schaut, wird dennoch deutlich, daß die Botschaft des Markus nicht einfach vergessen wurde. Wenn etwa im Tauflied Eph 5,14 von der Totenauferstehung im Gleichklang mit der Erleuchtung durch Christus die Rede ist 79 , so erinnert uns dies sowohl an die Tauf- wie auch an die im nächtlichen Gottesdienst zu entzündende Osterkerze. Hier wären jetzt ausführliche, diesen Aufsatz freilich sprengende homiletische und liturgiegeschichtliche Studien angebracht. Ich schließe mit dem Hinweis auf ein gern gesungenes Kirchenlied unseres Gesangbuches, das schon den Böhmischen Brüdern 1566 lieb war: »Sonne der Gerechtigkeit, gehe auf zu unsrer Zeit; brich in deiner Kirche an, daß die Welt es sehen kann. Erbarm dich, Herr.« 80

79

Vgl. Eph 5,14 mit Mk 9,10; 14,37.40.42 und dazu Schreiber, Markuspassion (s.o. Anm. 1) 104 Anm. 184. 196 Anm. 126. 237 Anm. 161.

80

Evangelisches Gesangbuch, Nr. 262,1; vgl. ebd. V.4: »Schaffe Licht in dunkler Nacht. Erbarm dich, Herr.«

Die Exegese des Hebräerbriefs als Herausforderung für die Praktische Theologie v o n HENNING SCHRÖER

1. Zur Problemlage Praktische Theologie als theologisch verantwortete Theorie der Praxis des Glaubens in Kirche und Gesellschaft1 bedarf ständig der exegetischen Vergewisserung, weil die Bibel scriptum eminens practica2 ist. Freilich bedarf auch die Exegese der Bereitschaft, sich praktisch-theologisch herausfordern zu lassen. Solch ein Dialog muß nicht im Patt jeweiliger Zuständigkeitsansprüche enden. Der Hebräerbrief ist mehrfach von praktisch-theologischer Seite als besonders wichtig und ergiebig herausgestellt worden. Das gilt vor allem für die Homiletik. Martin Fischer hat auf die besondere Nähe des Hebräerbriefs zur Predigtverantwortung nachdrücklich hingewiesen3. Hans-Friedrich Weiß hat einen Aufsatz Der Hebräerbrief als Predigttext4 vorgelegt, der die Nähe des Hebräerbriefs zum Genus textgemäßer paränetischer Predigt unterstreicht. Die derzeit geltende Predigtordnung verzeichnet zahlreiche Perikopen aus dem Hebräerbrief. Im Blick auf ausgeführte Predigten ist der Predigtband von Manfred Josuttis Über alle Engel5 ein eindrucksvolles Beispiel für die homiletische Prägekraft des Hebräerbriefs, dessen theologische Eigenständigkeit und Niveau neben Paulus und Johannes Erich Gräßer deutlich herausgestellt hat6. Es ist gerade die hier nicht nur als Formel entwickelte Theologie des 1

Vgl. meine Darlegungen in dem Artikel: Praktische Theologie: TRE 27 (1997) 190220.

2

Die folgenden Überlegungen entsprechen meinen grundsätzlichen Ausführungen zu einer praktisch-theologischen Hermeneutik: Scriptura sacra est practica: Theologie als gegenwärtige Schriftauslegung, Tübingen 1995 (ZThK.B 9) 82-93.

3

M.Fischer, Vorwort: GPM 20 (1965/66) 127-130: 129.

4

Der Aufsatz ist abgedruckt in: Wort und Welt. FS Erich Hertzsch, Berlin 1968, 313322.

5

M.Josuttis, Über alle Engel. Politische Predigten zum Hebräerbrief, München 1990.

6

Vgl. E.Gräßer, Der Brief an die Hebräer. I. Hebr 1-6, Zürich/Braunschweig u. Neukirchen-Vluyn 1990 (EKK XVII/1) 38: »In der Gegenwart mehren sich ... die Stimmen derer, die im Hebräerbriefautor >den dritten großen Theologen des Neuen Testaments< erblicken«.

376

Henning Schröer

Wortes in der Fassung des Hebräerbriefs, die der Praktischen Theologie zu denken gibt. Da diese Theologie in der Auseinandersetzung um die Möglichkeit des christlichen Kults ihren Leitgedanken entwickelt, ist nicht nur die homiletische, sondern auch die liturgische Bedeutung zu erkennen. Dabei steht sicher die Opferproblematik im Mittelpunkt 7 , aber es gibt auch noch andere Schwerpunkte, wie im folgenden aufzuweisen ist. Es empfiehlt sich, der heutigen Sachlage entsprechend, Liturgik und Homiletik zusammen zu erörtern. Die Selbstbezeichnung des Hebräerbriefs als λ ό γ ο ς παρακλήσεως (13,22) legt auch fundamentale Relevanz für die Lehre von der Seelsorge nahe. Besonders nachdrücklich hat das Helmut Tacke herausgearbeitet. Seine »Beiträge zu einer bibelorientierten Seelsorge« - so der Untertitel - haben die Überschrift: »Mit den Müden zur rechten Zeit zu reden« 8 . Damit ist auch die poimenische Situation des Hebräerbriefs prinzipiell sachgemäß beschrieben. Schließlich möchte ich die m.W. noch gar nicht näher reflektierte gemeindepädagogische Relevanz des Hebräerbriefs betonen. Gemeindepädagogik ist eine noch junge Disziplin 9 - die Anfange liegen im Jahr 1974 -, die alte Traditionen der Katechetik und Gemeindeerziehung aufzunehmen hat und dringend auch einer biblischen Grundorientierung bedarf. Aus dieser Problemlage ergibt sich die Notwendigkeit, in drei Handlungsperspektiven die Tragweite heutiger Hebräerbriefexegese zu erproben, womit auch ein Beitrag zu dem Thema >Biblische Kommentararbeit und Praktische Theologie< geliefert werden soll 10 . Ein Ausblick in praktischtheologisch hermeneutischer Absicht soll diese Skizze beenden. Ein mit dem Jubilar gehaltenes Seminar »Exegese und kirchliche Praxis am Beispiel des Hebräerbriefs« hat mir den hohen Nutzen der Arbeitsgemeinschaft von Exegese und Praktischer Theologie gerade beim Hebräerbrief bestätigt. Hier knüpfe ich an.

2. Homiletik und Liturgik 2.1. Exegese und Praxis. Die Bedeutung des Hebräerbriefs für die Homiletik ist unumstritten. Aber es fehlen nähere Untersuchungen seit der schon erwähnten Studie von H.-F.Weiß. Er wies auf die Neuordnung der Periko7

Zur Orientierung vgl. die Artikel zum Stichwort »Opfer«: TRE 25 (1995) 253-299.

8

H.Tacke, Mit den Müden zur rechten Zeit zu reden, Neukirchen-Vluyn 1989.

9

Vgl. H.Schröer, Gemeindepädagogik wohin? Bilanz einer realen Utopie: JRP 12 (1995) 161-177.

10

Zum Problem vgl. R.Bohren, Kummer mit Kommentaren - schon in Vorworten: BThZ 2 (1985) 3-17.

Die Exegese des Hebräerbriefs als Herausforderung für die Praktische Theologie

377

pen seit 195311 hin, die in der Predigtreihe VI 12 nicht weniger als acht Texte aus dem Hebräerbrief enthielt. Inzwischen erfolgte 1977 eine Revision der Predigttextordnung, die diese Tendenz aufrecht erhielt. Die derzeit gültige Ordnung 13 verzeichnet insgesamt für die obligatorischen 6 Reihen und die Marginaltext-Reihe 27 Perikopen aus dem Hebräerbrief. Weiterhin ist die Reihe VI am stärksten beteiligt: Mit allen besonderen Festtagen sind dort 14 Perikopen vorgesehen. Reihe II bietet 5 Perikopen, außer für Lichtmeß (2,14-18) zum 2. Weihnachtstag (1,1-3 [4-6]), Sexagesimae (4,12-13), Invokavit (4,14-16), Judika (5,7-9). Die Predigtreihe IV sieht für Karfreitag 9,15.26b-28 und für Karsamstag 9,11-12.24 vor. Es zeigt sich, daß der Hebräerbrief vor allem auf die Fasten- bzw. Passionszeit hin verwendet wird, denn auch in der Predigtreihe VI haben Reminiscere (11,8-10), Palmsonntag (12,1-3) und Gründonnerstag (2,10-18) Predigttexte aus dem Hebräerbrief. Immerhin wird die paränetische Bedeutung für den Alltag der Gemeinde auch gewürdigt: 16. (10,35-36 [37-38] 39) und 17. (11,1-3) Sonntag nach Trinitatis bringen das zur Geltung. Die christologische, die paränetische und die martyrologische Relevanz (Gedenktag der Märtyrer [10,32-39], Stephanustag [10,32-34.39]) tritt somit deutlich homiletisch zu Tage. Man kann fragen, ob die Predigtreihe VI nicht etwas mit Texten aus dem Hebräerbrief überfrachtet ist. Es wäre wohl sinnvoll, eher die Möglichkeit einer beschränkten Bahnlesung (lectio continua) zu nutzen, anstatt den Hebräerbrief in die >homiletische Diaspora< zu schicken, so daß immer wieder die besondere Situation des Briefes wiederholt werden muß. Weiß verfolgt in seinem Beitrag das richtige Anliegen, den Verkündigungscharakter des Hebräerbriefs als λόγος παρακλήσεως (13,22) herauszuarbeiten. Christologie werde hier soteriologisch in Paränese umgesetzt. Es sei falsch, Lehre als explicatio oder Theorie gegen applicatio abzusetzen. Diesem Anliegen ist in der Tat zu folgen, auch sein Nachweis, daß die Betonung des έφ' απαξ (7,27; 9,12) keine Ausnahme bildet, kann als gelungen angesehen werden. Dem Hebräerbrief liegt es fern, Heilstatsachen für sich in ihrer geschichtlichen Einmaligkeit festzuhalten. Damit ist in der Tat ein oft beklagtes dogmatisches Übergewicht des Briefes für die Predigt als Mißverständnis erwiesen. Es ist, wie Gräßer es formuliert hat: »Das Ergebnis ist eine stets auf Soteriologie bezogene parakletische Christologie«14. Was hier als >Lehre< oder Bekenntnis erscheint, ist Predigt-Meditation. Mit Recht zieht Gräßer es vor, den Hebräerbrief gattungsmäßig gegenüber >PredigtDiakonieMysterienrede< »ganz allgemein als theologische Meditation«15 zu bezeichnen. Ich füge hinzu, daß damit gerade das Genus Predigtmeditation getroffen ist, das sich zu Recht - typisch in den Göttinger Predigt-Meditationen - für die Predigtvorbereitung ausgebildet hat16. Der Hebräerbrief hat eine Theologie, die meditativ die Aufgabe der Predigt im Gottesdienst, gerade im Einklang mit der Liturgie, in sich birgt. So schreibt Weiß mit Recht: »Die Einsicht in den Predigtcharakter des Hebräerbriefs vermag Mut zu machen zur Predigt über diese in mancherlei Hinsicht so rätselhafte Schrift des Neuen Testaments« 17 .

Präzisierend kann man sagen: Hier sind die Texte nicht nur Predigttext, sondern auch schon Predigtmeditation mit der Nähe zur Liturgie in sich. Im Bekenntnis - dem Hebräerbrief geht es um die Erneuerung des Festhaltens am Bekenntnis - kommen Predigt und Liturgie zusammen. Außerdem ist darauf hinzuweisen, daß der Hebräerbrief seelsorgliche und politische Predigt zugleich nahelegt. Weiß verwendet nur den Begriff Paränese bzw. Ermahnung. Man sollte aber die besondere Nuance sehen, die mit dem Begriff Paraklese gegeben ist, in dem neben der Ermahnung das Moment des Trostes und des Gebetes stärker zur Geltung kommt. Wie wichtig seelsorgliche Predigt ist, haben Studien wie die von Ch.Möller 18 und H.van der Geest19 erwiesen. Man sollte deshalb eher den Begriff der Paraklese als den der Paränese verwenden, weil so auch die Ermutigung in Christus als dem Anfänger und Vollender des Glaubens besser zur Geltung kommt. Daß dazu politische Predigt kein Kontrast sein muß, zeigen die Predigten von M.Josuttis, der ausdrücklich die Gattung Politische Predigt* beansprucht20. Er schreibt dazu: »Der Untertitel des Buches enthält natürlich eine Tautologie. Jede Predigt ist politisch, oder sie hat aufgehört, Predigt zu sein. Daß ich dieses konstitutive Moment besonders deutlich unterstrichen habe, hängt mit der Eigenart des Hebräerbriefs zusammen. Seine teils kryptisch, teils spekulativ wirkenden Aussagen scheinen Leser und Hörer in die abseitigen Welten des Kults und der Himmel führen zu wollen. Ich selbst habe erst allmählich, beim Fortgang der Predigtarbeit, entdeckt, daß gerade durch diese Distanzie-

15

Ebd. 16.

16

Vgl. dazu H.Schröer, Wesen und Methode der Predigtmeditation, Hab.schr. Heidelberg 1967; N.Hasselmann, Predigthilfen und Predigtvorbereitung, Gütersloh 1977.

17

Weiß, Hebräerbrief (s.o. Anm. 4) 318.

18

Ch.Möller, Seelsorglich predigen. Die parakletische Dimension von Predigt, Seelsorge und Gemeinde, Göttingen 1983.

19

H.van der Geest, Du hast mich angesprochen. Die Wirkung von Gottesdienst und Predigt, Zürich 1978.

20

Josuttis, Engel (s.o. Anm. 5).

Die Exegese des Hebräerbriefs als Herausforderung für die Praktische Theologie 3 7 9 rung gegenüber dem Alltagsgeschehen der Praxis des Glaubens eine gewaltige kritische Kraft geschenkt wird.« 21

Ähnliches betonen auch Predigtmeditationen zu Hebräerbrief-Texten wie die von E.Gräßer zu Neujahr (Text 13,20-21)22. In der liturgischen Rekapitulation des ganzen Briefes in 13,20-21 werden Subjekt, Indikativ und Imperativ des Heils noch einmal bündig mitgeteilt. Gräßer nennt als Grund nicht »liturgische(n) Ästhetizismus«23, darin liegt Wahrheit, aber es ist sinnvoll, die Kategorie der Ästhetik nicht völlig beiseite zu lassen. Denn Liturgie läßt als darstellendes Zeugnishandeln wahrnehmen, was an Bekenntnissymbolik und Hoffnungsbildern zum Glauben gehört. Es sind Bildeindrücke, die zu Bildungsvorgängen werden. Der Hebräerbrief thematisiert ein dramatisches Thema, den Zugang zum Heil in einer endgültigen Weise, die den vorherigen Kult wie die Glaubenspraxis im Alten Bund nicht dem Vergessen oder dem religionsgeschichtlichen Museum zuweist, sondern darin Heilige Schrift meditiert. Der Superlativ bedarf des Komparativs, um geschichtlich menschlich zu sein. Die Zusammenhänge von Kultus und narrativer Theologie sind hier gewahrt, aber auch - ganz wichtig - das Erbe der Psalmen. Die starken Einwirkungen der Bildwelt des Hebräerbriefs auf Gesangbuchlieder sind nicht zufällig24. Der Hebräerbrief, deutlich exegesiert, ist auch eine Quelle für die Hymnologie und damit für die Frömmigkeit bedeutsam, Christus ist »das Ende des Kults als Heilsweg«, hat E.Schweizer zutreffend formuliert 25 , aber gerade damit ist das Thema Opfer und Lob, zugespitzt in dem Begriff Lobopfer (13,16), weiterhin akut. Die These des Hebräerbriefs, daß das Selbstopfer Jesu, des himmlischen Hohepriesters nach der Ordnung Melchisedeks, alle anderen Opfer als nicht mehr notwendig erweist, ist befreiend. Sie fordert aber gerade zu einem Verständnis des Zusammenhangs von Opfer und Lob auf (Hebr 13,15f). Diese konstruktive Opferkritik im officium sacerdotale Christi26 - Christus als Ende des Opfers - verhindert auch den Irrtum einer absoluten Deutung, als wäre nur die Opfervorstellung für die Soteriologie hinreichend. Aber Christi Tod, als Opfer für das Ende aller Opfer verstanden, hat sofort die 21

Ebd. Vorwort.

22

E.Gräßer, Neujahr. Hebräer 13,20 und 21: ders., Aufbruch und Verheißung, Berlin/New York 1992 (BZNW 65) 295-302.

23

Ebd. 56.

24

Vgl. Gräßer, Hebr I (s.o. Anm. 6) 38, der für 8 Lieder im EKG (44.72.81.317.272. 274.303.326) den Hebräerbrief als »biblische >MitteOpfer< geredet wird: in alltagssprachlichen Zusammenhängen (Kriegsopfer, Verkehrsopfer ...), in der Selbstbegründung kirchlicher Handlungsfelder (...) genauso wie in der Feier des Herrenmahles (>Christi Leib, für Dich gegebenAlltagsmythen< (Barthes) des Opfers wahrzunehmen, zu interpretieren und von der Zusage des zureichenden versöhnenden Opfers Jesu Christi her zu kritisieren.« 28

Damit ergeben sich Zusammenhänge mit Ökologie und Ökonomie bzw. auch mit Lebensverzicht und Lebensverlust. M.Josuttis schreibt mit Recht: »Das große Opferspiel wird heute ohne Priester und ohne Opfertier aufgeführt, aber es findet statt, in uns und um uns.« 29

Der Kontrast zwischen Opfer als immer noch existierendem Lebensprinzip mit der Herrschaft über Menschen und Tiere (Tierversuche) und der Befreiung vom blutigen Opfer durch den Tod Christi besteht immer noch. Immerhin hat der Tod Jesu ein Veto eingelegt und die Opfer als Heilsweg abgeschnitten. Das wird aber nur verstanden, wenn wir die Nutzung des Opfers als Mythos des Alltags 30 als immer noch existierende Praxis erkennen. Einiges ist schon erkannt. Die Opferstätten der Antike sind verödet und nur noch archäologisch interessant. Die Rede von den Opfern, die gebracht werden müssen, stößt auf Verdacht. Es gibt Sehnsucht nach der noch seltenen Freude an dem Lobopfer. Der Schritt von sacrificium zum sacramentum bleibt schwierig, aber man erkennt, daß das sacramentum das entscheidende ist. 2.2. Seelsorge und Diakonie. Die seelsorgliche Bedeutung des Hebräerbriefs hat Helmut Tacke so gekennzeichnet: »Es ist für mich eine Entdeckung gewesen, als ich beim Studium des Hebräerbriefs genau auf die spezifische >Architektur< gestoßen bin, die sowohl das seelsorgerlich relevante Miteinander von Situation und Tradition erkennen läßt als auch für die zentrale Aufgabe heutiger Seelsorge verbindlich ist.« 31

27

H.-M.Gutmann, Art. Opfer VII: TRE 25 (1995) 293-299: 293.

28

Ebd. Vgl. ders., Die tödlichen Spiele der Erwachsenen, Freiburg 1995.

29

Josuttis, Engel (s.o. Anm. 5) 82.

30

Vgl. R. Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt a.M. 1964.

31

Tacke, Mit den Müden (s.o. Anm. 8) 28.

Die Exegese des Hebräerbriefs als Herausforderung für die Praktische Theologie 3 8 1

Tacke möchte den Hebräerbrief verstehen als »eine Sammlung von seelorgerlichen Gesprächen, die mit Christen unter dem Druck einer speziellen Anfechtung geführt worden sind, also sozusagen Gesprächsprotokolle, nicht gerade in der Form eines Verbatims, wohl aber erkennbar als Dokument latenter Dialoge - Seelsorgegespräche auf einem hohen Niveau, Glaubensgespräche, die den elementaren Katechismusunterricht voraussetzen.«32

Das halte ich formgeschichtlich für nicht evident, aber sicher ist, daß der Hebräerbrief gegen Anfechtung und Müdigkeit geistliche Tradition aufbietet. Tacke versucht, bestimmte seelsorgliche Situationen im Hebräerbrief wiederzufinden, so die Anfechtung der Ziellosigkeit (Hebr 2,1), zu der Ps 8 als Tradition eingebracht wird 33 , und die Situation der Unruhe ohne Glauben an die verheißene Ruhe (Hebr 4) 34 . Hebr 11 thematisiere das Problem, »wie schwer es ist zu glauben«35. Hier werden Geschichten als noch nicht vollendet nahegebracht, was in der Tat für die offene Aneignung von seelsorglicher Bedeutung ist. So ist der Sitz im Leben des Hebräerbriefs für Tacke die Seelsorge36. Tacke schließt mit der These: »Dem homo incurvatus und seiner Seelsorgebedürftigkeit ist nur die biblisch verankerte Glaubenstherapie gewachsen. Darum ist die kirchliche Seelsorge nicht >Psychotherapie im kirchlichen Kontext< (D. Stollberg), sondern etwas ganz anderes, nämlich Glaubenstherapie im eschatologischen Kontext von Verheißung und Erfüllung.«37

Man wird mit dem Begriff >Therapie< im Blick auf Seelsorge vorsichtiger umgehen müssen - das gilt sowohl für Tacke wie für Stollberg -, und insbesondere ein Begriff wie Glaubenstherapie ist problematisch. Zielt solche Therapie auf Glauben oder ist Glauben die Voraussetzung dafür? Sicher ist der Glaube im Hebräerbrief als Haltung, die im Leben als Situation Bewährungscharakter hat, der Kernbegriff von Seelsorge. Aber der breite Erlebnisraum mit dialogischem Charakter bleibt hier ausgespart. Der Hebräerbrief ist viel mehr Lehre als Gespräch, verweist allerdings auf die Basis aller Seelsorge und stellt Predigt und Liturgie als Hilfe zu einer cura generalis vor Augen. Es ist gerade die Seelsorge an der Gemeinde als ganzer, für die der Hebräerbrief besonders lehrreich ist. Ab und zu sollte sich eine Gemeindeleitung zu einem Hirtenbrief ähnlicher Art entschließen, der darauf achtet, daß keiner vom wandernden Gottesvolk ermattet zurückbleibt.

32

Ebd. 29.

33

Ebd. 31.

34

Ebd. 32.

35

Ebd. 34.

36

Ebd. 36.

37

Ebd.

382

Henning Schröer

2.3. Gemeindepädagogik. Schon die starke Inanspruchnahme des Begriffs παιδεία in Hebr 12,5-11 fordert dazu auf, auch pädagogische Relevanz wahrzunehmen. Daß dafür im heutigen Sinn >Bildung< gesagt werden könne, scheint mir irreführend zu sein 38 . Herbert Braun übersetzt konsequent mit »Züchtigung«39. Dieser Strafpädagogik muß allerdings mit theologischer Sachkritik begegnet werden. Der zitierte Spruch »Wen der Herr lieb hat, den züchtigt er...« (Prov 3 , l l f ) hat so viel Unheil ausgelöst, daß hier ein solches Vaterbild Gottes entschlossen der Korrektur bedarf. Vielmehr ist der Hebräerbrief selbst dagegen mit dem Versuch zu mobilisieren, dem Lernen im Leiden einen christologischen Halt zu geben. Die viel diskutierte Stelle Hebr 5,8 (»er lernte, obwohl er Sohn war, an dem, was er litt, den Gehorsam«) bietet Tieferes. Bemerkenswert ist hier die Anwendung der menschlichen Kategorie des Lernens auf den, der als Anfänger und Vollender des Glaubens auch der διδάσκαλος der Gemeinde ist. Der lernende Lehrer ist eine sachgemäße Beschreibung des >wahrer Gott und wahrer Mensch< als Bekenntnis. Gehorsam zu lernen bedarf allerdings auch der Interpretation. Es ist der Gehorsam, der aus dem Vertrauen erwächst, daß auch das Leiden nicht ohne Gott geschieht, aber daß das Leiden nicht selbst zum Schicksalsgott gemacht werden darf. An der Widrigkeit wird gelernt. Hier bietet sich die Möglichkeit, Glauben als Nachfolge, als Lernvollzug zu verstehen. Solche Pädagogik des Lernens für die Gemeinde als Ganzes geht die Gemeindepädagogik an. M. W. ist für diesen neu erschlossenen Arbeitsbereich der Praktischen Theologie der Hebräerbrief als Quelle noch nicht erschlossen. Es lohnt sich z.B. schon einmal zu sehen, wie J.A.Comenius als der Klassiker pädagogischer Theologie in seiner Großen Didaktik40 durchaus den Hebräerbrief heranzieht. Er verweist in seiner Darstellung der Erziehung zur Frömmigkeit auf Hebr 11,27, wo es heißt: »Dauernd hat er (Mose) den Unsichtbaren gleichsam vor Augen«. Diese Unsichtbarkeit im Schleier seiner Werke führe zur Freude an Gott, meint Comenius 41 . Auch Hebr 11,6 ist für ihn ein Leitsatz biblischer Didaktik: »Wer sich Gott nahen will, der muß glauben, daß er ist und daß er die, welche ihn mit Emst suchen, belohnen wird« 42 . Ebenso ist »Christus als Vorläufer« (6,20) als pädagogischer

38

D. Georgi/K.Baltzer/F.Merkel, 21. Sonntag nach Trinitatis. Hebr 12,4-11: GPM 20 (1965/66) 399-403: 399; so auch W.Bauer, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, Berlin/New York 6 1988, 1221.

39

H.Braun, An die Hebräer, Tübingen 1984 (HNT 14) 409-420.

40

J.A.Comenius, Große Didaktik, übers.u.hg.v. A.Flitner, Düsseldorf 4 1970.

41

Ebd. 158.

42

Ebd. 43.

Die Exegese des Hebräerbriefs als Herausforderung für die Praktische Theologie 3 8 3

Titel evident43. Die christologisch akzentuierte Wort-Gottes-Theologie ist auch für Comenius konstitutiv. Den Zusammenhang von Menschensohn und Gottessohnschaft sieht er in der Ebendbildlichkeit und greift hier auch auf Hebr 1,6 zurück44. Dort kommt er zu einem eindrucksvollen Imperativ in Form einer Gottesrede, die Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis zusammenfaßt: »Erkenne also, daß Du der Schlußstein meiner Schöpfung bist, eine wundervolle Zusammenfassung meiner Werke, Stellvertreter Gottes unter ihnen und Krone meines Ruhms«45. Comenius kann auch im Blick auf das ökumenische Lernen, das heute allgemein als Notwendigkeit anerkannt ist46, angesehen werden. Der Hebräerbrief bietet in seiner Universalität auch hier eine maßgebliche Orientierung für die Einheit der Kirche als wanderndes Gottesvolk »in der Erwartung seiner Erscheinung« (Barmen III).

3. Ausblick Der Hebräerbrief ist für eine praktisch-theologische Hermeneutik47 als biblische Quelle besonders instruktiv. Er kann in dem freien Dialog zwischen Exegese und Praxistheorie für alle Handlungsfelder wichtige Einsichten zur theologischen Existenz und Kompetenz erbringen. In gewisser Weise habe ich die hier seinerzeit von Rudolf Bohren vollzogene Provokation48 aufgenommen, ohne allerdings seine Polemik zu teilen. Gerade der Hebräerbrief nötigt dazu, den Zusammenhang im Unterschied von historischer Einsicht und existentialer Inanspruchnahme wahrzunehmen. Es geht um diesen konstruktiven Umgang mit der notwendigen Differenz, der eine direkte Identifikation, eine naive Gleichzeitigkeit überwindet. Das »Ein-für-allemal« ist in seiner Wahrheit weder als isolierbares historisches Faktum noch als Mythos des mystischen Augenblicks der Betroffenheit gegenwärtig, sondern nur in der verantwortungsvollen Inanspruchnahme als Text und Predigt, als Verheißung, die zur Erfüllung kommt. Der Advent des Wortes ist Intervention in der Gegenwart auf Zukunft. 1979 hat Bohren noch einmal konkret das Verhältnis von Exegese und Praktischer Theologie thematisiert, indem er die Frage nach den Gründen

43

Ebd. 30.

44

Ebd. 28.

45

Ebd.

46

Vgl. R.Koerrenz, Ökumenisches Lernen, Gütersloh 1994.

47

Vgl. Praktisch-theologische Hermeneutik, hg.v. D.Zilleßen u.a., Rheinbach 1991.

48

Vgl. R.Bohren, Die Krise der Predigt als Frage an die Exegese: EvTh 22 (1962) 6692.

384

Henning Schröer

für den Nutzen oder die Nutzlosigkeit exegetischer Kommentare für die Predigtvorbereitung erörterte. Das Referat wurde erst 1985 veröffentlicht 49 . Bohren bietet auch hier eine Polemik, die gerade in ihrem besonderen Bußernst der Verständigung wenig dienlich erscheint. Er analysiert zuerst und vor allem die Vorworte der Kommentare von Ulrich Wilckens und Eduard Schweizer zum Römerbrief bzw. zum Kolosserbrief. Seine Mikroanalyse täuscht Genauigkeit in der Sache vor. Es ist sicher sinnvoll, den Umgang des Exegeten mit der deutschen Sprache zu analysieren, aber Bohren müßte sich der Subjektivität seines Urteils bewußt sein. Was Bohren z.B. öfters als Ungenauigkeit im Ausdruck kritisiert, läßt sich durchaus als berechtigtes Stilmittel der Vorsicht verstehen. Ebenso ist die Polemik gegen ein wiederholtes »also« nicht überzeugend, da dies die Logik des Gedankens pointiert. Es ist unangemessen, von Wilckens, den er als »Künstler« der historisch kritischen Exegese anerkennt, zu fordern, er solle gleichzeitig die Haltung eines Bettlers einnehmen, weil er Luthers bekannte letzte Notiz »Wir sind Bettler, das ist wahr« zitiert. Insbesondere erscheint der Kritiker keineswegs als Bettler, sondern als fast unfehlbarer Predigtkenner der deutschen Sprache. Der alte Argwohn Bohrens gegen die historisch-kritische Auslegung hat sich bei ihm nicht gemindert. Er bleibt bei der Diastase und trägt wenig zur Überwindung dieser Kluft bei. Seine Entgegensetzung von historisch-kritischer Methode und Kirchenleitung 50 ist eine Überinterpretation jener Luthernotiz, die solche Fragestellungen gar nicht im Blick hat. Das kann nur zu Blockaden des Dialogs führen. Eine Analyse der Vorworte Gräßers zu den ersten beiden Teilbänden seines Hebräerbrief-Kommentares erspare ich mir im einzelnen. Sie würde in der Analyse der Sprache gewiß die Nähe zu Predigt und Seelsorge durch Sachlichkeit in der Einheit von Philologie, Religionsgeschichte und theologischer Hermeneutik herausarbeiten können 51 . Gleichzeitig wird das von Bohren zwar angesprochene, aber fast zwanghaft erörterte Problem der Rhetorik 52 hier wohltuend im Vorausblick auf den λ ό γ ο ς τ έ λ ε ι ο ς im Mittelstück 7,1 - 10,18 gewürdigt. »Die Durchführung dieses Programms im λ ό γ ο ς τ έ λ ε ι ο ς ist ein atemberaubendes Stück hochmythologischer Theologie, das in der parakletischen Gezieltheit über Jahrhunderte hinweg nichts von seiner Aktualität verloren hat und deshalb auch heutige Gemeinden bei passender Übersetzung - noch mühelos erreichen kann.« 53

49

Vgl. Bohren, Kummer (s.o. Anm. 10).

50

Ebd. 8.

51

Vgl. Gräßer, Hebr I (s.o. Anm. 6) VIII.

52

Bohren, Kummer (s.o. Anm. 10) 16.

53

E.Gräßer, An die Hebräer. II. Hebr 7,1 - 10,18, Zürich/Neukirchen-Vluyn 1993 (EKK XVII/2) VII.

Die Exegese des Hebräerbriefs als Herausforderung für die Praktische Theologie 3 8 5

»Mühelos« scheint mir etwas übertrieben zu sein, aber wichtiger ist zu fragen, wie die »passende Übersetzung« gelingen kann. Immerhin halte ich sie für möglich, wenn der Autor des Hebräerbriefs auch als Praktischer Theologe anerkannt wird, indem seine Hermeneutik und Rhetorik, zeitgeschichtlich analysiert, in ihrer Besonderheit als Mitteilung theologischer Grund-Sätze gewürdigt werden. Die biblische Begründung der Praktischen Theologie - ein in letzter Zeit nur wenig bearbeitetes Thema - bedarf des Hebräerbriefs, um die Einheit von Homiletik und Liturgik mit der Seelsorge und Diakonie für die Gemeinde als Ganzes einzuüben. Dabei ist die Individualität des Glaubens in den Lebenssituationen durchaus mit Hebr 11 im Blick, und in der typologischen Methode angesichts heiliger Tradition wird die Geschichte als Schrift festgehalten. Das ist vorbildlich für eine theologische Ästhetik und auch für den jüdisch-christlichen Dialog hilfreich. Nicht zuletzt an dem Umgang mit den Psalmen kann hier die Einübung in die keineswegs sang- und klanglose vox evangelii gefördert werden. Wenn Gräßer zu Recht feststellt: »Niemand muß wissen, wer den Hebräerbrief geschrieben hat, um ihn zu verstehen«54, so ist damit sehr klar ein notwendiges Element heutiger theologischer Sprachkultur namhaft gemacht worden. Anstatt im Interesse an biographischen Peinlichkeiten sich leicht von den Sachfragen ablenken zu lassen, wird hier die Theologie in der Sprache selbst konsequent mitteilbar. Praktische Theologie bedarf dringend der Reflexion auf ihre kulturtheologische Bedeutung. Es geht um die Auseinandersetzung mit dem, was Bildung im Sinne der Verantwortung zur Gottebenbildlichkeit als Humanität heißt55. Es empfiehlt sich, den Hebräerbrief gerade in exegetischer Einsicht als einen praktisch-theologischen Lehrmeister zu erkennen, der für einen Kulturprotestantismus vorbildlich ist, in dem das Heil in der Auseinandersetzung von Tod und Leben in der Unterscheidung von Evangelium und Gesetz auch im Kult auf der Höhe und in der Tiefe des Denkens auf Verheißung hin erinnert wird. Am Hebräerbrief lernen wir Anamnese mit Epiklese als Paraklese zu verstehen, weil die Verläßlichkeit des Weges Christi als trennscharfes Wort zu dem Glauben als gemeinsamen Weg zur Erfüllung von Kult und Kultur anstiftet.

54

Gräßer, Hebr I (s.o. Anm. 6) 19.

55

Vgl. den Kulturbericht der EKD: Kirche und Kultur in der Gegenwart, hg.v. H.Donner, Hannover 1996.

Ethik im Kontext eines evolutionären Weltbildes v o n EBERHARD W Ö L F E L

Wer das Wort »Evolutionstheorie« hört, denkt in einem damit an Darwin. Und das ist gut so. Denn erst die mit seinem Namen verbundene wissenschaftliche Revolution stellt die in der »Evolution« enthaltenen, unser Weltbild betreffenden Fragestellungen radikal heraus. Die Fragen der Evolution sind dabei heute im einzelnen weit über Darwin hinausgediehen, ja haben die Entstehungsgeschichte unseres Weltalls überhaupt erfaßt: Die Entfaltung des Lebens stellt in ihr nur noch die letzte von mehreren sich konsequent auseinander ergebenden Phasen dar. Diese Erweiterung ins Riesige bezeugt eindrucksvoll die Fruchtbarkeit der grundlegenden Einsicht: Für unseren Zusammenhang tritt sie freilich mehr in den Hintergrund.1 Und, um gleich noch weiter einzugrenzen: Wir wollen auch nicht auf die ins einzelne gehende immanente Weiterbildung und theoretische Erforschung der Deszendenztheorie sehen: Hier zeigt sich der »Darwinismus« heute als Oberbegriff einer in Expansion befindlichen, empirischen Wissenschaft - mit, wie für die Wissenschaft notwendig und in ihr üblich, jeweils neuen Antworten auf neue Fragestellungen (die zugleich das Alte korrigieren). 2 Es mag genügen, für solches alles einen Namen wie Manfred Eigen (mit seiner Rekonstruktion verallgemeinerter »Darwinscher Prozesse« auf der Basis der Thermodynamik) oder ein ganzes Fachgebiet wie die Verhaltensforschung - und hier wieder die besonders seit dem Buch von K.Lorenz Die Rückseite des Spiegels (1973) entstandene »Biologische Erkenntnislehre« (z.B. Rupert Riedl, Georg Vollmer und andere mehr) - zu nennen. 3 Die Vgl. zur Einfuhrung: A.Unsöld, Evolution kosmischer, biologischer und geistiger Strukturen, Stuttgart 1981; Vom Anfang der Welt, hg.v. J.Audretsch/K.Mainzer, München 1989. - Aus anderer Perspektive: H.Haken/A.Wunderlin, Die Selbststrukturierung der Materie, Braunschweig 1991; E.Jantsch, Die Selbstorganisation des Universums, München 1992 (erw. Neuaufl.). Allgemein: B.Rensch, Art. Evolutionstheorie: HWB 2 (1972) 836ff (Lit.); J.Hübner, Art. Evolutionismus: TRE 10 (1982) 690-694 (Lit.); Register (1978-88.1989-94) der Zeitschrift Spektrum der Wissenschaft (Heidelberg, seit 1978), Stichwort: »Evolution«. Zu speziellen Ausformungen vgl. die folgenden Anmerkungen. M.EigenAV.Gardiner/P.Schuster/R.Winkler-Oswatitsch, Ursprung der genetischen Information: Spektrum der Wissenschaft 6 (1981) 36-56; M.Eigen, Stufen zum Leben, München 1987; R.Hausmann, »... und wollten versuchen, das Leben zu verstehen ...«, Darmstadt 1995. - Die »Biologische Erkenntnislehre« ist von K.Lorenz initiiert durch: Kants Lehre vom Apriorischen im Lichte gegenwärtiger Biologie (1941; wieder abge-

388

Eberhard Wölfel

überwältigende Mehrheit der heutigen Forscher ist sich w o h l in dem einig, w a s der Altmeister der »Synthetischen Theorie der Evolution«, Ernst Mayr, s o formuliert: »Die eigentliche Tatsache, daß Evolution stattgefunden hat, wird nur v o n ganz ignoranten Leuten b e z w e i f e l t . U n d wir B i o l o g e n halten sie für e i n e Tatsache - genauso w i e die Tatsache, daß die Erde um die S o n n e kreist.« 4 Im einzelnen v e r s c h w i m m t das Wesentliche dabei o f t leicht. Das Ganze ist schon in Darwins großem Wurf sehr deutlich zu erkennen. In seinen entscheidenden Leitfragen und Postulaten g e w i n n e n wir darum leicht einen W e g w e i s e r , der uns gestattet, dieses neue D e n k e n auch mit den Fragen und A n l i e g e n der christlichen Ethik zu konfrontieren; auf das zu sehen, w a s sie befruchten kann und muß - aber gegebenenfalls auch auf das, w a s an Trennendem bleiben mag. Die genannten Leitfragen sind v o n Darwin her dann methodisch leicht zu entwickeln, w e n n man seinen Durchbruch durch als fraglos vorausgesetzte D o g m e n des damaligen Weltbildes bedenkt. W i d m e n wir uns also zunächst diesem T h e m a . 5

druckt: ders., Das Wirkungsgefüge der Natur und das Schicksal des Menschen, München 1976, 82-109) und sein oben im Text genanntes Werk. Danach besonders: R.Riedl, Strategie der Genesis, München 1976; ders., Biologie der Erkenntnis, Berlin/Hamburg 1980; ders., Evolution und Erkenntnis, München 1982; G.Vollmer, Evolutionäre Erkenntnistheorie, Stuttgart 3 1981; ders., Was können wir wissen?, 2 Bde., Stuttgart 2 1988. Der Biologe Ernst Mayr provoziert die Philosophen: Alles Leben ist Geschichte: Bild der Wissenschaft 22 (1985) H. 12,136; ders., Eine neue Philosophie der Biologie, München/Zürich 1991. Vgl. zur speziell ethischen Problematik bes.: K.Lorenz, Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit, München 1973; ders., Der Abbau des Menschlichen, München 1983; ders./K.R.Popper, Die Zukunft ist offen, München 1985, 11-43; E.Wölfel, Zum Naturverständnis der Theologie im Horizont ethischer Besinnung: Natur in den Geisteswissenschaften, Tübingen, I 1988, 144-150. Aus der Vielzahl der Literatur sei hervorgehoben die eindrucksvolle, von G.Altner herausgegebene Textsammlung: Der Darwinismus, Darmstadt 1981 (Lit.); Die Evolution der Evolutionstheorie, hg.v. W.Wieser, Heidelberg 1994. Weiter: J.Hübner, Theologische und biologische Entwicklungslehre, München 1966; E.Mayr, Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt, Berlin 1984 (Lit.); E.Wölfel, Weltbildliche Aspekte der Darwinschen Theorie: Christiana Albertina NF 18 (1983) 17-24. - Zum sog. »Kreationismus« vgl. bes. St.J.Gould, Evolution und Schöpfung: Bravo Brontosaurus, Hamburg 1994, 445-534, bes. 481-499.519-534.

Ethik im Kontext eines evolutionären Weltbildes

389

1. Zu Darwins naturwissenschaftlicher Dogmenkritik (Evolutionäre Prinzipien im Spiegel der Dogmenkritik) 1.1. Zunächst und zuoberst entzieht Darwins Hauptwerk 6 einem Grundprinzip der damals noch verbreiteten »Physikotheologie« die Grundlage. Es ist das sogenannte Prinzip der »Formkonstanz«. Der große schwedische Forscher Carl von Linne (gest. 1778) hatte es in genialer Kürze bei Aufstellung seines botanischen Systems so formuliert: »Es gibt so viele Arten, wie das unendliche Sein am Anfang an verschiedenen Formen hervorbrachte...«. 7 Gegliederte Ordnung und unverrückbar ausgeprägte Form gestalten also das Geschaffene zu einem - bei allem Reichtum - übersichtlichen, sozusagen: »festgeschriebenen« System, in welchem Gott seine »conservatio«, seine Erhaltung der Geschöpfe, ausübt. Die Zeit ist dabei nicht als eine umformende Größe gesehen, sie kann vernachlässigt werden. Sie dient zur Wiederkehr desselben, wird zum Rahmenwerk von Abzählbarkeit im Dienst göttlicher Fürsorge für das von ihm Gebildete. Es kommt einem an dieser Stelle leicht das fromme Kinderlied Wilhelm Heys in Erinnerung: »Weißt du, wieviel Sternlein stehen?«, und die Antwort könnte die Linnes sein: »Gott der Herr hat sie gezählet, daß ihm auch nicht eines fehlet...«. Es nimmt so auch nicht wunder, daß dieser große Ordner und Taxonom Linnäus gleichzeitig - man müßte sagen: lebenslang - an einem Buch mit dem Titel: Nemesis Divina gearbeitet hat 8 . In ihm zeigt er anhand von Fallbeschreibungen, die er in lakonischer Kürze aneinanderreiht, auf, wie der natürlichen Ordnung der Dinge eine erkennbare Ordnung der Moral entspricht: Und zwar wird die strafende Hand Gottes aufgewiesen am Schicksal der Missetäter und ihres Ergehens. Der göttlichen Naturordnung entspricht das göttliche Naturrecht. Die »Spur Gottes in der Schöpfung«, erkenntnisleitender Begriff so vieler Theologen und Philosophen vor ihm, wird am sichtbarsten dort, wo immer man sich gegen die der Schöpfung eingeschriebenen Ordnungsprinzipien zu wenden sucht. Der ewige sittliche Rahmen, der unsere Zeitlichkeit umhüllt, macht sich so in den konkretesten Verhaltensbedingungen sichtbar. Wer sich gegen ihn und seine Konstanz wendet, beißt gleichsam auf Granit. On the Origin of Species by Means of Natural Selection or the Preservation of Favored Races in the Struggle for Life, London 1859. Zur Lit. vgl. Anm. 5. C.v.Linnfi, Genera plantarem, Leyden 1737. Wir zitieren nach der 5. umgearbeiteten Auflage Stockholm 1754 (ND Weinheim 1960), Ratio opens S. II, Nr. 5: »Species tot sunt, quot diversas formas ab initio produxit Infinitum Ens; quae deinde formae secundum generationis inditas leges produxere plures, at sibi semper similes, ut Species nunc nobis non sint plures, quam quae fuere ab initio.« C.v.Linne, Nemesis Divina, hg.v. W.Lepenies/L.Gustafsson, Frankfurt a.M./Berlin 1983. Den Übergang zum entwicklungsgeschichtlichen Denken hat W.Lepenies in größerem Zusammenhang beschrieben: Das Ende der Naturgeschichte, München/Wien 1976.

390

Eberhard Wölfel

Man muß sich dies alles wohl vor Augen halten, um zu begreifen, welche Erschütterung die grundsätzliche Bestreitung dieser »Formkonstanz« durch Charles Darwin nun eigentlich bedeutete. Der feste ontologische Rahmen der Welt und die Statik des von Gott für immer so Gewollten, sich immer erneut identisch Reproduzierenden geraten ins Wanken. Es beginnt alles zu fließen und wird schließlich zum reißenden Strom, in dem die Dinge konturenlos werden und ihre Maßstäbe mit ihnen. Die Natur war ein als zeitlos betrachtetes System, kein Stammbaum: Nun ist sie allenfalls noch als Stammbaum rekonstruierbar, aber als System ein Abstraktum. Alles Zeitliche war eine Inkarnationsebene, ein Feld der Gestaltwerdung, nicht selbst eine formende Macht. Nun tritt die Zeit als solche in die Mitte mit dem ihr eigenen Machtinstrument, dem Zufall. Vom »Zufall« schrieb damals J.G. Hamann an Immanuel Kant (Dezember 1759): »Gibt es ein(en) Zufall in Kleinigkeiten, so kann die Welt nicht mehr gut sein noch bestehen«. 9 So wird klar: Jenseits der Frage, ob sich sozusagen »naturinterne« Steuerungsprinzipien finden lassen, die zu einer »Bändigung« der Macht des Zufalls beitragen, folgt der Verwerfung des Dogmas von der Formkonstanz für eine nach-Darwinsche Ethik ein (I.) Postulat·. Mitten im Fluß von Zufall und Zeit müssen die Prinzipien einer Moral festen Grund finden, soll das Gute, das die Welt bestehen läßt, einen Anhalt haben! Die Stabilität der Ethik muß neu gesichert werden! 1.2. Darwin hatte - zum mindesten schien dies die Konsequenz seiner Gedanken zu sein - ein weiteres christliches Zentraldogma verletzt (oder doch die gängigen Vorstellungen von ihm): Nämlich die Lehre von der Schöpfung. Die praktische Ausgestaltung der letzteren läßt sich gerade in der damaligen Zeit recht plastisch anhand der physiko-theologischen Vorstellungen von Georges Cuvier (gest. 1832) und seiner »Katastrophentheorie« sehen. Das »Sechs-Tage-Werk« von Gen 1 setzt sich seiner Auffassung nach fort in vielen Neuschöpfungen: Jeweils durch gewisse Katastrophen (Sintflut!) läßt Gott das Leben zugrundegehen, um es dann völlig neu »ex nihilo« auf der Erde wieder erstehen zu lassen. Freilich war gerade von seiten der Geologie die Antwort bald gegeben. Als Darwin sich 1831 auf der »Beagle« als Teilnehmer einer Expedition zur Weltumsegelung aufmachte, hatte er den eben erschienenen ersten Band der Principles of Geology von Charles Lyell 10 , y

I.Kant: Briefwechsel. Auswahl und Anmerkungen von O.Schöndörffer, Hamburg 1972, 27. Das Zitat hat eine für unseren Zusammenhang recht eindrucksvolle Fortsetzung: »Fließen Kleinigkeiten aus ewigen Gesetzen, und wie ein Saecul. aus unendl. Tagen von selbst besteht, so ist es eigentl. die Vorsehung in den kleinsten Teilen, die das Ganze gut macht.« (Sperrungen in Zitaten folgen immer dem Original.)

10

Ch.Lyell, Principles of Geology, 3 Bde., London 1830-33 (dt: Geologie, 2 Bde., Berlin 1857); G.Cuvier, Die Umwälzungen der Erdrinde, Bonn 1828 (Zusammenfassung seines Hauptwerks).

Ethik im Kontext eines evolutionären Weltbildes

391

dieses die Geologie revolutionierenden Werks, im Gepäck. Hier wird das form- und artenverändernde - gewiß oft genug katastrophenreich verlaufende - Geschehen der Erdrinde »aktual istisch« verstanden, d.h. der Dynamik der geologischen Kräfte, die aus der eigenen Tiefe der Erde aufbrechen, zugeschrieben: Die Erde selbst, ihre Elemente und ihre Kräfte gestalten das Leben, seinen Fortschritt, das Neue an ihm. So, wie bei Darwin auch: Kein Eingriff erfolgt von außen. »Schöpfung« will also natürlich gesehen werden; ein »innerer« Lebensfaden durchzieht und konstituiert so die Welt. Auch hier resultiert ein (II.) Postulat, das wir auf die Ethik so anwenden: Genauso wie der Begriff der »Schöpfung«, »creatio«, dem Gemeinten nach nun in die »Kreativität« eines zentralen Steuerungs- und Wirkungsprinzips übergeht, das das Universum von innen durchdringt und trägt, so gilt es, die Außenleitung ethischen Verhaltens durch ein Von-innen-geleitet-sein zu ersetzen. Der Kosmos beginnt im Menschen sich selbst zu reflektieren: Das Ethos des Letztgenannten kann nicht mehr von außen aufgedrungen werden, sondern muß der inneren Selbstbestimmung entstammen, sich von hier aus manifestieren und durchsetzen. Woher kommen uns dann (immer: mitten im Fluß - auch des Innen) die Maßstäbe? Maßstäbe, die den sich verändernden Gegebenheiten einer evolutionären Welt angemessen sein müssen - ohne doch prinzipienlos zu werden? 1.3. In dem eben Genannten ist schon ein anderes impliziert, dessen definitive wissenschaftliche Bekanntgabe Darwin lang hinauszögerte, bis dann 1871 The Descent of Man erschien: Der Mensch kann im Naturgeschehen keine Ausnahmestellung beanspruchen. Die Reihe seiner Ahnen liegt im Tierreich, dem er sich als neue species angliedert. Diese erneute Dogmenverletzung, nämlich: der Lehre von der »Gottebenbildlichkeit des Menschen«, war es, die die Zeitgenossen am meisten erschütterte. Es entstand der Slogan: »Der Mensch stammt vom Affen ab«. (Übrigens: Nicht nur das christliche Menschenbild war getroffen, auch im Idealismus lassen sich die Zuckungen der empörten »Geistnatur« Mensch beobachten!) Wer die im Schoß christlicher Theologie entstandene Lehre von der creatio continua kennt und wer mit dem Apostel Paulus das »Seufzen aller Kreatur« (Rom 8,22) im Auge hat, dem - sollte man meinen - wäre anderes wichtiger. So z.B. das Neuverständnis des nun offenbar werdenden Bandes der Mitgeschöpflichkeit, das alles Lebende umschließt, und die unmittelbar sich daran knüpfenden Folgen. Aber die Fakten liegen nun einmal so, ohne daß dieses oft thematisierte Kapitel jetzt aufgenommen werden könnte. 11 Hans Jonas bringt die Irritation des heutigen Beobachters auf den Punkt: »Es bedurfte der sichtbar werdenden Bedrohung des Ganzen, der tatsächlichen

Zur Lit. vgl. Anm. 5.

392

Eberhard Wülfel

Anfange seiner Zerstörung, um uns dazu zu bringen, unsere Solidarität mit ihm zu entdecken ...: ein beschämender Gedanke«. 12 Es ergibt sich also als Ergebnis der Einordnung des homo sapiens ins Ganze, als Konsequenz des »moral-analogen« Verhaltens des Tierreichs (wie umgekehrt der durch die Humanpsychologie erforschten »Triebstruktur« des Menschen), eine III. Erkenntnis, die einer auf dem Boden der Evolutionstheorie operierenden Ethik eingeprägt sein muß: Menschliches Verhalten spielt sich (mit einem Ausdruck von G.Heberer) ab in einem »Tier-MenschUbergangsfeld« 13 . Der Mensch ist, wie Helmut Plessner mit Recht feststellt: Ein »Zwitterwesen« 14 . Diese anthropologische Doppelpoligkeit wirkt sich ethisch zentral aus. Man kann sie für den Zweck des Aufbaus einer Ethik als das (III.) Postulat, nämlich einer »Doppelpoligkeit menschlichen Seins« bezeichnen. Wie die Probleme, die aus dieser Doppelpoligkeit erwachsen, zu bewältigen sind, das wird die Frage sein. Aber ohne ihre Berücksichtigung und ohne sie voll in Ansatz zu bringen, gelingt heute nicht einmal eine ethische Diagnose, von einer Therapie ganz zu schweigen. 1.4. Doch es ist noch ein weiteres Dogma verletzt, weniger spektakulär als bei dem Problem der menschlichen Deszendenz, aber weitreichend in den Konsequenzen. Diese Verletzung betrifft das Wesen der »Evolution« selbst. Diese hat in naturwissenschaftlicher Sicht nichts mit »Teleologie« (d.h. einer organischen Zielstrebigkeit der Naturdinge selbst oder der Zweckmäßigkeit, dem planhaften und absichtsvollen Verhalten der Organismen als solcher) 15 zu tun. Diese neue - und weltbildlich am tiefsten reichende - Erkenntnis ist schon am Titel von Darwins grundlegendem Werk (1859) abzulesen: On the Origin of Species by Means of Natural Selection ... »Natürliche Selektion« ist keine teleologische Kategorie! Im Gegenteil: Mit ihr wird eine teleologische Naturerklärung ausdrücklich abgelehnt. -

12

Technik, Ethik und biogenetische Kunst: R.Flöhl, Genforschung - Fluch oder Segen?, München 1985, 165.

13

G.Heberer, Menschliche Abstammungslehre, Stuttgart 1965; ders., Der Ursprung des Menschen, Stuttgart 2 1969. Vgl. zum gesamten Problemfeld: G.Altner, Philosophische Aspekte: H.Hofer/G.Altner, Die Sonderstellung des Menschen, Stuttgart 1977, 149-215.

14

Vgl. Altner, Aspekte (s.o. Anm. 13) 202ff.

15

»Teleologie« und »Teleonomie«, letzteres im Sinne der durch genetische Rahmenbedingungen erreichten adaptiven Zweckmäßigkeit evolutiver Strukturen, sind dabei auseinanderzuhalten. Zum Begriff der Teleonomie vgl. F.M.Wuketits, Evolution, Erkenntnis, Ethik, Darmstadt 1984, 55 (Lit.); zum gesamten Problemkreis: W.E.Müller, Der Verlust der Humanität in der technologischen Zivilisation: Leben in der Kultur, hg.v. R.Brüllmann/H.Schützeichel, Weinheim 1995 (BASF 4) 55-74, bes. 68-74. Vgl. ferner M.Ecker, Evolution und Ethik. Der Begriff der Denknotwendigkeit in A.Schweitzers Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben: Albert Schweitzer heute. Brennpunkte seines Denkens, Tübingen 1990 (BASF 1) 51-81, bes. 71-81.

Ethik im Kontext eines evolutionären Weltbildes

393

Gewiß gibt es in Naturprozessen nicht nur »Zufall«, aber derselbe wird zu einer das Ergebnis wesentlich mitformenden und mitbestimmenden Größe. Jener »Zufall in Kleinigkeiten« (vgl. Anm. 9), der gegebenenfalls morphologische Randmerkmale des Organismus favorisiert und das erzeugt, was im nachhinein schließlich als »fitness« (im Sinn der Tauglichkeit zum Überleben) bezeichnet wird, ist dabei diktiert durch die den Prozeß einbettenden Randbedingungen der Natur. Um es nochmals zu kontrastieren: Schreibt Goethe in seinem uns im Innersten noch tief berührenden »Urwort« (1816): »So mußt Du sein, dir kannst Du nicht entfliehen, So sagten schon Sibyllen, so Propheten; Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt Geprägte Form, die lebend sich entwickelt«

- so mag dies unser Selbstverständnis unvergleichlich schön wiedergeben, muß aber seit Darwins Einsicht ins Wesen der Naturprozesse als für diese nicht zutreffend erkannt sein. Das gleichzeitige Vorhandensein von »Zufall und Plan« - dieses »Paradoxon der Evolution« (E.Mayr) 16 - läßt sich durchaus auf ihre eigentliche Wurzel zurückführen: Denn auch wo »Naturgesetze« den »Zufall steuern« 17 , da ist die entstehende Ordnung nicht ein Werk, das von außen auferlegten Planungsprinzipien folgen würde, sondern ein Ordnungszustand, der sich aus den Wahrscheinlichkeitsgesetzen des Systems und seiner informationellen Struktur selbst ergibt. Schon gar nicht kann die Ordnung in der Welt gelten als bewußt auferlegter und in die Wirklichkeit umgesetzter Entwurf eines Weltbaumeisters! Gerade weil aber auf der göttlichen Teleologie (und also auf der göttliche Weisheit widerspiegelnden Zielstrebigkeit des Weltgeschehens und aller seiner Abschnitte und Abfolgen) die vermeintliche »Strategie der Genesis« 18 beruhte, begreift man den im tiefsten treffenden Satz des Theologen und Religionsphilosophen R.Otto zur »Darwinlehre«: »... erst dadurch ist sie ausgesprochen antitheologisch, daß sie antiteleologisch ist.« 19 Für uns ergibt sich aus dem genannten Einsturz dieses ein ganzes Weltbild zusammenhaltenden Prinzips die wichtigste Forderung an eine Ethik im »Kontext der Evolution«. Es entsteht nämlich nun ein (IV.) Postulat: Der Aufbau einer Ethik, die auch heute noch den Menschen im Inneren zu binden vermag, muß sich herleiten (einmal) aus einem Prinzip, das invariant bleibt beim Zusammenbruch jeder »Naturteleologie« und (zum zweiten) 16

Vgl. Wuketits, Evolution (s.o. Anm. 15) 24 (unter Bezug auf E.Mayr, Evolution und die Vielfalt des Lebens, Berlin 1979, 33).

17

Vgl. dazu den Untertitel des Buches von M.Eigen/R.Winkler, Das Spiel, München 1975: »Naturgesetze steuern den Zufall«. Vgl. auch die Lit. ο. Anm. 15.

18

Formulierung nach einem Buchtitel von Riedl, Strategie (s.o. Anm. 3).

19

R.Otto, Naturalistische und religiöse Weltansicht, Tübingen 2 1907, 107.

394

Eberhard Wölfel

zugleich aus Grundsätzen, die flexibel genug sind, das Problem der Adaption an die jeweiligen Naturgeschehnisse zu ermöglichen. Gültigkeit und Wandel müssen in einer Ethik, die den heutigen weltbildlichen Erfordernissen wirklich entsprechen will, organisch verbunden und verwirklicht sein.

2. Von Grund und Reichweite menschlicher Ethik Die Neudeutung der Wirklichkeit, die ein evolutionäres Weltbild mit sich bringt, bedeutet natürlich für die heutige Ethik die Notwendigkeit einer Neubesinnung auf das, was sie nun eigentlich konstituiert. Ihre gültigen Wurzeln müssen neu aufgedeckt und zur Relevanz gebracht werden. Konstruktiv gefragt: Gibt es eine Selbstverantwortung der Ethik, die die Reihe der Behauptungen, die sie zur Ohnmacht zu verurteilen scheinen oder die Zweifel an ihrem Wahrheitsgehalt wecken, entkräften kann und uns dergestalt erneut auf Ethik als eine für uns unentbehrliche, lebenserhaltende Macht hinweist? 2.1. Um hierauf eine Antwort zu erhalten, setzen wir am besten bei dem schon einmal anvisierten »Tier-Mensch-Übergangsfeld« ein. Freilich wird es dabei gut sein, hier nun entschlossen von dessen animalischer Komponente weiterzuschreiten zu dem, was unverwechselbar zum homo sapiens macht. Als das eigentlich Neue an unserer Art muß gegenüber allem zuvor im Reich des Lebens Entstandenen das Bewußtsein und die Fähigkeit voluntativen, willentlichen Verhaltens gelten. Hierüber muß kurz - allzukurz - gehandelt sein. Was ist beides, wie arbeitet es zusammen? (a) »Bewußtsein« bezeichnet die Fähigkeit, eine Beziehung zu sich selbst zu besitzen oder zu entwickeln, und d.h. in einem: die Distanz zu sich selbst dabei zu bewahren. Es ermöglicht durch sein Einsichtsvermögen Eingriff, Planung, Optimierung und anderes mehr. (b) »Wille« geht auf die sich-selbst-steuernde Tat; das Vermögen des Sich-Übermächtigen-Könnens mitten in der Selbstverwirklichung; also, in anderer Beleuchtung: Selbstbeherrschung und die Fähigkeit, sich selbst Einhalt gebieten zu können. Der natürliche Energieimpuls geht dank des Willens also in das Vermögen freiheitlicher Verantwortung im Umgang mit uns und unseren Naturgegebenheiten über. In der Kooperation und Durchdringung beider Potenzen entsteht die Freiheit einsichtigen Verantwortenkönnens und -müssens. Es ist dieses spezifische Potential, das den Menschen der natürlichen Selektion entnimmt und das Geschick des Lebens auf der Erde nicht zuletzt seiner Planung anvertraut: Erstmals ist eine Kreatur nicht nur dem Geschick ausgesetzt, sondern auch sich selbst anheimgegeben; erstmals enden für eine Kreatur bis zu einem gewissen Grad die Naturbedingungen der Evolution.

Ethik im Kontext eines evolutionären Weltbildes

395

Anvertraut ist diesem eigentlichen Humanisationspunkt der Hominisation vor allem die »selbstlose« - weil durch Distanzierbarkeit erzielbare - Freiheit gegenüber sich selbst als einem »Bedürfnissubjekt«, d.h. als einem Wesen, das seinen Hunger nach Dasein durch den Verzehr von Werten der Schöpfung stillt. Damit kommt der Mensch in die Rolle, die ihm die Bibel in der Urgeschichte als Schöpfungsauftrag zuschreibt: Das dominium terrae, die Herrschaft über die Erde, ausüben zu sollen, dies aber im Sinne eines Dienstes, nicht eines Raubbaus an der Schöpfung. Die Kreativität der species Mensch erlangt die Fähigkeit der verantwortlichen Mitsteuerung des irdischen Geschehens. 20 . 2.2. Man muß also, will man ernsthaft von Ethik reden, zwar das Geflecht der Evolutionserkenntnisse entschieden bedenken, darf aber die Art, der man selbst zugehört, dabei nicht vergessen. Ethik wird heute gewiß zu einer Ethik im Kontext der Evolution. Ließe sie sich aber von den Maßgaben des kontextuellen Umfelds aufsaugen, so wäre es gerade um ihr Proprium, ihre eigene Aufgabe im Wirkungsgefüge der Natur geschehen. Der zentrale und eigentliche Schwerpunkt des menschlichen Spannungsfelds, der »Humanisationspol« in uns, ist dabei in seiner Bedeutung als inneres ethisches Sinn- und Ordnungszentrum in großen Systemen der Theologie- und Philosophiegeschichte durchaus bereits analysiert. In vielen Punkten verlieren diese ihre oft maßgebliche Relevanz angesichts der uns gerade heute drückenden Probleme keineswegs. Zum Beispiel ist Wesentliches der Arbeit bei Immanuel Kant schon geleistet. Die Wiederkehr der Kantschen Problemfelder und -lösungen gerade bei Denkern moderner logischer Analyse und Metaethik gehört zu den erstaunlichsten Entwicklungen der Ethik nach dem 2. Weltkrieg. Vor allem ist es der Aufbau intensionaler Kalküle (Modallogik und Deontische Logik), der die Entwicklung vorangetrieben hat. 21 Es ist schwer vorstellbar, daß künftige ernsthafte, der Ethik gewidmete Arbeit auf ein eindringliches Studium dieser Kalküle wird verzichten können. Wir selbst wollen hier versuchen, einen nichtformalen Weg einzuschlagen, der sich der Einfachheit halber an Kant selbst orientiert:

20

Vgl. E.Wölfel, Art. Naturwissenschaft I-II: TRE 24 (1994) 189-221, bes. 198.206f. 216ff; ders., Naturverständnis (s.o. Anm. 4); ders., Aspekte (s.o. Anm. 5).

21

Zur Einführung: W.Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Stuttgart, II 8 1987 (Lit.); speziell zur Modallogik·. G.E.Hughes/M.J.Cresswell, Einführung in die Modallogik, Berlin 1978; speziell zur Deontischen Logik: Normenlogik, hg.v. H.Lenk, München 1974; F.v.Kutschera, Einführung in die Logik der Normen, Werte und Entscheidungen, Freiburg/München 1973; H.v.Wright, Handlung, Norm und Intention, Berlin 1976. Zur Anwendung auf ethische und theologische Probleme vgl. die Zusammenfassung bei H.G.Hubbeling, Einige Probleme der analytischen Philosophie: ZEE 15 (1971) 20-30; Η.Biesenbach, Zur Logik der moralischen Argumentation, Düsseldorf 1982.

396

Eberhard Wölfel

(a) Wesentlich ist dabei die Grundeinsicht in die willentliche, und zwar normativ-voluntative Grundverfaßtheit des menschlichen Wesens. Für eine anhand von Bedürfnissen, Werten, Glücksvorstellungen geleitete Ethik ist ja deren stets »materialer« Charakter kennzeichnend: Immer stehen Inhalte zur Debatte, die mit Handlungen und durch Handlungszusammenhänge erreicht werden sollen. Was aber durchzieht als Rückgrat sie alle? Nun: die MittelZweck-Vorstellung und der zugleich als dirigierender Motor der Handlung und als Regulativ dienende Wille. Man kann nicht sagen, daß letzterer in demselben Sinn »material« anwesend ist, wie dasjenige, was (als essentiell so bestimmte und durch ihren Inhalt festgelegte Wertqualität) in der Ziel Vorstellung des Einzelnen erreicht werden soll: Denn der Wille des ethischen Subjekts kann gewissermaßen »springen«, kann neue Werte bevorzugen und anderen den Abschied geben. Er kann sich, sozusagen, »launisch« verhalten und tun, was er - »will«. Er ist als »Wille« also gerade nicht festgelegt! Wesentlich für uns ist daran im Augenblick: Solcher Wille vermag offensichtlich aus vorgegebenen Wertskalen, Wertsetzungen und auch aus dem Bann von Wertsuggestionen (samt aller Bedürfnisgebundenheit dieser ganzen Dimension) herauszutreten. Gerade so formuliert »Wille« im Hinblick auf alle materiale Wertqualität ein Formales, einen in uns liegenden und auf sich selbst versammelten freien Ausgangspunkt unseres Tuns, der gerade als Quellort dieses unseres Tuns uns selbst als Ursprung benennt. Wozu ich mich bestimme, ist sekundär: Daß ich mich bestimme, ist aus der Flucht der Erscheinungen als ihre schlechthinnige Voraussetzung nicht eliminierbar. »Der Wille«, sagt Kant, »ist eine Art von Kausalität lebender Wesen, sofern sie vernünftig sind, und Freiheit würde diejenige Eigenschaft dieser Kausalität sein, da sie unabhängig von fremden sie bestimmenden Ursachen wirkend sein kann; so wie Naturnotwendigkeit die Eigenschaft der Kausalität aller vernunftlosen Wesen, durch den Einfluß fremder Ursachen zur Tätigkeit bestimmt zu werden.«22 Hier wird der beherrschende Neuansatz gegenüber früherer Ethik ganz deutlich! Die Mittel-Zweck-Kategorie, die als »Teleologie« vormals als eine die Natur selbst bestimmende Größe angesehen wurde, wird jetzt für den Menschen reklamiert, sie kommt als eine Art neuer »Weltmittelpunkt« in unserem Bewußtsein voll zur Gegebenheit. Die Selbstzwecklichkeit hat dabei die Struktur eines voluntativen Steuerungszentrums bekommen. Als normative vis a tergo ist dem Willen so die Welt unserer Werte und Güter anvertraut. (b) Gerade der Ausdruck »normativ« macht uns darauf aufmerksam, daß der Wille als ethisches Steuerungszentrum mit den bisherigen Ausführungen noch nicht voll bedacht, sein Begriff einstweilen noch nicht hinreichend ausgeschöpft ist. Es stand bisher meistens nur seine 5e/>wverfaßtheit in der 22

Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785): Kant's Werke [Akademie-Textausgabe], Berlin, IV 1968, 446.

Ethik im Kontext eines evolutionären Weltbildes

397

Mitte. Wie steht es aber um das, was er an Obligation, an Verpflichtung, mitbringt? Die oft bemühte Kluft zwischen »Sein« und »Sollen« kann zwar durch die evolutionäre Vorgabe eines »Tier-Mensch-Übergangsfeldes«23 erklärt werden24, aber desto eindringlicher muß die Konstitution einer Ethik (und die Ausformung unseres Tuns zu moralischem Handeln) nun bedacht sein! Kant gewinnt die »reine« innere Struktur der Sphäre des sittlichen Willens nun gerade durch dessen Aufgliederung und Ausfacherung in eine Tafel aller denkbaren Formen von »Imperativen« und zeigt dadurch das Wesen der voluntativen Potenz in uns generell als Inbegriff Imperativischen So//vermögens auf. So wird der imperativisch verfaßte Wille in seiner ihm - und nur ihm - eigentlichen ontologischen Struktur ansichtig und erkennbar. »Hypothetische Imperative« nötigen dabei nur bedingt: Nämlich wenn ein (an sich anheimgestellter) Zweck erreicht werden soll und dazu Mittel erforderlich werden. Aber das auch in ihnen wohnende Nötigungsmoment verweist deutlich auf ein Urprinzip, das bedingtem Sollen als ein unbedingtes, also »kategorisches« zugrundeliegen muß. Es ist also ein »Kategorischer Imperativ«, der die Sphäre unseres praktischen Tuns als das unbedingt nötigende und angehende Gesetz durchzeichnet und all unser Handeln als /nora/geleitetes bestimmen möchte. Schematisch kann man sich die Struktur der Willenssphäre wie folgt vor Augen führen: Praktisches Gesetz ( = Kategorischer Imperativ) ( = das objektive = allgemeingültige Gesetz der Subjektsphäre, Wille als fordernde Instanz unserer Species) gebietendes Sollen: als Imperativ nötigend und appellierend, anwesend

vernünftige Freiheit·. Spontaneität voluntative Kausalität darstellend

Struktur unseres Willens nach I.Kant25:

»Freiheit und unbedingtes praktisches Gesetz weisen also wechselweise aufeinander zurück«

23

S.o. Abschn. 1.3.

24

Der »naturalistische Fehlschluß« (vgl. G.E.Moore, Principia Ethica I, dt. Stuttgart 1970, 39.110) tritt gewiß ein, wenn »Sein« und »Sollen« im Fall einer Binnenargumentation über denselben ontologischen Bereich vermengt werden. Für den Fall einer Mehrschichtigkeit ontischer Ebenen (wie sie beim Tier-Mensch-Übergangsfeld vorliegt) büßt das Argument jedoch durch die gegebene Überlagerung mehrerer Schichten an Gültigkeit ein. Vgl. auch Lit. zu o. Anm. 15.

25

Kritik der praktischen Vernunft (1788): Kant's Werke [Akademie-Textausgabe], Berlin, V 1968, 29.

398

Eberhard Wölfel

Maxime ( = das subjektive Moment im Aufbau der Subjektsphäre; Wille als geforderter und freiheitlich verfahrender Adressat). 2.3. Ganz jenseits der Frage, ob die Analyse des »Reinen Willens« nun bei Kant schon völlig zu ihrem Ende gelangt sei, wird es gut sein, sich klar zu machen, daß in der Tat am »Ende«, d.h. im innersten Bereich des Willensvermögens, sozusagen in seiner Binnenstruktur als einem Rückgrat unserer Aktstruktur ein »Kompaß« für unsere Ethik liegen muß, dessen Wesen eben im Appellieren, in der Aufforderung zum Tun des normativen »Gesetzes« besteht. D.h.: Ein rein imperativisches »Sollen« vorab jeder Einschränkung bestimmt unser »Sein« vom inneren Zentrum her. (Wie es nach Kant unsere »Maximen«, unsere Vornahmen, nötigt und doch zugleich Freiheit begründet, deutet das obige Schema an.) Da uns nun auch wieder nicht gerade scheint, daß bisher andere Ethiker diesen »Kategorischen Imperativ« klarer zum Ausdruck gebracht hätten als Kant, gestatten wir uns, diesen seinen »Kompaß« für alle Fallverstrickungen unseres Tuns noch expressis verbis zu benennen: »... handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde«.26 Man tut gut daran, die »dritte« Ausformulierung des Kategorischen Imperativs noch hinzuzunehmen, da sie die »Menschenwürde« ungenannt impliziert. Blicken wir dann auf das Spannungsfeld unseres inneren Verhaltenspotentials zurück, so erhalten wir förmlich zugleich eine semantische Beschreibung unseres »Humanisationspols«. Sie lautet: »Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.«21 Man tut gut daran, in diesen Satz heute, unter dem Eindruck der Notwendigkeit, auf das »Ganze« der Naturgegebenheiten als Grundbedingung unserer Existenz zu sehen, noch die Relation zur Kreatur insgesamt einzufügen. Man hat erst auf diese Weise das oberste ethische Gesetz für einen neu gewonnenen Umgang mit der Natur und mithin den eigentlichen Kernsatz jeder konkreten Schöpfungsethik gewonnen. Es sollte nun wohl heißen: »Handle so, daß du die Menschheit und alles mitgeschöpfliche Sein jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst«. Denn unser Verhältnis zur Welt ist kein exklusives (das uns Gotteskinder von der übrigen Welt isolieren würde), sondern ein inklusives. Auch läßt sich unsere Menschenwürde nicht in Selbstbespiegelung bewundern, sondern die Ansätze eines wirklich guten Willens in uns werden oft ganz unspektakulär dort offenbar, wo sie den Daseinsraum des Mitgeschöpfs respektieren helfen. Und damit dürfte die 26

Kant, Grundlegung (s.o. Anm. 22) 421.

27

Ebd. 429.

Ethik im Kontext eines evolutionären Weltbildes

399

Präambel jeder weiteren ethischen Konkretion für den Handlungsbedarf unserer Zeit wohl gewonnen sein.

3. Ethik im Kontext der Evolution Es scheint mir deutlich, daß mit dem »Humanisationspunkt« und seiner ethischen Relevanz auch der Standort gegeben ist, der uns die Möglichkeit zur Orientierung im Strom der Evolution und zur Eingliederung in sie gibt. Es mag dabei genügen, wenn wir den oben als Forderungen an die Ethik formulierten Einsichten der Darwinschen »Dogmenkritik« Rechnung zu tragen suchen; sozusagen dem Antwort geben, was wir in unserem anfanglichen Teil als Fragen des evolutionären Weltbilds Ausdruck gegeben haben. Wir gehen dabei den Weg nun Station um Station zurück. 3.1. Im letzten ( = IV.), entscheidenden, Postulat war ja eine Teleologie des Weltganzen, d.h. Sinn in der Welt, Bedeutung der Natur, überhaupt zur Frage geworden. Die bündige Antwort hierauf ist uns nun leicht gemacht: Wir selbst sind es, die mit der Ausstattung unserer Art dazu berufen sind, Ethik, Ordnung, Sinn, »Humanität« in der Welt zu gewährleisten. Vermögen zur Teleologie kennzeichnet wesentlich und als solche die Sonderstellung des Menschen. Sie woanders her gewinnen zu wollen, hieße nur, den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen! Die ethische Aufgabe ist eine Nötigung zu uns selbst, als den durch Bewußtsein und voluntatives Vermögen von den Zwängen der Selektion und ihren - für uns - archaischen Methoden Freigewordenen! Wolfgang Wickler sagt zu Recht: »(Es) ist unklug, sich nur an den Ergebnissen der natürlichen Selektion zu orientieren, um zu beurteilen, was für Menschen gut und passend ist«. Und: »Denn über die(se) Grenzen der natürlichen Selektion hinaus kann der Mensch sich nicht mehr auf die Natur verlassen, sondern muß nach anderen Gesetzen handeln.« 28 Es sind seine Gesetze: Hier in der bewußten Verantwortung für sich selbst und die Schöpfung verwirklicht er sich und seine Aufgabe im Naturganzen. Der Mensch erscheint dabei als Ausdruck und als Bevollmächtigter eines die Welt durchwirkenden Willens. Er erhält eine Vollmacht, die »Gut«, aber auch »Böse« im ethischen Sinn erst auf seiner Basis voll zur Sprache bringen läßt. Um noch einmal zusammenzufassen: Im Menschen hat gemäß dem Gesagten andere Natur auch ein »Gegenüber«. Dies gilt auch für die Naturerkenntnis nach Kopernikus und ein evolutionäres Weltbild. Es macht förm28

W.Wickler/U.Seibt, Das Prinzip Eigennutz, München 1977, 49. Diese Einsicht bedeutet deshalb einen Meilenstein in der Bewältigung der mit der Evolutionstheorie gegebenen Probleme, weil sie klar die Kompetenzstufe nennt, die im Tier-Mensch-Übergangsfeld instanziell trennt und so gestattet, beide Schichten in ihrem Eigensein zu erfassen und ihnen je das Recht zu geben.

400

Eberhard Wölfel

lieh die Würde des Menschen aus, daß er, selbst ein Produkt der Evolution, das Evolutionsgeschehen als Kontext im Umfeld seiner eigenen Befähigung, und d.h. Berufung sehen kann. 29 3.2. Zum III. Postulat (dieses kreiste um die Bewältigung der anthropologischen Doppelpoligkeit, wie sie aus einer natürlichen Schöpfungsgeschichte resultiert) haben wir im Prinzip schon Stellung genommen, als wir dem Humanisationspol in uns die Rolle einer Führungspotenz und kriteriologischen Instanz zuerkannten. Aber auch das gesamte »Übergangsfeld« gehört, wie früher dargestellt, zur Hominisation. Mit ihm auch (innerhalb der Grenzen der Vernunft!) die »natürlichen« Methoden und Bedürfnisgegebenheiten der Selbstdurchsetzung, der Wahrnehmung des Selbst. Gerade die Psychoanalyse mit ihrer Bloßlegung unserer »Triebstruktur« hat zur Aufklärung dieses ganzen Feldes Erhebliches beigetragen. Im Einzelfall wird sich gerade bei der ethischen Zuordnung beider Pole mit dem von ihnen erzeugten Spannungsfeld die Schwierigkeit konkreter Ethik zeigen. Im ganzen wird es vor allem um »Einordnungsprobleme« (will sagen: Ausfindigmachen des rechten Orts und die dadurch angezeigte Begrenzung) in diesem Feld gehen (d.h. in der einen - vernunftbezogenen - Richtung um die ethische Neutralisierung des triebgeladenen menschlichen Verhaltens durch die übergeordnete Humanisation; in der anderen - das Animalische zum Ausdruck bringenden - Richtung um die Berücksichtigung und differenzierte Gewichtung der natürlichen Gegebenheiten unseres Daseins). Besonders hier wird immer die unterschiedliche Ausgangslage der »Motivation« (oder eines motivationsanalogen Verhaltens) innerhalb des geschöpflichen Werdens zu berücksichtigen sein. Die Kategorien der Evolution tragen für die ethische Bewältigung des ganzen Themas jedenfalls grundsätzlich die Erkenntnis bei, daß »Gut« und »Böse«, evolutionsgerecht betrachtet (d.h. unter Zurückstellung einer streng voluntaristischen Definition) zunächst nicht in kontradiktorischen, sondern nur in konträren Gegensätzen stehen, wie es den Grundbedingungen ihres Entstehens ja auch entspricht. 30 Erst die bewußte, vorsätzliche ZufüVgl. die beeindruckende Zusammenschau des gesamten Problemfeldes bei H.Markl, Natur als Kulturaufgabe. Über die Beziehung des Menschen zur lebendigen Natur, Stuttgart 1986. - Zusammenfassend unter Einbezug rechtlicher Implikationen: G.M. Teutsch, Die »Würde der Kreatur«. Erläuterungen zu einem neuen Verfassungsbegriff am Beispiel des Tieres, Bern u.a. 1995 (Lit.). Für das Gebiet der Tierethik tragen die oben so benannten »Einordnungsprobleme« sofort erhebliche Früchte (man vgl. bes. das Aggressionsproblem), da die Vielschichtigkeit der geschöpflichen Entwicklungsstufen ethisch ausgefachert ein breites Feld von Beurteilungshorizonten ermöglicht und notwendig macht. Zur Wahrnehmung einer Tierethik aus christlicher Verantwortung vgl. bes.: Tier und Mensch. Erwägungen zur Mitgeschöpflichkeit der Tiere (Stellungnahme des Interdisziplinären Gesprächskreises der VELKD): LM 31 (1992) 447-449; E.Gräßer, Kirche und Tierschutz - Eine Anklage: Tierschutz. Testfall unserer Menschlichkeit, hg.v. U. M.Händel, Frankfurt a.M. 1984, 59-70; ders., Erwägungen zu einer Tierschutzethik

Ethik im Kontext eines evolutionären Weltbildes

401

gung eines Schadens erschafft das, was man ein Reich des wirklich Bösen nennen muß. Gerade auch unter dem Eindruck dieser Erkenntnis formt sich unser obiges Universalprinzip wie von selber um. Es ergibt sich als generelle Leitlinie unseres Verhaltens im Reich der Lebewesen Albert Schweitzers ethisches Prinzip einer universellen »Ehrfurcht vor dem Leben«: »Gut« ist danach: »Leben erhalten, Leben fördern, entwicklungsfähiges Leben auf seinen höchsten Wert bringen«. Böse ist: »Leben vernichten, Leben schädigen, entwickelbares Leben niederhalten«. 31 Die Maxime unseres Handelns im Einzelfall schließlich, und hier schlägt oft erst die »Stunde der Wahrheit«, kann man praktisch und einfach so formulieren: »Es möge jeder so handeln, daß er sich selbst in der Prioritätenliste seiner Verhaltensmuster von dem ersten auf einen geringeren Platz zurückstuft«. Damit wäre schon viel, auch im Hinblick auf die solchem Verhalten öfters entgegenstehende praktische Erfahrung, gesagt und dafür wohl schon das Entscheidende gewonnen. Die Bildung einer solchen Maxime wäre nämlich durchaus im Regelfall eine Anwendung des »Kategorischen Imperativs« im Falle des praktischen Handelns. 3.3. Im II. Postulat war die Frage leitend: Wie gewinnt eine Ethik Gestalt auf dem Boden einer sich von innen her erschließenden Kreativität? Nun scheint es nach dem Vorhergehenden so, als ob der Begriff der »Kreativität« sich gerade im ethischen Bereich konkret erfassen und explizieren läßt: Denn gerade im Willen und seiner Imperativität ist kreative Energie auf eine besondere, uns vertraute Weise anwesend, wirksam und konzentriert! Und zwar zugleich auf eine höchst evolutionsgerechte Weise: Zum Wesen des Willens gehört ja das operative Setzen von Handlungszusammenhängen, die sich in logischer Gestalt als »Kalkül« zur Darstellung bringen

lassen. In einer evolutiven Welt mit ihren sich je ändernden Daseinsbedingungen ist nun die Fähigkeit zur veränderten Antwort auf veränderte Gegebenheiten förmliche Vorbedingung der Existenzerhaltung. Fixiertheit durch das, was einmal galt, zählt dabei nicht immer viel: einzig ein schöpferisches, kreatives Willens- und Bewußtseinspotential trägt den genannten Bedingungen Rechnung. Der Aufbau ethischer Kalküle - und ich spreche be-

wußt im Plural - ist hier die einzige Möglichkeit, die Bedingungen der Hums theologischer Sicht: Welt, Umwelt, Ökologie, hg.v. M.Beyer/H.-A.Stempel, Weinheim 1995 (BASF 3) 171-181 (Lit.); R.Heeger, Eigenwert und Verantwortung. Zur normativen Argumentation in der Tierethik: Unsere Welt - Gottes Schöpfung. FS Eberhard Wölfel, Marburg 1992, 251-268; M.Honecker, Grundriß der Sozialethik, Berlin/New York 1995, 268-275: »Das Tier als Thema der Ethik«. Aus meinem Leben und Denken, München 1931: ders., Ausgewählte Werke, hg.v. R.Grabs, Berlin, I 1971, 171. Zu A.Schweitzer vgl. E.Gräßer, Albert Schweitzer als Theologe, Tübingen 1979 (Lit.); ders., Ethik bei A.Schweitzer: Albert-SchweitzerStudien, hg.v. R.Brüllmann, Bern/Stuttgart 1989, 50-77.

402

Eberhard Wölfel

manität mit den Erfordernissen einer sich schnell wandelnden Welt in Einklang zu bringen. Doch hier scheint sich ein schwieriges Problem aufzubauen: Hat nun der evolutive Kontext im Verein mit der Vielheit der Wege, die er geht, der Andersartigkeit der Antworten, die er durch das jeweils verschieden gelagerte Adaptionsproblem geben muß; hat er also mit der erzwungenen Pluralität ethischer Kalküle die Sittlichkeit in den Relativismus gesteuert? Eine solche Auffassung würde jedoch die Sachlage verkennen. Denn die Willenspotenz trägt ja die das Problem neutralisierende Spannung in sich, nämlich: »Hypothetische Imperative - Kategorischer Imperativ«. Das eine von beiden ermöglicht die vielheitliche Variabilität, das andere die Einheitlichkeit bewirkende Kontinuität. Die Vielheit ermöglicht situationsgerechte, materialisierte Wertgestalt·, das in aller solcher anwesende kategorische Prinzip erweist sich als die Invarianz eines absolut Normativen. Das absolut normativ verfaßte, reine Urprinzip »Wille« bleibt hinter allem Relativen als invariantes Absolutum stehen. Ohne es wären wir nicht ethisch wollende Menschen als solche. So lassen sich Gültigkeit und Wandel in einer Ethik im evolutionären Kontext organisch verbinden, was ja eine der früher ausgesprochenen Hauptforderungen an sie war. 3.4. Die I. und grundsätzlichste Forderung an eine Ethik im Kontext der Evolution war die nach einem Anker mitten im Fluß des Geschehens. Hier gewinnt gewiß die neue Situation ihren anfanglichsten Aspekt. Und doch befreit uns zugleich auch hier der vorgeschlagene Weg der Ethikbegründung und bringt uns zu neuen Einsichten. Konzentrieren wir dabei alles auf den ethischen Fixpunkt des am Anfang beschriebenen früheren, statischen Weltbilds: nämlich das Naturrecht. Aus dem Strom der Evolution heraus, mit dem wir fließen, müssen wir auch die Antwort geben: So, wie ein Flußbett dieses Stroms weder erkennbar noch

greißar ist, so wenig ist auch ein »Naturrecht« erkennbar gegeben oder gar für moralisches Handeln greißar. Um dies zu verstehen, müssen wir uns noch einmal Funktion und Problematik des Naturrechts vor Augen halten. Definiert war es (mit Max Weber) als »Inbegriff der unabhängig von allem positiven Recht und ihm gegenüber präeminent geltenden Normen« 32 . Konkret abgelesen wurde es meist an dem, was man einen »Wertehimmel« nennen könnte: Unveränderlich geltende Werte schienen an ihm festgemacht, gleichsam als große Leuchten mit Leitbildfunktion, Licht für alle spendend. Die Probleme des Naturrechts liegen hier in folgenden beiden Momenten: (a) Der (definitorische) Absolutheitscharakter des Naturrechts impliziert Transzendenz gegenüber allem empirischen Wissen von ihm und macht es 32

M.Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1926, 496. Zum Problemkreis des Naturrechts vgl. E.Wölfel, Art. Naturrecht I-II: EStL 3 1987, 2223-2230 (Lit.); W. Nethöfel, Ar.. Naturrecht III: ebd. 2230-2233 (Lit.).

Ethik im Kontext eines evolutionären Weltbildes

403

unverfügbar. Auch das Naturrecht muß erst positiv werden im Kopf seiner Erforscher und verliert damit seinen Rang als allem Positiven prinzipiell vorausgehende Normierungsinstanz. (b) Entsprechend sind die »Werte«, die das »Naturrecht« konkretisieren, sehr vielfaltig und wenig »evident«. Sie nehmen meist teil an der Behauptung, naturrechtlicher Qualität zu sein, sind aber in Wahrheit oft dekretiert und irrational - nur einer »Werteschau« zugänglich, die für kritische Augen als schwer durchleuchtbar erscheint. Da Werte zu ihrer Realisation aufzufordern pflegen, sind sie wenn es darauf ankommt, meist auch aggressiv. N.Hartmann hat in diesem Sinn das berühmte Wort von der »Tyrannei der Werte« gesprochen33, K.Lorenz 34 ihre Irrelevanz, ja Schädlichkeit für eine evolutive Sicht der Natur beschrieben. Beide Argumente gelten, wie mir scheint, mit Stringenz und zeigen zugleich auf, daß uns das dekretierte »feste Fundament« der traditionellen Ethikbegründung in eine Sackgasse geführt hatte. Die Kategorien einer evolutiven Weltsicht, die das fehlerhafte Grundmuster dieser »Naturethik« aufdecken, führen uns hingegen in die Freiheit: eine Freiheit, die in uns liegt; im »Moralischen Gesetz in mir«, wie Kant sagen würde, in der Menschenwürde, die solches moralische Gesetz begründet und die gestattet, unseren Platz in einer fließenden Welt einzunehmen. Also: wir bedürfen des außengeleiteten Naturrechts nicht mehr, da wir selbst den Kompaß in uns tragen. Damit ist die Ethik, nicht zuletzt durch die Erkenntnisse des evolutionären Werdens unserer Welt, von früheren Begründungszwängen befreit und zu besseren Einsichten in ihren eigenen Wesensgrund gelangt. Es ist keine Freiheit des Egoismus, sondern eine solche der Pflicht und Bindung. Es ist eine freiheitliche Ethik der Liebe, die gar nicht anders kann, als die Welt zu lieben, in der wir selbst gerade durch diese Gabe als die Meistgeliebten erscheinen. Doch um darüber zu reden, müßten wir den Kontext des »Evolutionären Weltbildes« als solchen beiseiterücken, um uns ganz der Struktur und Erkenntnis der kreatorischen Kraft zuzuwenden, die die Welt im Innersten aufbaut und ausformt. Das übersteigt die Aufgabe, der sich die vorliegenden Ausführungen widmen wollten.

33

N.Hartmann, Ethik, Berlin 1926, 574ff. Weiter einführend: C.Schmtt/E.Jüngel/S. Schelz, Die Tyrannei der Werte, Hamburg 1979.

34

Lorenz, Abbau (s.o. Anm. 4) 7-84. Vgl. auch: ders., Die Vorstellung einer zweckgerichteten Weltordnung: ders., Wirkungsgefiige (s.o. Anm. 3) 24-35.

Israels Zukunft und die Parusieverzögerung bei Lukas v o n MICHAEL WOLTER

Erich Gräßer hat mit seiner Dissertation über Das Problem der Parusieverzögerung in den synoptischen Evangelien und in der Apostelgeschichte1 einen theologischen Entwurf vorgelegt, der die Diskussion um das Verständnis der Eschatologie Jesu und des frühen Christentums bis heute bestimmt. Darüber hinaus hat er in einer ganzen Reihe von weiteren Arbeiten immer wieder selbst in die wissenschaftliche Debatte über dieses Thema - namentlich zu dessen für die lukanische Theologie wichtigen Aspekten - eingegriffen 2 und sie über Jahre hinweg kritisch begleitet3. - Seit einiger Zeit ist nun aber zu beobachten, daß in der Diskussion um das Verständnis des lukanischen Doppelwerks das Problem der Parusieverzögerung als leitendes Interpretationsparadigma zunehmend in den Hintergrund tritt und seine Stelle in einer wachsenden Zahl von Publikationen das sog. Israelproblem einnimmt.4 Demnach habe Lukas nicht zur Feder gegriffen, um das Ausbleiben der Parusie zu bewältigen, sondern um angesichts der Distanz zwischen den heidenchristlichen Gemeinden und dem Judentum in seiner Zeit die Frage zu beantworten, ob denn die Christen überhaupt in der Kontinuität der Erwählung des Gottesvolkes und der ihm geltenden Heilsverheißungen stehen. Der folgende Beitrag will das Thema der Parusieverzögerung noch einmal aufgreifen und dabei die These zur Diskussion stellen, daß Lukas es ganz gezielt als Bestandteil seiner Lösung des Israelproblems einsetzt. Mit dieser These verbindet sich die Hoffnung, die Diskussion über die lukanische Sicht der Zukunft Israels ein Stück weiterführen zu können.

1

Berlin 1956, 2 1960, 3 1977 (BZNW 22).

2

Die Naherwartung Jesu, Stuttgart 1973 (SBS 61); Die Parusieerwartung in der Apostelgeschichte: Les Actes des Apötres, hg.v. J.Kremer, Löwen 1979 (BEThL 48) 99127; Ta peri tös basileias (Apg 1,3; 19,8): Α cause de l'Evangile. FS Jacques Dupont, Paris 1985 (LeDiv 123) 709-725.

3

Vgl. seine großen Forschungsberichte zur Apostelgeschichte; vgl. ThR NF 26 (1960) 93-167; 41 (1976) 141-194.259-290; 42 (1977) 1-68.

4

Vgl. Gräßer, Parusieerwartung (s.o. Anm. 3) 122f sowie den Überblick bei E.Plümacher, Acta-Forschung 1974-1982: ThR NF 48 (1983) 1-56: 45ff.

406

Michael Wolter

1. Bestandsaufnahme Die Frage nach der Zukunft Israels gehört zweifellos zu den Themen, die in der Lukasforschung zur Zeit mit der geringsten Aussicht auf einen Konsens diskutiert werden. Der Begriff >Israel< wird dabei immer mit Bezug auf den nicht an Jesus Christus glaubenden Teil des jüdischen Volkes gebraucht, obwohl alles andere als sicher ist, ob dies auch dem lukanischen Israel-Verständnis entspricht. 5 Wir wollen diese terminologische Frage jedoch fürs erste unberücksichtigt lassen und in aller Kürze die Diskussionslage skizzieren: 1.1. Auf der einen Seite haben wir die Position, daß Lukas Israel aufgrund seiner Ablehnung der Christusverkündigung als endgültig von jeder Heilshoffnung abgeschnitten ansieht. E.Haenchen sah in diesem Sinne das Zitat von Jes 6,9f in Act 28,26f »eine endgültige Verwerfung Israels«6 zum Ausdruck bringen. Ähnliche Formulierungen finden wir u.a. bei J.Jervell (»the unbelieving portion of the people is rejected for all times« 7 ), W.Eltester (die Frage, »ob für den unbußfertigen Teil der Juden eine Hoffnung auf Rettung besteht, dürfte von Lukas mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit verneinend entschieden sein« 8 ) und H.Räisänen (»Jews who do not accept Jesus will be excluded from God's people and damned« 9 ). 10 Demgegenüber insistieren andere Interpreten darauf, daß Lukas auch dem nicht-christusgläubigen Israel noch eine Hoffnung auf Teilhabe am eschato-

5

Vgl. P.G.Müller, Die jüdische Entscheidung gegen Jesus nach der Apostelgeschichte: Les Actes des Apötres (s.o. Anm. 2) 523-531: 524-526; F.O'Fearghail, Israel in LukeActs: PIBA 11 (1988) 23-43: 24.36ff sowie jetzt G.Harvey, The True Israel, Leiden u.a. 1996 (AGJU 35) 238ff. - Zur Erörterung dieser Frage s.u. S.424ff.

6

E.Haenchen, Judentum und Christentum in der Apostelgeschichte: ZNW 54 (1963) 155-187: 185; vgl. auch ders., Die Apostelgeschichte, Göttingen 7 1977 (KEK 3) 112: »Lukas hofft nicht mehr, wie Paulus, auf eine Bekehrung Israels«; 135: »Für Lukas sind die Juden abgeschrieben««.

7

J.Jervell, Luke and the People of God, Minneapolis 1972, 64; s. auch ders., Gottes Treue zum untreuen Volk: Der Treue Gottes trauen. FS Gerhard Schneider, Freiburg u.a. 1991, 15-27: 25.

8

W.Eltester, Israel im lukanischen Werk und die Nazarethperikope: E.Gräßer u.a., Jesus in Nazareth, Berlin 1972 (BZNW 40) 76-147: 129.

9

H.Räisänen, The Redemption of Israel: Luke-Acts. Scandinavian Perspectives, hg.v. P.Luomanen, Helsinki/Göttingen 1991, 94-114: 106.

10

S. auch J.Gnilka, Die Verstockung Israels, München 1961 (StANT 3) 153f; S.G.Wilson, The Gentiles and the Gentile Mission in Luke-Acts, Cambridge 1973 (SNTS.MS 23); R.Maddox, The Purpose of Luke-Acts, Göttingen 1982 (FRLANT 126) 184f; J.T.Sanders, The Salvation of the Jews in Luke-Acts: Luke-Acts. New Perspectives from the Society of Biblical Literature Seminar, hg.v. C.H.Talbert, New York 1984, 104-128: 115f.

Israels Zukunft und die Parusieverzögerung bei Lukas

407

logischen Heil zuerkennt. In diesem Sinne bestreitet H.Merkel die Endgültigkeit des Verstockungsurteils von Act 28,26f: »... das bedeutet nicht, daß Israel abgeschrieben ist. Bei der Parusie wird Gott die Verstockung Israels aufheben«. 11 In ähnlicher Weise haben sich u.a. auch A.W.Wainwright (»although he [sc. Luke] believed that God had rejected Israel, he did not believe the rejection to be final« 12 ), R.C.Tannehill (»hope for a happier outcome remains«, und zwar »for salvation through conversion« 13 ) oder D.L. Tiede (»the restoration, the consolation, the redemption ... has only begun to be inaugurated in the present time of Luke's story« 14 ) geäußert. 15 1.2. Die Schwierigkeit, einen Konsens in dieser Frage zu finden, beruht vor allem darauf, daß nicht nur in der Interpretation der einschlägigen Texte keine Einigkeit herrscht, sondern diese auch selbst in unterschiedliche Richtungen zu weisen scheinen. Dies läßt sich anhand einiger Beispiele illustrieren: 1.2.1. In Lk 13,35 kündigt Jesus an, daß er von den ihn jetzt abweisenden Bewohnern Jerusalems bei seiner Parusie 16 mit den Worten von Ps 117,26 (LXX) begrüßt werden wird: ε υ λ ο γ η μ έ ν ο ς ό έ ρ χ ό μ ε ν ο ς έ ν ο ν ό ματι κυρίου. Dies scheint zunächst unzweideutig daraufhinzuweisen, daß Lukas die Erwartung hegte, Israel werde Jesus bei seiner Wiederkunft vom Himmel her (vgl. Act 1,11; 3,20) schließlich doch als seinem Messiaskönig 11

H.Merkel, Israel im lukanischen Werk: NTS 40 (1994) 371-398: 397.

12

A.W.Wainwright, Luke and the Restoration of the Kingdom to Israel: ET 89 (1977/78) 76-79: 79.

13

R.C.Tannehill, Israel in Luke-Acts. A Tragic Story: JBL 104 (1985) 69-85: 83.85; s. auch ders., The Narrative Unity of Luke-Acts. I. The Gospel according to Luke, Minneapolis 1986, 163.

14

D.L.Tiede, »Glory to Thy People Israel«: Luke-Acts and the Jewish People, hg.v. J.B. Tyson, Minneapolis 1988, 21-34: 34.

15

Vgl. noch F.Mußner, Die Idee der Apokatastasis in der Apostelgeschichte: ders., Praesentia Salutis, Düsseldorf 1967 (KBANT) 223-234; Müller, Entscheidung (s.o. Anm. 5) 527f; F.Bovon, »Schön hat der heilige Geist durch den Propheten Jesaja zu euren Vätern gesprochen« (Act 28,25): ZNW 75 (1984) 226-232: 230; K.Haacker, Das Bekenntnis des Paulus zur Hoffnung Israels nach der Apostelgeschichte des Lukas: NTS 31 (1985) 437-451: 443ff; O'Fearghail, Israel (s.o. Anm. 5) 35; J.B.Chance, Jerusalem, the Temple, and the New Age in Luke-Acts, Macon 1988, 129ff; L.R.Helyer, Luke and the Restoration of Israel: JETS 36 (1993) 317-329; A.Buzzard, Acts 1:6 and the Eclipse of the Biblical Kingdom: EvQ 66 (1994) 197-215; D.Ravens, Luke and the Restoration of Israel, Sheffield 1995 (JSNT.SS 119) 250ff; V.Fusco, Luke-Acts and the Future of Israel: NT 38 (1996) 1-17.

16

Vgl. J.A.Fitzmyer, The Gospel According to Luke, New York u.a., II 1985 (AncB 28A) 1035; D.Zeller, Entrückung zur Ankunft als Menschensohn (Lk 13,34f.; ll,29f.): Α cause de l'Evangile (s.o. Anm. 2) 513-530: 515ff; Fusco, Luke-Acts (s.o. Anm. 15) 13.

408

Michael Wolter

huldigen. Dementsprechend spielt dieser Text auch eine zentrale Rolle bei denen, die mit einer eschatologischen Aufhebung der derzeitigen Verstokkung des Gottesvolkes rechnen. 17 Diese Interpretation konnte aber ohne Mühe durch den Hinweis darauf relativiert werden, daß mit dieser Ankündigung noch nichts über das tatsächliche Geschick derer gesagt ist, die Jesus mit den genannten Worten begrüßen werden. T.W.Manson hatte seinerzeit von einem »too late« gesprochen 18 , was jetzt von H.Räisänen mit dem Verweis auf Lk 13,25 (ούκ οίδα ύμας π ό θ ε ν έ σ τ έ ) aufgenommen wird 19 . Und in der Tat läßt die Formulierung in V.35 auch die Möglichkeit offen, daß der Kommende von den Bewohnern Jerusalems zwar als messianischer Befreier begrüßt wird, dann jedoch als ihr Richter fungiert (vgl. Lk 19,27) 20 , so daß diejenigen Angehörigen Israels von der Teilhabe am eschatologischen Heil ausgeschlossen werden, die bereits dem Irdischen die Anerkennung als Messias verweigert haben. Zur Unterstützung dieser Interpretation könnte auch auf Lk 13,23-30; 14,24; Act 3,23 verwiesen werden. 1.2.2. In einer gewissen Spannung mit der zuletzt angesprochenen Erwartung stehen aber wiederum andere Texte: Lk 19,41-44 deutet die Zerstörung Jerusalems, die aus lukanischer Erzählperspektive zurückliegt und damit nicht Bestandteil der Endereignisse ist (vgl. 21,20-24b) 21 , als bereits innergeschichtlich an Jerusalem vollzogene Strafe für die Ablehnung Jesu. Ihr ist jedoch nach 21,24c eine Frist gesetzt: αχρι ου πληρωθώσιν καιροί έ θ ν ώ ν . Was immer damit auch gemeint sein mag 22 - mit 19,41-44 17

Vgl. A.George, Israel dans l'oeuvre de Luc: RB 75 (1968) 481-525: 525; Mußner, Idee (s.o. Anm. 15) 233f; Chance, Jerusalem (s.o. Anm. 15) 130ff; Helyer, Luke (s.o. Anm. 15) 324f; Merkel, Israel (s.o. Anm. 11) 396f; Fusco, Luke-Acts (s.o. Anm. 15) 6ff; s. auch W.Wiefel, Das Evangelium nach Lukas, Berlin 1987 (ThHK 3) 266; C.A. Evans, Prophecy and Polemic: Luke and Scripture, hg.ν. dems./J. Α.Sanders, Minneapolis 1993, 171-211: 178f.

18

T.W.Manson, The Sayings of Jesus as Recorded in the Gospels According to St.Matthew and St.Luke, London 1949, 128.

19

Räisänen, Redemption (s.o. Anm. 9) 105f; s. auch Eltester, Israel (s.o. Anm. 8) 130; Fitzmyer, LkEv II (s.o. Anm. 16) 1036; R.J.Shirock, The Growth of the Kingdom in Light of Israel's Rejection of Jesus: NT 35 (1993) 15-29, bes. 25.

20

Vgl. S.Schulz, Q. Die Spruchquelle der Evangelisten, Zürich 1972, 358; Eltester, Israel (s.o. Anm. 8) 130; Zeller, Entrückung (s.o. Anm. 16) 518f; J.D.Kingsbury, Conflict in Luke, Minneapolis 1991, 57.

21

Vgl. H.Conzelmann, Die Mitte der Zeit, Tübingen 6 1977 (BHTh 17) 125f; G.Braumann, Die lukanische Interpretation der Zerstörung Jerusalems: NT 6 (1963) 120-127.

22

Zur Auswahl stehen: der Abschluß der Heidenmission (z.B. Gräßer, Problem [s.o. Anm. 1] 162; Fusco, Luke-Acts [s.o. Anm. 15] 15) und das von Gott festgesetzte Ende der heidnischen Fremdherrschaft über Jerusalem (z.B. E.Schweizer, Das Evangelium nach Lukas, Göttingen 1982 [NTD 3] 211; G.Schneider, Das Evangelium nach Lu-

Israels Zukunft und die Parusieverzögerung bei Lukas

409

zusammen erlaubt dieser Ausblick die Annahme, daß Lukas mit einer endzeitlichen Restauration Jerusalems nach Abbüßung seiner Strafe rechnet. In diesem Sinne wird dieser Hinweis dann auch z.B. von J.B.Chance als Beleg dafür verstanden, daß Jerusalem nach lukanischer Auffassung nach Abschluß der καιροί έθνών wieder in »its eschatological destiny as the city of salvation« eingesetzt werden wird 23 . - Eine zusätzliche Unterstützung erhält diese Interpretation noch dadurch, daß sie sich auf Lk 2,38 berufen kann, wo die Prophetin Hanna als sog. »reliable character«, in der sich das Autorbewußtsein artikuliert, Jesus als den identifiziert, von dem die Befreiung Jerusalems zu erhoffen ist. 24 Beim Leser wird dadurch eine Erwartungshaltung erzeugt, die nicht nur über den Schluß des lukanischen Doppelwerks, sondern auch über die lukanische Gegenwart hinausweist, weil in ihr die Realisierung dieser indirekten Ankündigung noch aussteht. 25 - Ähnlich steht es mit den an der Sonderstellung des jüdischen Volkes orientierten Erwartungen, wie sie etwa von dem mit dem heiligen Geist erfüllten (1,67) Zacharias ausgesprochen werden, der in Lk 1,68-71 die λ ύ τ ρ ω σ ι ς des Gottesvolkes als »Rettung vor unseren Feinden und aus der Hand aller, die uns hassen« ankündigt (s. auch l,54f.74): Diese Hoffnung einer besonderen Heilserwartung für Israel wird in Lk 24,21 und in Act 1,6 reformuliert, ohne dabei in der Sache zurückgewiesen zu werden. 26 Auch ihre Erfüllung steht zur Zeit des Lukas noch aus, und vom lukanischen point of view aus gesehen spricht nichts dagegen, sie als Bestandteil der »Wiederher-

kas. II. Kapitel 11-24, Gütersloh/Würzburg 2 1984 [ÖTK 3/1-2] 424; Chance, Jerusalem [s.o. Anm. 15] 135); letzteres dürfte wahrscheinlicher sein. 23

Chance, Jerusalem (s.o. Anm. 15) 138; s. auch Wainwright, Luke (s.o. Anm. 12) 77f; Tannehill, Israel (s.o. Anm. 13) 85; Fusco, Luke-Acts (s.o. Anm. 15) 14f. - Tannehills Verknüpfung von 21,24c mit 13,35 (Israel [s.o. Anm. 13] 85: Die Unterdrückung Jerusalems »will last only so long as it refuses to say >Blessed is he who comes in the name of the LordReich Gottes< bei Lukas: NTS 41 (1995) 541-563: 555f.

30

Vgl. H.Merklein, Die Einzigkeit Gottes als die sachliche Grundlage der Botschaft Jesu: JBTh 2 (1987) 13-32: 15ff; J.J.Collins, The Kingdom of God in the Apocrypha and Pseudepigrapha: The Kingdom of God in 20th-century Interpretation, hg.v. W.Willis, Peabody 1987, 81-97: 95.

31

Vgl. dazu insgesamt Maddox, Purpose (s.o. Anm. 10) 42ff. 105ff; Wolter, »Reich Gottes< (s.o. Anm. 29).

Israels Zukunft und die Parusieverzögerung bei Lukas

411

kommen wird und über die Lukas immer wieder berichtet (letztmals in Act 2 8 , 2 4 ) . 3 2 Andererseits findet die schon früher mitunter vertretene Auffassung, daß Lukas mit π τ ώ σ ι ς und ά ν ά σ τ α σ ι ς ein Nacheinander kennzeichne, in den letzten Jahren eine zwar geringe, aber doch zunehmende Zahl von Befürwortern 3 3 . Sie wurde unlängst durch B.Koet unter Verweis auf Jes 5 1 , 1 7 - 2 3 ausführlich begründet; Ergebnis: »>Fall und Aufstehen< (sind) - wie in Jes 5 1 , 1 7 - 2 3 - zwei unterschiedliche Phasen innerhalb einer heilsgeschichtlichen Perspektive, aber wie bei Deuterojesaia die Stadt Jerusalem trotz erlittener Niederlage wieder aufstehen wird, so geht es Lukas auch um das eine Israel, das zwar (wie schon so oft) gefallen ist, doch die Hoffnung haben darf, daß es gemäß der heilsgeschichtlichen Erfahrung wieder aufgerichtet wird« 34 . Analoges läßt sich auch in bezug auf das Zitat von Jes 6 , 9 f in Act 2 8 , 2 6 f beobachten, womit sich gleichzeitig der Kreis schließt, den wir zur Standortbestimmung abgeschritten haben: Gegenüber der eingangs referierten Interpretation dieses Textes 3 5 mehren sich in letzter Zeit die Stimmen, die den Aussagesinn dieser beiden Verse in eine andere Richtung weisen lassen, und

32

So in jüngerer Zeit G.Lohfink, Die Sammlung Israels, München 1975 (StANT 39) 30; Chance, Jerusalem (s.o. Anm. 15) 55.70; Tannehill, Unity I (s.o. Anm. 13) 30.32; O'Fearghail, Israel (s.o. Anm. 5) 26; J.Nolland, Luke 1 - 9:20, Dallas 1989 (WBC 35A) 121; F.Bovon, Das Evangelium nach Lukas. I. Lk 1,1 - 9,50, Zürich/Neukirchen-Vluyn 1989 (EKK III/l) 146f; J.B.Tyson, Images of Judaism in Luke-Acts, Columbia 1992, 50; R.E.Brown, The Birth of the Messiah, New York u.a. 2 1993, 461; M.L.Strauss, The Davidic Messiah in Luke-Acts, Sheffield 1995 (JSNT.SS 110) 119f; Ravens, Luke (s.o. Anm. 15) 46; J.O.York, The Last Shall Be First, Sheffield 1991 (JSNT.SS 46) 11 Iff; Evans, Prophecy (s.o. Anm. 17) 174. - Die beiden letztgenannten verbinden diese Ankündigung mit Lk 1,51-53 und stellen sie in den Zusammenhang mit dem für Lukas charakteristischen »reversal«-Motiv. Bemerkenswert, weil sich hierin der status disputationis recht gut widerspiegelt, ist die Auskunft von S.Farris, The Hymns of Luke's Infancy Narratives, Sheffield 1985 (JSNT.SS 9) 159: »While Luke 2:34-35 seems clearly to speak of a division within Israel, the hymns themselves look only on the more joyful side of salvation history«, wozu dann anmerkungsweise ergänzt wird: »there seems no reason to suppose that Luke had given up all hope for unrepentant Israel« (199).

33

Schweizer, LkEv (s.o. Anm. 22) 38; Tiede, Glory (s.o. Anm. 14) 28; I.H.Marshall, The Gospel of Luke, Grand Rapids 1978 = 1992, 122; G.B.Caird, The Gospel of St. Luke, London 1963, 64; M.Miyoshi, Jesu Darstellung oder Reinigung im Tempel: AJBI 4 (1978) 85-115: 98ff; W.Radi, Der Ursprung Jesu, Freiburg u.a. 1996 (HBS 7) sieht die beiden Begriffe ebenfalls ein Nacheinander beschreiben, das sich auf ein und dieselbe Gruppe beziehe, doch läßt er die Ankündigimg der άνάστασις nur »für den Teil Israels gelten, der zum Glauben an den Messias Jesus gekommen ist« (227).

34

B.Koet, Simeons Worte (Lk 2,29-32.34c-35) und Israels Geschick: The Four Gospels 1992. FS Frans Neirynck, Löwen, II 1992 (BEThL 100) 1549-1569: 1557ff (Zitat: 1563).

35

S.o. Abschn. 1.1.

412

Michael Wolter

dies mit beachtlichen Argumenten: So zeigt etwa die Rückbindung der Verstockungsaussage an die alttestamentliche Tradition 36 , daß die verbreitete Gleichsetzung von Verstockung und Verwerfung in den Text eingetragen ist 37 , während »within biblical tradition, hardening always implies the possibility of a future enlightenment« 38 .

2. Das Heil Israels und die Verzögerungsthematik Die vorstehende Bestandsaufnahme dürfte sichtbar gemacht haben, daß die derzeitige Offenheit der Diskussion um die lukanische Sicht der Zukunft Israels ihren Grund vor allem in der offenkundigen Disparatheit der einschlägigen Texte hat, was dann zu einem selektiven Umgang mit ihnen führt: Die Antwort in die eine oder andere Richtung kommt jeweils so zustande, daß die eine Textreihe auf Kosten des anderen in den Vordergrund gestellt und als für die lukanische Position kennzeichnend bewertet wird. Kriterien, die die jeweilige Entscheidung begründen und der jeweils anderen Seite plausibel vermittelt werden könnten, sind bisher nicht beigebracht worden. Von außen betrachtet stellt eine solche Diskussionslage aber auch eine exegetische Herausforderung dar. Sie lädt dazu ein, nach einein Gesichtspunkt zu fragen, der die Debatte über ihren toten Punkt hinausführen kann und die scheinbar disparaten Aussagen über die Zukunft Israels im lukanischen Doppelwerk in ein kohärentes Sinngefüge zu integrieren vermag. M.E. läßt sich zeigen, daß es nun gerade die historische Erfahrung der Parusieverzögerung ist, die einen solchen Gesichtspunkt liefern kann. Es wäre der zeitliche Abstand, der Lukas von der in seinem Doppel werk erzählten Basisgeschichte des Christentums trennt, die als Schlüssel zum Verständnis seiner Sicht in bezug auf die Zukunft Israels zu veranschlagen ist. 2.1. Mit dieser These werden zwei Perspektiven miteinander verknüpft, die in der Lukasforschung bisher eher unverbunden nebeneinander standen. Daß mit ihr aber nicht eine textfremde Fragestellung auf das lukanische

36

Vgl. vor allem H.van de Sandt, Acts 28,28. No Salvation for the People of Israel?: EThL 70 (1994) 341-358: 347ff; Fusco, Luke-Acts (s.o. Anm. 15) 7f; s. auch R.F. Ο'Toole, Reflections on Luke's Treatment of Jews in Luke-Acts: Bib. 74 (1993) 529555: 547f.

37

S. auch C.A.Evans, To See and Not Perceive, Sheffield 1989 (JSOT.SS 64) 126: »The passage simply does not say this.«

38

Fusco, Luke-Acts (s.o. Anm. 15) 7; s. auch Chance, Jerusalem (s.o. Anm. 15) 130; R.L.Brawley, Luke-Acts and the Jews, Atlanta GA 1987 (SBL.MS 33) 76f; Bovon, »Schön« (s.o. Anm. 15) 230; D.W.Palmer, Mission to Jews and Gentiles in the Last Episode of Acts: RTR 52 (1993) 62-73: 66f.71; Strauss, Messiah (s.o. Anm. 32) 176; J.Zmijewski, Die Apostelgeschichte, Regensburg 1994 (RNT) 886.

Israels Zukunft und die Parusieverzögerung bei Lukas

413

Doppelwerk projiziert wird, läßt die Konvergenz der beiden Aspekte in Lk 19,11-27 und Act 1,6-8 erkennen. 39 Beide Texte weisen etliche Gemeinsamkeiten auf: 2.1.1. Im literarischen Aufriß des lukanischen Doppelwerks markieren beide Texte wichtige Schaltstellen: Lk 19,11-27 schließt den sog. Reisebericht ab, der Jesus von 9,51 an als auf einer zielgerichteten Wanderung nach Jerusalem befindlich schildert. Nach der dreimaligen Nennung des Reiseziels (9,51; 13,22; 17,11; s. auch 13,33) teilt Lukas in 19,11 mit, daß das Ziel nunmehr fast erreicht ist (έγγύς ε ί ν α ι 'Ιερουσαλήμ α ύ τ ό ν ) . - Analoges gilt für Act 1,6-8: Diese Verse stehen zum einen in dem Bericht über die 40 Tage zwischen Ostern und Himmelfahrt, der die beiden Teile des lukanischen Doppelwerks miteinander verbindet, und zum anderen bilden sie überhaupt den Abschluß der gesamten, von der Johannestaufe bis zur Himmelfahrt reichenden Zeit, in der Jesus mit seinen Jüngern zusammen war (vgl. Act 1,21). In V.7-8 formuliert Lukas dann auch das letzte Wort Jesu vor seiner Himmelfahrt. 2.1.2. Beide Texte weisen ein analoges Gefälle auf, denn hier wie dort wird eine fehlerhafte Erwartung korrigiert: In Lk 19,11 ist es die Annahme, daß Jesu räumliche Nähe zu Jerusalem die zeitliche Nähe der Offenbarung der Gottesherrschaft bedeutet 40 ; Lukas läßt Jesus darauf mit dem Gleichnis vom Thronprätendenten antworten (V. 12-27). - In Act 1,6 ist es die Annahme, daß die in V.5 verheißene Geistausgießung und die Wiederherstellung der Basileia für Israel 41 koinzidieren 42 ; Lukas läßt Jesus darauf mit dem Hinweis auf die Unwißbarkeit von durch Gott festgesetzten Terminen (V.7) und die Einweisung in die universale Zeugenschaft (V.8) antworten. 2.1.3. In beiden Texten besteht die Fehlerwartung von Jesu Gesprächspartnern mithin darin, daß sie mit einer kurzen zeitlichen Frist bis zur Offenbarung resp. Wiederherstellung der Basileia rechnen (vgl. einerseits παραχρήμα in Lk 19,11 und andererseits die Korrespondenz von έν τω χρόνω τ ο ύ τ φ [Act 1,6] mit ού μετά πολλάς ταύτας ήμέρας [V.5]). 2.1.4. In beiden Texten wird diese Naherwartung durch den Verweis in die Weite des Raumes korrigiert: In Lk 19,12 soll die Allegorisierung der 39

Vgl. auch Tannehill, Israel (s.o. Anm. 13) 84; ders., Unity I (s.o. Anm. 13) 258ff (»the problem of eschatological delay is intertwined with the problem of Jewish rejection; 260); V.Fusco, »Point of View« and »Implicit Reader* in Two Eschatological Texts Lk 19,11-28; Acts 1,6-8: The Four Gospels 1992 (s.o. Anm. 34) 1677-1696: 1690f. 1692.

40

Vgl. auch Fusco, »Point of View« (s.o. Anm. 39) 1678.

41

Zum Verständnis von άποκαθίστημι την β α σ ι λ ε ί α ν τω 'Ισραήλ s.u. Anm. 46.

42

Vgl. G.Schneider, Die Apostelgeschichte. I. Einleitung. Kommentar zu Kap. 1,1 8,40, Freiburg u.a. 1982 (HThK V/1) 201.

414

Michael Wolter

Himmelfahrt Jesu als Zug eines Thronprätendenten »in ein fernes Land« ebenso die Annahme der Nähe der Basileia zurückweisen, wie in Act 1,8 die Sendung der Apostel »bis ans Ende der Erde« (δως έ σ χ ά τ ο ο της γης) 4 3 den in V.6 erfragten Termin der Wiederherstellung der Basileia für Israel bis auf die Zeit nach der Erreichung dieses Missionszieles verschiebt. 44 2.1.5. In beiden Texten äußern die Gesprächspartner Jesu in sachlicher Hinsicht eine auf Israel bezogene Heilshoffnung: In Lk 19,11 ist es die durch Hanna ausgesprochene Erwartung, daß Jesus Jerusalem befreien wird (2,38), deren Erfüllung nun durch Jesu Ankunft in der Nähe dieser Stadt nahegekommen zu sein scheint. Mit der Offenbarung der βασιλεία τοϋ θεοΰ, von deren άναφαίνεσθαι hier die Rede ist, ist diese Hoffnung insofern verknüpft, als es ganz dezidiert die Befreiung Jerusalems von der Herrschaft der Fremdvölker ist, die Israel von der eschatologischen Errichtung der Gottesherrschaft erwartete. 45 - In Act 1,6 richtet sich die Erwartung der Apostel auf die Einsetzung Israels in den Status der Teilhaberschaft an Gottes universaler Herrschaft. 46 2.1.6. In beiden Texten beläßt Jesu Antwort diesen inhaltlichen Aspekt ganz eigentümlich in der Schwebe. Hier wie dort wird die auf Jerusalem im besonderen bzw. Israel im allgemeinen bezogene Heilserwartung weder eindeutig zurückgewiesen noch ausdrücklich bestätigt; sie bleibt vielmehr in Jesu Antwort offen. 4 7 Statt dessen wird die Gestaltung der Zwischenzeit bis zur Rückkehr (Lk 19,12) des άνθρωπος ευγενής nach Empfang seiner βασ ι λ ε ί α (V.15), d.h. bis zur Parusie Jesu, bzw. bis zur Erfüllung der χρόνοι και κ α ι ρ ο ί , die der Vater festgesetzt hat (Act 1,7), thematisiert: In Lk 19,13ff werden die Jünger gerichtsparänetisch dazu aufgefordert, mit den ihnen anvertrauten Gaben in der Zeit der Abwesenheit ihres Herrn erfolg43

Damit ist nicht das am Ende der Apostelgeschichte erreichte Rom gemeint, sondern wie W.C. van Unnik überzeugend nachgewiesen hat - »das Ende, die äußerste Grenze der Welt« (Der Ausdruck εως εσχάτου της γης [Apostelgeschichte I 8] und sein alttestamentlicher Hintergrund: ders., Sparsa Collecta, Leiden, I 1973 [NT.S 29] 386401: 400).

44

Vgl. Gräßer, Parusieerwartung (s.o. Anm. 3) 112f.

45

Vgl. dazu mit Belegen: Wolter, >Reich Gottes< (s.o. Anm. 29) 547; s. auch Fusco, »Point of View« (s.o. Anm. 39) 1690f.

46

Im Sinne der Wiedereinsetzung in eine Herrschaftsposition ist άποκαθίστημί τ ι ν ι την βασιλείαν belegt in: Dan 4,36 (LXX); Josephus, Ant. 14,366; Anthol.Graeca 3,19; Apollodorus, Bibl. 1,9,28.

47

Diese Offenheit spiegelt sich auch in der Literatur zu Lk 19,1 Iff: Während J.Roloff in bezug auf Act 1,6-8 davon spricht, daß diese Erwartung »zurechtgerückt (wird)« (Die Apostelgeschichte, Göttingen 1981 [NTD 5] 23), sieht sie Fusco »not rule out the >jewish-centred< point of view, typical of Luke-Acts« (»Point of View« [s.o. Anm. 39] 1679); s. auch Ravens, Luke (s.o. Anm. 15) 34 zu Lk 19,1 Iff: »The implication is that the Kingdom will come when the man returns as King«.

Israels Zukunft und die Parusieverzögerung bei Lukas

415

reich zu arbeiten, und in Act 1,8 erteilt Jesus den Aposteln den von Jerusalem bis ans Ende der Erde reichenden universalen Zeugenauftrag. 2.1.7. In beiden Texten besteht eine unübersehbare Spannung

zwischen

dem erzählungsinternen point of view (dem der Akteure) und dem externen point of view (dem des Erzählers und der impliziten Leser). 48 Sie verbietet es, die jeweils in der Exposition beschriebene Naherwartung (Lk 19,11; Act 1,6) unmittelbar auf die lukanische Gegenwart zu projizieren und sie als eine in dieser Zeit vertretene Position auszugeben, die von ihrem Standpunkt aus mit der Nähe der Parusie rechnet. 49 Hier wie dort ist die Jesu Gesprächspartnern in den Mund gelegte Erwartung ausschließlich innerhalb der der Vergangenheit angehörenden erzählten Welt sinnvoll, nicht hingegen in der besprochenen Welt der Gegenwart, denn die Leser des lukanischen Doppelwerks wissen auch ohne die Antwort, die Jesus jeweils gibt, daß die Naherwartung in beiden Fällen unberechtigt war: Weder ist die β α σ ι λ ε ί α τοΰ θεοΰ mit der Ankunft Jesu in Jerusalem in Erscheinung getreten, noch koinzidierte die Ausgießung des heiligen Geistes mit der Wiederherstellung der Basileia für Israel. Beides wissen die Leser aufgrund des bis in ihre Gegenwart reichenden Fortgangs der Geschichte auch so, und sie sind darum auch nicht auf eine Belehrung durch Jesus angewiesen. Aus der Perspektive der lukanischen Gegenwart erklärt Jesu Antwort darum jeweils nur, warum die historisch zurückliegende, auf das Heil Israels bezogene Naherwartung der Figuren der Erzählung unberechtigt war; auf die Frage, wie lange die Leser bis zur Offenbarung der Gottesherrschaft bzw. bis zur Wiederherstellung der Basileia für Israel noch zu warten haben, geben die Texte keine Antwort. 50

48

Vgl. dazu allgemein E.Lämmert, Bauformen des Erzählens, Stuttgart 6 1975, 70ff; F.K.Stanzel, Theorie des Erzählens, Göttingen s 1991 (UTB 904) 21ff. Auf die Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen diesen beiden points of view in den besprochenen Texten hat vor allem Fusco aufmerksam gemacht (»Point of View« [s.o. Anm. 39]).

49

Allenfalls kann man sagen, daß es um die Frage, »nach dem theologischen Sinn des bisherigen Ausbleibens der Parusie« geht (K.Erlemann, Naherwartung und Parusieverzögerung im Neuen Testament, Tübingen 1995 [TANZ 17] 168; Hervorhebung von mir); s. auch W.Schenk, Naherwartung und Parusieverzögerung: ThV 4 (1972) 47-69: 50.

50

Vgl. dazu Wolter, >Reich Gottes< (s.o. Anm. 29) 561f. - Die Offenheit der lukanischen Position in dieser Frage wird auch in einer anderen Gruppe von Texten erkennbar: Lk 12,35-48; 21,34-36 zeigen, daß er die Unbekanntheit des Termins der Parusie mit paränetischer Zielsetzung durchaus auch als Möglichkeit ihrer unmittelbaren Nähe explizieren kann, um Einstellungen zu korrigieren, die auf der Kalkulation mit länger währenden Fristen beruhen (s. auch 17,24-30). Damit ist aber auch klar, daß bei Lukas keineswegs Naherwartung schon als solche »für häretisch erklärt wird« (G. Klein, Art. Eschatologie IV: TRE 10 [1982] 270-299: 294): In 17,23 und 21,8 ist es lediglich die

416

Michael Wolter

2.2. Lukas bringt also an zwei wichtigen Schaltstellen seines Doppelwerkes die Verzögerungsthematik im Blick auf die am Heil Israels orientierte Naherwartung von Zeitgenossen Jesu ins Spiel. Daß beides in lukanischer Sicht unmittelbar miteinander zu tun hat, wird auch daran erkennbar, daß dieser Zusammenhang allererst durch Lukas hergestellt wurde: Lukas selbst hat die Exposition (V.ll) des aus der Logienquelle stammenden Gleichnisses von den anvertrauten Geldern (Lk 19,12-27 par. Mt 25,14-30) formuliert und ihm dadurch seinen redaktionellen Richtungssinn gegeben. Ebenso hat auch erst er durch die Ergänzung der in der Q-Fassung noch fehlenden Mitteilung, daß der άνθρωπος εύγενής »in ein fernes Land« zog (V.12), die Verzögerungsthematik in die Erzählung eingetragen. - Nichts anderes gilt auch für Act 1,6-8: Hier stammt wohl nur V.7 aus der Überlieferung51, während sowohl wiederum die Exposition (V.6) als auch die Geistverheissung und die Einweisung der Apostel in die Zeugenschaft »bis ans Ende der Erde« (V.8) durch Lukas selbst gebildet wurden. Ganz analog verfährt Lukas im übrigen auch in Lk 24,21-26: Er läßt die Emmausjünger die Enttäuschung ihrer ursprünglichen Hoffnung auf die Befreiung Israels durch den irdischen Jesus nur zu dem Zweck aussprechen (V.21), um diese Hoffnung als Bestandteil ihrer Fehleinschätzung von Gottes Heilsplan charakterisieren zu können (V.25f). Sofern sich diese Hoffnung auf das Wirken des Irdischen richtete, war sie vom Standpunkt der Leser aus gesehen natürlich längst anachronistisch. Festzuhalten bleibt aber, daß auch hier Jesu Antwort den inhaltlichen Aspekt dieser Hoffnung (die Befreiung Israels) in der Schwebe läßt.

Lk 19,11-27 und Act 1,6-8 (sowie implizit auch Lk 24,21-26) lassen somit erkennen, daß die Verknüpfung von Israelfrage und Verzögerungsthematik genuin lukanischem Redaktionsinteresse entspringt. Gerade dadurch wird aber auch um so auffälliger, daß es hier wie dort zwischen der jeweiligen Exposition (Lk 19,11; Act 1,6) und Jesu Antwort (Lk 19,12-27; Act 1,7-8) offenkundig knirscht: Eindeutig korrigiert wird in beiden Fällen die Naherwartung, was aber vom point of view der Leser aus eigentlich überflüssig ist. Die jeweils implizierte Sachfrage bleibt hier wie dort in der Schwebe: In beiden Fällen (und auch in Lk 24,25f) wird der inhaltliche Aspekt der Erwartung nicht zurückgewiesen, doch läßt Lukas das Gleichnis vom Thronprätendenten in Lk 19,27 mit einer massiven Gerichtsankündigung enden52 und gibt den Aposteln in Act 1,8 einen von Jerusalem wegführenden und über Israel hinausreichenden Verkündigungsauftrag. falsche Grundlage von Naherwartung, vor der Lukas warnt (s.auch Erlemann, Naherwartung [s.o. Anm. 49] 165f.l68f). 51

Vielleicht auch unmittelbar aus Mk 13,32, welchen Vers Lukas in seiner Fassung der Endzeitrede Jesu übergeht.

52

Vgl. dazu die gegen R.C.Tannehill gemünzte drastische Beschreibung bei Räisänen, Redemption (s.o. Anm. 9) 98: »Instead of a lingering hope< for the restoration of Israel, Luke confronts us with eschatological genocide«.

Israels Zukunft und die Parusieverzögerung bei Lukas

417

Es läßt sich nun zeigen, daß die Terminfrage durchaus mit der Sachfrage korreliert und daß Lukas gerade den - wieder vom point of view der impliziten Leser aus gesehen - anachronistischen Charakter der sich in Lk 19,11 und Act 1,6 artikulierenden Naherwartung zum Ausgangspunkt für die Beantwortung der Frage nach der Zukunft Israels macht.

3. Die »Hoffnung Israels« - eine Frage des zeitlichen Standorts 3.1. Wenn Diskussionen sich festgefahren haben, lohnt es sich bisweilen, darüber nachzudenken, ob nicht die Frage, die dem Diskussionsgegenstand zugrundeliegt, falsch gestellt ist bzw. auf falschen Voraussetzungen beruht. Die Berechtigung, auch im vorliegenden Fall die unausgesprochenen Voraussetzungen der Debatte auf den Prüfstand zu stellen, ergibt sich daraus, daß es nicht eigentlich eine lukanische Fragestellung ist, die verhandelt wird, sondern eine paulinische: Paulus, nicht Lukas, fragt, ob Gott sein Volk verworfen hat (Rom 11,1) bzw. ob die gegenwärtige Heilsferne des nicht-christusgläubigen Israel endgültig ist (11,11). Beide Fragen hat Paulus bekanntlich entschieden verneint und seiner Gewißheit Ausdruck gegeben, daß Gott sein Volk dereinst retten wird (11,25-27), weil Gottes »Gnadengaben« sowie sein »Ruf« unwiderruflich sind (11,28b-29) und seine Erwählung Israels nicht durch dessen Glaubensverweigerung dem Evangelium gegenüber suspendiert werden kann (s. auch Rom 3,1.6). Kennzeichnend für die Debatte um die lukanische Sicht der Zukunft Israels ist nun, daß sie auf beiden Seiten mehr oder weniger explizit ebenfalls im Lichte dieser Fragestellung geführt wird. Eine auch inhaltliche Leitfunktion übernehmen die paulinischen Ausführungen dabei vor allem bei denjenigen Autoren, die Lukas mit einer heilvollen Zukunft Israels rechnen sehen 53 : Beobachten läßt sich dies bereits bei A.v.Harnack 54 , und in jüngerer Zeit ist es bevorzugt die paulinische Ankündigung des am Ende der Tage »aus Zion« kommenden »Retters«, d.h. des für Israel bestimmten Parusiechristus, die auf Act 3,20f übertragen wird, wo Lukas Petrus das Wiederkommen des χ ρ ι σ τ ό ς Ί η σ ο ΰ ς mit der eschatologischen Verwirklichung der

53

Vgl. aber auch Haenchen, Judentum (s.o. Anm. 6) 157; Eltester, Israel (s.o. Anm. 8) 118f; Maddox, Purpose (s.o. Anm. 10) 43; Roloff, Apg (s.o. Anm. 10) 375; A.Weiser, Die Apostelgeschichte. II. Kapitel 13-28, Gütersloh/Würzburg 1985 (ÖTK 5/2) 683; Jervell, Treue (s.o. Anm. 7) 23.

54

A.v.Harnack, Die Apostelgeschichte, Leipzig 1908, 214: Lukas »(kann) ein Gedanke wie Rom. ll,25ff. doch nicht so fern gelegen haben«; vgl. dann auch George, Israel (s.o. Anm. 17) 525; Wiefel, LkEv (s.o. Anm. 17) 266; Haacker, Bekenntnis (s.o. Anm. 15) 446f; Chance, Jerusalem (s.o. Anm. 15) 132; Ravens, Luke (s.o. Anm. 15) 205ff; Fusco, Luke-Acts (s.o. Anm. 15) 6ff (s. auch ebd. 1 Anm. 1).

418

Michael Wolter

prophetischen Verheißungen verknüpfen läßt. 55 Zur Unterstützung dieser Sicht verweist H.Merkel in diesem Zusammenhang noch darauf, daß der Römerbrief Lukas wahrscheinlich bekannt gewesen sei. 56 Nun greift Lukas zwar nicht anders als Paulus auf das Motiv der Verstockung des Gottesvolkes zurück, um den »schier unbegreifliche(n)« 57 historischen Vorgang der Glaubensverweigerung Israels zu erklären, und in dieser Hinsicht gibt es darum durchaus eine Berührung zwischen ihm und Paulus. Das heißt jedoch noch lange nicht, daß auch die beiden rhetorischen Fragen von Rom 11,1.11 nach dem gegenwärtigen Status Israels vor Gott und seiner Zukunft Lukas untergeschoben werden dürfen, denn zwischen ihm und Paulus besteht eine qualitative Differenz, die eine solche Übertragung schlichtweg anachronistisch macht: der Abstand von mehr als 30 Jahren zwischen dem Römerbrief und dem lukanischen Doppelwerk aufgrund des Ausbleibens der Parusie. Es ist mithin nichts anderes als die Parusieverzögerung, die es Lukas unmöglich machte, in derselben Weise wie Paulus über >Israel< zu reden. Lukas kann sogar nicht einmal mehr in derselben Weise nach >Israel< und seiner Zukunft fragen, weil er aufgrund der fortgeschrittenen Geschichte einen ganz anderen Standort einnimmt und von ganz anderen Voraussetzungen auszugehen hat als Paulus: 3.2. Paulus rechnete auch im Römerbrief noch damit, daß die jetzt lebende Generation der Christen die Parusie erleben wird (vgl. 13,1 lf), und dasselbe gilt natürlich auch für die jetzt lebende Generation Israels. Das heißt dann aber gleichzeitig, daß diejenigen Angehörigen des Gottesvolkes, die sich aufgrund ihrer Verstockung (11,7.25) der Christusverkündigung bisher versagt haben, dieselben sind, mit deren Befreiung von den άσέβειαι und άμαρτίαι durch den von Zion kommenden Retter Paulus rechnet (11,26f)· 58 Die verstockte Generation Israels, die gegenwärtig lebende Ge-

55

In diesem Sinne behandelt F.Mußner Apg 1,6-8; 3,19-21 von Rom 11,26 aus (Traktat über die Juden, München 1979, 52-67 [64-67]); vgl. auch Müller, Entscheidung (s.o. Anm. 5) 527; Merkel, Israel (s.o. Anm. 11) 397f.

56

Merkel, Israel (s.o. Anm. 11) 397.

57

Ebd. 396.

58

Damit ist natürlich nicht gesagt, daß Paulus diese Rettung »an Jesus vorbei« erwartet (U.Kellermann, Jesus - das Licht der Völker: Kul 7 [1992] 10-27: 24). Dem von Paulus hier Gemeinten dürfte wahrscheinlich O.Hofius am nächsten kommen: »>Ganz Israe l kommt so zwar anders zum Heil als die Heidenchristen und der schon jetzt an Christus glaubende >RestIsraelJudentum< zurück. 79 Hiervon ist im gesamten lukanischen Doppelwerk nichts zu erkennen. Auf der anderen Seite treten die christlichen Gemeinden aber auch unübersehbar in die Geschichte der Erfüllung der Israel geltenden Verheißungen ein und kann Lukas den heilsgeschichtlich qualifizierten λαός-Begriff 8 0 auf Heidenchristen übertragen (Act 15,14; s. auch 18,10). Wir können den uneinheitlichen Quellenbefund vielleicht aber ein wenig transparenter machen, wenn wir zunächst die Fragestellung von der Ebene der denotativen Bedeutung des lukanischen Israel-Begriffs, auf der dieses Problem bisher immer diskutiert wurde, auf die Ebene der signifikativen Bedeutung verlagern. 81 Wir fragen also nicht danach, welche Gruppen Lu-

77

Mit eben diesem Interesse läßt Lukas Paulus auch mehrfach hervorheben, daß seine Christusverkündigung in der Kontinuität der eschatologischen Heilserwartung Israels steht und er paradoxerweise gerade deswegen angeklagt wird bzw. gefangen ist, weil er mit der Botschaft der Auferstehung Jesu die Erfüllung der Verheißung Gottes und der Hoffnung Israels verkündigt (vgl. Act 13,32f; 23,6; 24,25.21; 26,6-8; 28,20).

78

S. auch Lohfink, Sammlung (s.o. Anm. 32) 61.

79

So mit unterschiedlichen Akzentuierungen z.B. Conzelmann, Mitte (s.o. Anm. 21) 135; Haenchen, Apg (s.o. Anm. 6) 208; Eltester, Israel (s.o. Anm. 8) 121; Lohfink, Sammlung (s.o. Anm. 32) 55 u.ö. Mit den folgenden Ausführungen modifiziere ich meine in >Reich Gottes< (s.o. Anm. 29) 563 Anm. 89 formulierte Position.

80

Vgl. dazu H.Frankemölle, Art. λ α ό ς : EWNT II,843ff mit weiterführender Literatur.

81

Die Differenz wird gut erklärt in: Kleines Wörterbuch sprachwissenschaftlicher Fachausdrücke, hg.v. R.Conrad, Hanau 1984, 49: »Die signifikative B[edeutung] umfaßt die Bewußtseinsinhalte als Abbilder der Wirklichkeit (Vorstellungen, Begriffe), während unter denotativer B[edeutung] einer sprachlichen Einheit das tatsächlich gemeinte

Israels Zukunft und die Parusieveizögerung bei Lukas

425

kas als >Israel< bezeichnet, sondern danach, welche Vorstellung er von >Israel< hatte; die Stephanusrede (Act 7,1-53) und vor allem die paulinische Missionsrede im pisidischen Antiochien (13,16-41) geben hierüber hinreichend Auskunft: Demnach konstituiert sich die Identität Israels durch die besondere Qualität seiner Geschichte als einer immer nur von Gottes Handeln an ihm bestimmten Geschichte. Sie wurde durch Gottes Erwählung der Väter des λαός initiiert (13,17; s. auch 7,2f), und sie gewann ihre Kontinuität durch die nie abreißende Führung, Bewahrung und Rettung, die Gott seinem Volk in Erfüllung seiner Verheißungen zuteil werden ließ (7,4f.9f. 17; 13,17-19). Dazu gehören auch die Sendung und Einsetzung des »Führers und Retters« Mose (7,25.31-36.38; Zitat V.35), der Richter sowie der Könige Saul und David (13,20-22). Und wenn Paulus dann in 13,23 auf David unmittelbar Jesus folgen läßt und von ihm sagt, daß er aus Davids Nachkommenschaft stammt sowie Israel durch Gott κατ' έ π α γ γ β λ ί α ν als σωτήρ zugeführt wurde 82 , wird deutlich, daß für Lukas all diejenigen in der Kontinuität der Geschichte Israels stehen, für die dieser Jesus zum σωτήρ geworden ist 83 . Wenn von hier aus dann nach dem »Denotat« des Begriffs >Israel< gefragt wird, kann man darum nicht einfach sagen, daß Lukas mit ihm die christliche Kirche bezeichnet, denn Israel bleibt bei ihm immer eine diachrone heilsgeschichtliche Größe. 84 Gleichwohl setzt sich nach lukanischem Verständnis in den christusgläubigen Heiden und Juden die Geschichte Israels fort und ist die Kirche ganz ohne Zweifel integraler Bestandteil Israels. Darum darf sie sich auch als legitime Erbin der dem Gottesvolk geltenden Verheißungen ansehen. Dadurch wird aber auch verständlich, warum Lukas in der Vorgeschichte seines Doppelwerkes auf das Heil Israels bezogene, aber in seiner Gegenwart noch nicht eingelöste eschatologische Erwartungen laut werden lassen kann, ohne sie wie die in Lk 19,11; 24,21; Act 1,6 formulierten zu korrigieren: Die Hoffnungen, die Maria (Lk l,54f), Zacharias (1,68-75), Simeon Objekt der Wirklichkeit selbst zu verstehen ist. Ein gedankliches Abbild, das die signifikative B[edeutung] eines Zeichenkörpers ausmacht, heißt Designat (...), das Objekt der Wirklichkeit, auf das sich das Zeichen bezieht, Denotat (...).« - Ein Beispiel: Die Prädikation ό χριστός τοΰ θεοΰ in Lk 9,20 hat als Denotat die Person Jesu von Nazareth (nämlich als »Objekt der Wirklichkeit«), während ihr Designat, d.h. der Gegenstand der signifikativen Bedeutung, die mit dem Christus-Prädikat verknüpften messianischen Vorstellungen sind (nämlich als »Bewußtseinsinhalte«). 82

Vgl. natürlich auch Lk l,32f.54f.68-75; 2,11.25-32); s. dazu O'Fearghail, Israel (s.o. Arnn. 5) 25f.

83

Vgl. Act 2,40.47; 4 , 9 f . l 2 ; 5,31; 11,14; 13,26.38f; 15,11; 16,17.30f.

84

Vgl. auch Harvey, Israel (s.o. Anm. 5) 242: »The unity of the group named >Israel< is its history«; s.auch 244: »>Israel< is seen as a group with a history of involvement with a God whose typical activities are to be seen as operating through Jesus and his followers.«

426

Michael Wolter

(2,29-32) und Hanna (2,38) in den Mund gelegt werden, können eben gerade deshalb als Wiedergabe des impliziten Autorbewußtseins verstanden werden, weil sie als bisher noch unerfüllte Hoffnungen über die lukanische Gegenwart hinausweisen 85 und ihre Erfüllung nicht zu einem Zeitpunkt erwartet wurde, der vom lukanischen point of view aus gesehen in der Vergangenheit liegt. Sie bleiben damit offen für die Parusieverzögerung und die mit ihr sich vollziehende Krise und Neuformierung Israels. Der Sache nach undementiert bleiben darum auch die Erwartungen, die Lukas Jesu Gesprächspartner in Lk 19,11; 24,21; Act 1,6 aussprechen läßt. Das heißt: Lukas erwartete ohne jeden Zweifel, daß der Messias Jesu bei seiner Parusie in Erfüllung der prophetischen Verheißungen καιροί άναψύξεως für Israel bereiten wird (Act 3,20f), daß er Israel und Jerusalem befreien wird (Lk l,68ff; 2,38; 19,11; 24,21; wohl auch 21,24), daß er die Basileia für Israel wiederherstellen wird (Act 1,6) und daß er auf dem Thron Davids über das Haus Jakobs bis in Ewigkeit herrschen wird (Lk l,32f). Nur: zu Israel werden dann ganz andere gehören, und die Verteilung von Heil und Unheil wird sich an ganz anderen Kriterien orientieren, als es die in Lk 19,11; Act 1,6 ausgesprochene Naherwartung impliziert. 86 Das bisherige Ausbleiben der Parusie hat dieses Resultat in der lukanischen Gegenwart bereits für die Angehörigen der vergangenen Generationen festgeschrieben, und wenn Lukas trotzdem in den genannten Texten eine in seiner Zeit anachronistische Erwartung formulieren läßt - und das auch nur, damit sie auf der Stelle korrigiert werden kann -, so kann dies seinen Grund nur darin haben, jene Veränderung des traditionellen Verständnisses von Israel, das auch die Emmaus-Jünger erkennen lassen (Lk 24,21), vorzubereiten. Den Worten aus Hab 1,5, die Paulus am Schluß seiner Antrittsrede im pisidischen Antiochien zitiert, kommt von daher ein geradezu programmatischer Charakter zu, weil sie unverhüllt die Brisanz des Problems markieren, um dessen Lösung Lukas sich mit seiner Gesamtdarstellung bemüht. Sie könnten darum auch als Überschrift über dem gesamten lukanischen Doppelwerk stehen, insofern sie nämlich die in ihm erzählten πράγματα (Lk 1,1) als ein von Gott vollbrachtes Werk qualifizieren, »das ihr nicht glauben würdet, wenn man es euch erzählte« (Act 13,41b).

85

Vgl. auch U.Busse, Das »Evangelium« des Lukas. Die Funktion der Vorgeschichte im lukanischen Doppelwerk: Der Treue Gottes trauen (s.o. Anm. 7) 161-179: 172ff.

86

O'Fearghail, Israel (s.o. Anm. 5) 36 bringt dies auf die handliche Formel: »... in continuity there is discontinuity«.

Albert Schweitzers Interpretation des Galaterbriefs Ein Impuls für die heutige Paulus- und Actaforschung 1 v o n WERNER ZAGER

»Es tut so wohl, ruhig bei der Arbeit bleiben zu können und nicht aus seinem Stoff herausgerissen zu werden... Wenn ich denke, daß ich es mein ganzes Leben so haben könnte und es in meiner Macht läge zu den glücklichen Menschen zu gehören, die immer nur mit einer Sache beschäftigt sind ... aber es soll nicht so sein. Und es wird wohl so gut sein. Aber wenn ich in den Himmel komme, verlange ich, daß ich nur zu einer Arbeit herangezogen werde, Sterneputzen, Mondscheuern, Donnerraketenstopfen, der Mutter Gottes Tafelmusik machen oder was es sonst sei, meinetwegen auch die Predigten der Berliner Hofprediger für den lieben Gott stenographieren: aber nur eine Arbeit! Darauf werde ich bestehen, und wenn ich unhöflich werden sollte. In Hoffnung darauf will ich mir's hinieden so gefallen lassen.« 2 Diese Worte richtete Albert Schweitzer in einem Brief vom 23. Dezember 1906 an seine spätere Frau Helene Bresslau. So humoristisch sie auch klingen, werfen sie doch ein erhellendes Schlaglicht auf die Situation dieses vielbeschäftigten Mannes. Das Jahr 1906, aus dem auch seine Vorlesung über den Galaterbrief stammt, mit der wir uns heute insbesondere befassen wollen, ist bestimmt durch eine Fülle von ganz unterschiedlichen Tätigkeiten und literarischen Arbeiten, von denen ich nur die wichtigsten kurz benennen möchte: Im Januar hält Schweitzer die beiden Vorträge »Unsere Zeit und die Religion« sowie »Jesus und wir« 3 beim »Protestantischen liberalen Verein« in der Kirche St. Nicolai zu Straßburg, an der er seit 1899 zunächst als Lehrvikar und

Um Anmerkungen ergänzte Fassung meiner Antrittsvorlesung, gehalten am 10. Mai 1996 an der Ruhr-Universität Bochum (wiederholt als Gastvorlesung an der Universität Bern am 23. Juni 1997). A.Schweitzer, Brief an Helene Bresslau vom 23.12.1906: Albert Schweitzer - Helene Bresslau, Die Jahre vor Lambarene. Briefe 1902-1912, hg.v. Rh.Schweitzer Miller/G. Woytt, München 1992, 162f. Diese Vorträge werden innerhalb der im Erscheinen begriffenen Nachlaßausgabe veröffentlicht werden: Albert Schweitzer, Werke aus dem Nachlaß. VII. Vorträge und Aufsätze, hg.v. C.Günzler/U.Luz/J.Zürcher. Ein Plakat, das seinerzeit für die drei »Religiösen Vorträge« - den dritten Vortrag übernahm Pfarrer August Ernst zum Thema: »Wir und die Kirche« - warb, ist wiedergegeben in: H.Steffahn, Albert Schweitzer in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 2 1 9 8 1 , 72.

Werner Zager

428

nach bestandener zweiter theologischer Prüfung als Vikar wirkt 4 . Zu seinen A u f g a b e n als Vikar zählen die Gottesdienste am Sonntagnachmittag, die sonntäglichen Kindergottesdienste und der Konfirmandenunterricht 5 . N e b e n seinem kirchlichen Dienst k o m m t er seinen Verpflichtungen als Privatdozent für N e u e s Testament an der Straßburger Evangelisch-theologischen Fakultät nach. S o stehen im Sommersemester 1 9 0 6 ein einstündiges »Colleg über den Galaterbrief« 6 und im Wintersemester 1 9 0 6 / 0 7 ein - ebenfalls einstündiges »Publikum über T a u f e und Abendmahl« 7 auf seinem Programm. Während er im Februar 1 9 0 6 sein Buch »Von Reimarus zu Wrede« 8 - besser bekannt unter d e m späteren Titel »Geschichte der Leben-Jesu-Forschung« 9 - abschließen k a n n 1 0 , beginnt er alsbald, sich in die Geschichte der Paulusforschung einzuarbeiten 1 1 . A m Ende dieser Arbeit steht Schweitzers Monographie »Geschichte der Paulinischen Forschung« 1 2 , die im Jahre 1911 im Druck erscheint. Aber bereits in der Galaterbriefvorlesung kann der 31jährig e Privatdozent »die Grundgedanken der eschatologischen Erklärung der 4

Vgl. A.Schweitzer, Aus meinem Leben und Denken. Mit einem abschließenden Kapitel »Die weiteren Jahre« (1931-1965) von R.Grabs, Hamburg 1980, 25f.

5

Vgl. ebd. 26f.

6

So lautet der Titel des ersten der beiden Kolleghefte (Signatur nach der Inventarliste der Zentralbibliothek Zürich: Doss. 40 Anh. 6, Nr. 13/14); auf dem zweiten heißt es hingegen: »Erklärung des Galaterbriefs«. - Herrn Prof. Dr. Erich Gräßer danke ich herzlich für die zeitweise Überlassung von Albert Schweitzers Kollegheften, die ich mit Gewinn studieren durfte.

7

Vgl. W.Zager, Albert Schweitzers Anleitung zu selbständiger exegetischer Arbeit. Kleine Lesefrüchte aus den Kollegheften Albert Schweitzers: ZNW 85 (1994) 286-289: 287 Anm.4.

8

A.Schweitzer, Von Reimarus zu Wrede. Eine Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen 1906 (hervorgegangen aus einer zweistündigen Vorlesung mit dem Titel: »Die wissenschaftliche Forschung über das Leben Jesu seit D.F.Strauss« im Sommersemester 1905; s. E.Gräßer, Albert Schweitzer als Theologe, Tübingen 1979 [BHTh 60] 64 Anm. 2. 89f; vgl. Schweitzers Angebot seines Manuskripts an den Verlag J.C.B.Mohr in Tübingen in einem Brief aus dem Jahre 1905: Albert Schweitzer. Leben, Werk und Denken 1905-1965. Mitgeteilt in seinen Briefen, hg.v. H.W.Bahr, Heidelberg 1987, 14; Schweitzer, Leben und Denken [s.o. Anm. 4] 38f).

9

A.Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen 1913 (zuletzt erschienene Ausgabe: Tübingen, 9 1984 (UTB 1302) = Nachdr. der 7. Aufl. von 1966; mit Text der 2. Aufl. von 1913, der neuen Vorrede des Verfassers zur 6. Aufl. von 1951 u. der Einführung von J.M.Robinson zur 7. Aufl.).

10

Vgl. A.Schweitzer, Brief an Helene Bresslau vom 13.2.1906 - Nachtrag vom 16.2.1906: A.Schweitzer - H.Bresslau, Briefe (s.o. Anm. 2) 129.

11

Vgl. A.Schweitzer, Brief an Helene Bresslau vom 6.6.1906: ebd. 144f: 144; ders., Leben und Denken (s.o. Anm. 4) 99.

12

A.Schweitzer, Geschichte der Paulinischen Forschung von der Reformation bis auf die Gegenwart, Tübingen 1911, 2 1933.

Albert Schweitzers Interpretation des Galaterbriefs

429

[...] paulinischen Lehre vom Sein in Christo und vom Gestorben- und Auferstandensein mit ihm« vortragen 13 - Grundgedanken, die er in seinem exegetisch wohl bedeutendsten Werk »Die Mystik des Apostels Paulus« 14 entfalten wird, das er vor seiner Ausreise nach Afrika im Jahre 1913 nicht mehr druckfertig machen konnte und - bedingt durch den Einsatz in Lambarene und die Ausarbeitung der beiden ersten Bände der Kulturphilosophie erst im Jahre 1930 publiziert wurde 15 . Bis zum Frühjahr 1906 bekleidet Schweitzer das Amt des Direktors des Thomasstifts in Straßburg. Dieses Amt gibt er auf, damit er sich intensiver seinem Medizinstudium zuwenden kann, das er im Wintersemester 1905/06 aufgenommen hatte 16 , um sich auf sein späteres Wirken in Afrika vorzubereiten. Daneben widmet er sich regelmäßig und engagiert dem Orgelspiel 17 . Ebenfalls im Jahr 1906 erscheint seine Schrift »Deutsche und französische Orgelbaukunst und Orgelkunst« 18 . Und als er die eingangs zitierten Briefzeilen zu Papier bringt, ist er gerade mit der deutschen Ausgabe seines Buches über Johann Sebastian Bach 19 beschäftigt. In diese Schaffensperiode hinein fallt also nun Schweitzers Vorlesung über den Galaterbrief, mit der wir uns heute auseinandersetzen werden. Er hielt diese Vorlesung im Sommersemester 1906, jeweils donnerstags von 16 bis 17 Uhr, an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Kaiser-WilhelmUniversität in Straßburg20. 13

Siehe Schweitzer, Leben und Denken (s.o. Anm. 4) 100.

14

A.Schweitzer, Die Mystik des Apostels Paulus, Tübingen 1930 (Neudr. der 1. Aufl. Mit einer Einführung von W.G.Kümmel, Tübingen 1981 [UTB 1091]).

15

Vgl. Schweitzers Vorrede, ebd. VII-X.

16

Vgl. Schweitzer, Leben und Denken (s.o. Aran. 4) 86.88.

17

»Ich will Ihnen sagen, weshalb ich heute morgen so blaß war: eine Leidenschaft zehrt an mir. Ich habe wieder angefangen, regelmäßig Orgel zu üben. Gestern habe ich zwei Stunden gespielt, von 5 - 7 Uhr. Es ist eine Leidenschaft, die mich auffrißt. [...] Noch einmal möchte ich ein perfekter Organist sein! Ach, wie liebe ich dieses Instrument, mein Instrument in St. Nicolai ... jede Orgel!« (aus: A.Schweitzer, Brief an Helene Bresslau vom 21.5.1906: A.Schweitzer - H.Bresslau, Briefe [s.o. Anm. 2] 141f).

18

Vgl. Schweitzer, Leben und Denken (s.o. Aran. 4) 61 mit Anm. 1.

19

Auf Anregung von Charles Marie Widor begann Schweitzer im Herbst 1902 mit einem französischen Werk über J.S.Bach (J.S.Bach, le musicien-po&e, Paris/Leipzig 1905). Vom Sommer des Jahres 1906 an ging er an die Ausarbeitung des umfangreicheren »deutschen Bach« (J.S.Bach, Leipzig 1908 - letzte Ausgabe: Wiesbaden 11 1990). Vgl. dazu Schweitzer, Leben und Denken (s.o. Anm. 4) 52-60.

20

Auf dem Deckblatt seines ersten Kollegheftes hat Schweitzer eingetragen: »Sommersemester 1906. Colleg über den Galaterbrief!,] Donnerstag 4-5. Einstündig. Lie. Dr. Albert Schweitzer!,] Privatdozent an der K. W. Universität!·] Thomasstaden 1«. Zwar mußte Schweitzer nach der Aufgabe seines Amtes als Stiftsdirektor seine Dienstwohnung im Thomasstift verlassen. Aber sein Freund Friedrich Curtius, der Präsident

430

Werner Zager 1. Der Aufbau

von Schweitzers

Galaterbriefvorlesung

Seiner A u s l e g u n g des Galaterbriefs stellt Schweitzer eine »Orientierung über den Paulinismus und die Bedeutung des Galaterbriefes« voran. Anhand des Galaterbriefs bestimmt er hier das W e s e n der paulinischen T h e o l o g i e als »eschatologische Mystik« 2 1 . Bevor dann die E i n z e l e x e g e s e erfolgt, werden zunächst noch die Einleitungsfragen behandelt, also die Fragen nach Ort und Zeit der A b f a s s u n g des Galaterbriefs und nach den Adressaten. In die versw e i s e v o r g e h e n d e Auslegung sind eine Reihe v o n Exkursen eingestreut, die folgenden T h e m e n g e w i d m e t sind: »Vergleich z w i s c h e n Gal 2 und A c t 15«, d . h . die unterschiedliche Darstellung des Apostelkonvents in Jerusalem durch Paulus und den Verfasser der Apostelgeschichte, »Die Jerusalemreise Act 11« und damit das Problem der Anzahl der Jerusalemreisen des Paulus, »Gesetz und S ü n d e und Rechtfertigung«, »Juridische [und] - Ethische Erlösungslehre« b z w . »mystische« Erlösungslehre (Schweitzer gibt letzterem Begriff den V o r z u g 2 2 ) , »Theorie v o m N e u e n Jerusalem« und schließlich e i n kleinerer Exkurs z u m Phänomen der »Stigmatisation« - ausgehend v o n Gal 6 , 1 7 , w o Paulus v o n sich sagt, er trage die σ τ ί γ μ α τ α τ ο ΰ Ί η σ ο ΰ an seinem Leib. Außerdem gewährt Schweitzer seinem Auditorium einen Einblick in die Forschungsgeschichte unter d e m Titel: » D i e Bedeutung der der lutherischen Kirche des Elsaß, stellte ihm vier kleine Zimmer im Giebelgeschoß seiner eigenen Amtswohnung zur Verfügung, die im anderen Flügel desselben Gebäudes am Thomasstaden lag (vgl. Schweitzer, Leben und Denken [s.o. Anm. 4] 86f; A.Schweitzer - H.Bresslau, Briefe [s.o. Anm. 2] 377 Anm. 5). Schweitzers Anschrift änderte sich daher durch den Umzug nicht, der am 27. Februar 1906 erfolgte (vgl. A.Schweitzers Brief vom 26.2.1906 an Helene Bresslau, ebd. 129f; hier sind die eindrucksvollen Worte zu lesen: »Und jetzt gehe ich ruhig, nachdenklich und lächelnd ... hinaus ins Leben, wie es mir bestimmt ist. Ich fühle und weiß, daß ich hier nicht der geworden wäre, der ich werden muß, ein Mensch, der sich ins Leben stürzt und dort alles gibt, was er in sich hat, welches auch sein Los sei... [...] Was ist also aus diesem Menschen geworden, der hier seine Tage beschließen wollte, träumend unter diesem Baum [Schweitzer spricht auch von »meinem Baum«, auf den er von seinem Arbeitszimmer aus blickte und zu dem er eine innere Beziehung hatte, W.Z.]? aus diesem Künstler-Mönch... Tot und begraben! Mir scheint es, als hätte ich ihn nie gekannt, so fremd ist er mir. Jetzt fühle und verstehe ich, was das bedeutet: < Ist jemand in Christo, so ist er eine neue Kreatur. > Wie doch die Werte sich wandeln« [ebd.]). 21

A.Schweitzer, Einleitung zur Exegese. Orientierung über den Paulinismus und den Galaterbrief [und den 1. Thessalonicherbrief], (Sommersemester 1906): ders., Werke aus dem Nachlaß. II. Straßburger Vorlesungen, hg.v. E.Gräßer/J.Zürcher, München 1997, 504-522: 522. [Dieser Band befand sich zur Zeit der Drucklegung dieses Aufsatzes ebenfalls noch im Druck; die jeweils angegebenen Seitenzahlen können sich darum geringfügig verschieben; W.Z.]

22

»besser: mystische [sc. Erlösungslehre]! denn das ethische nur daraus hervorgeht« (A.Schweitzer, Erklärung des Galaterbriefs. Sommer 1906, Hefit II, 6 [1.]; Paginierung der beiden Kolleghefte durch Johann Zürcher: jede Doppelseite wird als eine Seite gezählt, 1. = links - r. = rechts).

Albert Schweitzers Interpretation des Galaterbriefs

431

zwei ersten Capitel des Galaterbriefes in den Studien über Paulinismus und Urchristentum«23. Dabei stellt er der Besprechung der Sekundärliteratur jeweils eine Kurzbiographie des betreffenden Exegeten voran. A m Ende seiner Vorlesung 24 gibt Schweitzer den Studierenden noch einige beherzigenswerte Ratschläge über die »Art des Arbeitens«, d.h. des selbständigen exegetischen Forschens, mit auf den W e g , über die ich mich bereits an anderer Stelle geäußert habe 25 .

23

Offenbar präzisierend hat Schweitzer darüber geschrieben: »Die Entdeckung und kritische Verwertung des Problems Gal 2, Act 15 in der wissenschaftlichen] Darlegung!?]«. - Innerhalb dieses forschungsgeschichtlichen Teils werden nahezu alle Titel der Paulusliteratur genannt und zumeist auch mehr oder minder ausführlich besprochen, die Schweitzer in seinem 1911 erschienenen Buch Geschichte der Paulinischen Forschung (s.o. Anm. 12) in den ersten fünf Kapiteln behandelt hat (»I. Die Anfange der wissenschaftlichen Forschung«, »II. Baur und seine zeitgenössischen Kritiker«, »III. Von Baur zu Holtzmann«, »IV. H.J.Holtzmann«, » V . Unechtheits- und Ueberarbeitungshypothesen«). Diesem Buch wiederum liegt die Vorlesung »Die wissenschaftliche Erforschung des Paulinismus« zugrunde, die Schweitzer im Wintersemester 1910/11 gehalten hat. Um vor Augen zu führen, daß sich Schweitzers Beurteilung der Sekundärliteratur über die Folgejahre durchgehalten hat, seien einige markante Äußerungen aus der Galaterbriefvorlesung zitiert: Zu Ferdinand Christian Baurs Werk Paulus, der Apostel Jesu Christi (Stuttgart 1845, 21866/67), bemerkt Schweitzer: »Was für eine herrliche Schrift! Da sind wir doch alle Epigonen!« (Schweitzer, Galaterbrief, Η. I [s.o. Anm. 20] 41 [r.]). Den zweiten Band des Lehrbuchs der Neutestamentlichen Theologie seines Lehrers Heinrich Julius Holtzmann (»Ueber den Paulinismus«: S. 1-225), das »eine Periode [sc. der Forschung] abschliesst«, kritisiert er als »etwas ganz Uneinheitliches und Unbefriedigendes« (ebd. 52 [r.]). Und Adolf Hilgenfelds Wort: »>[Der] Galaterbrief ist der archimedische Punkt, von dem aus allein die Aufgabe der neutestamentlichen Kritik gelöst werden kannSchnelldurchgangum der Juden willen, die an jenem Ort waren.< Act 16/3. Das wird gleich nach dem Apostelconvent erzählt.« 38 Schweitzer ist also der Meinung, daß Lukas um der Idealisierung der Geschichte des frühen Christentums willen - man denke nur an die Summarien in der Apostelgeschichte 39 sowohl die Infragestellung der Mahlgemeinschaft zwischen Juden- und Heidenchristen von seiten der Jakobusleute in Antiochia und den dadurch entstandenen Konflikt zwischen Paulus und Petrus als auch das Auftreten der Judaisten mit ihrer Beschneidungsforderung in den galatischen Gemeinden bewußt verschwiegen habe. Eben aus diesem Grund »übergeht« - Schweitzer zufolge - der Autor der Apostelgeschichte »auch die Gemeindegründung in Galatien und berichtet ganz einfach >und sie zogen durch das galatische Land am ehesten gemeint: nach Jerusalem; und dieses liegt in der Tat höher als Antiochia« (Die Heilige Schrift des Alten und des Neuen Testaments [Zürcher Bibel]. 2. Teil. Das Neue Testament, Stuttgart 1972 [= Zürich 1942], 179 Anm. 1).

55

H.J.Holtzmann, Die Synoptiker. - Die Apostelgeschichte, Freiburg i.Br. 1889 (HC 1) 395f.

56

Vgl. E.Haenchen, Die Apostelgeschichte, Göttingen 7 1977 (KEK 3) 522.525f; J.Roloff, Die Apostelgeschichte, Göttingen 1981 (NTD 5) 276f; A.Weiser, Die Apostelgeschichte. II. Kapitel 13-28, GüterslohAVürzburg 1985 (ÖTK 5/2) 497-502.

Albert Schweitzers Interpretation des Galaterbriefs

437

die mit Schweitzer übereinstimmen. Ich nenne Gustav Stählin 5 7 , Walter Schmithals 5 8 und Rudolf P e s c h 5 9 . Dabei ist sich Schweitzer durchaus der Schwierigkeit bewußt, daß die A n n a h m e eines dritten Jerusalemaufenthalts des Paulus v o r d e s s e n dritter Missionsreise in Spannung steht zu d e n A n g a ben in den b e i d e n ersten Kapiteln des Galaterbriefs, w o n a c h Paulus nur zweimal in Jerusalem g e w e s e n sei - drei Jahre nach seiner Bekehrung und 14 Jahre später z u m A p o s t e l k o n v e n t 6 0 . A u f diesen Einwand antwortet Schweitzer z u m einen mit d e m H i n w e i s , »dass P[au]l[u]s nicht für die späteren Verfasser v o n Commentaren schriebt,] sondern für Galater[,] und d i e s e n gegenüber das Selbstverständliche nicht zu erwähnen b r a u c h t e ] « 6 1 . Z u m anderen drehte sich der Streit mit den Gegnern in Galatien nur darum, o b

57

G.Stählin, Die Apostelgeschichte, Göttingen 6 1978 (NTD 5) 248f.

58

W. Schmithals, Die Apostelgeschichte des Lukas, Zürich 1982 (ZBK.NT 3/2) 170.

59

R.Pesch, Die Apostelgeschichte. II. Apg 13-28, Zürich u.a./Neukirchen-Vluyn 1986 (EKK V/2) 154-158. - Pesch gibt eine plausible Erklärung für die Reisen des Paulus nach Jerusalem und Antiochia: Paulus wollte »nach seinen großen missionarischen Erfolgen in Galatien, Mazedonien und Achaia« die Verbindung der von ihm gegründeten Gemeinden mit Jerusalem als dem »Vorort der Judenmission« und Antiochia als dem »Vorort der Heidenmission« herstellen »und so die Einheit der entstehenden Kirche befestigen« (157f). Gegen Pesch (154-157) wird man aber auf die Auslösung eines Gelübdes als weiteres Motiv für die Jerusalemreise verzichten müssen. Denn mit A.Weiser ist in Act 18,18 die Notiz vom Scheren des Haupthaares in Kenchreä aufgrund eines Gelübdes als redaktioneller Zusatz des Lukas zu werten (vgl. Weiser, Apg II [s.o. Anm. 56] 497f).

60

Vgl. Schweitzer, Galaterbrief, Η. I (s.o. Anm. 20) 21 (r.). - Zum Nachweis der Ungeschicklichkeit der Jerusalemreise in Act 11,27-30 vgl. G.Strecker, Die sogenannte zweite Jerusalemreise des Paulus (Act 11,27-30): ZNW 53 (1962) 67-77.

61

Schweitzer, Galaterbrief, Η. I (s.o. Anm. 20) 21 (r.). - Auch sonst finden sich in Schweitzers Galaterbriefvorlesung humorvolle oder ironische Äußerungen, von denen einige Kostproben gegeben werden sollen: [zu Gal 1,6] »άπό t o ü κ α λ έ α α ν τ ο ς . Ob Pls? Ich ja! Obwohl sonst κ α λ ε ϊ ν bei ihm immer auf göttliche Berufung. [...] Aber wenn Sie gefragt werden: auf wen κ α λ ε ϊ ν Gal 2,6 [richtig: 1,6]: antworten Sie: nur auf Gott! Dann gelten Sie für weise. Bei sich können Sie denken, dass es möglicherweise auf Pls selbst geht« (ebd. 23 [r.]). [zu Gal 1,17] »Jetzt beginnen die Schwierigkeiten. Arabien! Man sagt[,] die Gegenden sind östlich von Damaskus[,] wurden damals zu Arabien gerechnet! Wir wollen's annehmen! Weil man Angst hat[,] Paulus zu weit reisen zu lassen! Warum? Hlst [sc. Carl Holsten; offenbar mit Bezug auf dessen Buch: Zum Evangelium des Paulus und des Petrus. Altes und Neues, Rostock 1868, 270f]: >Um in stiller Sammlung des Geistes der ihm gewordenen Offenbarung nachzudenken^ Sehr schön. Aber wo steht etwas darüber!?]« (ebd. 27 [r.]). »Gal 2,15-21 geht Rede des Paulus an Petrus fort; oder Brief. Erst 4/1 [richtig: 3/1] wieder an die Galater. (In [sie!] Examen an Knöpfen abzählen, und die so gewonnene Einsicht mit aller Weisheit zu verteidigen, die die Wichtigkeit der Sache verdient.)« (ebd. Η. II [s.o. Anm. 22] 1 [r.]).

438

Werner Zager

Paulus, ehe er die Galater »zum ersten Mal besuchte, in seinem Apostelamt die Bestätigung der Urgemeinde zu Jerusalem, wie die Gegner behaupteten, nachgesucht und erhalten hatte« 62 . Ob er sich noch ein weiteres Mal in Jerusalem vor seinem zweiten Besuch bei den Galatern aufgehalten hatte, war dagegen nicht von Interesse und ihnen wohl auch bekannt. Ähnlich wie bei der *trockene[n] Constatierung über den Aufenthalt zu Antiochia« in Act 18,23 läßt Schweitzer »die Kürze[,] mit der [unmittelbar zuvor] des Aufenthalts in Jerusalem gedacht wird, [...] vermuten, dass es auch dort etwas temperamentvoll zugegangen ist und dass Petrus dann nach Antiochien heruntergezogen ist[,] nicht um eine Plaisirtour zu machen, sondern um den Paulus unter die Botmässigkeit zurückzubringen, was ihm nicht gelang« 63 . Ob freilich Schweitzer die Rolle des Petrus hier zutreffend einschätzt, muß offenbleiben. Wie wir aus dem Galaterbrief erfahren, lebte doch dieser zunächst in voller Gemeinschaft mit den Heidenchristen in Antiochia, bevor die Jakobusleute kamen 64 . Man müßte dann im Sinne Schweitzers annehmen, daß Petrus - ungeachtet seiner Beauftragung - anfangs »durch die freie Art der Heidenapostel mitgerissen« wurde, während er sich möglicherweise an die »unbedenkliche und sorglose Art Jesu« erinnerte, »der sich seinen Verkehr nicht nach den Forderungen der Schriftgelehrten gesucht hatte« 65 . Wie Schweitzer behauptet, wurden von Seiten der Urapostel und insbesondere des Herrenbruders Jakobus als Reaktion auf die Ereignisse in Antiochia »Agitatoren« in das gesamte Missionsgebiet des Paulus - also auch nach Galatien - entsandt, um die Heidenchristen zur Annahme des jüdischen Gesetzes und der Beschneidung zu nötigen 66 . Die Frage, ob damit die geschichtliche Wirklichkeit in der nötigen Differenziertheit erfaßt ist, läßt sich jedenfalls nicht so leicht abweisen. Denn während die Jakobusleute in Antiochia von den Heidenchristen weder die Einhaltung der jüdischen Speisegebote noch die Annahme der Beschneidung forderten, sich damit also durchaus in Übereinstimmung mit der auf dem Apostelkonvent getroffenen Vereinbarung 67 wissen durften, drängten die Eiferer aus dem Judenchristentum die heidenchristlichen Galater zur Beschneidung 68 . Jedoch wird man diese Judaisten theologisch und religiös auch nicht allzuweit von

62

Schweitzer, Galaterbrief, Η. I (s.o. Anm. 20) 21f (r.).

63

Ebd. 18 (r.).

64

Vgl. Gal 2,12.

65

Siehe J.Weiß, Das Urchristentum, hg. u. erg.v. R.Knopf, Göttingen 1917, 205; vgl. auch Ch.Heil, Die Ablehnung der Speisegebote durch Paulus, Weinheim 1994 (BBB 96) 109-115.

66

Vgl. Schweitzer, Galaterbrief, Η. I (s.o. Anm. 20) 18 (r.); ders., Mystik (s.o. Anm. 14)44.155.

67

Vgl. Gal 2,6-10.

68

Vgl. Gal5,2.11f; 6,12f.

Albert Schweitzers Interpretation des Galaterbriefs

439

Jakobus abrücken dürfen. Jürgen Becker ist zuzustimmen, wenn er mit einer Verhärtung des Standpunkts des Herrenbruders nach dem Apostelkonvent rechnet 69 . Betrachtete dieser nämlich nun die gesetzesfreien Heidenchristen bloß als geduldete Ausnahme, die auf die Gesetzespraxis der Judenchristen stets Rücksicht zu nehmen haben 70 , dann zwang er sie de facto, Juden zu werden, wenn sie in seinen Augen als wirkliche Christen gelten wollten. Es kommt hinzu, daß der in Antiochia erfolgte Bruch zwischen Paulus und den Jakobusleuten Wasser auf die Mühlen der Gesetzesstrengen in der Jerusalemer Urgemeinde bedeutete und deren Einfluß auf Jakobus eher noch verstärkte. Somit scheint Schweitzer die Ereignisse der damaligen Zeit im großen und ganzen richtig einzuschätzen. Allerdings wird man mit Hans-Joachim Schoeps die in Galatien auftretenden Agitatoren als »Sendboten der Jerusalemer Extremisten, der ζηλωται τοϋ νόμου von Acta 15,5« ansehen müssen71 und nicht als Sendboten des Jakobus bzw. der Urapostel, wie Schweitzer annimmt. Daß Paulus nicht auf dem kürzesten Weg mit dem Schiff von Antiochia nach Ephesus zurückgekehrt ist, erklärt Schweitzer aus der von Jerusalem ausgehenden judenchristlichen Agitation 72 . Wegen dieser mußte Paulus »die zweite Missionsreise noch einmal machen«73. Dabei stellt Schweitzer prägnant die Tendenz heraus, die die Apostelgeschichte verfolgt: »Es waren die ereignisreichsten und inhaltsreichsten Monate seiner [sc. des Paulus] Wirksamkeit ... und die Apostelgeschichte geht mit zwanzig dürren Worten darüber hinweg, weil sie es eben nicht erzählen kann. Sie will nicht Geschichte, sondern >Kirchengeschichte< geben«74, Kirchengeschichte verstanden als vom heiligen Geist gelenkte und durchdrungene Geschichte, im Unterschied zur profanen Geschichte mit all ihren menschlichen Unzulänglichkeiten. Und solche Art Kirchengeschichtsschreibung zeigt sich für Schweitzer an einem Satz wie Act 18,23, der erkennen läßt, wie der Acta-Verfasser »mit den Euphemismen umzugehen weiss«75: »>Und Paulus durchwanderte nach einander das galatische Land und Phrygien und stärkte alle Jüngerstärkte< bedeutete, dass er es nämlich versuchtet,] der Jerusalemitische[n] Sendlinge Herr zu werden, und 69

Vgl. Becker, Paulus (s.o. Anm. 32) 99f.

70

Vgl. ebd. 100; s. auch E.P.Sanders, Paulus. Eine Einführung, Stuttgart 1995, 69.

71

Siehe HJ.Schoeps, Paulus, Tübingen 1959, 62. - Im Gegensatz zu Schoeps (ebd.) sind aber die Jerusalemer Gesetzeseiferer nicht mit den Jakobusleuten von Gal 2,12 gleichzusetzen (s.o.).

72

Vgl. Schweitzer, Galaterbrief, Η. I (s.o. Anm. 20) 18f (r.).

73

Ebd. 19 (r.).

74

Ebd. - Mit den »zwanzig dürren Worten« meint Schweitzer offenbar Act 18,22b.23a.

75

Ebd.

440

Werner Zager

gerade in Galatien vergebens, denn sonst hätte er nachher diesen Brief nicht zu schreiben brauchen. Man hat den Eindruck, dass er geradezu aus diesen Gemeinden fliehen musste und nun auf der Reise oder dann in Ephesus diesen Brief schrieb, um es zum letzten Mal zu versuchen^] etwas bei ihnen auszurichten [...]« 76

3. Schweitzers Vergleich zwischen Gal 2 und Act 15 In seiner Galaterbriefvorlesung charakterisiert Schweitzer in der Nachfolge von Ferdinand Christian Baur 77 die Apostelgeschichte als »Tendenzdarstellung«. Dieses Urteil spricht er aber anders als Baur 78 auch über den Galaterbrief 79 . Was das konkret bedeutet, zeigt sich sehr schön an Schweitzers Vergleich der Darstellung des Apostelkonvents einerseits durch Paulus in Gal 2 und andererseits durch Lukas in Act 15 80 . Als nach Act 15 in der christlichen Gemeinde von Antiochia durch »Agitatoren von Judaea« wegen der Beschneidungsfrage Unruhen hervorgerufen werden, entsendet die Gemeinde Paulus, Barnabas und einige andere nach Jerusalem, »um sich Recht zu verschaffen« 81 . Nach Gal 2 dagegen erfolgt »die Reise auf Grund einer Offenbarung ohne vorherige Kämpfe in Antiochien« 82 . »Freilich« - so räumt Schweitzer ein - »lässt sich nicht ermessen, ob diese durch Stillschweigen ganz ausgeschlossen sind, denn P[au]l[u]s redet ja auch von falschen Brüdern, die sich herbeigeschlichen haben, um die Freiheit auszukundschaften« 83 . Während man in der gegenwärtigen Forschung meist annimmt, daß die Auseinandersetzungen um die Beschneidung 76

Ebd.

77

Vgl. F.Ch.Baur, Paulus, der Apostel Jesu Christi. Erster Theil, hg.v. E.Zeller, Leipzig 2 1866, 119f.134-136.147f; ders., Geschichte der christlichen Kirche. I. Kirchengeschichte der drei ersten Jahrhunderte, Tübingen 3 1863, 125-129; s. weiterhin Schwegler, Zeitalter (s.o. Anm. 48) 11,98-115. - Vgl. dazu Wechsler, Geschichtsbild (s.o. Anm. 50) 45-54.56-62; hinsichtlich Schweitzers Verhältnis zu F.Ch.Baur s. E.Gräßer, Das theologische und ethische Erbe Albert Schweitzers: Wissenschaft und Kirche. FS Eduard Lohse, Bielefeld 1989 (TAzB 4) 212-224: 215.

78

Vgl. Baur, Paulus (s.o. Anm. 77) 120: »Es versteht sich doch gewiss von selbst, dass da der Apostel hier ganz als Augenzeuge und mithandelnde Person in seiner eigensten Sache auftritt, auch nur seine Darstellung als die authentische gelten kann.«

79

Siehe Schweitzer, Galaterbrief, Η. I (s.o. Anm. 20) 33 (r.); vgl. auch W.Wrede, Paulus, Halle 1904 (RV 1/5-6) 42f.

80

Zur Gleichsetzung der in Gal 2 und Act 15 berichteten Ereignisse vgl. Mußner, Gal (s.o. Anm. 28) 127-132; Kümmel, Einleitung (s.o. Anm. 28) 263f.

81

Siehe Schweitzer, Galaterbrief, Η. I (s.o. Anm. 20) 33 (r.).

82

Ebd.

83

Ebd.

Albert Schweitzers Interpretation des Galaterbriefs

441

bereits in Antiochia b e g o n n e n haben 8 4 , ist Schweitzer der M e i n u n g , daß »der Kampf erst in Jerusalem losgeht« 8 5 . Unabhängig davon, w i e die historische Sachfrage beantwortet werden muß, ist f o l g e n d e s klar: Paulus w o l l t e hinsichtlich seines Entschlusses, nach Jerusalem zu reisen, s e i n e Unabhängigkeit v o n jeglicher menschlicher Autorität herausstellen - o b nun in Antiochia oder in Jerusalem 8 6 . Bei der Frage, w i e eine Einigung zustande kam z w i s c h e n Paulus und seinen Begleitern auf der einen Seite und Jakobus, Petrus und Johannes a u f der anderen Seite, stellt Schweitzer z w i s c h e n d e m Galaterbrief und der A p o s t e l geschichte eine w i c h t i g e D i f f e r e n z heraus: »In Act [ 1 5 , 7 - 1 1 ] w e i s t Petrus in seiner Rede darauf hin, dass er selber ja schon Heiden getauft habe« 8 7 nämlich den römischen Hauptmann Cornelius und dessen g a n z e s Haus, w o v o n das 10. Kapitel der Apostelgeschichte ausführlich erzählt. G e m ä ß A c t 1 1 , 1 - 1 8 rechtfertigt Petrus in Jerusalem sein Verhalten, woraufhin d i e G e meinde Gott preist, »indem sie anerkennt, dass Gott auch den H e i d e n die >Gnade der Busse z u m Leben< gegeben« hat 8 8 . »Darauf greift Petrus in Act 15 zunick und wendet also auf den Fall Pauli nur eine Entscheidung an, die schon früher getroffen wurde, so dass es sich nach Act[a] gar nicht um eine Diskussion zwischen P[au]l[u]s und den Aposteln handelt, sondern nur um ein Zurückweisen der Ansprüche einer extrem-judaistischen Partei durch die mit P[au]l[u]s im Einvernehmen lebenden Urapostel. Jakobus liefert dann noch den Schriftbeweis für diese Weitherzigkeit und beweist, dass sie nach Am 9/1 Iff (das Wort von dem Aufrichten der zerfallenen Hütte Davids) im Plane Gottes lag [...]. Dieser ganze Apparat fallt [in] Gal 2 weg; Paulus überzeugt die drei [sc. Urapostel]!,] indem er auf seine Erfolge hinweist!,] und zwingt sie so[,] ihn anzuerkennen, wobei vorausgesetzt ist, dass die drei selbst durch die Eiferer gegen ihn mobil gemacht worden waren. In Act[a] wird das alles als ein irrelevantes Vorgehen der extremen Judaisten dargestellt; die Apostel und P[au]l[u]s bewegen sich von Anfang an auf dem Boden des Verständnisses.« 89

84

Vgl. A.Dauer, Paulus und die christliche Gemeinde im syrischen Antiochia, Weinheim 1996 (BBB 106) 52-55.200 Anm. 259 (Lit.!); so übrigens auch Baur, Geschichte (s.o. Anm. 77) 1,49.

85

Schweitzer, Galaterbrief, Η. I (s.o. Anm. 20) 33 (r.); so auch Weiser, Apg II (s.o. Anm. 56) 369.376-378.

86

»Man darf nicht vergessen, dass wir es in Gal. nicht mit einem objektiven Bericht!,] sondern mit einer Tendenzdarstellung zu thun haben, in der für Pls alles darauf ankommt!,] nachzuweisen, dass er freiwillig nach Jerusalem ging und nicht dorthin citiert wurde; und dass er mit den Uraposteln als wie mit seines gleichen verkehrte und nicht ihr Untergebener war [...]« (Schweitzer, Galaterbrief, Η. I [s.o. Anm. 20] 34 [r.]). Vgl. auch J.Wellhausen, Kritische Analyse der Apostelgeschichte, Berlin 1914 (AGWG.PH 15/2) 28f; Roloff, Apg (s.o. Anm. 56) 225f.

87

Schweitzer, Galaterbrief, Η. I (s.o. Anm. 20) 33 (r.).

88

Ebd.

89

Ebd. 33 (r.) - 34 (1.).

442

Werner Zager

»Das« - so kommentiert Schweitzer treffend - »ist schon Kirchengeschichte« 90 . »Der Autor [sc. der Apostelgeschichte] will Sachen aus der Welt schaffen; Firniss auf den Riss.« 91 Schließlich weist Schweitzer auch darauf hin, daß nach dem Galaterbrief Paulus von seiten der »Säulen« der Jerusalemer Gemeinde keine Bedingungen für die Heidenmission gestellt werden. Ihm wird allein eine »Bitte um Unterstützung« der Armen innerhalb der Urgemeinde aufgetragen 92 . Während diese wiederum von der Apostelgeschichte mit Schweigen übergangen wird, ist hier vom sogenannten »Aposteldekret« die Rede, das die Heidenchristen auf die Einhaltung der gerim-Gebote des Heiligkeitsgesetzes aus Lev 17f verpflichtet 93 . Nach Schweitzers Urteil soll in der Apostelgeschichte durch die »officielle Publicierung« des Dekrets ausgedrückt werden, »dass P[au]l[u]s unter der Autorität der Urgemeinde und der Urapostel steht« 94 .

4. Schweitzers Bestimmung des Wesens paulinischer Theologie Albert Schweitzer beginnt sein Kolleg über den Galaterbrief mit dem programmatischen Satz: »Der ganze Paulinismus ist eigentlich ein Rätsel.« 95 Begründet wird dies damit, daß Paulus nicht - wie man das hätte erwarten können - die Lehre Jesu weitergibt oder fortführt 96 . Sogar wenn der Apostel »dasselbe sagt wie Jesus, fühlt er gar nicht das Bedürfnis, es mit des Meisters Worten zu sagen, auch da, wo sich die klassischen Zitate aus der Bergpredigt aufdrängen würden. Ist es nicht merkwürdig« - so fragt Schweitzer -, »daß für Paulus die Gleichnisse Jesu gar nicht existieren, wo wir doch als das einzig Selbstverständliche annehmen würden, daß er seine religiösen Ideen dort herausgezogen hätte?«97 Auch wenn bis in unsere Zeit hinein 90

Ebd. 34 (1.).

91

Ebd. 34 (r.). - Ähnlich auch das Urteil von J.Wellhausen: »Die AG glättet die Wogen mit heiligem Öl; Paulus läßt merken, daß es menschlich zuging. Ihm erscheint die Urzeit nicht in dem Nebel der historia sacra, er erlaubt sich einen ziemlich ironischen Ton über Männer wie Jakobus und Petrus« (Analyse [s.o. Anm. 86] 29).

92

Siehe Schweitzer, Galaterbrief, Η. I (s.o. Anm. 20) 34 (1.). - Vgl. dazu J.Eckert, Die Kollekte des Paulus für Jerusalem: Kontinuität und Einheit. FS Franz Mußner, Freiburg u.a. 1981, 65-80.

93

Vgl. R.Heiligenthal, Art. Noachitische Gebote. III. Neues Testament: TRE 24 (1994) 585-587.

94

Schweitzer, Galaterbrief, Η. I (s.o. Anm. 20) 34 (1.).

95

Schweitzer, Einleitung (s.o. Anm. 21) 504.

96

Vgl. ebd. 504f.

97

Ebd. 504.

Albert Schweitzers Interpretation des Galaterbriefs

443

immer wieder versucht wird, um der Einheit des biblischen Überlieferungsprozesses willen eine Abhängigkeit des Paulus von der Jesustradition nachzuweisen 98 , behält Schweitzer darin Recht, »daß Paulus gegen diese ganz indifferent ist«99. »Aus dem Paulinismus würden wir nie die Lehre Jesu erschließen können.« 100 An dieser Einsicht führt kein Weg vorbei. Gründet sich also die Religion des Paulus nicht auf die Lehre Jesu, worauf beruht sie dann? Schweitzers Antwort lautet: auf der theologischen Deutung von Tod und Auferstehung Jesu, die von Paulus als »historische Tatsachen« angesehen werden 101 . Jedoch handelt es sich für Paulus nicht bloß um theologische Gedanken, sondern vielmehr um den »Inhalt der Offenbarungen des verklärten pneumatischen Christus«: »Der verklärte Christus offenbart dem Paulus, was der Tod und die Auferstehung des historischen Jesus in dem Weltgeschehen bedeuten und weist ihn an, die Konsequenzen daraus zu ziehen.« 102 Schweitzer zufolge resultiert für Paulus aus solcher geoffenbarter Theologie, »daß durch den Tod und die Auferstehung Jesu ein absolut Neues geschaffen ist und zwar so, daß, wer in die Gemeinschaft mit dem Gestorbenen und Auferstandenen tritt, tatsächlich in diesen neuen Zustand erhoben wird« 103 . Gemäß dem paulinischen »Fundamentalsatz« 104 2.Kor 5,17: »Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Schöpfung; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden.« Wie solche eschatologische Christusmystik näher zu fassen ist, hat Schweitzer dann in seinem Buch »Die Mystik des Apostels Paulus« ausgeführt. Hier lesen wir: »Die fundamentale Bedeutung des Sterbens und Auferstehens Jesu besteht nach Paulus also darin, daß damit das Sterben und Auferstehen in der ganzen Leiblichkeit der zum messianischen Reich Erwählten in Gang gebracht wird. [...] Während das Sterben und Auferstehen an Jesu schon offenbar geworden ist, geht es an den Erwählten insgeheim, aber dennoch nicht weniger wirklich vor. Weil sie der Art ihrer Leiblichkeit nach mit Jesus Christus zusammengehören, werden sie durch seinen Tod und seine Auferstehung zu Wesen, die in Sterben und

98

Vgl. etwa Stuhlmacher, Biblische Theologie (s.o. Anm. 28) 1,130.300-305.386; R. Riesner, Paulus und die Jesus-Überlieferung: Evangelium - Schriftauslegung - Kirche. FS Peter Stuhlmacher, Göttingen 1997, 347-365.

99

Schweitzer, Einleitung (s.o. Anm. 21) 504; vgl. zur Sache auch G.Strecker, Theologie des Neuen Testaments, bearb., erg. u. hg.v. F.W.Horn, Berlin/New York 1996, 106109.

100

Schweiteer, Einleitung (s.o. Anm. 21) 504.

101

S. ebd. 507f.

102

Ebd. 508.

103

Ebd. 514.

104

Ebd. 522.

444

Werner Zager

Auferstehen begriffen sind, wenn auch der Schein ihrer natürlichen Existenz noch erhalten bleibt.« 105 Das Sein-in-Christus - so erklärt Schweitzer im Galaterbriefkolleg - läßt alle ethnischen, sozialen und geschlechtlichen Bestimmtheiten als belanglos erscheinen 106 ; bedeutet es doch die bereits gegenwärtige, wenn auch noch verborgene Teilhabe an der eschatologischen Neuschöpfung. Daher heißt es in Gal 3,27f: »Ihr alle, die ihr auf Christus getauft worden seid, habt Christus angezogen. Da ist weder Jude noch Grieche, weder Sklave noch Freier, weder Mann noch Frau; denn ihr seid alle einer in Christus Jesus.« Die Stellung des Paulus zur Tora erkennt Schweitzer als Konsequenz aus dessen eschatologischer Christusmystik 107 . So vermag Paulus das Gesetz einerseits als »etwas Selbstverständliches« zu dulden, während er es andererseits »mit Vehemenz als etwas der Erlösung durch Christum Widersprechendes verwirft« 108 . Die Haltung des Paulus dem Gesetz gegenüber ist jedoch nach Schweitzer nur scheinbar inkonsequent. Er verdeutlicht dies am Bild vom Haus, das auf Abbruch verkauft wird: »Von jenem Augenblick an, wo der äußere Mensch durch die Gründung des inneren Menschen auf Christum gewissermaßen auf Abbruch verkauft wird, [sollen] keine baulichen Veränderungen und Reparaturen mehr mit ihm vorgenommen werden [...], weil dies sinnlos ist und nur den Anschein erwecken könnte, als ob er eigentlich nicht auf Abbruch verkauft wäre« 109 . Wie Schweitzer ausführt, rechnet Paulus nämlich nicht nur Geschlecht und gesellschaftliche Stellung zum Äußeren des Menschen, sondern gerade auch die Einstellung gegenüber dem Gesetz, die in der Frage der Beschneidung ihren sinnenfälligen Ausdruck findet 110 . »Paulus will eben jeden zwingen, in dem äußerlichen Zustande, in dem er berufen [worden] ist, auch äußerlich zu verharren, bis das Vergängliche und damit diese Verschiedenheit der Zustände aufgehoben ist.«111 Gegenüber Schweitzer ist jedoch festzuhalten, daß Paulus eine solche starre prinzipienhafte Theorie vom status quo nicht vertreten hat 112 . Sonst wäre es zwischen ihm und Petrus in Antiochia nicht zum Streit gekommen. Das Sein-in-Christus bedeutet vielmehr grundsätzlich Freiheit vom Gesetz 113 . 105

Schweitzer, Mystik (s.o. Anm. 14) 111.

106

Vgl. Schweitzer, Einleitung (s.o. Anm. 21) 510.

107

Vgl. ebd. 51 Of.

108

Ebd. 511.

109

Ebd.; vgl. auch Schweitzer, Mystik (s.o. Anm. 14) 191f.

110

Vgl. Schweitzer, Einleitung (s.o. Anm. 21) 512.

111

Ebd. 514.

112

Siehe Wechsler, Geschichtsbild (s.o. Anm. 50) 272; vgl. auch E.P.Sanders, Paulus und das palästinische Judentum, Göttingen 1985 (StUNT 17) 455f.

113

Richtig Schweitzer, Mystik (s.o. Anm. 14) 3: »Etwas ganz Eigentümliches hat diese Mystik noch dadurch an sich, daß das Sein in Christo als ein Gestorben- und Aufer-

Albert Schweitzers Interpretation des Galaterbriefs

445

W o h l ist Schweitzer zuzustimmen, wenn e r das Sein-in-Christus als Mittelpunkt der T h e o l o g i e des Paulus bestimmt; darin aber wird e r der T h e o l o gie des Apostels nicht gerecht, wenn er dessen Auseinandersetzung mit d e m Gesetz einzig aus der Christusmystik ableitet 1 1 4 . Auch wird m a n Schweitzer widersprechen müssen, w o er pauschal behauptet, »daß die Geltung des Gesetzes für Jesus niemals in F r a g e stand« 1 1 5 , und damit die Positionen Jesu und des Paulus zum Gesetz als miteinander unvereinbar bezeichnet. Findet sich doch beim historischen Jesus nicht nur T o r a v e r s c h ä r f u n g , sondern auch Torakritik: E t w a in F r a g e n der E h e s c h e i d u n g 1 1 6 oder des S c h w u r e s 1 1 7 stellt Jesus den v o n ihm erkannten eigentlichen Gottes willen über ein alttestamentliches G e b o t 1 1 8 . Andererseits ist zwar für Paulus die T o r a als Heilsweg aufgehoben, das ändert aber nichts daran, daß die einzelnen Gebote ihre Gültigkeit als Lebensweisung behalten 1 1 9 , sofern sie mit d e m Glauben im Einklang stehen, der sich in der Liebe als wirksam e r w e i s t 1 2 0 . V o n daher können folgende Aussagen Schweitzers in ihrer scharfen Antithetik nicht bestehen bleiben, sondern müssen abgemildert werden, auch wenn sie uns immer noch durch ihre Sprachgewalt zu beeindrucken v e r m ö g e n : »Wenn nun aber Paulus das Gesetz nicht etwa für indifferent erklärt, sondern als etwas, das um der Ehre Christi willen, um der Realität der von ihm erworbenen Güter willen, an denen, die nicht darin aufgewachsen sind und zur christlichen Gemeinde neu hinzutreten, unter keinen Umständen in Kraft treten dürfe, stellt er damit ein Prinzip auf, gegen das das bejahende Stillschweigen der Lehre Jesu in dieser Sache lebhaft protestierte, standensein mit ihm vorgestellt wird, durch das man von der Sünde und dem Gesetze freigeworden ist, den Geist Christi besitzt und der Auferstehung gewiß ist.« 114

Vgl. Gräßer, Albert Schweitzer als Theologe (s.o. Anm. 8) 190f.

115

Schweitzer, Einleitung (s.o. Anm. 21) 508. - Allerdings trifft sich Schweitzer hier durchaus mit neueren Forschungstendenzen. So urteilt etwa G.Dautzenberg: »Für die ältesten Stufen der Jesustradition ist weder eine prinzipielle noch eine partielle Infragestellung der Tora oder einzelner ihrer Bestimmungen nachweisbar« (G.Dautzenberg, Gesetzeskritik und Gesetzesgehorsam in der Jesustradition: Das Gesetz im Neuen Testament, hg.v. K.Kertelge, Freiburg u.a. 1986 [QD 108] 46-70: 68f). Eine ähnliche Auffassung vertritt P.Fiedler: »Der irdische Jesus stand grundsätzlich auf dem Boden der Tora« (P.Fiedler, Die Tora bei Jesus und in der Jesusüberlieferung: Das Gesetz im Neuen Testament [s.o.] 71-87: 83).

116

l.Kor 7,lOf; Mk 10,2-9; vgl. Lk (Q) 16,18.

117

Mt 5,33-34a; vgl. Jak 5,12.

118

Vgl. G.Strecker, Die Bergpredigt, Göttingen 1984, 79.82f.98f; s. ferner U.Luz, Gesetz. III. Das Neue Testament: R.Smend/U.Luz, Gesetz, Stuttgart u.a. 1981 (BiKon; KTB 1015) 58-144: 61 mit Anm. 116; T.Holtz, »Ich aber sage euch«. Bemerkungen zum Verhältnis Jesu zur Tora: Jesus und das jüdische Gesetz, hg.v. I.Broer, Stuttgart u.a. 1992, 135-143: 139-143.

119

l.Kor 7,19.

120

Gal 5,6; vgl. l.Kor 9,21; Gal 6,2. - S. dazu W.Schrage, Der erste Brief an die Korinther, Solothurn u.a., II 1995 (EKK VII/2) 136f.

Werner Zager

446

gegen welches die Urapostel auf Grund der Autorität und Lehrttberlieferung von Jesus protestieren mußten und es auch taten, wie sich gerade aus der Replik Pauli im Galaterbrief ergibt. Und nun erleben wir im Galaterbrief das grandiose Schauspiel, wie die befreiende Idee, auf ihre eigene innere Kraft vertrauend, sich gegen die leibhaftigen Schüler Jesu und damit gegen die Lehrautorität Jesu selbst aufbäumt und mit einer elementaren Vehemenz gegen sie anstüizt. Es ist der Kampf der spekulativen christlichen Offenbarung gegen die Lehrüberlieferung von Jesus. Es ist keine Menschenleidenschaft mehr, die in den gewaltigen, sich überstürzenden und nie zu Ende geführten Sätzen des Galaterbriefes redet: es ist die Leidenschaft der Idee, die zum Leben erwacht und für die es keine Schranken mehr gibt. Darum ist der Galaterbrief etwas, womit sich in der Weltliteratur schlechthin nichts vergleichen Iäßt. So rast und tobt der Geist nirgends wie in den Worten, welche der müde Teppichwirker zu Ephesus des Abends nach der Arbeit einem andern unter Seufzen und Tränen diktierte. Es gibt eben keine solche Befreiungstat mehr.« 121

5. Einsichten

und Impulse Schweitzers für die heutige PaulusActaforschung

und

Albert Schweitzers Interpretation des Galaterbriefs bietet m.E. eine Reihe von grundlegenden Einsichten und weiterführenden Impulsen, die für die gegenwärtige Paulus- und Actaforschung fruchtbar gemacht werden können und die ich in sechs Punkten zusammenfassen möchte: 5 . 1 . Jede Exegese biblischer Texte - so gerade auch die Auslegung des Galaterbriefs und der Apostelgeschichte - sollte sich von dem hermeneutischen Grundsatz leiten lassen: »Die Ehrfurcht vor der Wahrheit als solcher, die in unserem Glauben sein muß, wenn er nicht zum Kleinglauben werden soll, begreift auch die Achtung vor der historischen Wahrheit in sich.« 1 2 2 121

Schweitzer, Einleitung (s.o. Anm. 21) 508f. - In einer Predigt über Gal 5,1 vom 8. Juli 1906 (wird veröffentlicht in: A.Schweitzer, Werke aus dem Nachlaß. III. Ausgewählte Predigten, hg.v. E.Gräßer/R.Brüllmann) bezeichnet Schweitzer Paulus als einen »Befreier«: »[...] dass er unser gemeinsamer Befreier geworden ist, dass alles, was seit Jahrhunderten Christennamen trägt und ihn in Zukunft tragen wird, dass diese alle ihm Dank schulden, weil er das Christentum befreit hat von den Fesseln eines äusserlichen Gesetzes ..., davon wollen wir reden. (...) Ich weiss zwar nicht, ob ihr es bei euch schon genug überlegt habt und es ermessen könnt, was für eine Riesentat es war, als dieser Mensch vor die Jünger und die ältesten jüdischen Christen trat, für die das Gesetz etwas Unverbrüchliches, Heiliges war, an dem auch Jesus nicht gerüttelt hatte, und für seine Christen aus den Heiden die Freiheit zu fordern wagte und diese Freiheit durchkämpfte. Überlegt es: Die Jahrhunderte haben nichts über die jüdische Religion vermocht. Sie ist unberührt durch den Wechsel der Zeiten und den Wechsel der Völker hindurchgegangen und steht heute noch so ehrwürdig und so unversöhnlich in ihrer Gesetzlichkeit da wie zur Zeit Pauli, und er ist der einzige, der ihr etwas abgetrotzt hat.«

122

Schweitzer, Mystik (s.o. Anm. 14) X.

Albert Schweitzers Interpretation des Galaterbriefs

447

5.2. Paulus ist gegenüber der Jesusüberlieferung indifferent, da sein Glaube nicht auf der Verkündigung des irdischen Jesus beruht, sondern auf der theologischen Deutung von Tod und Auferstehung Jesu Christi. 5.3. Nach dem Antiochenischen Zwischenfall ist damit zu rechnen, daß der Einfluß der Gesetzeseiferer innerhalb der Jerusalemer Gemeinde auf den Herrenbruder Jakobus zugenommen hat. Es stellt sich also die Frage, ob nicht die Judaisten in Galatien und Jakobus in einem engeren Verhältnis zueinander standen, als dies gemeinhin in der neueren Forschung gesehen wird 123 . 5.4. Bei der Auslegung der Apostelgeschichte gilt es ernsthaft zu berücksichtigen, daß es sich dabei um eine »Tendenzdarstellung« handelt, die um der Idealisierung des Apostolischen Zeitalters willen bewußt Konflikte verschweigt, obwohl sie um diese weiß. 5.5. Aber auch die Exegese des Galaterbriefs muß auf die Tendenz achten, die Paulus mit diesem Schreiben verfolgt - gerade da, wo es sich um die Mitteilung geschichtlicher Vorgänge handelt. 5.6. Die theologische Bedeutung des Galaterbriefs besteht für uns darin, ihn als »Ruf der Freiheit« 124 zu begreifen. In einer Predigt über das aus Gal 5,1 entnommene Wort: »So bestehet nun in der Freiheit« vom 8. Juli 1906 - gehalten also zur Zeit der Galaterbriefvorlesung - sagt Albert Schweitzer: »Als er [sc. Paulus] seinen Galatern schrieb: >So bestehet nun in der Freiheit·«, konnte er nicht ahnen, was dieses Wort einst für alle kommenden Christengeschlechter bedeuten würde, dass der Kampf für die Freiheit mit der errungenen Freiheit vom Gesetz noch nicht beendigt sei, sondern dass er sich durch die ganze Geschichte des Christentums hindurchziehen würde, um bald hier, bald dort auszubrechen, immer da, wo etwas vielleicht an sich Ehrwürdiges und Gutes die Autorität des Alters für sich in Anspruch nimmt und neues Leben hemmt.« 125 Solcher Kampf für die Freiheit »von jedem Zwang der überlieferten Weltanschauung, von jeder Bevormundung durch alte Formeln« hat sich nach Schweitzers Urteil zu orientieren an Paulus, diesem unversöhnlichen und zugleich

123

Vgl. M.Hengel, Jakobus der Herrenbruder - der erste »Papst«?: Glaube und Eschatologie. FS Werner Georg Kümmel, Tübingen 1985, 71-104: 92-102; W.Pratscher, Der Herrenbruder Jakobus und die Jakobustradition, Göttingen 1987 (FRLANT 139) 49102; E. Ruckstuhl, Art. Jakobus (Herrenbruder): TRE 16 (1987) 485-488: 486,42 487,23.

124

Entsprechend dem Titel von E. Käsemanns inspirierender Streitschrift: Der Ruf der Freiheit, Tübingen 5 1972.

125

S.o. Anm. 121.

448

Werner Zager

wieder so nachgiebigen Menschen 126 . Denn: »Nicht diejenigen bringen uns den religiösen Frieden, die selber keine Ueberzeugung haben und denen jede Meinung gleichberechtigt ist, sondern die, welche eine Ueberzeugung haben und sich darum sorgen und dafür kämpfen, dass diese Ueberzeugung sich frei aussprechen könne, und dann wieder als solche, denen eine Ueberzeugung heilig ist, von Liebe getrieben nicht anders können, als Duldung üben, und durch ihre Weitherzigkeit die andern überwinden.« 127 Diese Worte Albert Schweitzers - gesprochen vor 90 Jahren - haben an Aktualität nichts eingebüßt.

126

Siehe Schweitzer, Predigt über Gal 5,1 vom 8. Juli 1906.

127

Ebd.

Bibliographie Erich Gräßer 1992 - 19971 1992 Aufbruch und Verheißung. Gesammelte Aufsätze zum Hebräerbrief (BZNW 65), Berlin/New York 1992 —darin: Der Hebräerbrief 1938—1963 (s. 1964): 1-99 Der historische Jesus im Hebräerbrief (s. 1965): 100-128 Das Heil als Wort. Exegetische Erwägungen zu Hebr 2,1-4 (s. 1972): 129-142 Zur Christologie des Hebräerbriefes (s. 1973): 143-154 Beobachtungen zum Menschensohn in Hebr 2,6 (s. 1975): 155-165 Rechtfertigung im Hebräerbrief (s. 1976): 166-180 Die Heilsbedeutung des Todes Jesu in Hebräer 2,14-18 (s. 1979): 181-

200 Exegese nach Auschwitz? (s. 1981): 201-212 Die Gemeindevorsteher im Hebräerbrief (s. 1982): 213-230 Das wandernde Gottesvolk (s. 1986): 231-250 »Wir haben hier keine bleibende Stadt« (Hebr 13,14): 251-264 Neue Kommentare zum Hebräerbrief (s. 1991): 265-291 (Nachtrag: 291294) Drei Predigtmeditationen Neujahr. Hebräer 13,20 und 21 (s. 1972): 295-302 Reminiszere. Hebräer 11,1-2.6.8-10(17-19) (s. 1976): 303-310 2. Weihnachtstag. Hebräer 1,1-3(4-6) (s. 1985): 311-317 Bibliographie Erich Gräßer: 318-338 The Principle of Reverence for Life: Albert Schweitzer's Ethic for our Time, in: D.C.Miller/J.Pouilliard (Hg.), The Relevance of Albert Schweitzer and the Dawn of the 21st Century, Lanham/New York/London 1992, 89-93. [Rez.:] Theologische Realenzyklopädie (TRE), Register zu Band 1-17 (1990), 18 (1989), 19 (1990), 20 (1990), 21 (1991), ThR 57 (1992) 448450.

Fortsetzung des Verzeichnisses der Publikationen aus den Jahren 1955 bis 1992 in: E. Gräßer, Aufbrach und Verheißung. Gesammelte Aufsatze zum Hebräerbrief (BZNW 65), Berlin/New York 1992, 318-338.

450

Bibliographie Erich Gräßer 1992 - 1997

1993 An die Hebräer. 2. Teilband: Hebr 7,1 - 10,18 (EKK XVII/2), Zürich u.a./ Neukirchen-Vluyn 1993. Czesc dla zycia, in: Prawda Moralina dobro moraine - Ksiega Jubileuszowa dedykowana Palni Profesor Iji Lazari - Pawlowskiej, Lodz 1993, 163-164. "Viele Male und auf vielerlei Weise ..." Kommentare zum Hebräerbrief 1968-1991, BiKi 48 (1993) 206-215. Alles Leben ist heilig. Albert Schweitzers Beitrag für eine Umweltethik, EK 26 (1993) 722-724. [Rez.:] Hans-Friedrich Weiß, Der Brief an die Hebräer (KEK XIII), Göttingen 1991, ThR 58 (1993) 450-452. Erwägungen zu einer Tierschutzethik aus theologischer Sicht, Deutsche Veterinärmedizinische Gesellschaft e.V., Gießen 1993, 59-69 = M.Beyer/H.A.Stempel (Hg.), Welt, Umwelt, Ökologie (BASF 3), Weinheim 1995, 171-181.

1994 Ehrfurcht vor der Wahrheit. Albert Schweitzers Bibelverständnis, in: R.Ziegert (Hg.), Die Zukunft des Schriftprinzips (Bibel im Gespräch, Band 2), Deutsche Bibelanstalt Stuttgart 1994 (gedr. als Jahrbuch der Deutschen Bibelgesellschaft), 174-185. "Nehmet die Tiere an", DtPfrBl 94 (1994) 221-223 = Reformiertes Gemeindeblatt, Thun 71 (1994) 2-3. Ehrfurcht vor allem Lebendigen, in: Tierheim aktuell 1994, Augsburg 1994, 92-93. Tierschutz aus theologischer Sicht, in: P.Herkenrath/W.Lantermann (Hg.), Flieg Vogel oder stirb. Vom Elend des Handels mit Wildvögeln, Göttingen 1994, 141-147. Morgenandacht auf der Tagung der Alten Marburger in Hofgeismar am Mittwoch, dem 5. Januar 1994, über Ps 46,11 (Losung des Tages), in: Protokoll der Tagung Alter Marburger, 3.-5. Januar 1994 in Hofgeismar, Berlin 1994, 28-31.

Bibliographie Erich Gräßer 1992 - 1997

451

Notwendigkeit und Möglichkeiten heutiger Bultmannrezeption, ZThK 91 (1994) 272-284.

1995 Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben und Schuld - Die (Tierschutz-)Ethik Albert Schweitzers, in: Tierschutz, Teil I. Ethische, wissenschaftliche und rechtliche Grundlagen zur Behandlung von Tierschutzthemen im Unterricht, hg.v. Hessischen Institut für Lehrerfortbildung, Fachbereich Biologie, Fuldatal/Frankfurt a.M. 1995, 23-25. Glaube und Tätigkeit (Interview), in: Weltbild, 17. Februar 1995, Nr. 5, S. 25.

1996 16. Sonntag nach Trinitatis - Hebr 10,35-36(37-38).39, CPHNF VI/2 (1996) 158-165. Das Schriftargument in Hebr 10,37f, in: Ekklesiologie des Neuen Testaments. FS Karl Kertelge, Freiburg u.a. 1996, 431-439. "Die ethische Denk-Religion". Albert Schweitzers Ablehnung einer doppelten Wahrheit in seinen Nachlaßschriften, in: Geschichte - Tradition - Reflexion. FS Martin Hengel, Tübingen 1996, 677-694 = P.Reifenberg/W. Adolph (Hg.), Musik - Genie - Ethik. Albert Schweitzer, Charles-Marie Widor, Louis Vierne (Mainzer Perspektiven. Orientierungen 2), Mainz 1996, 53-72.

1997 An die Hebräer. 3. Teilband: Hebr 10,19 - 13,25 (EKK XVII/3), Zürich u.a./Neukirchen-Vluyn 1997. Gräßer, Erich/Johann Zürcher (Hg.), Albert Schweitzer. Straßburger Vorlesungen. Werke aus dem Nachlaß, München 1997. [Rez.:] Theologische Realenzyklopädie (TRE) 22 (1992), 23 (1994), 24 (1994), 25 (1995), ThR 62 (1997) 232-235.

w DE

G

Walter de Gruyter Berlin · New York

WALTER BURKERT

Klassisches Altertum und antikes Christentum Probleme einer übergreifenden Religionswissenschaft 20,5 χ 13,5 cm. ΧΠ, 52 Seiten. Mit einer Abbildung Hans Lietzmanns. 1996. Kartoniert DM 28,- / öS 204,- / sFr 26,ISBN 3-11-015543-5 (Hans-Lietzmann-Vorlesungen. Herausgegeben von Ch. Markschies, Heft 1) Jährliche öffentliche Vorlesungsreihe, die an das interdisziplinäre Wirken von Hans Lietzmann durch Vorträge aus dem Bereich der Kirchengeschichte, Klassischen Altertumswissenschaft (samt der Archäologie) und christlichen Orientalistik erinnert. Aus dem Inhalt: Ch. Markschies: Vorwort - K.-U. Meyn: Eröffnung der ersten Hans-LietzmannVorlesung - Ch. Markschies: Laudatio Walter Burkert W Burkert: Klassisches Altertum und antikes Christentum (der Verfasser skizziert anhand der Geschichte und Gegenwart der Beziehungen der Fächer „Klassische Altertumswissenschaft", „Theologie" und „Religionswissenschaft" untereinander Aufgabenfelder der Erforschung des antiken Christentums). Der Verfasser war Ordinarius für Klassische Philologie an der Universität Zürich. Der Herausgeber ist Ordinarius für Kirchengeschichte an der Friedrich-SchillerUniversität Jena. Eröffnungsvortrag der ersten „Hans-Lietzmann-Vorlesung" (HLV) in Jena, 5.Dezember 1995. Als Heft 2 der HLV erscheint 1997: Hugo Brandenburg, Die Kirche S. Stefano Rotondo in Rom. Bautypologie und Architektursymbolik in der spätantiken und frühchristlichen Architektur. Preisänderung vorbehalten

Walter de Gruyter & Co · Berlin · New York · Genthiner Straße 13 D-10785 Berlin · Telefon: (030) 2 60 05-0 · Telefax: (030) 2 60 05-2 22 Unser Programm finden Sie im World Wide Web unter http://www.deGruyter.de