Felix Klein: Visionen für Mathematik, Anwendungen und Unterricht [1. Aufl. 2019] 978-3-662-58748-5, 978-3-662-58749-2

Als 22-Jähriger enthüllte Felix Klein dem norwegischen Mathematiker Sophus Lie sein immer vorhandenes Bedürfniß nach soc

908 86 26MB

German Pages XVI, 574 [589] Year 2019

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Felix Klein: Visionen für Mathematik, Anwendungen und Unterricht [1. Aufl. 2019]
 978-3-662-58748-5, 978-3-662-58749-2

Table of contents :
Front Matter ....Pages i-xvi
EINFÜHRUNG (Renate Tobies)....Pages 1-10
PRÄGENDE GRUPPEN (Renate Tobies)....Pages 11-106
PROFESSUR AN DER UNIVERSITÄT ERLANGEN (Renate Tobies)....Pages 107-148
PROFESSUR AM POLYTECHNIKUM IN MÜNCHEN (Renate Tobies)....Pages 149-188
PROFESSUR FÜR GEOMETRIE IN LEIPZIG (Renate Tobies)....Pages 189-292
START ALS PROFESSOR IN GÖTTINGEN, 1886 – 1892 (Renate Tobies)....Pages 293-338
WEICHENSTELLUNGEN, 1892/93 – 1895 (Renate Tobies)....Pages 339-380
FRÜCHTE DER BESTREBUNGEN, 1895 – 1913 (Renate Tobies)....Pages 381-448
ERSTER WELTKRIEG UND NACHKRIEGSZEIT (Renate Tobies)....Pages 449-482
SCHLUSSBETRACHTUNGEN (Renate Tobies)....Pages 483-494
Back Matter ....Pages 495-574

Citation preview

Renate Tobies

Felix Klein Visionen für Mathematik, Anwendungen und Unterricht

Felix Klein

Renate Tobies

Felix Klein Visionen für Mathematik, Anwendungen und Unterricht

Renate Tobies Friedrich-Schiller-Universität Jena Jena, Deutschland

ISBN 978-3-662-58748-5 ISBN 978-3-662-58749-2  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-58749-2 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer Spektrum © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Der Verlag und die Autorin gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autorin übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung: Annika Denkert Layout: Stefan Tobies Umschlagabbildung: Felix Klein, 1875, Privatnachlass Hillebrand, Scheeßel Springer Spektrum ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Abb. 1: Felix Klein, 1875

Wer im Gedächtnis der großen Welt leben soll, muss auf die große Welt gewirkt haben. Otto BLUMENTHAL 1928, 2

VORWORT Euphorisch sprach Richard COURANT über Felix Klein: „Sein Leben war erfüllt von der Kraft des Denkens und dem Willen zur Tat, beide beflügelt durch eine geniale Phantasie, welche immer neue und neue Entwürfe gestaltete. Er war ganz der Typus des Weisen und Herrschers, wie ihn Plato in seinem Staate gezeichnet hat.“ (1926: 211) Klein wies auch Wege weise. Er bestimmte Geometrie mit seinem Erlanger Programm überzeugend neu: geometrische Eigenschaften als Invarianten von Transformationsgruppen. Er systematisierte weitere mathematische Theorien, sah Zusammenhänge, prägte Begriffe. Seine visionären Programme betrafen Mathematik, deren Anwendungen in Natur-, Technik-, Finanzwissenschaften, aber auch Geschichte, Philosophie und Unterricht vom Kindergarten bis zur Hochschule. Er engagierte sich außergewöhnlich, um die eminente Kulturbedeutung der Mathematik und ihrer Anwendungen in das Bewusstsein zu rücken. Ludwig Boltzmann schwärmte 1892 von Kleins Allseitigkeit: Heute habe ich in den Fortschritten der Mathematik1 nachgeblättert und da […] die Allseitigkeit und Produktivität Kleins bewundert. Man könnte kurz etwa sagen: Kleins Arbeiten umfassen fast alle Gebiete der mathematischen Wissenschaft. Besonders hervorragend sind seine Arbeiten über 1 Algebra und deren Anwendung auf Theorie der algebraischen Formen, Zahlentheorie, Geometrie, Auflösung höherer Gleichungen. 2 allgemeine Funktionentheorie, Theorie der elliptischen, Abelschen, θ-Funktionen und der Riemannschen Flächen; 3 Theorie der Differentialgleichungen; 4 Fundamente der Geometrie, Krümmung und sonstige gestaltliche Verhältnisse der Kurven und Flächen, auch neuere Geometrie und Projektivität, Anwendung der Geometrie in der Mechanik.2

Im vorliegenden Buch geht es um die vielfältigen Programme und das Entstehen der Arbeiten. Es wird erhellt, wie Klein zu einem Wissenschaftler wurde, der Studierende aus aller Welt anzog, der 1883 als erster deutscher Mathematiker einen Ruf in die USA erhielt und der die Gabe besaß, in- und ausländische Mathematiker/innen für sich einzunehmen, sodass sie seinen Visionen folgten. Felix Klein lenkte die Geschicke der Deutschen Mathematiker-Vereinigung (DMV) dreimal als Vorsitzender. Er stand im Zentrum erster internationaler Kongresse und wurde in Rom 1908 – trotz Abwesenheit – zum ersten Vorsitzenden der Internationalen Mathematischen Unterrichtskommission (IMUK) gewählt. Als die Deutsche Forschungsgemeinschaft (als Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft 1920 gegründet) ihre ersten Fachausschüsse schuf, kam nur der bereits emeritierte Felix Klein als Vorsitzender für Mathematik in Frage. 1 2

Jahrbuch über die Fortschritte der Mathematik, vgl. SIEGMUND-SCHULTZE 1993. Boltzmann an Paul von Groth, in HÖFLECHNER 1994, II, 173-74. – Vgl. Abschnitt 6.5.2.

vii

viii

Vorwort

Als junges Talent legte Klein das Abitur im Alter von 16 Jahren ab, erwarb mit 19 Jahren den Doktortitel und habilitierte sich im Alter von 21. Bereits mit 23 erreichte er die erste ordentliche Professur. Seine Stationen waren die Universität Erlangen (1872), das Polytechnikum (Technische Hochschule) München (1875), die Universitäten Leipzig (1880) und Göttingen (ab 1886). Klein kooperierte mit Personen und Instanzen in Bayern, Sachsen und Preußen. Durch Studienreisen nach Paris, Großbritannien, Italien, die USA u.a. weitete er seinen Blick. Er wurde ein Weltbürger, der nationalen Chauvinismus verurteilte. Der französische Mathematiker Charles Hermite – oft sehr überschwänglich – bezeichnete Klein in den 1890er Jahren euphorisch comme un nouveau Josué dans la terre promise.3 Klein pflegte einen kooperativen Arbeitsstil. Im Alter von 20 gewann er mit dem Norweger Sophus Lie seinen wichtigsten Partner. Klein wünschte einvernehmliche Kooperation, nicht Konkurrenz. Dennoch musste er sich mit Gegnern, Konkurrenten, anderen Ansichten und Interessen auseinandersetzen. David Hilbert, der 1909 anlässlich Kleins 60. Geburtstag bewusst Poincaré und MittagLeffler nach Göttingen einlud, verwies in seiner Rede (Anhang Nr. 8) auf Gegner und Unterstützer und demonstrierte selbst seine Verbundenheit mit Klein. Felix Klein soll in diesem Buch als Mensch neben seinen Erfolgen hervortreten. Im Alter von 26 heiratete er Anna Hegel, Enkelin des großen Philosophen. Ihre Briefe an Felix Klein dokumentieren ein liebevolles Verhältnis und dass sie oft in seine akademischen Probleme einbezogen wurde. Von ihren vier Kindern folgte der Älteste der technischen Richtung. Die Jüngste studierte Mathematik und wurde eine anerkannte Schulleiterin, die in der NS-Zeit Rückgrat behielt. Klein war nicht von vornherein der „Zeus, der über den anderen Olympiern thronte“, wie ihn Max Born, der spätere Physik-Nobelpreisträger, beim Studium erlebte: „Er hieß bei uns der große Felix und herrschte über unser Schicksal.“4 Uns wird ein Mathematiker begegnen, der wiederholt von Selbstzweifeln geplagt war, mathematisch seinen eigenen hohen Ansprüchen nicht zu genügen, und der gleichzeitig die spezifischen Begabungen bei ihm Studierender weitblickend erkannte. Klein förderte Begabte unabhängig von Religion, Nationalität und Geschlecht. Mit ihm begann das mathematische Frauenstudium in Preußen zu einer Zeit, als Frauen noch nicht regulär studieren durften. Er führte 1895 zwei Frauen zur Promotion, brachte mehr als fünfzig Doktorschüler sowie weitere Personen aus dem In- und Ausland zu neuen Resultaten. Er kooperierte mit Emmy Noether und unterstützte deren Habilitation. Klein legte in Göttingen den Grund für eine neue Blütezeit und erließ dafür die Ausführungsbestimmungen, wie es Hilbert ausdrückte (Anhang Nr. 14). Dazu gehörte, dass er die besten Wissenschaftler (darunter Hilbert, Carl Runge, Ludwig Prandtl, Edmund Landau) neben sich berufen ließ und dass er mit dem „Einwerben“ von Mitteln aus der Industrie neue Wege fand, um wichtige Personen in Göttingen zu halten und neue Institute aufzubauen. Bis ins hohe Alter hinein stand Klein neuen mathematisch-naturwissenschaftlich-technischen Theorien aufge3 4

als einen neuen Joshua im gelobten Land, vgl. im Buch Abschnitt 8.2.2. BORN/BORN 1969, 16.

ix

Vorwort

schlossen gegenüber. So formulierte er offene mathematische Probleme auch für die Strömungsforschung und die Baustatik. Noch als Emeritus arbeitete er zur Relativitätstheorie, unterstützt durch Emmy Noether und geschätzt von Einstein. Kleins Persönlichkeit bezauberte und polarisierte. Er setzte sich durch. Er drückte dem Betrieb von Mathematik und Anwendungen an deutschen Universitäten einen Stempel auf, war bei erstaunlich vielen Angelegenheiten ein Vorreiter (vgl. Kapitel 10.2). So erstritt er als erster Mathematikprofessor einen bezahlten Assistenten, führte Studienpläne, Kolloquien, neue Prüfungsordnungen und Berufsabschlüsse ein. Auch die erste Vergabe der venia legendi für „Mathematik, namentlich Geschichte der Mathematik“ und für „Didaktik der mathematischen Wissenschaften“ an der Universität Göttingen geht auf ihn zurück. Noch in den 1920er Jahren war Klein eine Institution. Er wurde gleichzeitig mit Einstein und Max Liebermann in den Orden Pour Le Mérite aufgenommen. Auch heute wird der vielseitig Wirkende weithin anerkannt. Das Fraunhofer-Institut für Techno- und Wirtschaftsmathematik (Kaiserslautern) initiierte einen Felix Klein Prize, der seit dem Jahre 2000 von der European Mathematical Society verliehen wird. Die International Commission on Mathematical Instruction vergibt seit 2003 eine Felix Klein Medal. Das Felix-Klein-Gymnasium in Göttingen hält seinen Namenspatron hoch. An der Heinrich-Heine-Universität in Kleins Geburtsstadt Düsseldorf existiert ein Felix-Klein-Hörsaal und wird regelmäßig ein Felix-Klein-Kolloquium veranstaltet, einst durch Gerd Fischer etabliert. An der Universität Erlangen sind Mathematik und Informatik im Felix-Klein-Gebäude untergebracht. An der Technischen Universität München wurde 2001 ein FelixKlein-Programm mit der Vergabe eines Felix-Klein-Lehrpreises ins Leben gerufen. Die Universität Leipzig benannte ebenfalls einen Hörsaal nach Felix Klein und führt ein Felix-Klein-Colleg durch. Der Sitzungssaal des Mathematischen Instituts der Universität Göttingen ist mit dem von Max Liebermann geschaffenen Porträt von Felix Klein geschmückt.5 Nachdem mich der verstorbene Leipziger Mathematikhistoriker Hans Wußing in die Felix-Klein-Spur gesetzt hatte, war es der Mathematiker Helmut Neunzert, der mich zu Vorträgen nach Kaiserslautern mit dem Satz warb: „Wir benutzen Kleins Argumente gern, um auch heute die Anwendungen der Mathematik zu fördern!“ Seit 2008 existiert dort ein Felix-Klein-Zentrum. Der Mathematiker und einstige Rektor der Technischen Hochschule Braunschweig Robert Fricke fand für seinen (angeheirateten) Onkel Felix Klein das Triptychon als Gleichnis, dessen Mittelstück dem Forscher und dessen Seitenflügel dem akademischen Lehrer und dem überragenden Organisator gewidmet sein sollten.6 Wir wollen mit der Biographie diese Teile zu einem Gesamtbild fügen. Jena, im Januar 2019 5 6

Renate Tobies

Das dort ebenfalls präsentierte Porträt von David Hilbert wurde 1928 von Eugen Spiro (der sich 1935 zur Emigration gezwungen sah) gemalt. (Zu Hilbert vgl. besonders die Abschnitte 6.3.7.3 und 7.9 im Buch.) FRICKE 1919, 275. – Vgl. Stammbaum in Abb. 2

x

Abb. 2: Auszug aus dem Stammbaum der Familien Hegel und Klein

INHALT VORWORT .................................................................................................................................. vii 1 EINFÜHRUNG .......................................................................................................................... 1.1 Zum Stand der Forschung .................................................................................................. 1.2 Forschungsleitende Aspekte ............................................................................................. 1.3 Editorische Bemerkungen ................................................................................................

1 3 6 9

2 PRÄGENDE GRUPPEN ........................................................................................................... 11 2.1 Der Familienverband Klein – Kayser ............................................................................. 11 2.1.1 Königstreue, sparsame Erziehung westfälischen Ursprungs ................................ 11 2.1.2 Pädagogische Begabung und vielseitige Interessen als mütterliche Gabe ........... 13 2.1.3 Felix Klein und seine Geschwister ....................................................................... 14 2.2 Schulzeit in Düsseldorf ................................................................................................... 15 2.2.1 Abitur mit 16 Jahren am Humanistischen Gymnasium ........................................ 16 2.2.2 Reifeprüfungsaufgaben in Mathematik ................................................................ 18 2.2.3 Naturwissenschaftliche Interessen während der Schulzeit ................................... 20 2.3 Studium und Promotion an der Universität Bonn ........................................................... 21 2.3.1 Besuchte Lehrveranstaltungen, und Seminarprämien .......................................... 22 2.3.2 Assistent und Auszeichnung für eine physikalische Preisschrift ......................... 26 2.3.3 Geometrischer Arbeitsunterricht bei Julius Plücker ............................................. 29 2.3.4 Das Promotionsverfahren ..................................................................................... 33 2.4 Eintritt in die Denkgemeinschaft um Alfred Clebsch ..................................................... 37 2.4.1 Die Clebsch-Schule .............................................................................................. 39 2.4.2 Die Mathematischen Annalen .............................................................................. 45 2.4.3 Liniengeometrische Arbeiten 1869 ...................................................................... 49 2.5 Erweiterung von Horizont und Freundeskreis in Berlin ................................................. 51 2.5.1 Berliner Professoren und Felix Klein ................................................................... 52 2.5.2 Begegnungen im Mathematischen Verein: Kiepert, Lie, Stolz ............................ 56 2.5.3 Cayleys Maßbestimmung und Kleins nichteuklidische Auslegung ..................... 60 2.6. In Paris mit Sophus Lie .................................................................................................. 63 2.6.1 Felix Klein und französische Mathematiker ........................................................ 64 2.6.2 Gemeinsame Arbeiten mit Sophus Lie in Paris .................................................... 68 2.6.2.1 Noten über W-Gebilde ............................................................................... 68 2.6.2.2 Die Haupttangentenkurven der Kummerschen Fläche vierten Grades ...... 70 2.6.3 Bericht über die Mathematik in Paris ................................................................... 71 2.7 Deutsch-Französischer Krieg und Habilitation ............................................................... 72 2.7.1 Kriegsteilnahme als Sanitäter und Auswirkungen ............................................... 73 2.7.2 Habilitation ........................................................................................................... 77 2.8 Privatdozentenzeit in Göttingen ...................................................................................... 79 2.8.1. Lehrtätigkeit im Kontext ..................................................................................... 80 2.8.2 Forschungsresultate im Überblick ........................................................................ 86 2.8.3 Diskussionskreise ................................................................................................. 97 2.8.3.1 Verein zu Dritt mit Clebsch und Riecke .................................................... 97 2.8.3.2 Der mathematisch-naturwissenschaftliche Studentenverein ..................... 99 2.8.3.3 Wissenschaftliches Kränzchen: Eskimo .................................................. 101 2.8.3.4 „Sociale Thätigkeit“: Alle organisatorisch einen .................................... 103

xi

xii

Inhalt

3 PROFESSUR AN DER UNIVERSITÄT ERLANGEN .......................................................... 3.1 Forschungstendenzen und Doktorschüler ..................................................................... 3.1.1 Vision Erlanger Programm ................................................................................ 3.1.2 Kleins Schüler in Erlangen ................................................................................. 3.1.3 Neue Trends in der Forschung ........................................................................... 3.1.3.1 Über eine neue Art Riemannscher Flächen ............................................. 3.1.3.2 Gleichungstheorie .................................................................................... 3.2 Plan der Unterrichtstätigkeit – Antrittsrede .................................................................. 3.3 Erste Reise nach Großbritannien 1873 .......................................................................... 3.4 Italienreisen ................................................................................................................... 3.5 Ausbau des mathematischen Instituts ........................................................................... 3.6 Allerlei Geselligkeit – Familiäres ................................................................................. 3.6.1 Die Freunde heiraten und Felix Klein folgte ...................................................... 3.6.2 Kleins Schwiegervater, der Historiker Karl Hegel ............................................. 3.6.3 Anna Hegel, Felix Klein und Familie ................................................................

107 109 110 113 119 120 123 124 127 132 137 139 139 142 144

4 PROFESSUR AM POLYTECHNIKUM IN MÜNCHEN ...................................................... 4.1. Neues Institut und neuer Lehrbetrieb ........................................................................... 4.1.1 Aufbau eines mathematischen Instituts .............................................................. 4.1.2 Reorganisation der Lehre ................................................................................... 4.2 Entfaltung zur mathematischen Individualität .............................................................. 4.2.1 Die Ikosaedergleichung ...................................................................................... 4.2.2 Zahlentheorie ..................................................................................................... 4.2.3 Elliptische Modulfunktionen .............................................................................. 4.2.4 Schülerkreis in München .................................................................................... 4.2.4.1 Phase 1: 1875 – 1876 ...................................................................................... 4.2.4.2 Phase 2: 1876 – 1880 ...................................................................................... 4.3 Gesprächskreise in München ........................................................................................ 4.3.1 Mathematisches Kränzchen mit Ingenieuren und Naturwissenschaftlern .......... 4.3.2 Mathematischer Studentenverein & Mathematische Gesellschaft ..................... 4.3.3 Naturforscherversammlung in München 1877 ................................................... 4.4 „Wieder reif für Universität in kleiner Stadt“ ...............................................................

149 151 152 153 155 157 160 162 168 168 169 177 177 180 181 184

5 PROFESSUR FÜR GEOMETRIE IN LEIPZIG ..................................................................... 5.1 Start mit Antrittsrede ..................................................................................................... 5.2 Gründung einer neuen mathematischen Institution ....................................................... 5.3 Lehrprogramm .............................................................................................................. 5.3.1 Vorlesungen: Ordnen, Neuorientieren und Abstriche am Plan .......................... 5.3.2 Mathematisches Colloquium resp. Übungen resp. Seminar ............................... 5.4 Die Kleinsche „Heerde“ ................................................................................................ 5.4.1 Habilitierte Mathematiker .................................................................................. 5.4.2 Ausländische Studenten bei Klein ...................................................................... 5.4.2.1 Der erste Franzose und der erste Brite .................................................... 5.4.2.2 Die ersten US-Amerikaner ...................................................................... 5.4.2.3 Die Italiener ............................................................................................. 5.4.2.4 Mathematiker aus Österreich-Ungarn ..................................................... 5.4.2.5 Russische und weitere osteuropäische Kontakte ..................................... 5.5 Forschungsfelder ........................................................................................................... 5.5.1 Mathematische Physik bzw. physikalische Mathematik .................................... 5.5.1.1 Lamésche Funktion, Potentialtheorie und Carl Neumann ....................... 5.5.1.2 Über Riemanns Theorie der algebraischen Funktionen und ihrer Integrale ...................................................................................

189 191 194 196 196 202 206 207 217 217 218 220 221 223 224 225 226 228

Inhalt

xiii

5.5.2 Der Blick nach Berlin ......................................................................................... 5.5.2.1 Das Beschaffen der Quellen .................................................................... 5.5.2.2 Das Dirichlet-Prinzip ............................................................................... 5.5.2.3 Seminar über die Theorie der Abelschen Funktionen Ende 1882 ........... 5.5.2.4 Offenheit versus Einseitigkeit ................................................................. 5.5.3 Der Blick nach Frankreich ................................................................................. 5.5.3.1 Französische Autoren für die Mathematischen Annalen ......................... 5.5.3.2 Korrespondenz mit Poincaré ................................................................... 5.5.4 Drei Fundamentaltheoreme ................................................................................ 5.5.4.1 Das Rückkehrschnitttheorem .................................................................. 5.5.4.2 Das Grenzkreistheorem ........................................................................... 5.5.4.3 (Allgemeines) Fundamentaltheorem ....................................................... 5.5.4.4 Bemerkungen zu den Beweisen .............................................................. 5.5.5 Polemik um und mit Lazarus Fuchs ................................................................... 5.5.6 Das Ikosaederbuch ............................................................................................. 5.5.7 Ein Buch zur Theorie der elliptischen Modulfunktionen ................................... 5.5.7.1 Ergänzung des Theoretischen .................................................................. 5.5.7.2 Wer wird Redakteur? – Georg Pick ......................................................... 5.5.8 Hyperelliptische und Abelsche Funktionen ....................................................... 5.6 Felix Klein und Alfred Ackermann-Teubner ................................................................ 5.7 Felix Klein in Leipziger Kommunikationsgemeinschaften ........................................... 5.7.1 Mathematisches Kränzchen ................................................................................ 5.7.2 Fürstlich Jablonowskische Gesellschaft zu Leipzig ........................................... 5.7.3 Kgl. Sächsische Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig ............................ 5.8 Leipzig den Rücken kehren ........................................................................................... 5.8.1 Das Abwägen von Oxford und Baltimore .......................................................... 5.8.2 Der Physiker Eduard Riecke holt Klein nach Göttingen .................................... 5.8.3 Installation des Nachfolgers Sophus Lie und Reaktionen darauf .......................

231 231 232 235 237 238 238 240 243 244 244 247 249 252 256 260 260 264 267 269 276 276 277 278 281 282 284 288

6 START ALS PROFESSOR IN GÖTTINGEN, 1886 – 1892 .................................................. 6.1 Rücksichtnahme auf die Familie ................................................................................... 6.2 Umgang mit Kollegen, Lehre und Lehrplanideen ......................................................... 6.2.1 Zum Verhältnis Klein – Schwarz ....................................................................... 6.2.2 Die Göttinger Privatdozenten Hölder und Schönflies ........................................ 6.2.3 Kleins Lehre im Kontext .................................................................................... 6.3 Forschungen und Forschungskooperationen ................................................................. 6.3.1 Die Lehre von den endlichen Gruppen linearer Substitutionen bzw. die Theorie der Auflösung von Gleichungen höheren Grades ........................... 6.3.2 Hyperelliptische und Abelsche Funktionen ....................................................... 6.3.3 Theorie der elliptischen Modulfunktionen (Monographie) ................................ 6.3.4 Theorie der automorphen Funktionen (Monographie) ....................................... 6.3.5 Theorie der Laméschen Funktionen und Potentialtheorie .................................. 6.3.6 Auffrischen der geometrischen Arbeiten ........................................................... 6.3.7 Visionen: Internationalität, Kristallographie, Hilberts Invariantentheorie ......... 6.3.7.1 Neuer Blick ins Ausland ......................................................................... 6.3.7.2 Arthur Schönflies und die Kristallographie ............................................. 6.3.7.3 Klein und Hilberts Invariantentheorie ..................................................... 6.4 Zusammenführen von Personen und Institutionen ........................................................ 6.4.1 Professorium in Göttingen ................................................................................. 6.4.2 Antrag, die Technische Hochschule Hannover nach Göttingen zu verlegen ..... 6.4.3 Idee zur Reorganisation der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften ........... 6.4.4 Felix Klein und die Gründung der Deutschen Mathematiker-Vereinigung .......

293 294 295 295 297 299 303 303 305 307 309 310 311 314 314 317 318 321 321 323 324 327

xiv

Inhalt 6.5 Einschnitt 1892 ............................................................................................................ 6.5.1 Lehrstühle in Preußen neu zu besetzen .............................................................. 6.5.1.1 Berlin, Breslau und Kleins Klassifikationssystem von Denkstilen ......... 6.5.1.2 Nachfolger für H. A. Schwarz in Göttingen ............................................ 6.5.2 Kleins Ruf an die Universität München und die Folgen ....................................

331 331 331 335 337

7 WEICHENSTELLUNGEN, 1892/93 – 1895 .......................................................................... 7.1 Kleins Assistenten und seine Auswahlprinzipien ......................................................... 7.2 Mathematische Gesellschaft zu Göttingen .................................................................... 7.3 Hinwendung zu den Lehrerkreisen ............................................................................... 7.4 Das ENCYKLOPÄDIE-Projekt ........................................................................................... 7.5 Reise(n) in die USA ...................................................................................................... 7.5.1 Weltausstellung in Chicago und Mathematiker-Kongress ................................. 7.5.2 Zwölf Vorträge Kleins: The Evanston Colloquium ........................................... 7.5.3 Reise von Universität zu Universität .................................................................. 7.5.4 Nachwirkungen .................................................................................................. 7.6 Anfänge des mathematischen Frauenstudiums ............................................................. 7.7 Studienfach Versicherungsmathematik ......................................................................... 7.8 Kontaktaufnahme mit Ingenieuren und Industriellen .................................................... 7.9 Kleins Engagement für die Berufung von David Hilbert ..............................................

339 341 346 350 353 360 360 362 364 365 368 373 375 378

8 FRÜCHTE DER BESTREBUNGEN, 1895 – 1913 ................................................................ 8.1 Zentrum Mathematik, Naturwissenschaft und Technik ................................................ 8.1.1 Göttinger Vereinigung ....................................................................................... 8.1.2 Angewandte Mathematik in neuer Prüfungsordnung und die Folgen ................ 8.1.3 Luftfahrtforschung ............................................................................................. 8.2 Wissenschaftliches Ansehen bewahren ......................................................................... 8.2.1 Automorphe Funktionen (Monographie) ........................................................... 8.2.2 Geometrische Zahlentheorie .............................................................................. 8.2.3 Monographie zur Kreiseltheorie ......................................................................... 8.2.4 Ideengeber im Feld von mathematischer Physik und Technik ........................... 8.3 Programm: Geschichte, Philosophie, Psychologie, Unterricht ..................................... 8.3.1 Geschichte der Mathematik ................................................................................ 8.3.2 Philosophische Aspekte ..................................................................................... 8.3.3 Psychologisch-erkenntnistheoretische Klassifizierungen ................................... 8.3.4 „Kleinsche“ Unterrichtsreform .......................................................................... 8.3.4.1 „Philosophie der Mitte“ für Schule und Anfängerausbildung ................. 8.3.4.2 Reformvorschläge ................................................................................... 8.4 Internationale Wissenschaftskooperation ...................................................................... 8.5 Vorzeitige Emeritierung und Ehrungen ........................................................................ 8.5.1 Erholung und Arbeit im Sanatorium Hahnenklee .............................................. 8.5.2 Max Liebermanns Porträt von Felix Klein ......................................................... 8.5.3 Die Nachfolger auf Kleins Lehrstuhl .................................................................

381 382 383 387 391 394 394 396 399 402 409 411 414 421 423 429 431 438 440 441 444 447

9 ERSTER WELTKRIEG UND NACHKRIEGSZEIT .............................................................. 9.1 Bekenntnisse deutscher Professoren zum Militarismus ................................................ 9.2 Geschichte der Mathematik und „Notschrei der modernen Physik“ ............................. 9.2.1 Bemerkungen zu den historischen Vorträgen .................................................... 9.2.2 Felix Klein und die Relativitätstheorie ............................................................... 9.2.3 Feierlichkeiten zum Goldenen Doktorjubiläum ................................................. 9.3 Intellektuelle Bildung sichern ....................................................................................... 9.3.1 Plädoyer für Fremdsprachenkenntnisse .............................................................. 9.3.2 Gegen das Zurückdrängen von Mathematik und Naturwissenschaften ..............

449 451 455 458 459 464 465 465 467

Inhalt

xv

9.4 Forschungsförderung .................................................................................................... 9.4.1 Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft .................................................. 9.4.2 Gauß-Weber- / Helmholtz-Gesellschaft ............................................................. 9.5 Lebensende ...................................................................................................................

472 472 475 478

10 SCHLUSSBETRACHTUNGEN ........................................................................................... 483 10.1 Komprimierte Antworten auf die Forschungsfragen ................................................... 484 10.2 Ein Vorreiter ............................................................................................................... 489 ANHANG: AUSWAHL VON DOKUMENTEN ...................................................................... 1 Brief F. Kleins an den Minister der geistlichen, Unterrichts- und MedicinalAngelegenheiten, Herrn Heinrich von Muehler, 19.12.1870 ............................................ 2 Antrag F. Kleins an den akademischen Senat der Universität Erlangen, betr. Bewilligung einer Summe zur Ausstattung der mathematischen Abtheilung der Universitäts-Bibliothek, 15.11.1872 .......................................................................... 3 Wahlvorschlag für F. Klein, o. Professor der Mathematik an der TH München, zum außerordentlichen Mitgliede der mathematisch-physikalischen Classe der Kgl. Akademie der Wissenschaften zu München, 7.6.1879 ....................................... 4 Bericht der Philosophischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen, betr. Besetzung der durch den Übertritt des Professors Stern in den Ruhestand erledigten Professur der Mathematik, nebst Separatvotis der Professoren Schering und Schwarz, vom Universitätskurator an den Kgl. Staatsminister der geistlichen, Unterrichtsund Medicinal- Angelegenheiten, Herrn Dr. von Gossler, 28.1.1885 .............................. 5 Zur wissenschaftlichen Polemik zwischen F. Klein und Lazarus Fuchs. Auszug aus einem Briefentwurf F. Kleins an Wilhelm Foerster, 15.1.1892 ....................................... 6 Briefe, betreffend die Nachfolge von H. A. Schwarz in Göttingen ................................. 6.1 Auszug aus einem Brief F. Kleins an Adolf Hurwitz, 28.2.1892 ......................... 6.2 Auszug aus einem Briefentwurf F. Kleins an F. Althoff, 7.3.1892 ...................... 7 Vorschläge F. Kleins zur Ausgestaltung des mathematischen Instituts in Göttingen, an den Curator der Universität Geh. Reg. Rath Dr. E. v. Meier, 29.2.1892 .................... 8 David Hilbert: An Klein zu seinem 60. Geburtstag, 25.4.1909 ....................................... 9 F. Klein an L. Bieberbach zum Entwurf von dessen Dissertation, 15.5.1909 ................ 10 Gutachten über F. Kleins Gesundheitszustand, von Dr. Klaus, Nervenarzt, Sanatorium Hahnenklee (Oberharz), 9.3.1912 und 10.10.1912 ....................................... 11 Wahlvorschlag für F. Klein zum korrespondierenden Mitglied der Kgl. Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 27.2.1913 ....................................................... 12 Ansprache von Eduard Riecke beim Überreichen des Gemäldes von Max Liebermann an F. Klein, gestiftet anlässlich seines 40-jährigen Professoren-Jubiläums, und Antwort F. Kleins, 25.5.1913 ................................................................................... 13 Virgil Snyder aus Ithaca (New York) an F. Klein, betreffend den Internationalen Mathematiker-Kongress in Toronto (Canada), 4.7.1924 ........................ 14 Gedenkworte David Hilberts für F. Klein am 23.6.1925 .................................................

495 495 496 499

500 505 507 507 508 510 513 515 516 517 519 521 523

BIBLIOGRAPHIE ..................................................................................................................... 525 ABBILDUNGSVERZEICHNIS ................................................................................................. 551 TABELLENVERZEICHNIS ...................................................................................................... 552 ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS ............................................................................................... 553 PERSONENVERZEICHNIS ...................................................................................................... 555

xvi

Abb. 3: Felix Klein an Sophus Lie, Briefauszug vom 1.4.1872 (vgl. Abschnitt 2.8.3.4)

1 EINFÜHRUNG […] vielleicht nützt es auch der Gesammtheit der Mathematiker in hohem Grade, wenn jemand es unternimmt, die gewaltig divergirenden Zweige mathematischer Forschung unter Beibehaltung dessen, was jedem eigenthümlich ist, zu einem umfassenderen Ganzen zusammenzubringen.1

Im zitierten Brief an den norwegischen Mathematiker Sophus Lie berichtete Felix Klein vom Versuch, die Kummersche Fläche mit hyperelliptischen Funktionen zu verbinden. Kleins Vision, verschiedene mathematische Gebiete und Methoden zusammenzubringen, half, mathematische Theorien weiter zu entwickeln und neue Disziplinen zu begründen. Möglichst alle neuen Gebiete verstehen zu wollen und ein „unvergleichlicher Seherblick“ (Carathéodory 1925: 2) brachten ihm eine Übersicht, die auch die Herausgabe der Encyklopädie der mathematischen Wissenschaften mit Einschluss ihrer Anwendungen (1898-1935) ermöglichte.2 Klein erlebte verschiedene Wandlungsprozesse in der Mathematik. Als junger Mathematiker war er in den Wandel der Geometrie involviert. Er suchte, in weitere Gebiete einzudringen. Als reifer Mann förderte er auch die Mengenlehre, befreundete sich letztlich mit dem von Hilbert ausgehenden axiomatischen Aufbau von Theorien und trug selbst maßgeblich zum Erweitern der „Ränder“ bei: Anwendungen, Geschichte, Didaktik, Philosophie der Mathematik. Die Periode des disziplinären Wandels in der Geometrie prägte das mathematische Denken des jungen Klein nachdrücklich. Bereits SCHOLZ (1980) beschrieb den Prozess anhand der Geschichte des Mannigfaltigkeitsbegriffs einleuchtend: Abkehr von der Dominanz der euklidischen Geometrie, Ausbreiten neuer geometrischer Richtungen (nichteuklidische Geometrien, höherdimensionale Geometrien); Verbinden verschiedener Gebiete. Das Verwenden analytischer Methoden hatte bereits zur Differentialgeometrie geführt (vorläufiger Höhepunkt mit Gauß’ Arbeit von 1828). Die durch französische Mathematiker (Poncelet) hervorgebrachte projektive Geometrie (synthetische und analytische Methoden) entfaltete sich auf der Basis algebraischer Methoden weiter zur algebraischen Geometrie. Mit der projektiven algebraischen Geometrie entstanden Ansätze einer höherdimensionalen Geometrie. Letztere erhielt durch Hermann Graßmanns Ausdehnungslehre (1844) eine besondere Gestalt. In Graßmanns Buch wird heute ein erster Zugang zum abstrakten Begriff des reellen Vektorraumes gesehen. Bernhard Riemann formulierte ein geometrisches Forschungsprogramm, dessen Leitideen über das 19. Jahrhundert hinaus wirkten und sich in Disziplinen wie Analy-

1 2

[Oslo] Klein an Lie, Brief v. 25.12.1873. Im Folgenden ENCYKLOPÄDIE. Von den sechs Bänden der deutschen Ausgabe erschienen drei in bearbeiteter französischer Version, vgl. TOBIES 1994; GISPERT 1999; und Abschnitt 7.4.

1 © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Tobies, Felix Klein, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58749-2_1

2

1 Einführung

sis situs (Topologie), geometrischer Funktionentheorie, moderner Differentialgeometrie und Allgemeinen Relativitätstheorie u.a. niederschlugen. Felix Klein drang als junger Student unter Julius Plücker in die „neuere“ Geometrie ein, wurde durch Alfred Clebschs algebraisch-geometrische Schule breiter orientiert und bestimmte schließlich einen Teil der Entwicklungen mit. Hermann Weyl beschrieb Kleins grundsätzliche Methodik wie folgt: Der hervorstechendste Zug seiner wissenschaftlichen Methodik ist die Leidenschaft zum Mischen, zum Zusammenbiegen, die verschiedensten Disziplinen einander durchdringen zu lassen. Hierauf, auf der Erfassung innerer Zusammenhänge und Beziehungen, deren Fundamente ganz getrennt liegen, beruhte seine mathematische Genialität.3

Klein erlebte als Student den Streit zwischen mathematischen Schulen und spürte den Nachteil einseitiger Orientierung. Er sah, dass jede Methode Vor- und Nachteile besitzen kann. Hinsichtlich des Konflikts zwischen analytischen und synthetischen Methoden in der Geometrie gelangte er zu der Ansicht: „Eine gesunde Entwicklung wird sich beider Methoden bedienen und die Früchte ihrer wechselseitigen anregenden Wirkung auf einander genießen.“4 So versuchte er früh weitere mathematische Richtungen kennenzulernen. Sich ca. 600 km zu entfernen und von dort auf die Verhältnisse am Heimatort zu schauen, sei das beste Mittel, um als junger Forscher nicht von einer Schule vereinnahmt zu werden, interpretierte später der Physiologe Carl Ludwig mit Bezug auf Klein.5 Kleins Streben nach Systematisieren, Zusammenbringen von Methoden und Gebieten schloss den Blick auf mathematische Ordnungsmuster ein. Der Gruppenbegriff und sein Prinzip der Stufenteilung innerhalb der Theorie der elliptischen Funktionen dienten ihm zum Klassifizieren.6 Er suchte den Überblick und sah sich selber im Rückblick als „Romantiker, nicht Klassiker“7 – gemäß Wilhelm OSTWALDs (1909) Einteilung. Im Unterschied zum ruhigen bedächtigen Klassiker, der ein Gebiet detailliert „mit klassischer Nüchternheit“ durcharbeitet und manchmal nicht fertig wird, rechnete sich Klein zu den „Revolutionären“ in der Wissenschaft mit „romantischem Eroberungsgeist“, die mit einem Übermaß an Ideen, Plänen, rascher Reaktion gesegnet seien. Sein Credo lautete: Gewiß ist es der Schlußstein am Gebäude einer jeden mathematischen Theorie, den zwingenden Beweis für alle Behauptungen zu erbringen. Gewiß spricht sich die Mathematik selbst ein Urteil, wenn sie auf zwingende Beweise verzichtet. Das Geheimnis genialer Produktivität wird es jedoch ewig bleiben, neue Fragestellungen zu finden, neue Theoreme zu ahnen, die wertvolle Resultate und Zusammenhänge erschließen. Ohne die Schaffung neuer Gesichtspunkte, ohne die Aufstellung neuer Ziele, würde die Mathematik in der Strenge ihrer logischen Beweisführung sich bald erschöpfen und zu stagnieren beginnen […]8

3 4 5 6 7 8

Weyl, Nachruf auf F. Klein 1925 [Deutsches Museum] HS 1968_4. KLEIN 1926, Vorlesungen I, 115. Vgl. ebd., 116; und Abschnitt 5.7.3 im vorliegenden Buch. Vgl. zur Mathematik als Wissenschaft von den möglichen Ordnungen NEUNZERT/ROSENBERGER 1991, S. 130; zur wissenschaflichen Praxis des Klassifizierens LÊ/PAUMIER 2016. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 1. 22 (Notizen zum 12.12.1918), vgl. Abschnitt 9.2.3. KLEIN 1926 Vorlesungen I, 271.

1.1 Zum Stand der Forschung

3

Wir wollen untersuchen, welche neuen Fragen Klein aufwarf, welche neuen Richtungen und welche Talente er erkannte und förderte. Im Folgenden wird ein Einblick in den Stand der Forschung gegeben. Zudem sollen zentrale Fragen, methodisches Herangehen und Quellen bezeichnet werden. 1.1 ZUM STAND DER FORSCHUNG Klein verfasste eine kleine Autobiographie.9 Sein Bruder Alfred hinterließ eine Familienchronik. Die in 29 Bänden aufbewahrten Protokolle von Kleins Seminaren sind eine einzigartige, bisher wenig analysierte Quelle.10 Die online verfügbaren Bände reichen vom ersten gemeinsamen Seminar mit Clebsch 1872 bis zum Jahr 1912. Klein stattete seine Gesammelten Mathematischen Abhandlungen (GMA 1921-23) selbst mit Kommentaren und Zusätzen aus. Seine Vorlesungen waren oft so angelegt, dass er Themen historisch einordnete. Das betraf nicht nur die aus dem Nachlass edierten Vorlesungen über die Entwicklung der Mathematik im 19. Jahrhundert (1926-27). Konrad JACOBS (1977) brachte Teile aus Kleins Nachlass als Faksimile heraus. Anlässlich Kleins 70. Geburtstages erschien ein Sonderheft der Zeitschrift Die Naturwissenschaften mit Beiträgen von R. Fricke, A. Voß, W. Wirtinger, A. Schönflies, C. Carathéodory, A. Sommerfeld, H. E. Timerding und L. Prandtl. Meist frei von Hagiographie wird darin das Spektrum von Kleins Produktivität in Kurzform gespiegelt. Nachrufe ergänzen das Bild. Gerd FISCHER (1986, 22018) publizierte ein zweibändiges Werk Mathematische Modelle, die für Kleins Art des Forschens maßgeblich waren. Bereits 1985 brachte er auch Kleins schriftliche Abiturarbeit heraus. Kleins eigene Darlegungen können wir zwar nicht ohne kritische Distanz übernehmen. Sie sind jedoch eine Fundgrube für Ausgangspunkte, Zusammenhänge, Motive. In der erwähnten, von Klein dirigierten ENCYKLOPÄDIE sind manche früheren Urteile, kleine Prioritätsstreitigkeiten (mit Camille Jordan11, mit Lazarus Fuchs12) verschwunden, geglättet, relativiert. Dort präsentieren internationale Experten den damaligen Stand der Forschung im jeweiligen Gebiet. Dabei kam kaum einer der Autoren daran vorbei, Arbeiten von Klein zu zitieren, was selten einer so widerwillig ausführte wie der streitsüchtige Eduard Study.13 Die ENCYKLOPÄDIE sowie das zweibändige Mathematische Wörterbuch NAAS/ SCHMID 1961/1984 enthalten eine Vielzahl nach Klein benannter bzw. von Klein geprägter Begriffe, was eine besondere wissenschaftliche Ehrung darstellt. Einige seien hervorgehoben: Kleinsche Linienkoordinaten (vgl. 2.3.3), Cayley-Kleinsche Maßbestimmung (vgl. 2.5.3), Kleins Modell der hyperbolischen Geometrie, Kleins Erlanger Programm, Clifford-Kleinsches Raumformenproblem (vgl. 3.3), 9 10 11 12 13

KLEIN 1923a. Vgl. CHISLENKO/TSCHINKEL 2007; TOBIES 2014; HELLER 2015; ECKERT 2018. Vgl. vor allem BRECHENMACHER 2011. Zur Polemik mit L. Fuchs vgl. Abschnitt 5.5.7. und Anhang Nr. 5. Den Klein dennoch förderte, vgl. Abschnitt 5.4.1; auch HARTWICH 2005.

4

1 Einführung

Klein-Riemannsche Flächen bzw. Kleinsche Fläche in der Theorie der Modulformen14, Kleinsche Kurve15, Schwarz-Kleinscher Satz16, stetiger Kleinscher Raum17, Kleinsche Bilinearform18, Kleinsche Theorie der algebraischen Gleichungen, Kleins Stufentheorie zur Ordnung der verschiedenen Gestalten der Theorie der elliptischen Funktionen19, Kleinscher Schlauch (vgl. 5.5.1.2), Kleinsche Vierergruppe, Kleinsches Formenproblem, Kleins Fundamentaltheoreme (vgl. 5.5.4), Kleinsche (transzendente) Primform20, Kleinsches Oszillationstheorem (5.5.1.1), Kleinsche Funktionen21, Kleinsche Sigma-Funktionen, Kleinsche Parameter22. Es gibt zahlreiche daran anknüpfende neuere Ergebnisse. Peter Slodowy edierte Kleins Ikosaederbuch 1993 neu und drang tief in dessen Denkweise ein. Er beurteilte die Arbeiten aus moderner Sicht und unterstrich ebenfalls Kleins Kunst, verschiedene Gebiete miteinander zu verweben. Mathematikhistoriker und andere Wissenschaftshistoriker widmeten sich ausgewählten Aspekten, mathematischen Theorien und Entwicklungen, in die sich Kleins Ergebnisse einordnen. Darauf kann im vorliegenden Buch verwiesen werden, ohne die Untersuchungen wiederholen zu wollen. Erhard SCHOLZ’ bereits erwähnte Dissertation (1980) liefert nicht nur eine prägnante Geschichte des Mannigfaltigkeitsbegriffs von Riemann bis Poincaré, sondern bettete auch Kleins Beiträge ein. SCHOLZ’ Habilitationsschrift (1989), die den Gruppenbegriff ins Zentrum rückte, sowie weitere seiner Untersuchungen sind für unseren Gegenstand ebenfalls relevant. Zur Geschichte des Gruppenbegriffs sei auch auf die Studie von Hans WUßING (1969/1984/2007) verwiesen. ZIEGLER (1985) analysierte die Plückersche Liniengeometrie, ihre Fortentwicklung durch Klein und dessen Doktoranden Ferdinand Lindemann, im Kontext der Geschichte von projektiver Geometrie und geometrischer Mechanik. Jüngere Studien zum Thema präzisieren dies.23 14 Vgl. hierzu LAMOTKE 2009, 127. 15 Kurve vom Geschlecht p = 3, deren Gleichung x3y + y3 + x = 0 lautet, vgl. Berzolari, L.: Algebraische Transformationen und Korrespondenzen, ENCYKLOPÄDIE III, C11, 1781-2218. 16 Vgl. Loria, Gino: Spezielle ebene algebraische Kurven von höherer als der vierten Ordnung. ENCYKLOPÄDIE III, C5b, 571-643, bes. 627-29. 17 “Kleinscher Raum”, heute meist homogener Raum (im Erlanger Programm sind alle Räume homogen). Ein topologischer Raum X heißt, vereinfacht gesagt, homogen, wenn auf ihm eine topologische Transformationsgruppe G transitiv wirkt. Transitiv heißt, für alle x, y aus X gibt es ein g aus G mit gx=y. Die Definition umfasst, dass G stetig wirkt (gx stetig von g und x abhängt). Anschaulich bedeutet homogen, dass der Raum X von jedem Punkt x aus geometrisch gleich aussieht. 18 Vgl. dazu NOETHER 1914, 32. 19 Vgl. zur Einordnung R. Fricke (1913) in ENCYKLOPÄDIE Bd. II.2. 20 Vgl. Meyer, Franz: Invariantentheorie. ENCYKLOPÄDIE I B2, bes. 297; Wirtinger, W.: Algebraische Funktionen und ihre Integrale. ENCYKLOPÄDIE II 2, 115-75, bes. 153-57. Zuerst in Klein, F.: „Zur Theorie der Abel’schen Functionen“. Math. Ann. 38 (1889), weiter entwickelt durch Kleins Schüler Ernst Ritter. 21 Die zu einer Kleinschen Gruppe (Hauptkreisgruppe) gehörenden automorphen Funktionen. 22 Vier von F. Klein eingeführte, voneinander abhängige Parameter zur Beschreibung und Berechnung der Bewegung des Kreisels. 23 Vgl. BIOESMAT-MARTAGNON 2010; PLUMP 2014.

1.1 Zum Stand der Forschung

5

David E. Rowe, einer der besten Kenner der Mathematik Felix Kleins, verfasste eine Rezension zu HAWKINS (2000), die ein Meisterstück von wohlwollender Reverenz an den mit Preisen Geehrten darstellt und zugleich mit Hinweisen gepaart ist, was aus historischer Sicht ungenau bzw. unterbelichtet blieb. Hier deutet sich an, dass es nahezu unmöglich scheint, ein auch noch so enges Gebiet exakt im historischen Prozess zu erfassen und zugleich für den aktuell Forschenden hinreichend einzuordnen. Rowe analysierte mit seiner Dissertation (1992) und weiteren Arbeiten maßgebliche Ergebnisse der Tätigkeit Felix Kleins. Zudem regte er Schüler im Themenfeld an. Jüngst fasste er eigene ältere Aufsätze noch einmal in einem Sammelband zusammen (ROWE 2018a). Dreißig Jahre zuvor hatte David Rowe Mathematikhistoriker zu einem internationalen Symposium vereint24, woraus drei Bände History of Modern Mathematics erwuchsen. Er selbst betrachtete die frühen geometrischen Arbeiten von Felix Klein und Sophus Lie, denen sich lange Zeit auch Eldar Straume (Norges teknisknaturvitenskapelige universitet, Trondheim) und Leslie Kay (Virginia Tech, USA) im Kontext mit einer Edition der Briefe Kleins an Lie widmeten. Beim Symposium 1988 lieferte Jeremy J. Gray einen Beitrag über algebraische Geometrie des 19. Jahrhunderts. Weitere Arbeiten Grays über Lazarus Fuchs und dessen Theorie der Differentialgleichungen (1984), die Poincaré-Biographie (2013)25 u.a. sind für die Klein-Forschungen wertvoll. Hinsichtlich der Beziehungen zwischen Klein und französischen Mathematikern seien zudem Arbeiten von Cathérine Goldstein und ihrer Schüler hervorgehoben; sie betreffen insbesondere die Beziehungen zu Charles Hermite. François LÊ (2015) befasste sich in seiner Dissertation mit der kubischen Fläche mit 27 Geraden, die Klein Zeit seines Lebens begleitete.26 Frédéric Brechenmacher, Experte für Camille Jordan, analysierte dessen Bezüge zu Klein. Im Rahmen einer Abschlussarbeit in Jena übersetzte und kommentierte Tina RICHTER (2015) Briefe, die Gaston Darboux an Klein schrieb. Auf der Basis weiterer Quellen konnte Kleins Verhältnis zu französischen Mathematikern detaillierter untersucht werden. (TOBIES 2016) Felix Kleins umfangreiche Korrespondenz, die sich wohlgeordnet im Nachlass in der Handschriftenabteilung der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen befindet, ist bisher nur zu einem kleinen Teil ediert worden. Die Briefe, die Klein und Hilbert austauschten, gab Günther FREI (1985) heraus, der im Juni 1988 ebenfalls am Symposium in Poughkeepsie teilnahm. Hier traf die Autorin auch Umberto Bottazini, der zu Riemanns Einfluss auf italienische Mathematiker arbeitete. Er nahm in einer Darstellung mit Jeremy Gray die Herausbildung der Theorie komplexwertiger Funktionen in den Blick (BOTTAZINI/ GRAY 2013). Bottazini und weitere italienische Mathematikhistoriker/innen tru24 Das Symposium fand vom 20. bis 24. Juni 1988 im Vassar College, Poughkeepsie (New York) statt. In der Buch-Publikation ROWE/MCCLEARY 1989 steht für das Datum des Symposiums das falsche Jahr 1989. 25 Das Buch beschränkt sich vor allem auf die Analyse der wichtigsten publizierten Arbeiten, vgl. hierzu die Rezension von Scott A. Walter (Historia Mathematica 44 (2017), 425-35). 26 Anlässlich Kleins 150. Geburtstages wurde ein Keramik-Modell davon (1,40m breit, 2,50m hoch) an der Universität seines Geburtsorts Düsseldorf aufgestellt, vgl. KAENDERS 1999.

6

1 Einführung

gen dazu bei, Kleins enge Bezüge zur italienischen algebraisch-geometrischen Schule zu erhellen. Es seien vor allem die Studien über die Mathematik in Bologna (COEN 2012) sowie über Corrado Segre (CASNATI et al. 2016) hervorgehoben. Dass Klein seit seinem ersten Italienaufenthalt (1874) ein enges Verhältnis zu italienischen Mathematikern aufbaute, erschließt sich ebenfalls aus der Analyse von Korrespondenzen (MENGHINI 1992-96; LUCIANO/ROERO 2012; ISRAEL 2017) sowie aus Dokumenten, welche die Autorin in Pisa einsehen konnte. TOBIES/ROWE (1990) enthält Kleins Korrespondenz mit Adolph Mayer, in deren Zentrum die Herausgabe der Mathematischen Annalen steht. PARSHALL/ ROWE (1994) schließt Kleins Rolle für die US-amerikanische Mathematik mit ein. Reinhard SIEGMUND-SCHULTZEs jüngere Arbeiten über Richard von Mises präzisieren das von Klein geförderte Feld mathematischer Anwendungen. Michael ECKERTs Studien über Arnold Sommerfeld (2013), Ludwig Prandtl (2017) u.a. sowie Ulf HASHAGENs Dissertation (2003) über Walther Dyck sind zuverlässige Fundgruben für die Klein-Biographie. Die durch Christa BINDER (1989) besorgte Edition von Briefen Kleins mit dem österreichischen Mathematiker Otto Stolz, die Aufnahme kommentierter Briefe Einsteins an Klein sowie Antworten Kleins in EINSTEIN (Vol. 8, 9), kleinere Editionen von Briefen an M. Pasch (SCHLIMM 2013), Kleins Korrespondenzen mit E. S. Fedorow (BURCKHARDT 1972), mit A. Gutzmer (TOBIES 1988), mit A. A. Markow (TOBIES 2018) ergänzen das Bild. Wichtige Studien lieferten auch Karl-Heinz MANEGOLD (1970) über Kleins wissenschaftsorganisatorische Bestrebungen, Susann HENSEL (1989) über die antimathematische Bewegung der Ingenieure, die Klein zu überwinden wusste, sowie Bernhard VOM BROCKE (1991) über das „System Althoff“ in der preußischen Wissenschaftsadministration, in welchem Klein eine Position als Berater errang. Eine beträchtliche Zahl von Autorinnen und Autoren untersuchte Kleins Beiträge zur mathematischen Unterrichtsreform. Verwiesen sei auf die Pionierstudien von Gert Schubring, der gleichfalls am Symposium von 1988 teilnahm, sowie auf Studien von MATTHEIS (2000) und Hans Niels JAHNKE (2018). Wichtige Voraussetzung dafür, die vorliegende Biographie in Angriff nehmen zu können, waren bisherige eigene Arbeiten zu einzelnen Aspekten. Dazu kann die Bibliographie zu diesem Buch konsultiert werden. 1.2 FORSCHUNGSLEITENDE ASPEKTE Forschungsleitende Aspekte für das vorliegende Buch sind: Erstens. Es wird untersucht, wie und wodurch Felix Klein zu einem international anerkannten Mathematiker wurde, der die Entwicklung von Mathematik, ihre Anwendungen und den Unterricht während seiner Zeit maßgeblich prägte. Zweitens. Kleins Art und Weise zu forschen, zu leiten und zu lenken, beruhte auf Kooperation. Er zog Studierende und junge Forscher aus zahlreichen Ländern an. Es soll gezeigt werden, wer die wichtigsten Kooperationspartner für seine Forschungsprogramme und Projekte in den konkreten Zeitabschnitten waren, sowie wann und warum Konkurrenz anstelle von Kooperation entstand.

1.2 Forschungsleitende Aspekte

7

Drittens. Kleins Lebenszeit fiel in das deutsche Kaiserreich und den Beginn der Weimarer Republik. Er war kurze Zeit Sanitäter im Deutsch-FranzösischenKrieg und erlebte den Ersten Weltkrieg. Er gewann finanzielle Mittel aus der Industrie und auch von Militärbehörden, um Lehre und Forschung in Göttingen auszubauen. Es soll geprüft werden, welche politische Haltung dahinter stand. Um die strukturellen Besonderheiten in Felix Kleins Karriere zu erfassen, erweist sich der von Ludwik Fleck eingeführte Begriff des Denkkollektivs als nützlich. Dessen Werk wurde als Vorläufer von Thomas S. Kuhns The Structure of Scientific Revolutions bekannt. Der polnisch-jüdische Mikrobiologe, Mediziner und Wissenschaftstheoretiker Fleck analysierte 1935 lange vor Kuhn das Entstehen und die Struktur einer Forschergemeinschaft, von ihm Denkkollektiv genannt. Für die darin vorherrschenden Ansichten prägte er das Wort Denkstil: „Definieren wir ‚Denkkollektiv‘ als Gemeinschaft der Menschen, die im Gedankenaustausch oder in gedanklicher Wechselwirkung stehen, so besitzen wir in ihm den Träger geschichtlicher Entwicklung eines Denkgebietes, eines bestimmten Wissensbestandes und Kulturstandes, also eines besonderen Denkstiles.“27

Fleck verwies sowohl auf die Gruppen bildende, soziale Wirkung von gemeinsam vertretenen Ansichten und Begriffen als auch auf die besondere Rolle der Einführung in ein Arbeitsgebiet für einen jungen Forscher. Die in Kindheit und Jugend erworbenen Gruppennormen können Sinn stiftend für die weitere Laufbahn sein. Erfahrungen in einem Gebiet und das sich Erproben in anderen Gemeinschaften können zugleich Ausgangspunkte sein, um Mitglied eines speziellen Denkkollektivs zu werden bzw. selbst ein Kollektiv zu formen. Dabei kann nach Fleck jedes Mitglied gleichzeitig verschiedenen Gemeinschaften angehören (wissenschaftlichen, politischen, kulturellen) und differierende Ansichten einbringen. Das Bilden, Lenken und Leiten von Vereinen oder Gruppen können wir geradezu als ein Kleinsches Charakeristikum erkennen. Kleins Arbeitsethos basierte auf den Werten seiner Familie und Schule. Seine Verbundenheit mit Plücker und Clebsch ließ ihn zugehörig zu einer internationalen Gemeinschaft von „neuerer Geometrie“ werden, die sich national erst durchsetzen musste. Das frühe Ableben sowohl von Plücker als auch von Clebsch trug bei, dass Klein relativ schnell Haupt eines Denkkollektivs werden konnte, welches Riemanns geometrisches Programm auszuführen gedachte. Leo Koenigsberger, erster bedeutender Schüler von Karl Weierstraß, nahm damit einen Umbruch im Denkstil wahr: Auch wir jüngeren Mathematiker hatten damals sämtlich das Gefühl, als ob die Riemannschen Anschauungen und Methoden nicht mehr der strengen Mathematik der Euler, Lagrange, Gauß, Jacobi, Dirichlet u. a. angehörten — wie dies ja stets der Fall zu sein pflegt, wenn eine neue große Idee in die Wissenschaft eingreift, welche erst Zeit braucht, um in den Köpfen der lebenden Generation verarbeitet zu werden. So wurden die Leistungen der Göttinger Schule von uns, zum Teil wenigstens, nicht so geschätzt, als es ihrer großen Bedeutung zukam, und wir gaben ihnen häufig nicht sogleich die Stelle, welche die Wissenschaft ihnen sehr bald anwies.28 27 FLECK 1935/1980, 54-55. Vgl. dazu auch TOBIES 2010, 19-20; 2012. 28 KOENIGSBERGER 1919, 55.

8

1 Einführung

Klein blieb dem geometrischen Denkstil verhaftet, auch wenn er Methoden anderer Richtungen in sein Konzept integrierte. Als fast 60-Jähriger akzeptierte er den axiomatischen Denkstil, der sich in Deutschland vor allem mit David Hilbert durchsetzte29. Klein hatte Hilberts neuen Ansatz in der Invariantentheorie gefördert, mochte sich aber zunächst seiner „abstrakten“ Zahlentheorie nicht anschließen. Wir werden sehen, dass Kleins viel diskutierte „Arithmetisierungs“-Rede (1895) zunächst gegen Hilberts neue „abstrakte“ Herangehensweise zielte, was Klein später selbst als subjektiv qualifizierte (vgl. 6.3.7.3; 8.2.2; 8.3.2). Im Unterschied zu MEHRTENs (1990) Zuordnungen von modern und gegenmodern in der Mathematik scheint es mir möglich, bei Klein von einer besonderen Art von Moderne zu sprechen, auf deren Basis sich Arbeitsrichtungen wie Numerische Mathematik, Versicherungs- und Finanzmathematik u.a. entfalten konnten, die auch in Gebiete wie Techno- und Wirtschaftsmathematik30 mündeten. Um für mathematische Anwendungen in technischen Gebieten die erforderliche institutionelle und personelle Basis zu schaffen, bedurfte es neuer Finanzquellen, die Klein für Göttingen fand, orientiert an der Carl-Zeiss-Stiftung in Jena und am US-amerikanischen Beispiel. Mitchel Ash entwarf ein wissenschaftshistorisches Konzept, das den Blick auf Ressourcen „finanzieller […] kognitiver, apparativer, personeller, institutioneller oder rhetorischer Art“31 für Wissenschaftsentwicklung lenkt. Dieses Ressourcen-Konzept eignet sich, Kleins Bestreben zu verstehen, Finanzmittel für Lehre und Forschung, für Apparate und Institute von allen verfügbaren Quellen (Staat, Industrie und Militärbehörden) zu nutzen. Umgekehrt kann das Interesse der Geldgeber an wissenschaftlichen Ergebnissen eingeordnet werden. Zugleich lässt sich Kleins Agieren als parteiloser Repräsentant der Universität Göttingen im Herrenhaus (Erste Kammer des Preußischen Landtags), sowie manche staatsnahe Rhetorik und Zustimmung zu Deklarationen während des Ersten Weltkrieges großenteils damit erklären. Cordula TOLLMIENs (1993) sorgfältige Analyse ermöglichte, Kleins Unterschrift unter den nationalistischen Aufruf an die Kulturwelt neu zu interpretieren. Klein wie auch Max Planck u.a. kannten den Text zuvor nicht und bedauerten den erzwungenen Rückzug von der internationalen Gemeinschaft. Weitere Quellen belegen Kleins eindeutige Verurteilung von nationalem Chauvinismus (vgl. 8.4). Zu Kleins Zeit waren antisemitische Ansichten stark verbreitet. David ROWE (1986) äußerte sich bereits grundsätzlich zu Kleins Haltung. Wir können dessen Haltung auch unter dem Nutzen-Aspekt betrachten. Klein suchte jeweils nach der für eine konkrete Aufgabe am besten geeigneten Person. Dabei engagierte er sich für Befähigte unabhängig von Geschlecht, religiöser Zugehörigkeit oder Nation, wozu Georg Pick (vgl. 5.5.2.4), Max und Emmy Noether, Adolf Hurwitz, Arthur Schönflies, Gino Fano und viele weitere gehörten.

29 Vgl. auch Kleins Notizen zu den Hilbertschen Problemen von 1900 im Schlusskapitel 10.1. 30 Vgl. NEUNZERT/PRÄTZEL-WOLTERS 2015; FRAUNHOFER ITWM 2018. 31 Vgl. ASH 2002, 32; auch ASH 2016.

1.3 Editorische Bemerkungen

9

1.3 EDITORISCHE BEMERKUNGEN Dieser Abschnitt gibt Hinweise auf den Umgang mit den Quellen, die Zitierweise und weitere editorische Aspekte. Ausgehend von TOBIES (1981a) bot Emil Fellmann (Basel) bereits 1982 an, eine große Klein-Biographie für seine Reihe Vita mathematica zu verfassen. Das konnte damals nicht realisiert werden, weil erst Kleins umfangreicher Nachlass in Göttingen studiert werden musste. David Rowe ermöglichte der Autorin einen ersten vierwöchigen Studienaufenthalt dort 1985, sodass Teilergebnisse seit dieser Zeit publiziert wurden. Die vorliegende Biographie basiert somit auf zahlreichen Vorarbeiten. Originalbriefe sind Dokumente mit dem höchsten Grad an Authentizität. Deshalb wurden für das vorliegende Buch zahlreiche weitere Briefe von und an Felix Klein studiert, und Klein soll im Buch möglichst oft selbst zu Wort kommen. Ein Anliegen des Buches ist es, anhand bisher nicht benutzter oder kaum analysierter Quellen Gründe für Entscheidungen aufzudecken, das Entstehen von Ansätzen zu erkennen, zeitgenössische Argumente und Urteile zu präsentieren. Felix Klein vernichtete bedauerlicherweise im Jahre 1878 die zuvor an ihn gerichteten Briefe. Um die frühe Zeit zu beurteilen, sind deshalb Kleins an anderen Orten (Oslo, Paris, Pisa, St. Petersburg…) liegende frühe Briefe an die Korrespondenzpartner besonders wichtig. Darüber hinaus waren Unterlagen aus dem Privatnachlass der Familie Meinolf Hillebrand, eines Urenkels Felix Kleins, Materialien vom Gymnasium in Düsseldorf, und weitere Privatnachlässe wertvoll. Eine Übersicht über diese Primärquellen enthält das Verzeichnis der Archivalien im Anhang. In den Fußnoten enthaltene abgekürzte Quellen befinden sich in voller Länge in der Bibliographie. Dabei verweisen in [eckige] Klammern gesetzte Quellenangaben auf Archivalien, in KAPITÄLCHEN gesetzte Autorennamen auf Literatur. Einige Sekundärliteratur, die nur für den speziellen Kontext wichtig ist, wurde vollständig in die jeweilige Fußnote und nicht extra in die Bibliographie aufgenommen. Zitate folgen dem Original. Dabei ist zu beachten, dass Texte aus den Zeitschriften (und Briefen) des 19. Jahrhunderts im Vergleich zu den Texten, die in die Gesammelten Mathematischen Abhandlungen (GMA) Kleins aufgenommen wurden, aufgrund einer späteren Rechtschreibreform unterschiedlich gesetzt sind (z.B. Function bzw. Funktion; Complex bzw. Komplex; definirt bzw. definiert; nothwendig bzw. notwendig). Abkürzungen wie GMA oder DMV (Deutsche Mathematiker-Vereinigung) u.a. sind im Abkürzungsverzeichnis am Ende des Buches erklärt. Im laufenden Text des Buches sind manche Zitatauszüge kursiv gesetzt. Das erfolgt aufgrund einer erwarteten besseren Lesbarkeit und basiert auf keiner grundsätzlichen Regel. Hier orientiert sich die Autorin an ECKERT 2013. Die Transkription kyrillischer Namen bleibt aufgrund der in den Quellen differierenden Schreibweisen uneinheitlich.

10

1 Einführung

Danksagungen Der Dank gilt zunächst herzlich dem Verlag Springer-Heidelberg, insbesondere Frau Denkert, für die nachdrückliche Anregung, diese Biographie zu schreiben. Die Autorin dankt in besonderem Maße Helmut Neunzert, der als Begründer der Technomathematik in Deutschland auf Kleins anwendungsorientierten mathematischen Spuren wandelte und die Autorin drängte, das Projekt voranzubringen. Kleins Urenkel Meinolf Hillebrand und seiner Familie in Scheeßel sei für das Überlassen von Materialien herzlich gedankt. Studiendirektor Herbert Gromig, Görres-Gymnasium in Düsseldorf, sandte der Autorin im Jahre 2016 dankenswerterweise eine Kopie des Reifezeugnisses sowie die von Klein verfassten schriftlichen Abitur-Arbeiten mit den Urteilen der Lehrer. Bei der Arbeit in den Archiven und Bibliotheken erfuhr die Autorin vielfältige Hilfe. Namentlich seien hervorgehoben: die langjährige Bibliothekarin des Mathematischen Instituts der Universität Leipzig, Frau Ina Letzel; Frau PD Dr. Katherina Habermann, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen; Frau Bärbel Mund und der inzwischen pensionierte Dr. Helmut Rohlfing, Handschriftenabteilung dieser Bibliothek; Herr Dr. Ulrich Hunger und Frau Angelika Handschuck, Universitätsarchiv Göttingen; Herr Philipp Kastendieck, Leiter der Bibliothek des Mathematischen Instituts der Universität Göttingen. Der Zugang zum Archiv der Scola Normale in Pisa wurde durch den Mathematiker Tito M. Tonietti ermöglicht. Um Kleins Briefe aus dem Darboux-Nachlass in Paris zu erhalten, unterstützte mich Marie-José Durand-Richard. Für die erfolgreiche Arbeit im Archiv der Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg u.a. waren die Hilfe und Hinweise von Sergey S. Demidov (Moskau), Danuta Ciesielska (Krakow), Annette Vogt (Berlin) wichtig. Für vielfältige Unterstützung geht der besondere Dank an Winfried Mahler und an meinen Sohn Stefan Tobies. Vorträge in Mathematischen Kolloquien, auf nationalen und internationalen Tagungen, Workshops im Mathematischen Forschungsinstitut Oberwolfach zu Spezialthemen dienten dazu, den Blick zu vertiefen. Die Arbeitsbedingungen an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, am Institut für Geschichte der Medizin, Naturwissenschaften und Technik (Ernst-Haeckel-Haus), wofür dem verstorbenen Olaf Breidbach sowie Thomas Bach und Karola Schrader vor allem gedankt sei, sowie in der Arbeitsgruppe Didaktik der Mathematik und Informatik unter Leitung von Michael Fothe bildeten maßgebliche Grundlage für die Arbeit. Die Autorin konnte sich auf zahlreiche weitere Experten stützen, die ihr Wissen bereitwillig zur Verfügung stellten. Dafür sei gedankt Michael Eckert (München), Hans Fischer (Eichstädt), Harald Kümmerle (Halle), Elisabeth Mühlhausen (Göttingen), Hans Niels Jahnke (Essen), Nicola Oswald (Wuppertal), David Rowe (Mainz), Rainer Schimming (Potsdam), Erhard Scholz (Wuppertal), Reinhard Siegmund-Schultze (Kristiansand, Norwegen), Cordula Tollmien (Göttingen), Christa Uhlig (Berlin), Klaus Volkert (Wuppertal), Martina Zähle (Jena). Für evtl. dennoch vorhandene Fehler oder Ungenauigkeiten ist selbstverständlich die Autorin allein verantwortlich.

2 PRÄGENDE GRUPPEN In diesem Kapitel wird untersucht, welche Personen und Gemeinschaften Felix Kleins Ansichten, Arbeitsethos, Verhaltensweisen, Denkstil prägten. Als Gruppierungen sollen betrachtet werden: – seine familiäre Herkunft; – Mitschüler und Lehrer in Düsseldorf; – die Denkgemeinschaft während des Studiums in Bonn mit Julius Plücker; – die algebraisch-geometrische Schule um Alfred Clebsch; – die in Berlin und Paris gewonnenen Freundeskreise und – der über Mathematik hinausgehende Kreis von Privatdozenten in Göttingen. 2.1 DER FAMILIENVERBAND KLEIN – KAYSER Arbeitsethos und weitere bestimmende Faktoren wurden Klein in die Wiege gelegt. Dabei speisten die väterliche und die mütterliche Seite verschiedene Gaben ein. In diesem Urteil waren sich Felix Klein und sein Bruder Alfred einig. 2.1.1 Königstreue, sparsame Erziehung westfälischen Ursprungs Ein zäher Wille, nie nachlassender Fleiß, nüchterner Wirklichkeitssinn, unbedingte Zuverlässigkeit und wohlbedachte Sparsamkeit – das sind die althergebrachten Eigenschaften dieses harten deutschen Stammes, die auch in meinem Vater unverfälscht verkörpert waren.1

Die Familie (Kleine, Kleinen) entstammte dem westfälischen Sauerland.2 Bauern und Vertreter der Kleineisenindustrie gehörten zu den Vorfahren. Der Urgroßvater, Bauer Friedrich Peter Kleine (*11.11. 1731), heiratete am 27. Juli 1776 Catharina Margarethe Schürfeld. Deren erstgeborener Sohn Johannes Peter Friedrich Klein (*18.9.1777, † 22.11.1858) ehelichte Maria Catharina Hammerschmidt (*31.3.1787, †6.10.1871), Tochter eines Holzhändlers. Der Vater dieser Großmutter Felix Kleins habe nicht schreiben, aber vorzüglich Kopfrechnen beherrscht. Großvater Peter Klein errichtete eine Schmiede, in welcher Grubenlampen und andere Kleingeräte aus Eisen hergestellt wurden. Diese Großeltern führten ein sehr einfaches und sparsames Leben: ein Eimer im Hofe diente zur Morgenwäsche; ein kleiner Wohlstand wurde hart erarbeitet, indem jeweils errungenes kleines Vermögen in den Erwerb von Waldparzellen gesteckt, diese eigenhändig gerodet und in Ackerland verwandelt wurden. Von ihren sechs Kindern war der Älteste Felix Kleins Vater: Peter Caspar Klein, geboren am 11. August 1809 in 1 2

KLEIN 1923a, 12 (Autobiographie Felix Kleins). [Privatnachlass Hillebrand] Klein, Alfred, 1910; erweitert 1918 (Familienchronik).

11 © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Tobies, Felix Klein, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58749-2_2

12

2 Prägende Gruppen

Voerde und gestorben am 26. Januar 1889 in Düsseldorf. Dessen altpreußischprotestantische Gesinnung stand – wie Felix Klein es 1923 ausdrückte – „im schroffen Gegensatz zu der leichteren lebensfrohen Art der Rheinländer“3. Alfred Klein (1910) beschrieb den Vater als „kernigen Westfalen, fleißig, kurz angebunden, ein organisatorisches und finanzielles Talent, selbständig gesinnt, unabhängigen Charakters und lauterer Gesinnung, hart gegen sich und Andere“.

Abb. 4: Felix Klein im Alter von zwei Jahren

Weil Caspar Klein ein schwächliches Kind war, hatte er nicht das kärgliche Handwerker- und Bauernleben führen müssen. Er hatte sich mit 15 als Schreiber beim Bürgermeisteramt der Enneper Straße verdingen können. Das Amt umfasste die Gemeinden Haspe, Voerde (der Wohnsitz der Großeltern), Vorhalle, Waldbauer und Westerbauer. Die Straße erstreckte sich zwei Meilen entlang des Flusses Ennepe und war Ende des 18. Jahrhunderts von der preußischen Regierung zu einer Heerstraße ausgebaut worden. An ihr lagen zahlreiche eisengewerbliche Produktionsstätten. Mit dem Militärdienst gelangte Caspar Klein nach Düsseldorf, wo er als Brigadeschreiber und Unteroffizier, 1829-1831, nebenher für die „Königliche Regierung“ tätig war. Düsseldorf fungierte seit dem Wiener Kongress (1815) als Regierungssitz der Rheinprovinz des Königreichs Preußen. Hier wurde Felix Kleins Vater Civil-Supernumerar (Beamtenanwärter) und diente sich bis zum Präsidial-Sekretär hinauf. Im Jahre 1845 übernahm er zusätzlich das Nebenamt als Inspektor für die Schlösser Jägerhof und Benrath. Als Vertrauter der Regierungspräsidenten, Adolph Theodor Freiherr von Spiegel-Borlinghausen und zu Peckelsheim (von 1837 bis November 1849 im Amt) und Karl Friedrich Leo Freiherr von Massenbach (von 1850 bis 1866) stand Caspar Klein treu zum Königshaus. Während der Bürgerlichen Revolution 1848/49 saß er mit seiner Familie ängstlich auf gepackten Koffern. Doch es passierte wenig, und seine Treue wurde am 7. August 1850 mit dem Roten Adlerorden IV. Klasse belohnt.4 Ende 1853 3 4

KLEIN 1923a, 12. Sein Sohn Felix sollte diesen Orden 1889 erhalten (vgl. Abschnitt 6.3.7.1).

2.1 Der Familienverband Klein – Kayser

13

avancierte Caspar Klein zum Kgl. Landrentmeister, d.h. obersten Finanzbeamten an der Kgl. Regierungshauptkasse in Düsseldorf. Auf Felix Kleins Abiturzeugnis ist sein Vater als Landrentmeister und Regierungsrath eingetragen. Caspar Klein hinterließ ein Vermögen von etwa 700.000 Reichstalern, „das er durch eisernen Fleiß, größte Sparsamkeit, finanzielles Geschick erworben hatte“.5 Er ermöglichte seinem naturwissenschaftlich-technisch interessierten Sohn Felix Fabrikbesichtigungen und verfolgte den Grundsatz, die Söhne früh auf Berufsziele und auf ein eigenes Auskommen zu orientieren. Dem strengen Sparsamkeitsprinzip der Familie musste sich Felix Klein noch als Privatdozent fügen. So sollte er sich später in einem Brief an den norwegischen Mathematiker Sophus Lie über das strenge, kein Abweichen duldende Regime beklagen: Lieber Lie! Heute muß ich Dir eine traurige Mittheilung machen. Ich werde im Herbste nicht nach Norwegen kommen können. Meine seitherige Berechnung ist nämlich durch einen Brief, den ich gestern von Hause [sic!] bekommen habe, über den Haufen geworfen. Ich hatte mir einen Plan gemacht, wonach ich die Reise ermöglichen konnte, wenn mir von Hause aus nur diejenige Summe, die ich überhaupt im Jahre bekomme, zur Verfügung gestellt werden würde. Das aber verneint mein Vater kategorisch; ich soll mich „als wenn ich ein Beamter wäre“ an regelmäßige vierteljährliche Zahlungen gewöhnen. „Große Reisen könnte ich machen, wenn ich einmal selbst über größere Mittel verfügte“. Ich muß mich mit Gewalt zurückhalten, sonst möchte ich hier eine lange Auseinandersetzung machen, wie wenig man mich und meine Sinnesart zu Hause versteht. Diese Menschen – und doch muß ich sagen, dass meine Eltern relativ das noch gar nicht in hervorragendem Maße thun – taxiren den Werth des Lebens nach dem Gelde, was man dabei verdient, resp. spart! Und man ahnt nicht, wie schön es ist, wenn man einer Idee lebt, man glaubt es geradezu nicht, wenn man sagt, daß man die Wissenschaft ihrer selbst willen treibe. […]6

In dieses Urteil bezog Felix Klein seine Mutter mit ein. Der Vater hatte im Alter von 35, am 10. September 1844, die zehn Jahre jüngere Sophie Kayser geheiratet, nachdem er eine Summe von 2000 Reichstalern angespart hatte. 2.1.2 Pädagogische Begabung und vielseitige Interessen als mütterliche Gabe Meine Mutter stammte aus ebenfalls zugewanderten Kreisen der Aachener Industrie. Sie war heiterer Natur und von größerer Beweglichkeit der Auffassung als der Vater. Infolgedessen waren ihre vielseitigen Interessen die Hauptquelle geistigen Lebens im Hause. Freilich war mit dieser größeren Regsamkeit auch eine Neigung zu nervöser Erschöpfung verbunden, die mir als ein Erbteil meiner mütterlichen Herkunft im späteren Leben häufig zu schaffen gemacht hat.7

Dieses Urteil Felix Kleins ergänzte sein Bruder Alfred: „Meine Mutter stellte die Güte und Milde im Hause dar, sie besaß ausgeprägte pädagogische und spekulativ-wissenschaftliche Interessen und ein großes Gedächtnis für Geschichtszahlen.“ Alfred Klein betonte zudem die geistige Regsamkeit beider Elternteile und deren 5 6 7

[Privatnachlass Hillebrand] Klein, Alfred (1910). [Oslo] Klein an Sophus Lie, 22.5.1871. – Zur Stellung des Privatdozenten vgl. 2.8.1. KLEIN 1923a, 12.

14

2 Prägende Gruppen

„rationalistische Denkweise in religiösen Fragen“.8 Felix Klein hing sehr an seiner Mutter und soll ihr jeden Sonntag einen Brief geschickt haben.9 Der erforschte Stammbaum der Familie Kayser reicht bis zur Reformation zurück. Unter den Vorfahren waren, neben Wirten und Bauern, auch kirchliche Würdenträger, Chirurgen, Apotheker, ein Gutsverwalter, Amtmann, Weinhändler, Instrumentenmacher. Ein Vorfahr (Geh. Kommerzienrat C. G. Jaeger) entwickelte sich vom Farbwarenfabrikanten (Indigohändler) zum Bankier; als er 1852 starb, fielen auf Sophie Kayser 1/32 = 12.500 Reichstaler. In der Freien Reichsstadt Aachen, Stammsitz der Familie Kayser, hatte es während der Reformation Jahrzehnte lang „Religionswirren“ gegeben. Händler und Gelehrte waren als Erste zum protestantischen Glauben übergetreten und vermehrt geflüchtet. Die Tuchmacher-Familie Kayser gelangte bis nach Thüringen. Felix Kleins Großvater mütterlicherseits Christian Gottfried Kayser (*30.10.1791 im Kloster Siemershausen) folgte der Familientradition und wurde Woll- und Tuchhändler. Er heiratete die aus Stolberg (Harz) stammende Eleonore Schleicher (*10.3.1793, †22.5.1875) am 24. März 1817. Die vier Kinder dieses Paares waren Felix Kleins Mutter Sophie (*22.4.1819 in Aachen), Mathilde (verh. Fischer) sowie Alfred und Ivan, die beide in der Spur ihres Vaters Tuchfabrikant bzw. Wollhändler wurden.10 Sophie Kayser entfaltete sich an der Seite von Caspar Klein zu einer ebenfalls sehr auf den Pfennig bedachten Ehefrau. Der Etat des Haushalts musste peinlich genau eingehalten werden. Wie Felix Kleins Bruder Alfred überlieferte, „ging das exakt bis auf das einzelne Brödchen, von dem die Mutter überlegte, ob sie es sich erlauben dürfe: war doch eine Überschreitung des Etats undenkbar“.11 2.1.3 Felix Klein und seine Geschwister Aus der Ehe von Caspar und Sophie Klein gingen vier Kinder hervor. Felix Klein wurde als zweites Kind in der Jägerhofstraße 11 in Düsseldorf geboren. Sein Geburtsdatum, der 25. April 1849, setzt sich aus den Quadraten der Primzahlen 5, 2 und 43 zusammen, was er gern selbst zum Besten gab. Die Eltern prophezeiten ihm mit der Wahl des Vornamens (lat. felix, felcis) „vom Glück begünstigt“ zu sein. Er wurde mit leichter Auffassungsgabe und auch „einem fröhlichen Humor seiner rheinischen Heimat“ ausgestattet, die man ihm nach den ersten drei Worten lebenslang habe anhören können.12 Felix Kleins ältere Schwester Aline Leonore (*19.8.1847) heiratete am 1. Mai 1869 den Unternehmer August Hermann Flender, dessen erste Frau nach kinderloser sechsjähriger Ehe im Jahre 1867 verstorben war. Flender gründete Eisenfabri8 [Privatnachlass Hillebrand] Klein, Alfred (1910). 9 Lindemann, F., Nachruf auf Klein. Münchner Neueste Nachrichten, 9.7.1925. 10 Alfred Kleins Familien-Geschichten (1910; 1918) enthalten keine Lebensdaten zu den Geschwistern der Mutter. 11 [Privatnachlass Hillebrand] Klein, Alfred 1910, 3. 12 Kirchberger, Paul: „Erinnerungen an Felix Klein“. Vossische Zeitung, Berlin, 27.6.1925.

2.2 Schulzeit in Düsseldorf

15

ken in Düsseldorf und Benrath und hinterließ nach frühem Tode, am 3. Januar 1882, ein beträchtliches Vermögen. Seine Schöpfungen lebten fort in Aktiengesellschaften wie Brückenbau Flender sowie Balcke, Tellering & Co. zu Benrath.13 In der Ehe von Aline und August Flender wurden acht Kinder geboren, vier Söhne und vier Töchter. Von diesen sei nur die an dritter Stelle geborene Hermine Adolfine Leonore (*2.3.1873, †28.8.1912) hervorgehoben, weil sie Felix Kleins Doktorschüler Robert Fricke heiratete, nachdem dieser zum 1. April 1894 eine Professur an der Technischen Hochschule Braunschweig erhalten hatte. Felix Kleins erwähnter Bruder Alfred, am 15. Oktober 1854 geboren, studierte Jura, erwarb den Doktortitel und den Titel Justizrat. Am 25. April 1880 ließ er sich als Rechtsanwalt in Düsseldorf nieder.14 Aus dessen erster Ehe mit Magda Schulz (*12.9.1865, †24.5.1893) entstammten zwei Kinder, aus der zweiten mit Helene Portig (*30.10.1873) vier Kinder. Die Briefe von Alfred an seinen Bruder Felix dokumentieren ein gutes Verhältnis. Alfred Klein pflegte u.a. den Kontakt mit Felix Kleins Sohn, als dieser in den USA lebte. Er beriet seinen Bruder in juristischen Dingen, z.B. bei der Anlage eines Testaments: „Ein gemeinschaftliches ist nach meinem Dafürhalten einfacher und genügt vollkommen Deinen Wünschen.“15 Alfred Kleins kaisertreue Haltung lässt sich aus seinen ängstlichen Worten über den anarchistischen Charakter der Novemberrevolution 1918 und über die Spartakisten deuten: „Mein lieber Felix! […] Mich hat seit dem 15/10 der Pessimismus erfasst; ich sehe sehr schwarz in die Zukunft. Wir haben hier ja reiche Gelegenheit, den Wahnsinn der Spartakisten zu geniessen.“16 Die jüngere Schwester Eugenie (*20.1.1861, †30.1.1910) blieb unverheiratet. Sie übte eine Tätigkeit als Krankenschwester, Johanniterin und Vorstandsdame im evangelischen Krankenhause in Düsseldorf aus und fand nebenher Zeit, ihre Nichten auf große Reisen mitzunehmen, wie Alfred Klein 1910 überlieferte. Das Erinnerungsfoto von Felix Kleins Silberhochzeitsfeier im August 1900 zeigt 15 Personen, darunter seine Geschwister Eugenie und Alfred. (Vgl. Abschnitt 3.6.3) 2.2 SCHULZEIT IN DÜSSELDORF Im Lesen, Schreiben und Rechnen durch seine Mutter vorgebildet, wurde Felix Klein als Sechsjähriger für 2,5 Jahre in eine private Elementarschule geschickt und zum Herbst 1857 in das achtklassige Gymnasium Düsseldorfs. Dieses heutige Görres-Gymnasium17 ist eines der ältesten Gymnasien im deutschen Sprachraum, dessen Geschichte bis in das Jahr 1545 zurückreicht. Kleins Bonner Professor Julius Plücker absolvierte hier 1819 die Reifeprüfung. Zu Kleins Schulzeit befand sich das Schulgebäude in der Alleestraße (heutige Heinrich-Heine-Straße). 13 14 15 16 17

[Nachlass Hillebrand] Klein, Alfred (1918), 8; [UBG] Cod. Ms. Klein 10: 399 (Alfred K. an Felix Klein, Brief v. 24.4.1900). Ebd., 10: 403, Brief v. 17.12.1913. Ebd. 10: 400-419, bes. Briefe v. 24.4.1905, 3.12.1913; Zitat aus dem Brief v. 1.4.1919. Die Schule trägt seit 1947 den Namen von Joseph Görres, Naturphilosoph, Publizist.

16

2 Prägende Gruppen

Nach einem durch Wilhelm von Humboldt initiierten Erlass vom 12. November 1812 war Gymnasium im Königreich Preußen eine amtliche Bezeichnung für unmittelbar zur Universität entlassende Schulen. Das waren humanistische Gymnasien mit Dominanz der alten Sprachen. Daneben entstanden im 19. Jahrhundert Realgymnasien (nur Latein als alte Sprache) und Oberrealschulen (stärker naturwissenschaftlich und neusprachlich orientiert). Die Abgänger der jüngeren Typen durften nicht jedes Fach studieren; in Sachsen erhielten sie noch in den 1880er Jahren keine Erlaubnis zur Habilitation.18 Felix Klein sollte maßgeblich beitragen, dass im Jahre 1900 die Gleichwertigkeit der drei nebeneinander bestehenden Arten höherer Knabenschulen verfügt wurde (vgl. Abschnitt 8.3.4.2). Das Kgl. Gymnasium Düsseldorf stand seit 1844 unter Leitung des promovierten Historikers Karl Kiesel, der Lehrbefähigungen für die Fächer Geschichte, Geographie, klassische Sprachen, Hebräisch, Deutsch, philosophische Propädeutik für alle Klassenstufen sowie für Mathematik bis zur mittleren Stufe besaß.19 Klein beschrieb seinen Gymnasialdirektor als strengen hervorragenden Pädagogen; dieser bewertete Kleins griechische Abiturarbeit. Nach acht Schuljahren, zwei davon in der obersten Klasse (Prima), erwarb Felix Klein das Zeugnis der Reife.20 Die Urteile der Lehrer und seine eigenen späteren Kommentare zum Gymnasialunterricht erhärten die Ansicht, dass das im Elternhaus vorgeprägte Ethos harten fleißigen Arbeitens hier vertieft wurde. 2.2.1 Abitur mit 16 Jahren am Humanistischen Gymnasium Die Mühe ist also der einzige Weg, auf welchem der Mensch zur Empfindung seines Glückes gelangen kann. (Klein 1865)

Dies schrieb Felix Klein als Quintessenz seines Abituraufsatzes in Deutsch zum Thema Des Lebens Mühe lehrt allein des Lebens Güter schätzen. Er schloss mit den Worten: „So sind nicht diejenigen die Glücklichsten, welche, im Schoße des Ueberflusses geboren, von Jugend auf im vollsten Besitze alles Wünschbaren gelebt haben, sondern diejenigen, welche allmählich im harten Kampfe mit den Mühen des Lebens von Stufe zu Stufe emporgeklommen sind.“ Der Abiturient Felix Klein nahm auf den Bibel-Spruch Bezug und ergänzte noch: „Ja, ist ein Leben köstlich gewesen, so ist es, wie der Psalmist sagt, Mühe und Arbeit gewesen.“ Das Aufsatzthema war von August Uppenkamp gestellt worden, der wie Kleins Familie aus Westfalen stammte. In Münster 1847 promoviert, war Uppenkamp seit 1851 Oberlehrer am Gymnasium in Düsseldorf, später auch Direktor dieser Schule.21 Sein Urteil über Kleins Aufsatz lautete: „Das Thema ist im Wesentlichen richtig durchgeführt, die Sprache ist zwar ohne Schmuck, aber hinläng18 Vgl. dazu Felix Kleins Engagement an der Universität Leipzig, Abschnitt 5.4.1. 19 [BBF] Personalblatt. 20 [Gymnasium Düsseldorf] Reifezeugnis; schriftliche Abiturarbeiten Felix Kleins 1865. Nach den Schulakten absolvierten alle Abiturienten 1865 die Prima zweimal; einer sogar dreimal. 21 [BBF] Personalblatt.

2.2 Schulzeit in Düsseldorf

17

lich correct. Kl.’s frühere Aufsätze waren in der Regel noch etwas besser. Befriedigend.“ Uppenkamp, auch für Latein zuständig, belohnte Kleins Leistung in diesem Fach (Übersetzung und Aufsatz) mit gut, wobei im Aufsatz eine Sentenz von Cicero zu behandeln war: „In omnibus saeculis pauciores viri reperti sunt, qui suas cupiditates, quam qui hostium copias vincerent.“ (Zu allen Zeiten fand man weniger Männer, die über ihre Begierden wie über feindliche Heere obsiegten.)22 In Evangelischer Religionslehre war das folgende Thema gestellt worden: Was lehrt uns die heilige Schrift über die Person des Heilands? Hugo Deussen, seit 1864 Religionslehrer am Gymnasium und an der Realschule in Düsseldorf und zugleich Hilfsprediger der dortigen evangelischen Gemeinde,23 begleitete die erteilte Note befriedigend für Kleins Arbeit mit folgenden kritischen Worten: In vorliegender Arbeit wäre allerdings ein genaueres Eingehen auf den Lehrinhalt der h. Schrift über die Person unseres Heilandes zu wünschen gewesen, während manches andere, wie z.B. die Sinnlosigkeit Jesu, eine kürzere Fassung gefordert hätte. Ebensowenig war es am Platze, eine Vertheidigung dessen, was die Schrift uns lehrt, zu geben. Ein wesentlicher Mangel dieser Arbeit ist es auch, daß die praktische Bedeutung der dargestellten Lehre gar nicht hervortritt, worauf doch schon die Worte des Themas „unseres Heilands“ hinwiesen. Auch in dem Ausdrucke wäre eine größere Klarheit sowie strengere Ordnung in der Darstellung nöthig gewesen.

Kleins schriftliche Arbeit in Hebräisch beurteilte Lehrer Krahe – der nicht näher identifiziert werden konnte – mit gut. Ebenso fiel die Arbeit im Französischen aus: nur „wenige und geringe Versehen“, wobei das Thema „Victoire de Sobieski à Lemberg“24 auf den kriegerischen Unterrichtsinhalt deutet. Die Sprachkenntnisse sollten Klein das spätere Studium in Paris und die Korrespondenz mit französischen, italienischen, russischen u.a. Kollegen erleichtern. Das Abiturzeugnis enthielt Worturteile über die erworbenen Kenntnisse in neun Fächern (Tab. 1) und bescheinigte hinsichtlich sittlicher Aufführung und Fleiß im Allgemeinen: „K.[lein] hat leicht und mit frohem Sinne gearbeitet, für den Unterrichtsstoff große Theilnahme bewiesen, sich stets sehr gesittet verhalten und in Betreff seiner ferneren Bestrebungen sehr günstige Erwartungen erregt.“ Die Lehrer wählten nur die Noten Gut und Befriedigend für Felix Kleins Leistungen, wobei offensichtlich deutlich strenger als heute bewertet wurde. Das humanistische Gymnasium vermittelte ein Bildungsgut, in welchem die logischgrammatikalische Seite betont und das Gedächtnis trainiert wurde. So erinnerte sich Klein in seiner Autobiographie 1923 an Freude und Genugtuung, nachdem er Strophen aus Schillers Kraniche des Ibykus fehlerlos in griechische Verse übertragen hatte, bezweifelte allerdings, ob er dabei Inhalt und poetischen Wert des Gedichtes voll erfasst habe. Es sei eine ungeheure Stoffmenge ohne lebendige Anschaulichkeit behandelt worden. Poesie, Kulturgeschichte, Volkstum usw. habe gefehlt: 22 Cicero, Ad familiares 15,4,15. 23 KÖSSLER 2008, 68. – Teile der protestantischen Theologie wandten sich damals ab von heilsgeschichtlichen Interpretationen, vom Blutsopfer Jesus u.a., vgl. BERNSTORFF 2009, 79. 24 Johann III. Sobieski (1629-1696), König von Polen und Litauen, Schlacht bei Lemberg.

18

2 Prägende Gruppen Man war eben der Ansicht, daß der Schüler am besten erzogen würde, wenn er sich in harter Arbeit durch einen spröden widerspenstigen Stoff hindurchringen müsse. Wenn auch bei dieser Methode die Phantasie und jedes künstlerische Empfinden leer ausgingen und uns viel wahres Bildungsgut vorenthalten blieb, so wurde uns doch eine wertvolle Fähigkeit übermittelt: Wir lernten arbeiten und nochmals arbeiten.25

Tabelle 1: Urteile über Felix Kleins Leistungen aus seinem Reifeprüfungszeugnis vom 3. August 1865 1. In der Religion weiß er über den Inhalt des Unterrichts Auskunft zu geben, hat auch Proben von Darstellungen ganzer Lehren im Zusammenhange gegeben, die, wenn auch kein sehr tiefes Eingehen, doch Theilnahme und Wissen zeigen, hat also befriedigende Kenntnisse. 2. Im Deutschen behandelt er seine Aufgaben richtig und in angemessener Sprache, zeigt sich in der Logik bewandert, ist auch mit der Literaturgeschichte bekannt, hat also befriedigende Kenntnisse. 3. Im Lateinischen ist er zu zusammenhängender Darstellung, zu leichtem Verständniß und zu mündlichem Gebrauch der Sprache geschickt, so daß seine Kenntnisse gut zu nennen sind. 4. Im Griechischen hat er ein im Einzelnen genaues Verständniß und ist mit dem Gelesenen auch dem Inhalte nach vertraut, wonach seine Kenntnisse auch hier gut zu nennen sind. 5. Im Französischen versteht er das Gelesene so leicht und sicher und gibt Deutsches mit so viel Fertigkeit wieder, daß man ihm gute Kenntnisse zuschreiben muß. 6. Im Hebräischen hat er sich eine genaue Kenntniß der Grammatik, vermöge deren ihm das Verständnis der geeigneten Stellen des alten Testaments gelang, angeeignet, besitzt also gute Kenntnisse. 7. In der Mathematik ist seine Auffassung rasch und sicher und hat er das Gelernte zur Anwendung durchgehends gleich zur Hand, besitzt also gute Kenntnisse. 8. In Geschichte und Geographie hat er sich eine vollständige Uebersicht angeeignet und weiß sich das Einzelne wohl zu vergegenwärtigen und unter Kategorien zu ordnen, daher seine Kenntnisse gut sind. 9. In der Naturkunde hat er ein recht bestimmtes Wissen von dem im Unterricht Vorgekommenen und drückt sich darüber sehr geläufig, klar und vollständig aus, hat also gute Kenntnisse.

2.2.2 Reifeprüfungsaufgaben in Mathematik In seiner Autobiographie erwähnte Felix Klein seinen Mathematiklehrer, Gymnasialprofessor Dr. Jakob Schneider, nicht. Nur in einem Nebensatz verwies er auf den „streng formalen Charakter“ des Mathematikunterrichts, der ihm leicht fiel, dem aber Bezüge zu Anwendungen oder neueren Methoden fehlten. Schneider lehrte von 1858 bis 1888 am Gymnasium in Düsseldorf. Er hatte 1840 mit dem Thema „Ueber electrische Figuren, mit Rücksicht auf verwandte Erscheinungen des electrischen und magnetischen Gewitters“ an der Universität Bonn promoviert und erhielt später zahlreiche Ehrungen insbesondere für archäologische und historische Arbeiten. Aus seinem Personalbogen sind seine Lehrbefähigungen für Mathematik, Physik, Chemie, Botanik und Mineralogie für alle Klassen, sowie für Latein, Geschichte und Geographie für die unteren Klassen erkennbar.26 25 KLEIN 1923a, 13. 26 [BBF]; vgl. auch https://de.wikipedia.org/wiki/Jacob_Schneider

2.2 Schulzeit in Düsseldorf

19

Die mathematische Abiturarbeit mit Kleins Lösungen publizierte bereits Gerd FISCHER (1985). Von den vier Aufgaben ist die algebraische (1) hervorhebenswert. Sie führt auf eine Gleichung 5. Grades. Während die allgemeine Gleichung 5. Grades bekanntlich nicht durch Radikale auflösbar ist27, ließ sich diese spezielle Gleichung auf niedere zurückführen. Gleichungen fünften und höheren Grades sollten später ein wichtiger Forschungsgegenstand für Klein werden. Tabelle 2: Mathematische Abituraufgaben, Gymnasium Düsseldorf 1865 (1) Der Unterschied zweier Zahlen beträgt 2, der Unterschied ihrer fünften Potenzen 2882. Die Zahlen sollen gefunden werden. (Kleins Lösung kommentierte Schneider mit: An der Arbeit ist nichts Wesentliches auszusetzen.) (2) Durch einen gegebenen Punkt in einem gegebenen Kreis eine Sehne so legen, daß ihre Stücke ein gegebenes Verhältnis zueinander haben. (Ganz gelungen) (3) Ein Dreieck zu berechnen aus folgenden Stücken: a = 11, b = 9, d = 5. (In keiner Hinsicht etwas Wesentliches auszusetzen.) (4) Den Inhalt eines rechtwinkligen Parallelepipedons zu berechnen, wenn dessen Diagonalebene ein Quadrat von 122 Inhalt ist und die Grundkanten das Verhältnis von 5 zu 7 haben.

Schneider beurteilte die einzelnen Aufgaben und schrieb: Algebra – gut Planimetrie – gut Trigonometrie – gut Stereometrie – gut. Die Arbeiten stimmen mit seinen sonstigen, in jeder Hinsicht lobenswerten Leistungen vollkommen überein.28

Einen besonders mathematisch interessierten Klassenkameraden hatte Felix Klein nicht. Die meisten seiner Mitabiturienten erstrebten eine theologische Berufskarriere und wurden Priester im Dienste der katholischen Kirche.29 Klein gewann aber mit Albert Wenker, der zwei Jahre nach ihm das Abitur am städtischen Gymnasium in Düsseldorf ablegte, einen seiner „ältesten und besten Freunde“, der ihn 1869-70 beim Bau mathematischer Modelle unterstützen sollte.30 Wenn Klein als Student in den Semesterferien nach Düsseldorf zu seinen Eltern kam, „war er [Wenker] der einzige, mit dem ich wissenschaftlich verkehren konnte“, erfuhr später Sophus Lie. Klein bedauerte es sehr, als Wenker infolge des Deutsch-Französischen Krieges Anfang Februar 1871 an Typhus verstarb.31

27 Niels Hendrik Abel lieferte 1824 den ersten vollständigen Beweis. – Basierend auf der Galoistheorie gaben George Paxton Young und Carl Runge ein explizites Kriterium dafür, ob eine gegebene Gleichung 5. Grades mit Wurzeln lösbar ist. 28 Nach FISCHER 1985, 465. 29 Vgl. KLEIN 1923a, 13. 30 Vgl. die vier Modelle zur Theorie der Linienkomplexe zweiten Grades, KLEIN 1922 GMA II, 7-10; auch die Abschnitte 2.3.4; 2.7.2 im vorliegenden Buch. 31 [Oslo] Klein an Lie, Brief v. 11.3.1871.

20

2 Prägende Gruppen

2.2.3 Naturwissenschaftliche Interessen während der Schulzeit Klein erinnerte sich begeistert an in der privaten Elementarschule geweckte Interessen. Er widmete dem als Referendar durchgefallenen Sohn des Gründers Krumbach dieser Privatschule (damals Grabenstraße, Ecke Kanalstraße) die folgenden Worte: „Ihm verdanke ich die erste Anregung und Unterweisung nach naturwissenschaftlicher Seite, an die ich mich in vielen Einzelheiten noch deutlich erinnere; auch wurde das Kopfrechnen in hervorragender Weise gepflegt.“32 Das Humanistische Gymnasium bot in naturwissenschaftlicher Hinsicht wenig. Klein gewann aber mit Wilhelm Ruer einen Schulfreund, der ihn in dieser Richtung unterstützen konnte: Ein freundliches Geschick gab mir aber durch meinen Freund und Klassengenossen Wilhelm Ruer die fehlende naturwissenschaftliche Anregung. In der Apotheke seines Vaters erhielt ich auf meine unermüdlichen Fragen stets freundliche Belehrung, die durch zahlreiche Exkursionen belebt wurde, und gewann so die ersten chemischen, botanischen und zoologischen Kenntnisse. Entsprechende Anregung nach abstrakter Seite bot sich mir in der kleinen Sternwarte der Stadt Düsseldorf. Ihr Leiter Robert Luther war ein stiller Gelehrter, der sich mit nie nachlassendem Fleiß der damals noch sehr schwierigen Entdeckung kleiner Planeten hingab; er ließ mich in die astronomische Praxis hineinsehen und in einem gewissen Maße an seinen Forschungen teilnehmen. Selbstverständlich experimentierte und bastelte ich nach besten Kräften […].33

Robert Luther war seit 1851 Direktor der Sternwarte Bilk bei Düsseldorf.34 Er entdeckte von 1852 bis 1865, Kleins Abiturjahr, 14 Asteroiden, zehn weitere noch bis 1890. Luther führte Bahnberechnungen durch und erlangte internationale Ehrungen. Klein sollte später in Göttingen nicht nur die gute Besetzung der Astronomie, sondern auch das Einrichten von (Schul-)Sternwarten im Auge haben. Ein anderer Mitschüler Kleins, Adolph Kirdorf, erreichte eine Karriere in der Montanindustrie. Klein konnte ihn im Jahre 1894 für ein Comité gewinnen, um naturwissenschaftlich-technische Forschungen zu fördern (vgl. 7.8). Schon bei seinen frühen Fabrikbesichtigungen interessierte Klein „das Naturwissenschaftliche im weitesten Sinne, vom rein Gedanklichen bis in das virtuos Technische hinein“, weniger die kaufmännische Seite von Unternehmen.35 Hier ordnet sich ein, dass er im Jahre 1916 den Beitritt der Göttinger Vereinigung zum Verband technisch-wissenschaftlicher Vereine ablehnen sollte, weil dieser Verband vornehmlich wirtschaftspolitische Interessen von Unternehmen durchzusetzen gedachte. Auf Kleins Abiturzeugnis ist vermerkt, dass er sich dem Studium der Mathematik und Naturwissenschaften widmen wird. Die Abitur-Prüfungskommission entließ ihn „unter der höheren Voraussetzung, daß er in fortgesetzter Hingebung an seine Aufgabe sich die Mittel zu nützlicher und edler Wirksamkeit erwerben werde.“ Er wählte die nächstgelegene Universität Bonn, die damals die einzige Universität im heutigen Gebiet Nordrhein-Westfalens war. 32 33 34 35

KLEIN 1923a, 12; vgl. hierzu auch Abschnitt 9.2.3 im vorliegenden Buch. Ebd., 13-14. Bilk ist heute Stadtteil von Düsseldorf. Zu Luther vgl. auch NDB, Bd. 15 (1987) 561-62. KLEIN 1923a, 14.

2.3 Studium und Promotion an der Universität Bonn

21

2.3 STUDIUM UND PROMOTION AN DER UNIVERSITÄT BONN Bonn gehörte zur preußischen Rheinprovinz. Diese Kreisstadt im Regierungsbezirk Köln besaß bei der Volkszählung vom 3. Dezember 1864 22.492 Einwohner und damit ca. doppelt soviel wie Kleins Geburtstadt Düsseldorf. König Friedrich Wilhelm III. hatte die Universität Bonn 1818 am Ufer des Rheins für seine neue Provinz errichten lassen, als sechste preußische Universität, nach Greifswald, Berlin, Königsberg36, Halle und Breslau.37 Orientiert am Humboldtschen Bildungsideal der Einheit von Forschung und Lehre wurde hier zugleich der „Geist der freien Forschung für Studirende aller Confessionen“ beschworen.38 Es entstanden eine Theologische Fakultät mit zwei gleichberechtigten Teilen für katholische und evangelische Religion, sowie Fakultäten für Jura, Medizin und Philosophie. Die Philosophische Fakultät hatte im 19. Jahrhundert vor allem die Aufgabe, Lehrer für höhere Schulen auszubilden, und umfasste traditionsgemäß auch Mathematik und Naturwissenschaften.39 Einen Studiengang nur für Mathematik gab es nicht. Klein sollte es erst 1895 in Preußen gelingen, mit Versicherungsmathematik einen neuen Berufsabschluss einzuführen (vgl. 7.7). Er selbst konnte das Studium mit einem Lehramtsexamen oder/und einer Doktorprüfung vollenden. Felix Klein war vom 5. Oktober 1865 bis zum 15. Dezember 1868 an der Universität in Bonn immatrikuliert.40 Früh durch eine schwache Gesundheit (Asthma) geplagt, neigte er seltener als andere zu geselligen Ausschweifungen. Während es für adlige Studenten, wie etwa beim 17-jährigen Otto von Bismarck in Göttingen, zum guten Ton gehörte, über die Stränge zu schlagen und den Karzer ausprobiert zu haben,41 fühlte sich Felix Klein dem Arbeitsethos der emporgekommenen Familie verpflichtet. Wir müssen ihn uns als fleißigen Studenten vorstellen, der bald im Hause seines Professors Julius Plücker ein und aus ging. Erst nachdem Klein den Ruf auf eine ordentliche Professur in der Tasche hatte, trieb er – nach eigener Aussage und wohl nur zeitweise – nicht mehr mit ganz so „finsterem Ernste“ Mathematik, sondern wurde „ein meist sehr lustiger Mensch“.42 Es soll im Folgenden gezeigt werden: – Klein absolvierte ein breit angelegtes Studium der Mathematik und Naturwissenschaften innerhalb von sechs Semestern. – Der dominant geometrisch-anschauliche Zugang von Kleins Arbeiten rührte aus der Kooperation mit Julius Plücker, der sowohl in Physik als auch in Mathematik international beachtete Ergebnisse erzielte.

36 1544 als protestantische Universität von Herzog Albrecht von Brandenburg-Ansbach gegründet; preußisch bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, heute Kaliningrad (Russland). 37 1811-1945 Schlesische Friedrich-Wilhelms-Universität; seit 1946 polnische Uniwersytet Wrocławski. 38 SYBEL 1868, 101; zur Gründungsgeschichte vgl. BECKER 2006. 39 Zum Mathematiklehrerberuf im 19. Jahrhundert vgl. SCHUBRING 1983; 1991. 40 [UA Bonn] Abgangszeugnis F. Kleins. 41 Vgl. KRAUS 2015, und Kraus in FREUDENSTEIN 2016, 102-104. 42 [Oslo] Klein an Lie, Brief v. 26.8.1872.

22 – –

2 Prägende Gruppen

Klein wurde als Student im Rahmen des 50-jährigen Universitätsjubiläums für die Lösung einer physikalisch-theoretischen Preisaufgabe geehrt. Er musste selbstständig entscheiden und eigene Ideen für eine mathematische Dissertation entwickeln, weil Plücker bereits am 22. Mai 1868 verstarb.43 2.3.1 Besuchte Lehrveranstaltungen, und Seminarprämien

Der Name Felix Kleins steht im Bonner Immatrikulationsbuch des Wintersemesters 1865/66 an zweiter Stelle, nach einem Medizinstudenten. Von nur 355 Studenten insgesamt waren 14 für Mathematik und Naturwissenschaften eingeschrieben; davon war Felix Klein mit 16 der Jüngste.44 Seine 13 Mitstudenten stammten aus der näheren Umgebung; nur A. Gontschareff kam aus Simbirsk in Russland. Acht von Kleins Kommilitonen blieben wie er mehrere Semester in Bonn. Von diesen sind Bernhard Pontani und Ernst Sagorski erwähnenswert. Sie erwarben zahlreiche Lehrbefähigungen und schlugen eine Schulkarriere ein. Potani promovierte zudem in Physik bei Adolf Wüllner.45 Sagorski sollte wie Klein für eine studentische Preisarbeit geehrt werden und fungierte als Opponent bei Kleins Promotionsverfahren. Später als Gymnasialprofessor an der Landesschule Pforta (preußisch seit 1815, heute in Thüringen) engagierte er sich wie Klein in der preußischen Schulreform, entwickelte einen Reformlehrplan.46 Dass es relativ leicht war, im Bonner Naturwissenschaftlichen Seminar die Lehrbefähigungen zu erlangen, ist einem Urteil Felix Kleins zu entnehmen: Im naturwissenschaftlichen Seminar in Bonn, 1819 gegründet47, trugen die Mitglieder abwechselnd über Abschnitte aus den damals geltenden allgemeinen Lehrbüchern von. Es wurde in der Woche fünfmal von 4 – 5 Uhr über Chemie, Botanik, Physik, Zoologie und Mineralogie gesprochen. Nach heutigem Maßstab war es ein ganz elementarer Betrieb. Die reiferen Kandidaten unterzogen sich dann innerhalb des Seminars einem Kolloquium, und darin bestand das ganze Oberlehrerexamen für die naturwissenschaftlichen Fächer! Auf diese Weise konnte man aber auch bequem in 3 Jahren mit seinem Studium fertig werden.48

Klein sprach in diesem Seminar über physikalische Themen, über Kristallsysteme in der Mineralogie, Gefäß-Kryptogamen und Generationswechsel in Botanik, Schmetterlinge in Zoologie und Natrium in Chemie.49 Klein ließ wissen, dass ihn 43 Die Angabe der Jahreszahl ist nichttrivial; GRAY 2013 (p. 88) lässt Plücker 1871 sterben, was den Weg von Felix Klein anders hätte verlaufen lassen. 44 [UABonn] Immatrikulationsbuch AB-07, WS 1864-1872. 45 [BBF] Personalblätter. – Zu Wüllners Behandlung der Infinitesimalrechnung in Lehrbuch der Experimentalphysik (61907, Teubner Leipzig) vgl. KLEIN 31924, 234. 46 BBF, Personalblatt; KÖSSLER 2008, Band: Saage – Szymanski, S. 18. Sagorski, E.: Analytisch-geometrische Untersuchungen. Naumburg 1875; FLÖTER 2009, 235f. 47 SCHUBRING 1985, 11, gibt 1825 als Gründungsjahr an. 48 [Nachlass Hecke] Vorlesung Kleins 1910/11, 246-47. 49 Vgl. SCHUBRING 1989a, 210. – Kryptogamen (griech. kryptos verborgen, heimlich; gamein heiraten) sind Pflanzen, die sich im Rahmen von Generationswechsel und ohne Blüten vermehren (z.B. Algen, Moose, Farne, Flechten, Pilze).

2.3 Studium und Promotion an der Universität Bonn

23

besonders die beschreibenden Naturwissenschaften interessierten. Im Poppelsdorfer Schloss wohnend, das seit 1818 der Universität gehörte und vom universitätseigenen Botanischen Garten umgeben war, besaß er dazu guten Zugang: Was Vorlesungen angeht, beschäftigte ich mich, jedenfalls von Ostern 1866 an, hauptsächlich mit Botanik und anderen beschreibenden Naturwissenschaften, wozu mir meine damalige Wohnung im Poppelsdorfer Schloß, in dem auch die naturwissenschaftlichen Sammlungen untergebracht waren, günstige Gelegenheit bot. Mathematische Vorlesungen habe ich nur in geringem Umfang gehört; denn die sehr elementar gehaltenen Vorträge von Lipschitz, dessen wissenschaftliche Bedeutung ich erst sehr viel später einschätzen lernte, wie auch der ganze wenig entwickelte mathematisch-physikalische Unterrichtsbetrieb in Bonn vermochten mich in keiner Weise zu fesseln.50

Im ersten Semester studierte Klein thematisch breit und besuchte typische Anfängerkurse (Tab. 3): Experimentalphysik bei Julius Plücker, Analytische Geometrie bei Rudolf Lipschitz und Differentialrechnung beim Privatdozenten Franz Gehring – den er allerdings als „sehr konfus“ beurteilte.51 Klein belegte Logik beim Extraordinarius für Katholische Theologie Joseph Neuhäuser, dessen Schwerpunkt vor allem antike Philosophie (Anaximander, Aristoteles) war. Für Astronomie hatte sich Klein schon als Gymnasiast interessiert; er hörte nun bei Argelander, auf den der Bau der Bonner Sternwarte 1837 zurückgeht und der auch beim Bau der Sternwarte in Bilk (Düsseldorf) beraten hatte. Argelanders Vorlesungsthema, die von Gauß und Legendre entwickelte Methode der kleinsten Quadrate, integrierte Klein später in die Fakultas für angewandte Mathematik (vgl. Abschnitt 8.1.2), als er selbst Lehrinhalte bestimmen konnte. Klein hörte zu Beginn auch eine Goethe-Vorlesung beim Kunsthistoriker Anton Springer.52 Die Lehre war in zwei Kategorien eingeteilt: Privat-Vorlesungen mussten bezahlt werden. Öffentliche Veranstaltungen waren kostenfrei.53 Tabelle 3: Lehrveranstaltungen, die Felix Klein an der Universität Bonn besuchte Privat-Vorlesungen

Öffentliche Veranstaltungen

WS 1865-66 1) 2) 3) 4)

Prof. Dr. Joseph Neuhäuser: Logik Prof. Dr. Rudolf Lipschitz: Analytische Geometrie Prof. Dr. Julius Plücker: Experimentalphysik PD Dr. Franz Gehring: Differentialrechnung

1) 2) 3)

Lipschitz: Mathematische Übungen Prof. Dr. Anton Springer: Goethe in Bonn Prof. Dr. Friedrich Wilhelm Argelander: Methode der kleinsten Quadrate

50 KLEIN 1923a, 14. 51 Klein in LOREY 1916, 166. – Gehring, 1860 in Berlin promoviert, 1862 Privatdozent in Bonn, Umhabilitation 1873 nach Wien [UA Bonn] PF-PA 158; Musikpublizist. 52 Dies half, Kontakt zum Goethe-Forscher Friedrich Zarncke zu finden (vgl. Abschnitt 5.2). 53 [UA Bonn] Anmeldungs-Buch F. Kleins beim Abgangszeugnis. – SCHUBRING 1989, 208-09, enthält eine Übersicht ohne diese Einteilung. – Es gab noch keine einheitliche Währung. Z.B. sollte Klein als Privatdozent in Göttingen (ab 1871) 5 Gold im Semester pro Student für eine 4-stündige Vorlesung erhalten. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 7E: Bl. 2-8.

24

2 Prägende Gruppen

Privat-Vorlesungen

Öffentliche Veranstaltungen

SS 1866 1) 2) 3) 4) 5)

Plücker: Electricitäts-Lehre Prof. Dr. Hans Landolt: Anorganische Chemie Prof. Dr. Johannes von Hanstein: Allgemeine Botanik Lipschitz: Zahlentheorie Plücker: Mechanisches Practikum

1)

Plücker: Mathematische Übungen

1)

Landolt: Ausgewählte Kapitel (der Chemie) Hanstein: Über Fortpflanzung Lipschitz: Mathematische Übungen Plücker: Mathematische Übungen Prof. Dr. Franz Hermann Troschel: Naturwissenschaftliches Seminar

WS 1866-67 1) 2)

Lipschitz Analytische Mechanik Landolt: Organische Experimentalchemie

2) 3) 4) 5) SS 1867 1) 2) 3)

Lipschitz: Das Newton’sche Gesetz Troschel: Zoologie Prof. Dr. Johann Jakob Nöggerath: Mineralogie

1) 2) 3)

Lipschitz/Plücker: Mathematisches Seminar Hanstein: Natürliches System Troschel: Naturwissenschaftliches Seminar

WS 1867-68 1)

Landolt: Chemisches Practicum

1) 2)

Lipschitz/Plücker: Mathematisches Seminar PD Dr. Eduard Ketteler: Interferenz-Erscheinungen

SS 1868 1)

Lipschitz: Differentialgleichungen

1) 2)

Gehring: Variationsrechnung Lipschitz/Plücker54: Mathematisches Seminar

1)

Prof. Dr. Gustav Radicke56: Analytische Statik PD Dr. Ernst Pfitzer: Über parasitische Pilze.

WS 1868-69 1)

Lipschitz: Zahlentheorie („gratis nach § 20“)55

2)

54 Lipschitz zeichnete Kleins Teilnahme allein ab: am 1.5. und 6.8.1868. 55 Der § 20 konnte bisher nicht identifiziert werden. 56 A.o. Prof., wenig publiziert; wenig Lehrbegabung bescheinigt, ADB 27 (1888) 135.

2.3 Studium und Promotion an der Universität Bonn

25

In seiner Vita verwies Klein auch auf eine Vorlesung von Karl Gustav Bischof,57 einem der Mitbegründer der Geochemie in Deutschland. Hiervon könnte sein Interesse für Geowissenschaften beflügelt worden sein, für deren Aufbau er später in Göttingen sorgen sollte. Die Breite des Studiums zielte darauf, Lehrbefähigungen in möglichst vielen Gebieten zu erhalten. Wenn Klein auch bei dem Chemiker Hans Landolt, beim Mineralogen und Geologen Johann Jacob Nöggerath, beim Zoologen Franz Hermann Troschel und beim Botaniker Johannes von Hanstein teilnahm, so übte doch Julius Plücker den nachhaltigsten Einfluss auf ihn aus. Bereits im ersten Semester hatte Plücker über Kleins Vorträge zu physikalischen Themen geurteilt: „Durch Talent, Kenntnisse und Fleiss ragte vor allen anderen Mitgliedern des Seminars Klein hervor.“ „Ein eminentes Talent für mathematische Physik sowohl, als für Experimentalphysik legte Klein an den Tag.“58 Dass der Lehrbetrieb für Mathematik und Physik weniger gut entwickelt war als der für beschreibende Naturwissenschaften, basierte auf Plückers Doppelbelastung sowie auf Animositäten zwischen Plücker und Lipschitz.59 Als Lipschitz mit Amtsantritt 1864 als Professor für „reine“ Mathematik ein Mathematisches Seminar beantragte, bremste Plücker, weil der in Berlin sozialisierte Analytiker Lipschitz nicht sein Wunschkandidat gewesen war. Plücker hätte lieber den ihm mathematisch näher stehenden Alfred Clebsch auf dem Lehrstuhl gesehen, mit dem er gerade auf der 39. Naturforscherversammlung 1864 in Gießen über sein aktuelles Forschungsfeld „Über eine neue Auffassung des Raumes vermöge der Geraden als Raumelement“ diskutiert hatte.60 Plücker unterließ anfangs jeden Kontakt mit Lipschitz – was auf Klein nicht ohne Wirkung blieb. Gemäß Vorschlag des Bonner Universitätskurators entstand schließlich doch ein Mathematisches Seminar mit zwei Abteilungen. Das preußische Kultusministerium verfügte mit Erlass vom 4. Oktober 1866 einen jährlichen Zuschuss von 220 Talern und übertrug Plücker und Lipschitz die Leitung. Beide boten ab Winter 1866/67 gesonderte Übungen an, die Klein besuchte. Ein Bericht des Universitätskurators vom 16. Dezember 1867 lässt erkennen, dass Klein hier in Plückers neueste Forschungen eindringen konnte, während Lipschitz aufgrund unzureichender Vorbildung der Teilnehmer sein Niveau hatte reduzieren müssen: Professor Plücker wählte im Wintersemester 1866/67 zum Gegenstande der Uebungen, in dem er die Bekanntschaft mit den Elementen der analytischen Geometrie voraussetzte, das Prinzip der Reziprozität. Der Hauptgesichtspunkt hierbei war der Parallelismus zwischen geometrischer und analytischer Behandlungsweise. Im Sommersemester 1867 verteilte derselbe die Uebungen auf zwei Stunden wöchentlich. In einer Stunde behandelte er für die Geübteren eines der wichtigeren Kapitel der neueren analytischen Geometrie: „Die Bedeutung der Anzahl der Konstanten in den Gleichungen der algebraischen Kurven und Oberflächen“. In der zweiten Stunde diskutierte er die analytische Darstellung der geraden Linie im Raume, in den beiden Fällen, wo sie durch Punkte, welche auf derselben liegen, oder durch Ebenen, welche 57 Dissertation, Exemplar UB Bonn; Klein erwähnte Bischof ebenfalls in der Vita zum Habilitationsantrag, publiziert in TOBIES 1999a, 85. 58 Zitiert nach SCHUBRING 1989a, 210. 59 Vgl. Gründungsgeschichte des Math. Seminars ERNST 1933, 33-37; SCHUBRING 1985. 60 Vgl. TOBIES/VOLKERT 1998, 236.

26

2 Prägende Gruppen nach derselben sich schneiden, bestimmt wird. Er betrachtete diese Diskussion als erste Einleitung in eine neue Geometrie des Raumes, wobei als Element desselben eine gerade Linie genommen wird. – Professor Lipschitz bildete zwei Kurse und richtete für jeden Kurs wöchentlich eine Stunde ein. Es war beabsichtigt, in dem niedern Kurse eine elementare Begründung der Konvergenzsätze für die Potenzreihen zu entwickeln. Allein die Kenntnisse, welche die Mehrzahl der Teilnehmer von dem Gymnasium mitbrachte, waren so mangelhaft, daß nichts übrig blieb, als eine Stufe herabzusteigen und den binomischen Lehrsatz mit ganzen positiven Exponenten, die Grundlagen der Rechnung mit gebrochenen Potenzen und Exponentialgrößen in einer Folge von Aufgaben zu behandeln. Erst im zweiten Semester wurde der ursprüngliche Plan ausgeführt. In dem höheren Kurse wurde während des ersten Semesters die Theorie der Systeme von linearen Differentialgleichungen namentlich mit konstanten Koeffizienten schrittweise entwickelt. Hieran schloß sich im zweiten Semester die Anwendung der Lehre von den Funktionaldeterminanten auf Systeme von Differentialgleichungen. Ueberall ging das Bestreben dahin, den Zusammenhang der angedeuteten analytischen Probleme mit den entsprechenden Problemen der Mechanik lebendig zu machen.61

Wie Gert Schubring herausfand, genehmigte das Ministerium 85 Taler pro Semester für Seminar-Prämien und 50 Taler pro Jahr für eine Handbibliothek. Felix Klein erhielt drei Semester lang eine Seminarprämie.62 Der Vergleich mit ähnlichen Seminarprämien an der Universität Berlin (vgl. Abschnitt 2.5.1) zeigt, dass das Ministerium dafür Leistungsbeurteilungen einforderte. Erst in Kleins letztem Studienjahr entstand in Bonn am 9. März 1868 ein mathematisch-naturwissenschaftlicher Studentenverein (Marsia). Klein trat diesem Verein bei und wird noch heute als dessen besonderes Mitglied aufgelistet.63 Er traf hier u.a. Friedrich Neesen, der ein langjähriger Freund werden sollte (vgl. Abschnitt 2.8.3.2). Derartige Studentenvereine existierten damals ebenfalls in Greifswald, Breslau, Berlin und Halle.64 2.3.2 Assistent und Auszeichnung für eine physikalische Preisschrift Als Julius Plücker zum Sommersemester 1866 einen neuen Assistenten für seine Vorlesung Experimentalphysik benötigte, wählte er Felix Klein. Dieser schrieb in seiner Vita zur Dissertation: „Es wurde mir das Glück zu Theil, mit einem der bedeutendsten Vertreter dieser Wissenschaften [Mathematik und Physik] Herrn Geh. Regierungsrath Professor Dr. Plücker in nähere Verbindung zu kommen, der mir während zweier Jahre das Amt eines Assistenten an dem physikalischen Institute zu Bonn übertrug und mich zur Theilnahme an seinen mathematischen Arbeiten heranzog, – bis der Tod, den 22. Mai 1868, das schöne Verhältnis löste.“65 61 62 63 64

Zitiert nach ERNST 1933, 36-37. SCHUBRING 1985, 149. https://de.wikipedia.org/wiki/Arnstädter_Verband Die mathematisch-naturwissenschaftlichen Vereine verschiedener Universitäten schlossen sich 1868 zu einem Kooperationsverband (ab 1909 Arnstädter Verband) zusammen. 65 Klein, Vita zur Dissertation, Exemplar UB Bonn. – Zu Plücker vgl. die Dissertation von PLUMP 2014 mit kritischer Analyse vorliegender Arbeiten zum Thema.

2.3 Studium und Promotion an der Universität Bonn

27

Plücker hatte in Bonn, Berlin, Heidelberg und Paris studiert, sich in Bonn 1825 habilitiert, wo er drei Jahre später a.o. Professor wurde. Nach Zwischenstationen in Berlin und Halle hatte er in Bonn 1835 das Ordinariat für Mathematik übernommen, 1836 zusätzlich das Physik-Ordinariat. Zu seinen bedeutsamen physikalischen Entdeckungen gehörte die Erscheinung des Kristallmagnetismus (1847) sowie die Entladungsspektren verdünnter Gase unter Magneteinwirkung (1857). Plücker erkannte, dass jedes Gas sein eigenes charakteristisches Spektrum besitzt und beobachtete die drei ersten Wasserstofflinien. Er schuf damit eine Basis für die moderne Spektralanalyse und gemeinsam mit dem Glasbläser und Instrumentenbauer Heinrich Geisler Grundlagen für die moderne Vakuumtechnik. Es verwundert nicht, dass der junge Klein an einen Weg in die Physik dachte. Diese Idee wurde erhärtet, als er eine Preisaufgabe zum Thema „Aetherschwingungen“ löste, die Plücker im Wintersemester 1867-68 anlässlich des bevorstehenden 50-jährigen Universitätsjubiläum formuliert hatte.66 Zwar sind Kleins Preisarbeit oder ein Gutachten darüber nicht erhalten, aber aus seiner beim Habilitationsverfahren eingereichten Vita geht hervor, dass „eine historisch-kritische Behandlung der Frage nach der Richtung der Schwingungen im polarisierten Lichte“ verlangt worden war.67 Hierzu passt, dass Klein 1867/68 Eduard Kettelers68 Vorlesung Interferenzerscheinungen belegte. Die Auszeichnung für studentische Preisaufgaben erfolgte am letzten Tag der Feierlichkeiten zum Universitätsjubiläum, das vom 1. bis 4. August 1868 begangen wurde. Zwar konnte der verstorbene Plücker der Ehrung seines Schützlings nicht mehr beiwohnen, aber der Kreis der Anwesenden war bemerkenswert. Der 19-Jährige begegnete Personen, die für ihn später wichtig werden sollten. Es sei erwähnt, dass Karl Weierstraß zu den „akademischen Deputirten“ gehörte.69 Er überreichte als Repräsentant der Berliner Akademie eine Grußadresse, die von weiteren Akademie-Mitgliedern, darunter die Mathematiker Ernst Eduard Kummer und Leopold Kronecker, mit unterzeichnet worden war. Felix Klein sollte sich bald, im WS 1869/70, auf den Weg begeben, um seine Studien bei dem Berliner „Dreigestirn“ fortzusetzen (Abschnitt 2.5). Die Universität Erlangen hatte den Historiker Karl Hegel delegiert. Dieser konnte hier seinen späteren Schwiegersohn Felix Klein im Rampenlicht wahrnehmen (vgl. Abschnitt 3.6.2). Die Veranstaltung am 4. August 1868 begann um 11.00 Uhr in Bonns evangelischer Kirche und wurde mit Carl Maria von Webers eben komponierter JubelOuvertüre (op. 59) eröffnet.70 Nach einer in Latein gehaltenen Rede von Friedrich Heimsoeth, klassischer Philologe, Musikwissenschaftler und Kunsthistoriker, wurden neun Studenten geehrt: einer von der katholisch-theologischen Fakultät, zwei von der evangelisch-theologischen Fakultät, einer von der medizinischen 66 [UA Bonn] PF 6401: Turnus der Preisaufgaben. 67 Zitiert in TOBIES 1999a, 85. 68 Ketteler, am 11.11.1865 in Bonn habilitiert; 1872 a.o. Prof. und 1889 o. Professor. Als herausragender Vertreter der Optik wirkte er sehr anregend, lenkte z.B. Carl Pulfrich in das Gebiet, den Ernst Abbe später in die Firma Zeiss nach Jena holen sollte, vgl. TOBIES 2018b. 69 Vgl. hier und im Folgenden SYBEL 1868; zur Teilnahme von Weierstraß, 42. 70 SYBEL 1868, 112.

28

2 Prägende Gruppen

Fakultät sowie fünf von der Philosophischen Fakultät, wobei letztere eine philosophische, zwei chemische, eine physikalisch-theoretische und eine philologische Preisarbeit betrafen. Der erwähnte Ernst Sagorski wurde für eine Aufgabe aus der Chemie ausgezeichnet; danach folgte Felix Klein für theoretische Physik. Letzter der geehrten Studenten war Otto Lüders, der die sog. „Welcker’sche Preisaufgabe“ bearbeitet hatte. Der klassische Philologe und Archäologe Friedrich Gottlieb Welcker (†17.12.1868) hatte seit 1819 in Bonn beigetragen, ein liberales Klima zu prägen, und der geehrte Student Lüders trat in dessen Fußstapfen. Über die enge Freundschaft zwischen Lüders und Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, der seit 1867 ebenfalls in Bonn studierte, lässt sich ein Bogen zu Felix Klein spannen. Wilamowitz-Moellendorff hatte ausgehend von Platon auch klassische mathematische Texte im Blick.71 Klein gewann mit ihm einen Bündnispartner bei späteren Göttinger Reorganisationsplänen (vgl. Abschnitt 6.4.3). Direkt im Anschluss an die Preis-Vergabe für die Studenten wurden Ehrendoktorate verliehen. Die Auswahl der Personen deutet auf das erwähnte liberale Klima und auf ein ungewöhnlich emanzipiertes Denken der Entscheidungsträger. Zu den Ehrendoktoren gehörte Charles Darwin, dessen Hauptwerk On the Origin of Species erstmals 1859 publiziert und bereits 1860 in deutscher Übersetzung erschienen war. Darwins heftig umstrittene Evolutionstheorie war in Deutschland viel günstiger aufgenommen worden als in anderen Ländern und hatte bereits in den 1860er Jahren mit Ernst Haeckel in Jena einen nachhaltigen Förderer gefunden.72 Klein entwickelte früh ein waches Verständnis für neue naturwissenschaftliche Theorien. Kein Wunder, wenn sich später Biologen an ihn wandten, damit er ihre Interessen unterstützt. (Vgl. Abschnitte 4.3.3 und 8.3.4) Die Ehrendoktorwürde erhielten zudem der in Paris tätige Optiker und Mikroskopbauer Eduard Hartnack sowie der Glasbläser und Instrumentenbauer Heinrich Geissler, der mit Julius Plücker kooperiert hatte. Klein mag bereits erkannt haben, dass gute Universitätsmechaniker eine Voraussetzung für Ergebnisse in angewandten Bereichen sind; später unterstützte er eine neue Fachschule für Feinmechanik (vgl. Abschnitt 8.1.1). Weiterhin wurden Chemiker wie August Wilhelm Hofmann und August Kekulé anlässlich des Bonner Universitätsjubiläums geehrt. Kekulé war 1867 von Gent (Belgien) nach Bonn gewechselt, wo damals neben dem Poppelsdorfer Schloss (in dem Felix Klein als Student wohnte und auch das erste chemische Institut untergebracht war) das weltweit größte chemische Institut entstand. Bonner Ehrendoktoren wurden gleichfalls der liberale britische Philosoph und Ökonom John Stuart Mill, ein Sozialreformer und Förderer der Frauenemanzipation; der französische Chemiker und Mikrobiologe Louis Pasteur, der

71 Zum Beispiel promovierte Eva Sachs bei Wilamowitz mit De Theaeteto Atheniensi Mathematico (1914) und publizierte „Die fünf platonischen Körper. Zur Geschichte der Mathematik und der Elementarlehre Platons und der Pythagoreer“. In: A. Kiessling/U. v. Wilamowitz (Hg.), Philologische Untersuchungen 24 (1917). Berlin. 72 HOßFELD/OLSSON 2009; HOßFELD/LEVIT/OLSSON 2016. – Darwins Sohn George Howard Darwin arbeitete als Astronom mit mathematischen Methoden. Klein gewann ihn als Autor für die ENCYKLOPÄDIE, Bd. VI.

2.3 Studium und Promotion an der Universität Bonn

29

Geograph August Heinrich Petermann, sowie die aus jüdischen Familien stammenden Botaniker Nathanael Pringsheim und Julius Sachs, u.a. Betrachten wir diese Ehrungen mit den Augen des jungen Felix Klein, so könnten hier Funken für Ansichten, Ideen, Pläne entfacht worden sein: Anregungen dafür, immer die Nachbargebiete mit im Auge zu behalten sowie neu aufkommenden Disziplinen und Theorien mit Interesse zu begegnen; Motivation dafür, Begabte unabhängig von Nation, Religion und Geschlecht wertzuschätzen. 2.3.3 Geometrischer Arbeitsunterricht bei Julius Plücker Obgleich Klein bei Plückers Vorlesung Experimentalphysik als Assistent diente und die physikalische Preisschrift erfolgreich bearbeitete, rückte das Ziel Physik an den Rand. Julius Plücker hatte sich wieder mathematischen Forschungen zugewandt und bezog seinen Assistenten ein. Klein schrieb darüber: Außerdem wurde ich aber auch noch in Plückers eigene wissenschaftliche Arbeit hineingezogen, die damals nach einer physikalischen Entdeckerperiode wieder eine vorwiegend mathematische Richtung gewonnen hatte. Ich mußte Plücker bei der Ausarbeitung seiner Untersuchungen helfen und genoß derart einen „Arbeitsunterricht“, wie man es heute nennen würde. Hierdurch wurde meine Selbsttätigkeit auf dem gerade vorliegenden Gebiete der Liniengeometrie auf das lebhafteste angeregt; andererseits wurde ich aber verhindert, mir in dieser Zeit breitere mathematische oder physikalische Kenntnisse zu erwerben.73

Plücker war 1863, bei seiner Teilnahme an der Jahrestagung der British Association for the Advancement of Science, durch James Joseph Sylvester angeregt worden, sich wieder stärker der Mathematik zu widmen. Plücker hatte, wie erwähnt, 1864 in Gießen Ergebnisse präsentiert sowie auch in Großbritannien und Frankreich mathematische (Holz-)Modelle vorgestellt.74 Die Royal Society of London verehrte ihm 1866 ihre höchste Auszeichnung, die Copley-Medaille.75 Die Académie des Sciences in Paris ernannte Plücker 1867 zu ihrem korrespondierenden Mitglied. Auch zu Cremona in Mailand gewann Plücker 1867 guten wissenschaftlichen Kontakt. Klein sollte von diesen Kontakten profitieren. Der „Arbeitsunterricht“, den Plücker mit seinem Assistenten pflegte, umfasste sowohl Einblicke in die Rolle und den Bau von Modellen als auch die Mitarbeit an Plückers Buch zur Liniengeometrie. Diese Geometrie basierte auf der geraden Linie als Raumelement und vereinte drei Aspekte: einen rein geometrischen, einen mechanischen und einen optischen (auf Brechung und Lichtreflexion basierenden).76 Wie aus Briefen von Plücker an Klein hervorgeht, wünschte Plücker seinen Assistenten im Oktober 1867 frühzeitig, vor Semesterbeginn, nach Bonn 73 74 75 76

KLEIN 1923a, 14. Vgl. die Analyse bei PLUMP 2014, 108-12. Felix Klein sollte die Copley-Medaille als vierter Deutscher erhalten, vgl. Abschnitt 3.3. Zu Plückers Arbeiten, vergleichend mit Gergonne und Poncelet, Möbius, Jacobi, Cayley u.a. siehe den Nachruf, den Clebsch mit Kleins Hilfe verfasste: CLEBSCH 1872; auch ERNST 1933; ZIEGLER 1985; PLUMP 2014.

30

2 Prägende Gruppen

zurück, um mit ihm letzte Arbeiten am Band 1 seiner Liniengeometrie „in Ordnung zu bringen“. Klein wurde um die Durchsicht von Korrekturbögen ersucht. Am 25. April 1868 bat ihn der schon schwerkranke Plücker noch einmal zu sich.77 Kleins Konzentration auf diesen einen Gegenstand hatte offensichtlich Vorund Nachteile. Der Nachteil lag im begrenzten Studienumfang und in der anfänglich zu engen Bindung an eine Schule. Der Vorteil bestand in der früh gewonnenen Fähigkeit zu eigener kreativer mathematischer Tätigkeit, verbunden mit einem tiefen Eindringen in ein relativ neues Themenfeld, das international mit Forschern in Frankreich, Großbritannien und Italien verknüpft war. Klein fühlte sich schnell einer Denkgemeinschaft zugehörig, die „Neues“ durchzusetzen suchte. Er betonte das Glück, von Plücker „[…] in die Anschauungsweisen der neueren Geometrie eingeführt, so wie zu den geometrischen Arbeiten, mit denen er sich damals beschäftigte, herangezogen […]“ worden zu sein.78 Plücker war in seiner ersten geometrischen Phase in Paris vor allem durch Jean-Baptiste Biots Vorlesungen über analytische Geometrie und indirekt durch Gaspard Monge geprägt worden.79 Einen Neuaufbau der analytischen Geometrie (im Rahmen der projektiven Geometrie) anstrebend, hatte Plücker bereits 1828 und 1831 zwei Bände Analytisch-geometrische Entwicklungen publiziert. Wie Hermann Grassmann und August Ferdinand Moebius trug Plücker dazu bei, die bisherige Vorherrschaft synthetischer Methoden zu überwinden – damit auch in Konflikt mit dem Berliner Vertreter der synthetischen Geometrie, Georg Steiner, geratend. Klein schrieb später: In der Plückerschen Geometrie wird die bloße Kombination von Gleichungen in geometrische Auffassung übersetzt und rückwärts durch letztere die analytische Operation geleitet. Rechnung wird nach Möglichkeit vermieden, dabei aber eine bis zur Virtuosität gesteigerte Beweglichkeit der inneren Anschauung, der geometrischen Ausdeutung vorliegender analytischer Gleichungen ausgebildet und in reichem Maße verwendet.80

In Plückers zweiter mathematischer Phase, als Klein bei ihm studierte, stand die Liniengeometrie im Zentrum, in welcher sowohl synthetische als auch analytische Methoden benutzt wurden. Synthetisches habe Plücker dazu gedient, um Einblicke in Strukturen zu gewinnen.81 Ein anerkannter Beweis musste dagegen notwendig analytisch sein. PLUMP 2014 (155f.) vermutet hierin Ausgangspunkte für die von Klein diskutierte Arithmetisierungstendenz (vgl. Abschnitt 8.3.2). Bereits 1846 hatte Plücker die Idee einer vierdimensionalen projektiven Geometrie vorgeschlagen, in welcher Geraden und ihre „Linienkoordinaten“ als Grundelemente des dreidimensionalen Raumes fungieren. Dies arbeitete er seit

77 Die Briefe sind abgedruckt in PLUMP 2014, 125-26. 78 Klein, Vita v. 5.12.1870, publiziert in TOBIES 1999a, 84-85. – Zu einem Überblick über die Anfänge der projektiven Geometrie vgl. auch SCHREIBER/SCRIBA 2011, 367-77. 79 Vgl. JAECKEL/PAUL 1970; ERNST 1933; ZIEGLER 1985; KLEIN 1926, 121-26. 80 KLEIN 1926 Vorlesungen I, 122. 81 Klein urteilte ebenfalls über sich, dass er durch geometrische Veranschaulichung neue Ergebnisse (er)fand, vgl. dazu Abschnitt 4.2.

2.3 Studium und Promotion an der Universität Bonn

31

1863 weiter aus.82 Er gelangte dabei zu wichtigen Ansätzen einer allgemeinen Theorie der algebraischen Kurven und Flächen. Das Grundprinzip der Linienkoordinaten beruht darauf, dass, so wie ein Punkt, auch eine Gerade durch ein Zahlenpaar geometrisch bestimmt werden kann. Der Punkt kann als Schnitt zweier Geraden aufgefasst werden, wobei jede der beiden Geraden eine der beiden Koordinaten liefert. Analog kann die Gerade als Verbindungslinie zweier Punkte (den Schnittpunkten mit den Achsen) betrachtet werden. Ihnen entspricht je ein Achsenabschnitt. Bei einer Geraden, die durch eine Gleichung gegeben ist, können schließlich die Koordinaten so eingeführt werden, dass von der Gleichung ausgegangen wird und die Koordinaten direkt mittels der Gleichung definiert werden.83 Klein, der selbst eigene, nach ihm benannte Linienkoordinaten entwickeln sollte, schrieb über den Wert derartiger Koordinaten: Die Gleichung der Geraden u1x1 + u2x2 + u3x3 = 0 ist in den Koeffizienten u und den Koordinaten x völlig symmetrisch. Plücker faßt nun die u als veränderliche Größen auf, deren jedes System eine Gerade durch den festgehaltenen Punkt x1 x2 x3 bezeichnet. Er nennt die u1 u2 u3 „Linienkoordinaten“; in ihnen drückt die obenstehende Gleichung das durch den Punkt gehende Strahlenbüschel, d.h. diesen Punkt selber aus. So gut wie ich die lineare Relation der Gleichung als Gleichung einer Geraden in Punktkoordinaten auffassen kann, so berechtigt bin ich auch, die Gleichung eines Punktes in Linienkoordinaten in ihr zu sehen. Mit diesem Gedanken des beliebigen „Raumelements“, das zum Ausgangspunkt der Geometrie gewählt werden kann, ist nun eine völlige Klärung des Poncelet-Gergonneschen Prinzips der Dualität gegeben: Weil die Gleichung für die vereinigte Lage von Punkt und Gerade (im Raume von Punkt und Ebene) in den zweierlei Elementen symmetrisch ist, kann man in allen Sätzen, die auf bloße Verknüpfung der beiden Elemente begründet sind, die beiden Worte vertauschen!84

An die von Plücker entwickelten grundlegenden Begriffe wie Strahlen- und Achsenkoordinaten, Komplexe, Kongruenzen, höhere Regelflächen, Komplexflächen u.a. knüpften Klein und andere an.85 Klein bezeichnete die Plückerschen Formeln als dessen Hauptleistung in diesem Gebiet. Diese verbinden die Ordnung einer Kurve n (Grad der Gleichung in Punktkoordinaten) mit der Klasse k (Grad der Gleichung in Linienkoordinaten) und den einfachen (notwendigen) Singularitäten. Wenn auch bei Plücker das projektive Denken noch nicht voll ausgebildet war86, so waren dessen Ansätze einer Neueren Geometrie höchst anregend für seinen Schüler Klein, der in diesem Feld Ideen für seine Dissertation fand. Anknüpfend an Plückers Formeln entwickelte Klein noch 1876 eine eigene Formel, um 82 Eine gute Einführung in die historischen Begriffe gibt Wilhelm Blaschke 1926, der Kleins Vorlesung Einleitung in die höhere Geometrie von 1893, stark am Original orientiert, neu edierte, KLEIN/BLASCHKE 1926. Vgl. auch VOSS 1919, 280. – Zur Einordnung Plückers und zur Rolle des Dualitätsprinzips bei ihm vgl. auch Jeremy Gray in SCHOLZ 1990, 280-88. 83 Zu weiteren Erläuterungen hierzu vgl. z.B. Schoenflies, A. (1926): Einführung in die Analytische Geometrie der Ebene und des Raumes. Berlin: Springer. 84 KLEIN 1926, Vorlesungen I, 123-24. – Vgl. auch die Dissertation LORANAT 2015. 85 Vgl. KLEIN 1926, 119-26. 86 Vgl. Karzel, H.: „Wandlungen des Begriffs der projektiven Geometrie (1959)“. In: KARZEL/ SÖRENSEN 1984, 13-19.

32

2 Prägende Gruppen

das Verhalten geometrischer Gebilde hinsichtlich ihrer Reellität zu entscheiden.87 Plückers Werk war nicht nur Ausgangspunkt für Kleins anschauliches geometrisches Denken, das Hilbert 1909 so stark hervorhob.88 In ihm lag auch der Ursprung dafür, dass Klein die Arbeit mit der räumlichen Vorstellung als solcher, d.h. die geometrische Phantasie stets als sein Hauptinstrument betrachtete, um neue Resultate aufzufinden, wie er noch 1922 unterstrich.89 Bei Plücker gewann Klein auch die erste Erkenntnis über das Verhältnis von analytischen und synthetischen Methoden und über die Notwendigkeit, Gegensätze zu überwinden. Dies mündete u.a. in Note I seines Erlanger Programms (Oktober 1872), wo er den Gegensatz der synthetischen und der analytischen Richtung in der neueren (projektivischen) Geometrie nicht mehr als einen wesentlichen bezeichnete.90 Als Plücker im Mai 1868 verstarb, hatte er nur den ersten Teil (226 Seiten) seines Werkes Neue Geometrie des Raumes, gegründet auf die Betrachtung der geraden Linie als Raumelement druckfertig hinterlassen. Plückers Sohn Albert sandte diesen ersten Teil an den preußischen Minister der geistlichen, Unterrichtsund Medicinal-Angelegenheiten Heinrich von Mühler. Dem Anschreiben war zu entnehmen, dass Julius Plücker das Werk zum Bonner Universitätsjubiläum präsentieren wollte und dass der zweite Teil „von Herrn Klein, den mein Vater zu den talentvollsten seiner zahlreichen jüngeren Schüler zählte, herausgegeben werden“ wird.91 Alfred Clebsch schrieb im Vorwort zum ersten Teil, dass für den weiteren Teil nur wenig Material vollständig ausgeführt vorliege, […] aber glücklicherweise ist Herr Klein, bisher Assistent Plücker’s in seinen physikalischen Vorlesungen, welcher sich bereits an der Ausarbeitung des Werkes in mannigfacher Weise betheiligt hat und sich Geist und Methode der Untersuchung zu eigen zu machen wusste, durch mündliche Mittheilungen des Verstorbenen in den Stand gesetzt, die Lücken des Manuscript’s in Plücker’s Sinn zu ergänzen. […] Diese Fortsetzungen werden die weitere Ausarbeitung der Theorie der Complexe 2. Ordnung zum Gegenstande haben, in einer Weise, welche Plücker’s Vorstellungen gemäß der Theorie der Flächen 2. Ordnung analog ist. Die Methoden Plücker’s werden dabei möglichst getreu beibehalten werden.92

Plückers Familie hatte den jungen Felix Klein beauftragt, die unveröffentlichten Materialien zu edieren.93 Klein verbrachte Ferientage im Hause der Witwe Antonie Plücker geb. Altstätter, die er auch später wiederholt konsultierte, um Clebsch beim Schreiben des Nachrufs auf Julius Plücker zu unterstützen.94 87 Klein, F. (1876): „Eine neue Relation zwischen den Singularitäten einer algebraischen Kurve“. Math. Ann. 10, 199-209, GMA II; erläutert in KLEIN 1926, 125-26. 88 Vgl. Anhang zu diesem Buch Nr. 8. 89 KLEIN 1922 GMA II, 5. 90 KLEIN 1921 GMA I, 490; KLEIN 1872, 41. 91 Zitiert nach ERNST 1933, 40. 92 Clebschs Vorwort, verfasst am 8.6.1868, in PLÜCKER 1868, III-IV. 93 Vgl. TOBIES 1999a, 85; Klein schrieb 1868 dazu auch im Auftrag der Erben Plückers an den Leipziger Verlag B.G. Teubner, vgl. ACKERMANN/WEIß 2016, 31. 94 [Canada] Klein an Antonie Plücker geb. Altstätter, Brief v. 10.11.1871. Für die Übermittlung der Quelle dankt die Autorin Eisso Atzema, Utrecht, später University of Maine Orono. – [Oslo] Klein an Lie, Brief v. 20.11.1871. – Vgl. auch Abschnitt 8.3.1.

2.3 Studium und Promotion an der Universität Bonn

33

Plückers Liniengeometrie umfasste auch Anwendungen in der Mechanik.95 Deshalb besuchte Klein noch in seinem letzten Bonner Semester eine Vorlesung Analytische Statik (vgl. Tab. 3). Später bewog er seinen Doktoranden Ferdinand Lindemann zu vertiefen und eine in die Liniengeometrie eingebettete Mechanik des starren Körpers zu entwickeln. Seit seinem Erlanger Semester 1873/74 integrierte Klein Analytische Mechanik wiederholt in sein Vorlesungsprogramm.96 Plückers Liniengeometrie, Teil 2 (378 Seiten), beendete Klein bis Mai 1869. In seinem Vorwort vom 25. Mai 1869 erläuterte er die von ihm ergänzten Teile und hob vor allem hervor, dass ihm eine einschlägige Arbeit des italienischen Mathematikers Guiseppe Battaglini bekannt sei, die aber eine gesonderte Darstellung erfordere. Damit befasste sich Kleins Dissertationsschrift, die er bereits am 12. Dezember 1868 verteidigt hatte. 2.3.4 Das Promotionsverfahren Die Idee für seine Dissertation „Über die Transformation der allgemeinen Gleichung zweiten Grades zwischen Linien-Coordinaten auf eine canonische Form“97 gewann Klein im Sommer 1868 während der Arbeit an Plückers Werk. Clebsch verwies Klein auf die erwähnte Arbeit Battaglinis und auf die an Plückers homogene Koordinaten anknüpfende Habilitationsschrift von Jacob Lüroth98. Um sich international zu orientieren, studierte Klein die Lehrbücher des Iren George Salmon zur analytischen, projektiven und algebraischen Geometrie, die Otto Wilhelm Fiedler ins Deutsche übersetzt hatte. Klein erklärte dazu: Es wurde mir nicht ganz leicht, von den mehr elementaren Methoden der Plücker’schen Darstellung zu dem konsequenten Verfahren der projektiven Koordinaten überzugehen, wie es von Battaglini genutzt wurde. Das Studium der Lehrbücher von Salmon-Fiedler und mancher Originalabhandlungen half mir über diese Schwierigkeit weg. Ich bemerkte dann aber bald, daß die von Battaglini zugrunde gelegte kanonische Form der Komplexe zweiten Grades nicht die allgemeine sein konnte. Damit hatte ich das Thema, aus dem ich hoffte, eine Dissertation gestalten zu können, nämlich die Herstellung einer wirklich allgemeinen kanonischen Form.99

Guiseppe Battaglini hatte 1866 die Theorie der durch eine, zwei oder drei algebraische Gleichungen ersten und zweiten Grades zwischen den Koordinaten der Geraden definierter Gebilde mit moderneren Methoden als Plücker behandelt. Klein erkannte, dass die allgemeine lineare Transformation der Linienkoordinaten noch fehlte und notwendig ist, um weitere Fragen lösen zu können. Den Ausgangspunkt betonte er in These 1 zu seiner Dissertation (vgl. unten).

95 96 97 98 99

Vgl. ZIEGLER 1985. Zur Edition der entsprechenden Vorlesung vom WS 1886/87 vgl. KLEIN 1991. Gedruckt Bonn: Georgi 1868; KLEIN 1921 GMA I, 5-48. Lüroth, J. (1867): „Zur Theorie der windschiefen Flächen“. Crelle-Journal 67, 130-52. KLEIN 1921 GMA I, 3. – Vgl. SALMON 1862ff.

34

2 Prägende Gruppen

Abb. 5: Promotionsurkunde Felix Kleins, 12.12.1868

Im September 1868 hatte Klein bei seinen Eltern in Düsseldorf (Bahnstraße 15) die ersten Ideen zu seiner Dissertation ausgearbeitet und Rudolf Lipschitz präsentiert. Lipschitz, der das Doktorexamen abzunehmen, empfahl Klein, nicht nur den einfachsten Fall, sondern möglichst alle Spezialfälle zu betrachten. Er gab Klein die Korrekturbögen einer gerade im Druck befindlichen Arbeit von Weierstraß.100 Diese Arbeit enthielt die für beliebige Variablenzahl n aufgestellte Theorie der Elementarteiler.101 Klein nutzte Weierstraß’ Theorie für seine Dissertation. Er 100 Weierstraß, K.: „Zur Theorie der quadratischen und bilinearen Formen“ Monatshefte der Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Mai 1868, 310-38 (Werke, Bd. 2). 101 Zur Geschichte dieser Theorie vgl. HAWKINS 1977.

2.3 Studium und Promotion an der Universität Bonn

35

systematisierte damit die Linienkomplexe zweiten Grades. Klein begann seine Dissertation mit der Definition des Linienkomplexes wie folgt: Ein Linienkomplex des n-ten Grades umfaßt eine dreifach unendliche Anzahl gerader Linien, welche im Raume in einer solchen Art verteilt sind, daß diejenigen geraden Linien, welche durch einen festen Punkt gehen, einen Kegel der n-ten Ordnung bilden, oder, was dasselbe sagt, eine Kurve der n-ten Klasse umhüllen.102

Später ordnete Gino Fano ein: Eine bemerkenswerte Anwendung dieser Theorie [der Elementarteiler, R. To.] ist die systematische Klassifikation der Linienkomplexe 2. Grades, die F. Klein in seiner Dissertation begonnen hat und die A. Weiler und C. Segre vervollständigt haben.103

Klein verwendete anstelle der (vier) Koordinaten von Plücker eigene (sechs) Linienkoordinaten.104 Er gab in seiner Dissertation der Theorie der Elementarteiler, insbesondere den kanonischen Formen für n = 6, eine liniengeometrische Deutung und baute sie hinsichtlich der Reelität der Wurzeln und der Unbestimmtheit der Transformation auf eine kanonische Form im Falle gleicher Elementarteiler weiter aus. Adolf Weiler diskutierte später (1873) in seiner durch Klein angeregten Dissertation die kanonischen Formen geometrisch. Der italienische Mathematiker Corrado Segre übertrug die Theorie in die Sprache der mehrdimensionalen Geometrie, während Rudolf Sturm diese in die synthetische Geometrie überführte. Segre promovierte 1883 in Turin, wobei er an Kleins Motto „die Liniengeometrie ist wie die Geometrie auf einer M 4( 2 ) des R5“ anknüpfte und das Thema ausbaute. Zugleich erkannte Segre einige Inkorrektheiten in den Dissertationen von Klein und Weiler,105 woraufhin Klein eine korrigierte Version seiner Dissertation in Band 23 (1884) der Mathematischen Annalen publizierte. Dabei hob er Segres Hinweise hervor und nahm außerdem dessen einschlägige, z.T. mit Gino Loria verfasste Arbeiten in denselben Annalen-Band auf.106 Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass in etlichen Arbeiten Kleins Ungenauigkeiten, ungenügende Beweise oder auch Fehler enthalten sind. Kleins Umgang damit war: Er anerkannte die Arbeiten der anderen, korrigierte, ergänzte und druckte neu ab, jeweils mit den Hinweisen, Beiträgen bzw. Briefen von denjenigen, die zu neuen Ergebnissen gelangt waren.

102 KLEIN 1921 GMA I, 11. 103 FANO 1907, ENCYKLOPÄDIE, Bd. 3.1.1, 384-85. 104 Zu Kleinschen Linienkoordinaten vgl. Zindler, Konrad (1921): Algebraische Liniengeometrie. ENCYKLOPÄDIE, Bd. III C 8, bes. 1112, und zur Methode von Klein, §22; Müller, Emil (1910): Die verschiedenen Koordinatensysteme. ENCYKLOPÄDIE, Bd. III, 1.1, B 7, 732-35; VOSS 1919, 281. 105 Vgl. TERRACINi 1926, 211-15; auch LUCIANO/ROERO 2012; ROWE 2017. 106 Segre, C.; Loria, G. (1884): « Sur les différentes espèces de complexes du 2e dégré des droites qui coupent harmoniquement deux surfaces du second ordre ». Math. Ann. 23, 213-34; Segre, C. (1884): « Note sur les complexes quadratiques dont la surface singulière est une surface du 2e dégré double ». Math. Ann. 23, 235-43.

36

2 Prägende Gruppen

Bei der Edition seiner Dissertation in GMA I griff Klein Segres Ansatz von 1884 noch einmal auf.107 Er verwies zur Einordnung auf die Überblicksdarstellungen in der ENCYKLOPÄDIE von Konrad Zindler (1921), der zuvor zwei Göschen-Bändchen zur Liniengeometrie mit Anwendungen (1902, 1906) publiziert hatte, sowie auf Arbeiten von Ernst Steinitz, der die Liniengeometrie und die von Klein untersuchten Konfigurationen ausführlich analysiert hatte.108 Klein hatte seine Dissertation seinem unvergesslichen Lehrer Julius Pluecker in dankbarer Erinnerung gewidmet. Lipschitz bewertete Kleins Leistungen in der mündlichen Doktorprüfung mit summa cum laude (vgl. Abb. 5).109 Für die damals übliche öffentliche Disputation, die am 12. Dezember 1868 stattfand, waren drei Opponenten zu bestimmen und Thesen zu formulieren. Ein Opponent war der sieben Jahre ältere, bereits promovierten Physiker Emil Budde, der wie Klein am Gymnasium in Düsseldorf das Abitur abgelegt, Mathematik und Physik in Bonn studiert, ebenfalls als Plückers Assistent gedient hatte und ein bedeutender, international und mathematisch orientierter (Industrie-)Physiker werden sollte. Als zweiter Opponent fungierte Kleins erwähnter Kommilitone Ernst Sagorski. Der Dritte, Johannes Seeger, wurde nicht näher bekannt. Die Thesen, die sich nicht notwendig auf den Inhalt der Arbeit beziehen mussten, dokumentieren Kleins weiten Horizont, aber auch den damaligen z.T. beschränkten Stand der Erkenntnisse: 1. Diejenige kanonische Gleichungsform, welche Battaglini seiner Arbeit über Komplexe des zweiten Grades zugrunde legt:

∑a x

2

x

p x = 0, ist nicht die allgemeine.

2. Die Anwendung, welche Cauchy von den in seiner méthode générale, propre à fournir les équations de conditions rélatives aux limites des corps [Comptes rendus, VIII (vgl. Cauchys Werke (1) IV, p. 193 ff.)] entwickelten Prinzipien auf lineare Differentialgleichungen einer beliebigen Ordnung gibt (ibid.), scheint nicht über alle Bedenken erhaben.110 3. Bei Erklärung der Lichtphänomene kann die Annahme eines Lichtäthers nicht umgangen werden. 4. Positive und negative Elektrizität sind nicht als entgegengesetzt gleich zu betrachten. 5. Es ist wünschenswert, daß neben der Euklidischen Methode neuere Methoden der Geometrie in den Unterricht auf Gymnasien eingeführt werden.111

107 KLEIN 1922 GMA II, 10. 108 KLEIN 1921 GMA I, 4; Steinitz, Ernst (1910): „Konfigurationen der projektiven Geometrie“. ENCYKLOPÄDIE, Bd. III. 1.1.B, 5a, 481-516; vgl. auch ROWE 1989, 218-24. 109 [UA Bonn] Prom.-Album, Bl. 84, Nr. 526. Ein Gutachten ist nicht erhalten. 110 Cauchy betrachtete hier das geänderte Verhalten von Lösungen von Differentialgleichungssystemen, wenn auf der rechten Seite ein Störterm hinzukommt, der nur in kleinen Bereichen der unabhängigen Variablen merkliche Werte annimmt. Er wandte seine Theorie auf lineare Systeme beliebiger Ordnung an und verwies auf das Verhalten physikalischer Größen in der Nähe von Grenzflächen. Da Cauchys Voraussetzungen vage blieben, könnte Klein darin einen Kritikpunkt gesehen haben. (Für diesen Hinweis dankt die Autorin Hans Fischer, Eichstädt). Klein ließ über „Gewöhnliche Differentialgleichungen“ bewusst französische Autoren referieren: P. Painlevé und E. Vessiot (1900), ENCYKLOPÄDIE II A 4, 189-293. 111 KLEIN 1921 GMA I, 49.

2.4 Eintritt in die Denkgemeinschaft um Alfred Clebsch

37

These 3, die Annahme eines Lichtäthers, noch in KLEIN (1904a) enthalten, legte er mit Albert Einsteins Spezieller Relativitätstheorie ad acta, da er die mathematische Basis der Theorie sah (vgl. Abschnitt 8.2.4). Dies sollte nur ein Beispiel für Kleins Maxime sein, nicht an überholten Ansichten haften zu bleiben, wie hinsichtlich des Äthers so mancher Experimentalphysiker oder auch der theoretische Physiker Max Abraham.112 Das in These 5 enthaltene Augenmerk auf den gymnasialen Mathematikunterricht sollte Klein lebenslang begleiten. Früh blickte er auch in einem Brief an den französischen Mathematiker Gaston Darboux auf notwendige Änderungen: Augenblicklich ist z.B. bei uns ein lebhafter Kampf, ob nicht die geometrische Unterrichtsmethode auf Gymnasien, die seit Gott weiss wie langer Zeit stationaer ist, ob sie nicht von den Fortschritten, die die Geometrie seit Monge gemacht hat, beruehrt werden soll, waehrend doch vernuenftiger Weise ueber solche Dinge gar nicht debattirt werden kann. […].113

2.4 EINTRITT IN DIE DENKGEMEINSCHAFT UM ALFRED CLEBSCH Als der 19-jährige Felix Klein Anfang 1869 nach Göttingen kam, gehörte die Kleinstadt mit ca. 15.000 Einwohnern seit drei Jahren zu Preußen. Seit Inbetriebnahme der Eisenbahnstrecke am 31. Juli 1854 bildete der Bahnhof das Eintrittstor in das Städtchen. Der Blick des Zugereisten fiel auf das Hotel Gebhard, dessen Besitzer die Zeichen der Zeit erkannt und sechs Jahre nach Bestehen der Bahnlinie das Haus in modernem Stil hatte errichten lassen. Klein besuchte später als Privatdozent regelmäßig Gebhards Biertunnel und übernachtete auch als junger Erlanger Professor im Hotel Gebhard.114 Als junger Doktor 1869 wohnte er bei der Witwe des Kaufmanns Fobbe in der Groner-Tor-Straße 25.115 Die Kleinstadt wurde vor allem durch ihre Bildungseinrichtungen geprägt. Die 1737 feierlich durch die hannoversche Landesregierung eingeweihte GeorgAugust-Universität116, nun unter preußischer Herrschaft, bildete das Zentrum der Stadt Göttingen, ergänzt durch die seit 1751 bestehende Kgl. Gesellschaft der Wissenschaften (seit 1942 Akademie der Wissenschaften genannt). Bis Ende der 1860er Jahre hatte sich vor allem Gewerbe angesiedelt, das Bezug zu wissenschaftlicher Arbeit besaß. Es gab damals sieben Werkstätten für wissenschaftlichen Gerätebau mit ca. fünfzig Fachkräften, deren Zahl sich bis um 1900 auf zwölf Betriebe mit 270 Gehilfen und Lehrlingen erweiterte.

112 Vgl. hierzu auch HENTSCHEL 1990. 113 [Paris] 59-60, Klein an Darboux, Brief v. 21.3.1872, zitiert in TOBIES 2016, 127. 114 Zum Hotel vgl. E. Böhme in FREUDENSTEIN 2016, 106-12; der Biertunnel (Gewölbe zum Biertrinken) war 1865 angebaut worden. – Klein schrieb z.B. am Sonntag, d. 6.4.1873, im Hôtel Gebhardt einen Brief an Sophus Lie [Oslo]. 115 Vgl. NISSEN 1962, 92. 116 Benannt nach Georg August, Kurfürst von Braunschweig-Lüneburg, Herzog von Braunschweig und Lüneburg und als Georg II. zugleich König von Großbritannien und Irland.

38

2 Prägende Gruppen

Die während der westeuropäischen Aufklärung entstandene Universität hatte herausragenden Gelehrten Platz zur Entfaltung geboten. Dazu gehörten der Experimental-Physiker und Aphoristiker Georg Christoph Lichtenberg, der Zoologe und Anthropologe Johann Friedrich Blumenbach, der Pionier der organischen Chemie Friedrich Wöhler und der vielseitige Carl Friedrich Gauß. Felix Klein beschrieb Gauß, Professor für Astronomie, als herausragende, singuläre Erscheinung in der deutschen Mathematik und ihrer Anwendungen.117 Dessen wissenschaftliche Breite sollte ihm Vorbild sein, als er gegen Ende des Jahrhunderts in die Lage versetzt wurde, die Institutionen der Universität zu erweitern. Die Nachfolger von Gauß, Lejeune Dirichlet und Bernhard Riemann, hatten Göttingens Position als Hochburg der Mathematik ausbauen können, aber selbst aus verschiedensten Gründen nur wenige mathematische Schüler hervorgebracht. Dagegen besaß Alfred Clebsch, der zum 10. Oktober 1868 Riemanns Nachfolge angetreten hatte118, bereits einen Schülerkreis, dem sich Klein anschließen konnte. Clebschs Denkgemeinschaft im Gebiet der algebraischen Geometrie gilt als erste bedeutsame mathematische Schule im 19. Jahrhundert (vgl. Abschnitt 2.4.1).

Abb. 6: Alfred Clebsch

Gemeinsam mit dem Leipziger Mathematiker Carl Neumann hatte Clebsch 1868 die Mathematischen Annalen begründet. Diese heute noch bestehende Zeitschrift entwickelte sich in den Anfangsjahren zum international ausgerichteten Sprachrohr der Clebsch-Schule und wurde später vor allem durch Felix Klein über Schulengrenzen hinaus geführt (Abschnitt 2.4.2). 117 KLEIN 1926, Vorlesungen I, 3-62. 118 Göttinger Nachrichten 1875, 282.

2.4 Eintritt in die Denkgemeinschaft um Alfred Clebsch

39

Klein sah sich in der Göttinger Zeit von Januar bis August 1869 noch in der Ausbildungsphase. Als junger Doktor schloss er sich dem Göttinger mathematisch-naturwissenschaftlichen Verein der Studenten an, der durch Clebschs Initiative am 7. Dezember 1868 gebildet worden war. Für Klein blieben hier geknüpfte Kontakte zuverlässige Bausteine im Netzwerk der Beziehungen, wie das Beispiel des Biologen Karl Kraepelin dokumentiert (vgl. Abschnitt 8.3.4.1). Klein besuchte in Göttingen weiterhin Vorlesungen, richtete sein Hauptaugenmerk auf die Edition von Plückers Liniengeometrie und vollendete außerdem fünf weitere Arbeiten, die von seiner frühen Kreativität zeugen (Abschnitt 2.4.3). 2.4.1 Die Clebsch-Schule Als gebürtiger Königsberger hatte Alfred Clebsch die Ausbildung an seiner ostpreußischen Heimatuniversität genossen, insbesondere das mathematisch-physikalischen Seminar, das schon 1834 unter Jacobi und dem Physiker Franz Neumann gegründet worden war. Hieraus gingen zahlreiche Mathematiker hervor, denen Felix Klein auf seinem Wege begegnen sollte, darunter Adolph Mayer, Karl von der Mühll, Carl Neumann und Heinrich Weber.119 Clebsch war in algebraisch-geometrischer Richtung durch den Jacobi-Schüler Otto Hesse120 und in mathematisch-physikalischer Richtung durch Franz Neumann geprägt worden. Ebenso hatte ihn Friedrich Julius Richelot angeregt, der begeistert über Jacobi sowie „[…] über die noch wenig bekannten Riemann’schen Anschauungen vor[trug].“121 Nach der Promotion 1854 unter Franz Neumann galten Clebschs erste Arbeiten mathematischen Problemen der Optik, Hydrodynamik und Elastizitätstheorie. In Berlin 1858 zum Privatdozenten ernannt, avancierte Clebsch noch im selben Jahre zum Professor für theoretische Mechanik am Polytechnikum Karlsruhe. 1863 wechselte er als Mathematik-Professor an die Universität Gießen und 1868 nach Göttingen, wo sich Felix Klein dessen Schule anschloss. Clebsch verband Geometrie mit den elliptischen und Abelschen Funktionen, woraus sich Sätze auf neue Weise ergaben, die Hesse bei den Kurven dritter und vierter Ordnung gefunden hatte. Die Abhandlung Ueber die Anwendung der Abel’schen Functionen in der Geometrie122 gilt als Geburtsstunde der algebraischen Geometrie. Clebsch hatte auch an Plücker angeknüpft und verknüpfte die Traditionen von Jacobi und Georg Steiner, die Arbeiten der Engländer Cayley, Sylvester und Salmon mit den von Riemann stammenden Ideen. Dabei schuf Clebsch einen neuen Typ wissenschaftlicher Gemeinschaft, als deren Repräsentanten SHAFAREVICH hervorhob: „Gordan, Brill, Lüroth, Zeuthen, und die berühmtesten: Noether und Klein.“123 Diese bauten das Gebiet weiter aus. 119 120 121 122 123

Vgl. OLESKO 1991; TILITZKI 2012. – Königsberg (heute Kaliningrad, Russland). KLEIN 1875; Noether, M: „Otto Hesse“. Zeitschrift f. Math. u. Physik 20 (1875) 77-88. Nach Heinrich Weber war das 1854, vgl. KOENIGSBERGER 1919, 206. Clebsch, A. (1864), in: Crelle-Journal 63, 189-243. Vgl. SHAFAREVICH 1983, 140.

40

2 Prägende Gruppen

Klein verwendete bereits den Begriff Clebsch’sche Schule und urteilte: „Clebsch war ähnlich wie Jacobi einer jener gottbegnadeten Lehrer, der junge Talente heranziehen und zu selbständigen Forschern zu machen verstand.“124 Alexander Brill und Max Noether – deren gemeinsame Arbeit Ueber die algebraischen Functionen und ihre Anwendung in der Geometrie125 die algebraische Geometrie in Deutschland und Italien ebenfalls nachdrücklich beeinflussen sollte – beschrieben Clebsch als „faszinierende Persönlichkeit“, der „den Betätigungstrieb von so manchem Schüler fruchtbar entwickelt hat“.126 Clebschs anregende Persönlichkeit spiegelt sich auch in der Korrespondenz Richard Dedekinds mit Heinrich Weber, die dessen Initiative fortsetzten, Riemanns Werke zu edieren.127 Klein hatte Pfingsten 1868 kurz nach Plückers Tod an einer durch Clebsch initiierten Wanderung an der Bergstraße teilgenommen und war dort einigen des Clebsch’ Kreises – Brill, Gordan und Lüroth –, sowie ebenfalls Otto Hesse und Carl Neumann, Sohn von Franz Neumann, erstmals begegnet.128 Der jüngere Klein fand hier ein kreatives Denkkollektiv. Als er selbst früher als mancher der älteren Clebsch-Schüler eine ordentliche Professur erhalten sollte, geriet er in die Lage, deren Karrieren zu fördern. Die wichtigsten Personen werden hier vorgestellt, da sie maßgebliche Konstanten auf Kleins Weg bilden sollten. Nach Ferdinand Lindemanns Ansicht – der bei Klein promovieren, Vorlesungen von Clebsch edieren sollte und sich selbst gern als Clebschs Schüler sah – wurde Olaus Henrici (*1840) der erste, allgemeiner bekannt gewordene Schüler von Clebsch.129 Henrici studierte ab 1859 an der Polytechnischen Schule in Karlsruhe und erhielt schließlich eine Lebensstellung in London, unterstützt durch Otto Hesse und vermittelt über Sylvester, Cayley, Hirst, Clifford. Henrici fungierte dort nicht nur als Ansprechpartner bei England-Reisen. Er übersetzte auch Arbeiten von Klein ins Englische (vgl. 4.2.3). Henricis Modelle und Apparate bereicherten die Sammlungen deutscher Universitäten. Typisch ist, dass das erste Exemplar seines 1894 entwickelten neuen harmonischen Analysators zur mechanischen Auswertung der Koeffizienten der Fourier-Reihe einer Funktion an die Universität Göttingen kam. Felix Klein stellte das Instrument bei der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften vor und verwendete es in Lehrveranstaltungen.130 Der von der Geburt Älteste Paul Gordan (*1837), nach Klein der bedeutendste,131 promovierte 1862 in Berlin, habilitierte sich ein Jahr später bei Clebsch in Gießen, wo beide das Werk Theorie der Abelschen Funktionen (1866) verfass124 KLEIN 1926 Vorlesungen I, 297. 125 Math. Ann. 7 (1874) 269-310; Severi, F. (1922): „A. von Brill zum 80. Geburtstag“. Jahresbericht DMV 31, 89-96. 126 Brill, A. v./Noether, M. (1911): „Jacob Lüroth“. Jahresbericht DMV 20, 279-99. 127 Vgl. SCHEEL 2014, bes. 43-51. 128 Vgl. LOREY 1916, 213-14. Wanderung Pfingstsonntag: 31. Mai 1868, KLEIN 1922 GMA II, 3. 129 Lindemann, F. (1927): „Nachruf auf Olaus Henrici“. Jahresbericht DMV 36, 157-62, Zitat 157; CLEBSCH (1876/91). 130 Henrici, O. (1894): „Ueber einen neuen harmonischen Analysator (Auszug aus einem Briefe an Herrn F. Klein)“. Vorgelegt in der Sitzung am 3.2.1894. Göttinger Nachrichten, 30-32. 131 KLEIN 1926, Vorlesungen I, 297.

2.4 Eintritt in die Denkgemeinschaft um Alfred Clebsch

41

ten, das auf einer geometrisch-algebraischen Deutung von Resultaten Riemanns basierte. Wie Voss urteilte, „[…] fand sich in dem letzteren eine ganz neue an die Vorstellung der algebraischen Kurven im geometrischen Sinne anknüpfende Behandlung, welche dann aber auch namentlich bei dem Jacobischen Umkehrproblem über den von Weierstraß behandelten hyperelliptischen Fall hinausgehend die allgemeine Lösung bringt.“132 Heinrich Weber, der eine Zeitlang neben Klein in Göttingen wirken sollte (vgl. Kap. 7), entwickelte Riemanns Ideen rein algebraisch weiter. Weierstraß’ Theorie der Abelschen Funktionen, „die im einzelnen einfacher und systematischer und sehr viel strenger vorgeht“, wie Klein schrieb, wurde erst später breiter bekannt.133 Clebsch hatte mit Siegfried Aronhold einen symbolischen Kalkül gefunden, um algebraische Invarianten zu berechnen. Indem Gordan dies ausbaute und vereinfachte, avancierte er zum „König der Invariantentheorie“, bis David Hilbert auf den Plan trat (vgl. 6.3.7.3). Die nach Clebsch und Gordan benannte Theorie der Clebsch-Gordan-Koeffizienten, die als Spezialfall aus der Darstellungstheorie der Gruppen aufgefasst werden kann, fand später noch Anwendung in der Drehimpulsphysik, die für die Quantenmechanik wichtig ist. Als Klein ordentlicher Professor wurde, war der zwölf Jahre ältere Gordan in Gießen noch Extraordinarius ohne weitere Aussichten. Klein half beim Vorankommen (vgl. 3.5). Alexander Brill (*1842) studierte am Polytechnikum in Karlsruhe, als Clebsch und Christian Wiener, ein Onkel Brills, dort lehrten. Brill beendete seine Studien 1863 mit Examen in Architektur und im Lehramt und promovierte am 13. Juli 1864 bei Clebsch in Gießen (ohne Examen und ohne schriftliche Arbeit).134 Nach einem durch Clebsch empfohlenen Berliner Studienaufenthalt kam Brill 1867 zur Habilitation nach Gießen zurück. Er erhielt 1869 eine Professur an der neu gegründeten Polytechnischen Schule in Darmstadt, wo ihn Klein mehrfach besuchte. Als Klein 1875 an das Münchener Polytechnikum wechselte, konnte er Brill auf eine Professur neben sich ziehen (vgl. Abschnitt 4). Jakob Lüroth (*1844) erwarb den Doktortitel 1865 in Heidelberg unter Otto Hesse, dessen Werke er später edierte. Lüroth hörte bei Weierstraß in Berlin und ab 1866 bei Clebsch in Gießen, der ihn stark beeinflusste. Nach Habilitation (Heidelberg 1867) und Vertretungsprofessur 1868 wurde er 1869 o. Professor am Polytechnikum Karlsruhe. Klein, der in seiner Dissertation Ergebnisse von Lüroths Habilitationsschrift verarbeitet hatte (vgl. 2.3.4), sollte diesen 1880 als seinen Nachfolger an Münchens Technischer Hochschule etablieren können. Drei Jahre später folgte Lüroth einem Ruf an die Universität in Freiburg i.Br.135 Max Noether (*1844) erlangte 1868 den Doktorgrad gleichfalls unter Hesse in Heidelberg, ohne besondere Dissertationsschrift. Als Hesse im selben Jahr eine Professur am neu geordneten Polytechnikum in München annahm, setzte Noether seine Studien unter Clebsch in Gießen und Göttingen fort, wo ihn Klein traf. 132 133 134 135

Voss, Aurel (1914): „Heinrich Weber“. Jahresbericht DMV 23, 431-44. KLEIN 1926,Vorlesungen I, 307. Vgl. Finsterwalder, S.: „Alexander v. Brill“. Math. Ann. 112 (1936) 654. Vgl. Brill, A.; Noether, M.: „Jakob Lüroth“. Jahresbericht DMV 20 (1911) 279-99.

42

2 Prägende Gruppen

Clebsch – der damals Probleme der birationalen Geometrie anknüpfend an Riemann behandelte – hatte Max Noether auf Fragen der mehrdimensionalen birationalen Geometrie gelenkt136, wodurch Klein dies ebenfalls kennenlernte. Ergebnisse ihrer Kooperation schlugen sich bereits in einer Arbeit Noethers vom Juli 1869 nieder.137 Max Noether habilitierte sich 1870 in Heidelberg; sein erstes bezahltes Extraordinariat erhielt er erst 1875 in Erlangen dank Felix Klein (vgl. Abschnitt 3.5). Noether unterstützte Klein vielfältig, auch als Gutachter und Autor bei den Mathematischen Annalen. Er erfüllte wiederholt Kleins Wunsch, Nachrufe für wichtige Annalen-Autoren zu verfassen, die „zu einem vortrefflichen Hilfsmittel zum Studium der ganzen Epoche“ gerieten.138 Klein sollte später beitragen, für Max Noethers Tochter Emmy den Weg zu ebnen (vgl. 7.6; 9.2.2). Max Noether sah den dänischen Mathematiker Hieronymus Georg Zeuthen (*1839), den Shavarevich Clebschs Schule zuordnete, nicht als direkten Schüler von Clebsch.139 Zeuthen kooperierte jedoch eng mit dem Clebsch-Kreis. Seit seiner Teilnahme an einer Mathematiker-Versammlung in Göttingen 1873 (vgl. Abschnitt 2.8.3.4) bahnte sich zwischen Klein und Zeuthen ein besonders herzliches Verhältnis an. Zeuthen publizierte 16 Arbeiten zur algebraischen Geometrie in den Mathematischen Annalen.140 Zeuthen beteiligte sich an Kleins späteren Großprojekten, lieferte für die ENCYKLOPÄDIE (Bd.III,2.1, 1905) einen Beitrag Abzählende Methoden, sein vom französischen Mathematiker Michel Chasles inspirierter Forschungsschwerpunkt,141 und beteiligte sich am Projekt Kultur der Gegenwart (vgl. 8.3.1). Als Sekretär der Kgl. Dänischen Gesellschaft der Wissenschaften bewirkte er Kleins Wahl zum Auswärtigen Mitglied (am 8. März 1892). Zu diesem Kreis gehörte Hermann Schubert (*1848), dessen Kalkül der abzählenden Geometrie in der algebraischen Geometrie ebenfalls auf Chasles’ Methoden basierte.142 Hilbert schätzte das Gebiet noch 1900 und forderte als Nr. 15 seiner berühmten Probleme (vgl. dazu Kapitel 10.1) eine „Strenge Begründung von Schuberts Abzählungskalkul“. Schubert schrieb 15 Arbeiten für die Mathematischen Annalen143 sowie den ersten Beitrag (Grundlagen der Arithmetik) für Band I der ENCYKLOPÄDIE. Als Gymnasiallehrer in Hildesheim erkannte und för-

136 Zur Einordnung vgl. SCHOLZ 1980, Anhang 2. 137 M. Noether reichte am 14.7.1869 bei der Kgl. Gesell. d. Wiss. zu Göttingen eine Arbeit „Zur Theorie der algebraischen Funktionen mehrerer komplexer Variablen“ (Gött. Nachr. 1869, 298-306) ein, die ein von Klein herrührendes Ergebnis zur einfachsten Abbildung eines Linienkomplexes zweiten Grades auf den Punktraum enthält, vgl. KLEIN 1921 GMA I, 89. 138 Vgl. Übersicht über von Max Noether verfasste Nachrufe in KLEIN 1926 Vorlesungen I, 157. 139 Noether, M.: „Hieronymus Georg Zeuthen“. Math. Ann. 83 (1921) 1-23. 140 Vgl. TOBIES/ROWE 1990, 39. 141 Zeuthens Lehrbuch der abzählenden Methoden der Geometrie (Leipzig/Berlin: B.G. Teubner, 1914) gibt einen guten Überblick. Der Name Eduard Study fehlt darin, weil dieser öffentlich Differenzen mit ihm dazu ausfocht, in welche Klein involviert werden sollte, vgl. Abschnitt 5.4.1, und HARTWICH 2003, 73-88. 142 Schubert, Hermann: Kalkül der abzählenden Geometrie. Leipzig: B.G. Teubner, 1879. – Schuberts Arbeiten zum Thema waren seit 1876 in den Math. Ann. erschienen. 143 TOBIES/ROWE 1990, 39.

2.4 Eintritt in die Denkgemeinschaft um Alfred Clebsch

43

derte er die begabten Hurwitz-Brüder144 und empfahl Adolf Hurwitz das Studium bei Felix Klein (vgl. 4.2.4.2). Klein band Schubert später als Repräsentanten forschender Gymnasiallehrer in den Vorstand der Deutschen Mathematiker-Vereinigung ein (vgl. 6.4.4). Aurel Voß (*1845) promovierte am 17. März 1869 in Göttingen mit der Arbeit „Über die Anzahl reeller und imaginärer Wurzeln höherer Gleichungen“ bei Moritz Abraham Stern, und wurde durch Clebsch wissenschaftlich angeregt, den er 1868/69 hörte.145 Zunächst im Schuldienst tätig, entschied sich Voß doch für eine wissenschaftliche Karriere bei Clebsch. Da dieser unerwartet plötzlich verstarb, folgte Voß dem jüngeren Professor Klein nach Erlangen. Aurel Voß war Felix Klein lebenslang dankbar für den geebneten Weg zur Habilitation und wurde ein Duzfreund. Als etablierter Professor ließ sich Voß als Autor für das ENCYKLOPÄDIE-Projekt und für das Projekt Kultur der Gegenwart gewinnen. Voß verfasste ein eindringliches Bild des jungen Klein, des „jugendlichen Dozenten“ mit der „ungewöhnlichen Vielseitigkeit seiner Begabung, sein divinatorisches wissenschaftliches Taktgefühl, die Originalität seiner Konzeptionen“.146 Während seiner ersten Göttinger Zeit hatte Klein Vorlesungen von M. A. Stern (Theorie der numerischen Gleichungen), Bernhard Minnigerode147 (Theorie der partiellen Differentialgleichungen und deren Anwendung auf mathematische Physik) gehört und gemeinsam mit Aurel Voß, Max Noether u.a. im Hörsaal bei Alfred Clebsch gesessen. Letzterer las im Winter 1868-69 Analytische Geometrie des Raumes (5 Wochenstunden) und hielt eine Stunde öffentliche Übungen zur Geometrie.148 Im Sommer 1869, vom 15. April bis 15. August, bot Clebsch 4stündig Ueber Determinanten, Elimination und algebraische Formen sowie Mathematische Theorie des Lichts.149 Aurel Voß überlieferte: Die schöne Form seines Vortrags, die Freude, die dieser unvergleichliche Lehrer selbst zu empfinden schien, wenn er die Gedanken, die ihn und seine wissenschaftlichen Freunde, A. Cayley, C. Jordan, L. Cremona gerade in jener Zeit lebhaft beschäftigten, vor seinen Hörern entwickelte, die Eleganz, mit der er in dieser ersten in Göttingen gehaltenen Vorlesung über Geometrie des Raumes alle neuern Hilfsmittel, von den homogenen Koordinaten und dem Prinzip der Dualität bis zur Theorie der Abbildung der algebraischen Flächen in Verbindung mit dem Abelschen Theorem, und endlich die Neue Geometrie des Raumes von J. Plücker behandelte, mußten seine Schüler in eine ganz neue Welt einführen, in die lebhafteste Verbindung mit der Gegenwart versetzen und zum Studium ihrer Literatur anregen.150

Clebsch lehrte die neuesten, im internationalen Raum entwickelten Resultate seines Gebietes. Dazu gehörten nicht nur die Arbeiten von Cayley, Jordan und Cre144 145 146 147

Vgl. OSWALD/STEUDING 2014. Göttingen: E. A. Huth, 1869. – Klein an Lorey, 26.2.1919 [Nachlass Lorey] B.I.1, Nr. 441. VOSS 1919, Zitate 286; divinatorisch = vorahnend, seherisch. Klein, Vita zum Habilitationsgesuch v. 5.12.1870, publiziert in TOBIES 1999a, 85; und Verzeichnis der Vorlesungen auf der Georg-Augusts-Universität zu Göttingen während des Sommerhalbjahrs 1869, 15.4.-15.8.1869. Göttinger Nachrichten (1869) Nr. 6, 90. 148 Göttinger Nachrichten 1868, Nr. 14 (5.8.1868) 310. 149 Verzeichnis der Vorlesungen SS 1869, in Göttinger Nachrichten 1869, Nr. 6, 90. 150 VOSS 1919, 280.

44

2 Prägende Gruppen

mona, sondern auch Plückers jüngere Ergebnisse zur Liniengeometrie. Wie Voß mitteilte, vernahmen die Zuhörer überrascht, dass Clebsch auf den in der Vorlesung sitzenden jungen Felix Klein als Experten für dieses Gebiet hinwies: Mit Staunen vernahm man, daß dieser junge Mann, dessen liebenswürdige Persönlichkeit über die Jahre hinaus gereift und originell erschien, in der Vorlesung von Clebsch als Autorität in dieser Neuen Geometrie des Raumes bezeichnet wurde, mit der Plücker in seinen letzten Lebensjahren die Wissenschaft bereichert hatte.151

Clebschs Forschungen und seine Fähigkeit, Übergänge zwischen einzelnen, zuvor als heterogen betrachteten Gebieten aufzudecken und zu systematisieren, sollten Klein als Muster für sein eigenes Herangehen dienen, wobei er betonte: „Das Wichtigste in der Wirksamkeit von Clebsch ist meiner Ansicht nach sein moralischer Einfluß gewesen, in dem er es nämlich erreichte, uns neben tiefem wissenschaftlichen Interesse Vertrauen in die eigene Kraft einzuflößen.“ Clebschs ausgefeilter Vortragsstil, seine Seminargestaltung und sein Umgang im persönlichen Verkehr, „seine Gedanken reich und unbegrenzt mittheilend“152, waren gleichfalls Vorbild. Klein brachte das Konzept von Clebsch wie folgt auf den Punkt: „Das grosse Programm der Vereinigung (auch der Personen).“153 Mathematisch ging es bei Clebschs Vereinigungsprogramm darum, Funktionentheorie, Algebra und Geometrie zusammenzuführen. Klein hob Clebschs Einteilungsprinzipien in der Geometrie hervor, Clebschs symbolische, an Aronhold anknüpfende Darstellung der Invariantentheorie, sein mit diesen Mitteln eingeführtes Grundgebilde in der Geometrie der Ebene, den Connex, als einen ersten Schritt, um die neueren geometrischen Untersuchungen mit der Lehre der Differentialgleichungen erster Ordnung zu verbinden.154 Als Clebsch plötzlich am 7. November 1872 verstarb, fanden sich seine Schüler und Freunde zusammen, um einen wissenschaftlichen Nachruf vorzubereiten. Klein schrieb am 15. November 1872 an Max Noether: […] wir beschlossen, noch eine ausführlichere wissenschaftliche Biographie erscheinen zu lassen, nach Art der durch Clebsch selbst gegebenen von Pluecker. Da müssen wir auf Deine und Anderer Hülfe recurriren. Wir unterscheiden in Clebsch’s wissenschaftlicher Thätigkeit 6 Perioden: 1) mathematische Physik. Neumann 2) Partielle Gleichungen. Zweite Variation. Mayer 3) Geraenderte Determinanten. Beginn der neueren Algebra. Lueroth 4) Abel’sche Functionen. Brill 5) Neuere Algebra. Gordan. 6) Flächenabbildung. Noether.155

Die aus der Königsberger Schule stammenden Leipziger Professoren Carl Neumann und Adolph Mayer gehörten zur Redaktion der Mathematischen Annalen, 151 152 153 154 155

Ebd. (VOSS 1919, 280). KLEIN 1926 Vorlesungen I, 297. [UBG] Cod. Ms. F. Klein, Manuskript „25 Jahre moderner Mathematik“ v. 20.2.1893. Der Begriff Connex entstand 1872, vgl. Abschnitt 2.8.2.1. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 12: Nr. 554, Klein an M. Noether, Brief v. 15.11.1872.

2.4 Eintritt in die Denkgemeinschaft um Alfred Clebsch

45

wofür der Nachruf vorbereitet wurde. Den Part mathematische Physik überließ Neumann schließlich dem Leipziger Kollegen Karl von der Mühll, der ebenfalls in Königsberg studiert hatte. Klein brachte das Ganze in einen einheitlichen Guss und berief dazu mehrfach Diskussionsrunden ein. Sie unterstrichen Clebschs Denkweise, „vom einzelnen ausgehend […] allgemeine Methoden“ zu erfassen und somit zu Arbeiten mit einheitlichem, systematischen Gepräge zu gelangen.156 Dieser Kreis initiierte auch eine Clebsch-Stiftung, um dessen Frau und die Söhne bis zum Berufseintritt zu unterstützen.157 Wissenschaftlich sahen sie sich in heftiger Konkurrenz mit in Berlin sozialisierten Mathematikern. Sie mussten sich ohne ihren bisherigen Kopf gegen eine traditionelle „strenge“ Mathematik durchsetzen. Dazu gehörte, Riemanns Denkweise auf den Weg zu bringen. Leo Koenigsberger sah darin eine Änderung des Denkstils in der Mathematik.158 2.4.2 Die Mathematischen Annalen Alfred Clebsch und Carl Neumann hatten im Mai 1868 bei der erwähnten Bergstraßen-Wanderung beschlossen, eine neue mathematische Zeitschrift unabhängig von den Berlinern zu begründen. Carl Neumann, der 1868 gerade einem Ruf an die Universität Leipzig gefolgt war, nahm den Kontakt mit dem Leipziger Verlagshaus B.G. Teubner auf. In einem Schreiben vom 10. Juni 1868 schlug er die Herausgabe einer neuen Zeitschrift Mathematische Annalen vor und empfahl Clebsch als Herausgeber. Neumann prognostizierte, dass „[…] durch dessen Talent und Energie das Journal wahrscheinlich binnen kurzer Zeit alle übrigen Math.[ematischen] Zeitschriften Europas überflügeln [werde] in Bezug auf Reichhaltigkeit, Eleganz und Verbreitung […]“.159 Das erste Heft kam am 22. Dezember 1868 heraus. Diese Zeitschrift und die damit verbundenen Autoren sollten beitragen, die seit 1811 bestehende Verlagsbuchhandlung B.G. Teubner zu einem der wichtigsten Verlage für mathematische Literatur zu entwickeln.160 Die Herausgeber Clebsch und Carl Neumann orientierten auf Internationalität. Beiträge konnten in Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch eingereicht werden. Bereits der erste Band enthielt zwei Artikel von Camille Jordan aus Paris, je einen Beitrag von Arthur Cayley aus London, von Eugenio Beltrami aus Bologna, von Zeuthen aus Kopenhagen – Mathematiker, mit denen auch Felix Klein schnell verbunden sein sollte. Klein gehörte ab Heft 2 des zweiten Bandes (1870) zu den Autoren. Nach Clebschs Tod suchte Neumann neue Mitstreiter. Er wählte ab Band 6 (1873) Klein und Gordan aus der Clebsch-Schule sowie die Leipziger Adolph Mayer und Karl von der Mühll161 für den Kreis der Mitwirkenden. 156 157 158 159 160 161

Vgl. CLEBSCH 1874, Math. Ann. 7, 4. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 7L: Bl. 1-72 (Clebsch-Stiftung). KOENIGSBERGER 1919, 55. (Vgl. das Zitat in der Einleitung, Abschnitt 1.2). Als Faksimile abgedruckt in SCHULZE 1911, zwischen S. 300-301. SCHULZE 1911; WEIß 2018. – Vgl. auch Abschnitt 5.6 in diesem Buch. Im Leipziger Professorenkatalog steht „von der Mühll“; vgl. aber Abb. 7.

46

2 Prägende Gruppen

Abb. 7: Titelblatt der Mathematischen Annalen 6 (1873)

2.4 Eintritt in die Denkgemeinschaft um Alfred Clebsch

47

Kleins Briefe an Carl Neumann von 1873 bis 1875 dokumentieren bereits sein besonderes Engagement für die Zeitschrift. Klein sandte eigene Beiträge, veranlasste die Aufnahme von Dissertationen seiner Erlanger Schüler (Lindemann, Weiler, Harnack, Wedekind), die Habilitationsschrift von Aurel Voß, Arbeiten von Wilhelm Frahm, Max Noether. Klein begutachtete Arbeiten (R. Sturm, A. Brill, F. E. Eckardt, u.a.) und informierte, dass er den Austausch mit dem Bulletin de la Société Mathématique organisiert habe. Kleins Literaturkenntnis erstreckte sich inzwischen auch auf Carl Neumanns Domäne (vgl. 5.5.1.1). So konnte Klein ihm z.B. mitteilen, dass der Annalen-Autor Ferdinand Lippich (theoretischer Physiker) an Neumanns Vorlesungen über Riemann’s Theorie der Abel’schen Integrale (Leipzig: B.G. Teubner, 1865) anknüpfend ein Theorem behandelte, dass Camille Jordan zuvor schon besser abgeleitet hatte. Nach dem Tode von Clebsch fühlte sich Klein verantwortlich, „[…] da die Aufrecht-Erhaltung der Annalen, soweit sie in meinen Kräften liegt, meine erste Sorge ist.“162 Neumann liebte redaktionelle Tätigkeit weniger. Er wusste die Zeitschrift in guten Händen, als er mit Band 10 (1876) die Herausgabe an Klein und Mayer übergab und selbst in den Kreis der Mitwirkenden zurücktrat. Sie erweiterten das Netzwerk von Tauschorganen und regten Beiträge an. Sie zeigten sich weitsichtig, als sie Georg Cantors Arbeiten zur Mengenlehre aufnahmen, die Kronecker beim Crelle-Journal abgewiesen hatte. Weniger weitsichtig war, dass Klein Gottlob Freges Manuskript „Boole’s rechnende Logik und die Begriffsschrift“ als ungeeignet zurückschickte und für eine philosophische Zeitschrift empfahl.163 Als neben dem Crelle-Journal noch ein weiteres mathematisches Konkurrenzorgan auf den Markt trat, die durch den schwedischen Weierstraß-Schüler Gösta Mittag-Leffler 1882 begründeten Acta Mathematica, verfolgte Klein eine interessante Politik. Er bot Kooperation an, sandte auch einen eigenen Beitrag für die Publikation, wurde aber abgewiesen. Mittag-Leffler betrieb eine hinterhältige Politik des gegenseitigen Ausspielens von Mathematikern164, die auch Sophus Lie (als Initiator und Redaktionsmitglied der Acta) dazu brachte, dort nicht zu publizieren. Dennoch empfahl Klein seinem besten Schüler Adolf Hurwitz: Dass Sie ab und zu in Mittag-Leffler publiciren, scheint mir unter allgemeinen Gesichtspuncten sogar wünschenswerth: wir setzen uns, wenn wir uns auf die Annalen beschränken, gar so leicht auf den Isolirschemel (ich würde selbst in Mittag-Leffler und Kronecker gedruckt haben, wenn ich nicht an beiden Stellen zurückgewiesen worden wäre). Aber Ihre Hauptarbeiten möchte ich in der That gerne für die Annalen haben bez. behalten.165

Zugleich erweiterten Klein und Mayer die internationalen Kontakte, vor allem auch in Richtung Osteuropa (vgl. Abschnitte 5.4.2.5; 6.3.7.1).

162 [UBG] Math. Archiv: 165a, Zitat aus Brief v. 27.4.1873 (Bl. 3). Zu Lippich/Jordan (Bl. 8v, 9) in Brief v. 12.1.1874; Lippich, R. (Prag): „Ueber den Zusammenhang der Flächen im Sinne Riemann’s“. Math. Ann. 7 (1873) 212-29. 163 TOBIES/ROWE 1990, 37, Brief Kleins an Frege v. 14.8.1881. 164 Vgl. hierzu die präzise Darstellung bei ROWE 1992, 610-12. 165 [UBG] Math. Archiv 77: 192, Klein an Hurwitz, Brief v. 15.1.1888.

48

2 Prägende Gruppen

Klein sorgte später regelmäßig dafür, die Redaktion zu erneuern. Dies einerseits, um sich persönlich hinsichtlich organisatorischer Aufgaben zu entlasten (1887 durch seinen Schüler Walther Dyck), andererseits, um das inhaltliche Niveau zu halten und neu entstehenden Richtungen Raum zu geben. So kamen mit Band 42 (1893) Heinrich Weber und Max Noether in den Kreis der Mitwirkenden. Sophus Lie lehnte dasselbe Angebot ab (er wäre nur als Hauptherausgeber eingetreten). Dieses Amt traute ihm Klein nicht zu. Dagegen setzte Klein nach mehrjährigem Widerstand aus dem Kreis der alten Clebsch-Schüler durch, dass David Hilbert ab Band 50 (1898) in den Kreis der Mitwirkenden und ab Band 55 (1902) als einer der Hauptherausgeber zu den Mathematischen Annalen kam.166 Nachfolgend achtete Klein darauf, dass in der Zeitschrift die jeweils modernen Gebiete hinreichend vertreten sind. So insistierte er z.B. bei Hilbert mit Brief vom 31. Juli 1901: „Aus den Annalen kann in der That Niemand z. Z. erkennen, wie intensiv bei Ihnen nach den verschiedensten Richtungen gearbeitet wird!“167 Klein regte an, Hilberts ersten Doktorschüler Otto Blumenthal, inzwischen Professor an der TH Aachen, ab Band 62 (1906) auf das Titelblatt der Annalen-Hefte zu bringen, da Blumenthal „[…] sich als Mitarbeiter bei der Redaktion so sehr [bewährt hat], dass wir ihm m.E. die hierin liegende Anerkennung nicht weiter vorenthalten sollten.“168 Abgestimmt zwischen Klein und Hilbert traten nach Adolph Mayers Tod, ab Band 66 (1909), Hermann Minkowski und Otto Hölder in den Kreis der Mitwirkenden.169 Nach dem Ableben von Paul Gordan (1912), Karl von der Mühll (1912) und Heinrich Weber (1913) unterstützte Klein die Empfehlung Otto Blumenthals – der inzwischen die redaktionellen Geschäfte maßgeblich leitete – Luitzen Brouwer und Constantin Carathéodory in den Kreis der Mitwirkenden ab Band 76 (1915) aufzunehmen.170 Als die Mathematischen Annalen 1920 von Teubner zum Verlag Julius Springer wechselten, gewann Klein noch persönlich Albert Einstein als einen Herausgeber.171 Noch 1924 warf Klein sein Gewicht in die Waagschale, um über die Aufnahme eines Beitrags in die Zeitschrift zu entscheiden. Erst nach Differenzen mit dem Redaktionsmitglied Brouwer zog sich Klein ca. zehn Monate vor seinem Tod von der Hauptredaktion zurück.172 Felix Kleins erste Arbeiten, die in den Mathematischen Annalen erschienen, entstanden 1869 in Göttingen. 166 Klein wollte Hilbert bereits 1894 in das Board integrieren. Als dies nicht gelang, sorgte er dafür, dass Hilbert ab 1894 ein Freiexemplar der Math. Ann. vom Verlag erhielt (vgl. FREI 1985, 95). Zur Systematisierung der bei Teubner verlegten mathematischen Zeitschriften vgl. Abschnitt 5.6; TOBIES 1986b, 1987a; TOBIES/ROWE 1990, 28-37. 167 Vgl. in FREI 1985, 129. 168 Rundschreiben Kleins v. 23.4.1906 an die Redaktionsmitglieder (Hilbert, A. Mayer, Gordan, M. Noether, v. Dyck, H. Weber) [UBG] Cod. Ms. F. Klein 22 L. 169 Vgl. dazu FREI 1985, 135-37. – Minkowski starb am 12.1.1909. 170 Blumenthal an Klein, am 5.6.1914 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 8: 138. Vgl. auch ROWE 2018b. 171 Vgl. auch Abschnitt 9.2.2. 172 [UBG] Klein 8: 143/A, 146 (Blumenthal an Klein). – Zur Würdigung Kleins für die Zeitschrift vgl. Math. Ann. 95 (1926) 1; auch DALEN 2005, 601-33.

2.4 Eintritt in die Denkgemeinschaft um Alfred Clebsch

49

2.4.3 Liniengeometrische Arbeiten 1869 Nachdem Klein zum 25. Mai 1869 Plückers Liniengeometrie vom Tisch hatte, konnte er sich dem Aufschreiben nebenher gewonnener eigener Resultate widmen, die den Einfluss des Clebsch-Kreises erkennen lassen. Kleins fünf im Zeitraum vom 4. Juni 1869 bis 4. August 1869 verfasste Artikel brachte Clebsch bei den Nachrichten von der Kgl. Gesellschaft der Wissenschaften und der GeorgAugusts-Universität (kurz: Göttinger Nachrichten) ein oder nahm sie in die Mathematischen Annalen auf. Klein verwies auf den Einfluss: Beim Vergleich mit der Dissertation wird man den anregenden Einfluß erkennen, den die Göttinger Umgebung auf mich ausgeübt hat. Ich wähle diesen etwas unbestimmten Ausdruck, weil neben Clebsch selbst die vorab noch kleine Zahl von Spezialschülern, die er um sich versammelt hatte, regsten Einfluß auf mich gewann. Clebsch selbst hatte uns damals vor allen Dingen die von ihm entdeckte rationale Abbildung der niedersten algebraischen Flächen auf die Ebene vorgetragen und insbesondere Nöther die prinzipielle Weiterführung dieser Untersuchungen und ihre Erweiterung auf mehrdimensionale Gebilde übertragen.173

Kleins Beitrag an Max Noethers Arbeit (eingereicht am 14.7.1869) wurde oben bereits genannt (vgl. 2.4.1). Einen Monat zuvor hatte Klein eine kurze Notiz abgeschlossen, die anknüpfend an Clebsch ein neues Resultat zur Abbildung der Komplexflächen vierter Ordnung und vierter Klasse präsentierte. Darin zeigte Klein, dass bei der Erzeugung dieser Abbildung an die Linienkomplexe zweiten Grades angeknüpft werden konnte.174 Außerdem verfasste Klein eine Arbeit, über die er später schrieb, dass er sich damit nach der Dissertation die Sporen verdiente.175 Davon hatte er eine kürzere Variante an die Göttinger Nachrichten (4.6.1869) und eine Längere an die Mathematischen Annalen (14.6.1869) gegeben. In dieser Arbeit führte er den Begriff Kummersche Fläche ein, für eine Fläche, die Kummer erstmals 1864 beschrieben hatte. Klein formulierte als Theorem: Diejenigen Punkte, deren Komplexkegel in ein Ebenenpaar zerfällt, die sogenannten singulären Punkte, bilden eine Fläche der vierten Ordnung und Klasse, mit 16 Doppelpunkten und 16 Doppelebenen. Dieselbe Fläche wird von den singulären Ebenen umhüllt, solchen Ebenen, deren Komplexkurve sich in das System zweier Punkte aufgelöst hat. Eine derartige Fläche soll im folgenden eine Kummersche Fläche genannt werden. In ihrer Beziehung zum Komplexe heiße sie seine Singularitätenfläche.176

Voß urteilte, dass Klein durch eine scharfsinnige Kombinatorik der Fundamentalkomplexe und ihrer Lagenbeziehungen untereinander erkannt habe, dass die bereits von Plücker gefundene Singularitätenfläche des allgemeinen Komplexes zweiten Grades schon bei Kummer aufgetreten war, als in sich selbst duales Gebilde vierter Ordnung und Klasse mit 16 Doppelebenen und Doppelpunkten.177 173 174 175 176 177

KLEIN 1921 GMA I, 51. Ebd., 87-88 (Math. Ann. 2 (1870) 371-72). Vgl. KLEIN 1926 Vorlesungen I, 167. Zitiert nach KLEIN 1921 GMA I, 69. VOSS 1919, 281.

50

2 Prägende Gruppen

Klein erkannte, dass die Bestimmung der Singularitäten einer Kummerschen Fläche von der Auflösung der Gleichung sechsten Grades und mehrerer quadratischer Gleichungen abhängt. Er erwähnte auch Camille Jordans Entdeckung aus dem Jahre 1868, dass sich die Gleichung 16. Grades der Doppelelemente auf eine Gleichung 6. Grades und mehrere quadratische reduzieren lässt.178 Kleins Leistung bestand darin, dies auf geometrische Weise bestätigt zu haben. Sein Hinweis auf eine algebraisch lösbare Gleichung sechsten Grades bildete einen Ausgangspunkt für seine späteren Untersuchungen über die Lösung algebraischer Gleichungen.179 Es ist das Verdienst von François LÊ (2015b), hier verwendete sog. „geometrische Gleichungen“ als Weg hin zum Erlanger Programm noch einmal hervorgehoben zu haben. Bereits Otto Hölder widmete diesen Gleichungen einen kurzen Abschnitt in seinem ENCYKLOPÄDIE-Beitrag.180

Abb. 8: Kummersche Fläche mit 16 reellen Doppelpunkten

Klein führte in dieser Sporen-Arbeit bereits aus, dass sich die Kummersche Fläche konstruieren lässt und wie ihr Modell gefertigt werden kann (Abb. 8).181 Unter den vier Modellen zur Theorie der Linienkomplexe zweiten Grades, die Kleins Schulfreund Albert Wenker für ihn herstellte, befanden sich zwei Modelle für die Kummersche Fläche. Sie waren anders als Plücker an die Konstruktion herangegangen. Plücker hatte „[…] seine Modelle von Komplexflächen nach geeigneter Annahme der in der Gleichung vorkommenden Konstanten nur erst empirisch aus den Gleichungen der horizontalen Schnitte, bez. der durch die z-Achse hindurch178 KLEIN 1921 GMA I, 71. Kleins „Sporen verdienende Arbeit“ war Mitte 1869 fertig, erschien aber erst in Math. Ann. 2 (1870) 198-226. Er nutzte algebraisches Wissen von Clebsch, dessen Schülern und Jordans Arbeiten „Commentaire sur Galois“ (Math. Ann. 1 (1869) 145-60) und „Sur les équations de la division des fonctions abéliennes“ (ebd., 583-91). 179 Vgl. VOSS 1919, 281; und Abschnitt 4.2.1 dieses Buches. 180 Hölder, O. (1899): Galois’sche Theorie mit Anwendungen. Bd. I.1, 3.c,d., bes. 518-20. 181 VOSS 1919, 281.

2.5 Erweiterung von Horizont und Freundeskreis in Berlin

51

gehenden ‚Meridianschnitte’ konstruieren […]“ lassen. Kleins Modelle basierten dagegen auf einer geometrischen Konstruktion, „[…] indem ich die Ebenen benutzte, welche die Flächen nach Erstreckung ganzer Kegelschnitte berühren.“ Eines dieser vier Modelle sollte später eine besondere Rolle spielen: Klein trug darüber in Berlin sowie beim Habilitationsverfahren in Göttingen (vgl. 2.7.2) vor: Wir haben dabei insbesondere auf das Modell der allgemeinen Komplexfläche eine ganz außerordentliche Mühe verwandt, indem wir uns einen Fall aussuchten, welcher keinerlei besondere, den Überblick und gleichzeitig die Konstruktion erleichternde Symmetrien besaß.182

Klein hatte Weierstraß’ Theorie der Elementarteiler erfolgreich genutzt und war mit Kummers Arbeiten zur Theorie der geradlinigen Strahlensysteme vertraut – zu welcher die nach ihm benannte Fläche gehörte. Das war ihm Grund genug, für ein Semester nach Berlin zu gehen. Klein hatte selbstständige Resultate erzielt, die ihm den Zugang zum Mathematischen Seminar an der Universität Berlin ermöglichten, auch wenn Kummer von einem Manuskript, welches Klein noch vom 5. September bis 15. Oktober 1869 erarbeitete, wenig beeindruckt schien.183 2.5 ERWEITERUNG VON HORIZONT UND FREUNDESKREIS IN BERLIN Trotz der günstigen Verhältnisse in Göttingen trieb mich der Drang nach Erweiterung des Gesichtskreises fort, da ich über die Grenzen der wissenschaftlichen „Schulen“ hinauswachsen wollte.184

Der 20-jährige promovierte Felix Klein verbrachte von Herbst 1869 bis zum 17. März 1870 ein Studiensemester in Berlin, obgleich ihm sowohl Plücker als auch Clebsch davon abgeraten hatten. Klein reiste mit den Vorurteilen seiner Lehrer im Gepäck,185 wollte das inzwischen berühmte mathematische Zentrum selbst kennenlernen. Er wohnte in der Karlstraße 11 (heute: Reinhardtstraße), nahe zur Universität und zu den Wohnungen der wichtigsten Studienfreunde.186 Klein sah sich zu zahlreichen „gesellschaftlichen Verpflichtungen“ genötigt.187 So war es z.B. üblich, sich bei den Professoren persönlich zu Hause vorzustellen. 182 Zitate in KLEIN 1922 GMA II, 3; 7-10. Nach Wenkers Tod ließ Klein die vier Modelle aus Zink in der mechanischen Werkstatt von Joh. Eigel Sohn in Köln herstellen. 183 Vgl. hierzu ROWE 2000, 64; ROWE 2013, 2. – Zur Geschichte mathematischer Modelle vgl. auch die Dissertation von Anja SATTELMACHER 2017. 184 KLEIN 1923a Autobiographie, 15. 185 Zu Plückers Gastrolle als a.o. Professur in Berlin und zur Abneigung des synthetischen Geometers Steiner gegenüber Plücker siehe BIERMANN 1988, 67-68. KOENIGSBERGER (1919, 39) gab für die „gereizte Stimmung einiger Berliner Mathematiker gegen Clebsch und Gordan“ einen „geringen Prioritätsstreit bezüglich des Abschnitts in dem ausgezeichneten im Jahre 1866 erschienenen Werke Theorie der Abelschen Functionen, welcher der linearen Transformation gewidmet ist, und die Zurückführung aller dieser auf eine bestimmte Anzahl solcher Fundamentaltransformationen behandelt“ an. 186 AMTLICHES VERZEICHNIS (1869), 24. Sophus Lie wohnte in der Kronenstr. 52; Otto Stolz in der Schumannstr. 1b (eine Parallelstraße der Karlstraße); L. Kiepert in der Dessauer Str. 7. 187 [Oslo] Klein an Lie, Brief v. 13.4.1870.

52

2 Prägende Gruppen

Wir werden sehen, an wessen Veranstaltungen Klein teilnahm und wie Berliner Professoren den jungen Doktor beurteilten. (Abschnitt 2.5.1) Wir werden sehen, welche neuen Freunde und Kooperationspartner Klein im Mathematischen Verein der Studierenden gewann. (2.5.2) Wir werden sehen, wie Klein erstmals die von Clebsch geförderte Fähigkeit nutzte, um Zusammenhänge zwischen scheinbar getrennt liegenden Gebieten aufzudecken. (2.5.3) Vorab sei erwähnt, dass Klein auch physikalischen Gremien beitrat, so dem Physicalischen Colloquium, das 1843 vom Ordinarius für Physik Gustav Magnus ins Leben gerufen worden war. Außerdem besuchte Klein die Sitzungen der 1845 gegründeten Berliner Physikalischen Gesellschaft. Letztere schloss nicht-akademische Kreise ein; hier sprach Klein am 11. März 1870 „Über ein Modell einer Plücker’schen Komplexfläche“ (vgl. Abschnitt 2.4.3).188 Dieser Auftritt Kleins erscheint weniger ungewöhnlich, wenn wir in Betracht ziehen, dass sich Gustav Magnus und Julius Plücker persönlich kannten und sich bereits in den 1840er Jahren über Modelle und Ideen zu Linienkoordinaten ausgetauscht hatten.189 2.5.1 Berliner Professoren und Felix Klein Als Klein im Herbst 1869 nach Berlin kam, wurde die nach dem preußischen König benannte, seit 1810 existierende Friedrich-Wilhelms-Universität vom Rektor Emil du Bois-Reymond geleitet. Dieser bedeutende Physiologe, der auch eine zeitlang in Bonn Mathematik – neben Theologie, Philosophie, Geologie – studiert hatte, plädierte früh für den Einsatz graphischer Methoden in der Medizin. Klein wies später auf ihn als einen Vorreiter für die Unterrichtsreform (vgl. 8.3.4). Der Mathematiker Ernst Eduard Kummer war 1869 Prorektor der Universität Berlin.190 Sein Ruf 1855 auf die Professur als Nachfolger Dirichlets191 gilt als Start der Goldenen Ära in der Berliner Mathematik.192 Kummer erwirkte ein Extraordinariat für den 41-jährigen Karl Weierstraß, der ebenso wie er mehr als zehn Jahre sein Geld als Gymnasiallehrer verdient hatte. Dritter des Triumvirats wurde Leopold Kronecker, der Kummers Schüler am Gymnasium in Liegnitz (heute: Legnica, Polen) gewesen war. Kronecker hatte 1845 bei Encke und Dirichlet promoviert, sich kaufmännisch betätigt und sich 1855 als Privatgelehrter in Berlin niedergelassen; er entstammte einer reichen jüdischen Familie. Wenn auch das Verhältnis des berühmten Dreigestirns nicht konfliktfrei war193 und keineswegs von einer einheitlichen Berliner mathematischen Schule 188 Fortschritte der Physik 24 (1868), erschienen 1872, VII; vgl. auch Vita Kleins v. 5.12.1870, publiziert in TOBIES 1999a, 85 189 Vgl. hierzu PLUMP 2014, 106-107; 114, 302-303. 190 AMTLICHER BERICHT 1869, III. 191 Kummer und Dirichlet waren über ihre Ehefrauen miteinander verwandt (die Cousinen Ottilie und Rebecca Mendelssohn). 192 BIERMANN 1988, 79-152; KLEIN 1926 Vorlesungen I, 281. 193 Zur Entfremdung zwischen Weierstraß und Kronecker vgl. BIERMANN 1988, 137-39.

2.5 Erweiterung von Horizont und Freundeskreis in Berlin

53

gesprochen werden kann, so zogen sie doch zahlreiche Studierende in die preußische Hauptstadt. Zwischen 1860 und 1870 verdoppelte sich hier die Zahl der Mathematik-Studenten.194 Im Wintersemester 1869/70 schrieben sich 74 Studenten für das Fach an der Universität Berlin ein.195 Die Berliner Mathematiker gruppierten sich um das 1826 durch August Leopold Crelle gegründete Journal für die reine und angewandte Mathematik (CrelleJournal). Unter Crelle als weltoffenes Organ bekannt,196 gestaltete es der nachfolgende Herausgeber Carl Wilhelm Borchardt zu einem Sprachrohr der Berliner. Zur Redaktion gehörten 1869 Schellbach197, Kummer, Kronecker und Weierstraß. Borchardt hatte bei Jacobi promoviert und sich 1848 habilitiert, aber keine Professur erhalten. Bereits 1861 hatte er seine Lehrtätigkeit aufgegeben und wollte gerade vom Amt des Herausgebers zurücktreten, als „Clebschs“ Organ herauskam. Er blieb auf dem Posten,198 denn er lag mit Clebsch im Streit wegen der Edition von Jacobis Vorlesungen über Dynamik (Clebsch 1866). Dieses Zerwürfnis sei maßgebliche Ursache für die Gründung der Mathematischen Annalen gewesen.199 Borchardt schürte noch nach Clebschs Tod Differenzen, schrieb von der gegen mich gemünzte[n] Gründung der math. Annalen und von deren angeblichem Abweg in die Oberflächlichkeit, was er dem verstorbenen Clebsch anlastete, […] der sein Talent nicht für tiefere Forschung verwerthet sondern mehr zur Erreichung gelegentlicher und nahe liegender mitunter nur scheinbarer Erfolge benutzt hat. Unter seinen Schülern ist wohl Klein derjenige, der dieser Oberflächlichkeit am meisten Vorschub leistet.200

Borchardt war modernen Entwicklungen weniger zugetan und agierte selbst gegenüber dem Berliner Nachwuchs steif und penibel.201 Das Crelle-Journal büßte damit Weltoffenheit ein, sodass die Mathematischen Annalen es bald überflügeln konnten.202 Auch nach Borchardts Tod, als zunächst Kronecker und Weierstraß die Herausgabe des Crelle-Journals übernahmen, von Band 91 (1881) bis Band 103 (1888), litt die Zeitschrift unter Differenzen: so hinsichtlich der Begründung der Analysis, und auch in Bezug auf Georg Cantors Arbeiten zur Mengenlehre. So überließ Weierstraß bald Kronecker das Feld allein.203 194 195 196 197 198 199 200 201 202 203

BIERMANN 1988, 103. Ausgezählt nach AMTLICHES VERZEICHNIS 1869, 1-54. NEUENSCHWANDER 1984, 11; ECCARIUS 1976. Karl Heinrich Schellbachs Mathematisch-pädagogisches Seminar, angebunden am FriedrichWilhelms-Gymnasium in Berlin, besuchten Clebsch, Carl Neumann u.v.a. Vgl. BIERMANN 1988, 81. [Lindemann] Lebenserinnerungen, 48. – Vgl. auch Weierstraß’ Vorwort im Supplement-Band zu Jacobis Werken (Berlin: Reimer, 1884, 3-4). Borchardt an Lipschitz, 25.12.1875, vollständig abgedruckt in NEUENSCHWANDER 1984, 52. KOENIGSBERGER 1919, 54-55. Vgl. NEUENSCHWANDER 1984, 11; TOBIES/ROWE 1990, 37-46. Vgl. BIERMANN 1988, 137-39; Bölling in KÖNIG/SPRENKELS 2016, 95-100. – Ab Bd. 104 (1889) war Kronecker alleiniger Herausgeber. Weierstraß, Helmholtz, H. E. Schröter und L. Fuchs standen als Mitwirkende auf dem Titelblatt. – Otto Hölder nannte differierende Ansichten in den Principien der Mathematik: „Kronecker benützt nun dies um Weierstraß zu

54

2 Prägende Gruppen

Klein lieferte erst im Jahre 1905 einen Beitrag für das Crelle-Journal, als der damalige Herausgeber Kurt Hensel (nach Lazarus Fuchs im Amt) einen DirichletFestband vorbereitete. Für diesen Festband sollte Klein das Thema „Über die Auflösung der allgemeinen Gleichungen fünften und sechsten Grades“ wählen. Seine Ergebnisse dazu hatte er bereits für eine italienische Zeitschrift zusammengefasst; das Thema besaß maßgeblichen Bezug zu Kronecker.204 Kronecker bereicherte Zahlentheorie, Theorie der elliptischen Funktionen, Algebra mit Ergebnissen, und es gelang ihm, wie Klein hervorhob: „Beziehungen grundlegender Art […] vorahnend richtig zu erfassen“.205 Als „lesendes Akademie-Mitglied“ bot Kronecker seit 1861/62 Vorlesungen an. Klein hörte 1869/70 dessen Vorlesung über die Theorie der quadratischen Formen und arbeitete sich erstmals etwas in das Gebiet der Zahlentheorie ein. Weierstraß’ Art vorzutragen, behagte Klein dagegen nicht: Nach meinen Erinnerungen […] war Weierstraß’ Stellung die einer absoluten Autorität, deren Lehren die Zuhörer hinnahmen als unanfechtbare Norm, oft ohne sie im tieferen Sinn recht aufgefaßt zu haben. Ein Zweifel durfte nicht aufkommen, eine Kontrolle war schon deshalb schwer möglich, da Weierstraß außerordentlich wenig zitierte. Er hatte sich in seinen Vorlesungen als Ziel gesetzt, ein System wohlgeordneter Gedanken im Zusammenhang vorzutragen. So begann er mit einem methodischen Aufbau von unten herauf und, seinem Ideal der Lückenlosigkeit nachstrebend, richtete er den Gang so ein, daß er in der Folge nur auf sich selbst zurückgreifen brauchte.206

Es war zudem die „fremdartige Form“ der funktionentheoretischen Vorlesungen, die Klein und auch Lie abstießen.207 Klein war durch Plücker und Clebsch eine andere Art des Vortragsstils gewöhnt. Weierstraß verwies kaum auf andere Arbeiten und baute einen Vorlesungs-Zyklus auf: Einleitung in die Theorie der analytischen Funktionen, Theorie der elliptischen Funktionen (abwechselnd von der Differentialrechnung ausgehend bzw. vom funktionentheoretischen Standpunkt mit dem algebraischen Additionstheorem als Ausgangspunkt), Anwendungen der elliptischen Funktionen auf Probleme der Geometrie und Mechanik, Theorie der Abelschen Funktionen, Anwendung der Abelschen Funktionen zur Lösung ausgewählter geometrischer Probleme und daneben Variationsrechnung.208

204

205 206 207 208

verkleinern, jedenfalls weniger veranlasst durch sein vermeintes Recht im sachlichen Streit, sondern durch eine kleinliche Eifersucht. Diese wurde vor einigen Monaten besonders angefacht, indem bei Gelegenheit der schwedischen Preisaufgabe es sich herausstellte, daß das Ausland Weierstraß für den größten deutschen Mathematiker hält.“ Dies führte u.a. zu einer Desorganisation der Feierlichkeiten anlässlich Weierstraß’ 70. Geburtstag. (HILDEBRANDT/ STAUDE-HÖLDER 2014, 197; Brief Otto Hölders v. 5.11.1885). Klein, F.: “Sulla risoluzione delle equazioni di sesto grado (Auszug aus einem Brief an Castelnuova)”. Rendiconti della Reale Accademia dei Lincei, Classe di scienze fisiche, matematiche e naturali (9. April 1899) 8 (1899) 324; Klein, F. in Crelle-Journal 129 (1905) 151-74; Nachdruck Math. Ann. 61 (1905) 50-71; KLEIN 1922 GMA II, 260; 482. – Vgl. die Abschnitte 4.2.1; 5.5.2.1; 5.5.6. Zitat in KLEIN 1926 Vorlesungen I, 282; vgl. auch BIERMANN 1988, 85. KLEIN 1926 Vorlesungen I, 284. [Oslo] II (Klein am 1.11.1892), abgedruckt in ROWE 1992, 589. Vgl. BIERMANN 1988, 104.

2.5 Erweiterung von Horizont und Freundeskreis in Berlin

55

Da Weierstraß kaum publizierte, wegen seines Vollkommenheitsdrangs209 und wegen der Differenzen mit Kronecker, erfuhren die Interessierten seine neuen Resultate nur aus den Vorlesungen und deren Mitschriften. Klein schrieb während seines Berliner Semesters Weierstraß’ Vorlesung über elliptische Funktionen ab und ließ später wiederholt Vorlesungsnachschriften besorgen (vgl. 5.5.2.1) Ernst Eduard Kummers Forschungen bezogen sich auf Funktionentheorie (hypergeometrische Reihe), Zahlentheorie (ideale Zahlen) und Geometrie (Theorie der Strahlensysteme). Er befand sich in einer geometrischen Forschungsphase, als Klein nach Berlin kam. In diesem Gebiet hatte Kummer 1857 auch Clebschs Habilitation und 1862 Gordans Promotion ermöglicht.210 Kummer besaß ein unabhängiges Urteil und hatte ausdrücklich Friedrich Pryms Dissertation (1863) aufgrund des Anknüpfens an Riemanns geometrische Funktionentheorie gelobt211, die von Weierstraß kritisiert212 und von Clebsch, Klein, Hilbert u.a. benutzt und ausgebaut werden sollte. Bei Kummer promovierten bis zur Ernennung von Weierstraß zum Ordinarius (1864) die meisten Berliner Mathematiker, u.a. Paul du Bois-Reymond 1859 oder auch Hermann Amandus Schwarz 1863. Als Klein nach Berlin kam, las Kummer jedoch nicht mehr über eigene neue Ergebnisse. Er trug in seinen gut besuchten Vorlesungen nur noch über abgeschlossene Gebiete vor. Die Diskussion neuerer Resultate beschränkte Kummer auf das Mathematisch-wissenschaftliche213 Seminar, welches er im April 1861 mit Weierstraß gestartet hatte. Deshalb interessierte Klein vor allem die Teilnahme daran. Ein Reglement begrenzte die Zahl auf zwölf Personen mit nachzuweisender wissenschaftlicher Befähigung.214 Klein und Lie gehörten zu den Auserwählten.215 Klein erläuterte später: „Ich habe in Berlin keine großen Vorlesungen gehört; dafür beteiligte ich mich aber um so lebhafter bei Kummer und Weierstraß im mathematischen Seminar, in welchen die Mitglieder über selbstgewählte Themata vortrugen.“216 In der Vita, die Klein mit seinem Habilitationsgesuch einreichte, lesen wir, dass er am Semesterende „[…] in angenehmster Weise durch ein freundliches Schreiben des Herrn Professor Kummer überrascht wurde, in welchem ich eine der beiden Prämien zugewiesen erhielt.“217 Kummer und Weierstraß hatten geurteilt: 209 BIERMANN 1988, 110. 210 Clebschs Thema des Probevortrags lautete: Über die Krümmungscurven und Curven der Haupttangenten besonders der algebraischen Flächen (12.12.1857), eine eigentliche Habilitationsschrift existierte nicht; Gordan, P.: De linea geodaetica (Kummer, Encke), 1.3.1862, vgl. BIERMANN 1988, 351, 365. 211 Vgl. BIERMANN 1988, 94, 352. 212 Nach RUNGE (1926, 179) schätzte Weierstraß Riemann. KOENIGSBERGER (1919, 55) urteilte: „[…] von den Berliner Mathematikern war es nur Weierstraß, der sehr bald erkannte, daß die von ihm für hyperelliptische Funktionen entwickelten Resultate und die für allgemeine Abelsche Funktionen gewonnenen Sätze durch Riemanns Untersuchungen überholt würden.“ 213 Im Unterschied zu Schellbachs mathematisch-pädagogischem Seminar so beantragt; zum wissenschaftlichen Mathematischen Seminar vgl. BIERMANN 1988, 89, 96-100, 279-81. 214 § 5 des Seminar-Reglements v. 7.10.1864, ebd., 280. 215 Vgl. hierzu auch ROWE 1989, 227. 216 KLEIN 1923a Autobiographie, 15-16. 217 Klein, Vita v. 5.12.1870, publiziert in TOBIES 1999a, 85.

56

2 Prägende Gruppen Berlin, den 31. Januar 1870 Dr. phil. Felix Klein aus Düsseldorf hat an den Universitäten Bonn und Göttingen seine mathematischen Universitätsstudien schon soweit abgeschlossen, daß er ehrenvoll zum Doktor der Philosophie promoviert worden ist; auch hat er bereits einige gute mathematische Arbeiten veröffentlicht und auf Wunsch des verstorbenen Prof. Plücker in Bonn dessen letztes in noch nicht vollständigem Zustande hinterlassenes Werk bearbeitet und herausgegeben. Zum Wintersemester vorigen Jahres ist er nun nach Berlin gekommen und hat sich hier an der Universität immatrikulieren lassen, um als ordentliches Mitglied des Mathematischen Seminars eintreten zu können. Seitdem hat er an den Übungen des Seminars den lebhaftesten Anteil genommen und hat in demselben mehrere Vorträge gehalten, welche namentlich in formaler Beziehung als ganz ausgezeichnet zu beurteilen sind. Da er auch seine wissenschaftlichen Forschungen mit regem Eifer und unermüdlichem Fleiße, unterstützt durch gutes Talent, betreibt, so steht zu erwarten, daß er als Lehrer der Mathematik wissenschaftlich sich auszeichnen und eine sehr ersprießliche Wirksamkeit ausüben wird. gez.: Kummer gez.: Weierstraß218

Dieser Bericht ging an das Kultusministerium und konnte die Karriere fördern. Die zweite Prämie des Semesters erhielt der Wiener Privatdozent Otto Stolz. In weiteren Semestern wurden Ludwig Kiepert, Eugen Netto, Georg Frobenius u.a. auf diese Weise ausgezeichnet.219 Kleins viel diskutierter Seminarvortrag, in welchem er Cayleys Maßbestimmung mit nichteuklidischer Geometrie zusammendachte (vgl. 2.5.3), fiel übrigens nicht in den prämierten Zeitraum. 2.5.2 Begegnungen im Mathematischen Verein: Kiepert, Lie, Stolz Die Zahl der Mathematik-Studenten in Berlin ging über die Zahl zwölf hinaus, die pro Semester im Mathematischen Seminar von Kummer und Weierstraß aufgenommen wurden. Deshalb hatten Nichtaufgenommene bereits im November 1861 einen Mathematischen Verein zu Berlin gebildet, der offen für alle und Vorbild für derartige Vereine an anderen Orten war. Der Verein nahm Mitgliedsgebühren, hielt eine Bibliothek und wollte die mathematischen Kenntnisse der Mitglieder durch Vorträge, Diskussionen, Stellen und Lösen von Aufgaben vertiefen.220 Felix Klein begegnete hier Ludwig Kiepert, Sophus Lie, Otto Stolz, Heinrich Bruns, Eugen Netto, Hermann Schubert, Max Simon u.a.; von diesen promovierten alle, bis auf Lie und Stolz, bei Weierstraß und Kummer, in der Zeit von 1867 bis 1871.221 Für Klein sollten zunächst Kiepert, Lie und Stolz besonders wichtig werden. Heinrich Bruns traf Klein später als Kollegen (Astronom) in Leipzig wieder. Hermann Schubert ist der erwähnte forschende Gymnasiallehrer mit engem Bezug zur algebraisch-geometrischen Schule (vgl. Abschnitt 2.4.1). 218 219 220 221

Zitiert nach LOREY 1926, 150. Vgl. BIERMANN 1988, 107-10. BIERMANN 1988, 100; [UAB] Nr. 559, Akten dieses Vereins, Mai 1862–November 1935. [UBG] Cod. Ms. Klein 22L: 4, Notizen für Lorey. – Biermann 1988, 353.

2.5 Erweiterung von Horizont und Freundeskreis in Berlin

57

Klein hatte Weierstraß gefragt, mit welchem der jüngeren Mathematiker er besonderen Kontakt empfehlen würde. Der Empfohlene war Ludwig Kiepert, der von Oktober 1865 bis Ostern 1871 bei Weierstraß gehört und ihm vier bis fünf Semester lang als „Tafelanschreiber“ gedient hatte. Weierstraß schrieb seit einem Kollaps im Dezember 1861 nicht mehr selbst an die Tafel. Kiepert überlieferte, dass in der Vorlesung Abelsche Funktionen (Sommer 1869) von anfangs 107 Hörern am Ende nur sieben übrig geblieben waren. „Meister in der Forschung“, aber „große Schwierigkeiten als Lehrer“, bescheinigte er seinem Doktorvater,222 der ihm ein Thema aus der Theorie elliptischer Funktionen gestellt hatte, an dem er zuvor selbst gescheitert war.223 Da Kiepert noch im vierten Jahr das Eindringen in den Weierstraß-Vorlesungsstoff schwer gefallen war, verwundert es nicht, dass Klein während seines Berliner Semesters nicht die Zeit dort absaß. Kiepert, bald ein Duzfreund Kleins, gab kund: „Am meisten bin ich aber Weierstraß zu Dank verpflichtet, daß er mir die Freundschaft von Felix Klein verschafft hat.“224 Klein und Kiepert brachten sich die Inhalte der Vorlesungen ihrer Lehrer Plücker bzw. Weierstraß gegenseitig nahe. Sie reisten gemeinsam, besuchten sich auch später und erzielten mehrfach gleiche Resultate auf differierenden Wegen, in den Gebieten: Transformation der elliptischen Funktionen, Auflösung der Gleichungen fünften Grades, komplexe Multiplikation der elliptischen Funktionen.225 Klein hob hervor, dass von Weierstraß’ direkten Schülern Kiepert am meisten auf dem Gebiet der elliptischen Funktionen weiterarbeitete.226 Im Jahre 1884 entschied Kiepert, aufgrund von Differenzen mit Kronecker, seine Arbeiten nicht mehr im Crelle-Journal, sondern durch Klein in den Mathematischen Annalen (bzw. Göttinger Nachrichten) publizieren zu lassen. Klein benutzte Kieperts Ergebnisse in seinen Vorlesungen zur Theorie elliptischer Funktionen, z.B. bei der Darstellung der Transformationstheorie („Die Kiepert’sche Determinante“; „Die Jacobi’sche Summationsformel nach Kiepert“227). Kiepert erreichte eine o. Professur an der TH Hannover, engagierte sich nebenher für die Hannoversche Lebensversicherungs-Anstalt und sollte später beitragen, dass Klein in Göttingen das erste versicherungswissenschaftliche Seminar an einer deutschen Universität erfolgreich etablieren konnte (vgl. Abschnitt 7.7). Klein und Kiepert wollten die historisch gewachsenen Aversionen zwischen Berliner Mathematikern und Kleins Lehrern bewusst überwinden helfen. So schrieb Kiepert später an Klein: „Bei der persönlichen Feindschaft, wie sie zwischen Steiner und Plücker bestand, oder bei dem Achselzucken von Kronecker über Clebsch usw. kommt nichts heraus. Um so mehr freut es mich, dass Du mir, 222 KIEPERT 1926, 59. – KOENIGSBERGER 1919, 23, gab ebenfalls an, dass sich bei Weierstraß die Zahl „allmählich auf 4 bis 5 Hörer reduzierte“. – Jürgen Elstrodt in KÖNIG/SPREKELS 2016, 43, muss deshalb korrigiert werden. 223 Weierstraß’ Gutachten zu Kieperts Dissertation v. 11.7.1870, in BIERMANN 1988, 117-18. 224 KIEPERT 1926, 62. 225 Ebd., 62-64. Vgl. auch [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 49-120 (Briefe Kieperts an Klein). 226 KLEIN 1926 Vorlesungen I, 293. 227 Klein F.: Theorie der elliptischen Funktionen, II. Teil, SS 1884, ausgearbeitet von Biedermann, Bibliothek des Mathematischen Instituts der Universität Leipzig, 411, 412.

58

2 Prägende Gruppen

obgleich wir aus ganz verschiedenen Schulen hervorgegangen sind, Deine Freundschaft treulich bewahrt hast.“228 Ein anderer Satz von Kiepert, „[…] keiner von meinen Bekannten und Freunden beantwortet meine Briefe so prompt und sachgemäß wie Du“,229 deutet auf eine generelle Haltung Kleins, die Achtung vor Erkenntnissen anderer einschloss. So lesen wir auch später bei Klein über Weierstraß’ Einfluss hinsichtlich des Themas elliptische Funktionen: […] aber Weierstraß hat tatsächlich auf uns alle stark gewirkt, die wir, auf anderem Boden gewachsen, zu den elliptischen und verwandten Funktionen kamen. […] Ich habe in meinen Arbeiten über hyperelliptische und Abelsche Funktionen […] (1886-89) die Idee der σ sinngemäß auf die höheren Fälle übertragen und insbesondere den Weierstraßschen Gedanken über die Zerlegung der algebraischen Funktionen einer Riemannschen Fläche in Primfaktoren und Einheiten die meines Erachtens endgültige Ausprägung gegeben.230

Weierstraß und einige seiner Schüler sollten dagegen durchaus subjektiv gefärbte, herablassende Urteile über Klein äußern, um zu verhindern, dass dieser einen Ruf an „ihre“ Universität erhalten könne (vgl. Abschnitt 6.5.1.1). Mit Sophus Lie231 aus Christiania (seit 1924: Oslo) traf Klein in Berlin seinen mathematisch wichtigsten Partner, der im selben Semester nach Berlin gekommen war.232 Inspiriert durch einen Vortrag, den Hieronymus Zeuthen beim skandinavischen Naturforschertreffen 1868 gehalten hatte233, war Lie in Arbeiten von Poncelet, Chasles, Plücker u.a. eingedrungen, hatte eine erste Arbeit publiziert und diese auch an Clebsch geschickt. Klein erklärte seiner Mutter: Unter den jüngeren Mathematikern habe ich eine Bekanntschaft gemacht, die mir sehr zusagt. Es ist ein Norweger Lie, dessen Namen ich nach einem in Christiania von ihm veröffentlichten Aufsatze schon kannte. Wir haben uns mit ähnlichen Gegenständen speziell beschäftigt, so daß es uns an Material zur Unterhaltung nicht fehlt. Uns vereinigt nicht nur diese gemeinsame Liebe, sondern auch eine gewisse gemeinsame Opposition gegen die Art und Weise, in welcher sich hier die Mathematik breit macht, gegenüber den mathematischen Leistungen anderer, besonders der Ausländer.234

Unter den 74 Mathematik-Studenten 1869/70 in Berlin waren nur wenige aus dem Ausland: Drei aus der Schweiz, je einer aus Polen und Italien, der Norweger Lie, der Österreicher Stolz. Klein hatte herablassende Bemerkungen über ausländische Wissenschaft bei Kultusbehörden und auch bei Professoren gehört, u.a. als er dem Meteorologen Heinrich Wilhelm Dove einen Antrittsbesuch abstattete.235 Da Weierstraß wenig zitierte, konnte er derartige Haltungen bei seinen Schülern begünstigen, wie über H. A. Schwarz bekannt werden sollte (vgl. 5.5.2.4).

228 229 230 231 232 233 234 235

[UGB] Cod. Ms. F. Klein 10: Kiepert an Klein, Brief v. 15.10.1881. Ebd. 108 Kiepert an Klein, Brief v. 25.5.1884. KLEIN 1926 Vorlesungen I, 293. – Vgl. auch Abschnitt 4.2.2 in diesem Buch. Zur jüngsten Biographie vgl. STUBHAUG 2003; auch ENGEL 1899, NOETHER 1900. AMTLICHES VERZEICHNIS 1869, 24, 28, 66. Vgl. STUBHAUG 2003, 105. – Zu den Arbeiten von Klein und Lie vgl. auch ROWE 1989. Brief Kleins v. 31.10.1869, abgedruckt in LIE 1934 GMA I, Anmerkungsband, 636. Ebd.

2.5 Erweiterung von Horizont und Freundeskreis in Berlin

59

Lie hatte seine erste, oben erwähnte Arbeit ins Deutsche übersetzen lassen, beim Crelle-Journal im Februar 1869 eingereicht und außerdem in Christiania publiziert.236 Klein war begeistert über die gleichen Ausgangspunkte und begann, Lies aktuelle Arbeit zu redigieren: „Über die Reciprocitäts-Verhältnisse des Reye’ schen Complexes“, die Clebsch in die Göttinger Nachrichten aufnahm. Das Thema besaß Bezüge zu Max Noethers Abbildung des linearen Komplexes auf den Punktraum und zu Theodor Reyes Erzeugen der Gesamtheit der Geraden, welche die Seitenflächen eines Tetraeders nach einem konstantem Doppelverhältnis schneiden (=Reye-Komplex). Am Ende dieser Arbeit von Lie steht: „Die letzten beiden Sätze verdanke ich Herrn Dr. Klein, mit dem zusammen ich gelegentlich eine ausführlichere Untersuchung der hieher gehörigen Congruenzen zu geben hoffe.“ Diese Arbeit enthielt wichtige Ideen im Keim: die Idee der Berührungstransformation (mit der gerade Linien in Kugeln umgewandelt werden konnten; d.h. die Plückersche Liniengeometrie zu einer Kugelgeometrie) und dass der Komplex eine partielle Differentialgleichung erster Ordnung definiert.237 Lie fiel das Aufschreiben schwer und Klein übernahm dies gern für ihn. Klein half, den Stoff zu systematisieren und bereicherte die Ansätze mit Analogieschlüssen. Er stärkte Lies Selbstvertrauen und trug die Arbeit zum Reye-Komplex im Berliner Mathematischen Seminar vor, da sich Lie noch unsicher im mündlichen Ausdruck fühlte.238 Lie schrieb nach Hause: „Ich betrachte es als außerordentliches Glück, dass Klein, der ein hervorragender (wenn auch junger) Schüler von Plücker und Clebsch ist, sich in diesem Semester in Berlin aufgehalten hat. Wir reisen gemeinsam nach Paris, und wenn ich das betreffende Stipendium bekomme, auch nach Mailand und Cambridge.“239 Klein urteilte später: Lie war ganz productiver Forscher, er arbeitete aus sich heraus und nahm nur auf, was unmittelbar für ihn von Interesse war. Ich selbst hatte mir schon in Berlin das Ideal gebildet, dem ich seitdem treu geblieben bin, dass ich in der Wissenschaft etwas leisten wollte, indem ich verschiedene Standpuncte erfasste und verglich. Insbesondere verfolgte ich damals, wie noch längere Zeit später, auch physikalische Interessen. Ich war überhaupt nicht so ausschliesslich mathematisch wie Lie.240

Klein förderte und nahm sich selbst eher zurück. Sophus Lies Karriere sollte er in ganz außergewöhnlicher Weise unterstützen (vgl. 5.8.3). Lie drückte früh aus, dass Klein ein ebenso eminenter Forscher wie Lehrer sei und die besondere Fähigbeit besitze, sich auf die Gedanken anderer einzustellen.241 Der erwähnte Wiener Privatdozent Otto Stolz, gleichaltrig mit Lie, war zum Wintersemester 1869/70 mit einem staatlichen Reisestipendium nach Berlin gekommen. Felix Klein erfuhr durch Stolz von der Existenz nichteuklidischer Geo236 LIE 1934 GMA I, 1-11; Lie, S.: „Ueber eine Darstellung des Imaginären in der Geometrie“. Crelle-Journal 71 (1869) 346-53; vgl. dazu NOETHER 1900, 3; STUBHAUG 2003, 13. 237 Publiziert in Göttinger Nachrichten 1870, No. 4 (16. Februar), 53-66; LIE GMA 7, 50, zum Bezug zu Max Noether vgl. NOETHER 1901, 5. 238 STUBHAUG 2003, 128, 137. 239 Zitiert nach STUBHAUG 2003, 140-41. 240 [Oslo] II (Klein, am 1.11.1892), publiziert in ROWE 1992a, 588-604, Zitat 590. 241 Lie an Holst, 1874, zitiert nach STUBHAUG 2003, 244-45.

60

2 Prägende Gruppen

metrien und gewann durch ihn den Zugang zur projektiven Geometrie Karl Georg Christian von Staudts. Klein gab an: „Stolz war alle die Zeit nicht nur mein strenger Kritiker, sondern auch mein literarischer Anhalt. Er hatte Lobatscheffsky, Joh. Bolyai und v. Staudt genau studiert, wozu ich mich nie habe zwingen können, und stand mir bei allen meinen Fragen Rede und Antwort.“242 Hier sei kurz ausgeführt, dass von Staudt die projektive Geometrie von methodischen Mängeln befreit hatte.243 Poncelets projektive Geometrie war aus der dreidimensionalen (euklidischen) Geometrie entstanden, indem die Ebene bzw. der Raum um sog. „unendlichferne Punkte“ ergänzt und die Aussage „parallel“ durch „sich im Unendlichen schneidend“ ersetzt worden waren. Das führte zu Aussagen wie: „Zwei verschiedene Geraden in einer Ebene schneiden sich in genau einem Punkt“. Die projektive Geometrie zielte auf das Zusammenfassen der geometrischen Resultate, die sich nur mit den Begriffen „Verbinden“ und „Schneiden“ formulieren lassen. Dabei waren zunächst metrische Begriffe wie Strecke und Winkel (insbes. zur Definition des Doppelverhältnisses) benutzt worden, die allmählich als Fremdkörper in der projektiven Geometrie erschienen. Von Staudt hatte im Unterschied zu seinen Vorgängern mit seiner Geometrie der Lage (1847; 1856) einen metrikfreien Aufbau angestrebt, der sich nur auf Annahmen über die Lage und Anordnung von Punkten, Geraden usw. stützte. Die Grundideen schnell erfassend, erkannte Klein das mögliche Verknüpfen von Cayleys projektiver Maßbestimmung mit nichteuklidischer Geometrie (vgl. 2.5.3). Er arbeitete das Thema 1871 im Austausch mit Otto Stolz näher aus (Abschnitt 2.8.2). Stolz blieb ein langjähriger Partner Kleins, wenn auch kein Duzfreund. Er referierte Arbeiten von Klein und publizierte 15 Beiträge in den Mathematischen Annalen. Stolz’ Tätigkeit als Gutachter für diese Zeitschrift wurde durch die Zuwendung eines regelmäßigen Freiexemplars anerkannt.244 2.5.3 Cayleys Maßbestimmung und Kleins nichteuklidische Auslegung Dieses Thema sollte das erste sein, bei dem Klein einen Zusammenhang intuitiv erfasste, an den andere bisher nicht gedacht hatten. Er hatte sich ausgehend von Plückers Liniengeometrie mit der projektiven Metrik befasst und wusste von den Arbeiten des britischen Mathematikers Arthur Cayley, durch dessen projektive Maßbestimmung (1859) „das eigentliche Messen selbst dem allgemeinen projektiven Begriffe des Doppelverhältnisses eingefügt worden“ war.245 Im Sommer 1869 hatte Klein Cayleys Theorie in Wilhelm Fiedlers Bearbeitung der Salmonschen Conics gelesen und in Berlin mit Sophus Lie Arbeiten von Cayley auszugsweise studiert. Am 10. März 1870 schrieb Klein an Lie: „Als eine 242 KLEIN 1923 GMA I, 51-52.; KLEIN 1926 Vorlesungen I, 133, 151-52; BINDER 1989. 243 Vgl. Noether, M.: „Zur Erinnerung an Karl Christian von Staudt“. Jahresbericht DMV 32 (1923) 97-118, bes. 105, 112-14. 244 Ab Band 17, H.1, vgl. [Innsbruck] Klein an Stolz, Brief v. 28.4.1880. 245 Vgl. Noether, M.: “Arthur Cayley”. Math. Ann. 46 (1895) 462-80, Zitat 468.

2.5 Erweiterung von Horizont und Freundeskreis in Berlin

61

Neuigkeit habe ich Dir zu erzählen, daß Cayley mir seine beiden Arbeiten on cubic Surfaces und on reciprocal Surfaces, die wir damals zusammen im Auszuge in den Proceedings studirten, zugesandt hat.“246 Cayley hatte nachgewiesen, dass sich die gewöhnliche (Euklidische) Maßgeometrie als ein Teil der projektiven Geometrie auffassen lässt.247 Weierstraß, der häufig die Lehre über das Semesterende hinaus verlängerte,248 bat Klein noch im März um einen Vortrag darüber: Leider werde ich nicht so früh von hier weg kommen, wie ich wollte, nämlich erst am Donnerstag den 17ten. Freitag Abend traf ich nämlich Weierstrass in einer Gesellschaft und derselbe verpflichtete mich dazu, noch am 16ten im Seminar den versprochenen Vortrag über Cayley’s Verallgemeinerung des Entfernungs-Begriffs zu halten.249

Cayley hatte in seiner Arbeit von 1859 erstmals die allgemeinen Ausdrücke der Entfernung und des Winkels als Invarianten in Bezug auf den Kugelkreis betrachtet. Er schrieb diese Invarianten bezüglich irgendeines Kegelschnitts auf (bezeichnet als absoluten Kegelschnitt) und entwickelte damit die nach ihm benannte allgemeine projektive Maßbestimmung. Klein erkannte den Bezug zur nichteuklidischen Geometrie, nachdem ihm Stolz von Lobatschewskis Arbeiten berichtet hatte. Im damaligen Brief an Lie über den gehaltenen Vortrag ist nichts vom später oft benannten Frust über Weierstraß’ Haltung erkennbar: An dem vorhergehenden Mittwoch Abend [16.3.1870, R.To] habe ich bei Weierstraß den bewussten Vortrag über Cayley gehalten. Weierstraß hat sich am folgenden Tage bei meinem Abschiedsbesuche lange mit mir unterhalten. Kummer war viel kürzer; er hat mir übrigens für Dich ein Exemplar seiner Strahlensysteme mitgegeben.250

Vielmehr schien das Gespräch mit Weierstraß Klein unmittelbar veranlasst zu haben, genauer über die Definition der Entfernung zweier Punkte nachzudenken: Mein Vortrag über Cayley ist Veranlassung für mich gewesen, die folgende Definition von Entfernung aufzustellen, die der Sache nach mit der Cayley’schen übereinstimmt, aber den Vorzug hat, die bez. Function ganz […] und dabei übersichtlich zu geben. Ich ersetze nämlich den arc. cos. durch das betreffende Integral. […]251

Kleins erste intuitive Idee hatte Weierstraß wohl kaum überzeugen können. Später deutete dies Klein als eine unterschiedliche Art, neue Resultate zu gewinnen: […] hielt ich einen Vortrag im Weierstraßschen Seminar über Cayleys Maßbestimmung, den ich mit der Frage schloß, ob hier nicht eine Übereinstimmung mit Lobatscheffsky vorläge. Ich erhielt jedoch als Antwort, das seien wohl doch ganz getrennte Gedankenkreise; für die Grundlagen der Geometrie komme wohl vor allen Dingen die Eigenschaft der Geraden in Betracht, die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten zu sein. 246 [Oslo] Klein an Lie, Brief v. 10.3.1870. 247 Cayley, A.: “A Sixth Memoir upon Quantics”. Phil. Trans. Royal Soc. London 149 (1859) 6190. 248 Vgl. dazu HILDEBRANDT/STAUDE-HÖLDER 2014, 8. 249 [Oslo] Klein aus Berlin an Lie, Brief v. 8.3.1870. 250 [Oslo] Klein an Lie, 29.3.1870. – Kummer, E. „Über Strahlensysteme, deren Brennflächen Flächen vierten Grades mit sechzehn singulären Punkten sind“. Collected Papers, Vol. 2: (Ed. A. Weil). Berlin: Springer 1975, 418-32. 251 [Oslo] Klein an Lie, Brief v. 29.3.1870.

62

2 Prägende Gruppen Durch diese ablehnende Haltung ließ ich mir imponieren und schob die schon gefasste Idee beiseite. Der Kritik der Logiker gegenüber, die meinem Interesse ferner lag, war ich immer schüchtern. Erst sehr viel später lernte ich verstehen, daß es sich um eine Verschiedenheit der Anlagen handle und dass die Psychologie der mathematischen Forschung ihre großen Probleme berge. Weierstraß war offenbar mehr eine Natur der sorgfältigen schrittweisen Forschung, die den Weg zum Gipfel bahnt; es lag ihm weniger, noch nicht erreichte Spitzen des Gebirges aus der Entfernung in ihren Umrissen deutlich zu erkennen, zum mindesten machte er an dieser Stelle von einem solchen Fernblick keinen Gebrauch.252

Klein erklärte in seinen historischen Vorlesungen, wie er mit projektiven Methoden die euklidische und die nichteuklidischen Geometrien ordnete: Eine gegebene Aufgabe war es von vornherein, die Cayleysche Maßbestimmung für alle Fälle im einzelnen zu studieren, die man hinsichtlich der Gebilde zweiten Grades vom projektiven Standpunkte aus zu unterscheiden hat. Wenn man bei Gebilden mit reellen Gleichungen bleibt, so sind dies: a) Eigentliche Flächen zweiten Grades: 1. reell geradlinig (einschaliges Hyperboloid, hyperbolisches Paraboloid), 2. reell nicht geradlinig (Ellipsoid, elliptisches Paraboloid, zweischaliges Hyperboloid), 3. imaginär b) Eigentliche Kurven zweiten Grades: 1. reell (Ellipse, Parabel, Hyperbel), 2. imaginär c) Punktepaare: 1. reell, 2. imaginär d) Doppelpunkt.253

Klein erläuterte weiter: b) 2. gibt die gewöhnliche Metrik, indem man den zugrunde liegenden Kegelschnitt – bei Cayley „the absolute“ benannt – als Kugelkreis bezeichnet. Die Fälle a) 2. und 3. führen aber gerade zu den beiden Arten nichteuklidischer Geometrien, welche Gauß, Lobatschewski, Bolyai und Riemann unterschieden haben und die aus der gewöhnlichen Geometrie gewonnen werden, je nachdem man die Winkelsumme des Dreiecks kleiner oder größer als π nimmt. Also auch diese Systeme sind jetzt in die projektive Geometrie eingeordnet und verlieren alles Paradoxe. Es ist der einfachste Weg, um zu ihren Eigentümlichkeiten und der Überzeugung von ihrer Widerspruchslosigkeit zu kommen.254

Dass die Nichtgültigkeit des euklidischen „Parallelenpostulats“ zu anderen Geometrien (nicht-euklidischen) führt, war durch Gauß, Lobatschewski, Bolyai bzw. Riemann gezeigt worden, aber die Widerspruchslosigkeit dieser Geometrien noch nicht geklärt. Kleins Arbeit war bedeutsam, weil er die Ergebnisse Cayleys über die projektive Maßbestimmung als Modell255 für die nichteuklidischen Geometrien nachwies und damit deren Widerspruchslosigkeit auf die Widerspruchslosigkeit der projektiven Geometrie zurückführte.256 Es sollte jedoch weitere Zeit und Kraft kosten, um die Skeptiker zu überzeugen (vgl. 2.8.2; 2.8.3.3). 252 253 254 255 256

KLEIN 1926 Vorlesungen I, 152. Ebd., 149. Ebd., 150. Der Modell-Begriff ist modern und wurde damals nicht verwendet. Vgl. REICHARDT 1985, 239-40; SCHREIBER/SCRIBA 2000, 394-406; Struve/Struve 2004.

2.6. In Paris mit Sophus Lie

63

2.6. IN PARIS MIT SOPHUS LIE Mein Plan, von dem Ministerium einen ausdrücklichen Auftrag zu erhalten, ist mißlungen. Ich habe mich darauf beschränken müssen einfach eine Eingabe einzureichen, in welcher ich um diplomatische Empfehlungen nach Paris und London bitte. Solche Empfehlungen sollen vortheilhaft sein, z.B. um Zutritt zu der Ecole polytechnique zu finden oder um die größeren Sammlungen einzusehen.257

Kleins Vater hatte empfohlen, einen offiziellen Auftrag vom preußischen Kultusministerium für die Reisen zu erbitten, worauf zunächst die Antwort kam: „Wir bedürfen keiner französischen oder englischen Mathematik“.258 Eine zweite Eingabe war jedoch erfolgreich. Felix Klein erhielt diplomatische Empfehlungen und wurde aufgefordert, später darüber zu berichten (vgl. Anhang Nr. 1 zum Buch). Klein weilte von Dienstag, dem 19. April 1870, bis zum Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges Mitte Juli 1870 in Paris, Zimmer an Zimmer mit Sophus Lie wohnend, der ca. einen Monat früher dort angekommen war. Sie wohnten in einer „Studentenbude“ im l’hôtel Molinié (Rue de l’École de Médicine 32)259, nicht weit entfernt von der Sorbonne in einem der ältesten Pariser Stadtviertel. Mit der französischen Sprache vertraut, gelang Klein der Zugang zu den Pariser Institutionen problemlos, während Sophus Lie erst gemeinsam mit ihm Kontakte zu französischen Mathematikern gewinnen konnte.260 Ostersonntag, am 17. April, hatte Felix Klein noch bei den Eltern in Düsseldorf zugebracht und war über Aachen gereist. Hier hatte er nicht nur Verwandte, sondern auch den Mathematiker Theodor Reye besucht. Reye bekleidete seit 1870 die Professur für Geometrie und Graphische Statik an der neu gegründeten preußischen Königlich Rheinisch-Westphälischen Polytechnischen Schule. Klein und Lie waren bei ihren gemeinsamen Forschungen auf Reyes Arbeiten gestoßen (vgl. 2.5.2). Reye hatte noch bei Riemann in Göttingen gehört und war in Zürich durch Karl Culmann – bekannt durch seine graphische Statik – auf von Staudts Geometrie der Lage gewiesen worden. Reyes darauf basierende verständlichere Geometrie der Lage (1866, 1868) erlebte mehrere Auflagen und Übersetzungen. 1870 bildete das in Reyes Band 2 (1868) enthaltene Thema Komplexe den wichtigen Bezugspunkt für Klein und Lie.261 Von Aachen aus war Klein mit dem Nacht-Schnellzug nach Paris gefahren, wo ihn Lie am Gare du Nord am Morgen des 19. April 1870 empfing.262 Ihre Zeit verbrachten sie nicht nur mit mathematischer Arbeit. Sie genossen auch etwas das 257 [Oslo] Klein an Lie, Brief v. 8.3.1870. 258 Vgl. KLEIN 1923a Autobiographie, 16. 259 KLEIN 1921 GMA I, 51; STUBHAUG 2003, 142, dort steht Seite 13 falsch, dass Klein erst „ein paar Monate“ nach Lie in Paris angekommen sei, dagegen dort Seite 141. 260 Vgl. STUBHAUG 2003, 144. 261 Reye ersetzte später, anknüpfend an Klein und Darboux, v. Staudts fehlerhaften Beweis des Fundamentalsatzes der Geometrie der Lage durch einen einwandfreien, vgl. Reye, Th: Die Geometrie der Lage. Vorwort zur 3. Aufl. der Ersten Abt., XII. Reye bezog sich auf die Arbeiten von Klein und Darboux in Math. Ann. 17 (1880) 52-61. 262 [Oslo] Klein an Lie, Brief aus Düsseldorf v. 13.5.1870.

64

2 Prägende Gruppen

Pariser Leben. Dies dokumentiert ein Erinnerungsbrief von Lie an Klein, als sie versuchten, einen Termin für eine erneute gemeinsame Paris-Reise zu finden: Denkst nicht auch Du auf eine Pariserreise [sic!]. Es würde merkwürdig sein, wenn wir uns nochmals in Paris treffen. Wir würden nochmals nach Sceaux gehen und unter den Bäumen Kaffee trinken, nochmals die Hippopotamus in dem zoologischen Garten bewundern, nochmals vielleicht uns in Closerie de Lille einen Abend treffen. Denk daran!263

2.6.1 Felix Klein und französische Mathematiker Für Kleins wachsendes Beziehungsgeflecht zu französischen Mathematikern bildete Gaston Darboux einen maßgeblichen Schlüssel.264 Auch der elf Jahre ältere Camille Jordan nahm die von Clebsch Kommenden gut auf.265 Den 77-jährigen Michel Chasles konnten sie jeden Montag im Institut treffen, wo sie ebenfalls dem 61-jährigen Joseph Liouville begegneten266, der als einer der Ersten die gruppentheoretischen Arbeiten von Évariste Galois voll erfasst und in dem von ihm gegründeten Journal de Mathématiques Pures et Appliquées publiziert hatte. In Paris empfingen Klein und Lie zahlreiche Impulse für ihre geometrischen Arbeiten, was sie in Berlin weitgehend vermisst hatten.267 Chasles, Doktorvater von Darboux, hatte seit seinem Ruf auf den Lehrstuhl für höhere Geometrie an der Sorbonne 1846 eine Schule bildende Wirksamkeit im Bereich der projektiven und metrischen Geometrie entfaltet. Chasles sollte die Arbeiten von Klein und Lie im Juni 1870 zur Publikation bringen (Abschnitt 2.6.2). Zwei Jahre später avancierte er noch zum ersten Präsidenten der Société Mathématique de France.268 Gaston Darboux hatte gerade 1870 mit Jules Houël und Jules Tannery das Bulletin des Sciences Mathématiques et Astronomiques übernommen. Sie richteten es stärker international aus.269 Bereits bevor Klein nach Paris kam, überraschte ihn Darboux mit einem Brief und bat ihn um Mitarbeit. Daraufhin hatte Klein am 25. März 1870 geantwortet: „Die erste Nummer Ihres werthen Journales habe ich vorige Woche bei Clebsch in Göttingen eingesehen, und ich freue mich an einem derartig zeitgemaessen Unternehmen mitarbeiten zu duerfen.“270 Klein beteiligte sich an der ersten Serie dieser Herausgeber des französischen ReferateJournals, von Band 1 (1870) bis Band 11 (1876). Er wurde auf dem Titelblatt des Bulletins unter „Avec la Collaboration de“ (vgl. Abb. 9) genannt. Als er selbst die Herausgabe der Mathematischen Annalen übernahm, zog er sich davon zurück. 263 Nach STUBHAUG 2003, 297. – Sceaux: Stadt, 10 km südwestlich von Paris; Hippopotamus: Flusspferde; La Closerie des Lilas: seit 1847 existierendes Café, Paris Montparnasse. 264 Vgl. TOBIES 2016, RICHTER 2015. 265 Jordan hatte Clebsch 1869 in Göttingen besucht, vgl. HARTWICH 2005, 14. – Lie war 1870 bei Clebsch und fühlte sich damals dessen Schule zugehörig, vgl. STUBHAUG 2003, 141. 266 Vgl. hierzu STUBHAUG 2003, 146. 267 Vgl. KLEIN 1926 Vorlesungen I, 140-46; ROWE 1989. 268 Vgl. GISPERT 1991. 269 Vgl. GISPERT 1987, NEUENSCHWANDER 1984; CROIZAT 2016. 270 [Paris] Klein an Darboux, Brief v. 25.3.1870.

2.6. In Paris mit Sophus Lie

Abb. 9: Titelblatt des Bulletin des Sciences Mathématiques et Astronomiques

65

66

2 Prägende Gruppen

Klein und Lie schätzten das Bulletin und berichteten: Auf das Bulletin des Sciences Mathématiques et Astronomiques erlaube man uns etwas ausführlicher einzugehen. Wir glauben, daß ein solches Journal ein sehr nützliches, aber auch ein sehr schwieriges Unternehmen ist, das seinen Zweck nur dann in vollem Maße erreichen kann, wenn es eine große Zahl in den Disciplinen, über die sie Bericht erstatten, durchaus heimischer Mitarbeiter hat. In dieser glücklichen Lage findet sich das Bulletin noch nicht. Und es ist in der That auch nicht schwer, in den seither erschienenen Heften eine Reihe unvollkommener Beurtheilungen nachzuweisen. Aber die Persönlichkeit des Redacteur’s, G. Darboux, eines, wie wir glauben, außerordentlich und gerade auch zu diesem Zwecke begabten Mannes, scheint uns dafür zu bürgen, daß das Bulletin sich immer mehr mit der Zeit vervollkommnen wird. Seine eigenen Referate sind auch meist durch Sachkenntniß und klare Darstellung ausgezeichnet.

Sie freuten sich zudem über „eine hauptsächliche Tendenz des Bulletin’s […], die in Frankreich seither wenig bekannten modernen Zweige der Geometrie und Algebra mehr einheimisch zu machen“.271 Darboux nahm Ergebnisse von Klein und Lie in sein Bulletin auf. Er führte sie zudem in französiche Arbeiten ein, in deren Zentrum die Idee des imaginären Kugelkreises und dessen Anwenden auf metrische Verhältnisse (das Auffinden von Krümmungskurven auf gegebenen Flächen) standen.272 Sie erfuhren von der Tendenz, „[…] mit der projectiven Betrachtung der Metrik das Studium jener Differentialgleichungen der Flächentheorie zu verbinden, welche von Monge her ein Lieblingsgegenstand der französischen Analytiker geblieben sind.“273 Klein und Lie fanden daran anknüpfend neue Forschungsansätze, die Klein als Übertragungsprinzipien bezeichnete. Sophus Lie wurde zu Analogien zwischen Linien- und Kugelgeometrie, Felix Klein zu solchen zwischen Linien- und metrischer Geometrie geführt. So berichtete Klein an Darboux noch später, dass er „Analogien zwischen Liniengeometrie und metrischer Geometrie bei 4 Variablen“ weiter verfolge.274 Ein maßgeblicher Ausgangspunkt für Kleins Analogieschlüsse waren Darboux’ Arbeiten über konfokale Zykliden („allgemeine Flächen vierter Ordnung, welche den Kugelkreis doppelt enthalten“).275 Die Analogieschlüsse führten auch zur Erkenntnis von Bezügen zwischen Haupttangentenkurven und Krümmungskurven (vgl. 2.6.2.2). Die Ansätze flossen in Kleins Erlanger Programm (Oktober 1872), das mit dem Hinweis auf das Verhältnis von projektivischer Methode, metrischen Eigenschaften (Lage, Größe, Orthogonalität, Parallelität, Teilverhältnis, Doppelverhältnis, Inzidenz) und unendlich fernem Kugelkreis startet und auf die Idee der Übertragungsprinzipien verweist.276 1870 war gerade Jordans Traité des substitutions et des équations algébriques (Gauthier-Villars: Paris 1870) erschienen. In welchem Maße dieses Werk Klein 271 272 273 274 275 276

[Oslo] Klein und Lie, am 7.7.1870, publiziert in TOBIES 2015. Vgl. hierzu auch KLEIN 1926 Vorlesungen I, 146. [Oslo] II (Aufzeichnungen Kleins, 1.11.1892), in ROWE 1992, 592. [Paris] Klein an Darboux, Brief v. 5.9.1871. – KLEIN 1921, GMA I, 106-26. Klein, 1.11.1892, in ROWE 1992, 591; KLEIN 1921 GMA I, 51. Vgl. § 4. Übertragung durch Abbildung; § 5 Das Hesse’sche Uebertragungsprincip. KLEIN 1872, 13-20; KLEIN 1921 GMA I, 468-73. – Vgl. auch CARATHÉODORY 1919, 299-300.

2.6. In Paris mit Sophus Lie

67

und Lie in gruppentheoretischer Hinsicht anregte, ist in der Literatur unterschiedlich diskutiert worden. In ihrem Bericht vom 7. Juli 1870 bezeichneten Klein und Lie das Werk als „allein stehende Erscheinung“. Wenn sie es auch noch nicht im Detail studiert hatten, hatte ihnen Jordan doch Grundideen nahe gebracht: C. Jordan, ingénieur des mines, hat sich seit etwa fünf Jahren mit der Galois’schen Theorie der Gleichungen beschäftigt und muß in dieser Disciplin außerordentlich wichtige Fortschritte gemacht haben. Insonderheit hat er das Problem gelöst, alle algebraisch lösbaren Gleichungen eines beliebigen Grades anzugeben. Irren wir nicht, so verdankt er diesen Erfolg zum Theile dem Gedanken, die Galois’schen Imaginären in die Theorie der linearen Substitutionen einzuführen. Man kann, ohne dieses Hülfsmittel, die ganzzahligen linearen Substitutionen nur in sehr besonderen Fällen auf eine canonische Form zurückführen, mit demselben alle.277

Jordan entwickelte in seinem Traité nicht nur Galois’ Theorie weiter. Sein erwähnter Besuch bei Clebsch (1869) hatte seinen Blick auf Ergebnisse von Hesse, Clebsch, Kummer und deren entwickelte (geometrische) Gleichungen in Verbindung mit den zugehörigen (Substitutions-)Gruppen erweitert,278 was Klein und Lie zur ersten Verwendung des Gruppenbegriffs führen sollte (vgl. 2.6.2.1). Klein äußerte sich uneinheitlich über den Einfluss des Traité. 1892 sprach er von einem „nur indirekten Anstoß“. 1921 schrieb er, dass dieses Werk ihnen zunächst als „ein Buch mit sieben Siegeln erschien“.279 1924 teilte er Friedrich Engel dezidiert mit, dass ihnen im Verkehr mit Jordan „die allgemeine Bedeutung des Gruppenbegriffes nahegelegt wurde“, dass sie Jordans „Sur les groupes de mouvement“ und Galois’ Arbeit kannten mit dem Kern, dass „jede Gleichung eine bestimmte Gruppe besitzt, sobald man den Rationalitätsbereich kennt, in dem man operiert“.280 In Jordans Arbeit zu Bewegungsgruppen (Annali di Matematica pura ed applicata, ser. 2, vol. 2, No. 3 (1868) 167-215, 322-45), wurden Gruppen von Transformationen nach moderner Analyse als Halbgruppen definiert.281 Jordan hatte Galois’ Arbeit bereits in Band 1 der Mathematischen Annalen vorgestellt,282 was Klein und Lie vor der Paris-Reise gelesen hatten.283 Während mit Jordans Traité die Gruppentheorie als unentbehrliches Instrument der Gleichungstheorie galt (mit Kleins Hinweis „Substitution heißt hier Buchstabenvertauschung“), versuchten Klein und Lie die Bedeutung der Gruppentheorie für die verschiedensten Gebiete der Mathematik herauszuarbeiten.284 Natürlich war ihr Gruppenbegriff entfernt von einem modernen Verständnis.285 277 Bericht v. Klein und Lie, v. 7.7.1870, abgedruckt in Tobies 2015, Zitat 31. 278 Zum Beispiel: Livre IV, Chapitre III, § II. – Équations de M. Clebsch. 427.-430. Groupes de ces équations. – Leurs facteurs de composition (305-308). 279 [Oslo] II (Klein, 1.11.1892) in ROWE 1992, 591. KLEIN 1921 GMA I, 51. 280 Klein an F. Engel, Brief v. 25.10.1924, den er als Kommentar zu Engels Beitrag „Gruppentheorie und Grundlagen der Geometrie“ geschrieben hatte, abgedruckt in Mitt. aus d. Math. Seminar d. Univ. Gießen 35 (1945) 1-22 (Brief Kleins 22-24, Zitat 23). 281 Vgl. HOFMANN 1992. 282 Jordan, C.: « Commentaire sur Galois ». Math. Ann. 1 (1869) 141-60. 283 Vgl. NOETHER 1900, 8. 284 KLEIN 1926, Vorlesungen I, 335. 285 Vgl. HOFMANN 1992; SCHOLZ 1989, 103-109; WUßING 2007.

68

2 Prägende Gruppen

Klein diskutierte den Entwicklungsprozess von ihrem anschaulichen Gruppenbegriff hin zum Abstrakten – nicht ohne sein Credo anzufügen, dass die abstrakte Formulierung zwar hilfreich für Beweise sei, sich aber „durchaus nicht zum Auffinden neuer Ideen und Methoden“ eigne.286 2.6.2 Gemeinsame Arbeiten mit Sophus Lie in Paris Kleins Briefe an Lie zeigen, wie er versuchte, ein ebenbürtiger Kooperationspartner zu sein. Noch vor der Paris-Reise hatte er ihm geschrieben: Ich hoffe, ich kann Dir jetzt in Paris mehr werth sein, als das in Berlin möglich war, wo ich, wie Du weißt, durch die mannigfaltigsten gesellschaftlichen Verbindungen in Anspruch genommen war. Alle derartige Störungen fallen in Paris für mich weg; und ich habe auch nicht die Absicht, sie mir aus eigener Initiative aufzubürden. Deine Untersuchungen interessiren mich ungemein. Ich komme mir dem gegenüber, besonders wenn ich an mein Versprechen denke, mich möglichst mit den Complexen zu beschäftigen, unendlich unwürdig vor. Ich habe die ganze Zeit, seit ich Dir schrieb, auch noch nicht eine viertel Stunde Mathematik getrieben.287

Aber selbstbewusst dachten sie bereits vor der Reise daran, in Paris zu publizieren. So hatte Klein an Lie geschrieben: An unserem Projecte mit der Pariser Akademie halte ich fest und ich habe noch keinen Augenblick, seit ich es überhaupt aufgefaßt habe, an seiner Ausführbarkeit gezweifelt. Dein Ausspruch, daß unsere Betrachtungen und Arbeiten mindestens einen Werth haben wie die Mehrzahl der Mittheilungen in den Comptes Rendus, ist auch meine Ueberzeugung […].288

Sie veröffentlichten zwei kurze Beiträge über spezielle sogenannte W-Gebilde (2.6.2.1) und gelangten im Juli 1870 zu neuen Ergebnissen in Bezug auf die Kummersche Fläche (2.6.2.2), was sie zum Jahresende 1870 abschlossen (2.7.1). 2.6.2.1 Noten über W-Gebilde Klein und Lie hatten sich darüber verständigt, Ergebnisse in den Comptes Rendus hebdomadaires des séances de l’Académie de sciences de Paris (kurz: Comptes Rendus), dem Organ der Académie des Sciences, zu publizieren. Ausgangspunkt für ihre Zuversicht war Lies Arbeit zum Reye-Komplex, die Klein für die Göttinger Nachrichten ausgearbeitet hatte. In den Sitzungen der Pariser Académie am 6. und am 13. Juni 1870 präsentierte Chasles ihre zwei Noten „Sur une certaine famille de courbes et de surfaces“ [Über eine gewisse Familie von Kurven und Oberflächen], fünf bzw. vier Seiten lang.289 In Paris war das Publizieren einfacher als in Berlin: 286 287 288 289

KLEIN 1926 Vorlesungen I, 335. [Oslo] Klein an Lie, Brief aus Düsseldorf v. 13.4.1870. Ebd., Klein an Lie, Brief v. 9.3.1870. Comptes Rendus 1870/06, 1222-26 und 1275-79; und KLEIN 1921 GMA I, 415-23.

2.6. In Paris mit Sophus Lie

69

Die Mittheilungen in den Comptes Rendus haben meist den Zweck einer augenblicklichen und vorläufigen Bekanntmachung. Man ist mit der Aufnahme der Artikel sehr liberal, vielleicht zu liberal. Jedenfalls ist diese Möglichkeit, binnen 8 Tagen eine Arbeit veröffentlichen zu können, außerordentlich angenehm. Ein derartiges Institut fehlt in Deutschland bis auf die immer sehr rasch nach der jedesmaligen Akademiesitzung erscheinenden Göttinger Nachrichten.290

Ihre Noten in den Comptes Rendus behandelten zuvor übersehene Raumkurven bzw. Flächen, die „durch continuirliche geschlossene Schaar von ∞1 , bzw. ∞ 2 , der linearen Tetraeder-Transformationen in sich übergehen, W-Curven und –Flächen“.291 Der Name W-Kurve bzw. W-Fläche rührte daher, dass Lie in ihren Gesprächen v. Staudt’s Ausdruck Wurf für das Doppelverhältnis benutzte (im Französischen courbes V bzw. surfaces V). Halphen sprach später von courbes anharmoniques.292 Wenn auch ihre Arbeiten über W-Gebilde nicht frei von Ungenauigkeiten waren – Klein korrigierte und ergänzte noch beim Wiederabdruck in den Gesammelten Anhandlungen –, so ließen sie doch „zum erstenmale den Begriff einer Gruppe linearer Raumtransformationen in seiner Wichtigkeit hervortreten.“293 Die für die Mathematischen Annalen erarbeitete Langfassung „Ueber diejenigen ebenen Curven, welche durch ein geschlossenes System von einfach unendlich vielen vertauschbaren Transformationen in sich übergehen“ enthält den Hinweis auf Jordans Traité des Substititutions et des Equations Algébriques (t. I, II, 2) und die Fußnote: „Der Ausdruck ‚ein geschlossenes System von Transformationen’ entspricht also ganz dem, was man in der Theorie der Substitutionen als ‚eine Gruppe von Substitutionen’ zu bezeichnen pflegt.“294 Max Noether schrieb über Kleins und Lies „Gleichvertrautheit mit dem Operiren mit linearen Substitutionen“ und hob hervor: „[…] die Einführung des Begriffs der Abgeschlossenheit der Transformationsschaar, wie das der Vertauschbarkeit ist auf den Einfluss der Galois’schen Ideen zurückzuführen, die damals im Gebiete der discontinuirlichen Substitutionsgruppen durch das eben erschienene Werk von C. Jordan, und den ein Jahr vorher in diesen Annalen (Bd. I) auf Veranlassung von Clebsch veröffentlichten Commentar verbreitet wurden.“295 Klein urteilte 1892 über ihre Anteile bei den Arbeiten über W-Gebilde: Alles, was wir dort Neues über Differentialgleichungen aussagen, gehört zweifellos Lie; andererseits darf ich die Beziehungen zur Invariantentheorie sowie eine grosse Zahl der Einzelheiten für mich in Anspruch nehmen. So habe ich zuerst bemerkt, dass sich die berühmte

290 291 292 293

[Oslo] Bericht v. 7.7.1870, publiziert in TOBIES 2015. Vgl. NOETHER 1901, 6. KLEIN 1921, GMA I, 424-59, Begriffserklärung 436; NOETHER 1901, 6. [Oslo] II (Klein 1.11.1892), abgedruckt in ROWE 1992, 591. – HAWKINS 1989, 284, urteilte, “[…] when Klein arrived in Berlin, he may have been more disposed than Lie to perceive groups arising in a geometrical context.” 294 Math. Ann. 4 (1871) 50-84, Zitat 56; auch KLEIN 1921 GMA I, 424-59, Zitat 430. – Klein hatte das Manuskript am 4.2.1871 an Lie mit dem Bemerken gesandt, dass er es auf die ebenen Kurven begrenzt habe, „wegen Faulheit vielleicht auch wegen Unfähigkeit“. [Oslo] 295 NOETHER 1901, 8.

70

2 Prägende Gruppen Theorie der logarithmischen Spirale hier subsumirt und dass sich eine analoge Theorie der Loxodrome ergibt. Für unsere heutige Auffassung erscheint das ja sehr selbstverständlich. Damals aber überraschte es uns, dass sich unsere projectiven Ueberlegungen auf derartige transcendente Gebilde der metrischen Geometrie übertragen liessen. […]296

Als Klein seine Arbeiten für die Gesammelten Abhandlungen sortierte, ordnete er diese Arbeiten über W-Gebilde in die Entstehungszeit des Erlanger Programms. 2.6.2.2 Die Haupttangentenkurven der Kummerschen Fläche vierten Grades Das Hauptresultat hierzu gewannen Klein und Lie Anfang Juli 1870 in Paris. Klein urteilte dazu: „Nicht die Erfassung bestimmter von vornherein bekannter Fragestellungen ist das Treibende dabei gewesen, sondern die spontane Weiterentwicklung subjektiv gegebener Ansätze.“297 Lies Ansatz führte dazu, dass von Darboux und Moutard bestimmte Krümmungskurven der Zykliden in die Haupttangentenkurven übergingen. Klein basierte auf Liniengeometrie und beschrieb: Ich war – Anfang Juli 1870 – eines Morgens früh aufgestanden und wollte gerade ausgehen, als mich Lie, der noch im Bette lag, in sein Zimmer rief und mir den von ihm in der Nacht gefundenen Zusammenhang der Haupttangentenkurven einer Fläche mit denn Krümmungskurven einer anderen Fläche in einer Weise auseinandersetzte, daß ich kein Wort verstand. (Es handelte sich um die Linienkugeltransformation […].) Jedenfalls versicherte er mir, daß danach die Haupttangentenkurven der Kummerschen Fläche algebraische Kurven 16. Ordnung sein müßten. Am Vormittage kam mir dann, während ich das Conservatoire des Arts et Métiers besichtigte, der Gedanke, daß es sich um eben jene Kurven 16. Ordnung handeln müßte, welche schon in […] meiner „Theorie der Linienkomplexe ersten und zweiten Grades“ aufgetreten waren, und es gelang mir rasch, die […] von der Lieschen Transformation unabhängigen geometrischen Betrachtungen durchzuführen. Als ich am Nachmittage um 4 Uhr nach Hause zurückkam, war Lie ausgegangen, und ich hinterließ ihm eine Zusammenstellung meiner Resultate in einem Briefe.298

Klein bestimmte die Singularitäten dieser Kurven und entwickelte, zurück in Düsseldorf, „die volle gestaltliche Diskussion für den Fall eines von Doppelpunct zu Doppelpunct ziehenden Segments“, wobei er auf letzteres Resultat offensichtlich besonders stolz war und darin „eine Bestätigung für die Leistungsfähigkeit meiner geometrischen Auffassung erblickte“.299 Klein gelangte durch die Arbeit mit Lie zu einer neuen allgemeinen Auffassung über die Methoden und Aufgaben der Geometrie. D.h., Klein erkannte, dass es neben der projektiven Betrachtung algebraischer Flächen eine andere gleichberechtigte Betrachtungsweise gibt, in welcher die Kugeln dieselbe invariante Rolle spielen wie die Linien bei der projektiven Auffassung. Hierin sah er ebenfalls einen Anstoß für die später im Erlanger Programm niedergelegten Ideen.300 296 297 298 299 300

[Oslo] II (Klein, 1.11.1892) in ROWE 1992, 591. Ebd., 594. KLEIN 1921 GMA I, 97. [Oslo] II (Aufzeichnungen Kleins v. 1.11.1892), in ROWE 1992, 594. Ebd., 595.

2.6. In Paris mit Sophus Lie

71

2.6.3 Bericht über die Mathematik in Paris Aus dem mehrseitigen Bericht vom 7. Juli 1870 über die hiesigen mathematischen Zustände, geschrieben in Paris mit Kleins Handschrift und unterschrieben von Klein und Lie,301 ist im Vorstehenden bereits zitiert worden. Dieser durchaus subjektive, an den akademischen mathematischen Verein der Universität Berlin gerichtete Erfahrungsbericht wurde von Klein auch an den damaligen preußischen Kultusminister Heinrich von Mühler gesandt: Ich habe an den Minister geschrieben, dem ich, wie Du weißt, Referate über französische und englische Mathematik in Aussicht gestellt hatte. Als Beweis, dass ich in der beabsichtigten Richtung gearbeitet, habe ich ihm unsere Comptes Rendus und eine Copie unseres Berichtes an den Berliner Verein zugeschickt.302

Klein und Lie lieferten mit ihrem Bericht eine beeindruckende Übersicht über den damaligen Stand der mathematischen Studien in Frankreich; über die Art und Weise des mathematischen Lehrbetriebs an den verschiedenen Institutionen, die jeweils zugelassenen Studierenden, die Zahl der Hörer, das Mathematik produzierende Publikum, wozu auch Techniker und Ingenieure gehörten, und die mathematische Produktion in den letzten Jahren. Im Unterschied zu deutschen Universitäten waren die Lehrveranstaltungen in Paris öffentlich (ohne Kosten besuchbar). Klein und Lie äußerten sich darüber weniger begeistert, weil sich damit das Verhältnis Dozent – Student verschlechtere. Zugleich vermissten sie den in Deutschland entwickelten Seminarbetrieb und ein mathematisches „Lese-Institut“. Sie waren in Paris auf private Kontakte angewiesen, um neue Literatur einsehen zu können. Außerdem bedauerten sie die nach ihrer Ansicht gering entwickelten Beziehungen der Mathematiker untereinander – was sich wohl durch die oben erwähnte Gründung der Société Mathématique de France bald bessern sollte. Bei ihren Ausführungen über die Pariser (mathematischen) Zeitschriften ist ihr deutsch-französischer Vergleich über die Art und Weise des Redigierens von Arbeiten hervorhebenswert. Sie bevorzugten die französische Art: Die französische Weise, mathematische Arbeiten zu redigiren, hat vor der deutschen den Vorzug unvergleichlich größerer Klarheit, sagen wir lieber, Einfachheit. In Deutschland hat man vielfach die Methode angenommen, mathematische Auseinandersetzungen möglichst zusammenzudrängen, und sie dabei in solcher Weise zu redigiren, daß nur derjenige sie verstehen kann, der gerade in derselben Disciplin arbeitet. Bei der hier üblichen Darstellungsweise fällt dieser Uebelstand fort, wenn dadurch auch der Raum, den jede Mittheilung einnimmt, vergrößert wird. Wir zweifeln keinen Augenblick, der französischen Darstellungsweise den unbedingten Vorzug einzuräumen. Denn der Zweck einer mathematischen Arbeit kann vernünftiger Weise nur der sein, verstanden zu werden, nicht der, Bewunderung für den Autor zu erregen.303

Der Pariser Aufenthalt sollte nachhaltige Spuren hinterlassen. Dazu gehörte die Wertschätzung mathematischer Modelle und Apparate, die durch die Sammlun301 Kommentiert abgedruckt in TOBIES 2015. 302 [Oslo] Klein an Lie, Brief v. 30.12.1870. – Vgl. noch einmal Anhang Nr. 1. 303 Zitiert in TOBIES 2015.

72

2 Prägende Gruppen

gen des Conservatoire des Arts et Métiers vertieft worden war. Dazu gehörte das Kennenlernen neuer preiswerter Vervielfältigungsverfahren mittels Steindruck (Lithographie), was in Frankreich (und auch Italien) früher als in Deutschland bei mathematischen Arbeiten verwendet wurde.304 Insgesamt estimierte Klein die Leistungen französischer Mathematiker. Er suchte auch später regelmäßig den wissenschaftlichen Austausch, förderte Studenten aus Frankreich, gewann Autoren für die Mathematischen Annalen und für das ENCYKLOPÄDIE-Projekt. Bei der Reform des Mathematikunterrichts sollte das französische Beispiel wiederholt als Argument dienen.305 2.7 DEUTSCH-FRANZÖSISCHER KRIEG UND HABILITATION […] trafen wir 2 ältere Herren, d.h. Assessoren, aus Bonn, die uns am 19ten August über die Schlachtfelder […] geleiteten. Beim Fussmarsch kam ich in ausführliche Unterhaltung mit ihnen durch Habilitationspläne u.a. Wunderbare Verkettung: der eine war derselbe Mann, der später für mich die grösste Bedeutung erlangen sollte: Althoff […]. (Felix Klein)306 Nichtsdestoweniger mag ich nicht unterlassen, jetzt, wo wieder die Moeglichkeit eines brieflichen Verkehrs geboten ist, Ihnen ein Lebenszeichen von mir zu geben […] (Klein an Darboux, 14.2.1871)307

Wegen des Kriegsausbruchs mussten Klein und Lie ihren Aufenthalt in Paris früher als geplant beenden. Klein reiste zu den Eltern nach Düsseldorf und sandte bereits zehn Tage später einen Brief an Lie, in dem Kugelkreise, Komplexe und ähnliche Begriffe vorkamen.308 Daraus entstand die vielfach erzählte Geschichte von Lies Verdächtigung als deutscher Spion. Lie hatte Kleins Brief in der Tasche, wurde Anfang August in Fontainebleau, ca. 55 km südöstlich von Paris, aufgegriffen und bis zum 10. September inhaftiert, da er keinen gültigen Reisepass besaß. Als Lie bei Chasles, Bertrand u.a. um Hilfe bat, reiste Darboux nach Fontainebleau und erreichte die Freisetzung. Lie begab sich danach sofort auf den beabsichtigten Weg, durch die Schweiz nach Italien wandernd.309 Im Folgenden wird Kleins Teilnahme als Sanitäter am Deutsch-Französischen Kriege vom 16. August bis 2. Oktober 1870 beleuchtet, 310 und nach dem Einfluss des Krieges auf die Karriere und die französischen Kontakte gefragt (vgl. 2.7.1). Da die mathematischen Gedankengänge nur kurz unterbrochen wurden und der schon anvisierte Habilitationsplan auch auf dem Schlachtfeld in Kleins Blick lag, wird das Thema in diesen Abschnitt gefügt (2.7.2). 304 305 306 307 308 309

KLEIN 1923a, Autobiographie, 22-23. Vgl. Abschnitte 5.5.3; 7.4; 8.3.4; 9.3.2. [UBG] Cod. Ms F. Klein: 22 L, Bl. 3 (Kleins „Kriegserinnerungen“ für seine Kinder). [Paris] Brief Kleins an Darboux, 14.2.1871. Klein fuhr nicht nach Berlin, wie bei STUBHAUG 2003, 13, und PATTERSON 2016, 129, steht. Darboux, G.: „Sophus Lie“. Bull. Amer. Soc. 5 (1899) 367-70; NOETHER 1901, 14; STUBHAUG 2003, 149-50. 310 Vita Kleins v. 5.12.1870, abgedruckt in TOBIES 1999a, 85. – Die Angabe von GRAY 2013, 489, Klein served in the Prussian army, suggeriert, dass er mit der Waffe in der Hand diente.

2.7 Deutsch-Französischer Krieg und Habilitation

73

2.7.1 Kriegsteilnahme als Sanitäter und Auswirkungen Der detaillierte Kriegsverlauf ist hier nicht von Interesse. Es sei nur betont, dass die Kriegserklärung am 19. Juli 1870 von französischer Seite ausging311 und deutsche Truppen die von Napoléon III. besiegten. Der preußische König Wilhelm I. ließ sich am 18. Januar 1871 im Schloss Versailles zum deutschen Kaiser küren. Am 26. Februar 1871 wurde ebendort ein Vorfriedensvertrag unterzeichnet. Das Deutsche Reich wurde von oben geeinigt und Otto von Bismarck zum ersten Reichskanzler ernannt. Für die Wissenschaftspolitik relevant war, dass ElsassLothringen und damit die Université de Strasbourg (gegr. 1621 in der freien Reichsstadt Straßburg) mit dem Frieden von Frankfurt a.M. vom 10. Mai 1871 an Deutschland fiel. Kaum bei den Eltern in Düsseldorf angekommen, schrieb Felix Klein am 29. Juli 1870 an Sophus Lie nach Paris über weiter entwickelte Ideen zum Haupttangententhema. Er integrierte eine Zeichnung der Aufeinanderfolge der Haupttangentenkurven für den Fall, dass die sechs zugehörigen linearen Komplexe reell sind (Abb. 10). Es ist dieselbe Abbildung, die in ihre gemeinsame Arbeit einging, die Kummer in die Sitzungsberichte (Monatsberichte) der Berliner Akademie einbringen312 und die Klein später für ein Ballkleid seiner Braut verwenden sollte (vgl. 3.6.1). – Anfang 1871 sollte Klein dann der Beweis eines Satzes über die Beziehungen zwischen Linienkomplexen und den Haupttangentenkurven der Kummerschen Fläche gelingen, den er analog nach einem Beweis des Theorems über Krümmungskurven von Charles Dupin führte.313 Im erwähnten Brief vom 29. Juli 1870 hatte Klein auch von seiner Unbrauchbarkeit für einen militärischen Einsatz berichtet: „Gestern bin ich hinsichtlich meiner militärischen Brauchbarkeit untersucht worden und als einstweilen untauglich befunden worden. Auf meine Eingabe, in der ich mich dem Kriegsministerium zur Verfuegung stellte, habe ich auch gestern, wenn auch erst vorläufige Antwort erhalten.“ (Vgl. Abb. 10) Die ihm in Aussicht gestellte Position in einer Intendantur (Verwaltungsbehörde des Heeres) in Münster erhielt er allerdings nicht. Nachdem sich Klein acht Tage lang den Komplexen zweiten Grades gewidmet und schon darüber sinniert hatte, „während der Dauer des Krieges ruhig für mich hier Mathematik zu treiben“, fuhr er nach Bonn und schloss sich einem Nothelferverein an. Dieser Verein rüstete junge Leute mit Blechtornister, Mütze und Roter-Kreuz-Armbinde aus, um sie auf das Schlachtfeld zu senden, „[…] mit der Bestimmung, die Verwundeten aufzusuchen und denselben Erfrischungen etc. zu Theil werden zu lassen, insbesondere auch letzte Wünsche entgegen zu nehmen, die nöthigen Briefe zu schreiben etc.“314

311 312 313 314

Klein datierte die Kriegserklärung auf den 16. Juli (vgl. Anhang Nr. 1). [Oslo] Klein an Lie, Brief v. 29.7.1870; KLEIN 1921 GMA I, 94. [Oslo] Klein an Lie (28.1.; 25.2.1871); KLEIN 1921 GMA I, 98-105; KLEIN 1926, 79. [Oslo] Klein aus Düsseldorf an Lie, Brief v. 8.8.1870.

74

2 Prägende Gruppen

[…] dem Kriegsministerium zur Verfuegung stellte, habe ich auch gestern, wenn auch erst vorlaeufige Antwort erhalten. Danach habe ich einige Wahrscheinlichkeit als Intendantur-Beamter in Muenster angestellt zu werden. Im Uebrigen geht es mir eigentlich sehr schlecht. Noch viel weniger, als sonst weiss ich, was ich thun soll und bin verrueckter, denn je. Ich habe die schoenste Zeit zum Arbeiten aber ich vertroedele dieselbe mit Nichts-Thun etc. in der Art und Weise, die Du ja kennst. – Wenker ist seit ein paar Tagen bei der Infanterie eingetreten. Lebe wohl. Gruesse mir Alle bestens (Darboux, Jordan, Liouville etc.) und lass bald etwas von Dir hoeren Dein Felix Klein Abb. 10: Auszug aus einem Brief von Felix Klein an Sophus Lie nach Paris, vom 29. Juli 1870

Klein hielt sich als Sanitäter der mobilen Johanniter-Colonne, im wallonischen Teil Belgiens auf, als er am 19. August 1870 Friedrich Althoff traf, der nach diesem Krieg als Justiziar und Referent für Kirchen- und Schulsachen in Straßburg an der Neugründung der deutschen Universität beteiligt sein sollte und 1882 nach Berlin ins preußische Kultusministerium wechselte. Der zehn Jahre ältere Althoff war bereits verheiratet und ebenfalls als Sanitäter auf dem Schlachtfeld. Ihre Gespräche auf dem Wege nach Couvin, einer Gemeinde in der Provinz Namur, berührten Kleins Habilitationsplan und bildeten einen Ausgangspunkt für künftige Begegnungen auf Augenhöhe. Klein ertrug die Sanitäter-Tätigkeit nur kurz. Als er nach ca. vier Wochen, am 13. September 1870, das nächste Mal an Sophus Lie schrieb, befand er sich als Reconvalescent in Bouillon, einer belgischen Stadt, ebenfalls in der Region Wallonien. Er hatte „[…] eine Menge Eindrücke nicht immer der zartesten Art empfangen“, Verwundete bei Metz und Sedan betreut, Lazarette evakuiert, ohne „im

2.7 Deutsch-Französischer Krieg und Habilitation

75

eigentlichen Feuer“ sein zu müssen.315 Der Genesungsphase folgte allerdings Anfang Oktober erneut eine Erkrankung: „Ich bin nämlich zur Abwechslung krank geworden, habe von Château Thierry, bis wo wir vormarschirt waren, zurückkehren müssen und befinde mich jetzt seit etwas mehr als vierzehn Tagen zu Hause unter ärztlicher Behandlung. Mein Unwohlsein, das in einem gastrischen Fieber besteht, ist durchaus nicht gefährlich, aber langwierig.“316 Während Kleins Düsseldorfer Schulfreund Albert Wenker an Typhus verstarb, konnte sich Klein zu Hause mit langem Bettlager gesund pflegen lassen. Er hielt eine strenge Diät ein und war Mitte November 1870 weitgehend hergestellt, um Sophus Lie empfangen, die gemeinsame Arbeit über die Haupttangentenkurven der Kummerschen Fläche abschließen, das Habilitationsgesuch einreichen und sich beim Kultusministerium in Erinnerung bringen zu können.317 Der Friedensvertrag zwischen Deutschland und Frankreich war noch nicht unterzeichnet, aber für Klein und Lie zählte nur Mathematik. Von Düsseldorf aus schrieben sie Mitte November an Ernst Eduard Kummer nach Berlin über ihre „Untersuchungen über die Fläche 4ten Grades mit 16 Knotenpunkten“, worauf Kummer im Antwortbrief vom 26. November den Vorschlag unterbreitete, ihm das, „[…] was Sie über diese Fläche 4. Grades neues gefunden haben, vollständig, wenn auch kurz, begründet und zu einem kleinen selbständigen Aufsatze verarbeitet, zuschicken zu wollen.“ Kummer wollte dies in der Sitzung der Akademie vortragen und publizieren lassen. Aber in seinen Worten schwang die Skepsis der Berliner über ihre Arbeiten mit, dass es „[…] von uns Berliner Mathematikern als ein Verderb der Entwicklung der Geometrie angesehen wird, wenn bloße Resultate, ohne die nöthige Begründung, veröffentlicht werden.“318 Dies traf wohl auf die Beiträge in den Comptes Rendus und auch in den Göttinger Nachrichten zu. Klein und Lie erfüllten jedoch Kummers Wunsch bemerkenswert schnell. Am 14. Dezember 1870 sandte Klein das Manuskript der gemeinsamen Arbeit an Kummer, der sie einen Tag später, am Donnerstag Nachmittag zur Akademiesitzung präsentierte.319 Welche Mathematiker Klein mit Seperatabzügen der publizierten Version zu bedenken vorsah, ist ein Ausdruck dafür, wie weit das Netzwerk bereits gespannt war: „Cayley, Sylvester, Salmon, Cremona, Battaglini, Beltrami, die Berliner, Geiser, Sturm, Schroeter, Reye, Brill, Lueroth u.s.w.“320 Kleins spätere Aussage, dass dieser Krieg, „[…] so tief er in die Erlebnisse eines jeden von uns eingriff, doch lange nicht so störend auf unsere wissenschaftlichen Beziehungen gewirkt [hat], wie man heutzutage voraussetzen möchte“,321 315 Ebd., Klein aus Bouillon an Lie, Brief v. 13.9.1870. 316 [Oslo] Klein aus Düsseldorf an Lie, Brief v. 18.10.1870. – Château Thierry: franz. Gemeinde in der Region Hauts-de France. – Gastrisch-nervöses Fieber: Nervenfieber oder Typhus. 317 [Oslo] Klein an Lie, Briefe v. 27.10. und 8.11.1870; und Anhang Nr. 1. 318 [Oslo] Kummer an Klein und Lie, Kopie des Briefes v. 26.11.1870, die Klein mit Brief v. 27.11. an Lie sandte. 319 [Oslo] Klein an Lie, Brief v. 13.12.1870; KLEIN 1921 GMA I, 90-97. 320 [Oslo] Klein an Lie, undatierter Brief von Ende Februar 1871. 321 KLEIN 1921 GMA I, 51.

76

2 Prägende Gruppen

wird durch seine Briefe bestätigt. Noch bevor der erwähnte Vorfriedensvertrag unterzeichnet war, suchte Klein erneuten Kontakt mit Paris. Sein Brief vom 14. Februar 1871 an Darboux begann mit den Worten: „Lieber Herr Darboux! Ich weiss nicht, wo und wie Sie dieser Brief treffen wird, nicht einmal, ob Ihnen derselbe, als aus unserem Lande stammend, willkommen sein wird.“322 Der 21-Jährige beschrieb den Gang der Ereignisse und beeindruckt mit der nach Frieden sehnenden Formulierung des abschließenden Satzes: Als ich damals Paris so plötzlich verlassen musste bin ich als freiwilliger Krankenpfleger bei einem Huelfs-Corps eingetreten und habe als solcher eine Zeit lang – bis Ende September – auf dem Kriegsschauplatze zugebracht. Mein Ruecktritt von dieser Thaetigkeit war kein freiwilliger, da ich nicht unbedeutend erkrankt war. Ich habe die ganze Zeit bis Neujahr als Patient, bez. Reconvalescent verlebt und waehrend derselben zu keiner vernuenftigen Beschaeftigung kommen koennen. Eine angenehme Abwechslung war es fuer mich, dass ich einen mehrtaegigen Besuch von Lie erhielt, der damals auf der Rueckreise nach Christiania begriffen war und sich inzwischen dort habilitirt hat. Nach Neujahr bin ich zu der mir gewohnteren wissenschaftlichen Thaetigkeit zurueckgekehrt; ich bin nach Goettingen uebergesiedelt und habe mich daselbst an der Universitaet niedergelassen. Die Zahl der Zuhoerer ist natuerlich augenblicklich nur sehr gering; die Zeit ist fuer die stillen Beschaeftigungen des Friedens nicht guenstig. Moege dem bald und auf recht lange Dauer anders werden!323

Darboux reagierte seinerseits positiv. Der Briefaustausch kam wieder in Gang. Klein sollte zwar erst 1887 erneut nach Paris reisen, aber zwischenzeitlich sandte er jüngere Mathematiker (Lindemann, Dyck, Study, Hilbert) dorthin, nahm Kontakt mit weiteren französischen Mathematikern auf und führte einige junge Franzosen, die Darboux zu ihm empfahl, zu publikationswürdigen Ergebnissen.324 Während der Erste Weltkrieg später große Differenzen in den deutsch-französischen Wissenschaftsbeziehungen bringen sollte, lassen sich 1870-71 bei Felix Klein und Darboux keine derart heftigen nationalistischen Auswüchse erkennen. Allerdings loderten die Leidenschaften bei anderen auch damals heftiger. Beispiele unter den Mathematikern sind Ernst Eduard Kummer auf der einen325 sowie Camille Jordan auf der anderen Seite326. Jordan hatte den übertrieben patriotischen Hang jedoch überwunden, als Klein später junge Mathematiker nach Paris

322 323 324 325

[Paris] 42, Klein an Darboux, Brief v. 14.2.1871, abgedruckt in TOBIES 2016, 106. Ebd. Vgl. Abschnitt 5.4.2.1 und TOBIES 2016. Kummers Brief v. 26.11.1870 an Klein und Lie [Oslo] enthielt nationalistische Ausfälle: „Frankreich hat sich in diesem Kriege als eine sittlich sehr tief gesunkene Nation gezeigt […]“. – STUBHAUG 2003, 140, erklärt Kummers Widerwillen gegen die Franzosen mit einem traumatischen Kindheitserlebnis. 326 Jordans Antwort auf einen Clebsch-Brief sei, „[…] wie man sie von einem ruhig denkenden Menschen nicht erwarten soll; jede Zeile war patriotische d.h. französische Leidenschaft. Er hat gleichzeitig seine Mitgliedschaft bei der hiesigen Akademie aufgekündigt, wodurch denn der Abbruch aller Beziehungen herbeigeführt ist.“ [Oslo] Klein an Lie, 12.7.1871.

2.7 Deutsch-Französischer Krieg und Habilitation

77

sandte.327 1870 sollte die auslandsfeindliche Haltung des Meteorologen Heinrich Wilhelm Dove – die Klein in Berlin gespürt hatte – im Verhalten von dessen ältestem Sohn, Richard Wilhelm Dove, drastische Züge annehmen. Dieser befürwortete offiziell als Prorektor der Göttinger Universität das Beschießen von Paris mit Kanonen und wurde dafür deutschlandweit gefeiert.328 R. W. Dove, Kirchenrechtler und Mitglied der Nationalliberalen Partei, ist auch deshalb erwähnenswert, weil ihm der parteilose Felix Klein später als Repräsentant der Universität Göttingen im preußischen Herrenhaus folgen sollte (vgl. 8.3.4.1). 2.7.2 Habilitation Dann bin ich drei Tage in Göttingen gewesen. Es steht jetzt ziemlich fest, daß ich mich dort habilitieren werde, wie das ja auch nach Deinem Urtheile das Vernünftigste ist.329

Klein hatte seine Karriereschritte mit Lie beraten und mit Clebsch bereits vor der Paris-Reise abgestimmt. Am 5. Dezember 1870 sandte er von Düsseldorf aus das folgende Gesuch an die Philosophische Fakultät der Universität Göttingen: Einer hochlöblichen philosophischen Facultät der Universität zu Göttingen erlaube ich mir auf Grund der beigefügten Anlagen, nämlich: 1. Eines Doctordiplom’s, 2. Einer vita, 3. Eines Exemplar’s der eigenen, in der vorgenannten vita speciell aufgeführten Schriften, die Bitte ehrfurchtsvoll vorzutragen, dortselbst als Privatdozent der Mathematik zugelassen zu werden. Vorstehendes Gesuch richte ich an die hochlöbliche Facultät von meinem Heimatorte aus, da ich zur Zeit und voraussichtlich noch bis Neujahr durch die Folgen eines längeren Unwohlsein’s zu Hause gehalten werde, andererseits aber als Reconvalescent nicht länger mit einem Gesuche warten mag, welches ich schon mit Anfang des Semester’s habe stellen wollen. Damit mir kein weiterer Zeitverlust erwachse, sei mir verstattet, gleichzeitig für die eventuell zu haltende Probevorlesung die folgenden drei Themata vorzuschlagen: 1. Demonstration eines Modell’s der allgemeinen Plücker’schen Complexfläche, 2. Ueber diejenigen Curven, welche einer linearen Differentialgleichung erster Ordnung genügen, 3. Ueber die Kummer’sche Fläche vierten Grades mit 16 Knotenpunkten, so wie die Bitte auszusprechen, den Termin für diese Vorlesung möglichst für die ersten Tage des neuen Jahres festzulegen. Mit der ausgezeichneten Hochachtung verbleibe Dr. Felix Klein330

327 Vgl. [Lindemann] 68; Hilbert schrieb am 2.4.1886, an Klein, dass Jordan sich mit ihnen (Hilbert und Study) am meisten Mühe gebe, dass er besonders liebevolle Grüße an Klein ausgerichtet habe und seine acht Kinder alle Deutsch sprechen würden. (FREI 1985, 4) 328 Vgl. dazu [Lindemann] Lebenserinnerungen, 39. 329 [Oslo] Klein aus Düsseldorf an Lie nach Paris, Brief v. 29.3.1870. 330 [UAG] Phil. Dek. 156, 1870/1871, Bl. 510-12.

78

2 Prägende Gruppen

Bei den in der vita aufgeführten Schriften handelte es sich um seine Dissertation, den von ihm edierten Band 2 der Plückerschen Liniengeometrie, die vier 1869 in den Göttinger Nachrichten bzw. Mathematischen Annalen publizierten Beiträge sowie die in Paris mit Lie veröffentlichten Noten in den Comptes Rendus. Eine besondere Habilitationsschrift musste Klein nicht einreichen. Das war jedoch für die damaligen Verhältnisse nicht ungewöhnlich. Auch Clebsch hatte sich in Berlin ohne eine derartige Schrift habilitiert, wie dies für alle Habilitationsverfahren an der Universität Berlin bis zum Beginn der 1880er Jahre zutraf.331 Alfred Clebsch formulierte bereits zwei Tage nach Kleins Antrag: Herr Dr. F. Klein, welcher mir persönlich und schriftstellerisch seit längerer Zeit becannt ist, erweist durch Talent, Kenntnisse und durch seine bisherigen relativ frühzeitigen Leistungen die besten Hoffnungen, und ich glaube, die Facultät kann sich nur freuen, dass derselbe hier in Göttingen seine erste Thätigkeit zu versuchen beabsichtigt. Unter den vorgeschlagenen Themen zur Probevorlesung würde ich für das erste stimmen.332

Es schien wohl von vorneherein ziemlich gewiss, dass Clebsch für das erste Thema stimmen würde, denn Klein informierte Sophus Lie früh: „Uebrigens habe ich mich bereits in Göttingen gemeldet, und als Thema für die Probevorlesung die Demonstration des Wenker’schen Modelles gewählt.“333 Über dieses von Albert Wenker gebaute Modell der allgemeinen Plücker’schen Complexfläche hatte Klein bereits in Berlin vorgetragen (vgl. 2.4.3). Nachdem Klein am 2. Januar 1871 in Göttingen eingetroffen war,334 versandte der Dekan der Philosophischen Fakultät Karl Hoeck335 die Einladung „Zur Probe-Vorlesung und zum colloquium des Dr. Klein auf nächsten Sonnabend d. 7. Januar 6 Uhr“ und übertrug Clebsch die Leitung des Colloquiums. Felix Klein berichtete später Wilhelm Lorey darüber: Das war damals viel einfacher als jetzt. Man ließ die von mir bereits publizierten Arbeiten als Habilitationsschrift freundlichst gelten. Ich hielt vor der im Hause des Dekans bei Wein und Kuchen versammelten Honorenfakultät (ca. acht Mitglieder), mit am Tische sitzend, einen Vortrag über ein von mir konstruiertes Modell der allgemeinsten Plückerschen Komplexfläche und antwortete dann noch auf einige Fragen, die Clebsch im Anschluß daran an mich richtete.336

Neben dem Dekan und Clebsch nahmen teil: der Historiker Georg Waitz, der Botaniker Friedrich Gottlieb Bartling, der Physiker Wilhelm Weber, der Philosoph Hermann Lotze, der Geologe Wolfgang Satorius von Waltershausen337, der Theologe und Orientalist Ernst Bertheau, der Germanist Wilhelm Müller, sowie der evangelische Theologe Friedrich Ehrenfeuchter.338 Wilhelm Müller sollte im 331 Vgl. BIERMANN 1888, 363-68; erst seit 1883 wurden in Berlin Habilitationsschriften eingeführt, beginnend mit Johannes Knoblauch (15.3.1883) und Carl Runge (9.6.1883). 332 Clebsch, handschriftlich, am 7.12.1870, in [UAG] Phil. Dek. 156, 1870/1871, Bl. 516. 333 [Oslo] Klein an Lie, Brief v. 12.12.1870. 334 [Oslo] Klein an Lie, Brief v. 15.1.1871. 335 Hoeck leitete als Althistoriker die Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek. 336 Zitiert in LOREY 1916, 191. 337 Satorius von Waltershausen hatte sich an Gauß’ erdmagnetischen Forschungen beteiligt. Mit ihm befreundet, verfasste er die Schrift: Gauss zum Gedächtniss, Leipzig: Hirzel, 1856. 338 UAG] Phil. Dek. 156, 1870/1871, Bl. 509.

2.8 Privatdozentenzeit in Göttingen

79

Jahre 1885 Dekan sein, als Kleins Berufung nach Göttingen zur Diskussion stand (vgl. 5.8.2). Mit Georg Waitz, Wilhelm Weber und Hermann Lotze sollten sich ebenfalls besondere Berührungspunkte ergeben. Dekan Hoeck vermerkte am 7. Januar 1871 in Kleins Habilitationsakte: „Den wissenschaftlichen Forderungen hat er auf ausgezeichnete Weise entsprochen; selbst sein äußerer Vortrag fand allgemeinen Beifall“. Die Fakultät stellte den Antrag an das Kgl. Universitäts-Curatorium, „[…] dem Dr. Klein vorläufig die venia legendi im Fache der Mathematik zu ertheilen.“ Dies geschah am 13. Januar 1871 „vorläufig auf zwei Jahre“.339 2.8 PRIVATDOZENTENZEIT IN GÖTTINGEN Dr. Klein, der jetzt ganz hier ist, hat mir viel von der angenehmen Zeit erzählt, welche er in Paris erlebt hat. Er ist, wie immer, sehr fleissig […]; ich bin froh hier einen so regsamen und liebenswürdigen Collegen gewonnen zu haben.340

Im Brief an Camille Jordan demonstrierte Clebsch seine Wertschätzung für Klein, der neue Resultate produzierte, mathematische und wissenschaftsorganisatorische Ideen aufgriff, auch Correkturen für ihn besorgte. Klein hielt seine Collegien ab und bewältigte die für Privatdozenten üblichen vielen Gesellschaften, einschließlich Baelle, Kneipen, Sitzungen u.ä.341 Am 4. November 1871 wurde er zum Assessor342 der mathematischen Classe der Kgl. Gesellschaft der Wissenschaften Göttingens gewählt. In derselben Sitzung erfolgten die Wahl von Arthur Cayley (Cambridge) zum Auswärtigen Mitglied sowie von Ludwig Schlaefli (Bern) und Hermann Grassmann (Stettin) zu Correspondenten dieser Akademie.343 Klein hatte Arbeiten von Cayley, Schläfli und Grassmann schon erfolgreich benutzt und konnte nun als Assessor eigene Resultate bei den Akademie-Sitzungen präsentieren. Clebsch hob Kleins Ergebnisse hervor344 und verhalf ihm zu einer ordentlichen Professur in Erlangen und zum Correspondenten der Göttinger Akademie (zugleich mit Sophus Lie und Adolph Mayer),345 bevor er allzu früh am 7. November 1872 aufgrund einer rapid verlaufenden Diphtheritis verstarb. 346 Als Privatdozent noch finanziell von den Eltern abhängig, musste Klein 1871 die anvisierte Norwegen-Reise streichen (vgl. dazu 2.1.1). Geld erhielt er nur durch Hörer, die für „private“ Lehrveranstaltungen zu bezahlen hatten. Kleins 339 Ebd. Bl. 517-18. 340 Clebsch an Jordan, 5.3.1871, zitiert nach LÊ 2015, 171. 341 [Oslo] Klein an Lie, Anfang 1871; 17.1.1872; am 9.2.1872: „Vaeter, welche Toechter haben, laden mich ein auch ohne dass ich Besuch gemacht habe. Was kann man da machen?“ 342 Assessor = Beisitzer, Gehilfe. 343 Klein (Assessor) erhielt 16 weiße (zustimmende) und zwei schwarze Kugeln; ebenso Grassmann. Cayley und Schlaefli bekamen alle 18 Stimmen [AdW Göttingen] Pers. 12: Bl. 288. 344 Göttinger Nachrichten 1872, Nr. 25 (6. Dezember), 621-23; CLEBSCH 1872, 26. 345 Clebsch’ Wahlvorschläge vom 12.10.1872 [AdW Göttingen] Pers. 20. 346 Clebsch war auf einer Reise zum Kultusministerium nach Berlin erkrankt, hatte wegen eines an ihn ergangenen Rufes nach Wien verhandeln wollen, Göttinger Nachrichten 1875, 265.

80

2 Prägende Gruppen

Hörerzahl blieb zunächst gering, denn in Göttingen lehrten mehrere Dozenten Mathematik. Deshalb versuchte er es auch mit Lehre in Physik. (Abschnitt 2.8.1) Kleins in dieser Zeit fertig gestellte Arbeiten zeugen quantitativ von höchster Produktivität in seinem Forscherleben: Liniengeometrie und metrische Verhältnisse; wesentliche Ideen für die Gleichungstheorie; nichteuklidische Geometrie; Grundgedanken für die Systematisierung der verschiedenen geometrischen Richtungen; Ideen für Modelle und Klassifikation von Flächen dritter Ordnung. Dies geschah nahezu gleichzeitig, miteinander verwoben und umfasste Ansätze, die ins Erlanger Programm einflossen oder/und später einem tieferen Ausloten würdig waren. Wir wollen Tendenzen zeichnen und nach den Bedingungen für diese kreative Phase fragen, in der Klein auch seinen ersten Doktorschüler betreute. (2.8.2) Felix Klein engagierte sich in mathematischen, außermathematischen, lokalen und überregionalen Kreisen, hierbei nicht nur Clebsch, sondern zugleich einem inneren sozialen Trieb folgend (Abschnitt 2.8.3). 2.8.1. Lehrtätigkeit im Kontext In den Nachrichten der kgl. Gesellschaft der Wissenschaften und der Georg-Augusts-Universität (=Göttinger Nachrichten) wurden die Lehrveranstaltungen der Universität semesterweise angekündigt. Nach Erteilung der venia legendi am 13. Januar 1871 bot Klein noch für das laufende Semester „Ausgewählte Kapitel der Geometrie“ mit zwei Wochenstunden an347 und erklärte Sophus Lie: „[…] ich lebe recht fidel und habe auch schon als sog. privatissimum mathematische Uebungen begonnen, wobei ich 6 Zuhörer habe.“348 Im folgenden Sommersemester 1871 formulierte Klein sein mathematisches Lehrangebot ohne exakte Stundenzahl und Uhrzeit (Tab. 4); seine Vorlesung über Plückers Complexe, die er vom 1. April bis 12. Juli 1871 las, wurde von fünf, und die Theoretische Optik von neun Hörern besucht.349 Um Kleins Lehrtätigkeit als Privatdozent einzuordnen, sollen zunächst das Kgl. mathematisch-physikalische Seminar sowie seine Kollegen vorgestellt werden. Beides ist von Interesse, weil er Seminar und einige der Kollegen noch vorfinden sollte, als er 15 Jahre später als Professor nach Göttingen zurückkehrte, um als ein Direktor in das Seminar einzutreten. Das Seminar war 1850 durch Moritz Abraham Stern (*1807) nach Vorbild der Universität Halle initiiert worden und zielte auf einen „zusammenhängenden, planmässigen Lehrkursus“, der die Studenten „länger an Göttingen fesseln sollte“. Das Statut verpflichtete die Mitglieder, wöchentlich an zwei Stunden mathematischen sowie zwei bis vier Stunden physikalischen Übungen teilzunehmen.350

347 348 349 350

KLEIN 1923 GMA III, Anhang, 4. [Oslo] Klein an Lie, Brief v. 22.1.1871. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 7 E: Bl. 1-2. Geschichtliche Zusammenstellung zum Seminar in [UBG] Cod. Ms. F. Klein 2 E: Bl.13-14.

81

2.8 Privatdozentenzeit in Göttingen

Tabelle 4: Verzeichnis der im SS 1871 an der Universität Göttingen angebotenen mathematischen, physikalischen und astronomischen Lehrveranstaltungen351 Dozent

Titel

Wochentage

Uhrzeit

Prof. Ulrich

Stereometrie mit sphärischer Trigonometrie

Mo, Die, Do, Frei

10 Uhr

Prof. Ulrich

Praktische Geometrie mit Uebungen auf dem Felde

4 WoStd.

5-7 Uhr

Prof. Clebsch

Analytische Geometrie der Ebene

Mo, Die, Do, Frei

12 Uhr

Prof. Clebsch

Ausgewählte Capitel der höhern Geometrie

Mo, Do

11 Uhr

Prof. Stern

Theorie der Zahlengleichungen

4 WoStd.

8 Uhr

Prof. Stern

Differential- und Integralrechnung

5 WoStd.

7 Uhr

Prof. Enneper

Theorie der bestimmten Integrale

Mo, Die, Mi, Do, Frei

10 Uhr

Prof. Schering

Functionen complexer Veränderlicher, insbes. Elliptische, Abelsche und Riemannsche Functionen

4 WoStd.

9 Uhr früh

Dr. Klein

Ueber die Plueckerschen Complexe

1 oder 2 WoStd. unentgeltlich

Dr. Minnigerode

Theorie der linearen partiellen Differentialgleichungen und deren Anwendungen auf math. Physik

4 WoStd.

Dr. Klein

Ueber theoretische Optik

4 WoStd.

Prof. Clebsch

Uebungen über Gegenstände der neuern Algebra

Mi öffentlich

12 Uhr

Prof. Schering

Magnetische Uebungen (für die Mitglieder des math. physikalischen Seminars)

Freitag

6 Uhr

Dr. Klein

Mathematische Uebungen über irgend einen Theil der Geometrie

Prof. Klinkerfues

Sphärische Astronomie

Mo, Die, Do, Frei

12 Uhr

Prof. Weber

Physik, erster Theil

Mo, Die, Do, Frei

5-6 Uhr

Prof. Listing

Optik, einschliesslich Krystalloptik

4 WoStd.

12 Uhr

Prof. Listing

Ueber das Auge und das Mikroskop

privatissime in bequemen Stunden

Prof. Listing

Uebungen in der praktischen Physik

Samstag

10-12 Uhr

351 Göttinger Nachrichten 1871, 63-65, in der originalen Reihefolge der Ankündigungen. Vgl. auch: https://gdz.sub.uni-goettingen.de/id/PPN654655340_1871_SS (S. 8-10)

82

2 Prägende Gruppen

M. A. Stern war der erste ungetaufte Mathematiker aus jüdischem Elternhaus, der eine ordentliche Professur an einer deutschen Universität erhalten hatte, allerdings erst dreißig Jahre nach seinem Doktorexamen, das Gauß 1829 mit Bestnote bewertet hatte. Seit 1829 auch bereits Privatdozent, hatte Stern zunächst 19 Jahre lang bis zu einem Extraordinariat warten müssen. Sein klarer Vortragsstil wurde allgemein gelobt.352 Nach VOSS (1919) gingen Sterns Vorlesungen aber inhaltlich kaum über die Zeit von Fourier (†1830) hinaus. Ferdinand Lindemann, der 1870/ 71 Algebraische Analysis bei Stern hörte, überlieferte, dass dieser nach seinem eigenen Buch las, „im gewissen Sinne modern, da alle Operationen zunächst nur symbolischen Sinn haben sollten und erst nachher die Anwendung auf das Zahlensystem kam“.353 Klein hatte bei Stern bereits 1869 gehört (vgl. 2.4.1) und pflegte langjährigen guten Kontakt mit ihm und seinem Sohn. Als Klein 1886 die Professur in Göttingen erhielt, sollte er auf Sterns Lehrstuhl kommen (vgl. 5.8.2). Im Rahmen des Kgl. Seminars leiteten M. A. Stern und Georg Ulrich (*1798) die mathematische Abteilung; Wilhelm Weber (*1804) und J. B. Listing (*1808) die physikalische.354 Ernst Schering (*1833) bot Magnetische Uebungen (vgl. Tab. 4). Für das Seminar war zudem angekündigt: „Prof. Ulrich mathematische Uebungen Mittw. 10 Uhr“; „Prof. Stern über einige Eigenschaften der Kettenbrüche“, Mittw. 8 Uhr; „Prof. Klinkerfues einmal wöch. Anleitung zu astronomischen Beobachtungen“; „Prof. Listing physikalische Uebungen“.355 Während Gauß, Dirichlet, Riemann sich nie an diesem Seminar beteiligt hatten, nutzte Clebsch das Seminar ab 1869/70 bewusst, um es nach Königsberger Vorbild auf neuere Forschungen zu orientieren, wie auch ein gemeinsam mit Klein abgehaltenes Seminar 1872 dokumentiert.356 Für Klein sollte dieses Seminar ein Vorbild sein, um Derartiges später an anderen Orten einzurichten. Georg Ulrich (*1798) war bereits neben Gauß seit 1831 o. Professor der Mathematik, inzwischen Hofrat und ständiger Examinator für das Lehramt Mathematik und Physik. Er las über praktische Geometrie, Mechanik, Analysis und andere geometrische Gebiete, beschränkt auf ältere Methoden.357 Der Physiker Wilhelm Eduard Weber (*1804), der einst mit Gauß kooperiert hatte, habe jetzt meist misslungene Experimente vorgeführt und auffallend stark gegen Hermann von Helmholtz (*1821) polemisiert.358 Klein sollte dagegen Helmholtz’ Gesetz über die Erhaltung der Kraft in seine Lehre einbeziehen und war Webers damaligem Forschungsfeld wenig zugeneigt.359

352 Zum Urteil von Dedekind vgl. LOREY 1916, 81-82; VOSS 1919, 280. 353 [Lindemann] 40. – Stern, M.A.: Lehrbuch der algebraischen Analysis. Leipzig/ Heidelberg: C. F. Winter’sche Verlagsbuchhandlung, 11860. 354 Geschichtliche Zusammenstellung zum Seminar in [UBG] Cod. Ms. F. Klein 2 E: Bl.13-14. 355 Göttinger Nachrichten 1871, 64 und 66; [UAG] Math.Nat. 0012 (Laufende Geschäfte). 356 [UAG] Math.Nat. 0012, Bl. 77; [Protokolle] Bd. 1; für Königsberg vgl. OLESKO 1991. 357 Vgl. hier und im Folgenden die Urteile von VOSS 1919, 280. 358 Ebd., 40-41. Helmholtz, H.: Über die Erhaltung der Kraft (Berlin: Reimer, 1847). 359 KLEIN 1923a, 15. – Zu Differenzen zwischen Weber und Helmholtz und Helmholtz’ Plädoyer für das Orientieren an Naturgesetzen, geprüft auf empirischer Basis, vgl. dessen Vorrede zum

2.8 Privatdozentenzeit in Göttingen

83

Johann Benedict Listing (*1808) hatte unter Gauß promoviert (1834), eine a.o. Professur für Physik (1839) und eine o. Professor für Mathematik (1849) erhalten. Er prägte Begriffe wie „Geoid“ und „Topologie“ (1847), obgleich letzteres Gebiet („Lehre von den Gesetzen des Zusammenhang, der gegenseitigen Lage und der Aufeinanderfolge von Punkten, Linien, Flächen, Körpern und ihren Teilen oder Aggregaten im Raume, abgesehen von den Maß- und Größenverhältnissen“) noch lange Zeit danach als Analysis situs bezeichnet wurde. Aurel Voß erlebte Listing im Seminar und meinte, dass „das Übermaß seiner geistreichen Terminologie nicht immer geeignet war, wirkliche Einsicht zu fördern“.360 Es war eine Zeit, in welcher sich die Flächentopologie erst als eine eigenständige Teildisziplin herausbildete, topologische Methoden in das Studium der projektiven Geometrie eindrangen. Felix Klein sollte künftig daran beteiligt sein: Indem Klein die Idee der Gruppe und die Auffassung des Raumes als Zahlenmannigfaltigkeit zu Grunde legt, gelangt er zu einer prägnanten Zusammenfassung der Listingschen Definitionen, die man etwa so formulieren kann: die Aufgabe der Analysis Situs besteht in der Aufstellung aller derjenigen Eigenschaften räumlicher Gebilde, die sich invariant verhalten gegenüber der Gruppe aller stetigen Transformationen des Raumes.361

Alfred Enneper (*1830) basierte ebenfalls auf Studien bei Gauß. Obgleich er seit 1859 habilitiert war, erhielt er erst 1870 eine a.o. Professur. Klein nutzte dessen Ergebnisse zur Differentialgeometrie und sandte diese auch an Sophus Lie.362 Nach Aurel Voß’ Urteil besaß Enneper gute Kenntnisse der neueren französischen und italienischen Literatur und bereitete seine Vorlesungen akribisch vor. Dennoch hatte er nur wenige Hörer. Lindemann berichtete von drei bzw. zwei Anwesenden. Enneper habe ohne Manuskript ständig mit dem Gesicht zur Tafel gewandt angeschrieben, wenngleich ohne Fehler und mit guter Systematik.363 Ernst Schering (*1833), seit 1868 o. Professor und Direktor der 2. Abteilung der Sternwarte für theoretische Astronomie und Geodäsie,364 befasste sich vornehmlich mit der Edition der Gauß-Werke im Auftrage der Kgl. Gesellschaft der Wissenschaften, was Klein nach dessen Tod fortführte (vgl. 8.3.1). Obgleich Schering im Jahre 1885 Kleins Ruf nach Göttingen zu verhindern suchte (Anhang Nr. 4), sollte Klein einen kurzen Nachruf auf ihn verfassen und auch die Edition von dessen Werken veranlassen.365 Clebsch hatte gleichfalls das Gegenteil von Freundlichkeit „[…] leider von Hrn Schering im unglaublichsten Masse […] erfahren müssen“, nachdem er von Gießen nach Göttingen berufen worden war.366 –

360 361 362 363 364 365 366

Handbuch der Theoretischen Physik von Thomson und Tait, Bd. 1, T. 2, Braunschweig: Vieweg, 1874; auch KLEIN 1926 Vorlesungen I, 23-24. VOSS 1919, 280. Dehn/Heegaard (1907): Anaylsis Situs in ENCYKLOPÄDIE Bd. III. 1.1, 153-220, Zitat 154; vgl. auch SCHOLZ 1980, 142-79. [Oslo] Klein an Lie, Brief v. 1.2.1872. VOSS 1919, 280; [Lindemann] 40; 42. Göttinger Nachrichten 1875, 282. Klein, F.: „Ernst Schering“. Jahresbericht DMV 30 (1897) 25-27. – Brief der Witwe Scherings an Klein, v. 3.2.1899 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 11: 682 Anl. [Deutsches Museum] Nr. 1968-2/2. Clebsch an M. A. Stern, Brief v. 8.8.1868.

84

2 Prägende Gruppen

Der Astronom Ernst Friedrich Wilhelm Klinkerfues (*1827), seit 1867 Extraordinarius, soll seine Veranstaltungen damals nicht zustande gebracht haben.367 Der neben Klein als Privatdozent in Göttingen agierende Bernhard Minnigerode (*1837) hatte bei Riemann studiert und war seit 1866 habilitiert. Er erhielt später als Klein eine Professur: 1874 Extraordinariat in Greifswald, ab 1885 dort Ordinariat. Minnigerode befasste sich in Greifswald (1887) damit, Kristallgruppen mittels eines geometrischen Gruppenbegriffs zu ordnen. Diesen Ansatz sollte Arthur Schönflies mit seinen Studien der elementaren Raumgruppen noch übertreffen – angeregt durch Felix Klein (vgl. Abschnitt 6.3.6.1). Alfred Clebsch beeindruckte die Studierenden nicht nur durch den Inhalt, sondern auch durch die rhetorisch formvollendete freie Rede. Im Sommer 1871 hatte er ca. 20 bis 30 Hörer.368 Im Sommer 1872 las er über Theorie der elliptischen Funktionen vor mehr als siebzig Hörern, darunter Klein und Lindemann.369 Während Klein künftig die Semesterpausen für eine gründliche Vorbereitung neuer Vorlesungen nutzen sollte, blieb ihm zunächst wenig Zeit dafür. Er „[…] präparierte von Stunde zu Stunde, so gut es gehen wollte, wobei mir meine physikalischen Freunde Riecke und Neesen behilflich waren.“370 Dass er viel lieber mathematisch geforscht und gelehrt hätte, dokumentieren seine damaligen Briefe. Er musste sich wegen der Hörergelder in den ersten beiden Semestern auf Physik konzentrieren. Klein schrieb an Darboux: „[…] vielmehr war ich durch eine Vorlesung über theoretische Optik sehr an eigener Arbeit gehindert.“371 Lie erfuhr: Aber man sieht vielleicht auch vorurtheilsloser, wenn man etwas Ueberblick über benachbarte Gebiete (ich rechne dahin theoretische Physik) besitzt. So ungefähr motivire ich mich, wenn ich mich jetzt mit Physik etc. beschäftige. Der nächste und einzig zwingende Grund liegt allerdings an den Verhältnissen an der hiesigen Universität, die mir kaum gestatten, andere Dinge als gerade Physik zu lesen. Ich fühle mich sehr angezogen von der Auffassung der math.[ematischen] Physik, wie sie W. Thomson vertritt. In ähnlichem Sinne wie er die math.[ematische] Physik regenerirt, indem er den physikalischen Inhalt in den Vordergrund setzt, denke ich mir eine Regeneration der Geometrie.372

Die Lehre über physikalische Gebiete war demnach eine Notlösung. Dennoch kniete sich Klein tief hinein und führte auch Experimente vor, wie Riecke überlieferte (Anhang Nr. 12). Im Winter 1871/72 saßen in Kleins Vorlesung „Ueber die Wechselwirkung der Naturkräfte und das Gesetz der Erhaltung der Kraft“ (täglich von montags bis freitags, 9.00 Uhr) elf Hörer. Klein behandelte Wärme- und Elektrizitätslehre, wobei er sich vor allem auf das Buch von William Thomson und Peter Guthrie Tait The Treatise on Natural Philosophy (Oxford University Press, 1867) stützte, auf das ihn sein schottischer Studienfreund William Ro-

367 368 369 370 371

[Lindemann] Lebenserinnerungen, 44. [Lindemann] 41. LOREY 1916, 161. [UBG] Cod. Ms F. Klein 22L:4, Bl. 5. [Paris] Klein an Darboux, Brief v. 5.9.1871 (Nr. 45). – Dies interpretierte er in seiner Autobiographie um, als den Plan, Physiker zu werden, vgl. KLEIN 1923a, 17. 372 [Oslo] Klein an Lie, Brief v. 1.10.1871.

2.8 Privatdozentenzeit in Göttingen

85

bertson Smith verwiesen hatte.373 In einem Brief an Plückers Witwe drückte Klein noch gewisse Bedenken hinsichtlich seiner Vorlesung aus: Ich bin von Düsseldorf schon im September hierher zurückgekehrt; vor vierzehn Tagen hat das Semester mit seinem gefürchteten Colleg begonnen. Ich habe 10 – 12 ständige Zuhörer, kann also sehr zufrieden sein. Wie denn überhaupt die mathematischen Verhältnisse hier so schön sind, wie je; es sind noch nie so viele Zuhörer gewesen.374

Es sei erwähnt, dass in Kleins beiden Physik-Vorlesungen, im Sommer 1871 und im Winter 1871/72, der später bedeutende Physiker Richard Börnstein saß. Dieser eignete sich hier nicht zur die Anfangsgründe an, sondern promovierte schon 1872 beim Ordinarius Wilhelm Weber.375 Mit theoretischer Physik füllte Klein eine Lücke in der Lehre; sein Gebiet Geometrie war durch Clebsch bestens vertreten. Kleins einstündige öffentliche (unentgeltliche) Vorlesung „Ueber Anwendung von Transformationen in der Geometrie“ erreichte im Winter 1871/72 nur vier Hörer. Dazu gehörten sein Freund Friedrich Neesen und Carl Rodenberg, die sich am Herstellen bzw. Sammeln mathematischer Modelle beteiligen sollten. Im Sommersemester 1872 trat Clebsch die geometrischen Grundvorlesungen an Felix Klein ab. Somit konnte Klein nun auf physikalische Lehre verzichten. Er las vom 1. April bis 27. Juli 1872 Analytische Geometrie der Ebene, viermal wöchentlich, um 8.00 Uhr, vor 38 Hörern, darunter sein späterer Doktorand Adolf Weiler sowie wiederum Neesen und Rodenberg. Ferdinand Lindemann, der hinzutrat, überlieferte, dass Klein am Schluss dieser Vorlesung Christian von Staudts Theorie des Imaginären behandelt habe,376 in welche er mit seinen Arbeiten zur nichteuklidischen Geometrie näher eingedrungen war. Wäre Klein in Göttingen geblieben, hätte er im Winter 1872/73 über Analytische Geometrie des Raumes (4x wöchentlich) und Ueber höhere Theile der ebenen Geometrie (3x) vorgetragen, wie bereits angekündigt war.377 Als Klein im Oktober 1872 seine erste Professur antreten konnte, übernahm Privatdozent Friedrich Neesen 1872/73 das geometrische Programm in Göttingen. Ihm folgte Aurel Voß als Privatdozent. Der Clebsch-Lehrstuhl wurde erst zum 1. April 1874 wieder besetzt: mit Lazarus Fuchs, in Berlin sozialisiert und mit Forschungsschwerpunkt in der Theorie der linearen Differentialgleichungen.378 Auch wenn Fuchs nur kurz blieb, setzte Weierstraß mit ihm in Göttingen durch, dass seine russische Schülerin Sofja Kowalewskaja dort im August 1874 in absentia den Doktorgrad mit Bestnote erlangen konnte und damit überhaupt die 373 [Oslo] Klein an Lie, 1.10.1871. – Das Buch erschien, wie erwähnt, ab 1871 als Handbuch der Theoretischen Physik (Braunschweig: Vieweg), übers. durch H. Helmholtz und G. Wertheim. 374 [Canada] Klein an Antonie Plücker geb. Altstätter, Brief v. 10.11.1871. 375 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 7 E, Bl. 1-2. – Vgl. Nachschlagewerk physikalisch-chemischer Tabellen (Landolt-Börnstein), das Börnstein mit Hans Landolt ab 1883 herausgab. 376 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 7 E, Bl. 5-8. – Lindemann wurde dadurch angeregt, von Staudts Theorie in seiner Edition von Clebschs Vorlesungen ausführlich zu behandeln und mit eigenen Ergebnissen zu bereichern. [Lindemann] Lebenserinnerungen, 45. 377 Göttinger Nachrichten 1872, Nr. 19 (24. Juli), 360. 378 Fuchs stammte aus jüdischem Elternhaus und war aus Karrieregründen gemeinsam mit Leo Koenigsberger zur evangelischen Religion gewechselt, vgl. KOENIGSBERGER 1919, 32.

86

2 Prägende Gruppen

erste promovierte Mathematikerin im Europa des 19. Jahrhunderts wurde.379 Nach Fuchs kam 1875 Hermann Amandus Schwarz, ebenfalls Repräsentant der Berliner, der übrigens seit 1868 mit Marie Luise Kummer verheiratet war, einer Tochter von Ernst Eduard Kummer. Schwarz sollte 1885 wie Schering (erfolglos) ein Separatvotum gegen Kleins Berufung nach Göttingen verfassen (Anhang Nr. 4). 2.8.2 Forschungsresultate im Überblick Der fleißige und liebenswürdige Klein – wie Clebsch ihn sah – arbeitete während der drei Semester als Privatdozent 16 Manuskripte aus. Vier dieser Arbeiten platzierte Clebsch bei den Göttinger Nachrichten im Jahrgang 1871, drei weitere konnte Klein als Assessor dort selbst im Jahrgang 1872 einbringen. Neun Arbeiten (davon zwei unveränderte Wiederabdrucke aus den Göttinger Nachrichten) nahm Clebsch in die Mathematischen Annalen auf. Hinzu kamen Prospekte Kleins zu vier Modellen sowie seine mehrfach erwähnte Erlanger Programmschrift (KLEIN 1872), die sich letztlich als Summe der Vorarbeiten ergab. Erstens. Clebsch befruchtete Arbeiten von Klein und Lie, wozu ihre Arbeit über W-Kurven gehörte. So berichtete Klein begeistert an Lie, dass Clebsch Zusammenhänge mit Abelschen Funktionen gesehen und erkannt habe, dass die vorkommende Differentialgleichung des Complexes integriert werden kann: „Nun machte Clebsch mich aufmerksam, dass, bei der Natur von φ die Integrale gerade solche Abel’sche Integrale sind, bei deren Umkehrproblem man Summen von 3 Integralen braucht. Die Theorie der Complexe zweiten Grades ist also eine Illustration der Theorie der Abel’schen Functionen für p = 3. Ebenso ist die LinienGeometrie überhaupt eine Illustration der Theorie der Abel’schen Functionen für p = 4, die Kummer’sche Fläche für p = 2.“380 Klein ergänzte im damaligen Brief an Lie enthusiastisch: „Ich bin zur Zeit von diesen Ueberlegungen ganz ergriffen; ich glaube, dass eine Verfolgung derselben, zu deren Beginn ich aber zunächst Abel’sche Functionen studiren muß, sehr fruchtbar wird.“381 Lies Ansatz, die von Klein ausgeblendeten räumlichen W-Gebilde näher zu verfolgen, bildete sein maßgebliches Motiv, bereits im Januar 1872 eine Reise zu Klein für den Sommer anzukündigen. Als Lie dann kam, waren beide inzwischen von anderen Themen gefesselt. Das W-Thema wurde von anderen fortgesetzt.382 Zweitens. Klein diskutierte alle seine damaligen Arbeiten in Briefen an Lie und redigierte weiterhin Arbeiten für ihn. Ihr gemeinsames Hauptanliegen bestand 1871 darin, „[…] die Beziehungen zwischen Liniengeometrie und metrischer Geometrie, die in so überraschender Weise hervorgetreten war, nach allen Seiten klar 379 Vgl. die detaillierte Analyse der Akten bei TOLLMIEN 1997. 380 Kursiv = unterstrichen im Original. p ist eine topologische Invariante (die Maximalzahl der nichtzerstückelnden Rückkehrschnitte), die Riemann einführte, um Flächen und deren Abbildbarkeit zu betrachten (vgl. Abschnitt 3.1.3.1); vgl. auch DEHN/HEEGAARD 1907, 200. 381 [Oslo] Brief v. 15.1.1871, Klein an Lie. 382 Vgl. Wiman, A. (1935): „Über die W-Kurven im dreidimensionalen Raume“. Acta Mathematica 64, 243-352.

2.8 Privatdozentenzeit in Göttingen

87

zu stellen und zu verfolgen.“383 Klein erläuterte die Bezüge zwischen seinen Arbeiten und denen von Lie und Darboux in einem Brief an Darboux: Das Problem, dessen Sie Erwaehnung thuen: „déterminer une surface, connaissant une propriété de ses sphères principales“ scheint mir, wenn ich es recht verstehe, identisch zu sein mit dem von Lie in seiner Christiania-Abhandlung behandelten, welches er mit D12 bezeichnet […] Vermoege der Lie’schen Abbildung die Liniengeometrie mit Kugelgeometrie verknuepft ist diese Aufgabe das Gegenbild zu der anderen: Einen Linien-Complex zu integriren. Wenn Dies [sic!] so ist, so entspricht die Behandlung der Faelle, in denen Sie Ihr Problem integrirt haben, genau der Integration des allgemeinen Complexes zweiten Grades. Oder vielmehr, der Behandlung des allgemeinen Complexes entspricht Ihre Integration auf der F4 mit imaginaerem Doppelkreis. Ersetzt man letztere durch eine F2, so erhaelt der entsprechende LinienComplex eine Doppelgerade, was mit sich bringt, dass seine Singularitaetenflaeche nicht mehr eine allgemeine Kummer’sche Flaeche ist, sondern eine Pluecker’sche Complexflaeche geworden ist. – Was meine Behandlung der Integration des allgemeinen Complexes zweiten Grades angeht, so benutzte ich dazu die elliptischen Linien-Coordinaten, die ich in der Note Gött. Nachrichten Nr. 1 auseinandergesetzt habe. Ich stelle die partielle Differentialgleichung fuer Flaechen auf, d.h. fuer diejenigen Complexe deren Linien Flaechen umhuellen. Dieselbe wird ohne Weiteres nach bekannten Methoden mit 3 Constanten integrirbar. Haelt man die zwei ersten fest und laesst die dritte variiren, so hat man ohne Weiteres die einfach unendlich vielen Flaechen, welche „gemeinsame Loesungen“ zweier Complexe aus der Schaar der zu derselben Singularitaetenflaeche gehoerigen Complexe zweiten Grades sind. Die Methode erstreckt sich ohne Weiteres auf beliebig viele Variable; sodann aber auf alle Orthogonalsysteme (Complex-Involutions-Systeme) die dem Linienelement eine aehnliche Gestalt zu geben gestatten. Ich kann uebrigens kaum daran zweifeln, dass Sie ihrerseits fast genau denselben Weg eingeschlagen haben; es ist sehr merkwuerdig, wie Ihre Arbeiten und die von Lie und mir so ueberein kommen. Der Grund dazu ist eigentlich doch nicht so zufaellig; Ihre Untersuchungen ueber metrische Probleme hatten unsere Aufmerksamkeit in hohem Grade gefesselt; da fand Lie den Zusammenhang der liniengeometrischen Probleme mit den metrischen und zog mich mit in diese Untersuchungsrichtung.384

Dies mündete, wie erwähnt, ebenfalls in das Erlanger Programm. Auf dem Wege dahin reichte Klein im November 1871 die Arbeit „Ueber gewisse in der Liniengeometrie auftretende Differentialgleichungen“ bei den Mathematischen Annalen ein. Auch wenn Aurel Voß darin noch eine Ungenauigkeit fand, war sie ein Musterbeispiel dafür, wie Klein einordnete und Verbindungen sah, zu Lies Kugelgeometrie und Darboux’ Arbeiten, zu Kummer, Hermann Schuberts Theorie der Charakteristiken, zur Habilitationsschrift von Pasch, zu Lüroths Theorie windschiefer Flächen sowie zur möglichen Definition der Brennfäche einer Congruenz als einen speziellen Complex. Letztere Idee ist später durch Julius Weingarten auf anderem Wege noch einmal abgeleitet worden, wie Eisso Atzema analysierte.385 Während Klein und Lie die Ergebnisse anderer Autoren in der Regel gebührend erwähnten, ärgerten sie sich darüber, in DARBOUX (1873) ihre relevanten Arbeiten unberücksichtigt zu finden, aber sie estimierten, dass Darboux ihre Ar-

383 Klein am 1.11.1892, abgedruckt in ROWE 1992, 595, vgl. auch ROWE 1989. 384 [Paris] 49-50, Klein an Darboux, Brief v. 27.9.1871. 385 Math. Ann. 5 (1872) 278, KLEIN 1921 GMA I, 138; ATZEMA 1993; 157-58, 171-81.

88

2 Prägende Gruppen

beiten positiv in seinem Bulletin referierte.386 Klein knüpfte wiederholt an Darboux an, animierte den Leipziger Mathematiker Adolph Mayer an Darboux zu schreiben, um seine eigenen Ergebnisse in Paris bekannt zu machen387, und lenkte später Doktorschüler (Staude, Domsch, Bôcher) auf Arbeiten von Darboux. Drittens. Im regelmäßigen Verkehr mit Clebsch gelangte Klein zum Forschungsfeld algebraische Gleichungen. Erstes Resultat war die im Mai 1871 bei den Annalen eingereichte Arbeit „Über eine geometrische Repräsentation der Resolventen algebraischer Gleichungen“.388 Basierend auf Clebsch, auf Galois-Theorie und Jordan fand Klein das von ihm als grundlegend bezeichnete Prinzip, „[…] dass es in der Gleichungstheorie auf die Invariantentheorie solcher Formen ankommt, welche durch bestimmte discontinuirliche Gruppen linearer Substitutionen in sich übergehen.“ In diesem Prinzip sah Klein einen indirekten Anstoß für seine Erlanger Programmschrift und zugleich den ersten Ansatz für seine späteren Arbeiten über transcendente automorphe Functionen.389 Viertens. Wie erwähnt (vgl. 2.5.3), arbeitete Klein mit Otto Stolz zur nichteuklidischen Geometrie. Sie wohnten seit Mai 1871 in Göttingen nicht nur gemeinsam, sondern tranken auch alle Abende ein Glas Bier, wobei es auch mal mehr als ein Glas werden konnte, denn Klein schrieb an Lie, dass er „[…] einen gelinden Kater habe, indem ich gestern Abend einmal wieder zu lange kneipte.“390 Klein konnte feiern, denn es trat das seltene Ereignis ein, dass er mit seiner Thätigkeit recht zufrieden und stolz auf das Geleistete war: Ich kann jetzt beweisen, was ich damals [in Berlin, R. To] nur unbestimmt ahnte, daß die allgemeine Cayley’sche Maßbestimmung zu genau denselben Vorstellungen führt, wie die sog. Nicht-Euklidische Geometrie, welche Gauss, Bolyai, Lobatschefsky unter Nichtzugrundelegung des 11ten Euklidischen Axiom’s construirt haben. Mir scheint dieser Zusammenhang zweier heterogener Dinge um so interessanter, als durch denselben sowohl über den eigentlichen Sinn der Nicht-Euklidischen Geometrie und über die Wichtigkeit der Cayley’schen Untersuchungen ein ganz neues Licht verbreitet wird, – wenn ich mich einmal stolz ausdrücken soll – .391

Es sei noch einmal gesagt: Zum kompliziert formulierten „11. Axiom“ (=5. Postulat) aus Buch I der Elemente des EUKLID existieren äquivalente Aussagen: „Zu einer gegebenen Geraden und einem Punkt, der nicht auf dieser liegt, gibt es genau eine parallele Gerade“ (deshalb Parallelenpostulat); oder „Die Winkelsumme im Dreieck beträgt 180°“. Nach Jahrhunderte langem Bestreben, dieses Postulat/Axiom als Satz zu beweisen, hatten Mathematiker erkannt, dass neue nichteuklidische Geometrien entstehen, wenn das nicht gilt. Der Nachweis der Konsistenz der Theorien fehlte jedoch noch. Dies gelang Klein, wie gesagt (vgl. 386 Vgl. Klein an Lie, 28.6.1873 [Oslo]. – Die zweite Auflage von Darboux’ Buch (1896, p. 227) enthält auch nur einen Verweis auf Kleins erste Arbeit zur nichteuklidischen Geometrie „un Mémoire important de M. Klein (Mathematische Annalen, t. IV)“ 573. 387 Klein an A. Mayer, Brief v. 8.12.1871, publ. in TOBIES/ROWE 1990, 62-63. 388 Math. Ann. 4 (1871) 346-58. 389 [Oslo] II (Aufzeichnungen Kleins vom 1.11.1892) gedruckt in ROWE 1992, Zitat, 599. 390 [Oslo] Klein an Lie, Brief v. 15.5.1871; 31.5.1871; 1.10.1871. 391 Ebd., Klein an Lie, Brief v. 2.7.1871.

2.8 Privatdozentenzeit in Göttingen

89

2.5.3). In einer ersten vorläufigen Mitteilung „Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie“ (Göttinger Nachrichten, August 1871) benannte Klein diese nichteuklidischen Geometrien: „hyperbolische Geometrie“ (unendlich viele Parallelen; Winkelsumme kleiner als 180°; durch Gauß, Lobatschewski und Bolyai unabhängig voneinander entwickelt) und „elliptische Geometrie“ (keine Parallelen; Winkelsumme größer als 180°; Riemann). Für die gewöhnliche euklidische Geometrie benutzte Klein den Begriff „parabolische Geometrie“. Die von Cayley entlehnte Modellvorstellung nutzte er zum Nachweis der Konsistenz. Klein zeigte, wie es möglich ist, mit Hilfe der projektiven Geometrie, ausgehend von Cayleys Ansatz, sich die beiden Arten nichteuklidischer Geometrien vorzustellen: mittels einer Fläche zweiten Grades als sog. Fundamentalfläche. Schönflies formulierte anschaulich: Klein hauchte dem „algebraisch starren Gerüst der Cayleyschen Formentheorie die Beweglichkeit des projektiven Messens“ ein.392 Darboux ließ den Beitrag aus den Göttinger Nachrichten sofort für sein Bulletin übersetzen: „Sur la géométrie dite non euclidienne“ (Bulletin 2 (1871), 34151). Dies besorgte Jules Hoüel, Mitherausgeber des Bulletins. Er brachte zwar kleinere Ungenauigkeiten hinein,393 aber es war Kleins erste übersetzte Arbeit. Hoüel hatte auch die Ergebnisse des italienischen Mathematikers Eugenio Beltrami – den Klein zitierte – in Frankreich bekannt gemacht, wo Liouville gleichfalls das Feld bestellte. 394 Klein arbeitete noch detaillierter aus, Math. Ann. (4 (1871) 574-625). Hierauf bezog sich Wilhelm Killing, als er betonte: „Der wichtige und schöne Satz, dass die Nicht-Euklidischen Raumformen aus der projektiven Geometrie dadurch gewonnen werden können, dass man den Abstand zweier Punkte durch den Logarithmus eines gewissen Doppelverhältnisses ersetzt.“395 Bereits mit dem Thema vertraute Mathematiker nahmen Kleins nichteuklidische Arbeiten positiv auf. So zeigte sich Klein im September 1871 zufrieden, weil Beltrami ihm zustimmend geschrieben und weil Wilhelm Fiedler an Clebsch mitgeteilt hatte, dass er Kleins Ergebnisse in seine neue Auflage von SALMONs Raumgeometrie aufnehmen will. Klein schrieb dazu an Lie: „Es ist nicht schwer, zu sehen, warum so etwas begriffen wird und etwas anderes nicht, weil es nämlich ein vorbereitetes Publicum trifft und selbst nicht zu viel Neues bringt, sondern nur eine Reihe Dinge, die man kannte, übersichtlicher anordnet.“396 Dennoch blieben Angriffe von mathematischer und von philosophischer Seite nicht aus.397 „Baltzer in Giessen bezeichnet mich wegen meiner Arbeit ueber die Nicht-Euklidische Geometrie als den verworfensten und schlechtesten Menschen, 392 SCHOENFLIES 1919, 290 (Vgl. hier detailliert zur Entwicklung der Arbeiten und späteren Ergänzungen durch Klein und andere.) – Vgl. auch GRAY 1985; 2006. 393 [Paris] Klein an Darboux, Brief v. 21.3.1872. 394 Zu Beltramis Arbeiten vgl. Nicola Arcozzi in COEN 2012, 1-30; SCHOLZ 1980, 101-13, 12541. – Betrami hatte eine differentialgeometrische Metrik gefunden, die dasselbe leistete wie Cayleys Metrik in einer Untermannigfaltigkeit der projektiven Ebene. 395 KILLING 1885, 262. 396 [Oslo] Klein an Lie, Brief v. 29.9.1871. – Im Brief v. 24.1.1872 verglich Klein die gute Aufnahme des „Nicht-Euklid“ mit dem Desinteresse an den W-Kurven. 397 Zu philosophischen Angriffen vgl. Abschnitt 2.8.2.3.

90

2 Prägende Gruppen

weil ich Dinge zusammenbringe, die gar nichts mit einander zu thun haben“.398 Auch den ungarischen Mathematiker Julius König musste Klein erst überzeugen, dass seine Theorie nicht verkehrt sei.399 Arthur Cayley, dessen Ergebnisse Klein benutzte, blieb generell skeptisch400, wenn auch Max Noether später urteilte: […] er [Cayley] hat durch seine projective Massbestimmung sogar der Philosophie einen Dienst geleistet: denn da die Zuordnung der Staudt’schen Würfe zu Doppelverhältnissen, wie F. Klein betonte, von unserer Metrik unabhängig ist, so ergiebt sich die endgültige Unterordnung des Metrischen unter das Projective, die Identität jener Massbestimmung mit der der allgemeinen hypereuklidischen Geometrie im Raume constanter Krümmung (was schon bei Beltrami, aber nur implicit, enthalten ist), und somit eine neue anschauliche Versinnlichung des vom Parallelenaxiom unabhängigen Raumbegriffe.401

Britische Mathematiker wie Andrew R. Forsyth und William Kingdon Clifford schätzten Kleins Ergebnisse früh. Clifford erweiterte für den elliptischen Fall (nicht-euklidische Geometrie realisierbar auf der Sphäre), der im gewöhnlichen Falle keine Parallelen hat (die Parallelen sind Großkreise und schneiden sich alle), die Definition der Parallelen. Diese Erweiterung bedingte, dass durch einen Raumpunkt zu einer gegebenen Geraden wieder zwei „Parallele“ konstruiert werden können, die aber zu den gegebenen Geraden windschief sind. Dies brachte weitere Ergebnisse im Gebiet, die Frederigo Enriques einordnete.402 Es blieb jedoch noch immer viel Überzeugungsarbeit, um allgemein die Erkenntnis durchzusetzen, dass das euklidische „Parallelenpostulat“ von den anderen Postulaten unabhängig ist, und dass notwendig eine andere, nichteuklidische Geometrie entsteht, wenn es nicht gilt.403 Klein sah sich aufgrund noch vorhandener skeptischer Stimmen veranlasst, weiter am Thema zu feilen und eine grosse Philosophische Arbeit zu schreiben, was in den (dritten) Aufsatz „Ueber die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie“ mündete, datiert auf den 8. Juni 1872.404 Klein betonte den Nutzen derartiger Untersuchungen: einerseits in mathematischer Richtung mit dem Auftreten des neuen Begriffs „einer beliebig ausgedehnten Mannigfaltigkeit von constantem Krümmungsmasse“, und in physikalischer Richtung zitierte er ganz prophetisch Riemann: „[…] dass die Umarbeitung der überkommenen räumlich-mechanischen Vorstellungen nicht durch die Beschränktheit der Begriffe gehindert und der Fortschritt im Erkennen des Zusammenhanges der Dinge nicht durch überlieferte Vorurtheile gehemmt wird.“405 398 [Oslo] Klein an Lie, Brief v. 16.4.1872. 399 Ebd., Brief v. 18.5.1872. – Vgl. auch König, J.: „Ueber eine reale Abbildung der s. g. NichtEuclidischen Geometrie“. Göttinger Nachrichten 1872, Nr. 9 (20.3.1872) 157-64. 400 Vgl. hierzu auch die Analyse in JI/PAPADOPOULOS 2015, 91-136. 401 Noether, Max (1895): “Arthur Cayley”. Math. Ann. 46, 479. 402 Enriques, F. (1907): Prinzipien der Geometrie. ENCYKLOÄDIE, Bd. III.1.1, S. 90, 112-17; KLEIN/ROSENOW 1928; zur modernen Einordnung H. Samelson in JAMES 1999, 575-78. 403 Vgl. dazu auch SCHOENFLIES 1919, 289. 404 Am 5.6. und 8.6.1872 hatte er diese Arbeit in zwei Teilen nochmal an Lie geschickt [Oslo]. 405 Die am 8. Juni 1872 eingereichte Arbeit erschien wegen eines Setzer-Streiks erst in Math. Ann. (1873) 112-45, Zitat 114 (GMA I, 311-43). – Zu Kleins methodischer Position hinsichtlich der Grundlagen der Geometrie vgl. auch SCHOLZ 1980, 129-31.

2.8 Privatdozentenzeit in Göttingen

91

Schoenflies bezeichnete es als eines der Hauptverdienste Kleins, dass er die nichteuklidische Geometrie von jedem metaphysischen Beiwerk befreite und sie zu einem der reizvollsten und anwendungsreichsten Wissensgebiete erhob.406 Zugleich sah Schönflies Klein hierbei als einen „durchaus bewußten Vorgänger der allgemeinen axiomatisch-geometrischen Untersuchungsrichtung […], die ungefähr 10 Jahre später in voller Ausdehnung einsetzte; zuerst bei Pasch und dann später von Hilbert vervollkommnet […]“ wurde.407 Kleins dritte Arbeit zur nichteuklidischen Geometrie enthielt schon maßgebliche Aspekte des späteren Erlanger Programms: das Behandeln von Transformationsgruppen; den Hinweis darauf, dass die Definition aus der analogen Begriffsbildung der Substitutionstheorie genommen wurde; das Beispiel der Bewegungsgruppen, aufgestellt von Jordan; den Begriff der Hauptgruppe408 (mit der Eigenschaft der Unveränderlichkeit/Invarianz geometrischer Eigenschaften); die Erkenntnis, dass mit einer umfangreicheren Gruppe die Zahl der invarianten Eigenschaften geringer wird. Wie Erhard Scholz unterstrich, verallgemeinerte Klein hier die Art der Eingliederung der metrischen Geometrie in die projektive so, dass auch andere geometrische Teildisziplinen eingeordnet werden konnten, indem eine Mannigfaltigkeit vorgegeben wurde und eine Transformationsgruppe auf ihr: „Entsprechend dem Gewicht, das die projektive Geometrie für Klein besitzt, gibt er als Grundbestimmung einer Mannigfaltigkeit nichts anderes als eine große Umschreibung für den n-dimensionalen projektiven Raum […].“409 Diese Erkenntnisse waren gewonnen, bevor Lie Anfang September 1872 nach Göttingen kam. Fünftens. Im Erlanger Programm (Vergleichende Betrachtungen über neuere geometrische Forschungen, Oktober 1872) kulminierten somit zahlreiche vorangegangene Ansätze. Als Start für das Niederschreiben kann Kleins Vision vom 20. November 1871 gelten, […] einen Aufsatz von sehr allgemeinem Inhalte zu schreiben; Ueber die neueren geometrischen Methoden, in welchen ich zeigen möchte, wie jede Methode (oder wenigstens fast jede) sich unter die allgemeine Forderung subsumirt: Die Eigenschaften der geometrischen Dinge zu entwickeln, welche bei einem gegebenen Transformations-Cyclus erhalten bleiben.410

Dies stimmt mit dem überein, was Klein am 25. Oktober 1924 an Friedrich Engel schrieb, wobei er zugleich historisch einordnete: Der Grundgedanke meines Erlanger Programms ist im November 1871 entstanden, als ich mich mühte, Hamilton und Grassmann unter einen Gesichtspunkt zu bringen. Ich habe aber in Band III meiner Abhandlungen bereits hervorgehoben, dass die Gesamtarbeit von Moebius von demselben Gedanken, der nur nicht explizit formuliert wird, getragen ist.411

Klein und Lie sprachen in ihren Arbeiten zunächst von „Systemen“, „Scharen“ oder „Zyklus“ von Transformationen. Im Dezember 1871 tauchte der Gruppen406 407 408 409 410 411

SCHOENFLIES 1919, 289. Vgl. auch KLEIN 1928a; VOLKERT 2013. SCHOENFLIES 1919, 289. – Vgl. auch SCHREIBER/SCRIBA 2001, 400-403. Modern wird der Begriff Automorphismengruppe benutzt. SCHOLZ 1980, 131. [Oslo] Klein an Lie, Brief v. 20.11.1871. Klein an F. Engel, in Mitt. aus dem Math. Seminar d. Univ. Gießen 35 (1945) 22-24.

92

2 Prägende Gruppen

begriff in der Korrespondenz auf. Klein schrieb am 25. Dezember 1871 erneut von seiner Aufsatz-Idee mit „einer Uebersicht über die vorhandenen geometrischen Methoden“, die er geben will, „indem ich sie in Gruppen fasse, je nach dem Cyclus von Transformationen, den sie in’s Auge fassen.“412 Dies bestätigt seine spätere Erklärung, dass er im Dezember 1871 zur Ansicht gelangt sei, dass es für das Studium einer Mannigfaltigkeit so viele verschiedene Behandlungsweisen gibt, als man, innerhalb der Mannigfaltigkeit, continuirliche Gruppen irgendwelcher Transformationen construiren kann, und dass die Euklidische und die Nichteuklidischen Maassbestimmungen ebenso gewiß in die projective Behandlungsweise eingeschlossen sind, als ihre „Gruppen“ bei geeigneter Coordinatenwahl in der Gesamtgruppe der projectiven Umformungen enthalten sind.413

Wie E. SCHOLZ analysierte, verwandte Klein zunächst ein eingeschränktes Mannigfaltigkeitskonzept, das „aus der Einheit eines projektiven Raumes (reell oder komplex) mit einer Transformationsgruppe“ bestand. Klein erweiterte dies erst in Arbeiten ab ca. 1874.414 Sein Gruppenbegriff war anschaulich, geometrisch: Beliebig viele Transformationen eines Raumes ergeben zusammengesetzt immer wieder eine Transformation. Hat nun eine gegebene Reihe von Transformationen die Eigenschaft, daß jede Änderung, die aus den ihr angehörigen durch Zusammensetzung hervorgeht, ihr selbst wieder angehört, so soll die Reihe eine Transformationsgruppe genannt werden.415

Klein hatte Grassmanns Ansatz begeistert aufgegriffen, Hamilton zu lesen begonnen, Hankels Theorie der komplexen Zahlen sowie Chasles’ Rapport sur les progrès de la Géometrie en France (1870) studiert und darüber auch referiert, wie er Lie informierte. Kleins schottischer Studienfreund W. R. Smith erwies sich hierbei erneut als hilfreicher Katalysator, indem er Klein über Diskussionen vom Kreis um Tait in Edinburgh berichtete.416 Klein führte seine Erkenntnis, dass sein gesuchtes allgemeines Princip, um möglichst alle verschiedenen geometrischen Richtungen zu ordnen, im Gruppenbegriff liegt, vor allem zurück auf – seine eigenen nichteuklidischen Betrachtungen, – auf die Anregungen, die er durch Sophus Lies Arbeiten erhielt, – und wesentlich auf Hamiltons Quaternionentheorie (1843, eine Invariantentheorie der Bewegungen des euklidischen Raumes enthaltend) sowie Grassmanns Ausdehnungslehre (1844, 1865, worin erstmals eine Geometrie mehrdimensionaler Räume begründet wurde).417

412 413 414 415

[Oslo] Klein an Lie, Brief v. 25.12.1871. [Oslo] II (Aufzeichnungen Kleins v. 1.11.1892) gedruckt in ROWE 1992, 601. SCHOLZ 1980, 132-36, Zitat 132; 170-74. KLEIN 1872, 5; KLEIN 1921 GMA I, 462. Zur Diskussion des Gruppen-, Halbgruppenverständnisses aus moderner Sicht, mit Blick auf Klein und Lie vgl. HOFMANN 1992. 416 Vgl. ausführlicher zu Kleins Verhältnis zu W.R. Smith in Abschnitt 3.3. 417 Im Erlanger Programm wird Grassmann häufig zitiert, KLEIN 1872, 25, 32, 36, 39, 43. – Ein Sohn Hermann G. Grassmanns war am 3.5.1870 ins Kgl. Seminar in Göttingen eingetreten ([UAG] Math.Nat 0012, o. Bl.) und hatte die Ausdehnungslehre seines Vaters als Geschenk mitgebracht. Vgl. PETSCHE 2006; SCHUBRING 1996; SCHLEGEL 1878, 64. – KLEIN erläuterte Grassmanns Begriffe in Elementarmathematik II, 1925, 21-42.

2.8 Privatdozentenzeit in Göttingen

93

Klein sandte am 1. und am 5. Januar 1872 einen Entwurf zum angestrebten allgemeinen Aufsatz an Sophus Lie. Nach dessen Antwort betonte Klein die Schwierigkeit der Arbeit und ihr Verdienst liege in gewissem Sinne ueberhaupt in der Darstellung. Er meinte, es bis zum Sommer liegen lassen zu wollen,418 womit dies dann die Basis für das Erlanger Programm (vgl. 3.1.1) bildete. Sechstens. Zwischenzeitlich widmete sich Klein einem weiteren Forschungsfeld: der Klassifikation von Flächen dritter Ordnung. Darin spiegelt sich sein Interesse an konkreten Modellen, die ihn zu neuen Ideen inspirierten (vgl. dazu 2.4.3). Zugleich orientierte sich Klein an Clebsch, der algebraische Repräsentationen der Flächen dritter Ordnung mit ihrer Darstellung verband, wobei die nach Clebsch benannte Diagonalfläche mit 27 reellen Geraden als markantes Beispiel diente.419

Abb. 11: Diagonalfläche von Clebsch

Wie erwähnt (vgl. 1.1), wurde ein großes Keramik-Modell dieser Diagonalfläche anlässlich Kleins 150. Geburtstages 1999 im Innenhof der Universität in Düsseldorf aufgestellt. Klein hatte diese Fläche benutzt, um Raumgebilde höherer Ord418 [Oslo] Klein an Lie, Brief v. 16.2.1872. 419 Vgl. LÊ 2013; auch TOBIES 2017.

94

2 Prägende Gruppen

nung anschaulich zu erfassen. In künftigen Phasen seines Forscherlebens sollte er darauf zurückkommen. So behandelte er das Problem der 27 reellen Geraden auf einer Fläche dritter Ordnung später gruppentheoretisch (vgl. 6.3.1). Noch bei der Herausgabe seiner Gesammelten Abhandlungen sollte er mit Hilfe eines Assistenten Beweise verbessern und einen Zusatz „Über die durch die 27 reellen Geraden vermittelte Zerlegung der Clebschen Diagonalfläche“ anfügen.420 Im zugehörigen Aufsatz von 1873 hatte Klein alle Flächen dritter Ordnung zu klassifizieren versucht.421 Die Klassifikationsidee war bereits 1871/72 in Zusammenarbeit mit Clebsch und jüngeren Mathematikern in Göttingen entstanden. So betreute Klein 1871 seinen ersten Doktoranden in diesem Gebiet: Joseph Diekmann. Dieser vollendete am 9. Juni 1871 seine Dissertation „Ueber die Modificationen, welche die ebene Abbildung einer Fläche 3ter Ordnung durch Auftreten von Singularitäten erhält“ (Math. Ann. 4 (1871) 442-75). Diekmann hatte, empfohlen durch Klein, die bei Ludwig Schläfli (1863)422 aufgetretenen Arten von Knotenpunkten bei Flächen dritter Ordnung analysiert und „eine geometrische Interpretation der an die Grassmann’sche Erzeugnisweise angeknüpfte Abbildung“ benutzt. Ordinarius Clebsch begutachtete die Dissertation offiziell. Diekmann dankte, neben Clebsch und Stern, auch dem Privatdozenten Klein in seiner Vita.423 Klein sandte Diekmanns Arbeit an Sophus Lie und erläuerte dazu: „Ich habe dem Verfasser sehr viel geholfen, leider bin ich aber nicht weit mit ihm gekommen, da er kein sehr klarer Mensch ist.“424 Diekmann wurde ein anerkannter Lehrer und Schulbuchautor.425 Klein drang mit und nach Diekmanns Dissertation weiter in die Literatur ein. Seine Briefe an Darboux, Lie, Max Noether und Otto Stolz zeugen von den sich entwickelnden Ergebnissen und der Begeisterung am Thema. So lesen wir zuerst in einem Brief vom 3. Februar 1872 an Darboux, dass er sich „[…] ein Modell einer Flaeche dritter Ordnung […] ueberlegt [habe], welches die 27 Geraden in uebersichtlicher Gruppirung zeigt“. So erklärte er Lie sechs Tage später, dass er bis zur nächsten Akademiesitzung „ein Modell einer allgemeinen F3 hergestellt haben“ wolle. So informierte er Lie und Max Noether gleichzeitig am 13. März „Ueber die Grundgestalten der Flaechen dritter Ordnung. Ich kann naemlich alle solche Flaechen gestaltlich bestimmen“.426 Klein fand, ausgehend von Schläfli, fünf Typen von Flächen dritter Ordnung, die er in Briefen an Darboux vom 21. März 1872 und an Stolz vom 30. März erklärte, sich vergnügt gebend, dass er wieder einmal Verbindungen zwischen verschiedenen Gebieten aufzeigen konnte:

420 KLEIN 1922 GMA II, 56-62. – Kleins Assistent Vermeil erklärte die Ergänzungen in einem Vortrag auf der DMV-Jahresversammlung 1922 in Leipzig. Jahresbericht DMV 31 (1922) 103-104. 421 Klein, F.: „Ueber Flächen dritter Ordnung“. Math. Ann. 6 (1873) 551-81. 422 Zu entsprechenden Arbeiten von Schläfli vgl. auch Ruth KELLERHALS 2010, 169-70. 423 [UAG] Prom. Phil. Fak. 156: 395-99; Prom.-Datum: 15.11.1871. 424 [Oslo] Klein an Lie, Brief v. 29.7.1871. – KLEIN 1923 GMA III, Anhang 11. 425 Vgl. LOREY 1916, 84. 426 Zitate aus Kleins Briefen in [Paris] und [Oslo]; vgl. auch VOSS 1919, 285.

2.8 Privatdozentenzeit in Göttingen

95

[…] Ich habe mich in der letzten Zeit mit einer ganz neuen Arbeit beschäftigt, die ich glaube erledigen zu können. Es gilt die Gestalten der F3 zu entwickeln. Ich komme, je nach der Realität der Geraden, wie Schläfli, auf 5 Typen; aber ich zeige, daß diese 5 Typen auch durch ihren Zusammenhang im Riemann‘schen Sinne definirt werden können, die Flächen sind bez. 4 fach, 3, 2, 1, 0 fach zusammenhängend. Das wäre also eine Verbindung der Algebra und der Analysis Situs, die mir sehr viel Vergnügen macht. Besonders freue ich mich auch darüber, daß ich nachweisen kann, wie hiermit alle gestaltlichen Möglichkeiten der F3 erschöpft sind. Ich will das ausarbeiten.427

Das Thema war Gegenstand des gemeinsamen Seminars von Clebsch und Klein über „verschiedene, hauptsächlich geometrische Gegenstände“, das sie dienstags vom 7. Mai bis Ende Juli 1872 durchführten. 13 Personen hielten zwanzig Vorträge über neueste Arbeiten italienischer, französischer, norwegischer, Schweizer und deutscher Autoren: Abel, Chasles, Clebsch, Cremona, Dedekind, Eckardt, Frobenius, Hesse, Carl Neumann, Puiseux, Schläfli u.a. Im Zentrum standen die Flächen dritter Ordnung und neuere Arbeiten zur Algebra.428 Hervorgehoben sei, dass mit Adolf Weiler und Wilhelm Bretschneider zwei spätere Doktorschüler Kleins beteiligt waren (vgl. Abschnitt 3.1.2); dass der schon genannte Carl Rodenberg teilnahm, der im Winter 1871-72 und im Sommer 1872 Kleins Vorlesungen besuchte und mit einer noch durch Clebsch angeregten Arbeit erst 1874 promovieren sollte; er wurde später durch eine Serie von 26 mathematischen GipsModellen bekannt429; dass Kleins Freund aus Bonner Zeit Friedrich Neesen am 25. Juni 1872 im Seminar „ein von ihm nach Angabe des Dr. Klein verfertigtes Modell einer Fläche 3ter Ordnung mit 4 Knotenpunkten vor[stellte]“.430 Am 3. August 1872 präsentierten Clebsch und Klein drei aus dem Seminar hervorgegangene mathematische Modelle in der Kgl. Gesellschaft der Wissenschaften: Clebsch zwei von Weiler gebaute, darunter die Diagonalfläche mit 27 reellen Geraden, und Klein das durch Neesen gefertigte Modell. Klein beschrieb bereits hier die Tragweite seines Verfahrens, mit dem Modell weitere Gestalten kubischer Flächen durch kontinuierliche Änderungen gewinnen zu können: Da eine Fläche mit 4 Knoten keine absolute Invariante hat, so lassen sich aus der vorliegenden alle anderen mit 4 reellen Knoten durch reelle Collineation ableiten. Hinsichtlich des Verhaltens im Unendlichen muss man dabei fünf Haupttypen unterscheiden. Deformirt man eine solche Fläche im Endlichen durch stetige Processe, wobei die in einem Knotenpuncte an einander stossenden Theile sich entweder vereinigen oder sich vollends trennen können, so erhält man schematisch die Gestalten anderer Flächen dritten Grades. Man beweist, dass man alle Flächen dritten Grades auf diese Weise erzeugen kann, so dass man auf diesem Wege eine vollständige Uebersicht der bei Flächen dritten Grades überhaupt möglichen Gestalten erhält.431

427 428 429 430 431

[Innsbruck]; dieser Briefauszug ist auch abgedruckt in BINDER 1989, 5. [Protokolle] Bd. 1, 1-28. Vgl. MEYER 1928, 1505. – Zu Kleins Hörern vgl. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 7 E. [Protokolle] Bd. 1, 15-16. Clebsch, A.; Klein, F. (1872): „Über Modelle von Flächen dritter Ordnung“. Göttinger Nachrichten Nr. 20, 402-404, Zitat 404.

96

2 Prägende Gruppen

Abb. 12: Fläche dritter Ordnung mit vier reellen Knotenpunkten

Da Klein wegen des Rufs auf die Erlanger Professur und aufgrund von Clebschs frühem Tod andere Prioritäten setzen musste, kam er erst später dazu, diesen Beitrag zur Klassifikation der Flächen dritter Ordnung detailliert auszuarbeiten. Am 5. Mai 1873 reichte er eine Kurzfassung (6 Seiten) bei den Sitzungsberichten der Physikalisch-Medizinischen Sozietät zu Erlangen und am 6. Juni 1873 eine längere Version bei den Mathematischen Annalen ein. Dafür hatte Adolf Weiler auf Kleins Wunsch ein Gipsmodell und eine Zeichnung für eine Fläche dritter Ordnung mit vier reellen Knotenpunkten neu gestaltet (Abb. 12). Obgleich Klein als Privatdozent ein reiches Feld bestellte, drückte er wiederholt Unzufriedenheit mit sich selbst aus, nicht genügend voranzukommen, „augenblicklich sitze ich fest; weil ich ziemlich verlernt habe in Detailfragen zu arbeiten.“ Er erhoffte neue Anregung durch Lie: „Dein Hierherkommen ist fuer mich wissenschaftliche Lebensfrage.“432 Sophus Lie kam am 8. September 1872 und blieb zwei Monate. In dieser Zeit wurde nicht nur das Erlanger Programm fertig, sondern Klein half auch bei der Redaktion von Lies aktueller Arbeit, eine zweite Note über die partiellen Differentialgleichungen erster Ordnung. 432 [Oslo] Brief v. 18.7.1872, Klein an Lie.

2.8 Privatdozentenzeit in Göttingen

97

2.8.3 Diskussionskreise Klein, der in Berlin ein eher distanziertes Verhältnis zwischen Professor und Student erlebt hatte, erfuhr als Privatdozent unter Clebsch in Göttingen eine ganz andere Art des Eingebundenseins. Neben den Lehrveranstaltungen trafen sie sich im kleinen Kreis, um Forschungsfragen zu diskutieren. Klein gliederte sich außerdem in weitere Gruppen und Vereine: Studentenverein, Kreis der Göttinger Privatdozenten, überregionale Kontakte. Im Folgenden sollen einige Merkmale von Kleins Rolle in den verschiedenen Gemeinschaften gezeichnet werden. 2.8.3.1 Verein zu Dritt mit Clebsch und Riecke Klein verkehrte früh bei Alfred Clebsch zu Hause, der seit 1867 in zweiter Ehe mit Minna Rays, Tochter eines Landrichters, verheiratet war. Sie diskutierten Kleins und Sophus Lies Manuskripte, die Clebsch zur Publikation aufnehmen wollte.433 Anfang April 1871 gaben sie den Treffen einen regulären Vereins-Charakter mit drei Beteiligten, wie Klein Lie wissen ließ: Clebsch, ein Physiker Riecke hierselbst und ich, haben neuerdings einen Verein gestiftet, bestehend aus uns dreien. Wir kommen wöchentlich einmal zusammen und referiren einander über Dinge, die gerade dem einzelnen nahe liegen. Das nächste Mal werde ich über Deine Imaginärtheorie sprechen und im Anschluß daran über unsere gemeinschaftlichen weiteren Arbeiten.434

In diesem Kreis muss Clebsch zunächst als Oberhaupt betrachtet werden, der ein gleichberechtigtes Zusammenwirken walten ließ. Klein berichtete im November 1871 an Julius Plückers Witwe begeistert über den regelmäßigen Austausch mit Clebsch: „Mir geht es hier im allgemeinen sehr gut; namentlich ist mir der stete Wechselverkehr mit Clebsch sehr wertvoll und mein eigentliches Lebenselement.“435 Clebsch entwickelte während Kleins Privatdozentenzeit seine bereits erwähnte, „[…] fuer ebene Geometrie fundamentale Arbeit, er untersucht allgemein diejenigen Zusammenhaenge, – er nennt sie Connexe –, welche durch eine Gleichung dargestellt werden, die eine Reihe Punct-Coordinaten wie eine Reihe Linien-Coordinaten jede homogen enthaelt.“436 Mit dem Begriff Connex wurden Fortschritte in der Theorie der Differentialgleichungen erreicht.437 Klein sollte den Begriff im Erlanger Programm verwenden, um die Gruppe der Berührungstransformationen einheitlich zu charakterisieren.438 433 434 435 436

Vgl. [Oslo] Briefe Kleins an Lie v. 4.2.1871; 11.3.1871; 29.5.1872, u.a. [Oslo] Klein am 7.4.1871 an Lie. [Canada] Klein an Antonie Plücker, Brief v. 10.11.1871. [Oslo] Klein an Lie, Brief v. 29.6.1872. – Clebsch, A.: „Ueber ein neues Grundgebilde der analytischen Geometrie der Ebene“. Göttinger Nachrichten (18.9.1872) Nr. 22, 429-49. 437 Zur detaillierten Einordnung des Begriffs Connex (Konnex) vgl. Müller, E. (1910): „Die verschiedenen Koordinatensysteme“. ENCYKLOPÄDIE Bd. III 1.1, 755-56; CLEBSCH 1874, 50; KLEIN 1926a, 125; vgl. auch Abschnitt 2.4.1 dieses Buches. 438 KLEIN 1872, 36; KLEIN 1921 GMA I, 486.

98

2 Prägende Gruppen

Dass Eduard Riecke (Abb. 13) ebenso wie Klein mit Clebsch verbunden war und von diesem profitierte, war bisher kaum bekannt. Klein und Riecke waren sich in Clebschs Vorlesung bereits 1869 begegnet und schwangen auf gemeinsamer Wellenlänge (vgl. Anhang Nr. 12). Weil Riecke später treibender Motor werden sollte, um Klein als Professor nach Göttingen zurückzuholen (vgl. 5.8.2), wird er hier näher vorgestellt.

Abb. 13: Eduard Riecke

Als Sohn eines Arztes in Stuttgart geboren, hatte Riecke am dortigen Polytechnikum und an der Universität Tübingen Mathematik und Physik studiert, 1869 das Lehramtsexamen absolviert und in Göttingen unter Friedrich Kohlrausch, Wilhelm Weber und Clebsch fortgesetzt. Am 30. April 1871 reichte Riecke das Promotionsgesuch mit der Dissertation Ueber die magnetische Natur des weichen Eisens439 ein. Kurz darauf fand bereits das Habilitationsverfahren statt, dass Clebsch wegen Erkrankung Webers leitete. Clebsch schrieb am 18. Juni 1871 in die Akte, dass „[…] das über das gewöhnliche Maß hinausgehende mathematische Niveau sich schon bei der Dissertation gezeigt habe.“ Über Rieckes Habilitationsschrift Über eine Art allgemeiner Kugelfunctionen urteilte er: es handele sich um „[…] eine Klasse von Functionen, auf welche man bei Untersuchungen aus der Theorie der electrischen Ströme und des Magnetismus häufig geführt wird […]“.440 439 Göttinger Nachrichten 1871, 620. 440 [UAG] Phil. Dek. 156, 1870/1871, Bl. 307-309, 529-35.

2.8 Privatdozentenzeit in Göttingen

99

Riecke erwarb die venia legendi für Mathematik und Physik, war Assistent am physikalischen Cabinet und blieb zunächst beim Thema Magnetismus, wozu 1872 drei Arbeiten in den Göttinger Nachrichten erschienen. Darunter befand sich eine kritische Beleuchtung von Helmholtz’ Gesetz „electrodynamischer Wechselwirkungen“, wozu ihn Wilhelm Weber veranlasst hatte.441 Riecke erhielt am 14. März 1873 eine a.o. Professur und 1881 als Webers Nachfolger die o. Professur für Experimentalphysik442, die er bis zum Tode bekleidete. Rieckes mathematische Theorie des Magnetismus und der Elektrodynamik gehörte zum Diskussionsgegenstand des Dreiergremiums. Klein integrierte das Thema in seine theoretisch-physikalischen Vorlesungen. Riecke las erst ab Sommer 1872 selbst darüber,443 als sich Klein auf Geometrie konzentrieren durfte. 2.8.3.2 Der mathematisch-naturwissenschaftliche Studentenverein Felix Klein hatte dem Göttinger Studentenverein bereits 1869 angehört und den Zusammenhalt der Mitglieder gefördert. Auch als Privatdozent bereicherte er fast regelmäßig und oft gemeinsam mit Riecke die wöchentlichen Vereins-Sitzungen.444 Zu den sich im Verein engagierten Studenten, die damals eine zeitlang den Vorsitz führten (Diekmann, Neesen, Lindemann), ergab sich ein besonders enges Verhältnis. Der Vorstand unter dem Vorsitz von Joseph Diekmann – der gerade die von Klein betreute Dissertation eingereicht hatte (vgl. Abschnitt 2.8.2) – verlieh Klein am 16. Juni 1871 den Titel Ehrenmitglied und betonte, dass der Verein „[…] seine jetzige Blüthe zum sehr großen Theile Ihnen verdankt.“445 Der schon mehrfach erwähnte Friedrich Neesen übernahm nach Diekmann den Vorsitz. Neesen hatte seit Herbst 1867 noch unter Plücker Mathematik und Physik studiert, gemeinsam mit Klein den Bonner Studentenverein mit ins Leben gerufen. Wie Klein hatte er sein Promotionsverfahren bei Rudolf Lipschitz abgeschlossen. Danach wechselte Neesen zu Klein nach Göttingen, beteiligte sich am Forschungsseminar von Klein und Clebsch, baute ein Modell für Klein. Klein hatte Neesen bereits vorm Paris-Aufenthalt mehrfach in Cleve besucht446, wo dessen Elternhaus stand und sein Vater eine Gasfabrik besaß. Ausdruck ihrer lebenslangen Freundschaft ist u.a., dass Neesen und Tochter bei Kleins Silberhochzeit die einzigen außerfamiliären Gäste sein sollten (vgl. 3.6.3). Neessen hatte sich in seiner Dissertation Ueber die Abbildung von leuchtenden Objekten in einem nicht centrirten Linsensystem (verteidigt am 4.12.1871)447 mit optischer Strahlenberechnung befasst. Während sich die Vorgänger (Euler, 441 442 443 444 445 446

Göttinger Nachrichten 1872, Nr. 20 (14.8.1872) 394-402. Göttinger Nachrichten 1875, 279, 285. – Vgl. auch NBD, Bd. 21 (2003) 562-63. Göttinger Nachrichten 1872, 118. [Lindemann] Lebenserinnerungen, 45. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 114, Nr. 1. [Oslo] Klein an Lie, Briefe v. 29.3.1870; 13.4.1870; 29.9.1871. – Cleve gehörte zum Regierungsbezirk Düsseldorf, wo Kleins Eltern wohnten. 447 Bonn: Druck von Carl Georgi, 1871; Vita 32.

100

2 Prägende Gruppen

Lagrange, Gauß, Möbius…) auf zentrierte Linsensysteme beschränkt hatten, untersuchte Neesen, welchen Einfluss ein nichtzentriertes System auf die Lage der Bilder besitzt. Zugleich dehnte er den Gebrauch der kollinearen Verwandtschaft zwischen Bild und Objekt aus, anknüpfend an Arbeiten von Gauß und Möbius. Kleins Arbeiten besaßen Bezugspunkte zu optischen Theman. Dazu gehörten schon die von Plücker ausgehenden liniengeometrische Forschungen. Bei der Vorbereitung seiner Vorlesung zur theoretischen Optik im Sommer 1871 (vgl. Tab. 3) hatte sich Klein u.a. auf Neesens Ergebnisse gestützt.448 In seiner Erlanger Antrittsrede vom 7. Dezember 1872 sollte er die „sogenannte geometrische Optik“ besonders herausstreichen: „Von der Vorstellung eines Lichtstrahles und von den beobachteten Gesetzen der Reflection und Brechung ausgehend entwickelt dieselbe die Theorie beliebig gekruemmter Spiegel oder beliebig gestalteter Linsen.“449 Später, als Klein die Zeitschrift für Mathematik und Physik als Organ für angewandte Mathematik (1901) fördern wollte, lieferte er zwei optisch-geometrische Beiträge, die er auch an die Optische Firma Carl Zeiss in Jena sandte.450 Neesen und Klein teilten ebenfalls die Ansichten über das Verwenden neuerer Methoden der Geometrie im Gymnasialunterricht, was ähnlich formulierte Dissertations-Thesen dokumentieren.451 Nach seiner Habilitation für Physik (Herbst 1872) wurde Friedrich Neesen Assistent am physikalischen Cabinet in Göttingen und leitete gemeinsam mit Eduard Riecke die Praktischen Übungen im Physikalischen Laboratorium. Im Herbst 1873 wechselte Neesen nach Berlin, lehrte an der Militärakademie sowie als Privatdozent und a.o. Professor an der Universität.452 Neesen war (wie Klein) Mitglied der Physikalischen Gesellschaft zu Berlin. Ferdinand Lindemann leitete den Göttinger mathematisch-naturwissenschaftlichen Verein, nachdem sich Neesen habilitiert hatte.453 Lindemann, der mit dem ersten Beweis der Transzendenz von π (1882) in die Geschichte eingehen sollte, hatte seit 1870/71 in Göttingen studiert und war am Semesterende 1871/72 dem Verein beigetreten. Der Verein pflegte den Brauch, am Ende der Sitzungen offene Probleme aus einem Fragekasten zu besprechen, die wiederholt geometrische Aufgaben betrafen. Klein bemerkte, dass Lindemann diese leicht zu lösen vermochte und war zufällig anwesend, als dieser in einer Vereinssitzung über Kleins gerade erschienene Aufsätze zur nichteuklidischen Geometrie vortrug. Lindemann berichtete: „Einige Tage darauf bekam ich einen Brief von Klein, in dem er mich bat, ihn einmal zu besuchen. Dort schlug er mir sofort ein Thema für eine 448 Vgl. hierzu LOREY 1916, 191. 449 Klein in JACOBS 1977, Antrittsrede, 9. 450 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 8: 492 (Czapski an Klein, 20.9.1901); KLEIN 1922 GMA II, 603-12 (Über das Brunsche Eikonal; Räumliche Kollineationen bei optischen Instrumenten). 451 Neesen: „Die Anzahl der mathematischen Stunden im Gymnasialkursus genügt, um die Schüler neben der Euklidischen Geometrie in die Grundlagen der neueren Geometrie einzuführen und es wäre sehr zu wünschen, dass dies geschähe.“ (Bonn: Carl Georgi, 1871, 33). 452 Göttinger Nachrichten 1873, Nr. 5, 141; 1875, 276. – Neesens Vorlesung Geometrische Optik an der Universität Berlin besuchte im SS 1889 z.B. Moritz von Rohr, der ein bedeutender „rechnender Optiker“ bei Zeiss werden sollte, vgl. TOBIES 2017b, 122. 453 [Lindemann] Lebenserinnerungen, 46.

2.8 Privatdozentenzeit in Göttingen

101

Doktordissertation vor, nämlich die Mechanik in der nicht-euklidischen Geometrie.“454 Lindemann begann umgehend mit dem Literaturstudium, wozu er, veranlasst durch Klein, auch die folgende Semesterpause nutzte. Ergebnis war die Dissertationsschrift „Ueber unendlich kleine Bewegungen und über Kraftsysteme bei allgemeiner projectivischer Massbestimmung“ (Erlangen 1873).455 2.8.3.3 Wissenschaftliches Kränzchen: Eskimo Aus den Lebenserinnerungen des Philosophen Carl Stumpf erfahren wir, dass Felix Klein beim Gremium Eskimo ebenfalls der treibende Motor war: Klein, in dem der Organisationstrieb schon damals lebendig war, gründete mit mir den „Eskimo“, eine Vereinigung junger Naturforscher zu Vorträgen und freundschaftlichem Verkehr, worin ich die philosophische Seite zu vertreten hatte. Professoren waren ausgeschlossen. Der Klub besteht meines Wissens unter gemilderten Bestimmungen heute noch.456

Die Beteiligten waren vor allem Privatdozenten. Sie trugen in ihrer Wohnung abwechselnd über ein wissenschaftliches Thema vor und diskutierten anschließend im Gasthaus (Gebhards Biertunnel) weiter. Neben Klein und Stumpf gehörten zum engeren Kreis: der Physiker Eduard Riecke, der Anatom Friedrich Siegmund Merkel, der Chemiker Bernhard Tollens sowie Max Bauer, der für Mineralogie und Geologie habilitiert war. Kleins inhaltliches Wirken in diesem Kreis war vor allem mit seinen damaligen Arbeiten zur nichteuklidischen Geometrie verbunden. Er konnte Carl Stumpf für sich einnehmen, der ein Duzfreund wurde. Immanuel Kants Erklärung, dass dreidimensionale euklidische Geometrie denknotwendig sei, war auch für Stumpfs Doktorvater in Göttingen, Hermann Lotze, Maxime. Lotze schienen nichteuklidische Geometrien und ein n-dimensionaler Raum nicht vorstellbar. Klein überlieferte: „Kein Geringerer als Lotze hatte gerade das Stichwort ausgegeben, daß alle nichteuklidische Geometrie ein Unsinn sei“ und dass er, Klein, darüber im Winter 1871/72 mit den jüngeren Kollegen „endlose Unterhaltungen […] allabendlich in Gebhards Tunnel“ geführt habe.457 Dahinter steckte, dass die meisten Philosophen wenig mathematisches Verständnis besaßen, so verstiegen sich Lotze und Eugen Dühring dazu, nichteuklidische Geometrie „als müssiges Gedankenspiel oder als mystische Bizarrerie zu bespötteln“.458 Carl Stumpf erwarb 1868 den Doktortitel bei Hermann Lotze und 1870 die venia legendi für Philosophie mit einer in Latein verfassten Schrift „über die mathematischen Axiome“, worüber er angab: „Die Schrift habe ich aber nicht veröf454 [Lindemann] Lebenserinnerungen, 45. 455 publiziert in Math. Ann. 7 (1874) 56-143. – Vgl. auch Abschnitt 3.3. 456 STUMPF 1924, 212. – Später nahmen auch Professoren teil, so z.B. der Chemiker Otto Wallach seit 1889. Klein beteiligte sich als Professor nicht, vgl. BEER/REMANE 2000, 163-64. 457 Klein führte über Lotze und dem damit verbundenen missbräuchlichen Verständnis des Begriffs Krümmungsmaß aus in KLEIN 1926 Vorlesungen I, 152-53, Zitat 152. 458 Vgl. CLEBSCH 1891 (ed. Lindemann), 554.

102

2 Prägende Gruppen

fentlicht, weil die nichteuklidischen Betrachtungsweisen, in die Felix Klein mich einführte, mir doch schließlich über den Kopf wuchsen.“459 Auch als spätere Professoren blieben Carl Stumpf und Felix Klein in gutem Kontakt (vgl. 8.3.2). Zum Privatdozenten-Kreis zählten ebenso Mitglieder des von Georg Waitz geleiteten historischen Seminars. Der Rechtshistoriker und Mediävist Waitz war seit 1848 Professor in Göttingen, orientierte sich an Leopold von Ranke (Begründer moderner Geschichtswissenschaft) und pflegte guten Kontakt zu Kleins späterem Schwiegervater Karl Hegel (vgl. 3.6.2). Klein begriff bereits hier die Bedeutung von quellenkritischem, systematischen historischen Arbeitens, sowie „[…] die Möglichkeit und den Segen eines organisierten Spezialstudiums“.460 Ein Brief Kleins an Otto Stolz verweist auf den guten Kontakt mit Mitgliedern von Waitz’ Seminar wie Ernst Steindorff und David Peipers: „Uns Allen, d.h. also Kiepert und den Göttingern Riecke, Stumpf, Peipers, Steindorff etc. etc. geht es sehr wohl; wir waren in Göttingen bis zum letzten Tage riesig fidel.“461 Zu dieser Gruppe Gleichgesinnter gehörten außerdem der Kirchenhistoriker Richard Zoepffel, an dessen Hochzeit Klein teilnahm,462 sowie Alfred Stern, Sohn des Mathematikers Moritz Stern, der sich 1872 in Göttingen für Geschichte habilitierte463 und 1873 eine a.o. Professur für Geschichte an der Universität Bern (Schweiz) erhielt und 1878 dort Ordinarius wurde. Kleins Duzfreund Alfred Stern bezog Stellung gegen die antiliberale, antisemitische, deutschnationale Geschichtsschreibung des einflussreichen (auch frauenfeindlichen) Berliner Historikers Heinrich von Treitschke. Sterns sollten später wiederholt Gastgeber für Klein in der Schweiz sein und dort auch mit Kleins Doktorschüler Adolf Hurwitz guten Kontakt pflegen.464 Für Kleins Rückkehr nach Göttingen im Jahre 1886 war nicht nur Rieckes Einsatz wichtig. In der noch einheitlichen Philosophischen Fakultät befanden sich inzwischen als Professoren der Historiker Ernst Steindorff, der das Werk seines Lehrers Waitz fortführte und dessen Tochter Clara geheiratet hatte; der Philosoph und klassische Philologe David Peipers465; der Anatom Friedrich Merkel und Bernhard Tollens als Direktor des Agrikulturchemischen Laboratoriums. Auch wenn sich Klein aus Gesundheitsgründen später gesellig eher zurückhalten sollte, zeugt seine Integration in diese Kreise vom Hinausstreben aus den Grenzen engen Fachwissens, was Richard Courant als Kleinsches Lebenselement interpretierte.466

459 460 461 462 463 464

STUMPF 1924, 211, vgl. auch EWEN 2008; [UAG] Phil. Dek. 156, 1870/1871, Bl. 498-507. KLEIN 1923a, 15. [Innsbruck] Klein aus Berlin an Otto Stolz, Brief v. 30.3.1872. Ebd., Klein an Stolz, Brief v. 28.7.1872 (Hochzeit am 27.8.1872 mit Selma Wiesinger). Göttinger Nachrichten 1872, Nr. 18, 345. [UBG] Cod. Ms F. Klein 10: 1160B. – Klein an Alfred Stern, 1919 [Deutsches Museum] Sondersammlung 1968-4/2. 465 Vgl. z.B. Peipers, D.: Untersuchungen des Systems Platos. Bd. 1. Die Erkenntnistheorie, mit besonderer Rücksicht auf den Theaitetos untersucht, Leipzig 1874. 466 COURANT 1926, 197.

2.8 Privatdozentenzeit in Göttingen

103

2.8.3.4 „Sociale Thätigkeit“: Alle organisatorisch einen Die Schüler der Göttinger/süddeutschen bzw. Berliner Mathematiker hatten die Gegensätze ihrer Lehrer gespürt, so wenn Ferdinand Lindemann überlieferte: „Wir in Göttingen konnten es gar nicht begreifen, wenn ein aus Berlin kommender Student z.B. von Hesse’s Sätzen über die Kurven 3. Ordnung keine Ahnung hatte.“467 Klein, der die Semesterpausen regelmäßig zur Diskussion seiner Arbeiten und zur Kontaktpflege nutzte, klagte ähnlich in einem Brief an Lie aus Berlin: „Es ist leider nur so gar nicht möglich, den Leuten von unseren Sachen zu erzählen, weil alle Anknüpfungspunkte fehlen.“ Und Klein setzte fort: Um so energischer betreibe ich eine Art gesellschaftlicher Einigung, einmal der hiesigen, dann überhaupt der deutschen Mathematiker (durch eine periodisch wiederkehrende Versammlung); hat man dies, so wird es leichter sein, den allgemeinen wissenschaftlichen Standpunkt in dem uns wünschenswerth scheinenden Sinne zu heben. Ich befriedige gleichzeitig dadurch ein bei mir immer vorhandenes Bedürfniß nach socialer Thätigkeit, welches mich nicht zufrieden läßt, wenn ich mich nur abstract mit der reinen Wissenschaft beschäftige.468

Wenn Klein später über sich schreiben sollte, Soziale Wirksamkeit als Ersatz für das verlorene Genie469, so zeigen die Quellen, dass diese soziale Ader nicht nur früh in ihm schlummerte, sondern dass er sie früh als eine seiner wichtigen Seiten empfand. Im konkreten Fall folgte Klein einer Idee von Clebsch, Personen zusammenzuführen, um gegenseitiges Verständnis für verschiedene Herangehensweisen in der Mathematik zu fördern. Die Jahresversammlungen der seit 1822 bestehenden Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte (GDNÄ) waren meist nur sporadisch besucht worden. Die Teilnahme hing vom Ort und der örtlichen Tagungsleitung ab. So wie sich bereits andere Fachgesellschaften abgetrennt hatten,470 trat Clebsch für eine separate mathematische Vereinigung ein, vorgeschlagen 1867 auf der Naturforscherversammlung in Frankfurt/M. Daraufhin waren ihm Pfingsten 1868 zwanzig Mathematiker zu der genannten Bergstraßen-Wanderung gefolgt, darunter, wie bereits erwähnt, Klein als Student. Klein hatte hier nicht nur Clebsch und weitere Mathematiker kennengelernt, sondern auch Christian Wieners Modell einer Fläche dritter Ordnung mit 27 reellen Geraden (unsymmetrisch und basierend auf empirischer Konstruktion) beeindruckt zur Kenntnis genommen und die Gründungsidee der Mathematischen Annalen erlebt. Diese Anfänge eines Einigungsbestrebens waren jedoch durch den Deutsch-Französischen Krieg unterbrochen worden. Nach dem Krieg setzte Clebsch den Privatdozenten Klein in die Spur. Dieser gewann den Leipziger Adolph Mayer sowie Max Noether als Mitglieder für ein Organisationskomitee:

467 468 469 470

[Lindemann] Lebenserinnerungen, 48. [Oslo] Klein an Lie, 1.4.1872. – Vgl. dazu Abb. 3, Seite xvi, in diesem Buch. Klein in JACOBS 1977, Vorläufiges über Leipzig, Bl. 5. Vgl. hierzu detailliert TOBIES/VOLKERT 1998.

104

2 Prägende Gruppen Vielleicht erinnern Sie sich, daß wir vergangene Ostern davon sprachen, wie wünschenswerth es sei, in nicht zu ferner Zeit eine Mathematikerversammlung zu Stande zu bringen. Seitdem habe ich mich etwas umgehört und den Eindruck gewonnen, daß eine Versammlung im nächsten Frühjahr, etwa zur Pfingstzeit, von vielen Seiten mit Vergnügen begrüßt werden würde. Clebsch, der übrigens dieser Tage nach Leipzig kommt, ist auch ganz für den Plan eingenommen. Ich möchte nun mit gegenwärtigem Briefe an Sie die Anfrage richten: ob Sie gesonnen wären, ev. die Sache mit in die Hand zu nehmen. Ich habe im gleichen Sinne an Noether in Heidelberg geschrieben, den ich persönlich genau kenne. Wir drei: Sie, Noether und ich würden ev. ein Comite ‘behufs Abhaltung einer Mathematikerversammlung’ bilden.471

Als Klein von einer für Berlin geplanten Zusammenkunft hörte, formulierte er den allgemeinen Grundsatz: keine Zersplitterung eintreten zu lassen.472 Der 22-Jährige koordinierte das weitere Vorgehen und griff Max Noethers Vorschlag auf, einen Berliner ins Vorbereitungskomitee aufzunehmen. Sie gewannen Carl Ohrtmann, Oberlehrer an einem Berliner Realgymnasium, der mit Felix Müller, Professor am Kgl. Luisengymnasium, das erste deutsche mathematische ReferateJournal Jahrbuchs über die Fortschritte der Mathematik gegründet hatte. Klein gehörte schon zu den Mitarbeitern am französischen Referatejournal, dem Bulletin von Darboux, als ihm das erste Heft des Jahrbuchs am 11. März 1871 zugeschickt wurde, mit den Referaten über die Arbeiten des Jahres 1868. Klein urteilte, dass es „einen guten, objectiven Eindruck“ mache und verglich: „Darboux’s Bulletin ist gewissermaßen analog, aber viel subjectiver.“473 Vermittelt durch Hermann Schubert und Otto Stolz übernahm Klein ab Band 2 des Jahrbuchs Referate „über Liniengeometrie und etwas Algebra“.474 Mit dem Verteilen der Referate jedoch unzufrieden, wählte Klein die Art und Weise des Referierens als einen Programmpunkt für die geplante Versammlung. Wie er das Durchsetzen seiner Ideen vorbereitete, lässt sich einem Brief an Otto Stolz entnehmen: Ich möchte bei Gelegenheit der Versammlung das Referatewesen beim Jahresberichte etwas umgestalten: in dem Sinne, dass jeder Referent über sein specielles Fach auch vollständig referirt und die Sache nicht so zerstückt wird, wie seither. Ich möchte namentlich auch neue Kräfte zum Referiren heranziehen, wie z.B. Brill. Genaueres kann ich darüber noch nicht schreiben, da ich erst in den nächsten Wochen mich näher über die Beziehungen orientiren will, die dabei zur Sprache kommen, aber ich darf mich wohl im Allgemeinen, wenn Sie zur osterlichen Versammlung kommen oder sonst die Referenten zur Abstimmung aufgefordert werden, Ihrer Zustimmung versichert halten?475

Bevor die anvisierte nationale Versammlung vom 16. bis 18. April 1873 in Göttingen stattfand, hatten sich Ostern 1872 in Berlin ca. fünfzig Mathematiker getroffen. Das anwesende Vorbereitungskomitee für die geplante nationale Versammlung nahm hier zwei weitere Mitglieder auf: den mit Klein befreundeten

471 472 473 474

Klein an Mayer, Brief v. 10.10.1871, abgedruckt in TOBIES/ROWE 1990, 59. Klein an Max Noether, Brief v. 19.11.1871 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 12: 542. [Oslo] Klein an Lie, 11.3.1871. – Vgl. auch MÜLLER 1904; SIEGMUND-SCHULTZE 1993. [Oslo] Klein an Lie, 29.3.1871 und 31.5.1871. – Klein referierte bis 1879 und übergab dann das Amt an Aurel Voß [UBG] Cod. Ms. F. Klein 12: 70 (Voß an Klein, 18.2.1879). 475 [Innsbruck] Klein an Stolz, Brief v. 3.2.1873.

2.8 Privatdozentenzeit in Göttingen

105

Weierstraß-Schüler Ludwig Kiepert sowie den Berliner Emil Lampe476 in seiner Eigenschaft als Corrector am Crelle’schen Journal. Als Clebsch mitten in der Vorbereitungsphase gestorben war, hatte Klein am Plan festgehalten: „Mein Programm ist: Einigung der deutschen Mathematik, auch ihrer isolirten Mitglieder, sofern sie von wirklichem Interesse belebt sind.“477 Diejenigen Professoren, deren Teilnahme sie vor allem wünschten, erhielten noch Extraeinladungen. Klein erklärte Adolph Mayer: Bezüglich der Versammlung scheint es nothwendig, noch an diejenigen Herren, die uns besonders wichtig scheinen, persönlich zu schreiben. Auf Grund von Vorschlägen von Kiepert, Noether möchte ich Sie bitten, an Richelot, Heine, Aronhold die bez. Mittheilungen zu richten, während Kiepert – die Berliner; Noether – Fuchs, Schwarz, Hesse; Brill – Christoffel, Reye, Weber; ich – Lipschitz, Fiedler, Graßmann, Schlaefli, übernommen haben.478

Allerdings erschien keiner der besonders eingeladenen etablierten Professoren im April 1873 in Göttingen.479 Unter den Teilnehmern waren ehemals zum ClebschKreis Gehörende (A. Brill, Gordan, Eckardt, Klein, Lindemann, Lüroth, M. Noether, H. Schubert, Voß, Weiler); Angehörige der Göttinger Universität (Enneper, Klinkerfues, Listing, Meyerstein, Minnigerode, Neesen, Riecke, Schering, M. A. Stern, Georg Ulrich, Wilhelm Weber); für Zeitschriften Tätige, d.h. für die Mathematischen Annalen (neben Klein und Gordan: Adolph Mayer, Karl von der Mühll); für das Jahrbuch über die Fortschritte der Mathematik (Emil Lampe; Felix Müller, Carl Orthmann) und für das Archiv der Mathematik und Physik (Reinhold Hoppe). Aus dem Ausland kamen der Däne Hieronymus Zeuthen; die Ungarn Julius König und Mór Réthy; der Belgier Ernest Pasquier; Otto Stolz aus Österreich. Außerdem beteiligten sich die Professoren Moritz Pasch aus Gießen und Rudolf Sturm aus Darmstadt.480 Die anwesenden Algebraiker Eugen Netto und Ernst Schröder besaßen damals noch keine Professur. Max Simon, Mathematiklehrer in Straßburg, wurde als Mathematikhistoriker bekannt. Der angestrebte übergreifende Charakter über die verschiedenen mathematischen Schulen blieb unerreicht. Dennoch berichtete Klein optimistisch an Sophus Lie: „Doch ich muss Dir kurz von unserer Versammlung erzaehlen. Dieselbe ist, so viel man hoert, zur Befriedigung aller Theilnehmenden verlaufen. Die Mitarbeiter an der Clebsch’schen Biographie haben laengere Besprechungen gehalten, nach denen ich im Laufe 476 Lampe war damals Oberlehrer an der Friedrich-Werderschen Gewerbeschule in Berlin, wurde später Professor an der Technischen Hochschule Berlin und leitete ab 1885 das Jahrbuch über die Fortschritte der Mathematik. 477 Klein an M. Noether, Dez. 1872 [UBG] Cod. Ms Klein 12: 559, zitiert in TOBIES 1991, 35. 478 Klein an Mayer, 25.1.1873, zitiert in TOBIES/ROWE 1990, 70. 479 Vgl. Liste der Teilnehmer GUTZMER 1904, 23. 480 Rudolf Sturm verfasste später drei Bände Die Gebilde ersten und zweiten Grades der Liniengeometrie in synthetischer Behandlung (Leipzig: B.G. Teubner, 1893-96), wobei er sich im Band 3 mehrfach auf Kleins analytische Ergebnisse bezog.

106

2 Prägende Gruppen

dieses Sommers die Sache fertig stellen werde.“481 Die Versammlung war durch eine Modell-Ausstellung bereichert worden. Klein hatte seine Jahrbuch–Ideen realisieren und Kontakte festigen können. Er wurde gemeinsam mit Carl Ohrtmann und Alfred Enneper in ein Komitee gewählt, das die nächste derartige Versammlung in Würzburg für das Jahr 1875 vorbereiten sollte. Dieser Plan für Würzburg blieb jedoch unrealisiert. Die Ursachen dafür waren vielfältig. Bereits am 24. Oktober 1874 schrieb Felix Klein an Moritz Abraham Stern nach Göttingen über ein Vorbereitungstreffen, welches er mit Adolph Mayer, Orthmann und Enneper in Leipzig veranstaltet hatte: Ich gehe eigentlich mit sehr getheilter Empfindung daran, denn einen glänzenden Erfolg haben wir sicher dieses zweite Mal nicht zu erwarten, und es ist wohl möglich, daß wir angesichts dieses Umstandes nach einem Wege suchen, der uns gestattet, einstweilen die Versammlung zu verschieben.482

Hinzu traten neue Herausforderungen, die Klein zu bewältigen hatte. Im November 1874 stand sein Wechsel des Hochschulorts von Erlangen nach München fest. Zugleich begann er, Weichen für sein privates Leben zu stellen, sodass die freien Tage anders verplant waren. Außerdem blieb damals das Interesse der deutschen Mathematikprofessoren an einer separaten Mathematikervereinigung gering, während die Société Mathématique de France 1872 ins Leben getreten war. Die französische Gesellschaft war die erste nationale Vereinigung nur für Mathematik. Zuvor bestanden eine Reihe an Orte gebundene mathematische Gesellschaften (z.B. Hamburg 1690, Prag 1862, London 1865, Moskau 1867, Tokyo 1877, Palermo 1884, New York 1888). In Deutschland sollte im Jahre 1890 ein nationaler Zusammenschluss der Mathematiker mit Gründung der Deutschen Mathematiker-Vereinigung gelingen (vgl. Abschnitt 6.4.4), wonach zahlreiche weitere nationale Gesellschaften folgten.483

481 [Oslo], Brief v. 4.5.1873, Klein an Lie. 482 [UBG] Cod. Ms F. Klein 10: 1160B, Klein an Moritz Abraham Stern, Brief v. 24.10.1874. 483 Vgl. detaillierter TOBIES 1986a, 1986b. – Vgl. auch https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_mathematical_societies

3 PROFESSUR AN DER UNIVERSITÄT ERLANGEN Nun hat auch mir die Stunde, will sagen, der Erfuellung, geschlagen. Ich erhielt gestern einen Ruf als professor ordinarius nach Erlangen, wo Pfaff, der Nachfolger v. Staudt’s, vor etwa 2 – 3 Monaten gestorben ist. Heute morgen habe ich angenommen und werde nun wahrscheinlich schon zum naechsten Semester nach Erlangen uebersiedeln.1

Dies schrieb Klein an Sophus Lie, der wenige Monate vor ihm Professor in Christiania geworden war. Darboux erfuhr: „Es ist der alte Lehrstuhl v. Staudt’s, und es macht mir nicht wenig Vergnuegen, dessen Nachfolger im Amte sein zu duerfen, da ich seine Sachen in letzter Zeit immer wieder studirt habe.“2 Dem Leipziger Adolph Mayer erklärte Klein: kam die Sache so unverhofft, er hätte sich nicht lange besonnen, die Vorlesungen früh geschlossen und eine mit seinem schottischen Freund William R. Smith geplante 3-wöchige Bergtour in die Tiroler Alpen gestartet. Otto Stolz hatte die Route empfohlen: „Wir haben also die von Ihnen angegebene Tour mit größter Gewissenhaftigkeit aber auch dem größten Vergnügen gemacht, nur nahmen wir statt der Kreuzspitze den Similaun, der auch nicht so viel schwerer aber höher und wegen des vielen Schnee’s interessanter ist.“3 Klein war in einem Alter berufen worden, in welchem er bei der damaligen ersten Reichstagswahl noch nicht wählen durfte, wie er gern selbst erzählte.4 Als Klein im Oktober 1872 nach Erlangen kam, gehörte die Stadt, nach wechselnden politischen Herrschaften, zu Bayern. Die Einwohnerzahl war mit ca. 12.500 noch geringer als in Göttingen. Die Universität bestand seit 1743 (Fürstentum Brandenburg-Bayreuth). Mit dem Wechsel zu Bayern war die nun Kgl. Bayerische Friedrich-Alexander-Universität nur deshalb nicht geschlossen worden, weil sie die einzige protestantische Fakultät im katholischen Lande besaß. Um 1870 gab es insgesamt weniger als 400 Studenten. Seit 1818 waren das Schloss, der Schlossgarten und die Orangerie Universitätseigentum. Die Universitätsbibliothek, Hörsäle, Seminarräume und Sammlungen befanden sich im Schloss. Hier erhielt Felix Klein schließlich auch einen Raum für mathematische Übungen. Nach dem Ableben Christian von Staudts 1867, Erlangens erster Mathematiker von internationalem Rang, hatten Hermann Hankel (1868-69) und Hans Pfaff (1869-72) das einzige mathematische Ordinariat bekleidet. Nach Pfaffs Tod am 20. Mai 1872 sandte die philosophische Fakultät der Universität bereits im Juni 1872 eine Zweierliste an das Staats-Ministerium des Innern für Kirchen- und Schul-Angelegenheiten nach München, mit Klein an erster und Johannes Thomae 1 2 3 4

[Oslo] Klein an Lie, Brief v. 3.8.1872. [Paris B] Brief v. 28.8.1872, Klein an Darboux; KLEIN 1926, Vorlesungen I, 132-40. Klein an A. Mayer, 28.8.1872, in TOBIES/ROWE 1990, 64-66; [Innsbruck] Klein an Stolz, 29.8.1872. – Similaun: 3599 m hoher Berg in den Ötztaler Alpen. Vgl. CARATHÉODORY 1925, 2.

107 © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Tobies, Felix Klein, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58749-2_3

108

3 Professur an der Universität Erlangen

an zweiter Stelle. Dem Schreiben des Dekans der Philosophischen Fakultät Eugen Lommel, Kleins künftiger Schwager, ist zu entnehmen, dass aus finanziellen Gründen ein junger Mann gesucht wurden war, der schon ein breites Gebiet vertreten kann. Clebsch hatte ein euphorisches Urteil über Klein vermittelt: Erst 23 Jahre alt, hat Klein es verstanden, durch die Zahl und Gediegenheit seiner Arbeiten die rückhaltloseste Anerkennung, ja Bewunderung, seiner Fachgenossen sich zu erwerben. […] Erst jüngst hat seine Abhandlung „Über die Nicht-Euklidische Geometrie“ in den weitesten Kreisen – namentlich auch im Auslande – lebhafte Theilnahme und gerechtes Aufsehen erregt. […] Die Mehrzahl seiner Arbeiten bewegt sich auf dem Gebiete der analytischen Geometrie, einer Disciplin, welcher ihrer Natur nach eine vermittelnde Stellung zwischen den oben erwähnten Richtungen der heutigen Mathematik einnimmt; zudem ist mir bekannt, dass er durch Clebsch in der gründlichsten Weise in die moderne Algebra eingeführt worden, und sonach die von uns gewünschte vielseitige Bildung in hohem Grade besitzt. Klein ist aber nicht nur als Schriftsteller, sondern nach dem Urtheil gewiegter Fachgenossen, auch als Lehrer höchst bedeutend. […] Wenn wir noch hinzufügen, daß ebenso einstimmig, wie seine wissenschaftliche und Lehrbefähigung, auch sein gediegener Privatcharakter, seine Frische, Lebendigkeit und Liebenswürdigkeit im Umgang, gerühmt wird, so müssen wir in Klein in jeder Beziehung den Mann erkennen, dem wir vor Allen den vacanten Lehrstuhl anvertraut wissen möchten.5

König Ludwig II unterzeichnete die Ernennungsurkunde am 21. August 1872, und Klein folgte dem Ruf zum 1. Oktober 1872 mit einem Jahresgehalt von 2000 Gulden. Auf Anfrage wurde ihm eine Umzugsentschädigung von 400 Gulden gewährt.6 Er bezog eine Wohnung in der ersten Etage der Gabelsberger Straße 16, fußnah gelegen zum Schloß und Botanischen Garten. Seit dem Jahre 1808 bestand in Erlangen die Gelehrtengesellschaft Societas Physico-medica Erlangensis, die sich das Ziel gesetzt hatte, „Gedanken, Beobachtungen und Erfahrungen aus allen Gebieten der Naturwissenschaften, der Technik und der Medizin auszutauschen“. Durch Klein, der am 9. Dezember 1872 zum ordentlichen Mitglied gewählt wurde,7 erlangte die „Mathematik Bürgerrecht in der Sozietät“.8 Er nutzte deren Sitzungsberichte wie bisher die Göttinger Nachrichten, um eigene Ergebnisse und die seiner Schüler schnell zu publizieren. Als er nach fünf Semestern an seinen nächsten Wirkungsort München wechselte, ernannte ihn die Erlanger Societas am 10. Mai 1875 zum Ehrenmitglied, sodass ihm ihr Organ weiter offen stand. Es erschienen 16 Beiträge von ihm darin. Die Sitzungsberichte der Kgl. Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München sollte er nur zweimal nutzen können, da er dort erst 1879 Mitglied wurde. Der mathematische Universitätsbetrieb in Erlangen war wenig entwickelt. So hatten sich z.B. im Winter 1869-70 von insgesamt 374 Studenten nur zwei für Mathematik eingeschrieben. Zu diesen gehörte Siegmund Günther, den Klein bei 5 6 7 8

Schreiben v. 26. Juni 1872 über den Senat an das Staatsministerium, vollständig abgedruckt in TOBIES 1992a, 766-768, Zitate 767. [UA Erlangen] R. Th. II. Pos. 1, Nr. 15, Personalakte Hans Pfaff (mit Berufungsvorgang F. Kleins). – Zum Vergleich: Gustav Bauer war 1869 mit einem Jahresgehalt von 1.200 Gulden zum o. Prof. an der Universität München ernannt worden, VOSS 1907, 61. [UB Erlangen] MS 2565 [8] Mitglieder-Verzeichnis; [10] Protokollbuch, Sitzung. 9.12.1872. Vgl. NOETHER 1908, 81. – Für den Hinweis dankt die Autorin Cordula Tollmien.

3.1 Forschungstendenzen und Doktorschüler

109

seinem Eintreffen als Privatdozenten vorfand. Günther las über Geschichte der Mathematik und nahm auch an Vorlesungen und Seminaren von Klein teil.9 Obgleich in Erlangen nie mehr als acht Hörer in Kleins Veranstaltungen saßen, ging daraus ein erstaunlich hoher Prozentsatz kreativer Köpfe hervor. (Abschnitt 3.1) Sich darüber bewusst, dass die meisten Mathematik-Studenten keine Forscher werden, aber wichtig für den Mathematikunterricht an den Schulen sein würden, entwickelte Klein für die Lehre gleichfalls weit ausgreifende Pläne, die er in seiner obligatorischen Antrittsrede10 als Professor formulierte (Abschnitt 3.2). Klein setzte sein Bestreben fort, andere wissenschaftliche Schulen kennenzulernen. Er führte 1873 die lange geplante Reise nach Großbritannien durch (Abschnitt 3.3) und begab sich 1874 auf seine erste Italien-Reise (Abschnitt 3.4). Auch wenn Klein Erlangen nach drei Jahren wieder verließ, erreichte er hier einen bemerkenswerten Ausbau des „mathematischen Instituts“, das zuvor nur dem Namen nach existiert hatte (Abschnitt 3.5). In familiärer Hinsicht stellte er in Erlangen Weichen (Abschnitt 3.6). 3.1 FORSCHUNGSTENDENZEN UND DOKTORSCHÜLER Aber der Genuss selbstaendiger Production wird immer nur Wenigen zugaenglich bleiben.11

Klein fühlte früh, dass er zu den wenigen gehörte, die kreativ mathematisch tätig sein können. Er wusste, dass dazu eine eigenartige Disposition gehört, die nicht Jedem gegeben ist und er verglich dies mit musikalischer Produktivität: „Musicalische Productivität ist nur Wenigen gegeben, aber die meisten Menschen haben ein mehr oder minder ausgebildetes Verstaendnis fuer fertige musikalische Werke. Die Classe derer, denen aller musikalischer Sinn abgeht, ist wiederum recht beschraenkt. So gibt es auch, obgleich nicht haeufig, durchaus unmathematische Koepfe, die bei sonst normaler Begabung, voellig unfaehig sind, dem einfachsten mathematischen Gedankengange zu folgen.“12 Er erkannte Begabungen schnell. Während das Wachsen des Erlanger Programms – eine Schrift, die ein frisch gekürter Erlanger Professor notwendig vorzulegen hatte – bereits in den zurückliegenden Abschnitten angedeutet wurde, sei hier auf die damit verbundene Vision und Wirkung Bezug genommen. Zugleich soll gefragt werden, welchen Spuren Kleins Erlanger Schüler folgten und welche neuen Akzente sich in seinem Forschungsfeld anbahnten.

9

Uebersicht des Personal-Standes bei der Kgl. Bayerischen Friedrich-Alexander-Universität Erlangen im Winter-Semester 1869/70. Erlangen: Kunstmann, 13-25; LOREY 1916, 193. 10 In STUBHAUG 2003, 169-70, werden Kleins Erlanger Antrittsrede und das Erlanger Programm noch immer verwechselt. 11 Klein, in Erlanger Antrittsrede (7.12.1872), enthalten in JACOBS 1977, Bl. 6. 12 Ebd., Bl. 6-7. – Den eigenen Mangel an Musikverständnis kommentierte Klein mit: „Nun einige Seiten muß man doch schließlich haben, auf welchen man negativ ist.“ Überliefert durch Otto Hölder, Brief v. 21.1.1887, in HILDEBRANDT/STAUDE-HÖLDER 2014, 235.

110

3 Professur an der Universität Erlangen

3.1.1 Vision Erlanger Programm Klein meldete am 29. November 1872 an Darboux: „Lie hat mich beinahe zwei Monate, September und October, besucht. Was wir besprochen haben, werden Sie der Art nach aus unseren damals entstandenen Publicationen: der Lie’schen Note in den Göttinger Nachrichten und meinem Antritts-Programm, ersehen haben.“13 Bei der späteren Edition in GMA I erklärte Klein zu diesem Erlanger Programm: Mein Interesse war schon von meiner Bonner Zeit her darauf gerichtet, im Widerstreite der sich befehdenden mathematischen Schulen das gegenseitige Verhältnis der nebeneinander herlaufenden, äußerlich einander unähnlicher und doch ihrem Wesen nach verwandter Arbeitsrichtungen zu verstehen und ihre Gegensätze durch eine einheitliche Gesamtauffassung zu umspannen. Innerhalb der Geometrie gab es in dieser Hinsicht noch viel für mich zu tun.14

Abb. 14: Titelblatt zum Erlanger Programm (Oktober 1872) 13 [Paris] Bl. 64v. – Lie, S.: „Zur Theorie partieller Differentialgleichungen erster Ordnung, insbesondere über eine Classification derselben.“ Göttinger Nachrichten 1872, 473-89. 14 KLEIN 1921 GMA I, 52.

3.1 Forschungstendenzen und Doktorschüler

111

Dem Erlanger Programm lag eine hohe Vision zugrunde: „Mein Programm, so glaubten wir, sollte das aeussere Zeichen für eine Neuentwikkelung der Geometrie werden, gleichwerthig mit derjenigen, die fünfzig Jahre früher durch Poncelet in die Wege geleitet worden war.“15 Allerdings blieb das erhoffte Echo zunächst weitgehend aus. Auf eine Frage von Lie antwortete Klein im Juni 1873: Du fragst, was die Leute von meinem Programm geurteilt haben. Nun, ich habe kaum ein Urtheil gehört. Ein Franzose, Pasquier, der Ostern in Göttingen war, erzählte mir, Darboux hat es getadelt, Mansion dagegen sei entzückt gewesen und wünsche es übersetzen zu dürfen. Nöther, der ja damals auch unsere W-Curven verstand, hat mir anerkennend geschrieben. Gordan, den ich direct fragte, sagte mir: das gefiele ihm gar nicht; er schien das Ganze als Styl-Uebung zu betrachten. Dagegen ist der alte Stern, wie man mir von Göttingen schrieb, sehr zufrieden gewesen. – Das ist nun ungefähr überhaupt Alles, was ich gehört habe; meine hiesigen Leute haben mir übereinstimmend gesagt, sie hätten es nicht verstanden.16

Der (belgische) Mathematiker Ernest Pasquier hatte im Sommer 1872 am Seminar von Clebsch und Klein teilgenommen.17 Paul Mansion, ebenfalls Belgier, übersetzte Arbeiten von Riemann, Plücker, Clebsch u.a. ins Französische. Otto Stolz gehörte zu den wenigen, die das Potential des Programms früh erkannten. Er sandte Klein den Entwurf eines Referats für das Jahrbuch über die Fortschritte der Mathematik18, woraufhin dieser erfreut über das wohlwollende Urteil reagierte und nur darum bat: „[…] den Namen von Lie etwas mehr hervorzuheben: Es ist wesentlich durch den Gedankenaustausch mit ihm, daß ich diese allgemeinen Ideen faßte.“ Zugleich bremste Klein und blickte nach vorn: Sie betrachten in Ihrem Referate mit meiner Schrift die Vereinigung der verschiedenen Richtungen als vollzogen; ich halte das für übertrieben. Es ist nur ein Schritt gethan, der mir allerdings als wichtig vorkommt, aber die Vereinigung muß noch eine viel engere werden. Ich glaube jetzt im Stande zu sein, sie noch einen Schritt weiter zu führen und namentlich die Schranke zu beseitigen, die ich § 9 (in der Mitte) nenne. Doch schwebt mir das noch so unbestimmt vor, daß ich es kaum in Worte zu fassen weiß.19

F. Engel überlieferte, dass für Lie „Kleins Gedanke, dass eine große Anzahl von Gebieten der bisherigen Mathematik als Invariantentheorie gewisser bekannter Gruppen aufgefaßt werden kann, […] neu und überraschend gewesen“ sei.20 Klein erkannte selbst Unvollkommenheiten; die Geometrie von Nullstellengebilden – auf die er bei der birationalen Geometrie und bei der Analysis Situs hinwies – war z.B. noch nicht erfasst.21 Paragraph 9 behandelte die Gruppe aller Berührungstransformationen, an Arbeiten von Lie und Clebsch anknüpfend. Wie ROWE (2003: 671) unterstrich, hatte Klein im Vergleich zu Lie Transformationsgruppen im Auge, die global (nicht lokal) auf eine Mannigfaltigkeit angewandt werden. Der Unterschied zwischen globalen und lokalen Eigenschaften einer Mannig15 16 17 18 19 20 21

[Oslo] II (Klein, 1.11.1892) gedruckt in ROWE 1992, 202. [Oslo] Klein an Lie, Brief v. 28.6.1873. [Protokolle] Bd. 1, 12-13; 21-22. Jahrbuch, Bd. 1875, 234-35. [Innsbruck] Klein an Stolz, Brief v. 8.1.1874. ENGEL 1899, XXXIX. Vgl. KLEIN 1921 GMA I, 481-82; 414 zu Unvollkommenheiten; SCHOLZ 1980, 133-36.

112

3 Professur an der Universität Erlangen

faltigkeit – bei Riemann vorhanden – kommt in Kleins Erlanger Programm nicht voll zum Ausdruck. SCHOLZ (1980) verwies auf ein Mischkonzept zwischen projektiven und topologischen Abbildungen, welches Klein erst mit weiteren Arbeiten überwand.22 Klein betrachtete sein Programm als einen Vorschlag, Invarianten und Kovarianten bekannter Gruppen systematisch zu untersuchen. Der Zusammenhang zwischen den einzelnen Geometrien ergab sich, indem Kleins oben erwähnte „Hauptgruppe“ (vgl. 2.8.2) durch eine umfassendere Gruppe ersetzt wurde. Dabei bleibt nur ein Teil der geometrischen Eigenschaften erhalten. Der Übergang zu einer umfassenderen Gruppe entspricht dem Übergang zu einer weniger umfassenden Geometrie. Tabelle 5: Zum Erlanger Programm

Lage Größe Orthogonalität Parallelität Teilverhältnis Doppelverhältnis Inzidenz

Bewegungsgruppe

Äquiforme Gruppe

Affine Gruppe

Projektive Gruppe

zerstört erhalten erhalten erhalten erhalten erhalten erhalten Metrische Geometrie

zerstört zerstört erhalten erhalten erhalten erhalten erhalten Äquiforme Geometrie

zerstört zerstört zerstört erhalten erhalten erhalten erhalten Affine Geometrie

zerstört zerstört zerstört zerstört zerstört erhalten erhalten Projektive Geometrie

Tabelle 5 ordnet die klassischen euklidischen Geometrien in ein Schema ein, um die Beziehungen zu verdeutlichen. Dieses Schema ist eine spätere übersichtliche Anordnung.23 Die hier angegebene affine Geometrie ist in KLEIN (1872) noch nicht berücksichtigt. Es sei kurz erläutert. Bei der Bewegung einer geometrischen Figur (z.B. Verschiebung oder Drehung) wird ihre Lage verändert. Die Länge von Strecken und die Eigenschaft von Geraden, orthogonal zu sein, bleiben dabei erhalten. Parallele Geraden gehen wieder in parallele Geraden über. Das Teilverhältnis dreier Punkte bzw. das Doppelverhältnis von vier Punkten behält denselben Wert. Bei einer projektiven Abbildung (z.B. Zentralprojektion) stimmen die Längen in einer Figur mit den entsprechenden Längen der Bildfigur nicht überein. Parallele Gerade können in sich schneidende Gerade übergehen. Nur das Doppelverhältnis von vier Punkten und die Inzidenz bleiben erhalten. Klein urteilte später: „Dieses ‚Erlanger Programm’ ist für meine weiteren Untersuchungen immer die große Richtlinie geblieben und hat sein ordnendes Prinzip auch noch auf zahlreiche andere Gebiete wie Funktionentheorie, Mechanik und Physik ausgedehnt.“24 Es war auch für weitere Mathematiker Richtlinie.25 22 23 24 25

SCHOLZ 1980, 136; zu Riemann vgl. LAUGWITZ 2013. Vgl. auch WUßING 1968. KLEIN 1923a, Autobiographie, 18. – Vgl. auch Abschnitt 9.2.2. Vgl. zu Studys Beitrag HARTWICH 2003; zum Verwenden von Kleins Klassifikationsprinzip für die Untersuchung geometrischer Größen in der Vektoranalysis vgl. SCHOUTEN 1914.

3.1 Forschungstendenzen und Doktorschüler

113

Das Interesse am Erlanger Programm war schließlich von mehreren Seiten geweckt worden. Lie schrieb 1884: „Wenn Du Deine alte[n] Arbeiten in Math. Annalen successive sammelst, willst Du dann nicht Deine Programmschrift dort publiciren. Es ist doch wohl Deine wichtigste Arbeit aus dem Zeitraum 1872. Jetzt würde sie besser als damals verstanden werden.“26 Fünf Jahre später empfahl Corrado Segre (vgl. 3.4) ebenfalls den Wiederabdruck und erbat die Erlaubnis für eine italienische Übersetzung, die sein Student Gino Fano ausführte.27 In Turin knüpfte u.a. der Privatdozent Mario Pieri daran an; er soll Klein als „a personal hero“ verehrt haben.28 Als Henri Padé, der 1890-91 bei Klein studierte und anschließend unter Charles Hermite promovierte, das Erlanger Programm ins Französische übersetzte, wünschte Klein, dass er sich an der italienischen Ausgabe orientiere, da er diese aufgrund neuerer Literatur ergänzt hatte. Padé benutzte jedoch das deutsche Original, weil er besser Deutsch als Italienisch beherrschte, sodass Klein der französischen Publikation ein längeres Vorwort hinzufügte.29 Durch die französische Ausgabe wurde in Frankreich stärker sichtbar, dass Klein bereits 1872 Camille Jordans Arbeit über Gruppen der Bewegungen (Sur les groupes de mouvements) und Michel Chasles’ Anschauungsweise, die metrischen Eigenschaften als projektivische Beziehungen zu einem Fundamentalgebilde (dem unendlichen Kugelkreis) zu betrachten, als Ausgangspunkte unterstrichen hatte.30 Wilhelm Blaschke betonte: „Kleins gruppentheoretischer Aufbau der Geometrie, wie er ihn zuerst 1872 in seinem Erlanger Programm entworfen und dann 1893 in seiner Einleitung in die höhere Geometrie näher ausgeführt hat, ist für die Weiterentwicklung der Geometrie, ja auch der Physik heute so wichtig und lebendig als je.“ Auch aktuell Forschende knüpfen weiter an die Grundideen an.31 3.1.2 Kleins Schüler in Erlangen Klein träumte davon, ähnlich wie Clebsch eine wissenschaftliche Schule zu gründen. Dafür musste er erst einen Kreis Begabter um sich scharen. Im Vorfeld hatte er Schwierigkeiten geahnt und geunkt: „In Baiern existirt bis jetzt keine Mathematik und der sueddeutsche Student ist gedankenfaul. Der in mir ziemlich stark ausgebildete sociale Trieb, wenn ich darunter die Lust verstehe, auf andere Men26 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 695/3. 27 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 991 (Segre an Klein, 19.11.1889). Klein, Felice (1890): “Considerazioni comparative intorno a ricerche geometriche recenti”. Annali di matematica pura ed applicata, serie II, 17, 307-43. 28 Vgl. MARCHISOTTO/SMITH 2007, 56. 29 Padé, H. (1891): « Considérations comparatives sur les recherches géométriques modernes ». Annales de l’école normale supérieure (3) vol. 8 (1891), 87-102, 173-199; Vorwort Kleins, 87; [UBG] Cod. Ms. F. Klein 11: 157, 158 (Padé an Klein, 27.10., 3.11.1890). 30 Zu weiteren Übersetzungen ins Polnische durch S. Dickstein, ins Russische durch D. M. Sintzow und ins Ungarische vgl. KLEIN 1923 GMA III Anhang, 17; auch GRAY 2005. 31 KLEIN/BLASCHKE 1926 (Vorwort); vgl. JI/PAPADOPOULOS 2015; RATAJ/ZÄHLE 2019.

114

3 Professur an der Universität Erlangen

schen zu wirken, wird also voraussichtlich seine Befriedigung finden.“32 Nach Semesterbeginn teilte Klein Gaston Darboux mit: Hier in Erlangen war ich zunaechst, namentlich auch wissenschaftlich, sehr isolirt; ich hatte nur mit Anfaengern zu thun. Seitdem sind 2 aeltere Leute von Goettingen heruebergekommen, die selbstaendig geometrisch arbeiten; ich hoffe sehr, dass naechsten Sommer die Zahl waechst und dass es so allmaehlich gelingt, in Erlangen eine Schule geometrischer Production zu gruenden, wie dazu in Goettingen, so lange Clebsch da war, der beste Anfang gemacht war.33

Nach Erhalt der Anstellungsurkunde hatte Klein am 3. September 1872 den Senat der Universität Erlangen informiert, dass er eine Vorlesung „Ueber elementare Partieen der Algebra in der Verbindung mit analytischer Geometrie der Ebene“, jeweils Montag bis Freitag, 11-12 Uhr, sowie „mathematische Uebungen“, einstündig, zu halten beabsichtige.34 Als er am 5. November 1872 starten wollte, waren nur zwei Hörer anwesend. Schließlich schrieben sich drei weitere Studenten ein, die mehrere Semester blieben und später in den Schuldienst gingen. Für die höhere Vorlesung „Ausgewählte Capitel der neueren Geometrie, verbunden mit practischen Uebungen“ hatte sich im Winter 1872-73 zunächst nur Adolf Weiler eingetragen.35 Deshalb las Klein über Projectivische Massbestimmung, wofür der aus dem Clebsch-Kreis kommende Aurel Voß und Siegmund Günther als Hörer hinzutraten. Weiler promovierte im Feld. Voß wurde zur Habilitation und Privatdozentur in Göttingen geführt.36 Günther drang nicht tiefer in diese Forschungsrichtung ein, sodass Klein später nicht für ihn, sondern für Paul Gordan ein vom bayerischen Landtag genehmigtes Extraordinariat beantragte (vgl. 3.5). Daraufhin habilitierte sich Günther zum 17. Juli 1874 an das Polytechnikum in München um. Trotz Aussprache blieb ein gespanntes Verhältnis.37 Voß bezeichnete es als Glück, vier Monate lang fast täglich mit Klein verkehren und an seinem Beispiel lernen zu dürfen. Er überlieferte Kleins „[…] merkwürdige Fähigkeit, überall in den Untersuchungen anderer gerade den Punkt zu entdecken, der mit seinen eigenen Gedanken in Verbindung stand“ sowie dessen „[…] Gabe, jeden seiner Schüler auf das Thema hinzuweisen, das dessen besonderer Begabung und Entwicklung entsprach.“38 Nachdem Voß zur Habilitation nach Göttingen gegangen war, saßen fünf Hörer in Kleins höherer Vorlesung über Invariantentheorie, die er im zweiten Semester, neben einer Anfängervorlesung (Differentialrechnung), anbot. Vier von diesen führte er zum Doktortitel: Wilhelm Braun, Ferdinand Lindemann, Wilhelm Bretschneider und den erwähnten Adolf Weiler. Mit diesen potentiellen Doktor32 33 34 35 36

[Oslo] Klein an Lie, Brief v. 3.8.1872. [Paris] Brief v. 29.11.1872, Bl. 64. [UA Erlangen] I-II, Pos. 1, Nr. 27: Felix Klein. [UBG] Cod. Ms. F. Klein, 7 E. Klein bedankte sich bei Moritz A. Stern, dass er seine Bitte betr. Habilitation von Aurel Voß in Göttingen erfüllt habe. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 11: 1160A (Klein an Stern, 26.7.1874). 37 Vgl. JACOBS 1977, Vorläufiges aus Erlangen, Bl. 2; [Lindemann] 54; STRÖHLEIN 1989, 42. – [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 505 (Günther an Klein, 7.2.1875). 38 VOSS 1919, 286.

3.1 Forschungstendenzen und Doktorschüler

115

schülern und Privatdozent Siegmund Günther39 startete Klein am 22. April 1873 sein Erlanger Forschungsseminar. Sophus Lie erfuhr zwei Monate später: „Demnächst werden hier 2 Dissertationen fertig: die eine verfolgt meine Eintheilung der Complexe 2ten Grades, die andere nimmt das Problem einer projectivischen Dynamik (Kinematik und Statik) in Angriff […].“40 Weiler war der Erste mit Examen am 19. Juli 1873. Lindemann folgte planmäßig am 2. August 1873.

Abb. 15: Kleins Kreis in Erlangen 1873. Von rechts: Felix Klein, Ferdinand Lindemann, Wilhelm Bretschneider, Siegmund Günther, Adolf Weiler, Ludwig Wedekind

Lindemann überlieferte, wie Klein den Erlanger Kreis um sich scharte, zu dem im Herbst 1873 Axel Harnack hinzutrat. Klein lud seine Studenten einmal wöchentlich zu sich ein, wobei einer vorzutragen hatte. Anschließend gingen sie um 20 Uhr zum Abendessen. Mittags speisten sie gemeinsam an der Table d’hôte (Gast39 Günther beteiligte sich bis zum 21.1.1874 mehrfach mit Beiträgen aus seinem Habilitationsthema: Darstellung der Näherungswerthe von Kettenbrüchen in independenter Form. Erlangen: Eduard Besold, 1873 (128 S.); [Protokolle] Bd. 1, 29-30; 44-46; 64-66; 70-71; 80. 40 [Oslo] Klein an Lie, Brief v. 28.6.1873.

116

3 Professur an der Universität Erlangen

tisch) im Gasthof Walfisch41, wo auch Professoren anderer Fachgebiete zur Tischgesellschaft gehörten, u.a. der bis 1874 als Präsident der Physikalisch-medicinischen Societaet fungierende Zoologe Ernst Ehlers, dem Klein in Göttingen wieder begegnen sollte. Nach dem Mittagessen genoss die ganze Gesellschaft den berühmten Käsekuchen im Café Mengin.42 Der anschließende Spaziergang führte die Mathematiker-Gruppe bei gutem Wetter am Kanal entlang oder nach Rathsberg, bei schlechtem Wetter in den Botanischen Garten und die Gewächshäuser. Wandernd diskutierten sie mathematische Probleme, schrieben Formeln und Figuren in den Sand der Erlanger Umgebung und hörten mehrfach Vorträge vom Botaniker Maximilian Reeß, dessen Schwerpunkt die Mykologie war. Reeß war am selben Tag wie Klein zum Mitglied der Physikalisch-Medicinischen Societaet gewählt worden; und Klein hatte sich seit seiner Studienzeit für Botanik interessiert. Bei Ehlers Nachfolger Emil Selenka sollte Klein 1874-75 gar an praktischen zoologischen Übungen teilnehmen. Er war sich seiner eigenen mathematischen Kreativität nicht vollkommen sicher, vielmehr noch immer etwas unentschieden, ob er nicht doch später in naturwissenschaftlicher Richtung forschen solle.43 Noch gingen jedoch die mathematischen Themen nicht aus. Klein hatte Lindemann schon bei einem Treffen in Göttingen vorgeschlagen: Die Vorlesungen von Clebsch sollen, wie Sie wissen, womöglich herausgegeben werden, namentlich die Vorlesungen über Geometrie. Hätten Sie nun Lust, unter meiner Oberaufsicht die Herausgabe der letzten zu unternehmen? Der Plan dazu, wie ich ihn mit Gordan vereinbart habe, ist der folgende: Sie erledigen Ihr Doctorexamen, was bis Ende Sommer geschehen kann. […] Die Ausarbeitung vollführen Sie im täglichen Austausche mit mir, also wahrscheinlich in Erlangen. […] Ich übernehme, eine Vorrede zu der Publication zu schreiben. […] es kann keine bessere Gelegenheit geben, um gleichzeitig Ihre Kraft zu üben und Sie vorteilhaft bekannt zu machen!44

Klein hatte die Rollen getauscht; so wie er selbst Plückers Liniengeometrie unter Clebschs Ägide ediert hatte, arbeitete jetzt der 20-jährige Lindemann unter seiner Obhut an der Clebsch-Edition. Klein hatte für Lindemanns Übersiedelung nach Erlangen gesorgt, eine Wohnung für ihn gemietet, ließ ihn im Seminar über Clebsch-Themen vortragen und beriet regelmäßig mit ihm.45 In intensiver Arbeitsatmosphäre vollendeten weitere ihre Dissertation. Wilhelm Bretschneider trug am 17. Dezember 1873 und am 25. Februar 1874 in Kleins Seminar vor und reichte seine Dissertation „Über Kurven 4. Ordnung mit 3 Doppelpunkten“ am 10. März 1874 ein. Dieser Gymnasiallehrer aus Württemberg hatte ein Stipendium für Zusatzstudien erhalten. Angeregt durch Klein verfolgte er Ansätze analytisch, die Heinrich Schröter synthetisch behandelt hatte.46 41 Goldener Walfisch, Calvinstraße 5, wo schon Goethe übernachtete. Das Gebäude musste im Jahre 1912 einer Bank weichen. [Lindemann] 52. 42 Erlangen, Schloßplatz 5, heute noch existierend. 43 JACOBS 1977, Vorläufiges aus Erlangen, Bl. 2; [Oslo] Klein an Lie, Brief v. 22.2.1875. 44 Klein an Lindemann, Brief v. 27.12.1872, zitiert in [Lindemann] 49-50. 45 [Lindemann] 52-54; und z.B. [Protokolle] Bd. 1, 69, 84. 46 [Protokolle] Bd. 1, S. 90; zur Einordnung vgl. auch Kohn, G.; Loria G.: Spezielle ebene algebraische Kurven. ENCYKLOPÄDIE Bd. III C 5, 560.

3.1 Forschungstendenzen und Doktorschüler

117

Am 11. März 1874 absolvierte Ludwig Wedekind seine Doktorprüfung. Er knüpfte in seiner Dissertation „Beiträge zur geometrischen Interpretation binärer Formen“ an Kleins Erlanger Programm und dessen neues Uebertragungsprincip an, d.h. die geometrische Interpretation von x+iy auf der Kugelfläche (Riemannsche Zahlenkugel) für die Theorie der binären Formen47 zu verwenden. Wedekinds Betrachtungen zum komplexen Doppelverhältnis halfen, Kleins Ikosaedertheorie vorzubereiten (vgl. dazu 3.1.3.2). Ergebnisse Wedekinds ließ Klein hinter seiner zugehörigen Arbeit in den Mathematischen Annalen publizieren.48 Axel Harnack präsentierte in Kleins Seminar (10.12.1873; 14.1.1874) Arbeiten von Ferdinand Minding, bei dem er in seinem Geburtsort Dorpat (heute: Tartu, Estland) Differentialgeometrie gelernt hatte. Klein erkannte Harnacks analytische Vorbildung und lenkte ihn darauf, die Theorie der elliptischen Funktionen mit der Geometrie der Kurven dritter Ordnung zu verknüpfen, um neue Fragestellungen zu finden. Harnack nutzte dabei – im Vergleich zu Wedekind – ein anderes wichtiges Ergebnis Kleins, eine neue Art Riemannscher Fläche (vgl. 3.1.3.1). Harnack fand schnell (Seminarvortrag, 11.2.1874) eigene Sätze und vollendete die Dissertation „Ueber die Verwerthung der elliptischen Functionen für die Geometrie der Curven dritten Grades“ bis zum 18. Juli 1874.49 Aus Wilhelm Brauns Seminarvorträgen (28.1. und 21.5.1874) über geometrische Besonderheiten von Lissajous’schen Stimmgabelcurven wuchs bis zum 22. Juli 1874 dessen Dissertation: „Ich habe […] auf Anregung meines hochverehrten Lehrers, Herrn Professor Klein, dem ich überhaupt für seinen gütigen Beistand zu höchstem Dank verpflichtet bin, versucht, die Schwingungscurven, welche aus der Combination zweier Pendelbewegungen in der Ebene resultiren, als Object an sich im Sinne der projectivischen Geometrie zu studiren, und zunächst ihre Singularitäten zu entwickeln.“50 Klein förderte das weitere Vorankommen seiner Schüler. So wie Clebsch einst Kleins Ergebnisse in die Mathematischen Annalen bzw. die Göttinger Nachrichten gebracht hatte, nutzte Klein die Annalen und die Sitzungsberichte der Erlanger Societaet, um Arbeiten seiner Doktorschüler bekannt zu machen.51 In Erlangen kamen auch die ersten ausländischen Mathematiker zu Klein, Skandinavier, die Sophus Lies Empfehlungen folgten. Der bereits promovierte schwedische Mathematiker Victor Bäcklund nutzte im Jahre 1874 ein sechsmonatiges Reisestipendium. Er hatte Resultate in der algebraischen Geometrie erzielt und an Sophus Lies Invariantentheorie der Berührungstransformationen angeknüpft. Klein nahm Bäcklund als Gast mit zu den Sitzungen der Erlanger So-

47 Ein Polynom mit zwei Variablen. 48 Klein, F. (1875): „Über binäre Formen mit linearen Transformationen in sich selbst“. Math. Ann. 9, 183-208; Wedekind, L. (1875): „Beiträge zur geometrischen Interpretation binärer Formen“. Math. Ann. 9, 209-17; Vgl. auch VOSS 1919, 286. 49 [Protokolle] Bd. 1, 85-87; Math. Ann. 9 (1875) 1-54; Vgl. auch VOSS 1919, 286. 50 http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb11320735_00005.html (online – Version der Dissertation, 4) 51 [UB Erlangen] Ms 2565 [10], 20, Sitzung v. 28.7.1873, 2, Sitzung v. 13.7.1874.

118

3 Professur an der Universität Erlangen

cietaet, reichte dessen Arbeiten für die Sitzungsberichte ein und gewann ihn gleichfalls als Autor für die Mathematischen Annalen.52 Ende November 1874 trat der Norweger Elling Holst hinzu, der erst im Juli 1874 sein Staatexamen unter Lie abgelegt hatte. Lie hatte ihm geraten, nicht nach Berlin, sondern zu Klein zu gehen: „Glaube mir, in Berlin ist nichts für Dich zu holen, es sei denn, Du wärest so glücklich wie ich und träfest einen neuen Klein dort.“53 Holst besuchte Kleins Vorlesung „Ausgewählte Kapitel der neueren Geometrie“ (1874/75) und referierte dreimal in Kleins Seminar,54 wo außerdem die frisch gebackenen Doktoren Lindemann, Harnack und Wedekind sowie Paul Gordan vortrugen. Klein sandte günstige Urteile über Holst an Lie und empfahl ihn für ein norwegisches Stipendium, damit er seine Studien fortsetzen konnte.55 Als Klein zum Sommersemester 1875 als Professor an das Polytechnikum nach München wechselte, gingen Holst, Lindemann, Harnack und Wedekind mit ihm und bildeten die Aktivposten im Mathematischen Colloquium des ersten Jahres. Die Karrieren der Schüler Kleins schritten schnell voran. Holst reichte seine erste Arbeit im Dezember 1876 bei den Mathematischen Annalen ein, wo auch die Dissertationen von Lindemann, Weiler, Harnack und Wedekind erschienen. Harnack erhielt noch im Jahr seiner Habilitation (Leipzig 1876) eine a.o. Professur an der TH Darmstadt und ein Jahr später an der TH Dresden. Wedekind habilitierte sich 1876 an der TH Karlsruhe, wo er zum a.o. Professor (1880) und o. Professor (1883) aufstieg. Der Schweizer Adolf Weiler habilitierte sich 1875 am Polytechnikum in Zürich und wurde 1899 a.o. Professor an der Universität Zürich. Lindemann, der angeregt durch Klein 1876 zu Studien im Ausland weilte, habilitierte sich 1877 in Würzburg, wurde 1878 Extraordinarius und 1879 Ordinarius in Freiburg i.Br. Dass er schließlich 1883 als erster Clebsch-Abkömmling an die preußische Universität Königsberg kam, basierte vornehmlich auf dem gelungenen Beweis der Transzendenz von π und besaß auch besonderes Gewicht für Klein: Ihr Ruf nach Königsberg kommt uns allen zugute, denn es ist ein Sieg unseres Prinzips (nämlich des Kampfes gegen die Cliquenwirtschaft). Erinnern Sie sich, dass vor 10 Jahren eine maassgebende Persönlichkeit sagte, es solle mit seiner Zustimmung niemals ein Schüler von Clebsch nach Preussen kommen?56

Klein war erfolgreich, weil er im Verkehr mit seinen Schülern „[…] die Goldkörner seines reichen Talentes ausstreute, unbekümmert um den Gebrauch, den sie später davon machen könnten, denn er war nicht der engherzigen Ansicht solcher, die in ihren Schülern nur spätere Konkurrenten zu sehen geneigt waren.“57 52 53 54 55

[UB Erlangen] Ms 2565 [10], Sitzung v. 11.5.1874, 6.3.1876; TOBIES/ROWE 1990. Sophus Lie an Holst, zitiert nach STUBHAUG 2003, 244. Am 15.12.1874, 26.1.1875, 5.3.1875, [Protokolle] Bd. 1, 143, 149, 151. [Oslo] Klein an Lie, Briefe v. 2.12.1874; 22. 2.1875; [Protokolle] Bd. 1, Holst am 15.12. 1874, 26.1.1875. 56 Klein an Lindemann, Brief v. 30.3.1883, enthalten in [Lindemann]. – Es folgten weitere vereinfachte Beweise der Transzendenz von π, wobei Klein als Motor zur Verbreitung der Ergebnisse seiner Schüler fungierte, vgl. dazu ROWE 2015. 57 Urteil von Aurel VOSS 1919, 288.

3.1 Forschungstendenzen und Doktorschüler

119

3.1.3 Neue Trends in der Forschung Wenn ich an Dich denke, habe ich so oft die Empfindung einer langen, ja vielleicht hoffnungslosen Trennung von meinem besseren Selbst. Und doch sage ich mir wieder, dass es bei meinem jüngeren Alter und meiner so sehr andersartigen Begabung so hat kommen müssen. Wohin meine wissenschaftliche Beschäftigung sich noch wenden wird, wer will es wissen? Ich möchte wie Du grosse neue Theorien schaffen; ich möchte dann wieder, und den Plan verfolge ich mit einer gewissen Consequenz, einen möglichst vollständigen Ueberblick über alle Mathematik gewinnen, um dann der Zersplitterung einmal ein Ende zu machen, die für uns alle entschieden ein grosses Unglück ist; - oft auch denke ich, dass es mir durch meine mathematische Schulung gelingen muss, späterhin in Physik etwas Vernünftiges zu leisten.58

Klein vermisste die Kooperation mit Lie und versuchte zunehmend, eigene Wege zu finden. Anfangs widmete er in Erlangen einen beträchtlicher Teil seiner Zeit der wissenschaftlichen Clebsch-Biographie, dem Bemühen um eine ClebschStiftung, um Clebschs Frau und Kinder abzusichern und dem Vorbereiten der Mathematikerversammlung (vgl. Abschnitt 2.8.3.4). Kleins Publikationen umfassten: Erstens alte Themen wie Flächen dritter Ordnung, Plückers Komplexfläche, nichteuklidische Geometrie. Dabei kam es wiederholt vor, dass Klein noch Unausgereiftes zur Publikation gab, was später korrigiert werden musste. Als Klein einen Nachtrag zur Nicht-Euklidischen Geometrie (Math. Ann. 7 (1874) 531-37) publizierte, schrieb ihm Darboux, dass sein dargelegter Zusatz zu einer Definition v. Staudts überflüssig sei. Klein publizierte daraufhin eine Korrektur sowie Darboux’ Hinweis; und er kommentierte dazu in einem Brief an Otto Stolz, mit dem er zum Thema gearbeitet hatte: „Die Sache ist mir natürlich sehr aergerlich, aber da hilft Nichts, als offen sagen, dass man gefehlt hat.“59 Zweitens einzelne neue Probleme. Klein dehnte den bekannten Pascalschen Satz über das einem Kegelschnitt eingeschriebene Sechseck auf den Raum aus (Erlanger Sitzungsberichte, 10.11.1873). Hierbei entwickelte er das schon – mit Bezug auf Wedekinds Dissertation – angedeutete neue Uebertragungsprincip, „vermöge dessen die Kugel, welche der Darstellung von x + iy dient, zugleich die Bedeutung der Fundamentalfläche einer projectivischen Maassbestimmung erhält“.60 Klein und seine Schüler verwendeten dieses Prinzip als ein Werkzeug der Verallgemeinerung; es sollte auch für die Theorie des Ikosaeders fruchtbar werden. Nach Übertragungsprinzipien oder Analogien zu schauen, war, wie gesagt, bereits bei Hesse ein wichtiges methodisches Hilfsmittel in diesem Gebiet.61 Klein befasste sich im Jahre 1873 außerdem mit einer philosophischen Erörterung des Funktionsbegriffs, um „[…] einzusehen, wie so stetige Functionen ohne Differentialquotienten sein können.“ Durch Weierstraß war 1872 erstmals ein Beispiel für eine stetige, nicht differenzierbare Funktion bekannt geworden. Klein griff das sofort auf, sich auch der Hilfe seines Freundes Otto Stolz bedienend. 58 [Oslo] Brief Kleins aus Erlangen an Lie, v. 22.2.1875. 59 [Innsbruck] Klein an Stolz, Brief v. 23.11.1873 60 Wedekind, L.: „Beiträge zur geometrischen Interpretation binärer Formen“. Math. Ann. 9 (1875) 213. 61 Hesse, Otto (1866): „Ein Uebertragungsprincip“. Crelle-Journal 66, 15-21.

120

3 Professur an der Universität Erlangen

Stolz sollte später in den Mathematischen Annalen Bolzanos Ergebnisse in das Licht rücken, der schon vor Weierstraß ein Beispiel für eine derartige Funktion angegeben hatte.62 (Vgl. auch Abschnitt 8.3.2) Drittens widmete sich Klein neuen Ansätzen: Fragen des Zusammenhangs von Flächen verknüpft mit einer neuen Art Riemannscher Fläche sowie Aspekten der Gleichungstheorie, was er eng verschmelzen sollte. 3.1.3.1 Über eine neue Art Riemannscher Flächen Gemäß seinem Arbeitsplan drang Klein in Themen näher ein, die von Clebsch bearbeitet worden waren. Dies schloss Riemanns Ideen ein, wobei er stärker am Original anknüpfte, weil ihn Clebschs Resultate nicht vollkommen befriedigten. Erhard Scholz beschrieb Riemanns Ideen „zum Flächenzusammenhang“ (zur Topologie von Flächen) und verglich die Ansätze der beteiligten Forscher, Riemann, Möbius, Carl Neumann, Jordan, Schläfli, Klein. SCHOLZ hob u.a. hervor, dass sich Klein bei seiner Definition des Flächenzusammenhangs schon stärker auf Jordan als auf Riemann stützte.63 Klein gab später eine anschauliche Übersicht über Riemanns Ausgangspunkt64 und erklärte in seinen Gesammelten Abhandlungen: Die Zahl p ist bei Riemann zunächst ein Charakteristikum für den „Zusammenhang“ einer geschlossenen Fläche. Es war für mich ein geradezu quälendes Problem, was diese Auffassung mit der Gestalt der zugehörigen algebraischen Kurven zu tun haben möchte, und ich war glücklich, als es mir gelang hierauf durch Konstruktion der „neuen“ Riemannschen Flächen eine überaus einfache Antwort zu finden.65

Es sei hier hervorgehoben, dass die Theorie der Riemannschen Flächen entstand, weil die analytische Fortsetzung holomorpher Funktionen nicht eindeutig ist. D.h. auf verschiedenen Wegen kann man verschiedene Funktionswerte erhalten. Mittels einer mehrblättrigen Fläche (Überlagerungsfläche) als Definitionsbereich kann Eindeutigkeit der analytischen Fortsetzung erreicht werden (Beispiel: Riemannsche Fläche des komplexen Logarithmus). Um zu entscheiden, ob zwei (orientierbare) Flächen eineindeutig und stetig aufeinander abbildbar sind, benutzte Riemann charakteristische Invarianten: p die maximale Zahl der möglichen, die Fläche nicht zerstückenden und einander nicht kreuzenden Rückkehrschnitte; und μ die Anzahl der Randkurven. Bei geschlossenen Flächen, die Klein besonders betrachtete, ist μ = 0 und die Fläche durch p allein charakterisiert. Wie Klein angab, bezeichnete Clebsch die

62 [Innsbruck] Klein an Stolz, Brief v. 23.11.1873. – Stolz, O.: „B. Bolzano’s Bedeutung in der Geschichte der Infinitesimalrechnung“. Math. Ann. 18 (1881) 255-79. 63 Vgl. SCHOLZ 1980, 163-79. 64 SCHOLZ 1980, 57-78. – Vgl zu den Begriffen Geschlecht, Zusammenhang, u.a. auch KLEIN 1925 Elementarmathematik II, 114-16. 65 Vgl. KLEIN 1922 GMA II, 5.

3.1 Forschungstendenzen und Doktorschüler

121

Zahl p als das Geschlecht der Fläche bzw. der Gleichung F (ζ, z).66 Klein erläuterte später, was für seine weiteren Forschungen wichtig wurde: Gleichungen F (ζ, z) = 0 lassen sich nur dann eineindeutig und stetig aufeinander beziehen, wenn sie dasselbe p haben. […] Damit hat Riemann alle algebraischen Gleichungen, die sich durch eineindeutige oder, wie man vom Standpunkt der Formel sagt, birationale Transformation auseinander ergeben, durch eine erste Charakteristik gekennzeichnet: sie haben notwendig eine numerische Invariante, nämlich die Zahl p. Die Gebilde desselben p unterscheiden sich dann weiterhin noch durch die in sie eingehenden wesentlichen Konstanten, die sog. „Moduln“. Als deren Zahl findet Riemann bei p = 0 Null, bei p = 1 Eins, und für p > 1 den Wert 3 p – 3.67

Seit Februar 1874 publizierte Klein darüber in den Erlanger Sitzungsberichten und den Mathematischen Annalen. In seinem Seminar sprach er erstmals am 18. Februar 1874 „Ueber den Zusammenhang der Flächen“68 und am 12. Mai über: „Ein neuer Beweis über das p algebraischer Curven“. Klein versuchte, die „Zahl für das Geschlecht einer Curve […] unmitttelbar aus der Gestalt der Curve zu erschliessen.“69 Er betonte: „Das Mittel dazu gibt eine neue Art, den Verlauf einer algebraischen Function durch eine Riemann’sche Fläche zu versinnlichen, die sich an die durch die Function repräsentierte Curve innig anschliesst.“70 Die Arbeit „Ueber eine neue Art der Riemann’schen Flächen“ beginnt mit den Worten: Bei der Untersuchung der algebraischen Funktionen y einer Veränderlichen x pflegt man sich zweier verschiedener anschauungsmäßiger Hilfsmittel zu bedienen. Man repräsentiert nämlich entweder y und x gleichmäßig als Koordinaten eines Punktes der Ebene, wo dann die reellen Werte derselben allein in Evidenz treten und das Bild der algebraischen Funktion die algebraische Kurve wird – oder man breitet die komplexen Werte der einen Variablen x über eine Ebene aus und bezeichnet das Funktionsverhältnis zwischen y und x durch die über der Ebene konstruierte Riemannsche Fläche. Es muß in vielen Beziehungen wünschenswert sein, zwischen den beiden Anschauungsbildern einen Übergang zu besitzen.71

Aus heutiger Sicht erscheint das banal. Klein erklärte, dass er für reelle Tangenten den Berührungspunkt und für imaginäre den einzigen reellen Punkt derselben als Bild des Kurvenpaares bzw. der Stelle des algebraischen Gebildes auffasste. Wie Wirtinger später urteilte, verband Klein die von Staudtsche Imaginärtheorie und den Begriff der Riemannschen Fläche mit dem allgemeinen Begriff der Riemannschen Mannigfaltigkeit.72 66 Zur exakten Quelle vgl. KLEIN 1926 Vorlesungen I, 313. 67 KLEIN 1926 Vorlesungen I, 258. – Klein erläuterte dies wiederholt an Beispielen: Eine Kugel hat keinen derartigen Rückkehrschnitt, p=0; eine geschlossenen Ringfläche besitzt einen derartigen Schnitt (die Meridiankurve), d.h. p=1; und für p=2 führte er die Doppelringfläche (Form einer Brezel) an. Vgl. hierzu KLEIN 1925, 114-15. 68 [Protokolle] Bd. 1, 87-89. 69 Das „Geschlecht“ einer Fläche ist eine numerische topologische Invariante, die sich zur Klassifikation von Flächen eignet. Zu unterschiedlichen Bezeichnungen dafür bei Autoren im 19. Jahrhundert vgl. SCHOLZ 1980, 168. 70 [Protokolle] Bd. 1, 105. – Ein gute Darstellung über Riemannsche Flächen aus moderner Sicht, die Arbeiten von Klein mit einordnend, bietet LAMOTKE 2009. 71 Klein 1922 GMA II, 89; Math. Ann. 7 (1874) 558. 72 WIRTINGER 1919, 287.

122

3 Professur an der Universität Erlangen

Im Dialog mit Ludwig Schläfli entwickelte Klein seine Arbeiten weiter, klärte Grundbegriffe und erweiterte seinen Mannigfaltigkeitsbegriff implizit. Während Klein im Erlanger Programm nur relative Eigenschaften betrachtet hatte, begann er nun, zwischen relativen und absoluten Eigenschaften im Sinne der Analysis Situs (Topologie) zu unterscheiden: Absolut nenne ich diejenigen Eigenschaften, welche der betr. Mannigfaltigkeit unabhängig von dem umfassenden Raume zukommen, in welchem gelegen man sie voraussetzen mag. Relative Eigenschaften hängen von dem umgebenden Raume ab; sie sind invariant bei Verzerrungen der Mannigfaltigkeit, die innerhalb des betr. Raumes stattfinden, nicht aber bei beliebigen Verzerrungen.73

Als Beispiel für eine absolute Eigenschaft nannte Klein die (Nicht-)Orientierbarkeit einer Fläche. Zu den neuen Ansätzen, die Klein im Gebiet der Flächentopologie gewann, gehörte die Idee, die projektive Ebene als eine „Doppelfläche“ aufzufassen, d.h. modern, sie durch ihre Orientierungsüberlagerung zu ersetzen.74 Kleins Interesse an nicht-orientierbaren Flächen führte ihn zu dem nach ihm benannten Kleinschen Schlauch, wofür er 1881 ein Modell beschrieb (vgl. 5.5.1.2).75 In der zweiten Hälfte der 1870er Jahre gelangte Klein – wie er es selbst ausdrückte – schließlich zum echten Riemann, d.h. dazu, dass er nicht mehr die algebraische Gleichung zur Definition der algebraischen Kurve benutzte, sondern Riemanns Existenztheorem von der Fläche direkt herleitete.76 Er entwickelte seine Auffassung von der Riemannschen Fläche in Verbindung mit Arbeiten zur geometrischen Funktionentheorie weiter: Er gewann von einer differentialgeometrischen Grundlage her eine Charakterisierung der komplexen Struktur auf einer reell zweidimensionalen Mannigfaltigkeit, die den Begriff der Riemannschen Fläche von der elementaren, unmittelbaren Vorgabe durch Blätter- und Verzweigungsstruktur über der komplexen Ebene zu lösen gestattete.77

Klein erfasste über Clebsch und eher intuitiv, ausgehend von seiner geometrischen Art des Herangehens an Probleme, dass ihn Riemanns Zugang zur Funktionentheorie zunächst weiterbringen könne als der von Weierstraß. Reinhard Bölling, bester Kenner der Ideen von Weierstraß, führte überzeugend aus, wie durch Weierstraß’ Kritik an Riemann die Nase über diejenigen ge73 Klein, F.: „Ueber den Zusammenhang der Flächen“. Math. Ann. 9 (1875), 476-482, Zitat, 478; KLEIN 1922 GMA II, 67. – Es sei angemerkt, dass EPPLE 1999, 164-66, in diesem Kontext Kleins „Relativierung des Knotenproblems“ als neuen epistemischen Ansatz beurteilte. Heute unterscheidet man in der Topologie – die sich damals erst als Disziplin herausbildete – lokale und globale Eigenschaften von Räumen. 74 „Ich bin nun von Hrn. Schläfli brieflich darauf aufmerksam gemacht worden, dass man, unbeschadet der Richtigkeit dieser meiner Betrachtungen und Einwände, doch auch bei projectivischer Anschauung für die unbegränzte Ebene den Zusammenhang Null ansetzen kann, wenn man dieselbe nämlich als Doppelfläche betrachten will, also etwa als Gränze eines zweischaligen Hyperboloid’s.“ In: Klein, F. (1874): „Bemerkungen über den Zusammenhang der Flächen“. Math. Ann. 7 (1874) 550; KLEIN 1922 GMA II, 64. 75 KLEIN 1923 GMA III, 571. – Vgl. auch DOMBROWSKI 1990. 76 Vgl. KLEIN 1922, GMA II, 5. 77 SCHOLZ 1980, 181.

3.1 Forschungstendenzen und Doktorschüler

123

rümpft wurde, die an ihn anknüpften, wie sich aber letztlich Riemanns Konzept als weitreichender erwies als das von Weierstraß.78 Kleins Vergleich von Riemann und Weierstraß lautete: Riemann ist der Mann der glänzenden Intuition. Durch seine umfassende Genialität überragt er alle Zeitgenossen. Wo sein Interesse geweckt ist, beginnt er neu, ohne sich durch Tradition beirren zu lassen und ohne einen Zwang der Systematik anzuerkennen. Weierstraß ist in erster Linie Logiker; er geht langsam, systematisch, schrittweise vor. Wo er arbeitet, erstrebt er die abschließende Form.79

Getreu seinem Motto, alle Ansätze zu prüfen, integrierte Klein, wie schon angedeutet, auch funktionentheoretische Ansätze von Weierstraß in sein Methodenarsenal (vgl. bes. Abschnitt 5.5.2). Auf das Thema Riemannsche Flächen kam Klein wiederholt mit neuen Ansätzen zurück, hielt Vorlesungen darüber, die ausgearbeitet und neu ediert wurden.80 Sie vermitteln ein Bild vom Verschmelzen verschiedener mathematischer Teilgebiete, heuristischer Ansätze, dem Einbinden jeweils neuer Ergebnisse. Es sei hier schon erwähnt: Als Hermann Weyl im Wintersemester 1911/12 im Rahmen einer Vorlesung das Thema bearbeitete, auf Basis neuester Ergebnisse der Mengentheorie und Topologie, konnte er sich auf die bereitwillige Unterstützung und Diskussionen mit Felix Klein stützen, dem er die ersten beiden Auflagen seines Buches Die Idee der Riemannschen Fläche (11913, 21923) „in Dankbarkeit und Verehrung“ widmete.81 3.1.3.2 Gleichungstheorie Am 4. Dezember 1873 schrieb Klein an Lie, womit er sich demnächst befassen könnte: „Vielleicht gehe ich zu den Gleichungen über, die bei Repräsentation einer complexen Variablen auf der Kugelfläche durch die regulären Körper gebildet werden.“82 Sein grundlegendes Prinzip weiter verfolgend, „dass es in der Gleichungstheorie auf die Invariantentheorie solcher Formen ankommt, welche durch bestimmte discontinuirliche Gruppen linearer Substitutionen in sich übergehen“ (vgl. Abschnitt 2.8.2), sprach Klein in seinem Seminar am 7. Juli 1874 über „Eigenschaften, welche Gleichungen mit einer Unbekannten, die lineare Transformationen in sich besitzen, hinsichtlich ihrer Auflösbarkeit eigenthümlich sind.“83 78 79 80 81 82

BÖLLING 2016, 83-85; vgl. auch BOTTAZINI 1986. KLEIN 1926 Vorlesungen I, 246. Vgl. KLEIN 1986. Vgl. WEYL 1913. Vgl. auch Abschnitt 5.5.1.2. [Oslo] Klein an Lie, 4.12.1873. – Da die regulären Polyeder (Platonische Körper) auch in den folgenden Kapiteln vorkommen werden, sei angemerkt, dass Klein natürlich die Elemente des Euklid (300 v. Chr.) kannte, wo am Ende von Buch 13 gezeigt wird, dass es nur fünf Polyeder gibt, die von gleichen, gleichseitigen und gleichwinkligen Flächen begrenzt werden. Zuvor werden in den Elementen Sätze über das Einbeschreiben dieser Polyeder in eine Kugel hergeleitet. Bereits Platon nannte diese fünf regulären Polyeder in seinem Dialog Timaios. 83 [Protokolle] Bd. 1, 123.

124

3 Professur an der Universität Erlangen

Dabei betrachtete er speziell die Gleichung 12. Grades, „welche durch die Ecken des regulären Ikosaeder’s vorgestellt wird, leitete ab, dass die Gruppe dieser Gleichung, nach Adjunction der Irrationalität 5 , aus 60 Substitutionen besteht, und dass man die Lösung der Gleichung zurückführen kann auf die einer Gleichung fünften Grades mit adjungirtem Differenzenproducte.“84 Klein verfasste drei Arbeiten über die Theorie binärer Formen und die Gleichung 12. Grades, die er bei den Erlanger Sitzungsberichten einreichte (am 11.5. 1874, 14.12.1874 und 12.7.1875), für die Mathematischen Annalen weiter ausarbeitete und in seinen Gesammelten Abhandlungen (Bd. 2) kombinierte. Er zeigte darin vor allem, dass durch die regulären Polyeder (Tetraeder, Würfel, Oktoaeder, Ikosaeder, Pentagondodekader; später fügte er ein Dieder85 hinzu) endliche Gruppen linearer Substitutionen gewonnen werden können. Er erklärte deren Transformationen, d.h. Drehungen, die Dualitätsbeziehungen der Polyeder, und dass die Drehungen, welche einen regulären Körper mit sich selbst zur Deckung bringen, eine Gruppe bilden. Mit dem Hilfsmittel (sein Übertragungsprinzip) der Kugeloberfläche (Riemannsche Zahlenkugel) – welche die Ecken der Polyeder enthält – konnte Klein beweisen, dass es keine weiteren endlichen Gruppen linearer Transformationen gibt als die, die er mittels der Polyeder aufgezählt hatte. In Kooperation mit Paul Gordan setzte Klein die Arbeit an diesem Thema in München fort und kam auch in späteren Jahren wiederholt darauf zurück.86 3.2 PLAN DER UNTERRICHTSTÄTIGKEIT – ANTRITTSREDE Diese geringe Verbreitung mathematischer Kenntnisse ist wohl nur als ein Symptom eines schlimmeren und tiefer gehenden Misstandes zu betrachten, als ein Symptom der verhaengnisvollen Zweitheilung, die nur zu sehr in unserer Bildung Platz gegriffen hat und von manchen Seiten sogar principiell gebilligt wird: ich meine die Zweitheilung in humanistische und naturwissenschaftliche Bildung. Die Mathematik und was mit ihr zusammenhaengt, wird dabei der naturwissenschaftlichen Partie zugewiesen, wo sie ihrer Unentbehrlichkeit wegen allerdings ihren Platz findet, obgleich sie ihrem begrifflichen Inhalte nach weder zu der einen noch zu der anderen Kategorie gehoert.87

Dies legte Klein im November 1872 schriftlich nieder, als er sich auf seine Antrittsrede vorbereitete. Er hielt diese Rede am 7. Dezember 1872 vor einem weitgehend nichtmathematischem Publikum, darunter der Rektor der Universität, Rechtswissenschaftler August Bechmann. Der 23-jährige Felix Klein besaß ein dezidiertes Urteil über das Wesen und die Rolle der Mathematik: 84 [Protokolle] Bd. 1, 123. 85 „Bei diesen Untersuchungen entdeckte ich noch einen sechsten regulären Körper, das Dieder: Denken wir uns den von den Seiten eines regulären n-Ecks begrenzten Ebenenteil doppelt, so können wir diese Konfiguration als regulären Körper auffassen, der durch n Drehungen um seine Hauptachse und ebenso viele Umklappungen um Linien seiner Äquatorebene in sich übergeht. (Die übliche Definition des regulären Körpers stimmt genau, nur daß der eingeschlossene Raum Null ist […]).“ KLEIN 1926 Vorlesungen I, 340. 86 Klein beschrieb den Gang der Ereignisse selbst in KLEIN 1922, GMA II, 255-61. 87 Vgl. hier und im Folgenden Klein in JACOBS 1977, 19 Blatt (Antrittsrede).

3.2 Plan der Unterrichtstätigkeit – Antrittsrede

125

Glauben Sie nicht etwa, dass das Wesen der Mathematik in der Formel ruhe; die Formel soll nur eine exacte Bezeichnung der gedanklichen Verknuepfung sein. […] die Zeiten sind vorueber, in denen die Formel die Alleinherrscherin war oder doch den eigentlichen Gedanken zu viel zurueckgedraengt hatte, in dem man einen mathematischen Gegenstand als erledigt ansah, wenn er der Rechnung zugaenglich gemacht war. Das ist heute anders: wir verlangen ein inneres Verstaendnis des durch die fortschreitende Formelentwicklung bezeichneten Processes; wir glauben erst dann mit einem mathematischen Gegenstand fertig zu sein, wenn uns Anfang und Ende der Betrachtung als selbstverstaendlich durch einander gesetzt erscheinen.88

Klein philosophierte zugleich über den Platz der Mathematik im System der Wissenschaften und im gesellschaftlichen Raum. Er betonte sowohl den formalen Bildungswerth der Mathematik als auch deren Anwendungen, wobei er vor allem „die theoretischen Dienste, welche die Mathematik bei dem Ausbau anderer Wissenschaften leistet“ untersstrich. Er wählte seine Beispiele aus der theoretischen Physik: Theorie des Lichtes, Moleculartheorie, geometrische Optik, Theorie der Waermeleitung, Theorie des Potentials, Themen, in die er als Göttinger Privatdozent tiefer eingedrungen war. Er war sich damals bewusst, dass der mathematische Forscher nicht nach den Anwendungen bewertet wurde, die der akademischen Auffassung ferner stehen, wozu er die Vorausberechnungen der Astronomen, die Genauigkeit geodätischer Operationen und die Leistungen der Ingenieurkunst nannte.89 Diese akademische Auffassung schaute etwas herablassend auf technische Anwendungen, was Klein später nachdrücklich verändern helfen sollte. Um das in Schülerkreisen verbreitete Urteil zu überwinden, „dass es auf Mathematik doch nicht ankomme“90, plädierte Klein für eine anschauliche Unterrichtsmethode und entsprechende „mathematische Bildung der spaeteren Schulamts-Candidaten“. In diesem Sinne prägte er die Losung: Schaffen wir bessere Lehrer, so wird der Unterricht von selbst besser, dann wird die alte ihm zugewiesene Form sich mit neuem, lebenskraeftigen Inhalte fuellen!91 Klein wollte sowohl die logische Exposition, die Kunst des Trennens des Wesentlichen vom Unwesentlichen als auch geometrisches Zeichnen und Modellieren üben lassen. Er forderte mathematische Uebungen und die Selbstbeschaeftigung der Studirenden in Seminaren. Dabei verglich er mathematische Übungen mit Praktika naturwissenschaftlicher und technischer Fächer. Er empfahl bereits, dass Studenten ein Semester an einem Polytechnikum verbringen sollten, die er selbst aus Berlin und Darmstadt kannte.92 26 Jahre später ließ Klein dies in die preußische Prüfungsordnung für Lehramtskandidaten einfließen (vgl. 8.1.2). In Erlangen dauerte es zunächst geraume Zeit, bis Klein einen Übungsraum erhielt. In einem Schrank, der anfangs nur im Auditorium Platz fand, konnte er Modelle unterbringen. Erst im April 1874 überließ ihm der Mineraloge Friedrich Pfaff, Bruder des verstorbenen Mathematikers Hans Pfaff, einen Extraraum „für practisch-mathematische Uebungen im Zeichnen, Modelliren etc.“ Der Raum be88 89 90 91 92

JACOBS 1977, Antrittsrede, Bl. 10-11. Ebd., Bl. 7-9. Ebd., Bl. 14. Ebd., Bl. 15-16. Ebd., Bl. 17-18; LOREY 1916, 150.

126

3 Professur an der Universität Erlangen

fand sich innerhalb der mineralogischen Sammlung im Schloss. Klein sah dies als Lichtblick, wenn es dort auch erhebliche technische Probleme zu überwinden galt, wie schlechte Dielung, Heizungs- und Reinigungsprobleme.93 Der jährliche Etat des Erlanger Instituts war mit 50 Gulden äußerst gering; deshalb stellte Klein jeweils spezielle Anträge, so etwa für ein Polarplanimeter und für eine mechanische Rechenmaschine. Für Letztere, ein Exemplar der Thomas’schen Rechenmaschine, beantragte er am 2. März 1874 einen außerordentlichen Zuschuss von 100 Gulden für den Ankauf und erklärte, „dass eine solche Maschine nicht nur für den Unterricht aeusserst werthvoll wäre, sondern gleichzeitig für alle diejenigen Institute der Universität, für welche gelegentlich grössere numerische Rechnungen anzustellen sind.“ Diese Rechenmaschine demonstrierte er nicht nur in seinem Seminar, sondern auch in einer Sitzung der PhysikalischMedicinischen Societaet. Klein war der Erste in Deutschland, der eine derartige Rechenmaschine für ein Universitätsinstitut erwarb (Abb. 16).94 Klein nutzte die Apparate auch später in der Lehre und ließ die internationalen Entwicklungen im Gebiet der Rechenapparate durch Rudolf Mehmke und Aurel Voß darstellen.95

Abb. 16: Arithmomètre. Vierspezies-Rechenmaschine von Charles Xavier Thomas

93 [UA Erlangen] Ph.Th.I. Pos.20 V Nr. 8 (Eingaben Kleins, 19.12.1872; 16.4., 23.7., 9.11.1874. 94 [UA Erlangen] Ph. Th. I. Pos. 20 V, Nr. 8 (Die math. Apparate), Antrag v. 2.3.1874; Vorträge Kleins (Thomas’sche Rechenmaschine, 22.4.1874; Amlers Planimeter, 26.1.1875) [Protokolle] Bd. 1, 96, 149; [UB Erlangen] Ms 2565 [10] Protokollbuch der Phys.-med. Societaet, 27, Sitzung v. 11.5.1874. – Die Autorin dankt Rita Meyer-Spasche, München, für den Hinweis auf das Exemplar der Rechenmaschine, sowie Herrn Udo Andraschke, Zentralkustodie der Universität Erlangen-Nürnberg, für das Überlassen der Abbildung. 95 In KLEIN 1925, 11-16 ist die Theorie des Amslerschen Polarplanimeters erklärt. Rechenapparate sind behandelt in ENCYKLOPÄDIE Bd. I.2 (Mehmke, Numerisches Rechnen, 938-1079); Bd. II.1.1 (Voss, Anhang zu Differential- und Integralrechnung, 128-34).

3.3 Erste Reise nach Großbritannien 1873

127

Klein bezog mathematische Modelle von der Pariser Verlagsbuchhandlung Delagrave. Durch seine Reise nach Großbritannien 1873 (Abschnitt 3.3) lernte er weitere Modelle und Instrumente kennen, die er in seine Lehre einband: Mathematische Modelle von Olaus Henrici, eine Gezeitenrechenmaschine von William Thomson (die auf Methoden der harmonischen Analyse, Fourier-Analyse, basierte) sowie einen einfachen mechanischen Apparat, „der mit Hülfe blosser Kreisbewegungen geradlinige Bewegung erzeugt“.96 3.3 ERSTE REISE NACH GROßBRITANNIEN 1873 Ich glaube, jetzt erst am Anfange meiner eigentlichen Ausbildung zu stehen. Lass’ mich nach England, und vielleicht auch noch Italien und die dortigen Mathematiker sehen; dann trete ich Dir mit etwas originelleren Anschauungen gegenueber und bin dann vollauf bereit, mich in Deine Denkweise wieder hinein zu arbeiten.97

Dies schrieb Klein am 23. April 1873 an Sophus Lie. Er verschob seine Norwegen-Reise, weil er meinte, nur mit eigenen kreativen Ideen zu Lie – der mit seinen Theorien schnell voranschritt – kommen zu können. Er wollte ihm auf Augenhöhe begegnen, wie wir den Briefen wiederholt entnehmen können. Um sich auf die Reise zur britischen Insel vorzubereiten, nahm Klein gemeinsam mit seinem Doktoranden Wedekind Englischunterricht: „Ich habe zur Zeit viermal wöchentlich englische Stunde, lerne aber doch nicht viel, da der häusliche Fleiss = 0 und meine ganze Disposition für Sprachen gering ist. Indess freue ich mich auf die Reise.“98 Seine Bemerkung zur sprachlichen Disposition war gewiss ein understatement, denn Französisch und die alten Sprachen hatte er schon als 16-Jähriger recht erfolgreich beherrscht (vgl. 2.2.1). Am 8. August 1873 beschrieb Klein seinen Reiseplan: Also übermorgen geht’s fort. Ich treffe meinen Freund Smith in Leipzig; mit ihm reise ich dann über Hamburg nach Leith (Edinburgh). In Schottland will ich einige Wochen bleiben, um Mitte September in Bradford zur British Association zu sein. Cayley, an den ich mich wandte, hat mir sehr entgegenkommend geschrieben. Ich freue mich ausserordentlich, den alten Herren zu sehen. Ich bin sehr neugierig, was die wissenschaftliche Ausbeute meiner Reise sein wird (obgleich es auf die ja nicht allein ankommt), namentlich auch, ob meine Richtung eine bestimmtere wird, als sie in letzter Zeit war. Mich reizen eigentlich alle mathematischen Gegenstände; die Darstellung, wie ich sie in den Büchern finde, genügt mir meistens nicht entfernt oder die Dinge scheinen mir auf der anderen Seite zu selbstverständlich, als dass ich Lust zur Production hätte (wozu ich übrigens die letzten Wochen auch keine Zeit hatte).99

An seinen schottischen Freund William Robertson Smith erinnerte sich Klein noch in seiner Autobiographie dankbar, „der, von Hause aus Mathematiker und Physiker, sich theologischen und orientalischen Studien zugewandt hatte. Er hat 96 97 98 99

[Protokolle] Bd. 1, 67-68, Kleins Seminarvortrag am 5.11.1873. [Oslo] Klein an Lie, Brief v. 23.4.1873. ebd., Klein an Lie, Brief v. 28.6.1873; JACOBS 1977, Vorläufiges aus Erlangen, Bl. 6. [Oslo] Klein an Lie, Brief v. 8.8.1873.

128

3 Professur an der Universität Erlangen

mich später nach England eingeladen und mir die Verbindung mit den dortigen gelehrten Kreisen wesentlich erleichtert.“100 W. R. Smith hatte seit 1868 in Bonn, ab 1869 in Göttingen studiert, wo ihn der Theologe und Orientalist Julius Wellhausen prägte. Smith hatte durch Verweise auf die Arbeiten schottischer Physiker Kleins Göttinger Vorlesungen zur theoretischen Physik unterstützt. Sie hatten im August 1872 die erwähnte Bergtour unternommen. Nun starteten sie am 10. August 1873. Klein war erst am 16. Oktober zurück bei den Eltern in Düsseldorf. Nach fünf Wochen Insel-Aufenthalt berichtete Klein an Sophus Lie aus Kirkcaldy, einer schottischen Hafenstadt, über die Haltung britischer Wissenschaftler zu geometrischen Arbeiten. Sein Bericht bestand in der Quintessenz, dass er sich mit seinen geometrischen Forschungen zwischen allen Stühlen fühlte. D.h., Klein sah in Großbritannien eine andere übermächtige Richtung, „die mathematische Forschung nur in dem Masse treibt und hochschätzt als sie unmittelbare Anwendung gestattet“, vertreten durch Peter Gutrie Tait, wobei insbesondere physikalische Anwendung gemeint war. Von den Vertretern dieser Richtung würde Cayley, den Klein von Deutschland aus als helles Licht gesehen hatte, wenig geachtet. 101 Clebsch und seine Schüler hatten an Cayley angeknüpft.102 Bis zu Kleins Reise erschienen sieben Beiträge Cayleys in den Mathematischen Annalen; auch danach folgten weitere. Erstaunt über diesen Gegensatz in Großbritannien verglich Klein in seinem Brief an Lie mit dem vertrauten Gegensatz in Deutschland (Geometrie – Funktionentheorie) und schlussfolgerte für sich: zu verbinden. D.h., künftig sowohl Anwendungen geometrischer Forschungen in den Blick zu nehmen als sich auch stärker Funktionentheorie anzueignen. Als Klein an der 43. Jahresversammlung der British Association for the Advancement of Science teilnahm, die vom 17. bis 24. September 1873 in Bradford stattfand, traf er Arthur Cayley in einer durchaus respektablen Position. Cayley war einer der Vice-Presidents der Section A Mathematics and Physics und erhielt finanzielle Zuwendungen der Gesellschaft für die Publikation von Mathematical Tables, die z.B. viermal höher waren als diejenigen für Tait’s (renewed) ThermoElectricity.103 Es ist denkbar, dass Kleins durch Tait in Edinburgh gewonnenes erstes Urteil doch nicht repräsentativ gewesen ist. Nachdem Klein in Bradford zahlreichen Mathematikern begegnet war, darunter Cayley, James Joseph Sylvester104, Henry John Stephen Smith und William Kingdon Clifford, äußerte er: Von England soll ich Dir erzählen! Ja, das ist furchtbar schwer. Cayley ist ein ausserordentlich liebenswürdiger Mann, der dazu auf Alles eingeht, was man ihm vorträgt. Sylvester ist ganz anders, wenn ihn einmal etwas beschäftigt, redet er allen Leuten davon und ist ganz davon eingenommen. Ich wollte, er arbeitete stetiger; es ist wohl kein Zweifel, dass er genialer als Cayley ist; man ist allgemein in London derselben Meinung. Einer der feinsten ist übrigens Stephen Smith, der Dich ja in Christiania besucht hat; ich wollte, ich hätte mit ihm ausführlicher conferiren können. (Nach Oxford bin ich nicht gekommen). Dann endlich ist Clif100 101 102 103 104

KLEIN 1923a, 15. Vgl. [Oslo] Klein an Lie, Brief v. 14.9.1873, zitiert in TOBIES 2006, 15. Vgl. Noether, Max (1895): “Arthur Cayley”. Math. Ann. 46, 462-80. Vgl. REPORT 1874, S. x1vi; 1x; Cayley in Cambridge vgl. auch BARROW-GREEN 2006. Zu Sylvester vgl. PARSHALL 2006. – Vgl. auch Abschnitt 5.8.1.

3.3 Erste Reise nach Großbritannien 1873

129

ford da, der ‚göttliche’, wie sie ihn nennen, unter den Jüngeren entschieden der Beste, ein für mich in höchstem Maasse interessanter Mann, insofern sein Interesse nicht nur fast alle Zweige der Mathematik, sondern gleichmässig Naturwissenschaft und Philosophie vom mathematischen Standpuncte aus umfasst.105

Im selben Brief empfahl Klein, dass Sophus Lie doch immer seine Resultate auch an die London Mathematical Society und speziell an William Kingdon Clifford senden möge (legte die Adressen im Brief bei). Clifford war seit 1871 Professor am University College London. Er starb bereits 1879 im Alter von 33. Dennoch hinterließ er ein beeindruckendes mathematisches Werk, wovon hier nur erwähnt werden soll, dass er durch Riemanns differentialgeometrische Arbeiten beeinflusst worden war und sich enge Bezüge zu Kleins Arbeiten ergeben sollten. Cliffords Vortrag in Bradford „On a surface of zero curvature and finite extent“ regte Klein an, seinen Mannigfaltigkeitsbegriff und seine Auffassung von Analysis Situs (Topologie) zu erweitern.106 Klein strebte nach Verallgemeinerung. Nachdem Clifford im elliptischen Raum eine geschlossene zweidimensionale Mannigfaltigkeit entdeckt hatte, die im Kleinen zur euklidischen Ebene isometrisch ist, stellte Klein die Aufgabe (in seinen späteren Vorlesungen zur Theorie der automorphen Funktionen), alle Mannigfaltigkeiten konstanter Riemannscher Krümmung zu bestimmen. Wilhelm Killing nannte dies Clifford-Kleinsches Raumformenproblem. Obgleich Klein „Raumform mit mehrfachem Zusammenhang“ vorgeschlagen hatte, bestand Killing darauf: „Das Wesen der neuen Raumformen liegt in einem Gedanken, den Sie zuerst vollständig angesprochen haben.“ Und er schlussfolgerte: „Sie sehen, dass ich nur durch wichtige Gründe veranlasst, den Namen 'Clifford – Kleinsche' eingeführt habe; und ich hoffe, dass derselbe sich einbürgern wird.“107 Der Name bürgerte sich ein.108 Henry John Stephen Smith, Professor an der University of Oxford, fungierte bei der Tagung in Bradford als President der Section A Mathematics and Physics. Klein hatte schon 1871 dessen Report on the Theory of Numbers zu studieren begonnen, der ihm bei seinen späteren zahlentheoretischen Arbeiten eine wichtige Grundlage bilden sollte (vgl. Abschnitt 4.2.2). In Bradford hielt Smith einen Vortrag On Modular equations, ein Gegenstand, der für Felix Klein ein zentrales Thema werden sollte. In seiner Adresse als President beim Meeting in Bradford führte Smith nicht nur aus, dass diese Section bereits einige Jahre zuvor ein committee gebildet hatte to aid the improvement of geometrical teaching in this country. Euklidische Geometrie, die wie in Deutschland noch immer den Schulunterricht dominierte, sollte durch neue geometrische Methoden ergänzt/abgelöst werden. Smith hob Arthur Cayley und Felix Klein namentlich hervor, hinsichtlich the triumphs of modern geometry im Vergleich mit euklidischer Geometrie und erwähnte das „Parallelenpostulat“ (hier ebenfalls als Axiom 11 bezeichnet): 105 [Oslo] Klein an Lie, Brief v. 4.11.1873. 106 Vgl. SCHOLZ 1980, 170-74; KLEIN 1921 GMA I, 241, 253-82. 107 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 191 (Killing an Klein, 9.6.1891); Killing, W.: „Über die Clifford-Kleinschen Raumformen“. Math. Ann. 39 (1891) 257-78. 108 Zu Weiterentwicklungen vgl. KLEIN/ROSEMANN 1928, 256-60; RINOW 1961, 359.

130

3 Professur an der Universität Erlangen Two of those whose labours have thrown much light on this difficult theory are at present at this Meeting – Prof. Cayley, and a distinguished German mathematician, Dr. Felix Klein; and I am sure of their adherence when I say that the sagacity and insight of the old geometer are only put in a clearer light by the success which has attended the attempt to construct a system of geometry, consistent with itself, and not contradicted by experience, upon the assumption of the falsehood of Euclid’s eleventh axiom.109

Smith erwähnte in seiner Adresse auch James Clerk Maxwells gerade herausgekommenes Werk Treatise on Electricity und die zugrunde liegende mathematische Theorie. Dies entging Kleins wachem Auge nicht. Er studierte die Theorie und gewann später H. A. Lorentz für den einschlägigen ENCYKLOPÄDIE-Beitrag (vgl. 7.4). Stephen Smith verstarb bereits 1883, sandte aber zuvor noch seinen Schüler Arthur Buchheim zum Studium zu Klein (vgl. 5.4.2.1). Auf der Jahresbersammlung 1873 in Bradford bezog sich auch der Ire Robert Stawell Ball in seinem Vortrag auf Klein. Er sprach in der Section Mechanics and Physics über Schraubentheorie: „Contributions to the Theory of Screws“. Dabei nutzte Ball Kleins Theorie der Liniencomplexe des ersten und zweiten Grades mit einem System von sechs Fundamentalkomplexen.110 Die Schraubentheorie dient in der Mechanik der starren Körper dazu, um statische und kinematische Systeme zu beschreiben. Klein brachte Balls Ansatz mit nach Erlangen und veranlasste Lindemanns zu einem Nachsatz in seiner Dissertation „Ueber unendlich kleine Bewegungen und ueber Kraftsysteme bei allgemeiner projectivischer Massbestimmung“111. Später griff Klein das Thema noch einmal selbst auf, um das Gebiet mittels invariantentheoretischer bzw. gruppentheoretischer Methoden zu systematisieren, an sein Erlanger Programm anknüpfend.112 Zurückgekehrt aus Großbritannien, stürzte sich Klein in „Untersuchungen über Functionen“. Er drang ab Dezember 1873 tiefer in hyperelliptische Functionen ein und plante, im Sommer 1874 über Abelsche Functionen zu lesen. Klein versuchte, geometrische Themen, so „Kummersche Fläche und eingeschriebene ∞ 5 Tetraeder mit hyperelliptischen Functionen“ zu meistern. Mit Blick auf die erwünschte Kooperation mit Lie schrieb er: „Wenn ich dann im Herbste zu Dir komme, kenne ich einige Gebiete mehr als früher und kann dadurch vielleicht nützlich sein.“113 Beim Meeting in Bradford waren, wie erwähnt, neue mathematische Modelle und Instrumente präsentiert worden, die Klein unmittelbar in seine Lehre einfließen ließ (vgl. 3.2). So wie er derartige Instrumente für Universitätsinteressen insgesamt für nützlich hielt, blickte er auch auf den Austausch von Zeitschriften, den er erstmals mit britischen Organen anbahnte. Der Zoologe Ernst Ehlers infor109 Mathematics and Physics. Address by Prof. H.J.S. Smith, in REPORT 1874, 5. 110 REPORT 1874, 27. Ball schrieb: “A group of six coreciprocals is intimately connected with the group of six fundamental complexes already introduced into geometry by Dr. Felix Klein (see ‘Math. Ann.’ Band ii, 203).” 111 Math. Ann. 7 (1874) 144. 112 Klein, F. (1902): „Zur Schraubentheorie von Sir Robert Ball“. Zeitschr. f. Math. u. Physik 47; Math. Ann. 62 (1906) 419-48; KLEIN GMA I 1921, 503-32; vgl. auch KLEIN 1991. 113 [Oslo] Brief v. 12.12.1873, Klein an Lie.

3.3 Erste Reise nach Großbritannien 1873

131

mierte als Vorsitzender der Physikalisch-Medicinschen Societaet zu Erlangen in deren Sitzung vom 10. November 1873, daß Prof. Klein mit der Edinburgh Royal Society, mit der Mathematical Society of London und mit der Redaction der Zeitschrift „Nature“ einleitende Schritte zur Anbahnung eines Tauschverkehrs gethan habe und wird beschlossen, den genannten Gesellschaften die Sitzungsberichte zuzusenden.114

Der Zeitschriftenaustausch war ein wichtiges Mittel, um in der Forschung auf international neuestem Stand zu bleiben, denn nach Sichtung der Erlanger Universitätsbibliothek hatte Klein dort vorsintflutliche Verhältnisse vorgefunden. Deshalb hatte er bereits am 15. November 1872 finanzielle Zuwendungen für mathematische Literatur beantragt und betont, dass „Mathematik durchaus eine internationale Wissenschaft ist, und der eigene Fortschritt des producirenden Mathematiker’s ohne allseitige Fühlung mit den gleichzeitigen Betrachtungen Anderer wesentlich gehemmt“ ist. Sein Antrag dokumentiert seine Literaturübersicht und ein äußerst geschicktes Vorgehen (vgl. Anhang Nr. 2). Da der Bibliotheksetat insgesamt begrenzt war, diente der Zeitschriftenaustausch als ergänzendes Hilfsmittel. Es sei angemerkt, dass Klein sich auch an seinen weiteren Wirkungsstätten hartnäckig um den mathematischen Bestand der Bibliotheken kümmerte.115 Die British Association for the Advancement of Science nahm Felix Klein in Bradford 1873 als Corresponding Member auf.116 1875 wurde er auswärtiges Mitglied der London Mathematical Society.117 Diese verleiht seit 1884 aller drei Jahre eine De-Morgan-Medal, nach deren ersten Präsidenten und Mitbegründer Augustus de Morgan benannt. Klein erhielt 1893 als vierter Mathematiker (nach Cayley, Sylvester und Lord Rayleigh) diese Medaille, die bis heute nur äußerst wenigen nichtbritischen Mathematikern zuteil wurde.118 Die Cambridge Philosophical Society ernannte Klein am 6. Juni 1878 zum Ehrenmitglied.119 Die seit 1660 begründete Royal Society of London wählte ihn am 10. Dezember 1885 zum auswärtigen Mitglied und am 7. November 1902 zum Ehrenmitglied. Als vierter deutscher Mathematiker empfing Klein 1912 die Copley Medaille dieser Gesellschaft, nach Gauß (1838), Plücker (1866) und Weierstraß (1895). Die Medaille wird seit 1731 einmal im Jahr an einen Wissenschaftler beliebiger Fachrichtung verliehen und ist die höchstdotierte Auszeichnung der Royal Society.

114 [UB Erlangen] Ms 2565 [10], 21. 115 Klein unterzog die Kgl. Hof- und Staatsbibliothek in München einer Revision und erstellte mit Hilfe seines Assistenten W. Dyck eine Liste fehlender (insbes. ausländischer) Zeitschriften und Bücher. Er begründete die erwünschte Ergänzung für diese Bibliothek (neben den Institutsbibliotheken) mit der großen Zahl von Studenten, vgl. Kleins Briefe an den Direktor der Bibliothek Karl von Halm v. 20.1.1879, 17.2.1879 [BStBibl] Halmania VI. – Ähnlich agierte Klein mit Dycks Hilfe in Leipzig, vgl. [UB Leipzig] Ms. 0800 Nachlass Oberbibliothekar Koehl, Brief Kleins an Koehl v. 24.7.1881. – Für Göttingen vgl. FREWER-SAUVIGNY 1985. 116 REPORT 1874, 81. 117 BERICHT 1876, 8. 118 https://www.lms.ac.uk/prizes/list-lms-prize-winners#DeMorgan_medal 119 BERICHT 1878, 28.

132

3 Professur an der Universität Erlangen

3.4 ITALIENREISEN Inzwischen bereite ich mich jetzt wieder zu einer grösseren Reise vor: jetzt, wo Du Hochzeit machst und ich also nicht nach Norwegen kann, will ich nach Italien und dort wahrscheinlich den ganzen Herbst zubringen.120

Obgleich die Reise nach Italien schon länger auf Kleins Agenda stand, war sie im Sommer 1874 ein Ausweg. Klein wollte mit Sophus Lie arbeiten, endlich die mehrfach verschobene Norwegen-Reise starten: „[…] dass ich im Herbste nach Norwegen komme, betrachte ich als vollständig sicher“, schrieb er am 10. Februar 1874 an Lie.121 Klein hatte sich mit der ganzen Lebhaftigkeit, deren ich fähig bin, auf den norwegischen Reiseplan gefreut. Lies Angebot, ihn doch in Paris während der Hochzeitsreise zu besuchen, war für Klein keine Option. Klein hatte seine jüngeren Arbeiten so ausgerichtet, dass er sie in der Zusammenarbeit mit Lie culminiren lassen wollte. Das scheiterte, und Klein zog unmittelbar den Schluss: Ich werde nun zunächst selbständiger meinen Weg suchen müssen. Der ist mir durch die nun begonnene Vorlesung über Abel’sche Functionen zunächst vorgezeichnet. Ich werde suchen – und meine Mittheilung über Riemann’sche Flächen ist ein erster Schritt dazu – mir von diesem ganzen Gebiete geometrisch anschaulich Rechenschaft zu geben.122

Klein wollte italienische Mathematiker aufsuchen, sein Wissen erweitern und traf auf offene Arme. Die politische Einigung des Landes um 1861 hatte auch Mathematiker beflügelt, die z.T. an patriotischen Kämpfen beteiligt waren, im Zuge der Unabhängigkeit politische Ämter bekleideten und den Kontakt mit ausländischen Mathematikern förderten.123 Schon Alfred Clebsch gehörte den Akademien von Mailand und Bologna an. Felix Klein war früh in das Netzwerk eingebunden. Klein hatte in seiner Dissertation (Abschnitt 2.3.4) ein Ergebnis von Guiseppe Battaglini verallgemeinert, der Professuren in Neapel (1860) und Rom (1874) bekleidete und 1863 die Zeitschrift Giornale di matematiche mitbegründet hatte. Darin waren seit 1867 Battaglinis Arbeiten zur nichteuklidischen Geometrie, aber auch Jordans Arbeiten zur Gruppentheorie erschienen. Battaglini leitete die Zeitschrift bis zu seinem Tode 1894 und publizierte noch 1893 eine von Klein in Chicago gehaltene Rede. Klein organisierte den Zeitschriftenaustausch und stand auch mit Schülern von Battaglini in gutem Kontakt. Enrico D’Ovidio, der von Battaglini noch in Neapel zu Forschungen angeregt worden war, publizierte auch in den Mathematischen Annalen. Er besaß seit 1872 den Lehrstuhl für Algebra und Analytische Geometrie an der Universität Turin, lehrte dort anknüpfend an Plücker und Klein Liniengeometrie und begründete eine in Räumen von beliebiger Dimension gültige Metrik. Aus der Schule von D’Ovidio gingen u.a. Guiseppe Veronese, der 1880-81 bei Klein in Leipzig studieren sollte, und Corrado Segre hervor. Sie bauten das Thema der Hypergeome-

120 121 122 123

[Oslo] Klein an Lie, Brief v. 23.7.1874. [Oslo] Klein an Lie, Brief v. 10.2.1874. Ebd., Brief v. 26.4.1874. Vgl. dazu detaillierter NEUENSCHWANDER 1983.

3.4 Italienreisen

133

trie weiter aus.124 Francesco Gerbaldi, zu Beginn der 1880er Jahre Assistent von D’Ovidio in Turin, studierte zwei Jahre (1882-83) bei Klein in Leipzig. Sein späteres Resultat zu Symmetriegruppen, bezogen auf Klein, Wiman und Valentiner, wurde auch in den Mathematischen Annalen bekanntgegeben.125 Als Segre 1883 promovierte, sollten sich fruchtbare wechselseitige Anregungen mit Klein und dessen Schülern (Rohn, Hurwitz, G. Ch. Young, u.a.) ergeben.126 Segre erhielt bereits 1888 einen neben D’Ovidio frei gewordenen Lehrstuhl in Turin. Wir können es als Ausdruck eines besonders engen Verhältnisses zu den Mathematikern in Turin interpretieren, dass Klein seinen 50. Geburtstag dort feierte und dafür einen Vortrag „Mathematik in Italien“ vorbereitete.127 Klein wollte gar 1899 Segres Schüler Gino Fano, der das Erlanger Programm übersetzt hatte (vgl. 3.1.1), der 1893-94 bei ihm studierte und für die ENCYKLOPÄDIE arbeitete, für eine Professur in Göttingen gewinnen.128 Die erwähnte Übersetzung des Erlanger Programms war 1890 in den Annali di Matematica Pura ed Applicata erschienen, eine Zeitschrift, die durch weitere bedeutende italienische Mathematiker der älteren Generation geprägt wurde, zu denen Klein gute Kontakte fand. Als Herausgeber fungierte damals Francesco Brioschi (Milano); im Board wirkten Luigi Cremona (Roma), Enrico Betti (Pisa), Eugenio Beltrami (Pavia) und Felice Casorati (Pavia) mit. Mit Brioschi und Betti wird der Beginn der italienischen algebraischen Geometrie assoziiert. Beide hatten im Jahre 1858 gemeinsam mit Casorati eine Studienreise nach Frankreich und Deutschland unternommen, u.a. Riemann in Göttingen getroffen und ihn später nach Italien eingeladen. Sie übersetzten dessen Arbeiten und trugen in Vorlesungen darüber vor. Casoratis Buch zur Theorie komplexwertiger Funktionen, Teoria delle funzioni di variabili complesse (1868), Riemanns Funktionentheorie darstellend, hatte Felix Klein bereits im November 1872 für die Erlanger Universitätsbibliothek bestellt (vgl. Anhang Nr. 2). Als Generalsekretär des Unterrichtsministeriums schuf Brioschi das Polytechnikum in Mailand (1862) und eine damit verbundene Akademie. Er gehörte der Göttinger „Akademie“ seit 1869 als Korrespondent und seit 1870 als auswärtiges Mitglied an. Seine Ergebnisse zur Gleichungstheorie (Göttinger Nachrichten 1869; Math. Ann. 2 (1870), 467-70) sollten Klein auf dem Wege zur Ikosaedertheorie beeinflussen (vgl. 4.2.1). Mit Brioschis Doktorschülern Luigi Cremona und Eugenio Beltrami pflegte Klein gute Kontakte. An Cremona hatte er bereits am 30. Dezember 1868 ein Exemplar seiner Dissertation gesandt, 124 Zum Anknüpfen D’Ovidios an Kleins Arbeiten zur nichteuklidischen Geometrie vgl. auch SCHOENFLIES 1919, 294; zu Segre vgl. den Nachruf von TERRACINI 1926, wofür Klein noch dessen Briefe zur Verfügung gestellt hatte. – Vgl. auch Abschnitt 2.3.4. 125 Gerbaldi: “Sul gruppo semplice di 360 collineazioni piane”. Math. Ann. 50 (1898) 473-76. 126 Vgl. auch Abschnitt 2.3.4 und CASNATI et al. 2016. 127 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 22, 10 Blatt Vortragsdisposition. Die Korrespondenz zwischen Segre und Klein reichte von 1883 bis 1923 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 952-998B. 128 Brief v. 5.2.1899, Klein an Gino Fano, abgedruckt in TERRACINI 1952, 486. – Fano dankte Klein, meinte, es sei „bloße Phantasie“ und er würde einen Lehrstuhl in Italien bevorzugen (1899 Messina; 1901 Turin). [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 4A, Brief v. 10.2.1899.

134

3 Professur an der Universität Erlangen […] die einen Theil der Theorie der Complexe zweiten Grades zum Gegenstand hat. Mehr als einmal hat sich der verewigte Pluecker seit seiner Reise nach Oberitalien im vorigen Herbste dahin ausgesprochen, daß Sie der Einzige seien, welcher ihn ganz verstünde. Es liegt darin für mich die erhöhte Aufforderung, Ihrem geschätzten Urtheil meine Erstlingsarbeit zu unterwerfen, um so mehr, als ich zu einem Resultate gelangte, welches von demjenigen, das Battaglini seiner Arbeit über Complexe des zweiten Grades zu Grunde legt, abweicht.129

Cremona gehörte seit 1869 der Kgl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen als Correspondent an (1880 auswärtiges Mitglied)130 und publizierte seit 1871/72 in den Mathematischen Annalen. Er förderte vor allem die Theorie der Raumkurven 3. Ordnung, darstellende Geometrie und graphische Statik (vgl. auch 8.2.4). Klein informierte Cremona über seine Edition von Plückers Liniengeometrie und erbat dessen Urteil über Clebsch, dem Cremona selbst einen Nachruf widmete.131 Max Noether charakterisierte Clebsch und Cremona mit einem gemeinsamen Grundzug „[…] ganz entfernt von der Richtung auf Lösung bestimmter Einzelfragen oder auf abstrakte Prinzipienfragen, sondern vielmehr schöpferisch in der Methodik ihrer Wissenschaft“.132 Wir finden Ähnliches bei Klein. Als Klein seine erste Italienreise für August/September 1874 vorbereitete, hatte er am 23. Juli 1874 an Cremona geschrieben, dass er via Schweiz mit einem jüngeren Freunde – der wohl besser Italienisch beherrschte – nach Rom kommen will. Klein betonte, dass er besonders gern Cremona, Beltrami und Battaglini persönlich kennenlernen wolle133, und schrieb noch genauer über den Reiseplan: Genua, 25. August 1874 Hochgeehrter College und Freund! Wie Sie aus der Ueberschrift sehen, bin ich inzwischen in der That wenn auch nur erst in die nördlichen Partieen des schönen Italien eingedrungen und ich erlaube mir nun, in Beantwortung Ihres liebenswürdigen Briefes vom 4. August, Ihnen Näheres über meinen Reiseplan mitzuteilen. Ich werde am Donnerstage dem 27. August von hier aus per Dampfer in Neapel eintreffen und denke dann 10 – 12 Tage dort und in der Umgebung zu bleiben. Dann gehe ich zurück nach Rom, für welches ich etwa 3 Wochen angesetzt habe. Wenn Sie also, wie ich nach Ihrem Briefe glaube, bis Ende August noch in Sorrent sind (wovon ich Sie bitten möchte mich poste Rastante Neapel kurz benachrichtigen zu wollen), so komme ich mit meinem Reisebegleiter zusammen (Dr. C. Schmidt, einem Privatdocenten an der Universität Erlangen) Sie dort an einem Tage besuchen, was von Neapel aus ja ein Leichtes sein muß, und bespreche mit Ihnen, wo und wie ich Sie in Rom noch wiederholt sprechen darf. Ich mache mir freilich viele Vorwürfe, daß ich von der italienischen Sprache so fast gar Nichts weiß und daß ich fürchten muß, Ihnen in der Conversation, die am leichtesten wohl noch in Französisch gelingt, viele Mühe zu machen. Zum Glück ist es ziemlich leicht, sich über Mathematik zu verständigen – worin aber auch wohl der Grund liegt, dass ich so wenig Italienisch verstehe, da ich zufrieden war, wenn ich die mathematischen Arbeiten verstehen konnte. – Ich habe Ihnen noch Dank zu sagen für die Auskunft betr. Prof. Battaglini und Beltrami. Einen Brief von

129 130 131 132 133

[Roma] Klein an Cremona, Brief 2589 v. 30.12.1868; vgl. auch MENGHINI 1992-96; 1993. Göttingen Nachrichten, Geschäftliche Mitteilungen, 1895. [Roma] Briefe Kleins an Cremona, 2590-2593. Noether, Max: “Luigi Cremona”. Math. Ann. 59 (1904) 1-19, Zitat, 19. [Roma] Klein an Cremona, 2596, Brief v. 23.7.1874.

3.4 Italienreisen

135

Letzterem erhielt ich noch nicht, da ich schon ziemlich lange von Erlangen fort bin; es wird sich ja aber wohl noch arrangiren. In der Hoffnung also, Sie demnächst persönlich kennen lernen und von Ihnen hören und lernen zu können Ihr ergebenster Felix Klein134

Mit Eugenio Beltrami traf Klein in Venedig zusammen.135 Ihre Arbeiten über nichteuklidische Geometrie boten inhaltliche Bezugspunkte.136 Beltramis Arbeit „Zur Theorie des Krümmungsmaasses“ war in Band 1 der Mathematischen Annalen erschienen, und Klein hatte seit Januar 1873 „Beltrami’s Abhandlung ueber Differentialparameter studirt“ und in seiner Vorlesung benutzt, wie er an Lie berichtete: „Die Sache ist sehr schoen, aber bei unseren durch Clebsch begruendeten Invarianten resp. Connexbegriffen einer wesentlichen Ausdehnung, deren Begraenzung dann gerechtfertigt ist, faehig.“137 Klein suchte ein allgemeineres Verfahren und wollte das Thema mit Beltrami diskutieren. Ernesto Pascal, der 1888-89 bei Klein studierte, schrieb in einem Nachruf auf Beltrami, dass er durch Gauß’ Arbeiten geprägt worden sei, Riemann in Pisa getroffen und guten Kontakt zu Clebsch besessen habe. Beltrami erzielte herausragende Ergebnisse im Gebiet der Differentialgeometrie und empfahl eigene Schüler zum Studium bei Klein.138 Ein Treffen mit Enrico Betti scheiterte 1874. Betti hatte Riemann in Pisa gefördert, bekleidete dort Professuren für höhere Geometrie und Analysis (1859), theoretische Physik (1864) und Himmelsmechanik (1870). Klein schrieb am 8. September 1874 von seiner Unterkunft in Neapel, Hôtel Minerva, an Betti: „Durch Prof. Cremona hörte ich gestern, dass Sie wieder in Pisa eingetroffen sind, wo ich Sie neulich, als ich, auf der Dampfschifftour von Genua nach Neapel begriffen, einen Tag in Livorno Aufenthalt hatte, leider vergebens aufsuchte.“ Er informierte, dass er vom 24. bis 28. September in Florenz wohnen wolle (Hôtel et Pension Suisse) und: „An jedem der zwischenliegenden drei Tage bin ich gern bereit, nach Pisa zu kommen, wenn es mir auch angenehmer sein würde, mit Ihnen in Florenz zusammenzutreffen, da ich doch auch wesentlich die Stadt Florenz kennen lernen möchte […].“ Klein wünschte, mit Betti „über die Fragen betr. den Zusammenhang höherer Räume zu sprechen, über die ich von Ihnen Viel zu lernen hoffe.“139 Betti hatte sein Kommen nach Florenz für Samstag angekündigt, aber kurzerhand auf Sonntag verlegt. Klein verbrachte den Samstag im Hotel vergeblich wartend und nutzte schließlich den Sonntag für Besichtigungen.140

134 Ebd., 2597; Karl (Carl) Schmidt, Privatdozent der Theologie, vgl. UEBERSICHT 1874, 5. 135 JACOBS 1977, Vorläufiges aus Erlangen, Bl. 2; [Roma] Klein an Cremona, 21.11.1874. 136 Klein benannte später noch einen Fehler Beltramis in dessen erster Arbeit von 1868, vgl. KLEIN 1926, T. I, 154; zur Einordnung vgl. SCHOENFLIES 1919, 295; vgl. auch Nicola Arcozzi: „Beltrami’s Models of Non-Euclidean Geometry“, in COEN 2012, 1-30. 137 [Oslo] Brief v. 22.1.1873, Klein an Lie. 138 Pascal, E.: “Eugenio Beltrami”. Math. Ann. 57 (1903) 65-107; vgl. Abschnitt 5.3.2. 139 [Pisa] Brief v. 8.9.1874, Klein aus Neapel an Betti, lettr. 826. 140 [Pisa] Brief v. 2.10.1874, Klein aus München an Betti, lettr. 828.

136

3 Professur an der Universität Erlangen

Als Herausgeber der Mathematischen Annalen förderte Klein italienische Autoren. Bertini, Brioschi, Ascoli, D’Ovidio publizierten noch in den 1870er Jahren unter seiner Ägide. Die Nähe Münchens zu Italien förderte die Kontakte. Brioschi besuchte Klein im April 1877 auf der Hin- und Rückreise zum Göttinger Gaußjubiläum (100. Geburtstag).141 Cremona und Guiseppe Jung, Professor für graphische Statik in Mailand, kamen 1876 und 1877 zu Klein. (vgl. 4.3.3). In den Osterferien, vom 2. bis 25. April 1878, unternahm Klein eine zweite Italienreise, diesmal mit seiner Frau, wobei sie Pisa, Florenz, Bologna und Venedig besuchten.142 Klein hatte zuvor Cremona mitgeteilt, dass er „unbestimmte Reisepläne für nächste Ostern [habe], mit meiner Frau nach Italien zu kommen aber freilich nur nach Oberitalien, da Zeit und Verhältnisse schwerlich mehr gestatten.“143 Sohn Otto, noch nicht drei Jahre alt (vgl. Abschnitt 3.6.3), wurde in dieser Zeit bei den Verwandten in Erlangen untergebracht. Mit Betti klappte das Treffen diesmal. Klein schrieb ihm zuvor, dass „[…] meine Arbeiten eine Wendung genommen haben, die mich immer mehr auf Ihre algebraischen Untersuchungen zurückgreifen lässt.“144 In Pisa begegnete Klein auch Ulisse Dini, der Betti 1871 auf dem Lehrstuhl für höhere Geometrie und Analysis gefolgt war; Eugenio Bertini, einen Schüler Cremonas, der von 1875 bis 1880 hier Professor für Geometrie war; Ernesto Padova, der gefördert durch Betti 1872 eine Professur für theoretische Mechanik erhalten hatte.145 Betti blieb für Klein auch später ein Bezugspunkt. Noch 1882 erkundigte sich Klein bei ihm, gerade mit seiner Arbeit über Riemannsche Funktionentheorie befasst „über den Gebrauch geschlossener R. Flächen im Raume“ und „inwieweit eine Theorie der stationären Strömungen incompressibler Flüssigkeiten in irgendwie gekrümmten, aber geschlossenen Räumen von drei Dimensionen bereits von Riemann selbst entwickelt worden sein mag, ob Sie persönlich vielleicht an dieser Theorie weiter gearbeitet haben und wie sie die dahin gehörigen (oder doch dahin classificirbaren) Aeusserungen von Helmholtz und Thomson auffassen mögen?“146 Als erste ausländische Akademie nahm das Reale Istituto Lombardo di Scienze e Lettere in Mailand Felix Klein im Februar 1877 als Korrespondent in die Classe di Scienze matematiche e naturali auf. Brioschi hatte dort Ergebnisse Kleins präsentiert. Auch die ersten Ehrendoktortitel von insgesamt zehn sollten von italienischen Institutionen, in Turin (1880) und Bologna (1888), kommen.147 Als Klein im Jahre 1896 zum auswärtigem Mitglied der seit 1782 bestehenden L’Accademia Nazionale delle Scienze detta dei XL in Rom gewählt wurde, bedankte er sich bei Cremona für die freudige Überraschung und betonte, dass er 141 TOBIES/ROWE 1990, Klein an Mayer, Brief v. 11.5.1877. 142 [Pisa] Brief v. 30.4.1878, Klein an Betti, lettr. 830; JACOBS 1977, Vorläufiges aus München, Bl. 3. 143 [Roma] 2602, Klein an Cremona, Brief v. 4.11.1877. 144 [Pisa] Brief v. 30.3.1878, Klein aus München an Betti, lettr. 829. 145 [Pisa] Brief v. 30.4.1878, Klein aus München an Betti, lettr. 830. 146 [Pisa] Brief v. 13.3.1882, Klein, auf der Reise nach Norderney, an Betti, lettr. 832. 147 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 113 (Sammlung von Ehrendoktordiplomen); 114 (Sammlung von Mitgliedschaften in Akadmien, wiss. Gesellschaften).

3.5 Ausbau des mathematischen Instituts

137

selbst mit seinen „[…] wissenschaftlichen Leistungen vielfach unzufrieden gewesen sei und oft meine, meinen eigentlichen Weg erst suchen zu müssen.“ Klein verwies auf „seine alte Liebe zur Physik“ und legte einen gerade in Hannover gehaltenen Vortrag über technische Physik bei (vgl. Abschnitt 7.8). Er schloss das Schreiben an Cremona mit dem Dank für viele Anregungen durch italienische Mathematiker und vor allem für die gesandten „fähigen Zuhörer“, die „mir besonders werth geworden sind“.148 3.5 AUSBAU DES MATHEMATISCHEN INSTITUTS G.[ordan] und ich, wir ergänzen uns in so guter Weise, das sich dann unsere Erlanger Mathematik neben jeder anderen Universität sehen lassen darf.149

Klein, der besonders kreativ war, wenn er mit anderen Mathematikern kooperierte, sah die erfolgreiche Zusammenarbeit mit Lie dem Ende entgegen gehen und orientierte sich neu. Er hatte nicht nur den Kontakt zu britischen und italienischen Mathematikern verstärkt, sondern konnte ein Extraordinariat für Mathematik neben sich etablieren. Dies mag erstaunen, denn noch im Sommersemester 1874 gab es in Erlangen nur elf Studenten, die sich für Mathematik und Physik eingeschrieben hatten, bei einer Gesamtzahl von 442 Studenten an der Universität, wobei die meisten (166) Theologie studierten.150 Noch vor seiner Italienreise informierte Klein Sophus Lie, dass er „die grösste Hoffnung“ hege, Paul Gordan für Erlangen zu gewinnen.151 Klein arbeitete mit Gordan in der Redaktion der Mathematischen Annalen und wollte mit ihm die Zusammenarbeit von „Geometrie und Algebra in aller fortgeschrittenen Weise“ vertiefen.152 Der von Klein formulierte Antrag betreffend die Besetzung der neugegründeten außerordentlichen Professur der Mathematik, den die philosophische Fakultät am 20. Juli 1874 an den akademischen Senat gesandt hatte, enthielt die Namen von drei Clebsch-Schülern: 1) Paul Gordan, 2) Max Noether, 3) Aurel Voß.153 Der Text unterstrich Gordans bahnbrechende Leistungen, insbesondere sein erstmals 1868 bewiesenes sog. Endlichkeitstheorem, dass jede binäre Form ein „endliches Formensystem“ besitzt, d.h., dass jede Kovariante und Invariante einer gegebenen binären Form eine ganze rationale Funktion einer endlichen Anzahl solcher Kovarianten und Invarianten ist.154 Zugleich wurde betont, dass Gor148 149 150 151 152 153 154

[Roma] 2834. – Vgl. auch Abschnitte 4.2.4.2; 5.5.2.3. [Oslo] Klein an Lie, Brief v. 23.7.1874. UEBERSICHT 1874, 28. [Oslo] Klein an Lie, Brief v. 23.7.1874. Ebd., Brief v. 5.10.1874. Der Ruf an Gordan war inzwischen ergangen. Der volle Wortlaut ist abgedruckt in TOBIES 1992, 768-70. Gordan, P.: „Beweis, daß jede Covariante und Invariante einer binären Form eine ganze Function mit numerischen Coefficienten einer endlichen Anzahl solcher Formen ist“. CrelleJournal 69 (1868), 323-54. – Zur Einordnung, weiteren vereinfachten Beweisen durch Gordan selbst (1872) bis hin zu Hilberts Beweis von 1888 und Hilberts sehr allgemeinem Endlichkeitssatz von 1890, vgl. NOETHER 1914, 11-18; und Abschnitt 6.3.7.3.

138

3 Professur an der Universität Erlangen

dan in Gießen – wo er bereits seit 1864 Extraordinarius war – an der weiteren Karriere gehindert würde. Noether und Voß erhielten in diesem Antrag ebenfalls herausragende Beurteilungen ihrer Forschungs- und Lehrleistungen, womit die Kgl. Bayerische Staatsregierung schon auf beide vorbereitet wurde. Paul Gordan kam zum 1. Oktober 1874 mit einem Jahresgehalt von 1700 Gulden. Klein schlug ihn bereits am 8. November 1874 für die Mitgliedschaft in der Erlanger Physikalisch-medicinischen Societät vor, wo er mit Wahl am 14. Dezember integriert wurde. Wie jeder neu berufene Erlanger Professor hatte Gordan ein „Programm“ zum Eintritt in die philosophische Fakultät vorzulegen. Gordans Programmschrift Über das Formensystem binärer Formen (Leipzig: B.G. Teubner 1875, 52 S.) entstand, indem er diktierte und Klein aufschrieb.155 Klein sprach im eigenen Seminar, an dem Gordan teilnahm, dreimal über dessen Programm, am 10., 17. und 26. Februar 1875, noch bevor es gedruckt vorlag.156 Kleins aktuelle Untersuchungen betrafen „alle endlichen Gruppen von reellen Bewegungen des Raumes […], welche eine Kugel in sich überführen und ihren Fixpunkt im Innern derselben haben“. Er studierte dazu die regulären Körper, insbesondere das Ikosaeder, und ahnte, dass ihm Gordans „allgemeine Systemuntersuchungen“ wichtige algebraische Hilfe leisten konnten.157 Sowohl Klein als auch Gordan bedurften der Kooperation. Gordans Arbeitsweise, schwerfällig in der Handhabung der Feder, erforderte häufig, dass nahe Freunde (Clebsch, dann Klein und Max Noether) die endgültige Fassung seiner Arbeiten erledigten.158 Klein schätzte, wie bei Lie, dessen geniale Ideen. So informierte er denn auch Lie: „Ueberdies soll ich immer für Gordan redigiren, was ich gern übernahm, um ihm einen Gefallen zu thun und seine Sachen kennen zu lernen.“159 Noch am 17. November 1884 schrieb Gordan an Klein nach Leipzig: „Hiermit erhalten Sie meine Arbeit zurück; und ich sage Ihnen meinen herzlichen Dank für die große Mühe, welche Sie auf die Darstellung verwandt haben.“160 Nachdem Kleins Berufung nach München feststand, kümmerte er sich sofort um einen Nachfolger in Erlangen. Im Schreiben vom 12. Dezember 1874 an das bayerische Staatsministerium betreffend die „Wiederbesetzung der ordentlichen und evtl. auch der außerordentlichen Professur der Mathematik an der Universität Erlangen“ wurde Paul Gordan für das Ordinariat als einziger genannt und seine Ernennungsurkunde bereits am 28. Dezember 1874 ausgestellt, zum 1. April 1875 mit 2000 Gulden Jahresgehalt.161 Für das Extraordinariat waren Max Noether und Aurel Voß vorgeschlagen worden. Der erstgenannte Noether erhielt die etatmäßige Stelle zum 1. April 1875 mit 1500 Gulden.162 155 [Lindemann] Lebenserinnerungen, 54. 156 Gordan sprach in Kleins Seminar über seine Arbeit aus den Math. Ann. 7 (1874) 433-48, in [Protokolle] Bd. 1, 150 (Vortrag am 19.1.1875). 157 Vgl. hierzu NOETHER 1914, 21. 158 Ebd., 1-41, Zitat 7. 159 [Oslo] Brief v. 22.2.1875, Klein an Lie. 160 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 441, Bl. 46. 161 [UA Erlangen] T. II Pos. 1, Nr. 23 (Paul Gordan). 162 [UA Erlangen] T. II, Pos. 1, Nr. 6: Max Noether.

3.6 Allerlei Geselligkeit – Familiäres

139

Die konfessionelle Gebundenheit spielte bei diesen Berufungsverhandlungen in Erlangen keine Rolle. Max Noether und Paul Gordan stammten aus jüdischen Familien, wobei sich Gordan im Alter von 18 Jahren evangelisch hatte taufen lassen.163 Klein war bestrebt, die herausragenden Vertreter der algebraisch-geometrischen Schule in Positionen zu bringen. Seine Versuche, für Noether eine o. Professur mit Hilfe von Schülern und Kollegen zu erreichen, scheiterte wiederholt an explizit ausgedrückten antisemitischen Gründen.164 Max Noether erhielt erst im Jahre 1888 neben Gordan in Erlangen ein Ordinariat. Bereits seit 1882 hatten Paul Gordan, Felix Klein und Eugen Lommel dazu Anträge gestellt. Als Klein 1875 Erlangen verließ, hatte er dort ein Mathematisches Institut mit verbesserter Ausstattung an Personal, Räumen, Sammlungen und mathematischer Literatur in der Bibliothek aufgebaut. Zuvor hatten selbst Eulers Introductio und Lagranges Mécanique analytique gefehlt. (Vgl. Anhang Nr. 2) 3.6 ALLERLEI GESELLIGKEIT – FAMILIÄRES Die frühe ordentliche Professur erlaubte es Felix Klein, nahezu zeitgleich mit seinen älteren Freunden eine Lebenspartnerin zu wählen. Am 2. Dezember 1874 schrieb er an Sophus Lie, dass er nicht nur von „Gordan absobirt werde“, sondern ebenso „von Tanz- und Gesellschaftsgeschichten“165 3.6.1 Die Freunde heiraten und Felix Klein folgte Im Sommer 1872 hatte der sieben Jahre ältere Gaston Darboux die Anzeige seiner Vermählung an Klein geschickt. Felix Klein gratulierte und schrieb: Als ich in Paris war, haben wir von wenig mehr als von Wissenschaft gesprochen; es entsprach das unserer urspruenglichen Beziehung, dann aber namentlich auch der Entwicklungsperiode, in der Lie und ich sich damals befanden. Seitdem habe ich mich in hoeherem Grade wieder den allgemeinen menschlichen Interessen zugewandt; ich bin, zunaechst auf Kosten meiner wissenschaftlichen Thaetigkeit, Gesellschafts-Mensch geworden. Ein so freudiges Ereignis, wie Sie mir mittheilen, kann ich nicht melden; ich hoffe aber ueber Jahr und Tag in einer aehnlichen Lage zu sein.166

163 Diese Angaben verdankt die Autorin der gründlichen Recherche von Cordula Tollmien, die sie für ihre Emmy-Noether-Biographie unternahm; Mitteilung am 5.4.2016: Gordans Taufdatum 21.7.1855 St. Nikolai, Berlin, nach: Ancestry.com. Deutschland, Geburten und Taufen 1558-1898 [Datenbank online]. Provo, UT, USA: Ancestry.com Operations, Inc., 2014; FHL-Filmnummer 70021, 70022, 70023, 70024. 164 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 429, 430, Gordan an Klein, Briefe v. 18.10.1882, 23.10.1882. – Z. B. informierte Lindemann Klein am 14.5.1883: „Ihre Bemerkungen über Noether und Voss habe ich dem betr. Tübinger vorgelesen. Noether soll ausgeschlossen sein, da in Tübingen grundsätzlich kein Jude berufen werde. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 813. 165 [Oslo] Klein an Lie, Brief v. 2.12.1874. 166 [Paris] Klein an Darboux, Brief v. 28.8.1872, Bl. 62.

140

3 Professur an der Universität Erlangen

Sophus Lie verlobte sich, und Klein antwortete darauf am 1. Februar 1873: Das hatte ich mir wirklich nicht gedacht, dass Du mir darin zuvorkommen wuerdest. Erinnerst Du Dich unseres Gespraeches, als wir von Nuernberg nach Fuerth gingen, und beide so ganz darin einverstanden waren, dass es eine gute Sache sei, in den Hafen einer soliden Haeuslichkeit eingelaufen zu sein? Dass Du nun den Anfang machst, amuesirt mich um so mehr, als ich immer frueher, wenn mir einmal ein aehnlicher Gedanke durch die Seele schwirrte, mir sagte: Nein, dann kannst Du nicht arbeiten und Lie wuerde das nimmer mehr zugeben.167

Dass Sophus Lie und seine Frau auf ihrer Hochzeitsreise im Oktober 1874 über Köln reisten, wo sie nicht nur den Dom besichtigten, sondern auch Felix Klein und Adolph Mayer trafen, gemeinsam in Kleins Heimatort Düsseldorf reisten, wo Klein Lies erste gruppentheoretische Arbeit „Ueber Gruppen von Transformationen“ redigierte, deutet auf ihr ungebrochen gutes Verhältnis.168 Kleins Anteilnahme an den privaten Wegen weiterer Freunde verweist auf enge Bindungen. „Daß sich Riecke verlobt hat, wird Sie wie mich interessirt haben“, berichtete Felix Klein am 4. Mai 1874 an Otto Stolz.169 Ludwig Kiepert und Alexander Brill waren ebenfalls auf Freiersfüßen, wie Klein dem noch unbeweibten Stolz schrieb, als er ihm für Glückwünsche zur eigenen Verlobung dankte.170 Felix Klein und Anna Hegel (geb. am 24. Mai 1851), älteste Tochter von Karl Hegel, Professur für Geschichte an der Universität Erlangen, verlobten sich am Samstag, den 9. Januar 1875 (vgl. Abb. 17). Die Hochzeit folgte am 17. August 1875 in München171, nachdem Klein dorthin als Professor gewechselt und die „nachgesuchte dienstliche Bewilligung der Verehelichung mit Anna Hegel“ am 2. Juni 1875 erteilt worden war.172 Wie Felix Klein seiner künftigen Frau in Erlangen begegnet war, überlieferte Ferdinand Lindemann: Kleins ausbedungene Aufsicht über meine Bearbeitung von Clebsch’s Vorlesungen vollzog sich in der Weise, dass ich mit meinem Manuskript zu ihm ging und er dasselbe dann mit mir durchging. Nach einiger Zeit machte er aber den Vorschlag, es wäre doch einfacher, wenn er zu mir käme, da wir meist nach dem Spaziergange an meiner Wohnung vorbeikämen. Da bestellte ich bei Frau Brater173 einen Kaffee, den uns die Tochter Agnes174 mit ihrer Freundin Fräulein Hegel aufs Zimmer brachte, wodurch eine angenehme Unterbrechung und Abwechslung in die trockene Arbeit hineinkam. Erst später, als sich Klein mit Fräulein Hegel verlobt hatte, wurde mir klar, weshalb Klein die Durchsicht meines Manuskriptes lieber in meiner Wohnung vornehmen wollte.175 167 [Oslo] Klein an Lie, Brief v. 1.2.1873. 168 Ebd., Briefe v. 5.10., 10.10.1874. – Lie betonte hier (Göttinger Nachrichten 1874, 529-42, bes. 540) explizit Kleins gruppentheoretische Klassifikation und deren Wichtigkeit für andere mathematische Disciplinen; vgl. dazu auch STUBHAUG 2003, 242. 169 [Innsbruck] Klein an Stolz, Brief v. 4.5.1874. 170 Ebd., Brief v. 22.3.1875. 171 Zur Hochzeit in München [StB München] Dyckiania (Lindemann an Dyck, 24.9.1925). 172 [Archiv TU München] Personalakte F. Kleins II5. 173 Pauline Brater, Witwe des Publizisten Karl Brater; Schwester des verstorbenen Mathematikers Hans Ulrich Vitalis Pfaff. Sie vermietete aus Geldmangel Zimmer. 174 Agnes Brater verh. Sapper, wurde eine erfolgreiche Jugendbuchautorin. 175 [Lindemann] Lebenserinnerungen, 54.

3.6 Allerlei Geselligkeit – Familiäres

141

Abb. 17: Verlobungsanzeige, 9. Januar 1875

Lindemann berichtete auch, dass sich Klein seit Herbst 1874 plötzlich mehr dem Vergnügen gewidmet habe, einen Kostümball arrangiert und dort das Theaterstück Die Jobsiade (1784) hatte aufführen lassen.176 Dieses satirische Stück des Bergarztes Carl Arnold Kortum war 1872 gerade durch eine Bildgeschichte Wilhelm Buschs in das Blickfeld gerückt worden.177 An der Aufführung beteiligten sich Kollegen und Doktorschüler. Erlanger Professoren traten mit langen Perücken auf; sie hatten den verbummelten Theologie-Studenten Hieronymus Jobs zu examinieren. Kleins Doktorschüler Axel Harnack verkörperte diese Hauptrolle.178 176 [Lindemann] Lebenserinnerungen, 55. 177 Busch, W. (1872): Bilder zur Jobsiade. Heidelberg: Fr. Bassermann. 178 Axel Harnack und Adolf Harnack (Theologe) waren Zwillingsbrüder; ihr Vater war Professor der Theologie. Zu Kleins Zusammenwirken mit Adolf Harnack vgl. Abschnitt 8.3.4.2.

142

3 Professur an der Universität Erlangen

Mit dem Schritt in eine Ehe verband Klein auch ein besser Weiter-ArbeitenKönnen: „Inzwischen hoffe ich zuversichtlich, dass meine Verlobung und Verheirathung mir zur Arbeit nur förderlich sein sollen. Du glaubst nicht, wie viel mehr ich in den vergangenen Jahren fertig gebracht haben würde, wenn ich die Ruhe und Gleichmässigkeit gehabt hätte, die ich vom eigenen Hausstande erwarte.“179 Dass Klein ein Ballkleid seiner Braut mit mathematischen Ornamenten versehen ließ, können wir als symbolisches Verweben von Ehestand und Mathematik deuten. Aurel Voß überlieferte: „Die zierlichen Arabesken, welche diese Kurven innerhalb der Systeme der parabolischen Kurven der Fläche bilden, wurden von ihm später als Ornament für ein Ballkleid seiner Braut Anna Hegel […] verwandt.“180 Auf Felix Kleins Silberhochzeitsfoto vom August 1900 ist der Schwiegervater Karl Hegel im Alter von 86 zu sehen (Abb. 18). Er hatte kurz zuvor, im Zeitraum von November 1899 bis Juli 1900, seine Lebenserinnerungen niedergeschrieben, die mit Blick auf Felix Klein beleuchtet werden sollen. 3.6.2 Kleins Schwiegervater, der Historiker Karl Hegel Karl Hegel beschrieb, wie er mit „Willensdrang und Arbeit immer nur vorwärts gestrebt“ sei.181 Das ist vergleichbar mit dem Arbeitsethos seines Schwiegersohnes Felix Klein. Als Ältester von zwei Söhnen des großen Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel (vgl. Abschnitt 8.3.2) und seiner 21 Jahre jüngeren Ehefrau Marie von Tucher in Nürnberg geboren, hatte Karl Hegel die Orte mit den Positionen des Vaters gewechselt. Am Collège française in Berlin ausgebildet, war er primus omnium, Bester des Abiturjahrgangs der Schule, geworden und hatte durch den Gymnasialprofessor Johann Philipp Grüson gar Liebe zur Mathematik entwickelt.182 Nach dem Abitur im Alter von 17 studierte er zunächst in Berlin, wo sein Vater 1829/30 Rektor war und 1831 verstarb. Nach weiteren Studien in Heidelberg, Promotion 1837 in Berlin, absolvierte Karl Hegel 1838 das Lehramtsexamen (klassische Philologie, Alte und Neue Geschichte, Philosophie, Deutsch), lernte auf einer Reise Italiens Kunst und Kultur kennen und fand dort ein eigenes historisches Themenfeld. Aus dem Ziel, eine Geschichte der florentinischen Staatsverfassung zu schreiben, erwuchs ein Werk zur Geschichte der italienischen Städteverfassung (1847), welches Karl Hegel die „Genugthuung [brachte], dass man mich nicht nur als den Sohn meines Vaters wolle gelten lassen.“183 Bereits zuvor hatte er die Schulkarriere mit der Universitätskarriere vertauschen können, war zum Herbst 1841 einem Ruf als a.o. Professor für Geschichte an die Universität Rostock gefolgt. Vorbereitend darauf hörte Karl Hegel noch einige Vorlesungsstunden bei Leopold 179 180 181 182 183

[Oslo] Brief v. 22.2.1875, Klein aus Erlangen an Lie. VOSS 1919, 283. Zum Ornament vgl. Abschnitt 2.7.1, Abb. 10; KLEIN 1921 GMA I, 94. HEGEL 1900, Vorwort, III. Ebd., 5; 7. Ebd., 115. – Zu weiteren wissenschaftlichen Leistungen vgl. KREIS 2012.

3.6 Allerlei Geselligkeit – Familiäres

143

von Ranke, an dem sich sein Schwiegersohn Felix Klein ebenfalls orientieren sollte (vgl. 7.4; 8.3.1). Der Ranke-Schüler Georg Waitz war ein Freund und Kollege von Karl Hegel; und Klein war als Privatdozent in Göttingen von Waitz beeindruckt worden (vgl. 2.8.2.3). Während der bürgerlichen Revolution 1848 hatte Felix Kleins Vater treu zum Königshaus gehalten. Auch an Karl Hegel war das Ereignis der Revolution nicht spurlos vorübergegangen. Er agierte drei Jahre lang politisch zwischen Aristokraten und Demokraten, trat in Rostock für Pressefreiheit und Verfassungsreform ein, befürwortete jedoch keine tiefer gehenden Volkspetitionen. Hegel gründete die weitgehend regierungstreue Mecklenburgische Zeitschrift mit der Zusage, auf eine ordentliche Professur berufen zu werden. Wie er selbst urteilte, brachte ihm dieses Engagement reiche Erfahrung, aber keine grundlegenden Erfolge.184 Karl Hegel übernahm von 1854-56 das Amt des Rektors der Universität Rostock und folgte zum Herbst 1856 einem Ruf an die Universität Erlangen. Hier erfreute er sich des Vertrauens des bayerischen Unterrichtsministeriums, das ihn zum „Prüfungskommissär bei den Gymnasien in Erlangen, Schweinfurt und Hof ernannte“, später auch in München. Dies war eine bayerische Spezialität, die auch Felix Klein betreffen sollte, der regelmäßig zu Mathematik-„Absolutarialprüfungen“ (=Abitur) von Erlangen aus nach München reisen „durfte“.185 In Bayern wurden Universitätsprofessoren, nicht Schulmänner und Rektoren, zu diesen Prüfungen abgeordnet und hatten darüber an das Ministerium zu berichten.186 Vorbild für Klein mochte ein weiteres Agieren seines Schwiegervaters sein: die Tätigkeit in von Akademien geförderten Projekten. Karl Hegel gehörte einer historischen Kommission an, die durch Ranke initiiert 1858 bei der Kgl. Akademie der Wissenschaften in München angesiedelt worden war, um deutsche Reichstagsakten, Städtechroniken u.a. herauszugeben, etwas, was mit reichlichen Mitteln von der Staatsregierung gefördert wurde.187 So bereiste Karl Hegel für dieses Akademieprojekt zahlreiche Orte, auch Straßburg und Paris (1867). Kleins spätere Reisen für das ENCYKLOPÄDIE-Projekt, das seit den 1890er Jahren vom Kartell deutschsprachiger Akademien getragen wurde, sind damit vergleichbar. Seit 1867 gehörte Karl Hegel der Philologisch-historischen Klasse der Kgl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen als Korrespondent an. Zum auswärtigen Mitglied avancierte er dort 1871 am selben Tag, als Felix Klein Assessor in der mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse wurde. Karl Hegel etablierte in Erlangen Quellen basierte Geschichtswissenschaft und gründete 1872 ein Historisches Seminar. Er konnte Felix Klein nicht nur historisch, sondern auch hinsichtlich italienischer Kunst und Kultur beraten. Karl Hegel war seit 28. Mai 1850 mit seiner 13 Jahre jüngeren Cousine Susanne Tucher von Simmelsdorf verheiratet. Noch während der Rostocker Zeit 184 HEGEL 1900, 140-62. 185 So weilte Klein z.B. v. 5.-17.10.1874 zwecks dieser Prüfungen in München, im Hotel zum Goldenen Bären wohnend, vgl. Brief Kleins v. 5.10.1874 an Lie [Oslo]. 186 HEGEL 1900, 176. 187 Ebd., 177-79.

144

3 Professur an der Universität Erlangen

waren drei Töchter und ein Sohn geboren worden.188 Als seine Frau, die er um 21 Jahre überlebte, in der Neujahrsnacht 1877/78 nach längerer Krankheit in Erlangen verstarb, standen ihm zwei Söhne, vier Töchter und zwei Schwiegersöhne zur Seite.189 Zwei Jahre vor seinem Tode, 1899, nahm er eine vorläufige Vermögensteilung vor, um allen Kindern gleichmäßig gerecht zu werden.190 3.6.3 Anna Hegel, Felix Klein und Familie Der Hochzeitstag von Felix Klein und Anna Maria Caroline Hegel war ein Dienstag (17. August 1875). Annas Schwester Louise Friederike Caroline (*3. April 1853) hatte bereits am 6. Juli 1872 den Erlanger Professor für Experimentalphysik Eugen Lommel geheiratet, der bei Kleins Berufungsvorgang als Dekan der philosophischen Fakultät fungierte. Einen weitere Schwester von Anna, Maria (Marie) (*1855), betreute den Vater, nachdem die Mutter früh verstorben war. Bruder Georg (*1856) schlug eine bayerische Militärlaufbahn ein, und Bruder Wilhelm Sigmund (*1863) wurde Jurist und Regierungsrat an einem Patentamt. Die jüngste Schwester Sophie Louise (*1861) sollte für Felix Klein und seine Frau Anna besonders wichtig werden. Sophie Hegel hatte einen potentiellen Heiratskandidaten, einen mittellosen Offizier, nicht wählen dürfen und unterstützte ihre Schwestern. So kam sie z.B. zu Anna und Felix Klein nach Leipzig und half bei der Kinderbetreuung. Nebenher wurde ihr eine Gesangsausbildung ermöglicht. Seit 1890 lehrte Sophie Hegel Deutsch an einem privaten Institut in Malvern, in der Grafschaft Worcestershire in England. Im Jahre 1910 kehrte sie zurück und wohnte seitdem im Göttinger Haus bei Anna und Felix Klein. Sie pflegte ihren Schwager, der in den letzten Lebensjahren unter einer zunehmenden Lähmung der unteren Gliedmaßen leiden sollte, und ihre Schwester, die früh schwerhörig geworden war.191 Als Anna und Felix Klein ihre Silberhochzeit im August 1900 feierten, waren Annas Vater, zwei ihrer Schwestern und ein Bruder; ihre vier Kinder Otto (*6.8.1876), Luise (*24.11.1879) mit ihrem Verlobten, Sophie (*11.7.1885) und Elisabeth (*21.5.1888); zwei Geschwister von Felix Klein und dessen langjähriger Freund Neesen mit Tochter anwesend (Abb. 18). Alfred Klein schrieb in seiner Familien-Chronik vom Jahre 1918 über die vier Kinder von Anna und Felix Klein192: 188 HEGEL 1900, 164. 189 Ebd., 207. 190 Felix Klein regelte im Auftrage des Schwiegervaters die Teilung. Damit wurde eine Ungleichheit beseitigt, die durch differierende Vorschüsse entstanden war. Jedes Kind erhielt (von ca. der Hälfte des bei der Kgl. Hauptbank zu Nürnberg deponierten Capitalvermögens) 14420,00 M. Da Anna (Hegel) Klein 10100,00 M bereits erhalten hatte, standen ihr nur noch 3820,00 M zu. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 666-71. 191 [Privatnachlass Hillebrand] Nachruf auf Sophie Hegel, verfasst v. Dr. Sigmund Hegel. – Vgl. auch Abschnitt 9.5 im vorliegenden Buch. 192 [Nachlass Hillebrand] Alfred Klein (1918) 8-9.

3.6 Allerlei Geselligkeit – Familiäres a) b) c) d)

145

Otto, Ingenieur, war nach vollendeten Studien mehrere Jahre in Amerika und heiratete dort seine Frau Myrthel Cram. Er wohnt als Fabrikdirektor in Hannover193; Luise, heiratete den Ingenieur Fritz Süchting, jetzt Professor in Clausthal194. Sie haben 4 Kinder: Otto, Hildegard, Carla, Peter. Sophie, heiratete den Rechtsanwalt Eberhard Hagemann zu Verden. Kinder: Elisabeth, Gabriele, Eveline, Rudolf, Rose-Marie. Elisabeth: studierte Mathematik und Musik. Ihr Mann, Robert Staiger, den sie im August 1914 heiratete, fiel am 23. August 1914 in der Schlacht an der Sambre195 bei Charleroi.

Abb. 18: Zur Silberhochzeitsfeier von Anna und Felix Klein aufgenommenes Foto, am Sonntag, den 19. August 1900 Obere Reihe, stehend von links: Sohn Otto (24 Jahre), Prof. Dr. Friedrich Neesen (Freund von Felix), Sophie Hegel (Schwester von Anna), Dr. Sigmund Hegel (Bruder von Anna), Tochter Luise Klein (20 Jahre), Dr.-Ing. Fritz Süchting (Verlobter von Luise), Maria Hegel (Schwester von Anna), Dr. Alfred Klein (Bruder von Felix), Tochter Elisabeth Klein (12 Jahre), Untere Reihe, sitzend von links: Hanni Neesen (Tochter von Friedrich Neesen und Freundin von Luise), Eugenie Klein (Schwester von Felix), Prof. Dr. Karl Hegel (Vater von Anna), Anna Klein, Felix Klein, Tochter Sophie Klein (15 Jahre).

193 Otto Klein starb als Dipl.-Ing., Dr.-Ing. h.c. am 12.5.1963 in Göttingen (Sterbeurkunde, Standesamt Göttingen: Nr. 699/1963); [Privatnachlass Hillebrand] Klein, Alfred (1910). 194 Im Jahre 1910 war Fritz Süchting als Elektrizitätsdirektor in Bremen aufgeführt. 195 R. Staiger, Vizefeldwebel d. Reserve, fiel in Gozée, 15 km südwestlich der belgischen Stadt Charleroi. Die Schlacht v. 21.-23.8.1914 an der belgisch-französischen Grenze ist durch grausame Kriegsverbrechen berüchtigt.

146

3 Professur an der Universität Erlangen

Von den vier Kindern Anna und Felix Kleins war die jüngste Tochter Elisabeth die mathematisch Begabteste und besaß auch musikalisches Talent. Sie absolvierte nach Studium in Göttingen und einem USA-Aufenthalt (Bryn Mawr) 191011 das Lehramtsexamen in Mathematik, Physik und Englisch. Außerdem schloss sie ein Musikstudium in Leipzig an, weil sie die Verlobung mit Robert Staiger hatte durchsetzen können (Heirat am 2. August 1914). Staiger, Sohn eines Oberpostdirektors aus Leipzig, promovierte 1908 beim bedeutenden Musikwissenschaftler Hermann Kretzschmar in Berlin und übernahm zum Wintersemester 1911/12 die seit 1906 bestehende Akademische Orchestervereinigung Göttingen, wo er insbesondere Barockmusik pflegte. Er war dabei, sich zu habilitieren, als der Erste Weltkrieg ausbrach.196 Als Witwe erreichte Elisabeth Staiger eine bemerkenswerte Karriere, die bis zur Oberstudiendirektorin, d.h. Leiterin einer höheren Mädchenschule in Hildesheim, führte. 1933 nahm sie die Entlassung ihrer jüdischen Kolleginnen und das konservative Frauenbild der Nationalsozialisten nicht widerspruchslos hin. Sie behielt Rückgrat, wurde nach Hamburg-Harburg versetzt und zur Studienrätin degradiert.197 Elisabeth ragte bereits als Schulkind hervor; ihr musikalisches Talent wurde vorgeführt. Den älteren Kindern schien das Lernen schwerer gefallen zu sein.198 Otto Klein vergnügte sich beim Schauturnen, vermasselte sein Abitur Ostern 1894, begann als „Eleve“ bei der Eisenbahn und studierte Maschinenbau in Hannover. Felix Klein hatte sich 1895 von Wilhelm Kohlrausch, Elektrotechniker und damals Rektor der TH Hannover, beraten lassen, um für seinen Sohn eine geeignete Praktikumsstelle zu wählen.199 Otto Klein fand seinen eigenen Weg, indem er weit weg in die USA ging. Er berichtete als Konstrukteur einer Fabrik aus Hamilton/Ohio (12. Dezember 1903), als Oberingenieur aus Detroit/Michigan (29. Juni 1906), besuchte Weihnachten 1906 Oskar Bolza und Familie in Chicago200 und verlobte sich im Jahre 1908 mit einer Amerikanerin. Danach nahm er die Hilfe seines Vaters an, um im deutschen Werkzeugmaschinenbau unterzukommen. Klein nutzte Kontakte zu den industriellen Mitgliedern der Göttinger Vereinigung (vgl. 8.1.1). Versuche Felix Kleins, Sohn Otto zur Annahme einer Professur an einer Technischen Hochschule zu veranlassen, scheiterten. Alwin Nachtweh, Professor für Mechanische Technologie an der TH Hannover, informierte Felix Klein am 31. März 1910, dass eine Professur für Werkzeugmaschinenbau und Fabrikanlagen frei werde und an seinen Sohn gedacht sei. Felix Klein sandte umgehend dessen erbetene Adresse und freute sich: „Das ist ja eine ganz wunderbare Kombination. Mein Sohn ist seit Neujahr 1909 bei der Görlitzer Maschinenbauaktiengesellschaft tätig, Adresse Dipl.ing. Otto Klein, Görlitz, Reichertstr. 196 Die Ergebnisse seiner Dissertation über Benedict von Watt flossen ein in R. Staiger (1914): Benedict von Watt: ein Beitrag zur Kenntnis des bürgerlichen Meistergesangs um die Wende des XVI. Jahrhunderts. Leipzig: Breitkopf & Härtel. 197 Vgl. ausführlich zu Elisabeth Staiger geb. Klein, TOBIES 1993a, 2008; [BBF] Personalblatt. 198 [UBG] Cod. Ms Klein, 10: 201-392, Briefe Anna Kleins an ihren Mann Felix Klein. 199 Ebd. 10: 528, Kohlrausch an Klein, Brief v. 11.2.1895. 200 Ebd. 10: 319, Anna Klein an Felix Klein, Brief v. 4.1.1907.

3.6 Allerlei Geselligkeit – Familiäres

147

30/III. Es ist schon am besten, wenn er Ihnen selbst über seinen Lebensweg berichtet.“ Otto Klein gelangte an erste Stelle auf der Berufungsliste,201 lehnte aber mit der Begründung ab, sich nicht zum akademischen Lehrer zu eignen. Auch ein weiteres Angebot einer Professur an der TH Danzig schlug er aus. Dafür wechselte er 1913 in die Eisengießerei Hannover-Wülfel, die im Ersten Weltkrieg Kriegsbedarf herstellte und Kriegsgefangene beschäftigte.202 Fritz Süchting, der im Jahre 1900 Luise Klein heiratete, beriet sich mit seinem Schwiegervater über berufliche Entscheidungen. Vorgeschlagen durch Klein erarbeitete er mit Robert Fricke eine deutsche Version von John Perry, The calculus for engineers (London: Arnold, 21897).203 Dabei trug Klein bei, dass Süchting erstmals mit den Maxwellschen Gleichungen bekannt wurde.204 Süchting leitete Elektrizitätswerke, ermöglichte Studierenden praktische Kurse in seinem Bremer Betrieb und übernahm eine o. Professur für Maschinenbau und Elektrotechnik an der Kgl. Bergakademie Clausthal, nachdem ihm dort im Dezember 1912 alle Bedingungen erfüllt worden waren. An der Technischen Universität Clausthal existiert noch heute ein Fritz-Süchting-Institut für Maschinenwesen.205 Süchting pflegte ein sehr herzliches Verhältnis zum Schwiegervater, den er mit Lieber Papa anredete, und dessen Familientradition er auch beim Wandern folgte: „[…] eine Expedition mit […] Luise und 3 Kindern nach Riefensbeek tief im Sösetal, mit Rucksack voll unendlicher Mengen von Kuchen und Einkehren in der Dorfschenke zum Kaffee, wie früher Kleins auf dem echten Rohns.“206 Sophie Klein brachte während der Schulzeit einen Tadel nach dem anderen nach Hause und sah sich später von Verehrern umschwärmt. Mutter Anna Klein berichtete ihrem Mann am 15. August 1903 über die Wundermacht der Liebe, die sie bei ihrer Tochter Sophie erkannte: „Eine Mutter empfindet ja alles doppelt, einmal für das Kind u. dann aus eigener Erfahrung. Da ist es eben traurig, wenn der Mann nicht da ist u. wenn er neuerdings meint, überhaupt nicht mehr zärtlich sein zu können und zu dürfen.“207 Sophies damaliger Verehrer kam nicht in Frage. Felix Klein nahm potentielle Ehekandidaten hinsichtlich ihrer finanziellen Verhältnisse genau in Augenschein. Sophie Klein heiratete schließlich 1908 den fünf Jahre älteren Eberhard Hagemann, der von 1908 bis 1931 in Verden (Stadt an der Aller, die zur preußischen Provinz Hannover gehörte) als Rechtsanwalt tätig war 201 202 203 204

[UBG] Cod. Ms Klein 11: 1,2 (Nachtweh an Klein, 17.6.1910). [UBG] Cod. Ms Klein 10: 452, 454 (Briefe v. 19.6.1910, 28.10.1910); 400, 403 (23.4.1914). [UBG] Cod. Ms Klein 11: 1288 (F. Süchting an F. Klein, 12.7.1900). – PERRY 1897/1902. Klein an Fricke, 14.7.1901 [UA Braunschweig]: „Wie kommst Du denn mit Süchting zurecht? Er kannte noch nichts von den Maxwellschen Gleichungen und ich habe ihm als Einführung Ebert’s neu erschienene Theorie des Elektromagnetismus empfohlen.“ Ebert, Hermann (1897): Magnetische Kraftfelder. Leipzig. J. A. Barth (21904). 205 Vgl. https://www.imw.tu-clausthal.de/institut/wissenswertes/. Zugriff: 19.10.2016. 206 [UBG] Cod. Ms Klein 11: (F. Süchting an Klein, 1.10.1913). – Auf den Rohns (auf den Hainberg) zu wandern (vgl. Abb. 28 in Abschnitt 6.1), war ein beliebtes Wanderziel für viele Göttinger Professoren, Studenten, Bürger geworden, seitdem der Bauunternehmer Christian Rohns dort 1830 ein Gasthaus im Stile des Klassizismus errichtet hatte. 207 [UBG] Cod. Ms Klein 10: 274, Anna Klein an Felix Klein, Brief v. 15.8.1903.

148

3 Professur an der Universität Erlangen

und seit 1924 zusätzlich den Vorsitz des Landtags der Provinz Hannover führte. Von 1931 bis 1933 fungierte er als Landeshauptmann, d.h. Vorsitzender der Landesregierung Hannover. Während der NS-Zeit beschränkte sich Hagemann auf die Tätigkeit als Rechtsanwalt, wobei er 1936-37 das Mandat des aus jüdischem Elternhause stammenden evangelischen Göttinger Pastors Bruno Benfey übernahm, der aus seinem Amt gedrängt worden war. Es gelang, Benfey die legale Ausreise nach Holland zu ermöglichen.208 Nach 1945 erhielt Hagemann zahlreiche Ehrungen, darunter die Ehrendoktorwürde Dr. jur. h.c. der Universität Göttingen am 15. Februar 1950.209 Anna Kleins liebevolles Verhältnis zu ihrem Mann, ihre Vertrautheit mit seinen Vorhaben, ihr Mitdenken bei Problemen, das Managen der Korrespondenz in seiner Abwesenheit spiegelt sich in ihren zahlreichen Briefen, die sie ab Januar 1907 mit einer mechanischen Schreibmaschine verfasste: „Dies Geschreibe macht mir grossen Spass.“210 Anlässlich des 62. Geburtstages ihres Mannes formulierte sie, und damit blicken wir schon etwas voraus in Felix Kleins Biographie: Liebster Mann! Es wird bald zur Regel bei uns dass wir die Geburtstage ebenso wie unseren Hochzeitstag getrennt verleben. Ich füge mich darein in dem tröstlichen Gedanken dass Dir dies abwechslungsreiche Leben mit seinen energischen Anregungen Freude macht und Dich so jugendlich erhält wie es wenigen unter Deinen Altersgenossen vergönnt ist. So wünsche ich Dir und mir zu dem morgigen Geburtstag dass Dir die Freude im Schaffen und die Zuversicht am Gelingen Deiner Arbeiten noch länger treu bleiben möchte. Wenn Du auch nicht mehr so klettern kannst wie ehedem so haben Deine Kräfte doch noch nie versagt wenn es Dir darauf ankam etwas zu erreichen was Dir wertvoll erschien. Und ich hatte wohl Recht Dich in den Jahren der Krankheiten und Hemmnisse immer wieder mit dem Wort zu trösten: „Lass Dir an meiner Gnade genügen, denn Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig.“ Unter dem vielen was Du angestrebt und unternommen hast war mir das Gelingen der Göttinger Vereinigung immer das erstaunlichste und erfreulichste. So hoffe ich denn auch jetzt dass die Verschmelzung zu gemeinsamer Arbeit mit den Berliner Herren die Frucht der jetzigen Tagung sein möchte. […]211

208 209 210 211

Für den Hinweis darauf dankt die Autorin Herrn Oswald Glaser, Stuttgart. Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Eberhard_Hagemann [UBG] Cod. Ms Klein 10: 319. [UBG] Cod. Ms Klein 10: 361, Brief v. 24.4.1911. – Anna Klein setzte keine Kommata; sie war religiös; am Familientisch wurde gebetet. – Die Göttinger Vereinigung tagte am 24. und 25. April 1911 in Essen, eingeladen durch die Friedrich Krupp A.G.; die daran beteiligten „Berliner Herren“ waren Vertreter der Ludwig Loewe & Co. AG (Deutsche Waffen- und Munitionsfabriken, Berlin-Reinickendorf). Vgl. zur Göttinger Vereinigung Abschnitt 8.1.1.

4 PROFESSUR AM POLYTECHNIKUM IN MÜNCHEN Bei der Neuorganisation der Technischen Hochschule durch Bauernfeind hatte dieselbe das Recht erhalten, ebenso wie die Universität Lehramtskandidaten für Mathematik und Physik auszubilden. Nur in Rücksicht hierauf konnte sich Klein zur Annahme des Rufes entschließen, er war sich aber klar darüber, dass die Ausbildung von Mathematikern an der Hochschule nur durch Schaffung einer weiteren ordentlichen Professur für Mathematik wirklich durchgeführt werden könnte.1

Ferdinand Lindemann überlieferte dies, und so es ist in viele Darstellungen eingegangen. Wenn wir genau hinschauen, schuf nicht Klein eine weitere Professur, sondern beeinflusste nur deren Besetzung. Ausgehend von der 1794 gegründeten École polytechnique in Paris waren europaweit polytechnische Schulen entstanden, die seit Ende der 1870er Jahre in Technische Hochschulen umbenannt wurden. Sie dienten vornehmlich der Ausbildung qualifizierter Kräfte für die Wirtschaft, von Ingenieuren und Architekten, für die damals an Universitäten keine Studiengänge bestanden. Felix Klein schätzte seit seinen Aufenthalten in Berlin und in Paris derartige Institutionen mit ihrem hohen Anteil an mathematischer Lehre und Forschung.2 München wurde 1158 als Stadt erstmals erwähnt, erreichte im Jahre 1850 mit 100.000 Einwohnern den Status einer Großstadt und wuchs in den folgenden dreißig Jahren so rasant, dass sich die Einwohnerzahl mehr als verdoppelte. In der Regierungszeit von König Ludwig II. (1865–1886) entfaltete sich das Musik- und Theaterleben, entstanden zahlreiche Großbauten für Kunst, Kultur, Bildung. Seit 1871 gab es mehrere Eisenbahnverbindungen und Bahnhöfe. In der Innenstadt verkehrte seit 1876 eine von Pferden gezogene Trambahn. Die bayerische Universität (Ingolstadt, Landshut) war im Jahre 1826 nach München verlegt worden und hatte bereits zu dieser Zeit ca. 1000 Studenten. Seit 1827 existierte auch eine polytechnische Institution, die eine wechselvolle Geschichte erlebte. Die oben im Zitat erwähnte Neuorganisation des Polytechnikums führte am 12. April 1868 zur Kgl. Bayerischen Polytechnischen Schule (ab 1877 Technische Hochschule). Der genannte Karl Max von Bauernfeind, Professor für Geodäsie und damaliger Direktor, orientierte sich an den Polytechnika in Zürich und Dresden, wo neben Ingenieuren auch Lehramtskandidaten ein volles Studium absolvieren konnten. Das Münchener Polytechnikum wurde in fünf Abteilungen gegliedert: eine Allgemeine, Ingenieur-, Hochbau-, Mechanisch-technische und eine Chemisch-technische Abteilung. 1868 wurden zahlreiche neue Professoren beru-

1 2

[Lindemann] Lebenserinnerungen, 56. Vgl. KLEIN 1926 Vorlesungen I, 63-93; HENSEL et al.1989.

149 © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Tobies, Felix Klein, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58749-2_4

150

4 Professur am Polytechnikum in München

fen, die für Klein wichtig werden sollten, darunter Otto Hesse für Mathematik3, Carl Linde für Theoretische Maschinenlehre, Johann Bauschinger für Technische Mechanik und Graphische Statik. Seit der Reorganisation des Polytechnikums war die Zahl der Studenten auf mehr als das Dreifache gestiegen, d.h. ebenfalls über tausend.4 Deshalb hatte Otto Hesse am 31. Mai 1873 eine weitere Professur für Mathematik beantragt, obgleich neben ihm in der Allgemeinen Abteilung noch Johann Nicolaus Bischof Trigonometrie, algebraische Analysis und Geometrie lehrte. Bischof leitete jedoch zugleich die Bibliothek des Polytechnikums. Im Rahmen der Mechanisch-technischen Abteilung bestand noch eine Professur für Darstellende Geometrie und mechanische Technologie, die Friedrich August Klingenfeld inne hatte.5 Das Kgl. Bayerische Staatsministerium des Innern für Kirchen- und Schulangelegenheiten hatte Otto Hesses Antrag genehmigt, bevor dieser am 4. August 1874 verstarb. Somit konnten zwei mathematische Professoren neu berufen werden. Die von diesen zu haltenden Grundvorlesungen wurden zwischenzeitlich vertreten: Der Universitätsprofessor Gustav Bauer übernahm Analytische Geometrie; der aus Erlangen Umhabilitierte Siegmund Günther6 las Differentialrechnung. Analytische Mechanik wurde dem zweiten Privatdozenten Wilhelm Schüler übertragen. Dieser war als Repetitor auch für die Übungen zuständig. Die Berufungsliste für Otto Hesses Nachfolge enthielt nur einen Namen: Felix Klein, mit Verweis auf dessen „[…] aussergewöhnlichen Ruf, welchen dieser junge Gelehrte sowohl durch seine Arbeiten auf dem Gebiete der Wissenschaft, als durch seine Leistungen als Lehrer sich erworben hat.“7 Außerdem wurde damit argumentiert, Klein auf diese Weise für Bayern erhalten zu wollen. Klein akzeptierte bedingungslos und ohne zu zögern am 19. November 1874, mit einem breiteren Wirkungsfeld rechnend.8 König Ludwig II. unterzeichnete die Anstellungsurkunde am 2. Dezember 1874, sodass Klein als Mitglied des Lehrerraths der polytechnischen Schule über die noch unbesetzte zweite Mathematikprofessur mit befinden konnte, wenn er sein Amt auch erst zum 1. April 1875 antrat.9 Klein erzielte im Lehrerrath eine Mehrheit für seine Vorschläge: Alexander Brill an erster Stelle, Jacob Lüroth an zweiter, beides Clebsch-Schüler, die schon an polytechnischen Schulen lehrten. Bei der Entscheidung im Lehrerrath führte der Physiker Wilhelm Beetz als neuer Direktor des Polytechnikums den Vorsitz; 3 4 5 6

7 8 9

In seinem Nachruf auf Hesse unterstrich Klein vor allem, dass dieser gezeigt habe, „dass die Probleme der neueren Geometrie als algebraische aufgefasst und mit algebraischen Mitteln durchgeführt werden können“, KLEIN 1875, 46. Vgl. hierzu HASHAGEN 2003, 41. BERICHT 1875, 19-20; die Angabe in STRÖHLEIN 1989, 3, ist falsch. BERICHT 1875, 6, 15. – Als Klein kam, wurde Günther zum April 1875 als Hilfslehrer an die Studienanstalt in Amberg abgeordnet, BERICHT 1876, 6. Als Gymnasialprofessor in Ansbach (1876-86) erkannte Günther das Talent von Heinrich Burkhardt, der sich später unter Felix Klein habilitieren sollte (vgl. Abschnitt 6.3.2). Antrag an das Ministerium v. 1.11.1874, abgedruckt in TOBIES 1992, Zitat 757-58. Klein, Brief v. 19.11.1874 an den Rektor Wilhelm Beetz, in TOBIES 1992, 770-71. Vgl. hier und im Folgenden TOBIES 1992.

4.1. Neues Institut und Neuer Lehrbetrieb

151

die schon älteren Mathematik-Professoren der Universität, Gustav Bauer und Ludwig Seidel10, saßen mit beratender Stimme im Gremium. Nur Bischof und Bauschinger sowie Bauernfeind als stellvertretender Direktor im Directorium hatten für einen anderen Kandidaten gestimmt.11 Daraus resultierte insbesondere zwischen Bauernfeind und Klein ein gespanntes Verhältnis, weshalb Klein das von Bauernfeind vertretene Fach Geodäsie zunächst weniger zur Kenntnis nahm. Felix Klein und Alexander Brill traten ihre Professuren mit der Denomination analytische Geometrie, Differential- und Integralrechnung und analytische Mechanik am 1. April 1875 an. Gemeinsam konnten sie ein mathematisches Institut auf- und umbauen, sowie das Lehrprogramm umgestalten (vgl. 4.1). Abschnitt 4.2 zeigt im Überblick, wie sich Klein in München „zur eigentlichen mathematischen Individualität“ entfaltete, „über anschauliche Geometrie der algebraischen Gebilde, über die Theorie der Gleichungen fünften Grades, die sich auf die Ikosaedergruppe aufbauten, über zahlentheoretische Probleme und über die geometrische Funktionentheorie, insbesondere Modulfunktionen“ arbeitete12 und welche Kooperationspartner und Schüler ihn umgaben. Klein gewann Zugang zu Vertretern technischer Gebiete und die Einsicht, dass Technik ein wichtiges Anwendungsfeld für Mathematik ist und zur ganzheitlichen Bildung gehört: „Die praktische Ausbildung nach technischer Seite sollte Hand in Hand mit der theoretisch-wissenschaftlichen Ausbildung gehen, so daß eine einheitliche Gesamtausbildung möglich erschien.“13 (Abschnitt 4.3) In 4.4. wird diskutiert, warum Klein erneut den Ort wechseln wollte und wie er dies erreichte. 4.1. NEUES INSTITUT UND NEUER LEHRBETRIEB Felix Klein und Alexander Brill starteten ihre Tätigkeit nach außen hin gleichwertig. Während Klein jedoch ein Jahresgehalt von 2500 Gulden (ab 1.1.1876: 5100 Mark) bezog, erhielt der sieben Jahre ältere Brill nur 2000 Gulden (ab 1.1.1876: 4200 Mark). Beide empfingen zudem für 1875 eine „Theuerungsrate“ von 350 Gulden und eine Umzugsentschädigung. Zum 1. Oktober 1877 wurde Kleins Gehalt auf 5460 Mark erhöht.14 Zusätzlich konnten beide aufgrund der großen Hörerzahlen mit Kollegiengeldern rechnen, die für Klein ermittelt wurden: Die Summen reichten von 870 M im WS 1876/77 bis 1500 M im WS 1879/80. Dabei hatte er zehn bis 14 Wochenstunden Lehre zu absolvieren.15 10 Seidel las regelmäßig am Polytechnikum zu Methoden astronomischer Forschung, einschließlich Wahrscheinlichkeitstheorie (mit Methode der kleinsten Quadrate), vor geringer Hörerzahl, vgl. BERICHT 1875, 15; 1876, 17. 11 [BHSt] MK 19555. 12 KLEIN 1923a, 20. 13 Ebd., 19. 14 Ebd., MK19556. – S. Finsterwalders Nachruf auf seinen Doktorvater Brill (Math. Ann. 112 (1936) 653-63) enthält falsche Angaben zum Berufungshergang und zur Gleichstellung. 15 [BHSt] MK 19557; zur Wochenstundenzahl vgl. KLEIN 1923 GMA III, Anhang, 4-5.

152

4 Professur am Polytechnikum in München

Noch bevor Brill seinen Ruf erhalten hatte, beantragte Klein ein neues Mathematisches Institut. Er ergriff auch die Initiative, um den mathematischen Lehrbetrieb am Polytechnikum neu zu gestalten. Dies betraf vor allem den Vorlesungsund Übungsbetrieb für die große Zahl der Ingenieurstudenten. Aber im Rahmen der Spezialveranstaltungen für Lehramtskandidaten bzw. für spätere Forscher probierten Klein und Brill ebenfalls neue Formen, wie eine Modellwerkstatt, das Mathematische Colloquium und ein sog. Vortragsseminar. 4.1.1 Aufbau eines mathematischen Instituts Die Raumschwierigkeiten in Erlangen vor Augen, hatte Klein bereits am 9. Dezember 1874 einen Antrag betr. Räumlichkeiten für ein neu zu gründendes mathematisches Institut beim Directorium der Kgl. Polytechnischen Schule in München gestellt.16 Klein argumentierte mit dem Herstellen von Modellen, um „abstracte geometrische Verhältnisse zu versinnlichen und so unmittelbar eindringender Forschung zugänglich zu machen“. Er zielte auf ein Institut, „[…] in welchem der lernende Mathematiker (nur specielle Mathematiker habe ich im Auge) nach geometrischer Seite eine wesentlich weiter gehende Ausbildung erfahren würde, als ihm sonst zu Theil wird – durch welches andererseits auch, wie ich nicht zweifeln kann, die Wissenschaft selbst erheblich gefördert würde.“ Selbstbewusst formulierte er die Bedürfnisse für ein derartiges Institut in vier Punkten: I.

Es müssten geeignete Räumlichkeiten vorhanden sein, also etwa, neben einem Arbeitszimmer für den Director, ein hinlänglich heller und ausgedehnter Arbeitssaal und ein Zimmer zur Aufstellung der Sammlung. II. Es wäre ein Assistent anzustellen, der mit der ausreichenden geometrischen Vorbildung die nöthige handwerkliche Geschicklichkeit verbindet. III. Es müsste ein wesentlich höherer Jahresetat zur Verfügung gestellt werden, als derjenige ist, der zur Zeit für mathematische Lehrzwecke vorhanden ist. (50 Gulden) IV. Endlich würde behufs der ersten Einrichtung ein Extraordinarium erforderlich sein, dessen Höhe ich im Augenblicke noch nicht genau absehen kann.17

Schon sehr geschickt im Stellen von Anträgen, betonte Klein den ersten Punkt als dringlich, und dass er bei den nächsten Budgetberatungen die anderen Punkte noch einmal vortragen wolle. Nachdem eine einmalige Summe von 1500 Gulden für das mathematische Institut sowie nur die bisherige Summe von jährlich 50 Gulden für laufende Kosten gewährt worden waren, stellten Klein und Brill im Mai 1875 sofort neue Anträge: eine Summe von 300 Gulden für laufende Kosten, denn eine Sammlung müsse erst aufgebaut werden; gemeinsam mit Bischof erbaten sie zudem jährlich 150 Gulden für Seminarprämien.18 (Punkte I und III)

16 Vollständiger Wortlaut abgedruckt in TOBIES 1992a, 771-72. 17 Ebd., 772. 18 [Archiv TU München] X2d.

4.1. Neues Institut und Neuer Lehrbetrieb

153

Das Mathematische Institut mit zwei Abteilungen wurde erstmals im Jahresbericht des Polytechnikums von 1875-76 erwähnt. Die Modellsammlung war in eine für „reine Geometrie“ und eine für „Differentialrechnung, Mechanik und mathematische Physik“ geteilt worden. Dazu hieß es: „Diese Modelle kommen bei den betreffenden Vorlesungen zur Verwendung, wenn es gilt, die Anschauung der Zuhörer zu unterstützen oder zu beleben, andererseits dienen sie als Vorbilder bei selbständigen Arbeiten, die von den vorgeschrittenen Zuhörern zu Hause oder in dem (vorab nur provisorisch eingerichteten) mit dem Institute verbundenen Arbeitsraume gefertigt werden.“19 Im Herbst 1876 konnten neue Räume in einem Erweiterungsbau bezogen werden,20 der im Hofe hinter dem Hauptgebäude des Polytechnikums errichtet worden war. Das seit 1866 bestehende Hauptgebäude erstreckte sich zwischen Arcisstraße, gegenüber der alten Pinakothek, von der Gabelsbergerstraße (im Süden) bis zur Theresienstraße (im Norden). Die neu gefertigten Modelle im Modelir-Cabinet, dessen erste Einrichtung Brill übernahm, wurden jeweils in den JAHRESBERICHTEN des Polytechnikums aufgeführt. Ihre Zahl wuchs bis 1877, als die Jahresversammlung der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte in München tagte (vgl. 4.3.3), auf etwa 300 Nummern an. Geschickt verteilten sie auf zwei Abteilungen, um auch zwei Assistenten zu rechtfertigen: Felix Klein (Abt. 1) Flächen 2. und 3. Ordnung, Complexflächen, Modelle von Polyedern, algebraische Raumcurven etc.; Alexander Brill (Abt. 2) Minimalflächen, Darstellung der kürzesten Linien, Krümmungsund Asymptotencurven einer Fläche, Modelle von deformirten Stäben u. dgl.21 In einem Arbeitsraum wurden Werkzeuge, Apparate, Rohmaterialien aufbewahrt und Modelle aus Holz und Gips von Studenten gefertigt. Klein überließ Brill die Leitung dieser Werkstätte, der die Sammlung seit 1878 weitgehend allein verwaltete. Die Sammlung wurde auch durch Schenkungen aus dem In- und Ausland regelmäßig ergänzt.22 Alexander Brill sorgte dafür, dass die mit den Studenten gefertigten Modelle in der Darmstädter Verlagshandlung seines Bruders Ludwig Brill vervielfältigt und vertrieben wurden.23 Da Brill als ordentlicher Professor neben Klein berufen worden war, bedurfte es nicht eines zusätzlichen Extraordinariats (Punkt IV von Kleins Antrag). 4.1.2 Reorganisation der Lehre Wie es ihrer Denomination entsprach, lehrten Klein und Brill analytische Geometrie, Differentialrechnung und analytische Mechanik. Während im Sommer 1875 in Kleins zweistündiger Vorlesung zur analytischen Mechanik nur 18 Studenten saßen, besuchten 207 Personen seine 4-stündige Vorlesung zur analytischen Ge19 20 21 22 23

BERICHT 1876, 27. BERICHT 1877, 16. MÜNCHEN 1877, 19-20. [BHStA] MK 19557; zur inhaltlichen Arbeit vgl. auch ROWE 2013. Im Jahre 1899 übernahm Martin Schilling (Halle) diesen Verlag, vgl. SCHILLING 61903.

154

4 Professur am Polytechnikum in München

ometrie, verbunden mit zwei Stunden Übungen. In seiner Differentialrechnung vom Winter 1875/76 saßen ebenso viele; und dies hielt in den folgenden Semestern weitgehend an.24 Deshalb suchte Klein bald nach einer rationelleren Methode, um die Ingenieurstudenten zu einem grundlegenden mathematischen Verständnis zu bringen, denn sein bevorzugter Wunsch bestand darin, Zeit für das Heranbilden kreativer Forscher in Spezialveranstaltungen zu gewinnen. Es sei vorab betont, dass es Klein gelang, einen neuen Lehr- und Übungsbetrieb zu kreieren, der auch nach seinem Ausscheiden in München fortgeführt wurde und künftig anderen Technischen Hochschulen als Vorbild dienen sollte.25 Klein vereinte die bisherigen Mathematik-Vorlesungen für Ingenieurstudenten zu einer Vorlesung „Einführung in die Höhere Mathematik“ (4 WoStd) über vier Semester (für Architekten nur zwei Semester), plus Übungen (2 WoStd). Die Vorlesung analytische Mechanik und die von Otto Hesse einst bevorzugten Determinanten und homogenen Koordinaten entfielen. Klein und Brill begannen damit im Wintersemester 1877/78. Mancher Ingenieurwissenschaftler schien zunächst weniger begeistert zu sein. Klein notierte: „passiver Widerstand, der überwunden wird, aber Verstimmung hinterlässt“.26 Brills Doktorschüler Sebastian Finsterwalder überlieferte, dass es Kleins „Feuergeist, Genialität und Unternehmungslust“ bedurft habe, um das Ziel zu erreichen.27 Dabei habe sich Alexander Brill Kleins Engagement, Humor und Lebenslust nicht immer gewachsen gefühlt. Brill sei peinlich darauf bedacht gewesen, gegenüber Klein zur Geltung zu kommen.28 Um die Übungen ihren Vorstelllungen gemäß gestalten zu können, bedurfte es des Ausscheidens des Privatdozenten Wilhelm Schüler, der eine Dauerstelle als Repetitor besaß und bisher Übungen durchgeführt hatte.29 Klein wünschte dafür junge Assistenten, die wissenschaftlich weitergeführt werden konnten (Punkt II seines Antrags). Zugleich wollte er mittels des neuen Steindruckverfahrens (Lithographie) Übungsblätter vervielfältigen. Dieses in Italien und Frankreich bereits genutzte Verfahren war in Deutschland bisher nur für musikalische Noten und in der Kunst genutzt worden. Im Jahre 1874 gab es in der Allgemeinen Abteilung bereits zwei Assistenten, einen für darstellende Geometrie (obwohl die Professur einer anderen Abteilung zugeordnet war) und einen für Physik.30 Die Bewilligung weiterer Assistenten kostete Kampf. Klein setzte zum Winter 1876-77 erstmals einen Assistenten mit halbem Jahresgehalt (550 Mark) durch. Er notierte dazu später: „Eigener Assistent = Gottlob Fischer. Eigener Wille, aber reduzierte Einnahme“.31 Gottlob Fischer hatte im Vortragsseminar vom Sommer 1876 zweimal referiert (Euler’sche Integrale 2. Gattung; Wirbelbewegung der Hydrodynamik). Klein bezahlte ihn zu24 25 26 27 28 29 30 31

[UBG] Cod. Ms. F. Klein 7 E (Hörerverzeichnis), Bl. 32-125. Vgl. LOREY 1916, 152. Klein in JACOBS 1977, Vorläufiges aus München, Bl. 2. S. Finsterwalder (1936): „Alexander v. Brill. Ein Lebensbild“. Math. Ann. 112, 657. Vgl. HASHAGEN 2003, 52. BERICHT 1876, 17. BERICHT 1875, 6. JACOBS 1977, Vorläufiges aus München, Bl.2; [BHStA] MK 19568; HASHAGEN 1995, 139.

4.2 Entfaltung zur mathematischen Individualität

155

sätzlich aus eigener Tasche. Nach wiederholten Anträgen erhielten Klein und Brill schließlich ab Winter 1877-78 je einen Assistenten (wobei Fischer zu Brill wechselte und Klein den wissenschaftlich begabten Josef Gierster auswählte). Der Repetitor Wilhelm Schüler schied aus, sodass die Assistenten ab 1. April 1878 jeweils 1000 Mark Jahresgehalt bezogen. Als Gierster 1879 in den Schuldienst ging, wurde der inzwischen promovierte Walther Dyck Kleins Assistent.32 Neben Spezialvorlesungen über höhere Mathematik erprobten Klein und Brill weitere neue Lehrformen. In einem sog. Mathematischen Colloquium, ab April 1875, trugen zunächst vor allem Kleins Erlanger Schüler vor. Es lief bis Dezember 1875,33 entfiel in der ersten Jahreshälfte 1876 (weil die Schüler andere Wege gingen) und entwickelte sich danach zu einem Mathematischen Seminar, in dem Kleins Forschungsinteressen im Zentrum standen.34 Von Mai 1876 bis zum Sommer 1878 leiteten Klein und Brill ein Vortragsseminar, später als Proseminar bezeichnet. Die daran Beteiligten erhielten mit zwei Ausnahmen (Max Planck und Adolf Hurwitz) keinen Namen in der Wissenschaft. Der spätere Physik-Nobelpreisträger Planck trug an drei Terminen (1., 8. und 22. Juni 1877) über die „Theorie der Rotation der Körper nach Poinsot (Journal v. Liouville, Bd. 16)“ vor.35 Hurwitz, aus heutiger Sicht Kleins bester Schüler, wechselte nach einem Semester mit Planck und Carl Runge nach Berlin (vgl. 4.2.4.2). Zuvor hatte er mit Runge u.a. im Sommer 1877 noch Zahlentheorie bei Klein gehört.36 Er sollte zu Klein zurückkehren und ihm auf vielen wissenschaftlichen Wegen folgen. 4.2 ENTFALTUNG ZUR MATHEMATISCHEN INDIVIDUALITÄT Ich habe jene Jahre, in welchen die entscheidenden Fortschritte fallen, immer als die glücklichste Periode meiner mathematischen Produktion angesehen. Äußerlich waren sie dadurch charakterisiert, daß ich sehr oft mit Gordan zusammenkam. Als Ort hierfür haben wir zumeist, weil in der Mitte von Erlangen und München gelegen, Eichstätt gewählt, wo wir häufig den Sonntag zusammen zubrachten; Gordan sprach noch in späteren Jahren gern von der „Mathesis quercupolitana“ […].37

Die von Klein in seiner Münchner Zeit erzielten mathematischen Ergebnisse sind bereits mehrfach dargestellt worden.38 Hier soll der Blick auf das Wachsen der Ergebnisse sowie auf seine Methode gerichtet werden. Im Nachruf auf Otto Hesse drückte Klein aus, worauf er selbst zielte: „Die Mathematik strebt in neuerer Zeit

32 33 34 35 36 37

HASHAGEN 2003, 672; LOREY 1916, 152; KLEIN 1923 GMA III, Anhang, 4-5. Vgl. zum Überblick [Protokolle] Bd. 1, 190-91. [Protokolle] Bd. 1; KLEIN 1923 GMA III, Anhang, 4-5 [Protokolle] Bd. 1, 311-14, 320; Vorträge von Planck 319-22, 366-67. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 7 E (Zahlentheorie, 4 WoStd, Honorar 10 M.-): 14 Hörer. KLEIN 1922 GMA II, 259. Mathesis quercupolitana = Eichstätter Mathematik. „Quercopolitana“ ist die lat./griech. Übersetzung von Eichstätt: quercus, lat. Eiche; πόλις polis, griech. Stadt. – Zum Zusammenwirken von Klein und Gordan vgl. Max NOETHER 1914, 21-30. 38 Vgl. TOBIES/ROWE 1990, 46-52; ROWE 2018a; KLEIN 1926 Vorlesungen I, 336-74.

156

4 Professur am Polytechnikum in München

wieder dahin, die verschiedenen Gebiete, welche lange als besondere Disciplinen behandelt wurden, zu vereinen.“39 Klein führte die in Erlangen begonnenen Arbeiten zu Flächenzusammenhang und seiner neuen Art Riemannscher Fläche fort, studierte Abelsche Integrale und lieferte vor allem mit seinen geometrischen Hilfsmitteln Beiträge zur Theorie algebraischer Gleichungen höherer Ordnung. Ansätze aus Gruppentheorie und Invariantentheorie dienten ihm dazu, für die Auflösung derartiger Gleichungen eine allgemeine Methode zu entwickeln. Gepaart mit Resultaten aus der Zahlentheorie und das Riemannsche Existenztheorem benutzend, gelang es Klein, die elliptischen Modulfunktionen zu klassifizieren. Begeistert über seinen geometrischen Ansatz als heuristisches Hilfsmittel, schrieb Klein mitten in einer Arbeit: Denn die Geometrie veranschaulicht und erleichtert nicht nur, sie hat auch in diesen Untersuchungen das Vorrecht der Erfindung.40

Geometrisches Veranschaulichen, Zusammenbringen von Ansätzen aus den verschiedensten Gebieten, die Suche nach allgemeinen Zusammenhängen und das Verwenden konkreter Prinzipen zeichnete Kleins Herangehen aus. Zu Beginn einer Arbeit beschrieb er in der Regel Ziel und Methode, ordnete ein und vergaß nicht, Arbeiten seiner Schüler zu erwähnen. Am Beispiel seiner Arbeit „Ueber den Verlauf der Abel’schen Integrale bei den Curven vierten Grades (Erste Mitheilung)“, Math. Ann. 10 (1876) 365-97, sei dies demonstriert. Klein betonte, dass es sein Ziel sei, „bei den allgemeinen Curven vierten Grades den Verlauf der Abel’schen Integrale an den Curven selbst zur unmittelbaren Anschauung zu bringen“, führte aus, dass er dies bereits für das elliptische Integral bei Kurven dritten Grades versucht habe (Math. Ann. 7 (1874)), und dass sein Schüler Axel Harnack daran anknüpfte, Math. Ann. 9 (1875). Danach folgte der Verweis auf das geometrische Hilfsmittel und das benutzte Prinzip: Hier wie dort bildet das hauptsächliche Hilfsmittel die neue Art Riemannscher Flächen […]. Ich verwende sodann […] in ausgiebiger Weise das Prinzip, komplizierte Verhältnisse aus einfachen durch Grenzübergang entstehen zu lassen und so der Diskussion zugänglich zu machen. Indem ich von einem Ellipsenpaare als spezieller Kurve vierten Grades ausgehe, erhält der Stoff eine Gruppierung und Begrenzung, die man vielfach als zufällig erkennen wird; auch wird man finden, daß die Darstellung an manchen Orten nur skizzenhaft ist. Was mir wertvoll scheint, ist die Tendenz der Betrachtungen und die Art der Resultate; ich gebe der Hoffnung Raum, später dieselben Dinge systematischer und vollständiger, vielleicht unter Ausdehnung auf Kurven n-ten Grades, noch einmal vortragen zu können.41

Klein wartete nicht, bis er etwas bis ins letzte Detail entwickelt hatte, sondern publizierte sofort erste Resultate. Das führte, wie schon angedeutet, zwar auch zu manchem Fehler, aber das jeweils formulierte Programm erlaubte Partnern und Schülern mitzudenken, sich zu beteiligen und Ergebnisse fortzuführen.

39 KLEIN 1875, 50. 40 Klein, F. (1879): „Ueber die Auflösung gewisser Gleichungen von siebenten und achten Grade“. Math. Ann. 15, 252 (kursiv im Original). 41 Math. Ann. 10 (1876) 365-97, Zitat 365, Rechtschreibung nach: KLEIN 1922 GMA II, 99.

4.2 Entfaltung zur mathematischen Individualität

157

4.2.1 Die Ikosaedergleichung Die Ikosaedergleichung war ins Zentrum der ebenfalls bereits in Erlangen begonnenen Richtung gerückt, „vielleicht gehe ich zu den Gleichungen über, die bei Repräsentation einer complexen Variablen auf der Kugelfläche durch die regulären Körper gebildet werden“ (vgl. Abschnitt 3.1.3.2). Klein hatte inzwischen erste Ergebnisse zum Zusammenhang von Gruppentheorie, binären Formen und regulären Körpern ausgearbeitet und erklärte die Auflösung der Ikosaedergleichung am 20. April 1875 im Colloquium, mit folgenden Worten beginnend: Als eine solche wurde schlechthin eine Gleichung zwölften Grades bezeichnet, deren vierte Ueberschiebung mit sich selbst identisch verschwindet. Die algebraische Gruppe einer solchen Gleichung muß aus 120 Substitutionen bestehen, entsprechend den 60 Bewegungen, die ein Ikosaeder mit sich zur Deckung bringen und den perspectivischen Umlegungen seiner Eckpuncte durch Projection vom Kegelmittelpuncte. Dem Umstande entsprechend, dass in dieser Gruppe Untergruppen von 20 und 24 Substitutionen enthalten sind, muß es Resolventen42 vom Grade 6 und 5 geben. Man stellt Beispiele für dieselben folgendermassen elegant auf. […]43

Klein leitete mittels des Pentagondodekaeders die Resolvente 6. Grades her und benannte sie als speciellen Fall der bei Transformation fünfter Ordnung der elliptischen Functionen auftretenden Multiplicatorgleichung. Anschließend führte er aus, wie mittels des Oktaeders eine Gleichung fünften Grades gewonnen werden kann, zeigte deren Zusammenhang mit der Gleichung 6. Grades und verwies darauf, dass er sein Herangehen mit dem von Brioschi verglichen habe.44 Am 5. Mai 1875 lieferte Klein im Colloquium einen Bericht Ueber Gleichungen fünften Grades, startend mit dem Hinweis auf die Ergebnisse von Ruffini, Abel und Jerrards Transformation auf die vereinfachte Form x5 – x – k = 0. Den Überblick über die Literatur, Ergebnisse von Hermite, Jacobi, Kronecker, Brioschi, Jordan, hatte er vor allem aus Brioschis älteren Arbeiten gewonnen. Dazu gehörte, dass Hermite gezeigt hatte, „dass das Abhängigkeitsverhältnis der fünf Wurzeln x von k unmittelbar durch elliptische Functionen dargestellt werden kann“; welche Ideen bzw. Beweise Jacobi, Kronecker, Brioschi hinsichtlich der Lösung für Gleichungen 6. Grades entwickelt hatten, und insbesondere Brioschis Nachweis, dass die betrachteten Gleichungen 6. Grades immer eine Resolvente 5. 42 Hilfsgröße (Lagrange-Resolvente) in der Theorie der algebraischen Gleichungen, die aus den Nullstellen (Wurzeln) eines Polynoms und den primitiven Einheitswurzeln gebildet wird. 43 [Protokolle] Bd. 1, 154-57, Zitat 154. – Peter SLODOWY (1993, viii) beschrieb Kleins Resultat und die Ikosaedergleichung modern wie folgt: „Sei dazu G die Ikosaedergrupppe, d.h. die Gruppe der Drehsymmetrien eines regulären Ikosaeders. Diese Gruppe operiert auf der dem Ikosaeder umbeschriebenen Kugel, die wir mit der Riemannschen Zahlenkugel, also der komplexen projektiven Geraden P1 identifizieren. Der Quotient von P1 nach G identifiziert wiederum mit P1 und die Quotientenabbildung P1 → P1/G ist eine verzweigte Überlagerung vom Grad 60, der Ordnung von G. Das Problem, einen Urbildpunkt unter dieser Abbildung zu berechnen, kann als das der Lösung einer Gleichung vom Grade 60 angesehen werden. Klein nennt eine solche Gleichung eine Ikosaedergleichung.“ 44 Der Begriff „Multiplicator“ erlebte in Kleins Arbeiten einen Entwicklungsprozess, vgl. KLEIN 1923 GMA III, 137.

158

4 Professur am Polytechnikum in München

Grades haben. Darauf aufbauend entwickelte Klein eine andere spezielle Gleichung 5. Grades, die durch elliptische Funktionen gelöst werden kann und führte aus, den Zusammenhang mit dem Ikosaeder in einer Klammerbemerkung hervorhebend: „(Es ist dieselbe Gleichung, die beim Ikosaeder auftrat. Bei Brioschi sind die Coefficienten nicht ganz richtig. Hermite und C. Jordan haben ebenfalls die unrichtigen Coefficienten, corrigirt hat’s zuerst Joubert, C.R. 1867).“ Und weiter beschrieb Klein, dass Hermite die Frage stellte, „ob man jede Gl. fünften Grades auf diese Form durch rationale Substitution transformiren kann“. Abschließend verwies er auf den differierenden Grundgedanken Kroneckers, der von einer cyclischen Function ausging,45 was für Kleins Herangehen wichtig werden sollte. Klein urteilte später, dass Kronecker im Vergleich mit den anderen „wesentlich tiefer in die Theorie eingedrungen (war), ohne aber das Ikosaeder ganz zu erreichen […]. In der Tat ist das Wesentliche, dass man die Auflösung mit der Ikosaedergleichung in Verbindung bringt; die Heranziehung der elliptischen Funktionen steht mit der Heranziehung der Logarithmen beim Wurzelziehen auf einer Stufe.“46 Dieses hier angedeutete Ergebnis, vor allem das Hinausgehen über Kronecker, gelang Klein jedoch nicht sofort, sondern erst mehr als ein Jahr später. Zwischenzeitlich sprach Klein im Colloquium am 27. Juli und 3. August 1875 über Lies neue Art geometrischer Auffassung für die Theorie der partiellen Differentialgleichungen.47 Er entwickelte, wie erwähnt, seine Art Riemannscher Flächen weiter, widmete sich den Abelschen Integralen und schuf damit eine Basis für spätere Erfolge. Zunächst noch unzufrieden mit seiner Kreativität, jubelte Klein schließlich Anfang Juli 1876: „Die Musen sind wieder da“.48 Und aus einem Brief an Sophus Lie vom 25. September 1876 können wir Kleins damaliges Forschungsprogramm erkennen: Ich stelle natürlich die Analogie mit den algebraischen Gleichungen voran (Galois). Man kann da zweierlei Untersuchungs-Richtungen unterscheiden: 1) Eine allgemeine. Sie fragt: wenn ich bestimmte (unsymmetrische) Functionen der Wurzeln kenne, was kann ich dann machen? 2) Eine specielle, mehr zahlentheoretische. Sie sagt: Wenn eine Gleichung vorgelegt ist, welche Functionen der Wurzeln sind dann bekannt? Entweder direct als rationale Zahlen oder als rationale Functionen vorgegebener Irrationalitäten. – So nun bei den Differentialgleichungen. Du beschäftigst Dich mit dem Probleme: Wenn ich bestimmte Integrale kenne (mögen sie einen functionentheoretischen Charakter haben, welchen sie wollen), was folgt dann? Ich dagegen arbeite an der Fragestellung: Wenn eine Differentialgleichung gegeben ist, wann hat sie 1) rationale Functionen zu Integralen 2) algebraische Functionen 3) Integrale algebraischer Functionen etc. 45 [Protokolle] Bd. 1, 161-64, Zitate 163, 164. – Joubert: « Sur l’équation du sixième degré ». C.R. Acad. Sci. Paris 64 (1867) 1025-29. Vgl. anknüpfend Reichstein, Zinovy (1999): “On a Theorem of Hermite and Joubert”. Canad. J. Math. 51 (1) 69-95. 46 KLEIN 1926 Vorlesungen I, 357. 47 [Protokolle] Bd. 1, 177. 48 Klein in JACOBS 1977, Vorläufiges aus München, Bl. 2.

4.2 Entfaltung zur mathematischen Individualität

159

wobei also der Uebergang von 1) zu 2) zu 3) eine immer weiter gehende Adjunction ist. – Das Problem der drei Körper ist im Sinne 1) erledigt, dagegen scheint es eine stolze Frage, dasselbe im Sinne 2) anzugreifen.49

Beide beschriebene Richtungen liefen parallel und flossen ineinander. Kleins bei den Erlanger Sitzungberichten (26. Juni 1876) eingereichte Arbeit „Ueber lineare Differentialgleichungen“ enthielt eine Methode, „die zu entscheiden gestattet, ob eine gegebene lineare Differentialgleichung zweiter Ordnung mit rationalen Coefficienten durchaus algebraische Integrale besitzt.“ Klein verwies auf Bezüge zu Beiträgen von Hermann Amandus Schwarz, Lazarus Fuchs und Camille Jordan. Weil ihm aber Francesco Brioschi im August 1876 einen Brief mit einem ähnlichen Ergebnis schickte, nahm Klein dessen „Extrait d’une lettre de M. F. Brioschi à M. F. Klein“ und seine eigene Arbeit aus den Erlanger Sitzungsberichten noch einmal unverändert in die Mathematischen Annalen auf.50 Diese kurze Arbeit Kleins druckte Darboux auch in seinem Bulletin (1877). Klein verfolgte das Thema weiter und erklärte Adolph Mayer am 1. Oktober 1876, dass er „[…] der Aufgabe auf der Spur sei: bei den gewöhnlichen linearen Differentialgleichungen dritter Ordnung und vielleicht dann auch höherer Ordnung die Fälle mit algebraischen Integralen zu finden.“51 Hinsichtlich der Suche nach Lösungsmöglichkeiten für Gleichungen höheren Grades hatte Klein, wie gesagt, den Zusammenhang zwischen Theorie der Gleichungen fünften Grades und dem Ikosaeder erkannt52 und die Lösung einer Gleichung zwölften Grades damit gezeigt. Veranlasst durch Gordan, drehte er die Fragestellung um und leitete die Theorie der Gleichungen fünften Grades aus dem Ikosaeder her. Max Noether ordnete ein: Als Resolventen der Ikosaedergleichung 60ten Grades H3 (η) – X f5 (η) = 0 traten bei Klein verschiedene Gleichungen 5ten und 6ten Grades auf, dieselben, welche Hermite, Kronecker und Brioschi zur Auflösung der Gleichung 5ten Grades mittels elliptischer Modulfunktionen geführt hatten; für Klein aber definierte die Ikosaedergleichung an sich die sog. Ikosaederirrationalität η (X), die sich auch durch eine hypergeometrische Reihe ausdrücken ließ. Da deutete Gordan, dessen Interesse für die Gleichungen 5ten Grades schon in der Berliner Zeit von 1861/62 erwacht war, auf das umgekehrte Problem hin, die Ikosaederirrationalität zur Auflösung der Gleichungen 5ten Grades, mit isomorpher Gruppe G60, zu verwenden. So ergab sich für Klein die Aufgabe, vom Standpunkt der Ikosaederfragen aus über die vielseitigen algebraischen Formen- und Gleichungsbeziehungen, die nach und nach bezüglich der Gleichungen 5ten Grades entstanden waren, auch abgesehen von den transcendenten Lösungen, eine Übersicht und für sie eine einheitliche Ableitung zu gewinnen. Und dies gelang ihm begrifflich vollständig, rechnerisch insoweit, als er die Formeln, welche den Übergang zu den gesuchten Resolventen leisten, insbesondere die Darstellung ihrer Wurzeln durch die η, teils geometrisch konstruktiv, teils durch Rechnung mit symmetrischen Funktionen bilden konnte.53

49 [Oslo] Klein an Lie, Brief v. 25.9.1876. 50 Klein, F. (1877): „Ueber lineare Differentialgleichungen“. Math. Ann. 11, 115-18, Zitat 115; Brioschis Brief-Publikation erschien ebd. vor Kleins Arbeit, 111-14. 51 TOBIES/ROWE 1990, 76-77; zur Geschichte dieser Differentialgleichungen GRAY 2008. 52 Math. Ann. 9 (1875) 183-208. 53 NOETHER 1914, 22.

160

4 Professur am Polytechnikum in München

Klein hatte Kroneckers ohne Beweis mitgeteilte Aussage beweisen können: „Es ist unmöglich, bei durchaus willkürlichen y0 … y4 eine rationale Function φ (y) zu finden, die von einer Gleichung abhängt, in der (wie in der Ikosaedergleichung) nur ein Parameter auftritt.“54 Klein zeigte zudem, dass dies nicht nur für Gleichungen fünften Grades, sondern auch für Gleichungen höheren Grades gilt. Ca. am 13. November 1876 jubelte er begeistert über das Ergebnis mit O quae mutatio rerum [Oh, was für eine Veränderung der Umstände], einer Zeile aus dem Studentenlied „O alte Burschenherrlichkeit“. Für den 18. November notierte er: „Ein Gebiet, in welches ich lange hineingewollt habe, liegt plötzlich offen vor mir. [Schlaflosigkeit].“55 Mit Brief vom 23. November 1876 erfuhr Adolph Mayer die Neuigkeit: „Ich bin in einigen Punkten über Kronecker hinaus.“56 Wie üblich publizierte Klein erste Resultate in den Erlanger Sitzungsberichten (drei Arbeiten); sandte Brioschi einen Brief, den dieser im Organ des Istituto Lombardo Accademia di Scienze e Lettere, Classe di scienze matematiche et naturali, einer schon 1797 von Napoleon in Mailand gegründeten Akademie, abdruckte. Für die Mathematischen Annalen arbeitete Klein das Thema bis zum 20. August 1877 ausführlicher aus.57 Er setzte die Arbeit daran fort, was sich schließlich in seinem Ikosaederbuch (1884) niederschlug (vgl. Abschnitt 5.5.6). Die Weite des Feldes hatte Klein bereits zuvor erblickt, als er am 6. Dezember 1876 aufschrieb: „Ein Berg erklettert, dahinter ganze Bergkette“,58 und als er Adolph Mayer informierte: Das Ikosaeder ist sicher ein wunderbarer Gegenstand; es laufen in ihm alle möglichen Theorien zusammen, die ich successive kennenlernen möchte: Invariantentheorie, Gleichungstheorie, Differentialgleichungen, elliptische Functionen, Minimalflächen, Zahlentheorie.

So lautete eine logische Schlussfolgerung: „Nächsten Sommer lese ich versuchsweise Zahlentheorie.“59 4.2.2 Zahlentheorie Zahlentheorie ist eine sehr alte mathematische Disziplin; wichtige Sätze über natürliche Zahlen, Primzahlen, Verhältnisse von Zahlen, stehen bereits in den Büchern VII bis IX der Elemente des Euklid. Im 19. und 20. Jahrhundert differierte dieses Gebiet, wie die Mehrzahl der mathematische Gebiete, in unterschiedliche Zweige, die mit verschiedenen Methoden arbeiteten: analytische, geometrische

54 55 56 57

Klein, F. (1877): „Weitere Untersuchungen über das Ikosaeder“. Math. Ann. 12, 559. Klein in JACOBS 1977, Vorläufiges aus München, Bl. 2. TOBIES/ROWE 1990, 80. Klein, F. (1877): “Sull’ equazione dell’ Icosaedro nella risoluzione delle equazioni del quinto grado”. Rendiconti del Reale Istituto Lombardo (2) vol. 10; „Weitere Untersuchungen über das Ikosaeder“. Math. Ann. 12, 503-60. 58 Klein in JACOBS 1977, Vorläufiges aus München, Bl. 2. 59 TOBIES/ROWE 1990, 82-83, 84 (Briefe v. 7.1.1877 und 25.2.1877).

4.2 Entfaltung zur mathematischen Individualität

161

und algebraische Zahlentheorie. Klein benutzte Hilfsmittel aus all diesen Gebieten, bevor die Zweige voll ausgeprägt waren. Als sich Klein auf seine erste zahlentheoretische Vorlesung vorbereitete, war sein Wissen im Gebiet begrenzt. So jedenfalls teilte er Otto Stolz am 10. April 1877 mit: „Mit der Zahlentheorie geht es mir so. Da ich gar Nichts in derselben wusste, habe ich für den Sommer darüber eine 4stündige Vorlesung angezeigt, und nun etwas Literatur studirt.“60 Klein bereitete die Vorlesung in den Semesterferien intensiv vor, reiste acht Tage zu Gordan nach Erlangen und verzichtete auf die Teilnahme am großen Gauß-Jubiläum (100. Geburtstag) in Göttingen, wo sich die internationale Elite versammelte (Hermite, Brioschi, die Berliner)61. Klein nutzte vor allem den Report on the Theory of Numbers von Stephen Smith, auf den ihn bereits sein schottischer Studienfreund W. R. Smith im Jahre 1871 hingewiesen hatte. Damals hatte Klein nach erstem Lesen in einem Brief an Lie kommentiert, „[…] den auch unsereiner einigermaßen verstehen kann.“62 Neben einem tieferen Blick in den Report von Stephen Smith stützte sich Klein auf dessen Ansatz von1874, eine Idee von Hermite ins Geometrische zu übertragen.63 Außerdem nutzte Klein Arbeiten von Lie und Mayer über den Multiplicator Jacobis einer linearen partiellen Differentialgleichung und eine von Weierstraß 1876 publizierte Methode, analytische Funktionen in „Primfaktoren“ zu zerlegen.64 Kleins Notiz für die Zeit 1877-78, „Ganz stiller Winter. Math. Orientierung durch Berlin. Selbständigkeit und höhere Einheit“, deutet an, woher ihm neue Ideen in besonderer Weise zuflossen.65 Adolf Hurwitz in Berlin diente als eine wichtige Vermittlungsquelle.66 Klein entwickelte eine sog. Stufentheorie, die er nach und nach verfeinerte. Er gliederte Zahlenmodule in erste, zweite, dritte bis nte-Stufe. Dieses Stufenprinzip gestaltete er für die elliptischen Modulfunktionen detailliert aus und schuf ein Einteilungsprinzip für die verschiedenen Arten dieser Funktionen. Er beschrieb später selbst den historischen Verlauf und gab einen Überblick über seine Stufentheorie, ordnete die besonders von Weierstraß herrührenden Ideen ein und verwies auf sein Programm, das letztlich zu den automorphen Funktionen führte.67 Damit ist hier der Entwicklung jedoch schon etwas vorausgegriffen.

60 [Innsbruck] Klein an Stolz, 10.4.1877. 61 Klein mied das Treffen auch, um nicht in eine fruchtlose Opposition hineingedrängt zu werden, vgl. TOBIES/ROWE 1990, Klein an Mayer, Brief v. 5.4.1877. 62 [Oslo] Klein an Lie, Brief v. 28.1.1871. – Smith, Henry J. S.: “Report on the Theory of Numbers”, Part I-VI, 1859–1865, British Assoc. (Reprinted in: Collected Math. Papers, vol. 1. Oxford: Clarendorn Press, 1894, 38-364). 63 Vgl. KLEIN 1923 GMA III, 7-8. 64 Mayer, A. (1877): „Ueber den Multiplicator eines Jacobi’schen Systems“. Math. Ann. 14, 132-43; Weierstraß, K. (1876): „Zur Theorie der eindeutigen analytischen Funktionen“. Werke, Bd. 2, 77-124. Vgl. KLEIN 1926 Vorlesungen I, 286-90. 65 Klein in JACOBS 1977, Vorläufiges aus München, Bl. 3. 66 [UBG] Math. Arch. 77: 13, 18, 20 (Klein an Hurwitz, 22.10.1878, 19.1. und 3.3.1879). 67 KLEIN 1926, Vorlesungen I, 288-90; 360-72; zu Überblicken vgl. ENCYKLOPÄDIE (Harkness/Wirtinger/Fricke), Bd. II.2, 277-79; GRAY 2008, SCHOLZ 1980, Anhang 1.

162

4 Professur am Polytechnikum in München

4.2.3 Elliptische Modulfunktionen Im übrigen betone ich hier gerne, wie solcherweise in den folgenden Abhandlungen Gruppentheorie, Zahlentheorie, Geometrie und Funktionentheorie, alle getragen von den Grundauffassungen der Invariantentheorie (also des projektiven Denkens), sich zu einem untrennbaren Ganzen verbinden. Was auf der einen Seite bekannt und mühelos zu finden ist, wird für die Problemstellung der anderen ausgenutzt. Das hierin liegende Verfahren, welches natürlich ein vorheriges Studium der eigentümlichen Betrachtungsweisen jedes einzelnen Gebietes voraussetzt, darf wohl überhaupt als Grundzug meiner in dem vorliegenden Bande zusammengestellten Arbeiten angesehen werden.68

Kleins Arbeiten zur Geometrie, Gleichungstheorie, Zahlentheorie führten ihn zur Theorie die Modulformen. Elliptische Modulfunktionen hatten bereits Gauß und Riemann untersucht. Dedekind betrachtete 1877 (Crelle-Journal Bd. 81) den Bezug zur Modulfigur, eine Dreiecksfigur, die Klein für das gruppentheoretische Herangehen nutzte. Er leitete daraus sog. Fundamentalpolygone für die zugehörigen Riemannschen Flächen ab und gelangte zur Klassifikation von Gleichungen, die sich mit elliptischen Modulfunktionen lösen lassen. Er stellte die Frage: „Wie muß s als Funktion von J verzweigt sein, wenn sich die Gleichung φ (s, J) = 0 durch elliptische Modulfunktionen soll lösen lassen.“ 69

Abb. 19: Kleins Modulfigur, abgeleitet nach Dedekind

Kleins erstes Eindringen in die Theorie der elliptischen Funktionen rührte noch aus der Berliner Studienzeit her, als er mit Ludwig Kiepert zusammenarbeitete. Aus einer Arbeit von H. A. Schwarz über die hypergeometrische Reihe kannte 68 KLEIN 1923 GMA III, 4. 69 J = absolute Invariante eines elliptischen Integrals. „Verzweigungstellen dürfen in der Riemannschen Fläche, welche s als Funktion von J darstellt, nur bei J =0, 1, ∞ liegen. Bei J =0 können beliebig oft drei Blätter zusammenhängen, bei J=1 beliebig oft zwei Blätter. Bei J=∞ kann die Verzweigung irgendwelche sein.“ Klein, F. (1879): „Ueber die Transformation der elliptischen Functionen und die Auflösung der Gleichungen fünften Grades“. Math. Ann. 14, 111-72, bes. 121; KLEIN 1923 GMA III, 13-75, Zitat 30, dort Abb. 23.

4.2 Entfaltung zur mathematischen Individualität

163

Klein die elementare Modulfigur, „welche bei der konformen Abbildung der Ebene von k2 auf die Halbebene des Periodenverhältnisses ω entsteht“.70 Auf diesem Vorwissen gestaltete Klein die Ergebnisse mit seinen Schülern aus. Bei der Naturforscherversammlung im September 1877 kündigte Klein erstmals einen Vortrag „Ueber elliptische Functionen“ für die Öffentlichkeit an (Abschnitt 4.3.3). Er brachte im März 1878 erste Ergebnisse in die Erlanger Sitzungsberichte, reichte im Mai eine ausführliche Arbeit sowohl bei den Mathematischen Annalen als auch bei der London Mathematical Society ein. Bei den Annalen ging es gerade mit dem Druck nicht gut vorwärts. In London wurde sein Beitrag bereits am 9. Mai 1878 vorgetragen und erschien in den Proceedings, übersetzt durch den Clebsch-Schüler Olaus Henrici.71 Klein verfolgte sein Ziel weiter, ausgehend von den Ikosaederarbeiten die Gleichungen fünften und höheren Grades mittels der Theorie elliptischer Funktionen besser zu verstehen und ihre Behandlung zu vereinfachen. Er trug im Colloquium des Sommers 1878 mehrfach über Gleichungen 7. Grades und über Modulargleichungen vor und wurde durch die Erfolge im Gebiet veranlasst, ein gruppentheoretisch-geometrisches Programm der elliptischen Modulfunktionen aufzustellen, d.h. die schon genannte Frage zu beantworten, welche Gleichungen sich mit der Theorie der elliptischen Modulfunktionen lösen lassen: Die functionentheoretische Methode, deren ich mich neuerdings bediente, um die Modulargleichungen für die niedersten Transformationsgrade für n = 2, 3, 4, 5, 7,13 zu untersuchen, soll im Folgenden dazu verwandt werden, die Resolventen fünften, siebenten und elften Grades zu definiren, welche man, einem berühmten Satz von Galois zufolge, für n = 5, 7, 11 aufstellen kann.72

Klein stützte sich auf breite Literaturkenntnis, Brioschi, Betti, Hermite sowie Ludwig Kiepert, der sich dem Thema ebenfalls zugewandt hatte, und benutzte sein Hilfsmittel, die n-blättrige Riemannsche Fläche. In seiner Arbeit „Ueber die Transformation siebenter Ordnung der elliptischen Functionen“ (Math. Ann. 14, S. 428-71) bildete er die zugehörige Galoissche Resolvente vom Grad 168 und leitete davon die niederen Gleichungen ab. Er gelangte zu einer geschlossenen 168-blättrige Riemannschen Fläche vom Geschlecht p = 3 (vgl. auch Abschnitt 3.1.3.1). Diese Fläche konnte er mittels einer Funktion auf ein Polygon abbilden, das aus 168 Doppeldreiecken der Modulfigur (Abb. 19) zusammengesetzt war. Klein wies nach, dass es eine algebraische Funktion vom Grade 168 geben muss, die Resolvente der zugehörigen Modulargleichung ist.73 Er zeigte, dass es keine andere Gruppierung der 2 x 168 Dreiecke gibt. Er benutzte die sog. „Hauptfigur“ 70 KLEIN 1923 GMA III, 5. 71 Klein, F. (1877): “On the Transformation of Elliptic Functions”. Proceedings of the London Mathematical Society 9, 123-26. 72 Klein, F. (1879): „Ueber die Erniedrigung der Modulargleichungen“. Math. Ann. 14, 417-27, Zitat 417. 73 Jeremy Gray analysierte, ausgehend von seiner Dissertation, Kleins publizierte Arbeiten zum Thema im Vergleich mit den Veröffentlichungen der Zeitgenossen, vgl. GRAY 2008. – Zur modernen Interpretation als 14-Eck-Parkettierung vgl. LAMOTKE 2009, 231-36.

164

4 Professur am Polytechnikum in München

(Abb. 20), um weitere Sätze zu beweisen. In der Arbeit „Ueber die Auflösung gewisser Gleichungen von siebenten und achten Grade“ schrieb er: Die Modulargleichung, welcher der Transformation siebenter Ordnung elliptischer Functionen entspricht, hat eine Galois’sche Gruppe von 168 Substitutionen. Wird es möglich sein, solche Gleichungen siebenten oder achten oder auch 168ten Grades, welche dieselbe Gruppe besitzen, durch ausführbare Processe auf die Modulargleichung zurückzuführen? Und welches sind die einfachsten Mittel, deren man sich zu diesem Zwecke zu bedienen hat?74

Klein erklärte in dieser Arbeit eine allgemeine Methode zur Behandlung höherer Gleichungen, d.h. nicht nur, wie man das Problem mit 168 Substitutionen bewältigen kann, sondern auch, „wie man ähnliche Probleme bei beliebigen höheren Gleichungen zu behandeln, und, was wichtiger ist, wie man sie aufzustellen hat“.75

Abb. 20: Kleins „Hauptfigur“ mit 2 x 168 Kreisbogendreiecken 74 Klein, F. (1879), Math. Ann. 15, 151-282, Zitat 251. 75 Ebd.

4.2 Entfaltung zur mathematischen Individualität

165

Gordan schrieb an Klein: „Ihre Arbeit ist sehr gut. Ich will wieder reine Invarianten treiben“ (31.7.1878); „Gearbeitet habe ich lange nichts, Sie wahrscheinlich für uns beide zusammen“ (7.9.1878). „Ich beschäftige mich mit der Aufstellung des Formensystems Ihrer Curven 4ter Ordnung und bin mit meinen bisherigen Resultaten zufrieden z.B. weiß ich nun die Bedingungen, unter denen eine beliebige Curve 4ter Ordnung in Ihre übergeht.“ (3.12.1878)76 Gordan bezog sich auf Kleins Kurve vierter Ordnung λ3μ + μ3ν + ν3λ = 0, die ein algebraisches Gebilde mit 168 Transformationen definiert. Klein publizierte dies in der erwähnten Arbeit „Über die Transformation siebenter Ordnung der elliptischen Funktionen“, eingereicht Anfang November 1878. Das Thema war nicht abgeschlossen. Klein setzte es mit Schülern fort, weitere Autoren knüpften an. Gordan teilte Klein am 24. September 1879 mit: Lieber Klein! So eben erhalte ich Ihr Paket enthaltend die Gierstersche Arbeit; ich werde sie durchsehen und Ihnen mit nach München bringen. Da ich jetzt etwas freier bin so hoffe ich wieder mit Ihnen zu arbeiten; in den Gleichungen 7 ten Grades geht es allerdings nicht weiter; es ist zu verwickelt die complicirten Funktionen von 7 Größen mit 168 Vertauschungen durch die einfachen auszudrücken; man muss sich mit Andeutungen begnügen, das müssen Sie mir machen.77

Wie Klein und Gordan in diesem Gebiet erfolgreich weiter kooperierten, ist bei Max NOETHER (1914) besonders schön beschrieben. Klein hatte 1878 auf funktionentheoretischem Wege von der Galoischen Resolvente ausgehend für die zugehörige Gruppe G168 von 168 Substitutionen eine isomorphe Gruppe Γ168 von ternären linearen Transformationen konstruiert. Das war eine isomorphe lineare Gruppe von möglichst wenigen Variablen, die er seit langem prinzipiell gefordert hatte. Klein erschloss damit für die zugehörige Kurve vierten Grades das […] ganze Formensystem ihrer Kovarianten, insbesondere das Kurvenbüschel 42ten Grades Ψ3 – J – Δ7 = 0, das aus f = 0 die Gruppen von je 168 Punkte ausschneidet. […] Weiterhin gelang Klein die, schon 1858 von Kronecker vermutete, Zurückführung aller Gleichungen mit der Gruppe G168 auf die […] Modulargleichungen.78

Gordan gestaltete die algebraische Seite weiter aus, worüber Klein später in seinen eigenen Gesammelten Abhandlungen detailliert berichtete.79 Von dieser Kurve vierter Ordnung ausgehend, fand Klein 1882 im engen Dialog mit Poincaré drei Uniformisierungssätze (vgl. dazu Abschnitt 5.5.4): Am wichtigsten ist aber unsere Kurve wohl dadurch geworden, daß die in einem Orthogonalkreis eingeschriebene Hauptfigur [vgl. Abb. 20, R. To] das erste konkrete Beispiel für die Uniformisierung der algebraischen Kurven höheren Geschlechtes war und so für mich die beste Stütze bei der Aufstellung der allgemeinen Uniformisierungssätze […].80 76 [UBG] Cod. Ms. Klein 9: 400, Bl. 3 (Brief v. 31.7.1878); 401A, Bl. 5 (Brief v. 7.9.1879) 77 Ebd., 405, Bl. 9. – Vgl. Gordan, P. (1880): „Ueber das volle Formensystem der ternären biquadratischen Form […]“. Math. Ann. 17, 217-33, worin er erneut die Anregung durch Kleins Arbeiten betonte. 78 NOETHER 1914, 27-28. 79 Vgl. KLEIN 1922/23 GMA II, 426-38; GMA III, 135. 80 KLEIN 1923 GMA III, 136. – Zu den Uniformisierungssätzen vgl. Abschnitt 5.5.4.

166

4 Professur am Polytechnikum in München

Im Kontext mit Kleins Arbeit von 1878 ergab sich ein Disput mit Camille Jordan über das Problem, alle möglichen endlichen Gruppen linearer Substitutionen zu bestimmen. Von einem Prioritätsstreit kann allerdings kaum gesprochen werden, denn Jordan schrieb am 11. Oktober 1878 an Klein: « Vouz avez parfaitement raison. »81 Später ordnete der schwedische Mathematiker Anders Wiman ein, dass die Aufgabe für das binäre Gebiet durch Kleins geometrische Betrachtungen zuerst und rein algebraisch durch Gordan erledigt worden sei. Jordan habe die entsprechende Aufgabe für das ternäre Gebiet behandelt (1878, 1880). Wiman schrieb: „Die Schwierigkeit der Aufgabe bei mehr als zwei homogenen Veränderlichen erwies sich schon daraus, dass Jordan in seiner ersteren Arbeit eine Gruppe von 168 Collineationen der Ebene übersehen hatte, welche inzwischen von Herrn Klein durch Betrachtung der Transformationen 7. Ordnung der elliptischen Functionen abgeleitet wurde.“82 In einer nächsten Arbeit betonte Wiman, dass mit Jordans wichtigen Resultaten nicht alles erledigt war, sondern Herman Valentiner (1889) noch eine weitere Gruppe von der Ordnung 360 entdeckte. Wiman konnte zeigen, dass diese Gruppe „mit der Gruppe der geraden Vertauschungen von 6 Dingen holoedrisch isomorph ist“.83 Wiman verfasste auch den diesbezüglichen Beitrag für die ENCYKLOPÄDIE.84 Kleins Ergebnisse wurden Ende der 1870er Jahre besonders in Italien und England schnell aufgenommen. In Italien förderte Brioschi (vgl. 3.4) die Verbreitung von Kleins Ergebnissen. Brioschis Arbeiten zu Gleichungen 5. Grades, zur Transformationstheorie elliptischer Funktionen, zur Theorie der linearen Differentialgleichungen und der hyperelliptischen Funktionen85 waren für Klein wichtig. Deshalb hatte er um eine Zusammenfassung dieser Ergebnisse erbeten und übersetzte sie selbst für die Mathematischen Annalen ins Deutsche.86 Umgekehrt brachte Brioschi, wie schon angedeutet, Briefmitteilungen Kleins Italienisch heraus bzw. ließ übersetzen.87 Brioschi reichte das äußerst schnell an die Rendiconti, Organ des Reale Istituto Lombardo di Scienze e Lettere (Milano), so am 2. Januar 1879 eine Mitteilung Kleins vom 30. Dezember 1878; oder am 17. Juli 1879 Ergebnisse Kleins zu den Gleichungen 11. Grades, die Guiseppe Jung ins Italienische übersetzt hatte.88 Bereits 1877 hatte Brioschi veranlasst, dass Klein Mitglied des Reale Istituto Lombardo di Scienze e Lettere geworden war (vgl. 3.4). Er sandte Resultate Kleins auch an (seinen Schüler) Luigi Cremona, der 81 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: Bl. 21-25 (Jordan an Klein, 11.10.1878; 6.1.1879, Zitat Bl. 21); vgl. auch BRECHENMACHER 2011. 82 Wiman, A.: „Ueber eine einfache Gruppe von 360 ebenen Collineationen“. Math. Ann. 47 (1896) 531-47, Zitat 531, hier auch die Literaturangaben von Jordans Arbeiten. 83 Wiman, A.: „Endliche Gruppen birationaler Transformationen in der Ebene“. Math. Ann. 48 (1897) 199; vgl. auch KLEIN/FRICKE Bd. 2, 1912, Anhang. – holoedrisch = vollflächig. 84 Wiman, A.: „Endliche Gruppen linearer Substitutionen“. ENCYKLOPÄDIE, Bd. I.1, 522–54. 85 Noether, Max: “Francesco Brioschi”. Math. Ann. 50 (1898) 477-91, bes. 479; 486-90. 86 Brioschi, F. (1878), Math. Ann. 13, 109-60; vgl. TOBIES/ROWE (1990) 87-89. 87 Vgl. KLEIN 1923 GMA III, Anhang, 20. 88 Klein, F. (1879): “Sulle equazioni modulari”. Rendiconti del Reale Istituto Lombardo (2) vol. 12, 21-24; “Sulla trasformazione dell’ 11° ordine delle funzioni ellitiche”, ebd. 629-32.

4.2 Entfaltung zur mathematischen Individualität

167

sie der Accademia dei Lincei vorlegte.89 Diese 1603 in Rom gegründete erste private Institution zur Förderung der Naturwissenschaften in Europa, der schon Galileo Galilei angehört hatte, nahm Klein 1883 als Mitglied auf. In Großbritannien, wo Klein, wie in 3.3 erwähnt, seit 1875 der London Mathematical Society angehörte, übersetzte nicht nur Henrici seine Resultate für deren Proceedings. Auch Arthur Cayley unterstützte Klein in dieser Weise; er brachte für die Proceedings eine Zusammenfassung von Kleins Arbeiten aus den Bänden 14 und 15 der Mathematischen Annalen ins Englische.90 Die Bayerische Akademie der Wissenschaften in München nahm Klein am 25. Juni 1879 als (außerordentliches) Mitglied auf (vgl. Anhang Nr. 3). Daraufhin nutzte Klein deren Sitzung vom 6. Dezember 1879, um eine Zusammenfassung seiner Ergebnisse zur Theorie der elliptischen Modulfunktionen zu präsentieren. Er beschrieb darin, dass er durch eine Reihe von Arbeiten „[…] allmählich zu einer allgemeinen und im Wesentlichen neuen Auffassung der elliptischen Modulfunctionen geführt“ worden sei und erläuterte, dass die verschiedenen Formen der Modulargleichungen, die bisher in verwirrender Mannigfaltigkeit unvermittelt neben einander standen, „sich einem einfachen, allgemeinen Principe als sehr specielle Fälle einordnen.“91 Klein erklärte das allgemeine Prinzip, ausgehend von drei Klassifikationsprinzipien, ein algebraisches (Untergruppen), ein arithmetisches (Kongruenzgruppen92) und ein funktionentheoretisches (den Begriff Geschlecht einer Untergruppe einführend). Er zeigte das Anwenden der Transformationstheorie und leitete den folgenden Satz her: wir haben also schließlich für jeden Transformationsgrad n unendlich viele Gleichungssysteme, die sämmtlich als Modulargleichungen bezeichnet werden können.93

Bei der Herausgabe seiner gesammelten Abhandlungen verlieh Klein diesem Aufsatz den Titel „Zur [Systematik der] Theorie der elliptischen Modulfunktionen“ und beschrieb noch einmal sein grundlegendes Herangehen, die Gruppentheorie als ordnendes Prinzip zu benutzen und wie er sein Programm hinsichtlich der selbst gestellten Aufgabe realisieren konnte, diejenigen algebraischen Gleichungen zu finden, die sich mit elliptischen Funktionen lösen lassen.94

89 Klein, F. (1879): “Sulla risolvente di 11° grado del’ equazione modulare di 12° grado”. Atti della Reale Accademia dei Lincei. Transunti (3) Vol. 3, 177-79. 90 Klein, F. (1880): “On the Transformation of Elliptic Functions”. Proceedings of the London Mathematical Society 11 (1879/80) 151-55. 91 Sitzungsber. Münchener Akademie v. 6.12.1879; Math. Ann. 17 (1880) 62-70, Zitat 62. 92 Die Konstanten werden Kongruenzforderungen in Bezug auf ein Zahlenmodul unterworfen, woraus sich die Gliederung in die schon genannten Stufen ergab. KLEIN 1923 GMA III, 3-4. 93 Math. Ann. 17 (1880) 68. 94 KLEIN 1923 GMA III, 3 und 169-78.

168

4 Professur am Polytechnikum in München

4.2.4 Schülerkreis in München Beim Betrachten von Kleins Schülerkreis in München können wir zwei Phasen unterscheiden. Phase eins bezieht sich auf die ersten beiden Semester, als er noch seine Erlanger Doktorschüler als Diskussionspartner um sich versammelte und ihnen auf den weiteren Weg half. Die zweite Phase begann ca. Herbst 1876, als es ihm allmählich gelang, neue Studenten in seinen Bann zu ziehen. 4.2.4.1 Phase 1: 1875 – 1876 Über die Zeit der ersten Phase berichtete Lindemann, dass sie die Erlanger Traditionen zunächst fortsetzten: „Im Sommer trafen Klein, Harnack, Wedekind und ich uns jeden Tage im Café Hofgarten und machten einen Spaziergang in den Englischen Garten.“95 Nachdem Klein am 17. August 1875 geheiratet hatte und die Hochzeitsreise hinter ihm lag, reduzierten sich die täglichen Rituale mit den Schülern. Immerhin bildeten Besprechungen mit Lindemann zur Clebsch-Edition und die Zusammenkünfte im Mathematischen Colloquium konstante Größen. Das Mathematische Colloquium fand im Jahre 1875 vom 13. April bis 10. August dienstags statt; vom 18. November bis 21. Dezember gab es weitere fünf Termine an unterschiedlichen Wochentagen. Darin sprachen: Felix Klein an sieben Terminen, Brill 3x, Lindemann 7x, Harnack 4x, Holst 4x, Wedekind 1x sowie Wilhelm Frahm 2x. Nur Frahm war neu, aber auch dieses Talent förderte Klein. Frahm hatte im Frühjahr 1873 mit dem Thema „Ueber die Erzeugung der Curven dritter Classe und vierter Ordnung“ an der Universität Tübingen promoviert und sich im Herbst desselben Jahres dort habilitieren können.96 Seine Dissertation hatte er Sigmund Gundelfinger gewidmet (einem Schüler von Clebsch und Gordan). Frahm hatte auch an Arbeiten von Klein angeknüpft, sodass vier seiner Beiträge 1874 und 1875 bereits in den Mathematischen Annalen publiziert wurden. Außerdem setzte Klein durch, dass die Sitzungsberichte der Erlanger Societaet ausnahmsweise eine Arbeit von Frahm (Über die typische Darstellung bilinearer Formen) aufnahmen. Frahm starb jedoch tragisch im Sommer 1875.97 Lindemann überlieferte, wie Klein bei der Edition von Clebschs Vorlesungen, aber auch bei profaneren Dingen half: Klein lieh ihm Geld, damit er Pfingsten 1875 einen Ausflug mit Axel Harnack unternehmen konnte. Klein regte Lindemann an, sich um ein bayerisches Stipendium für ein Auslandsstudium zu bewerben; er überließ ihm eine Einladung nach London: „1876. Lindemann mit Stipendium statt meiner nach London, von da nach Paris“.98 Klein sah Lindemann als 95 [Lindemann] Lebenserinnerungen, 56. – Treffpunkt war das Caféhaus Tambosi am Odeonsplatz, das älteste, heute noch existierende Münchner Café. 96 Mitteilung von Dr. Gerhard Betsch, Tübingen, wofür herzlich gedankt sei. 97 [UB Erlangen] Ms 2565 [10], Sitzung v. 12.1.1874. – Frahm war nach einem Italien-Aufenthalt im Frühjahr 1875 nach München gekommen, im August an Typhus erkrankt und beendete sein Leben mit einem Sprung aus dem Krankenhaus-Fenster. Nach CLEBSCH 1891, V. 98 Klein in JACOBS 1977, Vorläufiges über München, Bl. 1.

4.2 Entfaltung zur mathematischen Individualität

169

einen Boten, der die Kontakte zu den britischen und französischen Kollegen auffrischen konnte, dies auch im Interesse der Mathematischen Annalen.99 In England konnte Lindemann auf die Hilfe von Henrici, Cayley, Clifford, H. St. Smith bauen. In Paris brachte ihm Band 1 der Clebsch-Vorlesungen (Leipzig: B.G. Teubner, 1876), ein Werk von mehr als 1000 Seiten, besondere Aufmerksamkeit. Klein hatte eine Vorrede verfasst und darin betont, dass es als Lehrbuch angelegt sei und verschiedene Abschnitte erst entworfen werden mussten, wobei Clebschs Art der Darstellung angestrebt worden sei. Zugleich war es Klein wichtig, erneut hervorzuheben: „[…] von ihm [Clebsch] lernten wir Anderen die Tendenz, auch fremde Untersuchungen umfassend in Betracht zu ziehen und mit den eigenen zu verweben […].“100 Bereits 1880-83 kam dieser erste Band in zwei Teilen übersetzt heraus (Leçons sur la Géométrie, Paris: Gauthier-Villars).101 Lindemann erfuhr 1876 in Paris zahlreiche Gegenbesuche und Einladungen, nicht nur von Darboux und Jordan. Auch der 90-jährige Chasles bemühte sich die Treppe zu Lindemanns Wohnung hinauf und lud zum Herrendiner nach Hause ein. Ähnlich Hermite, der ihm „seine bisher auswärts wenig beachtete Arbeit über die Transzendenz der Zahl e mit dem Bemerken [brachte], dass er diese für eines der wichtigsten Ergebnisse seiner Forschung halte.“102 Das Studium von Hermites Arbeit bildete die Basis für Lindemanns Beweis der Transzendenz von π im Jahre 1882. Daraus sollte sich auch für Klein als Doktorvater eine besondere Rolle ergeben. Vor Aufnahme von Lindemanns Arbeit in die Mathematischen Annalen ließ Klein sie durch Georg Cantor begutachten, der zusätzliche Anregungen gab. In der Folgezeit lieferten Weierstraß, Adolf Hurwitz, David Hilbert, Paul Gordan verbesserte Beweise.103 Klein vermittelte als Herausgeber der Annalen. Später propagierte er die Ergebnisse in Vorträgen, Vorlesungen und Fortbildungskursen (vgl. Abschnitte 7.3 und 7.5). 4.2.4.2 Phase 2: 1876 – 1880. Klein bedurfte der Kooperation. So schrieb er am 1. Oktober 1876 an seinen Leipziger Kollegen Adolph Mayer: „Es ist ein wahres Unglück: wenn ich so, wie diese Ferien, nur auf mich angewiesen dahinlebe, dann bringe ich gar Nichts Gescheidtes fertig […] Ich habe wissenschaftlichen Verkehr […] nothwendig und sehne mich darum schon seit langer Zeit nach dem Semester.“104

99 TOBIES/ROWE 1990, 78f. 100 CLEBSCH 1876, III-IV, Zitat IV. 101 Clebsch-Lindemann Bd. 2 (1891) wurde nicht übersetzt. Darboux war damit „nicht sehr zufrieden. Es schien mir sogar, als gäbe es in dieser Darlegung schwerwiegende Fehler in grundlegenden Punkten, beispielsweise die Definition des Abstands zweier Punkte auf einer Geraden betreffend“, schrieb er an Klein, Brief v. 21.6.1896, RICHTER 2015, 74. 102 [Lindemann] Lebenserinnerungen, 67-73, Zitat 70. 103 Vgl. dazu ROWE 2015; 2018a, 141-42. 104 Klein an Mayer, Brief v. 1.10.1876, in TOBIES/ROWE 1990, 76.

170

4 Professur am Polytechnikum in München

In den Mathematischen Colloquien und im Vortragsseminar hatten sich inzwischen einige begabte Köpfe eingefunden, von denen manche durch Brill, andere durch Klein stärker geprägt wurden. Allerdings konnten beide ihre Schüler nicht selbst zur Promotion führen, da die Polytechnika noch kein Promotionsrecht besaßen. In Preußen mussten die Technischen Hochschulen bis 1899 darauf warten, in Bayern bis 1901. Kleins konkrete Münchener Erfahrungen sollten beitragen, dass er sich später für dieses Promotionsrecht einsetzte (vgl. 6.4.2; 8.1.1). Die Doktoranden von Klein und Brill mussten ihre Promotionsverfahren an einer Universität bestreiten. Naheliegend war die Universität München, wo die Professoren Bauer und Seidel zwischen 1875 und 1879 selbst keinen einzigen eigenen Kandidaten zu einer Dissertation anregten.105 Von Kleins Schülern absolvierten Karl Rohn und Walther Dyck ihre Verfahren an der Universität München; ein Sonderfall bildete Franz Meyer. Weitere Münchener Schüler von Klein warteten bis zu dessen Wechsel nach Leipzig oder reichten an anderen Orten ein. Zunächst zum Sonderfall Franz Meyer. Klein führte ihn in manchen Listen als Doktorschüler, in anderen strich er ihn wieder.106 Meyer hatte an der Universität und am Polytechnikum Lehrveranstaltungen besucht und war wissenschaftlich vor allem durch Klein geprägt worden. Seit Winter 1875-76 bis zum Einreichen seiner Dissertation trug Meyer bei Klein fünfmal im Colloquium/Seminar vor. Sein Thema waren Kurven 4. Ordnung; und am 28. Januar 1878 lautete der Vortragstitel „Anwendung der Topologie auf algebraische Curven“.107 Das entsprach dem Titel seiner Dissertation Anwendungen der Topologie auf die Gestalten der algebraischen Kurven, die er kurz danach an der Universität einreichte (Promotion am 15.3.1878). Moritz EPPLE (1999: 176) sieht diese Arbeit als einen von Klein angeregten Versuch, die Theorie der Knotenprojektionen für die Kurventheorie zu nutzen. Im Jahresbericht des Polytechnikums wurde Meyers Dissertation als theoretische Arbeit genannt, die aus den Seminarübungen hervorgegangen sei.108 Meyer war sich offensichtlich einer Schuld gegenüber Klein bewusst, als er ihm am 17. November 1879 aus Berlin schrieb: Hochgeehrter Herr Professor, Es hat mir einen langen Kampf gekostet, bis ich die Scheu überwunden habe, Ihnen, Herr Professor, wieder unter die Augen zu treten. Mehrere Briefe habe ich unvollendet gelassen, weil mir immer wieder Bedenken kamen. Indessen ist mir das Bedürfnis, mit Ihnen, mein hochverehrter Lehrer, dem ich das Meiste verdanke, was ich in der Mathematik gelernt zu haben glaube, wieder in Verbindung zu treten, so unüberwindlich, daß ich lieber alle Vorwürfe der Welt auf mich nehmen will, als noch weiterhin dies mich deprimirende Stillschweigen zu beobachten. […] Könnten Sie mir also irgend eine Arbeit auferlegen, die Ihnen etwas Mühe ersparte, ich würde hocherfreut sein.109

105 Vgl. HASHAGEN 2003, 671-72 (Liste der in München promovierten Mathematiker). 106 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 22 L: 5, Bl. 1 (Liste v. 11.3.1913, in der Klein F. Meyer als Münchener Doktorand aufführt). Vgl. dagegen KLEIN 1923 GMA III, Anhang, 11-13. 107 [Protokolle] Bd. 1, 243. 108 BERICHT 1879, 8. 109 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 1151.

4.2 Entfaltung zur mathematischen Individualität

171

Klein sandte einen „liebenswürdigen Brief“ und empfahl Meyer die Habilitation, was 1880 in Tübingen geschah. Franz Meyer erhielt dort ein Extraordinariat, wurde Ordinarius an der Bergakademie Clausthal (1888) und an der Universität Königsberg (1897). Er berichtete regelmäßig an Klein und entwickelte während der Clausthaler Zeit einen Plan, der in die ENCYKLOPÄDIE münden sollte (vgl. 7.4). Karl Rohn, der seit Winter 1875-76 bei Klein studierte, promovierte unter Bauer und Seidel am 3. August 1878 mit Auszeichnung. Mit seiner Dissertation führte er Arbeiten zur Kummerschen Fläche und bekannte er sich eindeutig zum Doktorvater Klein (vgl. auch 4.3.3). Rohn habilitierte sich in Leipzig 1879 und konnte sich als Professor in Sachsen etablieren (Leipzig, TH Dresden). Kleins nächster Doktorschüler Walther Dyck brachte seine Dissertation Über regulär verzweigte Riemannsche Flächen und die durch sie definierten Irrationalitäten an der Universität München (Promotion 30.7.1879) nicht ohne Einwand durch. Ulf Hashagen verweist darauf, dass Seidel durch Kleins „damals jugendlich vordringliches Wesen […] unangenehm“ berührt gewesen sei und dessen Orientieren an Riemanns geometrischen Methoden wenig geschätzt habe. Daraus folgte auch, dass sich kein Schüler von Klein an der Universität München habilitieren konnte.110 Seidel monierte zudem eine gewisse unsaubere mathematische Ausdruckweise bei Klein. Klein informierte darüber später Adolph Mayer, dass „[…] Seidel seinerzeit an meinen Arbeiten aussetzte, wo gelegentlich einmal, ‚complexe Ebene’ statt ‚Ebene der complexen Variablen’ gesagt u. desgl.“111 Dennoch sollte Felix Klein im Jahre 1892 die Nachfolge von Ludwig Seidel an der Universität München angetragen werden (vgl. 6.5.2). Alexander Brill führte an der Universität München 1878/79 ebenfalls zwei Kandidaten (Anton von Braunmühl; Wilhelm Heß) zur Promotion. Er beteiligte sich aber nicht mehr mit eigenen Beiträgen im Mathematischen Colloquium. Wenn wir Paul Gordan Glauben schenken, so geriet Brill hinsichtlich seines mathematischen Überblicks ins Hintertreffen. Über ein Manuskript von Wilhelm Heß und dessen Doktorvater Brill lesen wir in Gordans sarkastischem Ton: […] die Arbeiten sind nicht schlecht doch haben wir ein Genie dabei, Heß heißt der Biedermann, welcher eine Arbeit über rationale Curven 4ter Ordnung eingereicht hat. Dieselbe ist unter Brill gefertigt und zeigt, daß Verfasser meine Invariantentheorie besser als Brill verstanden hat; auch ich habe Belehrung daraus gezogen; ich bin nun dafür die Arbeit, wie sie ist, in die Annalen aufzunehmen. Brill will sie erst umarbeiten, wodurch sie wahrscheinlich schlechter wird, denn die Fehler welche von der Jugend des Verfassers herrühren schaden den Annalen nicht.112

In den Jahren 1877 bis 1880, als Klein über Zahlentheorie, elliptische Funktionen und algebraische Gleichungen las und eigene Ergebnisse in Colloquiumsbeiträgen detaillierter erläuterte, förderte er weitere begabte Studenten. Von diesen hob er später vier Schüler besonders hervor:

110 Vgl. HASHAGEN 2003, 82-86. 111 Klein an Mayer, Brief v. 4.1.1881, TOBIES/ROWE 1990, 124. 112 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 415, Bl. 19, 19v (Gordan an Klein, Brief v. 23.10.1881).

172

4 Professur am Polytechnikum in München Ich hatte dabei das Glück, unter meinen Zuhörern ausgezeichnete Mitarbeiter zu finden, welche mich nicht nur bei meinen Untersuchungen wesentlich unterstützten, sondern bald auch, jeder in seiner Richtung, wesentlich weiter gingen. Ich nenne in dieser Hinsicht, der Reihenfolge ihrer einschlägigen Veröffentlichungen entsprechend, Gierster, Dyck, Bianchi und Hurwitz.113

Für den schon genannten Walther Dyck erwähnte Klein hier nur, dass er ihm zweckmäßig gezeichnete Figuren verdanke und dass sich dieser schließlich seinen allgemeinen gruppentheoretischen Arbeiten zuwandte. Die anderen drei unterstützten Klein stärker inhaltlich, promovierten aber nicht in München. Josef Gierster studierte von 1873 bis 1877 in München, beteiligte sich am Vortragsseminar 1876-77 mit drei Beiträgen (über Fourierreihen und die Gammafunktion), legte sein Staatsexamen ab und half als Kleins Assistent bei numerischen Rechnungen, die zur Aufstellung von Modulargleichungen erforderlich waren.114 Gierster folgte Kleins Hinwenden zur Zahlentheorie und lieferte wichtige Beiträge zur Theorie der Klassenzahlrelationen, die Bausteine für Kleins Stufentheorie bildeten. Begeistert über Giersters erste Ergebnisse, reichte Klein diese 1879 bei den Göttinger Nachrichten ein und informierte Darboux: Ein Gegenstand, der mir jetzt am Herzen liegt, wird durch die Relationen für Classenzahlen quadratischer Formen negativer Determinante geliefert, wie sie Kronecker 1857 zuerst aufstellte. [Vermutlich hat Ihnen im vergangenen Sommer Hr. Gierster, mein damaliger Assistent, jetzt in Bamberg, eine darauf bezügliche Note aus den Göttinger Nachrichten zugeschickt; er hat seitdem den Gegenstand im Anschlusse an meine Speculationen über die verschiedenen Formen der Modulargleichungen weiter verfolgt und eine grosse Reihe neuer Resultate erhalten.]115

Gierster hatte ausgehend von Kleins Literaturanalysen an Kronecker und Stephen Smith angeknüpft und geschrieben: „Auf ganz demselben Wege kann man aus den von Herrn F. Klein eingeführten Modulargleichungen der regulären Körper analoge Relationen herleiten, welche in Bezug auf den einfachen arithmetischen Aufbau mit den Formeln Kroneckers auf gleicher Stufe stehen. Ich erlaube mir insbesondere die Resultate mitzutheilen, welche aus den Icosaeder-Modulargleichungen folgen.“116 Gierster war als Lehrer in Bamberg tätig und promovierte am 10. Februar 1881 in Leipzig mit der Dissertation „Die Untergruppen der Galois’schen Gruppe der Modulargleichungen für den Fall eines primzahligen Transformationsgrades“.117 Bedingt durch einen schwachen Gesundheitszustand starb er früh. Klein veranlasste einen Nachruf durch Robert Fricke.118 113 KLEIN 1923 GMA III, 5. 114 Vgl. dazu auch Gierster, J. (1878): „Notiz über Modulargleichungen bei zusammengesetztem Transformationsgrad“. Math. Ann. 14, 537-44. 115 [Paris] 69 (Klein an Darboux, Brief v. 26.12.1879). – Vgl. auch KLEIN 1923 GMA III, 5. 116 Gierster, J. (1879): „Neue Relationen zwischen den Klassenzahlen der quadratischen Formen von negativer Determinante“. Eingesandt v. F. Klein. Göttinger Nachrichten (Nr. 10, 4.6. 1879) 277-81, Zitat 277-78. 117 Gierster dankte in der Arbeit Klein „für die vielfache Anregung und Unterstützung“. Math. Ann. 18 (1881) 319-65, Zitat 321. Zum Prom.-Datum vgl. KÖNIG 1982, A6-1. 118 Fricke, R. (1893): „Josef Gierster“. Jahresbericht DMV 2 (1891-92) 44-45.

4.2 Entfaltung zur mathematischen Individualität

173

Im oben zitierten Brief an Darboux hatte Klein prophetisch angefügt: Diese Relationen sind, wie Sie wissen, eine Vorstufe zur Lehre von den Gleichungen für die singulären Moduln der complexen Multiplication. Ich kann nicht daran zweifeln dass es mir und meinen jungen Mitarbeitern gelingen muß auch letztere zu fördern, d.h. nicht nur die seiner Zeit von Kronecker publizirten Resultate zugänglich zu machen, sondern weit über dieselben hinauszugehen. Aber um so gründlicher müssen vorab jene Classenzahlrelationen durchgearbeitet werden.119

Adolf Hurwitz setzte Giersters zahlentheoretische Ansätze „mit durchschlagendem Erfolg“ fort. Von der algebraischen Geometrie kommend, konzentrierte er sich zunehmend auf Funktionentheorie und Zahlentheorie.120 Hurwitz hatte, wie erwähnt, in seinem ersten Studiensemester bei Klein Zahlentheorie gehört und vor seinem erstem Auftreten im Vortragsseminar (Über die Frequenz der Primzahlen, nach Tchebicheff“, Vorträge am 6. und 13. Juli 1877) mit Klein kooperiert.121

Abb. 21: Adolf Hurwitz

Klein bezog Hurwitz in die Familie ein, sorgte sich um dessen Gesundheit und hätte ihm das Studium in Berlin gern erst später empfohlen.122 Hurwitz versäumte in Berlin die Lehre vom Winter 1877/78 wegen seiner Typhus-Erkrankung, hörte danach Analytische Funktionen bei Weierstraß und entwickelte eine neue geometrische Idee, „wie das Chasles’sche Correspondenzprinzip eine geometrische Übersetzung des Satzes ist, daß eine Gleichung nten Grades n Wurzeln hat […],“123 eine Arbeit, die in Diskussion mit Klein erweitert und datiert zum 18. Dezember 1878 in die Mathematischen Annalen aufgenommen wurde.124 119 120 121 122 123 124

[Paris] 69 (Klein an Darboux, Brief v. 26.12.1879). KLEIN 1923 GMA III, 5-6. Brief Kleins an Hurwitz v. 27.6.1877 [UBG] Math. Arch. 77: 7; [Protokolle] Bd. 1, 314-17. Brief Kleins an Hurwitz v. 3.10.1877 [UBG] Math. Arch. 77: 8. Brief Hurwitz’ an Klein v. 24.9.1878 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 872/1, Bl. 1v. Hurwitz, A. (1879): „Ueber unendlich-vieldeutige geometrische Aufgaben, insbesondere ueber die Schliessungsprobleme“. Math. Ann., 8-15. – Vgl. auch HILBERT 1921.

174

4 Professur am Polytechnikum in München

Klein riet Hurwitz zu breiter Orientierung: „Vergessen Sie über der Freude am Produciren nicht, sich fremde Anschauungen anzueignen!“125 Und: „Sie werden im kommenden Winter vermuthlich Kronecker’s grosses Colleg über Gleichungen hören; ich würde Ihnen dankbar sein, wenn Sie mir später […] Heft zukommen lassen könnten. Wenn ich doch einmal bei diesem Capitel bin, so will ich noch zufügen, dass mir Weierstraßsche Hefte neueren Datums, namentlich solche über Functionentheorie, ebenfalls sehr willkommen sind.“126 Kroneckers Vorlesungen wollte Klein vor allem deshalb sehen, um zu prüfen, wie weit dieser selbst mit seinen Ideen über Gleichungen 5. Grades gekommen war: „[…] ich möchte ihm durchaus und vollauf Gerechtigkeit widerfahren lassen aber auch nicht mehr.“127 Kronecker brachte in dieser Vorlesung allerdings nichts über Gleichungen 5. Grades; dies soll er in einem Colleg über Zahlentheorie vorgetragen haben.128 Erst im März 1881 erfuhr Klein, dass Kronecker nie einen Beweis für seinen Satz gefunden hatte (vgl. Abschnitt 5.5.2.1). Hurwitz hörte im Winter 1878/79 die „elliptischen Funktionen bei Weierstraß“129 und kehrte danach zu Klein zurück. Er erwarb mit Klein eine breite Basis.130 Klein bombardierte ihn mit Aufgaben und mathematischen Fragen, bestellte ihn auch sonntags zu sich und regte an: „Ich halte es für einen Hauptfehler der heutigen Mathematiker, dass sie in Literatur zu unwissend sind.“ „Fürchten Sie sich nicht vor dem Camille Jordan, sondern lesen Sie sich wenigstens so weit hinein, daß Sie wissen, was er mit seinem Buche will.“ 131 Noch vor Beginn des Wintersemesters 1879/80 las Hurwitz die Arbeiten von Klein, Gordan, Clebsch-Lindemann. Hurwitz sprach im Colloquium über Hamiltons Quaternionen-Calcul und Kugelfunktionen132 und führte Beweise für Sätze von Klein aus.133 Klein anerkannte die studentische Mitarbeit, fügte z.B. in seiner erwähnten Arbeit „Zur [Systematik der] Theorie der elliptischen Modulfunktionen“ (zuerst am 6.12.1879 in der Akademie der Wissenschaften zu München vorgestellt) zwei Fußnoten an: „Hr. Stud. Hurwitz, der mich bei solchen Untersuchungen unterstützte, wurde dabei für den 23. und 47. Transformationsgrad zu solchen eleganten Gleichungen geführt […]“ und „Ich hatte zunächst nur mit den x0 : x1: x2 : x3 operirt; das Resultat, wie es im Texte mitgetheilt ist, rührt von Herrn Hurwitz her.“134 Wie Klein sich vorstellte, Adolf Hurwitz zur Promotion zu lenken, dürfte von breiterem Interesse sein. Klein meinte, dass Hurwitz in Leipzig promovieren könne und schlug noch von München aus vor: 125 126 127 128 129 130 131 132 133 134

Brief Kleins an Hurwitz v. 6.10.1878 [UBG] Math. Arch. 77: 11, Bl. 17. Ebd., 13, Bl. 20, 20v, Brief Kleins an Hurwitz v. 22.10.1878. Ebd., 18, Bl. 30, Brief Kleins an Hurwitz v. 19.1.1879. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 884, Bl. 36 (Hurwitz an Klein, Brief v. 24.3.1879). Ebd., 872/2, Bl. 3v. (Brief v. 24.9.1878 ) – Hurwitz unterzeichnete mit: „Ihr, Sie hochschätzender ehemaliger und hoffentlich zukünftiger Schüler Adolf Hurwitz“ (Bl. 4). Vgl. auch HILBERT 1921. [UBG] Math. Arch. 77: 16; 27/1 (Briefe Klein an Hurwitz, 17.11.1878; 2.10.1879). [Protokolle] Bd. 1, 89-108; dort 106-108 auch ergänzende Hinweise von Klein. Vgl. z.B. Hurwitz an Klein, Brief v. 27.9.1879 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 887. Zitiert nach dem Wiederabdruck in den Math. Ann. 17 (1880) 62-70, Zitate 69 und 70.

4.2 Entfaltung zur mathematischen Individualität

175

Ich möchte dabei, wenn Sie das gestatten, etwas mehr in persönliche Zucht nehmen, als bisher; also etwa so, wie ich es diesen Sommer hindurch mit Bianchi machte. Bislang habe ich Ihnen nur allgemeine Fragestellungen bezeichnet, die Gebiete benannt, in die Sie eindringen mußten, und Ihnen nur gesprächsweise Schwierigkeiten, die Sie fanden, aus dem Wege geräumt. Die eigentliche Formulirung und Inangriffnahme des Thema’s blieb Ihnen überlassen. Jetzt möchte ich das anders machen. Ich möchte Ihnen eine Zeit lang eine specielle Frage nach der anderen vorlegen, die ich Sie dann bitte jeweil[s] bis zum Abschlusse zu bearbeiten. Diese Fragen sollen natürlich genau in der Richtung Ihres Thema’s liegen und womöglich aus unseren Besprechungen, resp. Correspondenz heraus erwachsen. Sie verzichten dabei auf einen Theil Ihrer Selbständigkeit, um später desto selbständiger dem Stoffe gegenüber zu stehen. In gleichem Sinne werde ich Sie vielleicht in Leipzig bitten, neben meinem Colleg über Functionentheorie (bei dem ich in ähnlicher Weise auf Ihre Unterstützung rechne, wie vergangenen Winter bei der analytischen Mechanik) möglichst wenig Anderes zu hören. Wenn ich nun gleich mit einer ersten Frage kommen darf, so wäre es die: Die Theorie der neuen Multiplicatorgleichungen, wie ich sie Annalen XV, p. 86 entwarf und auf die sich die neueren Kiepert’schen Arbeiten beziehen, durchzuarbeiten. Weshalb existiren diese Gleichungen für Primzahlen >3 ? Wie ist es bei 2 und 3 ? Wie bei zusammengesetzten Zahlen? Wie insbesondere bei Potenzen von 2 oder 3? – Alles womöglich ohne σ–Functionen, bloß aus functionentheoretischen Anschauungen über Modulfunctionen heraus, zu machen. Ich brauche kaum hinzuzufügen, wie stark mein eigenes Interesse an dieser ersten Fragestellung betheiligt ist. Denn ich sagte Ihnen wohl schon einmal, daß ich für die verschiedenen Behauptungen meiner betr. Note keine mittheilbaren Beweise besitze. Ich war vollständig von der Richtigkeit dieser Dinge überzeugt; sonst hätte ich die Note nicht geschrieben. Aber ich konnte wenigstens vergangene Osterferien, wo ich eine Zeit lang daran dachte, selbst diese Multiplicatorfragen aufzunehmen, die betr. Gründe nicht ohne Weiteres explicite auseinanderlegen.135

Hurwitz nahm das Programm dankbar an und gelangte in regem Austausch mit Klein zum Abschluss seiner Dissertation Grundlagen einer independenten Theorie der elliptischen Modulfunctionen und Theorie der Multiplicator-Gleichungen erster Stufe (eingereicht am 23. März 1881). Am 6. Dezember 1880 entwickelte er im (ersten Leipziger) Seminarvortrag „Über die Bildung der Modul-Functionen“ bereits maßgebliche Ergebnisse, anknüpfend an Eisenstein, Cayley, Weierstraß. Hilbert unterstrich Hurwitz’ Aufgreifen von Kleins Ideen. Hurwitz schuf […] auf Anregung von Klein mit Benutzung Eisensteinscher Ansätze eine von der Theorie der elliptischen Funktionen unabhängige Theorie der elliptischen Modulfunktion […]. Ein Hauptteil dieser Dissertation handelt von den sogenannten Multiplikatorgleichungen, die Hurwitz im Anschluß an die Arbeiten von Klein und Kiepert mit der ihm eigenen Gründlichkeit und Sorgfalt studiert.136

Wie Klein angab, praktizierte er die gekennzeichnete intensive Arbeitsweise auch mit Luigi Bianchi, der nach Promotion in Pisa 1879 für zwei Semester kam. Bevor wir auf dessen Kooperation mit Klein eingehen, sei Gregorio Ricci-Curbastro erwähnt, der zuvor als erster italienischer Mathematiker bei Klein studierte, ebenfalls nach Erwerb des Doktortitels in Pisa. Ricci hörte Kleins Vorlesungen Zahlentheorie (WS 1878-79) und Algebraische Gleichungen (SS 1879) und beteiligte 135 [UBG] Math. Archiv 77: 38, Bl. 60, 60v (Klein an Hurwitz, 21.8.1880). – Die mathematische Frage beantwortete Klein noch selbst, mit Gordan beratend, bevor Hurwitz neu startete. 136 HILBERT 1921, 161-62.

176

4 Professur am Polytechnikum in München

sich an Literaturanalysen im Seminar. Er sprach über Certaines équations du degré 2n, wobei er in seinem langen Eintrag im Protokollbuch auch zum Problem der Lösung von Gleichungen 5. Grades gelangte (3. März 1879). In einem zweiten Vortrag behandelte er eine Arbeit von Stephen Smith über Modulfunktionen, die in einem italienischen Organ in Französisch erschienen war: Les Courbes Modulaires. Rapport sur un Mémoire de M. Stephen Smith communiqué à l’Académie Royale des Lyncées, 1877 (28. Juli 1879).137 Damals kam er nicht zu einer eigenen Arbeit. Als Ricci aber mit seinem Schüler Tullio Levi-Civita die Tensoranalysis entwickelte, erbat Klein sofort die Ergebnisse für die Mathematischen Annalen138 und erklärte später diese Basis für die Allgemeine Relativitätstheorie.139 Luigi Bianchi beherrschte im Unterschied zu Ricci-Curbastro ausgezeichnet Deutsch. Er sprach an sieben Colloquiums-Terminen und erlebte eine intensive Zusammenarbeit mit Klein, denn die Teilnehmerzahl war gering: fünf im Winter 1879-80. Im Sommer 1880 waren es nur Bianchi, und Dyck als Assistent. Sie trafen sich samstags bzw. sonntags und suchten Klein im Sommer in seinem Landhaus auf, wohin sich dieser aus Gesundheitsgründen zurückgezogen hatte. Bianchi sprach zunächst anknüpfend an seine Dissertation über Flächenkrümmung und einen Satz von Julius Weingarten im Colloquium (17.1. und 24.1. 1880). Am 7. Februar 1880 übergab er Klein eine Arbeit darüber für die Mathematischen Annalen. Im Folgenden trug Bianchi zu Kleins Stufentheorie bei, wozu seine Vorträge zur Tetraederirrationalität (29.5., 5.6.) und zur Ikosaederirrationalität (an den Sonntagen: 13.6., 4.7., 11.7.) gehörten.140 Als Klein mit seiner Arbeit „Über unendlich viele Normalformen des elliptischen Integrals erster Gattung“ (am 3.7.1880 bei der Münchener Akademie präsentiert) seine Stufentheorie mit Hilfe doppeltperiodischer Funktionen erweiterte, anerkannte er Bianchis Ergebnisse: „Die fünfte Stufe hat Herr Bianchi in letzter Zeit auf meine Anregung hin untersucht, und es sind wesentlich von ihm gefundene Resultate, die ich im folgenden mitteile.“141 Die Beweise der mitgeteilten Resultate ergänzte Bianchi in einer weiteren Annalen–Arbeit (August 1880).142 Auch in Kleins diesbezüglicher Arbeit vom Oktober 1880 für die Proceedings of the London Mathematical Society fehlte der Hinweis auf Bianchis Ergebnisse nicht (p. 152). Klein urteilte später über die Beziehungen zu Bianchi: „Indem er im Sommer 1880 (Math. Annalen 17) die elliptischen Kurven, die ich später elliptische Normalkurven der 3ten und 5ten Ordnung nannte, mit Hilfe der σ-Funktion behandelte, überwand er 137 [Protokolle] Bd. 1.2, 44-51; 75-78. – Smiths Arbeit „Sur les équations modulaires“ war zuerst 1874 der Pariser Akademie vorgelegt worden, vgl. auch KLEIN 1923 GMA III, 7-9. 138 Ricci, M.M.G.; Levi-Civita, T. (1901): « Méthodes de calcul différentiel absolu et leurs applications. » Math. Ann. 54, 125-201. 139 KLEIN 1927, Vorlesungen II, 189-95, 205; vgl. auch Abschnitt 9.2.2. 140 [Protokolle] Bd. 1.2, 94-97; Bd. 2, 6-27. 141 KLEIN 1923 GMA III, 179-85, Zitat 183. – Zu „Kleins Prinzip der Stufenteilung“ vgl. auch FRICKE 1913a, 277-79. 142 Bianchi, L. (1880): „Ueber die Flächen mit constanter negativer Krümmung“. Math. Ann. 16, 577-82; Bianchi, L. (1880): „Ueber die Normalformen dritter und fünfter Stufe des elliptischen Integrals erster Gattung“. Math. Ann. 17, 234-62.

4.3 Gesprächskreise in München

177

meine Scheu, mich dieses Hilfsmittels, wie auch der Thetareihen allgemein zu bedienen. Er hat so das Beste getan, um die Brücke von meinen Untersuchungen zu den Entwicklungen der Weierstrassischen Schule, insbesondere zu den gleichzeitigen Arbeiten meines Freundes Kiepert zu schlagen […].“143 Ludwig Kieperts Arbeit war bereits am 29. Juli 1879 im Colloquium durch Julius Amelung besprochen worden.144 Es bedurfte jedoch der Mitarbeit von Bianchi, damit Klein die Ansätze in sein Methodenarsenal integrieren konnte. Noch im Februar 1924 beantragte Klein, Luigi Bianchi zum Korrespondenten der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften zu wählen.145 Klein war sich bewusst, wie wichtig die Kooperationen für seine Forschungen waren. Ein handschriftlicher Eintrag in seinem Protokollbuch vom Samstag, den 14. Februar 1880, deutet an, dass er die Arbeit einordnete und lenkte: Der Unterzeichnete sprach über den gegenwärtigen Stand seiner Untersuchungen über elliptische Modulfunctionen, mit der besonderen Absicht, die Bedeutung zu kennzeichnen, welche die Arbeiten der einzelnen Colloquiumsmitglieder für diese Untersuchungen besitzen. F. Klein146

4.3 GESPRÄCHSKREISE IN MÜNCHEN Klein kooperierte mit den studentischen Mitarbeitern und wie bisher mit weiteren Kreisen. Dazu gehörten ein Mathematisches Kränzchen mit Technik- und Naturwissenschaftlern, ein Mathematischer Studentenverein sowie eine Mathematische Gesellschaft gemeinsam mit den Mathematikern der Universität München, worüber wir unterschiedlich genau unterrichtet sind. Außerdem engagierte er sich maßgeblich bei der Organisation der 1877 in München stattfindenden Jahresversammlung der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte. 4.3.1 Mathematisches Kränzchen mit Ingenieuren und Naturwissenschaftlern Kleins früh erwachtes Interesse für Technik gewann in München neue Nahrung. Der bereits genannte Johann Bauschinger hatte 1870 das erste mechanisch-technische Laboratorium an einem Polytechnikum, gegründet, welches als Keimzelle staatlicher Materialprüfanstalten gilt.147 Noch wichtiger wurde Carl Linde für Klein. Linde lehrte in seinen Vorlesungen zur theoretischen Maschinenlehre die mathematischen Grundlagen dieses Gebietes, benutzte graphische Methoden und 143 KLEIN 1923 GMA III, 6. 144 [Protokolle] Bd. 1.2, 78-79. – Klein förderte später dessen weiteres Fortkommen (vgl. JACOBS 1977, Vorläufiges aus München, Bl. 4; TOBIES/ROWE 1990, 199-200). 145 [AdW Göttingen] Pers. 20 (1105). 146 [Protokolle] Bd. 1.2, 108. 147 Johann Bauschingers Sohn Julius hörte Kleins Vorlesungen 1879-80 und sollte später als Astronom gemeinsam mit Klein in der Notgemeinschaft agieren, vgl. Abschnitt 9.4.1.

178

4 Professur am Polytechnikum in München

schuf mit einem Maschinenlaboratorium (Versuchsanstalt für Thermodynamik) das zweite staatliche Laboratorium. Klein überlieferte: […] erfuhren meine technischen Interessen in dem von uns gegründeten mathematischen Kränzchen durch den Verkehr mit hervorragenden Technikern wie z. B. Linde, mannigfaltige Förderung. So gewann ich besonders engere Beziehungen zu den geometrischen Disziplinen der Maschinentechnik, wie darstellende Geometrie, graphische Statik und Kinematik.148

Die genannten Gebiete darstellende Geometrie, graphische Statik, Kinematik, sollte Klein später in die universitäre Lehre integrieren. Der Kältetechniker Carl Linde erwähnte in seinen Lebenserinnerungen ebenfalls das Mathematische Kränzchen und sein besonderes Verhältnis zum Duzfreund Klein: Hatte die Vereinstätigkeit mich in laufenden allgemeinen Verkehr mit den technischen Kreisen Münchens gebracht, so öffnete sich in den letzten Jahren meiner dortigen Lehrzeit ein engerer Kreis von Kollegen zu besonders wertvollem Gedankenaustausch. An Stelle des verstorbenen Mathematikers Hesse waren im Jahre 1875 die beiden jugendlichen Professoren Klein und Brill berufen worden. Mit ihnen und den Kollegen v. Bezold und Loewe trat ich zu einem „mathematischen Kränzchen“ zusammen, welches noch jetzt in sehr erweiterter Form besteht und dessen Geschäftsordnung bestimmte, daß wir alle vierzehn Tage gegen Abend in dem Amtszimmer je des einen zusammenkamen, welchem die Aufgabe zufiel, über einen ihn beschäftigenden Gegenstand vorzutragen. Besonders nahe kam ich hierbei für Lebenszeit dem Freunde Klein, und es knüpfte sich später mein Anteil an der Bildung der „Göttinger Vereinigung“ an die aus jenem Verkehr gewonnenen Eindrücke an.149

Carl Linde war nach Maschinenbaustudium an der ETH Zürich ohne Abschluss, Tätigkeit in einem Berliner Zeichenbüro, 1866 in das Technische Büro der Lokomotivenfabrik Krauß & Co., München, gelangt und 1868 als a.o. Professor für Theoretische Maschinenlehre an das Polytechnikum berufen worden. Linde hatte 1871 seine erste Kältemaschine entworfen und 1872 eine o. Professur erhalten. Seine Kältemaschinen (Kühlschränke) fanden vor allem in Brauereien reißenden Absatz. Klein notierte, dass er mit Linde im Dezember 1875 im Spatenbräu war,150 damals die größte Brauerei in München, deren Geschichte bis ins 14. Jahrhundert zurückreicht. Linde gründete 1879 mit zwei Brauern die „Gesellschaft für Linde’s Eismaschinen AG“, die erfolgreich am Markt agierte. Sein Lehramt gab er zunächst auf, hielt später (1892-1910) erneut Vorlesungen. Klein sah, dass Lindes Versuchsanstalt Praxis und Theorie gleichermaßen förderte und erstrebte später ähnliche Großlaboratorien für Göttingen. Er urteilte: Ein vortreffliches Beispiel für die Leistungsfähigkeit der technischen Physik nach beiden Seiten hin [Praxis & Theorie; R. To] gibt der ausgezeichnete Luftverflüssigungsapparat, mit welchem Linde 1895 hervortrat. Man hatte bis dahin die Abweichung, welche zwischen dem tatsächlichen thermodynamischen Verhalten der atmosphärischen Luft und dem idealen Schema des Mariotte-Gay Lussacschen Gesetzes besteht, als etwas beiläufiges betrachtet; hier ist sie mit größtem praktischen Erfolge zum Prinzip der Konstruktion gemacht.151

148 149 150 151

KLEIN 1923a, Autobiographie, 20. LINDE 1984, 34. Vgl. zu Lindes Engagement in Göttingen Abschnitt 7.8. Klein in JACOBS 1977, Vorläufiges aus München, Bl. 1. KLEIN 1904a, 150-51.

4.3 Gesprächskreise in München

179

Abb. 22: Carl Linde

Klein und Linde verband das Interesse an einem engen Bezug von Mathematik, Physik und Technik. Aus ihren anfänglichen Zweiertreffen erwuchs zu Beginn des Jahres 1876 das Mathematische Kränzchen. Neben Klein, Linde und Alexander Brill zählten der Physiker und Meteorologe Wilhelm von Bezold und der Ingenieurwissenschaftler Ferdinand Loewe dazu. Von Bezold hatte noch bei Riemann gehört und gab später eine Nachschrift einer Riemann-Vorlesung (1858/59) an die Göttinger Universitätsbibliothek, welche die Probleme der (x + iy) – Kugel behandelte, die für Kleins Übertragungsprinzipien in Verbindung mit dem Ikosaederthema wichtig geworden war.152 Bezolds Habilitationsschrift Ueber die physikalische Bedeutung der Potential-Funktion in der Elektricitätslehre (München 1861) fiel ebenfalls in Kleins Interessenspektrum. Loewe widmete sich den Schienenwegen für Eisenbahnen und dem Straßenbau. Damit bestand ebenfalls Kontakt zu Georg Krauß, dem Gründer der erwähnten Lokomotivfabriken Krauß & Co., dessen erste Lokomotive 1867 eine Goldmedaille auf der Weltausstellung in Paris errungen hatte. Krauß förderte auch Carl Lindes Kältemaschinen. Es verwundert nicht, dass die Münchener Unternehmen Kleins spätere wissenschaftlichtechnische Bestrebungen besonders schnell unterstützen sollten (vgl. 7.8). Wenn Klein am 2. Dezember 1898 die höchste Auszeichnung Bayerns, den Maximiliansorden für Wissenschaft und Kunst (Abtheilung Wissenschaft) und im Jahre 1905 den Ehrendoktortitel der TH München erhalten sollte (vgl. Abb. 39), 152 Vgl. KLEIN 1922 GMA II, 256.

180

4 Professur am Polytechnikum in München

wenn ihm 1909 der dritte Vorsitz des Deutschen Museums von Meisterwerken der Naturwissenschaften und Technik in München angetragen wurde, so hatte nicht nur sein Doktorschüler Walther Dyck daran maßgeblichen Anteil. Es wirkten sich auch die engen Kontakte zu Vertretern technischer Fächer aus. 4.3.2 Mathematischer Studentenverein & Mathematische Gesellschaft Der Studentenverein ist erwähnenswert, weil es Felix Klein war, der die Gründung initiierte.153 Als sich die Zahl seiner mathematisch interessierten Studenten wieder erhöht hatte, regte er im Jahre 1877 an, dass diese aus ihrem „Mathematischen Zirkel“ einen im Vereinsregister eingetragenen Mathematischen Verein bilden mögen – so wie er es selbst von Bonn, Göttingen und Berlin kannte. Isaak Bacharach154, Walther Dyck, Joseph Gierster, Franz Meyer, Max Planck, Karl Rohn und weitere damals unter Klein und Brill Studierende erarbeiteten Satzungen, die im Mai 1877 sowohl von der Universität als auch von der Technischen Hochschule bestätigt wurden. Klein hielt den Kontakt zu diesem Verein, folgte deren Einladungen zu besonderen Anlässen. Als feststand, dass er zum Herbst 1880 an die Universität Leipzig wechseln wird, gab es am 31. Juli 1880 eine Studentendeputation,155 die das Bedauern über den Weggang ausdrückte. In einer Mathematische Gesellschaft trafen sich die Münchener Hochschullehrer, Professoren und Dozenten der Mathematik und Physik von Universität und Polytechnikum. Über den konkreten Inhalt der Treffen ist allerdings kaum etwas bekannt.156 Die Zusammenkünfte konnten nützlich sein, um den wissenschaftlich begabten Schülern von Klein und Brill auf den Weg zu helfen. Hier konnten auch Habilitationen besprochen werden; in diese Zeit fiel die Habilitation von Alfred Pringsheim im November 1877, die Klein in seinen Aufzeichnungen erwähnte.157 Pringsheims Richtung, orientiert an der Analysis von Weierstraß, entsprach offensichtlich eher den Vorstellungen der Münchener Universitätsprofessoren, die Kleins geometrisch an Riemann orientierten Schülern die Habilitation verweigerten. Klein führte später mit Pringsheim einen heftigen öffentlichen Disput über die Art und Weise von Anfänger-Vorlesungen (vgl. Abschnitt 8.3.4.1). Dennoch beteiligte sich Pringsheim als Autor an der ENCYKLOPÄDIE.

153 Vgl. hierzu HASHAGEN 2003, 64. 154 Bacharach ging in den Schuldienst; erzielt mit seiner Dissertation bei M. Noether (Erlangen 1881) ein wichtiges Ergebnis in der algebraischen Geometrie: Satz von Cayley-Bacharach. Er wurde ein Opfer des Holocaust. 155 Klein in JACOBS 1977, Vorläufiges aus München, Bl.4. 156 Vgl. hierzu HASHAGEN 2003, 53. 157 Klein in JACOBS 1977, Vorläufiges aus München, Bl.3.

4.3 Gesprächskreise in München

181

4.3.3 Naturforscherversammlung in München 1877 Die 50. Jahresversammlung der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte (GDNÄ) fand vom 17. bis 22. September 1877 in München statt.158 Felix Klein hatte sich schon als Privatdozent und junger Professor für den Zusammenschluss von Mathematikern engagiert (vgl. 2.8.3.4). Er nutzte nun die Münchener Versammlung, um für eine möglichst große Teilnehmerzahl an der mathematischen Sektion zu werben. Zugleich übernahm er den Vorsitz des Presse- und Redaktionsausschusses für die gesamte Veranstaltung. Als Leiter des Redaktionscomités159 edierte er eine Schrift als Festgabe für die Gäste: München in naturwissenschaftlicher und medicinischer Beziehung. Führer für die Theilnehmer der 50. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte (Leipzig & München: G. Hirth, 1877). Im Verlaufe der Versammlung erschienen täglich sog. Tageblätter mit Informationen und im Nachhinein ein Amtlicher Bericht mit den Vorträgen. Herausragende Forscher wie Charles Darwin und William Thomson (Lord Kelvin) waren als Ehrengäste geladen. Felix Klein erlebte zum zweiten Male hautnah die Wertschätzung der Evolutionstheorie,160 aber auch deren Gegner. Der zum Hauptvortrag „Ueber die heutige Entwicklungslehre im Verhältnisse zur Gesammtwissenschaft“ geladene Ernst Haeckel bezeichnete die „von Darwin neu begründete Entwicklungslehre als die wichtigste Förderung unserer reinen und angewandten Gesammtwissenschaft“ und schlussfolgerte: „Wie die theoretische Gesammtwissenschaft, so wird auch die praktische Philosophie und Pädagogik von nun an ihre wichtigsten Grundsätze nicht mehr aus angeblichen Offenbarungen, sondern aus den natürlichen Erkenntnissen der Entwicklungslehre ableiten. […]“.161 Ernst Haeckels einstiger Würzburger Lehrer Rudolf Virchow scharte die Gegner um sich und appellierte in seiner nachfolgenden, mit vielen Bravo-Rufen bedachten Rede: Schullehrer, lehrt das nicht.162 Virchows Einfluss trug bei, dass Evolutionstheorie und die Fächer Botanik und Zoologie 1882 aus den Lehrplänen der höheren Schulen Preußens verbannt wurden.163 Um 1900 rangen Biologen darum, das Verbot aufzuheben und konnten auf Felix Klein zählen (vgl. 8.3.4). Für die Sektion Mathematik, Astronomie und Geodäsie wurden 16 Vorträge angekündigt. Als Vorsitzender fungierte der Münchener Universitätsprofessor Ludwig Seidel. Er leitete die erste Sitzung, trug aber selbst nicht vor. Chairman der zweiten Sitzung war Wilhelm Scheibner aus Leipzig. Auch er bot keinen Vortrag an, wurde aber wichtig für Kleins Ruf 1880 nach Leipzig. Der dritten, stärker anwendungsbezogenen Sitzung stand der Geodät Bauernfeind vor.

158 Vgl. hier und im Folgenden TOBIES/VOLKERT 1998. 159 Das Redaktionscomité: Prof. Dr. F. Klein (Vorstand), Dr. A. Engler, Dr. J. Forster, Dr. E. Hermann, Prof. Dr. F. Ratzel, Dr. E. Schweninger, vgl. AMTLICHER BERICHT 1877, III. 160 Zum ersten Male als Bonner Student vgl. Abschnitt 2.3.2. 161 AMTLICHER BERICHT 1877, 14-22; Zitate 20 (darin auch S. 21 das später von Klein zitierte biogenetische Grundgesetz Haeckels). – Zu Haeckel vgl. auch RICHARDS 2009, 312-29. 162 AMTLICHER BERICHT 1877, 65-77, Zitat 70; vgl. auch ZIGMAN 2000. 163 [StA Berlin] Rep. 76 Vb Sekt. 1, Tit. 5, Abt. V, Nr. 12, Vol. I, Bl. 33.

182

4 Professur am Polytechnikum in München

Die erste Sitzung startete mit Luigi Cremona und Sophus Lie, die Klein persönlich eingeladen hatte. Cremona sprach Ueber Polsechsflache bei Flächen dritter Ordnung, Lie Ueber Minimalflächen, insonderheit über relle algebraische. Danach folgten Alexander Brill mit einem Beitrag über das Modelir-Cabinet und mehrere Modelle sowie Kleins Vortrag Ueber die Gestalten der Kummer’schen Fläche. Brill und Klein warben mit Hinweisen auf die Modelle vom Verlag Ludwig Brill in Darmstadt, die im mathematischen Institut der TH München gestaltet worden waren. Klein präsentierte vier Arten der allgemeinen Kummerschen Fläche und klassifizierte sie, basierend auf älteren und neueren Ergebnissen: Man hat vier Arten der allgemeinen Kummer’schen Fläche zu unterscheiden, je nachdem von den 6 linearen Fundamentalcomplexen alle oder nur 4, 2, 0 reell sind. Im ersteren Falle hat die Fläche 16 reelle Doppelpuncte und Doppelebenen, im zweiten nur 8, im dritten und vierten 4; die beiden letzten Fälle unterscheiden sich dadurch, dass einmal die 4 Doppelebenen zu je 2 durch die 4 Knotenpuncte hindurchgehen, das andere Mal nicht (wie bei der Fresnel’schen Fläche). Diese vier Arten entsprechen einzeln den vier Arten reeller hyperelliptischer Integrale (p = 2), die man nach der Realität der Verzweigungspuncte unterscheiden kann, und deren Verlauf durch die betr. Flächen versinnlicht wird. Zwischen diese 4 Arten der allgemeinen Fläche reihen sich nun eine grosse Reihe von Uebergangsfällen und Ausartungen. Zu ihnen gehören vor Allem die Plücker’schen Complexflächen. Man kann alle diese Gestalten durch continuirlichen Uebergang aus einander ableiten und gewinnt so einen vollen Ueberblick über die grosse Reihe der vorhandenen Möglichkeiten.164

1878 reichte Kleins Schüler Karl Rohn seine Dissertation Betrachtungen über die Kummersche Fläche und ihren Zusammenhang mit den hyperelliptischen Funktionen p = 2 (München: Straub) ein, und entwickelte schließlich eine übersichtliche Methode, um zunächst die Gestalten Kummerscher Flächen zu erfassen, die keine mehrfachen Geraden enthalten.165 Auf das Zusammentreffen mit Sophus Lie anlässlich der Naturforscherversammlung hatte sich Klein besonders gefreut und alle Hebel in Bewegung gesetzt, damit dieser für längere Zeit nach München kam. Lie hatte Kleins Angebot, vor der Tagungszeit bei ihm zu Hause zu wohnen, angenommen. Er berichtete nach Hause über Kleins „ausgesucht liebenswürdige“ Frau und dessen „hübschen starken Jungen“,166 der am 6. August 1877 gerade ein Jahr alt geworden war. Allerdings blieb nicht die erhoffte Zeit, um tatsächlich gemeinsam zu arbeiten. Lie hatte über sein Vortragsthema bereits im norwegischen Archiv for Mathematik og Naturvidenskab publiziert und wurde während der Tagung auf einen Fehler hingewiesen. Lebrecht Henneberg, der 1875 bei Hermann Amandus Schwarz in Zürich über Minimalflächen promoviert hatte, war auf Lies Fehler gestoßen. Lie war deshalb nach der Tagung nur darauf konzentriert, den Fehler zu berichtigen. Darüber hinaus ärgerte er sich über H. A. Schwarz, der Lies Fehler

164 AMTLICHER BERICHT 1877, 93-95, Zitat 95. 165 Rohn, K. (1881): „Die verschiedenen Gestalten der Kummer’schen Fläche“. Math. Ann. 18, 99-159. 166 STUBHAUG 2003, 275. – Lies erste Tochter Marie war am 21. Mai 1877 geboren worden.

183

4.3 Gesprächskreise in München

überall ausposaunt habe, sowie über Reaktionen von Alexander Brill. Hinzu traten betrübliche Nachrichten aus der Heimat, so dass mit Lie nichts anzufangen war.167 Im Tagungsbericht steht zu Lies Vortrag: „Der Verfasser theilt nachträglich mit, dass er den Fall, in welchem die Minimalfläche eine Doppelfläche wird, nicht hinreichend berücksichtigte. Tritt dieser Fall ein, so sind die Formeln der Ordnung und Classe, welche der Verfasser angab, durch 2 zu dividiren.“168 Klein behielt das Thema im Auge und ließ im Colloquium über Minimalflächen (Arbeiten von Lie, Schwarz, Weierstraß; Sätze von Henneberg) vortragen.169 Später gewann er Lebrecht Henneberg, der 1878 a.o und 1879 o. Professor an der TH Darmstadt wurde, als Autor und Berater für Technische Mechanik bei der ENCYKLOPÄDIE.170 Kleins zweiter Beitrag auf der Naturforscherversammlung bezog sich auf seine neuen Forschungen zur Theorie der elliptischen Funktionen. Er konnte ihn allerdings aus Zeitgründen nicht halten. Die Ankündigung lautete: Man hat folgenden Satz: Bewegt sich die absolute Invariante 3

g23 Δ

einer biquadratischen Func-

2

tion R (x) [wo Δ = g 2 - 27 g 3 in der gewöhnlichen Bezeichnung] bei der Darstellung ihrer Werthe in der complexen Ebene über die positive Halbebene, so durchläuft der Werth des Pedx ein Kreisbogendreieck mit den riodenverhältnisses K des elliptischen Integral’s K'



R(x)

Winkeln 0°, 60°, 90°: Sechs von diesen Dreiecken in bestimmter Weise nach dem Gesetze der Symmetrie an einander gereiht bilden ein neues Kreisbogendreieck mit den Winkeln 0, 0, 0, und dieses ist eben dasjenige, über welches sich bekanntermassen K bewegt, wenn der K'

Modul k2 des elliptischen Integrals seine positive Halbebene durchläuft.171

Sophus Lie kommentierte dieses Ergebnis von Klein positiv, meinte, vielleicht selbst mal diese Richtung einschlagen zu wollen und führte aus: „Eigentlich ist es merkwürdig, wie wenige Menschen es gibt, die sich wirklich eine kühne geometrische Denkweise angeeignet haben. Wir haben es wohl von Plücker gelernt: Auf jeden Fall haben wir Grund, Plücker stets dankbar zu sein.“172 Zu den Vortragenden der Sektion gehörten zudem Guiseppe Jung aus Italien, einige aus Österreich (Oscar Simony173, Simon Spitzer), Paul Gordan, Ferdinand Lindemann und einige weniger bekannte Wissenschaftler.174 Ohne Vortrag beteiligten sich: der Mathematikhistoriker Moritz Cantor (Heidelberg), Sigmund Gundelfinger (Tübingen), Reinhold Hoppe (Berlin), Kleins Freund Ludwig Kiepert, damals noch a.o. Professor in Freiburg, Jacob Lüroth (Karlsruhe), Kleins Freund Friedrich Neesen, jetzt Privatdozent in Berlin, Max Noether aus Erlangen, 167 168 169 170 171 172 173

Vgl. STUBHAUG 2003, 276, 278; Brief v. Lie an Klein [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 655/1. Amtlicher Bericht 1877, 94. [Protokolle] Bd. 1.2, 22-23, 74-75. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 680-682 (Henneberg an Klein, 13.1.1892 – 9.11.1899). Zum abstract vgl. AMTLICHER BERICHT 1877, 104. Zitiert nach STUBHAUG 2003, 279. Simony könnte hier zu seinem „Programm einer Topologie als Erfahrungswissenschaft“ (vgl. EPPLE 1999, 179) angeregt worden sein. 174 Zu den Vorträgen und Themen vgl. TOBIES/VOLKERT 1998, 241-42.

184

4 Professur am Polytechnikum in München

Theodor Reye von Straßburg, Rudolf Sturm von Darmstadt, Kleins alter Studienfreund Otto Stolz, seit 1872 Professor an der Universität Innsbruck, Kleins Student Walther Dyck.175 Klein hatte damit gute Freunde und Bekannte zum Kommen nach München bewegen können. Das breite Spektrum deutscher Mathematik repräsentierten sie jedoch nicht. 4.4 „WIEDER REIF FÜR UNIVERSITÄT IN KLEINER STADT“ Bereits für November 1876 notierte Felix Klein: „wieder reif für Univ[ersität] in kleiner Stadt“.176 An die größere Stadt Leipzig dachte er zunächst nicht, als dort 1877 nach einem Ersatz für August Ferdinand Möbius gesucht wurde. Klein empfahl Max Noether, der noch immer auf eine ordentliche Professur wartete, und seinen Doktorschüler Ferdinand Lindemann: Wenn man in Leipzig wirklich einen Geometer sucht, so nenne ich zunächst Nöther; ich nenne dann zu zweit Lindemann, der sich eben in Würzburg habilitirt. Aber es ist ja noch verfrüht, darüber ausführlicher zu schreiben?177

Für Kleins Wegsehnen aus München gab es verschiedene Ursachen. Bereits angedeutet wurden: Zwistigkeiten mit Technikern wegen der reorganisierten Lehre; der langwierige Prozess, einen Assistenten zu erhalten; Probleme mit den Mathematikern der Universität bei Promotions- und verhinderten Habilitationsverfahren, seine späte Wahl zum außerordentlichen, nicht ordentlichen Mitglied der Kgl. Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Der von Bauer und Seidel formulierte Wahlvorschlag (vgl. Anhang Nr. 3) enthält manche Spitze und wird Kleins schon beträchtlicher internationaler Ausstrahlung nicht gerecht. Außerdem hatte sich das Verhältnis zu Alexander Brill verschlechtert, obgleich Klein mit ihm Lehrtätigkeit und private Reisen (1876 nach Regensburg, ins Allgäu, zu Gordan; 1877 Pfingsten in die Berge) versucht hatte. Brill neidete Klein die Position bei den Mathematischen Annalen und die Akademie-Mitgliedschaft. Der sieben Jahre ältere Brill wurde erst 1882 a.o. und 1885 o. Mitglied in der Bayerischen Akademie. Mayer schrieb, Klein sei durch Brill’s Neid u. Eifersucht, Brill’s missgünstiges Wesen irritirt und nervös gemacht worden.178 Darboux erfuhr, dass sich Klein abgebraucht, und im Laufe der Zeit so überarbeitet gefühlt habe179, dass ernsthafte gesundheitliche Probleme auftraten. Klein arbeitete ständig auf Hochtour und zweifelte wiederholt an sich selbst. Bereits für die Zeit nach dem ersten Münchener Semester hatte er notiert: Semesterabspannung. Skrupel wegen wissenschaftlicher Leistungsfähigkeit. Und etwas später: Nur Produktion ist Befriedigung.180 175 176 177 178 179 180

AMTLICHER BERICHT 1877, Mitgliederverzeichnis, XVII – XXXIV. Klein in JACOBS 1977, Vorläufiges aus München, Bl. 2. TOBIES/ROWE 1990, 86 (Brief Kleins an Adolph Mayer, 5.4.1877). Ebd., 116, Mayer an Klein, Brief. v. 28.2.1880. [Paris] Klein an Darboux, Brief v. 29.5.1880. Klein in JACOBS 1977, Vorläufiges aus München, Bl. 1 und 4.

4.4 „Wieder reif für Universität in kleiner Stadt“

185

Als im September 1877 die Aufgaben kulminierten, erfuhr Adolph Mayer: „Ich bin in gelinder Verzweiflung. Die Geschäfte, nun nach Schluß der Versammlung, dazu Lie, Lindemann, Gordan, Annalen, und Ikosaeder machen mich todt.“181 Neben der Edition der Mathematischen Annalen hatte er die Herausgabe des Amtlichen Berichts der Naturforscherversammlung übernommen. Klein half Lindemann, Clebschs Vorlesungen für die französische Ausgabe vorzubereiten. Die erwünschte Kooperation mit Lie misslang. Für Gordan redigierte Klein eine Arbeit. Brioschis Ergebnisse für die Mathematischen Annalen selbst zu übersetzen, war Klein sehr wichtig, „[…] weil sie mit meiner Ikosaederuntersuchung zusammen den Annalen ein Gebiet erobern, das ihnen seither gefehlt hatte.“182 Klein wohnte seit 2. April 1875 in die Theresienstraße 14, I. Etage, nahe zu den Universitäts-, Hochschul- und Bibliotheksgebäuden. Mit vergrößerter Familie zog er in die Gabelsberger Straße 16, I. Etage.183 Vom 8. August bis 7. Oktober 1879 begab er sich zur Erholung nach Ebenhausen, ins Fischerschlösschen, welches durch ein Gemälde von Karl Roux (1877) weiter bekannt wurde. Allerdings ruhte sich Klein hier kaum aus, sondern empfing zahlreichen Besuch von Kollegen und Schülern: Da neben aller organisatorischen und wissenschaftlichen Arbeit auch noch eine Reihe hervorragender Schüler meine Tätigkeit stark in Anspruch nahm, habe ich mich in München bereits stark überarbeitet, und so den Grund zu der nervösen Erkrankung gelegt, die später in Leipzig zum Ausbruch kommen sollte.184

Als ihm der Arzt Gartenarbeit als Therapie verordnete, bezog Klein im Frühjahr 1880 ein Landhaus mit grossem Garten in der Forstenriederstraße 8.185 Er hatte am 1. März 1880 beim Kgl. Directorium der Technischen Hochschule „Erleichterungen für den Augenblick und das kommende Sommersemester“ beantragt. Auf seinen Wunsch hin durfte er die Vorlesungen vom Winter 1879-80 eine Woche früher schließen. Brill übernahm seine Examen der Ingenieure. Für das Sommersemester blieben Klein die schon „angekündigte (nicht obligate) Specialvorlesung über analytische Mechanik, Theil II, nebst dem zuständigen mathematischen Seminar“ erlassen.186 Gordan kannte Kleins Rastlosigkeit und schrieb ihm am 24. April 1880: „Viel Glück zur Gärtnerei und zu Ihrem morgigen Geburtstag; wenn Sie nur wirklich nicht [mathematisch] arbeiten!“187 Klein beschränkte sich auf das Seminar mit Dyck und Bianchi, die ihn zu Hause aufsuchten. Hurwitz, ebenfalls erkrankt, blieb bei den Eltern in Hildesheim. Klein empfahl ihm, sich auszuruhen: „Betrachten Sie mich als warnendes Exempel.“ Zwar bestellte er ihn im April schon wieder zu 181 182 183 184 185 186

TOBIES/ROWE 1990, 93 (Brief Klein an Mayer, 27.9.1877). Ebd., Brief v. 16.10.1877. [Paris] Klein an Darboux, Brief v. 26.12.1879 mit neuer Adresse. KLEIN 1923a, 20. [Innsbruck] Klein an Otto Stolz, 28.4.1880; JACOBS 1877, Vorläufiges aus München, Bl. 4. [Archiv TU München] Schreiben Kleins v. 1.3.1880 an das Kgl. Directorium der TH München; Zustimmung v. Directorium 2.3.1880 und Bayer. Staatsministerium v. 8.3.1880. 187 [UBG] Cod. Ms. F. Klein, Gordan an Klein 9: 407, Bl. 11.

186

4 Professur am Polytechnikum in München

sich (Forstenrieder Str. 8), schrieb aber Hurwitz’ Eltern am 10. Mai 1880, dass ihr Sohn mit „specifisch-mathematischer Begabung liebenswürdige Charaktereigenschaften“ verbinde, aber aufgrund seiner Gesundheit ein Semester ausspannen solle.188 Die Eltern stimmten zu und Hurwitz grüßte mit: Zieh hinaus bis an das Haus, wo die Moduln spriessen, wenn Du einen Hauptmodul schaust, sag’ ich lass ihn grüßen.189

Obgleich Gartenarbeit auch heute noch als probates therapeutisches Mittel gilt, um nervösen geistigen Erschöpfungen zu begegnen, so schien bei Klein der Ruf an einen anderen Ort mehr als alles andere seine Aktivität erneut anzuregen. Adolph Mayer eröffnete ihm am 3. März 1880 im Vertrauen: Die Facultät also hat sich endlich ermannt, dem Ministerium die Gründung einer o. Professur für Geometrie vorzuschlagen u. hat in erster Linie Sie dafür genannt. […] Die Aussicht ist also, wie schon gesagt, noch eine sehr zweifelhafte, aber wir alle hier wirken mit allen unseren Kräften für Sie u. wollen auch namentlich keinen anderen als Sie hierherhaben.190

Der Vorgang gestaltete sich schwieriger als erwartet. Mayer begab sich mehrfach persönlich zum zuständigen Minister Carl von Gerber nach Dresden, der eine zeitlang Professor der Rechtswissenschaften an der Universität Leipzig gewesen war.191 Mayers Verzicht auf einen Teil seines Gehalts zugunsten von Klein soll den zögernden Minister überzeugt haben.192 Mayer entstammte einer Bankiersfamilie und war finanziell nicht auf das Gehalt angewiesen. Für Klein dagegen bedeutete der Ruf nach Leipzig auch eine Entschärfung seiner finanziellen Situation. Geldsorgen hatte er bereits für Februar 1876 notiert, deshalb eine Anleihe aufgenommen. Eine 1879 abgeschlossene Lebensversicherung brachte ihm weitere finanzielle Beengung, welche die angespannte gesundheitliche Situation verschärft und Klein mit Hilfe seines Vaters zu klären versucht hatte.193 In der Folge beriet Klein finanzielle Dinge mehrfach mit Gordan, der wie Mayer aus einer Bankiersfamilie stammte. Die Rufanfrage vom Sächsischen Kultusministerium kam zum 21. Mai 1880, und Klein entschied sich binnen einer Woche positiv.194 Bereits im Juni war er wieder aktiv, informierte Hurwitz, dass er ihn natürlich in Leipzig brauchen würde. Nebenher kümmerte sich Klein in München um die Nachfolge für den verstorbenen Klingenfeld. Klein sorgte dafür, dass dessen Lehrauftrag Darstellende Geometrie Walter Dyck übertragen wurde, sodass dieser für das spätere entsprechende Wirken in Leipzig gut vorbereitet wurde.

188 [UBG] Math.Arch. 77: 30, 32, 34, Klein an Hurwitz, 26.3., 22.4., 10.5.1880. 189 Hurwitz an Klein Brief v. Mai 1880 (gedichtet frei nach Heinrich Heine: Frühlingsbotschaft) [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 890, Bl. 46v. 190 TOBIES/ROWE 1990, Mayer an Klein, Brief v. 3.3.1880. 191 Ebd., Mayer an Klein, Briefe v. 7.3., 17.4., 19.4., 24.4.1880. 192 Vgl. WITTING 1910, 41. 193 Klein in JACOBS 1977, Vorläufiges aus München, Bl. 1 und 4. 194 [StA Dresden] 10282/17, Bl. 3-6v.

4.4 „Wieder reif für Universität in kleiner Stadt“

187

Im Juni 1880 weilte Arthur Cayley für mehrere Tage bei Klein zu Besuch195 und veranlasste, dass dieser einen Überblick über seine jüngsten Arbeiten für die Proceedings der Royal Society verfasste. Dies brachte Cayley, wie erwähnt (vgl. 4.2.3), selbst ins Englische. Auch der schwedische Mathematiker Gösta MittagLeffler besuchte Klein und Brill Anfang Juli 1880 in München, nachdem er in Italien und der Schweiz unterwegs gewesen war.196 Klein kannte Mittag-Leffler somit bereits persönlich, bevor dieser die Zeitschrift Acta Mathematica starten sollte (vgl. 2.4.2). Paul Gordan gönnte Klein die neue Position in Leipzig und gab Empfehlungen für die Nachfolge an der TH München: Lieber Klein! Die Nachricht von Ihrem Rufe hat mich so herzlich gefreut, als ob ich selbst einen bekommen hätte. Nach Leipzig gehören Sie hin weg aus dem Münchener Mähren, wo man 3 Jahre nöthig hatte, um Sie zum außerordentlichen Mitglied der Academie zu machen. Verfahren Sie nur nicht leichtsinnig in der Besetzung Ihrer jetzigen Stelle. Meine Ansicht ist: primo loco Lüroth, secundo loco Kiepert, doch das unter uns. Herzlichen Gruß Ihr Gordan197

Gemäß Antrag von Klein, Brill und Bischoff erhielt der aus der Clebsch-Schule stammende Jacob Lüroth, bisher am Polytechnikum Karlsruhe (seit 1885 Technische Hochschule), Kleins bisherige Professur. An zweiter Stelle auf der Berufungsliste stand nicht der mit Felix Klein befreundete Weierstraß-Schüler Ludwig Kiepert, sondern Kleins Doktorschüler Axel Harnack.198 Diese Art von Berufungspolitik hatte sich durch den dominanten Einfluss Berliner Mathematiker ergeben, die Clebsch-Schüler nicht hochkommen lassen wollten. Die Gegnerschaft wurde von beiden Seiten bewusst empfunden. Wie der Vorgang in München von Mathematikern zur Kenntnis genommen wurde, die in Berlin den Doktortitel erworben hatten, verdeutlichen Ludwig Kieperts Worte an Hermann Amandus Schwarz, dass alle Anhänger der Berliner Richtung eng zusammenhalten müssten und aus der Berufungspolitik der Gegenseite lernen sollten.199 Kiepert war seit 1879 auf einer Professur an der TH Hannover, von wo er nicht wieder wegkam und einen eingeschränkten wissenschaftlichen Wirkungskreis besaß (keine Lehramtausbildung; Promotionsrecht erst 1899). Allerdings versagte er die Kooperation mit dem „lieben Felix“ nicht, immer hoffend, den Ort noch einmal wechseln zu können.200 H. A. Schwarz dagegen sollte, wie gesagt, durchaus versuchen, Felix Klein zu behindern (vgl. bes. Abschnitt 5.8.2).

195 [UBG] Math.Arch. 77: 36, Klein an Hurwitz, Brief v. 19.6.1880. 196 STUBHAUG 2010, 252. 197 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 408, Bl. 12 (Gordan an Klein, 27.5.1880). – „Mähren“ ist im Sinne von „langsam sein“ gemeint. 198 [BHSt] MK 19557, Schreiben v. 3.6.1880, Direktor A. Kluckhohn an das Ministerium. 199 Zitiert nach HASHAGEN 2003, 110-111. 200 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 49-180 (Briefe Ludwig Kieperts an Klein).

188

Abb. 23: Felix Klein in Leipzig

5 PROFESSUR FÜR GEOMETRIE IN LEIPZIG Im literarischen Centralblatt habe ich gelesen, daß Sie zu Michaelis nach Leipzig übersiedeln werden. Ich freue mich, daß Sie einen so großartigen Wirkungskreis erhalten werden.1 Mittlerweile hat sich ein für mich hochwichtiges Ereignis, das lange in Aussicht stand, endlich realisirt. Ich erhielt zum Herbst eine Berufung als Professor der Geometrie […] nach Leipzig. Ich hoffe von dem Wechsel erneute und erhöhte Anregung entsprechend dem sehr viel grösseren und verantwortungsvolleren Wirkungskreise, der sich mir bietet.2

Felix Klein kam im Oktober 1880 in die führende deutsche Messestadt, die seit 1165 das Stadtrecht und seit 1409 eine Universität besaß. An dieser einzigen Universität des Königreichs Sachsen hatten sich zum Wintersemester 1880/81 3.326 Studenten eingeschrieben, mehr als an jeder anderen deutschen Universität.3 Bei der Volkszählung am 1. Dezember 1880 war Leipzig mit 149.081 Einwohnern die sechstgrößte deutsche Stadt, nach Berlin, Hamburg, Breslau, München und Dresden. Die sächsische Landeshauptstadt Dresden mit 220.818 Einwohnern besaß ein Königlich-Sächsisches Polytechnikum mit Ingenieur- und Lehramtausbildung4 als höchste Bildungseinrichtung. Hier erhielten einige Schüler Kleins früh Professuren. In Leipzig befand sich das Zentrum des deutschen Verlagswesens. Mit dem Verlagshaus B.G. Teubner pflegte Klein langjährige Kontakte. Leipzig war ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt. Um 1880 existierten hier sieben Bahnhöfe; für die Innenstadt wurde die Pferde-Eisenbahn (ab 1896 Straßenbahntrasse) weiter ausgebaut.5 Als dritte deutsche Stadt nach Berlin und Hamburg erhielt Leipzig bereits 1701 eine Straßenbeleuchtung (Öllampen). Zu Kleins Zeit gab es hier inzwischen Gas und elektrisches Licht, worauf in der Kleinstadt Göttingen noch längere Zeit gewartet werden musste. Leipzig besaß einen Namen als Stadt des Theaters und der Musik, mit dem Thomanerchor seit 1212 und dem Gewandhausorchester, dessen Wurzeln bis 1479 zurückreichen. Klein selbst war zwar wenig musikalisch begabt, dafür waren es seine Frau, Schwägerin Sophie und seine jüngste Tochter Elisabeth (vgl. 3.6.3). Adolph Mayer hatte Kleins Familie eine Wohnung in der zweiten Etage eines fünfgeschossigen Hauses in der Sophienstraße 10 (heutige Shakespearestraße) vermittelt, sowie ein Haus- und ein Kindermädchen für den vierjährigen Sohn Otto und die elf Monate alte Tochter Luise.6 Die kleine Straße lag günstig in der Nähe des Bayerischen Bahnhofs und fußnah zur Innenstadt, wo sich die zentralen 1 2 3 4 5 6

[Innsbruck] Otto Stolz an Klein, Brief v. 18.6.1880. [Paris] Brief 70, Klein an Darboux, Brief v. 29.5.1880. Vgl. HASHAGEN 2003, 94. Technische Hochschule Dresden seit 3.2.1890. Vgl. http://www.leipzig-lexikon.de/VERKEHR/lpe.htm. – Der heutige Kopfbahnhof wurde nach langer Vorarbeit erst 1915 in erster Form vollendet. TOBIES/ROWE 1990, 123 (Mayer an Klein, Brief v. 20.9.1880).

189 © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Tobies, Felix Klein, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58749-2_5

190

5 Professur für Geometrie in Leipzig

Gebäude der Universität befanden. Im Mai 1885 wechselten sie in die Sophienstraße 31/II, weil ein weiteres Kind erwartet wurde.7 Die am 11. Juli 1885 geborene Tochter erhielt – wie Kleins Mutter – den Vornamen Sophie. Wir können diesen Namen auch mit dem Straßennamen, mit Sofja Kowalewskaja (Mathematikprofessorin, Stockholm 1884) sowie mit Sophie Hegel, Anna Kleins jüngster Schwester, assoziieren. Nach der Auszeit im letzten Münchener Semester startete Klein in Leipzig erneut mit Volldampf. Er besaß den Anspruch, „wiss. und organisatorische Arbeit nebst allseitiger Dozententätigkeit mit gleicher Energie neben einander herzuführen.“8 Seine Metapher für diese Zeit, „ein Mantel, der mir zu weit ist“,9 deutet allerdings an, dass das mit Energie geladene Handeln nicht für alle Bereiche durchzuhalten war. Um die „Weite des Mantels“ zu erhellen, soll auf die Vielzahl der parallel laufenden Tätigkeiten geblickt werden. Während Anna Klein die Wohnung in Leipzig einrichtete, hatte sich Felix Klein Ende September 1880 nach Erlangen begeben. Hier redigierte er eine Arbeit über Gleichungen 7. Grades für Paul Gordan und besprach mit ihm eigene, an Bianchi anknüpfende Ideen.10 In Erlangen vollendete Klein sowohl die von Cayley erbetene Arbeit für die London Mathematical Society (datiert 5.10.1880), als auch seine Antrittsrede für die Professur in Leipzig (datiert 7.10.1880), vgl. 5.1. Wie in der bayerischen Hauptstadt galt Kleins erste Initiative in Sachsen dem institutionellen Rahmen für die Mathematiker, deren Lehre bisher im Augusteum, dem Hauptgebäude der Universität am Augustusplatz, stattfand. Wenn Klein auch Adolph Mayers Rat befolgt hatte, bei den Berufungsverhandlungen darauf zu verzichten, Institut u. Assistent zu fordern,11 so versuchte er doch kurz nach dem Amtseid, diese Wünsche durchzusetzen. (Abschnitt 5.2) Zugleich wollte Klein seiner Vorstellung von einem abgestimmten Lehrprogramm näher kommen. Als er sich jedoch nach den ersten drei Semestern wieder überanstrengt hatte, griff er zu dem Mittel, das sich in München bewährt hatte: Er schraubte das Vorlesungsprogramm zurück. (5.3) Klein dehnte seine soziale Ader, „auf andere zu wirken“, junge Forscher zum selbstständigen Arbeiten anzuregen, auf einen zunehmenden Personenkreis aus. Die Erfolge seiner Bestrebungen müssen im Verein mit den zahlreichen Schülern und Kooperationspartnern aus dem In- und Ausland gesehen werden. (5.4) Kleins damalige mathematische Arbeiten zeugen vom Fortführen, Vertiefen, Zusammenfassen bisheriger Ergebnisse. Dafür nutzte er stärker Methoden Berliner Mathematiker. Er wähnte sein altes Münchener Programm in den Händen von Schülern und plante ein eigenes anwendungsorientiertes Programm. Ein tieferer Blick in Poincarés Arbeiten inspirierte ihn doch noch im alten Programm zu

7 8 9 10 11

Vgl. Brief Kleins an Hurwitz v. 20.6.1885 [UBG] Math. Archiv 77: 142. Klein, Persönliches betr. Leipzig, in JACOBS 1979, Bl. 2. Ebd. [UBG] Math. Arch. 77: 40, Brief Kleins an Hurwitz, aus Erlangen v. 29.9.1880. TOBIES/ROWE 1990, 118, Adolf Mayer an Klein, Brief v. 7.3.1880.

5.1 Start mit Antrittsrede

191

Höchstleistungen (den Theoremen in der Uniformisierungstheorie), was er im Nachhinein als den Zenit seiner mathematischen Kreativität interpretierte. (5.5) Kleins enge Zusammenarbeit mit dem Verlagshaus B. G. Teubner gelangte durch den Eintritt von Alfred Ackermann-Teubner in die Geschäftsführung in eine neue Phase, die auch in einen Preis münden sollte. (Abschnitt 5.6) Wie an anderen Orten gründete, nutzte bzw. reorganisierte Klein Gremien: ein Mathematisches Kränzchen, die Fürstlich Jablonowskische Gesellschaft, die Kgl. Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. (Abschnitt 5.7) In Punkt 5.8 soll gezeigt werden, warum Klein wiederum einen Ortswechsel anstrebte und wie es ihm gelang, seine Nachfolge in Leipzig zu regeln. 5.1 START MIT ANTRITTSREDE In Leipzig lehrten der 54-jährige Wilhelm Scheibner und der 48-jährige Carl Neumann als Ordinarien. Adolph Mayer (41 Jahre) und Karl von der Mühll (39) hatten Extraordinariate inne. Felix Klein, 31 Jahre alt, kam als dritter o. Professor, mit Denomination für Geometrie. Bisher besaß keine deutsche Universität eine ordentliche Professur, die nur der Geometrie gewidmet war. Mit Neumann, Mayer und von der Mühll war Klein seit 1873 durch die Redaktion der Mathematischen Annalen verbunden (vgl. 2.4.2). Scheibner hatte Klein bei der Naturforscherversammlung 1877 besonders schätzen gelernt (vgl. 4.3.3). Im Antrag für die neue Professur war sehr geschickt mit der größeren Zahl von Professuren in Berlin und Göttingen argumentiert worden.12 Eine beigefügte lange Liste geometrischer Gebiete hatte demonstriert, dass die Mehrzahl davon in Leipzig ohne zusätzliche Professur nicht hätte gelehrt werden können: V. Geometrie. a) Analytische Geometrie der Ebene / N.[eumann] u. M.[ayer] b) Analytische Geometrie des Raumes / M.[ayer] c) Theorie der krummen Flächen / Sch.[eibner] u. N.[eumann] d) Descriptive Geometrie / Vacat e) Höhere synthetische Geometrie (Möbius u. Steiner) / Vacat f) Geometrie der Lage (Staudt u. Reye) / Vacat g) Theorie der Invarianten und Covarianten / Vacat h) Theorie der binären Formen / Vacat i) Theorie der höheren algebraischen Curven und Flächen / Vacat j) Theorie der Abbildung algebraischer Flächen (Cremona u. Clebsch) / Vacat k) Theorie der Complexe (Plücker) / Vacat l) Zusammenhang der algebraischen Curven mit der Theorie der elliptischen und Abel’schen Functionen / Vacat m) Theorie der Nicht-Euclidischen Geometrie / Vacat n) Theorie der höheren Mannigfaltigkeiten / Vacat13

12 Vgl. hierzu auch KÖNIG 1982, 92; SCHLOTE 2004, 30. 13 [StA Dresden] 10210/17, Bl. 245-46.

192

5 Professur für Geometrie in Leipzig

Über Felix Klein, der gemeinsam mit zwei seiner Schüler, Axel Harnack und Ferdinand Lindemann, vorgeschlagen worden war, war im Antrag formuliert worden: […] nennen wir in erster Linie einen der bedeutendsten Schüler des verstorbenen Clebsch, den Dr. Felix Klein, Professor ord. am Polytechnikum in München, der sich sowohl durch seine zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten, als auch durch die Redaktion der mathematischen Annalen außerordentliche Verdienste erworben hat um die weitere Ausbildung der neueren Geometrie, der namentlich in letzter Zeit mittelst geometrischer Speculationen zu wichtigen neuen Resultaten gelangt ist über die Theorie der algebraischen Gleichungen und der Modulfunctionen, und der sich ausgezeichnet hat durch die Heranbildung tüchtiger Schüler.14

Das Kgl. Ministerium des Cultus und öffentlichen Unterrichts in Dresden hatte den Ruf wunschgemäß zum 1. Oktober 1880 ausgesprochen und Klein die acht Dienstjahre als o. Professor in Bayern ohne Bedenken angerechnet. Es gewährte eine jährliche Besoldung von 7.500 Mark und eine Umzugsbeihilfe von 1.800 Mark.15 Daneben waren Hörergelder zu erwarten. Ein Leipziger Student zahlte pro Semester 15 Mark Honorar für eine vierstündige Vorlesung Felix Kleins (ab WS 1884/85 16 Mark) sowie 1 M Stuhlgeld plus 0,50 M sog. Auditoriengeld; Seminare und Übungen kosteten nichts.16 Am 25. Oktober 1880 hielt Klein seine Leipziger Antrittsrede mit dem Titel „Über die Beziehungen der neueren Mathematik zu den Anwendungen“, die er erst 15 Jahre später publizieren ließ, als er das darin formulierte Programm forciert in Angriff nehmen sollte. An seine Münchener Erfahrungen anknüpfend, begann Felix Klein mit den Worten: Unter allen Wissenschaften ist kaum eine, die in Richtung allseitiger Verwendbarkeit eine größere Bedeutung beanspruchen könnte, als die Mathematik. Nicht nur die benachbarten Naturwissenschaften und die feiner entwickelten Teile der Erkenntnislehre bedürfen einer mathematischen Grundlage; auch das praktische Leben mit seinen vielseitigen Bestrebungen, vor allem die moderne Technik, können einer mathematischen Vorschule nicht entraten. Das wird anerkannt und von keiner Seite bestritten. Und doch beobachten wir im Gegensatze dazu einen merkwürdigen Widerspruch. Von Niemanden wird geleugnet, daß die reine Mathematik seit Anfang des Jahrhunderts nach den verschiedenen Richtungen hin eine mächtige und tiefgreifende Entwicklung erfahren habe. Aber für die Anwendungen scheint alle diese Entwicklung beinahe nutzlos gewesen zu sein. Der Praktiker ignoriert unsere Fortschritte und ist höchstens geneigt, einzelne paradoxscheinende Folgerungen aus dem Zusammenhange herauszugreifen und dann einer nicht eben schonenden Kritik zu unterwerfen.17

Gegen die hier gezeichnete Tendenz setzte Klein seine „optimistische Überzeugung“, dass „das, was uns Theoretiker jetzt interessiert, später noch einmal in allgemeinerem Sinne verwendbar werden“ wird.18 Dass die Mathematiker dafür allerdings selbst etwas ändern müssten, war sein Ausgangspunkt für Vorschläge: 14 [StA Dresden] 10210/17, Bl. 250. 15 Ebd., 10281/184 (Personalakte Felix Klein), Bl. 7-9v. – Klein verzichtete auf 300 M der Umzugsbeihilfe, weil er seine Münchener Wohnung bereits vermieten konnte, Bl. 14. 16 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 7 E: Bl. 128-45. An der TH München betrug das Honorar 10 M. 17 KLEIN 1895, 535-36 (erneut abgedruckt in BECKERT/PURKERT 1987, 40-45). 18 Ebd., 536.

5.1 Start mit Antrittsrede

193

Erstens. Die „zu große Spezialisierung des Universitätsunterrichts und die damit zusammenhängende Bildung einseitiger mathematischer Schulen“ müsse aufgehoben werden. Clebschs Ansatz, Geometrie und Algebra sowie Geometrie und Funktionentheorie zu verschmelzen, habe nur unter dessen Schülern und Freunden „ein bleibendes Andenken hinterlassen“.19 – Klein plädierte für das Verweben verschiedener Gebiete, für allgemeinbildende und Spezialvorlesungen, für ein abgestimmtes Lehrprogramm und einen breiten Überblick (in Lehre und Forschung), den jeder Dozent besitzen müsse.20 Zweitens. Mit Bezug auf die lange Zeit weitgehend unbekannt gebliebenen Ergebnisse des Leipziger Geometers August Ferdinand Möbius betonte Klein, dass Geometrie nicht länger vernachlässigt werden dürfe und die Methoden der verschiedenen geometrischen Richtungen in der Lehre zu berücksichtigen seien. – Kleins Initiativen, die Lehre zu ordnen und die Edition der Werke von Möbius und Grassmann zu veranlassen, sind in diesem Kontext zu sehen. Drittens. Während französische Mathematiker früh genötigt waren, ihr Wissen in Lehrbüchern zu präsentieren, mangelte es daran in Deutschland lange Zeit. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erschienen vor allem übersetzte Werke. Klein konstatierte diesen Mangel besonders für die Analysis und urteilte, dass Cauchys Cours d’analyse21 noch immer die Basis für die besseren Bücher bilde. Es sollte länger dauern, bis die Ergebnisse von Riemann und Weierstraß, Begründer der Theorie komplexwertiger Funktionen, breiter zugänglich wurden. – Kleins Start mit einem eigenen Buchprogramm war keine Verlegenheitslösung, weil ihm nichts Neues einfiel. Ihm war bewusst, dass die eigenen Ideen systematisch ausgebaut und analog den französischen Lehrbüchern vermittelbar präsentiert werden müssen, um sie zu verbreiten. (Vgl. 5.5.1.2.; 5.5.6; 5.5.7) Viertens. Um Mathematik in breitere Kreise zu bringen, lautete Kleins Losung: „Es ist ihre große Abstraktheit, die wir bekämpfen müssen.“22 Er erklärte die Rolle von Zeichnungen und geometrischen Modellen, zeigte, dass auch Geodäten, Astronomen, Physiker davon profitieren könnten und begründete die Notwendigkeit, den Universitätslehrstoff um Gebiete zu erweitern, die er an der Technischen Hochschule schätzen gelernt hatte: darstellende Geometrie, graphische Konstruktionen, Maschinen-Kinematik. – Hieraus folgte zwangläufig sein Bemühen um eine mathematische Institution mit Modellsammlung und entsprechender Lehre in Leipzig. Klein beendete seine Antrittsrede mit den Worten, dass er dieses Programm nur nach und nach werde umsetzen können. Diese Rede blieb Orientierung über die Leipziger Zeit hinaus. Obgleich ihm in Leipzig manche Hindernisse in den Weg gelegt wurden, realisierte er doch schon hier Teile davon. 19 KLEIN 1895, 537. 20 Ebd. – Das Einteilen in Punkte enthält die Antrittsrede nicht, ist aber als logische Struktur erkennbar. 21 Cauchy, A.-L. (1821): Cours d’Analyse de l’École Royale Polytechnique; I.re Partie. Analyse algébrique. L’Imprimerie Royale, Debure frères, Libraires du Roi et de la Bibliothèque du Roi (Reprint 2015); vgl. auch BRADLEY/SANIFER 2009; SPALT 2015. 22 KLEIN 1895, 538.

194

5 Professur für Geometrie in Leipzig

5.2 GRÜNDUNG EINER NEUEN MATHEMATISCHEN INSTITUTION Mir geht es im Allgemeinen ordentlich und ich bin mit den hiesigen Verhältnissen zumal was „Entwickelbarkeit“ angeht, recht zufrieden.23

Aus Kleins Brief vom 10. November 1880 an Otto Stolz spricht sein Gestaltungsdrang. Der Sächsische Minister des Cultus und öffentlichen Unterrichts Carl von Gerber hatte Klein kurz zuvor zum Mitglied der Prüfungscommission für Candidaten des höheren Schulamtes ernannt und ihm beantragte Mittel für geometrische Modelle und für einen zugehörigen Glasschrank bewilligt. Klein erstrebte jedoch mehr, gemäß Punkt 4 seiner Antrittsrede. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass durch eine eigene Institution ein geeigneter Status erreicht werden kann. Den Universitätsverhältnissen angepasst, beantragte Klein am 5. Dezember 1880 nicht ein Institut (wie an der TH München), sondern ein Mathematisches Seminar. Somit konnte er argumentieren, dass ein solches für die Lehramtausbildung bereits an zahlreichen Universitäten existiere.24 Er kannte die Seminare von Bonn, Berlin, Göttingen aus eigenem Erleben, besaß aber inzwischen weitergehende Ansichten über eine derartige Institution. Klein durfte ein wenig genutztes Gebäude in der Brüderstraße 34, das Czermakeion25, umbauen lassen. Er sandte bereits am 7. Dezember 1880 eine Wunschliste an das Universitätsrentamt, die Um- und Ausbau von Hörsaal, Nebenräume für Seminare und Bibliothek umfasste, mit detaillierten Angaben über Möbel, Doppel-Tafel, Heizung, Beleuchtung, Waschgelegenheit.26 In personeller Hinsicht kreierte Klein ebenfalls Neues. Er ließ einen Hausmeister anstellen, wiederbelebte die Position eines Famulus (studentische Hilfskraft) und erhielt zum 15. Oktober 1881 einen etatsmäßigen Assistenten, dies als Professor der Mathematik erstmals an einer deutschen Universität.27 Als Hauptargument für das Schaffen der Assistenz diente ihm die neu einzurichtende Modellsammlung, wie an der Technischen Hochschule in München. Die Leipziger Assistenten Walther Dyck und Friedrich Schur übten das Amt als Privatdozenten aus – dies im Unterschied zu Kleins Assistenten an der TH München und später in Göttingen. Der Famulus verwaltete Kleins „Belegbogen für die Privat-Vorlesung“28 und arbeitete Vorlesungen von Klein aus. Die fünf Leipziger Studenten, die das Amt des Famulus bekleideten, promovierten auch bei Klein (vgl. Tab. 6). Klein übernahm am 8. April 1881 die fertig gestellten Räume für das Mathematische Seminar. Er fungierte seitdem als Direktor dieses Seminars, der Modellsammlung und des Czermakeions. Letzteres war für alle Fakultäten als Lehrge23 [Innsbruck] Klein an Otto Stolz, Brief v. 10.11.1880. 24 Zur Übersicht vgl. Fritz KÖNIG in BECKERT/PURKERT 1981, 47. 25 Auch Czermaksches Spektatorium genannt, nach dem Physiologen J. N. Czermak, der das Gebäude der Universität als Erbschaft überlassen hatte. 26 König in BECKERT/PURKERT 1981, 63; KÖNIG 1982, 127-31. 27 Vgl. LOREY 1916, 167. Famulus: studentische Hilfskraft. Die Namen der Famuli und Assistenten sind gelistet in KLEIN 1923 GMA III, Anhang 14 (die dortige Angabe Assistent ab „So 1881“ ist falsch). 28 Die Originale sind aufbewahrt in [UBG] Cod. Ms. F. Klein 7 E.

5.2 Gründung einer neuen mathematischen Institution

195

bäude verwendbar und wurde durch Wilhelm Wundt mitgeleitet, der damals das weltweit erste Institut für Experimentalpsychologie etablierte, das Vorbild für Göttingen werden sollte. Wundt kooperierte mit Klein bereits im Dezember 1880 bei einem Promotionsverfahren.29 Das Leipziger Mathematische Seminar erhielt auf Kleins Betreiben ebenfalls Mitdirektoren: die a.o. Professoren Adolph Mayer und Karl von der Mühll. Der jüngere Klein erhöhte damit den Status der älteren Kollegen und sicherte sich Verbündete. Sein Bestreben, beide Ko-Direktoren zu ordentlichen Honorarprofessoren ernennen zu lassen, war nur für Mayer erfolgreich (noch 1881).30 Um das Mathematische Seminar aufzubauen, stellte Klein weitere Anträge: Mittel für Seminarprämien, Modelle, Bücher, Möbel. Außerdem träumte er von Arbeitsräumen für die Studenten, wofür das Czermakeion nicht ausreichte. Das Beschaffen derartiger Räume war allerdings weitaus schwieriger, als bisherige Darstellungen vermuten lassen.31 Briefe Kleins an den Rektor der Universität Friedrich Zarncke sprechen von Gegnern und Hindernissen. Obgleich dieser Germanist, Goetheforscher und Begründer des Literarischen Centralblattes für Deutschland die entscheidende Senatssitzung mit Klein persönlich vorbereitete, votierte der Senat gegen die Baupläne und Kostenvoranschläge für neue Arbeitsräume der Mathematik. Klein reagierte mit einer Eingabe an das Ministerium und sandte das Concept der Eingabe am 2. August 1882 an Zarncke: Es liegt mir daran, dass Sie daraus ersehen, wie ich dem Votum des ak.[ademischen] Senat’s gegenüber durchaus correct verfahre, – es liegt mir aber auch daran, dass Sie Kenntniß von meinen weiteren Plänen nehmen. Erhalten Sie denselben die Sympathie, welche Sie mir bisher zugewandt haben. Ich hoffe immer, dass noch eine Zeit kommt, wo ich gleiche Antheilnahme in dem ausgedehnteren Kreise derselben Collegen finden werde, welche zur Zeit mir Hinderniss über Hinderniss bereiten.32

Das sächsische Ministerium stimmte zwar nicht sofort zu, aber nach Kleins erneutem Antrag vom 12. Oktober 1882 erhielt die Mathematik die gewünschten Arbeitsräume in der zweiten Etage der Ritterstraße 14: Kleines Fürsten-Collegium. Derartige studentische Arbeitsräume besaß bisher keine andere deutsche Universität.33 Die Gesamteinrichtung hieß seit Winter 1883/84 Mathematisches Institut, mit Räumlichkeiten in zwei auseinander liegenden Gebäuden: a) Mathematisches Seminar in der Ritterstraße und b) Modellsammlung (mit Modellierraum), Hörsaal für elementare und geometrische Vorlesungen im Czermakeion. Es bedurfte noch des Impulses durch Klein, damit das Kultusministerium die beiden Teile am 2. März 1886 in Abteilung I und Abteilung II umbenannte.34

29 Klein und Wundt waren Zweitgutachter von Donadt, Alfred (1881): Das mathematische Raumproblem und die geometrischen Axiome. Leipzig: Johann Ambrosius Barth. 30 Vgl. hierzu TOBIES/ROWE 1990, 25-26. 31 KÖNIG 1982, THIELE 2011 (22018). 32 [UB Leipzig] Nachlass Fr. Zarncke, Briefe Kleins an Zarncke, 8.7.1882; 2.8.1882. 33 Hölder, O.; Rohn, K.: Das math. Institut, 1909 [UA Leipzig] Phil. Fak. B 1/1423 Bd. 1, Bl. 3. 34 König in BECKERT/PURKERT 1981, 67-68.

196

5 Professur für Geometrie in Leipzig

Otto Hölder kam im April 1884 als junger Doktor erstmals in die Messestadt und lieferte einen aufschlussreichen Bericht über Kleins Institution. Nach seiner Promotion (Beiträge zur Potentialtheorie, 1882) bei Paul du Bois-Reymond in Tübingen hatte Hölder in Berlin studiert und dort keine Beziehungen zu den gleichaltrigen Fachgenossen gewonnen. In Leipzig fühlte er sich sofort integriert: Bei Klein habe ich gleich am ersten Tag Besuch gemacht, nachdem ich genau 3 Stunden hier in Leipzig war. Er gab mir gleich einen Schlüssel für die Räume des mathematischen Seminars und ich habe gestern bereits 6 ½ Stunden darin zugebracht. Dies sind Bibliothekszimmer und Arbeitszimmer und die hiesigen Mathematiker arbeiten hier eigentlich den ganzen Tag. […] Bei Klein wird man gleich mit allen den jungen Mathematikern bekannt. Er schickt einen einfach hin in’s Seminar, dort stellt man sich jedem vor, und nun sieht man, wie man zusammen auskommt. [….] Bei solchen Arbeiten, bei denen man Literatur braucht, ist es sehr geschickt im Seminar zu sein, dort hat man alles und es wird nicht ausgeliehen. […] Die Seminareinrichtung bringt auch die geselligen Beziehungen der Leute gleich in Gang; gestern war ich mit den Mathematikern beim Bier. […] Die Arbeitsräume sind jeden Tag, den es gibt – auch am Sonntag – von 7 Uhr Morgens bis 10 Uhr Nachts geöffnet.35

5.3 LEHRPROGRAMM So wie in Berlin „die koordinierende Hand Kummers bei der Gestaltung eines Lehrplans“ fungiert und wie Clebsch in Göttingen agiert hatte, dachte Klein im Interesse der Studenten aller Semester.36 Im Folgenden wird gezeigt, wie Klein zu ordnen suchte und wie seine Lehre im Gesamtprogramm stand. Einige Aspekte seien vorab hervorgehoben: die Konkurrenz mit Carl Neumann im Gebiet der Funktionentheorie; das neue Gebiet darstellende Geometrie; der Versuch eines Studienplanes; Kleins zeitweiliges Abspecken des Vorlesungsprogramms aus gesundheitlichen und anderen Gründen. Dabei müssen einige falsche Angaben im Anhang von Band III der Gesammelten Abhandlungen Kleins korrigiert werden (Abschnitt 5.3.1). In Abschnitt 5.3.2 soll die spezifische Rolle des Forschungsseminars (Colloquium, Übungen) betrachtet werden. 5.3.1 Vorlesungen: Ordnen, Neuorientieren und Abstriche am Plan In München hatte Klein mit Alexander Brill die mathematische Lehre organisiert. In Leipzig musste er mehrere ältere Kollegen vom koordinierten Vorgehen überzeugen. Er beschränkte sich zunächst auf einen geordneten geometrischen Unterricht der Lehramtskandidaten37 und verständigte sich vorab mit seinem Schüler Karl Rohn, der hier seit 15. Mai 1879 Privatdozent war. Da dieser im Winter 1880/81 für die niederen Semester sorgte („Theorie der ebenen Curven III. und

35 Hölder an seine Eltern, 23.4.; 6.5.1884, in HILDEBRANDT/STAUDE-HÖLDER, 142, 144. 36 Zu Kummers Lehrkoordination vgl. BIERMANN 1988, 101. 37 Klein in JACOBS 1977, Entwicklungsgang meiner Vorlesungen und Arbeiten, Bl. 2.

5.3 Lehrprogramm

197

IV. Ordnung“ sowie „Differential- und Integralrechnung, nebst Übungen)“, konnte sich Klein auf seine forschungsorientierte Lehre konzentrieren. Schon im April 1880 hatte Otto Stolz erfahren: „[…] dann soll es im Winter an Functionentheorie gehen, in die ich, wie Sie wissen, seit lange einzudringen wünsche, die mir aber doch immer noch eigentlich eine terra incognita ist.“38 Kleins Angebot lautete: „Functionentheorie in geometrischer Behandlungsweise für Studirende mittlerer Semester“ (privatim), vier Wochenstunden, dienstags bis freitags von jeweils 12.00 bis 13.00 Uhr.39 Er erreichte mit 89 Studenten mehr Hörer als jeder andere Leipziger Mathematiker.40 Diese Vorlesung schrieb Famulus Ernst Lange mit, der bereits in München bei ihm gehört hatte.41 Klein ließ diese in Göttingen 1892 noch detaillierter ausarbeiten, worauf Fritz König 1987 eine gedruckte Version herausbrachte. Friedrich Hirzebruch betonte im Geleitwort Kleins Grundideen, die Idee der Riemannschen Fläche, die algebraische Geometrie, die Beziehungen der Funktionentheorie zu den algebraischen Kurven, und meinte, dass derartige Gebiete in aktuellen Vorlesungen meist ausgespart blieben, aber noch immer anregend für Dozenten und Studenten sein könnten.42 Das Leipziger Lehrangebot vom Semester 1880/81 unter der Rubrik „Mathematik und Astronomie“ zeigte jedoch noch Abstimmungsmängel. Karl von der Mühll kündigte ebenso wie Karl Rohn eine Vorlesung „Differential- und Integralrechnung“ an. Von der Mühll, dessen Schwerpunkt Mathematische Physik war, bot außerdem Mathematische Theorie des Lichts und Mathematisch-physikalische Übungen an. Adolph Mayer (Hauptgebiet Variationsrechnung) las die Anfängervorlesung Analytische Mechanik, wie meist in den Wintersemestern. Weiterhin lehrten die Mathematiker Wilhelm Scheibner (Ueber das Problem der drei Körper; Ueber vielfache Integrale); Carl Neumann (Mathematische Theorie der Elektrostatik); der a.o. Professor für Physik Eilhard Wiedemann (Ueber Quaternionen). Die Astronomen, zu denen Klein gute Kontakte gewann, boten ebenfalls mathematiknahe Themen: Karl Christian Bruhns, damals Direktor der Sternwarte im Johannisthal (Ueber die Relationen zwischen Differenzen und Differentialen, Summen und Integralen; Theoretische Astronomie oder über die Bestimmung der Bahnen der Planeten und Kometen; Colloquium über Gegenstände aus der Astronomie, Geodäsie u. Meteorologie); Hugo von Seeliger (Mathematische Geographie; Theorie der Finsternisse und verwandter Erscheinungen). Als Bruhns am 25. Juli 1881 verstarb, kam Heinrich Bruns auf dessen Lehrstuhl und Direktorat der Sternwarte. Diesen Weierstraß-Schüler kannte Klein vom Studienaufenthalt 1869/ 70 in Berlin. Bruns entfaltete erst in Leipzig seine volle Leistungsfähigkeit43 und kooperierte gut mit Klein. Gemeinsam führten sie u.a. August Föppl mit der Dis38 39 40 41

[Innsbruck] Klein an Stolz, Brief v. 28.4.1880. – [lat.] unbekanntes Land. http://histvv.uni-leipzig.de/vv/1880w.html Nach KÖNIG 1982. Ernst Lange hörte in München: WS 1878-79, SS 1879, WS 1879-80 (Höhere Mathematik; Analytische Mechanik), nach [UBG] Cod. Ms. F. Klein 7 E. 42 KLEIN 1987, 3. 43 Vgl. BIERMANN 1988, 132-34. – Bruns verzichtete 1885 auf einen Ruf als Professor für praktische Astronomie an die Universität Göttingen. [UAG] Phil. Fak. 170a, Nr. 40g.

198

5 Professur für Geometrie in Leipzig

sertation Mathematische Theorie der Bau-Construktionen zur Promotion (1886).44 Das Gebiet der Baustatik sollte Klein später in Göttingen noch einmal aufgreifen (vgl. Abschnitt 8.2.4). Im zweiten Leipziger Semester, Sommer 1881, übernahm Klein die AnfängerVeranstaltung „Einleitung in die analytische Geometrie der Ebene und des Raumes“ (87 Hörer); Rohn las „Einleitung in die Analysis“ und der inzwischen habilitierte Friedrich Schur bot „Die Elemente der neueren synthetischen Geometrie“, nebst „Geometrischen Uebungen“ an. Daneben setzte Klein seine Spezialvorlesung fort: „Functionentheorie in geometrischer Behandlungsweise, II. Theil“ (45 Hörer), vierstündig. Diese entsprach in Inhalt und Tendenz seiner Schrift Über Riemanns Theorie der algebraischen Funktionen und ihrer Integrale. Eine Ergänzung der gewöhnlichen Darstellungen (vgl. Abschnitt 5.5.1.2). Allerdings ergaben sich hieraus Differenzen mit Carl Neumann, der sich einer Domäne beraubt sah, wie Klein später wiederholt andeutete. Bereits im Jahre 1865 hatte Neumann Vorlesungen über Riemann’s Theorie der Abel’schen Integrale sowie weitere Schriften über Riemann bei Teubner publiziert. In der Lehre kündigte er wiederholt Funktionentheorie an, so auch während Kleins Leipziger Zeit.45 Im Jahre 1884 brachte Neumann eine zweite Auflage des genannten Buches heraus. Allerdings urteilte Hans Salié später, dass die gehaltenen Vorlesungen nicht dem Buchinhalt entsprachen und keinen höheren Forschungsansprüchen genügten.46 Neumann war wenig gewillt, sich abzustimmen und wollte – wie sein Königsberger Lehrer Richelot – anbieten, was ihm gerade gefiel, auch Geometrie, wodurch sich später Sophus Lie schlecht behandelt fühlte. (Vgl. 5.5.1.1., 5.8.3) Klein wich dem Problem mit Neumann aus, indem er einen geometrischen Zyklus konzipierte. Nach analytischer Geometrie im Sommer 1881 plante er projektive Geometrie und Differentialgeometrie für die folgenden Semester. Ab Oktober 1881 führte er darstellende Geometrie mit Übungen ein, unterstützt durch seinen Assistenten Dyck.47 Die von Gaspard Monge begründete Disziplin gehörte seit Jahrzehnten zur Ingenieurausbildung an den polytechnischen Schulen. Klein brachte das Gebiet erstmals in die Lehramtausbildung einer Universität in Deutschland. Er erreichte mit der Vorlesung Projective Geometrie Teil I (in Verbindung mit darstellender Geometrie) die höchste Hörerzahl (102) seiner Leipziger Zeit. An den zugehörigen Übungen beteiligten sich „66 Praktikanten“.48 Bedingt durch die große Hörerzahl und um insgesamt besser zu koordinieren, sah sich Klein veranlasst, einen ersten Studienplan49 zu erarbeiten. Nach Diskussion mit den Kollegen erschienen „Bemerkungen über die mathematischen Vorle44 Vgl. KÖNIG 1882, A6-4. 45 Zu Neumanns Lehrangebot vgl: http://histvv.uni-leipzig.de/dozenten/neumann_c.html. Z.B. Allgemeine Theorie der Functionen complexer Variablen (nach Cauchy) im SS 1876; Ausgewählte Capitel aus der Theorie der Kugelfunctionen resp. des Potentials im WS 1877/78, Theorie der Functionen im SS 1882 und SS 1884. 46 Vgl. BECKERT/SCHUMANN 1981, 94. 47 [UBG] Math. Arch. 77: 52 (Klein an Hurwitz, Okt. 1881); zu Dyck vgl. HASHAGEN 2003. 48 Klein, Persönliches betr. Leipzig, in JACOBS 1977, Bl. 3. 49 Vgl. ebd., Bl. 2.

5.3 Lehrprogramm

199

sungen an der Universität Leipzig“, datiert auf März 1882, in der Zeitschrift für mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht.50 Die seit 1870 bei B.G. Teubner verlegte Zeitschrift war in Lehrerkreisen weit verbreitet. Der Beitrag listete Lehrgebiete in zwei Abteilungen auf: „A. Die einleitenden oder AnfangsVorlesungen“ und „B. Die höheren mathematischen Vorlesungen“, und beschrieb, welche Themen aufeinander aufbauen. Den Studierenden wurde empfohlen, eine „gehörte Vorlesung, nicht nach dem unmittelbaren Wortlaut des Vortrages, sondern nach seiner eigenen Überzeugung sorgfältig auszuarbeiten, und bei zweifelhaften Punkten den Vortragenden selber um nähere Auskunft zu ersuchen.“ Es wurde nicht erwartet, dass jeder Student in allen Gebieten zu Hause ist: „In der That wird auch, was z.B. die Ausbildung des künftigen Gymnasiallehrers betrifft, weniger Gewicht auf besondere Vielseitigkeit, als vielmehr darauf gelegt werden, daß derselbe neben einer gewissen allgemeinen Orientierung, nach der einen oder andern Richtung hin solide und gut geordnete Kenntnisse, Vertrautheit mit der betreffenden Literatur, überhaupt gründliche Studien aufzuweisen hat.“ Nebenfach-Studenten sollten sich auf Anfänger-Veranstaltungen beschränken können. Dass dieses Kümmern um die Interessen der Studenten damals eher selten war, zeigt ein Brief von Ludwig Kiepert, dem Klein den Plan geschickt hatte: Vorläufig reitet fast jeder Professor, abgesehen von einigen Anfänger-Vorlesungen, die das meiste Collegiengeld bringen, seine Steckenpferde, und der Studirende kann sehen, wo er sich seine Kenntnisse herholt.51

Im Sommer 1882 las Klein Teil II der projektiven und darstellenden Geometrie (70 Hörer), und bahnte mit einem höheren Colleg wieder den Weg zur Funktionentheorie. Zusätzlich hielt er 15 Vorträge über „Eindeutige Funktionen mit linearen Transformationen in sich“, zweistündig für Fortgeschrittene, wofür er kein Honorar nahm.52 Inhaltlich handelte es sich um diejenigen Gegenstände, die in die Abschnitte III bis V seiner Arbeit „Neue Beiträge zur Riemannschen Funktionentheorie“ einflossen.53 Ab Winter 1882/83 reduzierte Klein wieder. Wie in München begegnete er gesundheitlichen Problemen mit Abstrichen am Vorlesungsprogramm. Seine bereits angekündigte zweistündige Spezialvorlesung „Ausgewählte Kapitel aus der Functionentheorie (nur für Fortgeschrittene)“ ließ er ausfallen. Seine „Grundvorlesung Anwendung der Differential- und Integralrechnung auf Geometrie“ (70

50 Als Autoren waren die „Mathematik-Professoren der Leipziger Universität“ angegeben. ZmnU 13 (1882) 247-50, die folgenden Zitate 248, 250. – Die Zeitschrift trug den Untertitel: Organ für Methodik, Bildungsgehalt und Organisation der exakten Unterrichtsfächer an Gymnasien, Realschulen, Lehrerseminaren und gehobenen Bürgenschulen 51 Kiepert an Klein, Brief v. 18.5.1882 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 87. 52 In den Quellen finden wir dazu verwirrende Angaben: Vorlesung; Seminarvorträge bzw. Spezialvorträge (neben dem Seminar); in einem Brief an Hurwitz v. 8.6.1882 sprach Klein von „Specialcolleg“. Es waren die Vorträge, die er neben dem eigentlichen Seminar hielt, vom 6. Juni (nicht ab 6. Juli) bis zum 4. August 1882, und die Eduard Study ausarbeitete, vgl. KLEIN 1923 GMA III, 585, 632, Anhang 6. [UBG] 7 E; Math. Archiv 77: 80. 53 Math. Ann. 21 (1883) 141-218 (datiert 2.10.1882).

200

5 Professur für Geometrie in Leipzig

Hörer) gab er bis Weihnachten 1882 an Dyck ab. In einem Brief vom 28. Dezember 1882 an Hurwitz erklärte Klein die Situation: Ich bin mittlererweile so etwas wie Patient gewesen. Die ganzen Herbstferien durch litt ich, wie Sie wissen, an Asthma und das Ding steigerte sich mit Beginn des Semester’s so, dass ich mich Mitte November genöthigt sah, die Weiterführung meiner Vorlesung an Dyck zu übertragen und nur noch mein Seminar, das ich dafür besonders energisch betrieb, beizubehalten. Die Ruhe in Verbindung mit verschiedenen anderen rationellen Maassregeln hat mich inzwischen wieder so in die Höhe gebracht, dass ich nach Neujahr meine Vorlesung wieder übernehmen will. Die Sache ist wohl die, dass ich trotz Allem hier in Leipzig zu Vielerlei auf mir hängen habe; wenigstens fühle ich mich, seit ich mich klar entschlossen habe recht wenig zu arbeiten, auf einmal viel behaglicher als sonst.54

Klein litt seit langem regelmäßig unter Heuschnupfen/Asthma, wiederholt unter Magenbeschwerden und Schlaflosigkeit. Seit Sommer 1881 verbrachte er deshalb die Semesterferien meist mehrere Wochen lang auf einer ostfriesischen Insel, um ein besseres Klima vorzufinden. Nicht immer half das, denn am 19. März 1882 schrieb er beispielsweise von Norderney an Adolf Mayer: Im Allgemeinen ist es hier sehr schön. Ich habe mich nur wohl nicht ganz zu Anfang in Acht genommen, so dass ich seit 2-3 Tagen unwohl bin: Astma und Magenverstimmung, wie so oft. Uebrigens nimmt die Sache ihren normalen Verlauf.55

Nur wenige Tage später sollte Klein hier eines seiner wichtigen Theoreme (Grenzkreistheorem) finden (vgl. 5.5.4). Nach den Reibereien wegen der Räume im August 1882 war die Krankheit erneut und besonders schwer aufgetreten und – nach Selbstdiagnose – mit falschen Mitteln (kalte Bäder, Turnen) behandelt worden.56 Dennoch vollendete er bis zum 2. Oktober 1882 das Manuskript zur erwähnten Abhandlung „Neue Beiträge…“. Das war ihm wichtiger. Er konnte sich zu dieser Zeit nicht entschließen, Sophus Lie nach Paris zu begleiten. Auch wenn Klein diese erneute asthmatische Erkrankung später als besonderen Einschnitt markierte, „das Zentrum seines produktiven Denkens sei zerstört worden“57, so dokumentieren die zeitgenössischen Briefe keine persönliche „Grundlagenkrise“, auch keine Depression. Vielmehr griff er zum erprobten Mittel, schraubte in den Vorlesungen zurück und konzentrierte sich umso mehr auf das Forschungsseminar. Analog zu seinem letzten Münchener Semester bestellte er die vier Seminarteilnehmer im Herbst 1882 in seine Wohnung, lag dabei „auf dem Krankenstuhl“58 und hielt sechs der Vorträge selbst (vgl. Abschnitt 5.5.2.3). Das Empfinden des Abhandenkommens „produktiven Denkens“ kann nur an seinem eigenem Anspruch gemessen werden. Seine Notizen dokumentieren auch für die Zeit zuvor wiederholt Selbstzweifel: „Scrupel wegen wiss. Leistungsfähig54 55 56 57

[UBG] Math. Archiv 77: 86, Klein an Hurwitz, 28.12.1882. Zitiert in TOBIES/ROWE 1990, 129-30. Klein in JACOBS 1977, Vorläufiges über Leipzig, Bl. 2. Vgl. dazu auch Kneser, Hellmuth (1949): „Felix Klein als Mathematiker“. Mitteilungen Universitätsbund Göttingen e.V. 26, H. 1, 1-6, Zitat 3. 58 Klein an Fricke, Brief v. 13.12.1911, nachträgliche Erläuterung der Zeit 1882/83 [UA Braunschweig] 04.2.7.

5.3 Lehrprogramm

201

keit“, „Mißverhältniß zwischen Leistungsfähigkeit und wissenschaftlicher Notwendigkeit“. „Nur Produktion ist Befriedigung“.59 Wir werden sehen, dass ihm die Ideen nicht völlig ausgingen, wenn er auch seine Arbeitsweise und –richtungen verändern sollte. Ab 14. Januar 1883 übernahm Klein die an Dyck abgetretene Kurs-Vorlesung wieder und plante langfristig ein verkürztes Sommersemester. Mit beigefügtem ärztlichen Zeugnis beantragte er Urlaub für die Zeit vom 15. Juni bis 15. August 1883, den er an der Nordsee verbringen wollte.60 Seine Spezialvorlesung über „Gleichungstheorie“ (Dienst. bis Freit. 12-1 U., privatim) sah er vorab nur für ein halbes Semester vor. Die 16 Hörer zahlten nur die Hälfte, 8 Mark.61 Dyck führte, im Voraus abgestimmt, das Seminar zu Ende. Klein schrieb im Urlaub sein Ikosaederbuch (vgl. 5.5.6). In einem Schreiben an das Sächsische Kultusministerium bedankte er sich noch einmal für die „Gewährung eines zweimonatigen Urlaubs“: Von meiner Gesundheit kann ich im allgemeinen Gutes melden. Der Urlaub in Verbindung mit den darauf folgenden Ferien hat mich vor allen Dingen sehr beruhigt. Mein Leiden basiert zum großen Theile auf früherer Ueberarbeitung. Ich werde fortfahren müssen, persönlich immer nur wenig zu übernehmen und mehr durch Andere in dem mir richtig scheinenden Sinne ausführen zu lassen.62

Mit der Spezialvorlesung über elliptische Funktionen ab Herbst 1883 dachte Klein bereits an das nächste Buch (vgl. 5.5.7). Wie sehr ihm daran gelegen war, dieses Thema im Sommer 1884 mit einer Vorlesung Teil II fortzuführen, bezeugt ein Brief an Adolph Mayer. Klein diskutierte darin, dass er die nach eigenem (Studien)Plan vorgesehene „Einleitung in die analytische Geometrie“ an Karl Rohn übergeben wolle und erklärte: „[…] ich muß anderenfalls meine eigenen wissenschaftlichen Bestrebungen gar zu sehr vernachlässigen oder meine Arbeitskraft nach 2 Seiten zersplittern.“63 Die erkennbar abnehmende Frequenz der Hörerzahlen in den Vorlesungen (39 im WS 1883/84; 29 im SS 1884) war damals eine deutschlandweite Erscheinung, weil die höheren Schulen mit Lehrpersonen überfüllt waren. Daraufhin reduzierte Klein seine Spezialvorlesungen erneut. Er beschränkte sich im Winter 1884/85 auf „Höhere algebraische Curven und Flächen“ (33 Hörer) und trug dafür innerhalb seines Seminars zum Thema „Hyperelliptische Funktionen und Kummersche Fläche“ in den ersten Monaten (November, Dezember, Januar) selbst vor, woran 16 Personen teilnahmen.64 Im Sommer 1885 las er nur für Anfänger „Einleitung in die analytische Geometrie der Ebene und des Raumes“ (41 Hörer). Er verzich-

59 60 61 62 63

Klein in JACOBS 1977, Vorläufiges aus München (1875, 1879), Bl. 1 und 4. [StA Dresden] 10281/184, Klein an das Sächs. Kultusministerium, Brief v. 9.3.1883. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 7 E. [StA Dresden] 10281/184, Bl. 24, 24v, Klein an das Sächs. Kultusministerium, am 9.12.1883. Klein an Mayer, am 19.11.1883, in TOBIES/ROWE 1990, 146-47. – Ausarbeitungen der Vorlesungen vom Winter 1883/84 (von Otto Fischer) und vom Sommer 1884 (von Paul Biedermann) sind im Mathematischen Institut der Universität Leipzig aufbewahrt. Für die Möglichkeit der Einsicht dankt die Autorin Frau Ina Letzel. 64 [Protokolle] Bd. 6, 155 und 253.

202

5 Professur für Geometrie in Leipzig

tete auf die höhere Vorlesung über Abel’sche Functionen65 und konzentrierte nur das Seminar auf dieses Thema. Nach den offiziellen Hörer- und Vorlesungsverzeichnissen übernahm Klein in seinem letzten Leipziger Semester nur die Einleitung in die Differential- und Integralrechnung (25 Hörer). In Band III seiner Gesammelten Werke gab er an, dass er „von Ostern 1885 bis Ostern 1886 eine eigene Spezialvorlesung über die niedersten hyperelliptischen Funktionen (p=2) gehalten“ habe, deren Ergebnisse in eine Annalen-Arbeit vom April 1886 flossen.66 In Briefen an Hurwitz sprach Klein von „Specialvorträgen“ (vgl. 5.5.8). Er integrierte das Thema auch in das Seminar, führte noch Doktoranden zum Abschluss und ebnete die Wege für weitere Begabte, bevor er selbst nach Göttingen ging. 5.3.2 Mathematisches Colloquium resp. Übungen resp. Seminar Kleins Forschungsseminare sind in den publizierten Vorlesungsverzeichnissen unterschiedlich benannt. Die Ankündigung für das erste Semester drückte am besten aus, worum es ging: „Besprechung neuerer Erscheinungen der Literatur nebst Anleitung zu eigenen Arbeiten für Fortgeschrittenere“, „Mont. 6-8 U., privatissime, aber gratis“.67 Dieselbe Veranstaltung hieß im Sommer 1881 „Mathematische Gesellschaft“, dann „Übungen im mathematischen Seminar (Colloquium)“ (WS 1881-82); im Sommer 1882 „Mathematisches Seminar“; danach einheitlich „Uebungen des Königlichen Mathematischen Seminars“. Nur für Winter 1883-84 gab es einen Zusatz: „Uebungen des Königlichen mathematischen Seminars (Ausgewählte Capitel der Functionentheorie) in Verbindung mit Dr. Dyck“.68 Im Folgenden wird der Kürze halber der Begriff Seminar benutzt. Während Klein in München diese Art von Forschungsseminar großenteils mit Alexander Brill hatte leiten können, bot sich in Leipzig außer seinem Assistenten Dyck kein geeigneter Kollege. Die Professoren waren entweder nicht hinreichend kooperationswillig (Carl Neumann) oder zu wenig mathematisch in Kleins Richtung (Mayer, von der Mühll).69 Als Klein nach Leipzig gekommen war, überragte zwar Berlin noch Leipzig70, aber hinsichtlich mathematischer Qualifizierungsarbeiten (Promotionen, Habilitationen) sollte Leipzig dank Klein bald Berlin übertreffen.

65 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 7 E, Bl. 142-43; Math. Archiv 77 (Klein an Hurwitz, Brief v. 19.4.1885). 66 KLEIN 1923 GMA III, 321, Anhang 6. 67 Gemeint ist 18.00 bis 20 Uhr. 68 Vgl. die Vorlesungsverzeichnisse von 1880-86, http://histvv.uni-leipzig.de/vv/index.html. 69 Vgl. Klein in JACOBS 1977, Vorläufiges über Leipzig, Bl. 1. 70 Herbst 1879: 293 in Berlin, 186 in Leipzig, BECKERT/SCHUMANN 1981, 57.

203

5.3 Lehrprogramm

Tabelle 6: Teilnehmer an Kleins Forschungsseminaren, 1880/81 – 1885/8671 Länderkennzeichen: CH Schweiz, Fr Frankreich, G Großbritannien, I Italien, A ÖsterreichUngarn, R Russland (darunter auch baltische Staaten und Ukraine), US USA V Vorlesungsbesuch, S/s Teilnahme mit/ohne Vortrag im Mathematischen Seminar F Famulus; A Assistent; E Extraordinarius; O Ordinarius; P Artikel in Math. Ann.; *ENCYKLOPÄDIE-Autor Name Baumgart, O.72 *Brunel, G. Fr Büttner, F. Domsch, P. *Dyck, W. Herrmann, O. Hoppe, H. Hurwitz, A. Kollert, J. Lange, E. Nimsch, P. Olbricht, R. *Staude, O. Stöhr, F. Stringham, I. US Veronese, G. I Weichold, G. Biedermann, P. Böttger, A. Buchheim, A. G Dreßler, H. Bobek, K. A *Dingeldey, F. *Fischer, O. Herrmann, T. Höckner, G.73 Kantor, S. A *Papperitz, E. Wirtz, K.74

80/ 81 S

81

81/ 82

82

82/ 83

83

V

83/ 84

84

84/ 85

85

85/ 86

P

PP

PPP

PP E

VS

VS

VS

P

VS

VS

V

O

V

V

V

VSPP

P

P

V

VS

VS

VS

V

V

S

S

VS P

VS P

PP

PP

PP

V

V

S

VS F

VS F

VS F

VS F

V

V

V

V

V

V

VS

VS

s V A

P

S A

VS

P

A

V

F

S A

VS

P

O

P

PP

P

V

VS

VS

VS

V

V

VS

VS

VS

VSPP

VS

P

PP

P

P

P

V

VS

VS

VS F

s

V

V

Vs

S

S

P

P

P

s

P

VSPP

S

E

s

S VS

VS

VS

VS P

P O

O

V

V

S

S

S

V

V

V

V

V

V

V

V

VS

S

VS

S S

S

S

V

V

V

V

V

V

V

V

s P

s P

P

V V

VS F

VS F

VS F

Vs

V

V

V

V

s

S

V

V

V

V

s

S

S

VS P

Vs P

S P

V

V

V

P VS

V

P PP S

71 Die Tabelle basiert auf KÖNIG 1982, A8-10; KLEIN 1987, 239f.; [UBG] Cod. Ms. F. Klein 7 E; [Protokolle] Bd. 2-8; den Mathematischen Annalen; ENCYKLOPÄDIE u.a. 72 Baumgart, Oswald: Über das quadratische Reciprocitätsgesetz: eine vergleichende Darstellung der Beweise des Fundamentaltheorems, Diss. 1885, vgl. TEUBNER 1908 (Engl. Edition, Birkhäuser 2015; Reprint, Reink 2017). Zu Baumgart vgl. auch HASHAGEN 2003, 126. 73 Höckner promovierte 1891 bei Bruns und Scheibner.

204 Name Wiener, H. Engel, F. *Krazer, A. *Study, E. Friedrich, G. Gerbaldi, F. I *Fricke, R. Krieg v. Hochfelden, F. Molien, T. R Morera, G. I Pick, G. A Reichardt, W. Cole, F. US Fiedler, E. CH Fine, H. US *Hölder, O. Tichomandritzky, M. A. R Cornelius, H. Raussnitz,75G. A Richter, O. Struve, L.76 R Waelsch, E. A Weiß, W. A Ameseder, A. A Hildebrand, R. Witting, A.77 *Hilbert, D.

5 Professur für Geometrie in Leipzig 80/ 81

81

81/ 82

82

S

S

82/ 83

83

V S

S

VS

(V) V

83/ 84

84

P

VS P

84/ 85

85

85/ 86

P

P PP

P VS

V

S PP

VS

VS

S

s

VS

VS

VS

s

VS

Vs

VS

VS

s

VS P

VS

VSPP

PP

P

PPP

V

V

Vs

VS F

VSPF

V

V

s

VS

VS

s

V

V

s

VS

P

S

P

P P

P

Vs P O

P

S P Vs Vs

S

V

S

S

Vs Vs

S

Vs

S S s

S

S

S P S PP

Im Seminar des ersten Semesters 1880/81 hielten zehn Personen 18 Vorträge. Im Sommer 1881 gab es 14 Vorträge plus vier von Klein gestaltete Riemann-Abende (13.6., 20.6., 4.7., 11.7.1881), wozu er notierte: „Besprechung von § 1–12 von R.[iemanns] Abel’schen Functionen“.78 Die Riemannschen Ideen waren damals noch nicht Allgemeingut der Mathematiker. Deren Kenntnis bedeutete nach Hilbert „[…] die Versetzung in eine höhere Klasse von Mathematikern“.79 74 Karl Wirtz wechselte mit Klein noch für ein Semester nach Göttingen. Er erhielt 1894 eine Professur für Elektrotechnik an der TH Darmstadt, wo er die Nachrichtentechnik etablierte. 75 Rados, Gusztáv. 76 L. v. Struve, St. Petersburg, entstammte der berühmten Astronomen-Familie. 77 Alexander Witting reichte seine Dissertation 1886 bei Klein in Göttingen ein. 78 [Protokolle] Bd. 3, Inhaltsverzeichnis, 145; und Notiz, 51. 79 HILBERT 1921, 162.

5.3 Lehrprogramm

205

Die beiden folgenden Semester 1881/82 und 1882 betrachtete Klein als seine Besten in Leipzig.80 Diese markierten ein Extremum, quantitativ und qualitativ. Im Winter: Vorträge an 29 Terminen (12 Personen); ein zusätzlicher Zyklus von zehn Vorträgen Kleins (18.1. bis 8.2.1882) plus vier weitere seiner Vorträge (15.2., 20.2., 27.2., 6.3.). Im Sommer 1882: 17 Vorträge (neun Beteiligte, 3x sprach er selbst). Hinzu kamen seine bereits erwähnten 15 Spezialvorträge vom Juni bis bis August 1882. Quantität brachte offensichtlich Qualität: Es war die Zeit seiner drei „automorphen Fundamentaltheoreme“, die er von Januar bis Oktober 1882 zur Publikation brachte (vgl. Abschnitt 5.5.4). Im Herbst 1882 begann eine personalbedingte Umbruchsituation. Neben Gierster, Hurwitz und Otto Staude schlossen Kleins Famuli Ernst Lange und Oscar Hermann ihre Dissertationen ab und gingen in den Schuldienst. So blieben nur vier Fortgeschrittene, die im Seminar „Abelsche Funktionen“ vom 6. November bis 19. Dezember 1882 mitarbeiteten (vgl. 5.5.2.3). Dieses Seminar dokumentiert Kleins fortgesetzte Produktivität sowie herausragende Ergebnisse der Teilnehmer. Im Sommer 1883 kommentierte Klein den neuen Personenkreis mit: „Ewiger Wechsel der Studenten“.81 Und als er am 3. Juni 1884 auf sein Seminar blickte – er behandelte Fragen der Modulfunctionen – war er noch immer skeptisch, ob mit den (neuen) Beteiligten etwas herauskommen würde: Einstweilen habe ich den unbehaglichen Zustand zu registriren, der auch im günstigen Falle ein mathematisches Durchgangsstadium bildet: viel Eifer, viel Misserfolg, wenig gute Ideen. Unter den Bestbegabten ist Dr. Engel, der aber im Herbst nach Christiania soll, um Lie an der Quelle zu studiren.82

Kleins Skepsis sollte sich nicht bestätigen. Er gewann aus diesem und den folgenden Seminaren weitere, die promovieren, sich habilitieren und wichtige Mitarbeiter für seine Projekte werden sollten. In Kleins elf Leipziger Semestern nahmen insgesamt 56 Personen an den Seminaren teil. Die Personen, die nur Vorlesungen besuchten, sind in Tabelle 6 nicht aufgelistet, obgleich auch darunter spätere herausragende Forscher waren. So hörte z.B. Theodor Des Coudres drei Semester lang bei ihm.83 Er wurde 1895 in Göttingen – dank Klein – der erste a.o. Professur für angewandte Elektrizitätslehre an einer deutschen Universität. Von Winter 1880/81 bis Winter 1885/86 erwarben in Leipzig 36 Personen den Doktorgrad mit einer mathematischen Dissertation. Bei 22 von diesen verfasste Felix Klein das Erstgutachten. Von diesen betrachtete er nur diejenigen 16 als seine Doktorschüler, deren Arbeiten aus seinen Forschungsseminaren hervorgegangen waren. Weitere reichten z.T. extern als Gymnasiallehrer eine Dissertation ein. Klein schrieb zudem bei fünf Verfahren die Zweitgutachten. Was die Zahlen bedeuten, kann nur im Vergleich ermessen werden. Die beiden Ordinarien Wilhelm Scheibner und Carl Neumann betätigten sich zur selben Zeit nur je 5x bzw. 3x als Erstgutachter. Weitere mathematik-orientierte Themen 80 81 82 83

Klein in JACOBS 1977, Vorläufiges über Leipzig, Bl. 2; [Protokolle] Bd. 2 bis 7, bes. 3 und 4. Klein in JACOBS 1977, Vorläufiges über Leipzig, Bl. 3. [UBG] Math.Archiv 77: 115, Klein an Hurwitz, 3.6.1884. – Zu Engel vgl. Abschnitt 5.4.1. WS 1881-82, SS 1882, WS 1882-83, Hörerverzeichnis in [UBG] Cod. Ms. F. Klein 7 E.

206

5 Professur für Geometrie in Leipzig

betreuten der Astronom Heinrich Bruns (4) und der Psychologe Wilhelm Wundt (2). – Noch aufschlussreicher ist der Vergleich mit Berlin, wo sich sich die Ära von Kummer (*1810), Weierstraß (*1815) und Kronecker (*1832) dem Ende zuneigte. 1884 trat Lazarus Fuchs an Kummers Stelle. Von Sommer 1880 bis Sommer 1886 promovierten in Berlin nur zwölf Personen mit einer mathematischen Dissertation.84 Zwei Habilitationsverfahren dort (Johannes Knoblauch und Carl Runge) standen fünf in Leipzig gegenüber, eins davon für Astronomie. Die meisten Seminarteilnehmer Kleins stammten aus dem sächsischen Umfeld und gingen den Weg als Gymnasiallehrer; einige lehrten haupt- oder auch nebenamtlich an Technischen Hochschulen oder Staatsanstalten in Dresden (Alexander Witting) bzw. Chemnitz (Paul Domsch, Robert Heinrich Hoppe). Erwin Papperitz erhielt Professuren an der TH Dresden und an der Bergakademie Freiberg. Der aus Darmstadt stammende Friedrich Dingeldey avancierte dort an der TH zum Professor; und der unweit von Braunschweig geborene Robert Fricke konnte an der dortigen TH eine Professur erreichen (Nachfolge Dedekind). Ernst Lange, Kleins erster Famulus, brachte es zum Schuldirektor und Vortragenden Rat im Sächsischen Kultusministerium.85 Einige übernahmen später Beiträge in Kleins Projekt Abhandlungen über den mathematischen Unterricht in Deutschland (Adolf Böttger, Heinrich Dreßler, Alexander Witting). Elf der Seminarteilnehmer gewann Klein als Autoren für das ENCYKLOPÄDIE-Projekt. 5.4 DIE KLEINSCHE „HEERDE“ Klein scharte wie an seinen anderen Orten die Schüler eng um sich und bezog sie in die Familie ein. Otto Hölder sprach 1884 von der „Klein’schen Heerde“, in welcher er selber zunächst nicht gern aufgehen mochte: Wir sind im Seminar im Ganzen 17 und alles kennt einander. Darunter sind 5 Doctoren, ich dem Alter nach der 4te davon. Abgesehen davon, daß man sich immer in den Arbeitsräumen trifft, ist man auch am Montag Abend zusammen. […] Ein Theil der Mathematiker ißt auch zusammen, ich bin aber gleich bei der ersten Anspielung ausgewichen, da ich mich nicht meinen Freunden entziehen wollte. Es ist auch so wohl ganz recht; denn so angenehm es mir ist, hier mit Fachgenossen mehr verkehren zu können, so wenig möchte ich vollständig in der Klein’schen Heerde aufgehen.86

Otto Hölder war mit vielen Vorurteilen von Berlin nach Leipzig gekommen. Er konnte sich letzlich Kleins Art, die im Fordern und Fördern bestand, nicht verschließen. Wenig später erfuhren seine Eltern, dass er Klein schon näher stünde, ihn zu Hause besucht habe, „Frau Prof. Klein vorgestellt und auf morgen zu einer Wasserpartie eingeladen“ worden sei, die in einem Café im Rosental endete. Klein habe ihm Ratschläge für die Habilitation erteilt und ihm gesagt, dass er befähigt 84 Erstgutachter waren Weierstraß (6x), Kronecker (4x), Kummer (2x). Bei L. Fuchs in Berlin promovierte der Erste am 10.8.1886. Vgl. BIERMANN 1988, 355-56, 365. 85 Vgl. dazu LOREY 1916, 168. 86 Hölder am 6.5.1884 in HILDEBRANDT et al. 2014, 144.

5.4 Die Kleinsche „Heerde“

207

sei, das fehlende Lehrbuch zur Differential- und Integralrechnung zu verfassen.87 Bewundernd äußerte Hölder: „Bei Klein sind immer interessante Leute, die kommen, um ihn zu ‚verehren’ […]: Herr Tichomandritzky aus Charkow und Herr Eneström aus Uppsala, beides Docenten.“88 Von der Kleinschen „Heerde“ werden im Folgenden diejenigen näher betrachtet, die er während der Leipziger Zeit zur Habilitation führen konnte, sowie diejenigen, die aus dem Ausland zu ihm kamen. 5.4.1 Habilitierte Mathematiker In Leipzig konnte Felix Klein erstmals selbst Habilitationsverfahren leiten. Allerdings gab es neue Probleme, sodass er wiederum die besten seiner Schüler an andere Universitäten empfehlen musste. Klein verfasste die Hauptgutachten bei vier Leipziger Habilitationsverfahren und bahnte den Weg für fünf weitere erfolgreiche Verfahren an anderen Orten. In einem Schreiben an den preußischen Ministerialdirektor Friedrich Althoff listete Klein die Mathematiker auf, die ausgehend von seinen Seminaren Karrieren erreicht hatten. Dazu gehörten diejenigen, die sich zwischen 1882 bis 1885 habilitierten: Walther Dyck, Friedrich Engel und Eduard Study in Leipzig sowie Adolf Hurwitz (Göttingen), Otto Hölder (Göttingen), Adolf Krazer (Würzburg), Otto Staude (Breslau) und Hermann Wiener (Halle).89 Bei Friedrich Schur, der sich bereits 1881 habilitierte und nicht sein Schüler war, begutachtete Klein ebenfalls. Die folgenden Personalnotizen dienen zum Verständnis des immer dichteren Netzwerks, mit dessen Hilfe Klein die Vielzahl seiner Projekte realisieren konnte. Friedrich Schur hatte 1879 in Berlin bei Kummer mit einer Arbeit promoviert, die u.a. an Methoden von Plücker und Klein anknüpfte. Er hatte Weierstraß als „Anschreiber“ gedient und wollte die Habilitation bei dessen Schüler H. A. Schwarz in Göttingen wagen. Dessen unverträglicher Charakter hielt ihn davon ab.90 Da es Hurwitz gelingen sollte, Schwarz für sich einzunehmen und auch Klein eine zeitlang genötigt sein sollte, mit Schwarz zurecht zu kommen, ist diese überlieferte Unverträglichkeit beachtenswert. Abgestimmt mit Scheibner reichte Friedrich Schur seine Habilitationsschrift „Über die durch kollineare Grundgebilde erzeugten Kurven und Flächen“ am 10. Oktober 1880 in Leipzig ein. Klein fungierte als Gutachter und bezeichnete Schurs Fragestellung aus der synthetischen Geometrie als von „systematischer Bedeutung“. Er anerkannte, „[…] daß der Verf.[asser] sich nicht mit der Formulierung allgemeiner Prinzipien oder der Neuableitung anderweitig bekannter Resultate begnügt hat (wie es so oft in rein synthetischen Arbeiten der Fall ist), son87 HILDEBRANDT et al. 2014, 146-47, Zitat 147 (Otto Hölder, 20.5.1884). Ein derartiges Lehrbuch erschien nicht. 88 Ebd., 152-53 (Hölder, 24.6.1884). Zu Tichomandritzky vgl. 5.4.2.5, zu Eneström 5.6. 89 [UBG] Cod. Ms. F. Klein, IB, Bl. 23, Klein an Althoff, 1.10.1885. 90 Vgl. den Nachruf auf F. Schur, von Friedrich Engel (1935), Jahresbericht DMV 45, 1-31.

208

5 Professur für Geometrie in Leipzig

dern dass er zur Auffindung wirklich neuer Theoreme hindurchgedrungen ist.“91 Klein konnte mit Schur die Lehre abstimmen, der offen für Anregungen war. So wählte ihn Klein als Assistenten, nachdem Dycks Weggang feststand, noch bevor Study dreist um die Stelle betteln sollte.92 Klein sorgte dafür, dass Schur am 19. Mai 1885 a.o. Professor in Leipzig wurde.93 Ab 1888 sollte Schur als o. Professor in Dorpat, Aachen, Karlsruhe, Straßburg und Breslau gefragt sein. Bei einer späteren Berufungsangelegenheit (Marburg 1892) urteilte Klein über Friedrich Schur besser als über Dyck. Dycks Arbeiten seien „weder zahlreich“, „noch haben sie mehr als einen Achtungserfolg zu verzeichnen“, aber als Lehrer und Organisator sei er „ganz unvergleichlich“. Schur sei „mittlere Proportionale“ zwischen Friedrich Schottky und Dyck, „ein angesehener Theoretiker ist er ein tüchtiger Docent und eine harmonisch abgeklärte Persönlichkeit.“94 Walther Dyck war Kleins erster Doktorschüler, den er selbst habilitieren konnte. Allerdings waren dafür besondere Hürden zu nehmen; und eine Glanzleistung lieferte Dyck nicht ab. Das am 11. November 1881 eingereichte Habilitationsgesuch stieß auf ein Problem, das es an bayerischen und preußischen Universitäten nicht gab. Nach § 1a der Leipziger Habilitationsordnung war ein Reifezeugnis eines Humanistischen Gymnasiums erforderlich.95 Dyck besaß das Zeugnis eines Realgymnasiums. Viele Mitglieder der Philosophischen Fakultät, welche die humanistischen und naturwissenschaftlichen Fächer plus Mathematik umfasste, wollten von der Vorschrift nicht abweichen. Es bedurfte Kleins eloquenter Überzeugungskunst, dass er elf Fakultätsmitglieder umstimmen konnte. Acht blieben bei ihrer ablehnenden Haltung.96 Nachfolgende Kandidaten, die ebenfalls das Abitur an einem Realgymnasium erwarben (Adolf Hurwitz, Otto Hölder, Adolf Krazer, Hermann Wiener), mussten an andere Universitäten ausweichen. Dyck konnte sich mit der Schrift Gruppentheoretische Studien „ausnahmsweise“ in Leipzig habilitieren. Beim Kolloquium am 25. Januar 1882 beantwortete er Kleins thematisch angepasste Fragen gut, offenbarte jedoch Lücken in anderen Gebieten.97 Dyck erhielt am 8. Februar 1882 die Lehrbefähigung für Mathematik und bereits Ende 1883 Rufe an die TH Hannover und die TH München. Er wählte seine Heimatstadt München ab 1. April 1884. Als Klein im Jahre 1887 bei der Redaktion der Mathematischen Annalen Entlastung suchte, schrieb ihm Gordan: „Dyck ist zuletzt zu nennen; gegen seine Thatkraft ist nichts einzuwenden, wohl aber gegen seinen Mangel an Kenntnissen und Leistungen.“98 Klein nahm dennoch Dyck als „organisatorische“ Hilfe und behielt selbst den Blick auf die Inhalte und weitere Gutachter. Dyck blieb zeitle-

91 92 93 94 95 96 97 98

[UA Leipzig] PA 967. Das Gutachten (v. 22.11.1880) ist abgedruckt in Engel 1935, 7-8. [StA Dresden] 10281/184, Bl. 23b. [StA Dresden] 10281/276. Klein an Althoff, 25.5.1892 [UBG] Cod. Ms. F. Klein IC: 2, Bl. 44, 44v. [UA Leipzig] PA 425. HASHAGEN 2003, 119; SCHLOTE 2004, 69. Vgl. HASHAGEN 2003, 221. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 456, Bl. 64, Gordan an Klein, Brief v. 22.11.1887.

5.4 Die Kleinsche „Heerde“

209

bens an der TH München und unterstützte Klein bei vielfältigen wissenschaftsorganisatorischen Unternehmen. Adolf Hurwitz verbrachte nach der Promotion noch ein Semester bei Klein in Leipzig, ein weiteres in Berlin und konnte sich im Mai 1882 in Göttingen erfolgreich habilitieren. Obgleich Kleins Name in Hurwitz Habilitationsakten an keiner Stelle auftaucht, hatte Klein den Weg über Kronecker geebnet (vgl. auch 5.5.2.1). Kronecker wusste, wie Schering und der komplizierte Schwarz zu gewinnen waren. D.h., Kronecker riet Hurwitz vom zunächst ins Auge gefassten zahlentheoretischen Thema für die Habilitationsschrift ab, „Schwarz habe kein zahlentheoretisches Herz“, und empfahl: „machen Sie die Darstellung der transcendenten Functionen auf hyperelliptischen Gebilden als Producte von Weierstraß’schen Primfunctionen“. Dies hatte Hurwitz schon ausgearbeitet, schätzte es jedoch weniger.99 Abgestimmt mit Klein folgte Hurwitz Kroneckers Rat.100 Bei einem Besuch in Göttingen gelang es Klein, Schwarz die Idee auszureden, dass Hurwitz vor der Habilitation noch ein Lehramtsexamen ablegen müsse.101 Das bei vielen damaligen Zeitgenossen immer wieder anklingende AusnahmeVerhalten des „dicken salbungsvollen Hermann Amandus Schwarz“ charakterisierte Albert Einstein später noch in Berlin in einem Brief an Hurwitz.102 In seinem Habilitationsantrag vom 24. April 1882 erwähnte Hurwitz zwar die Leipziger Dissertation, aber nicht Kleins Namen. Hurwitz hob nur Weierstraß und Kronecker namentlich hervor – vertraut mit Aversionen zwischen seinem Doktorvater und den Abkömmlingen aus Berlin.103 Die Habilitationsschrift (Manuskript) lautete: „Über die Perioden solcher eindeutiger 2n-fach periodischer Functionen, welche im Endlichen überall den Character rationaler Functionen besitzen und reell sind für reelle Werthe ihrer n Argumente“. Daneben hatte Hurwitz seine Dissertation sowie fünf Aufsätze beigefügt. H. A. Schwarz, mit dem Gutachten beauftragt, beleuchtete nicht nur die an Weierstraß anknüpfende Habilitationsschrift, sondern ebenfalls die Dissertation. Im Unterschied zu Hilbert (vgl. Abschnitt 4.2.4.2) nannte Schwarz nicht die Anregung durch Klein. Er formulierte, dass es sich um Fragen handele, „mit welchen sich in den letzten Jahren eine größere Zahl mathematischer Forscher beschäftigt hat, einem Gebiete, welches im Wesentlichen eine angemessene Verallgemeinerung des Jacobischen Modulbegriffes und der Jacobischen Modular- und Multiplikatorgleichungen zum Gegenstand hat.“ Aber Schwarz beurteilte Hurwitz zurecht als „jungen Mann von ungewöhnlicher Begabung für wissenschaftliche mathematische Forschung. […]“104 Der Kommission gehörten neben Schwarz auch der mit Klein befreundete Physiker Eduard Riecke sowie Wilhelm Weber, Listing und Stern an, sodass der Weg geebnet war. 99 100 101 102 103 104

[UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 908, Hurwitz an Klein, 29.1.1882. [UBG] Math. Arch. 77: 59, 60, Klein an Hurwitz 18.2.1882; 22.2.1882. Ebd. 61, Klein an Hurwitz, 19.3.1882, v. Norderney, Hotel Bellevue. Brief v. 4.5.1914, in EINSTEIN, Collected Papers, Vol. 8, Part A, 17. [UAG] Phil. Fak. 167a, Nr. VIII 4e. [UAG] Phil. Fak. 167a, VIII 4a-4b; Zitate 4b und 4b Rückseite.

210

5 Professur für Geometrie in Leipzig

Nach dem Colloquium am 11. Mai 1882 im Rahmen einer Fakultätssitzung sowie Hurwitz’ öffentlicher Probevorlesung „Über die Methoden der neueren Geometrie“, am Samstag, den 13. Mai, um 12.00 Uhr,105 berichtete Dekan Schering überaus positiv an Minister von Goßler in Berlin. Nach vier Semestern erfolgreicher Lehre beantragten Stern, Schering und Schwarz am 10. Dezember 1883 ein Privatdozentenstipendium für ihn. Das erneut formulierte herausragende Urteil über Hurwitz’ wissenschaftliche und Lehrbefähigung106 unterstützte die Karriere in Preußen – aber nur bis zur schlecht besoldeten a.o. Professur. Das bewilligte Stipendium, je 1500 Mark für zwei Jahre ab 1. April 1884, musste nicht mehr ausgezahlt werden. Hurwitz wurde an der Universität Königsberg „mit der einstweiligen Vertretung des wegen Krankheit beurlaubten Professors Dr. [Johann Georg] Rosenhain beauftragt“ und erhielt zum 1. April 1884 ein nichtetatmäßiges Extraordinariat.107 Aus einem Brief von Hurwitz an Klein können wir entnehmen, dass Klein im Hintergrund gewirkt hatte. So hatte Lindemann bereits im Oktober 1883 vorgeschlagen, dass Hurwitz sofort „als Privatdocent mit 1500 Mrk Stipendium und Aussicht auf baldiges Extraordinariat in Vertretung Rosenhain’s“ kommen könne.108 Hurwitz musste sich mit einem niedrigen Gehalt genügen. Am 25. Mai 1885 informierte er Klein ohne jeden Kommentar: In den letzten Tagen bin ich hier étatmäßig geworden; ich erhalte 2000 Mark Gehalt und 660 Mrk Wohnung-Zuschuss. Im Etat waren für meine Stelle 3660 Mrk eingestellt.109

In Königsberg vermittelte Hurwitz den aufstrebenden Sternen David Hilbert und Hermann Minkowski ein viel breiteres Wissen, als es der Ordinarius Ferdinand Lindemann vermochte. Hurwitz vereinigte in sich die Kenntnisse der „einander sich so vortrefflich ergänzenden Schulen, der geometrischen Schule von Klein und der algebraisch-analytischen Berliner Schule“, wie Hilbert urteilte.110 Hurwitz blieb für Klein noch längere Zeit wichtigste mathematische Kontaktperson. Trotz herausragender Urteile bemühte sich Klein jedoch vergeblich um eine ordentliche Professur für ihn in Deutschland. Hauptursache war der vorherrschende Antisemitismus in den Entscheidungsgremien.111 (Vgl. auch Anhang Nr. 6.1 und 6.2).

105 [UAG] Kur. 6216, Bl. 7-8. Das Ganze dauerte nur 20 Minuten: 12.20 bis 12.40, vgl. Phil. Fak. 167a, VIII 4c. – Das Thema hatte Schwarz ausgewählt. 106 Ebd., Bl. 9-10. – Hurwitz las im WS 1883/84 Zahlentheorie (4 Wochenstunden) vor 14 Hörern und (unentgeltlich) über Flächen zweiten Grades (1 Wostd) vor 18 Hörern. 107 Schreiben v. 26.1.1884, ebd., Bl. 1-6. 108 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 954, 956, 961, Hurwitz an Klein. 109 Ebd. 999, Brief v. 25.5.1885. 110 Hilbert, D.: „Adolf Hurwitz“. Math. Ann. 83, 161-72, Zitate 162, 163. 111 L. Kiepert schrieb z.B. am 25.1.1884 an Klein, als ihm bei einer Berufungsangelegenheit an der TH Hannover Max Noether und Adolf Hurwitz empfohlen wurden: „[…] doch wäre es mir hier nicht gelungen, einen Juden durchzusetzen.“ [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 103. – Als Klein bei einer Berufungssache in Dresden zu Hurwitz Vortragsweise befragt wurde, antwortete er: „Sein Vortrag ist wie der Styl seiner wissenschaftlichen Arbeiten: besonders durchdacht, klar und durchsichtig […]“. [StA Dresden] 10210/17, Klein an Rohn, 3.5.1888.

5.4 Die Kleinsche „Heerde“

211

Otto Staude hatte seit 1876 in Leipzig studiert112 und gelangte erst durch Klein zu Ergebnissen für eine Dissertation „Ueber lineare Gleichungen zwischen elliptischen Coordinaten“ (eingereicht am 13.3.1881). Knapp ein Jahr später entwickelte Staude eine Fadenkonstruktion des Ellipsoids, die Klein noch später als eines der schönsten Ergebnisse bezeichnete, das aus seinem Seminar hervorgegangen sei.113 Klein hielt das Ergebnis für so wichtig, dass er es bereits am 6. März 1882 in einer Sitzung der Kgl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig durch Scheibner präsentieren ließ114 und eine längere Version in die Mathematischen Annalen aufnahm. Darin dankte Staude Klein vor allem für den Hinweis auf die geometrische Bedeutung der verwendeten Differentialgleichungen.115 Staude nahm an Kleins Vier-Personen-Seminar Ende 1882 teil (Abschnitt 5.5.2.3). Er gelangte hiervon ausgehend zu einer Schrift (Geometrische Deutung der Additionstheoreme der hyperelliptischen Integrale und Functionen 1. Ordnung im System der confocalen Flächen 2. Grades), mit der er sich 1883 an der Universität Breslau habilitieren konnte.116 Er vertraute auf Kleins „freundliche Unterstützung“, ihm „bei passender Gelegenheit vielleicht auch zu weiterem Fortkommen behülflich“ zu sein.117 Wenn Kleins Vorschläge auch nicht immer sofort erfolgreich waren, so konnte Staude auf ihn zählen. Bereits in einem Brief vom 15. Januar 1885 rühmte Klein Otto Staudes außerordentliche Literaturkenntnis, die herausragenden Arbeiten über hyperelliptische Funktionen, seine wertvolle Mitarbeit bei der Herausgabe der Werke von Möbius (vgl. 5.7.3).118 Staude wurde 1886 a.o. Professor in Dorpat und 1888 o. Professor in Rostock. Für die ENCYKLOPÄDIE (Bd. III) schrieb er den Beitrag Flächen 2.°Ordnung und ihre Systeme und Durchdringungskurven (1904). Adolf Krazer war nach seiner Promotion (Theorie der zweifach unendlichen Thetareihen auf Grund der Riemannschen Thetaformel) 1881 bei Friedrich Prym in Würzburg zunächst nach Berlin (Weierstraß, Kronecker) gegangen. Aber erst in den anschließenden zwei Semestern bei Felix Klein empfing er entscheidende weitere Impulse.119 Krazer analysierte im Sommer 1882 in Kleins Seminar Ergebnisse von Paul du Bois-Reymond über Fourier-Integrale120, nahm im November/ Dezember 1882 im Vier-Personen-Seminar (Abschnitt 5.5.2.3) teil und reichte die Habilitationsschrift (Über Thetafunctionen, deren Charakteristiken aus Dritteln ganzer Zahlen gebildet sind) 1883 in Würzburg ein. Darin schrieb er: „In der vorliegenden Arbeit, die ihre Entstehung den im persönlichen Verkehr mit Herrn Prof. Klein gewonnenen Anregungen verdankt […].“121 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121

Schur, F. (1930): „Nachruf auf Otto Staude“. Jahresbericht DMV 40, 219-22. KLEIN 1923 GMA III, 321; [Protokolle] Bd. 3, 141-42 (Seminarvortrag am 22.2.1882). Klein war zu diesem Zeitpunkt noch nicht Mitglied dieser Akademie. Staude, O. (1882): „Ueber Fadenconstruktionen des Ellipsoids“. Math. Ann. 20, 147-84. Math. Ann. 22 (1883) 1-69 und 145-76. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 11: 1124 (Staude an Klein, 28.12.1884). [StA Dresden] 10210/17, Klein an Axel Harnack, 15.1.1885. Vgl. Boehm, K. (1928): „Adolf Krazer“. Jahresbericht DMV 37, 1-33, bes. 14. [Protokolle] Bd. 4, 22-30; 69-82; 133-46; 207-18 (Vorträge Krazers v. 5.6.1882; 14.7.1882). Math. Ann. 22 (1883) 416-49, Zitat 417.

212

5 Professur für Geometrie in Leipzig

Krazer erhielt Professuren in Straßburg und Karlsruhe. Er blieb mit Klein in guter Verbindung. Sie kooperierten in der DMV, wo Krazer Schriftführer wurde. Ihre Korrespondenz dokumentiert u.a. Abstimmungen über die ausländischen Hauptvortragenden für den III. Internationalen Mathematiker-Kongress 1904 in Heidelberg.122 Krazer verfasste für die ENCYKLOPÄDIE den Beitrag über Abelsche Funktionen und allgemeine Thetafunktionen, woran Wirtinger nur begrenzt beteiligt war und Klein noch beim Vollenden half (vgl. Abschnitt 9.2, Tab. 10).123 Im Fachausschuss der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft agierten Klein und Krazer noch von 1920 bis 1922 einvernehmlich (vgl. 9.4.1). Otto Hölder beantragte – nachdem ihm Klein geholfen hatte, eine habilitationsreife Arbeit fertig zu stellen – am 23. Juni 1884 von Leipzig aus die Zulassung zur Habilitation in Göttingen. In seiner lateinisch verfassten Vita versäumte er nicht, auf die Teilnahme an Kleins mathematischem Seminar zu verweisen.124 Er reichte seine Dissertation „Beiträge zur Potentialtheorie“ und weitere vier Schriften (zwei aus den Mathematischen Annalen, zwei handschriftliche Abhandlungen) ein. H. A. Schwarz begutachtete am 8. Juli 1884 und stützte sich dabei vornehmlich auf die günstigen Urteile durch Weierstraß und Kronecker. Nach Colloquium am 17. Juli 1884 und Probevorlesung „Ueber eine Methode, gewisse Grenzübergänge nach einer allgemeinen Regel elementar-geometrisch zu behandeln“ am 23. Juli erhielt Hölder die venia legendi für Mathematik.125 Im Vergleich mit Hurwitz war der Zulauf zu Hölders Vorlesungen gering: WS 1884/85 Algebraische Gleichungen (2 Hörer), im SS 1885 Differentialgleichungen (5), Rechentheorie (1), Determinanten (11), im WS 1885/86 Algebraische Analysis (12) und im SS 1886 Theorie der bestimmten Integrale (4). Die Philosophische Fakultät beantragte dennoch am 12. August 1886, Hölder zum Extraordinarius zu ernennen, in der Nachfolge des verstorbenen Alfred Enneper.126 Das Ministerium genehmigte allerdings ab 1. April 1887 nur ein Privatdozentenstipendium für ein Jahr mit 1500 Mark plus Verlängerung. Erst zum 1.4.1889 erhielt Hölder das Extraordinariat, mit einem Jahresgehalt von 1800 Mark. Zum Oktober 1889 konnte er einem Ruf an die Universität Tübingen folgen.127 Als Klein 1886 nach Göttingen kam, hielt Hölder wieder etwas Abstand. D.h., er ließ sich nicht auf Projekte mit Klein ein, meinte, zwischen Schwarz und Klein lavieren zu müssen (vgl. Abschnitt 6.2.3). Stärker individuell geprägt, zog Hölder in Briefen an seine Eltern sowohl über Schwarz als auch über Klein her und hatte Angst, den „selbständigen Charakter als Lehrer zu verlieren“, wenn er mit Klein ein gemeinsames Colloquium abhielte.128 Erst später, beim ENCYKLOPÄDIEProjekt, ließ sich Hölder wieder einspannen. Er schrieb nicht nur für Band 1 den 122 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 590-91. – Darboux hatte seinen Vortrag zurückgezogen. Dafür kamen Painlevé, Segre, Greenhill, Wirtinger, denen Klein zu dieser Zeit bereits nahe stand. 123 Bd. II (Analysis) 2. Teil, 604-873, abgeschlossen 5.12.1920; Nachwort von Krazer, 873. 124 [UAG] Philos. Fak. 170 a (1.7.1884-1885), 34n 125 [UAG] Kur. 5970, Bl. 1-3. 126 [UAG] Philos. Fak. 172 a, Nr. 75a, 75c-75e. 127 [UAG] Kur. 5970, Bl. 4-31. 128 HILDEBRANDT et al. 2014, 216 (Hölder am 6.5.1886 an seine Eltern).

5.4 Die Kleinsche „Heerde“

213

Beitrag Galois’sche Theorie mit Anwendungen (1899), sondern trat auch in die Akademische Kommission der ENCYKLOPÄDIE ein (vgl. Abschnitt 7.4). Hermann Wiener war ein Sohn des Mathematikers Christian Wiener, dessen Modell einer Fläche dritter Ordnung Klein schon als Student begeistert hatte (vgl. Abschnitt 2.8.3.4). Der Sohn Hermann hatte ab 1879 bereits in München studiert. Nach seiner Promotion 1881 (Über Involutionen auf ebenen Curven) an der Universität München setzte Hermann Wiener bei Felix Klein in Leipzig fort. Hier sprach er in Kleins Seminar über die conforme Abbildung einfach zusammenhängender geschlossener Flächen aufeinander (12.12.1881) sowie über Arbeiten von Georg Cantor (10.7.1882), der schließlich 1885 in Halle seine Habilitationsschrift begutachteten sollte: Rein geometrische Theorie der Darstellung binärer Formen durch Punktgruppen auf der Geraden. Zwischenzeitlich war Wiener in Karlsruhe tätig, u.a. als Assistent seines Vaters. Nach längerer Privatdozententätigkeit in Halle erhielt er 1894 eine Professur an der TH Darmstadt. Er erzielte insbesondere wichtige Beiträge im Gebiet der Grundlagen der Geometrie (Spiegelungsgeometrie). Wie Cantor und Klein sollte Hermann Wiener 1890 zu den Gründungsmitgliedern der DMV gehören (Abschnitt 6.4.4). Friedrich Engels Laufbahn wurde dadurch geprägt, dass ihn Felix Klein und Adolph Mayer mit einem Kregel von Sternbach-Stipendium129 zu Sophus Lie nach Christiania (Oslo) sandten. Engel hatte seit 1879 in Leipzig studiert und war bereits durch Adolph Mayer auf die Arbeiten von Sophus Lie verwiesen worden. Engels Dissertation „Zur Theorie der Berührungstransformationen“130, eingereicht am 7. Mai 1883, wurde von Felix Klein (Erstgutachter) und Scheibner begutachtet, weil der Anreger Mayer als Nichtordinarius dazu nicht berechtigt war. Klein schickte Engels Dissertation an Sophus Lie und bereitete ihn schon Ende 1883 darauf vor, dass er einen „Gehilfen“ erwarten könne.131 Engel besuchte nach seiner Promotion im Sommer 1884 Kleins Vorlesung über elliptische Funktionen und sprach im zugehörigen Seminar. Da seine Reise nach Norwegen zu diesem Zeitpunkt bereits feststand, orientierte ihn Klein auf passende Literaturanalyse (Jordan, Sylow, Kronecker u.a.). Zugleich geht aus Engels Eintrag im Protokollbuch hervor, dass er Kleins Vorlesung unmittelbar verarbeitet hatte. So trug er z.B. am 25. Juli 1884 ein: „Einen sehr eleganten Beweis für die Abelschen Relationen ohne Benutzung von Reihen und ohne von Functionen zweiter Stufe auszugehen hat Herr Prof. Klein in seinem College über ellipt.[ische] Fct. 2. Theil am 24. Juli 1884 gegeben.“132 Klein hatte schon zuvor an Hurwitz signalisiert, dass Engel ein besonderer Lichtblick sei. Engel sollte Sophus Lie helfen, dessen „sämmtliche Untersuchungen über Transformationsgruppen zu einem Werke zu vereinigen“.133 Seit September 1884 129 Karl Friedrich Kregel von Sternbach, letzter männlicher Nachkomme dieser Familie aus dem „Reichsadelsstand“, stiftete einen großen Teil seines Vermögens der Universität Leipzig. 130 Math. Ann. 23 (1884) 1-44. 131 Vgl. dazu auch STUBHAUG 2003, 314, 320. 132 [Protokolle] Bd. 6, 63-75, 90-100, Zitat 100. 133 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 704 und 706/1 (o.D., Ende 1884), mit Plan zum Buchinhalt.

214

5 Professur für Geometrie in Leipzig

in Norwegen, gewann Engel nebenher Ergebnisse für eine Habilitationsschrift „Über die Definitionsgleichungen der continuierlichen Transformationsgruppe“, die Klein am 15. Mai 1885 begutachtete. Lie hatte Engels Originalität betont und dass aus dessen Schrift „eine neue allgemeine Methode zur Bestimmung von allen continuirlichen Gruppen“ fließe.134 So befürwortete Klein, sich auf die Urteile von Lie und Mayer beziehend, „die Zulassung des Candidaten zu den weiteren Habilitationsleistungen auf das Lebhaftetste, und dies um so mehr, als schon die früheren Publicationen des Cand.[idaten] in ihm einen ebenso begabten als namentlich auch fleissigen Mathematiker erkennen lassen.“135 Friedrich Engel schloss sein Habilitationsverfahren am 26. Oktober 1885 mit der Probevorlesung „Anwendungen der Gruppentheorie auf Differentialgleichungen“ ab. Als Felix Klein im Jahre 1892 bei Friedrich Engel anfragte, ob er die Herausgabe der Werke Hermann Graßmanns leiten würde, zögerte dieser nicht, eine selbstständige Aufgabe zu übernehmen (vgl. Abschnitt 5.7.3). Engel hatte in Leipzig 1889 eine a.o. Professur erhalten und arbeitete noch immer für Sophus Lie, der ihn in seinen drei Teilen Theorie der Transformationsgruppen (B. G. Teubner, Leipzig 1888, 1890, 1893) „unter Mitwirkung“ aufführte. Engel wurde schließlich in Leipzig nach Lies Weggang Honorarprofessor (1899) sowie Ordinarius in Greifswald (1904) und Gießen (1913). Eduard Study schloss sein Habilitationsverfahren einen Tag nach Friedrich Engel mit dem Probevortrag ab. Im Unterschied zu den bisher betrachteten Habilitanden war Study eine egozentrische Natur, die gefördert werden wollte, ohne zu geben. Das musste notwendig zu Kontroversen führen, die Study nicht allein mit Felix Klein austrug. Study wird als Einzelgänger und Autodidakt beschrieben.136 Er kam nach Studien beim Zoologen Ernst Haeckel in Jena und Theodor Reye in Straßburg nach Leipzig, wo er sich für Kleins Vorlesungen im Sommer 1882 und Winter 1882-83 einschrieb.137 Nach seinem Vortrag „Graphische Veranschaulichung Fourier’scher Reihen“ am 1. Mai 1882 im Seminar138 hatte Klein ihn für befähigt gehalten, seine erwähnten 15 Vorträge auszuarbeiten.139 Als Study im Herbst 1883 nach München ging, blieb er in Briefkontakt mit Klein. Entgegen Kleins Wunsch reichte Study 1884 seine Dissertation, in der er an Graßmanns Ausdehnungslehre anknüpfte, bei Bauer und Seidel an der Universität München ein. Study hatte zwar im Lebenslauf (zur Dissertation) anerkannt: „Herrn Prof. Klein bin ich für vielfache persönliche Anregung und Förderung zu ganz besonderem Dank verpflichtet.“140 Aber er überschätzte sich und meinte, Klein müsse seine Münchener Dissertation nun in voller Länge für

134 135 136 137

Ebd., 707, Lie an Klein (o.D., 1885). [UA Leipzig] PA 436, Bl. 4, 4R, Zitat Bl. 4R. Eine Analyse dazu lieferte Yvonne HARTWIG (2005) in ihrer Dissertation. [UBG] Cod. F. Klein 7 E. – Klein hielt die angekündigte Spezial-Vorlesung 1882/83 nicht, und Study ging nach München. 138 [Protokolle] Bd. 4, 1-5; und [UBG] Cod. Ms. F. Klein 7 E. 139 Math. Ann. 21 (1883) 141-218; KLEIN 1923 GMA III, 585; 630-710. 140 Zitiert nach HARTWICH 2005, 49.

5.4 Die Kleinsche „Heerde“

215

die Mathematischen Annalen akzeptieren und würde ihn als Assistenten wählen. In beiden Fällen scheiterte er.141 Study war wenig bereit, andern entgegenzukommen. Er wollte dennoch seine nächsten Karriereschritte nur mit Kleins Unterstützung realisieren. Durch Klein empfohlen, setzte Study ein Thema fort, dem er sich im Rahmen einer Preisaufgabe an der TH München bereits erfolgreich gewidmet hatte: die Anwendung der Methode des Kalküls der abzählenden Geometrie (Chasles, Halphen, Schubert u.a.) auf das Problem der Raumkurven vierter Ordnung. Allerdings sollte Study später Klein wiederholt beschuldigen, ihn nicht hinreichend angeleitet zu haben, was für eine selbstständig zu erbringende Habilitationsschrift ein sehr merkwürdiges Ansinnen darstellt. Wenn wir aus heutiger Sicht schauen, war das Thema anspruchsvoll, mit den damaligen Methoden nicht allgemein lösbar. Wie bereits in Verbindung mit Hermann Schubert erwähnt (vgl. 2.4.1), formulierte Hilbert hierauf fußend das Problem 15. Erst Bartel Leendert van der Waerden sollte eine allgemeine Lösung mit neuen toplogischen Methoden gelingen.142 Studys Habilitationsschrift lautete schließlich „Ueber die Geometrie der Kegelschnitte, insbesondere deren Charakteristikenproblem“.143 Klein anerkannte die fachliche Leistung mit einem drei DIN A 4 – Seiten umfassenden Gutachten vom 6. Juli 1885. Er beschrieb darin eingangs die von Chasles bereits zwanzig Jahre zuvor gestellte „allgemeine Frage nach der Anzahl der Kegelschnitte, welche fünf gegebenen Bedingungen genügen“ und dessen Zurückführen der Frage „auf einfache aber unbewiesene Principien“. Daran hatten Schubert, Halphen u.a. angeknüpft; und Study „wandte die Sache so […], daß er nach denjenigen Abzählregeln fragt, die man zu Grunde legen muß, wenn die Chasles’schen Formeln in allen Fällen aufrecht erhalten bleiben sollen.“ Und Klein setzte fort: Liegt schon in dieser Formulirung eine charakteristische Tendenz – die Definitionen der Mathematik so zu wählen, daß allgemeine Sätze gültig werden –, so nicht minder in der Art der vom Verf.[asser] gewählten Entwicklung. Cand.[idat] schließt sich durchaus den Begriffsbildungen und Bezeichnungen der Invariantentheorie (Gordan) an, die er in der Art mit Grassmann’s Ideen durchdringt, dass eine eigenartige und jedenfalls sehr prägnante Darstellung resultirt. Ich lege auf die Form dieser Darstellung als solche weniger Gewicht als auf den Umstand, dass sie die Möglichkeit darbietet, die auf Kegelschnitte bezüglichen Untersuchunngen auf andere einfache geometrische Gebilde, wie Punctetripel oder Punctquadrupel auf einer Geraden, zu übertragen, wodurch eine weitgehende Perspective gewonnen ist, die der Verf. in späteren Publicationen verfolgen will. Gleichzeitig ergeben sich bei der Darstellung der bekannten Theorien eine Menge interessanter Einzelheiten, worauf ich nur beiläufig verweisen will. […]144

Nach dem positiven fachlichen Urteil bemängelte Klein noch die unzulängliche Art der Darstellung, die vorm Druck zu beheben sei, und stimmte „für die Zulassung des Cand.[idaten] zu den weiteren Habilitationsleistungen“. Er konnte sich aber nicht enthalten, eine subjektive Bemerkung anzuschließen: 141 142 143 144

[StA Dresden] 10281/184, Bl. 22. Vgl. HARTWICH 2005, 55-60. Math. Ann. 27 (1886) 58-101. [UA Leipzig] PA 993, Bl. 6-7. – HARTWICH 2005 hat diese Akte nicht benutzt.

216

5 Professur für Geometrie in Leipzig Hr. Dr. Study ist eine selbständig angelegte, feinsinnige Natur. Wenn er noch lernt, mehr als bisher seine subjectiven Impulse den Anforderungen gegebener Bedingungen unterzuordnen, wenn ferner seine Gesundheit hinreicht, um die Anstrengungen zu überwinden, ohne welche ein tieferes Eindringen in die wesentlichen Probleme unserer Wissenschaft unmöglich ist, so hoffe ich von seiner Habilitation eine wesentliche Förderung der mathematischen Studien unserer Universität.145

Klein half, Studys Habilitationsschrift für den Druck vorzubereiten und empfahl ihm die Studienreise nach Paris. Hilbert, der mit ihm reiste, erlebte Studys eigensinniges Verhalten, der auch weiterhin aneckte und keinen Streit vermied. Klein sah sich als Herausgeber der Mathematischen Annalen in Studys Polemiken mit verschiedenen Kollegen (Halphen, Zeuthen, Cayley) gezogen. Klein versuchte zu vermitteln und auszugleichen,146 bescheinigte Study schließlich „unentwegte Rechthaberei“ und „Intoleranz“ gegenüber anderen Ansichten und war es leid, für dessen prekäre Lage verantwortlich erklärt zu werden. Study wechselte 1888 als Privatdozent von Leipzig (Sachsen) nach Marburg (Preußen) und versuchte danach sein Glück in den USA. Dort traf ihn Klein 1893 und ebnete ihm den Weg, indem er überaus günstig an das preußische Kultusministerium nach Berlin berichtete: Ueber Study, den ich seit 3 Wochen täglich sehe, kann ich sehr günstig berichten. Der Congreß und das folgende Colloquium haben ihm Gelegenheit gegeben, vielfach persönliche Beziehungen mit Fachgelehrten zu gewinnen und seine eigene wissenschaft.[liche] Ueberlegenheit hervortreten zu lassen. Ich habe meinerseits hinzufügen können, dass Study was selbständige Gestaltungskraft angeht einer unserer besten jungen Leute ist, und gleich hinter Hilbert u. Minkowski rangirt.147

Study, der das offensichtlich nicht kannte, erhielt in Preußen ein Extraordinariat (Bonn 1894) und Ordinariate (Greifswald 1897; Bonn 1904). Sein Verhältnis zu Klein blieb distanziert. Beim Schreiben eines ENCYKLOPÄDIE-Artikels „Theorie der allgemeinen und höheren komplexen Größen“ (Bd. I, 147-83) provozierte Study den nächsten Eklat. Er hatte fast zwei Jahre für den relativ kurzen Beitrag benötigt und tolerierte schwer Änderungswünsche, die der Band-Redakteur Franz Meyer, Hilbert als Autor am selben Band sowie Klein erbaten. An Selbstüberschätzung leidend, empörte sich Study darüber, dass Klein eigene Arbeiten zu zitieren empfohlen habe: „Es ist gar nicht zu glauben, mit welcher Schamlosigkeit Klein diese Encyklopädie für seine Reclamezwecke ausnützt.“148 Klein hatte berechtigt Kritik geübt, denn Studys Entwurf ließ wichtige Forscher zum Gebiet vermissen, wie etwa Hamilton, auf den die Darstellung der komplexen Zahlen als Paare von reellen Zahlen und die Quaternionen zurückgingen.149 145 [UA Leipzig] PA 993, Bl. 7. 146 Ausführlich dargestellt bei HARTWICH 2005, 60-63, 73, 74-86. 147 [UBG] Cod. Ms F. Klein 1 C 2: Bl. 70 (Klein an Althoff, Briefentwurf v. 12.9.1893). – Im Unterschied zu Kleins Lob über Study in dieser Originalquelle lesen wir falsch in der Autobiographie des Mathematikers Gerhard KOWALEWSKI (1950, 140): „Selbstverständlich hat er [Klein] ihn [Study] bei keiner Gelegenheit empfohlen.“ 148 Vgl. HARTWICH 2005, 96-97. 149 Vgl. hierzu HASHAGEN 2003, 453.

5.4 Die Kleinsche „Heerde“

217

Später musste Study zugestehen, dass er Klein verschiedentlich Unrecht getan hatte, da dieser schon Erkenntnisse besessen hatte, die er selbst neu gefunden zu haben glaubte. Er brach dennoch mit Klein.150 Study erzielte Resultate, die als eine der „originellsten und konsequentesten Beiträge zur Geometrie im Geiste des Erlanger Programms“ bezeichnet worden sind.151 Dennoch rieb er sich immer wieder polemisch an Kollegen und insbesondere an Klein, was Hermann Weyl noch 1949 veranlasste, gegen „E. Study, Felix Klein’s contemporary and life-long enemy“, aufzutreten.152 5.4.2 Ausländische Studenten bei Klein Die zentrale Lage und die Position der Universität Leipzig im deutschsprachigen Raum sowie Kleins internationale Kontakte führten dazu, dass die Zahl der aus dem Ausland zu ihm kommenden Studenten und jungen Wissenschaftler wuchs. So wie Sophus Lie nordischen Mathematikern schon zuvor empfohlen hatte, nicht in Berlin sondern bei Klein zu studieren, weil sie dort unterstützt werden würden, empfahlen Kollegen aus Frankreich, Großbritannien, Italien, Österreich-Ungarn, der Schweiz und den USA ihren Studenten den Weg zu Klein.

5.4.2.1 Der erste Franzose und der erste Brite Ab 1880/81 studierte der noch unpromovierte Georges Brunel als erster Franzose zwei Semester lang bei Klein. Der erste Brite Arthur Buchheim, der bei Henry John Stephen Smith in Oxford ausgebildet worden war, kam ein halbes Jahr später und blieb ebenfalls zwei Semester. Buchheim beteiligte sich im Seminar mit drei Vorträgen (9.5., 14.11., 16.11. 1881) an der Literaturanalyse zu Abelschen Integralen; und Klein unterstützte seine weitere Laufbahn mit einem Gutachten.153 Obgleich Buchheim bereits im Jahre 1888 verstarb, publizierte er 24 Artikel, die z.T. noch jüngst zitiert wurden.154 Study knüpfte an dessen liniengeometrische Arbeiten an.155 Brunel, dessen ungewöhnlich nationalistische Töne in Briefen an Poincaré sich auf das Verhältnis Klein – Poincaré auswirken sollten (vgl. 5.5.3.2), kam mit einem Empfehlungsschreiben von Gaston Darboux.156 Klein fühlte sich Darboux gegenüber verpflichtet, Brunel zu eigenen Resultaten zu führen. Nachdem Brunel dreimal im Seminar vorgetragen hatte, „Ueber die Bestimmung des Geschlechtes

150 151 152 153 154 155 156

Vgl. HARTWICH 2005, 98. Ebd., 106-12; ZIEGLER 1985, 202. WEYL 1949, 535. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 8: 324/Anl.: Gutachten F. Kleins über A. Buchheim, 30.4.1882.. Vgl. https://nickhigham.wordpress.com/2013/01/31/arthur-buchheim/ (Einsicht: 4.9.2017). Vgl. HARTWICH 2005, 36. Vgl. hierzu RICHTER 2015; TOBIES 2016.

218

5 Professur für Geometrie in Leipzig

p“ (am 20.11.1880), „Ueber die Analysis situs“ (31.1.1881) und „Ueber die Mannigfaltigkeitslehre“ (2.5.1881)157, informierte Klein Darboux: Ich muss Ihnen doch ein paar Worte über Brunel schreiben. Er ist merkwürdig receptiv, es gibt kaum etwas, was er nicht gelesen und auch wirklich verstanden hat. Dagegen will es mit der Productivität nur langsam vorwärts; alle Versuche, ihn zu Arbeiten in grösserem Style zu veranlassen, (und an denen habe ich es nicht fehlen lassen) sind bisher gescheitert. Erst ganz neuerdings hat er Untersuchungen über Krümmungsradien begonnen, bei denen ich ihn natürlich unterstütze, aus denen hoffentlich etwas publikationsfähiges wird. Diess schliesst natürlich nicht aus, dass er mir persönlich sehr werth ist. Er ist im Verkehr liebenswürdig, nur nicht besonders gewandt, die deutsche Sprache macht ihm trotz aller Uebung noch immer viel Schwierigkeit. […]158

Kurz darauf meldete Klein Fortschritte: „Brunel hat mir neuerdings ein Manuscript gebracht, in welchem er Formeln für Krümmungsverhältnisse bei Curven in n Dimensionen zusammengestellt hat; ich bat ihn, mir dasselbe für die Annalen auszuarbeiten.“159 Klein hatte das richtige Mittel gefunden und Brunel auf Camille Jordans « Essai sur la géométrie à n dimensions » (Bulletin de la Société Mathématiques de France, t. III, 103-73) gelenkt. So vollendete Brunel am 3. Juni 1881 seine erste Arbeit: « Sur les propriétés métriques des courbes dans un espace linéaire à n dimensions » (Math. Ann. 19 (1882) 37-55). Er erhielt bereits 1884 in Bordeaux eine Professur. Seine spätere Mitarbeit an der ENCYKLOPÄDIE (Band II, Bestimmte Integrale, 1899) können wir als Dank an Klein interpretieren.

5.4.2.2 Die ersten US-Amerikaner Irving W. Stringham, zwei Jahre älter als Klein, hatte erst 1880 unter James Joseph Sylvester an der Johns Hopkins University in Baltimore mit dem Thema „Regular Figures in n-dimensional Space“ promoviert und kam als erster USAmerikaner. Enthusiastisch schrieb er von Leipzig aus an seinen Universitätspräsidenten Daniel Coit Gilman über Professor Klein’s wonderful critical faculty, und über die Internationalität: one Englishman, one Frenchman, one Italian, and one American (myself).160 Stringham beherrschte sehr gut Deutsch und hielt in Kleins Seminar drei Vorträge: Vierdimensionale reguläre Körper (29.11.1880), Gruppen von Bewegungen bei vierdimensionalen Körpern (28.2.1881), Zuordnung einer Gruppe auf sich selbst (23.4.1881), wozu er ausführlich in Kleins Protokollbuch eintrug.161 Stringham referierte über Ergebnisse seiner Dissertation und präsentierte beim dritten Vortrag bereits neue Ergebnisse, die auf Kleins Anregung basierten. Er untersuchte analytisch, welche Gruppen von linearen Trans-

157 158 159 160 161

Vgl. [Klein-Protokolle] Bd. 2, 76-79; 114-20; Bd. 3, 14-19. [Paris] 72-73, Klein an Darboux, Brief v. 3.5.1881; vgl. ausführlicher TOBIES 2016. Ebd., 74, Brief v. 28.5.1881. Vgl. http://www-history.mcs.st-andrews.ac.uk/Biographies/Stringham.html [Protokolle] Bd. 2, 46-66, 147-64; Bd. 3, 31-50. – In PARSHALL/ROWE 1994, 255, Vortragstitel in Englisch übersetzt, wobei dort der dritte Vortrag mit neuen Ergebnissen fehlt.

5.4 Die Kleinsche „Heerde“

219

formationen in sich es bei vier Veränderlichen gibt und welche davon reguläre Körper liefern, wobei er hervorhob: Das Princip, auf welches die Betrachtung des Problems gegründet wird, hat Herr Prof. Klein in einem Vortrag „Ueber die Bewegungen im Nicht-Euclidischen Raum“ voriges Jahr gegeben (Siehe Protocolbuch des Wintersemesters 1880-1, p. 97).162

Noch in Sachsen arbeitete Stringham einen Artikel aus, dessen Ergebnisse in Diskussion mit Klein entstanden. Der Artikel erschien in der ältesten US-amerikanischen mathematischen Zeitschrift von längerem Bestand, dem 1878 vom Briten James Joseph Sylvester gegründeten American Journal of Mathematics.163 Bereits 1882 erhielt Stringham eine Professur an der University of California in Berkeley. Die nächsten beiden US-Amerikaner studierten ab Sommer 1884 in Leipzig, nachdem Felix Klein das Angebot abgelehnt hatte, Nachfolger Sylvesters in Baltimore zu werden (vgl. Abschnitt 5.8.1). Frank Nelson Cole und Henry Burchard Fine kamen mit ungenügenden Sprachkenntnissen. So schrieb Otto Hölder am 23. April 1884: „Da ist ein Italiener, dort ein Amerikaner, der weder deutsch noch französisch kann.“164 Cole und Fine besuchten zwei Semester lang Vorlesungen von Klein und nahmen im Sommer 1885 auch am funktionentheoretischen Seminar teil, ohne vorzutragen. Sie gelangten relativ schnell zum Abschluss ihrer Promotion. Fine, von Study unterstützt165, reichte seine Dissertation „On the singularities of curves of double curvature“ am 27. Mai 1885 in Leipzig ein.166 Fine war Kleins einziger Promovend, der den Doktortitel mit einer fremdsprachigen Dissertation an einer deutschen Universität erwarb; er lud Klein später (1893; 1896) nach New Jersey (Princeton University) ein (vgl. Abschnitte 7.5.3; 8.1.3). Der andere, Frank Nelson Cole, promovierte 1886 an der Harvard University mit der von Klein angeregten Arbeit A Contribution to the Theory of the General Equation of the Sixth Degree. Diese wurde im selben Band des American Journal of Mathematics (8 (1886), 265-86) publiziert wie die Dissertation von Fine. Neben dieser Zeitschrift, inzwischen von Simon Newcomb geleitet167, existierte damals nur noch eine weitere mathematische Zeitschrift in den USA, was ein Licht auf den Forschungsstand wirft. Cole, der zunächst an der Harvard University lehrte und seine erste Professur 1888 an der University of Michigan erhielt, brachte Kleins geometrisches Herangehen an die Funktionentheorie mit in die USA und reichte dessen inspirierende Begeisterung weiter.168

162 [Protokolle] Bd. 3, 32. 163 Stringham, I. (1881): “Determination of the finite quaternion groups”. American Journal of Mathematics 4 (1–4) 345–57. 164 Otto Hölder an seine Eltern, 23.4.1884, in HILDEBRANDT et. al. 2014, 142. 165 PARSHALL/ROWE 1994, 194. 166 Vgl. KÖNIG 1982, A6-3. – Publiziert in American Journal of Mathematics 8 (1886) 156-77. 167 Newcomb kam 1884 auf die zuvor Felix Klein angebotene Professur von Sylvester an der Johns Hopkins University in Baltimore (vgl. Abschnitt 5.8.1). 168 Vgl. PARSHALL/ROWE 1994, 196-97.

220

5 Professur für Geometrie in Leipzig

5.4.2.3 Die Italiener Guiseppe Veronese besaß bereits den Doktortitel, als er zum Wintersemester 1880/81 nach Leipzig kam. Er war Cremonas Assistent in Rom gewesen, der die Studien bei Klein empfahl. Veronese gab in Kleins Seminar am 3. Januar 1881 einen Überblick über seine bisher schon publizierten Arbeiten zur „Theorie der projectivischen Gruppen“ und trug ausführlich „Ueber einige merkwürdige Configurationen“ in das Protokollbuch ein.169 Im Sommer stellte er im ersten Vortrag des Semesters (Ueber die Darstellende Geometrie im Raume von 4 Dimensionen, 25. April 1881)170 neue Ergebnisse vor, die er in Abstimmung mit Klein für die Mathematischen Annalen weiter ausarbeitete: in Band 18 (1881), 448, erschien ein kurzer Auszug über „Die Anzahl der unabhängigen Gleichungen, die zwischen den allgemeinen Charakteren einer Curve im Raume von n Dimensionen stattfinden“ (datiert Juni 1881) mit dem Hinweis, dass der hier mitgeteilte Satz im nächsten Heft ausführlicher behandelt wird.171 Der nächste ebenfalls promovierte Italiener, Francesco Gerbaldi, absolvierte im Sommer 1883 ein Zusatzstudium bei Klein. Er hatte schon erfolgreich publiziert und war Assistent von Enrico D’Ovidio in Turin gewesen. Gerbaldi sprach im Seminar „Ueber die linearen Differentialgleichungen zweiter Ordnung, welche algebraische Integrale besitzen“. Im Kontext einer Polemik Kleins mit Lazarus Fuchs (Abschnitt 5.5.5) ist hervorhebenswert, dass Klein Gerbaldi die Aufgabe stellte, Arbeiten von Fuchs mit seinen eigenen zu vergleichen: Die Methode, welche wir jetzt auseinandersetzen und die einfachste ist, verdanken wir Herrn Prof. Klein (Math. Ann. Bd. IX und XII). Herr Prof. Fuchs hat (Borchardts Journal, Bd. 81 und 85) eine andere Methode gegeben. Er hat die Frage unter welchen Umständen eine lineare Diff.gl. II. Ordnung algebraische Integrale besitzt auf die folgende Frage zurückgeführt: wann werden gewisse aus der gegebenen eindeutig ableitbare lineare Differentialgleichungen (deren Ordnungszahl nicht größer als zwölf) durch Wurzeln rationaler Functionen befriedigt. Zu diesem Zwecke führte er den Begriff der Primform ein, und zeigte, daß der Grad der Primformen niedrigsten Grades in keinem Falle den zwölften überschreite.172

Gerbaldi erklärte die Methode und den entsprechenden Beweis von Fuchs und schlussfolgerte, dass Kleins Methode (Bd. XII) einfacher sei. Gerbaldi blieb nur ein Semester; in den Mathematischen Annalen erschien erst im Band 50 (1898) eine Arbeit von ihm, die engen Bezug zu Kleins, Valentiners und Wimans Ergebnissen zu Symmetriegruppen besaß.173 Giacinto Morera, der dritte italienische Mathematiker in Kleins Leipziger Zeit, hatte bei Eugenio Beltrami promoviert und kam mit dessen Empfehlungsschreiben im Herbst 1883.174 Moreras erster Seminarvortrag am 14. Juli 1884 169 [Protokolle] Bd. 2, 80-92. 170 Ebd., Bd. 3, 1-14 171 Veronese, G.: „Behandlung der projectivischen Verhältnisse der Räume von verschiedenen Dimensionen durch das Princip des Projicirens und Schneidens“. Math. Ann. 19, 161-234. 172 [Protokolle] Bd. 5, 25-31, Vortrag am 28.5.1883, Zitat 28-29. 173 Gerbaldi, F.: “Sul gruppo semplice di 360 cillineazioni piane”. Math. Ann. 50, 473-76. 174 [UBG] Cod. Ms Klein 8: 77 (Beltrami an Klein, 7.10.1883), gedruckt in COEN 2012, 488.

5.4 Die Kleinsche „Heerde“

221

knüpfte an Kleins Stufentheorie und den „Klein’schen Fundamentalsatz“ (Math. Ann., Bd. 15) an.175 Klein präsentierte Moreras Ergebnisse – die seine Ideen weiterführten – bei den Sitzungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften und nahm sie auch in die Mathematischen Annalen auf176, wo dieser weiterhin Autor blieb. Hurwitz urteilte im Vergleich mit eigenen Untersuchungen: Es scheint mir ein wesentlicher Unterschied zwischen Morera’s und meinen Betrachtungen zu sein, das sich Morera auf einen Zahlen-Modul n (welcher überdies Primzahl ist) beschränkt, während ich simultan mehrere Moduln betrachte. Das Gemeinsame beruht darin, dass wir beide Ihren allgemeinen Bildungsprozess für bestimmte Fälle durchführen und Morera’s Art der Durchführung verdient vor meiner doch den Vorzug, weil sie directer ist. […]177

5.4.2.4 Mathematiker aus Österreich-Ungarn Die in Tabelle 6 genannten Mathematiker vom damaligen Österreich-Ungarn kamen mehrheitlich aus tschechischen Orten: Karl Bobek, Seligmann Kantor178, Emil Waelsch, Wilhelm Weiß, und Adolf Ameseder, ein Schüler des in Prag geborenen Emil Weyr. Außerdem gehörten dazu der Ungar Gustav Raussnitz (Gusztáv Rados) und der in Wien geborene Georg Pick, dessen Verhältnis zu Klein in Abschnitt 5.5.7.2 ausführlicher beleuchtet wird. Wenn sie auch nicht bei Klein promovierten, so ebnete er ihnen doch den Weg. Drei erwarben ihren Doktortitel in Erlangen. Paul Gordan schrieb an Klein: „Einer derselben [ihrer Schüler, R. To.] Herr Bobek in Prag hat neulich bei mir ein […] Doktorexamen gemacht.“179 Karl Bobek promovierte am 23. Juni 1885 mit der Dissertation Über gewisse eindeutige involutorische Transformationen der Ebene180, nachdem er bei Klein studiert und schon bei Teubner in Leipzig ein Lehrbuch Einführung in die Theorie der elliptischen Funktionen (1884) publiziert hatte. Wilhelm Weiß und Emil Waelsch wurden gleichfalls vorbereitet, in Erlangen abzuschließen. Klein behandelte im Seminar vom Sommer 1885 „die Theorie der algebraischen Functionen einer Veränderlichen in der Weise“, dass die Riemann’schen Entwicklungen im Wesentlichen als bekannt vorausgesetzt werden, dagegen einerseits die geometrische Behandlung andererseits die functionentheoretischearithmetische einander fortwährend entgegengestellt werden. In erster Hinsicht werden die Arbeiten von Clebsch, Brill und [Max] Nöther zu Grunde zu legen sein, denen sich, was Raumcurven angeht, die neuerschienenen grossen Abhandlungen von Nöther, Halphen, Valentiner anreihen. In letzterer Hinsicht sind die Vorlesungen von Weierstraß und die Arbeiten seiner Schüler, dann namentlich die Entwicklungen von Kronecker, wie von Dedekind und 175 [Protokolle] Bd. 6, 101-19 (Ueber die Bildungsgesetze einiger Modulformen n-ter Stufe). 176 Morera, G. (1885): „Ueber einige Bildungsgesetze in der Theorie der Theilung und der Transformation der elliptischen Functionen“. Math. Ann. 25, 203-11 (eingereicht 3.8.1884). 177 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 991 (11.2.1885); 1013/2 (6.1.1886), Hurwitz an Klein. 178 1881 Privatdozent in Prag; seit 1886 privat in Italien; bekannt durch Möbius-Kantor Graph. 179 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 442, Bl. 47 (Gordan an Klein, 8.9.1885) . 180 Verzeichnis der Promotionen, Bd. 1: [UA Erlangen] Phil Fak, 923 (F), Akte 923. Die Arbeit wurde in den Sitzungsberichten der Akademie in Wien (91, 1885) publiziert.

222

5 Professur für Geometrie in Leipzig [Heinrich] Weber heranzuziehen. Dieselbe Rolle, welche in den Untersuchungen geometrischer Richtung der Begriff des vollen Schnittpunctsystem’s spielt, kommt bei den Untersuchungen der anderen Art dem Begriff der „ganzen“ algebraischen Function zu. Klein181

Der aus Prag stammende Waelsch referierte die Arbeit von Alexander Brill und Max Noether „Über die algebraischen Functionen und ihre Anwendung in der Geometrie“ (Math. Ann. 7). Der im Randgebiet von Prag geborene Weiß trug über Max Noethers Schrift „Zur Grundlegung der Theorie der algebraischen Raumkurven“ vor.182 Gordan schrieb am 13. Dezember 1885 an Klein: „Die beiden Oesterreicher, die Sie uns gesandt haben, machen sich ganz gut; nur arbeitet Weiß zu viel, ich habe stets Angst, so wird er nicht lange aushalten.“183 Weiß promovierte in Erlangen im Jahre 1887, Waelsch ein Jahr darauf. Auch später sandte Klein seinen Erlanger Freunden Doktoranden, so z.B. die US-Amerikaner W.F. Osgood und H.W. Tyler, die bei ihm in Göttingen seit 1887 studierten und 1889/90 in Erlangen den Titel erlangten (vgl. auch 6.3.2).184 Der ungarische Mathematiker Gustav Raussnitz (so im Protokollbuch) wurde später unter dem Namen Gusztáv Rados bekannt. Rados entstammte einer jüdischen Familie aus Pest und kam nach dem Studium in Budapest zu Klein. Basierend auf bereits hervorragenden zahlentheoretischen Vorkenntnissen referierte er im Sommer 1885 die Abhandlung von Richard Dedekind und Heinrich Weber „Theorie der algebraischen Functionen einer Veränderlichen“ sowie Inhalt und Methoden von Kroneckers „Festschrift“ (Über den Zahlbegriff). Rados analysierte Kroneckers Schrift besonders ausführlich, sprach an drei Terminen darüber, wobei eine forschungsleitende Haltung erkennbar wurde, die der von Klein entsprach. So polemisierte er gegen Kroneckers Beschränkung darauf, nur „die Entwicklung der Eigenschaften der rationalen ganzen Zahlen und Funktionen [zu betrachten,] ohne dabei dem zu Grunde gelegten Gebiete fremde Hülfsmittel zuzuziehen.“ Ganz im Sinne von Klein setzte Rados dagegen, „alle uns zu Gebote stehenden Hülfsmittel“ im Folgenden zu benutzen. D.h., er präsentierte wesentliche Grundbegriffe von Kroneckers Arbeit, lobte die „algebraische Materialisirung der Kummerschen idealen Zahlen oder des Dedekind-Ideals“, zog aber für die Darstellung auch andere Methoden (explizit von Julius König) heran.185 Klein und Rados blieben langfristig in Kontakt. Rados erhielt eine Professur an der Technischen Hochschule in Budapest. Als die Ungarische Akademie der Wissenschaften im Jahre 1905 einen János-Bolyai-Preis (10000 Kronen) stiftete, wurden Felix Klein und Gaston Darboux als (einzige) auswärtige Mitglieder in die Preis-Kommission berufen, neben Julius König und Gusztáv Rados.186 181 182 183 184 185

[Protokolle] Bd. 7, 1-2, Colloquiumsbeginn am Montag, dem 27.4.1885. Abhandl. Kgl. Preuß. Akad. Wiss., Phys.-Math. Kl. (1882), 1-120. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 443, Bl. 48. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 7 E; vgl. auch TOEPELL 1991, 401; 410; 280; 392. [Protokolle] Bd. 7, 27-50; 125-50, Vorträge am 1.6., 20.7., 27.7., 3.8.1885. – Kroneckers Festschrift erschien u.a. im Crelle-Journal 101 (1887) 337-55. 186 Klein und Darboux kamen in Briefen vorab überein, dass der erste Bolyai-Preis 1905 an Poincaré, der zweite 1910 an Hilbert ging, vgl. TOBIES 2016.

5.4 Die Kleinsche „Heerde“

223

5.4.2.5 Russische und weitere osteuropäische Kontakte In den Mathematischen Annalen publizierten früh russische Autoren, die ihre Beiträge in Französisch einreichten. Dazu gehörte Aleksandr N. Korkin, ein Schüler von Tschebyschow, der nach seiner Promotion auch in Paris und Berlin studiert hatte und u.a. herausragende Ergebnisse im Gebiet der geometrischen Zahlentheorie erreichte. Als Korkin 1879 eine erste Arbeit von Andrej A. Markow an die Annalen-Redaktion sandte, bezeichnete es Adolph Mayer in einem Brief an Klein als „[…] politisch, die [in schlechtem Französisch geschriebene] Arbeit aufzunehmen“.187 Hier hatte Mayer die Konkurrenz mit dem Crelle-Journal im Auge. Als mit den Acta Mathematica das Mittag-Lefflersche Organ zusätzlich auf den Plan trat (vgl. 2.4.2), erweiterte Klein mit Hilfe seiner Seminarteilnehmer das Autorenspektrum für die Mathematischen Annalen weiter in osteuropäische Richtung. Matvej A. Tichomandritzky erfüllte Kleins Wunsch nach einer Übersicht über Forscher, Institutionen und Hauptarbeitsgebiete in diesem geographischen Raum. Der fünf Jahre ältere Mathematiker hatte von St. Petersburg aus eine Note „Ueber das Umkehrproblem der elliptischen Integrale“ (20.6.1883) für die Mathematischen Annalen geschickt, bevor er Klein in Leipzig besuchte. Nachdem er in dessen Seminar (21.7.1884) vorgetragen hatte, erschien eine zweite Note, die noch jüngst zitiert wurde.188 Tichomandritzky, seit 1883 Dozent an der Universität Charkow, lieferte Klein einen detaillierten Bericht über russische und weitere osteuropäische (ukrainische, polnische, ungarische, böhmische) periodische Literatur und zugehörige Personen.189 Sein Bericht umfasste drei Schriften der Kaiserlichen Academie der Wissenschaften (St. Petersburg), Memoires, Bulletins, Melanges mathématiques et astronomiques, tirés des Bulletins, die nur Deutsch und Französisch publizierten; außerden in Russisch erscheinende Organe in Moskau, Charkow, Kazan, Odessa, Kiew, Warschau u.a. Auf dieser Basis entschied Klein über den Zeitschriftenaustausch, gewann weitere Autoren und Studierende. Theodor Molien war der Erste, der aus dem Baltikum zu Klein kam, zum Winter 1883/84 (vgl. Tab. 6). Aus Moliens Seminarvorträgen190 entwickelte sich die Arbeit Über lineare Transformationen elliptischer Funktionen. Dazu teilte Molien im Dezember 1885 aus Dorpat (Tartu, Estland) an Klein mit, „[…] dass meine Promotion zum Magister stattgefunden hat auf Grund der Arbeit, die ich unter Ihrer Leitung ausführte.“191 Nachdem Kleins Assistent Friedrich Schur 1888 an der Universität Dorpat eine Professur erhalten hatte, promovierte Molien unter ihm, und Klein nahm die Dissertation in die Mathematischen Annalen auf.192

187 Vgl. TOBIES/ROWE 1990, 106 (Brief Mayers v. 5.5.1879). 188 [Protokolle] Bd. 6, 121-26; Math. Ann. 22 (1883) 450-54 und 25 (1885) 197-202; Breshnev, Yuri V.: “What does integrability of finite-gap or soliton potentials mean?” Philos. Trans. of the Royal Society, Math., Physical and Engineering Sciences 366 (2008) Issue 1867. 189 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 12: 24 (Tichomandritzky an Klein, Brief v. 14.11.1884). 190 [Protokolle] Bd. 5, 254-59, Bd. 6, 25-33, Vorträge v. Molien am 4.2.1884 und 12.5.1884. 191 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 1283, Brief v. 14./26.12.1885. 192 Molien, Th. (1893): „Ueber Systeme höherer komplexer Zahlen“. Math. Ann. 41, 83-156.

224

5 Professur für Geometrie in Leipzig

Diese hier angebahnten Kontakte dehnte Klein in den folgenden Jahren weiter aus (vgl. 6.3.6.1). Sie führten zu seinen Mitgliedschaften in der Moskauer Mathematischen Gesellschaft (1891), der Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg (1895), u.a. Den Wahlvorschlag als Korrespondent der St. Petersburger Akademie verfassten A. A. Markow und Nikolaj J. Sonin193, langjährige Autoren der Mathematischen Annalen. Klein erkannte neue Richtungen schnell und organisierte später auch die Übersetzung russischer Lehrbücher, wozu Bücher von A. A. Markow gehörten. Das ist nur eines von zahlreichen Projekten, das Klein im Verein mit dem Verlag B.G. Teubner seit der Leipziger Zeit verstärkt auf den Weg bringen sollte (vgl. Abschnitt 5.6). 5.5 FORSCHUNGSFELDER Für Kleins Leipziger Forschungen sind vor allem die im Wettstreit mit Henri Poincaré errungenen Ergebnisse viel diskutiert, analysiert und interpretiert worden.194 Diese relativ kurze Phase intensiver Arbeit mit Ergebnissen höchsten Niveaus bedarf der Einordnung. Klein hatte das Forschungsfeld, dem er sich mit Poincaré zuwenden sollte, in München abgesteckt, an Schüler weitergegeben und – was bisher kaum bekannt wurde – für sich selbst bereits beiseite gelegt. Seine Worte an Adolf Hurwitz sprechen eine deutliche Sprache: Ihre Arbeiten, von denen Sie schreiben, erfüllen mich einigermassen mit Neid. Sie wissen, dass mir die Zahlentheorie immer wie ein gelobtes Land erscheint, in welches ich allerdings habe einen Blick werfen dürfen, welche ich aber vielleicht nie betreten soll. Wenn ich an meine eigenen Arbeiten über elliptische Modulfunctionen zurückdenke, werde ich wehmüthig: so viele und schöne Perspectiven, die ich alle unausgenutzt lassen soll! Da ist es mir ein Trost, zu wissen, dass Sie in dieser Richtung weiter arbeiten. Um so mehr will ich Sie ermuntern, vorwärts zu gehen. Sehen Sie doch, dass Sie die Theorie des Legendre’schen Zeichens mit der w-Figur in explicite Verbindung bringen. Ich denke mir die Sache so.[…]

Klein versprühte neue Ideen, in welcher Richtung Hurwitz fündig werden könnte. Für sich selbst aber meinte er im selben Brief […] winkt […] die Mechanik oder die math.[atische] Physik (wie Sie es nennen wollen). Erst wenn ich die gemeistert habe, dass ich betreffs derselben originelle Ideen besitze, kann wieder von einer gedeihlichen mathematischen Production meinerseits die Rede sein. Wird mir gelingen, dieses Programm durchzuführen?195

Mit diesem Brief Kleins vom 24. Oktober 1881 sollen zwei Aspekte hervorgehoben werden. Erstens sah Klein Hurwitz’ mathematische Kreativität und zweifelte wiederholt, ob er selbst mathematisch genügen würde. Keineswegs glaubte er von sich, „the leading German mathematician of his generation and perhaps in the

193 [Archiv St. Petersburg] Fond 2, 1-1895, 73, Bl. 5, 16-17; TOBIES 2018a. 194 Vgl. vor allem ROWE 1992, 2018a, 120-27; GRAY 2013, 207-46. 195 Klein an Hurwitz, Brief v. 24.10.1881 [UBG] Math. Arch. 77: 52, Bl. 77-78.

5.5 Forschungsfelder

225

world“ zu sein.196 Zweitens meinte er zu diesem Zeitpunkt, nur im anwendungsorientierten Gebiet zu eigenen neuen Resultaten kommen zu können, dies – obwohl er im Juni 1881 den Briefwechsel mit Poincaré gestartet hatte. Auch wenn Klein von diesem Programm noch einmal abweichen sollte, begann er in Leipzig tatsächlich in Richtung mathematischer Physik. (5.5.1) Ein zweiter Strang von Kleins damaligem Bestreben lag im fortgesetzten Bemühen, die in Berlin entwickelten Ergebnisse in sein Methodenarsenal zu integrieren, wenngleich in Berlin sozialisierte Mathematiker sich ihm gegenüber noch immer skeptisch verhielten. (5.5.2) Drittens regte ihn der Blick auf neue Forschungsergebnisse in Frankreich an, nicht nur der Blick auf Poincarés Arbeiten allein, aber dieser doch im speziellen. (5.5.3) Klein gelangte in Verbindung damit in seinem alten, für sich bereits abgehakten Feld noch zu besonderen Resultaten. (5.5.4) Die in diesem Kontext entstehende Kontroverse um und mit Lazarus Fuchs wird extra betrachtet, weil sie nachhaltige Wirkung entfaltete. (5.5.5) Klein entschied in Leipzig früh, die in München gewonnenen Ergebnisse systematisch darzustellen. Dazu gehörten die Schrift Über Riemanns Theorie der algebraischen Funktionen und ihre Integrale (5.5.1.2), sein Ikosaederbuch (5.5.6) sowie weitere Ideen und Ansätze für Monographien (5.5.7; 5.5.8). Als Dieter GAIER (1990) aus Sicht des aktuell forschenden Mathematikers auf die Geschichte zurück blickte, so benannte er vor allem drei Quellen aus dem 19. Jahrhundert, welche die nachfolgende Entwicklung der Funktionentheorie maßgeblich prägten: (1) der Riemannsche Abbildungssatz (1851, dass jedes einfach zusammenhängende Gebiet im Komplexen sich konform auf den Einheitskreis abbilden lässt, und dass die Abbildung nach Normierung der Abbildungsfunktion f für einen Punkt eindeutig bestimmt ist.); (2) einen Satz von Picard (1879, dass jede ganze nicht konstante Funktion f jeden Wert a im Komplexen mit höchstens einer Ausnahme annimmt.); (3) die klassische Potentialtheorie.197 Die Ausgangspunkte spiegeln sich deutlich in Kleins Arbeiten. 5.5.1 Mathematische Physik bzw. Physikalische Mathematik Der Begriff „physikalische Mathematik“ für Kleins Herangehen stammt von Arnold Sommerfeld.198 Klein, der auch in Briefen an Lie immer mal wieder mit dem physikalischen Feld geliebäugelt hatte, empfing in Leipzig Impulse durch Carl Neumann. Dabei erlangte Klein nicht nur in Neumanns ureigensten Gebiet, der Potentialtheorie, neue Resultate. Klein nutzte den physikalischen Ansatz auch als heuristisches Prinzip, um Riemanns Funktionentheorie zu beschreiben. 196 Jeremy GRAY (2013, 226) schrieb über Klein für dieselbe Zeit: “He was ambitous, he had every reason to believe he was the leading German mathematician of his generation and perhaps in the world, and he was beginning to shape himself as the heir of Riemann.” 197 GAIER 1990, 363-64. 198 SOMMERFELD 1919, 301.

226

5 Professur für Geometrie in Leipzig

5.5.1.1 Lamésche Funktion, Potentialtheorie und Carl Neumann In Abschnitt 5.3.1 wurden bei der Lehrabstimmung Differenzen mit Carl Neumann angedeutet. Diese Differenzen korrespondierten mit diesem Forschungsfeld. In seiner ersten Leipziger Vorlesungsstunde am 26. Oktober 1880 hatte Klein Carl Neumanns Vorlesungen über Riemann’s Theorie der Abel’schen Integrale (Leipzig: B.G. Teubner, 1865) als eine grundlegende Literatur hervorgehoben.199 Neumann hatte sich, wie der befreundete Clebsch, als einer der Ersten mit Riemanns Arbeiten auseinandergesetzt, im Jahre 1865 gar ein zweites Buch zum Thema bei Teubner publiziert: Das Dirichlet’sche Princip in seiner Anwendung auf die Riemann’schen Flächen. Somit sah Klein bei Neumann gute Anknüpfungspunkte für seine physikalisch-mathematischen Interessen: Die erste förderliche Anregung für meine diesbezüglichen Arbeiten empfing ich bei meiner Übersiedelung nach Leipzig 1880 durch den Verkehr mit Carl Neumann. Von hier aus sind die beiden Aufsätze über Lamésche Funktionen entstanden, die ich 1881 in den Math. Annalen Bd. 18 veröffentlichte. Auch meine Schrift über „Riemanns Theorie der algebraischen Theorie der algebraischen Funktionen und ihrer Integrale“, die ich 1882 folgen ließ […], läßt die physikalische Beeinflussung nicht verkennen; sie nimmt ihren Ausgangspunkt geradezu vom physikalischen Denken.200

Klein notierte: „Im Verkehr mit Neumann: Lamésche F.[unktionen] Konfokale Körper.“201 Allerdings fehlt in den Arbeiten „Ueber Lamé’sche Functionen“ (eingereicht im Januar 1881) und „Ueber Körper, welche von confocalen Flächen zweiten Grades begränzt sind“ (14. März 1881) jeder Hinweis auf Neumanns Anregung. Klein merkte nur an, dass Neumann andere Bezeichnungen benutzte.202 Dessen entsprechender Beitrag wurde im selben Band der Mathematischen Annalen vor Kleins Arbeit über Lamésche Funktionen publiziert und sollte wohl die gemeinsame Richtung andeuten. Während Neumann am Ende seines Artikels explizit auf Kleins folgende interessante Entwicklungen hinwies,203 begab sich Klein auf Neumanns Feld, ohne ihn maßgeblich zu zitieren. Das widersprach Kleins sonstigem Herangehen und barg womöglich Konfliktpotential. Jedenfalls konstatierte er kurze Zeit später: „Beginnender Gegensatz zu Neumann.“204 Klein sandte seine Arbeiten mit dem Bemerken an Darboux, „[..] in denen ich zwei Sätze bewies, die bisher unbekannt gewesen zu sein scheinen und doch von primaerer Wichtigkeit sind, wenn man Lamésche Functionen anschauungsmässig

199 Vgl. KLEIN 1987, 12. 200 KLEIN 1922, GMA II, 507. 201 Klein in JACOBS 1977, Persönliches betr. Leipzig, Bl. 1; zu Neumann vgl. auch SCHLOTE 2004, 2017; zu den Promotionsverfahren König 1982, A6-2 bis A6-3. 202 Klein, F. (1881): „Ueber Körper, welche von confocalen Flächen zweiten Grades begränzt sind“. Math. Ann. 18, 410-27, die Anmerkung befindet sich auf 421. 203 Neumann, C. (1881): „Ueber die Mehler’schen Kegelfunctionen und deren Anwendung auf elektrostatische Probleme“. Math. Ann. 18, 196-236. 204 Klein in JACOBS 1977, Vorläufiges über Leipzig, Bl. 1.

227

5.5 Forschungsfelder

erfassen will.“205 Einer der Sätze war das Oscillationstheorem, das Klein erst in seiner Arbeit „Zur Theorie der Laméschen Functionen“ (1890) so bezeichnete. Darin vertiefte er die Ansätze von 1881, unterstrich die Rolle dieses Theorems für die Potentialtheorie und die Theorie der linearen Differentialgleichungen zweiter Ordnung und führte den Begriff „automorphe Funktionen“ ein: Hiermit aber ist für den Fall des hyperelliptischen Gebildes

f

diejenige conforme Abbil-

dung geleistet, deren Möglichkeit und Bestimmtheit ich in Band 19 der mathematischen Annalen (Weihnachten 1881) für beliebige algebraische Gebilde behauptet habe. Es war bis jetzt nicht gelungen, dieses letztere Theorem auf andere als durch Continuitätsbetrachtungen zu erweisen, die von der in der η-Ebene gelegenen Figur ihren Ausgang nehmen: hier haben wir, allerdings nur für den einfachen Fall eines hyperelliptischen Gebildes mit sechs reellen Verzweigungspuncten, eine Construction des betr. η vom gegebenen algebraischen Gebilde aus. Es knüpft sich hieran noch eine weitere neue Bemerkung, welche auf die oben gegebene Einin dem soeben geführung homogener Variabler zurückgeht. Bekanntlich sind λ und f fundenen η eindeutig; sie stellen solche eindeutige Functionen von η vor, welche sich bei unendlich vielen linearen Substitutionen von η reproduciren (ich möchte vorschlagen, solche Functionen überhaupt automorphe Functionen von η zu nennen).206

Kleins spätere Kurzbeschreibung für automorphe Funktionen lautete: Automorphe Funktionen sind solche, um die Sache hier nur schnell zu erklären, die der Funktionalgleichung ⎛ α z + βi ⎞ ⎟⎟ = f (z ) f ⎜⎜ i ⎝ γ i z + δi ⎠ für eine Reihe von Indizes i, eventuell für unendlich viele, genügen, also im weitesten Sinne Verallgemeinerungen der periodischen Funktionen, indem die Addition der Periode durch eine lineare Substitution ersetzt ist.207

Als Klein an Band II seiner Gesammelten Abhandlungen (1922) arbeitete, hatte sich das Gebiet inzwischen weiterentwickelt. So versah er den Titel der (zweiten) Arbeit von 1881 mit einem Zusatz: „Über [die Randwertaufgabe des Potentials für] Körper, welche von konfokalen Flächen zweiten Grades begrenzt sind“.208 Er betrachtete darin die „fundamentale Potentialaufgabe, aus den Werten des Potentials in den Punkten einer Oberfläche den Verlauf desselben im Innern des von der Oberfläche begrenzten Körpers zu bestimmen“.209 Wenig später sollte es Klein in Göttingen gelingen, auch in diesem Feld fruchtbar anzuregen (Abschnitt 6.3.4).

205 [Paris] 75 (Klein an Darboux, 10.6.1881); KLEIN 1922 GMA II, 507; zur Einordnung der Ergebnisse in die Potentialtheorie vgl. L. Lichtenstein, „Neuere Entwicklungen der Potentialtheorie. Konforme Abbildung“. ENCYKLOPÄDIE Bd. II. 3.1., 177-377, bes. 189-90. 206 Göttinger Nachrichten 1890, Nr. 4, 85-95, Zitat 94 automorph: von griech. αὐτός „selbst“ und griech. μορφή „Gestalt“, „Form“. (Vgl. Abschnitte 5.5.3.2; 5.5.5). 207 KLEIN 1926 Vorlesungen I, 275. 208 KLEIN 1922 GMA II, 521. 209 Ebd.

228

5 Professur für Geometrie in Leipzig

5.5.1.2 Über Riemanns Theorie der algebraischen Funktionen und ihrer Integrale Kleins Schrift „Über Riemanns Theorie…“ wurde im Jubiläumsbuch des Teubner-Verlags als Kleins erste Monographie gefeiert und erklärt, dass sie eine Darstellung der Theorie auf anschauungsmäßiger geometrisch-physikalischer Grundlage gibt, indem sie zu zeigen sucht, dass Riemanns Theorie der algebraischen Funktionen und ihrer Integrale nichts anderes ist als eine mathematische Formulierung derjenigen Anschauungen und Tatsachen, welche die physikalische Betrachtung der Lehre von den stationären Strömungen der Wärme oder Elektrizität zutage fördert, sofern man sie auf den Fall beliebig zusammenhängender geschlossener Flächen überträgt.210

Klein fasste mit dieser Schrift erstmals Ergebnisse zusammen, die er seit der Münchener Zeit gewonnen hatte, mit dem Ziel, sie für die Nachwelt zu erhalten: Ich selbst habe mittlerweile an einer kleinen Schrift über Riemann’s Theorie gearbeitet, die ich bei Teubner erscheinen lassen will. Die Sache selbst kennen Sie vom Sommersemester her; doch machte es mir viel Mühe, dieselbe in geschickte Form zu bringen. […] Sie können sich denken, wie sehr ich mich zu der immerhin langweiligen Ausarbeitung habe zwingen müssen. Aber man ist wohl genöthigt, so zu verfahren; andernfalls verlieren sich alle die Ideen, mit denen man ab und zu sich beschäftigt, im Sande.211

Klein stützte sein physikalisches Herangehen nicht nur auf Riemann, sondern insbesondere auf Thomson und Tait sowie Carl Neumann.212 Er setzte bisherige Arbeiten über Riemanns Theorie als bekannt voraus und betonte Ergebnisse von H. A. Schwarz, Georg Hettner, Friedrich Schottky. Klein hatte von Schottky erfahren, dass dessen ähnliche Untersuchungen ebenfalls von der „Betrachtung der Strömungen einer inkompressiblen Flüssigkeit“ ausgegangen waren und er nur auf Weierstraß’ Anraten den physikalischen Ansatz durch die „Bezugnahme auf Schwarz’ Untersuchungen über konforme Abbildung ersetzt“ hatte.213 Sich der Vorarbeiten bewusst, reklamierte Klein für sich die Idee, „geschlossene Flächen im Raume der funktionentheoretischen Betrachtung zugrunde zu legen und damit die eigentlichen Grundgedanken der Riemannschen Theorie zu fassen“. Dabei berief er sich auf einen (vermeintlichen) Hinweis von Friedrich Prym – der Riemann noch selbst gehört hatte – und benutzte beliebig gegebene krumme Flächen im Raume als Träger komplexer Ortsfunktionen.214 Zwar sind „krumme Flächen“ keine Riemannschen Flächen, aber das Herangehen ist sinnvoll, wenn man von der metrischen zur konformen Struktur der Fläche übergeht.215 Arnold Sommerfeld beschrieb die Grundideen wie folgt: 210 211 212 213

SCHULZE 1911, 306-307. – KLEIN 1882; 1923 GMA III, 478 und 499-573. [UBG] Math. Arch. 77: 51, Klein an Hurwitz, Brief v. 20.9.1881 von Borkum. KLEIN 1882; 1923 GMA III, 478 und 499-573; KLEIN 1987. Schottky, F. (1877): „Ueber die conforme Abbildung mehrfach zusammenhängender ebener Flächen“. Crelle-Journal 83, 300-51; Klein ordnete Schottkys Theoreme als spezielle Fälle unter seine eigenen gewonnenen Resultate, KLEIN 1923 GMA III, 572-73. 214 Beltrami hatte bereits Flächenstücke behandelt und dabei die Randwertaufgabe gestellt. – Prym akzeptierte Kleins Herangehen, erklärte aber, dass er selbst das nicht angeregt habe. Vgl. KLEIN 1923 GMA III, 479; 501-502; Zitat 479; vgl. auch LAUGWITZ 1999, 112-14. 215 Für diesen Hinweis dankt die Autorin Erhard Scholz.

5.5 Forschungsfelder

229

Die Idee der Riemannschen Fläche, die Riemann in seiner Dissertation einführt und durch eine Andeutung am Schlusse derselben erweitert, bildet Klein zur Vorstellung der geschlossenen „Klein-Riemannschen Fläche“ aus. So wie die komplexe Ebene funktionentheoretisch am besten durch die Kugel ersetzt wird, lässt sich eine verzweigte Riemannsche Ebene von höherem Geschlecht ersetzen durch eine geschlossene singularitätenfreie räumliche Fläche von mehrfachem Zusammenhange. Diese Fläche wird gleichmäßig mit leitender Masse belegt gedacht und bildet einen Konduktor216 für elektrische Strömung. Die auf der Fläche eindeutigen Potentiale bilden die Bausteine für die Theorie der algebraischen Funktionen der Fläche und ihrer Integrale. Die Unstetigkeitspunkte der Potentiale sind die Quellen und Senken der Strömung; es sind zugleich Punkte, in denen die Elektroden als Stromzu- und abführung an den Konduktor gelegt zu denken sind. Indem man unendlich viele Elektroden transversal längs eines Rückkehrschnittes der Fläche aneinander reiht, erhält man als Potentiale die überall endlichen Integrale der Fläche (Integrale der ersten Gattung). Integrale zweiter und dritter Gattung ergeben sich bei punktförmigen zusammenfallenden oder getrennten Elektroden; die auf der Fläche eindeutigen Funktionen, die algebraischen Funktionen des Gebildes, werden als Sonderfall aus den Potentialfunktionen aufgebaut. Das ist nicht eigentlich mathematische Physik, was hier getrieben wird, sondern physikalische Mathematik.217

Klein betonte, dass es ihm auf „Überblick über Umfang und Leistung der Methode“ ankomme. Er hatte die Schrift in drei Abschnitte eingeteilt: 1) Einleitende Betrachtungen; 2) Exposition der Riemannschen Theorie und 3) Folgerungen. Unter Folgerungen finden wir seine Bemerkung, die später als eine Modellvorstellung des nach ihm benannten Kleinschen Schlauches bezeichnet wurde. Ausgehend von seiner Klassifikation geschlossener Flächen nach dem Geschlecht p betrachtete Klein in §23 „Berandete Flächen und Doppelflächen“.218 Mit derartigen Flächenklassifikationen hatte er sich bereits in den 1870er Jahren befasst und war im Dialog mit Ludwig Schläfli zu Ergebnissen im Gebiet der Flächentopologie gelangt. Beim Studium von nicht-orientierbaren Flächen war der Begriff der „Doppelfläche“ eingeführt worden (vgl. 3.1.3.1). Klein ordnete diese spezielle Fläche 1882 mit p=1 zu den „gewissen unberandeten Doppelflächen“: Man kann sich von denselben ein Bild machen, indem man etwa ein Stück eines Kautschukschlauches umstülpt und nun so sich selbst durchdringen läßt, daß bei Zusammenbiegung der Enden die Außenseite mit der Innenseite zusammenkommt. – Bezüglich aller dieser Flächen besagen die früheren Sätze, daß die Abbildbarkeit der einzelnen Fläche auf eine zweite derselben Art das Bestehen einer, aber nur einer, Gleichung zwischen den reellen Konstantenn der Flächen voraussetzt, daß aber die Abbildung, wenn überhaupt, in unendlich vielen Weisen geschehen kann, indem man ein doppeltes Vorzeichen und eine reelle Konstante zu beliebiger Verfügung hat.219

KLEIN/ROSEMANN 1928 enthält dazu erstmals eine Abbildung (vgl. Abb. 24).220 216 Konduktor: Leiter. 217 SOMMERFELD 1919, 301. 218 Z.B.: Das Möbius-Band ist eine nichtorientierbare (einseitige) Fläche (man kann nicht zwischen oben und unten bzw. außen und innen unterscheiden). Das Zylinderband ist eine zweiseitige Fläche mit Rand. Kugel und Torus sind zweiseitige Flächen ohne Randkurven. 219 KLEIN 1923 GMA III, 571. 220 HILBERT/COHN-VOSSEN 1932, 271-76, bietet eine neue Abbildung; die Begriffe Kleinscher Schlauch und Kleinsche Fläche werden hier synonym verwendet, bottle in der Übersetzung.

230

5 Professur für Geometrie in Leipzig

Abb. 24: Kleinscher Schlauch

Die zitierte erste Beschreibung Kleins stammt aus seiner Schrift Über Riemanns Theorie der algebraischen Funktionen und ihrer Integrale (B.G. Teubner. Leipzig 1882), die er ursprünglich noch durch Beweise ergänzen wollte. Resultate dazu flossen in seine Arbeit „Neue Beiträge zur Riemannschen Funktionentheorie“ (Math. Ann. 21), in Vorlesungen sowie in die Monographien KLEIN/FRICKE (1890/92) und FRICKE/KLEIN (1897/1912). Wesentliche Fortschritte erzielte schließlich Hermann Weyl, wie kurz erwähnt (vgl. 3.1.3.1). Weyl erklärte in der aus seiner Vorlesung entstandenen Schrift Die Idee der Riemannschen Fläche (1913) Riemannsche Flächen (neu) als reell zweidimensionale Mannigfaltigkeiten, die eine komplexe Struktur tragen (ausgezeichnet durch „Ortsuniformisierende“). Weyl benutzte Hilberts Beweis des Dirichlet-Prinzips für harmonische Funktionen mit vorgegebenen Randbedingungen, um komplex analytische Funktionen auf der Fläche einzuführen. Er urteilte: Diese Auffassung des Begriffs der Riemannschen Fläche, in anschaulicher Form zuerst von F. Klein in seiner Schrift „Über Riemanns Theorie der algebraischen Funktionen und ihrer Integrale“ entwickelt, ist allgemeiner als diejenige, deren sich Riemann selbst in seinen grundlegenden Arbeiten über die Theorie der analytischen Funktionen bedient. Es kann aber kein Zweifel sein, daß erst bei dieser verallgemeinerten Fassung die Riemannschen Ideen in ihrer vollen Einfachheit und Kraft hervortreten.221

Klein hatte seine 82 Seiten umfassende Schrift vor einem tieferen Blick in Poincarés Noten am 7. Oktober 1881 auf Borkum vollendet. Auf diese ostfriesische Insel hatte ihn Prof. Dr. med. Ernst Leberecht Wagner, Leiter der Medizinischen Poliklinik der Universität Leipzig, erstmals aus gesundheitlichen Gründen geschickt. In Leizig hatte Klein bei arger Hitze unter „Asthma in Verbindung mit Heufieber“ gelitten. Er nutzte den Urlaub mit Frau und Sohn Otto nicht nur zum Baden und zu Treffen mit Kollegen (Aurel Voß; Georg-Elias Müller)222, sondern auch zum Schreiben. Die ostfriesischen Inseln sollten für Klein wiederholt Ziele sein, wo er Erholung und „Produktionstrieb“ kombinieren konnte.

221 WEYL 1913, 35; 31955, 29-30. – Für das Urteil über Weyl dankt die Autorin Erhard Scholz. 222 Klein in JACOBS 1977, Vorläufiges aus Leipzig, Bl. 1.

5.5 Forschungsfelder

231

5.5.2 Der Blick nach Berlin Ich hatte früher, als ich noch ganz im geometrischen Fahrwasser war, wenig Interesse für die Berliner Mathematik: seit ich etwas mehr umfassende Umschau habe, hat sich das geändert […].223

Dies schrieb Felix Klein bereits am 3. März 1879 an Adolf Hurwitz. Im selben Brief hatte er darum gebeten, ihm doch Fotografien der Berliner Mathematiker zu besorgen. Wenn wir über Klein und das Verhältnis zu Mathematikern in Berlin sprechen, dürfen wir keineswegs die oftmals kolportierte Erbfeindschaft gelten lassen. Klein war offen für deren Methoden, ganz im Sinne des Prüfens neuer Ansätze und des Verwebens, um zu neuen Ufern zu gelangen. Noch bevor Leo Koenigsberger verschiedene mathematische Denkstile erkannte (vgl. Einführung 1.2), die von Riemann herrührende geometrische Methode einerseits und die analytisch-arithmetische Richtung in Berlin andererseits, war Klein nach Clebschs Vorbild dabei, das Beste aus den verschiedenen Richtungen zu kombinieren. Dazu suchte er die neuesten Ergebnisse der Berliner – die vor allem in Vorlesungen präsentiert wurden – aufzunehmen und zu analysieren.

5.5.2.1 Das Beschaffen der Quellen Adolf Hurwitz hatte Ende der 1870er Jahren drei Semester lang die Berliner Mathematik in sich aufgesaugt und damalige Vorlesungsinhalte der Berliner an Klein weitergegeben. Hurwitz’ eigene Kombination der Methoden sind in seinen Arbeiten zu spüren. Davon zeugen gleichfalls seine zwei Vorträge in Kleins Leipziger Seminar vom Winter 1880/81, wo er sowohl Weierstraß’ funktionentheoretisches Herangehen (Entwicklung in Potenzreihen) nutzte, um „zahlreiche zahlentheoretische Sätze über die Summen der Potenzen der Theiler einer Zahl“ abzuleiten, als auch geometrische Methoden nach Riemann und Klein.224 Im März 1881 unternahm Klein mit seiner Frau eine Reise nach Berlin,225 wohin er kurz zuvor seinen Schüler Walther Dyck delegiert hatte. Klein unterstützte Dyck, Kontakt mit Kronecker zu gewinnen. Hier begegnete Klein erstmals Hermann Amandus Schwarz persönlich und fand inhaltliche Bezugspunkte, die für Hurwitz nützlich werden sollten. Beim Gespräch mit Kronecker erfuhr Klein – was ihn schon lange interessiert hatte – dass Kronecker keinen Beweis für seinen eigenen Satz aus der Theorie der Gleichungen 5. Grades gefunden hatte (vgl. 4.2.1). Klein sollte daraufhin seinen in München gefundenen Beweis noch einmal als Krönung im Ikosaeder-Buch präsentieren (vgl. 5.5.6). Für Hurwitz’ weitere Karriere sorgte Klein ebenfalls dadurch, dass er über ihn an Kronecker 223 [UBG] Math.Archiv 77: 20, Bl. 33, Brief Kleins an Hurwitz v. 3.3.1879. 224 [Protokolle] Bd. 2, Hurwitz: Über die Bildung der Modul-Functionen (6.12.1880), 67-70, Zitat, 70; Über eine Reihe neuer Functionen, welche die absoluten Invarianten gewisser Gruppen ganzzahliger linearer Transformationen bilden (21.2.1881), 138-46. 225 Klein, Vorläufiges über Leipzig, in JACOBS 1977, Bl. 1.

232

5 Professur für Geometrie in Leipzig ausführlich Bericht erstattet[e], als ich neulich betreffs des Ihnen bekannten Punktes in der Theorie der Gleichungen 5. Grades schrieb. Ich denke, er soll Sie auf entgegenkommendste Weise empfangen. […]226

Dyck und Hurwitz hatten den Auftrag im Gepäck, Kleins Wunsch zu erfüllen, „für unser Leipziger Seminar wirklich brauchbare Ausarbeitungen der beiden Collegien von W.[eierstraß] und Kr.[onecker] [zu] bekommen.“227 Hurwitz fand einen Abschreiber dafür, den Klein bezahlte. Außerdem wurden Carl Runge228 und Kleins Schüler Guido Weichold in die Spur gesetzt. Das Material war Klein wichtig für seine erwähnte, am 6. Juni 1882 begonnene (von Study ausgearbeitete) Spezialvorlesung: Vorgestern begann ich ein kleines Specialcolleg über eindeutige Functionen mit linearen Transformationen in sich. Ich hoffe, dass Weichold mir die Copie des Weierstraß’schen Heftes über Abel’sche Functionen besorgen wird.229

Kleins Vorlesungen, seine Publikationen und die Seminarprotokolle dokumentieren die Auswertung der Berliner Ergebnisse. Zunächst trug Klein selbst am 27. Februar und 6. März 1882 in seinem Seminar über die „Weierstraß’schen Hefte der analytischen und der elliptischen Functionen“ vor.230

5.5.2.2 Das Dirichlet-Prinzip Die Kritik von Weierstraß231 am Dirichlet Prinzip in der Potentialtheorie bildete einen Schwerpunkt der Analyse des Berliner Materials. Am 24. Oktober 1881 schrieb Klein an Hurwitz, dass im Seminar vom Winter 1881/82 „das Dirichletsche Princip den Mittelpunct der Betrachtung abgeben“ soll, und setzte fort: „Ich muß in diese Betrachtungsweise hineinkommen, koste es, was es wolle.“232 Mit Kleins Brief vom 11. November 1881 erfuhr Hurwitz: „Ich stecke tief im Dirichlet’schen Princip und hatte heute früh darüber eine 3st.[ündige] Unterredung mit [Carl] Neumann. Hoffentlich komme ich wirklich dahinter. Wenigstens kann ich alle die Sätze, die ich vorigen Sommer aufstellte und die meine Schrift bringen wird, jetzt wirklich beweisen.“233 Hier sei zunächst mit den Worten von David Hilbert beschrieben, worum es beim Dirichletschen Prinzip ging: 226 [UBG] Math.Archiv 77: 52, Klein an Hurwitz, Brief v. 24.10.1881 227 Ebd., 51, Klein an Hurwitz, Brief v. 20.9.1881, von Borkum.– Zu Hurwitz vgl. auch ULLRICH 1988; zu Dyck HASHAGEN 2003. 228 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 926, Hurwitz an Klein, Brief v. 22.5.1882; Klein an Runge, Briefe v. 23.5.1882, 22.7.1882, 16.3.1883 [Deutsches Museum] Nr. 1950-6. 229 [UBG] Math.Archiv 77: 80, Klein an Hurwitz, 8.6.1882. 230 [Protokolle] Bd. 3, 142. 231 Zuerst in einem Brief an H.A.Schwarz v. 3.10.1875; WEIERSTRAß, Bd. 2 (1895) 235-44. 232 [UBG] Math.Archiv 77: 52, Klein an Hurwitz, 24.10.1881. 233 Ebd., 54, Klein an Hurwitz, Postkarte v. 13.11.1881. – Bei der erwähnten Schrift ist die am 7.10.1881 abgeschlossene Arbeit gemeint (KLEIN 1882).

5.5 Forschungsfelder

233

Unter dem Dirichlet’schen Princip verstehen wir diejenige Schlussweise auf die Existenz einer Minimalfunktion, welche Gauss (1839), Thomson (1847), Dirichlet (1856) und andere Mathematiker zur Lösung sogenannter Randwertaufgaben angewandt haben und deren Unzulässigkeit zuerst von Weierstraß erkannt worden ist. Dass dieses Princip dennoch zur Auffindung von strengen und einfachen Existenzbeweisen dienen kann, habe ich in einem Vortrage in der Deutschen Mathematiker-Vereinigung hervorgehoben; meine damaligen Andeutungen sind seitdem von Ch. A. Noble für einfache bestimmte Integrale und von E. R. Hedrick für gewisse Fälle von Doppelintegralen ausgeführt worden.234

Hilbert hatte mit Problem 20 im Jahre 1900 gefragt, unter welchen Bedingungen besitzen Randwertprobleme Lösungen, und selbst kurze Zeit danach in der oben zitierten Arbeit ein dem geometrischen und physikalischen Grundgedanken des Dirichlet’schen Princips nachgebildetes Verfahren mittels Methoden der Variationsrechnung entwickelt, aus welchem ein Beweis für die Existenz der Minimalfunktion unter bestimmten einschränkenden Annahmen resultierte. Inzwischen wurden zahlreiche weitere Arbeiten zum Thema publiziert, und es gilt als gewiss, dass die Existenz einer Lösung nicht in jedem Fall durch eine Beschränkung der Randwerte gesichert werden kann.235 Als Klein 1881/82 den Gegenstand ins Zentrum seines Seminars setzte, war er von Weierstraß’ Kritik an Dirichlets Prinzip geprägt, der ein Gegenbeispiel konstruiert hatte. Klein ließ vor allem Arbeiten analysieren, die das Prinzip zu ersetzen versuchten: Carl Neumanns Methode des arithmetischen Mittels und eine Methode von Hermann Amandus Schwarz, die auf konformen Abbildungen basierte.236 Diese Analysen spiegeln sich in Kleins Schrift „Neue Beiträge zur Riemannschen Funktionentheorie“, in welcher er in § 6 „Literarisches zum Dirichletschen Prinzip“ diskutierte.237 Gegen Ende des Wintersemesters 1881/82 trug Klein in seinem Seminar darüber detailliert vor: Vom 18. Januar bis 8. Februar erläuterte der Unterzeichnete im Ganzen in 10 aufeinanderfolgenden Vorträgen zunächst einige Stellen seiner inzwischen erschienenen Schrift: „Ueber Riemann’s Theorie der algebraischen Functionen und ihrer Integrale“, sodann im Zusammenhange damit die Bedeutung der symmetrischen Riemann’schen Flächen für die Theorie der reellen algebraischen Curven und der zugehörigen Abel’schen Integrale, endlich das sog. Dirichlet’sche Princip.238

Zusätzlich notierte Klein für den 15. Februar 1882: „Kritik des Dirichlet’schen Princip’s durch den Unterzeichneten. F. Klein“239 und begann den Vortrag mit: Wir haben uns, um die Existenz von Funktionen auf Riemannschen Flächen zu zeigen, unstrenger physikalischer Methoden bedient. Danach haben wir in einigen Vorträgen [vergl. Protokollheft] strenge mathem. Methoden [Neumann, Schwarz] für die Existenzbeweise ken234 HILBERT 1901, 5; 1904, 161-62. – Hedrick und Noble promovierten 1901 bei Hilbert. – Vgl. auch LEIS 1990. 235 Vgl. das Urteil von GAIER 1990, 368, über Hilberts und weitere Arbeiten dazu. 236 [Protokolle] Bd. 3, 91-126. Auf diese Literaturanalyse beziehen sich die Beiträge von H. Hoppe, J. Kollert, H. Dreßler, F. Dingeldey, H. Wiener, G. Weicholdt. 237 Math. Ann. 21 (1883), 141-218, bes. 155-57; KLEIN 1923 GMA III, 643-45. 238 [Protokolle] Bd. 3, 136. 239 Ebd., 138.

234

5 Professur für Geometrie in Leipzig nengelernt. Riemann benutzte das Dirichlet’sche Princip, das sehr rasch zum Ziele führte. Dies wollen wir im Folgenden kennen lernen u. auf seine Zuverlässigkeit prüfen.240

Nach historischer Einführung erklärte Klein die Fundamentalaufgabe der Potentialtheorie, zeigte die „geometrische Einkleidung der Potentialaufgabe“ und gab eine „Auseinandersetzung des Dir.[ichletschen] Princips“: Sei u eine Fläche, welche durch die Raumcurve geht, die den Cylinder abschließt, der über der Curve unseres ebenen Stückes durch Auftragen der gegebenen Randwerthe konstruirt wurde. Dann wollen wir einmal über jenes ebene Stück bilden ⎡⎛ ∂u ⎞ 2

∫∫ ⎢⎢⎜⎝ ∂x ⎟⎠ ⎣

⎛ ∂u ⎞ + ⎜⎜ ⎟⎟ ⎝ ∂y ⎠

2

⎤ ⎥dxdy. ⎥⎦

Das Integral mißt, anschaulich unbestimmt ausgedrückt, die Gesamtsteilheit der Fläche u gegen die xy-Ebene; es wird um so größer sein, je mehr Auf- u. Niedergänge die Fläche macht. Wir wollen uns die Aufgabe stellen, die Fläche u = z zu konstruiren, für welche das Integral sein Minimum erreicht, welche Fläche also möglichst flach gegen die xy-Ebene verläuft. Dies ist eine Aufgabe der Variationsrechnung u. diese Disciplin ergiebt durch ihre gewöhnlichen Methoden die Lösung: ∂ 2u ∂ 2u = 0, + ∂x 2 ∂y 2

d.h. aber: Das genannte Variationsproblem, nach den gewöhnlichen Methoden dieser Disciplin behandelt, führt genau auf dieselbe Differentialgleichung, welche wir von vorn herein als dem u auferlegt erkannten, falls u eine Potentialfunktion sein soll. Das Dirichlet’sche Princip besteht nun in folgendem Schluß: Da doch unter allen Flächen durch jene Raumcurve eine jenes Integral zu einem Minimum machen muß oder, anders ausgedrückt, gegenüber der xy-Ebene am flachsten gestaltet sein muß, so muß es auch eine Potentialfunktion der verlangten Beschaffenheit geben. Das Dirichlet’sche Princip nimmt also das feststehend an, daß jedes Variationsproblem eine Lösung hat u. erschließt daraus die Existenz jener Potentialfunktion.241

Desweiteren führte Klein die Ableitung der Variationsrechnung für das genannte Resultat vor. Er zeigte Riemanns Erweiterungen zum Dirichlet Prinzip und damit die Existenz „der allgemeinsten in der Riemannschen Theorie in Betracht kommenden Funktionen [mit mehreren Unendlichkeitsstellen u. mehreren Periodicitätsmoduln] auf der mehrblättrigen Riemannschen Fläche über der Ebene.“242 Es folgte die „Übertragung auf krumme Flächen“, woraus Klein schlussfolgerte: „Das Dirichlet’sche Princip reicht also auch hierfür aus“.243 Unter dem Punkt „Einwürfe gegen das Dirichlet’sche Princip“ brachte Klein Beispiele für das Versagen der Gültigkeit des Prinzips und demonstrierte noch einmal die bisherigen Versuche, die Einwürfe zu beseitigen, auf die zugehörigen Seminarreferate im Protokollbuch verweisend. Abschließend formulierte Klein die Aufgabe:

240 Die [Protokolle] enthalten diese Referate nicht. Sie sind als Anhang an die Vorlesung Funktionentheorie, Bd. II (o.D.), Zitat, 364, aufbewahrt in Bibliothek Math. Institut U Leipzig. 241 Ebd., 368-69. 242 Zitat ebd., 377. 243 Ebd., 379.

5.5 Forschungsfelder

235

Die Existenz der Potentialfunktion ist auf Neumann – Schwarz’schem Wege zu erhärten, darnach aber (im Geiste von Weierstraß) zu zeigen, dass sie das Dirichlet’sche Integral zu einem Minimum macht).244

Dies sei hervorgehoben, weil gern unterschiedliche Sichtweisen von Klein und Hilbert in Bezug auf Weierstraß vermutet werden.245 Klein estimierte Weierstraß’ Kritik am Dirichlet Prinzip, regte aber an, weiter daran zu arbeiten.246

5.5.2.3 Seminar über die Theorie der Abelschen Funktionen Ende 1882 Ein Ausdruck für Kleins ungebremsten Produktionswillen und den zugehörigen Blick auf ein breites Methodenarsenal war sein erwähntes Seminar mit Krazer, Staude, Domsch und Weichold, welches er vom 6. November bis 19. Dezember 1882 zu Hause an 17 Terminen durchführte. Beim ersten Termin präsentierte Klein ein detailliertes Programm für das Seminar.247 Er setzte Riemanns Arbeit und seine eigene Vorlesung von 1880-81 als bekannt voraus und plante, (I) zu ergänzen, (II) den Begriff der Abelschen Funktionen, die Mittel zu ihrer Darstellung, sowie (III) ihre Eigenschaften und Anwendungen zu studieren. Kleins Disposition zeigt, wie er gliederte, die neuesten Ergebnisse nutzte, sich nicht auf geometrische Methoden beschränkte, sondern die verschiedenen Ansätze einbezog, darunter in Berlin und in Paris entwickelte. So sei hier zitiert: I. Ergänzungen der früheren Entwickelungen A. Die Existenzbeweise. Die Riemann’sche Art, von der „Fläche“ beginnend die Existenz gewisser zugehöriger Functionen zu erschliessen, ist nur eine unter den verschiedenen möglichen. Andere Mathematiker haben dieselben Existenzbeweise von anderer Grundlage aus zu führen gesucht. Gemeinsam ist ihnen der Beginn mit der algebraischen Gleichung. Uebrigens unterscheide ich: 1. Die moderne geometrische Denkweise. Homogene Coordinaten, Determinanten. Clebsch und Gordan (1866), Brill & Nöther (Annalen 7), neuere Arbeiten von Nöther. Man vergl. auch Clebsch-Lindemann, Vorlesungen. 2. Die zahlentheoretische Art der Betrachtung. Verfahren des grössten gemeinsamen Theilers. Kronecker im 91ten, Dedekind-Weber im 92. Bande des [Crelle] Journal’s. 3. Die Methode der Reihenentwickelungen. Die Weierstraßschen Vorlesungen. – Arbeiten von Christoffel in den Annali. B. Erweiterung des Functionskreises. Wir betrachteten bisher nur solche Functionen, welche 1) nur durch Periodicität vieldeutig sind, 2) keinen wesentlich singulären Punct haben. In ersterer Hinsicht bieten eine von uns in Betracht zu ziehende Erweiterung die Functionen w, welche sich in der Gestalt αw+β reproduciren, und die Prym im 69. und 71. Bande des [Crelle] Journal’s betrachtet hat. Ist β = 0, α Einheitswurzel, so ist w algebraisch, sog. Wurzelfunction. In zweiter Hinsicht werden die Weierstraß’schen Primfunctionen zu betrachten sein.

244 245 246 247

Ebd., 386. Vgl. hierzu ULLRICH 2017, 284. Vgl. auch KLEIN 1926 Vorlesungen I, 263-67. Vgl. hier und im Folgenden [Protokolle] Bd. 4, 111-16.

236

5 Professur für Geometrie in Leipzig

C. Relationen zwischen unseren Functionen. Ich entwickelte von Relationen in meiner Vorlesung: 1. Das Abel’sche Theorem, 2. Den Riemann-Roch’schen Satz Es fehlen noch, ebenfalls hierher gehörig: 3. Gewisse, bilineare Relationen zwischen den Periodicitätsmoduln der Integrale 1. und 2. Gattung. 4. Die Sätze über Vertauschung von Parameter und Argument bei dritter Gattung. II. Die Abel’schen Functionen. A. Begriff und Bestimmtheit des Jacobischen Umkehrproblem’s. Wir disponiren etwa so: 1. Unterscheidung der Gruppen von p Puncten ξ1…ξp in gewöhnliche und singuläre. 2. Nachweis, dass jede gewöhnliche Gruppe durch die zugehörigen Integralsummen völlig definirt ist. 3. Verschiedene Arten, eine Punctgruppe algebraisch zu definiren. α) durch eine in den ξ verschwindende algebraische Function β) durch Angabe der Gleichung: (w – w1) (w – w2) …. (w – wp) unter w eine algebraische F.[unction], ev. eine Wurzelfunction verstanden. 4. Demgemäss Begriffsbestimmung der „Abel’schen“ Function. 5. Besondere Formulirungen und Erweiterungen Das „Riemann’sche“ Umkehrproblem. Das erweiterte Umkehrproblem bei Clebsch-Gordan. B. Erledigung des Umkehrproblem’s durch ϴ-funktionen. 1. Die empirische Einführung der ϴ-funktion bei Riemann. 2. Die Transcendente Tξη bei Clebsch-Gordan. 3. Die Construction der ϴ-funktion bei Weierstraß. C. Ausgang von den allgemeinen ϴ-funktionen. 1. Die Lehre von den allgemeinen ϴ-relationen (in moderner Entwickelung); 2. Rückübergang zu den Integralen im Falle p=2, Göpel248; 3. Desgleichen im Falle p=3, Schottky. III. Eigenschaften und Anwendung der Abel’schen Functionen. A. Die Theilung und Transformation. Von Hermite beginnend bis zu den neusten Untersuchungen fortlaufend. B. Geometrische Anwendungen. 1. Die Sätze von Clebsch im 63. Bd. des Journal’s. 2. Die Sätze von Roch und Lindemann. 3. Besondere Deutung der hyperelliptischen Functionen durch elliptische Coordinaten eines höheren Raumes.

Das Seminar sollte eine Vorlesung vorbereiten. Die soeben zitierte Eröffnung des Seminarprogramms schloss Klein mit den Worten: „Die hiermit genannten Themata sollen im Folgenden nun nicht etwa in systematischer Reihenfolge, sondern so, wie sich gerade Zeit und Gelegenheit bietet, behandelt werden.“249 Adolf Krazer sprach an fünf Terminen zum Thema Theta (ϴ)-Funktionen und erhielt durch das Seminar die wichtigsten Anregungen für seine Habilitationsschrift (vgl. 5.4.1). Otto Staude (zwei Vorträge) habilitierte sich ebenfalls im Gebiet. Guido Weichold behandelte an vier Terminen die Theorie der hyperelliptischen Functionen nach Weierstraß, u.a. dessen Vorlesung benutzend;250 er reichte 248 Zu Adolph Göpel vgl. Crelle-Journal 35 (1847) 277-312, Jacobi über Göpel, 313-17. 249 [Protokolle] Bd. 4, 112-16. 250 Ebd., Bl. 167-99.

5.5 Forschungsfelder

237

am 3. März 1883 seine Dissertation (Ueber symmetrische Riemann’sche Flächen und die Periodicitätsmoduln der zugehörigen Abel’schen Normalintegrale erster Gattung) ein.251 Paul Domsch realisierte mit seiner Dissertation (Ueber die Darstellung der Flächen vierter Ordnung mit Doppelkegelschnitt durch hyperelliptische Funktionen, eingereicht 15.10.1884) eine geometrische Anwendung.

5.5.2.4 Offenheit versus Einseitigkeit Kleins Offenheit gegenüber anderen Richtungen spiegelt sich in den Lehrkonzepten, Publikationen und in Arbeiten seiner Schüler. Dagegen beharrten Berliner Mathematiker stark auf ihrer spezifischen Richtung. So traf Walther Dyck, der Methoden von Kronecker für seine Habilitationsschrift verwertet hatte, beim Pariser Studienaufenthalt im März 1883 den Weierstraß-Schüler Hermann Amandus Schwarz als ausschließlichen „Propheten“ seines Lehrers. Schwarz trat als „teutonischer Reisegefährte“ und „Antifranzose“ mit „derbem, fast polternden Gebaren“ auf, wie Dyck an Klein berichtete. Klein verallgemeinerte daraufhin Schwarz’ Verhalten auf die Berliner Abkömmlinge insgesamt: Sie sind jetzt an dem Puncte, an welchem ich Sie habe haben wollen: dass Sie die deutschen Verhältnisse in auswärtiger Perspective sehen und vor allem den wahren Charakter der Berliner Schule erkennen. Leistung auf dem eigenen engen Gebiete und darüber hinaus unglaubliche Beschränktheit des Blickes, - das ist die Signatur. Wie sich dieser gemeinsame Charakter in der einen oder anderen Persönlichkeit ausspricht, ist relativ gleichgültig. Ich meine, dass man von jedem das Gute nimmt, so lange es mit dem Schlechten nicht gar zu arg kommt, und übrigens unbeirrt die Ziele verfolgt, welche man selbst und vielleicht im Widerspruch mit der Tagesmeinung für richtig hält.252

Später urteilte Richard von Mises in einem Nachruf auf H. A. Schwarz: So trug er [Schwarz] trotz der anschaulich geometrischen Einstellung vieler seiner Arbeiten wesentlich dazu bei, der Berliner mathematischen Schule jenen Zug starker Einseitigkeit zu verleihen, dessen bewußte Bekämpfung und Überwindung durch Felix Klein der Göttinger Schule die großen Erfolge der letzten Jahrzehnte gebracht hat.253

Dass Berliner Mathematiker Vorbehalte gegenüber anderen Denkstilen schürten, deuten Briefe Otto Hölders an: Hier ist bei Klein ein sehr reges Leben. Freilich ist auch etwas Macherei dabei. Namentlich haben sie hier keine Vorliebe für strenge Beweise, so daß ein Schüler von Weierstraß und [Paul] du Bois-Reymond oft unangenehm berührt wird. Wenn ich nur alle diese Dinge hier noch zu Hause ausführen will, so habe ich schon zu thun; dann will mir Klein jetzt ein Problem geben, das ich im Seminar tractiren soll. Lesen muß man auch viel, und ich habe mir dabei auch bereits die mir von Natur so verhaßte Oberflächlichkeit der hiesigen Herrn angewöhnt.254

251 BÉLANGER 2010 zitierte diese Dissertation noch, sich vor allem auf PONT 1974 stützend. 252 Klein an Dyck, 30.3.1883, zitiert nach HASHAGEN 2003, 158. 253 V. MISES 1921, 495. 254 Hölder an die Eltern, am 6.5.1884, in HILDEBRANDT et al. 2014, 143-44.

238

5 Professur für Geometrie in Leipzig

Hölders Ansicht, nach zwei Wochen Aufenthalt in Leipzig ausgedrückt, war eindeutig vorgeprägt und sollte sich bald ändern (vgl. Abschnitt 5.4.1). D.h., Klein und seine Schüler schätzten und nutzten Berliner Ergebnisse, während von dort Herabschätzung winkte. Sophus Lie brachte auf den Punkt: Du deinerseits [b]ist gerecht gegen die Berliner, die Du verstehst und würdigst. Die Berliner Schule dagegen hat im längsten versucht, Deine Thätigkeit wenn nicht eben ignoriren, so doch möglichst herunterzuziehen. Alle deine glänzenden geometrischen Arbeiten kommen bei den meisten dieser Herren wenig in Betracht. Deine analytischen Arbeiten haben sie lange nicht verstanden. Erst Dein Verhältnis – einerseits zu Poincaré, andererseits zu Fuchs –, dem Du so starke Wahrheiten gesagt hast, hat diesen Herren Deine grosse Macht klar gemacht, wenn sie Dich lange noch nicht verstehen. Obgleich ich Dich daher als Sieger in diesem Kampfe mit den Berlinern betrachte, so glaube ich, dass es für Dich gut sein wird für einige Jahre diese aufreibenden Geschichten zu verlassen, um so mehr da Deine Gesundheit nicht immer befriedigend ist.255

Lie schrieb dies zu einem Zeitpunkt, als Klein entscheiden musste, ob er einen Ruf in die USA annimmt (vgl. 5.8.1). Kleins Verhältnis zu den im Zitat erwähnten Henri Poincaré und Lazarus Fuchs wird nachfolgend betrachtet. 5.5.3 Der Blick nach Frankreich Klein verfolgte regelmäßig die neueste Literatur. Seine mit Henri Poincaré begonnene Korrespondenz und das sich daraus ergebene wetteifernde Arbeiten im selben Forschungsfeld lässt sich nur aus einem umfassenderen Blick erklären.

5.5.3.1 Französische Autoren für die Mathematischen Annalen Klein richtete den Blick nicht nur im Interesse seines Forschungsfeldes nach außen. Mit den Mitstreitern bei den Mathematischen Annalen versuchte er auch, ausländische Autoren zu gewinnen. Nach Camille Jordans erstem Aufsatz in Band 1 der Annalen war erst im Band 10, als Klein und Mayer die Edition übernahmen, der Beitrag eines nächsten französischen Autors erschienen: ein „Lettre de M. Ch. Hermite à M. P. Gordan“. Math. Ann. 10 (1876) 287-88. Das ist aus zweierlei Hinsicht hervorhebenswert. Erstens publizierte Hermite, wenn in einer deutschen Zeitschrift, zunächst im Konkurrenzorgan Journal für die reine und angewandte Mathematik (Crelle-Journal bzw. damals Borchardts Journal).256 Zweitens besaß er Einfluss und zahlreiche Schüler. Hermites Urteil über Kleins Arbeiten sollte in den 1890er Jahren noch wichtig werden (vgl. 7.5.4). Halphen, der 1878 unter Hermite promovierte, war gemäß Kleins Bitte ab 1879 der nächste französische Autor in den Mathematischen Annalen. Klein hatte

255 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 690/1, Lie an Klein (o.D., Dez. 1883). 256 Vgl. TOBIES/ROWE 1990, 44; zu Hermite & Klein vgl. auch GOLDSTEIN 2011a.

5.5 Forschungsfelder

239

dessen Publikationen bereits in seinem Münchner Seminar analysieren lassen.257 Und noch von München aus, am 29. Mai 1880, hatte sich Klein bei Darboux über weitere französische Autoren erkundigt: Ich interessire mich in neuester Zeit (mit Rücksicht auf die vielen Fragen, die sich mir bei den elliptischen Functionen aufdrängen) sehr für allgemeine Functionentheorie, in der ich leider bisher nur zu unwissend war. Abgesehen von Ihren schönen Arbeiten fesseln mich z.B. die neueren Noten von Picard. Wer ist dieser P.? Wer andererseits Appell, dessen Namen man bei solchen Untersuchungen jetzt oft liest? Wenn ich nach Paris komme hoffe ich alle diese Herren persönlich kennen zu lernen und ausführlich zu sprechen. Aber freilich ist es durch meine Leipziger Berufung mehr als zweifelhaft geworden, ob ich die Pariser Reise schon in diesem Herbste ausführe.258

Klein reiste erst 1887 wieder nach Paris (vgl. 6.3.6.1). Darboux setzte ihn 1880 unverzüglich über Émile Picard und Paul Appell ins Bild, die übrigens beide durch ihre Heirat mit Hermite verwandt wurden. Klein wandte sich schließlich im Juni 1881 mit Briefen an Picard, Appell und Henri Poincaré. Daraufhin publizierten im Annalen-Band 19 (1882) vier französische Autoren – neben den Genannten noch Georges Brunel, der bei Klein studierte (vgl. Tab. 6 und 5.4.2.1).259 Arbeiten von Picard ließ Klein bereits in den Seminaren der ersten Leipziger Semester analysieren: „Ueber einige functionentheoretische Sätze von Picard“ (F. Büttner, am 7.3.1881); „Bericht über einige Publicationen E. Picard’s, Comptes Rendus 1879, 1880, 1881“ (A. Hurwitz, 25.7.1881).260 Hurwitz urteilte in seinem Referat zum Vortrag, dass Picard maßgeblich an Weierstraß’ Auffassung der Funktionentheorie anknüpfe. Hurwitz konnte Picards Sätze mit Ansätzen aus der Riemannschen Funktionentheorie verbinden; bereits im Seminarbeitrag verallgemeinerte er einen Satz von Picard. Dies fortsetzend, sandte Hurwitz Ergebnisse nicht nur an Klein, sondern auch an Picard. Da Hurwitz jedoch vergeblich auf Antwort von Picard wartete, schrieb ihm Klein am 24. Oktober 1881: Picard scheint noch nichts weiter publicirt zu haben. Aergern Sie sich über letzteren nicht; die Franzosen sind nie so aufrichtig, wie wir es sind, damit muß man von Vorneherein rechnen, wenn man mit ihnen verkehrt.261

Die Bemerkung basierte erstens auf Erfahrungen von Lie und Klein, dass französische Mathematiker ihre Arbeiten zunächst nicht bzw. nicht hinreichend zitiert hatten. Ihren Ärger darüber dokumentieren ihre Briefe. Zweitens hatte Klein erkannt, dass Poincaré – mit dem er inzwischen korrespondierte – seine Methoden nicht so offenmütig preisgab, wie er es selbst gewohnt war. D.h., wie er es bisher mit Schülern, mit Lie, mit italienischen, britischen u.a. Kollegen praktizierte. Damals standen Poincarés Arbeiten Kleins Forschungsfeld am nächsten und sollten ihn am stärksten beeinflussen. Es ging – wie bereits in Abschnitt 4.2.3 erwähnt – um die später sogenannte Theorie der Uniformisierung. Diese befasst 257 258 259 260 261

[Protokolle] Bd.1, 197; 202. – Vgl. auch TOBIES 2016, 111-12. [Paris] Klein an Darboux, Nr. 70. Zu weiteren französischen Autoren in den Math. Ann. vgl. TOBIES 2016, 111-16. [Protokolle] Bd. 2, 165-68; Bd. 3, 56-60. [UBG] Math. Arch. 77: 52, Bl. 78v.

240

5 Professur für Geometrie in Leipzig

sich, modern gesprochen, mit der Frage, „wie eine mehrdeutige Relation (x, y) zwischen den Objekten x und y von zwei Mengen Rx und Ry eindeutig dargestellt (uniformisiert) werden kann.“262 Die Relevanz dieser Frage für die Entwicklung der Mathematik ermisst sich u.a. darin, dass Hilbert sie im Jahre 1900 als Problem 22 der damals ungelösten Probleme aufnahm: „Wie können analytische Beziehungen mittels automorpher Funktionen uniformisiert werden?“ Am einfachen Beispiel erläutert, heißt das: „Bei der Uniformierung setzt man sich zum Ziel, algebraische Kurven in zwei Variablen zu parametrisieren, also die Variablen durch Funktionen zu ersetzen, die nur noch von einer Veränderlichen abhängen. So lässt sich beispielsweise der Einheitskreis, der durch x2 + y2 = 1 gegeben ist, parametrisieren, indem man für x und y jeweils cos α und sin α einsetzt.“263 Zwanzig Jahre zuvor schufen Klein und Poincaré dafür maßgebliche Ausgangspunkte.

5.5.3.2 Korrespondenz mit Poincaré Klein begann am 12. Juni 1881 die Korrespondenz mit folgenden Worten: Sehr geehrter Herr! Ihre 3 Noten in den Comptes Rendus „Sur les fonctions fuchsiennes“, die ich erst gestern, und auch da nur flüchtig kennen lernte, stehen in so engem Zusammenhange mit den Überlegungen und Bestrebungen, mit denen ich mich in den letzten Jahren beschäftigte, dass ich Ihnen deshalb schreiben muß.264

Klein erläuterte weiter seine bisherigen Arbeiten, nannte Bezüge zu Halphen hinsichtlich einer speziellen Funktionenklasse und teilte mit – was Poincaré noch unbekannt war –, dass bereits Hermann Amandus Schwarz vor Halphen entsprechende Ergebnisse entwickelt hatte. Anschließend formulierte Klein seine inzwischen gewonnenen Ansichten zum Forschungsfeld in vier Punkten. Es liest sich wie ein Forschungsprogramm, welches Klein in Korrespondenz mit dem französischen Mathematiker voranzubringen hoffte: 1. Periodische und doppeltperiodische Funktionen sind nur Beispiele für eindeutige Funktionen mit linearen Transformationen in sich. Es ist Aufgabe der modernen Analysis, all diese Funktionen zu bestimmen. 2. Die Anzahl dieser Transformationen kann eine endliche sein; dies gibt die Gleichungen des Ikosaeders, Oktaeders, …, die ich früher betrachtete (Math. Annalen Bd. 9 [1875/76], Bd. 12 [1877]) und von denen ich bei Bildung dieses Ideenkreises ausging. 3. Gruppen von unendlich vielen linearen Transformationen, die zu brauchbaren Funktionen Anlaß geben, (groupe discontinu nach ihrer Bezeichnung) erhält man zum Beispiel, wenn

262 NEVANLINNA 1953, 1; Henri PAUL DE SAINT-GERVAIS 2016 gibt eine moderne Version, vgl. die Rezension zum franz. Original von David Rowe (Historia mathematica 2014, 98-102). 263 https://de.wikipedia.org/wiki/Hilbertsche_Probleme#Hilberts_zweiundzwanzigstes_Problem 264 Die Korrespondenz ist publiziert in KLEIN 1923 GMA III, 587-621, Zitat 587; in Acta Math. 39 (1923) 94-132; in Poincaré, H., Oeuvres I, 26-65. – Die drei erwähnten Arbeiten Poincarés waren am 14. Februar, am 21. Februar und 4. April 1881 erschienen. Zur Analyse vgl. auch GRAY 2008; 2013, 224-40; ROWE 1992b; VERHULST 2012, 34-43.

5.5 Forschungsfelder

241

man von einem Kreisbogenpolygon ausgeht, dessen Kreise einen festen Kreis rechtwinkelig schneiden und dessen Winkel genaue Teile von π sind. 4. Man sollte sich mit allen solchen Funktionen beschäftigen (wie Sie das in der Tat jetzt beginnen), um aber konkrete Ziele zu erreichen, beschränken wir uns auf Kreisbogendreiecke und insbesondere auf elliptische Modulfunktionen.265

Klein beendete den ersten Brief mit Empfehlungen an Hermite und dem Wunsch, mit Poincaré eine Korrespondenz zum gemeinsamen Ideenkreis zu führen. Die Korrespondenz entwickelte sich anfangs in der Tat sehr intensiv. Vom 12. Juni bis zum 9. Juli 1881 gingen fünf Briefe von Klein an Poincaré, der viermal antwortete. Es war Poincaré, der danach abbrach; er wechselte in dieser Zeit von Caen nach Paris, wo er als Maître de conférences an der Faculté des Sciences eine permanente Position erhielt.266 In diesen ersten Briefen verständigten sie sich über ihre bisherigen Arbeiten. Poincaré erkannte und gab zu, dass Klein bereits zuvor Ergebnisse im Gebiet erzielt hatte und wollte darüber noch genauer Bescheid wissen. D.h., er stellte Fragen, erklärte aber selber seine Methoden nicht. Da Poincaré in Caen die deutsche Literatur schwer beschaffen konnte, half Klein. Er sandte Poincaré Sonderdrucke seiner Arbeiten, veranlasste seine Schüler (Dyck, Gierster, Hurwitz), dies ebenfalls zu tun. Klein nannte Poincaré weitere Literatur (Riemann, Brill/Noether; Schottky), auf welcher er selbst basierte und erläuterte seine eigenen Ansätze. Zugleich bereitete Klein den bei ihm studierenden Georges Brunel in persönlichen Sitzungen vor, damit dieser Poincaré das Verständnis von Kleins Arbeiten erleichtern sollte. Aus David Rowes Analyse der Briefe von Brunel an Poincaré ist erkennbar, dass dieser die von Klein übertragende Aufgabe ausführte, jedoch mit ausgesprochen nationalistischen Tönen begleitete. Brunel kannte bisher Poincaré nicht. Orientiert durch Klein schrieb er diesem erstmals am 22. Juni 1881. Darin meinte Brunel, dass es die Pflicht eines Franzosen sei, die Deutschen mit allen Mitteln zu bekämpfen. Man müsse deren Erkenntnisse aufnehmen, anerkennen, aber selber nicht zu deren Fortschritten beitragen. Klein hätte in der Theorie der Modulfunktionen spezifische Resultate erzielt, die denen von Poincaré über fonctions fuchsiennes entsprächen. Man solle ihm aber nicht helfen weiterzukommen.267 Vielleicht erklären sich hieraus Poincarés zurückhaltene Mitteilungen über die eigenen Methoden. Klein, der davon nichts ahnte, erläuterte dagegen – uneigennützig – weiterhin seine neuen Erkenntnisse in den Briefen an Poincaré. Und er realisierte außerdem das Versprechen an Darboux, Brunel zu eigener publikationsreifer Arbeit zu führen (vgl. Abschnitt 5.4.2.1). Kleins freigiebige Antworten an Poincaré zeugen von der Art von Selbstlosigkeit, die er mit seinen Schülern praktizierte, um ein anvisiertes Forschungsprogramm zu realisieren. Klein führte aus, wie weit er gekommen war, und er gab auch die Stellen an, wo er zunächst nicht weiter wusste, so zum Beispiel: 265 KLEIN 1923 GMA III, 588-89. 266 Maître de conferences: vergleichbar mit a.o. Professor an einer deutschen Universität; Faculté des Sciences: la principale institution d’enseignement supérieur scientifique in Frankreich. 267 Vgl. Brunel an Poincaré, Brief v. 22.6.1881 (in engl. Übers.) in ROWE 2018a, 125.

242

5 Professur für Geometrie in Leipzig 4. Daß sich bei dem Polygon […] die Kreise rückwärts verlängert nicht schneiden dürfen, wenn eine eindeutige Funktion entstehen soll, ist mir in der Tat wohl bekannt. Gerade auf diesen Punkt muß man meines Erachtens die Aufmerksamkeit richten, wenn man beweisen will, daß sich die Koordinaten w, z des Punktes einer beliebigen algebraischen Kurve als eindeutige Funktionen mit linearen Transformationen in sich angeben lassen.268

Klein erläuterte, wie vorgegangen werden könnte, indem Arbeiten von Schwarz, resp. Weierstrass beachtet werden, was unter bestimmten Bedingungen zu erreichen sei etc., und Klein deutete an, wo er noch Schwierigkeiten sah: Findet keinerlei Symmetrie statt, so komme ich wenigstens auf einen analog gestalteten Fundamentalraum, dessen Kanten unter Winkeln = Null zusammenstoßen und übrigens paarweise durch gewisse lineare Substitutionen zusammengehören. Aber ich kann nicht beweisen, daß dieser Fundamentalraum mit seinen Wiederholungen zusammen nur einen Teil der komplexen Ebene überdeckt. […]269

Poincaré beschränkte sich darauf zu fragen, wo er genannte Literatur finden kann, ob er einen Satz von Klein zitieren darf, und gab keine Hinweise zu seinem Herangehen. Klein antworte mit Brief vom 9. Juli, dass Poincaré ihn natürlich zitieren darf, dass er über die Bezeichnungsweise für Funktionenklassen, fuchsiennes bzw. kleinéennes, erstaunt sei und statt dessen „Funktionen mit linearen Transformationen in sich“ verwenden würde. Klein erklärte, wie das Dirichletsche Prinzip zu beurteilen sei – wozu er sich gerade für das Wintersemester 1880/81 vorbereitete – und wofür der erwähnte „allgemeine Existenzbeweis“ galt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Klein nur eine allgemeine Vorstellung von Poincarés Arbeiten, denn dieser hatte, wie gesagt, wenig erklärt, und Klein hatte sich noch nicht die Zeit genommen, tiefer hineinzuschauen. Klein war mit seiner Schrift Über Riemanns Theorie der algebraischen Funktionen und ihrer Integrale befasst. Noch bevor Klein diese am 7. Oktober 1881 auf Borkum vollendete, schrieb er am 20. September an Hurwitz: Ich will nun im Winterseminar die Untersuchungen über das Dirichlet’sche Princip zum Mittelpuncte der Vorträge machen, - andererseits, um nicht zu sehr zersplittert zu werden, mein Specialcolleg aufgeben. Allerdings reizen mich diese „Poincaréschen“ Sachen sehr, ich vermuthe sogar bestimmte, wunderschöne Sätze, - aber man kann nicht Alles gleichzeitig machen.270

Bis zum 24. Oktober 1881 schien Klein doch von Poincarés August-Note beeindruckt gewesen zu sein. So erfuhr Hurwitz von ihm: „Poincaré behauptet in einer Arbeit von Anfang August in der That jede algebraische Irrationalität durch fonctions fuchsiennes auflösen zu können.“271 Nachdem Klein schließlich Poincarés Arbeiten „im Zusammenhange gelesen hatte“, nahm er am 4. Dezember 1881 die Korrespondenz wieder auf. Poincaré hatte sich nicht von selbst wieder gemeldet. Klein gratulierte Poincaré zum Beweis (vom 8. August 1881), « que toute équation différentielle lináire à coefficients algébriques s’intègre par les fonctiones 268 269 270 271

Klein an Poincaré, am 2.7.1881, KLEIN 1923 GMA III, 596-97. Ebd., 587-98. [UBG] Math. Arch. 77: 51, Bl. 76. [UBG] Math. Arch. 77: 52, Bl. 78v.

5.5 Forschungsfelder

243

zétafuchsiennes » und « que les coordonnées des points d’une courbe algébrique quelconque s’expriment par des fonctiones fuchsiennes d’une variable auxiliare ».272 Klein schlug außerdem vor, dass Poincaré darüber einen Beitrag (von beliebiger Länge) für die Mathematischen Annalen verfassen möge. Poincaré stimmte sofort zu, erfüllte jedoch nicht Kleins Wunsch, er möge im versprochenen Annalen-Beitrag „[…] namentlich auch über die Methoden Ihrer Beweise die erforderlichen Angaben machen, also über die Art, wie Sie die in Betracht kommenden Funktionen wirklich bilden usw.“273 Klein beharrte nicht darauf und fühlte sich selbst zu weiterer Arbeit angestachelt. Er schrieb an Hurwitz: „Poincaré wird mir einen Brief schicken, den ich in den Annalen abdrucke und mit Bemerkungen von mir begleite. Spätestens Ostern müssen meine ‚strengen’ Existenzbeweise in Ordnung sein.“274 Klein gelangte zu den drei neuen Theoremen im Gebiet, die er alle 1882 publizierte. Die Korrespondenz zwischen Klein und Poincaré lief bis zum 22. September 1882. Am Ende hatte Klein nicht mehr geantwortet. Poincaré ließ sich von Gösta Mittag-Leffler als Autor für dessen Zeitschrift Acta Mathematica gewinnen. 5.5.4 Drei Fundamentaltheoreme Robert Fricke, der Kleins Ergebnisse zusammenfassen, systematisieren und vertiefen sollte, ordnete im Jahre 1919 ein: Mit Recht sieht man als höchste Höhe, zu der Klein in seiner funktionentheoretischen Periode gelangt ist, die Entdeckung jener Sätze an, die er selbst „Fundamentaltheoreme“ nannte, und die heute „Uniformisierungssätze“ heißen. Man kennt die überraschende Entwicklung, welche die Theorie der elliptischen Funktionen durch Abel und Jacobi genommen hat. Legendre betrachtete die elliptischen Integrale in ihrer Abhängigkeit von den Integrationsvariablen. Indem Abel und Jacobi alle Größen des hier vorliegenden Systems zusammenhängender Variablen in ihrer Abhängigkeit vom Integral erster Gattung untersuchten, gelangten sie zu „eindeutigen“ Funktionen; sie hatten die „uniformisierende“ Variable für das System dieser Funktionen erkannt. Im Sinne der Riemannschen Theorie bezieht sich diese Entdeckung auf die algebraischen Gebilde des Geschlechtes 1. Klein ist der Entdecker der verschiedenen Gattungen uniformisierender Variablen für algebraische Gebilde eines beliebigen Geschlechtes geworden; dies ist eine der größten Leistungen, die mit seinem Namen verbunden bleiben wird.275

Im Folgenden seien die drei Fundamentaltheoreme Kleins in der zeitlichen Reihenfolge ihres Entstehens kurz eingeordnet, wobei auch die Korrespondenz mit Poincaré aus dem Jahre 1882 noch näher betrachtet wird. Die ersten beiden Theo272 Klein 1923 GMA III, 602. – Beweis des Satzes, dass jede lineare Differentialgleichung mit algebraischen Koeffizienten durch Zetafuchs-Funktionen integriert werden kann und dass die Koordinatenpunkte irgendeiner algebraischen Kurve sich durch Fuchs-Funktionen von einer Hilfsvariablen ausdrücken lassen. 273 Klein an Poincaré, Brief v. 10.12.1881, in Klein 1923 GMA III, 604. 274 [UBG] Math. Arch. 77: 55, Bl. 82, Klein an Hurwitz, Brief v. 17.12.1881. 275 FRICKE 1919, 276.

244

5 Professur für Geometrie in Leipzig

reme erhielten später durch Robert Fricke die Namen „Rückkehrschnitttheorem“ bzw. „Grenzkreistheorem“276, was Klein übernahm. Das dritte allgemeine Fundamentaltheorem beinhaltete die beiden anderen als die wichtigsten Spezialfälle.

5.5.4.1 Das Rückkehrschnitttheorem Der Begriff Rückkehrschnitt auf Riemannschen Flächen geht auf Riemann zurück (vgl. 3.1.3.1). Klein hatte im Brief vom 2. Juli 1881 an Poincaré einen möglichen Satz im Auge (vgl. 5.5.3.2), den er im September während eines Spaziergangs 1881 auf Borkum als beweisbar vor sich sah. Nachdem er dies ausgearbeitet und datiert auf den 12. Januar 1882 bei den Annalen eingereicht hatte, informierte er: Daß man jede algebraische Gleichung f(w, z) = 0, sobald man auf der zugehörigen Riemannschen Fläche p unabhängige Rückkehrschnitte gezogen hat, in einer und nur einer Weise durch w = φ (η), z = ψ (η) auflösen kann, wo η eine diskontinuierliche Gruppe von der Art erfährt, wie Sie sie damals im Anschluß an meinen Brief zur Sprache gebracht haben. Dieser Satz ist darum so schön, weil diese Gruppe genau 3 p – 3 wesentliche Parameter hat, also ebensoviele, als die Gleichungen des gegebenen p Moduln besitzen. […]277

Der kursiv gesetzte Satz ist das Rückkehrschnitttheorem. η ist eine Funktion, deren komplexe Werte sich Klein auf einer Kugel gedeutet dachte. Er zeigte, was er im Juli 1881 noch nicht konnte: Dann überdeckt auf der η – Kugel das Bild unserer zerschnittenen Riemann’schen Fläche einen 2p fach zusammenhängenden, überall einfach ausgebreiteten Flächentheil. Und außerdem: Die unendlich vielen analytischen Fortsetzungen unserer Abbildung überdecken also die η Kugel nirgend mehrfach. Klein benutzte eine intuitive Beweisführung in seiner Arbeit mit dem Titel „Über eindeutige Funktionen mit linearen Transformationen in sich“, die direkt nach Poincarés Arbeit in den Annalen gedruckt wurde.278 Er urteilte später: „Mein Beweis […] war der, dass ich in der Vorstellung irgendwelchen Abänderungen der Riemannschen Fläche bzw. ihres Querschnittsystems immer nachkommen konnte; er hatte also durchaus intuitiven […] Charakter.“279 Klein bezeichnete dies als eine „Grundlage des Kontinuitätsbeweises“.

5.5.4.2 Das Grenzkreistheorem Nach eigenem Bekunden fand Klein dieses Theorem ebenfalls auf einer nordfriesischen Insel, auf Norderney, wo er während der Osterferien 1882 weilte. Aufgrund eines Sturmes hielt er es dort nur acht Tage aus. In einer schlaflosen Nacht vom 22. zum 23. März kam ihm die Idee zum Theorem, die er in den folgenden Tagen weiter durchdachte und niederschrieb. 276 277 278 279

KLEIN/FRICKE 1912, 439; 284. Klein an Poincaré, Brief v. 13.1.1882, KLEIN 1923 GMA III, 606. Math. Ann. 19 (1882) 565-68; KLEIN 1923 GMA III, 622-26. KLEIN 1923 GMA III, 584. – Vgl. zu den Beweisansätzen bei SCHOLZ 1980, 200-22.

5.5 Forschungsfelder

245

Hurwitz erfuhr als einer der Ersten davon. Auf einer Karte vom 22. März 1882 teilte Klein ihm mit, dass er nach Düsseldorf reise, weil er sich nicht wohl fühle; und vier Tage später erhielt Hurwitz die Nachricht: „Mir geht es, namentlich mathematisch viel besser. Ich habe neue schöne Sätze über eindeutige F.[unktionen] mit lin.[earen] Subst.[itutionen] in sich gefunden.“ Am 26. März 1882 schrieb ihm Klein ausführlicher: Ich muß Ihnen doch von einem einfachsten Theoreme schreiben, das ich im Laufe der letzten Tage fand und schon an Teubner sandte. Sie kennen die Tafel „zur Transf.[ormation] 7. Ordnung“ in Annalen 14 wo die reguläre Riemann’sche Fläche p = 3 auf ein Kreisbogen-Vierzehneck abgebildet erscheint, dessen Kanten einen Hauptkreis rechtwinkelig schneiden. Ich will letzteren in die Ebene einer Variablen η legen. Dann ist η auf der Fläche p = 3 durchweg unverzweigt, und übrigens jede auf der Fläche verlaufende unverzweigte Function eindeutige Function des sich linear reproducirenden η. Die Sache ist nun die, dass genau in diesem Sinne auf jeder vorgegebenen Riemann’schen Fläche eine und nur eine η–Function existirt! (also unabhängig von jeder speciellen Zerschneidung der Fläche). Sie sehen, die Sache geht vorwärts. Um so mehr möchte ich Sie engagiren, auch ihrerseits da einzusetzen. Mir allein sind die Probleme zu schwer. Uebrigens hat auch Rausenberger 2 kleine Bemerkungen über das Bildungsgesetz der betr.[effenden] eindeutigen Functionen geschickt. Arbeiten wir Alle zusammen, so soll bald ein wirklicher Fortschritt in Allem, was mit den algebraischen Functionen zusammenhängt erreicht sein.280

Kleins Arbeit erschien unter dem Titel „Über eindeutige Funktionen mit linearen Transformationen in sich (Zweite Mitteilung)“.281 Sein Grenzkreistheorem entsprach – vom Standpunkt der Uniformisierung und der Theorie der automorphen Funktionen – dem Ergebnis von Poincaré, das dieser ausgehend von Differentialgleichungen gewonnen hatte, die auf Arbeiten von Lazarus Fuchs basierten.282 Kleins Ausspruch im Brief an Hurwitz, mir allein sind die Probleme zu schwer, und sein Ruf nach Kooperation waren Ausdruck seiner Arbeitsweise. Er hatte gesehen, dass mit dem Aufstellen der zwei Theoreme das Gebiet nicht abgeschlossen, sondern erst eröffnet war. Adolf Hurwitz und Otto Rausenberger, Gymnasiallehrer in Frankfurt a.M. und Schüler von Leo Koenigsberger, zeigten sich kooperationswillig. In Band 20 der Mathematischen Annalen, in dem Kleins Arbeit zum Grenzkreistheorem erschien, publizierten auch Hurwitz und Rausenberger zum Thema. Klein hatte veranlasst, dass Hurwitz seinen Seminarvortrag vom 21. Februar 1881 für einen Artikel ausarbeitete. Auf Kleins Drängen realisierte Hurwitz dies noch vorm Stellen seines Habilitationsantrags (vgl. 5.4.1). Kleins Schreiben an Hurwitz vom 16. April 1882 deutet an, wie wichtig es ihm war, erkennen zu lassen, wann er mit seinen Schülern die Arbeit an der neuen Funktionenklasse begonnen hatte:

280 Ebd. 64, Klein an Hurwitz, Brief v. 28.3.1882. – Klein meinte seine Arbeit „Ueber die Transformation siebenter Ordnung der elliptischen Functionen“. Math. Ann. 14 (1878) 428-70. – Vgl. hierzu auch Abb. 20 in Abschnitt 4.2.3 dieses Buches. 281 Math. Ann. 20 (1882) 49-51; KLEIN 1923 GMA III, 627-29. 282 Vgl. hierzu das Urteil und die Beschreibungen von SCHOLZ 1980, 198-200.

246

5 Professur für Geometrie in Leipzig Könnten Sie in der Einleitung einen Satz einfliessen lassen, in welchem Sie ohne besondere Schärfe andeuten wollen, dass Sie sich auf meine Anregung hin vor und unabhängig von Poincaré mit diesen Dingen beschäftigt haben? Die erste Mittheilung von P.[oincaré] ist vom 14. Febr. 1881. Es liegt mir nur daran, die Continuität hervortreten zu lassen, welche zwischen unseren jetzigen Bestrebungen und denen von 1879 (Sommer) besteht. In demselben Sinne bezog ich mich in meiner neuesten Note auf die Tafel zur Transf.[ormation] 7. Ordnung.283

Hurwitz’ Arbeit in den Annalen trug denselben Titel wie der Seminarvortrag: „Ueber eine Reihe neuer Functionen, welche die absoluten Invarianten gewisser Gruppen ganzzahliger linearer Transformationen bilden“. In einer Fußnote zu Hurwitz’ Annalen-Arbeit ergänzte Klein den Hinweis auf dessen Referat zum Vortrag. Hurwitz hatte darin an Sätze von Klein und dessen geometrisches Verfahren (Fundamentalpolygon) angeknüpft.284 Rausenberger hatte eine erste noch fehlerbehafteten Arbeit an die Annalen geschickt, in welcher Klein einen nützlichen Grundgedanken für das Gebiet entdeckte. Daraufhin hatte er ihm am 4. Januar 1881 detaillierte Hinweise zu Literaturstudien gesandt und ihn nach Leipzig eingeladen.285 Das Ergebnis waren drei Beiträge in Band 20 der Mathematischen Annalen. Im dritten Beitrag „Ueber eindeutige Functionen mit mehreren, nicht vertauschbaren Perioden I“ (April 1882), hielt sich Rausenberger an Kleins Vision der historisch korrekten Einordnung: „Ich will bei dieser Gelegenheit nicht unerwähnt lassen, dass mir Herr Klein bereits vor 1½ Jahren in einem an mich gerichteten Briefe als wesentliche Aufgabe seiner functionentheoretischen Untersuchungen bezeichnete: Alle Functionen mit beliebigen linearen Transformationen in sich aufzustellen.“286 Während Klein mit vielen in- und ausländischen Mathematikern gut kooperiert hatte, wurde das Verhältnis zu Poincaré zunehmend durch Konkurrenz geprägt. Klein hatte ihm zwar Kooperation angeboten und später noch einmal betont: „Für mich ist die lebendige Verbindung mit gleichstrebenden Mathematikern immer die Vorbedingung zur eigenen mathematischen Produktion gewesen.“287 Klein erklärte im Brief vom 7. Mai 1882 auch, wie er seine Sätze durch Kontinuität bewies und beschrieb sein Herangehen ausführlich. Aber Poincaré antwortete nur, dass Kleins « second lemme […] il est probable que nous l’éatblissions de la même manière. » Und dass er selbst auch wie Klein die Kontinuitätsmethode benutzte, sie sich aber wohl in einigen Details unterscheiden würde.288 Kleins Frage, wie Poincaré die Konvergenz einer entsprechenden Reihe gezeigt hätte, wiegelte er mit dem Bemerken ab, dass es zu lang wäre, um die zwei Beispiele in einem Brief zu erklären und er dies demnächst publizieren werde. 283 284 285 286 287 288

[UBG] Math. Arch. 77: 69, Postkarte Klein an Hurwitz (vgl. noch einmal Abb. 20). Math. Ann. 20 (1882) 125-34, Kleins Fußnote 125; [Protokolle] Bd. 2, 138-46. Klein an Rausenberger, 4.1.1881 [Nachlass Lorey] Nachtrag, Nr. 424. Math. Ann. 20 (1882) 187-212, Zitat 187-88. Klein an Poincaré, 3.4.1882, in KLEIN 1923 GMA III, 610. « […] j’emploie comme vous la continuité, mais il y a bien de manières de l’employer et il est possible que nous différions dans quelques détails. » Poincaré an Klein, 12.5.1882 in KLEIN 1923 GMA III, 614.

5.5 Forschungsfelder

247

Dennoch blieb Klein bei seiner Offenheit. Er erläuterte Poincaré noch einmal, „wie ich die Kontinuität verwende“ und nannte im selben Brief von 14. Mai 1882 weitere Beweisideen: „Einen ganz anderen, doch auch auf Kontinuitätsbetrachtungen beruhenden [Beweis], teilte mir Herr Schwarz mit, als ich ihn neulich (am 11. April) in Göttingen besuchte.“ Klein demonstrierte, im Interesse des gemeinsamen Forschungsprogramms, den schönen Schwarzschen Gedankengang.289 Aus Poincarés Brief vom 18. Mai 1882 geht hervor, dass er jetzt tatsächlich realisiert hatte, dass Kleins Arbeit zum Grenzkreistheorem und seine jüngste Arbeit weitgehend identische Ergebnisse brachten. Er zeigte sich nun ebenfalls offener hinsichtlich der Erklärungen seines Vorgehens, griff Schwarz’ Gedankengang auf und sandte Klein seine schon länger erbetenen älteren Arbeiten. Erhard SCHOLZ (1980: 201) analysierte bereits, dass Poincaré Schwarz’ Idee für einen Beweis eines Uniformisierungssatzes für analytische Kurven nutzte. Poincaré startete seinen diesbezüglichen Artikel mit dem Hinweis auf ein beau théorème de M. Schwarz und das Dirichlet-Prinzip, was ihm Klein erklärt hatte.290 Fonctions fuchsiennes kommen darin nicht mehr vor; aber la surface de Riemann, womit Klein frohlocken konnte.

5.5.4.3 (Allgemeines) Fundamentaltheorem Klein erläuterte sein neues allgemeines Theorem bereits vor der Publikation im Brief an Poincaré vom 7. Mai 1882. Am 19. September 1882, sein letzter Brief an Poincaré, erklärte Klein noch einmal genauer und gab schon an, dass sich die beiden anderen Theoreme als spezielle Fälle unterordnen. Nachdem er Poincaré eine Unkorrektheit in dessen Arbeit angedeutet hatte, schrieb er: Was meine Arbeit angeht, so beschränke ich mich darauf, die geometrische Auffassung darzulegen, vermöge deren ich im Riemannschen Sinne die neuen Funktionen definiert denke. Dabei sind, wie es in der Natur der Sache liegt, viele Berührungspunkte auch mit Ihrer geometrischen Auffassung des Gegenstandes. Die allgemeinste Gruppe, welche ich in Betracht ziehe, erzeuge ich aus einer beliebigen Zahl „isolierter“ Substitutionen und aus einer Anzahl von Gruppen „mit Hauptkreis“ (der reell oder imaginär sein kann oder auch in einem Punkt ausartet) durch „Ineinanderschiebung“. Die Theoreme meiner beiden Annalennoten subsumieren sich dann als spezielle Fälle unter den allgemeinen Satz, der etwa so lautet: dass zu jeder Riemannschen Fläche mit beliebig vorgegebener Verzweigung und Zerschneidung immer eine und nur eine η-Funktion des betreffenden Typus zugehört.291

Klein teilte zudem mit, dass Sophus Lie in Leipzig bei ihm war und nach Paris kommen wird, und dass er von Mittag-Leffler gehört habe, Poincaré sei mit größeren Ausarbeitungen beschäftigt für dessen neue Zeitschrift Acta mathematica. 289 Klein an Poincaré, 14.5.1882 in KLEIN 1923 GMA III, 615-16. 290 Poincaré, H.: « Sur un théorème de la théorie générale des fonctions ». Bulletin Société Mathématique de France 11 (1883) 112-25. – GRAY 2013 (247-51), der über den Beweis berichtet, hielt dies nicht für erwähnenswert. – Zur mathematischen Einordnung vgl. SCHOLZ 1980, 200-203. 291 KLEIN 1923 GMA III, 618-19.

248

5 Professur für Geometrie in Leipzig

Als Klein erste Exemplare der publizierten Version „Neue Beiträge zur Riemann’schen Functionentheorie“292 gegen Jahresende versandte, u.a. an Poincaré, hörte er von ihm jedoch nichts. Dabei hatte Klein ihn besonders gewürdigt: Man kennt die lange Reihe glänzender Publikationen, durch welche neuerdings Hr. Poincaré die allgemeine Aufmerksamkeit auf diese Functionen gelenkt hat. Ich meinerseits habe, mit ähnlichen Ideen bereits seit längerer Zeit beschäftigt, die Poincaré’schen Veröffentlichungen durch zwei Noten begleitet, in denen ich bestimmte Theoreme, welche für die Anwendungen der neuen Functionen von hervorragender Wichtigkeit sein dürften, formulirte. Es wird sich im Folgenden darum handeln, den allgemeinen Ideengang, der mich zu jenen Theoremen führte, in zusammenhängender und vervollständigter Form darzulegen. Zu diesem Zwecke betrachte ich im dritten Abschnitt eine verhältnismässig umfassende Classe von eindeutigen Functionen mit linearen Transformationen in sich. Ich erläutere ausführlich ihre Art zu existiren, und gebe die Mittel an, um die zugehörigen linearen Substitutionen aus independenten Bestimmungsstücken zu construiren. Sodann formulire ich in Abschnitt IV ein allgemeines Theorem, welches ich seiner Wichtigkeit halber als Fundamentaltheorem bezeichne, und das die Resultate meiner beiden vorangenannten Noten als specielle Fälle in sich schliesst.293

In seinem Abschnitt IV ging Klein von der Frage aus, „[…] auf welchen Riemann’schen Flächen des Geschlechtes p mit n vorgegebenen Verzweigungspunkten von bestimmtem Index Normalfunctionen η von einem gewissen Typus existiren mögen“.294 Mit folgenden Erläuterungen kam er zum Fundamentaltheorem: Der Typus wird festgelegt, indem wir auf unserer Fläche gewisse Paare von Verzweigungspunkten durch Einschnitte Q verbinden, dann irgendwelche, die Fläche nicht zerstückende Rückkehrschnitte R hinzufügen und endlich so viele Schnittsysteme (π, ν) construiren, dass die zerschnittene Fläche durchaus schlicht auf ein Stück der Ebene übertragen werden kann. Functionen η, welche linear von einander abhängen, will ich der Kürze halber wieder als identisch betrachten. Dann besagt unser Fundamentaltheorem: Dass auf jeder Riemann’schen Fläche (p, n, l, k) immer eine und nur eine Normalfunction von beliebig vorgegebenem Typus existirt.295

Aus diesem Fundamentaltheorem konnte, je nachdem wie man die Riemannsche Fläche zerschnitt, eine Reihe spezieller Uniformisierungssätze abgeleitet werden, wozu, wie gesagt, die beiden später als Rückkehrschnitt- bzw. Grenzkreistheorem bezeichneten als die wichtigsten Fälle gehörten. Mit den Beiträgen (vollendet am 2.10.1882) sah sich Klein auf einem Höhepunkt seiner mathematischen Produktivität – im Nachhinein als den Gipfel betrachtend. Die Mühen der Ebenen reichte er gern weiter. So prophezeite er in seinen Beiträgen, die Situation gut erfassend, dass Poincaré bald die notwendigen Ergänzungen liefern würde. Poincaré wäre nicht nur, ähnlich wie er selbst, durch „geometrische Denkweise“ und „Anwendung des Continuitätsbegriffes“ geprägt, sondern hätte darüber hinaus „von Vornherein das analytische Bildungsgesetz der 292 KLEIN 1883; KLEIN 1923 GMA III, 630-710. 293 KLEIN 1883, 142-43. In einer Fußnote (S. 142) verwies Klein auf Poincarés Arbeiten und bemerkte bereits hier: „Die ausgearbeiteten Abhandlungen sollen, wie ich höre, binnen Kurzem in dem neuen Mittag-Leffler’schen Journale erscheinen.“ 294 KLEIN 1883, 206. 295 Ebd.

5.5 Forschungsfelder

249

neuen Functionen mit Erfolg in Angriff genommen, auch versucht, bei gegebenen algebraischen Irrationalitäten zugehörige eindeutige Functionen mit linearen Transformationen in sich durch convergente Processe wirklich herzustellen.“296 Klein wünschte wie bei seinen sonstigen Arbeiten, dass Jüngere das Thema aufgreifen und fortsetzen: Indem ich die Tragweite erörtere, welche unser Fundamentalsatz nach verschiedenen Richtungen hin dürfte beanspruchen können, wünsche ich andere, vielleicht jüngere Mathematiker anzuregen, auf diesem aussichtsreichen Gebiete ihre Kräfte zu versuchen.297

Die Anregungen, die Klein jüngeren Mathematikern gab, werden im Folgenden noch vielfach zur Sprache kommen. Hier sei zunächst bemerkt, dass Klein mit Emil Hilb – als Assistent von Gordan und M. Noether in Erlangen – ab 1907 kooperierte, um seine Fundamentaltheoreme aus der Theorie der automorphen Funktionen auf sein Oszillationstheorem der linearen Differentialgleichungen zurückzuführen.298 Auch für endgültige strenge Beweise seiner Fundamentaltheoreme schuf Klein Voraussetzungen.

5.5.4.4 Bemerkungen zu den Beweisen Robert Fricke urteilte im Jahre 1919: Es musste allerdings erst noch ein Vierteljahrhundert hingehen, bis alle von Klein aufgestellten Theoreme einwurfsfreie Beweise fanden. Die Beweismethoden aus dem Anfang der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts waren noch unzureichend. Erst von 1907 ab gelang es P. Koebe, die Kleinschen Theoreme nach und nach alle streng zu beweisen.299

Da Fricke – kurz nach dem ersten Weltkrieg – nur Paul Koebes strenge Beweise nannte, sei erwähnt, dass Koebe und Poincaré im Jahre 1907 nahezu gleichzeitig (analytische) Beweise publizierten, und dass im Folgenden auch der niederländische Mathematiker Luitzen E. J. Brouwer maßgeblich beteiligt war.300 Als Felix Kleins 60. Geburtstag am 25. April 1909 in Göttingen zelebriert werden sollte, richtete es Hilbert so ein, dass Poincaré vom 22. bis 28. April zu einer Vortragsserie (mit Mitteln der Wolfskehlstiftung) eingeladen wurde301, und zahlreiche weitere Wissenschaftler aus dem In- und Ausland teilnahmen. Bei Anwesenheit Poincarés betonte Hilbert in der an Klein gerichteten Geburtstagsrede auch Poincarés Verdienste: 296 297 298 299 300

KLEIN 1883, 144. Ebd.; KLEIN 1923 GMA III, 632. Klein referierte dazu, unterstützt durch Vermeil, in KLEIN 1923 GMA III, 770-74. FRICKE 1919, 276. In der Vorrede zu FRICKE/KLEIN 1912 sind selbstverständlich Poincarés Beweise für das Grenzkreistheorem genannt. 301 Jahresbericht der DMV, 1909, Mitteilungen, 27; 39; 78-79 (Titel der Vorträge). – Die Zinsen der von Paul Wolfskehl (†1906) verfügten Stiftung von 100.000 Goldmark zur Lösung der Großen Fermatschen Vermutung (https://de.wikipedia.org/wiki/Wolfskehl-Preis) konnten für Vortragsveranstaltungen benutzt werden.

250

5 Professur für Geometrie in Leipzig Wenn ich 2.) ein speziell math.[ematisches] Gebiet auswählen soll, nun wenn wir die Namen Poincaré – Klein zusammen hören, welcher Math.[ematiker] wird da nicht an die automorphen Funktionen erinnert, deren Th.[eorie] P.[oincaré] zuerst begründet, deren reiche Ausgestaltung aber ihr Verdienst ist. Gerade die tiefste Seite, die sie praesagiente animo vorhergesagt und für die sie auch die Beweisideen beigebracht haben. Gerade heute sehen Sie ihrer Vollendung entgegen.302

Die frühen, unvollständigen, auf der Kontinuitätsidee basierenden Beweisansätze von Klein und Poincaré analysierte bereits Erhard SCHOLZ (1980) detailliert. Klein und Poincaré fanden in den 1880er sowohl richtige als auch falsche Teilantworten. Scholz verglich deren Herangehen, das durch noch nicht hinreichend ausgearbeitete topologische Konzepte erschwert worden war, und schlussfolgerte, dass die historische und methodische Bedeutung der Arbeiten „nicht in der gültigen Lösung, sondern in der Stellung von Problemen“ lag.303 Dass dies allgemeiner gilt, deutet das bereits erwähnte Aufgreifen des Gegenstandes durch Hilberts Problem 22 an. Klein unterstützte das Lösen dieses Problems (für zwei Variable), indem er das Thema nicht nur wiederholt in Vorlesungen integrierte304, sondern vier Semester lang gemeinsam mit Hilbert und Minkowski Seminare dazu abhielt, von Winter 1905/06 bis Sommer 1907.305 Im Zentrum dieser Seminare stand die Analyse der Arbeiten von Klein, Poincaré sowie jüngere Ergebnisse von E. Papperitz, R. Fricke, W. Wirtinger, Osgood u.a. Die Mehrzahl der Vorträge hielt Klein selbst; 1906/07 gab es auch Vorträge von Hilbert, Paul Koebe u.a. Koebe hatte 1905 unter H. A. Schwarz in Berlin den Doktortitel erworben und war anschließend nach Göttingen gekommen, wo er sich 1907 habilitieren konnte. Koebe nahm bereits im Sommer 1906 an Kleins Seminar teil und hielt im darauffolgenden Semester am 14. November 1906 seinen ersten Vortrag: „Über die conforme Abbildung der Halbebene auf ein Grenzkreispolygon“.306 Daran schlossen sich Publikationen in den Göttinger Nachrichten und in den Mathematischen Annalen, welche mit analytischen Mitteln geführte Beweise für das Grenzkreistheorem enthielten. Dabei benutzte er einen nach ihm benannten Verzerrungssatz (Viertelsatz).307 Klein wünschte jedoch noch immer, dass gezeigt wird, dass seine ursprüngliche Idee für einen Kontinuitätsbeweis tragfähig ist. Der niederländische Mathe302 Vgl. vollständiger Text der Rede Hilberts in Anhang Nr. 8 zu diesem Buch. 303 SCHOLZ 1980, 215. 304 Vorlesungen über hypergeometrische Funktionen und lineare Differentialgleichungen, vom SS 1890 bis SS 1891, sowie WS 1893-94, SS 1894, SS 1899, beinhalteten den Gegenstand. 305 Referate in [Protokolle] Bd. 23-26. 306 Koebe kam im Vortrag bereits zum Ergebnis: „Hiermit ist nun die Existenz derjenigen Transcendenten bewiesen, deren Kenntnis die Grundlage für die Uniformisierung der Lösung beliebiger linearer hom.[ogener] Differentialgleichungen mit rationalen Funktionen als Coefficienten und lauter reellen Verzweigungspunkten bildet.“ [Protokolle] Bd. 25, 62. 307 Koebe publizierte ab 9.3.1907 vier Arbeiten mit strengen Beweisen für die Uniformisierung reeller algebraischer Kurven und schließlich für beliebige analytische Kurven im Jahrgang 1907 der Göttingen Nachrichten, Math.-physikal. Klasse (177-90, 191-210, 410-14, 633-69), vorgelegt abwechselnd durch Hilbert bzw. Klein. – Poincarés entsprechende Abhandlung ist: „Sur l’uniformisation des fonctions analytiques“. Acta math. 31 (1907) 1-63.

5.5 Forschungsfelder

251

matiker Brouwer308, der seit Band 67 (1909) in den Mathematischen Annalen publizierte, widmete sich dem Gegenstand. Er präsentierte erste Erebnisse im September 1911 auf der DMV-Jahrestagung in Karlsruhe, wo ein spezielles, von Klein eingeleitetes Symposium über die Theorie der automorphen Funktionen stattfand. Zum 21. Mai 1912 wurde Brouwer zu einem Vortrag in die Göttinger Mathematischen Gesellschaft eingeladen. Im Jahresbericht der DMV wurde dazu angekündigt, Brouwer wolle vortragen, wie nach dem Beweis seines Satzes von der Invarianz des Gebietes der Klein-Poincarésche Kontinuitätsbeweis der Existenz linear-polymopher Funktionen auf Riemannschen Flächen mittels seiner Methode der Erweiterung der Modulmannigfaltigkeit einwandfrei durchgeführt werden kann. Neben dem Frickeschen Würfelsatz, der durchweg eine grundlegende Rolle spielt, werden im Grenzkreisfalle die klassischen Resultate von Klein und Poincaré benutzt, während für die übrigen Fälle statt der letzteren eine Idee von Koebe herangezogen wird.309

Scholz analysierte Brouwers Beweisstruktur (sechs Schritte) aus historischer und moderner Sicht. Er zeigte, dass Brouwer den Kontinuitätsbeweis für das Grenzkreistheorem vollständig führen konnte und den logischen Aufbau auch für den komplexen Beweisgang, bis auf den letzten, 6. Schritt, formulierte. Paul Koebe, seit 1911 a.o. Professor in Leipzig, sprach in Karlsruhe ebenfalls und entfachte einen Eklat mit Brouwer. Koebe behauptete, alles würde bereits aus seinen eigenen Ergebnissen zu folgern sein. Er übernahm schließlich doch Brouwers Ansatz und führte damit endültige Kontinuitätsbeweise für alle drei Kleinschen Uniformisierungstheoreme. Damit bestätigte Koebe zugleich, dass Brouwer mit seiner topologischen Formulierung des Beweisgerüsts die Kernstruktur des Beweises getroffen hatte.310 Der Gang der Entwicklung floss in Band II der Automorphen Funktionen (FRICKE/KLEIN 1912) ein. Für Band II der ENCYKLOPÄDIE lieferten Fricke (1913) und Leon Lichtenstein (1918/19) Übersichten über die erreichten Ergebnisse. Lichtenstein erläuterte noch einmal Poincaré’s Methode am einfachen Beispiel und betonte Kleins unterschiedliches Herangehen: „Im Gegensatz zu H. Poincaré sucht F. Klein aus dem Verhalten der Abbildung im Innern der beiden Mannigfaltigkeiten allein zwingende Schlüsse zu ziehen (Methode des offenen Kontinuums). Diese Methode Kleins sah von der Erforschung des Randes der beiden Mengen ab – etwas, was Poincaré als unentbehrlich bezeichnet hatte – und wurde durch Arbeiten Paul Koebes (1912) bestätigt und vollendet.“311 In Band III seiner Gesammelten Abhandlungen integrierte Klein einen detaillierten Bericht über die Monographie zur Theorie der automorphen Funktionen (FRICKE/KLEIN 1897/1912), eingeschlossen einen Kommentar zu den Beweisen, den Klein mit Bessel-Hagen verfasste.312 Sie versuchten zu zeigen, dass sich 308 309 310 311

Vgl. VAN DALEN 2013; MEHRTENS 1990, bes. 257-99. Jahresbericht DMV 21 (1912) Abt. 2, 142. SCHOLZ 1980, 216-22. Lichtenstein, L. (1918/19): „Neuere Entwicklungen der Potentialtheorie. Konforme Abbildungen“. ENCYKLOPÄDIE, Bd. II.3.1, 177-377, hier: 348-51. 312 KLEIN 1923 GMA III, 731-41; 742-47.

252

5 Professur für Geometrie in Leipzig

Kleins erste Ideen zu einem möglichen strengen Beweis für die Fundamentaltheoreme im wesentlichen bestätigten. Es beschäftigte Klein noch immer, dass seine erste Beweisidee durch Poincaré kritisiert worden war und dadurch – wie er meinte – Fortschritte in dieser Richtung lange Zeit (bis 1912) gehemmt worden seien. Klein betrachtete seine Arbeiten zu diesem Themenfeld als seine wichtigsten Ergebnisse, sodass er anlässlich der Feier seines 50-jähigen Doktorjubiläums Koebe zum Hauptredner erwählte (vgl. dazu auch 9.2.3).313 Hilberts Problem 22 für mehr als zwei Variable ist bis heute nicht vollständig geklärt. 5.5.5 Polemik um und mit Lazarus Fuchs Weil Poincaré die von ihm entwickelte Funktionenklasse nach Lazarus Fuchs benannt hatte, brach Klein darüber eine heftige Polemik vom Zaune. Das Thema ist bereits detailliert untersucht worden.314 Der Rahmen muss hier angedeutet werden, weil manche nachfolgenden Vorgänge in Kleins Biographie nur zu verstehen sind, wenn der Ausgangspunkt für den Zwist mit Fuchs bekannt ist. Poincaré war auf anderem Wege als Klein zu Ergebnissen über die besagte Funktionenklasse gelangt. Ihn hatten Differentialgleichungen inspiriert, die Lazarus Fuchs betrachtet hatte.315 Poincaré besaß Fuchs’ Einverständnis, um ihn mit dem Begriff fonctions fuchsiennes zu ehren. Klein beging den Fehler, nicht zu erkennen bzw. nicht sofort anzuerkennen, dass auch ein rein analytischer Ausgangspunkt zu Resultaten führen konnte, die er selbst mittels geometrischer Ansätze erzielt hatte. Er sah sich offensichtlich eines Forschungsfeldes, aus Riemanns geometrischem Ansatz entstanden, beraubt und falsch zugeordnet. So setzte Klein, um seine eigene Priorität besorgt, den ungeometrischen, mit Fehlern behafteten Lazarus Fuchs herab. Er schrieb am 19. Juni 1881 an Poincaré: Die Benennung „fonctions fuchsiennes“ weise ich zurück, so gut ich verstehe, dass Sie durch Fuchssche Arbeiten zu diesen Ideen mit veranlaßt wurden. Im Grunde basieren alle solche Untersuchungen auf Riemann. Für meine eigene Entwickelung war die eng verwandte Betrachtung von Schwarz […] von maßgebender Bedeutung. Die Arbeit von Herrn Dedekind über elliptische Modulfunktionen in Borchardts Journal Bd. 83 erschien erst, als ich über die geometrischen Repräsentation der Modulfunktionen bereits klar war (Herbst 1877). Zu diesen Arbeiten stehen die von Fuchs vermöge ihrer ungeometrischen Form in bewusstem Gegensatze. Ich bestreite nicht die großen Verdienste, welche Herr Fuchs um andere Teile der Lehre von den Differentialgleichungen hat, aber gerade hier lassen seine Arbeiten um so mehr in Stich, als das einzige Mal, wo er in einem Briefe an Hermite die elliptischen Modulfunktionen erläuterte (Borchardts Journal Bd. 83 [1876/77]) […] ein fundamentaler Fehler unterlief, den dann Dedekind nur zu sanft monierte.316

313 314 315 316

Zu weiteren Entwicklungen vgl. auch PATTERSON 1997. Vgl. GRAY 1984; 2008; 2013; ROWE 1992; 2018a, 111-33. Vgl. GRAY 2013, 207-24; SCHOLZ 1980, 180-81, 198-99, 357-59. Klein an Poincaré, 19.6.1881 in KLEIN 1923 GMA III, 591-92. – Dedekind, R.: „Schreiben an Herrn Borchardt über die Theorie der elliptischen Modul-Functionen“. Crelle-Journal 83

5.5 Forschungsfelder

253

Als Klein Poincaré am 4. Dezember 1881 vorschlug, seine Ergebnisse in den Mathematischen Annalen zu präsentieren, kündigte er ihm gleichzeitig an, eine Anmerkung anfügen zu wollen, „in welcher ich darlegte, wie sich von mir aus die ganze Sache stellt, und wie gerade das Programm, welches Sie jetzt ausführen, als hodegetisches Prinzip meinen Arbeiten über Modulfunktionen zugrunde lag.“ Klein ergänzte: „Natürlich würde ich diese Anmerkung Ihnen vor dem Druck zur Begutachtung zustellen.“317 Poincaré hatte mit Brief vom 8. Dezember zugestimmt. Daraufhin wurde rasch gedruckt. Klein sandte am 13. Januar 1882 die Korrekturbogen und erläuterte Poincaré, dass er in der genannten Anmerkung „gegen die beiden Benennungen ‚fuchsiennes’ und ‚kleinéenes’ protestiere, bezüglich letzterer Schottky zitiere und übrigens Riemann als denjenigen bezeichne, auf den alle diese Untersuchungen zurückgehen.“318 Poincaré hatte zwar Kleins Anmerkung zugestimmt, wollte jedoch bei den einmal benutzten Begriffen bleiben. Er sprach in seinem Annalen-Artikel von Fuchsschen Gruppen: « 2. Je vais chercher d’abord à former tous les groupes discontinus formés de substitutions Si où les coëfficients α i, βi , γi , δi sont réels. Je les appelle groupes Fuchsiennes »; von Kleinschen Gruppen: « Reste à examiner le cas le plus général, celui où l’on ne fait aucune hypothèse sur les substitutions Si. Dans ce cas il y a encore des groupes discontinus que j’ai appelés Kleinéens et dont j’ai démontré l’existence et étudié le monde de génération par des procédés empruntés à la géométrie non-euclidienne à trois dimensions »; und außerdem von Fuchsschen und Kleinschen Funktionen bzw. Thetafunktionen: « ϴ (ζ) s’appellera une fonction théta-fuchsienne ou thétakleinéenne selon que le groupe correspondant sera Fuchsien ou Kleinéen. » Poincaré definierte Eigenschaften dieser Funktionen und formulierte noch: « Nous appellerons fonction Fuchsienne (ou Kleinéenne) toute fonction jouisant [sic!] de ces deux propriétés. »319 Klein dankte in seiner Anmerkung Poincaré für den Artikel und betonte die besondere Rolle der „[…] Funktionen, welche geeignet scheinen, in der Lehre von den algebraischen Irrationalitäten den Abel’schen Functionen erfolgreiche Concurrenz zu machen, und die überdies einen ganz neuen Einblick in diejenigen Abhängigkeiten gewähren, welche durch lineare Differentialgleichungen mit algebraischen Coëfficienten bestimmt sind.“ Danach begründete Klein, warum er die nach Fuchs und Klein benannten Begriffe als verfrüht betrachtete: Einmal nämlich bewegen sich alle die Untersuchungen, welche Hr. Schwarz und ich in der betreffenden Richtung bislang veröffentlicht haben, auf dem Gebiete der „fonctions fuchsiennes“, über die Hr. Fuchs selbst nirgends publicirt hat. Andererseits habe ich über die allge(1877) 265-92. S. 286-87 erklärte Dedekind einen Irrtum von Fuchs, meinte jedoch, dass dies nicht wesentlich sei für den Hauptgegenstand von Fuchs’ sehr interessanter Abhandlung. Heinrich Weber, der eigene Probleme mit Fuchs hatte, hatte dazu in einem Brief an Dedekind (16.6.1877) kommentiert, dass dieser sehr anständig mit Fuchs umgegangen sei und dass Kleins Arbeit sehr interessant zu sein scheint. Vgl. SCHEEL 2014, 169. 317 Klein an Poincaré, 4.12.1881, KLEIN 1923 GMA III, 602; hodegetisch [griech.] wegweisend. 318 Klein an Poincaré, 13.1.1882, in KLEIN 1923 GMA III, 605. 319 Poincaré. H. (1882): « Sur les Fonctiones Uniformes que se reproduisent par des Substitutions Linéaires ». Math. Ann. 19, 553-64, Zitate 554, 557, 558.

254

5 Professur für Geometrie in Leipzig meineren Functionen, welche Hr. Poincaré mit meinem Namen in Verbindung bringt, von mir aus bisher nichts drucken lassen; ich habe nur gelegentlich Herrn Poincaré auf die Existenz dieser Functionen aufmerksam gemacht. […]320

Lazarus Fuchs fühlte sich durch den Satz, dass er nichts zu fonctions fuchsiennes publiziert habe, angegriffen und reagierte unmittelbar. In einer kurzen Note „Ueber Functionen, welche durch lineare Substitutionen unverändert bleiben“ wies er Kleins Satz zurück, führte zwei eigene Arbeiten an und betonte, dass Klein in einer früheren Arbeit seine Ergebnisse genutzt habe.321 Klein, von Fuchs’ Angriff überrascht, informierte Hurwitz: „Fuchs hat in den Göttinger Nachrichten vom 4. März eine Note gegen mich gerichtet.“322 Umgekehrt teilte Hurwitz mit: „Prof. Fuchs würde es gewiss sehr unangenehm berührt haben, dass ich ihn in meiner Dissertation nicht citirt habe. Ich konnte Nichts erwidern, als dass ich damals die Arbeit von Fuchs nicht eingehend studirt habe und dass sie deshalb ohne Einfluß auf meinen Ideengang geblieben sei.“323 Kurz darauf erklärte Poincaré noch einmal seine Bezeichnungen, was Klein als Brief (28.3.1882) an die Leser der Mathematischen Annalen aufnahm.324 Zugleich rückte Klein Fuchs’ Argumente in einem persönlichen Brief an Poincaré zurecht: Ich habe nur behauptet, daß Fuchs nirgend über „fonctions fuchsiennes“ publiziert habe. Hiernach ist die zweite der von ihm angezogenen Arbeiten (die ich mir übrigens zwecks näheren Studiums hierher kommen lassen werde) gegenstandslos. Die erste subsumiert sich allerdings unter die „fonctions fuchsiennes“, insofern es sich um Modulfunktionen handelt, aber gerade den eigentlichen Charakter der letzteren, der in der Natur der singulären Linie liegt, hat Fuchs, bei seinem Mangel an geometrischer Anschauung, nicht richtig erkannt, wie bereits Dedekind in Bd. 83 von Borchardts Journal (1877) hervorgehoben hat. Was endlich die Insinuation gegen Schluß der Note betrifft, als sei ich wesentlich durch Fuchs’ eigene Untersuchungen zu meinen veranlasst worden, so ist das historisch einfach unrichtig. Meine Untersuchungen beginnen 1874 mit der Bestimmung aller endlichen Gruppen linearer Transformationen einer Veränderlichen. Im Jahre 1876 zeigte ich sodann, dass damit das von Fuchs damals aufgeworfene Problem, alle algebraisch integrierbaren linearen Differentialgleichungen zweiter Ordnung zu bestimmen, eo ipso erledigt sei. Die Sache ist also gerade umgekehrt, wie Fuchs angibt. Nicht seiner Arbeit entnahm ich die Ideen, sondern ich zeigte, daß sein Thema mit meinen Ideen behandelt werden müsse.325

Außerdem reagierte Klein in seinen Neuen Beiträgen mit einer langen Fußnote. Er bezeichnete Fuchs’ Entwicklungen als „unbestimmte Ideen“, „weil die Resultate, die Herr Fuchs allerdings in sehr bestimmter Form ausspricht, als solche unrichtig sind. Es liegt überall die Verwechselung der unverzweigten und der eindeutigen Functionen vor.“ Klein schrieb noch detailliert zu Fuchs’ Arbeit in den Göttinger Nachrichten und merkte an: „So wenig persönliche Discussionen im Allgemeinen

320 321 322 323 324

Math. Ann. 19 (1882) 564. Göttinger Nachrichten 1882, 81-84. [UBG] Math. Ach. 77: 67, Postkarte Klein an Hurwitz. [UBG] Math. Ach. 77: 911/3. Hurwitz an Klein, Brief v. 15.3.1882. Poincaré, H. (1882): « Sur le Fonctions Uniformes qui se reproduisent par des Substitutions Linéaires ». Math. Ann. 20, 52-53. 325 Klein an Poincaré, 3.4.1882, in KLEIN 1923 GMA III, 608.

5.5 Forschungsfelder

255

nützlich sind, so glaube ich hier mit einigen Zeilen antworten zu sollen.“326 Diese Polemik sollte noch bei der Göttinger Berufungsangelegenheit auf den Tisch gebracht werden (vgl. Abschnitt 5.8.2). Beim Wiederabdruck seiner Arbeit Neue Beiträge in den Gesammelten Abhandlungen (Bd. III) verzichtete Klein allerdings auf die polemische Fußnote. Seine Vorbemerkungen enthalten gar Positives über Fuchs’ Arbeit, die Poincaré auf die Modulfunktionen gelenkt hatte.327 Zunächst aber blieben die Differenzen. In Seminaren und Vorlesungen sollte Klein Arbeiten von Fuchs wiederholt kritisch beleuchten bzw. von Teilnehmern unter die Lupe nehmen lassen (vgl. zu Gerbaldis Analyse in 5.4.2.3; eine Analyse von Haskell am 31.7.1886328). Hurwitz schrieb am 6. April 1882 an Klein: Was Herrn Fuchs angeht, so hat ihn gewiß Ihre Note zu Poincaré’s Arbeit in Harnisch gesetzt: es macht ihn empfindlich, dass Sie singen: „Fuchs, Du hast die Function gestohlen, gieb sie wieder her!“ Wir haben das schon auf der Schule gesungen […] Das Resultat Ihrer letzten Note stellt übrigens Alles Frühere in [den] Schatten.329

Wenige Jahre später sollte Hurwitz Fuchs einen gravierenderen Fehler nachweisen (vgl. Abschnitt 6.4.3 und Anhang Nr. 5). Sophus Lie, der meinte – wie oben schon zitiert – Klein habe Fuchs Wahrheiten gesagt, kommentierte noch einmal: Gelegentlich erzählst Du mir vielleicht ob Fuchs Dir auf Deine letzten Bemerkungen geantwortet hat und wo. Ich zweifele nicht dass die Mathematiker Deine so wesentlichen Vorarbeiten zu Poincarés Entdeckungen nach Verdienste würdigen werden. In allen Deinen Schülern hast Du eine Armee, die eine grosse Macht repräsentirt.330

Mit der Bemerkung zu Kleins Schülern hatte Sophus Lie einen maßgeblichen Punkt getroffen. Klein lebte resp. arbeitete mit und für seine Schüler. In Beiträge zur Riemann’schen Functionentheorie hatte er nicht versäumt, Arbeiten von Dyck, Gierster, Hurwitz hervorzuheben. Hurwitz schrieb aus Göttingen: Ihre „Beiträge zur Riemann’schen Functionentheorie“, für deren Übermittlung ich Ihnen herzlich danke, haben in mir eine Art moralischer Verzweiflung hervorgerufen, da ich fühle, dass ich nicht so mit vorwärts gegangen bin, wie es hätte sein müssen. Wie sehr ich die anregenden Stunden vermisse, welche ich bei Ihnen verleben durfte, kann ich gar nicht sagen; das Besessene schätzt man in seinem wahren Werthe doch erst dann, wenn man es verloren hat.331

Hurwitz sollte danach als Privatdozent in Göttingen wie als Extraordinarius in Königsberg umso mehr an Kleins Programm mitarbeiten, mit eigenen Arbeiten, beratend, begutachtend und auch kritisch auf Lazarus Fuchs blickend. Die weiter forcierte Polemik mit Fuchs war jedoch kaum vernünftig und sollte Klein mehr schaden als nützen – wie Lie irrtümlich meinte.332 326 Math. Ann. 21 (1883) 214-16. 327 Vgl. KLEIN 1923 GMA III, 580. 328 [Protokolle] Bd. 8, 79-81; M. W. Haskell analysierte Fuchs, L.: „Zur Theorie der linearen Differentialgleichungen mit veränderlichen Coefficienten“. Crelle-Journal 66 (1866) 121-60. 329 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 913. – Hurwitz meinte Kleins Artikel zum Grenzkreistheorem. 330 Ebd., 10: 687, Lie an Klein, o.D., ca. Ende 1882/Anfang 1883. 331 Ebd., 9: 936, Hurwitz an Klein, 31.12.1882. 332 Ebd., 692, Lie an Klein, Brief o.D.

256

5 Professur für Geometrie in Leipzig

5.5.6 Das Ikosaederbuch Während Klein Adolf Hurwitz zu weiterer Arbeit anspornte, wandte er sich selbst wieder dem in der Antrittsrede von 1880 anvisierten Lehrbuchprogramm zu. Hurwitz erfuhr als einer der Ersten davon, als er Ostern 1883 bei Kleins Familie in Leipzig verbrachte. Nach Semesterbeginn informierte Klein: Ich lese seit Anfang der Woche über Gleichungen 5. Grades, um am 15. Juni zu schliessen und wahrscheinlich nach Spiekeroog zu gehen.333

Klein fuhr mit Frau und Sohn Otto auf die genannte ostfriesische Insel; Tochter Luise blieb bei Tante Sophie Hegel. Anfang August 1883 wechselten sie nach Grafenberg bei Düsseldorf, wo Klein weiter am Ikosaederbuch schrieb. Er setzte dies in der Obhut seiner Eltern in Düsseldorf bis Anfang Oktober 1883 fort, während seine Frau mit dem erkrankten Otto (Diphtheritis) nach Leipzig zurückkehrte. Die redaktionelle Tätigkeit für das Buch dauerte länger als gedacht. Klein verkündete Hurwitz am 28. März 1884: „Ich sitze concentrirt über der Redaction meines Buches und hoffe, in den Ferien glücklich fertig zu werden, kann es aber nicht versprechen.“334 Am 20. Juni 1884 berichtete Klein schließlich: Von hier wenig Neues. Mein Buch über Modulfunctionen liegt in weiter Ferne. Dagegen ist mein Buch über das Ikosaeder bis auf Kleinigkeiten fertig gedruckt; es kommt in ein paar Wochen heraus. Ich habe bei alle Dem das schlechte Gewissen, als „ginge ich zurück“, was ich heute Nacht lebhaft geträumt habe.335

Wir sehen, Klein dachte bereits an das nächste Buch, war jedoch unzufrieden damit, nur Altes zusammenzufassen und nichts Neues zu produzieren. Umso mehr drängte er Hurwitz zu weiterer Produktion. Dieser meldete aus Königsberg neue Ergebnisse und auch den Empfang des Ikosaederbuches: Gerade war ich mit den Vorbereitungen zur Reise beschäftigt als ich Ihr Buch über das Ikosaeder und meine Arbeit betreffende Empfangsanzeige erhielt. Nehmen Sie meinen herzlichsten Dank für Ihr Buch, welches mich auf meinen Reisen begleitet und dessen Studium mir den größten Genuß bereitet. Hier sind zwei unserer besten Studenten aus Königsberg, welche ich gleich mit Ihrem Buch bekannt gemacht habe. Der eine von ihnen, Herr Hilbert, hat gerade seine Dissertation „Über Kugelfunctionen vom Standpuncte der Invariantentheorie betrachtet“ vollendet; derselbe ist ein ganz wüthender Invarianten-Mensch, er hat die Absicht nach dem Doctorexamen auf ein Jahr nach Leipzig zu gehen um Ihre Anregung zu genießen; er ist ein hitziger, speculativer Kopf und wird Ihnen als solcher gewiß gut gefallen.336

Die erwähnten besten Studenten, Hilbert und Minkowski, studierten das Buch. Hilbert hob Kleins Verweis auf die breite Anwendbarkeit des Problems der regulären Polyeder noch 1900 hervor (HILBERT 1900, 256). Sophus Lie schrieb an Klein: „Dein Buch über das Ikosaeder habe ich empfangen, wie ich Dir schrieb. Ich fühle mich sehr geschmeichelt, dass Du mich in so ehrenvoller Weise in der 333 334 335 336

[UBG] Math. Archiv 77: 94, Klein an Hurwitz, Postkarte v. 28.4.1883. Ebd. 101 ( Brief v. 7.8.1883); 119 (28.3.1884). [UBG] Math. Archiv 77: 116, Klein an Hurwitz, Brief v. 20.6.1882. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 968, Hurwitz an Klein, 4.8.1884.

5.5 Forschungsfelder

257

Vorrede genannt hast. Allerdings fühle ich recht gut, dass ich es nur halb verdient habe.“337 Klein hatte Lie für den gemeinsamen Gedanken gedankt, „solche geometrische oder analytische Gebilde in Betracht zu ziehen, welche durch Gruppen von Aenderungen in sich selbst transformirt werden.“338 Lie erklärte seine eigene Reserviertheit gegenüber Danksagungen wie folgt: Ich schäm mich, dass ich Dich in meinen letzten Arbeiten nur mit einer gewissen Reservation citire. Ich habe indess gelernt, dass ich vorsichtig sein muss. Denn wenn ich jemand unbedingt citire, so glaubt man, dass der Andere Alles gemacht hat. Ich verstehe nicht worin es liegt. Wahrscheinlicherweise darin, dass man ohne weiter[es] voraussetzt[,] dass meine Ideen mit meiner Redactionsfähigkeit proportional sind.339

Sophus Lie bezeichnete Kleins Ikosaederbuch als „sehr schön geschrieben“, meinte, dadurch wieder in Kleins Ideen hineinzukommen. Lie übernahm den von Klein eingeführten Begriff isomorph, wofür er zunächst gleichzusammengesetzt benutzt hatte.340 Zugleich fühlte sich Lie durch Kleins Buch angeregt, mit „Engels Hülfe“ Zukunftspläne für eigene Buchprojekte zu schmieden, seine „sämmtlichen Untersuchungen über Transformationsgruppen zu einem Werke zu vereinigen“.341 Klein begann seine Vorrede zum Buch Vorlesungen über das Ikosaeder und die Auflösung der Gleichungen vom fünften Grade wie folgt: Die Theorie des Ikosaeders hat in den letzten Jahren für fast alle Gebiet der modernen Analysis eine solche Bedeutung gewonnen, dass es nützlich schien, eine zusammenhängende Darstellung derselben zu veröffentlichen. Erweist sich dieselbe als brauchbar, so denke ich in gleicher Richtung weiter zu gehen und die Lehre von den elliptischen Modulfunctionen sowie die allgemeinen Untersuchungen über eindeutige Functionen mit linearen Transformationen in sich, wie sie in neuester Zeit entstanden sind, in ähnlichem Sinne zu bearbeiten. Es würde auf solche Art ein mehrbändiges Werk entstehen, von welchem ich eine Förderung der Wissenschaft jedenfalls insofern erwarte, als es Vielen den Zugang zu aussichtsreichen Gebieten der neueren Mathematik eröffnen kann.342

Das Ikosaeder-Buch umfasst zwei Hauptabschnitte. Im Ersten wird die Theorie des Ikosaeders präsentiert. Der Zweite zielt auf den (konstruktiven) Nachweis, dass die Lösung einer beliebigen Gleichung fünften Grades (mit komplexen Koeffizienten) auf die Lösung einer Ikosaedergleichung reduziert werden kann. Kleins Hauptziel bestand darin, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts entstandenen Theorien über die Gleichungen fünften Grades zu systematisieren, die mit der Konstruktion transzendentaler Lösungen geschaffen worden waren. Mit diesem Lehrbuch wollte er die Hilfsmittel bereitstellen, die er selbst auf dem Wege zur Rückführung der Gleichung 5. Grades auf eine Ikosaedergleichung benötigte: Geometrische, algebraische, funktionentheoretische Methoden; die platonischen (regulären) Körper und die Gruppentheorie, die Riemannsche Zahlenkugel, An337 338 339 340 341 342

[UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 704, Lie an Klein, 1884. (o.D.) KLEIN 1884, Vorrede, IV. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 704, Lie an Klein, 1884. (o.D.) Ebd. – Aus dem Griechischen: von gleicher Gestalt, ίσος = gleich; μορφή = Gestalt. Ebd., 704 und 706/1 (o.D., Ende 1884), mit detailliertem Plan zum Buchinhalt. KLEIN 1884, III (Vorrede, datiert 24. Mai 1884).

258

5 Professur für Geometrie in Leipzig

sätze aus der Theorie der Differentialgleichungen, Reihenentwicklungen, Gleichungstheorie; alle historischen Beiträge zur Theorie der Gleichungen fünften Grades, einschließlich Paul Gordans algebraische Ansätze und deren geometrische Deutung, Ergebnisse von Brioschi, von Jacobi, Hermite, Kronecker u.a. Das Buch kulminiert im Beweis des Kroneckerschen Satzes, der Klein im November 1876 gelungen war (vgl. 4.2.1). Im Ikosaeder-Buch ist der Satz nun so formuliert, „dass es bei beliebig vorgegebener Gleichung fünften Grades auch nach Adjunction der Quadratwurzel aus der Discriminante unmöglich ist, eine rationale Resolvente zu bilden, welche nur einen Parameter enthielte.“343 Dass ihm dieser Beweis gelungen war, war Klein noch 1905 wichtig, als er in seinem einzigen Aufsatz im Crelle-Journal (vgl. 2.5.1) auf das Thema zurückkam. Klein nutzte diese Gelegenheit, um seine Ansicht vom nicht notwendigen Zusammenfallen des Auffindens und des Beweisens von Sätzen zu formulieren: Es ergab sich, daß Kronecker bei seinen Untersuchungen die Ikosaedersubstitutionen, denen er doch so nahe gekommen war, nicht gekannt und dementsprechend für seinen Hauptsatz keinen ausreichenden Beweis gefunden hatte! Es ist dies, wie ich meine, eine auch unter allgemeinen Gesichtspunkten sehr bemerkenswerte Tatsache. Denn sie bestätigt an einem besonders interessanten Falle, was Gauß so oft hervorhebt: daß die Auffindung wichtigster mathematischer Theoreme vielmehr Sache der Intuition als der Deduktion ist und daß die Herstellung der Beweise ein von der Auffindung der Theoreme sehr verschiedenes Geschäft ist. Ich bin später mit Kronecker auf den Gegenstand nie zurückgekommen, hörte aber vor einigen Jahren, daß Kronecker nach dem Erscheinen meines „Ikosaederbuches“ in einem Kolleg über die Auflösung der Gleichungen fünften Grades zur Ikosaedertheorie Stellung genommen habe.344

Das zitat stammt aus Kleins Aufsatz von 1905 (Über die Auflösung der allgemeinen Gleichungen fünften und sechsten Grades). Dort ordnete er seine Resultate in die nachfolgenden Entwicklungen ein und hob insbesondere einen von Gordan geführten neuen Beweis (1887) des Satzes von Kronecker sowie Ergebnisse von Jordan, Wiman und Valentiner hervor. Aus Letzteren, der Valentiner-WimanGruppe gewann Klein selbst wiederum neue Ergebnisse, indem er sie mit der Theorie der ebenen Kurven dritter Ordnung verknüpfte.345 Als Klein später auf das Thema zurückkam, betonte er noch einmal, dass Kronecker zuerst den Pfad gefunden habe, kritisierte aber dessen prinzipielle Haltung gegenüber neuen Theorien. Dabei stellte Klein rhetorische Fragen und demonstrierte seine eigene Aufgeschlossenheit gegenüber Neuem: Soll man, wo sich neue Erscheinungen (also hier die Leistungsfähigkeit der akzessorischen Irrationalitäten) darbieten, zugunsten einer einmal gefaßten systematischen Ideenbildung die Weiterentwicklung abschneiden, oder vielmehr das systematische Denken als zu eng zurückschieben und den neuen Problemen unbefangen nachgehen? Soll man Dogmatiker sein oder wie ein Naturforscher bemüht sein, aus den Dingen selbst immer neu zu lernen?346

343 344 345 346

KLEIN 1884, 258; SLODOWY 1993, 258. KLEIN 1922 GMA II, 491; Klein über Kroneckers Herangehen vgl. ausführlicher 503-04. Vgl. ebd., 495-502. Ebd., 504.

5.5 Forschungsfelder

259

Das Thema des Ikosaeders blieb für Klein nicht nur rückwärtsgewandt. So entwickelte Otto Fischer mit seiner Dissertation Konforme Abbildung sphärischer Dreiecke auf einander mittelst algebraischer Funktionen (24.11.1884) „vielseitige Methoden, um das Elementardreieck des Ikosaeders auf die anderen von den Symmetriebögen derselben Konfiguration umgrenzten sphärischen Dreiecke konform abzubilden, was jedes Mal mit Hilfe algebraischer Funktionen gelingen muß.“347 Fischer löste damit eine von Klein formulierte Aufgabe und korrigierte einen von Cayley entdeckten Rechenfehler Kleins. Fischers Methoden für die Behandlung der zum Ikosaeder gehörigen hypergeometrischen Funktionen bezeichnete Klein noch später als von allgemeiner Bedeutung.348 Mit der Übersetzung Lectures on the Ikosahedron and the solution of equations of the fifth degree (London: Trübner & Co., Ludgate Hill, 1888), die George Gavin Morrice aus Weymouth (England), Mitglied der London Mathematical Society, besorgte,349 zeigte sich Klein noch 1891 wenig zufrieden350, wenn auch Cayley bei technischen Begriffen geholfen und Morrice sich auf ein detailliertes Review von Frank Nelson Cole (Doktorschüler Kleins) gestützt hatte.351 Im Ikosaeder-Buch sind Begriffe enthalten, die später nach Klein benannt wurden, wie die Kleinsche Vierergruppe (Kap. I, § 5) oder das Kleinsche Formenproblem. An Letzteres knüpfte Richard BRAUER 1935 an und zeigte mit Hilfe der Theorie der hyperkomplexen Größen, dass sich Kleins Formenproblem allgemein behandeln lässt. Wenn eine endliche Gruppe G von linearen Transformationen oder allgemeiner von Kollineationen gegeben ist, so wurde unter einem Kleinschen Formenproblem zu G die Aufgabe verstanden, die Koordinaten eines n-dimensionalen Punktes zu berechnen, wenn für ihn die Werte der Invarianten von G bekannt sind. Die Hauptaufgabe bestand darin zu untersuchen, welche Gleichungen auf ein Formenproblem zu einer gegebenen Gruppe G zurückgeführt werden konnten. Bei Klein handelte es sich um die Frage, ob jede Gleichung 5. Grades auf eine Ikosaedergleichung zurückgeführt werden kann. Die Antwort ist leicht für eine Gruppe ganzer linearer homogener Transformationen. Der für Anwendungen interessante Fall einer Gruppe von gebrochen linearen Transformationen war weniger einfach. Hierbei gelang Klein die Rückführung der Gleichung 5. Grades auf eine Ikosaedergleichung nur, indem er zum Grundkörper eine Irrationalität hinzufügte, die sich nicht als rationale Funktion der Wurzeln der Gleichung mit Koeffizienten aus dem Grundkörper darstellen lässt. Vor Brauers neuem Herangehen wurden Beweise nur für spezielle Fälle geführt. Gert-Martin Greuel hob hervor, dass Kleins Arbeiten die Singularitätenforschung wesentlich anregten, da er im Zusammenhang mit seinen Arbeiten zur Auflösung der Gleichung 5. Grades die Gleichungen einfacher Singularitäten ent347 348 349 350

KLEIN 1923 GMA III, 282. Ebd., 63; und KLEIN 1922 GMA II, 317, 346, 582. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 1317 (Morrice an Klein, 24.2.1888). [UA Braunschweig] Klein an Fricke, 14.12.1891 (Er dachte deshalb an Fabian Franklin als Übersetzer für das nächste Buch, das jedoch nicht übersetzt wurde.) 351 Vgl. American Journal of Mathematics, Vol. ix (1886), No. 1, 45-61. – Morrice entlehnte daraus z.B. den Begriff „self-conjugate subgroup“ für ausgezeichnete Untergruppe.

260

5 Professur für Geometrie in Leipzig

deckt hatte (als Invarianten endlicher Untergruppen). Derartige Singularitäten wären für verschiedene Bereiche der Mathematik grundlegend geworden. Greuels Darstellung zur „Deformation und Klassifikation von Singularitäten und Moduln“ zitiert aus Kleins Ikosaeder-Buch, enthält eine Übersicht auch über die einfachen Singularitäten, erhellt den Ansatz von Peter Kronheimer, direkte Beziehungen zwischen einfachen Lie-Gruppen und endlichen Kleinschen Gruppen zu zeigen.352 Als Peter SLODOWY (1993) Kleins Werk mit Kommentaren versehen neu edierte, verwies er auf die ungebrochene Aktualität von „Ikosaeder-Mathematik“, in der die Geometrie und Symmetrie des Ikosaeders und der anderen regulären Polyeder maßgeblich sind. Er nannte in seinem Vorwort eine Vielzahl daraus resultierender Zweige mathematischen Forschens. Zugleich beurteilte er Kleins Ziele, Herangehen und Entwicklungsstand der Darlegungen vom Standpunkt des modernen Mathematikers. Slodowy sah Kleins Buch als einen „Steinbruch“, in dem der aktuelle Mathematiker noch manche Schätze würde finden können.353 5.5.7 Ein Buch zur Theorie der elliptischen Modulfunktionen Das Vorwort zum Ikosaderbuch war noch nicht geschrieben, als Klein im Sommer 1884 schon an das nächste Buch dachte. Er informierte Hurwitz: Ich habe mir heute eine grosse Disposition für das zu schreibende Buch über Modulfunctionen gemacht. Ob ich das je fertig bekomme? Es fehlt da in theoretischer Hinsicht noch sehr. Aber auch abgesehen davon ist das Bücherschreiben eine grosse Arbeit, die mir aeusserst unangenehm ist. Ich zwinge mich dazu, weil ich es im Augenblicke für das Nützlichste halte, was ich thun kann.354

Dieses zweite Buch, das mit KLEIN/FRICKE (1890/92) vollendet werden sollte, besitzt eine bemerkenswerte, z.T. unbekannte Vorgeschichte. Hierzu gehört, dass Kleins in München liegende Ansätze theoretisch ergänzt werden mussten und dass er einen geeigneten „Redakteur“ suchte, denn er wollte nicht mehr selbst schreiben. Es ist aus dem Endprodukt nicht ersichtlich, dass Klein in Leipzig schon einen anderen Kandidaten in dieser Position erprobte.

5.5.7.1 Ergänzung des Theoretischen Mit Vorlesungen im Winter 1883/84, im Sommer 1884 und Seminarvorträgen im November, Dezember 1884 und Januar 1885355 bereitete Klein das Thema elliptische Modulfunktionen auf und präsentierte Berichte bei der Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften. Die Korrespondenz mit Adolf Hurwitz zeigt, wie er und weitere Schüler Kleins zum Ergänzen des Theoretischen beitrugen. 352 353 354 355

GREUEL 1992, 178, 185-87. SLODOWY 1993, viii. [UBG] Math. Archiv 77: 115, Klein an Hurwitz, Brief v. 3.6.1884. Vgl. [Protokolle] Bd. 6, 155.

5.5 Forschungsfelder

261

Hurwitz selbst war an der weiteren Kooperation mit seinem Doktorvater interessiert. Als Privatdozent in Göttingen vermisste er die bisherige anregende Zusammenarbeit. So berichtete er regelmäßig an Klein und folgte bereitwillig dessen wiederholten Vorschlägen für gemeinsame Treffen: „[…] eine Besprechung mit Ihnen gehört immer zu meinen liebsten Wünschen“.356 Hurwitz half, die Theorie zu vervollständigen, fehlende Beweise zu ergänzen. So hatte er z.B. bereits am 14. September 1883 neue Beweisideen gemeldet und geurteilt: „Sie sehen hieraus, dass Ihre Theorie der Modularcorrespondenzen durch Einführung der Weierstraß’ schen E-Function nach einer bestimmten Seite nicht unwesentlich vervollständigt wird.“357 Kleins Antwort drückte noch Skepsis bezüglich des Benutzens der Weierstraßschen Primfunctionen in allgemeinerem Kontext aus: Auf Ihren Brief reagire ich sofort, obgleich ich nicht viel zu sagen habe. Die Frage ist offenbar, ob nicht bloss in der Theorie der Modulfunctionen sondern überhaupt in der Lehre von den algebraischen Gebilden ein wirklicher Fortschritt durch Einführung der Primfunctionen erreicht ist. Ich muss gestehen, dass ich bisher daran gezweifelt habe, dass ich glaubte, die Primfunction sei nur der Ausdruck für eine gewisse Formulirung der schon früher wohlbekannten Theorie. Ich hielt, wenn ich mich noch schärfer ausdrücken soll, die Aeusserung von Kr.[onecker]: man müsse jetzt eigentlich die algebraischen F.[unctionen] verlassen und sich nur mit den Primfunctionen beschäftigen, für eine Phrase. Ich werde mich gern vom Gegentheil überzeugen lassen. Bringen Sie mir eine Classenrelation, die sich anderweitig nicht mit gleicher Leichtigkeit ableiten lässt, so bin ich überzeugt.358

Sie einigten sich mit Kleins Satz: „Das eigentliche Instrument, mit dem man arbeiten muss, ist und bleibt das Abel’sche Theorem.“359 Hurwitz bearbeitete das Themenfeld Modularcorrespondenzen weiter. Klein rechnete fest mit den Ergebnissen für sein geplantes Buch, für welches er vorsah: „Ein planmäßiges Studium der Moduln n-Stufe müsste den Abschluss meines projectirten Werkes bilden.“360 Klein schlug wiederholt vor, was Hurwitz weiterhin untersuchen könnte, z.B.: „Was die Moduln nter Stufe angeht, so versuchen Sie doch, sich geeignete Moduln aus den Theilwerthen der σ-Function zusammenzusetzen […].“ Es folgten längere Ausführungen zu den Moduln verschiedener Stufen. Im Ostseeurlaub 1884 redigierte Klein eine eigene kleine Arbeit, in welcher er „alte Resultate über die n-gliedrigen σ-Producte“ zusammenstellte.361 Er begann, weitere seiner älteren Arbeiten noch einmal aufgefrischt für die Mathematischen Annalen vorzubereiten und feilte wiederholt an der Disposition zum Buch. Erneute dringende Wünsche, sich mit Hurwitz zu treffen, realisierten sie Mitte Sep356 357 358 359

[UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 962 (Hurwitz an Klein, 20.3.1884). Ebd., 9: 951/3. [UBG] Math.Archiv 77: 102, Klein aus Düsseldorf, Bahnstr. 15 (die Eltern), v. 16.9.1883. Ebd., 104, Postkarte Kleins am 26.9.1883 aus Düsseldorf. – Zur Erklärung des Abelschen Theorems, sowie der Weierstraßschen Primfunktion und Kleins später entwickelten, davon differierenden Primformen für die Darstellung algebraischer Funktionen als Produkt von einzelnen Faktoren, deren jeder nur an einer Stelle Null oder unendlich wird, vgl. detailliert Wirtinger (1901) in ENCYKLOPÄDIE II.2, 155-68. 360 [UBG] Math.Archiv 77: 120, Klein an Hurwitz, 17.8.1884. 361 Ebd., 119, Klein vom Nordseebad Borkum an Hurwitz, Brief v. 29.8.1884.

262

5 Professur für Geometrie in Leipzig

tember 1884 in Düsseldorf (bei Kleins Eltern), und im folgenden Sommerurlaub 1885. Die Korrespondenz zeugt von gegenseitiger Anregung und Wertschätzung. Hurwitz schloss einen Brief vom 12. September 1884 mit den Worten: „Das ist ein großes fruchtbares Feld, zu welchem Sie durch Ihre Theorie der Modulfunctionen den Zugang erschlossen haben.“362 Und Klein reagierte, indem er neue eigene Ergebnisse erklärte, offene Fragen formulierte und betonte: „Ich brauche nicht zu sagen, wie anregend mir Ihr Besuch gewesen ist. Wir müssen sehen, dass wir im nächsten Jahre in ähnlicher Weise erneut zusammenkommen.“363 Klein fühlte sich durch die Kooperation mit Hurwitz wissenschaftlich erfrischt und plante nun für Ende September 1884 ein Reise nach Paris. Er hatte dies mit Briefen an Picard, Hermite und Darboux vorbereitet364 und war durch Hurwitz inhaltlich orientiert worden, der ihm sofort eigene neueste Ergebnisse hinsichtlich des n-Stufen-Problems gesandt hatte. Hurwitz beurteilte auch Hermites jüngere Arbeiten: er sei auf seine Classenzahlrelationen zurückgekommen, ohne principielle Abänderung seiner früheren Betrachtungen.365 Und: Es kommt bei Hermite alles auf die Entwicklung der σ-Quotienten […] in Fourier’sche Reihen an.366 Die Reise scheiterte an einer Magenverstimmung Kleins.367 Klein ließ die Ergebnisse seiner Seminarmitglieder durch Hurwitz kontrollieren. Dieser fand Resultate von Giacinto Morera in engem Zusammenhange mit meinen letzten Untersuchungen über Integrale 1. Gattung und meinte, dass die Arbeit von Theodor Molien nützlich sei.368 Besonderen Wert legte Klein auf Hurwitz Urteil über Georg Picks erste Arbeit zur complexen Multiplikation: Die Arbeit ist so wichtig, dass ich alle Garantieen betreffs der Richtigkeit haben muss, ehe ich sie in die Annalen aufnehme, und andererseits speciell für Sie und Ihre Bestrebungen so interessant, dass alle Zeit, welche Sie auf dieselbe verwenden mögen, wohl angewandt erscheint. – Das wäre die erste Arbeit von Pick (den ich Ihnen Herbst mündlich rühmte); wer weiß wie es weitergeht?369

Hurwitz ordnete Picks Arbeit in Kleins Programm ein: „Die Durchführung Ihres allgemeinen Programmes – welches sich an die Stufeneintheilung anlehnt – auch für die complexe Multiplication wird gewiss sehr schöne Resultate zu Tage fördern. Herr Pick macht den ersten Schritt.“ Drei Tage später signalisierte Hurwitz, dass er den Eindruck habe, „dass alles richtig ist; jedoch bin ich zu wenig mit der Composition der quadratischen Formen vertraut, um die Details seiner Untersuchung nachdenken zu können.“370

362 Ebd, Brief 121, 10.9.1884; Cod. Ms. F. Klein 9: 972, Hurwitz an Klein, 12.9.1884. 363 [UBG] Math.Archiv 77: 122, Klein an Hurwitz, 23.9.1884. – Das nächste Treffen fand im Urlaub, August/Sept. 1885 statt, wo es schon um die hyperelliptischen Funktionen ging. 364 Ebd., und Postkarte v. 25.9.1884 (Nr. 103, falsch eingeordnet im Nachlass). 365 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 974, Brief v. 28.9.1884. 366 Ebd., 975, Brief v. 16.10.1884. 367 [UBG] Math.Archiv 77: 123 (Klein an Hurwitz, Postkarte, 20.10.1884). 368 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 991 (Hurwitz an Klein, Postkarte 11.2.1885) 369 [UBG] Math.Archiv 77: 127, Klein an Hurwitz, Brief v. 29.11.1884. 370 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 981, 1.12.1884; 980, 4.12.1884 (falsche Ordnung im Nachlass).

5.5 Forschungsfelder

263

Am 1. Januar 1885 schickte Klein Neujahrsgrüße an Hurwitz mit mathematischen Ideen in sechs Punkten, worauf dieser am 3. Januar antwortete: „Ihre freundlichen Mittheilungen über die σgh können mir vielleicht bei den Integralen nützen. Die Umrechnung des Kronecker’schen Λ hatte ich mir auch schon vor einiger Zeit gemacht. Von der größten Wichtigkeit für mich wäre es, wenn der von Ihnen pag. 95 Ihrer letzten Publication über ellipt.[ische] F.[unktionen] nter Stufe angeregte Gedanke weiter verfolgt würde. […] Glückauf für Ihr Buch!“371 Am 29. Januar 1885 sandte Klein ein Referat über elliptische Funktionen und Modulfunktionen mit Ergebnissen seiner Doktor-Schüler (Ernst Fiedler, Georg Friedrich, Robert Fricke, Paul Nimsch, Paul Biedermann) an Hurwitz mit dem Bemerken, „weil mir daran liegt, dass Sie möglichst an Ihrem Theile auch in der dort bezeichneten Richtung arbeiten.“372 Hurwitz ergänzte, korrigierte, verwies auf offene Probleme und urteilte: „Die Resultate der Herren Friedrich und Fiedler interessiren mich ganz besonders. Dass man im Stande ist die Modulargleichungen für so hohe Transformationsgrade explicite anzugeben ist doch ein großer Fortschritt gegenüber den Methoden der Jacobi u. Weierstraß’schen Schule.“373 Klein hatte Ernst Fiedler, Sohn von Wilhelm Fiedler (vgl. 2.8.2), zur Doktorwürde geführt, traute ihm jedoch keine wissenschaftliche Karriere zu.374 Das mit Hurwitz diskutierte Referat reichte Klein in zwei Teilen ein, als Bericht 1 in den Sitzungsberichten der Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften (2.3.1885), als Bericht 2 bei den Mathematischen Annalen (17.9.1885).375 Klein wollte damit dokumentieren, wie sein in München entwickeltes „Programm einer reinen Theorie der elliptischen Modulfunctionen“ (Math. Ann., Bd. 14 und 15) durch ihn und seine Schüler fortgeführt wurde. Insbesondere wollte er zeigen, dass die Untersuchungen stärker „mit der eigentlichen Theorie der elliptischen Functionen, insbesondere mit den Fundamentalformen, wie sie Weierstrass in seinen Vorlesungen zu geben pflegt“, verbunden worden waren. Klein ordnete ein, indem er ausführte, dass er sich in seiner Arbeit für die Münchener Akademie (1879) auf die Modulfunctionen im engeren Sinne beschränkt hatte. Weitergehende Untersuchungen würden jedoch das Betrachten von Modulformen erfordern. Er erklärte: Man kann sich das Verhältnis etwa in der Weise vorstellen, dass die Riemann’schen Methoden, welche ich damals voranstellte (die Construction und Discussion der Fundamentalpolygone etc.) die zuerst erforderliche Vorarbeit leisten, während die feinere Ausbildung der Betrachtungen und die Durchführung auch in complicirten Fällen der formentheoretischen Behandlung vorbehalten bleiben muss, – beide beherrschend aber die gruppentheoretische Auffassung (die Stufeneintheilung etc.) das oberste Eintheilungsprincip abgiebt.376

371 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 985 (Hurwitz an Klein, 3.1.1885); ebd, Math.Arch. 77:130 (Klein zu Kroneckers ‚analytischer Invariante’ Λ zur Auflösung der Pell’ schen Gleichung). 372 [UBG] Math.Archiv 77: 132. – Vgl. [Protokolle] Bd. 6, 155. 373 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 992, Hurwitz an Klein, 27.2.1885; 995, 19.3.1885. 374 Vgl. hierzu Klein an Wilhelm Fiedler, in VOLKERT 2018b. 375 Enthalten in KLEIN 1923 GMA III, 255-82. 376 Math. Ann. 26 (1886) 457; KLEIN 1923 GMA III, 275.

264

5 Professur für Geometrie in Leipzig

Am Ende des Wintersemesters 1884-85 war Klein soweit, dass er ernsthaft an das Aufschreiben des Materials in Buchform dachte und für das Forschungsseminar meinte: „Mein Seminarunterricht wendet sich jetzt von den Modulfunctionen ab, da wir alle etwas übersättigt sind, auch eine neue Generation von Leuten heraufkommt.“377

5.5.7.2 Wer wird Redakteur? – Georg Pick Bei der Suche nach einem geeigneten „Redacteur“ hatte Klein zunächst an Hurwitz gedacht, aber selbst geschlussfolgert, dass diesem kreativen Kopf doch lieber „freie Kräfte für eigene Untersuchungen übrig“ bleiben müssen.378 Robert Fricke, der sich später als der Projektbearbeiter erweisen sollte, stand noch nicht zur Diskussion, wenngleich Klein in einem Brief vom 29. August 1884 erstmals erwähnte, dass Fricke im Seminar über Moduln 16. Stufe vorgetragen habe.379 Frickes Dissertation (Ueber Systeme elliptischer Modulfunctionen von niederer Stufenzahl, eingereicht am 13.9.1885) war jedoch noch nicht vollendet. Klein konnte im März 1885 Georg Pick für das Amt gewinnen, der bei Leo Koenigsberger in Wien promoviert und sich unter Ernst Mach in Prag habilitiert hatte. Pick gehörte seit Herbst 1883-84 zu denjenigen Neuen (vgl. Tab. 6), die am Programm zum Ausbau der Theorie der elliptischen Modulfunktionen mitarbeiteten. 1883-84 referierte Pick in drei Seminarreferaten über Grundbegriffe der Theorie komplexwertiger Funktionen (Gauß, Cauchy, Riemann, Weierstraß, Pringsheim, Mittag-Leffler, Jacobi, Schwarz, Cantor, etc.). Er analysierte Poincarés Arbeiten aus Band 1 der Acta Mathematica, wobei er in einem langen Nachsatz zu seinem Referat ausführte, warum ein Beweis Poincarés noch „eine wesentliche Unvollständigkeit“ enthalten würde, so dass noch nicht mit Sicherheit entschieden werden könne, ob die von Poincaré „angegebenen Reihen die aufzustellenden Funktionen wirklich in ihrem gesammten Gebiete darstellen“.380 Klein erprobte Pick weiter, indem er ihn über die Hauptergebnisse seiner Münchener Vorlesung über Algebra und Zahlentheorie (1879, nach Giersters Ausarbeitung) sprechen ließ und lenkte ihn schließlich auf ein eigenes Thema, die complexe Multiplication der elliptischen Functionen.381 Bevor Pick am 16. Juni 1884 darüber vortrug, war Klein von dessen Fähigkeiten so begeistert, dass er am 28. Mai 1884 an seinen alten Studienfreund Otto Stolz nach Innsbruck schrieb: Lieber Stolz! Ganz gegen meinen gewöhnlichen Grundsatz setze ich mich heute hin und schreibe, um für gewisse Eventualitäten von mir aus einen Candidaten zu empfehlen. Man erwartet hier, dass Ihr College Gegenbauer nach Wien gerufen wird, also seine Stellung in Innsbruck vacant wird. Nun meine ich einen oesterreichischen Mathematiker zu kennen, der bislang kaum publicirt hat, so dass Sie vielleicht nicht auf ihn aufmerksam geworden sind, 377 378 379 380 381

[UBG] Math.Archiv 77: 134, Klein an Hurwitz, Brief v. 10.2.1885. [UBG] Math.Archiv 77: 136, Klein an Hurwitz, 10.3.1885. Ebd., 119, Klein an Hurwitz, 29.8.1884; [Protokolle] Bd. 6, 77-83 (Vortrag v. 30.6.1884). [Protokolle] Bd. 5, S. 159-69; 260-67, 268-79, Zitat 279. [Protokolle] Bd. 6, S. 9-23; 49-61 (Vorträge Picks am 9.5.1884, 16.6.1884).

5.5 Forschungsfelder

265

der aber so ausgezeichnete Qualitäten besitzt, dass ich ihm gern vorwärts helfe, und zwar ausdrücklich von dem allgemeinen Gesichtspuncte aus, dass es in Oesterreich der tüchtigen Kräfte nicht zu viele gibt und diese immer Gefahr laufen, hinter anderen minder qualificirten zurückstehen zu müssen. Mein Candidat ist Privatdocent Dr. Pick in Prag. Ursprünglich Schüler von [Leo] Königsberger habilitirte er sich vor 3 – 4 Jahren und war dann Assistent bei [Ernst] Mach, bis er Herbst 83 mit Urlaub hierher kam und seitdem Mitglied meines Seminars ist. Pick ist in erster Linie functionentheoretisch und namentlich zahlentheoretisch disponirt. Er hat eine sehr klare und tiefgehende Auffassung, so dass es mir immer ein Vergnügen ist, mit ihm zu sprechen, er hat aber namentlich einen ganz ausgezeichneten pädagogisch disponirten Vortrag, wie ich es nur bei wenigen meiner Schüler (bei Dyck u. Harnack) beobachtet habe. Dass er noch wenig publicirt hat, – nun es ist ihm gegangen wie Vielen, er hatte früher nicht die nöthige Anregung382, worauf sich in erster Linie Selbstkritik entwickelte und die Ansätze zur Productivität zurückdrängte. Voraussichtlich kommt er noch vor Schluss des Semester’s darüber hinaus; ich lasse ihn über complexe Multiplication arbeiten, wo er die Kronecker’schen Resultate begründen und weiterführen soll – Pick ist, wie sein Name andeutet, natürlich Jude; aber er gehört zu den Ausnahmen, die im Verkehr angenehm sind, wie er denn in meinem Seminare allgemein beliebt ist und den jüngeren Mitgliedern gegenüber der allgemeine Rathgeber geworden ist. Doch genug! Brauchen Sie nähere Nachrichten, so schicke ich sie umgehend; im uebrigen entschuldigen Sie meine Initiative, die, wie ich doch sagen muss, nicht durch Dr. Pick provocirt ist sondern einzig von mir selbst ausgeht. Mit bestem Gruss Ihr F. Klein383

Gegenbauer verließ Innsbruck zunächst nicht. Er und Otto Stolz trugen aber bei, dass Pick an der Deutschen Universität in Prag (damals zu Österreich-Ungarn gehörend) im Jahre 1888 eine a.o. Professur und 1892 eine o. Professur erhielt. Bevor Pick diese Positionen erreichte, hatte Klein Ergebnisse von ihm in den Mathematischen Annalen384 publizieren können, wo insgesamt elf Arbeiten von ihm erschienen. Ostern 1885 trafen sie sich erstmals, um das Buchprojekt zu beraten. Vor diesem Treffen zeigte sich Klein allerdings selbst noch unsicher hinsichtlich seiner Ansichten, wie er Hurwitz wissen ließ: Den Passus über die Tragweite Ihrer Methode habe ich, um gewiss nichts Falsches zu sagen, gestrichen. Die Sache ist meines Erachtens die: Sie definiren die Modularcorrespondenz durch die Nullstellen einer Function, nicht durch die Puncte eines Schnittpunctsystem’s, wie ich mir das früher immer vorstellte: Dieser Unterschied interessirt mich mehr, als Sie vielleicht vermuthen, weil ich neuerdings bei anderen Fragen genau auf denselben Zwiespalt einander entgegenstehender Anschauungen gekommen bin. Die Auffassung, als müsse man durch Schnittpunctsystem definiren, stammt aus der Geometrie. Die Frage ist, ob wirklich bei den höheren Problemen die Geometrie zu Gunsten der Functionentheorie abdanken muss, wie ich es immer mehr glaube. Das wirft mir dann manche Lieblingsanschauung über den Haufen! Ueberhaupt steht es mit einer systematischen Abrundung meiner Ansichten sehr schlimm und ich fürchte fast, meine Besprechungen mit Pick, die Freitag beginnen sollen, werden resultatlos verlaufen.385

382 In diesem Halbsatz steckt natürlich auch ein gewisses Eigenlob. 383 [Innsbruck] Klein an Stolz, Brief v. 28.5.1884. 384 Pick, G.: „Ueber die complexe Multiplication der elliptischen Functionen, I und II“. Math. Ann. 25 (1885) 433-47; 26 (1886) 219-30. 385 [UBG] Math.Archiv 77: 137, Klein an Hurwitz, 17.3.1885.

266

5 Professur für Geometrie in Leipzig

Klein beauftragte Pick, bis September 1885 die ersten fünf Kapitel vom ersten Buchabschnitt selbstständig zu redigieren, basierend auf seinen Vorlesungen und neueren Ergebnissen, wofür Hurwitz Zusammenfassungen lieferte. Hurwitz hatte z.B. bis Mai 1885 selbst die Classenzahlrelationen primzahliger Stufe soweit, dass er feststellen konnte: „Immerhin ist aber doch nun die Existenz der Relationen für eine beliebige Stufe gesichert und ihre allgemeine Form erkannt.“386 Im November konstatierte Klein allerdings, dass „Pick […] die Modulfunctionen nicht so gefördert [habe], wie ich erwartete“.387 Klein bat ihn dennoch weiterhin zu Beratungen nach Leipzig, und ab Mai 1886 schließlich nach Göttingen. Am 15. Mai 1886 erfuhr Hurwitz: Dann aber habe ich seit 8 Tagen auf Grund der Pick’schen Vorarbeiten begonnen, den ersten Abschnitt meines Buches über ellipt.[ische] Modulfunctionen zu redigiren! Unterdessen fördert Pick den zweiten Abschnitt (Haupttheil), den wir Ende der Osterferien ausführlich durchgesprochen haben. Möge es zum guten Ende kommen. Ich schwanke zwischen Zuversicht und Misstrauen. Mich reut auch die Zeit, die ich nun noch einmal auf diese alten Geschichten wenden soll. Aber es wird ja wohl vernünftig sein.388

Ca. ein Jahr später war die Kooperation mit Pick beendet. Klein informierte Hurwitz im September 1887: „Mein Plan, mit Pick zusammen die ell.[iptischen] Modulfunctionen zu bearbeiten, ist mit beiderseitigem Einverständnisse lange aufgegeben.“ Klein stellte die rhetorische Frage, ob nicht vielleicht Hurwitz dazu Lust hätte.389 Sich aus der Schlinge ziehend, antwortete Hurwitz: „Die richtige geistige Frische und anregende Kraft würde das Buch nur erhalten, wenn Sie selber es schreiben. Das war stets mein Gedanke […].“390 Die Hauptursache für Picks Scheitern muss in den noch ungenügenden theoretischen Grundlagen gesehen werden. Klein selbst, Hurwitz, wie auch schließlich Robert Fricke sollten noch in den nächsten fünf Jahren daran arbeiten. Als Klein am 5. August 1888 an Hurwitz über Picks Karrierestufe berichtete, „Pick ist nun endlich wirklich […] ausserordentlicher Professor geworden“, schrieb er zugleich zum neuen Mitarbeiter Robert Fricke: Nun muss ich Ihnen vor allen Dingen erzählen, dass Fricke wirklich an den Modulfunctionen arbeitet: jedenfalls mit mehr Consequenz und ich hoffe also auch mit mehr Energie als Pick seiner Zeit. Ich lasse ihn möglichst selbständig machen. Wir haben nur Weihnachten und Ostern jedes Mal kurz conferirt, und nun erwarte ich ihn eben wieder für die nächsten Tage.391

Conrad Müller, der sich, abgestimmt mit Klein, für Geschichte der Mathematik habilitierten sollte (vgl. 8.3.1), ordnete in TEUBNER (1908) das Buchprogramm Felix Kleins und ihm nahe stehender Autoren wie folgt ein:

386 387 388 389 390 391

[UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 998, Brief v. 1.5.1885. [UBG] Math.Archiv 77: 142, Klein an Hurwitz, 20.6.1885; 149, 27.11.1885. Ebd., 156, Klein an Hurwitz, Brief v. 15.5.1886. Ebd., 190, Klein an Hurwitz, Brief v. 21.9.1887. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 1060, Hurwitz aus Hildesheim an Klein, 24.9.1887. [UBG] Math. Archiv 77: 196, Klein an Hurwitz, Brief v. 5.8.1888.

5.5 Forschungsfelder

267

Im Jahre 1882 läßt F. Klein ein Buch über Riemanns „Theorie der algebraischen Funktionen und ihrer Integrale“ erscheinen, das auf anschauungsmäßiger, geometrisch-physikalischer Grundlage eine Darstellung der Theorie gibt und zugleich eine Vorarbeit bildet zu seinen sämtlichen weiteren Publikationen über Funktionentheorie. So folgten 1884 die „Vorlesungen über das Ikosaeder“ der erste Teil einer umfassenden Theorie der automorphen Funktionen einer Veränderlichen, in dem die algebraischen Fälle dieser Funktionen durch funktionentheoretische Erfassung der geometrischen Theorie der regulären Körper in einfachster Weise zur Erledigung gelangen. Den ersten wichtigen Spezialfall der transzendenten automorphen Funktionen behandeln die 1890/92 unter Mitwirkung von Fricke herausgegebenen „Vorlesungen über elliptische Modulfunktionen“, während die „Allgemeine Theorie der automorphen Funktionen“ in den noch nicht abgeschlossenen Vorlesungen 1897ff. zur Behandlung gelangen. An die Riemannschen Thetafunktionen und die Charakteristikentheorie knüpfen die Arbeiten von Prym, Krazer – der den Thetafunktionen 1903 ein eigenes Buch widmet – und dann weiter von Rost an, während nach anderer Seite diesem Gebiete Schottkys „Theorie der Abelschen Funktionen“, 1880, und Wirtingers „Untersuchungen über Thetafunktionen“, 1895, angehören, Stahl endlich gibt in seiner „Theorie der Abelschen Funktionen“, 1896, eine lehrbuchmäßige Bearbeitung dieses Gebietes. […].392

Wenn Berliner Mathematiker schließlich 1913 urteilen sollten, dass Klein „ein großes bänderreiches Lehrbuch der Analysis […] voll eigenthümlicher geometrischer Methoden“ auf den Weg brachte (vgl. Anhang Nr. 11), so zollten sie nach langem Zögern – und nach dem Tode von Weierstraß, Kronecker, Fuchs – diesem Denkstil (vgl. Koenigsbergers Urteil in Einführung 1.2) ihren Tribut. 5.5.8 Hyperelliptische und Abelsche Funktionen Im übrigen begann ich 1885, mich mit einer Problemstellung eingehender zu beschäftigen, die ich schon lange vor mir gesehen hatte und die mich nun mehrere Jahre in Anspruch nehmen sollte, nämlich der Übertragung der neuen Formulierungen, die mir bei den elliptischen Funktionen geglückt waren, auf hyperelliptische und Abelsche.393

Klein fuhr im August/September 1885 mit Hurwitz auf die Insel Borkum, eine Nachschrift von Weierstraß’ Vorlesung über hyperelliptische Funktionen im Gepäck. Nach weiterer Arbeit dazu teilte Klein am 13. Dezember 1885 neue Ergebnisse mit, betreffend „völlig unabhängige Moduln […], wodurch ein neues System hyperelliptischer ‚Hauptmoduln’ gegeben ist […]“.394 Hurwitz reagierte mit: Ihre weiteren Sätze über die geometrische Integration der hyperelliptischen Differentialgleichungen habe ich mit Interesse gelesen. Hoffentlich kommt nun bald Ihre Configuration-Abhandlung heraus, welche ich sehr eifrig studiren werde, da mir Vieles, was ich daraus in Borkum gelernt hatte, wieder verloren gegangen ist.395

392 393 394 395

TEUBNER 1908, XIV-XV. – Georg Rost war, wie Krazer, Schüler von Prym in Würzburg. KLEIN 1922 GMA II, 259. [UBG] Math.Archiv 77: 150, Klein an Hurwitz, 13.12.1885. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 1014, Brief v. 11.1.1886.

268

5 Professur für Geometrie in Leipzig

In der „Configurations-Abhandlung“396 führte Klein ein altes Thema weiter, das die Kummersche Fläche mit hyperelliptischen Integralen verband, wozu Rohn (1879) gearbeitet hatte und Kleins Doktorand Willibald Reichardt (Über die Darstellung der Kummerschen Fläche durch hyperelliptische Funktionen) fortsetzte. Hurwitz wurde einbezogen: Wenn Sie dann später wieder frisch sind und Sie können die δ -Fragen aufnehmen, die wir in Borkum besprachen, dann ist das, glaube ich, eine sehr aussichtsreiche Sache. Ich bin überzeugt, dass durch Verfolg unserer Speculationen, d.h. im Wesentlichen durch Construction und vollständige Discussion des der Kummer’schen Fläche bei höherem p entsprechenden Normalgebildes, auch die Principienfrage bei p = 4 gelöst werden kann. Wie würden Sie darüber denken, wenn die Jablonowsky’sche Gesellschaft, die jetzt wieder ein mathematisches Preisthema stellen muss, dahin gehende Frage formulirte?397

Die von Klein formulierte Preisaufgabe lautete in Kurzform: Die Gesellschaft wünscht eine eingehende Untersuchung der allgemeineren Doppelintegrale von der Form

∫∫

f ( xy )dxdy , R( xy )

wo f eine rationale Function sei, in ihrem Zusammenhange mit den Thetafunctionen zweier Variablen.398

Diese Preisaufgabe gehörte zu einem umfassenderen Programm. Ausgehend von Clebsch und Gordan hatte sich Klein das Ziel gestellt, „die Theorie der hyperelliptischen und Abelschen Funktionen mit der Formentheorie bzw. Invariantentheorie in sachgemäße Verbindung zu bringen“.399 Er erklärte, dass ihm hierbei Weierstraß’ Theorie der elliptischen Funktionen als Vorbild diente und er diese aber noch stärker mit Ansätzen aus der Invariantentheorie verband. Als Hauptziel gab Klein an, „für beliebiges algebraisches Gebilde vom Geschlechte p den Aufbau der 22p Thetafunktionen eines gegebenen Riemannschen Querschnittsystems systematisch zu bewerkstelligen“. Er beschrieb zwei dazu gehörende Aufgaben: Erstens handelt es sich darum, die Abhängigkeit der Thetafunktionen von den Koeffizienten des algebraischen Gebildes, von den Moduln einer Riemannschen Klasse zu untersuchen, insbesondere also die Thetanullwerte als Modulfunktionen zu bestimmen. Zweitens gilt es, die Thetafunktionen in ihrer Abhängigkeit von den Stellen des Gebildes, zwischen denen die in den Argumenten auftretenden Integrale genommen werden, darzustellen.400

Klein erlangte mit den σ-Funktionen eine Übersicht im Gebiet, die Funktionentheorie, Algebra und Geometrie verknüpfte: „Diese Sigmafunktionen haben die Eigenschaft, dass ihre Potenzreihenentwicklungen nach rationalen ganzen Kovari396 Klein, F.: „Ueber Configurationen, welche der Kummer’schen Fläche zugleich eingeschrieben und umgeschrieben sind“. Math. Ann. 27 (1886) 106-42; KLEIN 1921 GMA I, 164-99. 397 [UBG] Math. Archiv 77: 152, 8.1.1886. – Jablonowskische Gesellschaft vgl. Abschnitt 5.7.2. 398 Math. Ann. 27 (1886) 471-72. – Der Begriff Thetafunktion für eine spezielle Klasse von Funktionen mehrerer komplexer Variablen stammt von Jacobi (1829). 399 KLEIN 1923 GMA III, 317. 400 Ebd.

5.6 Felix Klein und Alfred Ackermann-Teubner

269

anten desjenigen Rationalitätsbereiches fortschreiten, welcher dem zugehörigen System der Berührungskurven dritter Ordnung entspricht.“401 Hurwitz erfuhr: „Ich beschäftige mich zur Zeit viel mit den hyperelliptischen σ, mit denen ich gut vorwärts komme (Verbindung mit der Invariantentheorie); nächste Woche nehme ich meine Specialvorträge wieder auf.“402 Klein hoffte weiter auf die Zusammenarbeit mit Hurwitz: „Nun haben sich in rascher Reihenfolge Rohn, Fr.[anz] Meyer, Dyck ‚präcisirt’, werden Sie mir doch noch einige Zeit treu bleiben, so sehr ich in Borkum selbst dagegen gesprochen habe?“403 Und Hurwitz prognostizierte: Ihre neue Abhandlung über hyperelliptische Modulfunctionen wird ohne Zweifel Epoche machen, sie bahnt die Wege für eine große Zahl interessanter und wichtiger Untersuchungen und ich wünsche Ihnen herzlich Glück, dass Sie als Erster die richtige und wichtige Generalisation Ihrer Stufentheorie gefunden haben.404

Hurwitz arbeitete auch während der folgenden Göttinger Zeit an Kleins Ziel mit, die Theorie der hyperelliptischen und Abelschen Funktionen mit der Formentheorie bzw. Invariantentheorie zu kombinieren.405 5.6 FELIX KLEIN UND ALFRED ACKERMANN-TEUBNER Die kleine Studie ACKERMANN/WEIß (2016) zeichnet ein prägnantes Prorträt über Alfred-Ackermann-Teubner406, der den mathematischen Teil des Verlags von den 1880er Jahren an bis zu seinem Ausscheiden im Jahre 1916 prägte. Darin wird auch Felix Kleins Beitrag zum Aufschwung angedeutet.407 Klein hatte sich als „F. Klein, stud. math., früherer Assistent bei Plücker“ am 27. Mai 1868 erstmals an den Verlag B.G. Teubner gewandt.408 Damals war Alfred Ackermann-Teubner, Enkel des Firmengründers Benedictus Gotthelf Teubner, erst elf Jahre alt. Nach Lehrjahren im Verlag und Volontariaten in London und Paris avancierte er gerade 1882 zum Mitinhaber der Firma, als Felix Klein in Leipzig agierte. A. Ackermann-Teubner hatte nebenher Vorlesungen (Naturwissenschaften, Volkswirtschaftslehre) an der Universität Leipzig besucht und verantwortete schließlich das Ressort Mathematik, Naturwissenschaften und Technik. Dabei profitierte er von Kleins Interessen und personellem Netzwerk. 401 Klein, F.: „Über hyperelliptische Sigmafunktionen“. Math. Ann. 27 (1886); Klein 1923 GMA III, 323-56. 402 [UBG] Math. Archiv 77: 153, Klein an Hurwitz, Brief v. 29.1.1886. 403 Ebd. 2.2.1886 (mehrere Postkarten auf einem Blatt). – präcisirt: Hurwitz sprach in einem Brief an Klein v. 5.2.1886 (Nr. 1017) von einer „Verlobungsepidemie“. 404 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 1021, Hurwitz an Klein, Brief v. 7.4.1886. 405 Zu den entstandenen Arbeiten vgl. auch KLEIN 1923 GMA III, 317-474. 406 Sein Vater Albin Ackermann, seit 1850 in der Firma B.G. Teubner, hatte Anna Teubner geheiratet und nannte sich fortan Ackermann-Teubner, vgl. ACKERMANN/WEIß 2016, 14-15. 407 REMMERT/SCHNEIDER 2010 entdeckten in ihrer innovativen Studie zum Verhältnis von Mathematik und ihren Verlegern das besondere Verhältnis von Klein und Ackermann-Teubner nicht. THIELE 2011 wertschätzt das Verhältnis anhand von Jubiläumswürdigungen. 408 Vgl. SCHULZE 1911, 297.

270

5 Professur für Geometrie in Leipzig

Die Schrift Über Riemanns Theorie der algebraischen Funktionen und ihre Integrale (1882) war die erste kleinere Monographie, die Klein 1881 dem Verlag angeboten hatte. Der Jubiläumsband des Verlags enthält dazu eine ausführliche Inhaltsangabe und Kleins Vision von einem Monographien-Programm, die er in einem Brief vom 24. August 1883 an den Verlag ausgedrückt hatte: Lassen Sie mich ferner die allgemeine Absicht angeben, von der aus ich diese Bearbeitung unternehme. Daß es mit den abgerissenen Monographien in den Zeitschriften nicht genug sei, dass es gelte[,] dieselben, sobald sie ein größeres Gebiet zum Abschluß geführt haben, in zusammenhängender Darstellung zusammenzufassen, ist seit langem mein Grundsatz.409

Die Monographien-Vision ergriff Klein in den folgenden Jahren so, dass er sie nicht nur mit einem eigenen Buchprogramm verfolgte, sondern als Aufgabe der Deutschen Mathematiker-Vereinigung (vgl. 6.4.4) etablierte. Die dadurch erarbeiteten Berichte über mathematische Gebiete und ihre Anwendungen mündeten in die ENCYKLOPÄDIE und damit wieder beim Teubner-Verlag, wo davon 1898 bis 1935 zahlreiche Einzelbände herauskamen (vgl. 7.4). Ackermann-Teubner gewann mit diesem Projekt hervorragende Autoren für sein Ressort, worauf er seine spätere Preisstiftung basierte, die Kleins besondere Position für Teubners Buchund Zeitschriftenprogramm zum Ausdruck bringt. Erstens. Klein nutzte in Leipzig die Nähe zum Verlagshaus, um Schüler, Kollegen, Autoren der Mathematischen Annalen persönlich dort einzuführen. Ein Bericht Otto Hölders kann als typisches Beispiel gelten: Prof. [Aurel] Voß aus Dresden war hier in den Pfingstferien, und Klein forderte mich auf, als ich eben von Göttingen zurück war, ihn zu besuchen, um Herrn Voß zu treffen. Der mathematische Privatdocent [Friedrich] Schur kam noch hinzu. Wir gingen dann zusammen zu B.G. Teubner, wo ich mein Manuscript holte. Es war sehr interessant auf diese Art die großartige Druckerei von oben bis unten zu sehen. Allen Chefs des Geschäfts wurden wir als Mitarbeiter an den Mathematischen Annalen vorgestellt […]410

Zweitens. Zu Kleins Publikationen während der Kooperation mit AckermannTeubner zählten die eigenen Monographien, mit Schülern oder Kollegen verfasste Abhandlungen und Schriften, seine Vorlesungen als Autographien (handschriftlich mit Steindruckverfahren vervielfältigt). Die Großprojekte, die Klein als Herausgeber verantwortete, erschienen bei Teubner: neben der ENCYKLOPÄDIE gehörten der Band Mathematik im Rahmen der Kultur der Gegenwart sowie die fünf Bände Abhandlungen über den mathematischen Unterricht, veranlasst durch die Internationale Mathematische Unterrichtskommission (IMUK), dazu. Drittens. Während die Werke von Moebius bei S. Hirzel in Leipzig verlegt wurden, sorgte Klein bei den Grassmann-Werken für einen Vertrag mit B.G. Teubner. Dank Klein erschienen auch die Gesammelten Werke PLÜCKER 1895/96 bei Teubner. Für die Gauß’ Werke regelte Klein, dass Bd. 8 (1900), Bd. 7 (1906, Neuauflage) bis Bd. 10.1 (1917) „In Commission bei B.G. Teubner in Leipzig“

409 SCHULZE 1911, 305-06, Zitat Kleins 306. 410 HILDEBRANDT et al. 2014, 152.

5.6 Felix Klein und Alfred Ackermann-Teubner

271

verlegt wurden. Erst 1923 sollte Max Born genötigt sein, als Kleins Nachfolger bei der Gauß-Edition damit zu Springer zu wechseln.411 Viertens. Klein regte an, Bücher aus dem Englischen, Französischen, Italienischen, Russischen in deutscher Übersetzung bei Teubner zu publizieren. Dazu gehörten Differenzenrechnung 1896 und Wahrscheinlichkeitsrechnung 1912 von A.A. Markow.412 Klein inspirierte seinen Doktorschüler Friedrich Schilling (vgl. 7.1) zum Buch: Über die Nomographie von M. d’Ocagne: Eine Einführung in dieses Gebiet, 1900, sowie Paul Stäckel zu einer bearbeiteten Übersetzung von Schul-Lehrbüchern Émile Borels (Die Elemente der Mathematik, ab 1908). Klein initiierte ebenso die Übersetzungen von Horace Lamb, Treatise on the Mathematical Theory of the Motion of Fluids 31879 (Lehrbuch der Hydrodynamik, 1907), und von Edward Hough Love, A treatise on the mathematical theory of elasticity, 1892/93 (Lehrbuch der Elastizitätstheorie übersetzt durch Kleins Doktorschüler A. Timpe, 1907).413 Auf PERRY (1897) verwies Klein wiederholt bei der Unterrichtsreform; er veranlasste die deutsche Ausgabe (11902), die mehrere Teubner-Auflagen erlebte (vgl. dazu 3.6.3 und 8.3.4.2). Grace Chisholm-Young sollte Kleins Anregung aufgreifen, ein Buch zum Anfangsunterricht zu schreiben414, und Klein sorgte für die Übersetzung durch Felix Bernstein (und Frau) Der kleine Geometer, 1908. Ausgehend von einer Analyse eines Buches des Schotten Benchara Branford in Kleins Seminar (26.1.1910) entstand die deutsche Version, Betrachtungen über mathematische Erziehung vom Kindergarten bis zur Universität (1913), besorgt durch R. Schimmack und H. Weinreich. Fünftens. Für etliche Teubner-Bücher verfasste Klein selbst ein Vorwort bzw. eine Einführung, so zum Beispiel für die aus Dissertationen entstandenen Bücher von Friedrich Pockels (1891) und Maxime Bôcher (1894)415; für Edward John Routh (1898), Die Dynamik der Systeme starrer Körper (2 Bde.); für Frederigo Enriques (1903), Vorlesungen über projektive Geometrie; für Jules Tannery (1909), Elemente der Mathematik. Mit einem geschichtlichen Anhang von Paul Tannery,416 für Jan A. Schouten (1914), Grundlagen der Vektor- und Affinoranalysis. Klein nutzte die Vorworte, um in eigene Forschungen und Projekte einzu411 [AdW Göttingen] Scient 105,2: 9; 107,5: 6b. – REICH/ROUSSANOVA 2013, 226-27. 412 Markovs Schüler Theophil Friesendorff übersetzte die Differenzenrechnung, er hatte in Seminarvorträgen bei Klein (1.5. und 31.5.1895) das russische Buch benutzt. Das „Rechnen mit endlichen Differenzen“ (Interpolation, Herstellen numerischer Tafeln, Aufsuchen zufälliger und Abschätzen unvermeidlicher Fehler) erhielt für viele Anwendungen zunehmend Gewicht. Rudolf Mehmke schrieb gemäß Kleins Wunsch ein Vorwort und erwähnte dessen weitsichtige Initiative. Die Wahrscheinlichkeitsrechnung übersetzte Heinrich Liebmann (Kleins Assistent 1897-98), vgl. TOBIES 2018a. – Vgl. zur Geschichte der Wahrscheinlichkeitsrechnung auch KRENGEL 1990; SCHNEIDER 1989. 413 Vgl. Klein 1922 GMA II, 508. – Sie waren Autoren an Bd. IV (Mechanik) der ENCYKLOPÄDIE, Love, E.H.: Hydrodynamik (1901); Lamb, H: Schwingungen elastischer Systeme – insbesondere Akustik (1906), vgl. Abschnitt 7.4. 414 Sie erarbeitete das Buch allein, aber der Name ihres Mannes stand mit auf dem Titelblatt: Grace (Chisholm) Young; W. H. Young: Beginner’s book of geometry, London 1905. 415 Vgl. hierzu auch Abschnitt 6.3.5 des vorliegenden Buches. 416 Es erschien davon eine 2. Auflage, Leipzig und Berlin: B.G Teubner, 1921.

272

5 Professur für Geometrie in Leipzig

ordnen sowie auf weitere (Teubner-)Bücher zu verweisen. Klein wurde konsultiert, um zu entscheiden, ob die Publikation eines Buches sinnvoll ist oder nicht. Sechstens. Um sich selbst zu entlasten, empfahl Klein im Verlaufe der Zeit für spezielle Gebiete zusätzliche Berater für Teubner: z.B. Walther Dyck für die ENCYKLOPÄDIE; Arnold Sommerfeld für Physik; Friedrich Engel, der schon durch die Edition der Werke von Sophus Lie gute Kontakte zum Verlag besaß, wurde auch Ansprechpartner bei Graßmanns Werken. Siebentens. Klein beförderte, dass Alfred Ackermann-Teubner nicht nur Mitglied der DMV (1894) wurde, sondern auch Schatzmeister, von 1905-1919.417 Seit der Hamburger Versammlung 1901 hatte die DMV ihre Kassenstelle zur Verlagsbuchhandlung nach Leipzig verlegt.418 Die zum Vorstand gehörende neue Position des Schatzmeisters war eingeführt worden, als die DMV ins Vereinsregister (in Leipzig) eingetragen wurde. Im Interesse des Verlags trat AckermannTeubner auch ausländischen mathematischen Gesellschaften als Mitglied bei: der Société mathématique de France, der London Mathematical Society, dem Circolo matematico di Palermo, der American Mathematical Society. Klein konnte ihn ebenfalls als Mitglied für die Göttinger Vereinigung zur Förderung der angewandten Physik und Mathematik gewinnen (vgl. Abschnitt 8.1.1). AckermannTeubner stiftete dieser Göttinger Vereinigung insgesamt 22.500,00 Mark.419 Achtens. Im Oktober 1899 wandte sich Ackermann-Teubner an Klein, um über die mathematischen Zeitschriften nachdenken zu lassen. Diese überschnitten sich inhaltlich und entsprachen nicht allen Bedürfnissen. Klein fand Silvester 1899 Zeit, um programmatische Ideen niederzuschreiben (vgl. Abb. 25).420 Kleins Gedanken, im Interesse der Mathematischen Annnalen (Punkt 1 in Abb. 25) selbst in die Kategorie „Mitwirkung“ zu „flüchten“, um Hilbert als Herausgeber durchzusetzen, lehnte die anderen Redaktionsmitglieder ab. Adolph Mayer trat freiwillig in den Kreis der Mitwirkenden zurück, sodass Hilbert ab Band 55 (1902) die Position neben Klein und Dyck erhielt (vgl. auch 2.4.2). Die Zeitschrift für Mathematik und Physik (Punkt 2), die Oscar Schlömilch im Jahre 1856 als Teubners erste mathematische Zeitschrift gegründet hatte, wurde ab Band 46 (1901) mit dem Untertitel „Organ für angewandte Mathematik“ von Rudolf Mehmke und Carl Runge (nicht Arnold Sommerfeld, den Klein zunächst im Auge hatte) herausgegeben. Mehmke war gemäß Kleins Empfehlung bereits seit Band 42 (1897) ein Herausgeber (neben Moritz Cantor), hatte jedoch das Umwandeln erst begrenzt vollziehen können.421 Klein trat 1901 der Redaktion unter „Mitwirkung“ bei und konnte dafür weitere Mathematiker (Guido Hauck, Heinrich Weber), bedeutende Physiker (Hendrik Antoon Lorentz), Geodäten (Robert Helmert), Astronomen (Hugo Seeliger), Techniker (Carl von Linde, Carl von Bach, Heinrich Müller-Breslau) gewinnen. Mit Band 64 (1917) endete diese Zeit417 418 419 420 421

Jahresbericht der DMV 14 (1905) 525. Jahresbericht der DMV 11 (1902) 10. Vgl. Jahresbericht der DMV (1912) Abt. 1, 4; TOBIES 1986a, Anhang 16-18. Vgl. ausführlicher TOBIES 1986b und 1987a. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 1138-40 (Mehmke an Klein, 5.12.1896, 4.7.1897, 10.4.1899).

5.6 Felix Klein und Alfred Ackermann-Teubner

273

schrift in Folge des Ersten Weltkrieges. Als Richard von Mises die Zeitschrift für angewandte Mathematik und Mechanik (ZAMM) im Jahre 1921 begründete, begrüßte dies Klein als gute Fortsetzung dieser Tradition (vgl. Abschnitt 9.5).

Abb. 25: Auszug aus einem Briefentwurf F. Kleins an A. Ackermann-Teubner, 31.12.1899

Geschichte der Mathematik (Punkt 3) entfaltete sich im 19. Jahrhundert zu einem eigenen Forschungsfeld, womit ein Bedürfnis nach einer Zeitschrift entstand. In Frankreich erschien von 1855 bis 1862 ein Bulletin de bibliographie, d’histoire et de biographie mathématiques, ediert durch Olry Terquem als Anhang zu den Nouvelles annales de mathématiques. Moritz Cantor hatte seit 1859 „Abhandlungen zur Mathematikgeschichte“ in Teubners Zeitschrift für Mathematik und Physik publiziert, ab 1875 gab es eine besondere Abteilung und ab 1877 SupplementBände. Klein dachte an eine spezielle Zeitschrift mit den Herausgebern Gustaf Eneström und Paul Stäckel. Eneström war für Mittag-Lefflers Acta mathematica längere Zeit tätig422 und hatte Klein 1884 in Leipzig besucht (vgl. Abschnitt 5.4), als er gerade die Bibliotheca Mathematica begründete. Eneström wechselte mit dieser Zeitschrift im Jahre 1900 zum Teubner-Verlag, wo er jährlich 35 Druckbogen statt bisher acht veröffentlichen konnte. Das Erscheinen endete mit Band 14 (1914) aufgrund des Ersten Weltkrieges. Eine „Zeitschrift für elementare Mathematik“ (Punkt 4) sollte das Spektrum ergänzen. Nach Kleins Vorschlag kaufte Teubner dafür 1900 das seit 1841 bestehende Archiv der Mathematik und Physik auf. Klein hatte an eine Zeitschrift 422 Vgl. STUBHAUG 2010, 289; Eneström war nicht Redaktionsmitglied der Acta mathematica.

274

5 Professur für Geometrie in Leipzig

für Studenten gedacht und hierfür das Vorbild der Pariser Nouvelles Annales de Mathématiques, journal des candidats aux écoles polytechnique et normale im Auge. Die seit 1896 durch Charles-Ange Laisant edierte Zeitschrift publizierte in den 1890er Jahren zahlreiche Arbeiten Kleins in Übersetzung. Nach Rückfrage bei Klein gewann Ackermann-Teubner Franz Meyer sowie die Berliner Emil Lampe und Eugen Jahnke als Herausgeber für das Archiv der Mathematik und Physik. Im Unterschied zum französischen Organ erschien das Archiv mit dem Untertitel „Mit besonderer Rücksicht auf die Befürfnisse der Lehrer an höheren Unterrichtsanstalten“. Als Anhang wurden die Sitzungsberichte der Berliner Mathematischen Gesellschaft beigefügt. Lampe starb 1918, Jahnke 1921. Mit Band 28 (1920) stellte die Zeitschrift ihr Erscheinen ein (vgl. Abschnitt 9.4.1). Kleins Idee von „Mathematischen Mitteilungen“ (Punkt 5) hatte dauerhaften Bestand. D.h., die heutigen DMV-Mitteilungen besitzen hier ihren Ursprung. Nachdem die ersten vier Bände des Jahresberichts der DMV bei Georg Reimers, Berlin, relativ langsam gedruckt worden waren, hatte die DMV bereits 1896 die Verlagsgeschäfte an Teubner gegeben. Bei den Plänen zur Reorganisation orientierte sich Klein am Vorbild der von Eduard Riecke und Hermann Theodor Simon im Jahre 1899 begründeten Physikalischen Zeitschrift (Verlag S. Hirzel, Leipzig). Klein und Ackermann-Teubner erwirkten, dass die DMV 1901 ein neues Programm für monatliche Ausgaben (Mitteilungen) beschloss. August Gutzmer, mit dem Klein gut kooperierte,423 übernahm die Herausgabe ab Band 11 (1902). Darin wurden erstmals Hochschulnachrichten, Antrittsvorlesungen, Vorträge, Reden, Personalnachrichten, Informationen über nationale und internationale Versammlungen, Ereignisse u.ä. publiziert. Neuntens. Das Verlagsprogramm bei Teubner profitierte von der „Kleinschen Unterrichtsreform“ (vgl. 8.3.4). Es erschienen nicht nur reformorientierte mathematische Schulbuchreihen neu. Klein ließ Vorträge und Reformvorschläge, Vorlesungen zum Mathematikunterricht, sowie das erwähnte 5-bändige Werk Abhandlungen über den mathematischen Unterricht in Deutschland hier publizieren. Er schrieb dazu Einführungs- und Schlussworte. Klein veranlasste auch, dass das erste Buch zur Mathematikdidaktik bei Teubner herauskam.424 Zehntens. Als der Verlag B. G. Teubner für den IV. Internationalen Mathematiker-Kongress in Rom 1908 den erwähnten, von Conrad Müller erarbeiteten umfangreichen Katalog (TEUBNER 1908) präsentierte, wurden „Bildnisse einiger der Hauptvertreter meines mathematisch-naturwissenschaftlichen Verlags“ beigefügt. Zu den abgebildeten Mathematikern gehörten nur Felix Klein, Carl Neumann und der Mathematikhistoriker Moritz Cantor.425 Als der Teubner-Verlag im Jahre 1911 sein 100-jähriges Jubiläum feierte, stiftete Ackermann-Teubner der Universität Leipzig ein Kapital von 20.000,00 Mark für einen „Alfred Ackermann-Teub423 Vgl. TOBIES 1988b; 2000b. 424 Der Wiener Pädagoge Alois Höfler, Schüler von Boltzmann, schrieb das Buch gemäß Kleins Reformvorschlägen vom Sommer 1904 an, vgl. Vorwort in HÖFLER 1910, XIII. 425 TEUBNER 1908, VI. Die historische Darstellung zum Mathematik-Programm in diesem Katalog zählte zu den Habilitationsleistungen von Conrad Müller, vgl. Abschnitt 8.3.1

5.6 Felix Klein und Alfred Ackermann-Teubner

275

ner-Gedächtnispreis zur Förderung der mathematischen Wissenschaften“. Gemäß Stiftungsurkunde war ein Preisgericht einzurichten: aus drei Professoren der Universität, zu bestimmen vom Senat, sowie weiteren zwei Mitgliedern, vom Vorstand der DMV zu wählen. Alfred Ackermann-Teubner verband die Vergabe des Preises mit der ENCYKLOPÄDIE: Der Preis soll einem Vertreter der Mathematischen Wissenschaften nachträglich für bedeutende, in den Bereich der von der Deutschen Mathematiker-Vereinigung inaugurierten und im Auftrage der Akademien der Wissenschaften zu Göttingen, Leipzig, München und Wien herausgegebenen Encyklopädie der Mathematischen Wissenschaften, Leipzig 1898ff. fallenden Arbeiten, – sei es, dass sie als Monographien oder als Abhandlungen oder in sonstiger Weise erschienen sind – die entweder einen hervorragenden wissenschaftlichen oder pädagogischen Fortschritt bedeuten […]

Der Stifter legte die Reihenfolge für die Preisvergabe fest und ergänzte, dass im Verlaufe der Zeit evtl. neu entstehende Gebiete ebenfalls zu bedenken seien: 1. Geschichte, Philosophie, Didaktik, Unterricht, 2. Mathematik (in erster Linie Arithmetik und Algebra), 3. Mechanik, 4. Mathematische Physik, 5. Mathematik, in erster Linie Analysis, 6. Astronomie, Ausgleichsrechnung und Fehlertheorie, 7. Angewandte Mathematik, in erster Linie Geometrie und 8. Angewandte Mathematik, soweit sie nicht bereits in den vorhergehenden Nummern berücksichtigt ist, insbesondere Geodäsie und Geophysik.426

Alfred Ackermannn-Teubner bestimmte den ersten Preisträger selbst und ehrte damit seinen Haupt-Kooperationspartner Felix Klein, der 1914 den ersten Preis mit einer Summe von 1.000,00 Mark erhielt. Klein fungierte danach bis zum Jahre 1922 als einer von der DMV gewählten Mathematiker im Preisgericht mit.427 Innerhalb des Teubner-Verlags ergaben sich während des Ersten Weltkrieges massive Gegenströme gegen die mathematisch-naturwissenschaftliche Sparte, die als Verlustgeschäft gesehen wurde. Ackermann-Teubner trat im Jahre 1916 vom Amt als persönlich haftender Gesellschafter der Geschäftsführung zurück, nahm nur noch repräsentative Aufgaben für die Firma wahr, wie er Klein (und Hilbert) in persönlichen Briefen erklärte.428 Er löste noch ein Klein gegebenes Versprechen ein, die ENCYKLOPÄDIE zu einem guten Abschluss zu führen (1935) – wenn dieser das auch nicht mehr erleben sollte. Allerdings führte dieser Rücktritt Alfred Ackermann-Teubners dazu, dass die im Teubner-Verlag begründete Zeitschrift Mathematische Annalen mit Band 51 (1920) zum Verlag Julius Springer wechselte. Auch Kleins Gesammelte Mathematische Abhandlungen (GMA, 1921-23) und weitere mathematische Bücher erschienen nicht mehr bei Teubner, sondern bei Springer (vgl. auch 9.2).

426 [UA Leipzig] Rep. III/II/I, Nr. 93, Bd. 4, Bl. 20. 427 Der Preis wurde aller zwei Jahre vergeben: 1916 E. Zermelo, 1918 L. Prandtl, 1920 G. Mie, 1922 P. Koebe etc. (Angabe der Preisträger in den Mathematischen Annalen). 428 Vgl. ACKERMANN/WEIß 2016, 31-34.

276

5 Professur für Geometrie in Leipzig

5.7 FELIX KLEIN IN LEIPZIGER KOMMUNIKATIONSGEMEINSCHAFTEN Felix Klein engagierte sich vor allem in einem Mathematisches Kränzchen, in der Fürstlich-Jablonowskischen Gesellschaft, der Kgl. Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig sowie in einem sog. „Professorium“. Das Professorium umfasste die Gesamtheit der Universitäts-Professoren, die in größeren Abständen und repräsentativen Räumen zu besonderen Anlässen zusammenkamen.429 Dieses Gremium ist erwähnenswert, weil es Klein 1886 für die Göttinger Universität ins Leben rufen sollte (vgl. 6.4.1). In Leipzig ging die Gründung auf den Physiker und Physiologen Ernst Heinrich Weber zurück, der sich hier sowohl in der Philosophischen als auch in der Medizinischen Fakultät habilitiert und im Jahre 1821 eine Professur für Anatomie erhalten hatte. E. H. Weber gilt auch als Begründer der polytechnischen Gesellschaft zu Leipzig (1825) sowie der Kgl. Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften (1846).430 5.7.1 Mathematisches Kränzchen Das Mathematische Kränzchen bestand in unterschiedlicher Zusammensetzung. Klein hatte es geschaffen, um Fragen von Lehre, Forschung, Organisation zu diskutieren. Im Wintersemester 1880/81 trafen sich unter seiner Leitung Walther Dyck, Adolf Hurwitz, Ernst Lange, Karl Rohn und Friedrich Schur.431 Hurwitz beneidete Klein um dieses Kränzchen noch von Göttingen aus, wo er „die erfrischende Anregung, welche ich im Laufe der Studienjahre stets hatte und welche die Arbeit so sehr fördert“, vermisste.432 In späteren Leipziger Semestern kamen die Professoren der Mathematik, einschließlich Heinrich Bruns als Astronom, in diesem Rahmen zusammen. Auf Initiative Kleins berieten sie den Studienplan, stimmten sie semesterweise das Lehrprogramm, Uhrzeiten und Raumwünsche u.a. ab. Dass nach Kleins Weggang die koordinierende Hand fehlte, geht aus einem Brief von Mayer hervor: Neulich waren wir zum ersten Male bei Lie’s zum erweiterten Kränzchen mit Damen u. ich habe mich gefreut, wie behaglich sie eingerichtet sind u. die Wirthe machen. Ein fühlbarer Mangel, der unter Ihrer Oberleitung sicher nicht vorgekommen wäre, ist, dass in diesem Semester gar keine Vorlesung für Anfänger gehalten wird: In der Diff.[erential] u. I[ntegral]rechnung setzt Scheibner algebra.[ische] Analysis voraus, die ewig lange nicht gelesen worden ist.433

In diesem Gremium konnten die Mathematiker auch darüber beraten, welche Preisaufgabe für die Fürstlich Jablonowskische Gesellschaft formuliert wird. 429 Klein in JACOBS 1877, Vorläufiges über Leipzig, Bl. 1. 430 Vgl. Rabl, Carl (1909): Geschichte der Anatomie an der Universität Leipzig. Leipzig: J. A. Barth, 82-84. 431 Klein in JACOBS 1877, Vorläufiges über Leipzig, Bl. 1; HASHAGEN 2003, 102. 432 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 932, Hurwitz an Klein, 21.6.1882. 433 Mayer an Klein, am 4.12.1886, in TOBIES/ROWE 1990,160.

5.7 Felix Klein in Leipziger Kommunikationsgemeinschaften

277

5.7.2 Fürstlich Jablonowskische Gesellschaft zu Leipzig Diese im Jahre 1769 gegründete, heute noch bestehende deutsch-polnische Gelehrtengesellschaft zur Förderung von Wissenschaft und Kultur ist in unserem Kontext vor allem wegen ihrer Preisaufgaben relevant. Die Statuten der Societas Jablonoviana sahen vor, jährlich einen Preis (700 bis 1000 Mark) zu stiften für Arbeiten in Mathematik, Physik, Ökonomie bzw. Geschichte. Die Bewerbungsschriften konnten in Deutsch, Latein oder Französisch verfasst sein. Adolf Hurwitz erkundigte sich am 21. Juni 1882 von Göttingen aus bei Klein: „Haben Sie die Preisaufgabe der Fürstlich Jablonowski’schen Gesellschaft gestellt?434 Die im März 1882 formulierte mathematische Preisaufgabe wurde nicht nur im Jahresbericht dieser Gelehrtengesellschaft publiziert, sondern auch in den Mathematischen Annalen (20 (1882) 146). Hurwitz vermutete mit Recht, dass die Aufgabe auf Klein zurückging. Es wurde verlangt, eine „Untersuchung der allgemeinen Flächen vierter Ordnung“ bis zum Jahre 1885 durchzuführen. Es wurde betont, dass die Theorie der Flächen dritter Ordnung mit den Arbeiten von Schläfli, Klein, Zeuthen und Rodenberg einen gewissen Abschluss erreicht hätten, und dass mit Plückers Neue Geometrie des Raumes, Rohns Untersuchungen über Kummersche Flächen sowie Arbeiten von Zeuthen u.a. über Flächen vierter Ordnung mit Doppelkegelschnitt Vorarbeiten für die Aufgabe existieren würden. Diese Preisaufgabe von 1882 ist auch deshalb bemerkenswert, weil Klein sie in München bereits mehrfach ähnlich gestellt hatte – und Brill dies dort fortsetzte. So hatte dort die Aufgabe für das Jahr 1876/77 gelautet: Bei den Curven vierter Ordnung mit zwei Doppelpunkten führt die Betrachtung der Schnittpunktsysteme zu elliptischen Integralen. Es wird verlangt, dass mit Hülfe dieser Integrale für die verschiedenen Gestalten, deren die Curve fähig ist, Realität und Lage der auch nicht adjungirten Berührungscurven discutirt und, wenigstens in einzelnen Fällen, eine numerische Bestimmung derselben durchgeführt werde.435

Klein strebte danach, die Kurven vierter Ordnung mittels Abelscher Integrale zu klassifizieren436 und wollte hier vorwärts kommen. Die Aufgabe war 1877/78 noch einmal gestellt worden; dennoch hatte sich kein Bearbeiter gefunden.437 Um die Theorie der rationalen Kurven vierter Ordnung zu entwickeln, war das Thema für 1879/80 neu formuliert, ausführlicher erläutert sowie in derselben Form für 1880/81 in München wiederholt worden: Unter den ebenen algebraischen Kurven sind die rationalen, deren Koordinaten sich den Werten eines veränderlichen Parameters eindeutig zuordnen lassen, einer eingehenden Behandlung am ehesten zugänglich. Namentlich dürfen die Eigenschaften der bezeichneten Kurven dritter und vierter Ordnung als festgestellt angesehen werden. Für eine der Verallgemeinerung fähige Darstellung dieser Kurven scheint es jedoch zweckmässig, andere als die bisher benützten Ausgangspunkte zu gewinnen. Es wird nun die Entwickelung einer Theorie der ra-

434 435 436 437

[UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 932, Hurwitz an Klein, 21.6.1882. BERICHT 1877, 27. Vgl. Klein 1922 GMA II, 99-169. BERICHT 1878, 17.

278

5 Professur für Geometrie in Leipzig tionalen Kurven vierter Ordnung gewünscht, welche sich auf die Gleichungen für die Parameter der Wendepunkte und Rückkehrpunkte derart gründet, dass alle Beziehungen möglichst in den Coeffzienten dieser Gleichungen ausgedrückt werden, wobei ein Anschluss an die Theorie der binären Formen anzustreben ist.438

Von den zwei preiswürdigen Schriften des Jahres 1881 stammte eine von Friedrich Dingeldey, der schon bei Klein in München gehört hatte. Er erhielt den halben Preis439 und promovierte 1885 in Leipzig mit dem Thema „Über die Erzeugung von Kurven 4. Ordnung durch Bewegungsmechanismen“. Bezug zu diesem Themenfeld besaß ebenso die erwähnte Arbeit von Paul Domsch (vgl. 5.5.2.3). Kleins Preisaufgaben deuten an, welcher Gegenstand ihm zu einem bestimmten Zeitpunkt besonders wichtig war (vgl. dazu Abschnitte 5.5.8, und 8.3.2). 5.7.3 Kgl. Sächsische Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig Felix Klein wurde am 24. Juli 1882 zum ordentlichen Mitglied der mathematischphysikalischen Classe der Kgl. Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig440 gewählt. Der 17 Jahre ältere Wilhelm Wundt, seit 1874 Professor in Leipzig, avancierte erst am selben Tag in diese Position, ebenso Christian Braune, seit 1872 Ordinarius für Topographische Anatomie an der Universität. Es bestand keine Extraklasse für medizinische Fächer. Mit beiden Neugewählten kooperierte Klein. Als er Leipzig wieder verließ, wurde er zum 1. April 1886 auswärtiges ordentliches Mitglied dieser Sächsischen Akademie.441 Obgleich die Akten dieser Institution weitgehend Kriegsverlust sind, lässt sich Kleins außergewöhnliches Engagement erschließen. Klein notierte für das Jahr 1884: „Aufkrämpelung der Leipziger Ges.[ellschaft] d.[er] Wiss.[enschaften]. Moebius’ Ausgabe.“442 Dieses Aufkrempeln im Sinne von Umgestalten umfasste: Erstens erreichte Klein gemeinsam mit dem Secretar der mathematisch-physikalischen Classe, dem Professor für Physiologie Carl Ludwig, dass am 16. Mai 1884 folgende Nachträge zu den Statuten der Gesellschaft an das Ministerium nach Dresden geschickt wurden: a) b) c)

Die Beschränkung der Zahl der ordentlichen einheimischen Mitglieder auf 40 wird aufgehoben. Zur Abstimmung sind nur die in der betreffenden Sitzung anwesenden ordentlichen einheimischen Mitglieder berechtigt. Hinsichtlich der Auswärtigen Mitglieder kann jede Klasse selbst festlegen, ob sie Vorträge halten, an Sitzungen der Klasse teilnehmen und Publikationen einreichen dürfen.443

438 BERICHT 1881, 19. 439 Ebd., 20. –– Das Thema enthält noch immer offene Probleme, vgl. z.B. http://www.iaz.unistuttgart.de/AbDartheo/ehemalige/Oehms/zula.html 440 Gegründet am 23.6.1846; seit 1.7.1919 Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. 441 https://www.saw-leipzig.de/de/mitglieder/kleinf 442 Klein in JACOBS 1977, Vorläufiges über Leipzig, Bl. 3. 443 [StA Dresden] 10272/4, Bl. 246.

5.7 Felix Klein in Leipziger Kommunikationsgemeinschaften

279

Das Sächsische Kultusministerium genehmigte die Nachträge, sodass Schüler von Klein, die Professuren in Sachsen bekleideten, vergleichsweise schnell o. Mitglieder wurden: Axel Harnack am 18.7.1885 und Karl Rohn am 2.12.1889.444 Zweitens galt Kleins Bemühen dem Schriftenaustausch. Weil seine Kollegen die Mühe scheuten, schrieb er bereits vor seiner Mitgliedschaft am 3. Mai 1881 an Darboux und erbat im Namen von Scheibner, C. Neumann und A. Mayer den „Austausch […] zwischen den Publicationen der mathematisch-phyikalischen Classe der hiesigen k. sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften und dem Bulletin de la Société mathématique in Paris“.445 Kleins Umkrempeln der Gesellschaft bedeutete drittens, dass er nicht nur eigene Ergebnisse schnell publizieren konnte. Er erhielt 1884 auch die Erlaubnis, „[…] fremde Arbeiten, die nicht zu lang sind und wissenschaftlichen Inhalt haben, vorzulegen!“ Dies schrieb er an Hurwitz und forderte ihn und Lindemann auf, ihm geeignete Arbeiten zu schicken.446 Zudem präsentierte Klein Arbeiten weiterer Schüler (Biedermann, Dyck, Otto Fischer, Gierster, Hurwitz, Rohn, Staude, Willibald Reichardt) und Seminarteilnehmer (Molien, Morera, Pick, Hilbert) in den Sitzungen der Classe.447 Viertens kümmerte sich Klein um die Herausgabe der Gesammelten Abhandlungen von August Ferdinand Möbius als „Akademie“-Projekt. Kleins Interesse an Möbius beruhte vor allem darauf, dass er in dessen Arbeiten früh Berührungspunkte mit seinen eigenen Arbeiten gesehen hatte.448 Bereits im oben genannten Brief an Darboux vom 3. Mai 1881 hatte sich Klein nach einer Schrift Question des Polyèdres (1861) erkundigt, mit welcher sich Möbius für einen Preis der Pariser Akademie beworben hatte.449 Klein hatte hinzugefügt: „Schon seit vielen Jahren denkt man an eine Herausgabe von Moebius Werken; ich fürchte nur, dass es noch lange dauert, ehe etwas daraus wird, weil die Nächstbeteiligten keine rechte Initiative haben.“450 Kurze Zeit später erfuhr Klein, dass Richard Baltzer, seit 1864 Mitglied der Sächsischen Gesellschaft und Professor an der Universität Gießen, sich gleichfalls dafür interessierte.451 Daraufhin wurden Baltzer, Klein und Scheibner von der Gesellschaft mit der Herausgabe beauftragt. 444 Kleins Stimme zählte auch bei Berufungen an der TH Dresden. Am 5.1.1885 schrieb er an Harnack: „Rohn steht den anderen vier Candidaten, was Selbständigkeit der wissenschaftlichen Persönlichkeit betrifft, meines Erachtens voran […]“. Somit lautete die Vorschlagsliste für die zweite Professur für Mathematik und analytische Mechanik (Nachfolge Aurel Voß) neben Axel Harnack: 1. Karl Rohn, 2. Otto Staude, 3. Friedrich Schur und Hans v. Mangoldt. [StA Dresden] 15547 (Geheimakten zu verschiedenen Berufungsvorgängen). 445 [Paris] Nr. 72, Klein an Darboux, Brief v. 3.5.1881. 446 [UBG] Math. Archiv 77: 126, Klein an Hurwitz, Postkarte v. 19.11.1884. 447 Vgl. REGISTER 1889. Hilberts von Klein präsentierte Arbeit war „Über eine allgemeine Gattung irrationaler Invarianten und Covarianten für eine binäre Grundform geraden Grades“ (Jb math.-phys. Kl. 37, 1885, 427-38). 448 Vgl. hierzu KLEIN 1926 Vorlesungen I, 116-19; PLUMP 2014; DOMBROWSKI 1990, 330. 449 Die 1858 gestellte Preisaufgabe lautete: « Perfectionner en quelque point important la théorie géométrique des polyèdres ». 450 [Paris] Nr. 72, Klein an Darboux, Brief v. 3.5.1881. 451 Ebd., Nr. 74, Klein an Darboux, Brief v. 28.5.1881.

280

5 Professur für Geometrie in Leipzig

Baltzer edierte Band I (die mit dem barycentrischen Calcul in Kontext stehenden Arbeiten). Klein verantwortete Band II (weitere geometrische Arbeiten) und Band III (Statik). In den Vorreden zu Band II (Oktober 1885) und III (Februar 1886) bedankte sich Klein für die Mitarbeit beim Privatdozenten Otto Staude, bei Oberlehrer Dr. C. Reinhardt452 und bei den französischen Kollegen Bertrand und Darboux. Kurz bevor Klein nach Göttingen wechselte, erfuhr Hurwitz: „Möbius III kommt noch zum Abschluss und allerlei halbe Beziehungen, unter deren Unvollständigkeit ich zu leiden hatte, werden noch geklärt.“453 Von Göttingen aus beteiligte sich Klein noch an Band IV (Astronomie u.a.), den Scheibner leitete. Carl Ludwig, Secretär der Classe und dreißig Jahre älter als Klein, lud ihn noch am 8. Oktober 1887 zu einer Sitzung der „Moebius-Commission“ für Samstag, den 22.10., 15.00 Uhr, nach Leipzig ein. Da Klein meinte, verzichtbar zu sein, folgte zwei Tage später ein Brief mit dem aufschlussreichen Bemerken: Verehrtester Freund, Sie am 22. October zu entbehren? Das wäre unmöglich. Noch sind mancherlei Hindernisse[,] die dem Abschluß von Moebius Werken entgegen stehen[,] zu überwinden, und da Sie bis dahin die Seele des Unternehmens waren[,] so werden Sie sich auch für dessen tadellose, vorwurfsfreie Vollendung begeistern.454

Ludwig legte dieser Post an Klein eine neu aufgefundene Abhandlung von Möbius (zu geometrischer Addition und Multiplikation) bei, die Klein noch in Band IV aufnehmen ließ und in einem zusätzlichen Vorwort erklärte. Fünftens. Für den Start der Edition der Werke von Hermann Graßmann bedurfte es ebenfalls des „Blitzschlags“ durch das Auswärtige Mitglied Felix Klein: Verehrter lieber Herr College, Ihr Blitz hat eingeschlagen. Heute hat auf den Vortrag [Friedrich] Engels hin die Classe eine Commission gewählt nach alphabetischer Ordnung und dem Rechte nach Klein, Lie, Mayer, Scheibner; Engel als Schriftwart. Wir hoffen[,] dass Sie geneigt sind, sich der Bitte unserem Beirath angehören willfahren und uns so oft als wir Ihres Rathes bedürfen bereitwillig bey stehen.455

Vor diesem Leipziger Akademie-Projekt hatte Victor Schlegel einige Arbeiten Hermann Graßmanns herausgebracht. Schlegel war eine Zeitlang Lehrerkollege von Graßmann an derselben Schule gewesen. Klein hatte Schlegels erstes Buch, System der Raumlehre. Nach den Principien der Grassmann’schen Ausdehnungslehre und als Einleitung in dieselbe dargestellt. I Theil. Geometrie. Die Gebiete des Punktes, der Geraden und der Ebene (Leipzig (1872) rezensiert, allerdings ziemlich kritisch.456 Dennoch ermöglichte Klein diesem sechs Jahre älteren Gymnasiallehrer, dass er mit Theil II Die Elemente der modernen Geometrie und Algebra (Leipzig 1875) noch im Jahre 1881 in Leipzig promovieren konnte.457 452 453 454 455 456 457

Curt Reinhardt hatte 1882 bei W. Scheibner und C. Neumann promoviert. [UBG] Math. Archiv 77: 154, Klein an Hurwitz, 2.3.1886. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 883, 884 (Carl Ludwig an Klein, 8.10.1887). Ebd., 887, Carl Ludwig an Klein, Brief v. 5.12.1892. Vgl. hierzu ROWE 1996, wiederholt aufgenommen in ROWE 2018a, 95-103. V. Schlegel reichte die Arbeit Die Elemente der modernen Geometrie und Algebra 1875 am 14.11.1881 ein. Klein war Erstgutachter, C. Neumann Zweitgutachter, KÖNIG 1882, A6-2. – Auch nach Chicago fuhr Klein mit 2 Beiträgen von Schlegel, vgl. MOORE et al. 1896, 331-40.

5.8 Leipzig den Rücken kehren

281

Für die neue Edition wünschte Klein jedoch Bearbeiter, denen er eine anspruchsvolle wissenschaftliche Kommentierung zutraute. Er holte dafür das Einverständnis der Familie Grassmanns458 und, wie erwähnt, Friedrich Engels Zusage ein. Danach nahm Klein am 17. Oktober 1892 in Leipzig an einer Sitzung der mathematisch-physikalischen Classe teil, um den Anstoß zu geben. Neben Engel empfahl Klein weitere geeignete Mitarbeiter, insbesondere Jacob Lüroth, und entwarf Bedingungen für einen Verlagscontract mit B.G. Teubner.459 Friedrich Engel, der das Gesamtprojekt betreute, beschrieb im Vorwort zu Band I (1894) Kleins Initiative und dass er sich nach seinem Anstoß weitgehend zurückgezogen habe. Die Graßmann-Werke erschienen in drei Bänden mit je zwei Teilbänden im Zeitraum von 1894 bis 1911 (Nachdruck: New York 1972). Sechstens nutzte Klein die Kontakte im Rahmen der breit orientierten Classe, um weitere Schüler spezifisch zu fördern. So brachte er seinen Doktorschüler Otto Fischer in Kontakt mit dem Anatomen Christian Braune und dem Physiologen Carl Ludwig. Fischer fühlte sich bereits 1886 wohl in einer „Doppelstellung als mathematisch-anatomischer Asssitent einerseits und als Probekandidat am Leipziger Relagymnasium andererseits“.460 Er konnte sich 1893 für Physiologische Physik habilitieren und erhielt 1896 eine a.o. Professur an der Medizinischen Fakultät. Fischer wurde ein anerkannter Vertreter der Biophysik. Die Kgl. Sächsische Gesellschaft der Wissenschaften wählte ihn 1893 zum a.o. Mitglied und 1905 zum o. Mitglied. Zuvor hatte er den Beitrag Physiologische Mechanik (Bewegungsphysiologie) für Band IV (Mechanik) der ENCYKLOPÄDIE vollendet. Wilhelm Lorey bezeichnete Otto Fischers Weg als „ein ganz besonders treffendes Beispiel […] wie Klein es mit seiner scharfen Erkenntnis menschlicher Begabung immer verstanden hat, jeden in die ihm gemäß liegende Richtung zu lenken.“461 5.8 LEIPZIG DEN RÜCKEN KEHREN Ähnlich wie dem Wechsel Kleins von München nach Leipzig lag dem Weggehen aus Leipzig ein langes Wiederwegsehnen zugrunde, gepaart mit längeren Entscheidungsprozessen. Das Wegsehnen beruhte vor allem auf seiner Unzufriedenheit mit der eigenen mathematischen Produktivität und darauf, dass er zu viele Nebentätigkeiten zu bewältigen hatte. So schrieb er etwa am 10. März 1885 an Hurwitz, mit dem er damals die intensivste wissenschaftliche Korrespondenz pflegte: Was mich angeht, so gerathe ich immer tiefer in Geschäfte untergeordneter Art hinein, so dass mir zu selbständigem wissenschaftlichen Denken fast alle Zeit fehlt.462

458 Briefe des Sohnes an F. Klein v. 18.9. und 26.9.1892 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 486, 487. 459 Klein an Ludwig, Antwortentwurf v. 10.12.1892 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: Anlage zu 887; Brief v. Lüroth an Klein, v. 29.11.1892, ebd., 897. 460 Otto Fischer an Klein, 12.5.1886 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 40. 461 LOREY 1926, 141. 462 [UBG] Math. Archiv 77: 136, Klein an Hurwitz, 10.3.1885.

282

5 Professur für Geometrie in Leipzig

Klein erhoffte durch Ortswechsel wieder mehr Zeit für Wissenschaft zu gewinnen. Er prüfte Angebote aus Großbritannien, den USA (Abschnitt 5.8.1) und aus Göttingen (5.8.2). Das Angebot, nach Baltimore (USA) zu kommen, ist bei PARSHALL/ROWE (1994) gut beschrieben. Der Weg an die Universität Göttingen ist in mancher Literatur ungenau bzw. falsch dargestellt.463 Beide Vorgänge sollen anhand neuer Quellen und Korrespondenzen beleuchtet werden. Die damalige Möglichkeit, seinen eigenen Nachfolger bestimmen zu können, war Klein schon in Erlangen und München gelungen. Hier soll gezeigt werden, wie Klein den Norweger Sophus Lie für Leipzig gewinnen konnte und welche Reaktionen dies bei anderen Mathematikern hervorrief. (Abschnitt 5.8.3) 5.8.1 Das Abwägen von Oxford und Baltimore Felix Klein teilte dem Sächsischen Kultusministerium am 9. Dezember 1883 mit: Seit jetzt 10 Jahren mit Prof. Cayley in Cambridge (dem ersten Mathematiker England’s) persönlich befreundet, erhielt ich von diesem während der vergangenen Osterferien die Aufforderung, mich um den damals durch den Tod von Stephen Smith vavant gewordenen Lehrstuhl für höhere Geometrie in Oxford zu bewerben. Ich habe das damals nicht gethan, da sich bei näherer Erkundigung die Oxforder Verhältnisse als ungünstig erwiesen: nicht in materieller, wohl aber in ideeller Beziehung, indem Disposition für eigentlich höhere mathematische Studien dortselbst nicht vorhanden zu sein scheint. Nun aber schreibt mir Cayley am 5. Oktober, daß Sylvester in Baltimore seine Stelle an der Johns Hopkins University dortselbst niederzulegen beschlossen habe und er inofficiell beauftragt sei, mich zu fragen, ob ich eventuell geneigt sei, Sylvester’s Nachfolger zu werden. Ich muß sagen, daß diese Aufforderung mir sehr viel Verlockendes enthält: alle Verhältnisse in Baltimore sind neu und erst im Werden begriffen; es bietet sich die großartige Perspective einer durchaus selbständigen und vielleicht sehr erfolgreichen Wirksamkeit.464

Cayley hatte, eingeladen durch Sylvester, von Januar bis Mai 1882 einen Vorlesungskurs an der seit 1876 bestehenden privaten Johns Hopkins University in Baltimore gehalten und berichtete Klein über die dortigen Verhältnisse. Klein reizte das Angebot; er informierte Gordan und andere befreundete Kollegen über die Aussicht auf Sylvesters Nachfolge weitaus früher als das Ministerium in Dresden. Gordan gratulierte bereits am 22. Oktober 1883: „Zu Baltimore meine herzlichsten Glückwünsche; wie die Sache auch geht, kommt doch etwas Gutes für Sie heraus.“465 Dies war jedoch ein Trugschluss. Als Klein das offizielle Rufangebot von Präsident Gilman der Johns Hopkins University am 12. Dezember 1883 nach Dresden sandte, begegnete ihm das Ministerium „unhöflich“.466 Minister Carl von Gerber drückte zwar aus, dass er „die ausgezeichnete Lehrkraft“ für die Leipziger Universität zu erhalten wünsche, unterbreitete jedoch keinerlei entgegenkommendes Anerbieten. Vielmehr wurde darauf verwiesen, dass Kleins 463 464 465 466

FREI 1984, worauf weitere Autoren aufbauten. [StA Dresden] 10281/184, Bl. 25. 25v, Klein an das Sächs. Kultusministerium, am 9.12.1883. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: Nr. 434, Bl. 39. Klein in JACOBS 1977, Vorläufiges über Leipzig, Bl. 3.

5.8 Leipzig den Rücken kehren

283

vielfältige Wünsche immer bereitwillig erfüllt worden seien und jetzt erwartet werde, dass er „die Berufung an eine aussereuropäische Lehranstalt […] von selbst und aus freien Stücken ablehnen würde […]“.467 Schon aufgrund dieses Nichtentgegenkommens wäre Klein nun gern gegangen. Er entwickelte einen Wirbel von Gesprächen und Korrespondenzen mit der Familie, Freunden und Kollegen, um sich zu beraten. Sophus Lie empfahl ihm einerseits, unbedingt dem Rufe zu folgen, auch um der Rivalität mit den Berlinern zu entfliehen. Andererseits äußerte er Bedenken, da er ihn selber weniger sehen könne und die Mathematischen Annalen leiden könnten: „Du bist ja da der Mittelpunkt“.468 Sei diskutierten bereits die Frage, ob Lie in Leipzig Klein nachfolgen würde. Lie zeigte sich geneigt, wog die Für und Wider ab und betonte: auch wenn es jetzt mit dem Ruf nach Leipzig nichts werden sollte, so würde er doch „[…] Jahre lang auf die Anerkennung leben, die Du mir in Deinem Briefe gezollt hast. Und ich werde Dir es nie vergessen.“469 Klein formulierte im Dezember 1883 ein langes, sechs DIN A 4–Seiten umfassendes Concept für ein Antwortschreiben nach Baltimore, in dem es u.a. hieß: Lassen Sie mich vorausschicken, dass ich im Prinzip für die Annahme der Berufung bin. Mich reizt die Neuheit der Aufgabe, die Grossartigkeit der Perspective, welche sich darbietet: ich bin sogar jung genug, um in dem Wechsel selbst etwas zu finden, was mich anregt. Aber dem steht die Unsicherheit des Erfolgs, die Schwierigkeit des Unternehmen’s, vor allem aber der Umstand entgegen, dass ich seit jetzt 3 Jahren hier in Leipzig eine Stellung ersten Ranges bekleide, welche seitens unserer Universität mit allen Attributen zu einer erfolgreichen Wirksamkeit im grossen Style ausgestattet ist. Es steht ihm entgegen, dass ich in einer nun 13-jährigen Docententhätigkeit mit der jüngeren Generation der deutschen und ich darf sagen, der europäischen Mathematiker auf das Innigste verwachsen bin, dass Freunde und Verwandte mich auf das Lebhafteste beschwören, mich nicht von ihnen zu trennen.470

Klein verschwieg nicht sein Gesundheitsproblem, dass „durch Ueberarbeitung in früheren Jahren mein Nervensystem erschüttert [ist], so dass ich zu Asthma, Magenverstimmung etc. neige“. Er betonte, dass er eine strenge Diät einhalte und „seit Jahren Abends nicht in Gesellschaft gehe“. Alles im allem meinte er, den Ruf nur annehmen zu können, wenn er ebenso wie Sylvester gestellt würde, d.h. insbesondere, sich wie Sylvester auf wenige Spezialvorlesungen konzentrieren könne und wie dieser materiell gesichert sei, „[…] (statt 5000 Dollar per annum, die Sie mir in Aussicht stellen, deren 6000 und ausserdem Miethsentschädigung). Ich betrachte als unerlässliche Vorbedingung für meine Annahme, dass ich in beiderlei Hinsicht hinter Sylvester nicht zurücktrete.“ Als weitere Vorbedingung nannte Klein die Sicherstellung seiner Familie. „Sterbe ich, so erhält meine Frau aus der hiesigen Witwencasse eine Pension von jährlich 1400 – 1600 Mark, also etwa 400 Dollar.“ Zudem schwebte Klein die Vorsorge für den Krankheitsfall vor. 467 Brief v. Gerbers, 21.12.1883, Abschrift in [UBG] Cod. Ms. F. Klein 22 L: Bl. 31, 31v. 468 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 690/1, Brief v. Dez. 1883. – Obgleich Sophus Lie die von Mittag-Leffler begründeten Acta mathematica mit auf den Weg gebracht hatte, publizierte er darin nicht; er bezeichnete den Herausgeber als intriganten Politiker. 469 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 691-696, vgl. auch STUBHAUG 2003, 216-17. 470 Kleins Concept v. 18.12.1883 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 22 L: Bl. 23-25v, Zitat, 23-23v.

284

5 Professur für Geometrie in Leipzig

Auch wenn Klein den entsprechenden Satz im Concept wieder strich, schien ihm das Denken daran wichtig. Der deutsche Professor bezog auch bei „länger andauernder Krankheit sein Gehalt ungeschmälert“ und ihm wird „höchstens ein jüngerer College als Ersatz an die Seite gestellt […].“ Etwas Derartiges gab es in den USA nicht. Im Abschlusssatz formulierte Klein dezidiert, dass er „die Unterhandlungen als abgeschlossen ansehen“ würde, wenn ihm innerhalb von sechs Wochen, bis Ende Januar 1884, keine Antwort zugegangen sei. Als Hurwitz anfragte, antwortete Klein: „Das mit Baltimore ist wahr aber noch nicht klar; ich erwarte täglich Antwort auf vorläufige Fragen, die ich gestellt habe, und entscheide mich auf alle Fälle langsam.“471 Da Klein seine Bedingungen in Baltimore nicht erfüllt sah, blieb er in Leipzig. Er teilte dies am 1. Februar 1884 dem Sächsischem Kultusministerium mit.472 Als sich wenig später eine andere Möglichkeit bot, Sachsen zu verlassen, war er umso mehr erfreut. 5.8.2 Der Physiker Eduard Riecke holt Klein nach Göttingen Am 13. März 1885 informierte Felix Klein das Kultusministerium in Dresden „[…] daß er bereits am 18. Januar 1885 von der Philosophischen Fakultät Göttingen dem Preußischen Ministerium als Erster als Nachfolger von Professor Stern vorgeschlagen wurde.“473 Dieser Vorgang besaß eine längere Vorgeschichte; und bis Klein den Ruf aus Preußen tatsächlich erhielt, sollte weitere Zeit vergehen. Am 19. April 1884 hatte Moritz Abraham Stern „Dispensation von der Verpflichtung, Vorlesungen zu halten“ erbeten. Er wollte seinen Wohnsitz zum Sohn Alfred nach Bern verlegen, weil er seine einzige Tochter in Göttingen verloren hatte.474 Ein Kaiserlicher Erlaß vom 12. September 1884 genehmigte dies zum 1. Oktober 1884.475 Eduard Riecke schrieb am 19. September 1884 an Klein: Du kennst ja die Schwierigkeiten, welche uns aus den Persönlichkeiten von Schwarz und Schering, aus der Rücksicht, die wir Enneper schuldig sind, erwachsen, und Du kannst es besser beurtheilen, was uns in wissenschaftlicher Beziehung noth tut. Am schönsten wäre es, wenn wir Dich selbst wieder nach Göttingen bekommen könnten, doch wird dazu kaum eine Hoffnung vorhanden sein.476

Als Klein andeutete, dass er Leipzig durchaus gern den Rücken kehren würde, unternahm Riecke alles, um vorhandene Hürden zu überwinden. Schwarz und Schering wollten unbedingt Georg Hettner durchbringen.477 Über die von ihnen 471 472 473 474 475

[UBG] Math.Archiv 77: 110 (Klein an Hurwitz, 19.1.1884). [StA Dresden] 10281, Bl. 31. Ebd., Bl. 33. Vgl. Rudio, F. (1897): „Erinnerungen an Moritz Abraham Stern“. Jahresbericht DMV 4, 35. Stern behielt volles Gehalt; mit einem Teil des Geldes verfügte er eine Stern-Stiftung zugunsten von Witwen und Waisen der Göttinger Universitäts- und Bibliotheks-Pedellen, von Hausverwaltern der Aula und des Auditorienhauses, [UAG] Kur. 5846, Bl. 80-86; 8764. 476 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 111: 505 (Riecke an Klein, 19.9.1884). 477 Ebd. 506, Riecke an Klein, Brief v. 4.10.1884. – Hettner hatte in Berlin promoviert, sich bei Schwarz 1879 in Göttingen habilitiert und war seit 1882 Extraordinarius in Berlin.

5.8 Leipzig den Rücken kehren

285

am 13. November 1884 beantragte „verstärkte“ Berufungskommission der Philosophischen Fakultät formulierte Dekan Wilhelm Müller, Germanist, der schon Kleins Habilitationskolloquium 1871 beigewohnt hatte478, im Protokoll: Als Sachverständige und dem Fach nahestehende Mitglieder traten in die Commission ein: die Herren Schering, Schwarz, Weber (eventuell), Riecke, Voigt. Es wird zunächst zur Wahl eines anderen Mitgliedes geschritten, der eventuell für H. Geh. R. Weber einzutreten hätte. Die Zahl der Abstimmenden ist 22. Es erhalten die Herren G. E. Müller 12 St.[immen]; [Carl] Klein479 10 St.[immen] Demnach ist H.[err] G. E. Müller gewählt. Als dem Fach fernerstehende Mitglieder werden gewählt H.[err] Geh. R. Sauppe mit 16 St.[immen].480

Nicht Schwarz und Schering obsiegten, sondern Riecke gewann die Mehrheit der Kommissionsmitglieder. Riecke formulierte handschriftlich den Textentwurf für den Berufungsvorschlag und die Liste: 1) Klein, 2) Voss, 3) Enneper. Dies unterschrieben der Dekan Wilhelm Müller, der Philologe Hermann Sauppe, der theoretische Physiker Woldemar Voigt und der Psychologe Georg-Elias Müller. Schering und Schwarz setzten darunter „Mit Vorbehalt eines Separatvotums“.481 Riecke informierte Klein am 4. Dezember 1884: „In der gestrigen Commissionssitzung ist einstimmig beschlossen, Dich und Voss vorzuschlagen; […] gegen die Stimme von Schwarz […]. Dagegen ist Hettner […] abgelehnt worden.“482 Der Berufungsvorschlag der Fakultät ging jedoch erst am 28. Januar 1885 mit Separatvoten von Schwarz und Schering an den preußischen Kultusminister. Schering und Schwarz plädierten, wie gesagt, für Georg Hettner: Schering mit ungenauen Argumenten, Schwarz mit dem Argument, dass dieser die in Göttingen fehlende Algebra einbringen könne. Beide hatten getrennte Separatvoten verfasst, weil sich Schwarz nicht für Alfred Enneper als Ordinarius einsetzen mochte, was Schering bevorzugte. Schering gab kein Urteil über Klein ab, sondern bemerkte nur, dass aus seiner Sicht der „projektivischen Geometrie“ eine zu hohe Wertschätzung beigemessen würde. Schwarz’ Separatvotum enthielt auch anerkennende Worte über Felix Klein: „Wenn die Berufung des Herrn Prof. Klein gelingt, so wird damit eine hervorragende Lehrkraft und ein bedeutender Gelehrter für unsere Universität und für unser preußisches Vaterland gewonnen.“ (Vgl. detailliert Anhang Nr. 4 des vorliegenden Buches.) Wenn wir das Agieren von H. A. Schwarz näher beleuchten, so war sein Verhalten durchaus zwiespältig. Zwar kam er nicht umhin, offiziell in seinem Separatvotum ein lobendes Urteil über Klein zu verlieren, aber er intrigierte versteckt. Die Fakultätsakten dokumentieren eine Denunziation: Schwarz sei Paul de Lagarde, Orientalist, auf der Straße begegnet und habe ihn auf wissenschaftliche 478 479 480 481

[UAG] Phil. Dek. 156, Bl. 508-509. Professor für Mineralogie, ab 1887 Professur in Berlin; auf ihn folgte Theodor Liebisch. [UAG] Phil. Fak. 170a, Nr. 39a, 39b. Ebd. Nr. 41Z-41ff, ohne Datumsangabe; Der Bericht befindet sich in der Dekanatsakte (Bl. 41gg-41kk) und in Abschrift auch in Kleins Personalakte [UAG] Kur. 5956. 482 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 11: 509.

286

5 Professur für Geometrie in Leipzig

Differenzen zwischen Felix Klein und Lazarus Fuchs verwiesen (vgl. 5.5.5). Lagarde wurde veranlasst, am 25. Januar 1885 eine Art Denunziationsschreiben vor die Fakultätsöffentlichkeit zu bringen. Darin verwies er auf die Göttinger Nachrichten vom 4.3.1882 (Fuchs) und die Mathematischen Annalen (19, S. 564; 20, S. 52; 21, S. 143, 214-16) (Kleins Erwiderung), worin sich die Differenzen spiegeln würden. Die detaillierten Angaben aus den Zeitschriften stammten keineswegs von Lagarde selbst. Lagarde schlussfolgerte: „Grund genug, an dem nicht vorbeizugehn, was Fuchs gegen Klein gesagt hatte.“483 Den Universitätskurator, damals der Jurist Adolf von Warnstedt, mag dies beeinflusst haben. Die Post der Fakultät an das Ministerium musste offiziell über den Kurator gehen. Dieser nahm sich heraus, den Separatvoten mehr Gewicht zu verleihen als dem Mehrheitsvorschlag der Fakultät. Er formulierte im Begleitschreiben eine eigene Reihenfolge: 1) Hettner, 2) Klein, 3) Voß.484 Deshalb fragte das preußische Kultusministerium, d.h. Ministerialdirektor Friedrich Althoff, zuerst bei Georg Hettner an, ob er dem Ruf folgen würde. Hettner lehnte jedoch (zum Ärger von Weierstraß, Schwarz, Schering) mit dem Bemerken ab, „er habe literarisch noch nicht genug geleistet“, wie Althoff notierte.485 Enneper verstarb im März 1885. Da Althoff die Ansicht suggeriert worden war, Klein und Voss wollten nur ihre bisherigen Positionen verbessern und sie wären ohnehin zu teuer, ließ er die Angelegenheit zunächst ruhen. Erst als Althoff im Juli 1885 wegen einer astronomischen Berufungssache in Göttingen weilte, überzeugte ihn Riecke definitiv, dass Klein den Ruf annehmen würde. Riecke informierte Klein am 23. Juli: „Nun habe ich ganz sichere Nachricht, dass man im Ministerium Dich gern berufen würde, wenn nicht die Ansicht verbreitet worden wäre, dass die Berufung eine ganz aussichtslose sei.“486 Über Riecke ließ Althoff Kleins Bedingungen erfragen: 9.000.-Mark Gehalt und ein Lesezimmer für die Studenten. Klein wurde für Anfang August zu Althoff nach Berlin gebeten. Kleins Mitteilung an das Dresdner Ministerium schien den sächsischen Kultusminister von Gerber nun doch aufgeschreckt zu haben. Er ließ telegrafieren: „Excellenz lässt Ihnen für den Fall Ihres Dableibens in Leipzig ein Gehalt von jährlich neuntausend Mark anbieten.“487 Klein war auf Weggehen gepolt und akzeptierte Althoffs Anerbieten von 9040 Mark (8500 M jährliche Besoldung plus jährlich Wohnungsgeldzuschuss von 540 M). Bisher hatte das Maximum eines Gehalts für einen o. Professor in Göttingen 7.200 Mark betragen.488 Klein erklärte in seiner Antwort an das sächsische Ministerium, dass ihm „der Charakter und die Tragweite meiner wissenschaftlichen Thätigkeit“ bestimmt hätten und fügte an: „Die Parteiverhältnisse innerhalb der Mathematik sind so unvernünftig entwickelt, dass ich in den nun verflossenen 10 Semestern meiner 483 484 485 486 487 488

[UAG] Phil. Fak. 170a, Nr. 41uu-41vv. [StA Berlin] Abt. Merseburg, Rep. 76 Va Sekt. 6, Tit. IV Nr. 1, Bd. 11, Bl. 195-98v. Ebd. 195v. – Vgl. detailliert TOBIES 1991, 90-93; zu Weierstraß BIERMANN 1988, 144. [UBG] Cod. Ms F. Klein 11: 511, vgl. auch Anhang Nr. 12. [StA Dresden] 10281/184, Bl. 41; Telegramm v.11.8.1885. [StA Berlin] Abt. Merseburg, Rep. 76 Va Sekt. 6, Tit. IV Nr. 1, Bd. 11, Bl. 313v, 314.

5.8 Leipzig den Rücken kehren

287

Leipziger Thätigkeit unter etwa 100 Theilnehmern meiner höheren Seminare nicht einen preussischen Candidaten und nur einen norddeutschen (aus Braunschweig) zählte.“489 Klein war jetzt 36 Jahre alt und ihm schwebte eine noch breitere Wirksamkeit vor, d.h. insbesondere Einfluss in Preußen und das Aufheben der Dominanz der Berliner. Ein Schreiben von Schwarz an Weierstraß lässt erkennen, dass er definitiv nicht mit Kleins Berufung gerechnet und offensichtlich Angst vor dessen Einfluss hatte. Nachdem Klein am 13. August 1885 Schwarz mitgeteilt hatte, dass seine Verhandlungen mit Althoff im positiven Sinne gediehen seien, schrieb Schwarz an seinen Doktorvater nach Berlin: Es ist also doch der Fall eingetreten, den ich für so unwahrscheinlich gehalten habe! […] Wer kann voraussagen, wie sich die nächste Zukunft für meine Lehrtätigkeit gestalten wird? Vielleicht wird in Folge Ihres Beschlusses, fortan nicht mehr Vorlesungen zu halten, eine größere Zahl von strebsamen Studirenden der Mathematik sich nach Göttingen wenden, da sie die eigentliche Functionentheorie in Berlin nicht mehr vertreten finden; ich besorge [sic!] aber, dass, wenn Ihre Prophezeihung bezüglich der Schwierigkeit des Zusammenwirkens mit Herrn Klein in Erfüllung gehen sollte, der Wunsch eine „Luftveränderung“ für mich ein sehr dringender werden wird […].490

Nach dem erwähnten wissenschaftlichen Sommerurlaub mit Hurwitz fuhr Klein mit seiner Frau am 10. September 1885 nach Göttingen, wo sie vor allem zu Gast bei Eduard Riecke waren, eine Wohnung auswählten und im Oktober mieteten. H. A. Schwarz nahm das Angebot an, Klein in Leipzig zu besuchen491 – und rechnete sich dadurch aus, womöglich als Nachfolger dort in Frage zu kommen. Klein wollte ihm jedoch besonders die von ihm etablierten Institutionen vorführen. Nachdem „Seine Majestät der Kaiser und König“ schließlich am 2. November 1885 die Bestallungsurkunde zum o. Professor an der Georg-August-Universität unterzeichnet hatte,492 sandte Klein im Dezember noch einen Antrag an das Curatorium der Göttinger Universität, um einen „Lese- und Arbeitsraum“ einrichten zu lassen, und sah den Weg für die Zeit ab 1. April 1886 geebnet.493 In einem Brief an Hurwitz träumte Klein von den nächsten gemeinsamen Herbstferien und philosophierte: Ob ich wohl je wieder der Beschaulichkeit des eigentlichen Gelehrtenlebens werde zurückgegeben werden? Die Möglichkeit dazu ist in G.[öttingen] vorhanden, ob sie aber zur Wirklichkeit wird, scheint mir sehr unwahrscheinlich.494

Beschaulichkeit war Kleins Sache nicht; und er ahnte schon, dass er wieder in Aktivität verfallen würde – wie dies Riecke auch erwartete (vgl. Anhang Nr. 12).

489 [StA Dresden] 10281/184, Bl. 42-43. – Die Zahl 100 ist für die Mitglieder in den Leipziger Seminaren überhöht angegeben. 490 Schwarz an Weierstraß, Brief aus Dänemark v. 22.8.1885, in CONFALONIERI (o.D.), 279. 491 Klein in JACOBS 1977, Vorläufiges über Leipzig, Bl. 4 492 [UAG] Phil. Fak. 171a, Nr. 19a. 493 [UBG] Math. Archiv 77: 150, Klein an Hurwitz, 13.12.1885; 151/2, 3.1.1886. 494 Ebd., 147, Klein an Hurwitz 24.9.1885.

288

5 Professur für Geometrie in Leipzig

5.8.3 Installation des Nachfolgers Sophus Lie und Reaktionen darauf Klein wünschte Sophus Lie als seinen Nachfolger. Ihm allein traute er zu, „eine selbständige geometrische Schule zu begründen“. Das war das Hauptargument im ausführlichen Antrag, den Klein eigenhändig für den Berufungsvorschlag formulierte.495 Klein wusste sich mit Lie freundschaftlich verbunden, erwartete, dass dieser die neue Leipziger Institution als internationalen Anziehungspunkt fortsetzen könnte und war sich gewiss, dass er gern kommen würde. Lie hatte dies bereits signalisiert, als Baltimore in Aussicht stand, und er hatte – bevor Friedrich Engel zu ihm geschickt worden war – ausgedrückt: „Wenn ich nächst-mal nach Deutschland komme bleibe ich längere Zeit dort. Möchte es mir bald möglich werden! Es ist einsam, schrecklich einsam hier in Chr[istiani]a, wo kein Mensch meine Arbeiten und Interessen versteht!“496 Kleins erster Antragsentwurf für den Berufungsvorschlag stammte vom 28. Oktober 1885.497 Aber am 7. November schrieb er entnervt an Adolf Hurwitz: Es ist lange, dass ich nicht geschrieben habe, weil mir die Berufungsangelegenheit Zeit und Humur absobirt hat. Ich bin mit [Carl] N.[eumann] ganz aus einander gerathen, und wenn ich auch in der Facultät einen vollständigen Sieg erstritten habe, so fragt sich noch was das Ministerium thun wird, dem neben dem Facultätsvotum ein Separatvotum eingereicht werden soll.498

Die Differenz mit Carl Neumann bestand zunächst darin, dass dieser für Adolph Mayer ein Ordinariat wünschte. Mayer, Honorarprofessor und finanziell hinreichend abgesichert, ließ jedoch durch Klein in der Fakultätssitzung erklären, dass er „[…] in der Berufung eines Geometers auf die vacante Stelle keine Zurücksetzung erblicke.“ Nachdem Klein den Entwurf noch einmal überarbeitet und die Mehrheit der Fakultät Ende November dafür gestimmt hatte, verfassten Neumann, Scheibner und der Physiker Wilhelm Hankel dennoch ein Separatvotum. Allerdings wandten sie sich nicht gegen Sophus Lie. Wie H. A. Schwarz Weierstraß wissen ließ, sei Lie für Carl Neumann gar eine angenehme Wahl gewesen, „weil er in demselben keinen Concurrenten auf functionentheoretischem Gebiete erhielt“.499 Das Separatvotum richtete sich gegen Lindemann, Voss und Harnack, die als weitere Kandidaten im Berufungsvorschlag standen. Lindemann sei nicht mehr Geometer; die anderen beiden würden nicht über die in Leipzig schon vorhandenen Dozenten hinausragen.500

495 496 497 498 499 500

[UA Leipzig] PA 693, Bl. 31. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 689, Lie an Klein, Sept. 1883. Vgl. hier und im Folgenden [UA Leipzig] PA 693, Bl. 29-36. [UBG] Math. Archiv 77: 149, Brief v. 27.11.1885. Brief von Schwarz an Weierstraß v. 3.4.1886, zitiert nach CONFALONIERI (o.D.), 297. [StA Dresden] 10281/212, Bl. 2-9 (Berufungsvorschlag), 10-15 (Separatvotum), Zitat Bl. 77v. Axel Harnack wurde im Antrag genannt, aber dessen schlechter Gesundheitszustand erwähnt; er starb am 3.4.1888.

5.8 Leipzig den Rücken kehren

289

Klein aber hatte das fernere Gedeihen „seiner“ Institute im Blick und im Antrag formuliert, dass ein Director erforderlich sei, „[…] der durch seine frühere Thätigkeit Verständnis und Interesse für die hier in Betracht kommenden Aufgaben bereits gezeigt hat: Voß und Lindemann genügen beide dieser Anforderung, und es ist deshalb für den unerwünschten Fall, dass Lie ablehnen sollte, nach Ansicht der Facultät eine Berufung von Lindemann oder Voss schon im Interesse der Institute nicht zu umgehen.“501 Nachdem der Fakultätsvorschlag am 12. Dezember 1885 an das Sächsische Kultusministerium geschickt worden war, ging der Ruf unmittelbar nach Norwegen. Klein konnte Georg Pick und David Hilbert bei der gemeinsamen Silvesterfeier berichten, dass Lie ihm positiv geantwortet habe. Lie schrieb: „Es ist mehr als merkwürdig, dass Du es durchgesetzt hast. Wenn Du es nur nie bereust!“502 Nach vielen Briefen hin und her sowie Regelungen in Norwegen akzeptierte Lie den Ruf mit Schreiben vom 16. Januar 1886 an das Ministerium. Im Februar kam er vorab nach Deutschland; Klein begleitete ihn nach Dresden. Klein hatte seine Absichten früh breit vermittelt, so z.B. an Gaston Darboux bereits am 21. November 1885 aus Leipzig berichtet: Vielleicht haben Sie schon gehört, dass ich im Begriffe stehe, demnächst (d.h. am 1. April 1886) nach Göttingen überzusiedeln. Ich habe hier mehr Arbeit gefunden, als mir zuträglich ist, und bin doch wieder mit meinen Ideen nicht so durchgedrungen, wie ich es gewünscht hätte. Es kommen noch einige strict private Beweggründe hinzu: Rücksicht auf meine Familie etc. Was würden Sie sagen, wenn es bei dieser Gelegenheit gelänge, Lie nach Leipzig zu bringen? Ich arbeite daran, aber ich bin nicht sicher, ob ich durchdringe.503

Darboux reagierte darauf mit Brief vom 2. Januar 1886, dass er inzwischen vom Rufangebot an Lie gehört habe, dieser aber wohl noch in Christiania zurückgehalten würde, und er ergänzte an Klein gerichtet: „J’espère que nous vous verrons un de ces jours […].“504 In Deutschland gab es Kollegen, die Kleins Information missverstanden. Das betraf H. A. Schwarz,505 aber auch Schüler von Klein. Sie vermuteten, dass evtl. nicht Lie, sondern sie selbst gemeint sein könnten. Schwarz berichtete Weierstraß am 7. Dezember 1885, dass ihm Klein über die Vorschläge der Leipziger Fakultät geschrieben habe: „1. Lie. 2. Lindemann. 3. Voss. Daneben ein Separatum, welches nur Lie in Betracht zu ziehen bittet“. Schwarz kommentierte dazu: Wenn ich nun richtig vermuthe, daß unter 1. Sie und nicht Lie zu lesen [ist], dann würde mir die Auszeichnung Theil geworden sein, primo loco in Vorschlag gebracht worden zu sein, und dies ist für mich sehr erfreulich: die Lesung Lie ist bei der nicht sehr leserlichen Schrift an beiden Stellen möglich, aber der Vorschlag von Sophus Lie scheint mir nicht sehr wahrscheinlich, wenn auch möglich; vielleicht wissen Sie Näheres.506

501 502 503 504 505 506

[UA Leipzig] PA 693, Bl. 35R. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 712/1 (Brief v. Lie an Klein, Ankunft 31.12.1885 in Leipzig). [Paris] Klein an Darboux, Brief Nr. 76, v. 21.11.1885. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 503, Darboux an Klein. – Das Wiedersehen erfolgte erst 1887. Schwarz war nicht the rival candidate für Kleins Nachfolge, wie GRAY 2013, 490, vermutet. Schwarz an Weierstraß, zitiert nach CONFALONIERI (o.D.), 286.

290

5 Professur für Geometrie in Leipzig

Weierstraß antwortete darauf: Sehr leid hat es mir gethan, daß Klein’s flüchtige Handschrift Ihnen eine […] Enttäuschung bereitet hat. Ich kannte den Sachverhalt etwa einen Tag früher als Sie aus guter Quelle; Kronecker wollte erst nicht daran glauben. Wäre Leipzig eine Preußische Universität, so würde ich mich verpflichtet halten, über ein so unerhörtes Verfahren, wie es der Leipziger Facultät beliebt hat, das eine Beleidigung für alle jetzt in kräftigem Mannesalter stehenden deutschen Mathematiker, an der zuständigen Stelle ein offenes Wort zu reden. Lie hat ja, das will ich nicht leugnen, einige werthvolle Arbeiten geliefert, ist aber weder in wissenschaftlicher noch als Lehrer ein Mann von solcher Bedeutung, dass man ihn, allen in Betracht kommenden Inländern vorzuziehen berechtigt wäre. Nun wird es heißen, es sei ein zweiter Abel, den man um jeden Preis habe gewinnen müssen. Ein schöner Anfang der neuen Aera, die unter Kleins Präsidentschaft beginnen soll! P.[aul] Dubois trifft doch zuweilen den Nagel auf den Kopf, er nannte vor Jahren schon das Trifolium Klein – Lie – Mayer „société thuriféraire“.507

Bis nach Sachsen reichte jedoch der Arm von Weierstraß nicht. Dass aber nicht nur Schwarz Kleins Schreiben über die Leipziger Rufangelegenheit missdeutete, sondern auch Lindemann und Hurwitz in Königsberg, war bisher weniger bekannt. Hurwitz informierte Klein am 14. Dezember 1885: Lindemann hat Ihren Brief erhalten und mir den Inhalt mitgetheilt. Er wusste aber nicht, ob es an der einen Stelle heißt, „welches Lie“ oder „welches Sie acceptirt“. Sollte Lindemann den Ruf erhalten, so bin ich überzeugt, dass er ihn annehmen wird. Ein erschwerendes Moment für Lie ist jedenfalls die sich heute geltend machende Strömung, welche von deren Gegnern als „Nationalitätenschwindel“ bezeichnet wird.508

Klein half Lie über vielfältige Anfangsschwierigkeiten hinweg. Auf Kleins Rat hin stellte sich Lie in Göttingen bei Schwarz vor, wobei er das Gespräch aufgrund unterschiedlicher mathematischer Denkweisen als schwierig empfand. Lie konstatierte im nachfolgenden Brief an Klein: „[…] dass es in Deutschland ausser Dich [Dir] vielleicht Niemand giebt[,] den ich besser verstehe.“509 Lie benutzte im Sommer 1886 Kleins ausgearbeitete Vorlesung zur projektiven Geometrie und erbat weitere seiner Vorlesungen. Klein hatte für Lie wunschgemäß Abschriften von Weierstraß-Vorlesungen besorgt;510 und Lie versuchte, nach Kleins Vorbild mit begabten Studenten mathematisch zu arbeiten. Bei seinen Vorlesungsangeboten folgte er Kleins bisherigem Plan.511 Klein half bei kleineren Dingen, wie geeignete Themen für Lies Staatsexamenskandidaten zu finden; und er reiste gemeinsam mit Lie im September 1886 zur Naturforscherversammlung nach Berlin, sah dessen Vortrag durch (das Problem mit Helmholtz, vgl. dazu auch Abschnitt 6.3.6) und versuchte weiterhin, ihn zu etablieren.512 Lie stimmte sich mit Klein ab, wie er Eduard Study und Friedrich Schur fördern könnte und 507 508 509 510 511

Ebd., 288. – Trifolium = Kleeblatt; société thuriféraire = sich beweihräuchernde Gesellschaft. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 1010, Hurwitz an Klein Brief v. 14.12.1885. Ebd. 10: 718, Lie an Klein. Ebd. 10: 694/1, 695, Lie an Klein (Briefe o.D., v. 1884) [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 721, Lie an Klein (Anfang Juli 1886); 730 (8.12.1886); 732 (3.3.1887), 733 (o.D, 1887). 512 Ebd. 10: 722, 723, 724, 725

5.8 Leipzig den Rücken kehren

291

welche Vorlesungen diese Privatdozenten anbieten könnten. Lie fragte wiederholt: „Stimmt dies Alles mit Deinem Plane [überein]?“513 Lie stand vor einer Vielfalt neuer Aufgaben und wollte seine selbst diagnostizierten Schwierigkeiten im Umgang mit anderen überwinden. Er wollte lernen, auf andere zuzugehen, sich mit Kollegen und Studenten zu verständigen. Er ärgerte sich über Carl Neumann, der ihm Studenten und den Famulus abzuwerben suchte, der „sich selbst in großer Rücksichtlosigkeit“ übertraf und ausgerechnet geometrische Vorlesungen ankündigte.514 Lie fühlte sich von Kollegen und vom Ministerium schlecht behandelt, „chicanirt“ (aus Prüfungskommissionen gedrängt). Klein erfuhr alle Probleme, wurde um Rat gebeten. Hinzu trat Lies Angst, andere Mathematiker könnten ihn nicht hinreichend würdigen, oder jemand könnte Ergebnisse in „seinem“ Gebiet erringen. Als die Arbeiten Wilhelm Killings in den Mathematischen Annalen erschienen, erreichte Lies Ärger einen Höhepunkt. Es betraf Klein als Herausgeber der Zeitschrift mit.515 Dies belastete das Verhältnis zwischen Lie und Klein, der immer wieder auszugleichen versuchte. Drei Jahre nachdem Lie die Professur in Leipzig angetreten hatte, erkrankte er psychisch so schwer, dass der Leipziger Neurologe Paul Flechsig ihn in der privaten Heilanstalt des Geh. Sanitätsraths Dr. Ferdinand Wahrendorff (1862 gegründet als Asyl für psychisch Kranke) in Ilten bei Hannover unterbrachte.516 Über die konkreten Anlässe von Lies Erkrankung wurde zunächst viel spekuliert. Felix Klein nahm Anteil an seinem Ergehen, erkundigte sich regelmäßig bei Adolph Mayer.517 Nach erkennbarer Besserung wollte Klein Sophus Lie wieder in Projekte einbeziehen, traf jedoch auf Misstrauen und paranoide Charakterzüge. Lie konnte in Leipzig noch eine fruchtbare Tätigkeit ausüben, zahlreiche hervorragende Schüler hervorbringen. Das Verhältnis mit Klein blieb gespannt, obgleich dieser immer wieder Lies besondere wissenschaftliche Leistungen in seinen Vorträgen und bei Preisverleihungen hervorheben sollte.518 Sophus Lie litt weiterhin an der schubweise auftretenden Erkrankung. Diese wurde später als perniziöse Anämie diagnostiziert – wie Elling Holst im Jahre 1898 an Klein mitteilte.519

513 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 730, Lie an Klein, 8.12.1886. 514 Ebd. 10: 727, Lie an Klein, Brief v. 2.11.1886; 735 (o.D. 1887, nach Ostern); 736 (o.D. Herbst 1887). 515 Ebd. 10: 741 (o.D., 1888). – Vgl. auch die Analyse in ROWE 1988. 516 Heute besteht dort ein Klinikum Wahrendorff als psychiatrisches und psychotherapeutisches Fachkrankenhaus. 517 Zu Kleins Anteilnahme an Lies Befinden vgl. TOBIES/ROWE 1990, 178-86. 518 Vgl. Abschnitt 6.3.5. 519 Vgl. CZICHOWSKI/FRITZSCHE 1993, 191-93

292

5 Professur für Geometrie in Leipzig

Abb. 26: Gründungsmitglieder der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, 18.9.1890

6 START ALS PROFESSOR IN GÖTTINGEN, 1886 – 1892 Am 1. April 1886 startete Felix Klein als Ordinarius in Preußen, dem größten deutschen Land mit den meisten Universitäten: in Berlin, Bonn, Breslau, Göttingen, Greifswald, Halle, Kiel (preußisch seit 1867), Königsberg, Marburg (seit 1866), Straßburg (von 1871-1918), und mit einer Akademie in Münster1. Dazu kamen polytechnische Schulen in Aachen, Berlin, Hannover, woraus Technische Hochschulen erwuchsen, sowie die Bergakademie in Clausthal. Das in Berlin ansässige Ministerium war für die Besetzung der Positionen an diesen Einrichtungen zuständig. Auf den mathematischen Lehrstühlen dominierten in Berlin Ausgebildete. Mit und durch Felix Klein sollte sich das allmählich ändern. Die ersten sechs Göttinger Jahre waren eine Anlaufphase für Klein. Um institutionelle Belange musste er sich weniger kümmern. Es existierte das Kgl. mathematisch-physikalische Seminar (vgl. 2.8.1). Klein wurde am 28. April 1886 als Mitdirektor, neben Riecke, Schering, Schwarz, Voigt, begrüßt und suchte sofort die Abstimmung über das von ihm verwaltete, mit dem Seminar verbundene studentische Lesezimmer.2 Die vorhandene Modellsammlung und eine Seminarbibliothek unterstanden H. A. Schwarz. Einen Assistenten gab es nicht. Nach eigenem Vermelden konzentrierte sich Klein auf mathematische Arbeiten und forschungsorientierte Lehre. Dennoch entwickelte er darüber hinausgehende Pläne. Klein war inzwischen für eine fünfköpfige Familie verantwortlich, die noch anwachsen sollte. (Abschnitt 6.1) Er wünschte ein einvernehmliches Zusammenwirken mit den Kollegen, dennoch empfanden manche sein Auftreten als Dirigat. (6.2) Er baute alte Forschungsstränge aus, kooperierte mit bisherigen Partnern und gewann Neue für spezifische Felder. Dazu gehörte eine zunehmende Zahl Studierender aus dem In- und Ausland, deren Wege er maßgeblich prägte. (6.3) Sich für die universitären Ziele insgesamt verantwortlich fühlend, versuchte Klein wie bisher, bestehende Gremien zu reformieren, neue zu etablieren bzw. für seine Ziele zu nutzen. Er formulierte erneut seine generelle Absicht, Mathematik mit anderen Gebieten, insbesondere technischen Gebieten, zu verknüpfen. Der Erfolg derartiger Bestrebungen blieb in diesen Jahren begrenzt. (6.4) Erst der Wechsel von Hermann Amandus Schwarz nach Berlin und Kleins Verzicht auf die Annahme eines Rufes an die Universität München im Jahre 1892 schuf neue Bedingungen und weitgehend freie Bahn für Kleins Göttinger Ziele. (Abschnitt 6.5) 1 2

Diese katholische Akademie besaß eine Philosophische Fakultät mit Lehrstühlen und Promotionsrecht, wurde 1902 zur Universität erhoben. Das Lesezimmer hatte Klein neu beantragt, als Einrichtung des Seminars [UAG] Math.Nat. 0012. Im Herbst 1886 trat der Astronom Wilhelm Schur als Direktor des Seminars hinzu.

293 © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Tobies, Felix Klein, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58749-2_6

294

6 Start als Professor in Göttingen, 1886 – 1892

6.1 RÜCKSICHTNAHME AUF DIE FAMILIE Für Kleins Wechsel nach Göttingen waren nach seiner Ansicht bestimmend: „Haus mit Garten. Weniger Geschäfte. Preußen“ oder auch „Konzentriertes wiss. [enschaftliches] Dasein auf Basis eines vernünftigen Familienlebens“.3 Er bezog mit der Familie eine Wohnung in der Weender Chaussee 64 und lud im Mai 1886 seine Eltern ein, damit sie „[…] sich persönlich von dem sehr viel behaglicheren Stande meiner Familie Leipzig gegenüber überzeugen […]“ konnten.5 Als sich bei Anna und Felix Klein das vierte Kind, Tochter Elisabeth (*21. Mai 1888), ankündigte, entschied die Familie, ein eigenes Haus zu bauen: Wilhelm-Weber-Straße 3. Sie bezogen es am 22. Mai 18896 (Abb. 27). Es liegt in der Nähe des Botanischen Garten, den Klein nur zu durchqueren brauchte, um beim Auditoriengebäude zu sein, wo die Mathematiker lehrten.

Abb. 27: Wohnhaus Felix Kleins, Göttingen, Wilhelm Weber-Str. 3, Aufnahmen vom 31. Mai 2014

Im eigenen Haus fand nicht nur die Familie Platz. Auch Hausangestellte, Annas jüngste Schwester Sophie sowie Gäste konnten untergebracht werden. Adolf Hurwitz nahm das Angebot wiederholt an. In dieser ruhigen und zentrumsnah gelegenen Straße sollten sich später gleichfalls David Hilbert (Wilhelm-WeberStr. 29) und Carl Runge (Wilhelm-Weber-Str. 21) niederlassen. Von hier aus sollten später die berühmten Mathematiker-Spaziergänge donnerstags nachmittags starten. Daran beteiligte sich auch Hermann Minkowski, als er von 1902 bis 1909 unweit in der Planckstraße 15 wohnte.7 Der von Klein kreierte Brauch existierte noch, als Peter Debye 1913 nach Göttingen kam. Debye berichtete, dass Klein als Erster aus dem Haus trat und sich dann synchron anschlossen: Hilbert (mit Hund Pussy), Runge, er selbst mit Carathéodory und Prandtl (an der Ecke wartend) und schließlich Landau, der in der Herzberger 3 4 5 6 7

Klein in JACOBS 1977, Vorläufiges über Leipzig, Bl. 4 und Bl. 5. Angabe Kleins in seiner Korrespondenz. – Die Weender Chaussee wurde am 24.5.1923 in Weender Landstraße umbenannt, vgl. TAMKE/DRIEVER 2012, 213. [UBG] Math. Archiv 77: 156, Klein an Hurwitz, Brief v. 15.5.1886. Vgl. Klein in JACOBS 1977, Personalia 22 L, Bl. 3. Am 1.1.1898 benannt nach dem Juristen Gottlieb Planck (ein Onkel des Physikers).

6.2 Umgang mit Kollegen, Lehre und Lehrplanideen

295

Straße wohnte. Sie wanderten gemeinsam zum Gasthaus Rohns auf den Hainberg, „and at the Rohns all the faculty business was decided, independent of all the other people in the faculty!” Klein hatte dieses abgestimmte Vorgehen aufgrund seiner Erfahrungen mit anderen Fakultätsmitgliedern eingeführt.8

Abb. 28: Rohns Gasthaus auf dem Hainberg

6.2 UMGANG MIT KOLLEGEN, LEHRE UND LEHRPLANIDEEN Es wird beleuchtet, wie Klein versuchte, mit den Kollegen auszukommen, die sein Kommen nach Göttingen nicht gewünscht hatten; wie er die Privatdozenten zu gewinnen suchte und welche Ideen zur Reorganisation er entwickelte. 6.2.1 Zum Verhältnis Klein – Schwarz Klein sah hinsichtlich der Abstimmung mit dem sechs Jahre älteren Hermann Amandus Schwarz zunächst keine Probleme. So schrieb er an Adolf Hurwitz: Mit Schwarz komme ich über Erwarten gut zurecht: ich habe von dem Verkehr mit ihm wirklichen Gewinn und finde mich auch in praktischen Dingen mit ihm zusammen. Da ist doch wieder einmal Jemand, der ganz seinem Berufe lebt! Ich bin von L.[eipzig] her so daran gewöhnt, dass man sich für alles Andere zuerst und dann erst für Fortschritt in mathematischer Erkenntniss und Lehrthätigkeit erwärmt, dass ich Alles, was in dieser Richtung liegt, dankbar anerkenne.9

Klein hatte vorab H. A. Schwarz im Dezember 1885 noch einmal in Göttingen besucht. Er hatte im März 1886 Sophus Lie dorthin geschickt, um ein einver8 9

[Debye] 1962. [UBG] Math. Archiv 77: 156, Klein an Hurwitz, Brief v. 15.5.1886.

296

6 Start als Professor in Göttingen, 1886 – 1892

nehmliches Verhältnis vorzubereiten. Schwarz blieb nach außen korrekt; er hatte Lie empfangen und sich ihm zufolge durchaus positiv über Klein geäußert: Im grossen Ganzen hatte er eine recht correkt[e] Auffassung von Dir. Er hat offenbar wie Du die besten Vorsätze. Er schimpfte auf Mittag-Leffler und Kronecker. Es ist eigentlich eine komische Situation: er wünscht sich mit uns gegen Kronecker zu vereinigen. Er behauptete wie [Georg] Cantor, dass Weierstrass sich in dem Maasse über Kronecker geärgert hatte, dass er nie mehr Vorlesungen in Berlin halten würde.10

Beim Göttinger Treffen von Lie und H. A. Schwarz war Otto Hölder anwesend, der von Lie angetan war und sich kritisch über Schwarz’ lästige Wichtigtuerei äußerte.11 Und in Briefen an Weierstraß lästerte Schwarz hinterrücks über Klein: Neulich sagte mir Klein, dass Dirichlet langweilig geschrieben habe! Das sind ja schöne Aussichten, die sich da eröffnen. Und dabei diese unendliche Selbstgefälligkeit! Herr F[elix] K[lein] theilt mir mit, er habe speciell für mich, eine Abhandlung betreffend die hyperelliptischen σ-Functionen und die Entwicklung derselben nach den Moduln in der letzten Zeit ausgearbeitet.12

Klein hatte in seiner Arbeit „Ueber hyperelliptische Sigmafunctionen“ (vgl. Abschnitt 5.5.8) Weierstraß’ Theorie der elliptischen Funktionen nach H. A. Schwarz (1885), Formeln und Lehrsätze zum Gebrauche der elliptischen Functionen. Nach Vorlesungen und Aufzeichnungen des Herrn K. Weierstrass (Berlin: Julius Springer) zitiert, weil Weierstraß’ Vorlesungen unpubliziert waren. Schwarz entschied selten, ohne sich bei seinem Lehrer Weierstraß rückzuversichern. So teilte er diesem am 7. Mai 1886 mit, dass Felix Klein Mitglied der Royal Society of London geworden sei13 und ihm angeboten habe, seine älteren Arbeiten aus den Monatsberichten der Berliner Akademie in den Mathematischen Annalen erneut abzudrucken. Formal stand dem nichts entgegen; die Rechte lagen nach zwei Jahren beim Autor. Schwarz, bisher nicht Autor der Annalen, schien durchaus geneigt, hätte nicht Weierstraß sein Veto eingelegt. Dieser empfahl stattdessen, dass Schwarz seine auf Minimalflächen bezogenen Arbeiten in einem Band bei Springer vereinigen möge.14 Somit schlug Schwarz Kleins Kooperationsangebot aus, Spannungen verfestigten sich und veranlassten die Privatdozenten zum Lavieren zwischen den Ordinarien (Abschnitt 6.2.2). Es sei hier noch angemerkt, dass sich H. A. Schwarz – im Unterschied zu Klein – politisch als Wahlkämpfer betätigte, wie Hölder überlieferte. Bei den Wahlen zum 7. Deutschen Reichstag am 21. Februar 1887 hielt Schwarz Reden für die nationalliberale Partei, die Bismarck nahe stand. Schwarz zog mit „Kleistertopf über die Dörfer und klebte überall Plakate an“, schleppte alte und kranke Wähler ins Wahllokal.15 Felix Klein blieb neutral und trat nie einer Partei bei. 10 11 12 13 14

[UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 718, Lie an Klein (o.D., ca. März 1886). Otto Hölder, Brief v. 24.3.1886 an die Eltern, HILDEBRANDT/STAUDE-HÖLDER 2014, 215. Schwarz an Weierstraß, Brief v. 3.4.1886, zitiert nach CONFALONIERI (o.D.), 297. Schwarz wurde nicht Mitglied; Weierstraß war seit 12. Mai 1881 Foreign Member. Korrespondenz Schwarz – Weierstraß, in Confalonieri (o.D.), 298-300. – Schwarz publizierte daraufhin Gesammelte Mathematische Abhandlungen, 2 Bde., Berlin: Julius Springer, 1890. 15 Vgl. HILDEBRANDT et al. 2014, 238 (Brief v. Otto Hölder an die Eltern).

6.2 Umgang mit Kollegen, Lehre und Lehrplanideen

297

6.2.2 Die Göttinger Privatdozenten Hölder und Schönflies Als Klein nach Göttingen kam, fand er zwei Privatdozenten vor, die er zur Zusammenarbeit aufforderte: Otto Hölder und Arthur Schönflies16. Hölders Habilitation, die aufgrund des realgymnasialen Reifezeugnisses nicht in Leipzig hatte stattfinden können (vgl. Abschnitt 5.4.1), war im Juli 1884 durch Schwarz unterstützt worden. Arthur Schönflies entstammte einer jüdischen Familie, hatte in Berlin bei Kummer und Weierstraß studiert und dort 1877 mit einem Thema aus der synthetischen Geometrie promoviert.17 Das Gutachten für seine Göttinger Habilitation im November 1884 verfasste Moritz A. Stern. Schönflies’ Probevorlesung „Darstellung der Lehre von der Zusammensetzung der Kräfte und der Bewegung eines festen Körpers im Anschlusse an die bezüglichen Untersuchungen von Plücker und Ball“18 sowie weitere Arbeiten deuteten an, dass zwischen Schönflies und Klein schnell eine Affinität entstehen konnte (vgl. auch Abschnitt 6.3.7.2). Am ersten Sonntag nach Semesterbeginn lud Klein die Göttinger Privatdozenten nach Hause ein, nebst den gerade anwesenden Georg Pick und Eduard Study. Klein wollte sein Mathematisches Colloquium (Seminar) zu einem Anziehungspunkt für die Studenten gestalten, bat Hölder und Schönflies teilzunehmen, spürte aber überrascht deren „Widerspenstigkeit“. Klein hatte als Privatdozent mit Clebsch ein Seminar abgehalten und davon profitiert. Bisher war er gewohnt, dass Privatdozenten gern in seinem Seminar mitarbeiteten. Hölder war jedoch ängstlich auf Selbstständigkeit bedacht und bewog auch Arthur Schönflies, Kleins Angebot abzulehnen. Hölder hatte über seinen Doktorvater Paul du Bois-Reymond bei einem Besuch in Berlin schon im Herbst 1885 vom möglicherweise schwierigen Verhältnis zwischen Schwarz und Klein gehört: [Paul] Du Bois[-Reymond] wollte wissen, daß die Mißhelligkeiten zwischen Schwarz und Klein, die vorauszusehen waren, jetzt schon anfingen, so lange sie noch nicht beieinander sind. Wenn man ihm glauben darf, so hat sich Klein gleich bei den Verhandlungen über ein Seminar charakteristisch unbescheiden benommen. Schwarz soll sich deswegen von hier aus wegsehnen. Wenn ich ihm begegne, faßt er mich unter dem Arm und erklärt in sentimentalem Ton, daß er noch recht oft diesen Winter mit mir zusammen sein wolle; man wisse nicht, was im Schoß der Zukunft liege.19

Obwohl sich die Professoren wechselseitig einluden, blieb der Privatdozent vorsichtig. Hölder war bei H. A. Schwarz und Frau gemeinsam mit Anna und Felix Klein eingeladen („Klein im Frack und seine Frau in hochelegantem rothen Sammtkleid“). Dennoch berichtete Hölder im selben Atemzug von den in Berlin gehörten Aversionen und dass er ein Abhängigkeitsverhältnis vermeiden wolle: Ein solches Verhältnis könnte für mich sehr verhängnisvoll werden, wenn sich einmal Schwarz und Klein überwürfen, was jeden Tag möglich ist. Klein muß eben Alles und Alle 16 Zu Schönflies’ Biographie vgl. KAEMMEL 2006. 17 Schönflies, A.: Synthetisch-geometrische Untersuchungen über Flächen zweiten Grades und eine aus ihnen abgeleitete Regelfläche (Diss.), vgl. BIERMANN 1888, 354. 18 [UAG] Phil. Fak. 170a, Nr. 39a. 19 Hölder an seine Eltern, Brief v. 17.11.1885, in HILDEBRANDT et al. 2014, 202.

298

6 Start als Professor in Göttingen, 1886 – 1892 dirigiren und das kann man sich nicht gefallen lassen. Namentlich finde ich die Äußerung ziemlich schroff, die er that, dass dies Theilnehmen am Colloquium (was schließlich doch ein Seminar für Studenten ist) die einzige Möglichkeit sei, wie wir mit ihm in engem wissenschaftlichen Contact stehen könnten. Er entließ uns wenigstens äußerlich sehr freundlich.20

Derartige Empfindlichkeiten bedenkend, kreierte Klein im Herbst 1892 eine neue Kommunikationsform: die Göttinger Mathematische Gesellschaft (Abschnitt 7.2). Die Idee, Seminare mit Kollegen bzw. Assistenten abzuhalten, führte er allerdings später ebenfalls zur Meisterschaft, u.a. mit Hilbert und Minkowski. Klein setzte somit gesonderte Beratungen mit Otto Hölder an und förderte dessen Arbeiten. So schrieb Hölder schon im Mai 1886 an seine Eltern, dass Klein nicht nachtragend sei. Wenig später hieß es: „Das Verhältnis zu Klein ist jetzt ganz gut“. „Mit Klein habe ich jetzt mehr Verkehr. Auf morgen bin ich wieder zu einer wissenschaftlichen Besprechung bestellt. Die Arbeit, die ich ihm brachte, will er so schnell als möglich drucken lassen, was mir sehr angenehm ist.“ „Der arme Klein […] hat jetzt schon starke Anfälle von Asthma.“21 Arthur Schönflies befolgte Kleins Ratschläge stärker und hatte mit seiner Lehre größere Erfolge als Hölder.22 Als Klein für das Wintersemester 1886/87 Mechanik vorbereitete, bot Schönflies abgestimmt „Einleitung in die geometrischen Capitel der Mechanik“ an.23 In den folgenden Semestern übernahm Schönflies geometrische Vorlesungen für Anfängerstudenten. Als für Naturwissenschaftler mathematische Grundvorlesungen neu eingeführt werden sollten, gewann ihn Klein für eine „Allgemeine Einleitung in die Höhere Mathematik“.24 Das durch den verstorbenen Enneper frei gewordene Extraordinariat erhielt jedoch Hölder im April 1889. Als dieser im Herbst 1889 nach Tübingen wechselte, empfahl Klein Schönflies für diese Position, was Schwarz, Schering u.a. vereitelten. Klein erklärte Althoff bei einem erneuten Versuch im Jahre 1891: „Ich zweifle nicht, dass die Gründe für dieses ablehnende Verhalten vielfach mehr mich als Dr. Sch.[önflies] betrafen: indem sich Dr. Sch.[önflies] in seinen Vorlesungen und Arbeiten entschieden meinen Tendenzen angeschlossen hatte, fürchtete man meine Position zu stärken.“25 Klein argumentierte im selben Brief, […] dass wir gar in Göttingen nicht im Stande sind, das bisherige hochentwickelte Niveau unseres math.[ematischen] Unterrichts festzuhalten, wenn wir nicht, was die Bedürfnisse der Anfänger, der Studirenden der Naturwissenschaft etc. angeht, auf die Unterstützung von Seiten jüngerer Kräfte rechnen können. In der That zeigt das blosse Durchblättern der Vorlesungskataloge der letzten Jahre, dass wir fortgesetzt zwei math.[ematische] Hülfskräfte in dieser Hinsicht für die wichtigsten Aufgaben benutzt haben (zuerst Hölder und Schönflies, dann Schönflies und Burkhardt).

20 HILDEBRANDT et al. 2014, 215-19, Zitat (Brief v. 9.5.86) 217. 21 Ebd., 219-26 (Briefe v. 15.6., 27.6., 24.7.1886). 22 Vgl. Otto Hölder selbst zu seinen wenigen Studenten im Vergleich zu Schönflies, am 1.11.1887, und Kleins Versuch, Hölder zu unterstützen, am 13.11.1887, in ebd., 254, 255-56. 23 Göttinger Nachrichten 1886, Nr. 14, 471. 24 Göttinger Nachrichten 1887, Nr. 14, 355. 25 [UBG] Cod. Ms. F. Klein, 1C: 2, Bl. 32, Klein an Althoff, Briefentwurf v. 28.3.1891.

6.2 Umgang mit Kollegen, Lehre und Lehrplanideen

299

Klein erklärte zusätzlich, warum Schönflies (37 Jahre alt) das Extraordinariat erhalten müsse: „Dabei ist er Israelit und also ein Weiterkommen für ihn ohnehin schwierig.“ Vergeblich versuchte Klein mit dem Satz zu beeindrucken: „Erweist sich die Beförderung von Dr. Sch.[önflies] als unmöglich, dann ist der Unterricht der Anfänger, wie ich ihn mir denke und in den vergangenen Jahren mit Hülfe der Privatdoc.[enten] durchgeführt habe, auf lange hinaus gestört.“26 Es bedurfte erst der Stärkung von Kleins eigener Position in Göttingen, um dieses und weitere Vorhaben durchsetzen. 6.2.3 Kleins Lehre im Kontext Im Vorlesungsverzeichnis zum Sommer 1886, 28. April bis 15. August, standen zwei Veranstaltungen von Klein: „Ueber die Auflösung der algebraischen Gleichungen“ (Mo, Die, Do, Frei, 12.00 Uhr) und „Mathematisches Kolloquium, Mittwoch 11-1 Uhr“, öffentlich.27 Die Vorlesung (23 Hörer) orientierte sich am Ikosaederbuch und entsprach H. A. Schwarz’ Wunsch, dass die bisherige Lücke in Algebra zu füllen sei. Auch das Forschungsseminar „Ueber reguläre Körper und Dreiecksfunctionen“ widmete Klein diesem Feld.28 Mit Blick auf das seit 1884 geplante Buch kündigte er zusätzlich eine zweistündige Spezialvorlesung über elliptische Modulfunktionen (9 Hörer) an. Die drei Veranstaltungen sah er so: „Alles consequente Vorbereitung auf eine große Vorlesung im Sommer [18]87 über eindeutige Functionen mit linearen Transformationen in sich.“29 Neben Klein boten im Vorlesungsverzeichnis30 unter der Rubrik Mathematik und Astronomie die folgenden Personen Lehre an: Ernst Schering als ältester Mathematik-Ordinarius (vgl. Abschnitt 2.8.1); Hermann Amandus Schwarz; die erwähnten Privatdozenten Otto Hölder und Arthur Schönflies; der theoretische Physiker Woldemar Voigt und der Astronom Wilhelm Schur. Themen und Uhrzeiten der Veranstaltungen waren allerdings nicht koordiniert worden. Privatdozent Otto Hölder klagte im Brief an seine Eltern: Die Ansetzung meiner Vorlesungsstunde fürs nächste Semester hat mir diesmal viel Skrupel und Mühe gemacht. Es ist sehr unangenehm, daß die Sache nicht vorher gemeinsam besprochen wird. Nun erfährt unser einer meistentheils erst aus dem Correcturbogen des Vorlesungsverzeichnisses, wann und was die Andern lesen. Durch Klein ist mir meine seitherige Stunde weggenommen worden.31

26 27 28 29 30

[UBG] Cod. Ms. F. Klein, 1C: 2, Bl. 32v. Göttinger Nachrichten 1886, Nr. 5 (24.3.1886), 175-76. Zur Analyse von Kleins Göttinger Algebra-Veranstaltungen im SS 1886 vgl. HELLER 2015. [UBG] Math. Archiv 77: 156, Klein an Hurwitz, Brief v. 15.5.1886. Die historischen Vorlesungsverzeichnisse sind online verfügbar: https://gdz.sub.uni-goettingen.de/id/PPN654655340_1886_SS 31 Brief v. 14.2.1886 in HILDEBRANDT et al. 2014, 209.

300

6 Start als Professor in Göttingen, 1886 – 1892

Die Zahl der Hörer war knapp. Hurwitz meldete aus Königsberg, dass Lindemann, Hilbert und er selbst nur zwei bis vier Hörer hätten. Er sandte dennoch mehrfach begabte Schüler zu Klein, der ihm antwortete: Wir stecken jetzt tief in der Semesterarbeit. Freilich ist mein numerischer Erfolg nicht so, wie er sein könnte: in der Mechanik 17 und im Seminar u. Specialcolleg (höhere Gleich.[ungen]) nur 5. Alles Nicht-Göttinger! Zum Glück sind jetzt 2 Franzosen aufgetaucht, Schüler von Picard, die gut scheinen und nur noch durch Unkenntnis der Sprache behindert sind; das gibt denn etwas Leben. Im Uebrigen acceptiren wir dankbar jeden älteren math.[ematischen] Studenten, den man uns zuschicken mag; es könnte sonst wirklich dazu kommen, dass ich eines Tages den höheren Curs ganz aufstecken müsste!32

Die Franzosen Paul Painlevé und Nicolas Cor waren empfohlen durch Darboux gekommen, beteiligten sich 1886/87 ohne Vortrag am Seminar über Gruppentheorie und algebraische Gleichungen.33 Hölder schrieb wiederholt verblüfft über die Besuche „von jungen Mathematikern von dies- und jenseits des Oceans“, welche kämen, um zu Kleins Füßen zu sitzen, die er anregte und nach Hause einlud: Die Klein’sche Gesellschaft war sehr animirt; es wurde zugleich der Geburtstag von Frau Professor gefeiert. Schwarz war der einzige, der im Frack erschienen war […] Dann war da die Crème des Klein’schen Seminars, welche zur Zeit sehr amerikanisch ist. Diesmal haben diese exotischen Pflanzen auch unsere privatdocentlichen Wenigkeiten besucht, ohne dass wir übrigens denselben näher getreten wären.34

Otto Hölder fand schwer Zugang zu ausländischen Mathematikern. Dagegen sah Klein ein angestrebtes Ziel erreicht, wie er Althoff im Oktober 1891 mitteilte: Ich darf ja zufügen, was Ihnen vielleicht von anderer Seite schon bekannt ist, daß sich unsere Göttinger Frequenz in letzterer Hinsicht, wo nicht der Zahl nach so der Qualität nach, sehr sehr gehoben hat, u. daß wir im verflossenen Jahre das Ziel einer vollen, vornehmen internationalen Lehrtätigkeit zum ersten Male wirklich erreicht haben, wie es mir bei meiner Übersiedelung nach Göttingen von vornherein vorgeschwebt hatte.35

Bei Klein hörten in diesen Jahren weitere US-amerikanische (Fabian Franklin, Edward Burr Van Vleck, Frederick S. Woods, James Harrington Boyd, u.a.)36, französische (Henri Padé), polnische (B. Młodziejewski, Stanisłaus Kepinski, K. Zorawski), griechische (A. Carajaiannides) u.a. Hörer. Sie bekleideten schon eine Professur wie Franklin oder waren zum Teil bereits promoviert (Młodziejewski 1889 in Moskau; Zorawski 1891 bei Sophus Lie in Leipzig; Kepinski 1891 in

32 [UBG] Math. Arch. 77: 166 (Klein an Hurwitz, 9.11.1886). – Hurwitz sandte Felix Klitzkowski 1887, der im selben Jahr in Königsberg promovierte (Über die Integration der n-ten Wurzel aus einer rationalen Function), sowie Charles Jaccottet im Herbst 1893, der 1895 bei Klein den Doktortitel erwarb. 33 [Protokolle] Bd. 8, 264. Painlevé erwähnte später noch die unvergessene Studienzeit bei Klein, knüpfte mit seinem Schüler Auguste H. L. Boulanger an Kleins Methoden an [UBG] Cod. Ms. F. Klein 11: 159 (Painlevé an Klein, 19.2.1896). Er verfasste Gewöhnliche Differentialgleichungen. Existenz der Lösungen (1900) für Bd. II der ENCYKLOPÄDIE. 34 HILDEBRANDT et al. 2014, 242-43 (Briefe an die Eltern v. 4.5., 23.5.1887). 35 [StA Berlin] Rep. 92 Althoff A I Nr. 84, Bl. 82-83. 36 Deren Erfolge und Misserfolge sind detailliert beschrieben in PARSHALL/ROWE 1994.

6.2 Umgang mit Kollegen, Lehre und Lehrplanideen

301

Krakow).37 Aufgrund dieses Zulaufs fühlte sich Klein hinreichend selbstbewusst, um das Abstimmen der Lehre in die Hand zu nehmen. Erstens. Nach seinem Leipziger Beispiel organisierte Klein Zusammenkünfte, um Themen und Zeiten zu koordinieren. So plante er mit einer „Conferenz behufs der Vorlesungen“ im Juni 1887 für den Winter. Allerdings fiel es Schwarz und Schering schwer, sich zu einigen. Sie lasen über denselben Gegenstand.38 Die Abstimmung funktionierte nur zeitweise. 1891 berichtete Klein verzweifelt: Von meinem Hierherkommen an arbeitete ich, wie Sie wissen, mit der Idee der Cooperation sämmtlicher vorhandener coordinirter Kräfte. Aber die Durchführung dieses Systems hat sich, wie ich schon gelegentlich andeutete, je länger um so schwieriger gestaltet. Die bestimmte Wendung zum Schlechteren ist im Sommer [18]89 gerade dadurch eingetreten, dass ich seitens des K. Ministeriums in der einen oder der anderen Weise ausgezeichnet wurde. […] Ich habe also im verflossenen Wintersemester der allgemeinen Göttinger Tradition entsprechend für mich allein gelesen u. gearbeitet. Ob dies Verhalten am hiesigen Orte wirklich das einzig Richtige ist.39

Zweitens. Klein regelte nach Leipziger Vorbild erfolgreich, dass die Anforderungen für die Nebenfach-Studenten herabgesetzt wurden. Er etablierte dafür Anfangsvorlesungen für Naturwissenschaftler (gelesen von Schönflies). Damit wollte er das „Dilemma für den math.[ematischen] Dozenten: Zersplitterung“ beheben40 und sich auf die eigene forschungsorientierte Lehre konzentrieren können. Drittens gelang es Klein wie in Leipzig, Darstellende Geometrie als neue Lehrdisziplin einzuführen. Er gewann H. A. Schwarz dafür. Klein notierte für das Jahr 1888: „Darstellende Geometrie, von Schwarz mit Hilfe von Hölder und Schönflies abzuhalten.“ Klein und Schwarz beantragten im Dezember 1888 erfolgreich 3000 Mark, um die Sammlung zu erweitern und um Übungen in „Konstruktiver Geometrie“ abhalten zu können. Schwarz bot im Sommer 1889 Analytische Geometrie und leitete im Sommer 1890 „Geometrische Constructionsübungen“. Hölder lehrte u.a. „Ueber die Möglichkeit der Constructionen mit Cirkel und Lineal“, Schönflies „Ueber regelmäßige Theilung des Raumes, nebst Anwendungen besonders auf die Krystallographie“ (vgl. Abschnitt 6.3.7.2).41 Viertens. Klein erarbeitete gemeinsam mit Eduard Riecke „Ratschläge und Erläuterungen für die Studierenden der Mathematik und Physik“, die den Anfängern bei der Immatrikulation überreicht wurden. Im Bericht an Althoff regte 37 Vgl. das Projekt Studies and scientific research of Polish mathematicians, physicists and astronomers at the University of Goettingen von Danuta Ciesielska, Lech Maligranda, Joanna Zwierzynska. – Die Autorin dankt Danuta Ciesielska, die im Archiv fand, dass Klein 1900 die Ehrendoktorwürde anlässlich des 500-jährigen Jubiläums der Uniwersytet Jagielloński in Krakow erhielt. K. Zorawski war dort seit 1898 Professor. 38 HILDEBRANDT et al. 2014, 247. – Schwarz und Schering boten beide eine Einleitung in die Theorie der analytischen Funktionen an, vgl. Göttinger Nachrichten 1887, 355. 39 [UBG] Cod. Ms. F. Klein, 1C: 2, Bl. 31-32, Klein an Althoff, Briefentwurf v. 28.3.1891. – Klein erhielt 1889 den Roten Adler-Orden vierter Klasse, vgl. Abschnitt 6.3.6. 40 Klein in JACOBS 1977, 22 L. Personalia, Bl. 1. 41 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 2 E: Bl. 22 (Antrag von Klein und Schwarz). – Lehrangebot in Göttinger Nachrichten 1889, Nr. 5 (20.2.), 75; 1890, Nr. 2 (26.2.), 48.

302

6 Start als Professor in Göttingen, 1886 – 1892

Klein am 10. Juni 1890 an, dieses Vorhaben mit einem Ministerialerlass zu unterstützen. Es dauerte allerdings einige Jahre, bis Althoff ihm daraufhin schrieb: Ihr Studienplan für die Kandidaten des höheren Lehramts in Mathematik und Physik findet hier […] lebhaften Anklang, und es ist in Erwägung genommen, ob derselbe nicht für die Aufstellung der gleichen Studienpläne an andern Universitäten als Muster empfohlen werden soll.42

Fünftens. Im Sommer 1887 charakterisierte Klein die Grundsätze seiner damaligen Lehre: „Spezialvorlesungen. Geringe Frequenz“ sowie „Kursusvorlesungen betr. Mechanik u. math.[ematische] Physik“. Mechanik entsprach einem Wunsch der Physiker, den ihm Riecke bereits am 9. November 1884 angetragen hatte.43 Das passte zu Kleins mechanischem Programm, das er schon im Herbst 1881 formuliert hatte (vgl. Abschnitt 5.5). Klein sah darin eine gute Möglichkeit für die: „Weite des Gesichtskreises. Eigene Ausbildung.“44 So las er im Winter 1886/87 „Einleitung in die analytische Mechanik“.45 Er hatte dies zwar bereits in Erlangen und München gelehrt (in Leipzig war dieses Gebiet Adolph Mayers Domäne). Jetzt aber sah er eine Chance, mechanische Themen mit Geometrie und Funktionentheorie zu verweben. Klein berichtete an Sophus Lie nach Leipzig: Mayer hat Dir vielleicht erzählt, dass ich diesen Winter fleissig Mechanik gearbeitet habe. Dabei habe ich mich einstweilen gar nicht auf allgemeine Theorien erstreckt[,] sondern specielle Beispiele anschaulich behandelt, in Anlehnung an die Franzosen und zum Theil die Engländer. Ich kann nicht sagen, wie sehr mich diese Sachen interessiren und wie sehr ich bedauere, nun erst auf dieselben zu kommen, wo doch die erste Jugend und damit die Frische der Receptivität und die Leichtigkeit der eigenen Ideenbildung vorbei ist. Wenn es gelingt, will ich mich in den nächsten Semestern fortgesetzt mit ähnlichen Gegenständen beschäftigen, so dass ich in 2 – 3 Jahren doch noch vielleicht dazu komme, auch hier zu Hause zu sein. Das müsste dann zu meiner früheren Geometrie + Functionentheorie nicht in Gegensatz treten, sondern sich damit organisch verbinden.46

Neben Mechanik und mathematische Physik (Kreiseltheorie seit Sommer 1887; Theorie des Potentials, partielle Differentialgleichungen der Physik) setzte Klein Spezialvorlesungen über die Vielzahl seiner bisherigen Themen, die er zu erneuern und zu erweitern suchte. Auf diese Weise regte er begabte Hörer zu eigenen Ideen in verschiedenen Richtungen an. Moritz Weber, der 1896-97 sein Assistent wurde, berichtete postum über Kleins Art zu lehren: Wer das Glück gehabt hat, die Vorträge Felix Kleins in ihrem klaren Aufbau und in ihrer vollendeten Schönheit zu hören […] oder im Seminar im ständigen Gedankenaustausch arbeiten durfte, war hingerissen von der kraftvollen Wirkung, mit der seine Phantasie die Probleme der reinen und angewandten Mathematik in ihrer ganze Tiefe und Weite durchdrang.47

42 43 44 45 46 47

UBG, Cod. Ms Klein II, A, Bl. 3, Brief Althoffs an Klein vom 15.1.1894. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 11: 507. Klein in JACOBS 1977, 22 L. Personalia, Bl. 1. Vgl. die Edition dieser Vorlesung KLEIN 1991. [Oslo] Klein an Lie, Brief v. 8.3.1887. Weber, Moritz: „Felix Klein“. Zeitschrift des Vereins dt. Ingenieure 69 (1925) 34, 1118.

6.3 Forschungen und Forschungskooperationen

303

6.3 FORSCHUNGEN UND FORSCHUNGSKOOPERATIONEN Neue Ideen Kleins entsprangen zunehmend aus der forschungsorientierten Lehre. Klein erklärte sein Arbeitsprogramm der Göttinger Anfangszeit mit den Worten: Da Schwarz neben mir den Hauptteil des Unterrichts bestritt, konnte ich die alten Ideen meiner Bonner Studienzeit erneut aufnehmen und mich der Physik wieder annähern, indem ich allgemeine Vorlesungen über Mechanik, Potentialtheorie usw. hielt. Daneben suchte ich in Spezialvorlesungen alles das, was ich früher an rein mathematischen Untersuchungen begonnen hatte, zum Abschluss zu bringen. Die Einzelausführung aber überwies ich, soweit dies möglich schien, immer mehr geeigneten Zuhörern.48

Im Folgenden seien Trends besprochen, die sich in Kleins Publikationen sowie in von Partnern und Schülern angeregten Arbeiten spiegeln. 6.3.1 Die Lehre von den endlichen Gruppen linearer Substitutionen bzw. die Theorie der Auflösung von Gleichungen höheren Grades Hierzu hatte Klein seit der Erlanger Zeit geforscht. Jetzt konnte er dieses Themenfeld in zwei Richtungen ergänzen. Erstens. Anknüpfend an seine alten liniengeometrischen Arbeiten widmete sich Klein der „Theorie der allgemeinen Gleichungen des sechsten und siebenten Grades“.49 Die Theorie der Gleichungen fünften Grade, wie er sie in seinem Ikosaeder-Buch dargestellt hatte, erlaubte ihm das Ausdehnen auf (allgemeine) Gleichungen höheren Grades. Die entsprechende Arbeit war im Oktober 1886 für die Annalen fertig, nachdem sein erstes Göttinger Algebra-Seminar gelaufen war.50 In Fußnoten zu dieser Arbeit verwies Klein auf zugehörige Beiträge seiner DoktorSchüler Willibald Reichardt und Frank Nelson Cole (vgl. Abschnitt 5.4.2.2). Bei der Edition dieses Artikels in den Gesammelten Abhandlungen nannte Klein außerdem weiterführende Arbeiten von Heinrich Maschke, der gemeinsam mit Oskar Bolza seit Herbst 1886 an seinem Algebra-Seminar teilnahm.51 Kleins Präsentation der Ergebnisse von Maschke und Bolza in der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften lässt sein lenkendes Wirken erkennen. War z.B. Maschkes Arbeit in der Sitzung vom 2. Juli 1887 noch angegeben als „Über das Formensystem einer gewissen endlichen Gruppe quaternärer linearer Substitutionen“, so erschien die publizierte Arbeit mit verändertem Titel „Ueber die quaternäre, endliche, lineare Substitutionsgruppe der Borchardt’schen Moduln“.52 Im ausführlicheren Annalen-Beitrag erläuterte Maschke dazu: 48 49 50 51

KLEIN 1922 GMA II, 259-60. KLEIN 1922 GMA II, 439-72. Math. Ann. 28 (1886), 499-532; KLEIN 1922 GMA II, 439-72. HELLER 2015 analysierte das Seminar. Klein förderte Bolza und Maschke zwei Semester lang mit wöchentlichen Privatissima abends in seiner Wohnung; beide erreichten Karrieren in den USA. Bolza war in Berlin nicht estimiert worden, und Klein hatte seine Dissertation angenommen (Prom. 28.6.1886), vgl. BOLZA 1936, 15-20; PARSHALL/ROWE 1994, 197-202. 52 Göttinger Nachrichten 1887, Nr. 14, 421-24.

304

6 Start als Professor in Göttingen, 1886 – 1892 Die in der Ueberschrift bezeichnete Gruppe ist zunächst gänzlich ausser Zusammenhang mit den hyperelliptischen Functionen von Herrn Klein aus der Liniengeometrie abgeleitet worden. Später hat Herr Klein gezeigt, dass die sogenannten Borchardt’schen Moduln der hyperelliptischen Functionen vom Geschlechte p = 2 sich nach derselben Gruppe linear substituiren, wodurch dann die Gruppe, welche bisher nur den Vorzug hatte, eine der wenigen Gruppen linearer Substitutionen von endlicher Ordnungszahl zu sein – und zwar, von einfachsten Fällen abgesehen, die erste, welche man im quaternären Gebiet kennen lernte – wesentlich an Interesse gewann. Dieses Interesse wird für viele Mathematiker im Vordergrund stehen, wenn es sich, wie es auf Anregung von Herrn Professor Klein im folgenden geschehen soll, darum handelt, das volle System invarianter Formen für diese Gruppe aufzustellen.53

Klein ergänzte, dass er die endgültige Ansicht gewann, „[….] daß man das hier vorliegende transzendente Problem ohne den Umweg über die Borchardtschen Moduln direkt mit den hyperelliptischen Funktionen lösen kann“.54 Letzteres zeigte Heinrich Burkhardt (vgl. 6.3.2). Zweitens. In das Gebiet der endlichen linearen Gruppen, ebenfalls neue quaternäre Gruppen betreffend, gehört außerdem Kleins Arbeit über die Gleichung 27. Grades, von der die geraden Linien einer Fläche dritter Ordnung abhängen (vgl. 2.8.2). Klein trug darüber am 13. April 1887 in der Société Mathématique de France in Paris vor und arbeitete das Thema auf Wunsch von Camille Jordan schriftlich aus: « Sur la résolution, par les fonctions hyperelliptiques, de l’équation du vingt-septième degré, de laquelle dépend la détermination des vingtsept droites d’une surface cubique ».55 Klein zeigte damit, dass die gruppentheoretische Behandlung der kubischen Fläche mit 27 Geraden isomorph ist mit der Dreiteilung der hyperelliptischen Funktionen vom Geschlecht zwei.56 Die Ergebnisse resultierten aus der kooperativen Arbeit im Algebra-Seminar; Klein verwies explizit auf Witting und Maschke. Letzterer hatte „Ueber die Gruppe derjenigen Gleichung, von welcher die 27 Geraden der Fläche dritter Ordnung abhängen“ (3./17.11.1886; 26.2.1887) vorgetragen, im Sommer 1887 fortgesetzt und darüber publiziert.57 Auch Burkhardt knüpfte an und zeigte, „[…] daß man bei einer Gleichung 27. Grades der in Betracht kommenden Gruppe übersichtliche lineare Verbindungen der Wurzeln angeben kann, welche sich ohne weiteres wie die Koordinaten aik eines linearen Komplexes substituieren.“58 Später setzte der US-Amerikaner Arthur B. Coble, der eine Zeit lang bei Eduard Study studierte, mit neuem Ansatz fort. Coble zitierte die entsprechenden Arbeiten von Klein, Witting, 53 Maschke, H., in: Math. Ann. 30 (1887) 496-515, Zitat 496. 54 KLEIN 1922 GMA II, 440. – Vgl. auch Wiman, A. (1899): Endliche Gruppen linearer Substitutionen. ENCYKLOPÄDIE I.1. 55 Klein, F. (1888): « Extrait d’une Lettre adressée à M. C. Jordan ». Journal des mathématiques pures et appliquées 4e série, tome 4, 169-76; KLEIN 1922 GMA II, 473-79. 56 Zur topologischen Invariante Geschlecht, die Klein im Anschluss an Riemann und Clebsch zur Klassifikation von Flächen (zweidimensionalen Mannigfaltigkeiten) benutzte vgl. auch Abschnitte 3.1.3.1; 5.4.1.2; DEHN/HEEGAARD 1907, 200; KLEIN 31925, 114-15. 57 [Protokolle] Bd. 8, 88-97;104;115-19; Maschke, H. (1889): „Aufstellung des vollen Formensystems einer quaternären Gruppe von 51840 lin. Substitutionen“. Math. Ann. 33, 317-44. 58 KLEIN 1922 GMA II, 479. – Burkhardt, H. (1891): „Untersuchungen aus dem Gebiete der hyperelliptischen Modulfunctionen“. Math. Ann. 41, 313-43.

6.3 Forschungen und Forschungskooperationen

305

Maschke und Burkhardt, betonte aber: „The presentation follows a line quite different from that suggested by Klein.“59 Klein betrachtete um 1890 dieses Forschungsfeld als weitgehend abgeschlossen, meinte, dass mit seinem Ansatz von 1879 nichts Neues mehr für Gleichungen achten und höheren Grades zu erreichen sei. Dennoch kamen weitere Forscher und auch er selbst später darauf zurück.60 6.3.2 Hyperelliptische und Abelsche Funktionen Basierend auf Vorarbeiten las Klein von Ostern 1887 bis Ostern 1888 über allgemeine hyperelliptische Funktionen, reichte Ergebnisse an die Göttinger Nachrichten und die Arbeit „Über hyperelliptische Sigmafunctionen (Zweite Abhandlung)“ an die Mathematischen Annalen.61 Er skizzierte den Extrakt seiner Vorlesungen im Überblick und zeigte, wie die Entwicklungen auf hyperelliptische Funktionen beliebigen Geschlechtes ausgedehnt werden konnten. Hurwitz erkannte Kleins grundlegende Idee: „Der merkwürdige Umstand, dass sich der hyperelliptische Fall p = 3 durch eine einzige algebraische Bedingung charakterisieren lässt ist ein neuer Beleg für die Richtigkeit Ihrer Anschauung gegenüber der von Weierstraß. Verstehe ich die Sache recht, so ist das Wesentliche – bei der algebraischen Formulirung der Frage – der Übergang zu Liniencoordinaten.“62 Klein beschrieb später, dass ihn vor allem vage Analogieschlüsse zu Ergebnissen geführt hatten.63 Für die detaillierte Ausarbeitung gewann er einen neuen Partner: Die nothwendige Ergänzung, welche meine Darstellung hiernach im Einzelnen benöthigt, findet sich zum grossen Theile bereits in der hier nachfolgend abgedruckten Arbeit des Hrn. Burkhardt, auf die ich wiederholt zu verweisen haben werde […]. Ich darf dabei nicht unterlassen anzugeben, dass mir der wissenschaftliche Verkehr mit Hrn. Burkhardt auch für diejenigen Ueberlegungen, die ich im Folgenden selbst entwickele, mannigfach förderlich gewesen ist.64

Heinrich Burkhardt kam nach Studium und Promotion („Beziehungen zwischen der Invariantentheorie und der Theorie algebraischer Integrale und ihrer Umkehrungen“) auf Empfehlung seiner Münchener Lehrer (Dyck; Voß) 1887 zu Klein.65 Da im Seminar 1887/88 nur wenige (Burkhardt, J. Schröder, M. W. Haskell, H. D. Thompson) teilnahmen, breitere Klein darin selbst den Stoff seiner Vorlesung (Ausgewählte Kapitel der hyperelliptischen Functionen) weiter aus.66 Drei von 59 Coble, A. B. (1917): “Point Sets and Allied Cremona Groups (Part III)”. Transactions of the American Mathematical Society 18, 331-72. – Vgl. auch KLEIN 1922 GMA II, 479. 60 Vgl. hierzu Klein 1922 GMA II, 260-61, 481-502; auch Abschnitt 2.5.1. 61 Klein F. (1887): „Zur Theorie der hyperelliptischen Functionen beliebig vieler Argumente.“ Göttinger Nachrichten, 515-21; Math. Ann. 32 (1888) 351-80; Klein 1923 GMA III, 357-87. 62 Cod. Ms. F. Klein 9: 1063, Hurwitz an Klein, Brief v. 21.2.1888. 63 [Protokolle] Bd. 12, Bl. 10. 64 Math. Ann. 32 (1888) 351-80; Klein 1923 GMA III, 357-87, Zitat 351-52; bzw. 357-58. 65 Liebmann, H.: Zur Erinnerung an Heinrich Burkhardt. Jahresbericht DMV 15 (1915) 185-95. 66 Vgl. [Protokolle] Bd. 9, 271.

306

6 Start als Professor in Göttingen, 1886 – 1892

ihnen (Haskell mit anderem Thema) promovierten bei Klein67 und Burkhardt wurde zur Habilitation geführt. Burkhardt begann seine erste Arbeit „Beiträge zur Theorie der hyperelliptischen Sigmafunktionen“ mit den Worten: Die nachfolgende Arbeit beabsichtigt, die in der vorstehenden Abhandlung des Herrn F. Klein für die Behandlung der hyperelliptischen Sigmafunctionen aufgestellten Gesichtspunkte in’s Einzelne durchzuführen. Zur Präcisirung der Definitionen und zur Entwicklung der Beweise ist dabei fortwährend von denjenigen functionentheoretischen Schlussweisen Gebrauch gemacht, welche Herr Weierstrass ausgebildet und in verschiedenen Abhandlungen sowie in seinen Vorlesungen bekannt gemacht hat; andererseits aber sind auch diejenigen Vorstellungsweisen, wie mehrblättrige Fläche, Periodenweg, canonisches Querschnittsystem u.s.w benutzt, auf welchen Riemann seine Theorie entwickelt hat.68

Burkhardts nächste Arbeit „Grundzüge einer allgemeinen Systematik der hyperelliptischen Functionen I. Ordnung“69 benutzte Kleins Vorlesung von 1887/88 und lieferte anschließend an Kleins Klassifikation der elliptischen Funktionen („Stufenentheilung“) eine „gewisse Classification hyperelliptischer Functionen“. Klein leitete bei Burkhardts Habilitation (Untersuchungen aus dem Gebiete der hyperelliptischen Modulfunctionen) das Colloquium und urteilte: „Unter allen meinen Mitarbeitern hat mir damals keiner mehr geholfen als Burkhardt.“70 Empfohlen durch Klein hörte Burkhardt im Winter 1893/94 Vorlesungen in Paris bei Picard (Differentialgleichungen), Poincaré (partielle Differentialgleichungen) u.a. Daraufhin lieferte er weitere funktionentheoretische Arbeiten, verfasste gut beurteilte Funktionentheoretische Vorlesungen (Leipzig: B.G. Teubner, 1 1897) und leitete maßgeblich Band II (Analysis) der ENCYKLOPÄDIE. Burkhardt erhielt 1894 eine Titularprofessur in Göttingen, 1897 eine ordentliche Professur an der Universität Zürich und 1908 an der TH München neben Dyck. Zu diesem Feld gehört auch Kleins Arbeit zur Theorie der Abelschen Funktionen71 (vgl. auch 5.5.2.3). Unter seiner anregender Leitung oder – wie es EPPLE 1999 nannte – unter Kleins „intellektueller Hegemonie“ konnten junge Mathematiker über ihn hinauswachsen. Klein las von Ostern 1888 bis Herbst 1889 über die Theorie der Abelschen Funktionen und widmete das Seminar 1888/89 diesem Thema. Wilhelm Wirtinger, der 1887 in Wien bei Emil Weyr promoviert worden war und sich gern Klein unterordnete, beschrieb dessen intensive Betreuung: Im Sommersemester 1888 ging ich nach Göttingen zu Felix Klein. Dieser las abelsche Funktionen und partielle Differentialgleichungen der Physik und zog die vorgeschrittenen Hörer in weitestem Ausmass zur Mitarbeit heran. Wir waren damals im Seminar Burkhardt, Haskell, Osgood, White und ich. Bei Klein fand ich sofort reichste Förderung und Anregung. Er verstand es in höchstem Grade aufkeimende Ideen zur Präzisierung und Verarbeitung zu bringen und widmete einen grossen Teil seiner Zeit und Kraft periodischen Besprechungen mit jedem einzelnen.72 67 68 69 70 71 72

Zu den Dissertation siehe KLEIN 1923 GMA III, Anhang 13; auch PARSHALL/ROWE 1994. Math. Ann. 32 (1888) 381-442, Zitat 381. Math. Ann. 35 (1889) 189-296. [UAG] Kur. 6238 (Personalakte Burkhardt). – KLEIN 1923 GMA III, 321. Math. Ann. 36 (1890) 1-83; KLEIN 1923 GMA III, 388-473. [AdW Wien] Wirtinger 1939, 5.

6.3 Forschungen und Forschungskooperationen

307

Ausgehend von Klein gelang Wirtinger ein kontinuierlicher Übergang „in die epistemische Welt der mathematischen Moderne“, wie Moritz Epple im Rahmen seiner Habilitationsschrift über die Knotentheorie für Verzweigungen algebraischer Funktionen zweier Variablen analysierte.73 Der intellektuelle Kreis umfasste ebenfalls den früh verstorbenen Eduard Wiltheiss, den Klein zur Mitarbeit gewonnen hatte und für den Wirtinger einen Nachruf schrieb.74 Als spätere Professoren beteiligten sich Wirtinger, Burkhardt, Osgood75 an der ENCYKLOPÄDIE. Haskell übersetzte das Erlanger Programm.76 Henry S. White sollte 1893 das Evanston-Colloquium für Klein organisieren (vgl. Abschnitt 7.5.2). Klein urteilte später: „Die Abelschen Funktionen [galten] – in Nachwirkung der Jacobischen Tradition – als der unbestrittene Gipfel der Mathematik, und jeder von uns hatte den selbstverständlichen Ehrgeiz, hier weiterzukommen.“ Den eigenen Anteil sah er als „gewisse erste Ansätze“ in einer von zwei möglichen Richtungen. Er habe versucht, „von rein algebraischer Grundlage aus die lineare Invariantentheorie bzw. die projektive Geometrie des Rν-1 zu entwickeln bis zum synthetischen Aufbau der Theta-Reihen.“ Trotz offener Fragen schritt die Mathematik in neue Richtungen fort und Klein konstatierte nach zwei Jahrzehnten: „Die junge Generation kennt die Abelschen Funktionen kaum mehr.“77 Deshalb meinte er, nur gute Referate über die alten Themen könnten helfen, um vielleicht erneut anknüpfen und fortsetzen zu können. Damit motivierte er die ENCYKLOPÄDIE. 6.3.3 Theorie der elliptischen Modulfunktionen (Monographie) Um das seit der Münchener Zeit bearbeitete Gebiet für eine Monographie vorzubereiten (vgl. 5.5.7), wünschte Klein vor allem Diskussionsrunden zur Theorie der höheren Modulfunctionen mit Adolf Hurwitz.78 Mit Hurwitz überlegte Klein, ob sie bei Dedekind Idealtheorie lernen könnten. Mit Hurwitz dachte Klein über „aussichtsreiche Problemstellungen“ im Gebiet nach.79 Hurwitz erfuhr vom Stand der Kooperation mit Pick und vom neuen Mitarbeiter Robert Fricke, der das Unternehmen bis 1892 erfolgreich vollenden sollte. (KLEIN/FRICKE 1890/92). 73 Vgl. EPPLE 1995; 1999 240-58. – Dass Heegards Fragestellung in seiner Dissertation mit der von Wirtinger koinzidierte, ist allerdings weniger erstaunlich (EPPLE 1999, 252), denn diese Dissertation beruhte ebenfalls auf Kleins Anregung (vgl. 7.2). 74 KLEIN 1923 GMA III, 322; Math. Ann. 31 (1888) 137. Wirtinger, W.: „Eduard Wiltheiß“. Jahresbericht DMV 9 (1901) 59-63. 75 W. F. Osgood, 1887/88-1889 bei Klein, vollendete seine Dissertation „Zur Theorie der zum algebraischen Gebilde ym = R(x) gehörigen Abelschen Functionen“ (1890) bei M. Noether in Erlangen. Osgoods „Allgemeine Theorie analytischer Funktionen einer und mehrerer komplexer Variabler“ (ENCYKLOPÄDIE II.2, 1901) kam auch als Extrabuch bei Teubner, 31921. 76 Bull. N. Y. Math. Soc 2 (1892–1893) 215–49; vgl. auch JI/PAPADOPOULOS 2015. 77 KLEIN 1926 Vorlesungen I, 312. 78 Brief Kleins an Hurwitz aus Göttingen v. 3.4.1886 [UBG] Math. Archiv 77: 155. 79 [UBG] Math. Arch. 77: 168, 190 (Klein an Hurwitz, 31.12.1886; 21.9.1887).

308

6 Start als Professor in Göttingen, 1886 – 1892

Aus Kleins Korrespondenz mit Fricke geht hervor, dass sie Picks Vorarbeiten zwar beachteten, aber auf der Basis von Kleins Spezialvorlesung vom Sommer 1886 die Monographie neu disponierten. Klein ließ seine ursprüngliche Absicht fallen, „[…] meine Priorität den Franzosen gegenüber gut hervortreten zu lassen“. Er betonte vielmehr: „Das ist selbstverständlich eine untergeordnete Rücksicht.“80 Klein hielt weitere Vorlesungen mit Blick auf das Vorhaben und reichte die Ausarbeitungen an Fricke weiter. Trotz regelmäßiger Beratung der von Fricke formulierten Texte drückte Klein im Juni 1889 das Gefühl von einem „noch etwas unfertigen Eindruck“ aus, woraus folgende generelle Notiz entstand: Je mehr ich über denselben [Text, R. To] nachdenke, um so mehr möchte ich ihn dahin zusammenfassen: man soll in der Theorie der elliptischen Functionen auch an Stellen, an denen es nicht geschehen war, moderne in der Zwischenzeit entwickelte math.[ematische] Disciplinen zur Geltung bringen: das klärt frühere Dunkelheiten auf und gestattet sofort neue weitergehende Entwicklungen. Dieses allgemeine Programm wird nun in dreierlei Richtungen zur Geltung gebracht: Heranziehen 1) der Riemann’schen Functionentheorie bei der Discussion der Modulfunctionen, 2) der Invariantentheorie, 3) zuletzt, aber auch zumeist, der Gruppentheorie. Aber ebenso gut hätten andre moderne Disciplinen herangezogen werden können, wenn wir nämlich dieselben ebenso beherrschten wie 1), 2), 3; ich nenne: 4) Moderne Bildungsgesetze transcendenter Functionen (Weierstraß – Mittag-Leffler …); 5) Moderne Zahlentheorie (Dedekind-Kronecker). Die Begränzung des von uns behandelten Stoffes ist darum im Wesentlichen eine subjective. Wir können das nicht ändern, und wir können ja auch damit zufrieden sein. Nur würde ich darum, wenn wir uns selbst citiren, den Ausdruck „Theorie der Modulfunctionen“ vermeiden; das ist einerseits zu eng, weil wir uns keineswegs bloss auf Modulfunctionen beschränken, das ist andererseits zu prätentiös, weil wir von einer systematischen Theorie doch recht weit entfernt bleiben.81

Seit November 1889 sahen Klein und Fricke bereits die Druckbogen zum Buch „sorgfältigst“ durch und fügten noch neueste Literatur ein. Am Silvestertag schrieb Klein: „Unser Buch soll bleiben nicht nur auf ein paar Jahre, sondern auf die Jahrzehnte hinaus!“82 Erst im Verlaufe des Druckes der weiteren Bögen schlug Fricke im März 1890 vor, das Material in zwei Bände zu zerlegen. Klein und der Verlag stimmten zu, denn schon angekündigte Arbeiten von Poincaré, H. A. Schwarz, Lazarus Fuchs u.a. sollten noch für Band 2 berücksichtigt werden.83 Im September 1890 versandten Klein und Fricke Band 1 an zahlreiche Mathematiker aus dem In- und Ausland. Zwei Jahre später war Band 2 unterwegs. Hermites Schwiegersohn Picard hatte Klein bereits am 24. Juni 1892 geschrieben, dass sie (Picard und Hermite) mit Ungeduld Band 2 der Modulfunktionen erwarten würden. Als Picard am 17. Oktober 1892 den Eingang bestätigte, bedankte er sich zugleich dafür, dass seine Arbeiten darin so positiv beachtet worden seien. Er verwies auf weitere neuere Resultate, hob Kleins belle illustration électrique de principaux problèmes hervor sowie die übereinstimmende Ansicht über Riemanns 80 81 82 83

[UA Braunschweig] Klein an Fricke, Brief v. 11.10.1887. Ebd., Klein an Fricke, Brief v. 11.6.1889. Ebd., Brief v. 31.12.1889. – Vgl. KLEIN/FRICKE 1890/92; FRICKE 2012. [UA Braunschweig] Klein an Fricke, Briefe v. 18.3.1890 bis 12.6.1890.

6.3 Forschungen und Forschungskooperationen

309

Bedeutung. Picard verteidigte zugleich Hermite u.a. (H.A. Schwarz; L. Fuchs) mit Bezug auf die im Band enthaltenen kritischen Ansichten, vorsichtig schreibend: „[…] que la polémique dans un cours nous étonne un peu.“84 Hermite, der die deutsche Sprache selbst nicht hinreichend beherrschte, gewann – trotz gewisser polemischer Äußerungen Kleins – wachsendes Interesse an dessen Arbeiten. 6.3.4 Theorie der automorphen Funktionen (Monographie) Am 1. März 1891, noch bevor Band 2 der Vorlesungen über die Theorie der höheren Modulfunctionen gedruckt vorlag, sandte Klein einen „automorphen Plan“ für das nächste Buch an Fricke. Klein wünschte „ein wirklich hochwissenschaftliches Buch, in welches wir die Gesammtheit unserer functionentheoretisch-geometrischen Ueberzeugungen hineinlegen“. Dabei sah er seine „Abhandlung in Ann. 21 [Neue Beiträge zur Riemann’schen Functionentheorie, R. To] als eine Art Programm […], über welches ich nur in einem Puncte (Nr. V unten) hinausgreife“.85 Klein plante folgende fünf Abschnitte: I. Die allgemeine Riemann’sche Theorie. Beliebige geschlossene Flächen, oder auch offene Flächen mit bezogenen Rändern (Fun-damentalbereiche) … entwickelt bis zur Formentheorie, auch der η-Function inclusive. II. Automorphe Gruppen. Construction aller brauchbaren Fundamentalbereiche auf Grund consequenter NichtEuklidischer Maassgeometrie der x+iy-Kugel. III. Zugehörig-Functionen (automorphe, homomorphe) Ihre Art, ihre Bildungsgesetze. IV. Die Fundamentaltheoreme. „Jede Riemann’sche Fl.[äche] kann durch automorphe F.[unktionen] irgend welchen vorgegebenen Typus vorgestellt werden.“ V. Einordnung der Fundamentaltheoreme in die allgemeine Lehre von den linearen Diffe-rentialgleichungen 2ter Ordnung.

Zum Punkt V erklärte Klein noch: „Das sind die Dinge, denen ich jetzt auf der Spur bin, indem ich die Abbildung der Riemann’schen Flächen durch zugehörige η-Functionen allgemein studire. Ich finde, dass man eine R. Fl. jedes Mal durch ein zugehöriges η auf ein Polygon abbilden kann, bei welchem gewisse Bestimmungstücke ad libitum vorgeschrieben werden können. Davon sind dann die Fundamentaltheoreme specieller Fall, der desshalb besonderes Interesse auf sich zieht, weil er eben zu automorphen F.[unctionen] führt. (Die Sache wird sehr gut, aber ich muß noch längere Zeit haben, um sie klar zu entwickeln).“ In diesem Brief ordnete Klein explizit gehaltene und künftige Vorlesungen den fünf Buchabschnitten zu: für I die Vorlesung über Abel’sche Functionen, für II die zur Nichteuklidischen Geometrie. Seine damals aktuellen Vorlesungen über lineare Differentialgleichungen sah er als Voraussetzung für III, IV und V, wobei sich diese auf Riemannn’sche Flächen p=0 beschränkten. Nachfolgende Vorle84 [UBG] Ms. F. Klein 11: 209, Bl. 7 (Picard an Klein, 17.10.1892). 85 Hier und im Folgenden [UA Braunschweig] Klein an Fricke, 1.3.1891.

310

6 Start als Professor in Göttingen, 1886 – 1892

sungen sollten sich dem Fall p>0 widmen. In diesem Brief veranschlagte er drei Semester zum Vorbereiten der Monographie. Das sollte nicht ausreichen. Vor allem Kritik an einigen Aspekten der vorangegangenen Monographie KLEIN/FRICKE 1890/92 (elliptische Modulfunktionen) veranlasste Klein86, für die Monographie über automorphe Funktionen einige Gebiete selbst noch tiefer auszuloten. Das betraf Zahlentheorie, denn Dedekind hatte kritisiert, dass diese in ihrem Buch elementar geblieben sei. Das betraf die Theorie der linearen Differentialgleichungen, wobei Klein Einwände von Ludwig Schlesinger (Schüler und Schwiegersohn von Lazarus Fuchs) beachtete, dessen Arbeiten er zunehmend estimierte, insbesondere dessen Handbuch der Theorie der linearen Differentialgleichungen (Teubner 1895-98). Wenn Klein auch schon im April 1892 an Fricke signalisierte, nur noch helfen zu wollen, „um später Ihnen und überhaupt der jungen Generation das Feld zu überlassen“,87 so zog sich das Helfen und Vorbereiten mit Vorlesungen und Seminaren noch Jahrzehnte hin (vgl. 8.1.1). 6.3.5 Theorie der Laméschen Funktionen und Potentialtheorie Diese in Leipzig begonnenen Themen (Abschnitt 5.5.1.1) führte Klein 1888-90 mit Vorlesungen (Potentialtheorie, partielle Differentialgleichungen der Physik, Lamé’sche Functionen) fort. Daran anknüpfend bauten Friedrich Pockels und Maxime Bôcher die Theorie der Randwertaufgaben aus. Ihre erweiterten Dissertationen brachte Klein mit Vorworten als Bücher bei Teubner heraus (vgl. 5.6). Pockels Arbeit Über die partielle Differentialgleichung Δu+k2u=0 (Teubner, 1891) nutzte neben Kleins Vorlesungen insbesondere Rayleighs Theorie of Sound, die Kleins Freund Friedrich Neesen 1880 ins Deutsche gebracht hatte.88 Bôchers Arbeit Die Reihenentwicklungen der Potentialtheorie war 1891 von der Philosophischen Fakultät als Preisschrift geehrt worden, für die am 4. Juni 1890 gestellte Aufgabe, die in der Potentialtheorie benutzten Orthogonalsysteme als Spezialfälle des Systems konfokaler Zykliden darzustellen. Bôcher legte die Konstanten in den die Reihenglieder definierenden Differentialgleichungen durch das Oszillationstheorem fest.89 (Vgl. auch Abschnitt 5.5.1.1) Klein verfolgte die internationalen Entwicklungen weiter und erläuterte u.a. dem Petersburger Andrej A. Markow eigene Fortschritte: […] darf ich erzählen, dass ich die Ueberlegungen, durch welche ich in Bd. 37 mein Theorem entwickelt habe, inzwischen nach verschiedenen Seiten weiter verfolgte. Insbesondere habe ich eine Anwendung auf den Hermite’schen Fall der Laméschen Gleichung gemacht. Es liegen da die Verhältnisse ganz ähnlich wie bei Ihnen, insofern die lineare Differentialgleichung 86 [UA Braunschweig] Klein an Fricke, 25.3.1892, 4.4., 14.4. 1892. 87 Ebd., Brief v. 23.4.1892. 88 Eine erste Einordnung gab Arnold Sommerfeld (1900): Randwertaufgaben in der Theorie der partiellen Differentialgleichungen. ENCYKLOPÄDIE II.A.7.c, 504-70. 89 Überarbeitet: Teubner 1894. – Vgl. zur Gültigkeit des Oszillationstheorems KLEIN 1922 GMA II, 592-600. – Lester R. Ford, Doktorschüler von Bôcher, schrieb die erste englischsprachige Einführung in die Theorie der automorphen Funktionen, vgl. FORD 1915, 1929.

6.3 Forschungen und Forschungskooperationen

311

zweiter Ordnung zwei Particularlösungen hat, deren Product erst einem rationalem Polynom gleich ist. Eben für letzteres Polynom bestimme ich Zahl und Lage der reellen Wurzeln.90

Klein ergänzte: „[…] Hr. Van Vleck, hat die Weiterführung der Betrachtungen übernommen, welche ich selbst in meinen Vorlesungen nur habe skizzieren können. Dabei hat er ganz besonders auch die Fragen weiter untersucht, die Sie in Annalen 27 (Sur les racines de certaines équations (1886) S. 143-150, S. 177-182) in Angriff genommen haben.“ Klein betonte dabei, „auf geometrischem Wege […] in das Wesen der linearen Differentialgleichungen 2ter Ordnung (d.h. der durch diese Differentialgleichungen definirten Functionen) noch genauer eindringen zu können.“91 Edward Burr van Vleck promovierte 1893 bei Klein mit dem Thema „Zur Kettenbruchentwicklung Laméscher und ähnlicher Integrale“. Klein lenkte ebenfalls den Schweizer Charles Jaccottet92 sowie die US-Amerikanerin Mary F. Winston (vgl. Abschnitt 7.6) zu Dissertationen in diesem Gebiet. Emil Hilb urteilte, dass durch Bôchers Darstellung ein formales Gesetz für die Bildung der Reihenentwicklung gegeben wurde, aber ein Konvergenzbeweis fehlte. Dazu lieferte Jaccottet mit seiner Dissertation „Über die allgemeine Reihenentwicklung nach Laméschen Produkten“ (Göttingen 1895) einen ersten Ansatz. Hilb sollte es schließlich 1906 gelingen, angeregt durch Klein und auf Basis der durch Hilbert geschaffenen Integralgleichungstheorie, das von Klein hierfür ausgesprochene Kontinuitätsprinzip streng zu beweisen.93 6.3.6 Auffrischen der geometrischen Arbeiten Sophus Lie hatte bereits im Jahre 1884 Klein signalisiert, dass jetzt die Zeit gekommen sei, in der das Erlanger Programm besser verstanden würde (vgl. Abschnitt 3.1.1). Es hatte noch des Interesses aus Italien und Frankreich bedurft, das Programm zur Systematisierung geometrischer Richtungen übersetzen zu dürfen, damit Klein dies in die Mathematischen Annalen neu aufnahm.94 Klein hielt in Göttingen zwei geometrische Vorlesungszyklen, zur Nicht-Euklidischen Geometrie (1889-90, 1890) sowie zur Höheren Geometrie (1892-93, 1893), alte und neuere Ergebnisse zusammenbringend. Zugleich versuchte und scheiterte Klein dabei, sich mit Sophus Lie über die früheren gemeinsamen Arbeiten zu verständigen. Kleins Annalen-Artikel „Zur Nicht-Euklidischen Geometrie“95, Extrakt seiner Vorlesungen, verband die alten Ansätze mit Ideen von Clif90 [Archiv St. Petersburg] Klein an Markov, Brief (8), Bl. 12-13, 1.2.1892. – Klein, F.: „Ueber die Nullstellen der hypergeometrischen Reihe“. Math. Ann. 37 (1890) 573-90; „Ueber den Hermite’schen Fall der Lamé’schen Differentialgleichung“. Math. Ann. 40 (1892) 125-29. 91 Ebd., Bl. 13 (Klein an Markoff). 92 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 1123, Hurwitz an Klein, Brief v. 29.11.1893. 93 Hilb, E. (1906): „Die Reihenentwicklungen der Potentialtheorie“. Math. Ann. 63, 38-53. – Das Kontinuitätsprinzip besagt hierbei, dass bei stetiger Abänderung irgendwelcher auftretender Parameter kein Eigenwert verloren geht. 94 Math. Ann. 43 (1893) 63-100. 95 Math. Ann. 37 (1890) 544-72; KLEIN 1921 GMA I, 353-83.

312

6 Start als Professor in Göttingen, 1886 – 1892

ford (1873), mit daran anknüpfenden Arbeiten von Wilhelm Killing zu „NichtEuklidischen Raumformen“ und enthielt auch Bemerkungen zur Bedeutung der projektiven Geometrie und von Axiomen bei Helmholtz u.a., die Lie öffentlich angriff. Lie hatte sich in eine Selbstüberhöhung hineingesteigert und litt zugleich unter der Angst, seine Ergebnisse würden nicht hinreichend beachtet. Dies trug bei, dass er sich 1889-90, wie erwähnt (vgl. 5.8.3), zu einem längeren Aufenthalt in eine psychiatrische Klinik begeben musste. In der Folgezeit gelangte Lie zu einem unverhältnismäßigen, beleidigenden Verhalten, mit dem er Klein (und andere) herabwürdigte. Wir lesen in der Vorrede zu Band 3 von Sophus Lies Theorie der Transformationsgruppen (1893): Ein einfaches Bild einer Mannigfaltigkeit mit constantem negativen Riemannschem Krümmungsmasse hat Herr Beltrami gegeben, indem er zeigte, dass für n=3 eine solche Mannigfaltigkeit auf das Innere einer reellen nichtgeradlinigen Fläche zweiten Grades im R3 abgebildet werden kann. In dieser Verbindung erinnere ich überdies noch an die Cayleysche projective Massbestimmung. Soweit ich es übersehe, liegt das Verdienst der damit zusammenhängenden Untersuchungen des Herrn F. Klein über Nichteuklidische Geometrie wesentlich darin, dass in ihnen die Resultate seiner Vorgänger popularisirt werden. Klein verwerthet dabei die von mir herrührenden Begriffe infinitesimale Transformation und eingliedrige Gruppe. […] In den Untersuchungen über die Grundlagen der Geometrie, die von den Herren v. Helmholtz, de Tilly, F. Klein, Lindemann und Killing angestellt worden sind, finden sich eine Reihe von groben Fehlern, die im letzten Grunde darauf beruhen, dass die Verfasser dieser Untersuchungen entweder gar keine oder nur sehr mangelhafte gruppentheoretische Kenntnisse besassen.96

Lie behauptete weiter, er habe schon 1870-72 den Begriff der endlichen continuirlichen Gruppe entwickelt: F. Klein, dem ich im Laufe dieser Jahre alle diese meine Ideen mittheilte, wurde dadurch veranlasst, ähnliche Gesichtspunkte für die discontinuirlichen Gruppen zu entwickeln. In seinem Erlanger Programm, wo er über seine und über meine Ideen berichtet, spricht er überdies noch von Gruppen, die nach meiner Terminologie weder continuirlich noch discontinuirlich sind, zum Beispiel spricht er von der Gruppe aller Cremonaschen Transformationen und von der Gruppe der Verzerrungen. Dass ein Wesensunterschied zwischen diesen Arten von Gruppen und den von mir sog. continuirlichen Gruppen besteht, dass sich nämlich meine continuirlichen Gruppen durch Differentialgleichungen definiren lassen, während das bei jenen Gruppen nicht der Fall ist, das war ihm offenbar vollständig entgangen. Auch von dem so wichtigen Begriffe der Differentialinvariante findet sich in dem Kleinschen Programme fast keine Spur. Klein hat an diesem Begriffe, auf dem sich erst eine allgemeine Invariantentheorie begründen lässt, keinen Antheil, und er hat erst von mir gelernt, dass jede durch Differentialgleichungen definirte Gruppe Differentialinvarianten bestimmt, die durch Integration von vollständigen Systemen gefunden werden können.97

Lie meinte, Klein und seine Schüler hätten das Verhältnis ihrer Arbeiten falsch dargestellt und seine Ausführungen gipfelten in dem Satz: „Ich bin kein Schüler 96 LIE 1893, XII-XIII. 97 LIE 1893, Vorrede, XVI-XVII. – HAWKINS 1989, 276, urteilte: “Lie’s prodigious mathematical research activity between 1869 and the winter of 1873-74 was not dominated by group-related considerations but involved a diverse spectrum of mathematical ideas.“ – Vgl. auch HAWKINS 2000, sowie Abschnitte 2.6.2.1 und 2.8.2 des vorliegenden Buches.

6.3 Forschungen und Forschungskooperationen

313

von Klein, das Umgekehrte ist auch nicht der Fall, wenn es auch vielleicht der Wahrheit näher käme“. Adolf Hurwitz schrieb Klein daraufhin: Was Lie betrifft, so ist ja alle Welt darüber einig, dass er an maßloser Selbstüberschätzung leidet und dass sein unglaubliches Verhalten Ihnen gegenüber darauf zurückzuführen ist. Dieses Verhalten könnte Ihnen ja gleichgültig sein, da ja keiner die Lie’schen Äußerungen ernst nimmt. Indessen kann ich mir denken, dass Sie Lie’s Gehaben wegen der alten Freundschaft, die Sie mit Lie verband, schmerzlich berührt.98

Klein hatte seine Sicht über das Verhältnis ihrer frühen Arbeiten schriftlich niedergelegt.99 Er reagierte zunächst auf Lies Bemerkung zum Urteil über Helmholtz’ Arbeit „über die Tatsachen, welcher der Geometrie zugrunde liegen“.100 Denn Klein hatte Lie 1886 auf den gruppentheoretischen Charakter von Helmholtz’ „Monodromieaxiom“ hingewiesen,101 woraufhin Lie auf der Naturforscherversammlung 1886 in Berlin gegen Helmholtz polemisiert hatte. Klein kam Helmholtz während seiner USA-Reise (vgl. 7.5.4) etwas näher und sandte diesem am 1. Dezember 1893 seine einschlägigen Arbeiten mit Bezug auf Lies Band zu: Sie werden es erklärlich finden, wenn ich auf die subjectiven Aeusserungen, welche der neue Band ja in so grosser Zahl enthält, in keiner Weise eingehe. Was aber die sachlichen Uebertreibungen und Einseitigkeiten der Lie’schen Darstellung angeht, so möchte ich gegen sie durch meine Vorlesung bereits vorweg Stellung genommen haben. Ich hoffe, dass in derselben trotzdem die grosse Bedeutung, welche die Lie’schen Theorien besitzen und die in Deutschland viel zu sehr übersehen worden ist, nachdrücklichst hervortritt. Dass Lie 20 Jahre lang an so manchen Stellen unbeachtet bleiben konnte, das ist das Gegenbild zu der krankhaften Selbstüberschätzung, unter der er leidet.102

A. W. Wassilieff bat Klein schließlich am 18. Dezember 1896 um ein „Gutachten, betreffend den dritten Band der Transformationsgruppen von S. Lie anläßlich der ersten Verleihung des Lobatschewsky-Preises“ für die Physiko-mathematische Gesellschaft der Kaiserlichen Universität in Kazan, d.h. über den Band, in dessen Vorrede ihn Lie so schwer gedemütigt hatte. Klein sagte nach kurzem Zögern zu103 und betonte im Gutachten: „[…] der von Prof. Lie eingesandte Band […] ragt unter allen anderen Werken, die zum Vergleich kommen mögen, so unbedingt hervor, dass ein Zweifel über die Erteilung des Preises kaum möglich sein dürfte.“ Neben weiteren positiven Aussagen verwies er auch hier auf seine eigenen Vorlesungen und seinen Evanston-Vortrag über Lie in den USA.104 98 99 100 101 102 103

[UBG] Cod. F. Klein 9: 1123 (Hurwitz an Klein, 29.11. 1893). [Oslo] II (Klein, 1.11.1892), im Anhang von David ROWE 1992 (588-604) enthalten. Vgl. hierzu Klein (1892) in ROWE 1992, 601-602; KLEIN 1921 GMA I, 502 und 374-75. Vgl. auch NOETHER 1900, zum Helmholtz-Thema 38-39. [BBA] Nachlass Helmholtz, 233, Bl. 5-8, Zitat 6-7 (Brief v. F. Klein, 1.12.1893). [UBG] Cod. Ms. F. Klein 12 (Wassilieff an Klein). W. arbeitete über Lobatschewski, veranlasste die Übersetzung von Kleins Erlanger Programms ins Russ. (Bulletin de la Societé de Kasan, 1896); übersetzte mit Laugel Kleins Arbeit zur Nicht-Euklidischen Geometrie (1890) ins Franz.: « Sur la géométrie dite non euclidienne », Annales de la Faculté des sciences de Toulouse: Mathématiques, Sér. 1, 11 (1897) no. 4, G1-G62. 104 Gutachten v. 1.10.1897 in KLEIN 1921 GMA I, 384-401, Zitat, 385. – Zum Evanston-Vortrag (11) vgl. KLEIN 1894, 87-90, und Abschnitt 7.5.2 dieses Buches.

314

6 Start als Professor in Göttingen, 1886 – 1892

Klein nutzte das Gutachten, um seine Ansichten zum Thema Grundlagen und Axiome der Geometrie dezidiert darzulegen und neu erschienene Literatur hervorzuheben (bes. Veronese, Teubner 1894). Zugleich erörterte er den Gegenstand „Einführung der Zahlen in die projektive Geometrie“, was ihm die Gelegenheit bot, neuere Arbeiten von Hilbert und Minkowski zu nennen. Klein schloss das Gutachten mit Bemerkungen über Helmholtz, dessen allgemeine Ideen er als genial bezeichnete, die sich aber im Detail nicht immer als befriedigend erwiesen hätten. Als Klein später von Leo Koenigsberger gebeten wurde, zur Helmholtz-Biographie beizutragen, schrieb er über die gemeinsame Schiffsreise 1893 in die USA und rückte seine eigenen Arbeiten noch einmal ins Licht: Ich erinnere mich insbesondere, dass mich Helmholtz eines Tages fragte, wesshalb Lie in den Comptes rendus den bekannten heftigen Angriff gegen ihn gerichtet habe, ob er dazu durch Bertrand angestiftet sei. Ich erwiderte, dass Letzteres gewiss nicht zutreffe, sondern dass Lie’s eigenes, heftiges und an das Pathologische streifende Temperament ausreiche, um den Ton des Angriffs zu erklären; Lie fühlte sich durch ständige Nichtbeachtung von Berliner Seite tief gekränkt. Wir sprachen dann u.a. über das Monodromieaxiom der Raumgeometrie, wobei Helmholtz mit derjenigen Erläuterung besonders zufrieden war, die ich in den Math. Ann. Bd. 37, S. 565 gegeben habe und deren Stellung zu Lie’s eigenen Entwicklungen ich kurz vorher in Theil II meiner (inzwischen autographirten) Vorlesungen über höhere Geometrie erläutert hatte.105

Die Entwicklung der modernen Axiomatik setzte erst nach dieser Zeit voll ein, aber es sollte Klein sein, der den italienischen Mathematiker Frederigo Enriques die Aufgabe übertrug, das Feld für die ENCYKLOPÄDIE darzustellen.106 Klein präsentierte seine Ansicht noch einmal in einem kurzen Überblick in Band 2 (Geometrie) seiner Elementarmathematik.107 (Vgl. auch Abschnitt 8.3.2) 6.3.7 Visionen: Internationalität, Kristallographie, Hilberts Invariantentheorie Unter dieser Überschrift soll die Aufmerksamkeit auf weitere Merkmale dieses Zeitraumes gelenkt werden, die für den Forschungskontext relevant sind und zugleich generelle Verhaltensweisen Kleins dokumentieren.

6.3.7.1 Neuer Blick ins Ausland In Göttingen fand Klein Zeit, den Blick auf internationale Entwicklungen zu vertiefen und zu erweitern. Frankreich und Großbritannien besuchte er – schon länger anvisiert – wieder persönlich. Aus den USA kam ein erneutes Angebot. Mit Russland ergaben sich weitere Beziehungen.

105 KOENIGSBERGER 1903, Bd. 3, 81. 106 Prinzipien der Geometrie (1907), Bd. III.1.1. 107 Vgl. KLEIN 1925, 200-203. – Die math.-physikal. Gesellschaft Kazan verlieh Klein am 22.10.1897 die Goldene Lobatschewsky-Medaille [UBG] Cod. Ms. F. Klein 104.

6.3 Forschungen und Forschungskooperationen

315

Bei der erwähnten Paris-Reise von 1887 frischte Klein nicht nur alte Kontakte auf (vgl. 6.3.1). Er gewann ein vertrautes Verhältnis zu Charles Hermite, der trotz seines Alters das Geschehen noch dominierte.108 So sandte Klein zwei Jahre später neue Resultate an Hermite, der sie bei der Académie des sciences (21.1. und 11.2.1889) vorlegte und in deren Comptes rendus publizieren ließ: „Formes principales sur les surfaces de Riemann“ und „Des fonctions théta sur la surface générale de Riemann“.109 Die persönlichen Kontakte brachten außerdem einige, meist in Briefform mitgeteilte Beiträge französischer Autoren (P. Appell; E. Picard; Ch. Hermite) für die Mathematischen Annalen. Klein hatte über die Fortschritte in Paris an Hurwitz geschrieben: „Mein Pariser Aufenthalt verlief sehr interessant. Man hat dort in den letzten Jahren jedenfalls in Functionenth.[eorie] erstaunlich viel gearbeitet, so dass die Freude über die Resultate fast durch den Neid aufgewogen wird, den man betreffs der glücklichen Entdecker hegt. Wir müssen, wenn wir im Herbst zusammen sind, ausführlich darüber sprechen.“110 Eine Reise auf die britische Insel bereitete Klein seit 1888 mit seinem Jugendfreund W. R. Smith (vgl. 3.3) vor. Smith besaß inzwischen einen „small chair of Arabic“ am Trinity College in Cambridge und empfahl, im August zu kommen.111 Vorbereitend sandte Klein im April eigene Resultate an die London Mathematical Society, wo sein Beitrag „Über die konstanten Faktoren der Thetareihen für p=3“ in der Sitzung am 11. April 1889 präsentiert wurde.112 Er reiste im August/September 1889, erneuerte Kontakte, besuchte Cayley in Keswick, interessierte sich für britische Mechanik und bereitete den Weg für Hilbert. Dieser hatte nicht nur in Kleins Arbeit „Zur Theorie hyperelliptischer Funktionen beliebig vieler Argumente“ eine Ungenauigkeit entdeckt, sondern auch einen Fehler bei Cayley.113 So schrieb Klein aus London an Hilbert, wie gut seine Arbeiten dort aufgenommen worden seien, während Hurwitz erfuhr: „Ich bin durch England durchgeeilt, habe dann krampfhaft meine Abelschen redigirt und musste dann noch schleunigst meine Wintervorlesungen disponiren.“114 Klein liebäugelte mit einer Gastprofessur in den USA, die ihm noch vor der Reise nach Großbritannien angeboten worden war. Stanley Hall, Psychologe und erster Präsident der 1887 gegründeten Clark University in Worcester (Massachusetts, USA), hatte im Februar 1889 angefragt, ob Klein geneigt sei, im folgenden Wintersemester dort Vorlesungen zu halten. Klein wäre der Gastprofessur gern gefolgt und hatte dezidiert nach Berlin geschrieben: „Findet sich das Ministerium in der Lage, bei dem Unternehmen ein öffentliches Interesse zu sehen u. anzuerkennen, so bin ich zur Durchführung bereit, andernfalls nicht.“115 Aber wie das 108 Vgl. bes. Brief Hermites v. 11.9.1887 an Klein mit Grüßen von Madame Hermite und Picard [UBG] Ms. F. Klein 9: 687; auch TOBIES 2016. 109 In: Comptes rendus 108 (1889), 134-36; 277-80. 110 [UBG] Math. Archiv 77: 184, Klein an Hurwitz, Brief v. 24.4.1887. 111 Smith an Klein, 22.5.; 6.10.1888 [UBG] Cod. F. Klein 11: 1035, 1036. 112 KLEIN 1923 GMA III, Anhang 22. 113 Hilbert an Klein, Briefe v. 30.11.1887; 2.2.1889 bis 27.2.1889, in FREI 1985, 21; 46-51. 114 [UBG] Math. Archiv 77: 202, Klein an Hurwitz, Brief v. 31.12.1889. 115 Klein an Althoff, 23.2.1889 [StA Berlin] Rep. 92 Althoff B, Nr. 92, Bl. 63.

316

6 Start als Professor in Göttingen, 1886 – 1892

sächsische Ministerium im Jahre 1883 Kleins Blick nach Übersee nicht estimiert hatte, so zeigte sich das preußische Kultusministerium 1889 ebenfalls nicht interessiert. Althoff empfahl vielmehr, „[…] die Berufung abzulehnen, da unsererseits ein Interesse an der Ausführung der Mission nicht vorliegt“.116 So verzichtete Klein, woraufhin Althoff im April 1889 erwog, für ihn eine neue Professur an der Universität Berlin zu kreieren. Klein lehnte ab117 und wurde daraufhin – wie angedeutet (vgl. 2.1.1) – gemäß Kaiserlichem Erlass vom 20. Juni 1889 mit dem Roten Adlerorden IV. Klasse geehrt,118 ein preußischer Verdienstorden, der seit 17. November 1705 unter der Bezeichnung Ordre de la sincérité (Orden der Aufrichtigkeit) existierte. Seit der Leipziger Zeit hatte Klein die Kontakte nach Russland und Osteuropa insgesamt im Interesse der Mathematischen Annalen verstärkt. Dies setzte er in Göttingen fort und schrieb 1891 an Adolph Mayer: „[…] ich glaube bis zu einem gewissen Maasse an die Zukunft der russischen Mathematik und meine, dass es jetzt zeitgemäss ist, Fühlung mit derselben zu suchen.“119 Mit einigen Autoren, wie A. A. Markow aus St. Petersburg, korrespondierte Klein inzwischen regelmäßig. Es kamen Vertreter der Moskauer Schule hinzu, die lange Zeit mit der Schule in Petersburg in Konkurrenz stand.120 Der Moskauer Mathematiker P. S. Nekrassow trat Klein im schwelenden wissenschaftlichen Zwist mit Lazarus Fuchs zur Seite (Anhang Nr. 5). Mit Nekrassow vereinbarte Klein den Zeitschriftenaustausch mit der Moskauer Mathematischen Gesellschaft, die ihn seit Anfang 1891 als Mitglied führte. Nekrassow vermittelte auch weitere Kontakte mit Mathematikern in Kiew.121 Bevor Klein am 28. Mai 1893 zum Ehrenmitglied der Kaiserlichen Universität Kazan und im November 1895 zum Korrespondenten der Petersburger Akademie gewählt wurde (vgl. 5.4.2.5), war er dem Comité-Lobatschewsky beigetreten122 und hatte er die Übersetzung eines Buches von Markow angeregt. Klein hatte selbst über Arbeiten von Tschebyschow, Kopf der Petersburger Schule, detailliert vorgetragen und die Ergebnisse (betr. Interpolation durch Polynome) empfohlen.123 Dieses wissenschaftliche Interesse an den russischen Arbeiten sollte dazu führen, das sich Klein dezidiert für einen Lehrstuhl für slawische Philologie einsetzte (vgl. 8.3.2) und im Januar 1914 einer Deutschen Gesellschaft zum Studium Rußlands beitrat (vgl. 9.3.1). 116 UBG, Cod. Ms Klein I, B,4, Brief Althoffs an Klein, Berlin, d. 25.2.1889. 117 Klein bedauerte später noch, dass die ersatzweise erwogene Idee, nur in der Herbstferien nach Worcester zu gehen, „durch diplomatisches Hinhalten von A.[lthoff] abgeschnitten“ wurde. Klein in JACOBS 1977, 22 L, Personalia, Bl. 3. 118 [UAG] Kur. 5956, Bl. 34. 119 Klein an Mayer, Brief v. 16.1.1891, in TOBIES/ROWE 1990, 188. 120 Zu den konkurrierenden Schulen vgl. DEMIDOV 2015. 121 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 11: 370 (P. Prokowsky an Klein, 2./14.12.1891). Pokrowskys Spezialgebiet war die Theorie hyperelliptischer Funktionen. 122 In Kazan war A. W. Wassiliew die Kontaktperson, der Klein bereits bei einem kurzen Aufenthalt in Leipzig kennengelernt hatte und die Übersetzung seiner Arbeiten förderte [UBG] Cod. Ms. F.. Klein 11: 197-202A (Wassiliew an Klein), bes. 200 (9.6.1895). 123 Vortrag am 21.5.1895 [UBG] Math.Arch. 49: Bl. 133-36.

6.3 Forschungen und Forschungskooperationen

317

6.3.7.2 Arthur Schönflies und die Kristallographie Kleins Urteilsvermögen über neue Theorien in der Mathematik und in den Naturwissenschaften ließ ihn zu Erkenntnissen gelangen, die seiner Zeit voraus waren. Dazu gehörte die Kristallographie. Schönflies hatte „ebene Configurationen und zugehörige Gruppen von Substitutionen“ untersucht und war dabei auf Arbeiten über Kristallstrukturen gestoßen.124 Er dankte Felix Klein den Hinweis, die Symmetrien von Kristallstrukturen mittels Gruppentheorie zu erfassen: „Auf die Zweckmäßigkeit, die Theorie der Bewegungsgruppen durch Hinzunahme des Symmetriebegriffes zu erweitern, hat mich Herr Klein gelegentlich aufmerksam gemacht.“125 Felix Klein präsentierte Schönflies’ Arbeiten in der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften. In der Arbeit vom 7. Juni 1890 „Ueber das gegenseitige Verhältniß der Theorieen über die Struktur der Krystalle“ lesen wir: Drei verschiedene Theorieen kommen in Frage, nämlich 1) die Theorie von Bravais und Wulff, 2) die Theorie von [Christian] Wiener und Sohncke, und 3) diejenige, welche ich selbst in diesen Nachrichten kürzlich dargestellt habe. Ich bemerke, daß die Nothwendigkeit, die Theorie so weiterzubilden, wie es dort geschehen ist, mir gegenüber zuerst von Herrn Klein betont worden ist.126

Arthur Schönflies konnte zeigen, dass 230 kristallographische Raumgruppentypen existieren, was er im Buch Kristallsysteme und Kristallstruktur (B.G. Teubner 1891) zusammenfasste. Die Korrespondenz mit dem russischen Mineralogen E. S. Fedorow hatte das Ergebnis befördert, denn dieser war bereits im Jahre 1885 auf anderem Wege zum selben Resultat gelangt. Schönflies leistete schließlich die Hauptarbeit am ENCYKLOPÄDIE-Beitrag Kristallographie (1905), an dem auch die Mineralogen Theodor Liebisch und Otto Mügge beteiligt waren. Klein glaubte (visionär) an die zunächst rein theoretisch begründete Kristallstrukturtheorie, obgleich sie vielerorts noch abgelehnt wurde. Er gab an: „Um 1890 herum waren die Fachleute noch durchaus gewohnt, einen Kristall oder besser ein kristallinisches Medium als ein raumerfüllendes Kontinuum zu betrachten, das in allen seinen Punkten dieselben Eigenschaften darbietet!“127 Von der Theorie überzeugt, verkündete Klein sie auch 1893 in Chicago (vgl. Abschnitt 7.5.1). Im Jahre 1912 nahm er begeistert die Entdeckung zur Kenntnis, dass Röntgenstrahlen im Kristallgitter gebeugt werden – was Max von Laue den Nobelpreis einbrachte und die Theorie zu Ehren kommen ließ.128

124 Vgl. hierzu die detaillierte Analyse in Kap. I von SCHOLZ 1989, bes. 110-48. 125 Schönflies, A.: „Ueber Gruppen von Transformationen des Raumes in sich“. Math. Ann. 34 (1889) 172-203, Zitat, 172. 126 Göttinger Nachrichten 1890, Nr. 6 (25.6.), 239-50, Zitat 239. – Vgl. auch Schönflies, A.: „Beitrag zur Theorie der Krystallstructur“. Göttinger Nachrichten 1888, 483-501. 127 KLEIN 1926 Vorlesungen I, 344. 128 Vgl. hierzu ebd. 345. – Max Borns ENCYKLOPÄDIE-Betrag „Atomtheorie des festen Zustandes (Dynamik der Kristallgitter“ (1922) (Bd. V) umfasste die neueren Ergebnisse.

318

6 Start als Professor in Göttingen, 1886 – 1892

6.3.7.3 Klein und Hilberts Invariantentheorie Hier spätestens ist der Platz, an dem Hilbert näher vorgestellt werden soll. In diesen Jahren erkannte Klein deutlich Hilberts Talent, förderte ihn, unterstützte dessen invariantentheoretische Ansätze und fasste gar den Gedanken, selbst nach Königsberg zu reisen, um sich dort mathematische Anregung zu holen. Klein hatte im August 1884 von Hurwitz erfahren, dass Hilbert seine Dissertation „Über invariante Eigenschaften specieller binärer Formen, insbesondere der Kugelfunctionen“ vollendet habe und demnächst nach Leipzig kommen wolle.129 Lindemann hatte Hilbert in die Clebsch-Gordansche Invariantentheorie eingeführt. Im November 1885 hatte Hilbert die Resultate seiner Dissertation für die Annalen zusammengefasst (Bd. 27, 1886). Noch bevor er in Kleins Seminar den ersten Vortrag halten sollte, war er zu neuen Ergebnisse gelangt, die Klein in der Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften (am 7.12.1885) präsentierte. Sie mündeten später in Hilberts Habilitationsschrift (Math. Ann. Bd. 28, 1886). Gegen Semesterende trug Hilbert in Kleins Seminar über Themen vor, die als Vorbereitung für die von Klein empfohlene Paris-Reise interpretiert werden können. Hilbert sprach über Picards Arbeit „Ueber die Integrale erster Gattung auf algebraischen Flächen“ (Journal des mathématiques pures et appliquées, 1885) und analysierte Arbeiten von Riemann, Weierstraß, Poincaré, Picard und Frobenius unter dem Titel „Ueber periodische Funktionen zweier Variabler“.130 Als Hilbert im März 1886 mit Kleins Empfehlungsschreiben nach Paris reiste, wo sich Eduard Study schon befand, empfingen beide brieflich noch Ratschläge von Klein. Dazu gehörten nicht nur Hinweise, wie ihnen die „Kunst“ gelingen könne, „Jeden, der überhaupt zugänglich ist, bei seinen Interessen zu fassen“, sondern auch, dass sie künftig Kontakte zu den Mathematikern in Deutschland, besonders Paul Gordan und Max Noether, ebenfalls intensiver pflegen sollten.131 Klein subsumierte Hilbert (und Study) in diese, seine Richtung, wenn er Ihnen vom Göttinger Start schrieb: „Meine Beziehungen zu Schwarz nehmen einen guten Anfang; ob es wirklich gelingt, zwischen der Berliner Functionentheorie und unserer Art, die Dinge zu sehen, eine innige Wechselbeziehung herzustellen?“132 Die seit der Paris-Reise existierende Korrespondenz zwischen Klein und Hilbert dokumentiert einen intensiven Austausch. Hilbert wählte für den 13 Jahre älteren Klein noch bis zum 1. September 1896 einheitlich die Anrede „Hochgeehrter Herr Professor“, während Klein schon seit 1892 „Lieber Herr College“ bzw. „Lieber Freund“ benutzte. Hilbert folgte Kleins Angebot, ihm seine neuen Ergebnisse zu senden. Klein las diese, verwies auf Arbeiten in- und ausländischer Mathematiker, die einen gewissen Bezug zum Thema haben könnten. Hilbert studierte sofort das Genannte und erklärte den Kontext. So erschienen in Band 30 (1887) der Mathematischen Annalen drei Arbeiten von Hilbert, in Bd. 31 (1888) 129 130 131 132

[UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 1000, Hurwitz an Klein, Postkarte v. 27.5.1885. [Protokolle] Bd. 7, 218-25; 274-83 (Hilberts Vorträge, Mo. 11.1.1886; 15.2.1886). Klein an Hilbert und Study (April) 1886, in FREI 1985, 7-8. Klein im April 1886, in FREI 1985, 8.

6.3 Forschungen und Forschungskooperationen

319

eine, in 32 (1888) eine, in Bd. 33 (1889) zwei usw., weitere in den Göttinger Nachrichten, so drei Noten „Zur Theorie der algebraischen Gebilde“.133 Sie betrafen das Endlichkeitstheorem, dem sich Paul Gordan bereits verdienstvoll gewidmet hatte (vgl. Abschnitt 3.5). Hilbert war in Paris durch Hermite auf neue Wege gelenkt worden, die er in der Folgezeit tiefer auslotete.134 Klein erkannte Hilberts neuen Ansatz und ermutigte ihn, diesen noch stärker zu verfolgen: Ich finde, dass Sie die Aufgabe der Invariantentheorie immer noch zu eng fassen, d.h. zu sehr im Sinne der directen Clebsch-Gordan’schen Tradition, während ich meine, dass sich das betr. Gebiet doch mittlerweile nach verschiedenen Seiten ausgedehnt, bez. vertieft hat.135

Klein listete dazu Ansätze anderer Autoren in fünf Punkten auf, und Hilbert signalisierte, dass er die Anregungen aufgegriffen und seine Arbeit dadurch gewonnen habe.136 Paul Gordan galt damals als „König der Invariantentheorie“ und musste von Hilberts neuem Ansatz „Ueber die Theorie der algebraischen Formen“ (Math. Ann. 36 (1890) 473-534) erst mühsam überzeugt werden. Für Klein war es „die wichtigste Arbeit über allgemeine Algebra […], welche die Annalen seither veröffentlichten“.137 Beim Bremer Treffen im September 1890 (vgl. 6.4.4) konnte Klein weitere Impulse in zahlentheoretischer Richtung an Hilbert u.a. geben.138 Kleins Hinweise auf Invarianten in der Zahlentheorie und auf „Kroneckers Modulsysteme“ sind in Hilberts Arbeit „Ueber die vollen Invariantensysteme“ (Math. Ann. 42 (1893) 313-73) berücksichtigt. Hilbert suchte Kronecker persönlich auf, diskutierte mit Hurwitz und wandte arithmetische Methoden auf algebraische Probleme an. Hilbert vereinigte die algebraische Invariantentheorie mit der Kroneckerschen Theorie der Formen und der Dedekindschen Theorie der Ideale und Moduln und wurde damit zum eigentlichen Begründer der modernen abstrakten Algebra – woran später Emmy Noether anknüpfen sollte. 139 Klein war von Hilberts Leistungsfähigkeit überzeugt, sodass er bei der nächstbesten Gelegenheit (ein freies Ordinariat an der Akademie in Münster) am 23. Oktober 1890 an Althoff im preußischen Kultusministerium schrieb: 133 Göttinger Nachrichten (1888) Nr. 16 (5.12.) 450-57; (1889) Nr. 2 (30.1.1889) 25-34; Nr. 15 (31.7.1889) 423-30. 134 Vgl. ROWE 2018a, 160-67; auch Hilbert an Klein, 12.12.1888, in FREI 1985, 44-45. 135 Klein an Hilbert, 27.6.1889, FREI 1985, 53. 136 Hilbert an Klein, 30.6.1889, FREI 1985, 54-55. 137 Klein an Hilbert, 18.2.1890, FREI 1985, 62. 138 Klein teilte Hurwitz mit: „Bianchi hat seine Theorie der linearen Substitutionen mit Coefficienten a+bi, a+bρ jetzt für die Annalen bearbeitet, indem er die quadratischen Formen mit complexen Coefficienten von Dirichlet und Hermite ganz geradeso behandelt, wie ich dies Hilbert und den Anderen gelegentlich in Bremen auseinandersetzte.“ [UBG] Math. Arch. 77: 214 (10.12.1890). – Bianchi begann seine Arbeit „Geometrische Darstellung der Gruppen linearer Substitutionen mit ganzen complexen Coefficienten nebst Anwendungen auf die Zahlentheorie“ (Math. Ann. 38 (1891) 313-33) mit: „Die geometrische Methode, auf welche Herr Professor Klein die arithmetische Theorie der gewöhnlichen binären quadratischen Formen gründet, kann mit demselben Erfolge in weiterem Umfange angewandt werden.“ 139 Vgl. hierzu B. L. van der Waerden in HILBERT 1933, 401-403.

320

6 Start als Professor in Göttingen, 1886 – 1892 Hilbert ist “The rising man“: Ich nenne ihn hier nur desshalb an letzter Stelle, weil er wesentlich jünger ist als die anderen. Die Arbeiten, die er in den letzten zwei Jahren veröffentlicht hat, zeugen in der That von einer ganz ausserordentlichen Kraft des abstrakten Denkens. Nachdem ich ihn seit 4 Jahren nicht gesehen, traf ich ihn jetzt bei der Naturforscherversammlung und war überrascht, wie er in der Zwischenzeit gewachsen ist, wie er über alle möglichen mathematischen Fragen nachgedacht und sich überall neue und grosse Probleme gestellt hat. Ob Hilbert jetzt berücksichtigt werden soll, scheint mir auf die principielle Frage hinauskommen, ob hervorragende Begabung in allen Fällen das Vorrecht vor älterem Verdienste zu Theil werden soll. Vielleicht ist zu Letzterem der vorliegende Fall weniger geeignet, als andere, die eintreten können: ich selbst würde für Münster wohl einen ruhigen Mann, der dann auch längere Jahre bleibt, vorziehen.140

Als Althoff ein Jahr später die Idee entwickelte, Hilbert solle sich – als Ersatz für Schönflies – nach Göttingen umhabilitieren, lehnte Klein allerdings kategorisch ab. Sein Schreiben vom 25. Oktober 1891 hatte sowohl Schönflies’ notwendige Position in Göttingen, als auch Hilberts Weg langfristig im Blick: Ich kann auch den Gegenvorschlag mir nicht aneignen, den Sie mir betreffs Umhabilitation von Hilbert hierher gemacht haben. Das wäre das Todesurteil für Schönflies und dazu kann ich nicht die Hand bieten. Außerdem ist Hilbert nicht das, was ich hier brauche u. was mir Schönflies bietet. Hilbert geht seinen selbständigen Weg; er hat durchaus den Rang, daß ich ihn in Betracht ziehen kann, wenn einmal eine eigne Stelle zu besetzen sein sollte oder neben mir eine Stelle zu besetzen frei wird. Im vorliegenden Falle aber handelt es sich darum, dass ich eine Hülfe beim Unterricht der Anfangssemester finde, insofern meine ganze Zeit durch die mittleren u. höheren Semester in Anspruch genommen ist. […].141

Zu den höheren Semestern gehörte 1891/92 Fabian Franklin, den Klein auf Hilberts Arbeit „Ueber die Theorie der algebraischen Formen“ (Math. Ann. 36 (1890)) lenkte. Franklin hatte unter Sylvester an der Johns Hopkins University in Baltimore studiert und zählte inzwischen zum Lehrkörper dieser ersten US-amerikanischen Universität mit Forschungscharakter. Er hörte in Göttingen Kleins Vorlesung Algebraische Gleichungen und sollte im Seminar142 über Hilberts Arbeit vortragen. Klein bereitete mit Franklin den Vortrag vor und drang auf diese Weise selbst tiefer in Hilberts Gedankengut ein. Dabei erwog Klein, nach Königsberg zu reisen, wie er Hurwitz erläuterte: Unser Stolz ist natürlich Prof. Franklin, mit dem ich eifrig Hilbert studire. Wenn Hilbert seine Endlichkeitsbetrachtungen jetzt auf Realitätsfragen ausdehnt143, so scheint mir das schön und wichtig. Sagen Sie doch Hilbert, dass ich Alles, was er da hat, sobald er es selbst für publicationsfähig hält, wie insbesondere auch die Anwendung der Dirichlet’schen Methoden, von denen er in Halle berichtete, mit grösster Bereitwilligkeit in den Göttinger Nachrichten publiciren werde, - wie ich ihn andererseits bitte, die ausgeführten Darstellungen den Annalen ja nicht vorzuenthalten. Ich möchte überhaupt die Verbindungen zwischen Königsberg und hier

140 [StA Berlin] Rep. 92 Althoff B, Nr. 92, Bl. 76-77, Klein an Althoff, 23.10.1890. 141 [StA Berlin] Rep. 92 Althoff A I Nr. 84, Bl. 82-83, Klein an Althoff, 25.10.1891. 142 Klein ließ Franklin (wie Zorawski, Van Vleck und F. Schilling) im Colloquium von Burkhardt und Schönflies sprechen, da er sein eigenes Seminar nutzte, um selbst über seinen Vorlesungsstoff ausführlicher zu sprechen. [Protokolle] Bd. 10, 187. 143 Vgl. hierzu auch Tapp, Ch. (2013): An den Grenzen des Endlichen. Hilbertprogramm im Kontext von Formalismus und Finitismus. Berlin: Springer.

6.4 Zusammenführen von Personen und Institutionen

321

noch enger gestalten. Ich hoffe in erster Linie natürlich, dass Sie den besprochenen Plan ausführen und sich Ostern längere Zeit hierher auf die Verpflegungsstation setzen. Andererseits denke ich wirklich ernstlich daran, selber für einige Zeit nach Königsberg zu kommen. Denn ich habe sehr das Bedürfnis, nachdem ich mich in den letzten Jahren viel mit angewandter Mathematik beschäftigt habe, meine theoretischen Interessen zu beleben und zu heben, und ich wüsste nicht, wie ich das besser bewerkstelligen sollte als durch ausführliche persönliche Bezugnahme mit Ihnen und Hilbert.144

Fabian Franklin fuhr zweimal zu Hilbert und Hurwitz nach Königsberg und erstellte dort im März 1892 eine kurz Note, die in den Mathematischen Annalen erschien.145 Klein realisierte die Reise nicht. Er musste sich auf neue Personalkonstellationen konzentrieren (vgl. 6.5). Es verwundert aber nicht, dass er sich 1892 bevorzugt Hilbert, oder Hurwitz, neben sich wünschte. 6.4 ZUSAMMENFÜHREN VON PERSONEN UND INSTITUTIONEN Das einst von Clebsch intendierte Programm, die Mathematiker zu einen, verfolgte Klein weiterhin. Dass er in Göttingen darüber hinaus auch alle Hochschullehrer zu vereinen suchte, war bisher weniger bekannt (vgl. 6.4.1). An die Gesamtinteressen der Universität und an die Ausbildung der Studierenden denkend, entwickelte Klein die neuartige Idee, die Universität Göttingen mit der nächst gelegenen preußischen Technischen Hochschule Hannover zusammenzuführen. (6.4.2) Kaum zum ordentlichen Mitglied der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen gewählt, dachte Klein an deren Reorganisation. (6.4.3) Als die Deutsche Mathematiker-Vereinigung (DMV), initiiert durch Georg Cantor, kurz vor ihrer Gründung stand, schaltete sich Felix Klein ein, um – im Hintergrund – inhaltlich, organisatorisch und personell zu lenken. (6.4.4) 6.4.1 Professorium in Göttingen Klein hatte das durch Ernst Heinrich Weber in Leipzig etablierte Professorium (vgl. 5.7) schätzen gelernt. Aus den Briefen von Otto Hölder geht hervor, dass in Göttingen bisher kein derartiges Gremium existierte und Klein dies kreierte: Dieser „Professorenverein“ ist eine große Vereinigung, die von Klein in Scene gesetzt werden soll und so geplant ist, daß womöglich die ganze Universität sich betheiligt. Es kostet mich diesen Winter 4 weitere Abende mit Tanz zu allem übrigen hin. Die Sache ist natürlich im Interesse derjenigen, die sonst wenig Verkehr haben, für unser einen ist es eben eine Mehrbelastung. Entziehen kann man sich kaum, ich habe meine Mitgliedschaft zugesagt, werde übrigens mir den Besuch der constituirenden Versammlung heute Abend schenken […].146 144 [UBG] Math. Arch. 77: 222, Klein an Hurwitz, Brief v. 6.11.1891. 145 Hurwitz an Klein, 31.12.1891 [UBG] Math. Arch. 77: 1100; Franklin, F. (1893): „Bemerkungen über einen Punkt in Riemann’s ‚Theorie der Abel’schen Functionen’“. Math. Ann. 40. 146 HILDEBRANDT et al. 2014, 227 (Brief v. Otto Hölder an die Eltern, 21.10.1886).

322

6 Start als Professor in Göttingen, 1886 – 1892

Otto Hölder war stärker individualistisch veranlagt und trank ein Glas Bier mit württembergischen Landsleuten anstatt der Gründung des Professoriums beizuwohnen. Die Hochschullehrer und ihre Ehefrauen sollten sich bei kultureller Veranstaltung treffen. Klein hatte sich als junger Professor in Erlangen bewusst auch kulturell engagiert (vgl. 3.6.1). Hölder fand es dagegen unter seiner Würde mitzutun: „Ende dieses Monats fängt der Professorenverein an, ich sollte erst mit Theater spielen, natürlich habe ich diese Zumuthung abgelehnt.“147 Dieses erste Professorium am Dienstag, den 30. November 1886, war Klein eine Mitteilung an Hurwitz wert: „Wir leben unterdessen bei mangelhaftem Schlaf in Saus und Braus: vorgestern 1tes Professorium mit 182 Theilnehmern und dreierlei Aufführungen!“148 Hölder berichtete detaillierter an die Eltern, woraus die von Klein organisierte Kultur und zugleich dessen Fürsorge erkennbar ist: Es war nämlich gestern der erste Abend des lange berathenen und bestrittenen, lange vorbereiteten Professorenvereins. Da war für Aufführungen nur zu gut gesorgt. Erst kam „Echtes Gold wird klar im Feuer. Dramatisches Sprichwort von Geibel“ ein furchtbar ernstes Stück voller Liebe und Entsagung, eigentlich für den vorliegenden Zweck nicht das richtige und von wegen der geringen Handlung und der langen Reden für Liebhaber zu schwer. Dieses Stück war der „Primadonna“ zu lieb gegeben worden; diese spielte auch sehr gut; weniger der die andere Hauptrolle eines Prinzen vertretende Privatdocent. Das zweite Bühnenspiel „Jugendliebe von Wil[l]brandt!“ wirkte vorzüglich; es war so recht zum Lachen, mit sehr wohlcharakterisierten Rollen; besonders gut eine alte Tante, ein sentimentaler Backfisch und ein verbummelter Student, welch letzteren einer meiner Freunde mit großer Natürlichkeit zu spielen wusste. Nach Tische kam noch eine dritte dramatische Leistung, ein medicinischer Scherz […]. Es war Alles ganz nett, nur war es zu viel. – Es war großer Herrenüberschuß; so hatte ich es erst zu keiner Tischdame gebracht; da kam aber [Felix] Klein zu mir, der noch eine Dame zu versorgen hatte. So hatte ich die Ehre Frau Professor Benfey zu Tisch zu führen, die Witwe eines der berühmtesten Orientalisten […] Ich machte […] noch zwei Rundtänze mit und ging vor Schluß des Ganzen.149

In einer Zeit ohne Radio, Fernsehen und reizüberfluteter Medienlandschaft sorgte Klein für angenehme Abwechslung, in die er seine Frau einbeziehen konnte. Für Samstag, den 16. Januar 1887, war ein großer Ball geplant, „der vom Professorenverein angeregt, so ziemlich die ganze Göttinger Gesellschaft vereinigen wird.“150 Im Juni 1887 organisierte dieser Verein einen Ausflug mit Essen und Tanz am Abend. Kleins Versuch im Oktober 1887, Hölder für das Comité des Professorenvereins zu gewinnen, wehrte dieser erfolgreich ab; es zeigt aber Kleins Dirigat. Für Klein war das Professorium zugleich ein Ausgangspunkt, im Rahmen der gesamten Universität wahrgenommen zu werden. Sein Engagement für die universitäre Gesamtheit sollte darin kulminieren, dass er ca. zwanzig Jahre später zum Vertreter der Universität Göttingen im preußischen Herrenhaus gewählt wurde (vgl. Abschnitt 8.3.4.1). 147 148 149 150

HILDEBRANDT et al. 2014, 231 (Brief v. Hölder am 16.11.1886). [UBG] Math. Archiv 77: 166, Klein an Hurwitz, 2.12.1886. HILDEBRANDT et al. 2014, 232 (Brief v. Hölder, 1.12.1886). Ebd., 234 (Brief v. Hölder, 12.1.1887). – Zu weiteren Berichten über das Professorium vgl. ebd., 239; 246, 252.

6.4 Zusammenführen von Personen und Institutionen

323

6.4.2 Antrag, die Technische Hochschule Hannover nach Göttingen zu verlegen Klein war seit Sommer 1887 Mitglied der Prüfungskommission, dachte über die „Allgemeinaufgabe des math.[ematischen] Unterrichts“ an der Universität nach und glaubte jener mit einer Verlegung der nächstgelegenen Hochschule, die seiner Ansicht nach näher an der Praxis war, eher gerecht werden zu können.151 Nach Annexion des Königreichs Hannover durch Preußen 1866 war die dortige Polytechnische Schule zu einer Technischen Hochschule (1879) ausgestaltet worden, geleitet vom Bauingenieur Wilhelm Launhardt. Dieser hatte im Jahre 1885 ein Buch Mathematische Begründung der Volkswirtschaftslehre (Leipzig: Wilhelm Engelmann) publiziert, was Kleins Aufmerksamkeit erregte. Bereits als Student in Bonn hatte Klein wahrgenommen, wie neu entstehende Richtungen durch die Verleihung von Ehrendoktoraten gewürdigt wurden (Abschnitt 2.3.2). Als im Mai 1887 alle Fakultätsmitglieder in Göttingen aufgefordert wurden, Anträge für Ehrenpromotionen zu stellen, die anlässlich des 150. Jubiläums der Universität (Feier am 7. August 1887) vollzogen werden sollten, argumentierte Klein vehement für Launhardt. Er erreichte, dass zahlreiche Kollegen, darunter H. A. Schwarz, E. Schering, E. Riecke, W. Schur, W. Voigt, den Antrag mit unterzeichneten, dennoch blieb er innerhalb der Gesamtuniversität „in Minorität“.152 Noch bevor der 29-jährige Wilhelm II. am 15. Juni 1888 die Krone als Deutscher Kaiser und König von Preußen übernahm und eine Schulreform ankündigte, hatte Klein die allgemeine Aufgabe der Universität als unzureichend empfunden. Um praktischen Bedürfnissen besser zu entsprechen, plädierte er dafür, Universität und Technische Hochschule zu vereinen. Im Herbst 1887 weilte Klein „längere Zeit in Hannover bei Launhardt, um den dortigen Betrieb und die einschlägige Literatur kennen zu lernen.“ Am 27. Mai 1888 schrieb er an Friedrich Althoff, dass er die „Verlegung der t.[echnischen] H.[ochschule] nach Göttingen beantragt.“ Klein erklärte seine damit verbundenen Ziele wie folgt: 1. Allseitigere Ausbildung unserer Studenten. 2. Gesündere Entwickelung unserer Disziplinen 3. Grössere Wirksamkeit unserer Institutionen 4. Allgemeines Kulturinteresse: Wahre moderne Bildung.153

Das Ministerium wünschte dies ausführlicher dargestellt, sodass Klein eine Denkschrift ausarbeitete und am 6. Oktober 1888 nach Berlin sandte. Die 18 Blatt umfassende Schrift strotzt von einer Reichhaltigkeit Kleinschen Gedankenguts, welches bereits seinen Blick auf „alle Fragen der modernen Cultur“ und ebenso die Idee des Doctortitels für den Techniker enthält, verbunden mit dem hauptsächli151 Klein in JACOBS 1977, 22 L: Personalia, Bl. 1. 152 Weitere neun Vorschläge wurden abgelehnt. Zu den Geehrten gehörten u.a. der russische Chemiker Mendelejeff und der Hamburger Instrumentenbauer Repsold. [UAG] Phil. Fak. 172a, Nr. 107k. – Klein gelang es erst zehn Jahre später, 1897, einen Vertreter der Technik, Carl von Linde, in Göttingen mit den Dr. phil. h.c. ehren zu lassen. 153 Klein in JACOBS 1977, 22 L: Personalia, Bl. 2. – Klein sollte später mit Launhardt bei der Schulkonferenz 1900 und im Herrenhaus agieren (vgl. 8.3.4.2).

324

6 Start als Professor in Göttingen, 1886 – 1892

chen Wunsch, Mathematik mit neuesten Entwicklungen in Natur- und Technikwissenschaften zu vernetzen. An die Mathematiker gerichtet, formulierte Klein: Man muss sagen, dass wir seit langem geradezu darauf verzichtet haben, mit den Fortschritten der Nachbargebiete Schritt zu halten. Lassen Sie mich nur denjenigen Theil unserer Wissenschaft nennen, dessen allgemeine Bedeutung auch dem Nicht-Fachmanne von vornherein einleuchtet, die theoretische Mechanik. Wo ist der Universitäts-Mathematiker[,] der die Anregungen in sich aufgenommen hätte, welche die neue physikalische Disciplin, die mechanische Wärmetheorie mit sich brachte? – der beachtete, dass die Lehre von der Bewegung der festen Körper (die Kinematik) in den Händen der Maschineningenieure einen neuen Inhalt gewann? oder dass in der Statik sich von den Aufgaben des Brückenbaues aus originelle und weittragende graphische Methoden entwickelten?

An die Adresse der Techniker und Naturwissenschaftler gewandt, äußerte er: Unsere tiefeindringenden Theoreme, unsere genialen Auffassungen, werden sie von denjenigen, die es angeht, auch nur beachtet? Ich constatire, dass die deutschen Techniker, was exacte wissenschaftliche Durchbildung angeht, hinter ihren Fachgenossen in Italien und Frankreich zurückstehen. Ich constatire, dass in den Kreisen unserer Physiker, unserer Astronomen gegen früher ein vollständiger Verfall der mathematischen Bildung eingetreten ist. Ich constatire, dass die deutsche Chemie zurückbleibt, weil ihre Vertreter mangels mathematischer Vorbildung den Fortschritten, die anderweitig angebahnt werden, nicht folgen können.154

Althoff verhielt sich gegenüber Kleins Vorschlägen zurückhaltend. Das Verbinden von Universität mit Technischen Hochschule blieb unerfüllter Wunsch. 6.4.3 Idee zur Reorganisation der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften Felix Klein hatte der Kgl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen seit 1872 als Correspondent angehört (vgl. 2.8). Er wurde nun als außerordentliches Mitglied gelistet. Um zum ordentlichen Akademiemitglied ernannt zu werden, musste ein Platz frei sein. Der Altphilologe Hermann Sauppe, der sich in der Berufungskommission für Klein engagiert hatte, informierte als beständiger Sekretär der Gesellschaft am 28. Dezember 1886: „Wir wünschen Sie in unsere Gesellschaft aufzunehmen, da wir alle wissen, welchen Zuwachs an schaffender Energie die Wirksamkeit unserer Gemeinschaft dadurch gewinnen würde.“155 Er teilte weiter mit, dass die Zahl von 24 Mitgliedern für die existierenden drei Klassen seit langem feststehe und Klein zunächst nicht gewählt werden könne, denn Moritz A. Stern sei die weitere ordentliche Mitgliedschaft zugesichert worden. Sauppe bot aber an, dass sich Klein sofort an der Arbeit beteiligen könne. Er würde Einladungen zu den wissenschaftlichen Sitzungen erhalten und könne die Nachrichten für die Publikation nutzen. Allerdings war ihm die Teilnahme an den geschäftlichen Beratungen und Beschlüssen noch verwehrt.156 154 [UAG] Kuratorialakten, 4 I, Nr. 88a, Bl. 2-10, Zitate Bl. 4, 5, zum Doctortitel Bl. 11. 155 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 11: 656. 156 [AdW Göttingen] Chron 4, 6: 41 (Außerordentliche Sitzung, 18.12.1886).

6.4 Zusammenführen von Personen und Institutionen

325

Sauppe hatte Kleins „schaffende Energie“ richtig bewertet. Bereits Silvester 1886 schrieb Klein nach Königsberg und forderte Hurwitz und dessen Kollegen auf, ihm geeignete (kürzere) Arbeiten zu senden.157 In der Sitzung der Göttinger Gesellschaft vom 5. Februar 1887 legte Klein die erste Arbeit von Hurwitz vor, die aufgrund der Polemik mit Lazarus Fuchs von besonderer Brisanz war (vgl. 5.5.5 und Anhang Nr. 5). Hurwitz korrigierte einen Fehler von Fuchs und fügte im Anhang zum Beitrag seine darauf bezogene Korrespondenz mit Fuchs an.158 Dies geschah abgestimmt mit Klein und auch H.A. Schwarz. In der Sitzung vom 2. Juli 1887 brachte Klein weitere drei (algebraische) Arbeiten ein, von Bolza, Maschke und Aurel Voß. Schwarz unterstützte erneut die Aufnahme in die Göttinger Nachrichten.159 Am 5. November 1887 präsentierte Klein eine eigene Arbeit (zu hyperelliptischen Funktionen). Er wurde schließlich am 12. November 1887 zum o. Mitglied der Mathematischen Klasse mit einer Gegenstimme gewählt.160 Es dauerte nicht lange, dass er Pläne zur Reorganisation unterbreiten sollte. Die Kgl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen war wenig handlungsfähig, da keine „juristische Person“. Deshalb hatte schon der einst von Schwarz gegen Klein instrumentalisierte Orientalist Paul de Lagarde (vgl. 5.8.2) im Jahre 1887 Ideen zur Reorganisation niedergeschrieben.161 Er hatte einen Rückgang der Universitäten konstatiert und gefordert, dass die Universität Göttingen aufhören müsse, „Provinz-Universität“ zu sein; er forderte eine Europa-Universität. Neben einer Schulreform – damit dem Kaiser und König folgend – meinte er, dass eine Reorganisation der Provinz Göttingen von der Gesellschaft der Wissenschaften ausgehen müsse. „Göttingen muß anfangen etwas zu sein, was nur Göttingen ist […].“ Er erstrebte ebenfalls eine veränderte Auswahl der Mitglieder: „nicht abgelebte Berühmheiten“, sondern „Männer, die noch etwas sein werden“. Die von Lagarde beschriebenen (neuen) Aufgaben der „Akademie“ bezogen sich nur auf seine Klasse. Mathematik und Naturwissenschaften überließ er anderen. Klein, obgleich mit Lagardes politischen Ansichten nicht konform, knüpfte an einige Punkte an.162 Klein argumentierte in seinem „Großen Bericht über Reorganisation u. Erweiterung der Sozietät“ vom Dezember 1888 ebenso mit allgemeinen Bildungs- und Standortinteressen. Zugleich wollte Klein „reine Forschung“ mit technischen Anwendungen verbinden. Dafür hatte er den Mineralogen Theodor Liebisch, den Psychologen Georg-Elias Müller, den Physiker Eduard Riecke 157 [UBG] Math. Arch. 77: 168, Klein an Hurwitz, Brief v. 31.12.1886. 158 Hurwitz, A. (1887): „Über diejenigen algebraischen Gebilde, welche eindeutige Transformationen in sich zulassen.“ Göttinger Nachrichten, Nr. 6, 85-107. 159 Bolza, O.: „Darstellung der rationalen ganzen Invarianten der Binärform sechsten Grades durch die Nullwerte der zugehörigen δ-Functionen“; Maschke, H.: „Ueber die quaternäre, endliche, lineare Substitutionsgruppe der Borchardt’schen Moduln“; Voß, A.: Ueber bilineare Formen“. Göttinger Nachrichten Nr. 14, 418-21; 421-24, 424-33. 160 [AdW Göttingen] Chron 4, 6: 51. – Am selben Tage wurden jeweils einstimmig Wilhelm Weber Ehrenmitglied und Ludwig Boltzmann auswärtiges Mitglied dieser Klasse. 161 Gutachten v. 25.1.1887, in LAGARDE 1894, 162-77. 162 Klein in JACOBS 1977, 22L: Personalia, Bl. 2. – P. de Lagarde galt als aggressiver Antisemit, Gegner der Frauenemanzipation und Vertreter einer expansionistischen Grenzkolonisation.

326

6 Start als Professor in Göttingen, 1886 – 1892

und den Altphilologen Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf als Mitstreiter gewonnen. Sie schlugen gemeinsam vor, Vertreter technischer Disziplinen als Mitglieder aufzunehmen und nannten bereits konkrete Namen: Wilhelm Launhardt (Hannover) als (Brücken-)Bauingenieur, Johann A. Repsold (Hamburg) für Präzisionsmechanik sowie einen noch zu benennenden Maschinenbauer.163 Dieses Konzept für eine neue Art von Akademie-Mitgliedschaft war seiner Zeit voraus und wurde zu Kleins Lebenszeit an keiner Akademie realisiert.164 Althoff sandte Kleins Bericht skeptisch zur Kontrolle an den Althistoriker Theodor Mommsen.165 Klein war weiterhin eines der aktivsten Mitglieder dieser Göttinger Gesellschaft. Der Jahrgang 1889 ihres Organs (Göttinger Nachrichten) enthält zwei Arbeiten von ihm (zur Theorie der Abelschen Funktionen) sowie neun von Schülern/ Kollegen, die er in Sitzungen präsentierte: Burkhardt (Ueber eine hyperelliptische Multiplicatorgleichung); Heinrich Maschke, Ernesto Pascal (Zur Theorie der ungeraden Abelschen Sigmafunctionen dreier Argumente; Zur Theorie der geraden Sigmafunctionen dreier Argumente), Eduard Wiltheiss (Die partiellen Differentialgleichungen der Abelschen Thetafunctionen dreier Argumente); Wilhelm Wirtinger (Ueber das Analogon der Kummerschen Fläche für p=3); drei von Hilbert. Somit traf es Klein tief, als ihm in der Sitzung vom 5. Juli 1890 wider Erwarten ein Antrag abgelehnt wurde, der sich auf die Sammlung von Vorlesungsheften und weiterer Notizen Riemanns bezog. Klein hatte für die Durchsicht der Riemann-Notizen bereits Heinrich Weber gewonnen.166 Das negative Votum beruhte vor allem auf Scherings Verhalten, der die Gauß-Werke im Auftrage der Kgl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen herausgab. Allerdings war seit Band 6 (1876) kein neuer Band erschienen.167 Klein war derart ergrimmt168, dass er Robert Fricke wissen ließ: Ich habe nun 4 Jahre in Göttingen daran gearbeitet zu Fachgenossen, von denen ich durch die historische Tradition getrennt war, auf Grund unbefangener wissenschaftlicher Interessen in positive Beziehung zu treten, und habe eben gestern die endgültige Thatsache zu registriren gehabt, dass Alles umsonst war, dass Missgunst und Hass die bleibenden Resultate sind und dass ich isolirter bin wie je.169

Erst aufgrund eines Rufes nach München 1892 konnte Klein bei der Göttinger Kgl. Gesellschaft der Wissenschaften Statuten mit einigen Neuerungen auf den Weg bringen (vgl. Abschnitt 6.5.2). Auch das 1890 abgelehnte Projekt, die Edition von Nachträgen zu Riemanns Werken, sollte Klein später noch durch Max Noether und Wilhelm Wirtinger realisieren lassen (B.G. Teubner, 1902). 163 164 165 166 167

[UBG] Cod. Ms Klein 1 B: 3, Bl. 91. Vgl. hierzu auch FEDERSPIEL 2011. Althoff an Mommsen, 25.6.1889, vgl. REBENICH/FRANKE 2012. Heinrich Weber und Richard Dedekind hatten Riemanns Werke (RIEMANN 1876) ediert. Scherings Witwe begründete das Verhalten ihres Mannes mit Groll darüber, dass er für die Herausgabe der Gauß-Werke (6 Bde.) zu wenig Geld und Anerkennung erhielt. [UGB] Cod. Ms. F. Klein 11: 682 Anl. (M. Schering an Klein, 3.2.1899). 168 Klein in JACOBS 1977, Personalia 22 L, Bl. 3-4. 169 [UA Braunschweig] Klein an Fricke, Brief v. 6.7.1890. – Fricke spürte an der Universität Berlin ähnliches Abweisen. Ihm wurde verwehrt, sich dort zu habilitieren, vgl. Anhang Nr. 5.

6.4 Zusammenführen von Personen und Institutionen

327

6.4.4 Felix Klein und die Gründung der Deutschen Mathematiker-Vereinigung Als Georg Cantor170 im Jahre 1889 die Initiative ergriff, die deutschen Mathematiker zu einen, verhielt sich Klein zunächst vorsichtig zurückhaltend. Als Leo Koenigsberger auf der Naturforscherversammlung 1889 in Heidelberg Cantors Satz vortrug, „Es ist wünschenswert, daß eine engere Vereinigung als bisher zwischen den deutschen Mathematikern gegründet werde,“ befand sich Felix Klein auf der britischen Insel und dachte an die versäumte Gastprofessur in den USA. Nach der Rückkehr berichtete ihm sein Schüler Walther Dyck über das Heidelberger Treffen, welches ein Jahr später in Bremen zur Gründung der Deutschen Mathematiker-Vereinigung (DMV) führen sollte. Diese Geschichte ist detailliert untersucht worden.171 Kleins Anteil lässt sich in fünf Punkten beschreiben. Erstens. Klein vermied, nach außen führend in Erscheinung zu treten. Ihm war bewusst, dass seine Person für eine Gruppe stand und damit manch potentiell Interessierter abgehalten werden könnte teilzunehmen. Klein brachte seine Ideen über Dyck ein und schrieb selbst an Georg Cantor. Zweitens. Kleins inhaltliche Idee für die neue Vereinigung bestand vor allem darin, dass sie „Referate über die Entwicklung verschiedener Zweige unserer Wissenschaft“ veranlassen solle, wie Walther Dyck bereits am 12. Oktober 1889 Cantor informierte. Diese Idee floss in die Statuten der DMV ein. Klein kümmerte sich von Beginn an persönlich darum, dass Referenten für die einzelnen Gebiete der „reinen“ und auch „angewandten“ Mathematik gewonnen wurden.172 Die z.T. sehr umfangreichen Referate wurden zunächst in Verbindung mit dem Jahresberichts der DMV publiziert und mündeten in die ENCYKLOPÄDIE. Drittens. Die am meisten diskutierte organisatorische Frage war, ob die neu zu gründende Vereinigung weiterhin mit den Jahresversammlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte (GDNÄ) tagen solle oder nicht. Georg Cantor plädierte für eine separate Vereinigung nach Vorbild der Société Mathématique de France. Klein dagegen schrieb am 14. Mai 1890 an Cantor: „Ich für meinen Theil kann nicht einsehen, daß eine Ablösung nöthig wäre; sie kann später immer erfolgen, wenn eine geschlossene Majorität dafür ist und die Centralleitung der Naturforscherversammlung eine zu einseitige Tyrannei sollte aufrichten wollen.“173 Cantor ließ sich erst von dieser Ansicht überzeugen, nachdem Weierstraß in einem Brief vom 6. September 1890 ähnlich argumentiert hatte. Somit tagte die DMV bis 1913 gemeinsam mit der GDNÄ am selben Ort und zur selben Zeit. Erst nach dem Ersten Weltkrieg, als sich die Naturforscher nur noch alle zwei Jahre versammelten, trafen sich die mathematischen und physikalischen Gesellschaften auch in den Zwischenjahren losgelöst davon.174 170 Zu Georg Cantor vgl. vor allem PURKERT/ILGAUDS 1987. 171 TOBIES 1991a; 1998; zu Walther Dycks Agieren HASHAGEN 2003, 403-37. 172 Dazu gehörten Hilbert/Minkowski über Zahlentheorie; Finsterwalder über Photogrammetrie, August Föppl über technische Mechanik, u.v.a., wie die Korrespondenzen dokumentieren. 173 Klein an Cantor, Brief v. 14.5.1890 [UA Freiburg] 36. 174 Vgl. TOBIES 1996b. – Zum erwähnten Brief von Weierstraß an Cantor vgl. TOBIES 1998, 141.

328

6 Start als Professor in Göttingen, 1886 – 1892

Viertens. Klein versuchte mehr als andere Mathematiker, in personeller Hinsicht vorzubereiten. Klein und Weierstraß hatten unabhängig voneinander Georg Cantor empfohlen, in Bremen ein Comité zu wählen, welches für eine inhaltlich ertragreiche künftige Versammlung sorgen kann. Weierstraß dachte wie die Mehrzahl der Berliner Ordinarien nicht an eine Teilnahme in Bremen. Klein entschied sich früh dafür und unterbreitete Vorschläge für das zu wählende Comité: […] in Bremen selbst wird es sich dann im Wesentlichen um die Wahl eines vielleicht 4gliedrigen Comités handeln, welches unter Rücksichtnahme auf die sonst in Bremen verlauteten Wünsche übrigens möglichst selbstherrlich die Versammlung für 1891 vorbereitet. Da ist das Wichtigste ohne Zweifel die Personenfrage, und auch über die möchte ich mich hier unmassgeblich aeussern, zumal ich dringend bitte, mich selbst nicht zu wählen (und ich würde eine Wahl ablehnen, weil ich in der That anderweitig so stark beschäftigt bin, dass ich unmöglich noch neue Verpflichtungen dazu übernehmen kann); - ich stehe also selbst der Sache so objectiv wie möglich gegenüber. Von vorneherein darf wohl der Grundsatz sein: nur solche Mathematiker zu wählen, die durch ihre Anwesenheit in Bremen ihr Interesse für die Sache kund gethan haben, und Nord- und Süd-Deutschland gleichmässig zu bedenken. Als Vertreter Nord-Deutschlands müssten Sie natürlich in erster Linie figuriren, andererseits wird man jedenfalls (wenn er da ist) Kronecker auffordern müssen. Sollte er ablehnen[,] würde mir [Hermann] Schubert der Geeignetste scheinen. Unter den Süddeutschen sähe ich gerne Dyck bedacht, der als Agitator, Schriftführer etc. auch jetzt jedenfalls Ihre Anerkennung gefunden hat. Daneben denn, wenn er will, [Leo] Königsberger. Will er nicht, so denke ich unwillkürlich an Lüroth. Lüroth ist ein Mann, der bei aller persönlicher Bescheidenheit gesellschaftliche Formen sicher beherrscht und dabei einen sehr weiten wissenschaftlichen Blick, namentlich auch (über) Nachbargebiete hinaus, besitzt.175

Klein schrieb dies nicht nur an Cantor, sondern warb weitere für die Teilnahme in Bremen. So fuhren die langjährigen Annalen-Mitstreiter Paul Gordan und Adolph Mayer sowie Schüler und Kooperationspartner von Klein (Heinrich Burkhardt, Walther Dyck, Franz Meyer, Erwin Papperitz, Hermann Wiener, Eduard Wiltheiss) dorthin. Den weiten Weg von Königsberg unternahmen Hilbert und Minkowski. Hurwitz zog Erholungsaufenthalt vor. Auch Lindemann fehlte. Hilberts Worte vom 24. Juli 1890 an Klein waren gut geeignet, den jungen Gleichgesinnten mit ähnlich weitem Horizont noch vertrauter wahrzunehmen: Wie mir Professor Hurwitz bereits erzählt hat und wie ich nunmehr auch aus dem Programm ersehe, werden Sie jedenfalls im Herbst nach Bremen gehen, worüber ich mich auch sehr freue. Denn ich bin ebenfalls zu dieser Reise fest entschlossen und hoffe auch insbesondere, dass die anderen Mathematiker jung und alte, recht zahlreich dort vertreten sind. Ich glaube in der That, dass ein persönliches Nähertreten der Mathematiker für unsere Wissenschaft sehr wünschenswert wäre und auch die in dem Heidelberger Protokoll enthaltenen Anregungen im Allgemeinen sehr zeitgemäß sind. Die Mathematiker verstehen sich, wie mir scheint, heute gar zu wenig, sie interessieren sich für einander nicht rege genug und sie kennen auch – soweit ich dies beurteilen kann – zu wenig unsere Klassiker; viele ausserdem arbeiten mühevoll auf todten Strängen.176

Die Bremer Beschlüsse zur Gründung der DMV am 18. September 1890 wurden von 33 Personen unterzeichnet. Auf Abb. 26 (S. 292) fehlen Friedrich Simon Ar175 Klein an Georg Cantor, Brief v. 12.6.1890, zitiert in TOBIES 1998, 142-43. 176 Publiziert in FREI 1985, 68.

6.4 Zusammenführen von Personen und Institutionen

329

chenhold, Mitarbeiter an der Berliner Sternwarte unter Wilhelm Förster, und Eduard Study, damals Privatdozent in Marburg. Von den Gründungsmitgliedern177 waren sechs beim Aufruf in Heidelberg 1889 beteiligt gewesen: G. Cantor, Dyck, Heffter, Papperitz, E. Schröder, H. Weber. Neun hatten schon 1873 die Mathematiker-Versammlung in Göttingen besucht: P. Gordan, R. Hoppe, L. Kiepert, F. Klein, E. Lampe, A. Mayer, E. Schröder, H. Schubert, R. Sturm (vgl. 2.8.3.4). Der erste gewählte Vorstand entsprach Kleins Vorstellungen: Georg Cantor als Vorsitzender, Walther Dyck als Schriftführer, Hermann Schubert (Hamburg) und Emil Lampe (TH Berlin) sowie Theodor Reye (Straßburg), der zwar in Bremen abwesend, aber in Heidelberg dabei gewesen war. Klein formulierte seinen Eindruck in einem Brief vom 19. Oktober 1890 an Hurwitz: Ich sehe die Bremer Beschlüsse […] als durchaus günstig und glückverheissend an. Cantor weiß (nach neueren Nachrichten) die Sache so zu wenden, dass ihr Weierstrass, Kronecker und jetzt auch [Carl] Neumann gleichförmig sympathisch gegenüber stehen! Es wird jetzt darauf ankommen, die Tage in Halle möglichst vielseitig auszugestalten. Da bin ich dann auch wieder auf dem Platze, während ich mich sonst gerade im Interesse des Unternehmens – damit dasselbe ja nicht irgendwelchen Parteiencharakter erhält – zurückhalte.178

Bis Juni 1891 meldeten sich 205 Mitglieder an; der DMV-Jahresbeitrag betrug zwei Mark. Cantor erreichte, dass Leopold Kronecker für die Jahresversammlung 1891 in Halle den Eröffnungsvortrag zusagte. Obgleich er wegen des Todes seiner Frau doch absagen musste, nahm er im September 1891 noch die Wahl in den Vorstand an. Somit war nun vorgesehen, dass der DMV-Vorstand ab 1. Januar 1892 aus Georg Cantor (Vorsitz), W. Dyck, P. Gordan, L. Kronecker, E. Lampe und H. Schubert besteht.179 Kronecker starb jedoch am 29. Dezember 1891. Fünftens. Die Entwicklung in den folgenden Jahren lässt erkennen, dass Felix Klein inhaltlich, organisatorisch und personell die Fäden zunehmend in die Hand nahm. Dyck konsultierte Klein bei seinen zahlreichen Aufgaben als Schriftführer: Vorbereiten der Statuten, Gewinnen weiterer Mitglieder, Verteilen von Referaten u.a. Wie intensiv Klein bereits als Nicht-Vorstandsmitglied agierte, deutet eine Randbemerkung an, die er auf einem Brief Dycks vom 30. März 1891 notierte: Verständigung mit [Heinrich] Hertz. Hilbert. Referat über algebr.[aische] Functionen? Wer sonst? Schriftliche Anträge von Dyck. Eröffnungsvortrag? – Zuletzt doch Cantor. (Cantors eigene Ideen: Leipzig) Werbung noch ausstehender Persönlichkeiten. (Bruns, Lipschitz, Wirtinger. Die math. Physiker.)180

Als Georg Cantor nach drei Jahren den Vorsitz aufgab, rückten Repräsentanten der Clebsch-Schule bzw. mit Klein befreundete Mathematiker in führende Positionen. Kleins Absicht 1893, mit Frobenius dort wieder einen Ordinarius der Berli177 Namen der Unterzeichner in: Jahresbericht der DMV 1 (1890/91) Chronik, 7. 178 Klein an Hurwitz [UBG] Math.Archiv 77: 210. – Klein sprach im September 1891 in Halle „Über neuere englische Arbeiten zur Mechanik“. KLEIN 1922 GMA II, 601-602. 179 Jahresbericht der DMV 1 (1890/91) Chronik, 4, 7, 11, 15-20. 180 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 8: 702 (Brief Dycks v. 30.3.1891 mit Randbemerkung Kleins).

330

6 Start als Professor in Göttingen, 1886 – 1892

ner Universität zu integrieren181, gelang nicht. Ulf Hashagen recherchierte, dass H. A. Schwarz in Berlin eine Gegnerschaft zur DMV schürte. So gehörten Weierstraß, L. Fuchs, Frobenius der DMV seit 1891 an; Schwarz trat erst 1894 bei.182 Nach Georg Cantor übernahm Paul Gordan (1894) den Vorsitz, gefolgt von Heinrich Weber (1895), Alexander Brill (1896), Felix Klein (1897), Aurel Voss (1898), Max Noether (1899), David Hilbert (1900), Walther Dyck (1901), Franz Meyer (1902), Felix Klein (1903). Im Jahre 1908-09 führte Klein den Vorsitz noch ein drittes Mal. Jedes gewählte Mitglied konnte drei Jahre lang Vorstandsmitglied sein und innerhalb dieser Zeit für ein Jahr Vorsitzender. Klein gehörte dem DMV-Vorstand von 1895 bis 1898, von 1903 bis 1905 sowie vom 1. Oktober 1907 bis 30. September 1910 dem sog. „Ausschuß“ an.183 Als Max Noether seinen Vorsitz antrat, schrieb er am 1. Januar 1899 an Klein: Indem ich mit dem heutigen Tage das Amt der Vorsitzenden der D.-Math. Vereinigung für 1899 übernehme, ist es mein Erstes, mein großes Bedauern auszudrücken, daß diese Uebernahme gerade mit Deinem Ausscheiden aus dem Vorstande zusammenfällt und ich daher persönlich Dein officielles Mitwirken vermissen muß. Aber ich spreche nicht nur in meinem Namen, sondern in dem des Vorstandes, wenn ich dem Bedauern über Dein Scheiden aus dem Vorstande Ausdruck gebe. Du bist mehr als irgend ein Anderer mit der ganzen Entwicklung unserer jungen Vereinigung eng verbunden, die bei ihrer Jugend der führenden Hand noch sehr bedarf; Deine Initiative hat ihr in den letzten Jahren die Wege gewiesen und auf diese Fürsorge sieht sie sich auch weiter angewiesen, trotz Deines […] Scheidens. So hoffen wir, oder vielmehr, wir möchten bei dem Interesse, das Du für die Vereinigung hegst, bestimmt darauf rechnen, daß Du den Vorstand und seine Aufgabe auch weiterhin mit Deinem Rathe durch Wort und That unterstützt; und insbesondere dürfen wir bestimmt darauf hoffen, Dich auch bei der Münchener Versammlung, deren Programm Du in den Grundsätzen im Wesentlichen entworfen hast, in erster Linie mitthätig zu sehen – weniger bei der Vorbereitung als bei der Durchführung. Jedenfalls nimm den Dank des Vorstandes für all Deine Bemühungen.184

Klein blieb maßgeblich beteiligt. Er initiierte Referate, Sektionssitzungen, Kommissionen und bereitete die DMV-Mitglieder auf internationale Kongresse (Zürich, Paris, Heidelberg, Rom, Cambridge) vor. Er managte, dass ihm wichtige Projekte (ENCYKLOPÄDIE, Gauß-Werke, Internationale Bibliographie, Unterrichtsreform) von der DMV mitgetragen wurden. Anlässlich seines Goldenen Doktorjubiläums am 12. Dezember 1918 und seines 70. Geburtstages am 25. April 1919 ernannte ihn die DMV zum Ehrenvorsitzenden für das Geschäftsjahr 1918-19.185 Im Jahre 1924 (75. Geburtstag) avancierte Klein zum ersten Ehrenmitglied der DMV, die seine Universalität, Darstellungskraft und seinen Idealismus rühmte.186

181 Hilbert unterstützte Kleins Vorschlag (Frobenius), vgl. FREI 1985, 94, 96. 182 HASHAGEN 2003, 436; TOEPELL 1991, 352. 183 Vgl. Jahresberichte der DMV, Geschäftsberichte. – Das Geschäftsjahr begann zunächst am 1. Januar eines Jahres und wurde nach Satzungsänderung auf den 1. Oktober festgelegt. 184 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 120. – Neben Max Noether gehörten 1899 dem Vorstand an: W. Dyck, G. Hauck, K. Hensel, D. Hilbert, A. Voß; A. Gutzmer als Schrift- und Kassenführer. 185 Vgl. Jahresbericht DMV 27 (1918) Abt. 2, 59-60. 186 Jahresbericht DMV 33 (1925) 4; Todesanzeige in ebd., 34 (1926) 89.

6.5 Einschnitt 1892

331

6.5 EINSCHNITT 1892 Klein begrüßte Hurwitz zu Jahresbeginn 1892 mit den Worten: L. Freund! Nehmen Sie vor allen Dingen nun auch meine und meiner Familie herzliche Glückwünsche zum neuen Jahre entgegen. […] Kroneckers Tod wird Ihnen kaum minderen Eindruck gemacht haben wie mir. Was sind alle unsere Pläne, wenn eine mächtigere Hand eingreift. Und was soll nun werden? Ich bin ganz starr wenn ich alle die da denkbaren Möglichkeiten überlege. Und die Personalverschiebungen, die sich so oder anders gestalten können, sind ja nicht einmal die Hauptsache. Das Wesentliche ist, dass nun die Berliner Schule rettungslos zusammengebrochen ist und wir, die Ueberlebenden, mit der grösseren Freiheit auch die grosse, grosse Verantwortung überkommen haben. Empfehlen Sie mich Hilbert und Lindemann. Ihr erg. F Klein187

An der Universität Berlin bestanden damals drei mathematische Lehrstühle: Kronecker, Weierstraß und Lazarus Fuchs. Da Kronecker gestorben war und Weierstraß sich emeritieren lassen wollte, ergaben sich neben Fuchs zwei offene Stellen. Als Heinrich Schröter am 3. Januar 1892 verstarb, musste außerdem ein Ordinariat an der Universität Breslau neu besetzt werden. Bayern bot ebenfalls eine o. Professur, weil sich Ludwig Philipp Seidel 1891 emeritieren ließ. Felix Klein sah sich im Zentrum der Ereignisse. Obwohl er nicht alle seine Vorstellungen realisieren konnte, profitierten er und Göttingen von den Entscheidungen. 6.5.1 Lehrstühle in Preußen neu zu besetzen Friedrich Althoff war seit 1890 Geheimer Oberregierungsrat im Kultusministerium und erbat zunehmend Kleins Urteil bei Stellenbesetzungen. Der erste nachweisbare Vorgang betraf die erwähnte Professur an der Katholischen Akademie in Münster, wofür Klein, neben anderen Urteilen, das euphorische Statement für Hilbert abgegeben hatte (vgl. 6.3.6.2). Im Folgenden werden die Angelegenheiten des Jahres 1892 in Berlin, Breslau und Göttingen betrachtet.

6.5.1.1 Berlin, Breslau und Kleins Klassifikationssystem von Denkstilen Hinsichtlich Berlin und Breslau wandte sich Althoff noch am Sonntag, den 3. Januar 1892, an Klein: „Unter diesen Umständen würde ich Ihnen sehr dankbar sein, wenn Sie die Freundlichkeit haben wollten, mir Ihre Ansicht über die Lage und das was zu geschehen haben wird, ausführlich mitzutheilen.“188 Althoff sandte derartige Briefe an verschiedene Personen. Kleins Antworten schienen ihn zu überzeugen, da er eine handhabbare Klassifikation mathematischer Denkstile als Orientierungshilfe entwickelte. Bereits am 6. Januar 1892 schickte Klein den er-

187 [UBG] Math. Arch. 77: 224. 188 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 1C: 2, Bl. 1-1v.

332

6 Start als Professor in Göttingen, 1886 – 1892

betenen ausführlichen Bericht an Althoff. Darin verwebte er anzustrebende „Allseitigkeit“ mit Kritik an Kroneckers einseitigem Agieren. Meine Kritik kann sich nur auf die Einseitigkeit beziehen, mit welcher Kronecker von philosophischen Gesichtspunkten aus ihm ferner stehende Richtungen der Wissenschaft bekämpfte und die Zuhörer geradezu verhinderte, sich über den Umfang u. die Bedeutung der heutigen Mathematik ein zutreffendes Bild zu verschaffen. Diese Einseitigkeit war wohl weniger in Kronecker’s ursprünglicher Begabung, als in seiner Charakterlage begründet. Unbedingte Herrschaft womöglich über die gesammte dt. Math. wurde je länger je mehr das Ziel, welches er mit allen Mitteln der Klugheit u. aller Zähigkeit des Willens anstrebte. Kein Wunder, dass nun, wo er vom Schauplatz abtritt, es an gleichwerthigem Nachwuchs fehlt. In der That kann man [Lazarus] Fuchs nicht als solchen betrachten.189

Lazarus Fuchs, den Klein hier abwertete, hatte 1858 unter Kummer promoviert und war seit 1884 Professor in Berlin. Kleins schwelendes polemisches Verhältnis mit Fuchs sollte die Berliner Berufungssache beeinflussen (vgl. Anhang Nr. 5). Damals waren drei ordentliche Mathematik-Professuren wie in Berlin die höchste Zahl derartiger Positionen an einer deutschen Universität. Klein empfahl: […] als die normale Vertretung der Mathematik an einer grossen Universität eine Dreizahl von Ordinarien […] die nicht sowohl nach dem Spezialgebiet, über welches sie arbeiten, als nach der inneren Verschiedenartigkeit ihres mathematischen Denkens ausgesucht sein sollten. Bei der Mannigfaltigkeit der Individualitäten kann man ja nicht schematisieren, aber im grossen und ganzen sollten folgende Typen vertreten sein: 1) Der Philosoph, der von dem Begriff aus construiert, 2) Der Analytiker, der wesentlich mit der Formel operiert, 3) Der Geometer, der von der Anschauung ausgeht.190

Klein ordnete den Denkstilen Mathematiker zu: Weierstraß (Typ 1), Kronecker (zwischen 1 und 2), Kummer (2-3), Gustav Robert Kirchhoff (2), Helmholtz (3), L. Fuchs (1), Georg Cantor (1), H. Weber (2-3), Frobenius (2), H. A. Schwarz (3), Lindemann (3), Sophus Lie (3), Jacob Rosanes (2), und sich selbst (3). Somit riet Klein, in Berlin neben Fuchs (Typ 1) zu berufen: als Typ 2 Heinrich Weber (damals Professor in Marburg) bzw. Georg Frobenius (damals Professor in Zürich); und als Typ 3 Hermann Amandus Schwarz bzw. Ferdinand Lindemann. Klein hatte allerdings Schwarz mit einem gewissen Seitenhieb versehen: Schwarz wäre nach der Klarheit seiner Vorträge u. seinem Lehreifer zweifellos in erster Linie in Betracht zu ziehen, wenn seine Persönlichkeit nicht so überaus prosaisch u. ungelenk wäre.191

Für Breslau, wo Jacob Rosanes (Typ 2) seit 1877 neben Heinrich Schröter einen Lehrstuhl besaß, schlug Klein vor: Hurwitz, Schottky, Lüroth, Dyck. Klein betonte Hurwitz’ außerordentliche Kreativität und dass er es wegen seiner Herkunft aus einer jüdischen Familie schwer habe, in der Karriere voran zu kommen.192 189 190 191 192

[StA Berlin] Rep. 92 Althoff A I Nr. 84, Bl. 5. Ebd., Bl. 7v. Ebd., Bl. 8. Als Klein Hurwitz für Münster empfohlen hattte, schrieb ihm R. Sturm: „Ich bin selbst weit entfernt, Antisemit zu sein, aber wir halten es für aussichtslos, einen Juden hier vorzuschla-

6.5 Einschnitt 1892

333

Lüroth und Dyck bezeichnete Klein als weniger produktiv.193 Althoff beorderte jedoch 1892 Rudolf Sturm von Münster nach Breslau und etablierte in Münster Killing neben v. Lilienthal, damit Kleins Klassifikation von 1890 aufgreifend.194 Es ist eine viel diskutierte Frage, ob Klein nach Berlin (neben Fuchs) gegangen wäre. Einige Aussagen deuten an, dass er zumindest ein Rufangebot erwartet hatte. So lesen wir in seinem Bericht an Althoff auch: Dass ich in den letzten Tagen verschiedentlich darüber nachgedacht habe, wie ich mich einer an mich ergehenden Berufung nach Berlin gegenüber zu verhalten haben würde, liegt nach den früheren Verhandlungen so auf der Hand, dass es keinen Zweck hat daraus ein Geheimnis zu machen. […] Mein Resultat ist, dass ich zu einer Berliner Wirksamkeit im Sinne von 3) in einigen Richtungen wohlbegabt bin, dass mir aber auf der anderen Seite eine wesentliche Eigenschaft abgeht: die Zähigkeit des Grosstädter’s […] Denke ich also nun an meine eigene Zufriedenheit, so ist mir kein Zweifel, dass ich an Ort und Stelle bleiben muss. Aber ich könnte verstehen, dass man im Kreise meiner Freunde eine Art Pflicht für mich construierte, die centrale Stellung, wenn sie mir angeboten wird, auf alle Fälle anzunehmen. Dann bitte ich, der Sache eine solche Wendung zu geben, dass ich persönlich mehr dirigiere als ausführe. Ich bitte zugleich schon heute, mich nicht für unthätig zu halten, wenn ich nach aussen nur wenig hervortrete. Möge hierüber ein gütiges Schicksal walten! F. Klein195

Die genannte Pflicht hatte Robert Fricke betont – dem in Berlin die Habilitation verwehrt worden war. Klein aber antwortete ihm am 12. Januar 1892: Sie construiren für mich eine Pflicht, eine etwa an mich ergehende Berufung anzunehmen. Meine Ideen bewegen sich viel mehr in der Richtung, die neu geschaffene Lage zu benutzen, um der math.[ematischen] Schule in Göttingen neuen Aufschwung und allgemeine Bedeutung zu geben. Wissen Sie, ob ich an einem grösseren Platz nicht in kurzer Zeit so sehr gesundheitlich reducirt sein würde wie 1882 in Leipzig? Und wie hoch taxiren Sie das Minimum von Zeit, welches ich doch noch eigenen wissenschaftlichen Ueberlegungen würde widmen können? Die Frage ist zweischneidig, wie keine und will gegebenenfalls mit Bedachtsamkeit und ohne Leidenschaft entschieden sein.196

Auch Adolf Hurwitz dachte sich Felix Klein nach Berlin: Sie können sich denken, welchen tiefen Eindruck auch auf uns hier die sich rasch folgenden Todesfälle von Kronecker und Schröter gemacht habe. Darüber ist ja so ziemlich die ganze unbefangene mathematische Welt einig, dass nur Sie die in Berlin entstandene Lücke auszufüllen vermögen. Fraglich ist ja nur ob man im Ministerium den Widerströmungen Stand zu halten vermag. Und dann: werden Sie dem eventuellen Rufe folgen?197

193 194

195 196 197

gen. Sie wissen, daß die Berufung von Protestanten hierher nicht immer glatt verlaufen ist; einen jüdischen Candidaten würde das Ministerium einfach ignoriren.“ [UBG] Cod. Ms. F. Klein 11: 1281 (Sturm an Klein, 13.8.1890). [StA Berlin] Rep. 92 Althoff A I Nr. 84, Bl. 8v. Klein an Althoff, 23.10.1890: Kortum sei unproduktiv, Killing deckt sich in wiss. Hinsicht zu sehr mit Sturm, sonst begabt […]; v. Lilienthal hätte wiss. noch wenig geleistet […]. Hurwitz, auch Wiltheiss u. Hölder seien ebenfalls geeignet. [StA Berlin] Rep. 92 Althoff B, Nr. 92, Bl. 76-77. – Aber: Reinhold von Lilienthal hatte die Professur in Münster 1891 erhalten. [StA Berlin] Rep. 92 Althoff A I Nr. 84, Bl. 9v. [UA Braunschweig] Klein an Fricke, 12.1.1892. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 1101 (Hurwitz an Klein, 14.1.1892).

334

6 Start als Professor in Göttingen, 1886 – 1892

Auf eine Anfrage des Astronomen Wilhelm Förster, Mitglied der Berliner Berufungskommission, antwortete Klein am 15. Januar 1892, dass er Weber und Frobenius für die Kronecker-Stelle, Schwarz und Lindemann als Geometer vorgeschlagen habe und äußerte sich ausführlich über seine Konflikte mit Lazarus Fuchs (Anhang Nr. 5). Der Kommission in Berlin gehörten neben Förster an: Fuchs, Weierstraß, die Physiker H. v. Helmholtz und August Kundt sowie der zweite Astronom Friedrich Tietjen. Da ihnen bewusst war, dass das Ministerium Klein hoch schätzte, verunglimpften sie ihn in ihrer Sitzung vom 22. Januar 1892: Weierstraß wünschte einen guten Analytiker und äußerte: „Da kommen nach dem großen Publikum höchstens Klein und Schwarz in Betracht. Und nur dann muß man davon absehen, wenn sie absolut nicht zu haben sind.“ Er ergänzte, woraus hervorgeht, dass er Schwarz bevorzugte: „Schwarz bleibt bei der Stange. Guter Vortrag. Klein nascht mehr. Blender.“ Fuchs schlug in dieselbe Kerbe: „Ich muß mit ihm auskommen. Schwarz hat wirklich wertvolles geleistet, Klein dagegen (Ikosaeder ist Compilation von Schwarz und Fuchs im Feuilletonstil).“ Kundt aber betonte: „Klein ist ein fascinirender Lehrer.“ Förster, der Kleins Ansicht eingeholt hatte, summierte: „Die allgemeine Meinung ist nicht so sehr für Klein. Wir müssen Klein dem Minist.[erium] gegenüber nennen, aber hervorheben, sein Zusammenarbeiten hier sei unmöglich.“ Helmholtz meldete: „Kronecker sprach sehr ab über Klein. Er betrachtete ihn als Faiseur.“ Fuchs fühlte sich noch genötigt hinzuzufügen: „Ich erkläre, daß ich nichts gegen Kleins persön[liche] Eigensch[aften] vorzubringen habe, sondern [gegen] sein verderbliches Vorgehen auf wiss[enschaftlichem] Gebiete. Er arbeitet nicht um der Sache willen, sondern er schreibt Lehrbücher aus anderer Arbeit.“ 198 Die Berliner Kommission kam zu denselben Vorschlägen für die zu besetzenden Stellen wie Klein: Schwarz und Frobenius. Im Antrag an den Kultusminister wurde wie folgt formuliert, um Klein nicht auf die Liste setzen zu müssen: Vor allen Dingen aber mußte darauf Bedacht genommen werden, daß die zu Berufenden geeignet sein würden, die seit Generationen an unserer Universität geübte Anleitung der Studirenden zu ernster und selbstloser Vertiefung in die mathematischen Probleme fortzusetzen. Aus diesem Grunde mußte von Persönlichkeiten wie Professor Felix Klein in Göttingen (geb. 1849) abgesehen werden, über dessen wissenschaftliche Leistungen die Urtheile der Gelehrten sehr getheilt sind, dessen ganze Wirksamkeit aber in Schrift und Lehre mit der eben gekennzeichneten Tradition unserer Universität in Widerspruch steht.199

Althoff fuhr Ende Februar 1892 nach Göttingen, um Klein sein Nichtberufen mit Rücksicht auf seine allgemein schwache Gesundheit sowie aufgrund der ablehnenden Haltung der Berliner Fakultät zu erklären.200 Klein ließ Althoff am 10. April 1892 noch wissen: „Meine Nichtberufung nach Berlin, die ich ja persönlich als eine glückliche Wendung begrüßte, hat ohnehin in weiten Kreisen in dieser

198 Das Protokoll ist abgedruckt bei BIERMANN 1988, 305-307. – Faiseur (Franz.), Macher, Anstifter, Initiator, was nicht notwendig negativ zu interpretieren ist. 199 Zitiert in BIERMANN 1988, 307-308. 200 Klein an Fricke, 26.2.1892 [UA Braunschweig].

6.5 Einschnitt 1892

335

Hinsicht deprimirend gewirkt.“201 Gordan schrieb ihm dazu: „Daß Sie nicht nach Berlin gekommen sind[,] thut mir leid, bei Ihrem umfassenden Geist hätten Sie Ordnung in die mathematischen Verhältnisse Deutschlands gebracht.“202 Wenn Klein auch nicht nach Berlin gegangen wäre, hatte er doch mindestens mit einem Ruf gerechnet. Die konkurrierenden Zeitschriften, Mathematische Annalen (Zentrum in Göttingen) und Crelle-Journal (Zentrum in Berlin), hätten Klein allerdings bei einer Rufannahme vor ein schwer lösbares Problem gestellt, wie er ein Jahr später seinen US-amerikanischen Schüler Henry S. White wissen ließ.203

6.5.1.2 Nachfolger für H. A. Schwarz in Göttingen Nachdem im März 1892 Schwarz’ Ruf nach Berlin zum 1. April 1892 feststand, knüpfte Klein für Göttingen an sein Klassifikationssystem an: Soll die Göttinger math.[ematische] Schule auf gesunder Basis weiter wachsen, so brauche ich eine Ergänzung in der Richtung Kronecker – Weierstraß (die ich immer hochgehalten habe, so wenig ich ihre alleinige Prävalenz gutheissen konnte). In dieser Hinsicht habe ich früher, wie ich verschiedentlich ausgesprochen habe, immer nur an Frobenius, Hurwitz, Schottky gedacht; erst in neuerer Zeit sind Hilbert und Minkowski als jüngerer Nachwuchs hinzugekommen.204

Kleins bevorzugter Wunsch war der inzwischen 30-jährige Hilbert (vgl. Anhang 6.1). Klein sah kein Problem darin, dass Hilbert erst Privatdozent war. Er selbst war einst als 23-jähriger Privatdozent ohne Zwischenstufe gleich auf eine o. Professur gelangt. Da die Göttinger Kommission jedoch einen Privatdozenten entschieden ablehnte, kämpfte Klein erfolgreich für Hurwitz (Anhang 6.2). Dieser stand so im Berufungsvorschlag, dass Klein von dessen sicherer Berufung ausging und mit Hurwitz schon Pläne schmiedete.205 Da der Kurator das Nennen einer dritten Person für notwendig erklärt hatte, war noch Heinrich Weber auf die Liste gekommen, eingebracht von Kleins „Gegenseite“ (Schwarz, Schering).206 Trotz allen Insistierens missachtete Althoff Kleins Wunsch. Althoff ließ erst noch Georg Frobenius überlegen, ob er Göttingen oder Berlin wählen möchte. 201 [StA Berlin] Rep. 92 Althoff A I Nr. 84, Bl. 33v-34 (Klein an Althoff, 10.4.1892). – Klein meinte dies in Kombination mit dem Nichtberufen von Hurwitz nach Göttingen und des bisher fehlenden Extraordinariats für Schönflies. 202 Gordan an Klein, Brief. v. 16.4.1892 [UBG] Cod. Ms. F. Klein, 9: 464, Bl. 75. 203 Vgl. hierzu SIEGMUND-SCHULTZE 1996, 18. 204 [StA Berlin] Rep. 92 Althoff A I Nr. 84, Bl. 27 (Klein an Althoff, 21.3.1892). 205 [UBG] Math. Arch. 77: 229 (Klein an Hurwitz, 17.3.1892): „Hilbert habe ich leider gar nicht auf die Liste bringen können, da sich das Göttinger Selbstbewusstsein dagegen wehrte, dass ein Privatdocent als Ordinarius sollte berufen werden können. Glücklicherweise würde ihm ja wohl Ihre Beförderung indirect zu gute kommen. […]Wenn Ihnen sonst bei Ihrer Einrichtung meine Frau ein wenig behülflich sein kann, die ja auch an Migräne etc. bei mir einige Praxis hat, so werden Sie Das ja freundlich gestatten. Selbstverständlich müssten Sie die erste Zeit, dass Sie in Göttingen sind, wieder bei uns wohnen […].“ Klein stimmte mit Hurwitz schon die Lehre ab und gab die Losung aus: „Getrennt marschiren und vereint schlagen.“ 206 Klein nannte die Namen im erwähnten Schreiben an Althoff v. 21.3.1892.

336

6 Start als Professor in Göttingen, 1886 – 1892

Hurwitz erfuhr mit Karte vom 2. April 1892: „Frobenius hat abgelehnt, aber nun will Althoff noch erst mit Weber verhandeln!“ Und mit Brief vom 7. April 1892 teilte Klein Hurwitz mit, dass Heinrich Weber zum Herbst angenommen habe: Ich befinde mich zunächst darüber in solcher Aufregung, dass ich meine Gedanken nicht recht zu ordnen weiß. […] Aber daß wir Beide mit einander in täglichem Verkehr unsere gemeinsamen Ziele wetteifernd sollten fördern können, das ist offenbar ein Gedanke gewesen, für den die Welt noch nicht reif ist, und den wir begraben müssen, weil er zu schön ist. Nehmen Sie herzliche Grüsse, auch von meine Frau (die sich viel lebhafter aeussern würde, als ich es hier gethan habe) und empfehlen Sie uns unbekannterweise Ihrer Frl Braut. Mögen Sie Beide die Verstimmung, die Sie erklärlicher Weise empfinden werden, glücklich überwinden! In alter Freundschaft Ihr F. Klein.207

Klein konnte im Gespräch mit Frobenius den Weg für Hurwitz nach Zürich ebnen, der ihm schließlich die telegraphische Nachricht aus Zürich vom 3. Juni 1892 meldete, „[…] dass ich vom Schweizer Schulrath zum Nachfolger von Frobenius gewählt worden bin“, an das dortige Eidgenössische Polytechnikum.208 Klein ließ Althoff noch wissen, dass das Berufen des Kandidaten der Gegenseite (H. Weber) in der Fakultät als eine ihm zugefügte „Desavouierung“ [Erniedrigung] betrachtet würde.209 Paul Gordan – wie Hurwitz aus jüdischem Elternhause, aber getauft – beruhigte Klein am 16. April 1892: Daß Sie Hurwitz in Göttingen vorgeschlagen haben, ist recht gewesen; Hurwitz verdient diese Auszeichnung, aber daß dieser Vorschlag nicht durchgegangen ist, das ist ein Glück für Sie, für welches Sie Gott nicht genug danken können. Was hätten Sie von Hurwitz in Göttingen? Sie hätten die ganze Verantwortung für diesen Juden übernommen; jeder merkliche oder scheinbare Fehler von Hurwitz wäre auf ihre Kappe gekommen und alle Aeußerungen von Hurwitz in Fakultät und Senat hätten als von Ihnen beeinflusst gegolten. Hurwitz hätte nur als ein Appendix von Klein gegolten; den wissenschaftlichen Verkehr können Sie ebenso gut schriftlich führen.210

Gordan empfahl noch bezüglich Heinrich Weber: „[…] er kann Ihnen Ihre Lehrthätigkeit wesentlich erleichtern; die Amerikaner und andern Ausländer wird er Ihnen nicht abnehmen, da sind Sie ihm viel zu sehr über. Sie können sich sehr gut zu ihm stellen; allerdings wird es gut sein, wenn Sie keinen wissenschaftlichen Verkehr mit ihm haben.“211 Dieser Rat erstaunt, denn Weber stammte aus der Tradition der Universität Königsberg, wo er – wie Clebsch – Riemanns geometrische Anschauungsweise durch Richelot kennengelernt hatte.212 Klein fuhr bereits im April 1892 nach Cassel (heute: Kassel), um Heinrich Weber zu treffen.213 Dieser stimmte Kleins Ideen vorbehaltlos zu. Gemeinsam konnten sie ab 1892 wichtige Vorhaben realisieren (vgl. Abschnitt 7). 207 [UBG] Math. Arch. 77: 234 (2.4.1895), 235 (7.4.1895). 208 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 1115, Hurwitz an Klein, 5.6.1892. – Die Umbenennung in ETH Zürich erfolgte im Jahre 1911; ein Promotionsrecht bestand seit 1908. 209 [StA Berlin] Rep. 92 Althoff A I Nr. 84, Bl. 33v. 210 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 464, Bl. 75-76. 211 Ebd., Bl. 76. 212 Brief v. H. Weber an L. Koenigsberger, abgedruckt in KOENIGSBERGER 1919, 206. 213 [StA Berlin] Rep. 92 Althoff A I Nr. 84, Bl. 35.

6.5 Einschnitt 1892

337

6.5.2 Kleins Ruf an die Universität München und die Folgen Klein erhielt im Juli 1892 einen Ruf „an erster und alleiniger Stelle“ als Nachfolger auf den Lehrstuhl von Ludwig Seidel an die Universität München, mit einem Gehaltsangebot von 12.000 Mark, der Zusicherung eines Assistenten mit einer Dotierung von 1.500 Mark sowie entsprechender Ausstattung für ein mathematisches Seminar. Der Chemiker Adolf Baeyer informierte Klein zudem mit Schreiben vom 11. Juli 1892, dass das bayerische Ministerium gedenke, ihm „eine Stellung einzuräumen, wodurch Sie von maßgebendem Einfluß für die Gestaltung des mathematischen Unterrichts in ganz Bayern sein würden.“214 Der theoretische Physiker Ludwig Boltzmann wünschte Klein neben sich und beschrieb dessen „Allseitigkeit“ und wissenschaftliche Produktivität mit glänzenden Worten.215 Das Münchener Angebot war so großartig, dass sich Althoff aufgeschreckt fühlte und alles daran setzte, Klein für Göttingen (Preußen) zu erhalten. Klein hatte Althoff am 9. Juli 1892 informiert, woraufhin dieser sofort mit Schreiben vom 11. Juli reagierte, von einem „Schreckschuß“ sprach und sein Kommen nach Göttingen ankündigte.216 Bereits am 15. Juli unterzeichneten Althoff, Klein und der Universitätskurator Ernst von Meier einen (Bleibe-)Vertrag217: Göttingen, 15. Juli 1892 Herr Professor Dr. Felix Klein wird den an ihn ergangenen Ruf nach München […] ablehnen, wogegen demselben folgendes zugesichert wird, nachdem die Frage wegen Neugestaltung der Gesellschaft der Wissenschaften, worauf Hr. Klein den größten Werth legt, bereits gestern in einer längeren Konferenz in die Wege geleitet ist.218 1. Es wird mit allem Nachdrucke und größter Entschiedenheit dahin gewirkt werden, daß Hr. Klein vom 1. Oktober d.J. ab eine Gehaltserhöhung von 2000 (zweitausend) Mark erhält. So lange dies nicht erreicht ist, wird Hr. Klein eine jährliche Remuneration von gleichem Betrage bekommen. 2. Für das Lesezimmer des mathematischen-physikalischen Seminars wird in diesem und im nächsten Rechnungsjahr ein Zuschuß von im ganzen 3000 M. (je 1500 oder jetzt 1000 und 1893/94 2000 M.) gewährt werden. 3. Die Universitäts-Bibliothek wird 6000 M. in etwa 10 Jahresraten (die erste in diesem Rechnungsjahre) bekommen, um damit Lücken in den mathematischen (inclus. Physik & Astronomie) Beständen nach den Anträgen des Hr. Klein auszufüllen.219 214 215 216 217 218

[UAG] Kur. 5956, Bl. 38, 40-41v. Zitiert im Vorwort zum vorliegenden Buch. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 1 C: 2, Bl. 47. [UAG] Kur. 5956, Bl. 42-43. Der preußische Kaiser und König verlieh der Kgl. Gesellschaft der Wissenschaften am 21.6.1893 Statuten. Aus bisher drei Klassen wurden zwei (math.-physikalische und philol.historische) mit je 15 Stellen für o. Mitglieder, die das Alter von 75 nicht überschritten haben; 25 auswärtige und 75 korrespondierende Mitglieder, sowie eine unbegrenzte Zahl von Ehrenmitgliedern. Vgl. Göttinger Nachrichten 1893, 516. 219 Klein beantragte, neu gegründete Zeitschriften (z.B. Annales de Toulouse) in den Bestand aufzunehmen (Klein, 17.9.1892 an Kurator [UAG] Kur. 5956, Bl. 50, 50v.). Er erstellte regelmäßig Literatur-Listen, auch für techn. Physik, Festigkeitslehre (ebd., Bl. 60, 64, 65). Klein konnte diesen Fonds verlängern, auch für das Gebiet der „mathematischen Pädagogik“.

338

6 Start als Professor in Göttingen, 1886 – 1892 4. Die Remuneration für den Assistenten an der Sammlung mathemat.[ischer] Instrumente und Modelle wird vom 1. April 1893 ab auf 1200 M. erhöht werden. Geschieht dies in Form eines Dozentenstipendiums, so wird dies Hrn. Klein ganz erwünscht sein. 5. Es wird darauf Bedacht genommen werden, daß möglichst bald ein etatsmäßiges Extraordinariat für Mathematik in Göttingen zur Verfügung gestellt wird, wogegen das Schering’sche Ordinariat künftig wegfallen oder in anderer Weise verwendet werden kann, z.B. durch Verwandlung in ein Extraordinariat für Geophysik. 6. Die Frage wegen Änderung der allgemeinen Anciennität220 in Göttingen (z.B. Weber und Wellhausen stehen jetzt unten an) wird in Erwägung gezogen werden. Gelesen und einverstanden gez. Althoff gez. F. Klein gez. von Meier

In den Verhandlungen überzeugte sich Althoff davon, das Kleins Wünsche bevorzugt dem allgemeinen Interesse der Einrichtungen in Göttingen galten. Kleins Bleiben in Göttingen wurde noch mit einem Orden honoriert, diesmal der Rote Adlerorden III. Klasse mit Schleife (14. November 1892).221 Für die Universität München empfahl Klein seinen Schüler Ferdinand Lindemann, der ihm schon massiv gedroht hatte, die Freundschaft zu kündigen, weil er ihn nicht neben sich nach Göttingen gewünscht hatte.222 Die Position in München war in den Briefen von Klein und Lindemann – der unbedingt aus Königsberg weg wollte – schon länger virulent. Klein deutete an, dass es in München möglich sein könnte. Lindemann zweifelte daran, weil ihm aus Freiburg i.Br. (Baden) mitgeteilt worden war, dass er dort nur deshalb nicht in Frage gekommen sei, weil Klein ihn empfohlen habe.223 Aber in Bayern zählte Kleins Wort: Lindemann wurde berufen. Auch wenn Lindemann in der Folgezeit manche Fehlleistung (z.B. Beweisversuch des Großen Fermatschen Satzes, 1908) erbringen sollte, so führte er doch noch einige gute Mathematiker zur Promotion, darunter Emil Hilb (1903) und Arthur Rosenthal (1909), die auch an Projekten von Felix Klein mitarbeiten sollten.

220 221 222

223

Auf diesen „Felix Klein-Fonds in Höhe von jährlich 800 – 1000 M“ verwies der Direktor der Göttinger Universitätsbibliothek Richard Fick noch am 15.7.1927 in einer „Denkschrift btr. Lückenergänzung auf dem Gebiete der Mathematik und Naturwissenschaften“ und beantragte einen neuen derartigen Fonds. [UAG] Math.Nat. 0047, Nr. 32. [franz.] ancienneté, Altersstufe. – Dieser Punkt wurde nicht realisiert, vgl. JACOBS 1977 (Personalia, Klein 22, Bl. 5). Die älteren Professoren H. Weber und J. Wellhausen (Theologe) bezogen ein geringeres Gehalt. [UAG] Kur. 5956, Bl. 52. Lindemann schrieb sich selbst überschätzend am 29.2.1892: „[…] dass ich doch etwas gewichtigere Leistungen aufzuweisen habe als Hurwitz. Wenn Sie gerade Hurwitz […] nehmen, ohne mich zu berücksichtigen, so stellen Sie mich in der ganzen Welt blos[s]; Sie fügen mir eine Beleidigung zu, die ich nicht verdient habe […].“ [UBG] Cod. Ms. F. Klein 1C: 2, Bl. 7v-8. Ebd., Bl. 16v; Lindemann an Klein, 12.3.1892.

7 WEICHENSTELLUNGEN, 1892/93 – 1895 Felix Klein markierte die Jahre seit 1892/93 als neue Periode, „[…] die durch das Überwiegen der organisatorischen Arbeiten gekennzeichnet ist.“1 Nachdem Althoff über Schwarz’ Ruf nach Berlin informiert hatte, erbat der Göttinger Universitätskurator Ernst von Meier Kleins Vorschläge für das mathematische Institut. Klein begründete daraufhin am 29. Februar 1892, dass die bisher getrennten Einrichtungen (Lesezimmer, Seminarbibliothek, Modellsammlung) zu vereinen sowie ein bezahlter Assistent und ein mathematisches Extraordinariat notwendig seien (vgl. Anhang Nr. 7). Er hatte Mathematik in ihrem ganzen Umfange im Auge und ließ erkennen, dass er die Pläne mit einem jüngeren Kollegen realisieren wolle. Klein stellte zugleich Weichen für die eigene Position. Er sicherte sich Schwarz’ bisheriges Amt, indem er „die Übertragung des Directoriums der Sammlung mathematischer Instrumente und Modelle an mich selbst in Anregung“ brachte.2 Das Ministerium bestätigte dies mit Schreiben vom 13. April 1892.3 Klein erhielt zwar nicht den gewünschten jüngeren Kollegen, sondern zum Oktober 1892 den sieben Jahre älteren Heinrich Weber neben sich (und Schering). Aber bereits im Mai schrieb Klein jubelnd an Robert Fricke: „Ich freunde mich unterdessen mit Weber immer mehr an. Dann wollen wir im Winter ein neues Leben beginnen, das unter dem Zeichen der frohen Zuversicht stehen soll!“4 Klein informierte ebenso Althoff, dass Weber die wichtigsten Vorhaben unterstützen werde, die Schwarz zuvor behindert hatte: das Extraordinariat für Schönflies; die Umhabilitation Frickes von Kiel nach Göttingen; den abgestimmten Betrieb. Fortan regelte eine „Conferenz der Seminardirectoren“ den Lehrbetrieb. Da Weber mehr auf Zahlentheorie in der Lehre steuere, lenkte Klein Burkhardt und Fricke auf Funktionentheorie. Schönflies verantwortete die Anfangssemester und Darstellende Geometrie mit Übungen. Schering übernahm die von Schwarz für 1886 angekündigte Lehre.5 Als eigenes weites Programm forschungsorientierter Lehre plante Klein, sich zunächst der Geometrie zu widmen und dann zu werfen, […] sobald ich erst wieder neue Bahn vor mir sehe, erneut auf die linearen Diffglch. und bringe auch die, soweit es angeht, zu zusammenhängender Publication! Dann endlich kann ich an Zahlentheorie, an Wahrscheinlichkeitsrechnung, an Mechanik heran und damit zu einer wirklich weit ausgreifenden mathematischen Thätigkeit!6

1 2 3 4 5 6

KLEIN 1923a (Autobiographie), 23. [UAG] Kur. 5956, Bl. 25. [UAG] Kur. 5691, Bl. 15, 15v. Klein an Robert Fricke, 19.5.1892 [UA Braunschweig]. [UBG] Cod. Ms. F. Klein, 1C: 2, Bl. 40v, 45, Althoff an Klein, 9.4.1892; Klein an Althoff, Briefentwurf v. 25.5.1892; [UA Braunschweig] Klein an Fricke, 23.4., 6.4., 15.5.1892. Klein (vom Sommerurlaub auf Borkum) an Fricke, 23.8.1892 [UA Braunschweig].

339 © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Tobies, Felix Klein, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58749-2_7

340

7 Weichenstellungen, 1892/93 – 1895

Bei diesem Programm konnte sich Klein nun auch in Göttingen erstmals auf einen Assistenten stützen (Abschnitt 7.1). Weber erwies sich bei weiteren Projekten als guter Partner. Er wurde am 26. November 1892 o. Mitglied der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften, nachdem dies geänderte Statuten leichter ermöglichten.7 Klein zog Weber in den Kreis der Mathematischen Annalen, wo er bis zu seinem Lebensende blieb. Weber war viel eher als die dienstälteren Redaktionsmitglieder bereit, Hilbert zu integrieren und damit die Annalen „möglichst Schritt halten zu lassen mit den modernen Fortschritten der Mathematik“.8 Im Herbst 1892 gründeten Klein und Weber die Göttinger Mathematische Gesellschaft (Abschnitt 7.2). Weber unterstützte den Kontakt zu den Lehrerkreisen (7.3). Er engagierte sich für die DMV (Abschnitt 6.4.4) und war an der Gründungsidee des Mathematischen Wörterbuches (ENCYKLOPÄDIE) beteiligt (Abschnitt 7.4). Obwohl Klein meinte, Weber habe damals den Zenit seiner Leistungsfähigkeit bereits überschritten, schätzte er ihn und urteilte später, dass dieser wohl der vielseitigste Vertreter seiner Generation gewesen sei, die „1. Invariantentheorie, 2. Gleichungstheorie, 3. Funktionentheorie, 4. Geometrie und 5. Zahlentheorie mehr oder weniger in Kontakt gehalten“ hatte.9 Klein besaß einen ungebrochenen Arbeitseifer. Als er sich Ende April 1893 einer Operation unterzog, die der Direktor der chirurgischen Universitäts-Poliklinik Friedrich Julius Rosenbach erfolgreich durchführte, setzte er nur kurz mit der Lehre aus. Hurwitz erfuhr, dass es sich um einen alten Brustschaden, von 1857 her handelte, der in der letzten Zeit störte. Klein lag vier und eine halbe Woche auf dem Krankenlager, hielt aber bereits im Mai von dort aus 15 Vorträge über Zahlentheorie (vgl. 8.2.2).10 Seine Vorlesung Höhere Geometrie (II) und das Seminar über Wahrscheinlichkeitsrechnung begann er im Juni 1893. Zur selben Zeit bereitete Klein seine erste, nun auch ministeriell geförderte Reise in die USA vor, die ihm nicht nur weitere internationale Aufmerksamkeit (7.5), sondern auch neue Ideen für Göttingen bescheren sollte. Diese betrafen das mathematische Frauenstudium (7.6), das Etablieren von Versicherungsmathematik (7.7), sowie das Einwerben finanzieller Mittel aus der Industrie (7.8). Bei der Dekanatswahl der Philosophischen Fakultät am 4. Mai 1894 fielen 18 von 31 Stimmen auf Klein, 13 auf den Mineralogen Theodor Liebisch.11 Klein nahm an und nutzte das einjährige Amt als Dekan für den Ausbau von Mathematik und Naturwissenschaften. Er sicherte das längere Bleiben des späteren Nobelpreisträgers Walther Nernst und auch den Ruf von David Hilbert. (7.9) In einem Brief an Hurwitz, seit 1892 Professor am Polytechnikum in Zürich, spielte Klein die Vielfalt seiner Aktivitäten als allerlei Allotria12 herab: 7

Zeitgleich wurden Auswärtige Mitglieder: Sophus Lie (Korr. seit 1872), einstimmig; Henri Poincaré (Korr. seit 1884), 3 Gegenstimmen; Korres.: Heinrich Bruns, Max Noether u.a. einstimmig; Adolf Hurwitz, 4 Gegentimmen. [AdW Göttingen] Chro 4,6: 119-21. 8 Klein an Hilbert, 4.10.1894 in FREI 1985, 93. 9 KLEIN 1926, I, 327; Voß, A.: „Heinrich Weber“. Jahresbericht DMV 23 (1914) 431-44. 10 Klein an Hurwitz, 4.6.1893 [UBG] Cod. Ms. Klein 9: 248; KLEIN 1923 GMA III, Anhang 8. 11 [UAG] Phil. Fak. Protokollbuch (1889-1905), Bl. 102. – Liebisch erhielt das Amt 1896-97. 12 altgriechisch: allótria, „fremdartige, nicht zur Sache gehörige Dinge“

7.1 Kleins Assistenten und seine Auswahlprinzipien

341

Ich bin ein schlechter Correspondent geworden. Das hat wohl einen Grund darin, dass ich neben meiner laufenden wissenschaftlichen Beschäftigung allerlei Allotria in Angriff genommen habe. Ich habe einmal mehr versucht (wahrscheinlich vergeblich) etwas mehr Beziehung zwischen Hochschule und Technik herzustellen, wozu ja Ihre Züricher Anstalt ein leuchtendes Vorbild ist. Dann habe ich viel Zeit darauf verwandt, den Gymnasiallehrern näher zu kommen: ich war u.A. Pfingsten in Wiesbaden bei der Versammlung der Herren und habe jedenfalls das erzielt, dass zum nächstjährigen Versammlungsort Göttingen gewählt ist. Um das Maass voll zu machen, habe ich letzthin auch noch das Dekanat der Facultät für das Jahr vom 1. Juli ab übernehmen müssen. Ich werde froh sein müssen, wenn es mir gelingt, meine Autographien in der bisherigen Weise weiterzuführen und übrigens durch junge Leute die Untersuchungen, die mir am Herzen liegen, fördern zu lassen.13

Klein war sich bewusst, dass die eigene kreative Arbeit unter den sonstigen Aktivitäten leiden musste. Das allerlei Allotria erwies sich allerdings als eine notwendige Bedingung für das Entstehen eines internationalen Zentrums der Mathematik, Naturwissenschaften und Technik in Göttingen (vgl. Kapitel 8.1). 7.1 KLEINS ASSISTENTEN UND SEINE AUSWAHLPRINZIPIEN Klein hatte 1877 an der TH München für seinen Assistenten 1000 M Jahresgehalt erkämpft (vgl. 4.1.2). An der Universität Leipzig hatte er mit Beginn des dritten Semesters einen etatsmäßigen Assistenten erhalten (vgl. 5.2). In Göttingen konnte er, ebenfalls als erster Mathematiker dort, gemäß Erlass Nr. 999 vom 19. April 1892 einen Assistenten anstellen. Klein beantragte am 22. April 1892 beim Kurator, Hrn. Cand. math. Fritz Schilling mit dem Amt zu betrauen. Das Ministerium verfügte die Stelle rückwirkend zum 1. April 1892, mit „[…] einer jährlichen Remuneration von 600 M und unter dem Vorbehalt einer jederzeitigen sechswöchigen Kündigung mit der die Verpflichtung angenommen werde, neben der ihm in dieser Eigenschaft zu übertragenden dienstlichen Obliegenheiten auch die Beaufsichtigung des Lesezimmers zu übernehmen.“ Lebenslauf und Zeugnisse des Kandidaten waren jeweils an das Ministerium zu senden.14 Als ihm die Bayerische Staatsregierung im Juli 1892 1500 M für einen Assistenten an der Universität München anbot, konnte Klein bei den Bleibeverhandlungen wenigstens 1200 M für die Assistenz in Göttingen sichern (vgl. 6.5.2). Schilling arbeitete zunächst (unbezahlt bzw. gering bezahlt) Kleins Vorlesungen zur Nicht-Euklidischen Geometrie aus und setzte mit Höherer Geometrie der Semester 1892/93 und 1893 fort. Schilling blieb Assistent bis zum 30. September 1893, absolvierte sein Gymnasialprobejahr und promovierte danach bei Klein.15 Er kehrte 1899 als Extraordinarius noch einmal nach Göttingen zurück. Es war Schönflies’ bisherige Stelle, aus der 1904 das Ordinariat für Carl Runge erwuchs.

13 [UBG] Math.Arch. 77: 253, Klein an Hurwitz, 24.6.1894. 14 [UAG] Kur. 5691, Bl. 15, 15v.; Kur. 7554 (Assistenten des Math. Instituts, 1892-1927). 15 Schilling, F.: „Beiträge zur geometrischen Theorie der Schwarzschen s-Funktion“. Math. Ann. 44 (1894) 161-260.

342

7 Weichenstellungen, 1892/93 – 1895

Das Betreuen von Modellsammlung und Lesezimmer sowie Ausarbeiten der Vorlesungen waren die Hauptaufgaben der Assistenten. Sie stenographierten mit und Klein segnete (in der Regel)16 den ausgearbeiteten Text ab, der handschriftlich vervielfältigt im Kommissionsverlag bei B.G. Teubner herauskam. Klein erklärte: „[…] diese Publikationsform […] ist in Deutschland ziemlich ungebräuchlich, wird aber in anderen Ländern, vor allem in Frankreich und Italien, sehr häufig angewandt.“17 In vorangegangenen Semestern gehaltene Vorlesungen sollten damit im Lesesaal studiert werden können. Erst später entstanden neue Auflagen dieser Vorlesungen als gedruckte Bücher (vgl. 9.2). Kleins nächster Assistent Ernst Ritter startete am 1. Oktober 1893. Er ist ein weiteres Beispiel dafür, wie sich Klein um Karrieren seiner Schüler kümmerte. Ritter hatte bei ihm 1891 den Doktortitel erworben, das Referendariat angetreten und nebenher mit Klein mathematisch weiter gearbeitet, zu den theoretischen Grundlagen der Theorie der automorphen Funktionen. Bereits Mitte April 1893 versuchte Klein, für ihn ein Stipendium zu erhalten und schrieb an Althoff: Dr. Ritter […] ist (neben meinem jetzigen Assistenten Schilling) in den 7 Jahren, die ich nun in Göttingen bin, mein bester Schüler gewesen. Während Schilling mehr geometrisch begabt ist, liegt R’s Streben in der eindringenden begrifflichen Analyse; er vertritt dadurch einen math.[ematischen] Typus, den ich als Ergänzung meiner eigenen ausschliesslich auf das Anschauungsmässige gerichteten Art besonders hoch schätze. […] Ich habe seine umfangreiche Dissertation, im Gegensatz zu unseren sonst geltenden Bestimmungen, wegen ihrer besonderen Bedeutung in die Math. Annalen aufnehmen können und weitergehende Untersuchungen über den gleichen Gegenstand unserer Societät nun schon wiederholt vorgelegt. Diesen ausgezeichneten Mann soll ich nun, jetzt wegen der Noth der Zeit verlieren. […] Lassen Sie mich in diesem Falle nicht im Stiche sondern beglücken Sie mich durch einen günstigen Bescheid.18

Obgleich Klein im Brief an Althoff der Sache noch eine allgemeine Wendung gab, wie er es ausdrückte, blieb der Antrag ohne Erfolg. Klein argumentierte einerseits, dass es auch im Interesse der Gymnasien sei, jüngere Leute länger bei der Wissenschaft zu halten und dass andererseits das arme Göttingen kaum mit Berlin concurrenzfähig bleiben könne. In Berlin gäbe es zahlreiche Institute, die Physikalisch-Technische Reichsanstalt u.a., wo Abgänger der Universität eine wissenschaftliche Karrieremöglichkeit hätten. Dies fehle in Göttingen. Beim Antrag für Ritters Assistenz unterstrich Klein, „[…] dass ich an ihm eine Kraft zu gewinnen hoffe, die vielleicht geeignet ist, später in unseren Lehrkörper einzutreten.“19 Ritter arbeitete diejenigen Vorlesungen aus, die Klein im Winter 1893-94 (Hypergeometrische Funktionen) und im Sommer 1894 (Lineare Differentialgleichungen 2. Ordnung) hielt.20 Nebenher vollendete er im Sommer 1894 seine Habilitation und erhielt zum Oktober 1894 ein Privatdozentenstipen16 17 18 19 20

Manchen Assistenten (z.B. Ritter) überließ Klein aus Zeitgründen die volle Verantwortung. Vgl. KLEIN 1923a Autobiographie, 23. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 1C: 2, Bl. 71, Briefentwurf an Althoff. [UAG] Kur. 7554, Bl. 10. Vgl. Kleins Selbstreferate zu diesen Vorlesungen, die er in den Math. Ann. publizierte, KLEIN 1922 GMA II, 578-97; und KLEIN 1923 GMA III, 741.

7.1 Kleins Assistenten und seine Auswahlprinzipien

343

dium. Ritter hatte seit seiner Dissertation (Die eindeutigen automorphen Formen vom Geschlechte Null, eine Revision und Erweiterung der Poincaré’schen Sätze“. Math. Ann. 41 (1893) 1-82) an Kleins Programm zum Ausbau der Theorie der automorphen Funktionen mitgearbeitet.21 Klein bezog Ritter – wie Burkhardt und Schilling – in weitere konzeptionelle Beratungen mit Fricke ein.22 So schrieb Fricke denn auch in der Vorrede zu Band I der Monographie über automorphe Funktionen, dass die Gründlichkeit und Schärfe Ernst Ritters wertvolle Vorarbeit leistete, um für den nächsten Band den Stoff logisch zu gliedern.23 1895 folgte Ritter einem Ruf an die Cornell University in Ithaca, USA, wohin Klein den Weg geebnet hatte (Abschnitt 7.5.3). Er verstarb jedoch kurz nach der Überfahrt in einem New Yorker Krankenhaus an Typhus, was Klein besonders schmerzlich traf. Ritter gehörte zu den wenigen Personen, für die Klein einen Nachruf verfasste.24 Zum 1. Oktober 1894 übernahm der schon in den Fußstapfen stehende Arnold Sommerfeld das Assistenten-Amt. Dieser war nach Promotion 1891 bei Lindemann in Königsberg über private Kontakte als Assistent zum Göttinger Mineralogen Theodor Liebisch gelangt. Sich mehr für Mathematik interessierend, studierte Sommerfeld nebenher Kleins Vorlesungen im Lesezimmer, insbesondere diejenigen über partielle Differentialgleichungen der Physik. Klein hatte Sommerfeld zuvor erprobt, indem er ihn bereits am 5. Dezember 1893 über sein Dissertationsthema „Die willkürlichen Functionen in der mathematischen Physik“ in der Mathematischen Gesellschaft vortragen ließ und mit weiteren Aufgaben betraute: Nächstens soll ich wieder vortragen, über neuere französische Arbeiten. Klein organisiert alles um sich herum, er hat nicht die Zeit diese Dinge alle zu lesen und will sich darüber vortragen lassen. Er hat sich für mich ein bestimmtes Arbeitsgebiet sehr geschickt ausgedacht. Über meinen vorigen Vortrag soll ich eine kurze Abhandlung für die Mathematischen Annalen baldigst schreiben.25

Während Sommerfeld die Zeit bei Liebisch bald als vertan ansah, zog ihn Klein an, geistreich, kenntnisreich, offen und ehrlich, wie er seine Eltern wissen ließ.26 Er fand noch vor der Assistentenzeit in Diskussion mit Klein ein Habilitationsthema, stellte Anfang August 1894 Ergebnisse in der Mathematischen Gesellschaft vor, wovon Klein Teile (die Integration der partiellen Differentialgleichung Δu + k2u = 0 auf einer Riemannschen Fläche betreffend), in der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften präsentierte.27 Sommerfeld habilitierte sich in Mathe21 KLEIN 1923 GMA III, 745; Ritter, E.: „Die multiplicativen Formen auf algebraischen Gebilden beliebigen Geschlechtes mit Anwendung auf die Theorie der automorphen Formen“. Math. Ann. 44 (1894) 261-374; ders.: „Die Stetigkeit der automorphen Functionen bei stetiger Abänderung des Fundamentalbereiches“. Math. Ann. 45 (1894) 473-544; 46 (1895) 200-48. 22 [UA Braunschweig] Klein an Fricke, 9.3.1892; 13.9.1894; vgl. Abschnitte 6.3.4 und 8.1.3. 23 FRICKE/KLEIN 1897, Vorrede, VIII; und FRICKE/KLEIN 1912, Vorrede, VII. 24 Klein, F.: „Ernst Ritter†“. Jahresbericht der DMV 4 (1897) 52-54 (datiert 25.9.1895). 25 Sommerfeld an seine Mutter, 5.1.1894, zitiert nach ECKERT 2013, 80. – Sommerfeld, A. (1894): „Zur analytischen Theorie der Wärmeleitung“. Math. Ann. 45, 263-77. 26 Sommerfeld an die Eltern, 27.6.1894, zitiert nach ECKERT 2013, 72. 27 Sommerfeld, A. (1895): „Zur mathematischen Theorie der Beugungserscheinungen“. Göttinger Nachrichten, Math.-physikal. Klasse aus dem Jahre 1894, Nr. 4, 338-42.

344

7 Weichenstellungen, 1892/93 – 1895

matik (11.3.1895), während sich Klein in Montreux (Schweiz) erholte. Klein vertraute ihm und verließ sich darauf, dass Sommerfeld auch das Renovieren des Lesezimmers gut managte, das sich damals im zweiten Stock des Auditoriengebäudes befand. Klein hatte vorausschauend die wachsende Zahl männlicher und weiblicher Lesesaal-Benutzer (Sommer 1895: 35; Sommer 1905: 245) bedacht. Bei Sommerfeld wich Klein vom „[…] Grundsatze, einen Assistenten immer nur für ein Jahr zu behalten“, ab.28 Er blieb zwei Jahre, arbeitete Kleins Vorlesungen zur Theorie des Kreisels und zur Zahlentheorie29 aus und berichtete begeistert: „Sorgfältigst präpariert, eindringlichst vorgetragen, jede Stunde ein kleines, auch stilistisch abgerundetes Meisterwerk; alle 10 Minuten ein zusammenfassendes Diktat in prägnanter Form.“30 Sommerfeld sprach zwar auch von Kleins „Hetzpeitsche“, opferte aber weiterhin viel Freizeit für dessen Projekte. Zum Kreisel-Projekt (vgl. 8.1.3) traten die ENCYKLOPÄDIE und ein Register für die ersten fünfzig Bände der Mathematischen Annalen. Für Letzteres konnte Sommerfeld seine Ehefrau Johanna, Tochter des zum 1. April 1894 neu ins Amt getretenen Universitätskurators Ernst Höpfner, einspannen. Sie prägte den aussagekräftigen Begriff „Felix-Dienst“.31 Unter Mitarbeit an Kleins Projekten wurde Sommerfeld vom Mathematiker zum Physiker: 1897 Mathematik-Professur an der Bergakademie Clausthal; Mechanik-Professur an der TH Aachen (1900); 1906 Professur für theoretische Physik (1906) an der Universität München. Der griechische Mathematiker Constantin Carathéodory, der 1913 Kleins Nachfolger werden sollte, urteilte: Von den Assistenten Kleins, die im Prinzip jedes Jahr wechselten, sind die meisten angesehene und bedeutende Forscher geworden. Bewunderungswürdig war die Sicherheit, mit der Klein unter seinen Zuhörern die Auswahl zu diesem Vertrauensposten traf; merkwürdiger aber noch die Kunst, mit der er von jedem dieser jungen Männer, je nach der Art ihrer Begabung, die höchsten Leistungen erzielen konnte, und dies auf eine Weise, welche die Entwicklung der Persönlichkeit des Betreffenden nicht beeinträchtigte, sondern förderte. Diese höchste Lebensweisheit, die in keinem der mir bekannten Fälle versagt hat, ist der Schlüssel für das Verständnis, des einzigartigen Einflusses, den Klein auf den Unterricht, die Pflege und die Fortentwicklung der Mathematik in Deutschland ausgeübt hat.32

Carathéodorys Urteil stimmt bis auf kleinere Abweichungen. Unter den weiteren 19 Assistenten, die Klein für die Zeit vom 1. Oktober 1896 bis zum 30. September 1921 auswählte,33 befanden sich einige, die er ebenfalls länger als ein Jahr mit dem Amt betraute: C. H. Müller, R. Schimmack, A. Timpe, Ludwig Föppl34, E. Hellinger und weitere seit dem Ersten Weltkrieg, als Personalmangel herrschte. Der Mangel an geeignetem Personen bedingte wohl auch den einzigen Irrtum: Assistent Walther Graefe (vgl. 9.2, Tab. 10). Generell lautete Kleins Ansicht: 28 29 30 31 32 33 34

[UAG] Kur. 7554, Bl. 15; 39. Bei der Zahlentheorie unterstützte Kleins Doktorand Philipp Furtwängler. SOMMERFELD 1949, 289. Vgl. hierzu ECKERT 2013, 132. CARATHÉODORY 1925, 2. Vgl. auch Liste der Assistenten KLEIN 1923 GMA III, Anhang 14. Ludwig Föppl (Sohn von August Föppl) promovierte 1912 bei Hilbert.

7.1 Kleins Assistenten und seine Auswahlprinzipien

345

[…] ich greife auf denjenigen Candidaten, der den Pflichten des Assistenten am eifrigsten und geschicktesten genügen möchte. Eine mathematische Promotion ist nur mit ausschliesslicher Concentration auf ein einzelnes Thema zu erreichen. Dem steht die Assistentenpflicht (die ich dann auch immer auf kurze Zeit, meistens ein Jahr, beschränke) gegensätzlich gegenüber: sie hindert, sowie jetzt bei unserem Betriebe die Verhältnisse liegen, den Candidaten geradezu, auf die Promotion hinzuarbeiten; sie fördert die Entwickelung seiner allgemeinen Persönlichkeit, aber nicht seine wissenschaftliche Qualification in einer Spezialfrage.35

Klein unterstützte die Karrieren seiner Assistenten, verfasste jedoch keine Eulogien, wie das Urteil über Moritz Weber dokumentiert. Weber äußerte sich postum euphorisch über Klein (vgl. 6.2.3). Klein sah dessen mathematische Fähigkeiten jedoch kritisch und entwickelte eine generelle Idee für die Berufungspolitik, als es 1901 um eine Mechanik-Professur für Weber ging. Dieser hatte an der TH Hannover als Regierungsbaumeister abgeschlossen, war 1896/97 als Kleins Assistent und danach beim ersten Projekt der Elektrifizierung der Berliner Stadtbahn und der Wasserversorgung des Bahnhofs Charlottenburg tätig. Klein schrieb: Moritz Weber ist ein sehr liebenswürdiger und zuverlässiger Mann, dem ich gewiß förderlich sein möchte, wo es angeht. Ich muß aber sagen, dass ich ihn für schwach begabt halte (trotzdem er, oder vielleicht gerade weil er seiner Zeit die Hannoverschen Examina mit ausgezeichnetem Erfolg bestanden hat). Er hatte als mein Assistent die Elementarvorlesungen, welche ich damals für 2tes und 3tes Semester hielt: Integralrechnung und Differentialgleichungen (Winter 96/97, Sommer 97) für das Lesezimmer auszuarbeiten und hat dies mit einem ganz unglaublichem Fleisse getan (4 – 5 Stunden täglich!), ohne doch dahin kommen zu können, das Wesentliche einfacher mathematischer Ueberlegungen klar und präcis zu bezeichnen.

Kleins Lösungsvorschlag lautete daran anschließend: Ich sehe nur einen Weg, der langsame Besserung in Aussicht stellt, dass man nämlich an den Technischen Hochschulen als Vertreter der Mechanik nach Möglichkeit Mathematiker einschiebt, die von Hause aus offenen Sinn und Interesse für Technik haben, in den Lehrkörper der Universitäten aber von Fall zu Fall theoretisch veranlagte Ingenieure.36

Moritz Weber erreichte dennoch Professuren für Mechanik (TH Hannover 1904, TH Berlin-Charlottenburg 1913). Aber auch Klein hatte Erfolg mit seiner speziellen Berufungsrichtlinie. Beispiele nach der einen Seite sind die Wege seiner Assistenten Arnold Sommerfeld und Karl Wieghardt (vgl. 8.2.4), nach der anderen Seite Ludwig Prandtls Ruf an die Universität Göttingen (8.1.2). Die Assistentenstelle bei Klein blieb lange die einzige für einen MathematikProfessor in Göttingen. Hilbert hatte zunächst nur Privatassistenten, wie z.B. Max Born.37 Erst 1904 erhielten er und Minkowski einen gemeinsamen, bezahlten Assistenten. Der Erste, Ernst Hellinger, bezog 600 M und wenig später 900 M. Carl Runge (Ordinarius für angewandte Mathematik ab 1904, vgl. 8.1.2) musste sich anfangs wie der erwähnte Extraordinarius Fritz Schilling mit einem Hilfsassistenten (300 M, später 600 M) begnügen, ab 1912 ein Assistent mit 1500 M.38 35 36 37 38

[UAG] Kur. 7554, Bl. 93. [UBG] Cod. Ms F. Klein 1D: Bl. 7-8 (Klein an Naumann, 26.6.1901). BORN 1975, 137. [UBG] Cod. Ms. Hilbert 93, Bl. 5 (Elster an Hilbert); [UAG] Kur. 7554, Bl. 112, 131, 151.

346

7 Weichenstellungen, 1892/93 – 1895

7.2 MATHEMATISCHE GESELLSCHAFT ZU GÖTTINGEN Die Göttinger Mathematische Gesellschaft vereinte seit Herbst 1892 die Professoren der Mathematik, Privatdozenten, Assistenten und Doktoranden einmal wöchentlich zu Vorträgen mit Diskussion. Klein erreichte damit etwas, was er zuvor vergeblich angestrebt hatte. Dieses Gremium ohne Statuten wurde zugleich ein Organ für Klein, mit dem er gemeinsame Aufgaben und Projekte managte. Tabelle 7: Vorträge in der Göttinger Mathematischen Gesellschaft, 1892/93 Prof. Heinrich Weber: 1) Über die Theorie der Abel’schen Functionen vom Geschlechte p=3. 2) Notizen über elliptische Modulargleichungen und über Invarianten der binären biquadratischen Formen. 3) Zahlentheoretische Untersuchungen aus dem Gebiete der elliptischen Functionen. Prof. Felix Klein: 1) Über zahlentheoretisch-geometrische Entwicklungen (insbesondere im Anschluss an Hermite und Selling) und über die Gittertheorie. 2) Über Lie’s Kugelgeometrie und über die auf der Transformation höherer Raumelemente basierenden geometrischen Entwicklungen. Prof. Arthur Schönflies: 1) Geometrische Theorie der geradlinigen Dreiecke. 2) Referat über Hilbert’s invariantentheoretische Arbeiten. Prof. Franz Meyer (Bergakademie Clausthal): Über die Discriminanten von Singularitätengleichungen. Dr. Heinrich Burkhardt: 1) Beitrag zur Theorie der Vectorfunctionen. 2) Referat über Schottky’s Buch „Die Abel’schen Functionen vom Geschlechte 3“. Dr. Robert Fricke: 1) Über arithmetisch-gruppentheoretische Entwicklungen in der Theorie der automorphen Functionen. 2) Über formentheoretische Methoden in der Theorie der Modulargleichungen.39

Zu den eingetragenen Mitgliedern gehörten im Winter 1892-93 neben Klein die Ordinarien Ernst Schering und Heinrich Weber, Extraordinarius Schönflies, die Privatdozenten Burkhardt und Fricke sowie Friedrich Diestel, der 1890 bei Schering mit dem Thema Beiträge zu der Interpolationsrechnung promoviert hatte.40 Ab Sommersemester 1893 schrieben sich die beiden Oberlehrer vom Göttinger Gymnasium Eduard Götting und Otto Behrendsen zusätzlich als Mitglieder ein, ohne selbst vorzutragen. Beide besaßen die Lehrbefähigungen für Mathematik, Physik und Naturwissenschaften, Behrendsen seit 1878, der zehn Jahre jüngere Götting seit 1884.41 Letzterer hatte 1887 bei H. A. Schwarz mit dem Thema „Bestimmung einer speziellen Gruppe nicht-algebraischer Minimalflächen, welche eine Schar von reellen algebraischen Kurven enthalten“ promoviert und da39 Quellen: [UBG] Math. Archiv 19I, Bl. 171-86; [UBG] Cod. Ms. F. Klein 22H, 22L, 21B, 21G: (Math. Gesellschaft, 1907-1911, Notizen Kleins). – Seit 1901 erschienen Berichte über die gehaltenen Vorträge im Jahresbericht der DMV (Rubrik Mitteilungen und Nachrichten). 40 Diestel wurde Bibliothekar in Göttingen bzw. Hannover, vgl. TOEPELL 1991, 84. 41 [BBF] Personalblätter.

7.2 Mathematische Gesellschaft zu Göttingen

347

nach auch Vorlesungen bei Klein besucht, über hyperelliptische Funktionen (1887) und über Riemannsche Flächen (1891-92).42 Mit dem ersten Ferienkurs festigten sich Kleins Kontakte zu den Lehrern (vgl. Abschnitt 7.3). Als weitere Mitglieder traten hinzu: Kleins erste Assistenten (Schilling, Ritter, Sommerfeld); fortgeschrittene Studierende aus dem Ausland, die auch Vorlesungen und Seminare bei ihm besuchten (der Amerikaner Bôcher, die Ungarn Beke, der in Rawitsch bei Posen geborene Alfred Loewy43, der Italiener Fano, der Däne Heegaard, der Schweizer Jaccottet, Alexejewsky aus Charkow44). Zudem waren beteiligt: Friedrich von Dalwigk, ein Doktorschüler Heinrich Webers, der eine Zeitlang Assistent Walther Dycks an der TH München war; Eduard v. Weber, der 1893 in München seine Dissertation verteidigte, die aus einer von Dyck gestellten Preisaufgabe aus dem Gebiet der Theorie der Differentialgleichungen hervorging.45 Im Sommersemester 1895 – als Hilbert kam – zählte die Gesellschaft 13 Mitglieder. Zu diesen gehörte Georg Bohlmann, der sich angeregt durch Klein 1894 hier habilitierte und auf Versicherungsmathematik gelenkt wurde (vgl. 7.7). Im Sommer 1899 waren 28 Personen als Mitglieder eingeschrieben, darunter Kleins erste Doktorschülerin Grace Chisholm Young (1895) und Hilberts erste Doktorschülerin Lucy Bosworth (1899). Dies erweiterte sich zunehmend. Dass Klein anerkanntes Haupt und Motor dieser Mathematischen Gesellschaft (vgl. Abb. 29) war, deuten Hilberts Worte an, die er im Namen des Gremiums anlässlich Kleins Goldenen Doktorjubiläums (vgl. 9.2.3) sprach: […] wir haben ja das Glück den besten Teil von Ihnen zu haben, nämlich Ihre ganze Persönlichkeit. Sie sind Begründer, Vorsitzender und geistiger Mittelp.[unkt] und HauptEnergiequelle unserer Ges.[ellschaft]. Wir haben das Glück Ihre wissenschaftlichen Arbeiten entstehen und zur Reife gelangen zu sehen. […] Das Wohl der Math.[ematik] hängt – leider – nicht bloss von ihrer wissenschaftlichen Förderung ab sondern auch wesentlich von der ausserwissenschaftlichen Tätigkeit ihrer Vertreter. […] Sie haben nun in dieser Hinsicht der Math.[ematik] Dienste geleistet, wie kein Math.[ematiker] in Deutschland je zuvor und durch den Glanz Ihres Namens, durch das Ansehen Ihrer Person die Math.[ematik] zur Geltung gebracht. Soweit das die math.[ematische] Ges.[ellschaft] angeht, möchte ich heute dafür danken und Sie dringend bitten, Ihren Einfluss überall geltend zu machen, wo es zum Wohle d.[er] Math.[ematik] geschehen muss.46

Einige Merkmale für Kleins Wirken in diesem Gremium seien bezeichnet. Erstens. Kleins Vorträge spiegelten seine aktuellen Interessen, sein Hinwenden zur Zahlentheorie 1892/93 (vgl. 6.3.4; 8.2.2), seine Analyse von S. Lies Arbeiten (vgl. auch 7.5.2), Ergebnisse seiner Forschungsseminare, das breite Spektrum von Anwendungen (vgl. 8.2.4), das Gebiet der automorphen Funktionen, auch psychologische Fragen (vgl. 8.3.3) und Fragen des mathematischen Unterrichts, wozu er das Diskussionsforum noch im Jahre 1919 nutzte (vgl. 9.3.2). 42 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 7 E. 43 Loewy studierte 1894-95 bei Klein, nachdem er bei Lindemann in München promoviert hatte. 44 Alexejewsky, W. P.: „Über das Reciprocitätsgesetz der Primzahlen“ (Russ.). Samml. Mitt. Math. Ges. Charkow (2) 6 (1898) 200-202. 45 Vgl. HASHAGEN 2003, 247. 46 [UBG] Cod. Ms. Hilbert 575: Nr. 2 (Notizen Hilberts zum 12.12.1918).

348

7 Weichenstellungen, 1892/93 – 1895

Abb. 29: Göttinger Mathematische Gesellschaft, 1902

Zweitens. Klein initiierte Vorträge jüngerer Mathematiker, um sein eigenes Wissen über neuere Ergebnisse zu erweitern, wie die Beispiele Burkhardt, Fricke, Sommerfeld zeigen. Zugleich inspirierte Klein in- und ausländische Mathematiker zu eigener Arbeit, wie der Däne Poul Heegaard eindrucksvoll überlieferte. Dieser noch unpromovierte Zeuthen-Schüler war bei einem Paris-Aufenthalt nach eigenem Bekunden ohne Inspiration geblieben. Er nahm 1894 an Kleins Vorlesung teil, trug in dessen Seminar vor und wurde zu Vorträgen in der Mathematischen Gesellschaft veranlasst. Zugleich gewann er Ideen für seine Dissertation: Klein had me give two lectures in the ‘Mathematische Gesellschaft’ with a summary of Zeuthen’s work on enumerative geometry. He also discussed with me the idea that would later form the basis for my dissertation. Altogether, there was a scientific atmosphere which stimulated me very much – stronger than anything I have ever met again.47

47 Vgl. http://www-groups.dcs.st-and.ac.uk/history/Biographies/Heegaard.html – H. trug im SS 1894 als Erster in Kleins Seminar vor (1.5.1894): Erzeugung aller ganzen, rationalen räumli-

7.2 Mathematische Gesellschaft zu Göttingen

349

Drittens. Klein leitete die Sitzungen ein, lieferte zu Semesterbeginn einen Ferienbericht über wissenschaftliche Aktivitäten, benannte Veränderungen im Lehrkörper und verwies auf neue Literatur, die er aufgrund der bei den Bleibeverhandlungen 1892 erkämpften Mittel weiterhin anschaffen lassen konnte. In der Sitzung vom 7. Juli 1908 lenkte er die Aufmerksamkeit z.B. auf die Dissertation von Frl. Nöther (Erlangen, publiziert im Crelle-Journal).48 Klein erfragte zu Beginn der Semester mögliche Diskussionsthemen (Welche Themen liegen bereit?) und regte selbst Debatten über zentrale Gegenstände an, so 1905 über Poincarés Arbeiten (vgl. 10.1); 1908 über das Flugproblem; 1911 das Relativitätsprinzip (vgl. 8.2.4 ); 1918 über Einsteins Theorie (vgl. 9.2.2). Dass die Vortragenden mit kritischem Blick zu rechnen hatten, überlieferte nicht nur Max BORN (1975: 191-93). Viertens. Die Gesellschaft erwies sich als geeignetes Gremium, um Gäste zu begrüßen und vortragen zu lassen. Als erster Gast reiste dazu Kleins „Schüler“ Franz Meyer (vgl. 4.2.4.2) aus dem ca. 60 km entfernten Clausthal 1892-93 an. Dessen unterbreitete Buch-Idee über Fortschritte in der neueren Geometrie, mit dem Titel-Vorschlag „Der Geist der modernen Geometrie, von F. Klein und F. Meyer“,49 münzten Klein und Heinrich Weber in die ENCYKLOPÄDIE um (vgl. 7.4). Wenn ausländische Gäste zeitweilig in Göttingen weilten, hieß Klein diese am Beginn der entsprechenden Sitzung willkommen, so z.B. den Amerikaner David Eugene Smith (7.7.1908) oder die russische Mathematikerin Nadjeschda von Gernet, die 1901 bei Hilbert promoviert worden war und auch bei Klein gehört hatte. Als Dozentin in St. Petersburg besuchte sie Göttingen regelmäßig in den Sommern vorm Ersten Weltkrieg. Klein begrüßte sie in den Sitzungen (21.7.1908; 9.8.1909; 26.7.1910) und gewann sie als Kontaktperson zu anderen russischen Mathematikern, als er ab 1908 die IMUK-Arbeiten managte (vgl. 8.3.4). Für besondere Gäste organisierte Klein Festsitzungen in der Mathematischen Gesellschaft, erstmals am 10. Juni 1895 für Henri Poincaré.50 Dabei sprach neben Poincaré (Über den Existenzbeweis des räumlichen regulären Potentials, wenn die Werte des Potentials auf einer Fläche S vorgeschrieben sind) auch Hilbert (Die Grundzüge der Diskriminante des Galois’schen Zahlkörpers), der im April 1895 seine Professur in Göttingen angetreten hatte (vgl. 7.9). Klein leitete diese Sitzung mit Bemerkungen über die gerade erfolgreich absolvierte Versammlung des Lehrer-Fördervereins (vgl. 7.3) ein. Später inszenierte er weitere Festsitzungen (und eigene Rede-Dispositionen) für herausragende Forscher. Dazu gehörte H. A. Lorentz, der im Oktober 1910 Vorträge hielt, die aus den Zinsen der WolfskehlStiftung finanziert werden konnten. Als der Nobelpreisträger Albert Abraham Michelson im Rahmen des deutsch-amerikanischen Austauschprogramms ein Semester lang als Gastprofessor in Göttingen weilte, legte Klein legte eine Festsitzung der Mathematischen Gesellschaft auf den 2. Mai 1911 und bat zu weiteren chen Kugelfunctionen durch Differentiation [Protokolle] Bd. 12, 1-4. – Er wurde ENCYKLOPÄDIE-Autor (vgl. auch 2.8.1) und Partner in der internationalen Unterrichtsreform. 48 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 22H: Bl. 28. 49 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 1246, Meyer an Klein, Brief v. 31.5.1893. 50 [UBG] Math.Arch. 49: 1. – Zu Poincaré im April 1909 in Göttingen vgl. 8.2.1; Anhang Nr. 8.

350

7 Weichenstellungen, 1892/93 – 1895

Treffen: „Heute abend: Michelson auf dem Rohns“ (1.8.1911). Auch Albert Einstein (vgl. 9.2.2) und weitere Forscher fanden in der Mathematischen Gesellschaft ein Podium. Fünftens. Die von Klein initiierte Organisationsform setzte Heinrich Weber ab Herbst 1895 an der Universität Straßburg fort. Weber bildete dort mit Adolf Krazer eine Mathematische Gesellschaft „nach Göttinger Muster“, wie er Klein informierte.51 Diese Tradition lebt noch heute an mathematischen Fachbereichen. Wie aus Hilberts oben zitierten Worten hervorgeht, agierte Klein in der Göttinger Mathematischen Gesellschaft noch als Emeritus als anerkanntes „Haupt“. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts empfanden ihn manche Studenten als unnahbar großen Gelehrten und betitelten ihn mit Felix Augustus.52 7.3 HINWENDUNG ZU DEN LEHRERKREISEN Im September 1890 trafen sich in Jena Lehrer der Mathematik und Naturwissenschaften höherer Lehranstalten und beschlossen, einen Verein zur Förderung des mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterrichts (kurz: Förderverein) zu gründen.53 Die Vereinsmitglieder erstrebten eine gleichberechtigte Position neben den Kollegen der philologisch-historischen Fächer und einen lebensnahen Unterricht. Klein unterstützte die Ziele des Vereins, besuchte dessen Tagung 1894 in Wiesbaden und veranlasste, dass die Jahrestagung 1895 nach Göttingen gelegt wurde. Er kooperierte mit dem Verein in der folgenden Unterrichtsreform (vgl. 8.3.4) und avancierte am 25. April 1917 zum Ehrenmitglied.54 Kleins Interesse an der Lehramtausbildung besaß inhaltliche Gründe, die er früh benannt hatte (vgl. 3.2). Da die Hörerzahl in den 1890er Jahren einen Tiefpunkt erreicht hatte, trat ein pekuniärer Aspekt als Motiv hinzu. Klein erhielt in Göttingen für eine vierstündige Vorlesung 20 Mark Hörergeld pro Student, für eine zweistündige 10 Mark. Die jährliche Summe betrug bis etwa zum Jahre 1893 zwischen 310 und 500 Mark. Mit der wachsenden Zahl von Studierenden stieg sein Hörergeld seit ca. 1900 weit über 1000 Mark.55 Bereits vor der Kontaktaufnahme mit dem Förderverein hatte Klein das Potential von Fortbildungskursen für bereits in der Praxis stehende Lehrer erkannt. Für naturwissenschaftliche Fortbildung bestanden Kurse seit 1890 in Berlin und in Frankfurt/Main. Klein etablierte derartige Kurse erstmals für Mathematik. Nachdem im Oktober 1892 der erste Kurs mit dem Schwerpunkt „Modelle und Kreiseltheorie“ in Göttingen gelaufen war, wollte Klein die Interessen der Gymnasial51 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 12: 210 (H. Weber an Klein, 13.6.1895). 52 Vgl. LIETZMANN 1925, 257. 53 Kongressbericht in: ZmnU 21 (1890) 611-32. – In England gab es bereits seit 1871 die Association for the Improvement of Geometrical Teaching (seit 1894 Mathematical Association); es folgten Mathesis 1901 in Italien; Vereinigung der Mathematiklehrer in der Schweiz 1902; Association of Mathematical Teachers in New York 1903 u.a., vgl. hierzu TOBIES 1984a. 54 Vgl. hier und im Folgenden detailliert TOBIES 2000a. 55 Vgl. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 7 E.

7.3 Hinwendung zu den Lehrerkreisen

351

lehrer noch näher ergründen. Er besuchte im März 1893 Höhere Schulen in Hannover und hospitierte dort auch kurze Zeit später. Er gewann dabei die Erkenntnis, dass nur solche Dinge vorgetragen werden dürfen, „welche directe Bedeutung für den Gymnasiallehrer haben (ohne darum in den Bereich des Schulunterrichts zu fallen)“. Er erklärte Robert Fricke: Kreiselbewegung (vor zwei Jahren), jetzt Transcendenz von π, später Grundbegriffe der Geometrie, besonders Parallelentheorie u. die Sammlung von Modellen und betonte: Ein Colleg über Axiome der Geometrie hat für den späteren Lehrer directeren Bildungswerth als eines über algebraische Curven, ein Colleg über Wahrscheinlichkeitsrechnung mehr als eines über Determinanten.56

Im (zweiten) Göttinger Ferienkurs Ostern 1894 trug Klein über Ausgewählte Fragen der Elementargeometrie vor, d.h. über die drei klassischen geometrischen Probleme, die nicht mit Zirkel und Lineal zu lösen sind: Verdoppelung des Würfels; Dreiteilung des Winkels; Quadratur des Kreises (= Verwandlung eines Kreises in ein flächengleiches Quadrat, aufgrund der Transzendenz von π nicht möglich). Klein setzte das im Sommer 1894 mit einer 2-stündigen Vorlesung fort und spannte Hörer ein, Mitschriften zu verfassen. Diese sandte er nach Ems zum Oberlehrer Friedrich Tägert57, der den Kurs Ostern 1894 besucht hatte und den Text ausarbeitete. Daraus wurde ein bei Teubner gedrucktes Büchlein (66 Seiten), das Klein zur Festschrift für den vom 3. bis 6. Juni 1895 in Göttingen tagenden Förderverein deklarierte. Zwar entdeckte Hurwitz in der Schrift noch Unvollständigkeiten beim Beweis der Transzendenz von π,58 aber das Thema traf in hohem Maße die Interessen der Gymnasiallehrer, nicht nur in Deutschland. Diese Festschrift wurde in Italien (1896), Frankreich (1896), in den USA (1897) und Japan (1897)59 schnell übersetzt. Klein schrieb im Vorwort: Die schärferen Begriffsbestimmungen und Beweismethoden, welche die moderne Mathematik entwickelt hat, gelten in den Kreisen der Gymnasiallehrer vielfach als abstrus und übertrieben abstract und werden dementsprechend gern so angesehen, als seien sie nur für den engeren Kreis der Spezialisten von Bedeutung. Demgegenüber hat es mir Vergnügen gemacht, im vergangenen Sommer vor einer grösseren Zahl von Zuhörern in einer zweistündigen Vorlesung darzulegen, was die neuere Wissenschaft über die Möglichkeit der elementargeometrischen Constructionen zu sagen weiss.60

56 Klein an Fricke, 10.5.1894 [UA Braunschweig]. 57 Friedrich Tägert besaß die Lehrbefähigungen für Mathematik, Physik, Chemie, Mineralogie, Botanik, Zoologie. [BBF] Personalblatt. 58 Hurwitz schrieb Klein am 3.1.1896, „[…] dass Ihr Beweis nach Gordan in den von Tägert ausgearbeiteten Vorträgen nicht ganz vollständig ist“ und erklärte die Details [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 1131. Klein reagierte: „Ihre Bemerkung betr. π hat mich erschreckt und ich habe auch im Augenblick nicht die Zeit, mich wieder in die Details hineinzudenken. […]“. [UBG] Math.Arch. 77: 262 (Brief v. 26.1.1896). 59 Ins Japanische übersetzte T. Hayashi, der als Klein Japans bezeichnet wurde. Hayashi schuf The Tōhoku Mathematical Journal als internationale Zeitschrift und ein Institut nach Göttinger Modell, gemeinsam mit M. Fujiwara (der 1909/10 bei Klein gehört hatte). Vgl. die Dissertation von Harald KÜMMERLE 2018; auch DAUBEN/SCRIBA 2002, 289-95, 430-31, 440. 60 KLEIN 1895b, III.

352

7 Weichenstellungen, 1892/93 – 1895

Die erwähnte grössere Zahl von Zuhörern seiner Vorlesung war zwar leicht übertrieben. Aber die 14 Personen, darunter zahlreiche aus dem Ausland und zwei Frauen,61 begriffen den wichtigen Bezug zu den Schulproblemen: Wilhelm Lorey sollte Kleins Reform in Deutschland unterstützen. Gino Fano propagierte bereits 1894 Kleins pädagogische Ideen in Italien.62 Poul Heegaard arbeitete ebenfalls engagiert im Rahmen der internationalen Unterrichtsreform. Kleins Doktorschülerin Grace Chisholm verinnerlichte schon hier, dass Bücher für den Anfangsunterricht wichtig sind (vgl. hierzu auch 5.6). Jean Griess, Absolvent der École Normale Supérieure in Paris und Professor an einem Lycée in Algier, hatte Klein um die Übersetzungserlaubnis seiner Festschrift gebeten, weil er vom „Inhalt und der Klarheit so entzückt“ war.63 Abgestimmt mit Klein änderte Griess für französische Leser einige Teile, worauf sich auch die US-amerikanische Version stützte. Letztere wurde von Wooster W. Beman und David Eugene Smith besorgt.64 In Italien war Gino Loria der Anreger für die Übersetzung. Klein hatte dem Förderverein 1894 in Wiesbaden über die Göttinger Ferienkurse berichtet und, wie gesagt, für 1895 nach Göttingen eingeladen. Als Mitglied des Göttinger Ortsausschusses bereitete er mit Lehrern des Gymnasiums (Behrendsen, Götting u.a.) und weiteren Professoren der Universität, Hermann Wagner (Geograph) und Albert Peter (Botaniker), das Programm für Juni 1895 vor. Klein präsentierte die genannte Festschrift und hielt das Hauptreferat „Über den mathematischen Unterricht an der Göttinger Universität im besonderen Hinblicke auf die Bedürfnisse der Lehramtskandidaten“. Er lobte die Göttinger Arbeitsbedingungen, den Studienplan, die Breite des Angebots, das Prinzip des engen Zusammenwirkens und betonte als Ziele für die Lehramtsausbildung: „1) Eine gleichförmige Grundlegung in den elementaren Dingen[…]; 2) Eine wissenschaftliche Konzentration nach irgend einer Seite hin […], 3) Einen Überblick über die Bedeutung der höheren Mathematik für den Schulunterricht.“65 Klein verwies auf das seit 25 Jahren von Süddeutschland ausgehende Bestreben, den Unterricht anschaulicher zu gestalten und sandte diese Rede gemeinsam mit seiner Leipziger Antrittsrede von 1880 (vgl. 5.1) an Kultusminister Bosse nach Berlin.66 Der Förderverein wählte gemäß Kleins Vorschlag das Thema Die Beziehung des mathematischen Unterrichts zur Ingenieur-Vorbildung für die nächste Jahresversammlung 1896, ein damals virulenter Gegenstand (vgl. 7.8. und 8.2).

61 Noble, C.A.; Snyder; Lorey, W.; Fano, G.; Wiger, J.; Jaccottet, C., Heegaard, P.; Metzler, G. F.; Ehlers, J.; Schütz, L.; Frl. Chisholm; Frl. Winston; Campbell, G.A.; Siedentopf, H. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 7 E. 62 Vgl. COEN 2012, 210-45, bes. 214, vgl. auch GIACARDI 2013. 63 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 11: 499D-E (Griess an Klein, 30.7.1895). 64 Beman nahm 1893 in Chicago teil (MOORE et al. 1896, ix ; KLEIN 1894, vii; vgl. Abschnitt 7.5). – Smith sollte die IMUK 1908 in Rom initiieren (vgl. Abschnitt 8.3.4). 65 Abgedruckt in Zeitschrift f. d. math. u. naturw. Unterricht 26 (1895) H. 5, 3-8, Zitat, 7. 66 [UAG] Kur. 5956, Bl. 77-90.

7.4 Das Encyklopädie-Projekt

353

7.4 DAS ENCYKLOPÄDIE-PROJEKT67 Wenn unserer aller Namen verschollen sind, vielleicht noch der eine oder andere historisches Interesse haben wird, werden Ihnen die spätesten Geschlechter dankbar bleiben für das grossartige Werk der Encyk.[lopädie], dessen Hervorbringung gerade eines Mannes wie Sie bedurfte, der soviel Entsagung und Aufopferung wie Sie besass.68

Diese Aussage traf David Hilbert in seiner Rede anlässlich Kleins 60. Geburtstag (Anhang Nr. 8). Hilbert war Autor am Band I der ENCYKLOPÄDIE.69 Er sah Klein als Kopf des noch nicht abgeschlossenen Unternehmens, das er schätzte. Natürlich wissen wir heute, dass eine Enzyklopädie schnell an Grenzen gelangt oder dass sie mit Abschluss bereits von neuem Wissen überholt sein kann. Dennoch besitzen derartige Unternehmen nicht nur historischen Wert, brachte doch das Anknüpfen an alte Ergebnisse wiederholt Neues hervor. Klein wollte mit der ENCYKLOPÄDIE ein Hilfsmittel schaffen, Vorwissen schneller zu erfassen: In der Mathematik, wie in anderen Wissenschaften, können immer wieder dieselben Vorgänge beobachtet werden. Einmal treten neue Fragestellungen aus inneren oder äußeren Gründen auf, welche die jüngeren Forscher reizen und von den alten Fragen ablenken. Dann aber erfordern die alten Fragen, eben weil sie vielfach bearbeitet worden sind, zu ihrer Beherrschung nachgerade ein immer umfangreicheres Studium. Das ist unbequem, und man wendet sich schon gerne Problemen zu, welche noch weniger ausgebildet sind und darum weniger Vorkenntnisse erfordern, mag es sich nun um formale Axiomatik oder Mengenlehre oder sonst etwas handeln! Es bleibt also nichts übrig, als die alten Gebiete in guten Referaten – in den Jahresberichten, der Enzyklopädie usw. – oder in Monographien so zusammenzufassen, daß die spätere Entwicklung, wenn es das Schicksal so fügt, hier wieder anknüpfen kann.70

Zugleich sollte das Werk dazu dienen, einer „immer weitergreifenden Zersplitterung der Wissenschaft Einhalt“ zu gebieten.71 Im einleitenden Bericht von Band I (erschienen 1898-1904) betonte der als Vorsitzender der Kommission für die Herausgabe der ENCYKLOPÄDIE in die Spur gesetzte Walther Dyck denn auch, dass es um ein Gesamtbild der Position geht, welche die „Mathematik innerhalb der heutigen Cultur einnimmt“, ein Vorhaben, das Klein weiter verfolgte (vgl. 8.3). Nach Franz Meyers Buchidee (vgl. 7.2) fuhren Felix Klein und Heinrich Weber in der ersten Septemberhälfte 1894 drei Tage zu ihm nach Clausthal.72 Beim Wandern im Harz verwandelten sie die Idee in ein mathematisches Lexikon. Dies wurde von der anschließend in Wien (mit den Naturforschern) tagenden DMV begrüßt. Meyer erhielt den offiziellen Auftrag, einen Entwurf auszuarbeiten. Zugleich hieß es im Protokoll, dass die „materielle Durchführung als eine geeignete Aufgabe für das im Jahre 1893 ins Leben gerufene Akademien-Cartell er67 Vgl. TOBIES 1994a; HASHAGEN 2003, 439-70; GISPERT 1999; GISPERT/VERLEY 2000. 68 [UBG] Cod. Ms Hilbert 575, Bl. 1 (enthalten in Anhang Nr. 8). 69 Hilbert, D. (1900): Theorie der algebraischen Zahlkörper, Theorie des Kreiskörpers. ENCYKLOPÄDIE Bd. 1.2, 675-732. 70 KLEIN 1926 Vorlesungen I, 312. 71 [AdW Göttingen] Scient 305, 1 Nr. 2a. 72 Klein an Fricke, 13.9.1894 [UA Braunschweig].

354

7 Weichenstellungen, 1892/93 – 1895

schien.“73 Dies beruhte auf Kleins Idee, kannte er doch derartiges Fördern von Großprojekten schon von seinem Schwiegervater (vgl. 3.6.2). Als sich später Differenzen mit Meyers Konzept ergeben sollten, erklärte Klein: „[…] nicht F.[ranz] M.[eyer], sondern ich selbst habe die Idee eines von Gesellschaften zu subventionierenden Lexikons erfunden, […] mit Weber 1894 in Clausthal […].“74 Die in Wien anwesenden Vertreter der zum Kartell deutschsprachiger Akademien gehörenden gelehrten Gesellschaften (Wien, München, Göttingen, Leipzig) übernahmen die Aufgabe, ihre örtlichen Institutionen für das Unternehmen zu gewinnen. Die Österreicher Gustav von Escherich (1894 in den DMV-Vorstand kooptiert) und Ludwig Boltzmann75 erreichten die Zusage der Wiener Akademie. Dyck war in München erfolgreich, Klein in Göttingen. So bildeten Dyck (Vorsitz), Klein, v. Escherich, Boltzmann (als Beirath für wissenschaftliche Fragen) und Heinrich Weber (als DMV-Vertreter) die erste ENCYKLOPÄDIE-Kommission. In Leipzig verhinderte Sophus Lie die Mitarbeit. Es war kurz nach Lies herabwürdigenden Äußerungen in Band 3 seiner Transformationsgruppen (vgl. 6.3.6). Ein Brief von Lie an Mayer bezüglich der ENCYKLOPÄDIE gipfelte in der Aussage: Klein vergleiche ich mit einer Schauspielerin, die in der Jugend durch glänzendes Äußere bezaubert, die aber nach und nach immer verwerflichere Mittel braucht, um auf Bühnen dritten Ranges Erfolg zu erreichen.76

Klein überzeugte die Kollegen, das Projekt auch ohne die Leipziger Gesellschaft zu starten. So unterzeichneten die Akademien von Wien, München und Göttingen im Mai/Juni 1896 mit dem Verlag B.G. Teubner den Vertrag über eine Encyklopädie der mathematischen Wissenschaften mit Einschluß ihrer Anwendungen.77 Die Sächsische Gesellschaft der Wissenschaften förderte das Projekt schließlich ab 1904, nachdem Lies Nachfolger Otto Hölder bereits einen Artikel (Galois’sche Theorie mit Anwendungen, 1899) für Band I geschrieben hatte. Hölder kam für die Leipziger in die ENCYKLOPÄDIE-Kommission. Als im Jahre 1909 in Heidelberg eine neue Akademie der Wissenschaften entstand, die sich 1911 dem Kartell deutschsprachiger Akademien anschloss, ergab sich eine zusätzliche Unterstützung für die ENCYKLOPÄDIE. Paul Stäckel repräsentierte die Heidelberger in der Kommission und förderte weitere Projekte Kleins. Die Berliner Akademie trat dem Akademien-Kartell erst 1906 bei.78 Klein vermied jedoch einen Antrag bezüglich der ENCYKLOPÄDIE dorthin, weil er Frobe73 Jahresbericht der DMV 4 (1897) Chronik, 5. 74 [BStBibl] Klein an Dyck, Brief v. 24.1.1896. 75 Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass Klein, aufgeschlossen gegenüber neuen Theorien, mit weiteren Mathematikern Boltzmanns kinetische Gastheorie verteidigte, als die Vertreter der Energetik (Georg Helm, Wilhelm Ostwald) auf der Naturforscherversammlung in Lübeck 1895 dagegen zogen. Vgl. Sommerfeld, A. (1944): „Ludwig Boltzmann zum Gedächtnis“. Wiener Chemiker Zeitung 47, Nr. 3/4, 25. 76 Vollständig zitiert in TOBIES 1994a, 10-11. 77 TOBIES 1994a, 69-75. – Es sei auf das bemerkenswerte Redactions- und Verfasser-Honorar von 100 Mk. pro Bogen verwiesen, wofür nach Vertrag der Verlag 30 M und die Akademien München und Wien je 25 M, Göttingen 20 M zahlten. 78 [AdW Wien] Kartell, I 153; auch LAITKO 1999.

7.4 Das Encyklopädie-Projekt

355

nius Bemerkung von „greisenhafter Wissenschaft“ kannte.79 Klein hatte darauf in einer ENCYKLOPÄDIE-Vorlesung 1902/03 mit den Worten des Historikers Leopold von Ranke optimistisch reagiert: „Wir müssen es trotzdem versuchen!“80 Ranke hatte bei der Edition seiner mehrbändigen Weltgeschichte auf Nutzen und Gefahren enzyklopädischer Werke hingewiesen.81 In einer Vorlesung von 1910/11 kam Klein noch einmal auf Frobenius’ Äußerung zurück: Man hat bei dieser Gelegenheit [betr. math. Encyklopädie] auf eine etwas missliche Analogie mit dem Altertum hingewiesen: In Alexandrien wurden grosse Encyclopaedieen geschaffen und man begann, die Wissenschaft zu kanonisieren, als die Productivität aufhörte. So wurde auch bei unserer Encyclopaedie die Meinung ausgesprochen, dass die Idee dazu ein Zeichen dafür sei, dass die mathematische Productivität ihrem Ende zugehe; man habe jetzt schon nichts anderes zu tun, als das Vorhandene zu sammeln. Nun, wir haben bei unserem Plane einen solchen Gedanken nicht gehabt, und die Entwicklung der Wissenschaft seit 1894 ist auch einen anderen Weg gegangen. Auch hat die Encyclopaedie mehr zu tun, als zu sammeln, sie hat vielfach heterogenen Stoff erst einheitlich zu verarbeiten.82

Im Jahre 1913 erfüllte sich für Klein etwas, was ihm als junger Professor prophezeit worden war: „Sie werden Mitglied von allen namhaften Akademien der Erde werden, und zuletzt von der Berliner!“83 Frobenius, Schottky, H. A. Schwarz und Planck schlugen Klein für die Wahl zum Korrespondenten der Berliner Akademie vor. Darin erwähnten sie auch: „Es ist sein Verdienst, […] daß das große Werk der mathematischen Encyklopädie begonnen und energisch fortgeführt wurde.“ (Anhang Nr. 11) Als die Berliner Akademie Klein zum 50-jährigen Doktorjubiläum 1918 erneut würdigte, nutzte dieser sein langes Antwortschreiben, um sie nun zur Teilnahme am ENCYKLOPÄDIE-Projekt einzuladen.84 Als die Akademien 1921 mit dem Teubner-Verlag einen V. Nachtrag zum ENCYKLOPÄDIE-VERTRAG unterzeichneten, gehörten die Berliner dazu. An der dortigen Universität waren inzwischen auch Mathematiker berufen worden, die bereits als Autoren das „einheitliche Verarbeiten“ des Stoffes unterstützt hatten: Richard von Mises (Dynamische Probleme der Maschinenlehre, 1911); Ludwig Bieberbach (Neuere Untersuchungen über Funktionen von komplexen Variablen, 1920). Die ENCYKLOPÄDIE entsprach von Beginn an einem Bedarf. Bereits im zweiten Jahre waren mehr als 900 Exemplare der auf 1000 bemessenen ersten Auflage fest abonniert worden. Der Teubner-Verlag dachte an eine höhere Auflage und an Übersetzungen. In Frankreich signalisierte Darboux Zustimmung. Somit ermächtigten die Akademien den Verlag im III. Nachtrag vom Juni/Juli 1900, eine „französische bez. englische Ausgabe in Gemeinschaft mit einer anderen Verlagsbuchhandlung“ herauszubringen. Dieser Nachtrag räumte den Akademien, der ENCYKLOPÄDIE-Kommission und den Artikel-Autoren das Recht ein, die Leiter für aus79 80 81 82

Vortrag in der Berliner Mathematischen Gesellschaft 1900, vgl. HASHAGEN 2003, 469; 457. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 19 B: Bl. 32v. Ranke, L. v.: Weltgeschichte. 16 Bde. Leipzig: Duncker & Humblot, 1881-88 (Bd.1,Vorrede). Klein, F.: Über die moderne Entwicklung des mathematischen Unterrichts, Vorlesung, WS 1910/11, 272. Ausgearbeitet von Erich Hecke [Nachlass Hecke]. 83 Diese Prophezeiung überlieferte Wilhelm Ahrens (Rostock) [UBG] Cod. Ms F. Klein 117. 84 [BBA] III b 137: 129 (Schreiben Kleins v. 28.12.1918 an die Akademie).

356

7 Weichenstellungen, 1892/93 – 1895

ländische Ausgaben und Übersetzer auszuwählen und die übersetzten Beiträge zu sehen. Während eine englische Version nicht realisiert wurde85, gelang eine französische Ausgabe (erweiterte Bearbeitung) großer Teile. Alfred AckermannTeubner (vgl. 5.6), inzwischen Schatzmeister der DMV und Mitglied der Société Mathématique de France, knüpfte die Anfangskontakte mit Jules Molk, „Redakteur der französischen Ausgabe“, und mit dem Pariser Verleger Albert GauthierVillars. Beide Franzosen traten im Jahre 1900 der DMV bei. Klein war konsultiert worden, ob er Molk, Professor der Mathematik an der Université de Nancy, für geeignet hält und hatte zugestimmt. Er beriet mehrere Tage mit Molk, und bei der ENCYKLOPÄDIE-Konferenz 1902 in Leipzig legten sie die erste Mitarbeiter-Liste für die französische Version der Bände I und II vor. Auf dem III. Internationalen Mathematiker-Kongress in Heidelberg 1904 präsentierten Klein und Molk erste Teile der deutschen und der französischen Ausgaben, unter Anwesenheit ihrer Verleger. Molk (†14.5.1914) und Albert Gauthier-Villars beteiligten sich an weiteren ENCYKLOPÄDIE-Konferenzen in Deutschland und sandten bis 1914 regelmäßig Berichte über den Stand der französischen Arbeiten am Projekt.86 Kleins Arbeitsweise für die ENCYKLOPÄDIE sei wie folgt zusammengefasst: Erstens. Klein behielt sich ein wissenschaftliches Obermanagement vor. Organisatorische Tätigkeit versuchte er zu delegieren, wobei Walther Dyck als loyaler Partner diente. Klein wählte die Redakteure für die einzelnen Bände (als Herausgeber fungierten die Akademien). Er besprach die Dispositionen mit den Band-Redakteuren persönlich und diskutierte mit zahlreichen Autoren die Anlage ihrer Beiträge. Wilhelm Wirtinger betreute mit Heinrich Burkhardt Band II (Analysis) und verglich Kleins Herangehen mit dem „eines vorwärtsstürmenden Feldherrn“.87 D.h., Klein drängte, trieb und kontrollierte Bandredakteure und Autoren. Als sich für Band IV (Mechanik) kein geeigneter Redakteur fand, übernahm er das selbst, bis sich Conrad Heinrich Müller als neue „Hilfskraft“ bot. Zweitens. Klein schrieb selbst keinen Beitrag. Er brachte sein Überblickswissen ein, das er mit passender Lehre weiter vertiefte. Mit seiner Vorlesung Encyklopädie der Mathematik (WS 1902/03) behandelte er Arithmetik, Algebra, Analysis. Zu den 56 Hörer/innen gehörten Paul Ehrenfest und Tatjana Afanassjewa, die schon seine Mechanik-Vorlesung 1902 besucht hatten und im Seminar (Principien der Mechanik, WS 1902/03) referierten, sodass die Talente schnell erkannt und als Autoren gewonnen waren.88 Mit seiner Vorlesung Encyklopädie der Geometrie (SS 1903) disponierte Klein Band III neu, unzufrieden mit Meyers Konzept. Später wurde mit Nachträgen ergänzt, um Forschungsfortschritte zu beachten. So konzipierte Klein z.B. noch 1915/16, gemeinsam mit Hans Mohrmann

85 Der Plan wurde 1901 mit dem Ehepaar Young beraten; Klein dachte für die angewandten Teile auch an die Mitarbeit von Edward Hough Love. 86 Nach den im [AdW Wien] aufbewahrten Akten, vgl. TOBIES 1994a, 24-25. 87 Zitiert bei HASHAGEN 2003, 467. 88 Ehrenfest, P.; Ehrenfest, T. (1909-11): Begriffliche Grundlagen der statistischen Auffassung der Mechanik. ENCYKLOPÄDIE Bd. IV.4.

7.4 Das Encyklopädie-Projekt

357

und Wilhelm Blaschke, einen Teil 4 für den Geometrie-Band. Zwar erschien dieser so nicht, aber die geplanten acht Artikel deuten auf die Absichten: Band III (Geometrie), Teil 4 Art. 1: Entwicklungen über den Kugelkreis: Meyer. Art. 2: Tetraedergeometrie: Meyer – Zacharias. Art. 3: Analysis situs: Tietze. Art. 4: Allgemeine Gestaltenlehre: Hjelmslev. Art. 5: Gestaltenlehre über algebraische Kurven und Flächen: Mohrmann. Art. 6: Geometrie im Komplexen: Dyck. Art. 7:Invariantentheorie best.[immter] geometrischer Gruppen: Weitzenböck Art. 8: Räume von unendlich vielen Dimensionen: Kowalewski.89

Drittens. Klein wünschte Internationalität. Franz Meyers weitgehend national begrenzte Autorenwahl für die von ihm betreuten Bände I und III suchte Klein zu ergänzen. Meyer dachte in seinem Entwurf an 35 Mitarbeiter für das gesamte Projekt. Schließlich arbeiteten allein an den ersten drei Bänden (Arithmetik & Algebra; Analysis; Geometrie) 92 Autoren, davon 33 aus dem Ausland. Klein erreichte, dass Repräsentanten der italienischen algebraisch-geometrischen Schule mitarbeiteten; dass französische Mathematiker bereits bei der deutschen Version am Analysis-Band vertreten waren und Beiträge der französischen Ausgabe noch für das deutsche Unternehmen übersetzt wurden (durch Arthur Rosenthal90); dass britische und niederländische Mechanik durch die Experten selbst einfloss; dass sich russische, skandinavische, US-amerikanische u.a. Autoren beteiligten. Für die Anwendungs-Bände (Mechanik; Physik; Geodäsie/Geophysik/Astronomie) und Didaktik war das Orientieren am Ausland besonders essentiell. Klein konstatierte eine mangelhafte Literaturkenntnis bei deutschen Kollegen: Unsere deutschen technischen Collegen scheinen in dieser Hinsicht nur mangelhafte Kenntnisse zu besitzen. Die ausländische Literatur – Namen wie Greenhill, Boussinesq – sind auch den hervorragendsten Vertretern, mit denen ich neuerdings wiederholt verhandelte, höchstens dem Hörensagen nach bekannt. Es ist so ähnlich wie mit unserer didaktischen Literatur. Auch die ist durchaus national begränzt; es wird eine That sein, wenn es uns gelingt, diese Einschränkung zu durchbrechen.91

89 [Nachlass Blaschke] Klein an Blaschke 1915/16 (für das Zusenden der Briefe dankt die Autorin Alexander Kreuzer, Hamburg); ENCYKLOPÄDIE-Sonderkonferenz in Göttingen, 13./ 14.12.1916 (Konzept für T. 4); davon flossen noch Teile in Band III: Weitzenböck, R. (1921): Neuere Arbeiten der algebraischen Invariantentheorie. Differentialinvarianten; Tietze, H.; Vietoris, L. (1929): Beziehungen zwischen den verschiedenen Zweigen der Topologie; Berzolari, L.; Rohn, K. (1926): Algebraische Raumkurven und abwickelbare Flächen. 90 Der Lindemann-Promovend A. Rosenthal hielt im SS 1911 zwei Vorträge in Kleins Seminar und bearbeitete (noch in München) die unter Émile Borel entstandenen Beiträge Recherches contemporaines de la théorie des fonctions für die deutsche Version, in ENCYKLOPÄDIE Bd. II 3.2. (1923) 851-1187. 91 Klein an Dyck, 13.6.1896, in TOBIES 1994a, 22. – Mit dem Briten A. G. Greenhill (Royal Artillery Institution Woolwich) entwickelte sich seit dessen erstem Brief (25.1.1886) ein guter Kontakt, ausgehend von Applications of Elliptic Functions [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 490-99. Die Arbeiten von Joseph Boussinesq (Grundgleichungen für turbulente Flüssigkeitsbewegung) ließ Klein in seinen Seminaren analysieren (vgl. Abschnitt 8.2.4).

358

7 Weichenstellungen, 1892/93 – 1895

Diese Aussage diente erfolgreich als Argument, um von den Akademien und vom preußischen Kultusministerium Geld für zahlreiche Reisen (Niederlande, Dänemark, Großbritannien, Frankreich, Italien, Österreich u.a.) zu erhalten, um Autoren zu gewinnen. Ein Brief Kleins an Hendrik A. Lorentz vom 5. September 1898, vor dem Start in die Niederlande geschrieben, erhellt das Herangehen: […] ich selbst habe nun übernommen, zunächst die erforderlichen persönlichen Verbindungen im Ausland zu suchen. In dieser Hinsicht kommt natürlich, was mathematische Physik angeht, ganz besonders Holland in Betracht. […] Mein Wunsch wäre, vor allen Dingen mit Ihnen selbst den ganzen mathematisch-physikalischen Abschnitt durchzusprechen und übrigens durch ihre Vermittlung die holländischen mathematisch-physikalischen Kreise näher kennen zu lernen […]92

Klein und sein Reisebegleiter Arnold Sommerfeld, der die Redaktion von Band V (Physik) zugesagt hatte93, diskutierten 1898 mit Lorentz – der im Jahre 1902 mit dem Nobelpreis geehrt werden sollte – nicht nur die Disposition dieses Bandes. Lorentz übernahm selbst drei Beiträge.94 In Amsterdam trafen sie Johannes Diderik van der Waals (Nobelpreis 1910), über dessen Zustandsgleichung Heike Kamerlingh Onnes (Nobelpreis 1913) und dessen Schüler Willem Hendrik Keesom für die ENCYKLOPÄDIE schrieben (1911). Im Oktober 1898 reiste Klein noch allein nach Paris weiter, um potentielle Autoren zu treffen.95 Erfolgreicher waren sie in Großbritannien, wohin Klein 1899 erneut mit Sommerfeld fuhr. In Cambridge berieten sie mit Joseph John Thomson und Joseph Larmor, mit Edward Routh und dem 80jährigen Sir George Gabriel Stokes. Lord Rayleigh lud sie auf sein Landgut in Essex ein. Die erste Auflage von Rouths Dynamik der starren Systeme war gerade mit Kleins Vorwort (vom 11. Oktober 1897) beim Teubner-Verlag erschienen (vgl. Abschnitt 5.6). Wenn diese Größen auch nicht selbst ENCYKLOPÄDIE-Autoren wurden, so halfen sie, den Gesichtskreis zu weiten und jüngere Autoren zu gewinnen. Dazu gehörte der Experte für mathematische Aspekte von Sport und Spiel Gilbert Walker.96 Zur Mitarbeit am Mechanik-Band waren auch Augustus Edward Hough Love (1901) und Horace Lamb (1906) bereit, deren Lehrbücher (Hydrodynamik bzw. Elastizitätstheorie) Klein ebenfalls zur Übersetzung ins Deutsche empfahl (vgl. 5.6). Als Klein und Sommerfeld George Hartley Bryan im walisischen Ort Bangor besuchten (Abb. 30), besaßen sie bereits gute Anknüpfungspunkte zu dessen Arbeiten. Bryan hatte mit Joseph Larmor einen Bericht über den Stand der Thermodynamik und statistischen Mechanik verfasst (1891, 1894) und auch schon mit Boltzmann publiziert. Bryan konnte somit überzeugt werden, den ENCYKLOPÄDIEBeitrag Allgemeine Grundlagen der Thermodynamik (1910) zu übernehmen.97 92 Klein an Lorentz, 5.9.1898, zitiert in TOBIES 1994a, 21-22. 93 ECKERT 2013, 137-47. 94 Lorentz, H.A.: Maxwells elektromagnetische Theorie (1902); Weiterbildung der Maxwellschen Theorie –Elektronentheorie (1903); Theorie der magnetooptischen Phänomene (1909). ENCYKLOPÄDIE Bd. V. 95 Klein an Sommerfeld, 20.10.1898 [Deutsches Museum] HS 1977-28 (Nachlass Sommerfeld). 96 Walker, G. (1900): Spiel und Sport. ENCYKLOPÄDIE Bd. IV.2 97 Zu Problemen bei der Übersetzung und Redaktion, vgl. ECKERT 2013, 179-80.

7.4 Das Encyklopädie-Projekt

359

Abb. 30: ENCYKLOPÄDIE-Reise nach Wales: Felix Klein (sitzend in der Mitte) und Arnold Sommerfeld (li.) bei der Familie von George Hartley Bryan (stehend in der Mitte)

Korrespondierend bemühte sich Klein weiter um Autoren, wozu der Professor für Mathematik, Mechanik und Astronomie Diederik Korteweg gehörte, dem sie 1898 in Amsterdam begegnet waren. Korteweg hatte 1895 mit seinem Doktoranden Gustav de Vries eine nichtlineare partielle Differentialgleichung dritter Ordnung entwickelt (Korteweg-de-Vries-Gleichung), womit Flachwasserwellen in engen Kanälen bzw. Solitonen beschrieben werden können. Dies hätte Klein gern von den Experten selbst dargestellt gesehen. Kortewegs Versuch, einen Schüler zu beauftragen, scheiterte zwar. Er selbst kooperierte jedoch noch im Rahmen des internationalen Katalog-Projekts (vgl. 8.4) mit Klein.98 Viertens. Klein disponierte bereits 1896 auch einen Schlussband für die ENCYKLOPÄDIE, über Geschichte, Philosophie, Psychologie und Didaktik der Mathematik. Das konkrete Ausarbeiten dieses Bandes scheiterte zwar am Ausbruch des Ersten Weltkrieges, der die angestrebte Internationalität vereitelte.99 Dennoch bildete die Disposition dieses Schlussbandes eine programmatische Vorgabe für Arbeiten, die großenteils in andere Kleinsche Buchprojekte flossen (vgl. 8.3).

98 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 536-38 (Korteweg an Klein und Antwortnotizen von Klein, 14.10.1899 – 4.5.1900). 99 Zu Realisierungsversuchen und zum Scheitern vgl. TOBIES 1994a, 56-69.

360

7 Weichenstellungen, 1892/93 – 1895

7.5 REISE(N) IN DIE USA Klein hatte 1883 darauf verzichtet, Sylvesters Nachfolge in Baltimore anzutreten (Abschnitt 5.8.1). Er hatte 1889 das Angebot einer Gastprofessor an der Clark University in Worcester ausschlagen müssen (Abschnitt 6.3.6.1). Drei von Kleins Schülern, Dyck, Lindemann und Wedekind, hatten 1884 das Terrain erprobt.100 Schließlich bot sich 1893 für Klein die Möglichkeit, im offiziellen Auftrag zur Weltausstellung nach Chicago zu reisen. Er erhielt das Angebot für eine (von zwei) vom Finanzministerium mit 3000 Mark dotierte Position als Kommissar „zur Besichtigung der Ausstellung und Berichterstattung“.101 Die neu orientierte Staatspolitik sollte sich als Ressource für seine wissenschaftlichen Ziele erweisen. Unter Wilhelm II, deutscher Kaiser und preußischer König seit 1888, wurde die Kultur- und Wissenschaftspolitik stärker nach außen orientiert.102 Klein ließ sich – wie Hermann von Helmholtz, Alois Rieder und weitere – einspannen, um Resultate deutscher Wissenschaft in der Neuen Welt zu präsentieren. Bereits im Januar 1893 vollendete Klein einen Beitrag „Mathematik“ für das Werk Die Deutschen Universitäten, das in Chicago präsentiert werden sollte und von seinem Göttinger Kollegen Wilhelm Lexis im Auftrage des Kultusministeriums ediert wurde.103 Klein passte sich offensichtlich der gewünschten Rhetorik an, wenn er im Nachhinein von Amerika „als das größtmögliche und glücklichste Object wissenschaftlicher Colonisation“ sprechen sollte. Allerdings sah er, wie oftmals zuvor, bevorzugt das wechselseitige Profitieren, „das mathematische Leben der amerikanischen Universitäten immer mehr von uns aus zu beeinflussen – gewiß nicht zum Schaden unserer eigenen Leistungsfähigkeit und Frische.“104 Kleins Schüler in Chicago wünschten sein Kommen. Indem sie ihn ins Zentrum rückten, seine Beiträge publizierten, gewann er noch stärkere internationale Aufmerksamkeit. Indem er mit offenen Augen Entwicklungen wahrnahm, konnte er Ideen aufnehmen, die für Göttingen wichtig wurden. 7.5.1 Weltausstellung in Chicago und Mathematiker-Kongress Der Beamte des preußischen Kultusministeriums Friedrich Schmidt, der spätere Schmidt-Ott, war zum Generalreferenten für eine deutsche Unterrichtsausstellung in Chicago ernannt worden. Er suchte Felix Kleins Rat, den er bereits schätzen gelernt hatte, als er von März bis Mai 1892 den erkrankten Göttinger Universitätskurator vertrat.105 Gemeinsam entwickelten Schmidt und Klein nun für Chicago die Idee, einen besonderen Schwerpunkt auf Mathematik zu legen. 100 Vgl. hierzu HASHAGEN 2003, 179-87; [Lindemann] 95-103. 101 Friedrich Schmidt(-Ott), Kultusministerium, fragte Klein mit Brief v. 13.1.1893, ob er die Stelle annehmen möchte. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 11: 720. 102 Vgl. hierzu auch PARSHALL/ROWE 1994, 295-309; SIEGMUND-SCHULTZE 1997a. 103 KLEIN 1893. 104 Klein, Berichtsentwurf an Althoff, 11.10.1893, zitiert bei SIEGMUND-SCHULTZE 1997b, 246. 105 Vgl. SCHMIDT-OTT 1952, 26. (Vgl. zu Schmidt-Ott auch Abschnitt 9.4.1).

7.5 Reise(n) in die USA

361

Die organisatorische Vorbereitung konnte Klein weitgehend delegieren. Walther Dyck hatte gerade für eine Münchener Ausstellung einen Katalog mathematischer Modelle und Apparate fertig gestellt und erarbeitete nun, wenig begeistert aber zuverlässig, ein Konzept mit neuem Katalog für Chicago. Dazu wurde nahezu das gesamte deutsche mathematische Schrifttum, Lehrbücher, Zeitschriftenreihen, Gesammelte Werke, Dissertationen und Habilitationsschriften, zusammengetragen.106 Gauß’ Breite von Mathematik und Anwendungen im Visier, initiierte Klein zusätzlich eine Gauß-Weber-Ausstellung, u.a. mit der Präsentation des Telegraphen. Heinrich Maschke und Oskar Bolza, inzwischen Professoren an der 1890 neu gegründeten Universität in Chicago, erfüllten Kleins Wunsch, sich vor Ort um die geeignete Anordnung des Materials zu kümmern. Kleins Hauptaugenmerk galt inhaltlichen Aspekten. Noch vom Krankenlager aus schrieb er im Mai 1893 persönlich im Auftrage des Ministeriums an potentielle Autoren und bat um schriftliche Beiträge für Chicago, d.h. „[…] kurze Referate über die neuere und neueste Entwicklung irgend welcher Zweige der Mathematik“, die in den USA besonderes Interesse erwarten könnten.107 Sie sollten dem International Mathematical Congress held in connection with the World’s Columbian Exposition präsentiert werden, den E. Hastings Moore, Oskar Bolza, Heinrich Maschke und Henry S. White vorbereiteten. Dafür reichten nicht nur USamerikanische Mathematiker Arbeiten ein. Es kamen Beiträge aus Frankreich (Charles Hermite, Émile Lemoine, Maurice d’Ocagne), Italien (Alfredo Capelli, Salvatore Pincherle), Russland (T. M. Pervouchine aus Kasan), Österreich (Matyás Lerch, Eduard Weyr) und Deutschland. Kleins Werben brachte (mit ihm) 17 deutsche Mathematiker (Burkhardt, Dyck, Fricke, Heffter, Hilbert, Hurwitz, Krause, Franz Meyer, Minkowski, Netto, Max Noether, Pringsheim, Victor Schlegel, Schönflies, Study, Heinrich Weber) bei insgesamt 39 Autoren in die Congress Papers.108 Allerdings nahmen am Congress selbst nur vier Ausländer teil: Felix Klein, der auf Stellensuche befindliche Eduard Study (vgl. Abschnitt 5.4.1), der österreichische Astronom Norbert Herz und der italienische Mathematiker Bernard Paladini; die beiden Letzteren ohne Beitrag. Als Klein sich am 8. August 1893 in Bremen einschiffte, hatte er zahlreiche Manuskripte der Kollegen im persönlichen Gepäck. Mit einem Schiff des Norddeutschen Lloyd109 erreichte er New York am 17. August und war einen Tag später in Chicago,110 wo der Kongress vom 21. bis 26. August stattfand. Hier wurde Klein als Imperial Commissioner der deutschen Regierung hofiert und durfte den International Congress umrahmen, d.h. er hielt eine der Eröffnungsreden und den abschließenden Vortrag. Klein avancierte am zweiten Tag zum Honorary President und wurde in das Executive Committee kooptiert. Damit konnte er den wei106 107 108 109

DYCK 1892; DYCK 1893; HASHAGEN 2003, 425-28. Vgl. Klein an Hilbert, 19.5.1893 in FREI 1985, 88-89. Vgl. MOORE et al. 1896; https://archive.org/details/mathematicalpape00inteiala Der Norddeutsche Lloyd wurde zahlendes Mitglied (insgesamt 28.000 M) der Göttinger Vereinigung zur Förderung der angewandten Physik und Mathematik, vgl. Abschnitt 8.1.1). 110 Klein in JACOBS 1977, 22 Personalia, Bl. 6; KLEIN 1922 GMA II, 613.

362

7 Weichenstellungen, 1892/93 – 1895

teren Kongress-Verlauf mit festlegen, wo große Teile der zugeschickten bzw. mitgebrachten papers vorgestellt wurden.111 An drei festgelegten Nachmittagen (Dienstag, Mittwoch, Freitag) konnte Klein außerdem das Material der deutschen Unterrichtsausstellung erläutern. In der Closing Session wurde ihm gedankt “[…] for his very valuable contributions to the proceedings of the Congress and for his interesting expositions of the mathematical material in the German University Exhibit at the Exposition”.112 Kleins Kongress-Reden sind wegen seiner schon mehrfach vorgetragenen visionären Ideen erwähnenswert, die er nun in die Welt brachte. In der Eröffnungsrede The Present State of Mathematics markierte er die Tendenz des wieder stärkeren Zusammenführens.113 Von eigenen Ansätzen ausgehend, nannte er das Verweben von Gebieten basierend auf Funktions- und Gruppenbegriff; neue Grenzdisziplinen wie geometrischer Zahlentheorie; das Verbinden der Mathematik mit ihren Anwendungen, wofür er Schönflies’ auf Gruppentheorie fußende Ergebnisse in der Kristallographie (vgl. 6.3.7.2) und Resultate von Burkhardt zum Verhältnis astronomischer Probleme und der Theorie der linearen Differentialgleichungen beispielhaft anführte. Klein schlug die Brücke zu US-amerikanischen Leistungen und proklamierte eine weltumspannende Mission. Er verglich das Göttinger Hinwenden zu einem return to the general Gaussian programme mit Vorhaben der DMV und Ansätzen in Frankreich by the powerful influence of Poincaré. Um alles zu realisieren, empfahl er, international unions zu bilden. In der Schlussrede (Über die Entwicklung der Gruppentheorie während der letzten zwanzig Jahre) sprach Klein noch einmal den notwendigen praktischen Turn an: „Denn es ist keine Frage, dass bei der fortschreitenden Entwicklung unserer Cultur immer mehr solche Männer gebraucht werden, welche gleichzeitig nach technischer Seite wie nach mathematisch-physikalischer Seite im Vollbesitz der wissenschaftlichen Prämissen sind.“114 Dies wurde ihm Programm für die nächsten Jahre in Göttingen. 7.5.2 Zwölf Vorträge Kleins: The Evanston Colloquium Bereits vor seiner Reise hatte Klein mit seinem Doktorschüler Henry Seely White das Halten zusätzlicher Vorträge vereinbart, die als Lectures on Mathematics. The Evanston Colloquium in die Mathematikgeschichte eingegangen sind.115 White – bei dem Klein auch während dieser Zeit wohnte116 – hatte von 1887/88 bis 1889/ 90 bei Klein studiert, danach seine Dissertation „Abelsche Integrale auf singularitätenfreien, einfach überdeckten, vollständigen Schnittkurven eines beliebig aus111 112 113 114 115 116

Die Programmübersicht ist abgedruckt in PARSHALL/ROWE 1994, 328-30. MOORE et al. 1896, xii. Ebd., 133-35; auch aufgenommen in KLEIN 1922 GMA II, 613-15. MOORE et al. 1896, 136. KLEIN 1894. – PARSHALL/ROWE 1994 (333-54) enthält eine detaillierte Analyse. Kleins Bericht an Althoff v. 7.7.1902, abgedruckt in SIEGMUND-SCHULTZE 1997b, 247-48.

7.5 Reise(n) in die USA

363

gedehnten Raumes“ (1891) in Göttingen eingereicht und war inzwischen Assistant Professor an der Northwestern University in Evanston, nördlich von Chicago gelegen. Hier trug Klein vom 28. August bis 9. September 1893 vor. Einige Aspekte seien hervorgehoben. Erstens. Klein präsentierte zwei Wochen lang, montags bis samstags, je einen Vortrag frei sprechend in Englisch, von 9 bis 11 Uhr. Unter den 24 Hörern waren Oskar Bolza, Fabian Franklin, Heinrich Maschke, James E. Oliver117, Eduard Study, Harry W. Tyler118, E. B. Van Vleck, H. S. White, die bei ihm studiert und z.T. promoviert hatten; außerdem gehörte Mary F. Winston als einzige Frau zu diesem Kreis. Sie sollte ab Herbst 1893 bei Klein in Göttingen studieren (vgl. Abschnitt 7.6). Ein weiterer Teilnehmer E. M. Blake kam 1896 nach Göttingen und hörte bei Klein Technische Mechanik und Zahlentheorie.119 Der in Breslau geborene Alexander Ziwet, inzwischen Professor an der University of Michigan, arbeitete Kleins Vorträge aus und besprach dies jeweils am selben Abend mit ihm. Zweitens. Es waren Überblicksvorträge, die nicht ins Detail gingen. Klein zeichnete Entwicklungslinien der Mathematik, die er selbst erlebt und mitbestimmt hatte. Er nutzte sein Auftreten, um eigene Forschungen und die von Schülern hervorzuheben, einzuordnen, sich abzugrenzen und um seine Forschungsmethode zu unterstreichen. So demonstrierte er in Vortrag (1) über Clebsch einen seiner wichtigen Ausgangspunkte und setzte sich zugleich ab von alten Theorien, insbesondere von der Clebsch-Gordan-Richtung in der Invariantentheorie; denn er hatte Hilberts neue Richtung im Blick (Abschnitt 6.3.7.3). Vorträge (2) und (3) galten Sophus Lie, wobei er hier vornehmlich dessen frühere Arbeiten beleuchtete, um mit eigenen und Arbeiten von Schülern – bis hin zu Bôcher – verbinden zu können. Vortrag (4) widmete Klein der realen Gestalt algebraischer Kurven und Flächen. Dabei hob er nicht nur frühere Ergebnisse, sondern auch neue Ansätze von Hilbert zur algebraischen Geometrie hervor.120 Vortrag (5) thematisierte das Verhältnis von Funktionentheorie und Geometrie und rückte die hypergeometrische Funktion und deren Anwendungen in Astronomie und mathematischer Physik ins Zentrum. Vortrag (6) zur Raumvorstellung und zu den Beziehungen von reiner Mathematik zu angewandten Wissenschaften drückte Kleins Vision des Herangehens an Forschungen in besonderer Weise aus. Diese Vision betrachtete er noch dann als relevant, als er die Edition seiner Gesammelten Abhandlungen vorbereitete, denn nur diesen Vortrag (6) nahm er dort auf.121 In Vortrag (7) empfahl er die betrachteten Beweise der Transzendenz von e und π als allgemeines Bildungsgut, so wie er dies wenig später zum Gegenstand der Lehrerfortbildung erkor (Abschnitt 7.3). Vortrag (8) zu den Idealzahlen (Kummer, Kronecker, Dedekind) nutzte Klein, um eigene Ansätze zur geometrischen Zahlentheorie (Ab117 Oliver war bereits 60 Jahre alt und Professor an der Cornell University, als er WS 1889/90 und SS 1890 bei Klein Vorlesungen hörte. 118 Tyler studierte WS 1887/88 und SS 1888 bei Klein und vollendete die Promotion in Erlangen. 119 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 7 E. 120 Hilbert, D.: „Ueber die reellen Züge algebraischer Curven“. Math. Ann. 38 (1891) 115-38; KLEIN 1894, 28. 121 KLEIN 1922 GMA II, 225-31. – Vgl. dazu auch Abschnitt 8.3.1 dieses Buches.

364

7 Weichenstellungen, 1892/93 – 1895

schnitt 8.1.2) ins Licht zu rücken. Auch mit Vortrag (9) zur Lösung höherer algebraischer Gleichungen, Vortrag (10) zu Anwendungen hyperelliptischer und Abelscher Funktionen, und Vortrag (11) zur Nichteuklidischen Geometrie griff Klein eigene Felder auf. In Letzterem betrachtete er Ergebnisse aus den zurückliegenden Jahren, und es war diese Vorlesung, in welcher er Sophus Lies neueste Arbeiten (in Bezug auf Helmholtz) breit diskutierte, über seine eigenen Vorlesungen 1889-90 sowie seine Annalen-Arbeit von 1890 hinausgehend – ohne dass er bereits Lies Band 3 seiner Transformationsgruppen gesehen hatte (vgl. Abschnitt 6.3.6). Im abschließenden Vortrag (12) zum Studium der Mathematik in Göttingen erklärte Klein das System der Göttinger Lehre. Er gab an, dass seine eigenen Vorlesungen oft “an encyclopedic character, conformable to the general tendency of my programme” haben, und dass er seine Studenten nicht nur als Hörer oder Schüler sah, sondern als “collaborators”. Somit wünschte er Studierende aus den USA mit hinreichender Vorbildung, damit sie aktive Mitarbeiter sein könnten. Drittens. William F. Osgood, der Kleins Evanston Vorträge nicht gehört hatte, hielt sie noch ca. 17 Jahre später für wertvoll, um junge Leute einzuführen. Er veranlasste eine Neuauflage und fragte im Vorwort (am 31. Dezember 1910): “What is important in the development of mathematics?” Er gab die Antwort mit dem Verweis auf Kleins Instinkt “[…] for that which is vital in mathematics”. Osgood betonte: “[…] and the light with which his treatment illumines the problems here considered may well serve as a guide for youth who is approaching the study of the problems of a later day.”122 Osgood beherrschte die deutsche Sprache sehr gut. Er hatte deshalb nicht nur von Klein zum Promovieren nach Erlangen geschickt werden können, sondern auch seinen Beitrag „Allgemeine Theorie analytischer Funktionen einer und mehrerer komplexer Variabler“ (1901) für Bd. II der ENCYKLOPÄDIE selbst verfasst. Das daraus resultierende Lehrbuch der Funktionentheorie (Leipzig: B.G. Teubner, 11906, 21912) enthält ein Kapitel 8 über Riemannsche Flächen, das bewusst an Klein anknüpfte.123 7.5.3 Reise von Universität zu Universität Klein blieben nach seinen Vorträgen in Evanston ca. vier Wochen bis zur Abreise. Ihn interessierten weniger Sehenswürdigkeiten oder Landschaften. Er wollte Universitäten, deren Institutionen und Personen kennenlernen. Seine ehemaligen Schüler und Kollegen brachten ihn zu den bedeutendsten Privatuniversitäten.124 Klein sah als Erstes die 1868 gegründete Cornell University in Ithaca (New York), wohin ihn James E. Oliver eingeladen hatte. Oliver war zwanzig Jahre älter alt Klein, hatte als Professor 1889-90 zwei Semester lang in Kleins Vorlesungen zur Nicht-euklidischen Geometrie gesessen und anschließend eigene Schüler 122 KLEIN 1894, reprint 1911, p. v. 123 Das Lehrbuch von Osgood befindet sich noch heute im Lesesaal des Mathematischen Instituts der Universität Göttingen. 124 Kleins Stationen sind beschrieben in PARSHALL/ROWE 1994, 355-57.

7.5 Reise(n) in die USA

365

zu Klein nach Göttingen geschickt.125 Daraus ergab sich auch der erwähnte Ruf Ernst Ritters nach Ithaca (vgl. 7.1). Klein wurde in Ithaca jedoch besonders vom Sibley College of Mechanical Engineering and of Mechanic Arts beeindruckt, wo seit 1889 das erste Elektroingenieur-Department existierte.126 Begleitet durch seinen Schüler Edward Burr Van Vleck, der gerade 1893 den Doktortitel in Göttingen erworben hatte, führte Kleins Weg weiter zur Clark University in Worcester – auf deren Angebot einer Gastprofessur er 1889 hatte verzichten müssen. Es folgte der Blick auf die Harvard University in Cambridge (Massachusetts), auf die gewaltig angelegten astronomischen Forschungen am Harvard College Observatory unter Edward Charles Pickering127 und auf das Massachusetts Institute of Technology (MIT). Im Bundesstaat Connecticut besuchte Klein die Yale University in New Haven, wo er den Physiker Willard Gibbs traf, sowie die Wesleyan University in Middletown, wo der Vater seines Begleiters John Monroe Van Vleck als Astronomie-Professur wirkte. In New York City berichteten Zeitungen euphorisch über Klein. Die New York Mathematical Society veranstaltete unter dem Vorsitz des Versicherungsmathematikers Emory McClintock ein Meeting zu Kleins Ehren am Columbia College. Simon Newcomb arrangierte noch ein Treffen mit dem Präsidenten Gilman der Johns Hopkins University in Baltimore, der Klein zehn Jahre zuvor die Nachfolge Sylvesters angeboten und ihm eine Bronzekopie der für Sylvester gestifteten Goldmedaille verehrt hatte.128 Den Schlusspunkt bildete The College of New Jersey (ab 1896 Princeton University), wo Klein von seinem Leipziger Doktorschüler Henry Burchard Fine, inzwischen Professor, und Henry Dallas Thompson – der 1892 bei Klein promoviert hatte – empfangen wurde.129 Bereits bei diesem Treffen vereinbarten sie, dass Klein im Jahre 1896, anlässlich des 150jährigen Jubiläums dieser Institution erneut kommen und Vorträge halten solle.130 7.5.4 Nachwirkungen Vom 7. bis 17. Oktober 1893 fuhr Klein mit einem Schiff des Norddeutschen Loyd von New York nach Bremerhafen zurück. Seine USA-Reise führte zu Wirkungen verschiedener Art. Erstens wurde Kleins Position im internationalen wissenschaftlichen Raum beeinflusst. Es sei zunächst hervorgehoben, dass er selbst schon zufrieden zurückblickte, nachdem Congress und Evanston Colloquium absolviert waren. Klein schrieb am 12. September 1893 an Althoff im preußischen Kultusministerium: 125 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 7 E: Virgil Snyder u.a.; COCHELL 1998, 145. 126 Vgl. hierzu SIEGMUND-SCHULTZE 1997b, 36. 127 Die dafür bereit gestellten privaten Mittel nannte Klein später als Vorbild für die Göttinger Vereinigung (vgl. Abschnitt 8.1.1). 128 Vgl. hierzu auch HASHAGEN 2003, 182. 129 Thompson: „Hyperelliptische Schnittsysteme und Zusammenordnung der algebraischen und transzendenten Thetacharakteristiken“ (Dissertation, Göttingen 1892). 130 Vgl. PARSHALL/ROWE 1994, 357; vgl. Abschnitt 8.2.3; KLEIN 1897.

366

7 Weichenstellungen, 1892/93 – 1895 […] dass ich selbst hier bislang Alles erreicht habe, was ich hoffen durfte erreichen zu können. Der mathematische Congreß unter deutscher Flagge hat einen vorzüglichen Verlauf gehabt; ich lege ein Exemplar des Programms bei. Dann habe ich hier in Evanston noch 14 Tage lang das geplante Colloquium gehalten; unter sehr guter Betheiligung von Fachgelehrten aus allen Theilen des Landes. Indem ich täglich über 2 Stunden sprach, hatte ich Gelegenheit ein ganzes Programm meiner wiss.[enschaftlichen] Auffassung zu entwickeln, wie ich das mir seit langen Jahren gewünscht hatte. Diese Vorträge sollen gedruckt werden und ich hoffe bald nach meiner Rückkehr fertige Exemplare vorlegen zu können.131

Die Nachrichten über den Congress verbreiteten sich schnell in der Welt. Hurwitz signalisierte aus Zürich am 29. November 1893: „Das Heft der New-Yorker Society […] habe ich erhalten, und aus demselben zu meiner Freude gesehen, dass Sie der geistige Mittelpunkt des Congresses gewesen sind und dass man Sie in entsprechender Weise gefeiert hat. Sie können wirklich mit Befriedigung auf Ihre amerikanische Reise zurückblicken.“132 Die sich in Paris abzeichnende Wirkung war besonders eindruckvoll. Hermite, der mit einem Beitrag « Sur quelques propositions fontamentales de la théorie des fonctions elliptiques » in den Congress Papers (105-15) vertreten war, nahm Kleins Evanston-Vorträge zur Kenntnis und veranlasste zunächst, Vortrag (7) über die Transzendenz von e und π zu übersetzen. Davon begeistert, ließ er alle Evanston-Vorträge und weitere Arbeiten Kleins ins Französische bringen.133 Der Übersetzer Léonce Laugel führte im Namen von Hermite die Korrespondenz mit Klein, holte die Publikationserlaubnis ein und berichtete über Hermites Reaktionen. Die meisten der übersetzten Beiträge erschienen in den Nouvelles Annales de Mathématiques, journal des candidats aux écoles polytechnique et normale, nachdem sie Hermite begutachtet hatte. Beim Lesen von Kleins Wiener Vortrag „Riemann und seine Bedeutung für die Entwicklung der modernen Mathematik“ äußerte Hermite z.B., er habe eine Stunde wie im (siebten) Himmel verbracht.134 Hermite ließ weitere euphorische Urteile vermelden (vgl. auch Abschnitt 8.2.2) und schlug bei der nächstbesten Gelegenheit Kleins Wahl zum Korrespondenten der Académie des Sciences in Paris vor. Klein wurde am 17. Mai 1897 gewählt. Er nahm den Platz des verstorbenen J. J. Sylvester ein. Weitere Mitgliedschaften in anderen Akademien folgten.135 131 132 133 134

[UBG] Cod. Ms. F. Klein 1B: 2, Bl. 80, Briefentwurf Kleins an Althoff, Chicago, 12.9.1893. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 1123. Vgl. hier und im Folgenden TOBIES 2016, 116-23. « Monsieur et très honoré Professor, Je prends la liberté de solliciter votre autorisation, nécessaire à la publication dans les Nouvelles Annales de Mathématiques d’une traduction de ‘Transcendance des nombres e et π’, Evanston Colloquium. C’est M. Hermite pour l’usage personnel duquel j’ai traduit tout le Colloquium et pour qui je traduis en ce moment avec le plus grand plaisir et intérêt. Riemannsche Flächen et Hypergeometrische function qui m’a suggéré cette idée, dans le vif désir de porter les études sur ces admirables productions, trop peu étudiées en France. Je lui ai traduit aussi le discours ‘Ueber Riemann und seine Bedeutung’ dont il m’a écrit qu’en le lisant ‘il avait passé une heure comme dans le ciel’. En autoriseriez vous aussi la publication. » [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 627. 135 Vgl. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 114. – Von insgesamt 51 Mitgliedschaften in Akademien und wissenschaftlichen Gesellschaften starteten 15 im Zeitraum von 1894 bis 1900.

7.5 Reise(n) in die USA

367

Zweitens erlangte Klein durch seine sichtbare Internationalität auch im Rahmen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte eine herausgehobene Position. Er wurde aufgefordert, auf der Jahresversammlung 1894 in Wien den schon im Kontext mit Hermite erwähnten Vortrag zu halten. Es war eine gewisse Staffelübergabe von Helmholtz an Klein, formal und inhaltlich. Beide hatten sich bei der USA-Reise hin- und rückwärts auf demselben Schiff befunden. Aus Kleins Reisebericht an Leo Koenigsberger ist zu entnehmen, dass Helmholtz bei den Gesprächen auf der Rückreise – gemeinsam mit dem Kapitän im Raucherzimmer – zwar etwas zugänglicher gewirkt habe, aber inhaltlich eher rückwärtsgewandt. Klein hatte Gesprächsthemen mit Helmholtz ausprobiert, das Problem der Axiomatik diskutiert (vgl. 6.3.6) und bemerkt, dass seine bereits vorliegenden Korrekturbogen der Evanston Colloquien-Vorträge kaum estimiert worden waren. Auch habe Helmholtz, Präsident der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt in Berlin, eines von Kleins damaligen Lieblingsprojekten, eine notwendige technische Physik an der Universität, nicht für notwendig erachtet.136 Helmholtz erlitt am 12. Juli 1894 einen Schlaganfall. Klein teilte Walther Dyck am 12. August mit: „Ich bin aufgefordert worden, für Helmholtz mit einem öffentlichen Vortrage einzutreten. Dies habe ich angenommen und will über die Bedeutung von Riemann sprechen.“137 Klein nutzte den Vortrag in der 2. allgemeinen Sitzung am 26. September 1894 für seine Vision des Zusammenführens. Das Thema Riemann ermöglichte ihm den Vergleich mit anderen Mathematikern (Weierstraß, Dirichlet, Schwarz, Fuchs, etc.). Von Riemann ausgehend konnte er auch eine Brücke zur theoretischen Physik sowie zu Ergebnissen britischer (Faraday, Green, Maxwell), französischer (Cauchy, Hermite, Picard, Poincaré) u.a. Wissenschaftler schlagen.138 Die Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte wählte Felix Klein daraufhin in ihren Vorstand, als Nachfolger Koenigsbergers.139 Eine dritte Art von Einfluss betraf die schon angedeutete kulturpolitische Dimension. Klein erkannte mit Chicago eine Wende. Während bisher amerikanische Studenten nach Deutschland gekommen waren, ohne dass dazu eine besondere Initiative von deutscher Seite ausgegangen sei, habe er nun mit seinem Auftreten aktiv geworben. Somit kann die Reise als Ausgangspunkt für eine aktive deutschamerikanische Wissenschaftspolitik interpretiert werden, die bis zu einem offiziellen Professorenaustausch führen sollte, den Klein vorbereiten half.140 Die vierte Einflusssphäre bezieht sich auf Maßnahmen, die dem Ausbau der Universität Göttingens dienten. Am 10. Dezember 1893 hatte Klein einen offiziellen ausführlichen Reisebericht an das Kultusministerium gesandt. Aus Althoffs umgehender kurzer Antwort gehen die eng verwobenen Aspekte hervor, die Klein im Folgenden voranbringen sollte: 136 137 138 139

Vgl. KOENIGSBERGER 1903, Bd. 3, 93-94. [BStBibl] Dyckiania, Klein an Dyck, 12.8.1894. Jahresbericht der DMV 4 (1897) 71-87; KLEIN 1923 GMA III, 482-97. Tageblatt der 67. Vers. d. Ges. Dt. Naturforscher und Ärzte in Lübeck (16.-21.9.1895), 9. https://epub.ub.uni-muenchen.de/11458/1/4H.lit.2300_67.pdf; FREI 1985, 111. 140 Vgl. BROCKE 1991, 185-242.

368

7 Weichenstellungen, 1892/93 – 1895 Berlin, den 12. Dezember 1893 Hochgeehrter Herr Professor! Ihre werthe Zuschrift vom 10.d.M. hat mich außerordentlich interessiert. Ich kann aber heute nur ganz kurz darauf antworten […]. Was Sie über das Frauenstudium schreiben, ist ganz meine Ansicht. In Betreff der Lehramtskandidaten werde ich mit den Herren von unserer Gymnasial-Abtheilung sprechen. Die Ausführungen über die Beziehungen zur Technik leuchten mir prima facie ein und Göttingen scheint mir auch zu einem Versuch in der von Ihnen befürworteten Richtung ganz geeignet. Aber das alles bedarf, wie Sie auch selbst sagen, noch eingehender Erwägung und läßt sich zudem nur ausführen, wenn die finanziellen Verhältnisse es gestatten. Personenfragen werden damit besser nicht in Verbindung gebracht. Im übrigen behalte ich mir vor, auf die Sache gelegentlich mündlich zurückzukommen. In vorzüglicher Hochachtung Ihr ganz ergebenster Althoff.141

Allerdings kam Althoff nicht von selbst darauf zurück. Klein musste aktiv werden. Um grünes Licht für sein individuelles Engagement zu erhalten, setzte er Althoff regelmäßig über Frauenstudium, Bezugnahme zur Technik, u.a. ins Bild. 7.6 ANFÄNGE DES MATHEMATISCHEN FRAUENSTUDIUMS142 Nachdem die durch Weierstraß geförderte Sofja Kowalewskaja in Göttingen 1874 die Doktorwürde in absentia mit der Höchstnote summa cum laude erlangt hatte, dauerte es 21 Jahre, bis die nächste Mathematikerin dank Felix Klein hier promoviert werden konnte. Es ist bisher weniger bekannt, dass Klein schon als junger Mann Kowalewskajas Ergebnisse geschätzt hatte: Was denkst Du über die Arbeit der Sophie Kowalewsky in Borchardt’s Journal? Sie beweist durch directe Reihenentwickelung die Existenz der Integrale, auch die Bestimmtheit innerhalb gewisser Gränzen. Das ist ja immer das Schlimme, dass so ein Integral M, unbegränzt gedacht, den ganzen R durchzieht; könnte man bei der Redaction nicht darauf bez. Bemerkung machen?143

Der Adressat dieses Briefes Sophus Lie integrierte keinen Hinweis auf Kowalewskaja – er wollte zeigen, dass seine Ergebnisse früher entstanden waren144 –, aber wir können hier ein Zeichen von Kleins Offenheit gegenüber jeder wissenschaftlichen Leistung erkennen. In Göttingen hatte es zwischenzeitlich nicht an gewissen Initiativen gefehlt, Frauen zu fördern. So gedachte gar H. A. Schwarz zu Beginn der 1880er Jahre, gemäß seinem Vorbild Weierstraß eine Amerikanerin privat weiterzubilden:

141 [UBG] Cod. Ms Klein 2 A: Bl. 1-2. 142 Vgl. hierzu detailliert TOBIES 1991/92; 1999b; 2019b. 143 [Oslo] Klein an Lie (8.7.1875); Kowalevsky, Sophie von: “Zur Theorie der partiellen Differentialgleichungen”. Journal für die reine und angewandte Mathematik 8 (1875) 1-32. 144 Lie, Sophus (1875): „Allgemeine Theorie der partiellen Differentialgleichungen erster Ordnung“. Math. Ann. 9, 245-96.

7.5 Reise(n) in die USA

369

Hier in Göttingen passirt nicht viel Neues. Das Interessanteste in mathematischer Beziehung ist wohl, dass wir seit Kurzem eine Collegin hier haben, welche sich bei Prof. Schwarz weiter ausbilden lassen will. Sie ist Amerikanerin, heißt Miss. Williams, gestern Abend lernte ich sie bei Prof. Schwarz kennen und wunderte mich sehr eine junge Dame von 22 – 26 Jahren zu finden, die einen nichts weniger als emancipirten Eindruck macht. Sodann war ich innerlich sehr beschämt, als ich hörte, dass Frl. Williams mit Behaglichkeit lateinische Abhandlungen liest, welche mir doch immerhin einige Unbequemlichkeit machen.145

Während sich Frauen in den USA bereits Zugang zu einigen Universitäten erkämpft hatten146, durften sie damals in Preußen keine Universität besuchen. Als Felix Klein im Juli 1891 eine Anfrage der US-Amerikanerin Ruth Gentry erhielt, ob sie bei ihm studieren dürfe, musste er bedauernd absagen. Auch die von Sylvester in Baltimore geförderte Christine Ladd-Franklin erhielt keine Erlaubnis, bei Klein hören zu dürfen. Sie war im Herbst 1891 mit ihrem Mann Fabian Franklin nach Göttingen gekommen (Vgl. 6.3.7.3). Der konservative Universitätskurator, Rechtswissenschaftler und Geh. Reg.-Rat Dr. Ernst von Meier, hatte den Studienwunsch mit dem folgenden Spruch an Klein brüsk zurückgewiesen: „Das ist schlimmer als die Sozialdemokratie, die nur den Unterschied des Besitzes abschaffen will. Sie wollen den Unterschied der Geschlechter abschaffen!“147 Als Heinrich Maschke am 8. April 1893 aus Chicago schrieb, ob Klein nicht in Göttingen erreichen könne, dass eine begabte Studentin zugelassen werde, wandte sich Klein direkt an das Kultusministerium mit der Bitte, seine geplante USA-Reise dafür nutzen zu dürfen, das mathematische Frauenstudium generell zu prüfen. Das Ministerium reagierte schnell, denn 1891 war das Thema aufgrund der erstarkten Frauenbewegung erstmals im Reichstag diskutiert worden. Althoff hatte am 20. Mai 1892 eine neue Akte mit dem Titel „Die von Personen des weiblichen Geschlechts nachgesuchte Zulassung zur Immatrikulation und zu den Vorlesungen bei den Königlichen Landesuniversitäten“ angelegt. Friedrich Schmidt(Ott) teilte Klein noch vor seiner USA-Reise am 30. Juli 1893 mit: Wegen des Frauenstudiums liegt die Sache, vertraulich gesagt, wie ich von Herrn G[eheim]R[at]. Althoff weiß, eigentlich jetzt schon so, daß wenn derartige Fragen hier nicht angeregt werden, von hier nicht hindernd eingegriffen wird. Bezüglich der Theilnahme an Vorlesungen wird sich dieser Usus auch eher befestigen, als eingeschränkt werden, und wenn Amerikanerinnen zu Studienzwecken herüberkommen, werden denselben umso weniger Schwierigkeiten gemacht werden können. Hr. GR. Althoff ist hierauf der Ansicht, daß Sie Ihre zahlreichen Verehrerinnen in Amerika nur, ohne zu fragen, herüberkommen lassen möchten.148

Die von Maschke empfohlene Mary Frances Winston, A.B. honory fellow of mathematics, University of Chicago, nahm am International Congress149, und auch am Evanston Colloquium teil. Als Klein in Chicago erfuhr, dass ihr Studium 145 146 147 148 149

[UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 937/3 (Hurwitz an Klein, 18.1.1883). Vgl. ROSSITER 1984; FENSTER/PARSHALL 1994. Klein Personalia 22 L, dokumentiert in JACOBS 1977, Bl. 6. TOBIES 1991/92, Zitat 154. Am Congress in Chicago nahm mit Charlotte C. Barnum eine weitere Frau teil, die 1895 als erste Mathematikerin an der Yale University promovieren sollte, MOORE et al. 1896, ix.

370

7 Weichenstellungen, 1892/93 – 1895

finanziell abgesichert ist150, schrieb er umgehend an Althoff, er möge mit dem Minister alles so vorbereiten, dass diese Frau „trotz noch ausstehender gesetzlicher Regelung der Sache“ als Hospitantin zum Wintersemester 1893-94 zugelassen werde. Klein betonte, dass er sich mit seinen Mitdirektoren des mathematischphysikalischen Seminars einig weiß und dass Winston bei Bolza und Maschke als „der beste mathematische Student der Chicagoer Universität“ gilt. Die negative Haltung des Kurators von Meier erwartend, fügte Klein hinzu: Ich möchte Sie bitten über die Sache dem Herrn Minister eventuell derart vorzutragen, dass Hr. Curator v. Meier Gelegenheit hat, seine entgegenstehende Ansicht frühzeitig zur Geltung zu bringen und in keiner Weise den Eindruck erhält, als habe ich ihn umgehen wollen.151

Klein war noch unterwegs, als drei Frauen in Göttingen eintrafen, um Mathematik (Mary F. Winston; Grace E. Chisholm152) bzw. Physik (Margaret E. Maltby153) zu studieren. Felix Kleins Frau Anna kümmerte sich um sie, integrierte sie in die Familie, führte sie durch die Stadt und in die Universität, wo sie Kleins damaliger Assistent Ernst Ritter übernahm. Aus den USA zurückgekehrt, veranlasste Felix Klein die offiziellen Bewerbungsschreiben für die Frauen. Obgleich Kurator Ernst von Meier das Weiterleiten nach Berlin am 21. Oktober 1893 mit dem Satz begleitete, er hielte es „[…] für sehr bedenklich, die bestehenden Bestimmungen zu Gunsten von drei Ausländerinnen […] zu durchbrechen“, entschied das Ministerium binnen fünf Tagen positiv.154 Dies war nur eine von mehreren Angelegenheiten, bei denen sich der Göttinger Universitätskurator übergangen fühlte. Er legte im Februar 1894 sein Amt nieder, weil er „[…] das Regiment der von Althoff begünstigten ‚Nebenkuratoren’ Lexis und Klein leid war.“155 Mit dem schon erwähnten Nachfolger Ernst Höpfner konnte Klein einvernehmlich agieren. Die Mitarbeit der Frauen in Kleins Seminaren, ihre wachsende Zahl aus verschiedenen Ländern, USA, Großbritannien, Russland u.a., die Wege der studierenden Frauen, Kleins Anregungen zu weiterführenden Arbeiten, ist inzwischen gut untersucht.156 Hier sei Kleins generelles Verhalten hervorgehoben. Erstens. Die in Kleins Veranstaltungen sitzenden Frauen besaßen zunächst den Status der Hörerin (bzw. Hospitantin). Das bedeutete, jede Frau musste jeden Professor einzeln um Erlaubnis fragen und die Zulassung beim Ministerium beantragen. Klein half mehrfach persönlich, die Anträge zu formulieren. Noch während seiner Amtszeit als Dekan 1894/95 nahm die Zahl studierwilliger Frauen jedoch derart zu, dass das Ministerium den Zulassungsbescheid den Universitäten überließ und nur noch Listen der Zugelassenen erbat. Während Klein noch 1893 150 Geld von Christine Ladd-Franklin und ihrer eigenen Familie, PARSHALL/ROWE 1994, 243. 151 Klein an Althoff, Briefentwurf v. 12.9.1893 [UBG] Cod. Ms F. Klein 1 C2: 70, Bl. 80R. 152 Chisholm kam auf Empfehlung von Andrew R. Forsyth aus Cambridge, der früh Kleins Arbeiten zur nichteuklidischen Geometrie geschätzt hatte (vgl. Abschnitt 2.8.2). 153 Malty promovierte mit einem von Walther Nernst angeregten Thema Methode zur Bestimmung grosser elektrolytischer Widerstände (Göttingen 1895). 154 Vgl. TOBIES 1991/92, 154-55. 155 BROCKE 1980, 70. 156 Vgl. TOBIES 1991/92, 1999, 2019b.

7.5 Reise(n) in die USA

371

das englische System (extra Colleges für Frauen innerhalb der Universität) befürwortete, trat er schließlich für die Immatrikulation von Frauen und deren gleichberechtigte Teilnahme an den regulären Universitätsveranstaltungen ein. Denn in seinen Veranstaltungen beteiligten sich die Frauen inzwischen genauso wie die Männer. Preußen als größtes deutsches Land mit dem meisten Universitäten verfügte am 18. August 1908 einen Erlass, der die volle Immatrikulation der Frauen erlaubte. Die Bundesstaaten Baden (1900), Bayern (1903), Württemberg (1904), Sachsen (1906), die sächsisch-ernestinischen Staaten (1907), Hessen (29.5.1908) waren bereits vorausgegangen. Es folgte nur noch Mecklenburg (1909).157 Zweitens. Klein betrachtete mathematische Leistung unabhängig vom Geschlecht, während es deutschlandweit noch zahlreiche Gegner des Frauenstudiums gab, wenn auch kaum unter Mathematikern. Das Buch Die akademische Frau (1897) enthält Aussagen von Repräsentanten aller Disziplinen, mit Befürwortern, Gegnern und Personen, die für Ausnahmeregelung plädierten . Zu Letzteren gehörte Max Planck, der den schon häufiger zitierten Spruch formulierte: „Amazonen sind auch auf geistigem Gebiet naturwidrig“. D.h. für ihn war es wider die Natur von Frauen, sich mit Wissenschaft zu befassen oder Waffen zu tragen (wie die Amazonen in der griechischen Mythologie). Felix Klein antwortete dagegen eindeutig positiv auf die Frage, was er vom akademischen Frauenstudium halte: Ich antworte um so lieber auf die Frage, als die in Deutschland noch immer herrschende Ansicht, daß jedenfalls die mathematischen Studien der Damen so gut wie unzugänglich sein müssen, ein wesentliches Hemmnis aller auf Entwicklung des höheren weiblichen Unterrichts gerichteten Bestrebungen sein dürfte. Dabei beziehe ich mich nicht auf außerordentliche Fälle, die als solche nicht viel beweisen, sondern auf den Durchschnitt unserer Göttinger Erfahrungen. Ich will auch hier nicht weit ausholen, sondern nur anführen, daß beispielsweise in diesem Semester nicht weniger als sechs Damen an unseren höheren mathematischen Kursen und Übungen teilnahmen und sich dabei fortgesetzt ihren männlichen Konkurrenten in jeder Hinsicht als gleichwertig erwiesen. Der Natur der Sache sind dies einstweilen noch ausschließlich Ausländerinnen: zwei Amerikanerinnen, eine Engländerin, drei Russinnen; – daß aber die fremden Nationen von Hause aus eine spezifische Begabung haben sollen, die uns abgeht, daß also unsere deutschen Damen bei geeigneter Vorbereitung nicht sollten dasselbe leisten können, wird wohl kaum jemand behaupten wollen.158

Die erkannte fehlende „Vorbereitung“ an den deutschen Mädchenschulen sollte Klein Anlass sein, sich später auch hierfür zu engagieren (vgl. 8.3.4.2). Drittens. Klein, der mehr als fünfzig Personen zur Promotion führte, erreichte, dass seine Doktorstudentinnen Grace E. Chisholm und Mary F. Winston ihre Dissertationen in der Zeit vollendeten, als er gerade Dekan war. Er lancierte das Thema Befähigung der Frau in die Tagespresse. Als Grace Chisholm die Urkunde erhalten hatte (Winston musste etwas länger warten, da das Publizieren der Dissertation weniger schnell erfolgte), erschien in der Göttinger Zeitung eine Notiz: (Vom Studium der Damen). […] „Unter der Regierung unseres allergnädigsten Kaisers und Herrn, Wilhelm 2., usw., unter dem Prorectorate von H. Schultze u.s.w., habe ich Felix Klein, zeitiger Decan der philosophischen Facultät und rechtmäßig bestellter Promotor, die gelehrte 157 Zu den genauen Daten vgl. TOBIES 2008c, 25-26. 158 KIRCHHOFF 1897, 241 (Max Plancks Aussage, 256).

372

7 Weichenstellungen, 1892/93 – 1895 Jungfrau Grace Emily Chisholm aus London, welche durch die von ihr herausgegebene Dissertation ‚Gruppen theoretisch-algebraische Untersuchungen über sphärische Trigonometrie’ und durch die bestandene Prüfung ihre Kenntnisse in der Mathematik, Physik und Astronomie mit Auszeichnung nachgewiesen hat, am 22. Juni 1895 zum Doctor der Philosophie und Meister der freien Künste ernannt und das zur Urkunde dieses Diplom mit dem Siegel der philosophischen Facultät ausfertigen lassen.“ Der Erfolg des Studiums der Dame, der hierdurch bekundet wird, ist auch sonst von den Universitätslehrern bezeugt worden. In diesem Sommersemester studiren hier 14 Damen gegen fünf im vorigen Winter.159

Viertens. Klein war beispielgebend für Kollegen und Schüler. Hilbert trat in diese Fußstapfen, führte insgesamt 69 Personen zur Doktorwürde, darunter sechs Frauen.160 Auch Adolf Hurwitz und Heinrich Burkhardt in Zürich, Wilhelm Wirtinger und Philipp Furtwängler in Wien, Georg Pick in Prag, Virgil Snyder an der Cornell University in den USA, und Max Winkelmann an der Universität in Jena promovierten an ihren Institutionen die ersten Frauen.161 Kleins Doktorschüler Johannes Schröder förderte als Hamburger Gymnasialprofessor unvoreingenommen Mädchen im Mathematikunterricht und betonte: Früher bestand lange Zeit das Vorurteil, dass Frauen die Beanlagung für mathematisches Denken gänzlich fehle, ihre weibliche Eigenart ziehe sie mehr zu einer Beschäftigung mit literarischen, sprachlichen, historischen und ethischen Fragen als zur streng logischen Denkbetätigung, wie sie nun einmal die Mathematik von jeher erfordert. Treffend hat u.a. [Felix] Klein darauf aufmerksam gemacht, wie unberechtigt und haltlos die Ansicht ist, dass Frauen die Mathematik nicht liege.162

Fünftens. Die Zulassung zum Studium und zur Promotion war für Frauen nicht die einzige zu nehmende Hürde. Sogar das Lehramtsstaatsexamen für höhere Schulen war ihnen zunächst verwehrt. Als Klein seinen ehemaligen Studenten Wilhelm Lorey beauftragte, einen Artikel zum Thema „Die mathematischen Wissenschaften und die Frauen“ zu verfassen, gab er den Rat, dass er die Frauen erwähnen solle, die inzwischen „den Oberlehrer in Mathematik abgelegt haben“. Klein schrieb explizit, dass Thekla Freytag „als erste die ganzen Schwierigkeiten (in Berlin) durchgekämpft hat“. Es hatte mehrere Anträge erfordert, bevor die Genehmigung zur Prüfung 1905 erteilt worden war.163 Dass die Habilitation, Voraussetzung für eine Professur an einer deutschen Universität, nicht mehr an das männliche Geschlecht gebunden war, wurde erst

159 Göttinger Zeitung, 2.8.1895, zitiert nach Elisabeth MÜHLHAUSEN 1993, 196. 160 Vgl. TOBIES 1999b. 161 Zu Georg Picks Wirken vgl. Martina BEČVÁŘOVÁ 2015; 2016; zu Max Winkelmann TOBIES/ VOGT 2014 und BISCHOF 2014. 162 Schröder, J. (1913): Die neuzeitliche Entwicklung des mathematischen Unterrichts an den höheren Mädchenschulen Deutschlands (Abhandlungen des Mathematischen Unterrichts in Deutschland, veranlasst durch die IMUK, hg. v. F. Klein), Bd. I, H. 5. Leipzig/Berlin: B. G. Teubner. – Schröder hatte 1890 zum Thema „Über den Zusammenhang der hyperelliptischen σ und δ Funktionen“ bei Klein promoviert (vgl. Abschnitt 6.3.2). 163 Karte Kleins an Lorey, zitiert in TOBIES 2008c, 25; Lorey, W. (1909): „Die mathematischen Wissenschaften und die Frauen. Bemerkungen zur Reform der höheren Mädchenschule“. Frauenbildung 8, 161-78. Zu Thekla Freytag vgl. TOBIES 2017b.

7.7 Studienfach Versicherungsmathematik

373

mit einer gesetzlichen Regelung vom 21. Februar 1920 aufgehoben.164 Der Versuch Göttinger Mathematiker, für Emmy Noether eine Ausnahme zu erreichen, war 1915 und 1917 gescheitert. Es bedurfte eines dritten Anlaufes, den Klein maßgeblich in Gang brachte (vgl. Abschnitt 9.2.2), sodass sich Emmy Noether noch 1919, vor der offiziellen Regelung, als erste Mathematikerin in Deutschland habilitieren konnte.165 7.7 STUDIENFACH VERSICHERUNGSMATHEMATIK166 Wilhelm Lorey überlieferte, dass Klein vom Betrieb der seit 1843 in New York gegründeten Mutual Life Insurance Company und von Emory McClintock’s Arbeiten beeindruckt gewesen sei.167 Diese Versicherungsgesellschaft besaß seit 1886 auch Agenturen in Europa (Berlin, Hamburg, London); und McClintock gehörte dieser Gesellschaft in New York von 1889 bis 1911 an. Als Felix Klein 1893 durch die New York Mathematical Society empfangen worden war (Abschnitt 7.5.3), war McClintock deren Präsident. Zurückgekehrt aus den USA, fand Klein das Thema Versicherungsmathematik virulent. Sowohl in Deutschland als auch in Österreich interessierten sich staatliche Behörden und die gewachsene Zahl von Versicherungsgesellschaften dafür, die Ausbildung von Versicherungssachverständigen zu regeln. In Wien beauftragte das Unterrichtsministerium 1893 den Mathematiker Leopold Gegenbauer mit einem Gutachten dazu. Gegenbauer veranlasste Ludwig Kiepert – der neben seiner Professur an der TH Hannover als Direktor einer Versicherungsgesellschaft fungierte – auf der Wiener DMV-Versammlung 1894 einen Vortrag „Über die mathematische Ausbildung von Versicherungstechnikern“ zu halten.168 Kiepert begründete, warum eine universitäre Ausbildung dafür notwendig sei. Klein initiierte noch in Wien über seinen Hallenser Kollegen Albert Wangerin, dass der Nationalökonom Robert Friedberg, Abgeordneter der Nationalliberalen Partei, das Thema ins preußische Parlament brachte. Daraufhin wurden außerordentlich schnell Gelder bereitgestellt, sodass Althoff, Klein, Kiepert und der Kurator Ernst Höpfner bereits am 5. September 1895 in Göttingen ein Seminar Versicherungstechnik besiegelten. Es trat am 1. Oktober 1895 unter Leitung von Wilhelm Lexis ins Leben, der neben seiner Professur für Volkswirtschaftslehre in Göttingen (seit 1887) im Jahre 1893 zugleich als Althoffs Mitarbeiter im Kultusministerium verpflichtet worden war. Lexis wurde vor allem durch seine Dispersionstheorie über die Varianz statistischer Quoten bei zeitlichen Schwankungen

164 165 166 167

[StA Berlin] Rep. 76 Va Sekt. 1, Tit. VIII Nr. 8, Adh. III, Bl. 162. Vgl. hierzu TOLLMIEN 1990; zu Noethers Arbeiten und ihrer Schule auch KOREUBER 2015. Vgl. detailliert TOBIES 1990b; 1992b.. Vgl. McClintock, E. (1892): On the effects of selection: An actuarial essay. University of Michigan. – Lorey, W. (1950): „Die Bedeutung von Pierre Simon Laplace und Felix Klein für die Versicherungsmathematik“. Blätter Dt. Ges. Vers.-Math., Würzburg, 1, 39-50, bes. 45. 168 Jahresbericht der DMV 4 (1897) 116-21. – Zu Kiepert und Klein vgl. Abschnitt 2.5.2.

374

7 Weichenstellungen, 1892/93 – 1895

bekannt.169 Klein, der einen Nachruf auf Lexis schrieb, bezeichnete diesen aufgrund seines mathematischen Herangehens als „Neubegründer der mathematischen Statistik“.170 Das deutschlandweit zweite derartige Seminar entstand 1896 in Sachsen, an der TH Dresden.171 Das Göttinger Seminar umfasste eine mathematische und eine administrative Klasse. Es sollten Mathematiker und höhere Verwaltungsbeamte für das öffentliche und private Versicherungswesen ausgebildet werden.172 Die Kandidaten hatten Prüfungen in „Versicherungsrechnung, Versicherungs-Oekonomik und –Statistik, theoretischer und praktischer Nationalökonomie“ abzulegen, wobei die Absolventen der mathematischen Klasse zusätzlich in Mathematik, die der administrativen Klasse zusätzlich in Versicherungsrecht geprüft wurden. Klein bewog den Privatdozenten Georg Bohlmann, Versicherungsmathematik zu lehren, und übernahm selbst ab 29. Februar 1896 die Examen in „reiner Mathematik“.173 Der durch Klein geförderte Bohlmann hatte in Berlin studiert, aber die dort verpönte Liesche Gruppentheorie für seine Dissertation herangezogen. Deshalb hatte er die Arbeit 1892 in Halle eingereicht und war 1894 Kleins Angebot gefolgt, sich in Göttingen zu habilitieren. Da der Zulauf zu Bohlmanns versicherungsmathematischen Veranstaltungen zunächst gering war, lenkte Klein seinen eigenen Studenten Wilhelm Lorey erfolgreich in diese Richtung.174 Klein gewann Bohlmann als Autor für die ENCYKLOPÄDIE (Bd. I, Lebensversicherungs-Mathematik, 1901), integrierte ihn in einen Ferienkurs für Oberlehrer (Ostern 1900) und sorgte auch dafür, dass er ein Stipendium sowie den Professorentitel erhielt. Als der oben erwähnten Berliner Filiale der Mutual Life Insurance Company der Entzug der Konzession drohte, erbat der preußische Innenminister ein Gutachten von Klein. Klein sagte mit Schreiben vom 27. Juni 1897 zu und erwirkte die Mitarbeit von Lexis und Bohlmann.175 Das Gutachten führte zum Fortbestehen der Filiale. Klein erhielt am 21. November 1899 „in Anerkennung seiner verdienstvollen Thätigkeit bei der Abgabe versicherungstechnischer Gutachten den Königlichen Kronenorden zweiter Klasse“.176 Bohlmann wechselte 1903 zu dieser Versicherungsgesellschaft, da er noch immer keine aus dem Staatshaushalt finanzierte Professur erhalten hatte. Dank Kleins Initiativen erwuchs aus dem Lehrgebiet Versicherungsmathematik schließlich doch noch eine verbeamtete Professur.177 Zunächst lehrte der Ast169 Dargestellt in Bd. 1.2 der ENCYKLOPÄDIE durch Lexis’ Schüler Laudislaus von Bortkiewicz „Anwendungen der Wahrscheinlichkeitsrechnung auf Statistik“ (1901). 170 KLEIN 1914a, 315. 171 Vgl. VOSS 2003. 172 Statuten des Seminars, [UBG] Cod. Ms. F. Klein I C2: Bl. 108., abgedruckt in TOBIES 1990b. 173 [UBG] Cod. Ms. F. Klein A 1: 10, Nr. 867; Klein in JACOBS 1977, Personalia 22L, Bl. 7. 174 Vgl. Tobies 1990b; SCHNEIDER 1989, S. 355; Krengel, U. (2011): “On the contributions of Georg Bohlmann to Probability Theorie”. Electronic Journal for the History of Probability and Statistics 7, N. 1, 1-13. 175 Zur Arbeitsteilung und zu Berichten dazu vgl. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 7K. 176 [UAG] Kur. 5956 (Personalakte Klein), Bl. 143. 177 Vgl. hier und im Folgenden TOBIES 1992b.

7.8 Kontaktaufnahme mit Ingenieuren und Industriellen

375

ronom Martin Brendel das Gebiet. Im Oktober 1907 veranlasste Klein, dass sich Felix Bernstein von Halle nach Göttingen umhabilitierte und dem Gebiet erfolgreich widmete. Aus dessen Lehrauftrag wurde 1909 ein Extraordinariat für Versicherungsmathematik, mathematische Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung. Im Jahre 1911 erreichten Klein und Lexis, dass Versicherungsmathematik als Wahlfach für angewandte Mathematik in die Prüfungsordnung für Lehramtskandidaten aufgenommen wurde. Um das Forschungsfeld zu unterstützen, veranstaltete Klein mit Bernstein im Sommer 1911 ein Seminar „Versicherungs-Mathematik“ mit einem breiten Programm.178 Obgleich Felix Bernstein im Folgenden einige eigenwillige Wege beschritt, entstand 1918 in Göttingen ein eigenes Institut für mathematische Statistik. Als er am 7. Juni 1919 seine Ernennung zum Ordinarius selbst beantragte, lehnte dies die mathematisch-naturwissenschaftliche Abteilung der Philosophischen Fakultät zwar ab. Felix Klein und David Hilbert verwendeten sich jedoch in persönlichen Schreiben für Bernstein, ebenso unterstützten Richard Courant und Carl Runge das Anliegen, sodass der Ruf unter den neuen politischen Bedingungen der Weimarer Republik zum 13. Oktober 1921 verfügt wurde. Das Argument, dass „den Studierenden der Mathematik gerade unter jetzigen Zeitumständen alle Wege zum Ergreifen für sie geeigneter freier Berufe offen zu halten (oder auch neu zu eröffnen)“ seien,179 hatte Klein schon seit Beginn der 1890er Jahre benutzt. 7.8 KONTAKTAUFNAHME MIT INGENIEUREN UND INDUSTRIELLEN Klein hatte in Reden und Denkschriften wiederholt den Bezug zur Technik angemahnt. In den USA war ihm vor Augen geführt worden, wie an Universitäten ein Ingenieurstudium funktionieren konnte und wie dies durch private Mittel gefördert wurde. So wollte er auch in Göttingen physikalische Forschung durch Probleme der technischen Praxis beleben und umgekehrt das praktische „Maschinenwesen mit dem mathematisch-physikalischen Geiste des geschulten Theoretikers“ durchdringen lassen.180 Als Nahziel formulierte er ein Institut für technische Physik, was er bereits im Gespräch mit Helmholtz auf der Schiffsreise angedeutet hatte. Klein hatte dies im Reisebericht an Althoff näher begründet, der allerdings auf die fehlenden Finanzen verwies. Eine Verzahnung mit Technik gab es damals an keiner deutschen Universität. Auch an den Technischen Hochschulen wurden erst in der Folgezeit größere Laboratorien für technische Physik etabliert.181 178 [Protokolle] Bd. 28. Sieben Teilnehmer, darunter der noch unpromovierte polnische Mathematiker Stefan Masurkiewicz (Vortrag zur Weiterentwicklung der Dispersionstheorie) und Arthur Rosenthal (Vortrag zur Biometrik). – Zur „Prüfungsordnung“ vgl. Abschnitt 8.1.2 179 Klein an das Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, am 18.8.1919, abgedruckt in TOBIES 1992b, 23-24. 180 KLEIN 1923a Autobiographie, 26-27. 181 Carl Linde betonte, dass an der TH München ein neues Labor für technische Physik, das Theorie und Experiment bewusst kombinierte, durch Kleins initiierte Bewegung entstand, die sein Schüler Walther Dyck dort förderte. LINDE 1984, 126; auch HASHAGEN 2003, 301-16.

376

7 Weichenstellungen, 1892/93 – 1895

Obgleich Klein später Friedrich Althoff eine maßgebliche Rolle beim Aufbau des Zentrums von Mathematik, Naturwissenschaften und Technik in Göttingen zuschrieb,182 dokumentieren die Quellen, dass Klein selbst zu einem Motor in dieser Zeit des Strukturwandels im deutschen Hochschulwesen wurde. Angesichts der beschränkten Staatsfinanzen, verbunden mit niedrigen Steuern und hohen Rüstungsausgaben, sowie gewachsener Kosten für die apparative Ausstattung naturwissenschaftlich-technischer Einrichtungen sahen sich staatliche Instanzen außer Stande, überall gleichmäßig zu entwickeln.183 Bei einem Spaziergang Kleins am Neujahrstage 1894 mit seinem Bruder Alfred184, der als Rechtsanwalt Kontakt mit dem Funktionär der Schwerindustrie Emil Schrödter besaß, entstand die Idee zu einem Comité, wovon Althoff mit Brief vom 24. März 1894 erfuhr: Ich bin ein paar Tage in meiner Heimath gewesen und habe da der Sache eine Wendung gegeben, über die ich umgehend berichten muß. Von der Ueberzeugung ausgehend, daß die Industrie selbst an der Sache das grösste Interesse haben muß, bin ich mit hervorragenden Fachmännern in Verbindung getreten, und es ist mir gelungen, ein Comité zusammenzubringen, welches sich den Zweck stellt, uns materiell zu unterstützen.185

Zum Comité gehörten: Dr.-Ing. Emil Schrödter (Düsseldorf), Geschäftsführer des Vereins deutscher Eisenhüttenleute, Henry Theodor Böttinger (Elberfeld); Dr. Wilhelm Beumer (Düsseldorf), Generalsekretär des „Vereins zur Wahrung der gemeinsamen Interessen in Rheinland und Westfalen“; Prof. Otto Intze (TH Aachen); Adolph Kirdorf, Direktor Rothe Erde bei Aachen (ehemaliger Mitschüler Kleins); Fritz Asthöwer (Essen), technischer Direktor der Firma Krupp. Klein versuchte die Geldgeber für konkrete Forschungsziele zu gewinnen: Es handelt sich um die physikalischen Eigenschaften (Elasticität, Festigkeit etc.) zunächst der Krystalle, dann überhaupt der festen Körper, in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit und in ihrer Beziehung zur chemischen Constitution. Hierfür will ich von den Herren, auf 5 Jahre repartirt, 100.000 Mark haben. Das wäre natürlich nur der Anfang; Weiteres müsste folgen, sobald ein erster Erfolg vorliegt.

Das Geld floss jedoch nicht sofort. Erbeten durch Althoff erarbeitete Klein 1894 weitere Denkschriften für ein zu gründendes Universitätsinstitut für technische Physik. Althoff unterstützte Zusammenkünfte mit Industriellen in Berlin, verhielt sich jedoch vorsichtig abwartend. Er sandte Kleins Denkschriften an Kollegen im Ministerium und an Technikwissenschaftler, bei denen die Pläne auf heftigen Widerstand stießen. Kleins Wortwahl, er wolle an der Universität „Generalstabsoffiziere der Technik“ ausbilden, was das Ausbilden des Fußvolkes von Ingenieuren („Frontoffiziere“ – wie er es nannte) an den Technischen Hochschulen intendierte, sahen Hochschulingenieure als Erniedrigung und die Göttinger Pläne als Konkurrenz. Die heftigen Auseinandersetzungen sind von MANEGOLD (1970) und HENSEL (1989) analysiert worden. An der Universität gewann Klein zwar seinen Freund Eduard Riecke schnell als Befürworter; andere brauchten länger, um ihren 182 183 184 185

KLEIN 1923a Autobiographie, 24-25. Vgl. insbesondere die Analysen in BROCKE 1980; 1991. [UBG] Math.Archiv 51, Bl. 45. Vgl hier und das folgende Zitat: Klein an Althoff, 24.3.1894, zitiert in TOBIES 1991c, 98-99.

7.8 Kontaktaufnahme mit Ingenieuren und Industriellen

377

Vorwurf des Amerikanismus, die Angst vorm Beeinträchtigen wissenschaftlicher Ziele oder vor Abhängigkeit von der Industrie beiseite zu legen. Mit Hilfe seines Duzfreundes Carl Linde (vgl. Abschnitt 4.3.1) konnte Klein schließlich Weichen stellen. Er schrieb im September 1894 an Linde: In der Tat habe ich einen großen Plan mit Dir durchzusprechen. Es handelt sich darum, an hiesiger Universität ein Laboratorium für angewandte Physik einzurichten, in welchem in ähnlicher Weise Versuchsreihen auszuführen wären wie in verschiedenen Laboratorien des Münchner Polytechnikums, für welches anderseits aber unsere Vorlesungen über Mathematik und mathematische Physik eine Anlehnung bilden müßten. Ich suche dafür nicht nur die direkte Bezugnahme mit der Industrie, sondern geradezu deren materielle Unterstützung. Schon diese wenigen Zeilen werden genügen, um Dir zu sagen, daß es sich dabei um ein Projekt handelt, dessen Wurzeln in die Zeit zurückgehen, die ich mit Dir in München zubrachte, und das anderseits bestimmt ist, gewisse Einseitigkeiten, die der heutigen Einrichtung der Universitäten anhaften, im Interesse aller Beteiligten zu überwinden.186

Carl Linde antwortete sofort zustimmend. Er gehörte 1895-96 dem Vorstand des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI) an und empfahl Klein den Kontakt dorthin. So wurde Klein Mitglied des VDI und fand bei dessen Aachener Jahresversammlung im August 1895 weitere Förderer seiner Pläne (vgl. 8.2). Linde half, einen sog. „Aachener Frieden“ mit Klein herbeizuführen. Das verpflichtete Klein jedoch, auf eine Ingenieurausbildung zu verzichten und sein Bestreben darauf zu beschränken, „[…] künftigen Lehrern der Mathematik und Physik an höheren Schulen Einblick in die Anwendung dieser Disziplinen auf technischem Gebiete zu geben und den Chemikern, Juristen und Landwirten eine Grundlage für das Verständnis der Aufgaben zu bieten, welche für diese Berufe aus der heutigen Bedeutung der Industrie erwachsen“.187 Am 6. Dezember 1895 erklärte Klein seine Ideen auch mit einem Vortrag im Hannoverschen Bezirksverein des VDI.188 Neben Linde erwies sich der in England aufgewachsene kaufmännische Leiter der Elberfelder Farbenfabriken Henry Theodor Böttinger als wichtiger Mäzen. Böttinger half 1894, einen an Walther Nernst ergangenen Ruf nach München abzuwenden. Nernst war seit 1891 Extraordinarius für physikalische Chemie und Elektrochemie in Göttingen, hatte schon herausragende Ergebnisse (Nernst-Gleichung; Nernstsches Verteilungsgesetz) in der theoretischen Chemie erzielt und schrieb gerade mit Arthur Schönflies – angeregt durch Klein – ein Lehrbuch Einführung in die mathematische Behandlung der Naturwissenschaften189. Böttinger war an einer Reform der Chemikerausbildung interessiert und hatte Nernst schon 1894 als Gründungsmitglied der Deutschen Elektrochemischen Gesellschaft erlebt. Klein fuhr als damaliger Dekan zu Althoff nach Berlin, um Nernsts Bedeutung für Göttingen zu unterstreichen. Abgestimmt mit Althoff stellte Böttinger 186 Zitiert nach LINDE 1984, 134. 187 Ebd., 135; vgl. auch LUDWIG/KÖNIG 1981, 148-49. 188 [UAG] Kur. 5956, Bl. 97-101; Klein, F.: „Über den Plan eines physikalisch-technischen Instituts an der Universität Göttingen“. Zeitschrift des VDI 40 (1896). 189 Nernst, W.; Schönflies, A.: Einführung in die mathematische Behandlung der Naturwissenschaft. Kurzgefasstes Lehrbuch der Differential- und Integralrechnung mit besonderer Berücksichtigung der Chemie. München & Leipzig: Dr. E. Wolff, 11895, 111931.

378

7 Weichenstellungen, 1892/93 – 1895

schließlich persönlich Gelder bereit, damit für Walther Nernst sofort ein Ordinariat und ein Institut für physikalische Chemie geschaffen werden konnten. JosefWilhelm KNOKE (2016) erhellte in seiner quellenbasierten Dissertation, dass Böttinger nicht ganz uneigennützig handelte: Er sicherte sich die Verwertungsrechte über künftige Erfindungen des späteren Nobelpreisträgers Nernst.190 Althoff und Linde trugen bei, dass sich Böttinger weiterhin für die Kleinschen Ideen engagierte.191 Bevor die Allianz von Wissenschaft, Industrie und Staat unter Böttingers Vorsitz noch enger geschmiedet sein sollte (vgl. 8.1.1), stifteten Böttinger (10.000 M), Linde (5.000 M) und der Münchener Lokomotivfabrikant Georg Krauß (5.000 M) Mittel, um erstmals ein Universitäts-Institut für technische Physik auf den Weg zu bringen. Den Stiftern Böttinger und Linde wurde im Juni 1896 mit der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Göttingen gedankt.192 Für das neue Institut hatte Klein zunächst Carl Linde als Institutsdirektor gewünscht. Linde versprach zwar zu unterstützen, begründete jedoch ausführlich, dass er wegen seiner Versuchsstation mit unbegrenzten Mitteln, seiner ungebrochenen „Erfinderlust“ und aus familiären Gründen an München gebunden sei.193 Als erster Direktor für das Göttinger Institut für technische Physik wurde Ende 1896 der Münchener Privatdozent Richard Mollier berufen. Er erhielt eine a.o. Professor für (landwirtschaftliche) Maschinenlehre, begann zu lehren und das Institut einzurichten. Allerdings folgte er bereits ein Jahr später einem Ruf an die TH Dresden (Nachfolge Gustav Zeuner). Auch Eugen Meyer, der nun das Göttinger Extraordinariat erhielt, widerstand dem verlockenden Angebot einer Professur an der TH Berlin nicht. Um eine gute langfristige Besetzung der Position zu erhalten, bedurfte es in Göttingen weiterer finanzieller Mittel sowie Kleins Personalpolitik, für die neuen angewandten Gebiete ordentliche Professuren zu erreichen (vgl. Abschnitt 8.1) 7.9 KLEINS ENGAGEMENT FÜR DIE BERUFUNG VON DAVID HILBERT Hilbert hatte 1892 als Hurwitz’ Nachfolger das Extraordinariat und 1893 als Lindemanns Nachfolger das Ordinariat an der Universität Königsberg erhalten. Klein signalisierte Althoff seine Genugtuung darüber und hielt Hilbert weiterhin für den aufstrebenden Mathematiker, der ihm seine neuen Resultate zur Publikation in den Mathematischen Annalen oder in den Göttinger Nachrichten sandte. Hilbert studierte auch die ihm zugeschickten Vorlesungen Kleins über Höhere Geometrie, benutzte sie in eigenen Lehrveranstaltungen und schickte etliche Korrekturen dazu an Klein, den er immer noch mit „Hochgeehrter Herr Professor“ anredete.194

190 191 192 193 194

KNOKE 2016, 148-50. LINDE 1984, 136. LINDE 1984, 137; TOBIES 1991c, 101-102. Linde an Klein, Brief v. 7.7.1895, abgedruckt in LINDE 1984, Anhang o.S. Hilbert an Klein, 14.2.1894, in FREI 1985, 106-108.

7.9 Kleins Engagement für die Berufung von David Hilbert

379

In Göttingen wurde der Weg für David Hilbert frei, als Heinrich Weber zum Sommersemester 1895 einen Ruf als Nachfolger von Elwin Bruno Christoffel an der Universität Straßburg annahm. Klein, Dekan der Philosophischen Fakultät in Göttingen, hatte Hilbert schon am 6. Dezember 1894 darüber informiert: Sie wissen vielleicht noch nicht, dass Weber nach Strassburg geht. Heute Abend noch treten wir desshalb in der Facultät zusammen, und so wenig ich dem Resultate der Berathung der zu ernennenden Comission vorgreifen kann, so will ich Ihnen doch mitheilen, dass ich mir alle Mühe geben werde, in erster Linie Niemanden anders als Sie herzubringen. Sie sind der Mann, den ich als wissenschaftliche Ergänzung brauche: vermöge der Richtung Ihrer Arbeiten und der Kraft Ihres mathematischen Denkens, und insofern Sie noch mitten in Ihrer productiven Periode stehen. Ich rechne, dass Sie der hiesigen mathematischen Schule, die sich ja aeusserlich fortschreitend entwickelt hat und, wie es scheint, noch sehr viel weiter wachsen wird, einen neuen inneren Gehalt bieten und vielleicht auf mich selbst eine verjüngende Wirkung ausüben werden. […] ich kann ja nicht wissen, ob ich in der Facultät durchdringe und noch weniger, ob schliesslich von Berlin die Berufung erfolgt, wie wir sie beantragen. Aber das Eine müssen Sie mir schon heute versprechen, dass Sie den Ruf, wenn er an Sie kommt nicht abschlagen!195

Hilbert versprach, ohne Besinnen und mit grosser Freude zu kommen.196 Der Berufungskommission gehörten an: Felix Klein, Heinrich Weber, Ernst Schering; die Physiker Woldemar Voigt und Eduard Riecke; der Astronom Wilhelm Schur; und der Theologe Rudolf Smend als Vertreter der philologisch-historischen Sparte.197 Sie verabschiedeten am 13. Dezember 1894 einstimmig eine Zweierliste mit Hilbert und Hermann Minkowski. Althoff regelte die Angelegenheit schnell. Klein erfuhr am 19. Dezember 1894 von Hilbert, dass er Althoffs Angebot, 4600 Mark Gehalt, Wohnungsgeldzuschuss und Umzugskosten, umgehend angenommen habe.198 Das war weniger als die Hälfte des Jahresgehalts, das Klein damals bezog. Minkowski erhielt Hilberts Königsberger Ordinariat, wechselte aber bereits ein Jahr später nach Zürich. Die wiederum freie Stelle in Königsberg übernahm Franz Meyer (Clausthal), sodass dessen Mathematik-Professur an der Bergakademie das Sprungbrett für Arnold Sommerfeld werden konnte. Klein hatte Hilbert bevorzugt, weil er in ihm die aus seiner Sicht kreativste Figur im damaligen deutschsprachigen Raum sah. Klein hatte früh, noch vorm Schreiben an Hilbert, versucht, dies seinem Schüler Hurwitz zu erklären, der ihm daraufhin am 4. Dezember 1894 aus Zürich geantwortet hatte: Was Ihre Berufungsangelegenheit betrifft, so habe ich mir gleich gedacht, dass Sie auf Hilbert reflektiren würden. Ich gönne Hilbert den Ruf auch von Herzen und zweifle nicht, daß Sie eine gute Wahl getroffen haben. Nur macht mich die Äußerung in Ihrem Briefe stutzig, dass meine Berufung von vorn herein als aussichtslos bezeichnet worden ist.199

Wie wir Kleins Antwort an Hurwitz entnehmen, hatte er offensichtlich die Auseinandersetzungen um den Antisemitismus in der Fakultät gescheut, sah Hurwitz 195 196 197 198 199

FREI 1985, 115, Klein an Hilbert, 6.12.1894. Ebd., 116, Hilbert an Klein, 8.12.1894. [UAG] Phil. Fak. Protokollbuch (1.7.1889-30.6.1905), Bl. 112. FREI 1985, 117, Hilbert an Klein, 19.12.1894. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 1129 (Hurwitz an Klein, 4.12.1894).

380

7 Weichenstellungen, 1892/93 – 1895

zu dicht an der eigenen Denkrichtung und ihn zudem in Zürich mit Familie gut aufgehoben.200 Klein erwartete durch Hilbert eine stärkere eigene wissenschaftliche Anregung, wenn ihm auch unterschiedliche Ansichten bewusst waren. Nachdem Hilbert Anfang Januar 1895 ein paar Tage in Göttingen gewesen war, ließ Klein Hurwitz darüber wissen: Wir sind ja in mancher Hinsicht verschiedener Auffassung: ich liebe die Anwendungen, die ihm gleichgültig sind, und stelle an die gewöhnlichen Lehramtscandidaten in mathematischer Hinsicht niedere Anforderungen, während er womöglich im ersten Semester mit schärfsten Definitionen beginnen will. Ich bin begierig, wie wir uns da zusammenfinden. Desto zuversichtlicher sehe ich dem wissenschaftlichen Ineinanderarbeiten entgegen.201

Bei der Lehr-Abstimmung sollte sich Hilbert als kongenialer Partner erweisen.202 Klein startete mit ihm am 1. Mai 1895 das erste gemeinsame Forschungsseminar.203 Klein sorgte dafür, dass Hilbert bereits am 22. Juni 1895 zum o. Mitglied in der mathematisch-physikalischen Klasse der Kgl. Gesellschaft der Wissenschaften (ohne Gegenstimme) gewählt wurde.204 Damit war eine Weiche für einen neuen mathematischen Prinzen gestellt, der Göttingen und Klein treu blieb, trotz verlockender Rufe nach Leipzig, München, Berlin (2x), Heidelberg und Bern. Als 1904 der Ruf Hilberts nach Heidelberg anstand, schrieb Anna Klein an ihren Mann Felix kurz nach dem III. Internationalen Mathematiker-Kongress205: Soeben kam Dein Brief u. bin ich ganz angethan von der abermaligen Berufung Hilberts. Er ist doch ein ehrlicher, zuverlässiger Mensch, daß er auch dieser starken Lockung widerstanden hat, sicher nur in der Meinung, daß er den Glanz Göttingens nicht schmälern dürfe […]. Nun wird er uns wohl sicher sein.206

Hilbert führte erst 1898 seinen ersten Doktorschüler zur Promotion. Dieser, Otto Blumenthal, verglich: Hilbert, „[…] dieser mittelgroße, bewegliche, ganz unprofessoral aussehende, unscheinbar gekleidete Mann mit dem breiten rötlichen Bart […], der so seltsam abstach gegen Heinrich Webers ehrwürdige, gebeugte Gestalt und Kleins gebietende Erscheinung mit dem strahlenden Blick.“207 200 [UBG] Math.Archiv 77: 255, Klein an Hurwitz, 6.12.1894. 201 Ebd., 257, Klein an Hurwitz, 5.1.1895. 202 FREI 1985, 122, Hilbert an Anna Klein („Hochgeehrte Frau Professor“, 6.3.1895) sagte Kleins Vorlesungsarrangement zu, damit dieser sein „zahlentheoretisches Colleg“ fortsetzen könne. 203 [Protokolle] Bd. 12, 375-76 (Übersicht), Klein, „unter Mitwirkung von Prof. Hilbert, Dr. Ritter und Dr. Sommerfeld“, 17 Teilnehmer, darunter sechs Frauen. 204 [ADW Göttingen] Pers 16: 131; Chro 4,6: 200. 205 Es sei bemerkt: Klein und Hilbert gehörten dem vorbereitenden Ausschuss des Kongresses in Heidelberg (August 1904) an. Die Vortragenden in den vier allgemeinen Sitzungen (Painlevé, Greenhill, Segre, Wirtinger) standen in engem Bezug zu Klein, der in Sektion IV „Über die Aufgabe der angewandten Mathematik, besonders über die pädagogische Seite“ sprach. Hilbert hielt zwei Vorträge: „Die Grundlagen der Logik und der Arithmetik“ (Sekt. I), „Über eine Anwendung der Integralgleichungen auf ein Problem der Funktionentheorie“ (Sekt. II). Vgl. http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/12581/1/chronik_1904.pdf 206 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 284 (Anna Klein aus Fieberbrunn, wo sie mit der jüngsten Tochter Elisabeth zur Kur weilte, an Felix Klein, 15.8.1904). 207 Blumenthal in HILBERT 1935 GA III, 399.

8 FRÜCHTE DER BESTREBUNGEN, 1895 – 1913 Klein hatte Weichen in zahlreiche Richtungen gestellt. Wir betrachten in diesem Kapitel die Ergebnisse bis zu seiner vorzeitigen Emeritierung. Noch vor dieser erschien die letzte Lieferung der Monographie über die automorphen Funktionen. Robert Fricke bezeichnete darin die „harmonischen Schöpfungen“ Kleins als „ästhetisierende Richtung der neueren Mathematik“, aus dem Ineinandergreifen verschiedener Disziplinen entstanden.1 Klein reagierte: Dass ich diese „aesthetisierenden“ Entwicklungen selbst verliess, liegt darin, dass sie mir (schon zur Zeit, als ich 1886 nach Göttingen kam) über geworden waren. Vielleicht war die Produktionsmöglichkeit, welche mir die Natur in dieser Hinsicht mitgegeben hatte, tatsächlich abgebaut, tatsächlich aber regten sich andere Interessen – nach Seiten der angewandten Math.[ematik], der Encyklopädie und der Unterrichtsorganisation, die mir ebenso eingeboren sind und die ich dann freilich, dem höheren Lebensalter entsprechend, nur mehr organisatorisch zur Geltung bringen konnte.2

Klein verfolgte mit hohem persönlichen Einsatz und durch gezieltes Aufgreifen staatlicher und industrieller Potentiale sein Ziel, in Göttingen die einst von Gauß vertretenen Gebiete Mathematik, Naturwissenschaft, Technik auf höherer Ebene einzurichten (vgl. 8.1). Er rang darum, noch als kreativer Mathematiker wahrgenommen zu werden und formulierte offene Probleme für Anwendungen der Mathematik (8.2). Er widmete sich zunehmend dem Programm Geschichte, Philosophie, Psychologie und Unterricht, welches er für einen Abschlussband der ENCYKLOPÄDIE entwarf und welche in eine „Kleinsche Unterrichtsreform“ mündete – wie es schon zu seiner Lebenszeit hieß. (8.3) Klein beteiligte sich an weiteren internationalen Projekten und wandte sich bewusst gegen nationalistische Tendenzen. (8.4) Er verplante jede Minute. Als die Zahl der Verpflichtungen auch die Semesterpausen blockierte, ließ er sich vorzeitig emeritieren. (8.5) „Seine Majestät der Kaiser und König“ Wilhelm II. unterzeichnete am 16. April 1896 ein Patent, womit dem 47-jährigen Klein der „Charakter als Geheimer Regierungs-Rath“ erteilt wurde.3 Vom Ministerium in seinen Bestrebungen unterstützt, fühlte sich Klein allerdings erst ein halbes Jahr später, nachdem er einen an ihn ergangenen Ruf neben Willard Gibbs4 an die Yale University abgelehnt hatte: 1 2 3 4

FRICKE/KLEIN 1912, V. [UA Braunschweig] Klein (aus Hahnenklee) an Fricke, 4.12.1911. [UAG] 5956, Bl. 104-107 (Antrag Philos. Fak., Dekan Wilamowitz-Moellendorff, 13.1. 1896). WIENER (1962, 87) verglich den Titel Geheimrat mit der Ritterwürde in England. Bekannt durch die Gibbsche Phasenregel (1876). Gibbs trug bei, den Lagrange-Formalismus mit begrifflichem Inhalt der physikalischen Chemie zu füllen; lieferte Beiträge zur Theorie der Fourier-Reihen; verhalf der Vektoranalysis zum Durchbruch, indem er Graßmanns Ausdehnungslehre mit Ansätzen von Hamilton verband. (Vgl. hierzu auch KLEIN 1926 Vorlesungen I, 242; 1927 II, 38, 45-47).

381 © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Tobies, Felix Klein, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58749-2_8

382

8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913 Daß ich diesen Vorschlag ohne nähere Verhandlungen ablehnte, da ich mich durch die Unternehmungen und Pläne gebunden glaubte, für die ich mich in Göttingen eingesetzt hatte, das endlich riß Althoff aus seiner bisherigen Reserve heraus und veranlaßte ihn zu tätiger Mithilfe.5

Es ging Klein um „Mithilfe“ beim Ausbau der Göttinger Einrichtungen. 8.1 ZENTRUM MATHEMATIK, NATURWISSENSCHAFT UND TECHNIK Die Entwicklung unserer culturellen Verhältnisse drängt immer mehr darauf hin, daß eine gewisse Zahl von Persönlichkeiten gebraucht wird, welche die mathematisch-physikalische Universitätsbildung in technischer Richtung zur Geltung zu bringen haben. […] Sie wissen Alle, dass Siemens bei seinen grossen Unternehmungen nicht zu seinem Schaden fortgesetzt theoretische Physiker mit beschäftigt hat. Ein anderes besonders interessantes Beispiel in dieser Hinsicht gibt Zeiß’ optisches Institut in Jena, dessen immer neue und überraschende Leistungen die Bewunderung des Auslandes bilden. Dieser Erfolg ist nur dadurch erreicht worden, daß ein so hervorragender Mathematiker und Physiker wie Prof. Abbe sein ganzes theoretisches Können dem besonderen Zwecke des Instituts dienstbar gemacht hat.6

Klein setzte sein Bemühen um das Verbinden von Technik mit Theorie fort, trotz der Schranken, in die ihn die Aachener Beschlüsse (vgl. 7.8) verwiesen hatten. Er kannte Ernst Abbes Erfolge, der basierend auf der Firma Carl Zeiss und dem Glaswerk Schott 1889 eine Carl-Zeiss-Stiftung gegründet hatte und damit die (staatliche) Universität und die Stadt Jena unterstützte.7 Klein kannte technische Institute von Privatuniversitäten der USA und fand für die staatliche Universität Göttingen einen geeigneten Sonderweg, indem er Wissenschaftler und Industrielle in einer „Göttinger Vereinigung zur Förderung der angewandten Physik und Mathematik“ (kurz: Göttinger Vereinigung) zusammenführte. (Abschnitt 8.1.1)8 In Kooperation mit dem Kultusministerium konnte Klein erstmals angewandte Mathematik als spezielle Lehrbefähigung in die Prüfungsordnung für Lehramtskandidaten integrieren. Neue Lehraufträge, Professuren, Institute waren die Folge. (8.1.2) Klein erkannte und förderte das Potential neuer Forschungsfelder für Anwendungen der Mathematik. Das betraf in besonderem Maße die Luftfahrtforschung, die er in Göttingen verankerte, indem er neue Geldquellen nutzte, Ludwig Prandtl in die Spur setzte und dauerhaft in Göttingen halten konnte. (8.1.3)

5 6 7 8

KLEIN 1923a Autobiographie, 29. [UAG] Kur. 5956, Bl. 99-100. Klein, Rede v. 6.12.1896, geschickt an Kultusminister Bosse. TOBIES 1984b; 2018b. Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass Herbert MEHRTENS (1990, 377-401) bezogen auf diesen Kontext eine bemerkenswerte Gesamtschau des Verhältnisses von Wissenschaft (Mathematik), Staat und Kapital versuchte, die im Detail zu präzisieren ist.

8.1 Zentrum Mathematik, Naturwissenschaft und Technik

383

8.1.1 Göttinger Vereinigung Seit Gauß und Weber ist es eine Göttinger Tradition, daß Mathematik und Physik nicht nebeneinander, sondern miteinander fortschreiten. Klein hat diese Tradition besonders energisch gehütet und durch Einbeziehung der technischen Wissenschaften ausgebaut.9

Max Born verglich hier Klein mit Hilbert. Er wusste, dass technische Wissenschaften notwendig teurer sind und estimierte (wie Hilbert) Kleins Einwerben von Drittmitteln bei Industriellen (vgl. auch 9.4.2), die sich ihrerseits Gewinn von neuen Ergebnissen und verbesserter Allgemeinbildung versprachen. Die Industrieproduktion in Deutschland war durch die Reichseinigung begünstigt worden. Zudem waren nach dem Deutsch-Französischen Krieg fünf Milliarden Goldfrancs Kriegskontributionen geflossen. Es hatten sich zahlreiche wissenschaftlich-technisch fundierte Unternehmen gebildet: 928 neue Aktiengesellschaften (AG) in der Hochkonjunktur der „Gründerjahre“ 1871-73; weitere 1860 in der Zeit von 1874 bis 1889.10 Repräsentanten dieser Unternehmen beteiligten sich an der Gründung chemischer und elektrotechnischer Vereine und ließen sich auch für Kleins Göttinger Ziele gewinnen.11 Die am 28. Februar 1898 gegründete „Göttinger Vereinigung zur Förderung der angewandten Physik“ wurde am 17. Dezember 1900 auf angewandte Mathematik erweitert. Der „Erweiterungssitzung“ wohnten bei: der Vorsitzende der Göttinger Vereinigung Henry Theodor Böttinger (Vorstandsmitglied der AG Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co.); Felix Klein (Stellvertreter, Protokollführer); Tonio Bödiker (Vorstandsvorsitzender der Siemens & Halske AG)12, Anton Rieppel (seit 1898 Leiter der Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg AG; M.A.N.), sowie die Göttinger Professoren Theodor Des Coudres (angewandte Elektrizitätslehre), Hans Lorenz (technische Physik), Eduard Riecke (Experimentalphysik), Woldemar Voigt (theoretische Physik), Otto Wallach13 (organische Chemie), Wilhelm Lexis (Nationalökonomie); der Universitätskurator Dr. Ernst Höpfner. Als entschuldigt gelistet waren Dr. Ehrensberger, Vertreter der Krupp-Gußstahlfabrik Essen (AG ab 1903), und der erst im Mai 1900 beigetretene Theodor von Guilleaume, Generaldirektor und Aufsichtsratsvorsitzender der Carlswerk AG (Draht-, Kabelfertigung), eines der damals reichsten Unternehmen in Köln.14 Böttinger, Klein und Rieppel stellten in der Sitzung vom 17. Dezember 1900 gemeinsam den Antrag, angewandte Mathematik einzubeziehen. Sie argumentierten damit, dass sich angewandte Physik und Mathematik gegenseitig stützen 9 10 11 12

Born, Max: „Hilbert und die Physik“. Die Naturwissenschaften 10 (1922) 88-93, Zitat 93. Meyers Neues Lexikon, Bd. 5, Leipzig: Bibliographisches Institut, 1973, 701. Vgl. auch MANEGOLD 1968; 1970. Bödiker, studierter Jurist, Präsident des Reichsversicherungsamtes (1884-97, Geh. Oberregierungsrat); 1897-1903 Vorstandsvors. der Siemens & Halske AG. – Mit Forcierung der Luftfahrtforschung 1909 traten der G. V. persönlich als Mitglieder bei: Werner von Siemens, Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, Graf von Zeppelin. [UBG] Math.Arch. 5022: 10. 13 Wallach wurde 1910 mit dem Nobelpreis geehrt. 14 [StA Berlin] Nachlass Althoff, AI, Nr. 138, Bl. 179. – Liste der 50 industriellen Mitglieder und ihrer finanziellen Zuwendungen in TOBIES 1986a, Anhang 16-18; 1986b, 130-32.

384

8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913

würden und der finanzielle Aufwand für angewandte Mathematik ohnehin erheblich niedriger sei als für Elektrotechnik und technische Physik.15 Die a.o. Professoren Friedrich Schilling (darstellende Geometrie und graphische Statik) und Emil Wiechert (Geodäsie) wurden als universitäre Mitglieder kooptiert.

Abb. 31: Göttinger Vereinigung zur Förderung der angewandten Physik und Mathematik, Karte zur Feier des 10-jährigen Bestehens am 22.2.1908 Vorsitz: Der Chemieindustrielle Henry Theodor Böttinger („gekrönter Mond“) Stellvertreter: Felix Klein (als „Sonne“ dargestellt) Ehrenmitglied: Der preußische Ministerialdirektor Friedrich Althoff („segnende Hände von Zeus“, oberster olympische Gott)

Kleins Rolle zeichnete sich dadurch aus, dass er industrielle und staatliche Ressourcen für die Wissenschaftsentwicklung zu nutzen und zu managen verstand. Erstens. Klein und Böttinger prägten eine personenbezogene Forschungsorganisation, wie sie später für die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG) typisch wurde. Die Göttinger Vereinigung funktionierte jedoch ohne Statut.16 Böttinger verwaltete die Finanzen, stiftete persönlich die höchste Summe (128.000 Goldmark) und brachte von den Farbenfabriken 900.000 Goldmark ein. Als erfolgreicher Unternehmer erkannte er den Wert von Innovationen. Als Mitglied von Wirtschaftsverbänden gewann er weitere Industrielle. Insgesamt traten nach und nach 15 [StA Berlin] Nachlass Althoff, AI, Nr. 138, Bl. 179-84. 16 Vgl. LAITKO 1996; KNOKE 2016. – Das Festlegen eines Statuts scheiterte an Rieppels Einspruch, der die Göttinger Vereinigung auf die 6-8 (Gründungs-)Mitglieder beschränken wollte. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 4 F: Bl. 78-79, 106-12.

8.1 Zentrum Mathematik, Naturwissenschaft und Technik

385

ca. fünfzig Repräsentanten der chemischen, elektrotechnischen, optischen, Stahlund Hütten- u.a. Industrie hinzu. Sie stifteten bis zu Böttingers Ableben im Jahre 1920 und dem Übergang der Göttinger Vereinigung in die Helmholtz-Gesellschaft (vgl. 9.4.2) eine Summe von 2.318.900,00 Goldmark. Zweitens. Klein und Böttinger sicherten das Mitwirken staatlicher Instanzen; Klein in Kontakt mit dem Kultusministerium und durch Mitgliedschaft in der Ersten Kammer des preußischen Landtags seit 1908 (vgl. 8.3.4); Böttinger durch Mitgliedschaft in der Zweiten Kammer (als Abgeordneter der Nationalliberalen Partei) bereits seit 1889 und in der Ersten Kammer seit 1909. Böttinger handelte mit dem Kultus- und Finanzministerium meist paritätische Zuschüssen aus dem Staatshaushalt für die Göttinger Projekte aus. Friedrich Althoff förderte und avancierte am 22. Februar 1908, in seinem Todesjahr, noch zum Ehrenmitglied der Göttinger Vereinigung (vgl. Abb. 31). Drittens. Klein lieferte in den Sitzungen der Göttinger Vereinigung jeweils den wissenschaftlichen Bericht. Er initiierte Anträge der beteiligten Professoren, um Mittel für Literatur, Geräte, Instrumente, Aus- und Neubau von Instituten zu erhalten. Er veranlasste die Vertreter der „angewandten“ Gebiete zu speziellen Forschungsberichten und integrierte auch die „reinen“ Mathematiker Hilbert, Minkowski und nachfolgend Edmund Landau als Mitglieder.17 Viertens. Seit 1903 luden die Geldgeber jährlich einmal an ihrem Ort zu einer zusätzlichen Zusammenkunft ein, mit Fabrik-, Museumsbesichtigungen u.ä.: 1903 in Elberfeld (Farbenfabriken); 1904 in Essen (Krupp), 1905 in Berlin (Siemens & Halske), 1907 in Nürnberg (M.A.N.), 1908 in Leipzig (Teubner-Verlag, vgl. Abschnitt 5.6) u.s.w. Klein regte noch für Mai 1912 ein Treffen in Jena (Firma Carl Zeiss) an18, blieb hier aber selbst erstmals aus Gesundheitsgründen fern. Fünftens. Klein strebte mit der Göttinger Vereinigung nach Kooperation mit den Ingenieuren. Mit seinem Hauptvortrag „Universität und Technische Hochschule“19 auf der Naturforscherversammlung in Düsseldorf 1898 reagierte er auf die antimathematische Ingenieur-Bewegung. Er würdigte technische Berufe, plädierte aber für die notwendige mathematische Basis, geschickt mit dem Beispiel der École polytechnique argumentierend. Er hatte das Emanzipationsbestreben der Ingenieure bereits in seiner Denkschrift von 1888 anerkannt und dort die Idee eines Titels Dr.-Ing. ausgesprochen (vgl. 6.4.2).20 Ausgehend von der Schulkonferenz 1900 (vgl. 8.3.4.2) konnten Klein und Böttinger schließlich die Hauptopponenten Adolf Slaby (Elektrotechnik) und Alois Riedler (Maschinenbau) zum Einlenken bewegen. Slaby und Althoff kamen im Juli 1900 nach Göttingen und un17 Liste der universitären Mitglieder in TOBIES 1991, 107-108. – Zur Teilnahme von Hilbert und Minkowski in Essen (Mai 1904), Edmund Landau in Friedrichshafen (Mai 1913) vgl. KNOKE 2016, 155-56. Landaus Mitgliedschaft ist aufgrund seiner überlieferten „berüchtigten“ Bemerkungen über angewandte bzw. numerische Mathematik als Schmieröl bemerkenswert, vgl. hierzu OSTROWSKI 1966, 105; ECKERT 2013, 170. 18 [UBG] Math.Archiv 5028. 19 Vortrag am 19.9.1898, abgedruckt in Jahresbericht DMV 7 (1899) 39-50. 20 Dr.-Ing. an THs in Preußen seit 1899, Sachsen (TH Dresden) seit 1900; Bayern (TH München) Dr. techn. ab 1901, zu Walther Dycks Engagement vgl. HASHAGEN 2003, 324-30.

386

8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913

terzeichneten mit Klein eine „Friedens“-Vereinbarung, die den Mitgliedern der Göttinger Vereinigung zur Kenntnis gegeben wurde.21 Der VDI begrüßte Kleins Unterrichtsreform-Vorschläge „im Hinblick auf die steigende Bedeutung der wirtschaftlichen Fragen“22 und lud ihn im September 1904 ein, um Unterrichtsfragen zu beraten (vgl. 8.3.4). Schließlich trat der VDI 1905 der Göttinger Vereinigung bei und stiftete insgesamt 18.500 Goldmark für die Institutionen in Göttingen. Sechstens. Im Unterschied zu der auf Forschung konzentrierten, im Januar 1911 konstituierten KWG zur Förderung der Wissenschaften e.V. (seit 1948 MaxPlanck-Gesellschaft) unterstützte die Göttinger Vereinigung bewusst die Unterrichtsreform im Jahrzehnt der Bildungsoffensive23: neue Lehrinhalte, eine neue Fachschule für Feinmechanik; Ferienkurse für Oberlehrer/innen; naturwissenschaftlich-technische Kurse für Juristen und Verwaltungsbeamte; ein „Böttinger Studienhaus“ für ausländische Studierende, u.a.24 Böttinger verfügte zudem am 1. September 1908 ein Kapital von 100.000 Mark für eine „Wilhelmstiftung für Gelehrte“, um Mitglieder der Akademien Berlin und Göttingen, Lehrer an preußischen Universitäten, Technischen Hochschulen und höheren Lehranstalten sowie Beamte in Bibliotheken zu fördern. Kaiser Wilhelm II. bestimmte am 21. Dezember 1908, diese Stiftung in „Friedrich Althoff-Stiftung“ umzubenennen. Klein und Böttinger folgten dem Ruf in den Vorstand dieser Stiftung.25 Rieppel bezeichnete eine verbesserte Ausbildung der Lehramtskandidaten als das entscheidende Gründungsmotiv für die Göttinger Vereinigung: Die aus der Industrie beteiligten Gründer der Vereinigung waren neben Herrn v. Böttinger Ingenieure, nämlich Director Schmitz von der Firma Krupp, Professor von Linde, Kommerzienrat Krauß, Kommerzienrat Kuhn26 und ich selbst. Geheimrat Klein stellte uns seinerzeit in seinen Vorträgen als Ziel unseres Vorgehens auf: 1. vor allen Dingen auf eine bessere Ausbildung der künftigen Lehrer hinzuwirken; 2. auch für die gesteigerte Forschung in der Richtung der angewandten Wissenschaften einzutreten und 3. die Universitätspolitik wieder in Bahnen zu lenken, die mehr mit dem praktischen Leben in Verbindung ständen, als es damals der Fall war. Wir einigten uns vor allen Dingen auf den ersten Punkt als den wichtigsten, weil uns immer wieder entgegengetreten war, daß die jungen Ingenieure durch ihre unzulängliche, dem Praktischen abgewandte Vorbildung, auf der Hochschule ihre Zeit verlieren mußten, um das nachzuholen, was ihnen die Schule nach unserer Meinung sehr gut hätte mitgeben können […] und diese Zustände verbessern zu helfen, war für uns die Begründungsidee der Göttinger Vereinigung.27

Als Klein ein Gutachten für die preußische Schulkonferenz vorbereitete, kannte und begrüßte Rieppel seine neuen Vorschläge zum Mathematikunterricht: 21 22 23 24 25

[StA Berlin] Rep. 92 Althoff A I, Nr. 138, Bl. 179v – 180. Zeitschrift des VDI 48 (1904) 1473. Vgl. zur „Bildungsoffensive“ und bes. zur Gründung neuer Fachschulen SCHÜTTE 2007. [UBG] Math.Archiv 5015 – 5024. Insgesamt 16 Personen im Vorstand, darunter: Adolf v. Harnack, Friedrich Schmidt(-Ott), Hermann Diels, Alfred Hillebrandt. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 2E, Bl. 33-36. 26 E. Kuhn, Maschinenfabrikant Stuttgart, VDI-Vorsitz 1895/96 (LUDWIG 1981, 566, 576-77). 27 Rede v. Rieppels am 30.11.1912 [UBG] Math.Archiv, Nr. 5029, Bl. 20-21.

8.1 Zentrum Mathematik, Naturwissenschaft und Technik

387

Wenn Sie erreichen, dass an den Vorbereitungsanstalten soviel Mathematik – analytische Geometrie, elementare Differential- u. Integralrechnung, die Grundzüge der darstellenden Geometrie –, getrieben wird, als die Architekten und Chemiker gebrauchen, so würde das Ihnen sicher von Ihren derzeitigen Gegnern als dankenswerther Erfolg, von mir aber als das Ziel langjähriger Wünsche angerechnet werden.28

Rieppel stiftete 31.500 Goldmark. Bei der Nürnberger Zusammenkunft im Juli 1907 schenkte er zudem 2.000 Mark mit der Maßgabe: „Den Betrag bitte ich insbesondere, Herrn Geheimrat Klein für die mathematische Abtheilung zur Verfügung zu halten.“ Rieppel anerkannte Kleins Arbeiten zur Theorie der Baustatik (vgl. 8.2.4). Mit dem Geld wurden ein neuer harmonischer Analysator konstruiert und Tabellenwerke erarbeitet.29 Dank einer neuen Prüfungsordnung befasste sich damit inzwischen Carl Runge als o. Professor für angewandte Mathematik. 8.1.2 Angewandte Mathematik in neuer Prüfungsordnung und die Folgen Seit den 1890er Jahren wurden neue Prüfungsordnungen für Lehramtskandidaten diskutiert. Felix Klein schrieb am 2. Juni 1897 an Friedrich Althoff: Wir sind der Meinung, es möchte jetzt der richtige Zeitpunct gegeben sein, um den Klagen der Ingenieure etc. über mangelhafte Vorbildung der math. Lehramtscandidaten nach den Seiten der angewandten Wissenschaft, – soweit diese Klagen berechtigt scheinen –, abzuhelfen. Wir haben in dieser Hinsicht 3 Neuerungen in unseren Entwurf gebracht, nämlich 1) die Anerkennung einer bestimmten Zahl von Hochschulsemestern, 2) die Heranziehung auch von Professoren der Hochschule zur Prüfungskommission, 3) eine geeignete Fixierung der wissenschaftlichen Anforderungen […]. Wir sind […] auf den Gedanken gekommen, eine eigene Facultas für angewandte Mathematik einzusetzen. Ich habe die ‚Anforderungen’ auf der Rückseite des folgenden Bogens zusammengeschrieben.30

Hinter der Idee einer Facultas für angewandte Mathematik steckte nicht nur die Reaktion auf die Ingenieurbewegung, sondern zugleich der Gedanke, „[…] das Ministerium werde dann nicht mehr umhin können, an allen Universitäten geeignete Lehraufträge zu erteilen und so für die erforderliche Entwicklung freie Bahn zu schaffen.“31 Klein formulierte „auf der Rückseite“ des Briefes an Althoff: Anforderungen für die Lehrbefähigung in der angewandten Mathematik: 1. Unterstufe. Elemente der analytischen Geometrie, sowie der Differential- und Integralrechnung. Die gewöhnlichen Projectionsmethoden der darstellenden Geometrie und die elementaren Teile der technischen Mechanik, Niedere Geodäsie. 2. Oberstufe. Beherrschung der Differential- und Integralrechnung nach Seiten der geometrischen Anwendungen. Projective Geometrie. Analytische Mechanik. Höhere Geodäsie und Wahrscheinlichkeitsrechnung.32

28 29 30 31 32

Rieppel an Klein, Brief v. 16.5.1900 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 2 F: Bl. 40. [UBG] Math.Archiv 5019(Zitat); 5022, Bl. 5-8. [STA Berlin] Rep. 92 Nachlass Althoff B, Nr. 92, Bl. 182v-183. KLEIN 1914a (Nachruf auf Wilhelm Lexis), 317. [STA Berlin] Rep. 92 Nachlass Althoff B, Nr. 92, Bl. 185v.

388

8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913

Am 27. Juni 1898 insistierte Klein, dass es nun an der Zeit sei, die Neuordnung zu verfügen, um die Intentionen der Göttinger Vereinigung zu unterstützen.33 Diese „Ordnung der Prüfung für das Lehramt an höheren Schulen in Preußen“ wurde in Folge dessen am 12. September 1898 erlassen und trat zum 1. April 1899 in Kraft. Klein war sich gewiss: „Wenn wir in allen diesen Gebieten den Unterricht organisiert haben, so sind damit der Tradition der Universität entsprechend, überall auch neue Herde wissenschaftlicher Forschung entstanden.“34 Bis zum Jahre 1910 erwarben in Preußen 178 Personen die neue Lehrbefähigung.35 An den meisten Universitäten gab es zunächst nur einen Lehrauftrag für darstellende Geometrie, aber 1908 erbat das Kultusministerium Kleins Urteil bezüglich neuer Extraordinariate für angewandte Mathematik. In Bayern war Walther Dyck als Mitglied des Obersten Schulrats der Spur gefolgt.36 In den Sächsisch-Ernestinischen Staaten (Universität Jena) hatte August Gutzmer erreicht, dass die preußische Prüfungsordnung am 17. Januar 1900 übernommen wurde. Gutzmer übte seit 1894 das Amt des Schriftführers der DMV aus und kooperierte eng mit Klein, der ihm über seine Vision für die angewandten Gebiete schrieb: Ich möchte in der That dass die Vertreter der angew.[andten] Fächer volle Professoren werden. Dann aber werden wir für angew.[andte] Mathematik und angewandte Physik verschiedene Vertreter brauchen, mindestens 2, - in Göttingen haben wir ja, auch wenn ich Brendel und Bohlmann bei Seite lasse, immer noch 4 (einerseits Sch.[illing] u. W.[iechert], andererseits L.[orenz] und S.[imon]).37

Klein benötigte fünf Jahre zum Realisieren der Vision. Es gelang mit der Idee sog. persönlicher o. Professuren.38 Im Jahre 1902 überzeugte Klein die Kollegen der Fakultät, „[…] angewandte Mathematik und angewandte Physik in die Liste derjenigen Fächer aufzunehmen, welche beim Doctorexamen Gegenstand selbständiger Prüfung sein können.“39 Zugleich veranlasste er die Integration von Wiechert und Schilling als „Examinatoren für das Fach der angewandten Mathematik“. Emil Wiechert hatte schon 1897 in Königsberg die Masse des Elektrons relativ genau bestimmt40, förderte als Göttinger Extraordinarius Vermessungswesen, Markscheidekunst, Photogrammetrie und erwarb sich mit seismologischen Forschungen (Wiechert-Seismograph, Wiechertsche Erdbebenwarte; Gründer der Association Internationale de Séismologie 1903) einen Namen. Es hatte Kleins besonderen Einsatz erfordert, dass Emil Wiechert schließlich zum 5. September 1904 ein persönliches Ordinariat für Geophysik erhielt.41 Damit wurde eines der 33 34 35 36 37 38 39 40 41

Ebd., Bl. 206v (Klein an Althoff, 27.6.1898). Vgl. hier und im Folgenden TOBIES 1988a, 1988b. Vgl. SCHIMMACK 1911, 62. Vgl. HASHAGEN 2003, 347-60. Klein an Gutzmer, 6.2.1902, in TOBIES 1988b, 44. – M. Brendel (Astronomie) wechselte 1907 als o. Prof. nach Frankfurt/M.; Bohlmann in eine Versicherungsgesellschaft (vgl. 7.7). An die Person gebundene Stelle, im Haushalt ein Extraordinariat. Sitzung am 23.1.1902, [StA Berlin] Rep. 92, Althoff A I, Nr. 138, Bl. 188. Nahezu zeitgleich mit dem schottischen Physiker Joseph John Thomson (Nobelpreis 1906). Anna Kleins hatte mitgefiebert. Sie schrieb am 11.8.1904 an ihren Mann: „Ich bin neugierig, wann u. wie die Entscheidung Wiechert fallen wird.“ [UBG] 10: 283.

8.1 Zentrum Mathematik, Naturwissenschaft und Technik

389

Gaußschen Forschungsfelder mit einer selbstständigen Professur in Göttingen verankert. Friedrich Schillings Extraordinariat ließ Klein im Jahre 1902 aufwerten: er übergab ihm Abt. B Mathematische Instrumente und graphische Übungen (Hospitalstr. 12) mit dem Hilfsassistenten. Klein behielt selbst nur Abt. A Mathematische Modelle (Auditoriengebäude) mit dem Assistenten (damals Georg Hamel). Als Schilling 1904 einem Ruf an die neu errichtete preußische TH in Danzig (heute: Politechnika Gdańska, Polen) folgte, konnte die Göttinger Stelle aufgestockt werden. Carl Runge wurde erster (regulärer) o. Professor für angewandte Mathematik an einer deutschen Universität. Diesen Begründer der modernen numerischen Mathematik hatte Klein bereits länger im Visier. Runge hatte ihm einen programmatischen Aufsatz „Ueber Anwendungen der Mathematik“ geschickt, sein neues Verfahren für Anfangswertaufgaben bei gewöhnlichen Differentialgleichungen in einem Brief erklärt und weitere Projekte Kleins gefördert.42 Mit Runge änderte Klein sein (zunächst disziplinäres) Verständnis von angewandter Mathematik: Seit wir Kollegen Runge hier haben, verstehen wir unter angewandter Mathematik die Lehre von der mathematischen Exekutive, d.h. die numerischen und graphischen Methoden, wovon die darstellende Geometrie einen Seitenzweig bildet.43

Der von Klein im Brief an Gutzmer erwähnte S., Hermann Theodor Simon, war in Göttingen 1901 Nachfolger von Des Coudres auf dem Extraordinariat für angewandte Elektrizitätslehre (Elektrotechnik) geworden. Er wurde durch die Erfindung einer sog. singenden Bogenlampe bekannt, eine Art radiophonisches Instrument und initiierte eine Versuchsanstalt für drahtlose Telegraphie. 1907 avancierte er zum persönlichen Ordinarius und bedankte sich bei Felix Klein dafür.44 Klein hatte ein derartiges Ordinariat auch für Hans Lorenz vorgesehen. Dieser leitete seit 1900 das Institut für technische Physik, was seine Vorgänger Richard Mollier (1896-97) und Eugen Meyer (1898-1900) als Sprungbrett an eine TH benutzt hatten (vgl. 7.8). Lorenz erwies sich jedoch als wenig kooperativ. Er lehnte Kleins Anerbieten gemeinsamer Seminare ab – wie einst Otto Hölder (vgl. 6.2.2). Lorenz mangelte es an Verständnis für theoretische Probleme, wie seine persönliche Aufzeichnungen erhellen. Eine Kritik R. v. Mises’ bestätigt dies.45 Lorenz’ zunehmend eigenmächtiges Verhalten führte dazu, dass Klein und Böttinger ihn an die TH Danzig weglobten.46 Nach Göttingen kam der auch mathematisch be42 [UBG] Cod. Ms F. Klein: 11: 646 (Runge an Klein, 6.4.1894). Vgl. COLLATZ 1990, 274; RICHENHAGEN 1985; HENTSCHEL/TOBIES 2003, 32-41. 43 Klein 1908 [UBG] Math. Archiv 5029, Bl. 25. – Vgl. auch Thesen zur Angewandten Mathematik in Jahresbericht der DMV 16 (1907), 518; und TOBIES 2010, 309. 44 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 11: 1003 (Simon an Klein, 13.1.1907). 45 Lorenz’ Erinnerungen [Deutsches Museum] HS 1993-001. – Zur Kritik durch R. v. Mises vgl. SIEGMUND-SCHULTZE 2018, 483-85. 46 Klein über Lorenz’ an Gutzmer, 6.2.1902, in TOBIES 1988b, 44-45; Böttinger an Kultusminister von Studt, 5.2.1904, in TOBIES 1988a, 265. – Klein und Böttinger nahmen, eingeladen durch das Kultusministerium, an der Eröffnungsfeier der TH Danzig im Oktober 1904 teil.

390

8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913

gabte Ludwig Prandtl.47 Als auch dessen Wegberufung an die TH Stuttgart drohte, erhielt er am 22. Juni 1907 ein persönliches Ordinariat in Göttingen. Die Göttinger Vereinigung zahlte Prandtl erhebliche Zuschüsse, u.a. eine Kolleggeldgarantie von 6.000 Mark.48 Tabelle 8: Angewandte Mathematik in der preußischen Prüfungsordnung für Lehramtskandidaten 1898 1. Darstellende Geometrie bis Lehre von der Zentralprojektion und Fertigkeiten im Zeichnen 2. Technische Mechanik: Mathematische Methoden, bes. graphische Statik 3. Niedere Geodäsie und Elemente der höheren Geodäsie nebst Theorie der Ausgleichung der Beobachtungsfehler

1917 Beherrschung der zeichnerischen und numerischen Methoden (Darstellende Geometrie, graphisches Rechnen, Ausgleichsrechnung) und ihre Verwendung in mindestens einem der Gebiete 1. Astronomie 2. Geodäsie 3. Meteorologie und Geophysik 4. Angewandte Mechanik 5. Angewandte Physik 6. mathematische Statistik und Versicherungswesen

1921 Vertrautheit mit den für die Anwendungen wichtigsten Teilen der Analysis, insbesondere ihren rechnerischen, zeichnerischen und instrumentellen Verfahren, der darstellenden Geometrie, der Mechanik (einschließlich graphischer Statik und Kinematik), der Wahrscheinlichkeits- und Ausgleichsrechnung, tiefer eindringende theoretische und praktische Studien auf mindestens einem Anwendungsgebiet, 1. Astronomie, 2. Vermessungskunde, 3. Meteorologie und Geophysik, 4. Angewandte Mechanik, 5. Angewandte Physik, 6. Finanzmathematik, mathematische Statistik und Versicherungswesen, 7. technische Wissenschaften (z.B. Elektrotechnik oder Wärmetechnik oder Flugtechnik oder Statik der Baukonstruktionen)

Von 1898 bis 1908 wuchs in Göttingen die Zahl der ordentlichen Professuren für Physik und Mathematik von fünf auf zehn.49 Klein führte mit der Mehrzahl der neu Berufenen gemeinsame Seminare zur angewandten Mathematik durch (vgl. Abschnitt 8.2.4) und ebnete den Weg zu neuen Instituten für die jungen Kollegen. In Göttingen entstanden ein Institut für technische Physik (vollendet 1897), angewandte Elektrizitätslehre (1897), Geophysik (1898, Neubau 1901), ein Erweiterungsbau für das Institut für physikalische Chemie (1898-1900), landwirtschaftliche Bakteriologie (1901)50, anorganische Chemie (1903), angewandte Mathematik und Mechanik (1905), ein Neubau für die physikalischen Institute und für die Abteilung angewandte Elektrizität (1905), eine Versuchsstation für systematische Luftwiderstandsmessungen (Luftschiff-Modellversuchsanstalt, 1907/08), eine Versuchsanstalt für drahtlose Telegraphie (1909). Nur Kleins Traum von einem neuen Mathematischen Institut erfüllte sich erst nach seinem Tode (vgl. auch 9.4.2). Kleins Engagement sei im Folgenden am Beispiel der Institutionen für Luftfahrtforschung demonstriert. 47 48 49 50

Zur Biographie von Prandtl vgl. detailliert ECKERT 2017. [StA Berlin] Rep. 92, Nachlass Schmidt-Ott, B 43, Bl. 16; C 55, Bl. 126. Vgl. KLEIN 1908a. Erstes Institut für Mikrobiologie und Genetik in Deutschland.

8.1 Zentrum Mathematik, Naturwissenschaft und Technik

391

8.1.3 Luftfahrtforschung Seit den 1890er Jahren wurde kaum mehr daran gezweifelt, dass ein lenkbares Luftschiff bald konstruiert werden kann.51 Dank Kleins Initiative begannen seit 1900 in Göttingen Grundlagenforschungen (Studien zur Luftelektrizität), wobei der von ihm veranlasste Förderantrag bei der gerade gegründeten International Association of Academies (IAA) erfolgreich war. Zusätzlich kamen 4.400 Mark aus dem Staatshaushalt; Riecke und Wiechert übernahmen die Leitung.52 Internationale Fortschritte im Gebiet53 führten dazu, dass Wilhelm II. im Herbst 1905 eine Motorluftschiff-Studiengesellschaft mbH mit einem Kapital von einer Million Mark proklamierte. Diese vereinte Wissenschaftler, Luftfahrtpioniere, Vertreter von Firmen und auch von militärischen Dienststellen. Klein wurde, veranlasst durch Althoff, zur konstituierenden Sitzung eingeladen, die am 28. Oktober 1906 in Berlin mit folgender Tagesordnung stattfand: 1. Konstituierung eines technischen Ausschusses 2. Vorschlag der Bildung von Gruppen, 3. Bericht des Geschäftsführers über den Stand der Motorballonfrage und über die Förderungswürdigkeit des Zeppelin’schen Luftschiffes.54

Der technische Ausschuss bildete vier Gruppen: Meteorologische Gruppe (Sprecher: Richard Aßmann), Dynamische Gruppe (Felix Klein), Konstruktions-Gruppe (Direktor Otto Krell55), Maschinen-Gruppe (Adolf Slaby).56 Klein sah die Möglichkeit, weiteres Geld für das Gebiet nach Göttingen zu ziehen und band Prandtl und Wiechert sofort in die Dynamische Gruppe ein. Er veranlasste sie, einen Arbeitsplan zu formulieren (Untersuchungen zum Luftwiderstand, Messungen von Druckverteilungen am Modellballon, von Geschwindigkeitsverteilungen der Luftströmung am Modellballon zur Ermittlung der besten Aufstellung der Propeller usw., Untersuchungen über die Stabilität der verschiedenen Ballonformen gegen Gleichgewichtsstörungen aller Art; über die günstigste Form von Propellern; Aufgaben allgemeiner Art wie das Prüfen von Geschwindigkeitsmessern, Druckmessapparaten u.a.) und zugleich eine Institution (Luftschiff-Modellversuchsanstalt) für Göttingen zu planen. Bereits am 15. Dezember 1906 sandte Klein den ausgearbeiteten Plan nach Berlin. In der Sitzung am 6. Januar 1907 erhielt Klein 5.000,-M für Vorarbeiten. Er konnte Sebastian Finsterwalder in die Dynamische Gruppe kooptieren, der seit 1891 Professor an der TH München war, den Beitrag Aerodynamik (1902) für 51 Boltzmann, L. (1893): „Über Luftschiffahrt“. Verhandlungen der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte, 65. Versammlung, Nürnberg, T. 1, Leipzig, 90. 52 KLEIN 1909, 131. 53 Der erste Aufsehen erregende Motorflug durch die Gebrüder Wright erfolgte 1903 nahezu gleichzeitig mit Publikationen zur Theorie des aerodynamischen Auftriebs von Wilhelm Kutta und N. J. Joukowsky, vgl. BLOOR 2011. Zu Prandtls Beitrag vgl. ECKERT 2017, 85-86. 54 Vgl. hier und im Folgenden [UBG] Cod. Ms. F. Klein 7C: 1-106. 55 Otto Krell, Leiter der Kriegs- und Schiffbautechn. Abt. der Siemens-Schuckertwerke Berlin. 56 Althoff sowie industrielle Mitglieder der Göttinger Vereinigung (v. Böttinger, Siemens u.a.) waren als Gesellschafter an der Motorluftschiff-Studiengesellschaft beteiligt.

392

8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913

Band IV der ENCYKLOPÄDIE verfasst, Luftbilder vom Ballon aus aufgenommen und als einer der Ersten ein Verfahren für die Rekonstruktion räumlicher Objekte aus photographischen Messbildern entwickelt hatte. Außerdem beantragte Klein in dieser Sitzung erfolgreich Prandtls zusätzliche Mitgliedschaft für die Konstruktions-Gruppe, nachdem er dessen Arbeiten über das Zustandekommen des Flüssigkeitswiderstandes durch Wirbelbildung sowie die Wellenbewegungen in Luftstrahlen von Überschallgeschwindigkeit präsentiert hatte. In der Sitzung am 14. September 1907 berichtete Klein, dass Henry Th. v. Böttinger in Göttingen ein Grundstück erworben habe, womit die geplante Versuchsanstalt rasch gebaut werden konnte. Initiiert durch Klein wurde jetzt auch Carl Runge Mitglied der Dynamischen Gruppe, der mit Frau und Tochter begonnen hatte, das zweibändige Werk Aerial flight (1907-08) des Briten Frederick William Lanchester zu übersetzen.57 Im Folgenden fuhren Klein, Runge, Wiechert und Prandtl regelmäßig zu Luftfahrtforschungs-Beratungen nach Berlin.58 Als Richard Aßmann riet, Fortschritte im Ausland zu studieren, veranlasste Klein 1908 eine Reise Carl Runges nach Frankreich59 (Prandtl war wenig sprachbegabt). In Paris brachte der einst bei Klein studierende Paul Painlevé (vgl. 6.2.3) das Gebiet voran. Painlevé publizierte mit Émile Borel ein Buch über Flugtechnik (L’aviation, Paris: F. Alcan, 11910). Bereits 1908 flog Painlevé mit einem Motorflugzeug der Gebrüder Wright und führte 1909 Aeronautik als universitäres Lehrgebiet ein, womit Prandtls Lehre in Göttingen weniger einzigartig dasteht. Dank Kleins Initiative wurde Prandtls Lehrauftrag im Januar 1909 „auf das gesamte Gebiet der wissenschaftlichen Aeronautik“ ausgedehnt und ab 1. April 1909 für drei Jahre mit je 4000 Mark bezuschusst.60 Als Wilhelm II. am 11. Oktober 1910 die erwähnte KWG zur Förderung der Wissenschaften e.V. proklamierte, äußerte Klein bereits sechs Tage später die Idee, dort ein KWI für Grundlagenforschungen (Aero- und Hydrodynamik) zu beantragen.61 Klein notierte 1913, dass das Institut bewilligt sei; Böttinger gehörte zum Ausschuss der KWG. Im Krieg entstand jedoch zunächst, unterstützt durch Militärbehörden, eine größere Aerodynamische Versuchsanstalt.62 Das Etablieren des KWI für Strömungsforschung (Juli 1925) hatte noch Kleins besonderen Einsatz erfordert; er musste einen Ruf Prandtls an die TH München abwehren.63 Die Göttinger Vereinigung beriet im Oktober 1908 Themen der Flugwissenschaft, veranstaltete vom 3. bis 5. November1911 einen „Flugwissenschaftlichen 57 Vgl. hierzu TOBIES 2010, 62-65. 58 [UAG] Kur. 5956 (Personalakte Kleins), Bl. 152. 59 Antrag Kleins für Runges Reise an das Kultusministerium, 19.5.1908 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 1 D: Bl. 145. – Zur Reise Runges mit Frau vgl. HENTSCHEL/TOBIES 2003, 172-73. 60 [StA Berlin] Rep. 76 Va Sekt.6 Tit. 4 Nr. 1, Bd. XXII, Bl. 2-4. Prandtl las im SS 1909 „Wissenschaftliche Grundlagen der Luftschiffahrt“, und hielt im WS 1909/10 ein Seminar „Anwendungen der Aerodynamik“. Historische Vorlesungsverzeichnisse (online). 61 Vgl. ECKERT 2017, 77-78. 62 Klein in JACOBS 1977, letztes Blatt; vgl. auch ROTTA 1990; TRISCHLER 1992. 63 Wir erfahren bei TOLLMIEN 1987, 465, dass Klein den erforderlichen Sponsor auftrieb; vgl. auch zur Unterstützung durch SCHMIDT-OTT 1952, 27.

8.1 Zentrum Mathematik, Naturwissenschaft und Technik

393

Kongress“, der zu einer „Wissenschaftlichen Gesellschaft für Flugtechnik“ (3.4. 1912) führte, welche die meisten auf diesem Gebiet tätigen Wissenschaftler, Techniker, Industriellen und Staatsbehörden integrierte. Den ersten Vorstand bildeten Böttinger, Prandtl und der Konstrukteur von Luftschiffen August von Parseval. Folgende Mathematiker traten sofort als Mitglieder bei: O. Blumenthal (Aachen), A. Gutzmer (Halle), F. Klein, W. Kutta (Stuttgart), C. Runge, H. v. Sanden (Göttingen), A. Voß (München), N. J. Joukowsky (Moskau).64 Kleins Hinwenden zum organisatorischen Absichern der Anwendungsfelder war um 1900 nicht von allen positiv aufgenommen worden. Technikwissenschaftler hatten es als Eingriff in ihre Sphären betrachtet. Manche Mathematiker kommentierten es abschätzig, so schrieb Otto Blumenthal im Jahre 1898: Klein ist jetzt ganz nach der naturwissenschaftlich-astronomischen Seite hin abgeschwenkt. Er ist nicht mehr Mathematiker, er ist allgemeiner exakt-naturwissenschaftlicher Organisations-Engel, eine Änderung, die Dir sehr angenehm sein kann und die mir sehr zuwider ist. Persönliche Anregung auf mathematischem Gebiet ist von ihm nicht mehr zu erwarten.65

Mit seiner Professur an der TH Aachen, vermittelt über Klein und Sommerfeld, war Blumenthal näher an Anwendungen gerückt und sprach schließlich euphorisch über Klein „mit dem vorurteilslosen, weiten Blick […]“ anlässlich der Einweihung einer Gedenktafel an dessen Geburtshaus.66 Hermann Minkowski schrieb bereits als Professor an der ETH Zürich wohlwollend über Kleins angewandtes Programm. Wenn er auch etwas überheblich auf die Kreiseltheorie (vgl. 8.2.3) blickte und meinte, viel Besseres leisten zu können, betonte Minkowski doch, Klein beispringen zu wollen und ließ Hilbert wissen: Sonst beschäftige ich mich noch viel mit Anwendungen. Von der Thermodynamik bin ich auf Chemie gekommen. Ich denke immer, eines Tages Klein gegen seine vielen Angreifer in der Weise beizuspringen, dass ich zeige, dass die Mathematiker auch wirklich etwas für die Praxis leisten können, und zwar besseres als die Bewegungen des Kreisels festzustellen.67

Indem David Hilbert im Jahre 1902 einen Ruf an die Universität Berlin (Nachfolge Lazarus Fuchs) ablehnte, konnte er das Göttinger mathematisch-naturwissenschaftliche Zentrum mit Hermann Minkowski (zum 1. Oktober 1902) stärken.68

64 [StA Berlin] Rep. 92, Nachlass Schmidt-Ott, B 43, Bl. 14-19.– Horst von Sanden war ein Schüler Carl Runges. Joukowsky war seit 1893 Mitglied der DMV (vgl. auch 8.2.3). 65 Blumenthal an Karl Schwarzschild, 15.8.1898, publiziert in ROWE 2018b, 89. 66 BLUMENTHAL 1928, 3 (Rede am 12.10.1927, als DMV-Ausschuss-Mitglied). 67 Minkowski an Hilbert, 11.2.1899, in MINKOWSKI 1973, 113. 68 Das dritte Mathematik-Ordinariat kam schnell zustande, weil auf Lexis’ Vorschlag ein „noch immer freies Ordinariat für anorganische Chemie“ verwendet wurde, vgl. TOBIES 1991c, 104.

394

8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913

8.2 WISSENSCHAFTLICHES ANSEHEN BEWAHREN Dass Du wieder an den Automorphen angefasst hast, freut mich natürlich sehr, auch aus allgemeinen Gründen: wir können nur dadurch für unsere organisatorischen Pläne durchgreifend wirken, dass wir uns gleichzeitig im Kreise unserer Fachgenossen das wissenschaftliche Ansehen erwerben!69

„Wenn die Könige baun, haben die Kärrner zu thun.“70 Auch wenn Klein die Kärrnerarbeit des Aufschreibens delegiert hatte, betrachtete er das unvollendete Projekt automorphe Funktionen noch als sein ureigenstes (Abschnitt 8.2.1). Veranlasst durch dieses Monographie-Projekt befasste sich Klein mit Zahlentheorie und leitete Ergebnisse geometrisch her. Darüber begeisterte sich Charles Hermite; aber Klein nahm seine Begrenztheit auf geometrische Methoden bewusst wahr, als er mit Hilbert ein Zahlentheorie-Seminar veranstaltete. (8.2.2) Arnold Sommerfeld ließ als weiterer Kärrner ein mehrbändiges Werk aus Kleins Vorlesungen zur Kreiseltheorie entstehen (8.2.3). Klein entwickelte neue Forschungsprogramme für Anwendungen der Mathematik. Er regte jüngere Kollegen an, brachte hierzu noch eigene kleinere Resultate sowie einige Doktorschüler hervor. (8.2.4) 8.2.1 Automorphe Funktionen (Monographie) Einige Aspekte hierzu wurden bereits in Abschnitt 5.5.4. thematisiert. Der Gegenstand befand sich weiter im Fluss; Kleins erste Disposition zur Monographie (vgl. 6.3.4) wurde stetig verfeinert.71 Klein anerkannte Frickes Kärrner-Arbeit und schlug ihm mit Brief vom 13. September 1894 vor, die Autorennamen alphabetisch anzuordnen: FRICKE/KLEIN. Als Fricke jedoch kurz darauf einen höheren finanziellen Anteil einforderte, reklamierte Klein das Unternehmen für sich. Er habe Pockels und Bôcher das Honorar allein überlassen, aber Fricke sei jetzt in fester Position (Professur TH Braunschweig). Klein schrieb dezidiert: Lieber Robert! […] Es ist, dass es sich bei dem Unternehmen um meinen eigenen Plan, um ein Stück meiner wissenschaftlichen Lebensaufgabe handelt, deren Durchführung ich seit nun 5 Jahren durch meine Vorlesungen und die Arbeiten, welche ich anrege, auf alle Weise vorbereite. Und ich habe damit nicht etwa in letzter Zeit aufgehört. Vielmehr schrieb ich Dir noch im Sommer, dass meine gegenwärtige Vorlesung über Zahlentheorie direct dem geplanten ersten Bande zu gute kommen soll (in dem sie den Stoff von einer anderen Seite ordnet und abklärt) und dass ich beabsichtige, im nächsten Jahre eine grosse Vorlesung über den Hauptgegenstand der automorphen Functionen zu halten.72

69 [UA Braunschweig] Klein an Fricke, 13.10.1903. 70 Schillers Spruch war auf „Kant und seine Ausleger“ gemünzt: „Wie doch ein einziger Reicher so viele Bettler in Nahrung setzt! Wenn die Könige baun, haben die Kärrner zu thun.“ In: Schiller, F. (Hg.) (1896): Musenalmanach für das Jahr 1797 (Xenien), Tübingen: Cotta, 212. 71 Vgl. auch KLEIN 1926 Vorlesungen I, 345-81. 72 [UA Braunschweig] Klein an Fricke, 18.11.1894.

8.2 Wissenschaftliches Ansehen bewahren

395

Klein erklärte hierauf seinem angeheiratetem Neffen, sich „in Frieden zu trennen“ und sich nur auf seine Autographien konzentrieren zu wollen. Dies veranlasste Fricke zum Einlenken, und drei Jahre später erschien schließlich Band I mit dem Untertitel „Die gruppentheoretischen Grundlagen“. Fricke erwähnte in der Vorrede explizit wertvolle Vorarbeiten von H. A. Schwarz (hypergeometrische Reihe) und L. Fuchs (lineare Differentialgleichungen); nannte Klein und Poincaré „eigentliche Begründer der Theorie der automorphen Functionen“ und listete Kleins und seine eigenen Vorlesungen auf, auf denen die Monographie basierte. Nachdem Kleins Zeit doch zunehmend in andere Projekte geflossen war, offerierte er nunmehr am 9. Dezember 1900, bei Band II das Honorar 2 : 1 zugunsten von Fricke teilen zu wollen.73 Mit wachem Blick verfolgte und förderte Klein weiter jeden neuen Ansatz. Er schrieb z.B. am 4. September 1901 an Fricke: Du berührst genau die centrale Schwierigkeit, die sich subjectiv dem Bande II der Automorphen entgegen stellt: die Existenz-Methoden, auf die wir uns stützen müssen, sind wesentlich erst in den letzten 15 Jahren von der neu-französischen Schule (Picard, Poincaré) geschaffen worden; wir beide sind da zunächst nicht mitgegangen und sollen nun Bericht erstatten! Die Sache stellt sich noch ungünstiger, wenn ich hinzufüge, dass die Methoden in den letzten 2 Jahren von Hilbert wesentlich vereinfacht und verallgemeinert sein dürften, seine Beiträge aber nur teilweise in ausgearbeiteter Form zugänglich sind. Auf der anderen Seite steht die objective Erwägung, dass es keine schöneren und fruchtbringenderen Belege für die neuen Methoden (incl. die sämmtlichen Ideen der Mengenlehre) gibt, als eben die Theorie der Automorphen sie bietet.74

Band II erhielt den Untertitel „Die functionentheoretischen Ausführungen und die Anwendungen“ und kam in mehreren Lieferungen heraus. Dabei gab Klein immer wieder Hinweise für die Art und Weise des Ansatzes: Was speciell die Berücksichtigung der Mengentheoretiker angeht, so ist wohl zwischen Deiner jetzigen Auffassung und derjenigen, die ich befürworte, kein wesentlicher Unterschied. Es handelt sich in keiner Weise darum, den eigentlichen centralen Continuitätsgedanken, wie er bei mir und Poincaré vorliegt, zu verbessern, sondern nur darum, ihn solchen Leuten, die mit weniger Continuitätsempfindung ausgestattet sind, durch Zerlegung in kleine Schritte in der ihnen geläufigen Sprache der Mengenlehre acceptabel zu machen.75

An diesem acceptabel machen beteiligte sich Klein weiterhin, wozu das erwähnte viersemestrige Seminar mit Hilbert und Minkowski gehörte, aus dem letztlich die Beweise seiner drei Fundamentaltheoreme mit Kontinuitäts-Ansatz hervorgingen (vgl. 5.5.4.4). Einen der Seminar-Teilnehmer, Wilhelm Ihlenburg, führte Klein noch mit der Dissertation „Über die geometrischen Eigenschaften der Kreisbogenvierecke“ (1909) zum Doktortitel. Als Poincaré im April 1909 zu Vorträgen in Göttingen weilte, fiel nicht nur Kleins 60. Geburtstag in den Zeitraum, sondern es wurde auch ein Vortrag Kleins über neuere Entwicklungen im Gebiet der automorphen Funktionen in das Wochenprogramm gepackt (vgl. auch Anhang Nr. 8). Als auf der DMV-Jahrestagung 73 Ebd., Klein an Fricke 9.12.1900. 74 Ebd., Klein an Fricke 4.9.1901. 75 Brief v. 13.10.1903.

396

8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913

1911 in Karlsruhe eine spezielle Sitzung zu automorphen Funktionen stattfand, war es Klein, der einleitete, gefolgt von den Vortragenden Brouwer, Koebe, Hilb, Bieberbach76; nicht Fricke – der zwar angekündigt war, aber zur Kur nach Karlsbad [Karlovy Vary] fuhr. Klein berichtete Fricke, und die letzte Lieferung (1912) von Band II bezog noch Aktuelles ein.77 8.2.2 Geometrische Zahlentheorie In der That bin ich, was meine wissenschaftliche Leistung angeht, vielfach pessimistisch gestimmt. Ich habe zu viel allgemeine Sorgen und gar keine Zeit mehr mich auf Einzelnes zu concentriren. So fürchte ich sehr, Sie werden von meiner Zahlentheorie enttäuscht sein. Vielleicht, dass der nähere Verkehr mit H.[ilbert] mich regenerirt!78

Klein las vierstündig über Zahlentheorie, als er dies an Hurwitz schrieb. Begeistert hatte er den geometrischen Ansatz bei Gauß entdeckt, dass man „jede positive binäre quadratische Form (ax2+bxy+cy2) geometrisch durch ein parallelogrammatisches Gitter interpretieren“ kann. Er hatte darüber in der Göttinger Mathematischen Gesellschaft vorgetragen (vgl. 7.2), Ergebnisse „Über die Komposition der binären quadratische Formen“ in den Göttingen Nachrichten (Jan. 1893) publiziert und betont, dass sein Herangehen über Gauß hinaus bei geeigneter Wahl von Komponenten „die Sätze von der Komposition der Formen unmittelbar geometrisch“ ergeben würde.79 Im Mai 1893 hatte Klein 15 Vorträge über Zahlentheorie gehalten und den Gegenstand in Vortrag (8) des Evanston Colloquiums integriert. Nachdem Klein in der zahlentheoretischen Vorlesung „Lagranges Theorie der Kettenbruchentwicklung quadratischer Irrationalitäten mit Zugrundelegung der Gittervorstellung glücklich zu Ende gebracht“ hatte, zeigte er sich am 6. Dezember 1894 noch immer unsicher über den wissenschaftlichen Extrakt.80 Hilbert weilte Anfang 1895 in Göttingen, um seinen Umzug vorzubereiten. Hierbei suchte Klein das Gespräch über seinen geometrischen Ansatz für die Theorie der Kettenbrüche und schickte noch einen Brief hinterher: „Schreiben Sie mir doch ja, was Minkowski zu meiner Auffassung betr. Kettenbrüche sagt; ich werde ev. die Sache in diesen Tagen näher verfolgen.“81 Hilbert antwortete: Ueber Ihre geometrische Interpretation des gewöhnlichen Kettenbruchs für quadratische Irrationalitäten habe ich mit Minkowski eingehend gesprochen. Er hält dieselbe, ebenso wie ich, für neu, und macht nur aufmerksam auf die beiden Poincaréschen Noten Journal de l’École polytechnique 1880 und Comptes rendus 1884, wo ebenfalls eine geometrische aber durchaus nicht so einfache und verwendungsfähige Versinnlichung der Kettenbrüche vorliegt.82

76 77 78 79 80 81 82

Jahresbericht DMV 20 (1911) Abt. 2, 142, 167; 21 (1912) Abt.1, 153-66. [UA Braunschweig] Klein an Fricke, 15.9.1911. [UBG] Math.Archiv 77: 255, Klein an Hurwitz, 6.12.1894. Göttinger Nachrichten 1893, 106-109; KLEIN 1923 GMA III, 283-86. [UBG] Math.Archiv 77: 254 und 255, Klein an Hurwitz, 2.12.1894 und 6.12.1894. FREI 1985, 120, Klein an Hilbert, 10.1.1895. Ebd., Hilbert an Klein, 16.1.1895.

8.2 Wissenschaftliches Ansehen bewahren

397

In Minkowskis Geometrie der Zahlen (1910, 162) lesen wir, dass Poincarés „geometrische Versinnlichung der normalen Kettenbrüche“ (1880; 1884) „das wahre Wesen der Näherungsbrüche weniger trifft“. Klein, von Hilberts Brief ermutigt, wählte das Thema „Zur Theorie der gewöhnlichen Kettenbrüche“ für seinen Vortrag im September 1895 bei der DMV-Tagung in Lübeck. Darin erwähnte er u.a., dass sich neue Aspekte für höhere Formen aus dem Ansatz ergeben, woran sein Doktorand Philipp Furtwängler arbeite, und dass der Gegenstand insgesamt in die Monographie über automorphe Funktionen einfließen soll.83 Den Extrakt des Lübecker Vortrags präsentierte Klein am 19. Oktober 1895 noch einmal in der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaft, „Über eine geometrische Auffassung der gewöhnlichen Kettenbruchentwickelung“ (Göttinger Nachrichten 1895, 357-59). Dies ließ Hermite in Paris sofort übersetzen.84 Hermite sah, dass Klein damit ein Problem angegriffen hatte, an dem er sich selbst vergeblich versucht hatte.85 Hilbert und Minkowski befanden sich damals ebenfalls im zahlentheoretischen Fahrwasser. Sie waren einer Bitte Kleins gefolgt, einen DMV-Zahlbericht zu erarbeiten und präsentierten ihre Disposition bereits in Lübeck 1895. Daraus floss Hilberts Zahlbericht86 und Minkowskis erste Lieferung (1896, 1-240) zur Geometrie der Zahlen (B.G. Teubner, 1910). Als Hilbert nach Göttingen kam, veranstaltete Klein mit ihm gemeinsame Seminare. Beim Zahlentheorie-Seminar im Winter 1895/96 überließ er Hilbert die führende Rolle, wie Hurwitz erfuhr: Wir haben in dem Seminar, das ich mit Hilbert zusammen abhalte, unter Hilbert’scher Leitung die Idealtheorie des quadratischen Körpers behandelt und ich will auch dazu im Sommer Stellung nehmen. Zuvörderst ist mir die Hilbert’sche Darstellung zu abstract. Ich verstehe natürlich alle Details, aber das Ganze interessirt mich in dieser Form nicht. So glaube ich kaum, dass ich mit meinen zahlentheoretischen Studien noch weiter gehen werde. Mein ganzes Ziel ist, von der Theorie der binären quadratischen Formen eine möglichst abgeklärte geometrische Darstellung zu geben, wobei ich von meiner neuen Darstellung der Kettenbruchentwickelung (im Gitter) sowie von Ihrer Arbeit in Ann. 45 etc. etc. ausgiebigen Gebrauch mache; das soll dann wieder autographirt werden.87

83 Jahresbericht DMV 4 (1897) Abt. 1, 153-54. 84 Klein, F. (1896) : « Sur une représentation géométrique du développement en fraction continue ordinaire ». Nouvelles annales des mathématiques (3) 15, 327-31. 85 Hermite schrieb am 6.1.1896 einen langen Brief an den Übersetzer Laugel, den dieser im Original an Klein weiterleitete; darin hieß es u.a.: « Cher M. Laugel, L’article de M. Klein sur la représentation géométrique des dévelpp.[ments] en fract.[ion] cont.[inue] dont vous m’avez envoyé la traduction m’a interessé au plus haut point. Il est l’aurore, il contient l’annonce d’une conquête mathématique glorieuse à laquelle personne n’applaudira plus que moi; vous savez que je l’ai entrepris vainement et n’ai jamais cessé de regretter mon insuccès. […] Je serai heureux de voir […] l’illustre Klein entrer comme un nouveau Josué dans la terre promise […] » [UBG] Cod. Ms. F. Klein 631/Anl., vgl. dazu TOBIES 2016, 120-21. 86 Hilbert, D.: „Die Theorie der algebraischen Zahlkörper“. Jahresbericht DMV 4 (1897) 175546. 87 [UBG] Math.Arch. 77: 262 (Klein an Hurwitz, 29.1.1896). – Zum Seminar vgl. [Protokolle] Bd. 12, 300-64, 375-76.

398

8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913

Klein blieb wie Hurwitz88 bei geometrischen bzw. nicht abstrakten Methoden. Die erwähnten Autographien über die zahlentheoretischen Vorlesungen vom Winter 1895/96 und Sommer 1896 dokumentieren, dass Klein die „Theorie der singulären elliptischen Gebilde“ und „die Lehre von den zugehörigen singulären Werten der Ikosaederirrationalität“ darstellte. Er betonte, dass die entwickelten geometrischen Methoden gewiss auch für höhere Gebiete der Zahlentheorie nützlich sein können und verwies auf die von „Minkowski in den bisher erschienenen Bogen seines vielversprechenden Werkes (Geometrie der Zahlen) gegebenen Ansätze“.89 Klein nutzte sein Punktgitterverfahren in Band I der Vorlesungen zur Elementarmathematik90, um eine Irrationalzahl als Schnitt im Gebiete ganzzahliger Punkte darzustellen (auf Dedekinds Definition der Irrationalzahl verweisend) und um damit die Kettenbruchentwicklung anschaulich zu erklären. Klein urteilte selbst über seinen Ansatz im Vergleich mit Minkowskis Theorie der Raumgitter: „Ich selbst habe mich seinerzeit darauf beschränkt, gewisse schon bekannte Grundlagen geometrisch klarzustellen, während Minkowski Neues zu finden unternahm. Diese Untersuchungen zeigen deutlich, daß Geometrie und Zahlentheorie keineswegs einander ausschließen, sofern man sich in der Geometrie nur entschließt, diskontinuierliche Objekte zu betrachten.“91 Philipp Furtwängler griff später das Thema noch einmal auf und dehnte es auf beliebig viele Dimensionen aus. Dabei ordnete er Kleins Ansatz ein: Eine besonders anschauliche Darstellung der Idealtheorie erhält man, wenn man die zum Körper gehörigen zerlegbaren Formen betrachtet und diese durch räumliche Punktgitter interpretiert. Es erscheinen dann die zum gegebenen Körper zwecks Herstellung der eindeutigen Zerlegbarkeit in Primfaktoren zu adjungierenden Größen direkt als ganze algebraische Zahlen eines höheren Zahlkörpers, die überdies durch die Punktgitter eine ebenso einfache wie anschauliche Darstellung finden. Dieser Gedanke ist zuerst von Herrn F. Klein ausgeführt worden; es ist der Zweck des folgenden Aufsatzes, die Kleinsche Gitterfigur für beliebige algebraische Zahlkörper zu entwickeln.92

In der Zahlentheorie haben heute algebraische, analytische und auch geometrische Ansätze ihre Berechtigung. Einige zahlentheoretische Lehrbücher beziehen sich noch bewusst auf Klein.93 Die jüngere arithmetische algebraische Geometrie, wozu u.a. die Fields-Medaillen-Preisträger Gert Faltings und Peter Scholze maßgebliche Beiträge lieferten, basiert auf neuen epistemischen Grundlagen.94 88 Zu Hurwitz im Vergleich mit Dedekind vgl. KOREUBER 2015b, 246-47. 89 Klein, F. (1897): „Ausgewählte Kapitel zur Zahlentheorie“ Math. Ann. 48, 562-88; GMA III, 287-314, Zitat 287-88. – Zur Einordnung vgl. auch OSWALD 2016. 90 KLEIN 31924, 47-49; (11908). Vgl. auch KLEIN 1926 Vorlesungen I, 35-40; 321-22. 91 Klein 1926 Vorlesungen I, 328. 92 Furtwängler, Ph.: „Punktgitter und Idealtheorie“. Math. Ann. 82 (1921), 256-79, Zitat 256. 93 Stark, Harold M.: An Introduction to Number Theory. Cambridge (MA)/London: MIT Press, 1978; Karpenkov, Oleg: Geometry of Continued Fractions. Springer, 2013, enthält Kapitel „16 Multidimensional Continued Fractions in the Sense of Klein“ (215-34) und “18 Periodicity of Klein Polyhedra. Generalization of Lagrange’s Theorem” (249-79). – Für die Hinweise auf die Literatur dankt die Autorin Nicola Oswald, Wuppertal. 94 Vgl. u.a. Wedhorn, T. (2018): „Über einige Aspekte der Arbeit von Peter Scholze“. DMVMitteilungen 2/3, 76-79; GRUBER 1990; SCHAPPACHER 2007, 2010, 2015.

8.2 Wissenschaftliches Ansehen bewahren

399

Klein konzentrierte sich zwar auf geometrische Ansätze, estimierte jedoch Hilberts algebraische Zahlentheorie95 und ebenso Edmund Landaus Methoden. Landau kam als Nachfolger von Minkowski (†12.1.1909) schon zum 1. April 1909 nach Göttingen. Landau hatte 1899 mit einem selbst gewählten Thema bei Frobenius in Berlin promoviert und war dort seit 1901 Privatdozent. Als solcher hatte er nicht nur im Crelle-Journal, sondern ebenso in den Mathematischen Annalen publiziert. Während Frobenius von Landaus analytischer Zahlentheorie wenig hielt96, erkannten die Göttinger den neuen Stern, der in Berlin bereits über die Theorie der Riemann’schen Zetafunction, mit Anwendung auf die Zahlentheorie (SS 1903) und Über die Verteilung der Primzahlen (SS 1908) gelesen hatte.97 Landau schrieb Klein am Tag seiner Rufannahme, „[…] denn ich weiss wohl, wieviel ich dabei Ihrer wohlwollenden Fürsprache zu verdanken habe.“98 Hilbert, Klein, der Astronom Karl Schwarzschild und der theoretische Physiker Woldemar Voigt gehörten zur Berufungskommission.99 Der Vorgang bestätigt Kleins Aussage: […] bin ich bei rein mathematischen Berufungen, welche an der Universität Göttingen notwendig wurden, für die Heranziehung solcher hervorragender Kräfte eingetreten, welche in erster Linie fachwissenschaftliche Vertiefung gerade nach solcher Seite anstrebten, die mir persönlich nicht lagen.100

8.2.3 Monographie zur Kreiseltheorie Im selben Brief vom 29. Januar 1896, in dem Klein an Hurwitz mitgeteilt hatte, dass er kein Interesse an Hilberts abstrakter Zahlentheorie besitze, schrieb er begeistert über sein parallel laufendes Projekt der Kreiseltheorie: Um so mehr freut mich mein Colleg über Kreiselbewegung. Curioser Weise habe ich da einen guten Fortschritt über Hermite hinaus gemacht, indem ich die Drehungen durch

ζ

=

αZ + β γZ + δ

darstelle und

α , β ,γ , δ

als Function von T [gemeint ist die Zeit, R. To] be-

stimmte; es werden dies nämlich einfache Θ -quotienten (mit nur einem Θ im Zähler und Nenner). Dieses nur beiläufig; der eigentliche Zweck ist meinen Zuhörern am Beispiel des Kreisels ein vollständiges Verständnis von der Art der stattfindenden Bewegungen und deren Darstellung 95 Vgl. dazu KLEIN 1926 Vorlesungen I, 329-34. 96 Vgl. Wefelscheid, H.: „Edmund Georg Hermann Landau (1877-1938)“. http://www.math. berlin/mathematiker/edmund-georg-hermann-landau.html (Zugriff 15.5.2018). 97 Landau las dies im Sommer 1909 in Göttingen noch einmal, woraus sein Handbuch über die Lehre von der Verteilung der Primzahlen 2 Bde. (B.G. Teubner, 1909) floss. 98 Landau an Klein, 15.2.1909 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 609. – Minkowski war mit Jahresgehalt von 6.000 M berufen worden; Landau mit 4.000 M; erhöht im Dez. 1912 um 2400 M plus Roter Adler-Orden IV. Klasse. [UAG] Kur 6002 (Minkowski); Kur. 10750 (Landau) Bd.1, Bl. 1, 1v, 20, 24. 99 [UAG] Phil. Fak. III, Bd. 5, Bl. 50. 100 KLEIN 1923a Autobiographie, 32.

400

8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913 durch die Formeln zu vermitteln, so dass Ingenieure und Physiker davon einen wirklichen Nutzen haben sollen. Trotz aller Rivalität der Technischen Hochschulen hoffe ich der Sache nützen zu können, wenn ich in dieser Richtung noch weiter gehe.101

Beim Paris-Aufenthalt im April 1887 war Kleins Aufmerksamkeit auf den Cours de Méchnique von Théodore Despeyroux (Paris 1884, ediert von Gaston Darboux) gelenkt worden. Klein hatte dieses Buch in seinem ersten Seminar über Aspekte der Kreiseltheorie (Sommer 1887) benutzt102 und kam nun darauf zurück, als er mit Blick auf seine Ingenieur- und Lehrer-Kontakte ein praktisches Thema näher auszuführen gedachte. Wie er mitteilte, war diese Idee durch Gustav Holzmüller, Direktor der Kgl. Provinzial-Gewerbeschule in Hagen, beflügelt worden, den er im Anschluss an den Aachener Frieden (vgl. 7.8) besucht hatte.103 In seiner Vorlesung vom Winter 1895/96 behandelte Klein die Rotationsaufgabe ausgehend von der Funktionentheorie komplexer Variabler und von im Ikosaederbuch niedergelegten Ergebnissen. Die Koeffizienten α, β, γ, δ (vgl. oben im Zitat) waren dabei als geeignete Funktionen der Zeit (T) darzustellen. Er unterstrich in der am 11. Januar 1896 für die Göttinger Nachrichten eingereichten kurzen Note, „[…] daß α, β, γ, δ [nach Hermites Ausdrucksweise] solche elliptischen Funktionen zweiter Art werden, welche im Zähler und Nenner nur eine einzelne Thetafunktion enthalten.“104 Hermite reagierte bereits am 27. Januar 1896 positiv darauf,105 hatte Klein doch die Bewegungsgleichungen des Kreisels mit den Hermite-Laméschen Differentialgleichungen zu erfassen gesucht. Sommerfeld baute das Thema in vielen Stunden „Felix-Dienst“ weiter aus (vgl. 7.1) und schrieb das Buch KLEIN/SOMMERFELD Theorie des Kreisels in vier Heften (1897, 1898, 1903 und 1910) mit fortlaufend nummerierten 966 Seiten. Die den Anwendungen gewidmeten Hefte III und IV gingen über das hinaus, was Klein selbst vorgetragen hatte. Die theoretischen Grundlagen der ersten Hefte hatte Klein mit Vorlesungen und Vorträgen vorbereitet. So sprach er auf der DMV-Tagung im September 1896 in Frankfurt a.M. „Über die analytische Darstellung der Rotationen bei Problemen der Mechanik“.106 Beim Jubiläum der Princeton University präsentierte er vier Vorträge über The mathematical theory of the top (12.-15.10.1896)107 sowie einen über Stability of the sleeping top (17.10.1896) 101 102 103 104

[UBG] Math.Arch. 77: 262 (Klein an Hurwitz, 29.1.1896). [Protokolle] Bd. 8, 129-259, 271-72. KLEIN 1922 GMA II, 509, 658-59. Klein, F.: „Über die Bewegung des Kreisels“. Göttinger Nachrichten 1896, 3-4; KLEIN 1922 GMA II, 616-17. 105 Léonce Laugel hatte die Arbeit übersetzt, Klein, F.: « Sur le mouvement d’un corps grave de révolution suspendu par un point de son axe (der Kreisel) ». Nouvelles annales des mathématiques (3) 15 (1896) 218-22. Er sandte Klein den genannten Brief von Hermite, in dem er u.a. hieß: « Vous penzes combien J’ai été sensible à la communication extrêmement bienveillante dont M. Klein vous a fait l’intermédiaire. Le résultat concernant les formules pour le mouvement d’un corps pesant de révolution est d’une bien haute importance. Veuillez présenter tous mes compliments les plus cordiaux à M. Klein. » Vollständig zitiert in TOBIES 2016, 122. 106 Jahresbericht DMV 5 (1901) 87-88. 107 H. B. Fine bereitete die Vorträge für ein Buch vor, KLEIN 1897; KLEIN 1922 GMA II, 618-54. – Zum Jubiläum in Princeton vgl. Memorial Book of the Sesquicenntenial Celebration of the

8.2 Wissenschaftliches Ansehen bewahren

401

bei der American Mathematical Society, der auch in Paris übersetzt wurde.108 Noch vor diesen Vorträgen wählte die New York Academy of Sciences am 5. Oktober 1896 Felix Klein zum Honory Member. Zwei Jahre später avancierte er zum Foreign Member der National Academy of Sciences in Washington. Bei Lecture III der Princeton-Jubiläums-Vorträge „Concerning the mutiplicative elliptic curves“ versäumte es Klein nicht, auf die Dissertation seiner US-amerikanischen Schülerin Mary F. Winston „Über den Hermiteschen Fall der Laméschen Differentialgleichung“ zu verweisen. Auch Hermann Liebmann, Kleins Assistent 1897-98, arbeitete am Thema mit. Er vereinfachte Ansätze des Italieners Tullio Levi-Civita, der Lies Theorie der Transformationsgruppen zur Behandlung der Differentialgleichungen der Kreiselbewegung benutzt hatte, um integrable Fälle aufzusuchen.109 Ergebnisse der Dissertation „Zur Theorie des Maxwell’ schen Kreisels“ (1904) von Kleins Doktorschüler Max Winkelmann betrafen die Bewegungen eines nahezu symmetrischen Kreisels und fanden ebenfalls noch Eingang in die Monographie.110 In Heft II von KLEIN/SOMMERFELD, Abschnitt „Über die Bewegung des schweren unsymmetrischen Kreisels“, ist der „Kowalevski’sche Fall der KreiselBewegung“ (376-77) erwähnt. Sofja Kowalewskaja hatte im Jahre 1888 den dritten integrablen Spezialfall der klassischen Mechanik starrer Körper (durch ThetaFunktionen lösbaren Fall) entdeckt, den nach ihr benannten Kowalewskaja-Kreisel. Der russische Mathematiker und Ingenieur, einer der Gründungsväter der Aerodynamik Nikolai J. Joukowsky (vgl. 8.1.3) ließ in Moskau Modelle für Kreiselbewegungen konstruieren, darunter auch für diesen Fall. Nachdem er auf den DMV-Versammlungen 1892 in München und 1895 in Lübeck darüber vorgetragen hatte,111 bestellte und erhielt Klein sofort dessen Modelle.112 Als Fritz Kötter die Darlegungen zum Kowalewskaja-Kreisel in KLEIN/SOMMERFELD in einer Rezension als unzureichend kritisierte, reagierten Klein und Sommerfeld im abschließenden Teil der Monographie mit dem Bemerken, dass die „vollständige Behandlung des Falles aber würde zu lange analytische Ausführungen erfordert haben.“113 Die Darstellung der Kreiselbewegung durch elliptische Funktionen hatten Klein und Sommerfeld knapp gefasst und auf das Buch von Kleins Mitarbeiter Heinrich Burkhardt, Einführung in die Theorie der analytischen Funktionen (Leipzig: B.G. Teubner, 1897) verwiesen.

108 109 110 111 112 113

Founding of the College of New Jersey and of the Ceremonies Inaugurating Princeton University, Trustees of Princeton University. New York: Charles Scribner’s Sons, 1898. Klein, F.: « Sur la stabilité d’une toupie qui dort (Sleeping) ». Nouvelles annales des mathématiques (3) 16 (1897) 323-28. Liebmann, H. (1898): „Classification der Kreiselprobleme nach der Art der zugehörigen Parametergruppe“. Math. Ann. 50, 51-67; KLEIN/SOMMERFELD 1897-1910, Heft I, 161. Vgl. KLEIN/SOMMERFELD 1910, 952. Jahresbericht DMV 3 (1893) 62-70; 4 (1897), 8. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 19, 19A (Joukowsky an Klein, 8.12.1895; 24.10.1896). KLEIN/SOMMERFELD 1910, 950. – Kowalevski, S. v.: « Sur le problème de la rotation d’un corps solide autour d’un point fixe ». Acta Mathematica 12 (1889) 177-232. (Arbeit vom 24.12.1888, wofür sie mit dem Prix Bordin der Académie française geehrt wurde.)

402

8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913

8.2.4 Ideengeber im Feld von mathematischer Physik und Technik Wenn ich jetzt sehe, dass sich Hilbert der Physik zuwendet, dass Prandtl und seine Schüler die grössten Fortschritte in der Hydrodynamik machen, so könnte ich glauben, dass für die math.[ematische] Physik ein neuer Tag im Anzuge ist.114

Im Oktober 1881 hatte Klein vermutet, nur im Feld der Mechanik und mathematischen Physik noch originelle Ideen gewinnen zu können (vgl. Abschnitt 5.5). Er hatte diese Arbeiten für die Uniformisierungstheorie unterbrochen, um sich danach wieder stärker darauf zu konzentrieren.115 Seit Ende der 1890er Jahre steckte Klein vor allem das große Feld der Anwendungen ab, für die ENCYKLOPÄDIE sowie für die Fakultas für angewandte Mathematik. Vielleicht ist es nicht zu hoch gegriffen, wenn wir Kleins Formulieren offener Probleme in Anwendungsgebieten als ein gewisses Pendant zu den Hilbertschen Problemen von 1900 auffassen. Am 9. Februar 1904 berichtete Klein in der Göttinger Mathematischen Gesellschaft über seine Seminare zur angewandten Mathematik: „1899-1900 über Schiffsbewegung, dann darstellende Geometrie, Geodäsie, verschiedene Zweige der Mechanik (auch astronomische Mechanik), nun Hydrodynamik, demnächst Wahrscheinlichkeitsrechnung).“ Er setzte fort und erklärte: Eine volle Einsicht kann man jeweils nur durch Mitheranziehen der praktischen Bethätigung, bzw. des Experimentes erreichen; es ist mehr eine Vorarbeit, die in den Seminaren geleistet wird, in dem wir die Originalliteratur heranziehen und unter mathematischen Gesichtspunkten ordnen. Ich hoffe hiermit den Anwendungen und der mathematischen Wissenschaft gleichmässig einen Dienst zu erweisen. Finde ich ferner, wie bisher, Unterstützung von jüngerer Seite, so denke ich immer wieder neue Gebiete heranzuholen, z.B. bei Gelegenheit auch einmal Elektrotechnik.116

Die Unterstützung von jüngerer Seite blieb nicht aus. Klein organisierte Kooperation, indem er die neu berufenen Professoren in seine Forschungsseminare zur „angewandten Mathematik“ integrierte. Er hielt zunächst mit dem Astronomen K. Schwarzschild (berufen 1901) Seminare zu Astronomie (1902), Prinzipien der Mechanik (1902/03), graphischen Statik/Festigkeitslehre (1903)117, Hydrodynamik (1903/04). Beim Seminar Wahrscheinlichkeitsrechnung (1904) bezog Klein zusätzlich M. Brendel und C. Carathéodory118 ein. Nachdem Runge und Prandtl berufen worden waren, stützte sich Klein bevorzugt auf sie, und bezog noch weitere Experten ein: „Ausgewählte Kapitel der Elasticitätstheorie“ (1904/05, neben Klein, Runge, Prandtl plus der theoretische Physiker W. Voigt), Elektrotechnik 114 115 116 117 118

[UA Braunschweig] Klein (aus Hahnenklee) an Fricke, 4.12.1911. KLEIN 1922 GMA II, 601-12. [Protokolle] Bd. 20, 133-42, Zitat 133. Im Vorlesungsverzeichnis für SS 1903 angekündigt mit „Statik der Baukonstruktionen“. C., ein in Brüssel aufgewachsener Grieche, zunächst Bauingenieur, widmete sich ab 1900 dem Mathematikstudium in Berlin, ab 1902 in Göttingen. Nach Promotion (1.10.1904) bei Minkowski forderte ihn Klein auf, sich in Göttingen zu habilitieren. So reichte C. bereits am 26.1.1905 das Habilitationsgesuch ein, was die Mathematiker gegen philologische Bedenkenträger durchsetzten. [UAG] Phil. Fak. 190a, V 31-43. Nach ersten Professuren, TH Hannover (1909), TH Breslau (1910), wurde er im April 1913 Kleins Nachfolger (vgl. 8.5.3).

8.2 Wissenschaftliches Ansehen bewahren

403

(1905, plus H. Th. Simon, angewandte Elektrizitätslehre)119; Hydrodynamik (1907/08); Schiffstheorie und dynamische Meteorologie (1908, plus der Geophysiker E. Wiechert); Statik der Baukonstruktionen (1908/09); Festigkeitslehre (1909). Hilbert folgte Kleins Beispiel. So bot er z.B. „Elektronentheorie“ in Gemeinschaft mit Minkowski, Wiechert und Herglotz parallel zu Kleins Seminar „Elektrotechnik“ an.120 Die Göttinger interdisziplinären Forschungsseminare – wohl einzigartig damals an einer Universität in Deutschland – halfen, das Verdikt zu umgehen, sich nur auf die Lehramtsausbildung konzentrieren zu sollen. Aus dieser Art von Lehre gingen spätere bedeutende Ingenieure/Physiker hervor, von denen hier nur Heinrich Barkhausen, George A. Campbell, Reinhold Rüdenberg, Henry Siedentopf, Stephen P. Timoshenko genannt seien.121 Kleins Formulieren von Problemen sei an Beispielen demonstriert. Erstens: Hydrodynamik/Hydraulik. Nach einer ersten Vorlesung dazu 1899/ 1900 verknüpfte er im Seminar „Ausgewählte Kapitel der Hydrodynamik“ (1903/ 04) Theorie und Experiment, theoretische Hydrodynamik und Hydraulik, benannte die Themen, internationale Literatur und merkte an, dass manche technischen Probleme erst aufgrund hinreichender empirischer Daten mathematisch gelöst werden können.122 Nach acht gehaltenen Vorträgen unterbreitete Klein Ideen, wie der Gesamtverlauf einer Strömungskurve, Ausflussprobleme und das Problem von Leitungsröhren mathematisch besser erfasst werden könnten. Hinsichtlich des Ausflussproblems ließ Klein notieren: […] so würde sich hieran eine von Herrn Hilbert vorgeschlagene Vereinfachung der betreffenden Potentialaufgabe anschließen können, darin bestehend, daß man den Querschnitt der Ausflußöffnung verschwindend klein annimmt. Und der Behandlung dieser vereinfachten Potentialaufgabe würde dann naturgemäß diejenige folgen, bei der der Querschnitt endlich, aber sehr klein ist. (Poincarés Störungstheorie […]).123

In einem weiteren zusammenfassenden Zwischenbericht (9.2.1904) klassifizierte Klein die Probleme der Hydrodynamik/Hydraulik in mathematisch gut definierte, ziemlich schlecht definierte und ganz schlecht definierte: In die erste Gruppe gehören die Probleme über Ausfluss, Ueberfälle und permanente Wellen auf stehenden Gewässern. Theoretisch sind dies Aufgaben der Potentialtheorie, die aber nur erst wenig Bearbeitung gefunden haben, weil es sich nicht um feste Gränzflächen mit linearen Gränzbedingungen handelt. Dafür liegen experimentell ausserordentlich zahlreiche und grosse Beobachtungen vor. Es scheint durchaus möglich, an diese Beobachtungen anknüpfend mit der gew.[ünschten] Theorie vorwärts zu kommen. Zur zweiten Kategorie zähle ich das Strömen des Wassers in Röhren und Kanälen, auch die Kanalwellen (auf fliessendem Wasser). Sowie die Bewegung nicht ganz langsam ist, entsteht die Erscheinung der Turbulenz. Dieselbe ist jedenfalls in hohem Maasse von der Natur 119 Zur Analyse des Seminars Elektrotechnik vgl. TOBIES 2014. 120 Vorlesungsverzeichnis, SS 1905, 16. 121 Campbell (Mitbegründer der Theorie elektrischer Filter) und Siedentopf (Ultramikroskop bei der Fa. Carl Zeiss) besuchten Kleins Veranstaltungen bereits 1893-94. 122 [Protokolle] Bd. 20, 1-6, Kleins Einleitender Vortrag (28.10.1903). 123 [Protokolle] Bd. 20, 63-65, Zitat 64 (Handschrift von Karl Wieghardt).

404

8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913 der Wände abhängig. Man kann fragen, ob dieselbe in sehr weiten Röhren den ganzen Querschnitt des Rohres erfüllen würde. Die Erfahrungen, die man bei Ballonfahrten bez. der Turbulenz der Luftbewegung macht, scheinen nicht dafür zu sprechen. Die Frage, wie man das Eintreten der Turbulenz theoretisch erklären soll, scheint noch ungeklärt; wir werden über die bisherigen Ansätze in den Vorträgen von Schwarzschild, Herglotz und Hahn bald Näheres hören.124 Zur dritten Kategorie rechne ich das Strömen in natürlichen Flüssen und die Grundwasserbewegung (die beide ebenfalls noch in weiteren Vorträgen behandelt werden sollen). Der Lauf der Flüsse ist schon darum theoretisch kaum anzupacken, weil der Fluss sich sein Bett selbst bildet und im einzelnen fortwährend modificiert. Ein natürliches Bett zeigt immer Krümmungen. Das Experiment ergibt ferner, dass die Geschwindigkeiten im Querschnitt sehr ungleich vertheilt sind, dass das Maximum der Geschwindigkeit unterhalb der Oberfläche liegt etc. etc. Neuerdings geht man immer mehr mit der Errichtung eigener Flussbaulaboratorien vor (Engels in Dresden, künstliche Elbe), wo u.a. der Einfluß von Bahnen und sonstigen Einbauten auf dem Untergrund ausführlich studiert wird. […]125

Klein diskutierte das differierende Herangehen des Technikers bzw. Mathematikers, und beendete den Zwischenbericht mit dem Turbulenz-Thema: Zum Schluss demonstrierte Redner am Waschbecken des Versammlungsraumes a) die Minderung der Turbulenz des aus der Wasserleitung austretenden Strahls durch Einschalten eines dünnen Siebes („Strahlregulator“), b) den durch diesen Strahl bei geeigneter Stärke im Becken hervorgerufenen Wassersprung. (Idee den Widerstand bei Durchströmung eines Rohres dadurch zu vermindern, dass man von Zeit zu Zeit ein Sieb einfügt und dadurch die Turbulenz aufhebt. Analogie mit dem Pupin’schen Telephon?)126

Klein hatte dieses Programm aufgestellt, bevor er Prandtl nach Göttingen holte. Das Klassifizieren derartiger Probleme auch unter mathematischen Gesichtspunkten setzte Klein beim Hydrodynamik-Seminar 1907/08 mit Prandtl fort. Die Analyse von ECKERT (2018) bestätigt Kleins Verdienst, maßgebliche Forschungsfragen für das Gebiet formuliert zu haben. Klein erkannte ebenfalls Talente wie Theodore von Kármán, der hinter einem umströmten Körper sich ausbildende gegenläufige Wirbel berechnete, was Klein bzw. Runge 1911 bei der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften zur Publikation einreichten. Kármán, auch ENCYKLOPÄDIE-Autor, überlieferte posthum Kleins Aussage: „Ich garantiere Ihnen, dass Sie den nächsten Lehrstuhl in Ihrer Richtung bekommen, sobald er frei wird.“127 Bereits im Jahre 1912 erhielt Kármán einen Ruf an der TH Aachen. 124 [Protokolle] Bd. 20. K. Schwarzschild, G. Herglotz, Hans Hahn analysierten vor allem turbulente Flüssigkeitsbewegungen, ausgehend von den Grundgleichungen von Boussinesq. Vgl. ECKERT 2018. – Der Ungar Győző Zemplén sprach 1904/05 (Seminar Elasticitätstheorie) ebenfalls über die Gleichungen von Boussinesq; ihm gelang eine neue mathematische Behandlung der Theorie der Stoßwellen, sodass ihn Klein als Autor für die ENCYKLOPÄDIE (Besondere Ausführungen über unstetige Bewegungen in Flüssigkeiten, 1906) engagierte. 125 [Protokolle] Bd. 20, 134-36. – Hubert Engels, Professor für Wasserbau an der TH Dresden, errichtete ab 1897 die erste Flussbau-Versuchsanstalt. 126 [Protokolle] Bd. 20, 140-41. 127 KÁRMÁN 1968, 90. – Aus ungarisch-jüdischer Familie stammend, konnte Kármán seine Karriere als herausragender Pionier der Luftfahrt- und Raketenforschung in den USA fortsetzen.

8.2 Wissenschaftliches Ansehen bewahren

405

Zweitens: Baustatik.128 Klein hatte neuere graphische Methoden der Baustatik bereits in seiner Denkschrift von 1888 (vgl. 6.4.2) begeistert erwähnt. Er hatte L. Henneberg (vgl. 4.3.3) zum ENCYKLOPÄDIE-Beitrag Die graphische Statik eines starren Körpers (1903) veranlasst, und gewann mit H. Müller-Breslau einen Pionier des Gebietes für das Board der Zeitschrift für Mathematik und Physik, als diese 1901 zum Organ für angewandte Mathematik umgestaltet wurde (vgl. 5.6). Mit mehreren Seminaren, startend ab 1900 (technische Anwendungen der Elastizitätstheorie), ließ Klein die Literatur zur Baustatik (graphische und numerische Methoden, von Culmann, Cremona, Maxwell, Castigliano,129 August Föppl, u.a.) analysieren. Klein gruppierte die Themen und förderte neue Ansätze. So leitete er z.B. das Seminar vom Sommer 1903 ein mit: In der Statik der Baukonstruktionen handelt es sich um das Problem, diejenigen Zug-, Druckund anderen „Spannungen“ zu bestimmen, welche in den Teilen eines Bauwerkes auftreten, wenn dieses unter dem Einflusse äußerer Kräfte („Belastung“) im statischen Gleichgewicht ist. Ein erstes einfaches Beispiel bietet der horizontale, belastete Balken, dessen einzelne Querschnitte infolge der eintretenden Deformation („etwa Durchbiegung“) in gewisser, näher zu ermittelnder Weise „beansprucht“ werden. Eisenconstruktionen bilden weitere Beispiele. Hier am Ort z.B. die Bahnhofshalle, die Gasometergerüste, die Gasanstalt. Durch Großartigkeit ausgezeichnet: Die Müngstener Thalbrücke130 (zwischen Remscheid u. Solingen). Eine dritte Gruppe von Beispielen bilden die „Gewölbe“ und „Kuppeln“. Die Schwere und der Winddruck „lasten“ auf den Teilen der Kuppel; wie groß und wie gerichtet sind die Drucke, welche infolgedessen auf die Mauern oder Pfeiler übertragen werden, auf denen die Kuppel ruht? Kölner Dom.131

Im Anschluss daran diskutierte Klein, wie mit Spannungen verknüpfte Deformationen erfasst werden können, auf welchen Gesetzen sie beruhen. Er verwies auf das Buch von E. H. Love (A treatise on the mathematical theory of Elasticity, 2 vols, 1892/93), welches er übersetzen ließ, und nannte als Hauptzweck des Seminars, die von Ingenieuren entwickelten einfacheren Methoden zu betrachten, die für praktische Zwecke ausreichen. Er charakterisierte diese wie folgt: a) Sie sind vielfach graphisch, b) Sie enthalten Näherungsannahmen.132

Klein erläuterte graphische Verfahren, z.B. an der Aufgabe, „für eine empirisch gegebene Curve den umschlossenen Flächeninhalt, die statischen Momente u. die Trägheitsmomente zu finden, also die numerischen Werte der Integrale: 128 SCHOLZ 1989 analysierte bereits die wichtigsten der im 19. Jahrhundert entwickelten (theoretischen und praktischen) Forschungsprogramme im Gebiet der Baustatik. Zur Geschichte der Baustatik vgl. auch KURRER 2016. 129 Castigliano, Carlo Aberto: Théorie de l’équilibre des systèmes élastiques et ses applications. Nero, Turin 1879. – Darüber sprach Klein am 17.2.1909 selbst. [Protokolle] Bd. 27, 277-79. 130 Damit verwies Klein auf Anton von Rieppels Leistung, der den Bau (1894-97) der höchsten Eisenbahnbrücke Deutschlands geleitet hatte: bis 1918 Kaiser-Wilhelm-Brücke genannt. 131 [Protokolle] Bd. 19, 101-102. 132 Ebd., 103.

406

8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913

∫∫ dxdy; ∫∫ xdxdy; ∫∫ ydxdy; ∫∫ x dxdy; ∫∫ xydxdy; ∫∫ y 2

2

dxdy

133

zu bestimmen“ Er betonte, dass für angewandte Mathematik nicht nur Wissen, sondern auch Können erforderlich sei, d.h. die Methoden notwendig eingeübt werden müssen. Damit bereitete er den Weg für einen entsprechenden Übungsbetrieb und für die Entwicklung neuer Methoden durch Carl Runge.134 Zu Kleins Output für die Baustatik gehörten Ergebnisse seiner damaligen Assistenten. Karl Wieghardt, Assistent 1899-1900, erwarb 1901 als einer der Ersten die Lehrbefähigung in angewandter Mathematik und promovierte 1903 mit dem Thema „Über die Statik ebener Fachwerke mit schlaffen Stäben“. Ihm sind zudem die ENCYKLOPÄDIE-Beiträge zur „Theorie der Baukonstruktionen, I und II“ (1914)135 zu danken. Er erweiterte einen Vortrag Kleins, gehalten am 7. Juli 1903 in der Göttinger Mathematischen Gesellschaft, in welchem Ansätze Maxwells mit der Statik der Spannungszustände von Trägern, Balken zusammengebracht wurden.136 Klein benannte hier erstmals die zentrale Rolle der „Airyschen Funktion“ (Spannungsfunktion),137 aus der sich analytische Lösungen für Randwertaufgaben der linearen ebenen Elastostatik gewinnen lassen. Wieghardt habilitierte sich an der TH Aachen und bestellte das Feld als Professor an verschiedenen technischen Hochschulen (Braunschweig, Hannover, Wien, Dresden) weiter. Aloys Timpe, Assistent 1905-06, setzte mit seiner Dissertation „Probleme der Spannungsverteilung in ebenen Systemen, einfach gelöst mit Hilfe der Airyschen Funktion“ (1905) fort.138 Er betonte den praktischen Nutzen für Balken- und Gewölbeprobleme und zeigte, wie die Probleme auf die Integration einer einzigen linearen Differentialgleichung zurückgeführt werden konnten. Timpe erwies sich ebenfalls als guter ENCYKLOPÄDIE-Mitarbeiter, verfasste für Band IV (Mechanik) gemeinsam mit dem italienischen Mathematiker Orazio Tedone Allgemeine Theoreme der mathematischen Elastizitätslehre (Integrationstheorie), April 1900; Spezielle Ausführungen zur Statik elastischer Körper (Juli 1906); mit Conrad Heinrich Müller Die Grundgleichungen der mathematischen Elastizitätstheorie (Dez. 1906); und übersetzte das genannte Buch von E. H. Love (vgl. auch 5.6). Die Theorie von Balkenproblemen sowie von Spannungssystemen in ebenen und räumlichen Zuständen (Wände, Fachwerke) griff Klein im Seminar zur „Statik der Baukonstruktionen“ (1908/09, mit Runge und Prandtl) noch einmal auf. Er regte Friedrich Pfeiffer, Assistent 1909-10, zu einer Arbeit „Zur Statik ebener Fachwerke“ an.139 Klein sprach im Seminar von 1908/09 noch dreimal „Über Airy’sche Spannungsflächen“ und in der Mathematischen Gesellschaft am 11. 133 134 135 136

[Protokolle] Bd. 19, 104-105. Runge, C. (1912): Graphical Methods. N. Y.: Columbia Univ. Press (dt.: 1914, 21919, 31928). Teil I basierte auf Martin Grünings Ausarbeitung, die Wieghardt maßgeblich unterstützte. Klein, F.; Wieghardt, K.: „Über Spannungsflächen und reziproke Diagramme, mit besonderer Berücksichtigung der Maxwellschen Arbeiten“. Archiv der Mathematik und Physik 3. Reihe, 8 (1904); KLEIN 1922 GMA II, 660-91. 137 Vgl. Airy, G. B.: „On the strains in the interior of beams“. Phil. Trans. 153 (1863). 138 Zeitschrift für Mathematik und Physik 52 (1905) 348-83. 139 Zeitschrift für Mathematik und Physik 58 (1909/10).

8.2 Wissenschaftliches Ansehen bewahren

407

Mai 1909 über ebene Fachwerke, welche Projektion einseitiger räumlicher Polyeder sind, wobei er durch Einführung von Doppelpolyedern die sich dabei zunächst ergebenden Widersprüche bei Bestimmung der Selbstspannungen des Fachwerks beseitigte. Hierzu publizierte Klein noch einen Annalen-Beitrag.140 Stephen P. Timoshenko entwickelte eine Balkentheorie, welche die klassische Euler-Bernoulli-Theorie als Spezialfall enthält. Für die Inspiration zum mathematischen Herangehen dankte Timoshenko Felix Klein. Er hatte u.a. dessen Mechanik-Vorlesung 1909 gehört und im Seminar vorgetragen.141 Kleins anregende Wirkung ist noch in der Dissertation „Die Maximalmomentenfläche eines Gerberschen Balkens“ seiner wissenschaftlichen Enkelin Dorothea Starke spürbar. Sie promovierte bei Max Winkelmann in Jena und wurde Assistentin an dessen Institut für angewandte Mathematik, finanziert aus Mitteln der Carl-Zeiss-Stiftung.142 Drittens: Spezielle Relativitätstheorie. Minkowski hatte seine Kollegen beim Spaziergang (vgl. 6.1) in Einsteins Theorie eingeführt und selbst seinen berühmten Beitrag „Raum und Zeit“ erstmals am 5. November 1907 in der Göttinger Mathematischen Gesellschaft präsentiert. Klein berichtete begeistert auf der Leipziger Jahresversammlung der Göttinger Vereinigung im Oktober 1908: Aber auch die reine Mathematik tritt dieses Mal mit einem Resultat hervor, das der Beachtung seitens der Mitglieder der Göttinger Vereinigung nicht unwerth scheint. Die ungeheure Bedeutung, welche die Elektronenlehre nach physikalischer und chemischer Seite beansprucht, braucht hier nicht dargelegt zu werden. Nur war Herr A. Lorentz (der grosse holländische Physiker) bei seinen einschlägigen Untersuchungen schon vor Jahren zu sehr merkwürdigen Annahmen gekommen, dass ein jedes Elektron, welches den Raum durchstreicht, sich in Richtung seiner Bewegung ein wenig zusammenzieht, um so mehr, je mehr sich seine Geschwindigkeit der Geschwindigkeit des Lichtes nähert. Es ist nun Herrn Minkowski gelungen, das Gemeinsame dieser Annahmen auf einen einfachsten mathematischen Ausdruck zu bringen, dem zu folge die Grundgesetze der Elektrodynamik allgemein bei solchen linearen Substitutionen der Raumkoordinaten X Y Z und des Zeitparameters T unverändert bleiben, wenn die quadratische Form x2 + y2 + z2 – c2t2 unverändert lassen (c ist die Lichtgeschwindigkeit). Es kann hier nur angedeutet werden, dass auf Grund dieser Bemerkung die bisher noch nicht völlig aufgeklärten Gesetze der Bewegung der Elektricität in bewegten Leitern eine völlig übersichtliche Form anzunehmen scheinen. Die reinen Mathematiker erleben dabei den Triumph, dass Untersuchungen über quadratische Formen, die sie vor Dezennien anstellten und welche damals wohl von vielen Seiten als übertrieben angesehen wurden, jetzt für die mathematische Physik und damit zusammenhängend für unsere naturwissenschaftlichen Auffassungen von Raum und Zeit weitgehendste Bedeutung erlangen dürften.143

Als Minkowski unerwartet verstarb, sahen sich Klein, Hilbert u.a. in der Pflicht, damit fortzusetzen. Klein las 1909-10 über projektive Geometrie vor 109 Hörer/innen, was er noch mit Minkowski verabredet hatte. Klein wollte zeigen, wie 140 Vgl. [Protokolle] Bd. 27, 236-52, 288-90; Zitat zum Vortrag in Jahresbericht DMV 18 (1909) Abt. 2, 79; und Publikation in Math. Ann. 67 (1909) 433-44; GMA II, 692-703. 141 Vgl. Soderberg, C. R. (1982): „Stephen P. Timoshenko“. In: Biographical Memoirs, vol. 53. Washington: National Academy Press, 323-49, bes. 325-27. [Protokolle] Bd. 27, 338-46. 142 Vgl. BISCHOF 2014. Der Begriff Gerber-Balken bzw. Gerber-Träger geht auf Heinrich Gerber zurück, der mit Anton Rieppel die „Gustavsburger Schule“ des Stahlbrückenbaus begründete. 143 [UBG] Math.Arch. 5021: 14-15 (Generalversammlung, 16. u. 17.10.1908 in Leipzig).

408

8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913

sich „die Theorie der Lorentzgruppe oder, was dasselbe ist, das moderne Relativitätsprinzip der Physiker in die allgemeine Lehre von der projektiven Maßbestimmung einordnet“.144 Im Anschluss an seine Vorlesung sprach er am 10. Mai 1910 „Über die geometrischen Grundlagen der Lorentzgruppe“ in der Göttinger Mathematischen Gesellschaft. Er lieferte einen detaillierten historischen Überblick ausgehend von Cayleys Invariantentheorie, betonte die Rolle von projektiver Geometrie, die ihm in der aktuellen Lehre vernachlässigt schien, und verglich: Was die modernen Physiker Relativitätstheorie nennen, ist die Invariantentheorie des vierdimensionalen Raum-Zeit-Gebietes, x, y, z, t (der Minkowskischen „Welt“) gegenüber einer bestimmten Gruppe von Kollineationen, eben der „Lorentzgruppe“; - oder allgemeiner, und nach der anderen Seite gewandt: Man könnte, wenn man Wert darauf legen will, den Namen „Invariantentheorie relativ zu einer Gruppe von Transformationen“ sehr wohl durch das Wort „Relativitätstheorie bezüglich einer Gruppe“ ersetzen.“145

Zugleich formulierte Klein zu lösende Aufgaben, ein Programm: Es wird darauf ankommen, eine systematische Invariantentheorie der affinen „Welt“ zu schreiben, wozu übrigens alle Elemente in den mehrdimensionalen Untersuchungen der Mathematiker bereits vorliegen, und von ihr aus die beiden Arten der Mechanik, die alte und neue, nebeneinander zu behandeln. Wieso die alte Mechanik ein Grenzfall der neuen ist, inwieweit sie also als eine Annäherung an letztere angesehen werden darf, kommt dann von selbst hervor. Wer bringt das Programm zur Ausführung?146

Im Mai 1911 initiierte Klein eine Debatte über das Relativitätsprinzip in der Göttinger Mathematischen Gesellschaft, woran sich vor allem Hilbert, Runge und Max Born beteiligten.147 Auf der Naturforscherversammlung im September 1911 in Karlsruhe gab es eine spezielle Sitzung zur „Mechanik“. Die Beiträge von Karl Heun „Ansätze zur Erweiterung der klassischen Mechanik“, des serbischen Mathematikers Vladimir Varićak „Über die nichteuklidische Interpretation der Relativitätstheorie“, von Lothar Heffter „Zur Einführung der vierdimensionalen Welt Minkowskis“ entsprachen Kleins Inspiration.148 Der Göttinger Experimentalphysiker Eduard Riecke beschrieb 1911 die Situation mit den Worten: „Die Mathematiker sind von der Eleganz der Rechnungsregeln hypnotisiert, die Physiker kritisch.“149 An der Suche nach den Gleichungen, die den Raum beschreiben, beteiligten sich im Folgenden weitere Mathematiker. Nachdem die Feldgleichungen für die allgemeine Relativitätstheorie aufgestellt waren, sollte sich auch Klein noch einmal in das Forschungsfeld einschalten (vgl. Abschnitt 9.2.2).

144 KLEIN 1921 GMA I, 533. 145 Kleins Vortrag in: Jahresbericht DMV 19 (1910) Abt. 1, 281-300; Physikalische Zeitschrift 12 (1911); KLEIN 1921 GMA I, 533-52, Zitat 539. 146 Ebd., 550-51. 147 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 21 G: Bl. 32v (Mathematische Gesellschaft, 23.5.1911). 148 Jahresbericht DMV 20 (1911) Abt. 2, 83; 166; 21 (1912) Abt. 1, 1-8; 103-27. 149 Vgl. hierzu TOBIES 1994b (E. Riecke in einem Brief v. 13.10.1911 an J. Stark).

8.3 Programm: Geschichte, Philosophie, Psychologie, Unterricht

409

8.3 PROGRAMM: GESCHICHTE, PHILOSOPHIE, PSYCHOLOGIE, UNTERRICHT Als im Mai 1896 der Vertrag zur ENCYKLOPÄDIE unterzeichnet wurde (vgl. 7.4), lag bereits ein von Klein erarbeitetes Konzept für einen Schlussband (VII) vor: Schlussband. A. Geschichte, Philosophie, Didaktik. 1. Geschichte, d.h. ein Überblick über die Fortschritte, welche Kenntnis und Verständnis vergangener Entwicklungsperioden während des Jahrhunderts gemacht haben. 2. Logik und Erkenntnistheorie: a) Kritik der mathematischen Grundbegriffe und der mathematischen Beweismethoden. (Vgl. IA 1.3; II A1; III A1; III B1)150 b) Anwendbarkeit der Mathematik auf physische und psychische Grössen. 3. Psychologie: a) Psychologie der Zahl-, Zeit- und Raumvorstellungen; b) Psychologie des mathematischen Denkens: specifische Verschiedenheit der Individuen und aus ihr sich ergebende Consequenzen für didaktische Fragen. 4. Logikcalcül (Symbolik der logischen Operationen und Anwendung dieser Symbolik auf die Mathematik). 5. Didaktik der Mathematik an Unterrichtsanstalten aller Stufen und Zwecke, im In- und Ausland. B. Gesammtübersicht über die Entwicklung der mathematischen Wissenschaften im neunzehnten Jahrhundert.151

Dieser Band sollte Geschichte, Philosophie, Psychologie und Didaktik eng verknüpfen. Klein erwog Mitarbeiter und Band-Redakteure, von denen Gustaf Eneström (Schweden) und Jules Tannery (Frankreich) hervorgehoben seien.152 Um den philosophischen Teil vorzubereiten, fuhr Klein 1906 selbst noch einmal nach Paris.153 Er initiierte Vorarbeiten, setzte Studierende, Kollegen, Schüler in die Spur, nutzte Preisstiftungen, Tagungen, Kommissionen, begann mit eigenen Studien und Lehrveranstaltungen. Teilergebnisse flossen in neu entstehende Buchprojekte, wie aus dem Protokoll über die Sitzung der Akademischen Kommission der ENCYKLOPÄDIE vom April 1910 in München hervorgeht: Zu Band VII nimmt die Kommission die Mitteilung des Herrn F. Klein entgegen, daß einerseits die Arbeiten der „Internationalen Mathematischen Unterrichtskommission“ für den pädagogischen Teil des Bandes, andererseits die für die „Kultur der Gegenwart“ in Aussicht stehenden Aufsätze über die psychologischen und erkenntnistheoretischen Grundlagen, sowie die Geschichte der Mathematik als Vorbereitungen für den Band VII seinerzeit werden dienen können.154

Der Historiker Paul Hinneberg – ein Vertreter des von Leopold von Ranke geprägten Historizismus – hatte ein auf 62 Bände angelegtes Projekt Kultur der Gegenwart (Bd. 1, 1906) initiiert. Klein sorgte für die Integration von Mathematik, 150 151 152 153 154

Diese Fragestellungen flossen in die Bände I bis III der ENCYKLOPÄDIE ein. [AdW Wien] I 170 (Math. Enzyklopädie). Vgl. detailliert TOBIES 1994a, 56-69. Er berichtete am 1.5.1906 darüber, vgl. Jahresbericht DMV (1906) Abt. 2, 331. [AdW Wien] I. 170, Protokoll der Sitzung v. 15. und 16.4.1910 in München, Bl. 2.

410

8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913

Naturwissenschaften und Technik unter das Dach „Kultur“, gegenläufig zur Tendenz, die einheitliche philosophische Fakultät deutscher Universitäten zu trennen (vgl. 8.3.2). Er leitete den Band Die mathematischen Wissenschaften, gewann bedeutende Physiker und Chemiker sowie Walther Dyck für die Mitarbeit am Gesamtprojekt.155 Allerdings war Klein unzufrieden mit der Klassifikation: Man muß es als einen Mißgriff bezeichnen, wenn bei zahlreichen Klassifikationen der Wissenschaften, so z.B. auch in dem neuen enzyklopädischen Werke „Kultur der Gegenwart“ die Mathematik prinzipiell mit den Naturwissenschaften zusammengeworfen wird. […] An den höheren Schulen sind ja Mathematik und Naturwissenschaften gegenüber den sonstigen Fächern natürliche Bundesgenossen. Freilich hat die mathematische Wissenschaft auch unabhängig von jedem anderen Gebiet der menschlichen Erkenntnis ihre gute Bedeutung; sie hat nach den verschiedensten Seiten Beziehungen und ist rein philosophisch betrachtet durchaus nicht an irgend eine der Naturwissenschaften gebunden: die Mathematik ist an sich eine reine Geisteswissenschaft.156

Klein trug bei, die kulturellen Werte und den Bildungswert von Mathematik ins allgemeine Bewusstsein zu heben.

Abb. 32: Plan Kleins für den Band „Die Mathematischen Wissenschaften“ im Projekt Kultur der Gegenwart, 1912 (Anzeige des Verlags B.G. Teubner)

H. G. Zeuthens Beitrag wurde die Erste Lieferung (1912) und fußte auf seinem Buch zum Thema (Kopenhagen: Hoest, 1893, dt. 1896). Paul Stäckel vollendete seinen Beitrag nicht. Als Zweite Lieferung folgten: Voss, A. (1914): „Die Beziehungen der Mathematik zur allgemeinen Kultur“ (1-49); und Timerding, H. E. (1914): „Die Verbreitung mathematischen Wissens und mathematischer Auffassung“ (50-161). Als Dritte Lieferung erschien Voss, A. (1914): „Über die mathematische Erkenntnis“ (1-148). Aus Punkt 5 mit dem Autor N.N. resultierten Kleins Vorlesungen über die Entwicklung der Mathematik im 19. Jahrhundert (vgl. 8.3.1; 9.2), wobei er noch im Juni 1912 an Extrabände für „reine“ bzw. „angewandte“ Mathematik gedacht hatte.157 155 KLEIN (1912-14). Vgl die Analyse in TOBIES 2008b (Es wurden 25 Bände realisiert); zu Dycks Teilnahme siehe auch HASHAGEN 2003, 343-45. 156 KLEIN 1907b, 136-37. Zu Kleins Zuordnung von Mathematik siehe Abschnitt 8.3.2, Fünftens. 157 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 7M: Bl. 14 (geplante Bogenverteilung für den Band v. 9.6.1912).

8.3 Programm: Geschichte, Philosophie, Psychologie, Unterricht

411

8.3.1 Geschichte der Mathematik158 Meine Art, Historie zu treiben: Voranstellung bestimmter Fragen, - und nun Vergleich der Quellen.159

Klein war vom erwähnten Historizismus Leopold von Rankes beeinflusst. Diese Art von Geschichtswissenschaft arbeitete quellenbasiert, suchte nach Ursachen für den Verlauf der Geschichte und wollte möglichst objektiv darlegen, wie es gewesen ist. Klein hatte dies bereits als Privatdozent in Göttingen zu schätzen gelernt (vgl. 2.8.3.3). Als er 1871 Alfred Clebsch half, den Nachruf auf Julius Plücker vorzubereiten, zielten sie bewusst auf ein Stück Wissenschaftsgeschichte, um die Leistungen einzuordnen. In einem Brief an Plückers Witwe hatte Klein erläutert: Es würde darauf ankommen, nicht sowohl eine detaillirte Lebensgeschichte zu geben, als vielmehr in allgemeinen Zügen darzustellen, wie Pluecker in den Entwicklungsgang der Wissenschaft eingegriffen hat; es würde also ein Stück Geschichte der Wissenschaft sein, mit Pluecker als Hauptfigur im Vordergrunde.160

Im publizierten Nachruf auf Plücker lesen wir noch genauer: Die Geschichte der Wissenschaft hat […] die Aufgabe, den Gedanken nachzuspüren, welche gemeinschaftlich in Generationen sich entwickeln, und die allgemeinen Processe darzulegen, für welche die Entdeckungen des Einzelnen mehr die Symptome als die treibenden Ursachen darstellen. Bei einer solchen Auffassung wird man weniger oft Gelegenheit haben, davon zu sprechen, dass eine Entdeckung ihrer Zeit vorausgeeilt sei, oder dass eine einzelne Persönlichkeit einer Zeit ausschliesslich das Gepräge ihres Geistes aufgedrückt habe; aber dafür nimmt das ganze der Wissenschaft einen organischen Charakter an. Im Einzelnen freilich bleibt immerhin zu untersuchen, in wie weit nahezu gleichzeitige Erscheinungen ursächlich auf einander gewirkt haben; nur darf man die Zeitfolge mit der ursächlichen Einwirkung nicht schlechthin verwechseln.

Sie thematisierten das Gegensatzpaar „abstrakte“ und „anschauliche“ Mathematik als die Entwicklung prägend, was Klein später immer wieder aufgreifen sollte: Als ein bedeutendes und für die weitere Entwicklung folgenreiches Moment darf wohl hervorgehoben werden, dass hiermit sogleich zwei Richtungen gegeben waren, deren Gegensatz, mehr oder weniger ausgeprägt, alle Epochen mathematischer Forschung begleitet, und welche man als die abstracte und die anschauungsgemässige Richtung bezeichnen darf. Beide zusammen umfassen erst in Verein und Ergänzung das ganze mathematischer Forschung, und es vermag keine von beiden auf die Dauer ohne schwere Schädigung ihres eigensten Wesens die Begleitung und den Einfluss der andern zu entbehren.161

Kleins Wertschätzung der Quellen spiegelte sich in seiner Tätigkeit für die Werke von Plücker, Clebsch, Möbius, Grassmann, Gauß. Für Plückers Werke initiierte Klein 1894 eine Akademie-Commission und betraute F. Pockels und A. Schönflies mit der Edition: PLÜCKER 1895/96. Schering starb am 2. November 1897. 158 159 160 161

Vgl. hierzu auch PIEPER/TOBIES 1988; DAUBEN/SCRIBA 2002; TOBIES 2002b. [UGB] Cod. Ms. F. Klein 20H. Klein an Antonie Plücker, Brief v. 10.11.1871 [Canada]. CLEBSCH 1872, Zitate, 6 bzw. 2. – Dass anschauliches Denken für den Forschungsprozess nicht obsolet ist, belegen nicht nur Aussagen von Roger Penrose, vgl. STAPF 2016.

412

8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913

Bereits am 22. November 1897 unterbreitete Klein sein erstes Programm für die Gauß-Edition: die „sofortige Herausgabe der auf die Nichteuklidische Geometrie bezüglichen Stücke“ durch P. Stäckel und F. Engel und das Anbinden an den Teubner-Verlag.162 Klein integrierte weitere Experten und bereitete mit Martin Brendel eine wissenschaftliche Gauß-Biographie vor. Noch 1919 engagierte er Abraham Fraenkel, für den Teil Zahlbegriff und Algebra bei Gauß.163 Kleins Edition von Gauß’ wissenschaftlichem Tagebuch galt als Beginn einer „Wende in der Gaußforschung, indem nun auf gesicherter Grundlage die Problematik der Genesis der Gaußschen Entdeckungen untersucht werden konnte.“164 Unter Kleins Vorsitz beschloss die DMV 1908, die von Ferdinand Rudio initiierte Euler-Edition in Basel zu unterstützen und ein Mathematiker-Archiv in Göttingen einzurichten.165 Kleins historischem Interesse sind ebenfalls die „Gedächtnistafeln“ für Clebsch, Dirichlet, Tobias Mayer und Riemann an deren ehemaligen Göttinger Wohnhäusern zu danken sowie das Gauß-Weber-Denkmal, wofür früh international Geld gesammelt wurde (enthüllt am 17.6. 1899).166 Um die mathematische Allgemeinbildung zu heben, empfahl Klein den (Lehramt-)Studierenden das Studium alter Quellen (Euklid, Archimedes, Apollonius usw.).167 Er sorgte für mathematikhistorische Literatur (Moritz Cantor; Zeuthen, u.a.) im Lesezimmer, förderte Gustaf Eneströms Bibliotheca Mathematica beim Teubner-Verlag (vgl. 5.6), wenn er auch dessen Disposition für den historischen Teil von Band VII der ENCYKLOPÄDIE nicht akzeptierte.168 Mit Conrad Müller, der Mathematik, Naturwissenschaften und indische Philologie studiert hatte, versuchte Klein, seine neue Art von Historiographie umzusetzen. Müller promovierte bei ihm mit dem Thema Studien zur Geschichte der Mathematik insbesondere des mathematischen Unterrichts an der Universität Göttingen im 18. Jahrhundert (1903). Er zielte auf „[…] das Studium des Einflusses und der Anregungen, die die reine Mathematik von der angewandten erhalten hat […].“169 Er blickte auf die Rolle der Mathematik für die Kultur verschiedener Perioden und analysierte die Organisation wissenschaftlicher Arbeit. Drei Jahre später plante Klein mit ihm die Habilitation für das Gebiet,170 was zur ersten venia legendi für „Mathematik, namentlich Geschichte der Mathematik“ (28.10.1908) führte. Müllers Beiträge für die ENCYKLOPÄDIE (mit Timpe bzw. 162 [AdW Göttingen] Chro 4,6: 1894; Scient 105,2; 105,3; 107,5; REICH/ROUSSANOVA 2013. 163 FRAENKEL 1967, 152. 164 Biermann, K.-R.; Wußing, H.; Neumann, O. (Hg.) (1979), Mathematisches Tagebuch 17961814 von C. F. Gauß (Ostwalds Klassiker 256). Leipzig: Akad. Verlagsgesell., 10. – Erste Edition von Klein mit Anmerkungen als Festschrift 1901 und in Math. Ann. 57 (1903) 1-34. 165 Jahresbericht der DMV 17 (1908) Abt. 2, 133; GRENZEBACH/HABERMANN 2016. 166 Klein an Univ.-Kurator u. Oberbürgermeister Dr. Merkel, Dez. 1889, Jan. 1890 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 1B: 5, Bl. 145-46. – Greenhill wünschte Klein am 4. Juli 1892 “success of the combined Gauss-Weber Memorial“ und spendete dafür. Ebd. 9: 498. 167 Vgl. z.B. Notizen für die Vorlesung des SS 1903 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 19C. 168 Eneström an Klein, v. 13.9., 28.9. und 29.10.1899 [StB Berlin] Sammlung Darmstaedter. 169 Publ. in Heft 18 der Abhandlungen zur Geschichte der mathematischen Wissenschaften mit Einschluß ihrer Anwendungen. Leipzig: B. G. Teubner, 1904, 50-143, Zitat 59. 170 Notizen Kleins v. 10.6.1906.

8.3 Programm: Geschichte, Philosophie, Psychologie, Unterricht

413

Krylow) und der Katalog für Rom TEUBNER (1908) zählten als Leistungen.171 Als Privatdozent las er: Aus der Geschichte der Mechanik seit Lagrange (1909/10); Die Mathematik bei Archimedes (1910).172 C. H. Müllers angekündigte Vorlesung Die Geschichte der Entdeckung der Infinitesimalrechnung (1910/11) entfiel, da er eine Professur an der TH Hannover (Nachfolge Carathéodory) erhielt. Dort setzte er Mathematikgeschichte und ENCYKLOPÄDIE-Arbeit für/mit Klein fort. Mit Start der Arbeiten am Mathematik-Band für die Kultur der Gegenwart hatte Klein selbst seine konzeptionellen Überlegungen und Literaturstudien zur Geschichte der Mathematik forciert. Im Sommerurlaub 1908 las er u.a. das Chapter „On the Development of Mathematical Thought during the Nineteenth Century“ aus Band II des vierbändigen Werkes des Briten John Theodore MERZ (1904-12). Klein notierte dazu z.B.: „Der praktische Stimulus“ im Kontext mit Geometrie; oder „Zahlentheorie. Auch hier wieder praktische und theoretische Interessen“. Dies deutet auf seine Suche nach Ursachen. Hermann Weyl unterstützte Klein mit Analysen zu neueren Gebieten wie Mengenlehre, Differentialgeometrie, Analysis u.a.173 Den Extraband zur Geschichte angewandter Mathematik, angedacht mit Carl Runge (Numerik, Graphik, Darstellende Geometrie, Wahrscheinlichkeitsrechnung, etc.) und Heinrich Weber (Mechanik, Astronomie, mathematische Physik), ließ Klein schließlich fallen und entschied, […] dass ich die Math.[ematik] der Neuzeit doch auch ungetrennt lasse, i.a. Alles, was über Angewandte Math.[ematik] zu sagen ist, an geeigneter Stelle in die historische Darstellung der reinen Math.[ematik] mit einfüge. Es empfiehlt sich das, weil bei vielen Fragen die Trennlinie kaum zu ziehen ist.[…]174

Klein hatte bereits für 1910/11 sowie für 1912/13 das Thema Entwicklung der Mathematik im 19. Jahrhundert als Vorlesung angekündigt175, aus Überlastungsgründen aber nicht gehalten. Im Sommer 1914 startete er schließlich ein Kolloquium über Mathematikgeschichte, in welches er u.a. Carathéodory, Courant und Debye einzubeziehen vermochte.176 Weitere Vorträge in den folgenden Semestern mündeten in die Vorlesungen (KLEIN 1926/1927), die nach seinem Tod aus dem Nachlass ediert werden sollten (vgl. auch Abschnitt 9.2). Wilhelm LOREY (1916) baute am mathematikhistorischen Feld unter Kleins Ägide mit. Klein unterstützte dessen Quellenfindung, forderte zuverlässige Daten ein, las die Texte kritisch und empfahl weitere Quellen und u.a. auch, verletzende Äußerungen wegzulassen.177 Wir können Klein mit SCHUBRING (1986b) als einen Begründer von Sozialgeschichte der Mathematik bezeichnen. 171 [UAG] Kur. 6289 (Hab. Conrad Müller). – Als nächster habilitierte sich erst Otto Neugebauer in Göttingen für Geschichte der Mathematik (1927). [UAG] Math.Nat. 0047, Bl. 32. 172 Bereits zuvor hatte Klein F. Bernstein zu historischen Vorlesungen animiert: Einleitung in die Geschichte der Mathematik (1908); Geschichte der neueren Mathematik (1908/09) 173 [UGB] Cod. Ms. F. Klein 7M: Bl. 16-42; MERZ 1904-12, Chapter XIII in Vol. II. – Zu Weyls Notizen und Briefen an Klein (v. 9.6.1912, 16.8.1912) ebd., 7M: Bl. 16-29. 174 Klein an H. Weber, Briefentwurf v. 2.8.1912, [UGB] Cod. Ms. F. Klein 7M, Bl. 15. 175 Vgl. Verzeichnis der Vorlesungen WS 1910/11, WS 1912/13, Göttingen 1910 bzw.1912, 15. 176 [UGB] Cod. Ms. F. Klein 22C: Bl. 63. 177 Vgl. Kleins Briefe an Lorey [UBG] Cod. Ms. Philos. 182: F. Klein.

414

8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913

8.3.2 Philosophische Aspekte178 Klein plädierte dafür, „a.[n] d.[er] Universität dem einzelnen Philosophen die freieste Wirksamkeit, niemals aber Herrschaft über Andere zu gestatten.“179

Diese Aussage Kleins – aus einem Brief, mit dem er den kritischen, politisch der Sozialdemokratie nahestehenden und mathematisch begabten Leonard Nelson unterstützte – war auf den großen Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel gemünzt, denn Klein hatte angemerkt „Cf. Hegel“.180 Dieser Großvater von Anna Klein hatte einst veranlasst, dass der Privatdozent Friedrich Eduard Beneke wegen angeblichen Materialismus’ von der Universität Berlin verwiesen worden war. Beneke hatte daraufhin in Göttingen lehren können und nach Hegels Tod eine a.o. Professur in Berlin erhalten. Dies alles ist erwähnenswert, weil der Konsistorialrat und Prediger Carl Gustav Beneke im Gedenken an seinen Bruder eine PreisStiftung zur Förderung des Studiums der Philosophie verfügte, deren Mühewaltung Berlin ausgeschlagen, aber die Philosophische Fakultät der Universität Göttingen übernommen hatte. Aufgrund der noch einheitlichen Philosophischen Fakultät ermöglichte diese Beneke-Preisstiftung auch rein mathematische PreisAufgaben, was schon Clebsch (im April 1872) und Klein (1892) genutzt hatten. Jetzt formulierte Klein bevorzugt mathematisch-philosophische Aufgaben mit Blick auf den philosophischen Teil des ENCYKLOPÄDIE-Bandes VII.181 Klein bewegte in erster Linie das Verhältnis von exakt (präzise) und approximativ in Verbindung mit Raum-Anschauung182 und Anwendungen. Einen Vortrag „Grenzfragen der Mathematik und Philosophie“, gehalten am 15. Oktober 1905 in der Philosophischen Gesellschaft an der Universität Wien, leitete er wie folgt ein: Wiewohl ich diese Aufforderung erst vor drei Tagen empfing, komme ich ihr doch um so lieber nach, als ich zu den Mathematikern gehöre, die nähere Beziehungen zu philosophischen Kreisen wünschen; denn ich bin von der Überzeugung durchdrungen, daß eine Menge von Fragen die Philosophen und uns Mathematiker gemeinsam beschäftigen sollte. Neues habe ich den heute anwesenden Mathematikern freilich nicht zu sagen. Denn die Aufforderung lautete dahin, ich möge namentlich einiges von den Ideen, die ich über die Ungenauigkeit unserer Raumvorstellungen schon anderweitig auseinandergesetzt habe, neuerdings entwickeln.183

Bereits in seiner Arbeit „Über den allgemeinen Funktionsbegriff und dessen Darstellung durch eine willkürliche Kurve“ (1873) hatte Klein von der beschränkten Genauigkeit der Anschauung gesprochen (vgl. auch 3.1.3). Diese Arbeit aus den Sitzungsberichten der physikalisch-medizinischen Sozietät zu Erlangen (8.12. 1873) ließ er noch einmal abdrucken (Math. Ann. 22 (1883) 249-59), nachdem 178 179 180 181 182 183

Vgl. hierzu auch MEYER/TOBIES 1986. Klein an den Kurator, 23.3.1917 (Entwurf). [UBG] Cod. Ms. F. Klein 2G: Bl. 34. Zu Nelsons Weg vgl. PECKHAUS 1990; auch TOBIES 2010, 80-82. Vgl. hier und im Folgenden [UAG] II Phil. 13 Vol. I, II (Beneke-Preisstiftung). Vgl. hierzu auch die detaillierte Analyse von Klaus VOLKERT 1986, bes. 226-42. KLEIN 1922 GMA II, 247. – Der Ehrenpräsident Alois Höfler hatte eingeladen, als Klein gerade in Wien war. Anwesend waren mindestens W. Wirtinger und L. Boltzmann.

8.3 Programm: Geschichte, Philosophie, Psychologie, Unterricht

415

Moritz Pasch seinen Ansatz estimiert hatte.184 Klein behandelte das ihm wichtige Thema 1893 im Evanston-Vortrag (6); am 2. November 1895 in seiner Rede „Über Arithmetisierung der Mathematik“, gehalten in der öffentlichen Sitzung der Kgl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen;185 sowie in der Vorlesung „Prinzipien der Anwendung der Differential- und Integralrechnung auf Geometrie“ (1901), aus welcher Band III der Elementarmathematik vom höheren Standpunkte aus erwuchs.186 Seine Position sei im Folgenden zusammengefasst. Erstens. In der Arbeit von 1873 erklärte Klein, […] dass man überhaupt nicht die Fähigkeit habe, sich auch einfachere Beispiele der Funktionentheorie und Infinitesimalrechnung genau und zugleich anschaulich zu denken, daß die Raumanschauung sogar schon versagt, wenn es sich um die genauen Einzelheiten derjenigen Kurven handelt, welche durch ganze Funktionen dargestellt werden.187

Dennoch betonte er wiederholt den heuristischen Wert der Anschauung für mathematische Erkenntnis. Er meinte, dass in der Mehrzahl der Fälle instinktiv eine ausreichende Genauigkeit erreicht werde und dass ihn sein eigenes anschaulichgeometrisches Herangehen „vielfach zu richtigen Theoremen der Präzisionsmathematik“ sowie zur „Auffindung der Relationen und ihrer wesentlichen Beweisgründe geführt“ habe. Klein sah in der Raumanschauung eine mögliche Quelle für neue analytische Begriffsbildungen: Wir glauben im Raume die unendliche Zahl der Punkte und der aus ihnen zusammengesetzten Gebilde unmittelbar vor uns zu sehen. Von hier aus sind die grundlegenden Untersuchungen über Mengen und transfinite Zahlen erwachsen, mit denen Georg Cantor der arithmetischen Wissenschaft ganz neue Ideenkreise erschlossen hat.188

Dies lesen wir in Kleins Rede „Über Arithmetisierung der Mathematik“, in welcher er die „Weierstraßsche Strenge“, „Kroneckers Tendenz, die Irrationalzahlen zu verbannen“ und Peanos Arbeiten in die Arithmetisierungsrichtung ordnete, aber – das mag überraschen – eigentlich Hilbert meinte. Klein suchte hier zu begründen, dass die „arithmetisierte Wissenschaft“ mit ihrer logischen Deduktion den „eigentlichen Inhalt der Mathematik“ […] nicht erschöpfe, „[…] daß vielmehr neben der letzteren die Anschauung auch heute ihre volle spezifische Bedeutung behält.“189 Später allerdings, als er im Jahre 1908 das benannte Chapter von MERZ studierte, notierte er in seinem Skript: 184 Vgl. SCHLIMM 2013. – Pasch’ streng logisches Herangehen an Geometrie beeinflusste die Axiomatik von Peano und Hilbert. 185 Rede gedruckt in Göttinger Nachrichten, Geschäftl. Mitt. 1895, H. 2, 81-91; Zeitschr. math. u. naturw. Unterricht 27 (1896) 143-49; Klein 1922 GMA II, 232-40. Engl. Übers. v. Isabel Maddison “The arithmetizing of mathematics.” Bull. Amer. Math. Soc. 2 (1896) 241-49; Ital. Übers. v. Salvatore Pincherle, “Sullo spirito aritmetico nella matematica”. Rendiconti. del Circolo matematico di Palermo 10 (1896) 107–17; Franz. Übers. v. L. Laugel & A. W. Wassiljef, Sur «l’arithmétization» des mathématiques. Nouvelles annales de mathématiques, Sér. 3, 16 (1897) 114-28. – Vgl. auch die Analyse von FRIED/JAHNKE 2015. 186 KLEIN 1928 (11902), Vorlesung des SS 1901, ausgearbeitet durch C. H. Müller. 187 KLEIN 1922 GMA II, 248. – Aufsatz von 1873: KLEIN 1922 GMA II, 214-24. 188 KLEIN 1922 GMA II, 235. 189 Ebd., 233-34.

416

8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913 Bei Merz erscheint die Arithmetisierung noch als ein Abschluss, während wir jetzt wissen, dass sie nur ein Anfang war. (Subjektive Veranlassung, dass ich den Aufsatz schrieb. Raum für angewandte! Orientierung gegen Hilbert).190

Inzwischen (1908) hatte sich Hilbert einerseits auch Anwendungen zugewandt, und Klein akzeptierte und förderte andererseits die neueren, mehr abstrakter orientierten Richtungen, ohne selbst darin noch forschend tätig zu sein. Zweitens. Eng verknüpft mit Raumanschauung und nichteuklidischer Geometrie diskutierte Klein die Frage des erkenntnistheoretischen Wertes von Axiomen. Er hatte dazu auch Helmholtz studiert und war mit Sophus Lie aneinandergeraten (vgl. 6.3.6). Daraufhin hatte Klein 1894 gemeinsam mit Georg-Elias Müller die Beneke-Preisaufgabe gestellt, „[…] die historische Entwicklung der Grundbegriffe und Axiome, welche der neueren mathematischen Analysis (Zahlentheorie, Differential- und Integralrechnung, Funktionentheorie) zu Grunde liegen“, darzustellen. Sie sollten hinsichtlich „[…] ihrer Bedeutung für die mathematische Weiterarbeit und eventuell auch hinsichtlich ihrer logisch-erkenntnistheoretischen Bedeutsamkeit […]“ charakterisiert werden. Wenn auch keine preiswürdige Schrift einging und Klein diese Aufgabe 1902 zurückzog, so kam er doch mehrfach selbst auf das Thema zurück. Seine Äußerungen gipfelten in der Aussage: Wir kommen zu der Auffassung, dass die Raumanschauung zunächst etwas Ungenaues ist, welches wir zum Zwecke der mathematischen Behandlung in den sogenannten Axiomen (die uns wirkliche Forderungssätze vorstellen) idealisieren.191

Klein lehnte die Ansicht ab, dass die Axiome lediglich willkürliche Sätze seien, welche aufgrund von Konventionen vereinbart werden: […] so sind wir in den letzten Jahren im Anschluß an die moderne Axiomatik vielfach geradezu wieder in diejenige Richtung der Philosophie hineingeraten, die man von alters her Nominalismus nennt. Hier geht das Interesse an den Dingen selbst und ihren Eigenschaften ganz verloren; nur wie man sie nennt und nach welchem logischen Schema man mit den Namen operiert, davon wird noch geredet.192

Es sei bemerkt, dass mittelalterlicher und moderner Nominalismus nicht gleichzusetzen sind. Kleins Kritik richtete sich sachlich gegen den Konventionalismus, ein Konzept, das Henri Poincaré in das mathematische Denken einführte.193 Danach sind mathematische Axiome und Theoreme frei wählbare Konventionen ohne objektiven Inhalt. Allein Bequemlichkeit und „Denkökonomie“ seien für ihre Wahl ausschlaggebend.194 Klein meinte, dass dadurch das Interesse an den Dingen selbst und ihren Eigenschaften verloren gehe. Er hielt es „[…] für den Tod aller Wissenschaft: die Axiome der Geometrie sind – wie ich meine – nicht willkürliche, sondern vernünftige Sätze, die im allgemeinen durch die Raumanschauung veranlasst und in ihrem Einzelinhalte durch Zweckmäßigkeitsgründe reguliert 190 191 192 193 194

[UBG] Cod. Ms. F. Klein 7 M: Bl. 4. – Vgl. MERZ 1904-12, Vol. II, Chapter XIII. KLEIN 1922 GMA II, 235. KLEIN 1925 Elementarmathematik II, 202. Vgl. Poincaré, Henri (1908): Science et méthode. Paris: Flammarion. Vgl. auch die Analyse in Kleins Seminar [Protokolle] Bd. 29, 25-27.

8.3 Programm: Geschichte, Philosophie, Psychologie, Unterricht

417

werden.“195 Schließlich akzeptierte er Hilberts Ausdruckweise und formulierte: „[…] man stellt die Axiome der Anordnung, Verknüpfung und Stetigkeit auf und errichtet auf ihnen eine Geometrie“.196 Drittens. Aufgrund der erkannten Ungenauigkeit der Raumanschauung forderte Klein eine präzise Approximationsmathematik: „Ich verlangte u.a. für das Zeichnen eine ähnliche Fehlertheorie, wie man sie seit Gauß bei allen exakten Messungen verwendet.“197 Im Vortrag (6) der Evanston-Kolloquien hieß es: All this suggests the question whether it would not be possible to create a, let us say, abridged system of mathematics adapted to the needs of the applied sciences, without passing through the whole realm of abstract mathematics. Such a system would have to include, for example, the researches of Gauß on the accuracy of astronomical calculations, or the more recent and highly interesting investigations of Tchebycheff on interpolation.198

Klein hatte früh gesehen, dass sowohl bei Gauß als auch „unter den reinen Analytikern in Russland keine snobistische Haltung gegenüber der numerischen Mathematik“ bestand, während „im Westen leider der Graben zwischen der reinen Mathematik und ihren Anwendungen, namentlich auf technische Probleme, immer wieder aufgerissen wurde, wie es später A. M. OSTROWSKI (1966: 102) ausdrückte, der an der Edition von KLEIN GMA I mitwirkte (vgl. 9.2). Eine von Klein, Hilbert und G.-E. Müller für 1901 formulierte Beneke-Preisaufgabe (angenommen am 24.2.1898) war damit verknüpft und fragte nach der mathematischen Behandlung von Naturerscheinungen auf der Basis des Princips der Stetigkeit. Kleins Duzfreund Carl Stumpf reagierte darauf mit: Die kleine „Beneke“-Abhandlung habe ich mit grösstem Interesse gelesen. Hier liegt ohne Zweifel ein Cardinalpunct der ganzen Naturphilosophie (ich habe auch einmal, in der Rede über den Entwicklungsgedanken, auf die Schwierigkeiten des Stetigkeitsprincips hingewiesen). Aber wer soll die Aufgabe lösen? Da wirst Du Dich schon selber daran machen müssen.199

Da erneut keine preiswürdige Arbeit einging, publizierte Klein sein Gutachten und verlangte, präziser zu klären, „[…] die innere Bedeutung von Stetigkeitsvoraussetzungen […], ob sie mehr sind als ein blosses Hülfsmittel zur leichteren Durchführung der mathematischen Betrachtung, und in welchem Sinne die Resultate, welche man von den genannten Voraussetzungen aus ableitet, auf objective Gültigkeit Anspruch machen.“200 Über derartige Dinge wären frühere Mathematiker ohne weiteres hinweggegangen, Physiker und Philosophen würden die 195 KLEIN 1925 Elementarmathematik II, 202. 196 KLEIN 1926 Vorlesungen I, 151. – Vgl. auch Klein zu Hilberts Grundlagen der Logik und Arithmetik in KLEIN 31924, 14-16. 197 KLEIN 1922 GMA II, 212-13, 248. 198 Ebd., 230. 199 Stumpf an Klein, 4.6.1901 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 11: 1251. – Stumpf, C.: Der Entwicklungsgedanke in der gegenwärtigen Philosophie. Festrede, gehalten am Stiftungstage der Kaiser Wilhelms-Akademie für das militärärztliche Bildungswesen, 2.12.1899. Berlin 1899. 200 Gutachten, abgedruckt in Göttinger Nachrichten (April 1901), Geschäftl. Mitt., H. 1, 40-47; Math. Ann. 55 (1902) 143-48; KLEIN 1922 GMA II, 241-46, Zitat 243.

418

8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913

Frage eher als unbequem beiseite schieben, aber „die moderne Entwicklung der Mathematik nach der kritischen Seite hin“ erfordere, sich darüber klar zu werden, so Klein. Daraufhin erklärte er in drei Punkten: 1. An der Tendenz der Arithmetisierung als Basis für die neueren Entwicklungen sei festzuhalten. 2. Wenn aber die Außenwelt quantitativ untersucht werden soll, muss gefragt werden, welche Erleichterungen gestattet sind, wenn von den Resultaten wieder nur eine begrenzte Genauigkeit verlangt werden kann. 3. Die Lösung sah Klein darin, dass sich „Mathematiker und Empiriker auf einem Zwischengebiete die Hand reichen.“ Die Mathematiker hätten die Aufgabe zu bewältigen, „[…] auf Grund der arithmetisierten Wissenschaft eine umfassende Lehre von den Näherungsmethoden zu entwickeln, als eine besondere Disziplin dasjenige zu pflegen, was Hr. Heun neuerdings treffend als Approximationsmathematik bezeichnet hat.“ Der Empiriker (Anwender) habe die Aufgabe, „den Genauigkeitsgrad festzulegen, innerhalb dessen die (äußeren oder inneren) Beobachtungen, von denen er ausgeht, richtig sind, oder innerhalb deren er zuverlässige Resultate zu haben wünscht.“201

Klein betonte, dass sein bezeichnetes Programm nicht eigentlich neu sei. Er verwies wiederholt auf Gauß, Tschebyschow und betonte den Satz von Weierstraß, „[…] dass man jede in einem Intervall gegebene stetige Function durch eine rationale Function endlichen Grades mit beliebiger Genauigkeit gleichmäßig approximieren kann.“ Neu sei nur die Forderung, die bezeichnete Fragestellung in den Mittelpunkt aller angewandten Mathematik zu rücken und „einzusehen, daß die approximative Auffassung der Größenbeziehungen sehr viel mehr, als man früher wusste, unser ganzes Denken durchzieht.“202 Um die präzise Approximationsmathematik voranzubringen, ließ Klein Arbeiten von Tschebyschow zur Interpolation und Approximation von Funktionen einer Variablen analysieren. Er veranlasste, wie erwähnt, dass Lehrbücher der St. Petersburger Schule (Differenzenrechnung; Wahrscheinlichkeitsrechnung, vgl. 5.6) übersetzt werden. Er erkannte die Bedeutung von d’Ocagne’s Nomographie und unterstützte Carl Runges moderne numerische Mathematik, u.a. Dies war im Vergleich zur abstrakten, axiomatisch orientierten „modernen“ Mathematik eine andere Art von Moderne, die sich auf Basis des Instruments Computer später zu den Gebieten Wirtschafts- und Technomathematik entfalten sollte.203 Viertens. Universalismus. Klein versuchte, die Einheit der Philosophischen Fakultät zu sichern, wenn auch wiederholt Differenzen zwischen der geistes- und der naturwissenschaftlichen Sparte aufgetreten waren. Er bezeichnete dies selbst als „Universalismus“. In einer Rede vom 27. Januar 1904 argumentierte er mit dem Programm „Unification and mutual relations of the sciences“ des Congress of Arts and Science in Saint-Louis (19.9. – 25.9.1904), dessen Klassifikation von 201 Ebd., 244-45. – Zum Begriff Approximationsmathematik vgl. Heun, Karl: „Die kinetischen Probleme der wissenschaftlichen Technik“. Jahresbericht DMV 9 (1901) H. 2, 1-123. 202 KLEIN 1922 GMA II, 245. 203 Das Orientieren an Anschauung und Anwendung möchte ich im Unterschied zu Herbert MEHRTENS (1990) viel diskutierter Klassifizierung nicht als „gegenmodern“ bezeichnen. – Vgl. NEUNZERT/PRÄTZEL-WOLTERS 2015.

8.3 Programm: Geschichte, Philosophie, Psychologie, Unterricht

419

Wissenschaft er begrüßte: Philosophy und Mathematics waren als Normative Sciences vorangestellt, gefolgt von Historical Sciences, Physical Sciences and Mental Sciences (Psychology, Sociology).204 Hiervon ausgehend plädierte Klein nicht nur für die Einheit der philosophischen Fakultät in Göttingen, sondern unterbreitete zugleich Ideen, wie auch die philosophisch-historische Sparte der Fakultät stärkere Internationalität erlangen könnte: durch einen neuen Lehrstuhl für slawische Sprachen (insbes. für Russisch), durch das hinreichende Beachten ostasiatischer Sprachen, eine selbstständige Vertretung der Welthandelswirtschaft u.a.205 Dass es in Göttingen inzwischen Mathematik-Studierende aus Russland, Polen, Japan u.a. gab, mag diese Idee Kleins befördert haben. Von Althoff zwei Jahre später noch einmal um seine Ansicht gebeten, antwortete Klein: Meine Auffassung ist in der Tat eine ganz andre, als die, die jetzt auf der philologischen Seite hervortritt; ich möchte, soweit dies möglich ist, geradezu für die Entwicklung einer engeren Beziehung zwischen den zweierlei Sparten eintreten. Wir könnten ungeheuer viel von einander lernen und sollten bei den Aufgaben, die uns gemeinsam sind, z.B. bei der Lehrerbildung uns gegenseitig durch Rat und ausführliche Bezugnahme (auch wenn dabei allerlei Meinungsverschiedenheiten hervortreten sollten) unterstützen. Wenn diese Unterstützung noch einer Kräftigung bedurfte, so ist mir diese im letzten Jahre geworden, wo ich u.a. an der Versammlung deutscher Ph.[ilologen] u. Sch.[ulmänner] in Hamburg teilnahm u. andererseits begonnen habe, die Beziehungen zwischen Math.[ematik] u.[nd] Philosophie zu studieren.206

Klein konnte die Spaltung der Philosophischen Fakultät der Universität Göttingen hinausschieben, aber nicht verhindern. Am 16. Juni 1910 beschloss die Fakultät, eine mathematisch-naturwissenschaftliche und eine historisch-philologische Abteilung zu bilden.207 Dass am 29. Januar 1921 die „Kommission für die Trennung der Fakultät in zwei Fakultäten […] in der Wohnung des Kollegen Klein“ tagte208, war ein Ausdruck seines fortdauernden Mitwirkens (vgl. Kapitel 9). Seit 1922 existierten zwei getrennte Fakultäten. Es sei noch erwähnt, dass sich Klein zu verschiedenen Philosophen kritisch, zustimmend bzw. fördernd verhielt. So schloss er sich der Rezension des österreichischen Philosophen Benno Kerry an, der verwaschene Ansichten von Paul du Bois-Reymond zum Funktionsbegriff (Allgemeine Funktionentheorie, Tübingen 1882) kritisch besprochen hatte.209 So kritisierte Klein Arthur Schopenhauer, der glaubte, die mathematische Wahrheit direkt der Anschauung entnehmen zu können. Denn wenn Klein auch Anschauung als heuristisches Prinzip noch so sehr 204 Rogers, H. J. ed. (1905): Congress of Arts and Science. Universal Exposition, St. Louis 1904. Vol. I. Boston/New York: Houghton, Mifflin & Co.; zur Klassifikation p. 13. 205 Rede vom 27.1.1904 (Kaiser-Geburtstag), Klein, F.: „Über die Aufgaben und die Zukunft der philosophischen Fakultät“. Jahresbericht DMV 13 (1904) 267-76. – Klein kam später auf die Forderungen zu Fremdsprachen und Auslandsstudien noch einmal zurück (vgl. 9.3.1). 206 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 8: 8 Anlage (Klein, Briefentwurf an Althoff, 19.2.1906). 207 [UAG] Phil. Fak. III, Bd. 5, Bl. 80-81. 208 Ebd., Bl. 251. 209 KLEIN (31928) Elementarmathematik III, 15; vgl. auch Kerry, B. (1885): Review of „Paul du Bois-Reymond Allgemeine Functionentheorie. Erster Theil Tübingen 1882“. Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie 9, 245-55; FISHER 1981.

420

8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913

schätzte, forderte er „doch als letzte allein entscheidende Instanz immer wieder den von den Voraussetzungen ausgehenden logischen Beweis“.210 Hinsichtlich Immanuel Kant lesen wir bei Klein einerseits, dass er ihn „[…] weder verurteilen noch anerkennen“ mochte, da er sich an unterschiedlichen Stellen verschieden geäußert habe. Andererseits lehnte Klein Philosophen ab, die an Kants orthodoxer Raumauffassung anknüpften, dass der dreidimensionale Raum a priori denknotwendig sei.211 Ludwig Boltzmann betonte in der Diskussion zu Kleins Wiener Vortrag: „Ich stimme mit Geheimrat Klein ganz überein in dem Gegensatze zur Kantschen Lehre. Ich begreife gar nicht, wie man vom Beweisen aus Anschauung reden kann; wenn ich den Kant lese, begreife ich gar nicht, wie ein vernünftiger Mensch das schreiben kann.“212 Empfohlen durch seinen Freund Carl Stumpf aus der Privatdozentenzeit gelang es Klein, den in Mathematik promovierten 42-jährigen Edmund Husserl auf ein 1901 neu etabliertes philosophisches Extraordinariat in Göttingen zu bringen,213 woraus 1906 ein persönliches Ordinariat wurde. Klein wandte sich – ähnlich wie Max Planck und Carl Runge – gegen den Physiker Gustav Robert Kirchhoff, der Naturerscheinungen nur beschreiben, aber nicht zu erklären suchte, und kommentierte dazu: „Ich kann nicht verhehlen, daß mir diese Auffassung der Naturwissenschaft äußerst antipathisch ist, weil sie die Freude des Lernens und den Trieb zur Weiterforschung unterbindet.“ In diesem Kontext kritisierte Klein „positivistisch gerichtete Philosophen, z.B. Ernst Mach“.214 Zuvor jedoch hatte er gemeinsam mit Hilbert, Einstein, Mach, G.-E. Müller und weiteren 29 Wissenschaftlern (kein weiterer Mathematiker) im Jahre 1913 einen Aufruf zur Gründung einer Gesellschaft für positivistische Philosophie unterzeichnet. Diese verfolgte das Ziel, „[…] eine umfassende Weltanschauung auf Grund des Tatsachenstoffes vorzubereiten, den die Einzelwissenschaften aufgehäuft haben […].“215 Auch wenn Hermann Weyl später urteilte: „[…] hier blieb er [Klein] den Dogmen seiner Zeit, dem Empirismus und einer Psychologie eng verhaftet, für welche Mach der extreme Repräsentant ist und uns heute, gerade auch von einem vorurteilslosen empiristischen Standpunkt aus, immer fragwürdiger zu werden beginnt,“216 sah Klein doch Mach nicht kritiklos. Wer und was Klein in psychologischer Hinsicht besonders prägte, sei in 8.3.3 erörtert. 210 KLEIN 31925, Elementarmathematik II, 257. – Schopenhauer, A. (1819): Die Welt als Wille und Vorstellung. Leipzig: Brockhaus. 211 KLEIN 11909, Elementarmathematik II, 367-68. 212 Klein, F.; Höfler, A. (1906): Zwei Besprechungen über „Grenzfragen der Mathematik und Philosophie“ und „Geometrische Nicht-Anschauung und Gestalt-Anschauung“. Leipzig: Barth, 8-9. 213 Stumpf an Klein, 4.6.1901 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 11: 1251. – Husserl promovierte 1883 in Wien bei Leo Koenigsberger (Beiträge zur Theorie der Variationsrechnung) und konvertierte gemäß dessen Beispiel 1886 zum Christentum; 1887 Habilitation (Über den Begriff der Zahl) beim Philosophen Carl Stumpf in Halle. 214 KLEIN 1926 Vorlesungen I, 220; 219; vgl. auch HENTSCHEL/TOBIES 2003, 22-24. 215 „Aufruf!“ Zeitschrift für Mathematik und Physik 61 (1913) 203; Archiv für Geschichte der Philosophie 25 (1912) 502. 216 WEYL 1930, 5.

8.3 Programm: Geschichte, Philosophie, Psychologie, Unterricht

421

8.3.3 Psychologisch-erkenntnistheoretische Klassifizierungen Wenn wir hier psychologische Aspekte getrennt betrachten, so sei noch einmal betont, dass Klein philosophische, psychologische und pädagogische Komponenten in der Regel zusammendachte. Das belegt auch sein Seminar „Über die psychologischen Grundlagen der Mathematik“, welches er im Winter 1909/10 mit Felix Bernstein und Leonard Nelson durchführte. Kleins einleitend formulierte Themen verweisen auf die Gesamtdisposition vom ENCYKLOPÄDIE-Band VII: -

die Arbeitsweise des schaffenden Mathematikers, wie entstehen mathematische Grundanschauungen (Raum- und Zahlanschauung), Entstehen und erkenntnistheoretischer Wert von Axiomen, verschiedene Arten von Irrtümern in der Mathematik, Schlussfolgerungen für den Unterricht, vom Kindergarten bis zur Hochschule, Stellung der Mathematik im System der Wissenschaft.217

Einige dieser Aspekte haben wir bereits beleuchtet; die Schlussfolgerungen für den Unterricht verlegen wir in Abschnitt 8.3.4. Hier sei die erste Frage diskutiert, die Arbeitsweise des schaffenden Mathematikers. Klein suchte nach den Momenten, die Herangehen, Kreativität und Produktivität in der Mathematik bestimmen. Kooperierend mit zahlreichen Mathematikern hatte er unterschiedliche Forschungsstile erkannt. Daraus resultierte bereits die Klassifikation, die er bei der Berliner Berufungssache 1892 unterbreitet hatte (vgl. 6.5.1.1). Kleins Vortrag (6) On the mathematical character of space-intuition and the relation of pure mathematics to the applied sciences vom Evanston-Kolloquium (1893) enthält außer der Einteilung in Philosophen, Intuitionisten und Algorithmiker eine national und eine konfessionell bedingte Komponente. Nach Bemerkungen über Forschungsstile bei Euklid, Newton, Georg Cantor, Moritz Pasch, Guiseppe Peano mutmaßte Klein: Finally, it must be said that the degree of exactness of intuition of space may be different in different individuals, perhaps even in different races. It would seem as if a strong naïve spaceintuition were an attribute pre-eminently of the Teutonic race, while the critical, purely logical sense is more fully developed in the Latin and Hebrew races.218

Analysen offenbaren, dass Klein mit derartiger Zuordnung keine Richtung bzw. „Rasse“ herabwürdigen wollte.219 Er schrieb differierenden Wegen, zu mathematischen Erkenntnissen zu kommen, gleiche Wertigkeit zu. Dennoch war eine derartige Aussage noch nach seinem Tode geeignet, politisch für antifranzösische oder 217 [Protokolle] Bd. 12, 1-72, Kleins Eröffnung, 1-5. – Klein protokollierte alle Vorträge dieses Seminars selbst mit eigener Hand, im Unterschied zum sonstigen Vorgehen. – Am Seminar beteiligten sich auch die Privatdozenten Otto Toeplitz und Ernst Zermelo. Letzterer hielt parallel die Vorlesung „Über die logischen Grundlagen der Mathematik“ (1909/10), die Klein in das Programm des ENCYKLOPÄDIE-Schlussbandes ordnete. Es trugen zudem vor: Hermann Weyl, Erwin Freundlich, der spätere belgische Mathematik-Professor Afred Errera und der belgische Philosoph Paul Decoster, der spätere Reformpädagoge Bernhard Uffrecht, Kleins Doktorschüler Wilhelm Behrens sowie ein bisher nicht identifizierter Herr Steckel. 218 KLEIN 1922 GMA II, 228. 219 Vgl. schon ROWE 1986 – Im 18. Jh. klassifizierte Carl von Linné den Menschen erstmals in die Primatenreihe und beschrieb vier Klassen mit verschiedenen Charaktereigenschaften.

422

8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913

antisemitische Zwecke missbraucht zu werden. Das Agieren des Mathematikers Ludwig Bieberbach in der NS-Zeit stellt dafür das krasseste Beispiel dar.220 Im genannten Psychologie-Seminar 1909/10 referierte Felix Klein über Gauß, Sophus Lie und seine eigene Forschungsmethode; Leonard Nelson blickte auf Dirichlet; Felix Bernstein auf Georg Cantor. Erwin Freundlich trug über berühmte Kopfrechner und Schachspieler vor. Klein schlussfolgerte: 1) Es gibt verschiedene Typen der Produktivität. 2) Gemeinsam sei nur bei allen Typen die intensivste und ausschließlichste Beschäftigung mit einem mathematischen Problem. 3) Alles andere sei individuell bedingt: „[Mathematische] Produktion genauso aus der geheimnisvollen inneren Konstitution des Individuums hervorsteigend, wie die Produktion des Künstlers.“ 4) Die Logiker seien armseelig, weil sie die Rolle des Mathematikers durch formelle Aneinanderkettung von Syllogismen erschöpft glauben. 5) Äußere Hilfsmittel wie Bibliotheken, Anleitung in Vorlesung und Übungen, persönlicher Verkehr, Zusammenarbeiten kann wichtig sein, seien aber nur Beiwerk. 6) „Die Frage ist nicht, wie man die produktiven Persönlichkeiten erklären kann, sondern höchstens, wie man sie klassifizieren kann.“ 7) Schließlich leitete er davon (erneut) her, dass immer zwischen Anschauung und Logik, „will sagen Erfindung und Beweis“ unterschieden wird.221

Kleins handschriftliches Protokoll über Felix Bernsteins Seminar-Vortrag lässt eine etwas spekulative psychologische Typologisierung erkennen: „konstruierende Naturen“ (mit 3/4 Logik und 1/4 Phantasie bei Mathematikern); „beobachtend Kombinierende“ (1/4 Logik und 3/4 Phantasie). Diese seien zusätzlich von Gegensatzpaaren wie Systematiker – Aphoristiker, sukzessives bzw. intuitives Vorgehen, Einseitigkeit – Vielseitigkeit sowie Deduktion – Empirie durchkreuzt. Zugleich lesen wir die einleuchtende Aussage: „Der Stoff, über den der einzelne Mathematiker arbeitet, sei weniger durch die Art seiner Begabung als durch den Bildungsgang und die allgemeine Zielrichtung bestimmt“.222 Anstelle von geographischen, religiösen u.a. Zuordnungen entdecken wir die Erkenntnis: „Die Eigenart der Begabung ist an kein Geschlecht gebunden, nur an das Individuum“, wie es später Mathilde Vaerting formulierte, mit der bildungspolitischen Schlussfolgerung: „Deshalb hat man allen Kindern gleiche Möglichkeiten zur Entfaltung ihrer Individualität zu geben ohne Rücksicht auf ihr Geschlecht.“223 Klein schuf sich mit den Lehrveranstaltungen den (internationalen) Überblick für seine editorischen Großprojekte. In Italien verknüpfte Frederigo Enriques die Analyse der Genesis von Postulaten eng mit dem Blick auf psychologische Kriterien. Klein hatte bereits bei einer Italienreise 1899 psychologische Fragen mit Enriques diskutiert224 und dies in Göttingen 1903 fortgesetzt, um den Beitrag „Principien der Geometrie“ (1907), Eingangsartikel vom ENCYKLOPÄDIE-Band III, mit 220 221 222 223 224

Vgl. hierzu MEHRTENS 1987; 2004. – Vgl. auch Anhang Nr. 9. [Protokolle] Bd. 12, Bl. 10. Ebd. Bl. 59-60, Zitat 59. Vgl. hierzu ABELE/NEUNZERT/TOBIES 2004, 32; TOBIES 2018b. Vgl. Beiträge von L. Giacardi und G. Lolli in COEN 2012, bes. 224.

8.3 Programm: Geschichte, Philosophie, Psychologie, Unterricht

423

ihm vorzubereiten. Aurel Voss’ Beitrag „Über die mathematische Erkenntnis“ für die Kultur der Gegenwart (vgl. Abb. 32) beginnt mit psychologischen und logischen Aspekten. In die IMUK-Abhandlungen band Klein einen Beitrag Psychologie und Mathematikunterricht des Göttinger Privatdozenten David Katz ein. Katz basierte nicht nur auf Georg-Elias Müller, der in Göttingen 1887 das weltweit zweite Institut für Psychologie errichtet (nach Wilhelm Wundt in Leipzig) und 1904 eine Gesellschaft für experimentelle Psychologie initiiert hatte. Klein hatte Katz auch nach Leipzig (Institut für experimentelle Psychologie) und Jena (Übungsschule des Reformpädagogen Wilhelm Rein) geschickt, um dortige Erfahrungen in das IMUK-Referat einbinden zu lassen.225 8.3.4 „Kleinsche“ Unterrichtsreform Im Großen und Ganzen stehen wir alle unter dem Einfluß der Bewegung, welche von Herrn Prof. Klein inauguriert und von der deutschen Commission weiter gefördert wurde.226

Der Ungar Emanuel Beke sprach dies auf dem IV. Internationalen MathematikerKongress in Rom aus. Beke hatte 1893-94 bei Klein studiert und schon damals dessen Hinwenden zu Lehrerkreisen begeistert aufgenommen.227 Er leitete nun die Reform in Budapest. Klein war 1899 in das Comité de Patronage der ersten internationalen Zeitschrift für Mathematikunterricht L’Enseignement mathématique gebeten worden (Abb. 33).228 Als Präsident der DMV (vgl. 6.4.4) hatte er für Rom alles vorbereitet, fuhr aber aus Zeitgründen nicht selbst. Er übertrug Dyck den zugesagten Vortrag über die ENCYKLOPÄDIE bereits am 11. Februar 1908 und sandte Gutzmer mit Vollmachten für Unterrichtsfragen.229 Somit konnte David Eugene Smith, Übersetzer von Kleins Elementargeometrie (vgl. 7.3), vorschlagen: Überzeugt von der Wichtigkeit einer vergleichenden Untersuchung der Methoden und Lehrpläne des mathematischen Unterrichts in den höheren Schulen der verschiedenen Länder beauftragt der Kongreß die Herren Klein, Greenhill und Fehr mit der Bildung einer internationalen Kommission, die diese Fragen studieren und dem nächsten Kongreß einen Gesamtbericht vorlegen soll.230

225 Katz, D. (1913): „Psychologie und mathematischer Unterricht“. Abhandlungen über den math. Unterricht in Deutschland. Bd. 3, H. 8, IV. Leipzig: B. G. Teubner. – TOBIES 2018b. 226 Beke, E.: „Über den jetzigen Stand des mathematischen Unterrichts und die Reformbestrebungen in Ungarn.“ Atti del IV congresso internazionale dei matematici Roma, 6-11 Aprile 1908. Vol. III. Roma 1909, 531. 227 [Protokolle] Bd. 11 (3 Vorträge im Januar 1894), 2 Arbeiten in Math. Ann. 45 (1894) 278300. – Briefe von Beke an Klein, 8.3., 21.8.1895 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 8: 76A, 76B/1. 228 Vgl. zur Geschichte dieser Zeitschrift CORAY et al. 2003. 229 Klein entschuldigte die Nichtteilnahme mit seiner Wahl ins Herrenhaus, Jahresbericht DMV 17 (1908) Abt. 2, 130. Zur Übergabe seines Plenarvortrags an Dyck vgl. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 22H. Zu Gutzmers Vortrag in Rom vgl. Atti del IV congresso internazionale dei matematici Roma, 6-11 Aprile 1908. Vol. III. Roma 1909, 445. 230 FEHR 1909, 1. – Zur IMUK vgl. TOBIES 1979a, 1984; HOWSON 1984, MENGHINI et al. 2008.

424

8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913

Abb. 33: Titelblatt der Zeitschrift L’Enseignement mathématique, Bd. 1 (1899), Organ der IMUK seit 1908

D.E. Smith’ Vorschlag zur Bildung einer Internationalen Mathematischen Unterrichtskommission (IMUK) wurde am 11. April 1908 in Rom angenommen. Obgleich der Auftrag auf höhere Schulen begrenzt war, dehnte sich die Arbeit unter Kleins Ägide auf alle Schularten aus. Er folgte seiner Disposition vom ENCY-

8.3 Programm: Geschichte, Philosophie, Psychologie, Unterricht

425

KLOPÄDIE-Band

VII: „Didaktik der Mathematik an Unterrichtsanstalten aller Stufen und Zwecke, im In- und Ausland“ (vgl. 8.3). Dabei gelang ihm Kooperation, obwohl moderner mathematisch-naturwissenschaftlicher Unterricht einen Aspekt internationalen Wettstreits darstellte. Die Royal Commission on Technical Instruction (London) berichtete 1896 über einen Studienaufenthalt in Deutschland: They [our foreign rivals] are convinced, that the nation which has the best schools is the best prepared fort the great industrial warfare which lies before us, and no money appears to be grudged for the creation, equipment, and maintenance of educational institution of all grades, and especially of the science laboratories which, as we have seen, are being multiplied in Germany.231

Klein bediente sich vornehmlich idealer Argumente in seinen Verlautbarungen zu Bildungsfragen und konnte damit international überzeugen. Er sah aber durchaus, dass derartige Konkurrenzargumente im Heimatland nützlich sein könnten: […] die große Sorgfalt, die beispielsweise in England und Amerika dem physikalischen und chemischen (wie auch dem mathematischen) Unterricht neuerdings zugewendet wird, [wird] ausdrücklich damit begründet, daß man hofft, solcherweise die Bevölkerung für den Konkurrenzkampf der Nationen auf dem Gebiete der Industrie und der militärischen Geltung tüchtiger zu machen! Fürwahr ein wichtiger Grund, vielleicht mehr geeignet, unseren Wünschen bei den maßgebenden Instanzen Gehör zu verschaffen, als alle idealen Überlegungen, mit denen wir sonst operieren.232

In der IMUK konnte sich Klein auf den Mathematikunterricht konzentrieren. In den deutschen Gremien musste er breite Interessen beachten und blickte wie folgt auf Ursachen für den Start der Reform, die seinen Namen erhalten sollte: Von seiten der Technik und den Naturwissenschaften kommen die treibenden Impulse. Zum Beleg seien die Namen einiger Vorläufer der Reformbewegung in Deutschland genannt: da ist der Physiologe [Emil] Du Bois-Reymond, ferner Gallenkamp, ein Sohn des niederrheinischen Industriebezirks, ferner A. Wernicke – Braunschweig, der von seiten der alten Gewerbeschule Einflüsse vom Vater her empfing. Kurzum, die Wendung des Interesses auf das Naturwissenschaftliche und Technische ruft auch einen Umschwung in der Wertung der Mathematik hervor. War sie früher lediglich ein Mittel der formalen Bildung, ein Wetzstein des Verstandes gewesen, so fing man jetzt an, in ihr auch das Rüstzeug zum Verständnis des umgebenden Lebens zu sehen.233

So hatte Emil Du BOIS-REYMOND (1877, 629) formuliert: Unter der Fahne: „Kegelschnitte! Kein griechisches Skriptum mehr!“ getraue ich mir, ein durch die Summe der darin vertretenen Intelligenz formidables Gymnasialreform-Meeting zusammenzubringen. Eine Schulkonferenz von 1890 rief Weiteres hervor.234 In 231 Royal Comm. on Techn. Instruction LXXXVIII. Report on a visit to Germany, with a view of ascertaining the Recent Progress of Technical Education in that Country. London 1896, 412. 232 Klein, F.: „Bericht an die Breslauer Naturforscherversammlung über den Stand des math. und physikalischen Unterrichts an den höheren Schulen“ (1904). In: KLEIN 1907b, 203. 233 Weinreich, H. (1914): „Der mathematisch-physikalische Ferienkursus an der Universität Göttingen Ostern 1914“. ZmnU 45, 487-510, hier Zitat aus Kleins Vortrag, 493. 234 Die unter der Ägide von Wilhelm II. stehende Konferenz zielte vornehmlich gegen ein “staatsgefährdetes Proletariat Gebildeter“. Als Mathematiker war nur der Gewerbeschul-Direktor Gustav Holzmüller beteiligt, der die (nicht realisierte) Idee des Kaisers vom lateinlosen

426

8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913

der 1890 gegründeten DMV wurden seit 1893 Unterrichtsfragen diskutiert. Die Gymnasiallehrer der Mathematik und Naturwissenschaften schlossen sich 1890 in einem Förderverein zusammen, den Klein 1894 für sich einnahm (vgl. 7.3). Auf die GDNÄ wirkte das ausländische Beispiel: Bei den anderen großen naturwissenschaftlichen Vereinigungen in England (British Association for the Advancement of Science) und in Frankreich (Association française pour l’advancement des sciences) werden unterrichtliche Fragen bedeutend mehr berücksichtigt, als dies in Deutschland der Fall zu sein pflegt.235

Als Vorstandsmitglied der GDNÄ engagierte sich Klein bewusst für das Ineinandergreifen der Sectionen auf den Jahresversammlungen.236 Er konnte den LehrerVerein (Förderverein) 1898 als Träger der mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichtssektion der GDNÄ installieren und selbst ein Podium für seine Art und Weise der Hochschullehre finden (Abschnitt 8.3.4.1).

Abb. 34: Gremien in Deutschland, in denen Klein Unterrichtsfragen diskutierte

Auf der preußischen Schulkonferenz, 6.-8. Juni 1900, unterbreitete Klein seine Reformvorschläge (vgl. 8.3.4.2) und avancierte zu einer Instanz, der auch andere Fachvertreter ihre Wünsche sandten. Die Interessen zu bündeln und abzugleichen, entwickelte sich sichtbar zu einem inneren Bedürfnis für Klein: Die Sache scheint mir so wesentlich, dass ich laut meine Stimme erheben möchte, um Dicussion darüber auf der ganzen Linie der Interessenten und Sachverständigen hervorzurufen. Schulwesen unterstützte und sich bei späteren Lehrplan-Diskussionen gegen moderne Forderungen (analytische Geometrie, Analysis) wandte (vgl. SCHUBRING 2000). 235 [StA Berlin] Rep. 76 Vc, Sekt. 1, Tit. XI, Nr. 8, Bd. VI, Bl. 243. 236 Vgl. Klein an Hilbert, 4.10.1894 in FREI 1985, 111.

8.3 Programm: Geschichte, Philosophie, Psychologie, Unterricht

427

Dies formulierte Klein, als er sich schriftlich auf eine Beratung am 11. Dezember 1901 mit Hochschul- und Gymnasiallehrern in Göttingen vorbereitete, um die verschiedenen Wünsche abzustimmen (Inhalte bis hin zur Anzahl der Wochenstunden der einzelnen Fächer an den höheren Schulen).237 Unmittelbarer Anlass für dieses Treffen war ein Brief von Karl Kraepelin, der ihm Thesen der Biologen (Naturforscherversammlung 1901) gesandt hatte, die Platz für ihr aus dem höheren Schulunterricht verbanntes Gebiet (vgl. 4.3.3) einforderten.238 Daraufhin schlug Klein auf der Naturforscherversammlung 1903 in Kassel vor, eine Unterrichtskommission zu bilden, die auf der folgenden Versammlung 1904 in Breslau zusammentrat. Die aus zwölf Personen bestehende „Breslauer Unterrichtskommission“ erarbeitete Reformvorschläge, die nachfolgend in Meran 1905, in Stuttgart 1906 und Dresden 1907 präsentiert wurden.239 Klein agierte als DMV-Vertreter und gewann August Gutzmer für den Vorsitz, Karl Kraepelin als Vertreter für Biologie, Carl Duisberg240 für Chemie/chemische Industrie, zwei Mediziner, einen VDI-Vertreter, Lehrer höherer Schulen. Zudem gelang es mit der Breslauer Unterrichtskommission, die Interessen von Frauenvereinen zu berücksichtigen (vgl. 8.3.4.2). Klein überzeugte ebenso die Philologen und Schulmänner, indem er auf deren Jahrestagungen (Hamburg 1905, Basel 1907) selbst vortrug. Mit nachweislich diplomatischem Geschick erreichte er gemeinsame Vortragsreihen und abgestimmtes Vorgehen bei der Reform.241 Im September 1907 wurde auf der Naturforscherversammlung in Dresden ein Deutscher Ausschuss für den mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht (DAMNU) beschlossen, um die Reformvorschläge umzusetzen. 21 wissenschaftliche Gesellschaften traten bei. Klein und Stäckel fungierten als DMV-Vertreter. Klein leitete zudem den Unterausschuss für Lehrerbildung des DAMNU.242 Für das Umsetzen der Vorschläge ergab sich ein zusätzliches Aktionsfeld, als Klein am 14. Dezember 1907 von der Universität Göttingen als Repräsentant für die Erste Kammer des preußischen Landtags (Herrenhaus) gewählt wurde, in der Nachfolge des verstorbenen Richard Wilhelm Dove (vgl. 2.7.1). Der Kaiser Wilhelm II. verfügte am 17. Februar 1908 die Mitgliedschaft auf Lebenszeit,243 was letztlich mit dem Kaiserreich endete. Klein initiierte auch im Herrenhaus eine Unterrichtskommission, die für jede Session neu gewählt wurde. Ab Session 1908-09 trat er wiederholt als Redner im Namen dieser Kommission auf.244 237 Notizen Kleins (12 Seiten) [UBG] Cod. Ms. F. Klein 31, Bl. 30-35v, Zitat Bl. 34v. 238 Kraepelin an Klein, 23.11.1901 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 31. – Das Wiedereinführen des Biologieunterrichts in den oberen Klassen wurde schließlich mit dem preußischen Erlass v. 19.3.1908 verfügt. [StA Berlin] Rep. 76 Vb Sekt. 1, Tit. 5, Abt. V, Nr. 12, Vol. I, Bl. 33. 239 Sie sind publiziert in GUTZMER 1908, bereits diskutiert in TOBIES 1979a. 240 Duisberg begann als Chemiker bei den Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co. und war dort seit 1900 Vorstandsmitglied, wie H. Th. Böttinger; vgl. auch KÜHLEM 2012. – Zu den Namen der weiteren Kommissionsmitglieder vgl. TOBIES 2000, 31. 241 Vgl. hierzu detailliert TOBIES 2000, 35-37. 242 Vgl. GUTZMER 1908, 1914. – Die Arbeit des DAMNU endete mit Gutzmers Tod 1924. 243 Stenogr. Berichte über die Verhandlungen im Herrenhaus, Session 1907/08, 5. Sitzung, 46. 244 Vgl. KLEIN 1923a Autobiographie, 33.

428

8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913

Tabelle 9: Mitglieder der Kommission für Unterrichtswesen des Herrenhauses (Erste Kammer des preußischen Landtags), gebildet am 19. März 1909245 Mitglied 1. Dr. von Studt, Konrad (Kultusminister 1901 – 1907) Vorsitzender 2. Dr. Klein, Felix o. Prof. Universität Göttingen stellv. Vorsitzender 3. Dr. Graf York v. Wartenburg, Heinrich Landrat a.D. 4. Knobloch, Alfred Oberbürgermeister der Stadt Bromberg 5. Faber, Wilhelm Wirklicher Oberkonsistorialrat 6. Graf v. Haeseler, Gottlieb Generalfeldmarschall a.D. 7. Dr. Hillebrandt, Alfred o. Prof. Universität Breslau 8. Graf v. Königsmarck, Karl Schloßhauptmann v. Rheinsberg 9. Kardinal Dr. v. Kopp, Georg Fürstbischof v. Breslau 10. Graf. v. Kospoth, Karl August Majoratsbesitzer 11. Graf v. der Osten, Leopold Major a.D. 12. Dr. Slaby, Adolf o. Prof. Technische Hochschule Berlin 13. Christian Ernst Hermann Fürst zu StolbergWernigerode 14. Voigt, Georg Oberbürgermeister der Stadt Barmen 15. Dr. Zorn, Philipp o. Prof. Universität Bonn

Kategorie der Mitgliedschaft Allerhöchstes Vertrauen (= ernannt durch den Kaiser) Universität Erblich Stadt Bromberg Allerhöchstes Vertrauen Allerhöchstes Vertrauen Universität Familienverband Allerhöchstes Vertrauen Allerhöchstes Vertrauen Familienverband Allerhöchstes Vertrauen Erblich Stadt Barmen Allerhöchstes Vertrauen

Eine Parlamentstätigkeit war für Mathematiker in Italien und Frankreich nicht ungewöhnlich. In Deutschland saß Klein als einziger Mathematiker im Herrenhaus, wenn auch nicht als einziger Universitätsprofessor. Alle preußischen Universitäten hatten ihren Vertreter dort. Mit dem Sanskritologen Alfred Hillebrandt sollte Klein später für Auslandsstudien plädieren (vgl. 9.3.1). Der Elektrotechniker Adolf Slaby war 1898 vom Kaiser selbst ins Herrenhaus berufen worden. Den Interessenausgleich im internationalen Raum organisierte Klein derart, dass er nicht nur im IMUK-Vorstand mit George Greenhill und Henri Fehr (Generalsekretär) gut harmonierte. Klein gewann Walther Lietzmann, der in Rom 1908 245 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Mitglieder_des_Preußischen_Herrenhauses, wo die Namen erklärt sind. Im Personenregister des vorliegenden Buch sind sie nur enthalten, wenn sie noch an anderer Stelle vorkommen.

8.3 Programm: Geschichte, Philosophie, Psychologie, Unterricht

429

teilgenommen hatte, als eine Art Sekretär für die IMUK-Arbeiten. Klein wählte die Mitglieder des deutschen IMUK-Unterausschusses in Köln 1908 selbst aus. Damit blieben Reform-Unwillige, wie der Vorsitzende des Fördervereins Friedrich Pietzker (gehörte zur Breslauer Kommission), ausgeschlossen. Als Delegierte für die IMUK fungierten Klein, Paul Stäckel und Peter Treutlein; als Nationalen Beirat konnte Klein die Zeitschriften-Herausgeber August Gutzmer (Jahresbericht der DMV), Heinrich Schotten (ZmnU), Friedrich Poske (Zeitschrift für physikalischen und chemischen Unterricht) und Albrecht Thaer (Unterrichtsblätter für Mathematik und Naturwissenschaften) etablieren.246 Klein gewann auch, wie Lietzmann überlieferte, die Delegierten anderer Länder für die IMUK weitgehend selbst: „Hier war nun immer wieder die fabelhafte Fähigkeit Kleins zu bewundern, in all den Ländern den geeigneten Mann herauszusuchen.“247 Zu ihnen gehörten N. J. Sonin für Russland, Emanuel Beke für Ungarn, Gaston Darboux für Frankreich sowie zahlreiche weitere, mit denen Klein verbunden war, wobei seine Mitgliedschaft in inzwischen 39 Akademien und wissenschaftlichen Gesellschaften die Kontakte erleichterte. Es sollten insgesamt 18 Länder in der IMUK vertreten sein.248 8.3.4.1 „Philosophie der Mitte“ für Schule und Anfängerausbildung

Klein formulierte in seiner Rede „Über Arithmetisierung der Mathematik“ (1895): Es sind zwei entgegengesetzte Strömungen, die nebeneinander herlaufen, ohne bisher nennenswert aufeinander einzuwirken. Bei den Lehrern unserer Gymnasien wird die Notwendigkeit eines an die Anschauung anschließenden mathematischen Unterrichts im Augenblicke vielfach so stark betont, daß man gezwungen ist zu widersprechen und umgekehrt die Notwendigkeit eingehender logischer Entwicklungen zu betonen […]. Bei den Hochschullehrern unseres Fachs aber liegt die Sache genau umgekehrt: die Anschauung wird häufig nicht nur unterschätzt, sondern nach Möglichkeit überhaupt beiseite geschoben. Es ist dies ohne Zweifel eine Folge der großen inneren Wichtigkeit, welche den arithmetischen Tendenzen der modernen Mathematik innewohnt.249

Klein leitete für den Schulunterricht ein Credo der Mitte ab, das sich in den Reformlehrplänen spiegelt. Seine Polemik allerdings, dass die Arithmetisierungstendenz eine „verkehrte Pädagogik“ sei, „eine schiefe Gesamtauffassung der Wissenschaft“ und „zwei Kategorien mathematischer Vorlesungen notwendig von der Anschauung ihren Ausgangspunkt nehmen sollten“, d.h. Elementarvorlesungen für Anfänger sowie für Naturforscher und Ingenieure, fand auch Gegner. 246 Gutzmer, Schotten, Poske gehörten bereits zur Breslauer Kommission. – Stäckel, Treutlein und Thaer gewann Klein auch als Autoren für die IMUK-Abhandlungen. 247 LIETZMANN 1960, 45. 248 Argentinien, Australien, Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Österreich, Niederlande, Rumänien, Russland, Schweden, Schweiz, Spanien, Ungarn, USA. Vgl. FEHR 1920; TOBIES 1979a, 26. – Kleins letzter Brief an Darboux, 23.3.1914, bezog sich auf den letzten IMUK-Kongress vorm Krieg in Paris, abgedruckt in TOBIES 2016. 249 Vgl. hier und im Folgenden KLEIN 1922 GMA II, 239-40, Zitat 239.

430

8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913

Einerseits stimmten Gymnasiallehrer, Naturwissenschaftler, Techniker begeistert zu und forderten derartige Lehrveranstaltungen, woraus auch Kleins Vorlesungen zur Elementarmathematik vom höheren Standpunkte aus resultierten. Diese wurden autographiert, in mehreren Auflagen publiziert, in zahlreiche Sprachen übersetzt und erfreuen sich noch immer großer Beliebtheit.250 Andererseits entwickelte sich mit Alfred Pringsheim eine heftige, öffentlich ausgetragene Polemik. Pringsheim lehrte nach Weierstraß’ Art und meinte: „Sind nun die arithmetischen Fundamente […] festgelegt, so mag die geometrische Anschauung in ihre Rechte treten.“251 Klein wollte umgekehrt vorgehen, um die Anfänger nicht abzuschrecken und weil Naturvorgänge nicht mit der Präzisionsmathematik erklärt werden könnten, sondern mit einer Mathematik „derjenigen Beziehungen, die mit begrenzter Genauigkeit statthaben!“252 Klein wollte damit zugleich der antimathematischen Ingenieurbewegung Wind aus den Segeln nehmen253 und fand sein Herangehen international bestätigt, in H. A. Lorentz, Leerbook der Differentiaal- en Integraalrekening (Leiden 1882) und John Perry, Calculus for engineers (London 21897), das er ins Deutsche übersetzen ließ (vgl. 5.6). Klein und Pringsheim differierten in ihrer pädagogischen Absicht. Während Klein alle mitzunehmen suchte, betrachtete es Pringsheim als „Glück“, wenn gewisse ungeeignete „Elemente gleich in den Anfangs-Vorlesungen gründlich davon abgeschreckt werden“.254 Klein dagegen betonte 1899: „Ich strebe in meinen Elementarvorlesungen vor allem dahin, meinen Zuhörern Interesse und Verständnis für die Fragestellungen und den Sinn und Zweck der mathematischen Behandlung beizubringen.“ Er begründete, dass er die tiefere Grundlegung nicht ausschließe, sondern in Seminare für höhere Semester verlege, die er bereits in den vorangegangenen Semestern mit Hilbert abgehalten habe. Und er führte weiter aus, er erziele „enthusiastische Zuhörer“ und betrachte „[…] als eigentliches Ziel alles Unterrichts […], daß sie selbständig nachdenken“.255 Im Jahre 1913 sah Klein die Polarität noch weiter vorangeschritten: 250 KLEIN 31924, 31925, 31928. Zum internationalen Einfluss und zu Übersetzungen der ersten beiden Bände von Kleins Elementarmathematik ins Spanische (1927, 1928), Englische (1932, 1939), Japanische (1959/60, 1961), Russische (1987), Portugiesische (2009-14); aller drei Bände ins Chinesische (1989, Reprint 1996) vgl. G. Schubring in KAISER 2017, 330-33, und KLEIN 2016. Die Aufnahme in Brasilien bereits vor dem Ersten Weltkrieg durch den Schweizer Missionar José Sachs analysierten Circe Mary Silva da Silva und Diogo Franco Rios (Vortrag auf dem 13th International Congress on Mathematical Education, Hamburg 2016). – Zum kritischen Vergleich von Elementarvorlesungen (insbes. Klein, H. Weber, M. Simon) und historisch-didaktischer Einordnung vgl. ALLMENDINGER 2014; JAHNKE 2018 . 251 Pringsheim, A.: „Über den Zahl- und Grenzbegriff im Unterricht“. Jahresbericht DMV 6 (1899) 73-83, Zitat 82. 252 Klein, F.: „Über Aufgabe und Methode des mathematischen Unterrichts an den Universitäten“. Jahresbericht DMV 7 (1899) 126-38, Zitat 137. 253 KLEIN 1922 GMA II, 239-40. – Zum vergleichbaren Urteil Hermites vgl. GOLDSTEIN 2011b. 254 Pringsheim, A.: „Zur Frage der Universitäts-Vorlesungen über Infinitesimalrechnung“. Jahresbericht DMV 7 (1899) 138-45, Zitat 142. 255 Klein, F.: „Über Aufgabe und Methode des mathematischen Unterrichts an den Universitäten“. Jahresbericht DMV 7 (1899) 132-33.

8.3 Programm: Geschichte, Philosophie, Psychologie, Unterricht

431

Klein – Pringsheim sind übrigens längst nicht mehr die aeussersten Pole des Gegensatzes. Links von mir steht z.B. Runge mit seinen praktischen Übungen und rechts von Pringsheim der jugendliche Schwarm der Mengentheoretiker, die es nicht über sich bringen, nicht auch die jüngsten Semester mit ihren weitestgehenden Abstraktionen zu regalieren.256

Die Polemik wurde noch in den 1930er Jahren benutzt, um Klein einseitig unter dem Aspekt der Anschauung als besonderen „deutschen“ Mathematiker zu apostrophieren und Pringsheim als „jüdischen“ Mathematiker zu diffamieren.257 Otto Toeplitz (aus jüdischem Elternhaus) orientierte sich an Kleins Vorlesung Differentialrechnung (1911) und entwickelte eine didaktisch gewendete indirekte genetische Methode für einführende Vorlesungen. Dabei konstatierte Toeplitz 1927, dass sich an der bezeichneten Polarität der Standpunkte nichts geändert habe: Auf der einen Seite die exakte Richtung, die das seit Weierstraß bestehende exakte Maß von Strenge gleich von Beginn an statuiert und damit nur fünf Prozent der Hörer mitnimmt. Auf der anderen Seite die anschauliche Richtung nach Klein, die auf einen breiten Kreis Studierender zielen will.258 8.3.4.2 Reformvorschläge

Die Schulkonferenz 1900 betraf die Fächer und die Struktur der höheren Knabenschulen. Kultusminister Konrad von Studt und acht Regierungskommissare, darunter Althoff, hatten 34 Experten berufen, auch Felix Klein und Henry Th. Böttinger. Im Vorfeld waren Gutachten zu zehn Fragen eingeholt und abgedruckt worden, u.a. Gutachten zum mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht von Bernhard Schwalbe (Förderverein, Gymnasialdirektor); Adolf Slaby (Elektrotechnik, TH Berlin); Wilhelm Lexis (Nationalökonomie), Emil Lampe (Math., TH Berlin); Guido Hauck (Math., TH Berlin),259 aber nicht von Felix Klein. Ein Brief Anna Kleins vom 4. April 1900 erhellt den Zusammenhang: Ich glaube nur, Du wirst in Berlin viel zu thun finden, denn Althoff scheint Deine Ideen jetzt heranziehen zu wollen. Es mag damit zusammenhängen, daß vorige Woche Slaby bei Berathung des Kultusetats die hiesigen Einrichtungen u. Deinen Namen als Urheber erwähnte u. abfällig, ja als schädlich verurtheilte. Es war das alte Lied von Übergriffen in fremdes Gebiet u. d.[en] Generalstabsoffizieren.[….] Reinke (Kiel) u.[nd] Schmoller (Berlin) haben Deine Bestrebungen vertheidigt. Nun kam heute eine v.[on] Althoff an Reinke gerichtete Aufforderung, ihm Deine darauf bezüglichen Reden […] zu schicken.260

256 [UBG] Ms. Philos. 182: Nr. 4 (F. Klein an Wilhelm Lorey, 7.4.1913). – regalieren = jemanden mit etwas erfreuen, versorgen. 257 Jaensch, Erich R.; Althoff, Fritz (1939): „Mathematisches Denken und Seelenform“. Zeitschrift für angewandte Psychologie und Charakterkunde, Beiheft 81. Leipzig: J. Ambrosius Barth. – Vgl. generell zu dem Thema BERGMANN/EPPLE 2009. 258 Toeplitz, O.: „Das Problem der Universitätsvorlesungen über Infinitesimalrechnung und ihrer Abgrenzung gegenüber der Infinitesimalrechnung an den höheren Schulen“. Jahresbericht DMV 36 (1927) 88-100. – Vgl. hierzu auch FRIED/JAHNKE 2015. 259 https://archive.org/details/verhandlungenbe00volkgo og; VERHANDLUNGEN 21902, 366-393. 260 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 259 (Anna an Felix Klein, 4.4.1900); vgl. TOBIES 1989a, 5-6.

432

8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913

Klein hatte sofort (datiert 11. April 1900) seine auf Kooperation zielenden Reden und eine Entgegnung auf Slaby bei Teubner drucken lassen (KLEIN 1900). Daraufhin war er zusätzlich um Gutachten zu den Konferenz-Fragen und noch relativ kurzfristig zur Teilnahme an der Schulkonferenz gebeten worden.261 Kleins Vorschläge sollten sich als innovativ und die Reform bestimmend erweisen. Erstens. Klein plädierte für die Gleichberechtigung der Abschlüsse der drei Arten höherer Knabenschulen und entsprach damit internationalen Tendenzen. Minister Studts Eingangsreferat ließ die Analyse der Reform in anderen Ländern, besonders in Frankreich erkennen, wo höhere Schulen „ohne tote Sprachen“ inzwischen anerkannt waren.262 Studt formulierte die Alternative, entweder eine Einheitsschule mit verstärkten Anteil der Realien auf Kosten der alten Sprachen oder gleichberechtigte Abschlüsse der bestehenden Anstalten. In der heftigen Debatte unterstrich Klein, dass für die Mathematik bereits bisher gleichberechtigte Zulassung bestehe und die unterschiedliche Vorbildung der Kandidaten durchaus beachtet werden könne.263 Adolf Harnack264 formulierte den Antrag für gleichberechtigte Abschlüsse, der schließlich mit drei Gegenstimmen angenommen wurde. Am 26. November 1900 folgte der Allerhöchste Erlaß des Kaisers, der die Reifezeugnisse von Realgymnasium und Oberrealschule mit dem des humanistischen Gymnasiums hinsichtlich ihrer Studienberechtigungen in Preußen gleichstellte.265 Zweitens. Beim Thema „Hebung des Unterrichts in den verschiedenen Lehrgegenständen“ forderte Klein vor allem höhere mathematische Allgemeinbildung, unterstützte aber auch Böttingers Wünsche: für das Chemie-Studium das Abitur vorauszusetzen; Englisch-Unterricht (fakultativ) auch an den humanistischen Gymnasien einzuführen, wegen der „großen Bedeutung für den Weltverkehr“.266 Hinsichtlich der mathematischen Allgemeinbildung lautete Kleins Vorschlag, einen „Theil der Mathematik an die Vorbereitungsschule“ zu verlegen, wie er im Gutachten vom 22. Mai 1900 formuliert hatte. In seiner Rede erläuterte er: Jeder Sachverständige wird bestätigen, daß man selbst die Grundlinien der wissenschaftlichen Naturerklärung nur verstehen kann, wenn man wenigstens die Anfangsgründe der Differential- und Integralrechnung sowie der analytischen Geometrie – also den sogenannten niederen Teil der höheren Mathematik – kennt. Es hat denn auch immer Lehrer, selbst an humanistischen Gymnasien, gegeben, welche ihre Schüler in einem gewissen Maße in diese Anfangsgründe einführten. Die Frage müßte sein, ob man hierfür nicht im allgemeinen Lehrplan wenigstens der Realanstalten ausreichenden Raum vorbehalten könnte.267

261 Vgl. SCHUBRING 1989; 2000, mit dem Abdruck der Gutachten Kleins. 262 [StA Berlin] Rep. 76, Sekt. 1, Gen. Z, Nr. 165, Bl. 8, 40-43, 53. 263 Rede Kleins zur Berechtigungsfrage VERHANDLUNGEN 21902, 29-31; Klein publizierte seine Reden mit eigenen Kommentaren noch einmal im Jahresbericht DMV 11 (1902) 128-41. 264 Adolf Harnack (Theologe), Zwillingsbruder von Kleins Doktorschüler Axel H.; Klein kooperierte ab 1905 im Philologenverband mit Adolf H. (1911-30: Präsident der KWG). 265 Einige Bundesstaaten besaßen noch Sonderregelungen für Theologie- und Jurastudium. 266 Böttinger war in England aufgewachsen. – Bisher konnte Chemie als einziges Fach an den Universitäten und TH ohne Abitur studiert werden. VERHANDLUNGEN 21902, 188; 198. 267 Gutachten in SCHUBRING 2000, 73-74; VERHANDLUNGEN 21902, 154.

8.3 Programm: Geschichte, Philosophie, Psychologie, Unterricht

433

Slaby, Hauck, Lexis unterstützten Kleins Idee, und die Konferenzteilnehmer empfahlen sie einstimmig der Regierung. Dennoch realisierten die neuen Lehrpläne von 1901 dies nicht.268 Somit wurde Klein nicht müde, weiterhin für „eine praktische Differential- und Integralrechnung, welche sich auf die einfachsten Beziehungen beschränkt und diese an der Hand der dem Schüler bereits geläufigen Naturvorgänge fortgesetzt veranschaulicht,“ einzutreten.269 Dabei verwies er auf die Lehrbücher NERNST/SCHÖNFLIES (1895), PERRY (1897; 1899) und wiederholt auf Frankreich, wo 1902 an allen höheren Schulen Differential- und Integralrechnung verbindlich eingeführt und der Funktionsbegriff grundlegend geworden war.270 Der Meraner Reform-Lehrplan von 1905 stellte den Funktionsbegriff ins Zentrum, umfasste graphische Methoden, analytische Geometrie und eine Kompromissfassung „bis zur Schwelle der Infinitesimalrechnung“ zu unterrichten. D.h., es sollte damit unentschieden bleiben, ob dies exklusive oder inklusive verstanden werden soll, wie Klein noch im April 1914 bei einem Göttinger Ferienkurs erläuterte. Für die IMUK-Zusammenkünfte hatte er für Brüssel 1910 und Paris 1914 den Erfahrungsaustausch zu diesem Thema organisiert.271 Die Kompromiss-Formulierung beruhte auf dem hartnäckigen Widerstand von Friedrich Pietzker, langjähriger Vorsitzender des Fördervereins, der auf einem überholten Stand von Allgemeinbildung beharrte. Er polemisierte als Abgeordneter der fortschrittlichen Volkspartei noch in einer Rede vom 4. Mai 1914 gegen Klein und gegen die Einführung von Infinitesimalanalysis in den Schulunterricht.272 Das Ministerium hatte deshalb empfohlen, die Sache von unten entwickeln zu lassen, an Reformschulen zu erproben. Berichte zeugen davon, dass Lehrpersonen zunehmend Kleins Ideen folgten.273 Die bayerischen Lehrpläne der drei Arten höherer Schulen enthielten die Anfänge des Gebiets bereits 1914. Preußen musste mit der obligatorischen Aufnahme bis 1925 warten.274 Drittens. Felix Klein erhob die Mathematik-Didaktik zu einer selbstständigen Disziplin. Im Vergleich zu stoffdidaktischen Ansätzen bzw. eng am Fachwissenschaftlichen orientierten Büchern richtete Klein seine Vorlesungen über Elementarmathematik vom höheren Stadtpunkte aus stärker auf eine „methodologische Ausbildung der Mathematiklehrer“.275 Er betonte besonders den methodischen Aspekt der Fusion von Gebieten, von Arithmetik und Geometrie, von Planimetrie und Stereometrie, womit er „eine einseitige Ausbildung in der Planimetrie unter 268 Lehrpläne und Lehraufgaben für die höheren Schulen in Preußen. Halle: Waisenhaus, 1901. 269 Jahresbericht DMV 11 (1902) 137. 270 Klein, F.: „Zur Besprechung des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts auf der nächsten Naturforscherversammlung in Breslau“. Jahresbericht DMV 13 (1904) 198; Marotte, F.: « Les récentes réformes de l’enseignement des mathématiques dans l’enseignement secondaire francais ». Ebd., 450-56; KLEIN 1907b, 41-42. 271 Vgl. Bericht vom Ferienkurs, ZmnU 45 (1914) 493-96; TOBIES 1979b, 23-25. 272 Vgl. detailliert TOBIES 2000, 30-32. 273 Zu zeitgenössischen Berichten vgl. TOBIES 2010, 51-52; auch Lietzmann 1960, 47-53. 274 Vgl. KLEIN 1914, 424; Richtlinien für die Lehrpläne der höheren Schulen Preußens, hg. v. Ministerialrat Richert. Berlin: Weidmann, 1925. – Vgl. hierzu auch Abschnitt 9.3.2. 275 Vgl. hierzu SCHUBRING 2016, 7.

434

8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913

Vernachlässigung der dreidimensionalen Raumanschauung verhindern“ wollte.276 Die Fusion von ebenen und räumlichen Aspekten war bereits in LAZZARI/BASSANI (1891) gut ausgearbeitet worden. Das Buch erschien 1911 übersetzt bei Teubner, und Klein wählte bewusst das Thema Strenge und Fusion als Schwerpunkt des IMUK-Treffens in Mailand 1911. Dieses Thema setzte auch Rudolf Schimmack fort, der am 25. Juli 1911 „Über die Verschmelzung verschiedener Zweige des mathematischen Unterrichts“277 sprach, als er sich als Erster deutschlandweit für Didaktik der mathematischen Wissenschaften habilitierte. Sein Beitrag über die Unterrichtsreform (SCHIMMACK 1911) wurde als Habilitationsschrift anerkannt. Klein baute auf Schimmack, der sich sein Dissertationsthema Axiomatische Untersuchungen über die Vektoraddition „im Anschluss an ein geschichtlich-mathematisches Seminar von Herrn Geheimrat Klein über die Prinzipien der Mechanik (Winter 1902/03) selbst gestellt“ hatte und erste Ergebnisse schon 1903 publizierte.278 Schimmack erweiterte das Thema, diente Klein 1903-05 als Assistent, setzte dessen Idee um, neue Apparate zur kinematischen Erzeugung von Kurven zu konstruieren279, arbeitete Kleins Vorlesung Mathematischer Unterricht (WS 1904-05, 115 Hörer/innen) aus,280 absolvierte das Lehramtsexamen (Mathematik/Physik; Chemie/Mineralogie) im Juli 1905 mit Auszeichnung und das Referendariat am Göttinger Gymnasium, wo er Ostern 1908 als Oberlehrer angestellt wurde. Zuvor hatte er das Rigorosum (19.1.1908) mit Bestnote absolviert. Klein war Referent, Hilbert Korreferent bei der Dissertation. Klein hatte schon das Didaktik-Buch von Alois HÖFLER (1910) angeregt (vgl. 5.6). Jetzt versuchte er im Interesse der Lehramtausbildung neben Geschichte der Mathematik auch Fachdidaktiken zu etablieren. Schimmack übernahm als Privatdozent Kleins Seminare zur Geschichte der Infinitesimalmathematik (ab November 1911) und über den Vergleich der Unterrichtsreform in Deutschland, Frankreich, England, Österreich, und den USA (Sommer 1912).281 Schimmacks erste Vorlesung „Ausgewählte Abschnitte der mathematischen Didaktik“ (Winter 1912 -13)282 blieb nur deshalb unvollendet, weil er unerwartet jung nach einer Scharlacherkrankung am 2. Dezember 1912 einem Herzschlag erlag. „Mich konnte kein Schlag härter treffen; hatte ich doch meine ganze Tätigkeit für die nächste Zeit auf seine Mitarbeit eingerichtet“, schrieb Klein am 3. Dezember 1912 an Lietzmann, den er nun seinerseits ermutigte, in Jena mit Lehrauftrag für mathematische Didaktik erfolgreich zu sein: „Sie würden dann, wenn Sie erst Fuss gefaßt haben, an der Universität ähnlich einsetzen können, wie es einst Schimmack tat. Es scheint mir im Sinne der Entwicklung zu liegen, dass aus der276 Vgl. KLEIN 31925, 228-31. 277 Vgl. Berichte und Mitteilungen, veranlasst durch die IMUK, 1. Folge, H. 7. Leipzig 1917. 278 Schimmack, R.: „Ueber die axiomatische Begründung der Vektoraddition“. Göttinger Nachrichten (1903) 317-25. [UAG] Kur. 6308 (Habilitationsakte), Zitat Dissertation (1908) 106. 279 Schimmack, R.: „Ein kinematisches Prinzip und seine Anwendung zu einem Katenographen“. Zeitschr. Math. Physik. Organ f. angew. Math. 52 (1905) 341-47, Verweis auf Klein, 341. 280 KLEIN 1907. 281 [Protokolle] Bd. 29, 157-452. 282 Verzeichnis der Vorlesungen WS 1912/13, Göttingen 1912, 15.

8.3 Programm: Geschichte, Philosophie, Psychologie, Unterricht

435

artigen privaten Ansätzen allmählich Lehraufträge (im Nebenamt) werden.“283 Am 20. Oktober 1913 betonte Klein allgemeiner: „Wir bedürfen – unabhängig davon [von selbständigen Professuren für Pädagogik, R. To] oder darüber hinausgehend – eigener Lehraufträge für die Didaktik der verschiedenen Gruppen von Fachwissenschaften“.284 Klein veranlasste schließlich, dass Walther Lietzmann von Jena nach Göttingen wechselte und neben dem Direktorat der Oberrealschule einen Lehrauftrag für Didaktik der exakten Wissenschaften an der Universität erhielt.285 Lietzmann hatte inzwischen zahlreiche IMUK-Abhandlungen und Beiträge über die Unterrichtsreform verfasst und 1916 ein Buch Methodik des mathematischen Unterrichts (440 S.) bei Quelle & Meyer in Leipzig publiziert. Klein orientierte weitere (bei Otto Staude promovierte) Mathematiker auf Didaktik: Friedrich Drenckhahn (vgl. Abschnitt 9.2, Tab. 10); Paul Zühlke (Autor bei den IMUK-Abhandlungen).286 Klein empfahl zudem, Professuren für Hochschulkunde zu schaffen, wurde für didaktische Beiträge zum akademischen Unterricht geschätzt und trat 1912 einer Gesellschaft für Hochschuldidaktik bei.287 Viertens. Neben seinem Engagement für das mathematische Frauenstudium (vgl. 7.6) beförderte Klein auch die Reform der Mädchenschulen. Dabei kooperierte die „Breslauer Unterrichtskommission“ mit engagierten Frauen und Frauenvereinen. Die Mikrobiologin Lydia Rabinowitsch-Kempner schrieb, zugleich im Namen von Thekla Freytag, die – wie erwähnt (7.6) – als Erste das LehramtStaatsexamen in Mathematik (nebst Physik; Botanik/Zoologie) erkämpft hatte: Hochgeehrter Herr Professor! Ich erlaube mir, Ihnen gleichzeitig als Paket 12 Abschriften des von Frl. Thekla Freytag (pro facultate docendi geprüft) und mir übernommenen Referates einzusenden […]. Die Arbeit ist mit Unterstützung des Verbandes Fortschrittlicher Frauenvereine (Vorsitzende Frau Schulrat Minna Cauer) ausgeführt, welcher seiner Zeit die Eingabe an die Unterrichts-Kommission der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Aerzte gemacht hat. Auch der Ihnen sicherlich wohl bekannte Allgemeine Deutsche Frauenverein (Frl. Helene Lange) ist mit unseren Ausführungen einverstanden. […] In der Hoffnung, dass uns die Kommission über ihre weiteren Beratungen auf dem Laufenden erhalten wird, und mit ergebenstem Dank für das der Frauensache bisher erwiesene Entgegenkommen seitens der Kommission, zeichne ich zugleich im Namen von Thekla Freytag mit vorzüglicher Hochachtung Ihre ganz ergebene Lydia Rabinowitsch-Kempner288

283 [UBG] Cod. Ms. W. Lietzmann I: Bl. 202 (3.12.1912); 212 (2.2.1913). – Lietzmann war seit 1.4.1914 Direktor der Oberrealschule in Jena. 284 Notizen Kleins für W. Lorey [UBG] Cod. Ms. F. Klein 22 L Personalia, Bl. 19. 285 [UBG] Cod Ms F. Klein 2G: Bl. 18-19, 23, 65. – Lietzmann verlor nach 1945 aufgrund NSpolitischer Anpassung sein Amt als Schulleiter in Göttingen. Erst sein Nachfolger Friedrich Seyfarth bewirkte, dass diese Schule am 30.4.1948 den Namen Felix Kleins erhielt. 286 Vgl. TOEPELL 1991, 89, 431; zu Drenckhahns Didaktik auch SCHUBRING 2016, 10, 13-14. 287 Schmidkunz, H.: Einleitung in die akademische Pädagogik. Halle: Waisenhaus, 1907; Klein in Vorlesung 1910/11, 318-20 [Nachlass Hecke]. 288 Brief v. 17.12.1905 an Gutzmer, der die Korrespondenz der Kommission führte und die Original-Briefe an Klein sandte. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 35, Bl. 165, 165v.

436

8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913

Es bedurfte eines hartnäckigen Einsatzes, die Vorschläge für die Mädchenschulreform durchzusetzen. Als Klein bei der Dresdner Naturforscherversammlung mit dem preußischen Kultusminister konferierte, kommentierte seine Frau Anna: Es soll wohl heissen, dass man sich im Ministerium ernstlich mit der Schulreform beschäftigen will. Da kann Dein Weizen ja zur Blüthe kommen! Neulich las ich[,] dass man für die Mädchenschulen alles wieder rückgängig machen wolle, was schon gesichert schien.289

Tochter Elisabeth besuchte realgymnasiale Kurse in Hannover und absolvierte das Abitur extern am Leibniz-Realgymnasium für Knaben (17.2.1908). Sie schrieb sich im Frühjahr 1908 als Hörerin an der Universität Göttingen ein und wurde im Oktober regulär immatrikuliert, nachdem Preußen den erwähnten Erlass vom 18. August 1908 verfügt hatte. Dieser brachte zugleich eine den Knabenschulen angepasste Struktur für die Mädchenschulen (Studienanstalten humanistischer, realgymnasialer bzw. Oberrealschulrichtung), die nun zur Hochschulreife führten. In seiner ersten Herrenhaus-Rede vom 21. Mai 1909 engagierte sich Klein weiter für die Mädchenschulreform und plädierte für die Fortbildung von Oberlehrerinnen.290 Er organisierte den ersten derartigen Ferienkurs vom 4.-16. Oktober 1909 mit 74 Teilnehmenden in Göttingen, bezog dabei seine Tochter Elisabeth und Iris Runge ein.291 Den neuen Mädchenschullehrplan für Mathematik kritisierte Klein als „[…] in ihren Hauptsätzen von veralteten Knabenschul-Vorlagen kritiklos abgeschrieben, ohne jedes Verständnis für die neue Entwicklung“.292 In weiteren Reden (15.3. und 27.5.1910) verlangte Klein Vorkurse für ungenügend vorgebildete Kandidatinnen und etablierte noch 1910 in Göttingen entsprechende Kurse. Bei der Debatte über Koedukation schloss sich Klein Adolf von Harnack an, der meinte, Mädchen müssten Knaben-Gymnasien besuchen dürfen, da nicht jede Kleinstadt extra eine höhere Mädchenschule einrichten könne.293 Fünftens. Klein setzte sich in seinen Vorlesungen seit mindestens 1904/05 (vgl. KLEIN 1907b, 10-17) und im Herrenhaus vehement für das Volksschulwesen und nachfolgende Fort- bzw. Berufsschulen ein. Er wünschte die Bildung der breiten Masse, forderte Volkshochschulkurse und Arbeiterkurse, orientiert an der Perry-Bewegung in England. Derartige Kurse wurden in Göttingen tatsächlich eingeführt.294 Im Herrenhaus brachte Klein, gemeinsam mit dem alten Grafen Haeseler (vgl. Tab. 9), 1909/10 eine Gesetzesvorlage ein, die vorsah, Fortbildungsschulen bis zum 18. Lebensjahr zu führen. Dies wurde einstimmig angenommen. Zur Volksschule erklärte Klein in seiner Rede vom 27. Mai 1910: Ein besonderer Einwand ist es dann noch mit dem ich mich bei diesen meinen Vorschlägen über das Volksschulwesen auseinanderzusetzen habe. Es ist mir von kompetenter Seite wiederholt gesagt worden, alle diese Bedürfnisse bestehen zweifellos, aber ihre Befriedigung kostet Geld; der Herr Finanzminister ist nicht sehr geneigt, große Summen für diese Dinge 289 290 291 292 293 294

[UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 322 (Anna an Felix Klein, 17.9.1907). Vgl. die Analyse der Stenographischen Berichte des Herrenhauses in TOBIES 1989a. Vgl. hierzu TOBIES 2010, 62. Zitiert in TOBIES 1989a, 7. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 7D: Harnack an Klein, 6.1.1909, Antwortentwurf Kleins, 8.1.1909. Iris Runge lehrte als Studentin an den Göttinger Arbeiterkursen vgl. TOBIES 2010, 83-84.

8.3 Programm: Geschichte, Philosophie, Psychologie, Unterricht

437

zur Verfügung zu stellen. Ich möchte doch an die Unterrichtsverwaltung die Bitte richten, in dieser Hinsicht nicht zu vorsichtig zu sein, da die Summen, um die es sich hier handelt, verschwindend klein sind gegenüber den 160 Millionen, welche das Volksschulwesen an sich jetzt schon in Anspruch nimmt. Es kommt mir so vor, als wenn ein Maschinenfabrikant es unterlassen wollte, die richtigen Werkzeugmaschinen anzuschaffen, die ihm billigeres und besseres Fabrikat ermöglichen. Das würde kein Praktiker tun.295

Kleins Bestreben, theoretisch die mathematische Bildung vom Kindergarten bis zum Hochschulbetrieb zu analysieren bzw. untersuchen und darstellen zu lassen, fand in seinen Vorlesungen und Seminaren, in den von ihm edierten fünf Bänden der Abhandlungen über den mathematischen Unterricht in Deutschland (190916)296 sowie in den veranlassten IMUK-Berichten (187 Bände mit 310 Einzelbänden in 18 Ländern bis zum Jahre 1920) seinen Niederschlag.297 Sein Einsatz für praktische Verbesserungen deuten seine Reden zum Kultusetat sowie sein Beitrag zu Gesetzesvorlagen an. In einer Herrenhausrede vom 7. April 1911 begründete er sein Handeln, als es bei der Debatte zum Kultusetat um den Spezialpunkt „Elementarunterrichtswesen“ ging: Nun habe ich nur noch sozusagen ein Wort der Entschuldigung darüber zu sagen, daß ich als Universitätsprofessor über derartige Dinge spreche. Es wird in meinen Kreisen sehr vielfach die Meinung vertreten, wir sollten und nur um die abstrakte Wissenschaft als solche kümmern. Es wird da schon sozusagen als Abnormität betrachtet, wenn wir uns über den Unterrichtsbetrieb an den eigenen Anstalten auslassen oder gar über den Unterrichtsbetrieb an höheren Schulen. Ich selbst bekümmere mich hier nun sogar um den Unterrichtsbetrieb an den Volksschulen, beziehungsweise den mit diesen zusammenhängenden Anstalten. Ich möchte das Recht dazu ausdrücklich nicht nur aus meiner parlamentarischen Stellung, sondern aus meiner Stellung an der Universität herleiten. Wir Universitätsprofessoren haben allgemein für die Wissenschaft einzutreten, nicht nur für ihre Weiterentwicklung, sondern auch für ihre Geltung, so gut wir es vermögen, und das Ideal, welches mir vorschwebt, ist, daß wir das Unterrichtswesen als eine große Einheit, als einen Organismus betrachten, vom Kindergarten mit seinen eigentümlichen hochinteressanten Problemen beginnend, bis hoch hinaus zum Hochschulbetrieb. […]298

Klein erklärte seinen Einsatz für die Volksschule auch vor einem Kreis von Lehrern höherer Schulen mit einer zunächst kaum vermuteten „[…] sozialen Verpflichtung, dass wir Fachvertreter gegenüber den ungeheuren Gegensätzen, die unser Volk zerspalten, nicht gleichgültig gegen die Bildungsfragen bleiben dürfen, die schließlich 94% unserer Bevölkerung betreffen.“299 Klein ließ die Debatten vom Parlament in seine (unpublizierte) Vorlesung von 1910/11 unmittelbar einfließen und urteilte, dass durch den Einfluss der erstarkenden Sozialdemokratie bisherige „Hemmungen“ bei anderen Parteien weggefallen seien, etwas für Volks- und Fortbildungsschulen zu tun.300 295 Zitiert in TOBIES 1989a, 8. 296 Alle Einzel-Beiträge sind aufgelistet in TOBIES 1994a, 58-60; z.T. sind die Bände online verfügbar: https://archive.org/details/abhandlungenber00kleigoog 297 FEHR 1920, 339; TOBIES 1979a, 26. 298 Klein, Rede im Herrenhaus am 7.4.1911, abgedruckt in TOBIES 2000, 33. 299 Klein, F. (1911): „Aktuelle Probleme der Lehrerbildung“ Schriften des DAMNU, H. 10, 2. 300 [Nachlass Hecke] Klein, Vorlesung 1910/11, Bl. 58.

438

8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913

8.4 INTERNATIONALE WISSENSCHAFTSKOOPERATION Bernhard vom Brocke beschrieb die von den Ideen der Friedenssicherung und Völkerverständigung getragene Wissenschaftspolitik des preußischen Kultusministeriums als „fast vergessene Alternative staatlicher Weltfriedenspolitik am Vorabend des Ersten Weltkrieges“.301 In diese durch Friedrich Althoff geprägte Politik ordnete sich Kleins internationales Engagement ein. Das durch Bismarcks Außenpolitik kunstvoll errungene internationale Gleichgewichtssystem wurde bis 1907 derart destabilisiert, dass Frankreich (das geraubte Elsass-Lothringen nicht vergessend) sich an Russland und England annäherte und Deutschland nur Österreich-Ungarn und Italien als schwache Verbündete blieben. Hieraus resultierte u.a. eine verstärkte Orientierung der deutschen Kulturpolitik nach Übersee. Der lautstarke Nationalismus gerierte sich trotz international verflochtener, auf einer Globalisierungswelle schwimmender Großunternehmen, trotz wissenschaftlich-technischer Innovationen und Gemeinschaften.302 Felix Klein reflektierte mahnend den in der Nach-Bismarck-Ära aufkommenden Nationalismus: Gerade in unserem Zeitalter, wo der nationale Chauvinismus seine grössten Orgien feiert, muss es allen wahrhaft Gebildeten am Herzen liegen, einer Bewegung entgegenzuarbeiten, die auch die Besten der Nationen immermehr einander zu entfremden bemüht ist. Es ist als schwände mit dem einst mit Recht so sehr gefeierten Humanismus auch aller humane Geist aus der modernen Gesellschaft. […] Der geistige Austausch der modernen Kulturvölker bezweckt also nicht, die nationalen Unterschiede aufzuheben, sondern sie in ihrem wahren Charakter und Werte schärfer zu erfassen und durch diese höhere Erkenntnis ein freundschaftliches Verhältnis der Nationen zu einander anzubahnen.303

Dies hatte Klein am 11. März 1908 in einem Entwurf für ein Göttinger Institut für Ausländer formuliert, den er an das Kultusministerium nach Berlin sandte. Althoff half noch kurz vor seinem Tode, die Idee umzusetzen. Er bewog H. Th. Böttinger zu einem finanziellen Zuschuss von 100.000 Mark. Klein hielt am 28. November 1908 die Eröffnungsrede des „Böttinger-Studienhauses“, das eine Akademische Auskunftsstelle für ausländische Studierende, Sprachkurse, Vorträge, Ferienkurse und Exkursionen bot. Als deutsche Chauvinisten die Institution kritisierten, verwies dessen Direktor auf das Ziel freundschaftlicher Beziehungen und auf analoge Ziele der Alliance Française, der in England organisierten Sprachkurse, des Amerika-Instituts und auch des deutsch-amerikanischen Professorenaustausches.304 Letzteren hatte Klein mit seinen Reisen 1893 und 1896 geistig vorbereiten helfen, war aber nun nicht mehr selbst zu einem längeren Auslandsaufenthalt bereit.305 1904 in St. Louis (vgl. 8.3.2) hatten Darboux, Picard, Poincaré, aber kein deutscher Mathematiker teilgenommen. Eine zwischenzeitlich dadurch bedingte Ver301 BROCKE 1991, 185-242, Zitat 185; vgl. auch BROCKE 1981. 302 Vgl. zur Außenpolitik OSTERHAMMEL 2009; zu Technik als Aspekt für die europäische Integration die von SCHOT/SCRANTON 2013-17 edierte Buchreihe. 303 [UBG] Cod. Ms. Math. Arch. 5021, Bl. 54-57v, Zitat Bl. 56 und 56v (Klein, 11.3.1908). 304 [UBG] Cod. Ms. 7F: 6-9, 35v. – TOBIES 1990a, 39; BROCKE 1991, 224-25. 305 Anstelle von Klein fuhr Carl Runge (1909/10) als (mathematischer) Austauschprofessor, vgl. hierzu HENTSCHEL/TOBIES 2003, 173-79.

8.4 Internationale Wissenschaftskooperation

439

stimmung mit Althoff kompensierte Klein durch Mitarbeit an weiteren Projekten. Dazu gehörte der von der Royal Society gestartete International Catalogue of Scientific Literature, die Bildung einer International Association of Academies306, die 1907 durch Althoff initiierte Internationale Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik, die Vorbereitung Internationaler Mathematiker-Kongresse.307 Kleins generelle Haltung bei diesen Projekten war der Blick auf das wissenschaftliche Ergebnis und das bewusste Vermeiden enger nationaler Interessen. Beim Cataloque betonte er gegenüber deutschen Spezial-Interessen, dass „internationale Cooperation der Kern des ganzen Unternehmens sei“, fuhr selbst mehrfach mit nach London und stimmte sich hinsichtlich der Klassifikation für Mathematik mit dem französischen Delegierten Henri Poincaré ab.308 Klein brachte auch „die Frage der Weltsprache“ als mögliches Akademieprojekt zur Diskussion. Er war durch den Physikochemiker Wilhelm Ostwald dazu veranlasst worden, der sich besonders stark für die im Jahre 1887 kreierte Plansprache Esperanto engagierte. Klein traf jedoch bei seinen Göttinger Philologen auf „einen Sturm der Entrüstung“, auch dann noch, als inzwischen der erste Esperanto-Weltkongress 1905 in Frankreich stattgefunden hatte.309 Hinsichtlich der Internationalen Wochenschrift310 ist beachtenswert, dass zu den 58 Board-Mitgliedern auch ausländische Wissenschaftler, darunter Hendrik A. Lorentz und Henri Poincaré, zählten. Das Organ sollte publizistische Plattform für den akademischen Austauschgedanken sein und wurde durch die 1905 gegründete Koppel-Stiftung zur Förderung der geistigen Beziehungen Deutschlands zum Ausland unterstützt.311 Herausgeber Paul Hinneberg, der zugleich das Projekt Kultur der Gegenwart (vgl. 8.3) leitete, betonte als Ziel der Schrift, „frei von jeder nationalen Voreingenommenheit […] zwischen den Nationen zu vermitteln“. Im Eröffnungsaufsatz „Über die Einheitsbestrebungen der Wissenschaft“ beschwor der naturwissenschaftlich interessierte Altphilologe Hermann Diels, „[…] daß wenigstens auf dem neutralen Gebiete der Wissenschaft die einigende Liebe stärker geworden ist als der trennende Haß.“312 Neben Klein waren nur Walther von Dyck (München) und Emil Lampe (Berlin) als deutsche Mathematiker im Board. Klein ließ in Band 2 (1908) zwei seiner Reden abdrucken. Der Kriegsausbruch 1914 zerbrach dieses einigende Band schnell. 13 deutsche Board-Mitglieder dieser Zeitschrift konnten nicht verhindern, dass ihre Unterschrift unter einem nationalistischen Aufruf erschien (vgl. Abschnitt 9.1). 306 Vgl. TOBIES 1990a, 39-41; HASHAGEN 2003, 471-82. 307 In Zürich 1897 gehörte Klein, veranlasst durch Hurwitz, zum Vorbereitungskomitee. Vgl. auch ALBERS et al. 1987. – Der Jahresbericht DMV 8 (1900) 6; 12 (1903) 295-97; 16 (1907) 166, dokumentiert Kleins Teilnahme an der Vorbereitung der Kongresse in Paris 1900, Heidelberg 1904, Rom 1908. 308 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 7J: 1-152, bes. 86v, 101 (Austausch mit Poincaré). 309 [BBA] NL W. Ostwald, 1500: Klein an Ostwald, 23.7.1904; 13.2.1907. 310 Sie existierte von 1907 bis 1921, seit 1912 als Monatsschrift. 311 Es ist eine Zuwendung daraus für Kleins Mitarbeit (600 M) nachweisbar. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 1 E: Bl. 36 (Mitteilung des Kultusministeriums an Klein). 312 Zitiert nach BROCKE 1991, 192.

440

8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913

8.5 VORZEITIGE EMERITIERUNG UND EHRUNGEN Bereits für das Sommersemester 1910 beantragte Klein, ihn von der Verpflichtung zu entbinden, Vorlesungen zu halten, […] weil er sich seit längerer Zeit überanstrengt fühle und der Rest der Ferien für mich (ganz abgesehen von den möglicherweise bald wieder beginnenden Herrenhaussitzungen) durch eine Reihe von Konferenzen besetzt ist, denen ich mich nicht entziehen kann. Dazu kommt aber, was vielleicht noch wichtiger ist, dass ich in den letzten Jahren trotz angestrengster Tätigkeit mit meinen wissenschaftlichen Arbeiten immer mehr in Rückstand geraten bin und teils nur äusserlich erledigt, teils unvollendet habe liegen lassen. Auf die Dauer gibt das einen unerträglichen und eines Gelehrten unwürdigen Zustand. Wenn ich im Sommer von den Vorlesungen entlastet sein werde, habe ich die Hoffnung, den Misstand in der Hauptsache zu überwinden, während er sich sonst nur noch weiter verschärfen wird.313

Paul Koebe übernahm nach Vorschlag Kleins die bereits angekündigte 4-stündige Vorlesung (Anwendung der DIR auf Geometrie). Das von Klein und Zermelo angezeigte Seminar „Vorträge aus dem Grenzgebiet von Mathematik und Philosophie“ (2 WoStd) entfiel ersatzlos, da Zermelo einem Ruf nach Zürich folgte. Die Semesterpause im Sommer war erneut mit Tagungen angefüllt. Klein fuhr u.a. zur Weltausstellung nach Brüssel, wo er am 9. und 10. August die IMUK-Tagung leitete, ab 15. August am IV. Internationalen Kongress für das höhere Schulwesen teilnahm und gemeinsam mit Treutlein die deutsche Modell-Ausstellung demonstrierte. So bat Klein für das Wintersemester 1910/11 erneut um Erleichterungen: Die Veranlassung liegt darin, dass die pädagogischen Arbeiten, deren Durchführung ich als Mitglied des Deutschen Ausschusses und der Internationalen Mathematischen Unterrichtskommission oder auch des Herrenhauses in die Hand genommen habe, bei ihrer durch die Verhältnisse geforderten Dringlichkeit notwendigerweise jetzt den grössten Teil meiner Arbeitskraft absorbieren.314

Seine Absicht, vierstündig über „Die Entwicklung der Mathematik im 19. Jahrhundert“ zu lesen, reduzierte Klein auf „Die Entwicklung des mathematischen Unterrichts“ (2 WoStd). Hierzu hatte er bereits vorgetragen, brachte aber jetzt ganz aktuelle Reformdiskussionen über alle Schularten, mit Blick über Deutschland hinaus, ein.315 Das Seminarthema passte er geeignet an: „Einführung in die neuere pädagogisch-mathematische Literatur“. Im folgenden Sommersemester 1911 kulminierte die Tätigkeit erneut: Lehre, Zusammenkünfte der Göttinger Vereinigung, Reden im Herrenhaus, Tätigkeit für die IMUK, Management der Buchprojekte IMUK-Abhandlungen, ENCYKLOPÄDIE, Kultur der Gegenwart. Fast jeden Tag war er mit einem anderen Kollegen verabredet: mit dem Assistenten Erich Hecke, der seine Vorlesung zum mathematischen Unterricht ausarbeitete, mit Paul Koebe zu den automorphen Funktionen, mit Conrad Müller zur ENCYKLOPÄDIE, mit Schimmack betreffend Didaktik u.a. 313 [UAG] Kur. 5956, Bl. 156, Schreiben Kleins v. 4.4.1910 an den Kultusminister, der mit Schreiben v. 16.4.1910 zustimmte, Bl. 157. 314 Ebd., Bl. 160. 315 Vorlesung 1904/05 vgl. KLEIN 1907b; Vorlesung 1910/11 [Nachlass Hecke].

8.5 Vorzeitige Emeritierung und Ehrungen

441

So teilte Klein Lietzmann am Freitag, dem 4. August 1911, mit: „Von Dienstag früh beginnend ist meine Adresse Hahnenklee, Dr. Claus.“ Auf dem Briefkopf des Arztes stand: „Dr. Klaus, Nervenarzt, Sanatorium Hahnenklee für Nervenund Innere – Kranke, Erholungsbedürftige und Genesende“.316 8.5.1 Erholung und Arbeit im Sanatorium Hahnenklee Felix Klein befand sich ab 8. August 1911 in Hahnenklee-Bockswiese, einem kleinen Ort im Oberharz, 16 km von Goslar und ca. 9 km von Clausthal entfernt. Die Ortschaften waren im 16. Jahrhundert als Bergarbeitersiedlungen entstanden und zählten zu Beginn des 20. Jahrhunderts knapp 500 Einwohner. Nachdem die Gruben (Silber, Blei u.a.) weitgehend abgeschöpft waren, entwickelte sich der Fremdenverkehr zur wichtigsten Erwerbsquelle; seit 1882 gilt Hahnenklee als Kurort. Die hier 1907-08 gebaute einzige Stabskirche Norddeutschlands wurde zu einem Wahrzeichen. Das Gebäude des damaligen Sanatoriums, im Ortsteil Bockswiese gelegen, ist heute im Kern erhalten und beherbergt ein Seniorenheim.

Abb. 35: Historische Postkarte: Bocksberg-Hahnenklee mit Sanatorium

Klein blieb zunächst einen Monat. Den Briefen, die er an seine Frau, an Tochter Elisabeth, an zahlreiche Mathematiker und andere Kollegen schrieb, ist zu entnehmen, dass er die Fäden für die laufenden Projekte weiterhin in der Hand behielt, Kollegen zu Besprechungen nach Hahnenklee beorderte, auch Kollegen in 316 [UBG] Cod. Ms. W. Lietzmann I, 118; 178.

442

8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913

der benachbarten Bergakademie Clausthal aufsuchte.317 Dass er weiterhin alles zu lenken suchte, brachte seine Frau am 2. September 1911 auf den Punkt: „Dass Du doch zu allem und jedem was in Göttingen passiert deinen Segen geben musst!“318 Am 6. September 1911 fuhr Klein nach Göttingen, weil er meinte, die anstehenden Tagungen erforderten seine Anwesenheit. Er reiste am 16. September nach Mailand, um das IMUK-Treffen zu leiten. Lietzmann berichtete, dass Klein alles bestens managte, aber Schlafmittel brauchte, um am nächsten Tage frisch zu sein.319 Es folgte die Jahrestagung der GDNÄ in Karlsruhe, wo die Mathematiker u.a. nichteuklidische Geometrie & Relativitätstheorie zum Thema einer Sitzung erklärt hatten. Zudem gab es einen Vormittag lang, am 27. September 1911, „Verhandlungen betreffend automorphe Funktionen“, wobei Klein einleitete (vgl. 8.2.1). Danach besuchte er die Jahresversammlung des Deutschen Museums von Meisterwerken der Naturwissenschaft und Technik in München, dessen Vorstandsrat er seit 21. Dezember 1907 als Vertreter der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften in der Nachfolge von Nernst angehörte.320 1909 hatte Klein den Vorsitz dieses Vorstandsrats nicht ablehnen können.321 Aus München zurück in Göttingen, beehrte er am 28. Oktober 1911 die Sitzung der Gesellschaft der Wissenschaften und am 3. und 4. November die von der Göttinger Vereinigung organisierte Tagung zur wissenschaftlichen Aerodynamik mit seiner Anwesenheit. Kein Wunder, dass zu Semesterbeginn Kraft für die Lehre fehlte: Vorlesung (DIR II, 4 WoStd.); Seminar zur Geschichte der Infinitesimalmathematik (mittwochs ab 1. November), wofür sich u.a. seine Tochter Elisabeth und Iris Runge eingetragen hatten. Klein hielt keinen Monat durch und konstatierte am 22. November 1911: „Mein pers.[önliches] Befinden ist in den letzten Wochen nicht sonderlich, ich leide irgend an Uebermüdung. Vielleicht, dass ich einige Zeit ausspanne. Die Vorbereitungen Cambridge sollen aber darunter nicht leiden.“322 Hermann Weyl und Kleins Assistent Wilhelm Behrens übernahmen die Vorlesung. Schimmack leitete das Seminar. Klein zog sich am 29. November 1911 erneut nach Hahnenklee zurück, wohnte jetzt im Viktoria-Haus, eine Villa, wofür ihm die Frau des behandelnden Arztes Dr. Klaus den Tag mit 6 Mark berechnete. Anna Klein schrieb ihm am 4. Dezember 1911: „Die Hauptsache ist, dass Du wieder schlafen kannst, da werden die Kräfte schon kommen.“323 317 Es ist denkbar, dass Klein hierbei den Weg für den Ruf Fritz Süchtings (sein Schwiegersohn) als Professor für Maschinenbau und Elektrotechnik (1912) ebnen half. 318 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 372. – Dies betraf einen möglichen Ruf für Felix Bernstein, mit dem Klein im SS 1911 gerade ein Seminar zur Versicherungsmathematik abgehalten hatte. 319 LIETZMANN 1960, 259-60. 320 [AdW Göttingen] Scient 255 (Deutsches Museum): Bl. 26. 321 Oskar Miller leitete das Museum; W. Dyck und Carl Linde gehörten zum Vorstand. Sie hatten Klein nachdrücklich gebeten, den Festvortrag (vgl. KLEIN 1908b) auf der Hauptversammlung 1908 vor den „Spitzen der Behörden des ganzen Reiches, Repräsentanten von Wissenschaft, Technik und Industrie“ zu halten. Am 12.6.1909 hatte Klein zugestimmt, den (Ehren) Vorsitz des Deutschen Museum zu übernehmen und wurde am 10.1.1912 lebenslänglich in den Ausschuss gewählt. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 7 D; 114, Nr. 43. 322 [UBG] Ms. W. Lietzmann I: 137/2 (Klein an Lietzmann, 22.11.1911). 323 [UBG] Cod. Ms F. Klein 10: 378, Anna Klein an Felix Klein, Brief v. 4.12.1911.

8.5 Vorzeitige Emeritierung und Ehrungen

443

Klein fühlte sich verpflichtet, den IMUK-Bericht für den V. Internationalen Mathematiker-Kongress (August 1912) vorzubereiten. Lietzmann wanderte dazu regelmäßig von Goslar nach Hahnenklee. Weihnachten verbrachte Klein in Göttingen und setzte für den 27. Dezember 1911 eine IMUK-Besprechung an, mit Lietzmann und Carl Runge, der als ein IMUK-Berichterstatter mit nach Cambridge fahren sollte. Kurz vor dem Kongreß im Juli weilten D. E. Smith aus New York – ab Cambridge IMUK-Vizepräsident – sowie Henri Fehr und George Greenhill, mit Heinrich Heines Harzreise in der Hand, bei Klein in Hahnenklee.324 Kleins unermüdlicher Einsatz war am 2. Februar 1912 mit dem „Stern zum Kgl. Kronen-Orden II. Klasse“ bedacht worden. Er hatte allerdings am 10. März mit dem nächsten Urlaubsgesuch antworten müssen.325 Die ärztlichen Gutachten von Dr. Klaus sprachen von Neurasthenie und Darmneurose, verursacht durch permanente Überanstrengung (Anhang Nr. 10). Dieses Krankheitsbild hatte sich im Verlaufe seines Berufslebens immer wieder angedeutet. Übertriebener Ehrgeiz, Hang zum Perfektionismus, sich für alles verantwortlich fühlen, verbunden mit der Unfähigkeit, ein ehrenvolles Amt nicht anzunehmen, bedingten die Auszeit. Kleins Bewältigungskonzept blieb das Zurückdrehen in der Lehre. Er ließ sich weiterhin vertreten und schrieb am 5. August 1912 an den Universitätskurator über die fortschreitenden, aber noch immer nicht vollendeten Projekte: „Ich erwähne das hier, weil meine nervöse Erkrankung zum Teil jedenfalls auch daraus entstanden ist, dass ich zu viel unerledigte Aufgaben vor mir sah. Der Abschluss ist noch nirgends erreicht aber doch näher gerückt.“ Im selben Brief deutete Klein an, dass er im nächsten Semester noch einmal um Urlaub bitten, dann aber entscheiden müsse, ob er die Konsequenzen ziehe (d.h. sich vorzeitig emeritieren lasse), was er auch bereits mit Hilbert und Landau besprochen habe. Als Klein sein „ganz individuelles“ Lehrprogramm im Wintersemester 191213 nicht realisieren konnte, organisierte die Fakultät keinen Ersatz – weil dadurch „keine systematische Lücke in unserem Unterrichtsbetriebe“ entstehen würde.326 So nahm Klein die Nachricht aus London, dass die Royal Society ihm die CopleyMedaille (in Gold und in Silber) für seine Verdienste um die mathematische Wissenschaft (On the ground of his researches in mathematics) verliehen hatte,327 „als symbolischen Abschluss meiner seitherigen Tätigkeit entgegen“ und beantragte mit Schreiben vom 31. Dezember 1912, „mich von der Verpflichtung, Vorlesungen zu halten, dauernd entbinden und dafür an der hiesigen Universität eine ordentliche Ersatzprofessur für Mathematik einrichten zu wollen“.328 Er wünschte, dass die Stelle bereits zum 1. April 1913 besetzt wird. Klein behielt sich vor, wieder Vorlesungen abzuhalten und wollte an der Verwaltung von Sammlung und Lesezimmer (mit dem Mitdirektor Landau) gern fest324 325 326 327

[UBG] Ms. W. Lietzmann I: 144, 260; LIETZMANN 1925, 260. [UAG] Univ.-Kuratorium, Personalakte F. Klein, 4Vb, Nr. 216 (Klein an Kurator). Dekan H.Th. Simon an den Universitätskurator, 12.11.1912 [UAG] Kur. 5956, Bl. 182. Am 30.11.1912 in der Sitzung der Royal Society; ein Mitglied der deutschen Botschaft hatte die Medaille in Empfang genommen. [UAG] Kur. 5956, Bl. 184, 185, 189. 328 Ebd., Bl.188, 188v.

444

8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913

halten. Dies wurde genehmigt, womit ihm – wie erwähnt (vgl. 7.1) – noch immer der zugehörige Assistent unterstand. Erst am 2. Mai 1922 wurde Klein gemäß seines eigenen Antrags durch den Preußischen Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung von den „Direktionsgeschäften der Sammlung mathematischer Instrumente und Modelle und des mathematischen Lesezimmers“ entbunden.329 8.5.2 Max Liebermanns Porträt von Felix Klein Am 19. August 1912 feierte Klein sein vierzigjähriges Professoren-Jubiläum. Walther Dyck versandte zu Beginn des Jahres 1912 einen Aufruf, den 71 Personen aus dem In- und Ausland unterzeichnet hatten, um Geld für ein zu malendes Porträt Kleins zu sammeln. Zu den Unterzeichnern dieses Aufrufs gehörten auch Gösta Mittag-Leffler und Henri Poincaré (vgl. Anhang Nr. 12). Letzterer verstarb am 17. Juli 1912. Sie gewannen 331 Freunde, Fachgenossen und Schüler von Klein, die 7060,34 Mark bis zum 7. Juli 1912 stifteten. Max Liebermann, der sonst 20.000 Mark für ein Porträt nahm, ließ sich von Hilbert überreden, Klein für ca. 6.000 Mark zu malen.330 „Sie sind wirklich ein Tausendkünstler, dass Sie das mit Liebermann zu Wege gebracht haben“, schrieb Klein an Hilbert und erwähnte, dass der Maler am 10. August 1912 nach Hahnenklee kommen wolle.331 Liebermann, zwei Jahre älter als Klein, schuf das Bildnis im Spätsommer 1912 (Abb. 36). Er überlieferte auch etwas über Kleins Schlaf- und Zeitprobleme, die verhindert hätten, dass er sich schöngeistiger Literatur hätte widmen können: […] der Geh. Rath Klein, der große Mathematiker, den ich vor ein paar Monaten in Hahnenklee malte u[nd] dem ich rieht [sic!], als er sich über Schlaflosigkeit beklagte, er solle ein Buch lesen, antwortete mir: seit 40 Jahren hätte er kein belletristisches Buch in der Hand gehabt. Und seine Frau ist eine Enkelin von Hegel! Und der Kerl ist der König von Göttingen, ernennt die Professoren u[nd] beherrscht nicht nur die göttinger, sondern die preußischen Universitäten, war der Liebling von Althoff u[nd] ist Hahn im Korbe bei allen WilhelmsAkademien! Tempura mutantur!332

Das Gemälde wurde Felix Klein am 25. Mai 1913 feierlich in Göttingen überreicht. Im Auftrage des engeren Komitees versandte Walther Dyck am 1. Juni 1913 die Grußadresse mit einer Reproduktion davon, den Namen der Unterzeichner (Stifter), Eduard Rieckes Ansprache bei der Übergabe des Bildes an Klein und dessen Erwiderung darauf in alle Welt. (Vgl. Anhang Nr. 12) Die Kenntnis, dass die Reproduktion des Gemäldes nicht von allen gleichmäßig freudig aufgenommen wurde, verdanken wir einem Brief von Anna Klein an Walther Dyck. Sie entwarf darin zugleich ein eindrucksvolles Bild ihres Mannes: 329 [UAG] Kur. 5956, Bl. 197. 330 [UBG] Cod. Ms. Hilbert 86: 11, 12, 13. – Die Stifter kamen aus zahlreichen europäischen Ländern, aber auch aus Amerika, Asien und Australien. Vgl. Anhang Nr. 12. 331 Klein an Hilbert, 25.7.1912 in FREI 1985, 139. 332 Liebermann am 24.11.1912 an Alfred Lichtwark, zitiert nach PFLUGMACHER 2001, 393-94. – Tempura mutantur! [Die Zeiten ändern sich!]

8.5 Vorzeitige Emeritierung und Ehrungen

445

Abb. 36: Bildnis Felix Klein 1912, Max Liebermann. Öl auf Leinwand, 112,5 x 90 cm, Mathematisches Institut der Georg-August-Universität Göttingen

Göttingen, d. 10. Januar 1913 Sehr geehrter Herr Geheimrat! Es hat mir sehr leid getan aus Ihrem Brief an meinen Mann zu erfahren, dass Sie so wenig befriedigt sind von dem Liebermann’schen Gemälde. Ich hätte gern die Reproduktion gesehen, denn ich glaube dass diese daran schuld ist dass Sie eine so schlechte Meinung von dem Bild bekommen haben. Es dauert aber wohl noch einige Zeit ehe die Abzüge verschickt werden und so möchte ich Ihnen doch heute schon sagen, dass ich von dem Porträt meines Mannes durchaus befriedigt bin und ebenso meine Kinder vielmehr als ich mir erwartet habe. Allerdings trägt das Bild ja nicht den leuchtenden Ausdruck den mein Mann bei angeregten Gesprächen und in festlicher Stimmung haben kann. Vielleicht hätte ihn ein Künstler, der meinen Mann gut gekannt hätte und nach längerer Beobachtung, intimer und innerlichster auffassen können. Aber einen solchen Künstler giebt es eben nicht und ich muss sagen dass Liebermann, der meinen Mann so gar nicht kannte und ihn doch nur in der reduzierten Sanatoriums Verfassung gesehen hat, ihn erstaunlich gut erfasst und charakteristisch wiedergegeben hat. Ich habe das Bild jetzt oft und lange gesehen und es ist mir immer lieber und ver-

446

8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913 trauter geworden, obwohl ich ja ganz froh bin dass mein Gatte nicht immer so imposant und energisch dreinschaut. Es ist ein Herrscher in seinem Reich der da sitzt und man glaubt es ihm gern da ein Leben voll Arbeit hinter ihm liegt, voll energischen Willens und consequenten Handelns. Dabei hat das Bild so gar keine Pose, es ist vielmehr ausserordentlich einfach gehalten, grau in grau, ohne jeden Farbeneffekt. Und doch tritt es bei längerem Zusehen fast körperlich aus dem Rahmen heraus und ist, besonders in Kopfhaltung, in der Lage der Hände und im Blick sprechend ähnlich. Kurz ich bin sehr zufrieden und es tut mir leid dass Sie, der sich so viel Mühe um diese Sache gegeben hat nun so wenig Freude daran haben sollen. Es ist aber sehr möglich dass auf der Reproduktion die Details störend hervortreten. Das Bild ist in der modernen Art gemalt, stark aufgetragen und nicht für nahe Besichtigung bestimmt. Auch ist es ja möglich dass die Übertragung ganz etwas anderes daraus gemacht hat. Es wäre freilich ein Jammer wenn all die Stifter nun einen falschen und ungünstigen Eindruck von dem Bilde bekämen und auch im Interesse Liebermann’s sehr zu bedauern. Zu meiner grössten Freude kann ich Ihnen mitteilen dass es meinem Mann stetig besser geht, besonders in der letzten Zeit ist er, nachdem eine hässliche Influenza glücklich überwunden wurde, recht frisch und vergnügt. Er sieht sehr gut aus, ist stärker geworden und hält sich so stramm wie in seiner besten Zeit. Leider kann man von seiner Leistungsfähigkeit weniger gutes berichten. Er ermüdet immer noch rasch, kann wenig Menschen sehen und verträgt es garnicht wenn etwas unvorhergesehenes an ihn herantritt oder mehrere Dinge zugleich sein Interesse verlangen. Wenn man auch hoffen darf dass die Kräfte sich mehr und mehr beleben werden, so ist doch nicht anzunehmen dass mein Mann im Sommer wird lesen können. Und da er nicht noch einmal Urlaub nehmen will, bleibt keine andere Wahl als der dauernde Dispens von der Pflicht Vorlesungen zu halten. Mein Mann hat sich ja schon seit Beginn seiner Erkrankung mit diesem Gedanken vertraut gemacht. Trotzdem ist es ein schwerer Entschluß gewesen und ich gewöhne mich nur sehr langsam an den Gedanken dass seine Stelle anderweit besetzt werden muss. Ich habe mich freilich immer voll Bangen gefragt was daraus werden sollte wenn sein Leben in demselben raschen Tempo weiter ginge wie es begonnen hat. Und so muss man es schliesslich als gnädige Lösung dieser Frage ansehen wenn nur der Lebensberuf und nicht das Leben selbst ein zu frühes Ende findet. An Arbeit und interessanter Tätigkeit wird es meinem Mann ja trotzdem nicht fehlen, wenn er nur erst wieder so weit ist dass er reisen und an Conferenzen teilnehmen kann. Heut zu Tage geht es ja nicht ab ohne Versammlungen und versammeln kann er sich eben noch nicht. Er hat es vorher ja auch viel zu viel getan. Nun aber endlich Schluss, lieber Herr Professor. Hoffentlich sind Sie, Ihre Frau und die Töchter, welche ich leider gar nicht kenne, recht wohl und vergnügt. Unsere Jüngste steht jetzt gerade vor dem Staatsexamen, möchte es gut ablaufen! Der Hauptwert ihres Studiums besteht für mich bis jetzt darin dass sie ihrem Papa mancherlei helfen kann und seine Interessen so teilt wie ich es mir immer für sie gewünscht und gedacht habe. Mit besten Grüssen von meinem Mann und mir für Sie und Ihre Frau bleibe ich Ihre freundschaftlich ergebene Anna Klein333

Der Vorstand der aus Vertretern des Impressionismus hervorgegangenen Künstlergruppe Berliner Secession erbat das Porträt für ihre Sommerausstellung mit der

333 Anna Klein an Walther Dyck, Schreibmaschinen-Kopie [Privatnachlass Hillebrand]. – Die im Brief erwähnte Tochter Elisabeth Klein absolvierte am 14. Februar 1913 das Lehramtsstaatsexamen in den Fächern Mathematik und Physik (1. Stufe) sowie Englisch (2. Stufe) mit dem Prädikat „Mit Auszeichnung“. [BBF] Personalblatt.

8.5 Vorzeitige Emeritierung und Ehrungen

447

Begründung: „Herr Professor Liebermann legt grossen Wert darauf, gerade mit diesem Bilde, das er für eines seiner besten Werke hält, vertreten zu sein.“334 William Henry Young, der Ehemann von Kleins Doktorschülerin, rundete Kleins äußeres Bild ab, als er über ihn für die Royal Society of London schrieb – Klein war hier auswärtiges Mitglied seit 1885 und Ehrenmitglied seit 1902: Klein was very tall, erect and slim, with rich brown wavy hair and characteristically sparkling light blue eyes, with a genial glance which has not been completely caught in the photograph here produced.335

8.5.3 Die Nachfolger auf Kleins Lehrstuhl Edmund Landau erklärte Klein in einem Brief vom 2. Januar 1913, er halte es für zweckmäßig und erfreulich, „dass Sie vorläufig die Leitung der Sammlung und des Lesezimmers mitbehalten“. Er wünschte Klein volle Gesundheit, „damit dann wir fünf, Sie, Hilbert, Runge, X und ich gemeinsam mit vollen Kräften an der Aufrechterhaltung der mathematischen Grösse Göttingens arbeiten können.“336 Landau informierte zudem, dass sich alle Mathematiker über den an erste Stelle zu setzenden X einig seien: Constantin Carathéodory, den Klein schon bei dessen Habilitation als „geschickten Geometer“ bezeichnet hatte.337 Nur über die weiteren Kandidaten gab es noch Differenzen. Die Akten der Dekanatssitzungen erhellen, dass Klein selbst zur Kommission gehörte (neben Hilbert, Landau, Mügge, Prandtl, Runge, Voigt, Wallach, Wiechert, einem Vertreter der anderen Abteilung, sowie dem aktuellen Dekan). Sie setzten in der Sitzung am 28. Februar 1913 einstimmig Weyl und Brouwer ex aequo (gleichberechtigt) an zweite Stelle. Außerdem wurde eine Erklärung zu den Akten gelegt, warum Paul Koebe nicht vorgeschlagen wird.338 Dies beruhte auf dessen Charakter (vgl. 5.5.4.4). Riecke überlieferte bereits 1910 Kleins Ansicht, dass Koebe in wissenschaftlicher Beziehung hoch stehe, aber ansonsten ein krasser Egoist sei, der für sich immer etwas besonderes und besseres haben wolle, als andere erhielten.339 Klein beschrieb Koebe später noch als „nach persönlicher Seite etwas schwierig, weil er nicht immer taktvoll u.[nd] wiss.[enschaftlich] agnostisch ist“.340 Auch mag Klein Koebes mangelnde Literaturkenntnis augenfällig geworden sein, als er den Entwurf der Dissertation von Ludwig Bieberbach studierte (vgl. Anhang Nr. 9). 334 [BStBibl] Dyckiania, Brief des Vorstands an Dyck, 11.4.1913. 335 YOUNG, W. H. 1928, xix. 336 Landau an Klein, 2.1.1913 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 610. – Landau hatte gerade einen Ruf an die Universität Heidelberg abgelehnt. Vgl. Festschrift zur Feier der Ablehnung der Berufung, 18.1.1913 [UBG] Math.Arch. 80 (Nachlass Margarethe Goeb): 11e. 337 Klein am 20.2.1905 [UAG] Phil. Fak. 190a, V, 35. 338 [UAG] Phil. Fak. III Bd. 5, Bl. 126. 339 [StB Berlin] Sammlung Darmstaedter: E. Riecke, Brief v. Juni 1910. 340 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 2 G: Bl. 13 (Klein an Nernst, 21.2.1917; eine Rufangelegenheit in Berlin betreffend). – Gemeint ist: Koebe handelte nicht aus rein wissenschaftlichen Gründen.

448

8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913

Carathédory kam wie gewünscht zum 1. April 1913. Klein erlebte allerdings noch zwei Nachfolger auf diesem Lehrstuhl, wobei er den Berufungskommissionen jeweils angehörte. Carathéodory fühlte sich dem Göttinger Zentrum nicht derart verpflichtet wie Klein, Hilbert, Runge und Landau; er lehnte den Ruf an die Universität Berlin nicht ab (Nachfolge Frobenius). Am 13. Dezember 1917 lautete die neue Liste: 1) Erich Hecke (Basel), 2) Brouwer (Amsterdam) und Weyl (Zürich) ex aequo, und 3) Wilhelm Blaschke (Königsberg).341 Hecke hatte nach Promotion bei Hilbert (1910) als Assistent bei Klein (1910-11) und anschließend noch bei Hilbert in dieser Position gedient. Nach der Habilitation in Göttingen (1912) hatte Hecke mitten im Krieg eine Professur in Basel annehmen können. Auch er blieb nur kurz in Göttingen und wechselte zum 1. Oktober 1919 an die neu gegründete Universität nach Hamburg. Nun gab es am 30. Oktober 1919 eine (kaum bekannte) neue Vorschlagsliste: 1) Brouwer (Amsterdam), 2) Herglotz (Leipzig), 3) Weyl (Zürich).342 Allerdings wurde keiner von diesen, sondern schließlich Richard Courant berufen. Dieser hatte seit 1908 in Göttingen studiert, auch bei Klein zwei Vorlesungen gehört, Hilbert als Privatassistent gedient und bei ihm mit der Dissertation „Über die Anwendung des Dirichlet’schen Prinzipes auf die Probleme der konformen Abbildung“ 1910 promoviert, sich 1912 bereits habilitiert und in das abgestimmte Lehrangebot integriert, bevor er Kriegsdienst leisten musste. Die Dekanatsakten dokumentieren die Information vom 20. Februar 1920, dass Courant eine o. Professor in Münster erhielt, dass die Göttinger am 14. Juli 1920 neue Vorschläge für die Hecke-Nachfolge an das Ministerium sandten, zusammen mit „Sondergutachten von Hilbert-Klein und Landau“, und Courant gemäß Ministerialerlass vom 9. September 1920 zum 1. Oktober 1920 in Göttingen ernannt wurde.343 Courant überlieferte, dass dieses Arrangement Klein zu danken war.344 In der von Courant begründeten gelben Springer-Buchreihe sollten noch etliche Vorlesungen Kleins ediert werden (vgl. 9.2). Courant entfaltete eine intensive erfolgreiche Tätigkeit, wenngleich er auch veranlasste, dass das durch seinen Schwiegervater Carl Runge (und Klein) vorangebrachte Gebiet der angewandten Mathematik mit numerischen, graphischen und instrumentellen Methoden 1927 in Göttingen nicht mit einem eigenen Lehrstuhl fortgeführt wurde.345 – Nach dem durch die NS-Diktatur bedingten erzwungenen Ausscheiden 1933 konnte Courant in New York ein noch heute nach ihm benanntes Institut aufbauen. 341 342 343 344 345

[UAG] Phil. Fak. III Bd. 5, Bl. 196. Ebd., Bl. 220. Ebd., Bl. 232, 255-56, 262. Vgl. REID 1976, 83; 1979, 98 . R. von Mises, seit 1920 persönlicher Ordinarius für angewandte Mathematik an der Universität Berlin, kritisierte die Besetzung des Runge-Lehrstuhls (mit Gustav Herglotz; wieder altes disziplinäres Verständnis von angewandter Mathematik), vgl. Debatte mit Courant in Die Naturwissenschaften (1927). Am 24.3.1930 konstatierte Mises in einem Brief an Prandtl, dass daraus auch folge, „[…] dass die angew.[andte] Mathem.[atik] von den deutschen Universitäten, unter Führung der Göttinger, wieder verdrängt wird […].“ [MPI Archiv] No. 1082. Vgl. dazu auch SIEGMUND-SCHULTZE 2018, 502-503.

9 ERSTER WELTKRIEG UND NACHKRIEGSZEIT In dem Augenblicke, wo wir glauben konnten, die Durchführung so gut wie gesichert zu haben, hat der ungeheure Krieg, in den sich Deutschland verwickelt sieht, alles in Frage gestellt. Aber gerade, weil die Zukunft unbestimmter ist als je, will ich mit dem Grundgedanken nicht zurückhalten. […] Die Voraussetzungen für alle Hoffnungen, die wir hegen, ist freilich, dass wir kulturell durch die kommenden Ereignisse nicht völlig zurückgeworfen werden. […]1

Dies schrieb Felix Klein kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs in einem „Bericht über den heutigen Zustand des mathematischen Unterrichts an der Universität Göttingen“ für den Jahresbericht der DMV. Bei „so gut wie gesichert“ dachte er zuvörderst an sein neues (1929 vollendetes) Mathematisches Institut. Er blickte auf die in Gefahr geratenen IMUK-Arbeiten, betonte, dass die große Zahl ausländischer Studierender immer ein besonderer Stolz in Göttingen gewesen sei und: „[…] zu dem Fortschritte der allumfassenden Wissenschaft, die über die Verschiedenheit der Völker gleichmäßig ihren hohen Bogen wölbt, in erkennbarer Weise beizutragen, das war dabei das Ideal.“ Klein hoffte, dass die Mathematik hinter den nach vorn drängenden „sozialen, wirtschaftlichen und politischen Fragen“ eine zentrale Stellung behalten möge. Aber wenig später kam er nicht umhin, seine loyale Haltung zum Staat im Kriege bezeugen zu müssen (vgl. 9.1). Nach seiner Auszeit im Sanatorium hatte Klein als Emeritus das Heft wieder in die Hand genommen: die Buch-Projekte (ENCYKLOPÄDIE; Gauß-Edition; IMUK -Abhandlungen), Lehrtätigkeit, Engagement für Universität, Göttinger Vereinigung, im Herrenhaus und im DAMNU. Er blieb die geschätzte Eminenz bei Berufungs-, Bildungs-, Forschungsentscheidungs- und Finanzierungsfragen. Seit 1916 diskutierte er notwendige Maßnahmen für die Zeit nach dem Krieg.2 Kleins Notizen für ein Gespräch mit Carl Heinrich Becker, der seit 1916 parteiloser Referent im preußischen Kultusministerium war und auch nach der Novemberrevolution dort ein Kontinuitätsfaktor blieb, deuten die Weite des Spektrums an: Die treibenden Mächte: Die Demokratisierung (Volksschullehrer) Militärische Anforderungen, Wirtschaftliches. Die staatlichen Notwendigkeiten, „wie ich sie verstehe“.3

Klein listete bei den ihn vor allem bewegenden „staatlichen Notwendigkeiten“ auf: Die Einheit von reiner und zweckgebundener Forschung, das Etablieren neuer Gebiete wie Mathematische Statistik, Photochemie, Radiologie, Geschichte der Mathematik, Didaktik der exakten Disziplinen, Pädagogik-Lehrstühle; Ange1 2 3

KLEIN 1914b, 427, hier auch das Folgende, 428. Vgl. z.B. Notizen Kleins v. 5.6.1916. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 4G: Bl. 79. Hier und im Folgenden: [UBG] Cod. Ms. F. Klein 5A: Bl. 14-15 (Notizen v. 23.6.1918).

449 © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Tobies, Felix Klein, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58749-2_9

450

9 Erster Weltkrieg und Nachkriegszeit

wandte Mathematik auch in Berlin; Auslandsstudien; Projekte der Akademien, der KWG, die Zukunft der IMUK; Fortbildungskurse für den zu erwartenden Ansturm von Studierenden.4 Kleins fortdauerndes Agieren als „Außenminister der deutschen Mathematik“5 wurde von den Kollegen akzeptiert. Edmund Landau schrieb am 16. April 1920 an das SPD-Kultusministerium: […] Ich gestatte mir, Ihnen heute eine andere Angelegenheit zu unterbreiten, bemerke aber ausdrücklich, dass ich aus eigener Initiative handele, und dass Herr Koll.[ege] Klein meinen Schritt (den ich auch ohne sein Wissen unternehme) vielleicht sehr missbilligt. Ich erfuhr heute zufällig – aus einer Korrespondenz mit Herrn K.[lein] über Anschaffungen fürs Lesezimmer – dass er als professor emeritus nicht die geringste Teuerungszulage bisher erhielt (bestimmte Zeitschriften hatte er bisher aus eigenen Mitteln fürs Lesezimmer angeschafft und sieht sich dazu nicht mehr in der Lage). Ich suchte Herrn Geheimrat Wende auf und trug ihm meine Ansicht vor: „Wenn eine Ausnahme von der Regel in einem Fall gerechtfertigt scheine, so sei es der Fall Klein. Denn obgleich emeritus, hält er weiter Vorlesungen (z.T. zu Hause; es sind Übungen zur Geschichte der Mathematik und dergl., die von höchstem Nutzen für unsere älteren Studenten sind), und er beteiligt sich aufs intensivste an allen Senats- und Fakultätsangelegenheiten sowie an den unserer Universität zu gute kommenden Angelegenheiten der Göttinger Vereinigung. Und Klein sei der Mann, dessen Initiative die Blüte der Göttinger reinen und angewandten Mathematik und Physik, wohl sogar die Entstehung mehrerer Institute zu verdanken ist.“ Herr G.R. Wende sagte, Sie allein könnten die Berechtigung meiner Anregung prüfen, und Sie seien ohne weiteres berechtigt, ihm rückläufig und in Zukunft die Teuerungszulagen zukommen zu lassen. […] Bei Ihrem grossen Interesse für unsere Fächer und in der Gewissheit, dass Sie die überragende Bedeutung Kleins für die Wissenschaft und die Göttinger Universität ebenso hoch schätzen wie wir jüngeren, habe ich die Hoffnung, dass Sie eingreifen werden, um von der Regel hier die zulässige Ausnahme zu machen. In vorzüglicher Hochachtung Ihr ganz ergebener Landau.6

Klein widmete sich der Geschichte von Mathematik, der Relativitätstheorie, der Edition seiner Arbeiten und gelangte noch zu neuen Ergebnissen. (9.2) Er griff in neue bildungspolitische Strömungen ein. (9.3) Klein bemerkte durch Krieg und Inflation bedingte finanzielle Schwierigkeiten von Projekten und fand Lösungen dank der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft. Er konnte nicht vermeiden, dass die Göttinger Vereinigung in der Helmholtzgesellschaft zur Förderung physikalisch-technischer Forschung aufging, überführte aber einen Teil der Gelder noch in eine universitätsnahe Stiftung. (9.4) Sein 75. Geburtstag am 25. April 1924 brachte ihm noch zahlreiche Ehrungen. Im Arbeitszimmer am Schreibtisch sitzend, blieb Klein seinem Arbeitsethos verpflichtet, bis er am 22. Juni 1925 für immer die Augen schloss. (9.5) 4 5 6

In Göttingen lehrten Geschichte der Mathematik: Edmund Hoppe, Gymn.-Prof. i.R. (191928) und Otto Neugebauer ab SS 1928. Die erste persönliche o. Professur für Pädagogik gab es 1912 an der Universität Jena, dort 1920 planmäßiges Ordinariat, vgl. TOBIES 2018b, 504-05. Ausdruck von Abraham A. FRAENKEL 1967, 152, der Klein 1919 persönlich erlebte. [UAG] Kur. 10750 Bd. 1 (PA Landau), Bl. 59-60v. – Erich Wende war seit 1917 Beamter im preußischen Kultusministerium. Nach vier Tagen wurde dem Antrag stattgegeben.

9.1 Bekenntnisse deutscher Professoren zum Militarismus

451

9.1 BEKENNTNISSE DEUTSCHER PROFESSOREN ZUM MILITARISMUS Felix Klein hatte sich im Jahre 1908 dezidiert gegen nationalen Chauvinismus ausgesprochen (vgl. Abschnitt 8.4). Als junger Mann hatte er beim Deutsch-Französischen Krieg zwar als Sohn eines preußischen Staatsbeamten versucht, seiner Militärpflicht zu genügen, war aber nur für den Sanitätsdienst in Frage gekommen. Sein Verhältnis zu französischen Mathematikern war durch diesen Krieg unbeeinflusst geblieben. Vielmehr hatte er sich, gemeinsam mit Clebsch, bestürzt über nationalistische Auswüchse von Camille Jordan u.a. gezeigt (vgl. 2.7.1). Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs verfügte Klein über ein umfangreiches internationales Netzwerk, konnte sich aber – wie zahlreiche ältere Gelehrte – nicht der Kampagne zur Mobilisierung der Moral an der Heimatfront entziehen.7 Die im August 1914 landesweit geschürte euphorische Kriegsbegeisterung hatte viele junge Deutsche freiwillig in den Krieg getrieben. Klein berichtete am 3. August 1914 an Wilhlem Lorey, mit dem er den Abschlus der IMUK-Abhandlungen forcierte: „Nun habe ich einen ersten Sturm der Aufregung hinter mir, weil mein Sohn gestern zum Abschiednehmen kam und gleichzeitig meine jüngste Tochter in aller Eile getraut wurde.“8 Kleins Sohn überlebte den Krieg; der Schwiegersohn Robert Staiger fiel nach wenigen Wochen (vgl. 3.6.3). Am 14. Oktober 1914 sahen sich mehr als 3000 deutsche Hochschullehrer genötigt, ihre loyale Haltung zum Staat zu bekennen, in dem sie eine „Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches“ unterzeichneten, die der Altphilologe Ulrich von WilamowitzMoellendorff formuliert hatte. Sie begann mit den Worten: Wir Lehrer an Deutschlands Universitäten und Hochschulen dienen der Wissenschaft und treiben ein Werk des Friedens. Aber es erfüllt uns mit Entrüstung, dass die Feinde Deutschlands, England an der Spitze, angeblich einen Gegensatz machen zwischen Geist der deutschen Wissenschaft und dem, was sie preußischen Militarismus nennen. In dem deutschen Heere ist kein anderer Geist als in dem deutschen Volke, denn beide sind eins, und wir gehören auch dazu.

Die Erklärung endete mit dem Satz: Unser Glaube ist, dass für die ganze Kultur Europas das Heil an dem Siege hängt, den der deutsche „Militarismus“ erkämpfen wird, die Manneszucht, die Treue, der Opfermut des einträchtigen freien deutschen Volkes.9

Obgleich sie Internationalität gepflegt hatten, lieferten damit auch als liberal geltende Professoren, unter ihnen Klein, Hilbert und Runge, ein Bekenntnis, mit ihren Mitteln Kriegseinsatz zu leisten. Hilbert und Carathéodory oblag es, eine Denkschrift über die mögliche Verwendung von Mathematik-Studierenden zu verfassen: Berechnung ballistischer Tabellen; Photogrammetrie; Vermittlung von Methoden zur Ortsbestimmung von Flugzeugen; Festigkeitsprobleme.10 7 8 9 10

Vgl. BROCKE 1985. [Nachlass Lorey] B.I.1. Klein an Lorey, Karte v. 3.8.1914. Zitiert nach TOLLMIEN 1993, 143-44. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 7H (Kriegshilfsdienst 1916; 8.12.1916 an Naumann).

452

9 Erster Weltkrieg und Nachkriegszeit

Es existierten weitere Verlautbarungen der Staatsbeamten zu diesem Krieg, auch in den Ländern der Kriegsgegner.11 Der „Aufruf an die Kulturwelt“ (publiziert am 4.10.1914) ließ die Wellen am höchsten schlagen, weil er Unterschriften von 93 deutschen Wissenschaftlern, Künstlern, Nobelpreisträgern, darunter Wilhelm Förster, Ernst Haeckel, Max Liebermann, Walther Nernst, Wilhelm Ostwald, Max Planck, Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf, Wilhelm Wundt trug. Dass Felix Klein als einziger Göttinger Professor und als einziger Mathematiker dazu gehörte, beruhte auf seinem damaligen Bekanntheitsgrad und seiner häufigen Präsenz in Berlin.12 Wie Klein später seiner Schülerin Grace Chisholm Young erklärte, war er aber – wie Max Planck u.a. – nur telegraphisch um seine Unterschrift ersucht worden. Klein kannte den Text vor dem Druck nicht. Er hatte (naiv) angenommen, es wäre ein Text, der helfen könne, vorhandene Wogen zu glätten. Das Gegenteil war der Fall, denn der sich in erster Linie an die noch neutralen Staaten richtende Aufruf enthielt Aussagen wie: Es ist nicht wahr, daß Deutschland diesen Krieg verschuldet hat. […] Es ist nicht wahr, daß wir freventlich die Neutralität Belgiens verletzt haben. […] Es ist nicht wahr, daß der Kampf gegen unseren sogenannten Militarismus kein Kampf gegen unsere Kultur ist, wie unsere Feinde heuchlerisch vorgeben. Ohne den deutschen Militarismus wäre die deutsche Kultur längst vom Erdboden getilgt. Zu ihrem Schutz ist er aus ihr hervorgegangen in einem Lande, das jahrhundertelang von Raubzügen heimgesucht wurde wie kein zweites. Deutsches Heer und deutsches Volk sind eins. Dieses Bewußtsein verbrüdert heute 70 Millionen Deutsche ohne Unterschied der Bildung, des Standes und der Partei.[…]13

Der Aufruf negierte damit von Deutschen begangene Gräuel-Taten. Die Académie des Sciences in Paris annullierte daraufhin die Mitgliedschaft der Unterzeichner.14 Es ehrt Felix Klein und Max Planck, dass sie dafür sorgten, dass in Göttingen und Berlin nicht Gleiches mit Gleichem vergolten wurde.15 Émile Picard, seit 1884 Korrespondent der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften, erklärte 1916/17 seinen Austritt. Dagegen wurde der am 23. Februar 1917 verstorbene Gaston Darboux (1883 Korrespondent, 1901 auswärtiges Mitglied) in Göttingen besonders geehrt.16 In Großbritannien wurden Ausschlüsse ebenfalls vermieden. Nach dem Krieg sollte der Aufruf an die Kulturwelt als ein Haupt-Argument dienen, um deutsche Wissenschaftler aus internationalen Gemeinschaften auszugrenzen. Es mag widersprüchlich scheinen, aber der parteilose Klein blieb politisch staatstreu und wissenschaftlich international orientiert. Grace Chisholm Young urteilte über ihren Doktorvater: The aim of his life was to knit together in unity of 11 Vgl. AUBIN/GOLDSTEIN 2014. 12 „Ich muß mich ja immer zwischendurch viel ausruhen und überhaupt mit aeusserster Vorsicht leben, aber ich habe unter Innehaltung dieser Regeln doch jetzt eine zweimalige Reise nach Berlin ganz leidlich überstanden.“ [Nachlass Lorey] Klein an Lorey, 30.10.1914. 13 Vgl. detailliert: https://de.wikipedia.org/wiki/Manifest_der_93#Wortlaut. Zu den Verfassern und zur Analyse vgl. auch BROCKE 1985; TOLLMIEN 1993, bes. 172-77. 14 Vgl. GRAU 1993, 286; Annullierung am 15. März 1915. 15 Vgl. TOLLMIEN 1993, 195. 16 Göttinger Nachrichten. Geschäftliche Mitteilungen 1917, 2 (Picard), 71-75 (Darboux); HILBERT 1917; auch Voss, Aurel: „Gaston Darboux“. Jahresbericht DMV 27 (1918) 196-217.

9.1 Bekenntnisse deutscher Professoren zum Militarismus

453

object and of effort the world of science, without distinction of nationality.17 Am 7. Dezember 1918 hatte Klein ihr zu erklären versucht: Jedermann wird in hellen und trüben Tagen zu seinem Lande halten, aber von der Leidenschaftlichkeit müssen wir uns frei machen, wenn die internationale Zusammenarbeit, wie wir so sehr wünschen, zum Segen des Ganzen wieder zur Geltung kommen soll.18

Wenn wir Kleins Haltung verstehen wollen, müssen wir uns vor Augen führen, dass er bis 1918 im Herrenhaus saß und noch immer die Göttinger Vereinigung dirigierte. Um den Platz von Mathematik und Naturwissenschaften zu sichern, suchte Klein gutes Einvernehmen sowohl mit den staatlichen Behörden (unabhängig von der politischen Couleur), als auch mit den Industriellen der Göttinger Vereinigung (die durchaus in ihrer Mehrzahl am Krieg verdienten). So managte Klein im Verbund mit Staat und Industrie die Neubesetzung von Lehrstühlen in Göttingen und regte neue Forschungsfelder an. So hatte er die 1916 publizierten IMUK-Abhandlungen (KLEIN 1909-16) mit Vor- bzw. Nachworten versehen, welche Mathematik und mathematischen Unterricht auch im Kontext militärischer Erfordernisse artikulierten. An das Kultusministerium gesandt, erhielt er daraufhin grünes Licht, um die internationalen IMUK-Arbeiten (über die Schweiz mit Henri Fehr) fortsetzen zu dürfen und gedachte, dem (für Stockholm geplanten19) VI. Internationalen Mathematiker-Kongress einen Abschlussbericht vorzulegen. So erwähnte Klein in einer Rede vor den Mitgliedern der Göttinger Vereinigung Kriegstätigkeit der Institute, warnte aber: „Die Gefahr der Isolierung der theoretischen Spekulation muß ebenso vermieden werden, wie die Verflachung der auf Anwendungen abzielenden Tätigkeit.“20 Er hatte sich selber gerade der Relativitätstheorie zugewandt und schaute durchaus über den Tellerrand. So schlug er z.B. am 4. November 1918 konkret für Göttingen vor – mit Blick auf Marie Curies Einsatz mit Röntgenwagen –, dass „die Frontseite des jetzt Kruppschen Grundstückes später ein radiologisches Institut tragen soll, als Verbindungsstück unserer Einrichtungen für Chemie und Physik“.21 Bereits kurz nach der Novemberrevolution, am 15. Dezember 1918, wandte sich Klein an den neuen SPD-Minister Konrad Haenisch, um ihm seine Pläne zu unterbreiten (vgl. Abschnitt 9.3.2). D.h., Klein wollte einerseits mit öffentlichen politischen Äußerungen im eigenen Land bei den Entscheidungsträgern nicht anecken. Er wusste andererseits, dass hervorragende wissenschaftliche Arbeit nur international funktioniert. Als der Boykott gegenüber deutschen Wissenschaftlern im Ausland konkrete Formen angenommen hatte, formulierte Klein das Motto Schweigen und Arbeiten im Brief vom 15. Juli 1919 an Grace Chisholm Young: 17 „Obituary. Professor Klein.“ The Times, July 9, 1925. 18 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 3 A: Bl. 14 (Klein an G. Ch. Young, 7.12.1918). – Vgl. auch die Analysen von Ivor GRATTAN-GUINNESS 1972, bes. 159-61. 19 In Schweden war für den VI. Kongress bereits 1913 eine Preisaufgabe gestellt worden, vgl. Jahresbericht DMV 24 (1915) 69. 20 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 4 G: Bl. 79-81, Zitat 80. 21 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 5 A: Bl. 153 (Klein an Böttinger, 4.11.1918).

454

9 Erster Weltkrieg und Nachkriegszeit Allgemein verbietet mir der Sinn für Objektivität mich über Dinge zu aeussern, die ich, wenn überhaupt, nur aus den subjektiven und einander widersprechenden Aeusserungen irgend welcher Zeitungen kenne. Also bleibt für mich, was ich die ganze Kriegszeit über getan habe: Schweigen und Arbeiten. Für die wenigen Jahre, die ich noch vor mir habe, werde ich damit auskommen. Die Welt aber wird ihren Lauf nehmen und die Völker werden sich eines Tages wieder zusammen finden. Vorläufig ist eingetreten, was einst beim Turmbau von Babel der Fall war, sie verstehen einander nicht mehr.22

Gearbeitet hat Klein, aber geschwiegen kaum. Um die internationalen Diskussionen um den Aufruf an die Kulturwelt zu glätten, hoffte er, mit Max Planck eine gemeinsame Erklärung auf den Weg bringen zu können: Ich fand – gleich Anderen – die Art, wie sie am Leibniztag Ihrer Akademie der internationalen wiss.[enschaftlichen] Beziehungen und unserer Verpflichtung zur Weiterführung der wiss. [enschaftlichen] Arbeit gedachten, ausgezeichnet, und meine danach, dass es Ihnen wohl gelingen werde, die vorliegende überaus schwierige Frage, soweit dies überhaupt möglich ist, auf gute Bahn zu bringen. Dass ich bereit sein würde, an dem Text der abzugebenden Erklärung selbst mitzuarbeiten, deutete ich bereits an.23

Eine derartige Erklärung kam nicht zustande.24 Klein musste sich damit abfinden, aus Dingen ausgeschlossen zu sein, die er einst selbst auf den Weg gebracht hatte, Mathematiker-Kongresse und die Assoziation Internationaler Akademien. Émile Picard, der 1912 zu den Stiftern des Liebermann-Gemäldes für Klein gehört hatte (vgl. Anhang Nr. 12), verantwortete als Präsident des 1919 gegründeten Conseil International des Recherches die Ausgrenzung der Deutschen und Verbündeter.25 Als 1920 ein Mathematiker-Kongress nicht in Stockholm, sondern in Strasbourg stattfand, trug Henri Fehr den IMUK-Bericht (FEHR 1920) vor. Auf dem Internationalen Mathematiker-Kongress in Bologna 1928 wurden die IMUK-Arbeiten unter dem Präsidenten David Eugene Smith neu belebt. In Bologna nahmen auch Deutsche erstmals wieder teil26, während sie 1924 in Toronto noch ausgeschlossen blieben. Klein hatte lebhaft das internationale Geschehen verfolgt und die Brief-Kontakte nach Übersee (vgl. Anhang Nr. 13), Russland u.a. erneuert. Für das von Klein geförderte Grenzgebiet Mathematik, Physik und Technik konnten nationalistische Hemmnisse etwas früher beiseite geschoben werden. Initiiert durch Theodor Kármán tagte 1924 in Delft der erste International Congress for Applied Mechanics mit guter internationaler Beteiligung, einschließlich Richard von Mises und Hans Reißner, die 1922 die Gesellschaft für angewandte Mathematik und Mechanik (GAMM) mit Ludwig Prandtl begründet hatten.27

22 Klein an G.Ch. Young, 15.7.1919, zitiert bei TOLLMIEN 1993, 185. 23 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 3 A: Bl. 2-4 (Klein an Planck, 8.9.1919). – Leibniztag: regelmäßige Feier anlässlich des Geburtstages von G. W. Leibniz, der die Gründung der Berliner Akademie der Wissenschaften im Jahre 1700 initiiert hatte. 24 Vgl. hierzu TOLLMIEN 1993, 186-96. 25 Vgl. hierzu SIEGMUND-SCHULTZE 2011. 26 Es blieben nationalistische Tendenzen, vgl. SIEGMUND-SCHULTZE 2016. 27 Vgl. BATTIMELLI 2016; KÁRMÁN 1968; TOBIES 1982.

9.2 Geschichte der Mathematik und „Notschrei der modernen Physik“

455

9.2 GESCHICHTE DER MATHEMATIK UND „NOTSCHREI DER MODERNEN PHYSIK“ Klein urteilte im erwähnten Bericht vom August 1914 im Jahresbericht der DMV: Vor zwei Jahrzehnten noch stand die Theorie der algebraischen Funktionen und derjenigen Transzendenten, die sich aus ihnen unmittelbar ableiten lassen, im Mittelpunkte des allgemeinen Interesses. Algebraische Kurven und Flächen, elliptische Funktionen und Thetafunktionen, lineare Differentialgleichungen im komplexen Gebiet – vielleicht auch algebraische Zahlen – bildeten die Rüstkammer, innerhalb deren der Mathematiker seine Probleme suchte. Heute stehen ganz andere Gebiete im Vordergrund. Da ist zunächst die Entwicklung der Mathematik nach abstrakter Seite, wie sie in der modernen Axiomatik, der Mengenlehre, der neuen Funktionentheorie reeller und komplexer Variablen und der verfeinerten Analysis situs hervortreten. Dann weiter, in scheinbarem Widerspruch dazu, in Wirklichkeit aber damit verknüpft, die Wiederaufnahme lange vergessener praktischer Fragestellungen: Variationsrechnung und Wahrscheinlichkeitsrechnung finden wieder eifrige Pflege; die Integralgleichungen geben das Mittel, wichtige alte Aufgaben der mathematischen Physik endlich glatt zu erledigen. Und dazu der Notschrei der modernen Physik, die in ihrer stürmischen, ja revolutionären Entwicklung nach der Hilfe der Mathematiker ruft und einen großen Teil unserer Arbeitsenergie zu verschlingen droht!28

Er überschaute damit auch die modernen Tendenzen, trug aber, seinem Programm folgend, zunächst über die Entwicklungen seit Beginn des 19. Jahrhunderts vor (vgl. Tab. 10). Dies blieb unvollendet, als ihn die Relativitätstheorie zu fesseln begann. Auch hierzu schloss er die Vorträge nicht ab. Er wandte sich der Edition seiner Gesammelten Mathematischen Abhandlungen zu, nachdem Freunde und Kollegen anlässlich seines Goldenem Doktorjubiläum am 12. Dezember 1918 Geld gestiftet hatten, damit er das Projekt in Angriff nehmen konnte. Das Geld – von Robert Fricke auf einem Separatkonto beim Bankverein in Göttingen verwaltet – reichte zwar infolge der Inflation nach dem Kriege nicht aus, aber durch die Göttinger Vereinigung und die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft (vgl. 9.4) sollten weitere Gelder auf dieses Konto fließen. Klein konnte damit die beteiligten Hilfskräfte (Vermeil, Bessel-Hagen) bezahlen. Als sich die Arbeit an den Gesammelten Abhandlungen dem Ende zuneigte, notierte Klein am 9. Juni 1922: „Was unternehmen, wenn Bd. 3 abgeschlossen ist? Werde ich dann noch Hülfskräfte zur Verfügung haben, ohne die es doch nicht geht?“29 Courant fand eine neue Aufgabe für Klein: die Herausgabe von dessen älteren autographierten Vorlesungen in der gelben Springer-Reihe in Buchform. Auch Hilfskräfte konnten gewonnen werden. Passend zu dem Vorhaben ließ Klein im Vorlesungsverzeichnis der Universität eine 4-stündige Vorlesung anzeigen: für Winter 1924/25 „Elementare projektive Geometrie mit nicht euklidischer Geometrie“ und für Sommer 1925 „Liniengeometrie“ (Mo, Die, Do, Frei 8-9 Uhr)30. Sein Todestag, der 22. Juni 1925, sollte ein Arbeits-Montag sein.

28 KLEIN 1914b, 422. 29 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 5 E: Bl. 159v. 30 Dazu existieren Vorlesungsvorbereitungen ab 1923: [UBG] Cod. Ms. F. Klein 22 J.

456

9 Erster Weltkrieg und Nachkriegszeit

Klein hatte das neue Editionsprogramm der Vorlesungen in zwei Gruppen eingeteilt und startete die Bearbeitung mit dafür geeigneten, verschiedenen „Hilfskräften“. Eine erste Gruppe bildeten seine Spezialvorlesungen (nichteuklidische Geometrie, höhere Geometrie, hypergeometrische Funktion, lineare Differentialgleichungen, Riemannsche Flächen, Zahlentheorie). Klein begann die nichteuklidische Geometrie mit dem Privatassistenten Walther Rosemann, der 1922 bei Hilbert mit einem geometrischen Thema promoviert worden war. Als Klein starb, lagen die Fahnen der ersten Buchkapitel korrigiert vor.31 Wilhelm Blaschke übernahm die neue Edition der höheren Geometrie weitgehend selbstständig, unterstützt durch jüngere Mathematiker (KLEIN/BLASCHKE 1926). Parallel dazu arbeitete Klein mit dem promovierten Studienrat Friedrich Seyfarth an der Herausgabe einer zweiten Gruppe seiner Vorlesungen, der auf breitere Kreise zielenden Elementarmathematik vom höheren Standpunkte aus (vgl. auch Abschnitt 8.3.4.1, Fußnote 250). Klein beließ den Text für diese nun dritte Auflage weitgehend im Original, fügte Anmerkungen hinzu und veranlasste Seyfarth zu Zusätzen im Anhang. Die Bände I (Ostern 1924) und II (Mai 1925) erschienen noch mit Kleins Vorworten. Tabelle 10: Vorträge Felix Kleins, 1914 – 192232 Assistent Graefe33 Graefe Baade34 Baade Baade Baade

Semester Inhalt 1914/15 Entwicklung der Math. im 19. Jh., T. 1: Die ersten Jahrzehnte

Bemerkungen Ausgearb. v. Elisabeth Staiger (geb. Klein) (10 Teilnehmende) 1915 Entwicklung der Math. im 19. Jh., Ausgearb. v. Elisabeth Staiger T. 2: Mathematik bis ca. 1850; (geb. Klein) Mathematische Physik bis ca. 1880. (24 Teilnehmende) 1915/16 Entwicklung der Math. im 19. Jh., Ausgearb. v. Käthe Heinemann & T. 3: Funktionentheorie, 1850Helene Stähelin ca. 1900 (13 Teilnehmende) 1916 Vorläufiger Einstein (13 Teilnehmende) 1916/17 Spezielle Relativitätstheorie auf invarianter Basis. Ausgearb. v. W. Baade Frühjahr 1917: (2 Hefte) 1917 Allgemeine Relativitätstheorie (Grundlagen)

31 Vgl. KLEIN/ROSEMANN 1928 (Vorwort); zu Rosemann vgl. TOBIES 2006, 277. 32 Tab. 10 basiert auf einem handschriftlichen Dokument des Assistenten Vermeil und enthält die tatsächlichen Vorträge bzw. Arbeiten, [UBG] Cod. Ms. F. Klein 22 C: Bl. 63. – Kleins Vorträge (1915-1920/21) waren auch als „Mathematisch-physikalisches Seminar“ (Mittwoch 11-1 Uhr, später ohne Uhrzeit) in den Vorlesungsverzeichnissen angekündigt. Die Namen der Teilnehmenden für 1914-16 sind enthalten in [UBG] Cod. Ms. F. Klein 7 E. 33 W. Graefe war der einzige Assistent, bei dem sich Klein irrte. Es ergab sich ein Verdacht auf Fälschungen. Zudem ließ Graefe Vorlesungen Kleins abschreiben und verkaufte sie ohne dessen Wissen. [UAG] Kur. 7554: Bl. 180. – Nach Kriegsdienst wurde Graefe Studienrat [BBF]. 34 Walter Baade, angeborene Hüftgelenkverrenkung, später Astrophysiker, musste 1917-18 neben der Ass.-Tätigkeit täglich 8 Std. Hilfsdienst bei der Aerodyn. Versuchsanstalt leisten.

9.2 Geschichte der Mathematik und „Notschrei der modernen Physik“ Assistent Baade Baade

Semester Inhalt 1917/18 Ausarbeitung derselben (1 Heft) bis Neujahr 1918 3 Publ. zu Einstein und Hilbert

Baade

Bemerkungen KLEIN 1921 GMA I, 553-612.

1918/19 Vorträge in der math. und phys. Gesell.; und in meinem Zimmer. Ostrowski35 Vorträge für Wiederabdruck Priv.Ass. meiner Abhandlungen, 1.2.1919Frühjahr 1919: Liniengeometrie 31.10.1920 und Plückersche Modelle

Goldenes Doktorjubiläum.

Baade; Ostrowski

1919

Vermeil36; Ostrowski

Ostrowski, Emmy Noether, Jakob Nielsen, Drenckhahn, W. Windau […]

1919/20 Vor Weihnachten: Gestalten algebraischer Gebilde Frühjahr 1920: Grippe 1920 Klein: Mitarbeit am ENCYKLOPÄDIE-Referat Krazer (vgl. 5.4.1) 1920/21 Spätherbst 1920 – Weihnachten: Variationsprinzipe der Mechanik und Relativitätstheorie Klein: Mitarbeit an ENCYKLOPÄDIEReferat W. Pauli Frühjahr 1921: Anschauliches zur Algebra, Gruppen linearer Substitutionen und algebraischer Gleichungen 1921 Ab März 1921: Vermeil übernimmt die Herausgabe von Band II der Gesammelten Abhandlungen Hochsommer 1921: Beratungen über Algebra 1921/22 Oszillationstheoreme und lineare Differentialgleichungen Februar 1922: Grippe

Vermeil Vermeil

Vermeil

Priv.Ass: Vermeil; BesselHagen Vermeil; BesselHagen

Nichteuklidische Geometrie, Erlanger Programm

457

Ostrowski, W. Schmeidler, Gerda Laski, […]

Ostrowski, Vermeil, H. Kneser, Antonie Stern37, […] Vermeil, E. Noether, Bernays, Bessel-Hagen, H. Kneser, W. Windau […]

Vermeil, Bessel-Hagen, E. Noether, Krull, H. Kneser, W. Windau Vermeil, Bessel-Hagen, Ostrowski Vermeil, Bessel-Hagen, E. Noether, E. Artin, Bokowski, H. Kneser, W. Pauli, R. Minkowski, W. Windau

1922-23 Ab Mitte März 1922: Edition von Band III

35 A. M. Ostrowski aus Kiew edierte (mit R. Fricke) KLEIN 1921 GMA I (erschienen Febr. 1921). Er promovierte mit selbst gewähltem Thema „Über Dirichletsche Reihen und algebraische Differentialgleichungen“ (Rig. 24.3.1920); Referenten: F. Klein; E. Landau (vgl. TOBIES 2006, 250). – Ostrowski wurde bei der Edition durch Kleins Erlanger Programm angeregt, neue allgemeine Fragestellungen in der algebraischen Invariantentheorie anzugreifen. Vgl. Jahresbericht DMV 33 (1925) 174-84, bes. 175; KLEIN 1921 GMA I, 465-66. 36 H. Vermeil hatte 1913 bei O. Hölder in Leipzig promoviert, wurde im Krieg schwerbeschädigt; er leistete die maßgebliche Arbeit bei den Bänden II und III von Kleins GMA. Erich Bessel-Hagen hatte 1920 in Berlin promoviert, vgl. TOBIES 2006, 55. 37 Antonie Stern promovierte 1925 bei Richard Courant, emigrierte 1938/39 nach Palästina.

458

9 Erster Weltkrieg und Nachkriegszeit

9.2.1 Bemerkungen zu den historischen Vorträgen Die „Seminarvorträge zur Geschichte der Mathematik des 19. Jahrhunderts“, wie die von seiner verwitweten Tochter Elisabeth Staiger (WS 1914/15; SS 1915) sowie von Käthe Heinemann und der Schweizer Mathematikerin Helene Stähelin38 (WS 1915/16) ausgearbeiteten Schreibmaschinen-Texte überschrieben waren (vgl. Tab. 10), bildeten die Basis für KLEIN 1926 (Vorlesungen Teil I). Bei der Edition wurde die Arbeit der Frauen allerdings an keiner Stelle erwähnt.39 Das aus dem Nachlass publizierte Werk wurde euphorisch aufgenommen,40 obgleich Klein es nicht als abgeschlossen betrachtete. Ursprünglich geplante Kapitel fehlen. Im Nachlass befinden sich weitere Konzepte, bis hin zum Mathematiker-Kongress 1900 in Paris, zu den Hilbertschen Problemen (vgl. dazu 10.1) und zur Mengenlehre.41 Bezüglich der Mengenlehre sei hier noch einmal hervorgehoben, dass Georg Cantors erste Arbeiten in den Mathematischen Annalen erschienen (vgl. 2.4.2), dass Klein sowohl Schönflies’ erste deutschsprachige zusammenfassende Darstellungen zur Mengenlehre (vgl. 6.3.7.2) als auch die erste englischsprachige Darstellung vom Ehepaar Grace Chisholm Young und William H. Young The theory of sets of points (1906) angeregt hatte. Klein akzeptierte Mengenlehre als wichtiges Grundlagenfach für die Mathematik. Er hielt es jedoch nicht für sinnvoll, den mathematischen Schulunterricht darauf zu gründen. In seine Elementarmathematik I (1924) nahm er einen längeren Abschnitt zur Mengenlehre auf; in Elementarmathematik III (11902, 31928) zeigte Klein bewusst, „dass man, auf begriffliche Definition unserer Punktmenge sich stützend, über sie tatsächlich etwas aussagen kann.“42 Sein „Hilfsarbeiter“ Friedrich Seyfarth ergänzte in der dritten Auflage von III noch Fußnoten zu den damals neuesten Ergebnissen der mengentheoretischen Topologie und Dimensionstheorie.43 Den Text KLEIN 1926 (Vorlesungen I) bereiteten Richard Courant und Otto Neugebauer für den Druck in der gelben Springer-Reihe vor. Sie konnten sich auf die Mithilfe von Constantin Caratheódory, Dirk Struik, Conrad Heinrich Müller und Erich Bessel-Hagen stützen. 38 Käthe Heinemann (Lehramtsexamen: Ma, Ph, Ch/Mi, Bo/Zoo) promovierte am 2.8.1922 in Botanik und wurde Oberstudienrätin [BBF]. Helene Stähelin promovierte 1924 in Basel (bei Hans Mohrmann und Otto Spiess); sie hatte den Schreibmaschinen-Text von 1915/16 am 17.10.1918 in Basel abgeschlossen, versehen mit Figuren durch Erwin Voellmy, der dort gerade bei Erich Hecke promoviert worden war. 39 KLEIN 1923 GMA III, Anhang 11, gibt für 1914/15 bis 1917 an: „Diese Vorträge wurden ausgearbeitet (z.T. von Klein selbst) und in mehreren Maschinenexemplaren vervielfältigt.“ 40 Iris Runge schrieb am 25.2.1938 an ihre Mutter, als sie an der Biographie ihres Vaters Carl Runge arbeitete: „[…] das ist ein grossartiges Buch: Klein ist doch wirklich eine hervorragende Persönlichkeit gewesen. Seine Biographie wäre eigentlich noch notwendiger!“ Zitiert in TOBIES 2010, 290. 41 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 22 A: Bl. 74-83 (Notizen im Wintersemester 1915/16). 42 KLEIN 31924, 13-14, 238, 271-90; KLEIN 31928, 104-57, Zitat 112. 43 P. S. Aleksandrov und P. S. Urysohn, maßgebliche russische Vertreter des Gebietes, kamen 1923 mit Empfehlungsschreiben an Felix Klein erstmals nach Göttingen, vgl. TOBIES 1990c.

9.2 Geschichte der Mathematik und „Notschrei der modernen Physik“

459

9.2.2 Felix Klein und die Relativitätstheorie Aus den von 1916 bis 1918 gehaltenen Vorlesungen entstand KLEIN 1927 (Vorlesungen II). Die Herausgeber Richard Courant und Stephan Cohn-Vossen, der die Hauptarbeit leistete, versahen den Band mit dem Untertitel „Die Grundbegriffe der Invariantentheorie und ihr Eindringen in die mathematische Physik“. Zugleich unterstützten wiederum Dirk Struik, Otto Neugebauer u.a. Für 1918 lesen wir in Tabelle 10: 3 Publikationen zu Einstein und Hilbert. Einstein war im Juni/Juli 1915 einer Vortragseinladung nach Göttingen gefolgt.44 Daraufhin publizierten Hilbert und Einstein im November 1915 nahezu gleichzeitig Feldgleichungen für die Gravitation. Es existiert dazu und zu einem vermuteten Prioritätsstreit eine Flut von Literatur.45 Klein schaltete sich erst in das Thema ein, nachdem er selbst tiefer eingedrungen war. In seinem Nachlass befinden sich handschriftliche Aufzeichnungen mit folgenden Titeln „Notizen aus Hilberts Vorlesung über die Grundlagen der Physik“ (v. 26.8.1916), „Die neuen Arbeiten von Einstein 1911 bis 1915“ (24.9.1916), „Weiterbildung der Theorie bei Hilbert 1915“, „Notizen zu Mie: Grundlagen einer Theorie der Materie“. Über Einstein notierte Klein: Leistung von Einstein. – Nicht das Heranbringen bel.[iebiger] krummliniger Koordinaten – sondern neuer physikalischer Gedanke. Allgemeiner Zug zur Vereinheitlichung in der Theor.[etischen] Physik. Innere Verbindung von Gravitation und Trägheit. Die Gμν fern, in grossem räumlichen Abstande, von der Materie wie früher. Nicht mehr Rn=0 sondern allgemeiner. Welt = Gravitationsfeld, wobei nach Feld ausserhalb der Materie – innerhalb der Materie unterschieden werden muß. Materie wird als welterfüllend gedacht: Phänomenologischer Standpunkt.46

Klein sandte seine Vorlesungsausarbeitungen an Einstein und Sommerfeld. Mit Carl Runge beriet er, wie die vielfältige „Literatur zu Einstein“ im mathematischen Institut durchzusprechen ist. Infolge dessen trugen im Januar, Mai, Juni, Juli 1918 Emmy Noether, Klein, Hilbert und Runge in der Göttinger Mathematischen Gesellschaft vor. Aus den Referaten erschließt sich Kleins Eingreifen.47 Im Klein-Nachlass in Göttingen sind zudem 38 Karten bzw. Briefe aufbewahrt, die Klein und Einstein vom 26. März 1917 bis 28. April 1920 tauschten, 21 von Einstein, 17 (Entwürfe) von Klein. Die Mehrzahl stammt aus dem Jahre 1918, als Klein die oben erwähnten drei Arbeiten publizierte. Im Zentrum der Korrespondenz standen zwei Themen: 1) Die Interpretation der Energieerhaltung (integrale Erhaltungssätze); 2) Die Frage der Struktur des Raumes konstanter Krümmung in der Kosmologie. Darüber wurde bereits publiziert.48 Deshalb konzentrieren sich die folgenden Ausführungen auf einige konkrete Klein betreffende Aspekte. 44 Einstein hielt am Dienstag, 29.6.1915, einen Vortrag „Über Gravitation“ in der Göttinger Mathematischen Gesellschaft, Jahresbericht DMV 24 (1915) 68; und weitere sechs Vorträge, finanziert aus den Zinsen der Wolfskehl-Stiftung, vgl. EINSTEIN 1997, Vol. 6, 586-91. 45 Eine prägnante Analyse lieferte bereits SAUER 1999. 46 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 22B. 47 Ausführliche Referate zu den Vorträgen in Jahresbericht DMV 27 (1918) 28, 42-47. 48 Briefe in EINSTEIN 1998; TOBIES 1994b; 2005; RÖHLE 2002; ROWE 1999; 2018a, Part IV.

460

9 Erster Weltkrieg und Nachkriegszeit

Erstens. Klein bestritt den in neuerer Literatur vielfach diskutierten Prioritätsstreit zwischen Hilbert und Einstein beim Aufstellen der Gravitationsgleichungen. Als er seine Arbeit „Zu Hilberts erster Note über die Grundlagen der Physik“ (vom 25.1.1918) für die Publikation in Band I seiner Gesammelten Abhandlungen vorbereitete, fügte er an: Einstein „Zur allgemeinen Relativitätstheorie“ in den Sitzungsberichten der Berliner Akademie vom 11. und 25. Nov. 1915 […], Hilbert in seiner (vorstehend kommentierten) ersten Note […] vom 20. Nov. 1915. Von einer Prioritätsfrage kann dabei keine Rede sein, weil beide Autoren ganz verschiedene Gedankengänge verfolgen (und zwar so, daß die Verträglichkeit der Resultate zunächst nicht einmal sicher schien). Einstein geht induktiv vor und denkt gleich an beliebige materielle Systeme. Hilbert deduziert […] aus voraufgestellten obersten Variationsprinzipien. […] Erst in seiner […] Mitteilung an die Berliner Akademie vom 29. Okt. 1916 stellte Einstein die Verbindung der beiderlei Ansätze her.49

Zweitens. Klein war durch Emmy Noether unterstützt worden: „Sie wissen, dass mich Frl. Nöther bei meinen Arbeiten fortgesetzt berät und dass ich nur durch sie in die vorliegende Materie eingedrungen bin.“ Dies hatte Klein in der oben genannten, an Hilbert gerichteten Arbeit geschrieben.50 Ebenso hatte Klein in seiner Arbeit „Über die Differentialgesetze für Erhaltung von Impuls und Energie in der Einsteinschen Gravitationstheorie“ (19. Juli 1918) Frl. Nöther „für fördernde Teilnahme bedankt“ und auf deren Arbeit „Invariante Variationsprobleme“ hingewiesen, die er selbst am 26. Juli 1918 bei der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften präsentierte.51 Diese Arbeit hatte Emmy Noether bis September 1918 noch etwas überarbeitet und „F. Klein zum fünfzigjährigen Doktorjubiläum“ gewidmet. Sie äußerte darin, dass ihre und Kleins Arbeit „gegenseitig durch einander beeinflusst“ seien. In dieser Arbeit begründete sie auch die beiden nach ihr benannten Noether-Theoreme, die noch heute die moderne Physik prägen, weil sie drei große Prinzipien – Symmetrien, Erhaltungssätze und Extremalprinzipien – miteinander verbinden.52 Als Klein seine Arbeit vom 19. Juli 1918 für Band I (1921) seiner Abhandlungen vorbereitete, half Emmy Noether bei der Edition. In einer ergänzenden Anmerkung stellte Klein nun klar, dass sein in § 2 aufgestellter „Hauptsatz“ nur „ein besonderer Fall des […] von Frl. Nöther […] bewiesenen weitreichenden Theorems“ ist, und dass Emmy Noether in ihrer Arbeit außerdem einen Satz von Hilbert verallgemeinert und bewiesen habe. Klein zitierte hier wörtlich die beiden Noether-Theoreme.53 Diese Sätze waren weder in das ENCYKLOPÄDIE-Referat von Wolfgang Pauli, noch in das von Friedrich Kottler eingeflossen,54 sodass vermutet werden kann, dass Klein die volle (physikalische) Tragweite dieser mathematisch 49 KLEIN 1921 GMA I, 566. 50 Ebd., 553-67, Zitat 559. 51 Klein F. (1918) in Göttinger Nachrichten. Math-physikal. Klasse 171-189, Zitat 189; Noether, E. ebd., 235-57. Diese Arbeit wurde E. Noethers Habilitationsschrift. 52 Vgl. TOBIES 2004; sehr schön erklärt und eingeordnet in TOLLMIEN 2018. 53 KLEIN 1921 GMA I, 568-85, Zitat der Theoreme 585. 54 Pauli, W. (1920): Relativitätstheorie. ENCYKLOPÄDIE V.2., 539-775; Kottler, F. (1922): Gravitation und Relativitätstheorie. VI. 2.2, 159-237.

9.2 Geschichte der Mathematik und „Notschrei der modernen Physik“

461

abstrakt formulierten Noether-Theoreme erst jetzt bei der Edition seiner Arbeit erfasste.55 Von diesen Theoremen nun derart begeistert, schrieb Klein noch am 13. April 1925 an Max Planck: Ganz klar ist das Sachverhältnis bei Fräulein Noether in den Göttinger Nachrichten von 1918 auseinandergesetzt [...] da steht unter Angabe klarer mathematischer Gründe, warum in der speziellen Relativitätstheorie eigentliche Energiesätze gelten, in der allgemeinen Relativitätstheorie aber nicht.56

Einstein hatte dazu bereits am 27. Dezember 1918 in einem Brief an Klein erklärt: „Beim Empfang der neuen Arbeit von Frl. Noether empfand ich es wieder als grosse Ungerechtigkeit, dass man ihr die venia legendi vorenthält. Ich wäre sehr dafür, dass wir beim Ministerium einen energischen Schritt unternähmen.“57 So wandte sich Klein am 5. Januar 1919 an Ministerialdirektor Otto Naumann, der schon zu Althoffs Zeit Oberregierungsrat im Kultusministerium gewesen war: Ew. Exzellenz erinnern sich ja sicher des s.Z. bei der hiesigen Fakultät eingereichten Gesuches der Frl. Noether, sich für Mathematik habilitieren zu dürfen. Von den Vertretern der Math.[ematik] lebhaft befürwortet, wurde dieses Gesuch s.Z. aus allgemeinen Gründen abgewiesen, aber ein Modus vivendi gestattet, durch den Frl. Noether immerhin eine gewisse Wirksamkeit ermöglicht ist. Ich verstand damals die so umschriebene Entscheidung des Ministeriums natürlich sehr wohl, aber möchte fragen, ob diese auch fernerhin auf alle Fälle aufrecht erhalten werden soll. Wenn nicht, so möchte ich die hiesige Fakultät veranlassen, sich erneut mit der Angelegenheit zu beschäftigen. Bei den heutigen Zeitumständen kann es in der Tat nicht fehlen, dass die jetzige Stellung von Frl. Noether von vielen Seiten als eine unbillige Einengung empfunden wird, zumal die wiss.[enschaftliche] Leistung von Frl. Noether alle von uns gehegte Voraussicht weit übersteigt. Sie hat im letzten Jahre eine Reihe theoretischer Untersuchungen abgeschlossen, die oberhalb aller im Zeitraum von Anderen hierorts realisierten Leistungen liegen (die Arbeiten der Ordinarien mit eingeschlossen), sie hat auch auf die Zusammenarbeiten der gleichstrebenden Mathematiker durch Besprechungen und Vorträge in der math.[ematischen] Ges.[ellschaft] den günstigsten Einfluß geübt. Die Voraussetzungen für eine Ausnahmebehandlung des Falles sind also in vollstem Maasse gegeben. Aber vielleicht ist es nach der inzwischen eingetretenen Zulassung von Frauen zu den verschiedensten Staatsämtern überhaupt jetzt nicht mehr nötig, auf Ausnahmeleistung zu argumentieren. Eine ganz kurze Antwort ist Alles, was ich hier erbitte. Ew. Exzellenz ganz erbenster Kln58

Klein war mit seinem Vorstoß erfolgreich. Emmy Noether konnte sich im Mai 1919 (endlich im dritten Anlauf) habilitieren und erreichte 1922 eine nichtbeamtete außerordentliche Professur. Das konservative Establishment ermöglichte damals keiner Frau in Preußen eine ordentliche Professur (vgl. auch Abschnitt 7.6).

55 56 57 58

Zur Rezeption der Noether-Theoreme vgl. auch KOSMANN-SCHWARZBACH 2011. [Deutsches Museum] 1964 – 6/1948. – Zitiert in TOBIES 1994, 350. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 22 B (Einstein an Klein, 27.12.1918). Gedruckt in EINSTEIN 1998. Ebd. 2 G: Bl. 55, 55v (Briefentwurf Kleins, 5.1.1919); zitiert in TOBIES 1991/92, 172.

462

9 Erster Weltkrieg und Nachkriegszeit

Drittens. Klein konnte aufgrund seiner Kenntnisse der projektiven und nichteuklidischen Geometrie, der Invarianten- und Gruppentheorie die Einsteinsche Theorie in sein Erlanger Programm einbetten und trug substantiell bei. Hier unterschied er sich von Mathematikern, die die verwendete Mathematik durch inadäquate Methoden zu ersetzen suchten (Eduard Study)59, von theoretischen Physikern, die die Relativitätstheorie völlig ablehnten (Max Abraham), von Experimentalphysikern mit Nobelpreis (Philipp Lenard; Johannes Stark), die sie nicht verstanden und sich drastisch antisemitisch gebärdeten. – Um die Beziehungen zwischen seinen Arbeiten zur Relativitätstheorie und seinem Erlanger Programm „klar hervortreten zu lassen“, fügte Klein bei der Edition in GMA I elf Punkte an, die hier nicht detailliert besprochen werden können; er endete mit dem Hinweis: Es braucht wohl kaum gesagt zu werden, daß ebenso auch die Weiterbildung der Einsteinschen Theorie, wie sie Weyl gegeben hat, mit dem Schema des Erlanger Programms in Zusammenhang gebracht werden kann.60

Bei den Diskussionen um das kosmologische Weltmodell konnte Klein das vom niederländischen Astronomen Willem de Sitter beschriebene Modell eines sich ausdehnenden Universums (de-Sitter-Raum) mathematisch bekräftigen.61 Klein musste davon Weyl und Einstein – der sich in eine Kontroverse mit de Sitter begeben hatte – erst überzeugen.62 Das Modell von de Sitter erlebte auch noch viel später eine Renaissance in der sog. inflationären Kosmologie.63 Klein sah bei dem 30 Jahre jüngeren Einstein eine Arbeitsweise, die seiner ähnlich war – immer alles Neue aufzunehmen und produktiv zu verarbeiten: Hoffentlich gelingt es mir […], eine geschlossene Darstellung gerade auch Ihrer Theorien (von meinem mathematisch-formalen Standpunkte aus) zu geben. Dabei fühle ich mich von vornherein, was die Tragweite der einzelnen Ansätze angeht, mit Ihnen in Übereinstimmung: Im Gegensatz zu der Mehrzahl Ihrer Anhänger, welche die jeweils letzte Form Ihrer Theorien als endgültig und verpflichtend ansehen, haben Sie sich die Freiheit gewahrt, nach immer feineren Formulierungen der allgemeinen Grundlagen und zugleich, je nach den in Betracht kommenden Einzelproblemen, nach besonderen Ansätzen zu suchen, welche die jeweiligen Umstände genügend approximieren. Indem ich Ihnen hierin nach meiner ganzen Denkweise herzlich beipflichte, begrüsse ich insbesondere auch Ihre neuen Spekulationen […]64

Umgekehrt schätzte Einstein Kleins Arbeiten. Im Beitrag „Über die Integralform der Erhaltungssätze und die Theorie der räumlich-geschlossenen Welt“65 hatte Klein noch einmal die kosmologischen Modelle begründet und Behauptungen von Einstein und Weyl bezüglich des Modells von de Sitter widerlegt. Einstein antwortete darauf mit: 59 Vgl. HARTWICH 2005, 133-35. 60 KLEIN 1921 GMA I, 565-67, Zitat 567. 61 Klein, F. (1918), Göttinger Nachrichten 394-423; KLEIN 1921 GMA I, 586-612; Vortrag (7.5.1918, Gött. Math. Gesell.): „Über Einsteins kosmologische Ideen 1917“ in Jahresbericht DMV 27 (1918) 42-44; Klein in Proceedings of the Amsterdamer Academy 21 (1918). 62 Vgl. die Dissertation RÖHL 2002, 78-88; ROWE 2018a, Part IV, 24, speziell 286-99. 63 Für diesen Hinweis dankt die Autorin Rainer Schimming, Potsdam. 64 Klein an Einstein, 22.4.1919, zitiert in TOBIES 1994, 351; EINSTEIN 1998, Vol. 8. 65 In Göttinger Nachrichten (6.12.1918) 394-423; KLEIN 1921 GMA I, 586-612.

9.2 Geschichte der Mathematik und „Notschrei der modernen Physik“

463

Ich freue mich mit Ihrer neuen Arbeit wie ein Kind, das von seiner Mutter ein Stück Schokolade bekommt. Bei Ihnen wird gerade auf die Beine gestellt, was bei mir krumm und lahm durcheinander purzelt. Nun sende ich Ihnen die Korrektur einer neuen Arbeit, die wieder mehr auf physikalischer als mathematischer Stütze ruht.[…] Eine kurze Meinungsäußerung wäre mir sehr interessant.66

Viertens. Die Mathematiker, Klein an der Spitze, erwiesen sich als Verbündete Einsteins, als sich dieser starken Anfeindungen von physikalischen und philosophischen Seiten her zu erwehren hatte.67 Klein gewann Einstein 1918 als DMVMitglied und engagierte ihn für die Math. Ann. ab Band 81 (1920) als vierten Herausgeber (neben Klein, Hilbert, Blumenthal) (vgl. 2.4.3). Klein erklärte: Die heutige physikalische Produktion, wie sie sich zum Beispiel in der Physikalischen Zeitschrift darstellt, leidet an einer Unrast, welche mit der für math. Arbeiten notwendigen Vertiefung schwer verträglich ist. Ich würde Ihnen besonders dankbar sein, wenn Sie sich demgegenüber für das Zustandekommen für die Annalen geeigneter Arbeiten einsetzen.68

Es sei erwähnt, dass ab Band 81 (1920) weitere theoretische Physiker in den Kreis der „Mitwirkenden“ bei den Annalen traten. Dazu gehörte Max Born, der wusste, dass Klein neuen Theorien gegenüber aufgeschlossen war. Born schrieb ihm, […] daß die überlieferte mathematische Physik mit ihrem Kontinuum als Grundvorstellung für Raum, Zeit und Körperwelt gründlich auf dem Holzwege ist. Die Methode der partiellen Differentialgleichungen entspricht nicht dem Wesen der zu beschreibenden Prozesse, je mehr Physik und Chemie sich nähern und verschmelzen, je tiefer das Atom als Baustein aller Körper verstanden wird, um so deutlicher tritt hervor, daß wir adäquate mathematische Prozesse und Methoden nicht besitzen, oder wenigstens, wenn sie irgendwo im großen Reiche der Mathematik ein verstecktes Dasein fristen sollten, dass wir sie nicht in ihrer Tragweite erkennen.“69

Born sollte in Göttingen den mathematischen Hintergrund finden, um auch in der Quantenphysik voranzukommen. – Hinsichtlich der Relativitätstheorie schrieb Robert Fricke, damals DMV-Vorsitzender, an Felix Klein über die viel diskutierte Sitzung auf der Naturforscherversammlung 1920 in Bad Nauheim: Die sensationelle Relativitätssitzung nahm einen überaus glänzenden Verlauf, der mich in die grösste Begeisterung versetzt hat. Die Entwicklung wurde zu einem Triumph Einsteins, der wirklich ein überlegener Geist ist. Ich bin stolz darauf, zu dieser Sitzung den Anstoss gegeben zu haben, und freue mich nach der Sitzung, Einstein persönlich meine Empfindungen habe aussprechen können [...] Bei der Diskussion war die Überlegenheit Einsteins über Lenard selbst dem Laien fühlbar.“70

66 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 22 B, Einstein an Klein, 14.4.1919; EINSTEIN 1998, Vol. 8. 67 Vgl. hierzu HENTSCHEL 1990. 68 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 22 B, Klein an Einstein, 28.4.1920 (in EINSTEIN 1998). – Einstein blieb bis Band 100 (1928). Hilbert, weniger diplomatisch als Klein, war ab 101 (1929) alleiniger Herausgeber, nebst Otto Blumenthal und Erich Hecke als Mitwirkende. – Blumenthal fungierte von 1925-33 zugleich als einer der Herausgeber des Jahresberichts der DMV. 69 [UBG] ebd. 5 C: Bl. 69v (Born an Klein, 15.7.1920). Born blieb bis Bd. 92 (1924) im Board. 70 Fricke an Klein, 28.9.1920 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9. – Vgl. den prägnanten Überblick über die diskutierten Fragen und Streitpunkte bei Weyl, H. (1922): „Die Relativitätstheorie auf der Naturforscherversammlung in Bad Nauheim“. Jahresbericht DMV 31, 51-63.

464

9 Erster Weltkrieg und Nachkriegszeit

9.2.3 Feierlichkeiten zum Goldenen Doktorjubiläum Das Hauptresultat der Veranstaltungen vom Donnerstag, den 12. Dezember 1918, die Stiftung für die Herausgabe seiner Gesammelten Mathematischen Abhandlungen, wurde bereits erwähnt. Die Feierlichkeiten selbst sind aus zwei Gründen beachtenswert: Erstens weil Klein den Ablauf und seine jeweiligen Antworten exakt vorausplante; zweitens weil ein zeitgenössischer Bericht von Heinrich Behnke bestätigt, dass Klein diplomatisch71 das rechte Maß fand. Klein notierte auf vier Blättern das Programm für die Feiern und ein Konzept für seine Antworten.72 Wir erfahren daraus, dass ab 12.00 Uhr Deputationen vom Rektor, vier Dekanen, von den zwei Klassensekretären der Gesellschaft der Wissenschaften und vom Kurator erwartet wurden. In seiner Antwort wollte Klein erwähnen: die „Bonner Zeit“, den Anfang in Göttingen mit „Clebsch. Verkehr mit Gleichstrebenden. Voß, Noether, Riecke. Das Waitz’sche Seminar“, seine „Erste Mitteilung an die Ges. d. Wiss. 4. Januar 69“, und seine Wahl zum Assessor; die „Erste Bekanntschaft mit Althoff“. Für die anschließende Gratulationen der Göttinger Mathematischen Gesellschaft (Hilbert, vgl. 7.2), der DMV und der Stiftung der Freunde (R. Fricke) notierte er vorbereitend: „Antwort Klein: Freude am Zusammenarbeiten. Aufgabe und Ziel des Wiederabdrucks der math.[ematischen] Abhandlungen (Ostrowski). Persönlicher Dank an Fricke für 35 Jahre Arbeit.“ Nach einer Mittagspause lud Klein um 16.30 Uhr „Die math.[ematischen] Fachgenossen zum Thee“ und gedachte, über seine Elementarschule mit „Kopfrechnen“, „naturwiss.[enschaftliche] Anregung“ bei einem durchgefallenen Referendar zu erzählen. Danach folgte um 18.00 Uhr die Festsitzung der Mathematischen Gesellschaft mit Paul Koebe als Vortragender über Kleins Arbeiten. Von Behnke erfahren wir, dass Koebe eine Lobrede auf sich selbst gehalten habe: Die Veranstalter und viele Gäste mit ihnen waren peinlich berührt. Doch Klein verteilte als das natürlichste in der Welt in seiner Dankrede die Gewichte wieder richtig, und alles war erleichtert.73

Kleins vorbereitende Notizen hatten als Antwort vorgesehen: „Romantiker, nicht Klassiker. Durchführung meines allseitigen Programms in G.[öttingen] von 1893 ab auf dem Wege der Organisation. Es lebe Göttingen!“74 Am Mittwoch, den 18. Dezember, 16.00 Uhr, gab es noch einen „Kaffee auf dem Rohns, veranstaltet von [der] Studentenschaft“. Hier wurde u.a. ein von Iris Runge verfasstes (leider nicht erhaltenes) Gedicht vorgetragen. Klein sprach über „seine“ mathematischen Vereine (Bonn, Göttingen, Berlin), empfahl „wieder freiere Gestaltung, ohne Verbindungszwang“. Er nannte die Anfänge des Frauenstudiums, seine beiden Doktorstudentinnen „Frl. Winston“ und „Frl. Chisholm“ und schloss mit der „Bedeutung der exakten Disziplinen für die Allgemeinheit“. 71 Im Vergleich dazu war Hilbert „zu impulsiv“, sodass Klein bei heiklen Sachen vorgeschickt wurde, vgl. z.B. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 2 G: Bl. 50-51 (24.7.1918, Beratung zu Nelson). 72 Vgl. hier und im Folgenden [UBG] Cod. Ms. F. Klein 1. 22. 73 BEHNKE 1978, 35. – Zu Behnke vgl. HARTMANN 2009. 74 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 1. 22.

9.3 Intellektuelle Bildung sichern

465

9.3 INTELLEKTUELLE BILDUNG SICHERN Felix Klein verwendete wiederholt das Wort „allseitig“. Wir können das auf seine Studien von Werken klassischer bürgerlicher Pädagogen wie Pestalozzi, Fröbel, Diesterweg u.a. zurückführen, die forderten: „Allen alles lehren!“ Hier ordnet sich Kleins fortgesetztes Bemühen ein, nicht nur mathematisch-naturwissenschaftliche Bildung zu fördern, sondern ebenso Fremdsprachenkenntnisse. Dass er hierzu mitten im Krieg noch einmal eine besondere Initiative ergriff, bedarf einer näheren Erklärung (9.3.1). Als in Verlautbarungen zu Schulfragen ethische Komponenten intellektuelle Bildung zu verdrängen drohten, legte er wiederholt sein Gewicht in die Waagschale. (9.3.2) 9.3.1 Plädoyer für Fremdsprachenkenntnisse Der erwähnte Carl Heinrich Becker verfasste kurz nach seinem Eintritt als Referent ins Kultusministerium 1916 eine Denkschrift über den künftigen Ausbau der Auslandsstudien an den preußischen Universitäten. Becker, Orientalist, setzte sich damit mitten im Ersten Weltkrieg für eine bessere Kenntnis der Kultur anderer Länder ein, mit der Begründung, künftige Konflikte vermeiden zu können. Diese Denkschrift wurde in beiden Kammern des preußischen Landtags diskutiert. Veranlasst durch den Philologen Alfred Hillebrandt (vgl. Tab. 9) widmete sich Klein dem Thema. Er erarbeitete eine zwölf Seiten umfassende Schrift „Bemerkungen über die Aufgaben der Universitäten nach dem Kriege, insbesondere in der Richtung auf ein verbessertes Studium der Verhältnisse des Auslandes“, die er der akademischen Vereinigung des Herrenhauses überreichte. Zuvor hatte er den Text mit Mathematikern beraten (Gutzmer, Carathéodory, Landau und Runge). Darin wurden auch nationalistische Töne bemüht: In der grossen Probe [des Krieges] hat sich die Gesinnung, so auch das Können der an den Hochschulen herangebildeten Kreise glänzend bewährt. Es bleibt übrig, wo etwa doch Mängel hervorgetreten sind, sie zu beheben und in dem zu erwartenden verschärften Wettbewerb der Völker nach dem Friedensschluss der deutschen Bildung und damit dem deutschen Volke die Ueberlegenheit zu wahren.

Diese Töne entsprangen der Angst, das Ministerium könnte die Mittel für Wissenschaft und Bildung kürzen. Klein argumentierte auch mit historischem Beispiel: […] hat Preussen inmitten seiner tiefsten Erniedrigung 1809/10 den Mut und die Grösse gefunden, die Universität in Berlin zu gründen, so wird es nach dem hoffentlich siegreichen Abschluss der furchtbaren Kämpfe um die deutsche Grossmachtstellung Einsicht und Kraft genug besitzen, um das Erbe der Vergangenheit würdig weiter zu verwalten.75

So formulierte Klein einerseits konkrete Vorschläge für moderne Sprachstudien, die er in einer Herrenhaus-Rede am 8. Juli 1916 wie folgt auf den Punkt brachte: 75 [UBG] Cod. Ms. F. Klein AI,5: Bl. 1-58. Text (abgezeichnet durch Carathéodory und Landau) auch in [StB Berlin] Nachlass Runge – Dubois-Reymond, 604. – Zitate 2; 3.

466

9 Erster Weltkrieg und Nachkriegszeit - Neben Französisch und Englisch sollten weitere Fremdsprachen gelehrt werden, insbesondere Russisch, Polnisch und Italienisch; aber auch ungarische, skandinavische, niederländische, orientalische Philologie sei an den Universitäten zu etablieren. - Die Ausbildung in modernen Sprachen sollte nicht nur fakultativ, sondern obligatorisch sein. - Für Sprachstudien sollten Reisestipendien zur Verfügung gestellt werden. - Die Universitäten sind für entsprechende Studien auszubauen.76

Klein vergaß andererseits auch in diesem Kontext nicht seine besonderen Interessenfelder, die „in Göttingen und Jena durch die Regierungen mit Hülfe privater Gönner der Wissenschaft errichteten Anstalten für angewandte Mathematik und Physik“, und betonte: „Auf dieser Bahn sollte mit Entschiedenheit vorgeschritten werden.“77 Insgesamt begründete er dezidiert die Aufgabe der Universität für allseitige Bildung und erklärte neue Institute und Professuren, Geld für den wissenschaftlichen Nachwuchs, für die Bibliotheken, für Reisen, für unabdingbar. Klein und Hillebrandt meinten, jetzt im Kriege mehr Gehör für etwas zu finden, was sie bereits zuvor gewünscht hatten. Kleins Auftreten für Sprachstudien erklärt sich aus seinem ständigen Bemühen um internationale Beziehungen. Der Slawist Erich Berneker hatte am 12. April 1913 dem Sprachwissenschaftler Herman Lommel mitgeteilt, dass Felix Klein schon 1901 die treibende Kraft gewesen sei, um in Göttingen ein Extraordinariat für slawische Philologie einrichten zu lassen,78 und dass er nun gewiss für eine „Deutsche Gesellschaft zum Studium Rußlands“ gewonnen werden könne. Diese Gesellschaft wurde am 16. Oktober 1913 gegründet und zielte darauf, „unter Wahrung eines durchaus unpolitischen Charakters die Kenntnis Russlands in Deutschland zu fördern.“79 Herman Lommel, Sohn des Physikers Eugen Lommel, hatte seinem Onkel Felix Klein am 30. Mai 1913 darüber geschrieben. Daraufhin entwarf Klein sofort einen Plan für Studien in Russland. Seine Vorschläge lauteten: „50 disponible Lehramtskandidaten für ein Semester nach Russland zu senden“, um diese dann je zehn im auswärtigen Dienst, an der Handelskammer, an Gymnasien, Bibliotheken und Hochschulen einzusetzen. In einem Brief vom 10. Januar 1914 an Otto Hoetzsch, Schriftführer der neuen Gesellschaft und seit 1913 a.o. Professor für Osteuropäische Geschichte, erklärte Klein seinen Beitritt zur Gesellschaft und brachte zugleich Zusatzideen für das von Hoetzsch entwickelte Programm ein: 1) Die Bedeutung der wissenschaftlichen Literatur Russlands auf den Gebieten der exakten Wissenschaften zu beachten, 2) Das Studium des Russischen solle an eine „Berechtigung“ geknüpft werde, d.h. in die Prüfungsordnung für Lehramtskandidaten sollte eine Fakultas für Russisch eingeführt werden, so wie es das bereits für Dänisch, Polnisch u.a. gab.80

76 77 78 79 80

Vgl. TOBIES 1989a, 9. Ebd., 8. Vgl. Kleins (Kaiser-Geburtstags-)Rede v. 27.1.1904, Abschnitt 8.3.2. Vgl. hier und im Folgenden [UBG] Cod. Ms. F. Klein 1A: Bl. 1-16. Ebd., Bl. 14. – Otto Hoetzsch wurde 1935 als pro-bolschewistisch diffamiert und zwangspensioniert.

9.3 Intellektuelle Bildung sichern

467

Die Entwicklung nach dem Kriege, als Friedrich Schmidt-Ott nicht nur die Notgemeinschaft, sondern auch den Vorsitz der Deutschen Gesellschaft zum Studium Rußlands übernahm, folgte der außenpolitischen Orientierung.81 Deutschland suchte eine stärkere Bezugsnahme zu Sowjetrussland. Vertreter von Staat, Wirtschaft, Wissenschaft, Luftfahrtexperten, Ingenieure, Pädagogen, auch Mathematiker/innen reisten in den 1920er Jahren aus den unterschiedlichsten Gründen dorthin. Klein erneuerte die Briefkontakte.82 Jüngere russische Mathematiker kamen, wie erwähnt, zu ihm mit Empfehlungsschreiben und mit der Bitte, in die Göttinger Mathematische Gesellschaft aufgenommen zu werden.83 Die Leningrader Physikalisch-Mathematische Gesellschaft listete Klein und Hilbert im Bericht von 1922 bis 1927 als einzige ausländische Korrespondierende Mitglieder auf.84 9.3.2 Gegen das Zurückdrängen von Mathematik und Naturwissenschaften Ich stelle mir das Ziel jedes Schulbetriebes gern als Produkt zweier Faktoren, α • β, vor, wobei sich α auf die ethische Gesinnung, die Willensbildung, meinetwegen auch auf die körperliche Ertüchtigung beziehen soll, β aber auf die intellektuelle Entwicklung, allgemein das Können. Es mag sein, daß unsere höheren Schulen eine Zeitlang den Faktor α zu wenig berücksichtigt haben […]. Demgegenüber scheint neuerdings die Gefahr vorzuliegen, daß man die Bedeutung des Faktors β unterschätzt. Und doch hängt der Wiederaufbau unseres Landes durchaus davon ab, daß eine hinreichende Zahl von Persönlichkeiten vorhanden ist, die über einen bedeutenden β-Betrag verfügen. Solche Persönlichkeiten planmäßig heranzubilden, erscheint mir als die eigentliche Aufgabe unserer höheren Schulen. […] Um hier zu bessern, bin ich seit Jahren für die Reformbewegung im mathematischen Unterricht eingetreten, welche auf eine unmittelbare Beziehung des Unterrichtsstoffes zu den Aufgaben des praktischen Lebens hinarbeitet […]85

Diese Erklärung Kleins brachte Lietzmann in die Zeitschrift für mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht. Dies war durch Verlautbarungen des Verbandes akademisch gebildeter Lehrer Deutschlands veranlasst worden, der bei seiner Tagung im Mai 1921 in Jena dominant ethische Bildung ins Zentrum gerückt hatte, ein Trend, der bereits während des Krieges sichtbar geworden war. Die Sozialdemokratische Partei (SPD) hatte im Frühjahr 1917 eine Entschließung in den Reichstag gebracht, die auf eine Reichsschulkonferenz nach dem Kriege zielte, um pädagogische, schulgesetzliche und schulorganisatorischen Fragen zu beraten.86 Mathematisch-naturwissenschaftliche Bildung spielte darin keine Rolle. Deshalb lud Klein für den 17. November 1917 zu einer Debatte der Göttinger Vereinigung „Über die Lehren des Krieges, betreffend den Unterricht in 81 Vgl. KIRCHHOFF 2007, 103-36. 82 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 11: 202 (Wassiliew an Klein, 18.2.1924). 83 Vgl. TOBIES 1990c; TOBIES 2003. 84 Klein bis 1925. Vgl. Tätigkeitsbericht 1922-27, p. VII: www.mathsoc.spb.ru/rus/reportsr.html Für diesen Hinweis dankt die Autorin Danuta Ciesielska, Krakow. 85 Lietzmann, W.: „F. Klein über die Aufgaben unserer höheren Schulen“. ZmnU 52 (1921) 267-68. 86 Vgl. hierzu DIE REICHSCHULKONFERENZ 1920, Vorwort 11-12.

468

9 Erster Weltkrieg und Nachkriegszeit

Mathematik, Mechanik und Physik“, der zahlreiche Ehrengäste (vom Kultusministerium, DAMNU, von militärischen Abteilungen u.a.) folgten. Sie verabschiedeten eine Entschließung, um die Bedeutung von Mathematik und Naturwissenschaften zu unterstreichen.87 Anlässlich des 20-jährigen Jubiläums der Göttinger Vereinigung (26.2.1918) argumentierte Klein mit dem Nutzen der Gebiete Aerodynamik, drahtlose Telegraphie, Kreiselkompass, graphische und numerische Methoden im Krieg und erläuterte zur Entschließung: Im übrigen möchte ich sagen, daß wir mit unserer Entschließung der allgemeinen Bewegung an den Schulen, die auf eine stärkere Erziehung des Willens und einer dementsprechenden Pflege der ethischen Fächer abzielen, keineswegs entgegentreten wollen. Wir wollen aber nicht, daß sich der Unterricht wieder in das unbestimmte Anempfinden nebelhaft vorgestellter Allgemeinheiten verliert, vielmehr mit klarer, der jeglichen Bildungsstufe angepaßter Kenntnis der Wirklichkeit verbunden wird. Wir wollen auch nicht, daß diese Kenntnis eine bloß praktische sei, sondern nach Möglichkeit mit theoretischer Einsicht verbunden werde.88

Am 15. Dezember 1918 wandte sich Klein an den inzwischen etablierten SPDKultusminister Konrad Haenisch, dankte ihm für telegraphische Glückwünsche zu seinem Goldenen Doktor-Jubiläum und bot an, „[…] wie ich bei den bevorstehenden Unterrichtsreformen bescheidene Beihülfe möchte leisten können.“89 Klein sandte die Publikationen des DAMNU, die jüngsten Hefte der Abhandlungen über den mathematischen Unterricht, verwies auf die genannte Entschließung der Göttinger Vereinigung und betonte diplomatisch sein dauerhaftes Bemühen um die Interessen des Gesamtunterrichtswesens. Kaum hatte das Jahr 1919 begonnen, hielt Klein am 7. Januar einen Vortrag „Mathematischer Unterricht an den verschiedenen Schularten“ in der Göttinger Mathematischen Gesellschaft. Als Ziele gab er an, erstens retrospektiv einen Überblick seiner derartigen Arbeiten zu bieten, und zweitens prospektiv pädagogische Fragen mit Blick auf die Schulreform aufzuwerfen.90 Prospektiv formulierte er Thesen, die seit langem seinen Vorstellungen entsprachen und die zugleich Bezug zu der damals aktuell diskutierten „Einheitsschule“ nahmen: a) Das gesammte Schulwesen sollte ideelle Einheit bilden, so dass seine Einzelstufen richtig in einander greifen. […] b) Alle diese Dinge müssen, wenn sie nicht verkümmern sollen, an der Universität verankert werden. […]. Noch vielseitigere Ausbildung der staatswirtschaftlichen Disziplinen. Cf. Philosophie. Psychologie. Neue Lehrstühle für Allgemeine Pädagogik. Aber auch für Didaktik der einzelnen Unterrichtsfächer. c) Aenderungen im Lehrkörper zu erwägen? […] Nur wenige höchste Mathematik, andere eine mehr breite Grundlage. (Forscher und Lehrer getrennt). […]91 d) Alles anstrengen, um der Mathematik (oder allgemeiner den exakten Fächern) noch mehr Geltung an den Schulen und im öffentlichen Leben Deutschlands zu erringen.

87 88 89 90 91

[UBG] Math.Archiv 5036: bes. Bl. 53-54, 135-37. KLEIN 1918, 224. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 2 E: Bl. 72 (Klein, Briefentwurf an Haenisch, 15.12.1918). Vgl. hier und im Folgenden ebd., 22 F, Bl. 1-3v. Klein fügte hier hinzu: „Ich wollte Alles vereinigen und habe das doch nur so gekonnt, dass ich im Laufe der Jahre wechselte (nachdem ich mich vorher kaputt gemacht hatte).“ (Bl. 3)

9.3 Intellektuelle Bildung sichern

469

Um auf deutschlandweit diskutierte Bildungsfragen zu reagieren, bildete die philosophische Fakultät der Universität Göttingen am 24. März 1919 eine pädagogische Kommission und gab am 19. Mai 1919 bekannt: „Die Herren [Felix] Klein und [Edward] Schröder werden gebeten, Material für die Fragen der Reichsschulkonferenz vorzubereiten und mit den Berliner Stellen in Verbindung zu treten.“92 Klein integrierte Walther Lietzmann in die Kommission und delegierte ihn zur Reichsschulkonferenz, die vom 11. bis 19. Juni 1920 in Berlin unter Leitung des Reichsministers des Inneren stattfand. Die Fächer Mathematik und Naturwissenschaften spielten allerdings dort eine Nebenrolle. Kein einziger Bericht, kein Ausschuss widmete sich ihnen explizit. Im Vergleich zu den preußischen Schulkonferenzen (1890, 1900) beteiligte sich insgesamt eine viel größere Zahl von Personen, Repräsentanten der Landesregierungen, Gemeinde-, Schulverwaltungen, Standesvertretungen der verschiedenen Lehrergruppen aus ganz Deutschland. Lietzmann fungierte als Vertreter für den DAMNU. Poske, den Klein in die Breslauer Unterrichtskommission sowie in den Nationalen Beirat für die IMUK integriert hatte (vgl. 8.3.4), nahm als Vertreter des Fördervereins teil. Es gab auch acht Vertreter des seit 1908 existierenden Deutschen Ausschusses für technisches Schulwesen.93 Alle genannten, bis auf Lietzmann, beteiligten sich vor allem an Diskussionen zu Fragen des Schulaufbaus. Lietzmann bemängelte als einziger dezidiert das Reduzieren von Unterrichtsstunden für Mathematik, wobei er – Kleins Vorbild gemäß – mit dem Beispiel besseren Unterrichts in den exakten Fächern in Frankreich und England argumentierte.94 Letztlich kam die angestrebte Einheitsschule für das gesamte deutsche Reich nicht zustande; und nur in Jena gelangte die Ausbildung von Volksschullehrern an die Universität. Klein fuhr nicht mehr selbst zu Tagungen, wollte aber die neue Unterrichtsreform mit lenken. Er prägte das Motto, Die jüngere Generation soll es richten und bestellte am 27./28. September 1920 Lietzmann und Georg Wolff sowie am 30. September Poske, Hamel, Rothe und Timerding zu Gesprächen.95 Timerding leitete seit 1912 den DAMNU, unterstützt seit 1919 durch Lietzmann. Jetzt, 1920, managte Klein, dass Lietzmann, Rothe und Wolff Mitglieder der IMUK-Kommission der DMV wurden, die er selbst noch leitete.96 Klein fragte: „Wer macht nun die neuen Lehrpläne? Wer arbeitet an Prüfungsordnung mit? […] Wir müssen uns auch auf Lehrpläne für neue Einrichtungen an den Universitäten rüsten.“ Er vergaß den internationalen Blick nicht und schlug vor, „im Enseignement Bericht zu erstatten“, über die Demuk (Deutsche Mathematische Unterrichtskommission). Zugleich ging die „Aufforderung an Hamel, nun einfach Initiative zu ergreifen, ohne Berlin in den Vordergrund zu schieben.“ 92 93 94 95

[UAG] Phil. Fak. III Bd. 5, Bl. 208, 210. Zum DATSCH; „staatsbürgerliche“ Erziehung und VDI vgl. LUDWIG/KÖNIG 1981, 256-59. DIE REICHSCHULKONFERENZ 1920, 706. Vgl. hier und im Folgenden [UBG] Cod. Ms. F. Klein 5 D: 10v. – Klein urteilte nach dem Gespräch: „Rothe noch zu eng.“ 96 Die DMV führte die IMUK (mit Klein als Vorsitzenden) noch 1924/25 als ihre Kommission, vgl. Jahresbericht DMV 34 (1926) 1; ab 35 (1926) 1: „Internationale Mathematische Unterrichtskommission, einges.[etzt] 1908: W. Lietzmann, R. Rothe, G. Wolff (seit 1920).

470

9 Erster Weltkrieg und Nachkriegszeit

Georg Hamel – der in Göttingen promoviert und Klein 1901-02 als Assistent gedient hatte97 – war seit 1919 Professor an der TH Berlin und hatte die Idee eines Reichsverbandes deutscher mathematischer Gesellschaften und Vereine (kurz: Mathematischer Reichsverband) auf der Naturforscherversammlung im September 1920 in Bad Nauheim unterbreitet. Es bedurfte allerdings noch der Initiative von Klein und weiterer Mathematiker, um die Idee zu realisieren. Adolf Krazer, Vorstandsmitglied der DMV, informierte Klein am 11. Oktober 1920: Ich bin seit den letzten Tagen beschäftigt, die Beschlüsse der Bad Nauheimer Versammlung auszuführen. Was den von Hamel angeregten Reichsverband angeht, so glaube ich die Sache zu einem guten Ende führen zu können. Nachdem in Bad Nauheim einstimmig die Ansicht ausgesprochen wurde, dass der Verband weder ein eher mathematischer Verein sein, noch die bestehenden in ihrer selbständigen Arbeit stören solle, so dürfte als Vorbild der im Jahre 1916 gegründete „deutsche Verband technisch-wissenschaftlicher Vereine“ dienen können, der 13 große Vereine […] umfasst und wohl ähnliche Zwecke verfolgt wie sie Hamel vorgeschwebt haben. Ich werde in diesem Sinne einen Entwurf für die Organisation ausarbeiten und bald in Umlauf bringen.98

Dirigiert durch Klein publizierte Lietzmann über den Stand der Reform und forderte das Mitwirken der Hochschullehrer, wie in Frankreich, Italien und den USA. Er schloss mit den Worten: „Es steht zu hoffen, dass die Gründung des Reichsverbandes mathematischer Gesellschaften darin eine Wendung herbeiführt.“99 Das neue Gremium wurde am 6./7. Januar 1921 bei Klein in Göttingen, auf einer außerordentlichen Tagung der DMV beschlossen. Hamel übernahm den Vorsitz. Der Mathematische Reichsverband, der DAMNU und der Förderverein sandten daraufhin dem Kultusministerium in Berlin am 20. Januar 1921 eine schon in Bad Nauheim verabschiedete Resolution, die Kleins Vorstellungen folgte, - dass Mathematik im Schulunterricht ungemindert erhalten bleiben soll; - dass für den Mathematikunterricht die Grundgedanken der Meraner Reform noch immer maßgeblich sein sollten, wobei ein noch stärkerer Akzent auf Anwendungen in Technik und Wirtschaft geboten sei; - dass die Lehraufträge für Didaktik begrüßt werden, aber an allen Universitäten und Technischen Hochschulen einzurichten seien.100

Der Reichsverband konstituierte sich auf der Naturforscherversammlung am 23. September 1922 in Leipzig. Der Arbeitsausschuß bestand, entgegen Kleins Warnung, ausschließlich aus Berliner Mathematikern.101 Ein Beirat sollte die einzelnen Gesellschaften repräsentieren, für Göttingen waren das 1922 Felix Klein, Richard Courant, Walther Lietzmann und Emil Wiechert.102 97 Hamel verknüpfte in seinen Forschungen Hilberts axiomatische Tendenzen (Dissertation „Über die Geometrieen, in denen die Geraden die Kürzesten sind“, vgl. das 4. Hilbertsche Problem, Abschnitt 10.1) und Kleins mechanische Orientierung. 98 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 4 A: 29, Bl. 10 (Krazer an Klein, 11.10.1920). 99 Lietzmann, W. (1921): „Die Mathematik in der Schulreform“. Jahresbericht DMV 30, 59-68. 100 Vgl. TOBIES 1986a, 150; hier zum Reichsverband 148-162. 101 Der Berliner Arbeitsausschuß (unter Leitung von Hamel und Bieberbach) verbannte sofort 1933 seine jüdischen Mitglieder aus ihrem Gremium, vgl. hierzu TOBIES 1993b. 102 Zu den Beiratsmitgliedern vgl. Jahresbericht DMV 32 (1923) Abt. 2, 14.

9.3 Intellektuelle Bildung sichern

471

Obgleich Klein kaum noch das Haus verlassen konnte, blieb er engagiert dabei. Er sah, dass die Gefahr des Reduzierens nicht gebannt war. Als eine unter Kultusminister Otto Boelitz (Deutsche Volkspartei, DVP103) erarbeitete Denkschrift über „Die Neuordnung des preußischen höheren Schulwesens“ im März 1924 präsentiert wurde, schrieb Klein an den Göttinger Universitätskurator Theodor Valentiner: Ich bespreche mit Ihnen gerne insbesondere die Reformen des höheren Schulwesens, welche das Ministerium Boelitz in Aussicht genommen hat und über die eben morgen eine vielleicht entscheidende Konferenz in Berlin stattfindet.104

In der Boelitz-Denkschrift war die Ansicht, dass der mathematisch-naturwissenschaftliche Unterricht mit einer geringeren Stundenzahl auskommen könne, mit der Autorität Georg Kerschensteiners begründet worden, der als Reformpädagoge und Honorarprofessor in München an der Schulkonferenz 1920 in Berlin an prominenter Stelle teilgenommen hatte. Er hatte einst auch bei Klein studiert, angeregt durch Alexander Brill 1883 an der Universität München promoviert und ließ Klein nun wissen, dass er keineswegs das Reduzieren befürwortet habe.105 Daraufhin initiierte Klein im Juni 1924 eine Entschließung der mathematischnaturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Göttingen, mit welcher die mit der Boelitz-Denkschrift angestrebte Schulreform in entscheidenden Punkten abgelehnt wurde. Das betraf das einseitige Hervorheben sog. kulturkundlicher Fächer wie Deutsch, Religion, Geschichte, Geographie; das Zurückdrängen von Mathematik und Naturwissenschaften; das geplante Abschaffen der bisherigen Realgymnasien sowie allgemeine Urteile wie „daß das wirtschaftspolitische und technische Zeitalter hinter uns liege“.106 Dies und weitere massive Proteste zahlreicher Institutionen, Vereine und Verbände bewirkten eine variierte „Richertschen Schulreform“107 (1925). Diese Reform brachte neben organisatorischen Maßnahmen und betont „staatsbürgerlicher“ Orientierung letztlich auch die Anfänge von Differential- und Integralrechung verbindlich in den Mathematik-Lehrplan. Im Juli 1924 fand nach zehnjähriger Pause wieder ein Ferienkurs zur LehrerFortbildung (113 Teilnehmende) im Geiste Kleins statt, wie der Göttinger Universitätskurator informierte. Nach Felix Kleins Tod versprach der beim nächsten Ferienkurs anwesende Ministerialvertreter, weiter fortzusetzen und im Geiste Kleins der Jugend die eminente Kulturbedeutung der Mathematik und ihrer Anwendungen vermitteln und lebendig erhalten zu wollen.108 103 Boelitz war vom 7.11.1921 bis 6.1.1925 im Amt. Die nationalliberale Partei DVP war 1918 unter Vorsitz von Gustav Stresemann entstanden, koalierte zeitweise mit der SPD. 104 [UAG] Kuratorial-Akten, 4 Vb/216 (Personalakte F. Klein), Brief v. 20.5.1924. 105 Vgl. KLEIN 31924, 299. 106 [UAG] Math.-Nat. generalia: Nr. 25; 21. 107 Das höhere Schulwesen. Stimmen gegen die Neuordnung des preußischen höheren Schulwesens, hg. v. Deutschen Verband Technisch-Wissenschaftlicher Vereine. Berlin: VDI-Verlag, 1924. – Hans Richert, Ministerialrat im preußischen Kultusministerium seit 1923. 108 [UAG] Math.-Nat. Fak. 25, Valentiner, Bericht v. 19.7.1924; Zeitungsnachrichten-Bureau, Berlin: Eichsfelder Tageblatt, 2.8.1925.

472

9 Erster Weltkrieg und Nachkriegszeit

9.4 FORSCHUNGSFÖRDERUNG Nach dem verlorenen Krieg prägte die rhetorische Floskel „Wissenschaft als Machtersatz“ die Entwicklung von Wissenschaftspolitik und Wissenschaftsorganisation in Deutschland. Mit Diskursen über Schwachstellen in anderen Gebieten wurde die Ressource Wissenschaft mobilisiert, die selbst durch den Krieg und die nachfolgende Inflation „in Not“ geraten war. Industrie, Staat und Wissenschaftler waren, durchaus mit unterschiedlichen Zielen, an neuen Organisationen der Forschungsförderung interessiert. Felix Klein steckte noch mitten im Geschehen und lenkte das Finanzieren mathematischer Projekte. 9.4.1 Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft Am 30. Oktober 1920 wurde in Berlin die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft gegründet (seit 1929 Deutsche Forschungsgemeinschaft). Friedrich Schmidt-Ott, langjähriger Beamter im preußischen Kultusministerium und von August 1917 bis zur November-Revolution 1918 noch Kultusminister, übernahm den Vorsitz dieses „Dachverbandes in Selbstverwaltung“, um geistes-, naturwissenschaftliche, technische und medizinische Forschung zu fördern und zu regulieren.109 Sein 1. Vizepräsident wurde der Mathematiker Walther Dyck110, 2. Vizepräsident der Chemiker und Nobelpreisträger Fritz Haber. Es waren sämtliche dem Verband Deutscher Hochschulen (gegr. 1919) angeschlossene Universitäten und Hochschulen, die Akademien, die KWG, die GDNÄ mit den Fachgesellschaften und der Verband technisch-wissenschaftlicher Vereine (gegr. 1916) involviert. Die Mittel kamen hauptsächlich aus dem Reichshaushalt und in geringerem Maße von einem (industriellen) Stifterverband der Notgemeinschaft. Ein Hauptausschuss der Notgemeinschaft, dem Adolf von Harnack vorstand, bearbeitete Anträge von Fachausschüssen und leitete sie an Sonderausschüsse (Verlagsausschuss, Vergabe von Forschungsstipendien, Apparate- und Materialausschuss, Unterstützung für Forschungsreisen u.a.). Das Präsidium und der Hauptausschuss der Notgemeinschaft beschlossen am 23. November 1920, die Fachausschüsse vorläufig für ein Jahr durch die Akademien der Wissenschaften und den Hochschulverband bestimmen zu lassen. Schmidt-Ott informierte Felix Klein am 10. Januar 1921: Die Zusammensetzung des Fachausschusses für Mathematik, Astronomie und Geodäsie wurde der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen übertragen. Diese hat Sie zum Vorsitzenden dieses Fachausschusses gewählt. Dem Ausschuss sollen ausser Ihnen Herr Geheimer Rat Professor A. Krazer – Karlsruhe, Professor I. Schur – Berlin, Herr Geheimer Regierungsrat Professor Dr. Louis Krüger – Potsdam und Professor Dr. Bauschinger – Leipzig angehören. 109 Zur Notgemeinschaft und zum Begriff „Dachverband…“, der nicht Demokratisierung, sondern Zusammenschluss bzw. Wissenschafts-Lobby gegenüber der SPD-Regierung aus Angst vorm „Gespenst des Bolschewismus“ bedeutet habe, vgl. KIRCHHOFF 2007, 77-78. 110 Zu Walther Dycks Tätigkeit in der Notgemeinschaft vgl. HASHAGEN 2003, 619-51.

9.4 Forschungsförderung

473

Schmidt-Ott drückte die Hoffnung aus, „dass Sie im Gesamtinteresse der Deutschen Wissenschaft das Ihnen übertragene Amt anzunehmen bereit sind“. Klein antwortete, dass er nicht nur das Amt angenommen, sondern die erste Ausschusssitzung mit sämtlichen Mitgliedern (in Göttingen) bereits durchgeführt habe. Für in Berlin stattfindende Sitzungen bat Klein darum, dass Issai Schur eingeladen werde.111 Fritz Haber schrieb daraufhin am 5. Januar 1921 an Klein, dass er ihm gern zugestehe, dass er sich geeignet vertreten lasse und schloss zugleich ein Plädoyer auf ihn an: „Das Gewicht Ihrer Persönlichkeit bleibt und die Summe von Urteil, Erfahrung und persönlichem Zusammenhange, die in Ihrer Person verkörpert ist, wirkt unter Ihrem Vorsitz zum höchsten Nutzen der Sache.“112 Die Korrespondenz Kleins mit Krazer dokumentiert die vorausgegangene Abstimmung. So hatte Klein bereits am 9. November 1920 an Krazer geschrieben: Immer noch unklar, welche Machtvollkommenheit der Einzelausschuss der Notgemeinschaft und speziell der Ertrag dieses Ausschusses hat. Trotzdem setze ich die vorläufige Bezugnahme mit Ihnen gerne fort. […]. Ich habe absichtlich alle Einzelzeitschriften, also auch Crelle oder gar das Archiv, welches [Eugen] Jahnke in unverantwortlicher Weise in den Vordergrund gebracht hat, ausgeschlossen. Wir erleben sonst ein Konkurrenzrennen nicht nur der Red.[aktionen], sondern der Verleger u. verzetteln die Mittel oder halten am Leben, was absterben muß (Die bisherige Zeitschriftenzahl muß unter heutigen Umständen reduziert werden). – Ausnahme Jahresbericht, wenn es gelingt, ihm den Charakter des allgemeingültigen aktuellen Nachrichtenblattes zu geben. Verleger und Form des Verlags halte ich dabei offen. Ich habe an sich gewiß nichts gegen Teubner. Aber ohne Unternehmensgewinn. […] Vorschläge mit grosser Vorsicht. Damit komme ich auf die Reorganisation der Math.[ematischen] Ver.[einigung] u.[nd] Reichsverband. […]113

Wie die Korrespondenz erhellt, waren sich Klein und Krazer früh darüber einig, dass die ENCYKLOPÄDIE, die Herausgabe der Werke von Gauß, die Referatezeitschrift Jahrbuch über die Fortschritte der Mathematik und der Jahresbericht der Deutschen Mathematiker-Vereinigung unterstützt werden müssen.114 Diese Projekte wurden als primär bestätigt, als der Fachausschuss 5 (für Mathematik, Astronomie, Geodäsie) unter Kleins Vorsitz am 7. und 8. Januar 1921 (Freitag und Samstag) in Göttingen tagte. Zu der Zusammenkunft waren auch Carl Runge als Vorsitzender des Fachausschusses 6 (für Physik, Astrophysik, Geophysik und Meteorologie) und Richard Courant als Schriftführer gebeten worden. Wenn die Mittel zunächst auch zögerlich kamen, war Kleins wiederholtes Insistieren erfolgreich. Die meisten Zuwendungen für Mathematik kamen über den Verlagsausschuß. Bis zum 31. März 1922 erhielt der Fachausschuß Mathematik 793.755 M Druckunterstützung und 174.800 M für Einzeluntersuchungen. Das war der siebente Platz bei zwanzig Fachausschüssen (nach Physik, Theologie, Chemie, Biologie, Mineralogie und alter Philologie).115 Klein dachte über die 111 112 113 114 115

[UBG] Cod. Ms. F. Klein 4A: Bl. 61-61v. Ebd., Bl. 52 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 4 A: Bl. 18 (Klein an Krazer, Briefentwurf, 9.11.1920). Ebd. 4A: 29, Bl. 7, Krazer an Klein, Brief v. 7.11.1920. Bericht der Notgemeinschaft über ihre Tätigkeit 1921/22. Berlin 1922, 12.

474

9 Erster Weltkrieg und Nachkriegszeit

Fachgrenze hinaus, organisierte u.a. mit Otto Blumenthal und abgestimmt mit holländischen Wissenschaftlern, wie der Bibliotheksausschuss der Notgemeinschaft die ausländische Fachliteratur geeignet beschaffen könnte. Zugleich profitierte Klein für seine eigenen Projekte. Die ENZYKLOPÄDIE erhielt nicht nur über den Fachausschuss, sondern auch über das Präsidium Mittel, wofür Walther Dyck mit sorgte. Über den Hauptausschuss, beantragt durch das Präsidium, flossen 50.000.-M für die Edition von Band II der Werke Kleins.116 Für Band III kamen aufgrund der weiteren Geldentwertung am 11. November 1922 100.000.- M und Ende Januar 1923 noch einmal 300.000.- M hinzu.117 Wie sehr die Erfolge in der ersten Amtsperiode (bis 1. April 1922) Kleins persönlichem Einsatz und diplomatischem Geschick zu danken waren, ist gleichfalls belegt. So bat z.B. Julius Bauschinger Klein dringend, als Vorsitzender ausharren zu wollen. Es ist Niemand da, der Sie auch nur einigermaßen ersetzen könnte.118 Als die Gremien im März 1922 für die nachfolgenden vier Jahre gewählt werden sollten, wollte sich Klein zurückziehen. Issai Schur, der Kärrnerarbeit übernommen hatte, schrieb ihm am 16. September 1921: Jedenfalls ist dieser Erfolg ein neuer Beweis dafür, wie außerordentlich schwer Sie als Vorsitzender des Fachausschusses zu ersetzen wären. Ich gebe immer noch die Hoffnung nicht auf, von Herrn Courant zu erfahren, daß Sie von Ihren Rücktrittsabsichten abgekommen sind und eine Wiederwahl nicht ablehnen würden.119

Klein hatte ausgleichend agiert, während er dagegen im von Runge geleiteten Fachausschuss Physik die Konflikte sah: „wo die Namen Einstein und Stark einen Mittelpunkt zweier feindlicher Lager bezeichnen dürften“.120 Am 11. September 1921 hatte Klein Schmidt-Ott wissen lassen, dass er seine verbleibende Arbeitskraft künftig voll auf die Herausgabe seiner Gesammelten Mathematischen Abhandlungen konzentrieren müsse. Kurz darauf teilte er noch die bisher diskutierten Vorschläge für den neuen Fachausschuss Mathematik mit, wobei gemäß Wahl die alten Mitglieder bestätigt worden waren: Krüger (Geodäsie), Bauschinger (Astronomie) sowie zwei für „reine“ Mathematik (Krazer und Issai Schur). Carl Runge trat für angewandte Mathematik hinzu (leitete nicht mehr den Fachausschuss Physik).121 Die Wahl der Ausschuss-Mitglieder für „reine“ Mathematik war bereits am 20. September 1921 bei der DMV-Jahresversammlung in Jena erfolgt. Allerdings verdrängte Bieberbach noch Issai Schur.122 116 [UGB] Cod. Ms. F. Klein 4, Bl. 96, Schreiben Schmidt-Ott an Klein, 20.3.1922. 117 Ebd., Bl. 315, 323, Schreiben v. Schmidt-Ott an Klein, 11.11.1922, 26.1.1923. – Zur Förderung weiterer mathematischer Werke und Projekte vgl. TOBIES 1981b. 118 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 4A: Bl. 214, Bauschinger (Leipzig) an Klein, Brief v. 4.9.1921. 119 Ebd., Bl. 219-219v, Issai Schur an F. Klein, 16.9.1921. 120 Ebd, 5 E: Bl. 5 (Klein an Schmidt-Ott, 20.1.1921). 121 Ebd., 4 A: Bl. 225, 257 (Klein an Schmidt-Ott, Briefentwürfe, 23.9., 7.11.1921). 122 Stimmen bei der DMV-Wahl für den Fachausschuss: Krazer und Issai Schur je 44, Bieberbach 38, Courant 11, Mises 4, Rothe 1; Wahl für den Vorsitz: Schur 38, Bieberbach 7, Krazer 2. Jahresbericht DMV 30 (1921) 104. – Issai Schur schrieb Klein am 14.11.1921, dass er mit Bieberbach bei Schmidt-Ott war und sie dort festlegten, dass Bieberbach die Berliner Vertretung im Fachausschuss übernimmt. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 4 A: 254.

9.4 Forschungsförderung

475

Schmidt-Ott erbat jedoch noch am 19. Juli 1922 Kleins (objektiven) Rat, um die Vergabe der Mittel stärker „auf die Erforschung grosser Probleme und zusammenfassende Durcharbeitung grösserer Gebiete zu konzentrieren“. Kleins Antwort vom 27. Juli 1922 lautete, dass ihm das Fördern „der allgemeinen Unternehmungen“ (ENCYKLOPÄDIE, Gaußausgabe, und das referierende Organ Fortschritte der Mathematik, geleitet durch Leon Lichtenstein in Leipzig) nach wie vor am wichtigsten scheine, wie er in seinem Bericht vom Januar schon betont habe. Sonstige neue wissenschaftliche Pläne sah er durch „die fortschreitende Verschlechterung der allgemeinen Verhältnisse gehemmt“.123 Klein managte inzwischen alles von zu Hause aus. Von hier aus sorgte er auch noch dafür, dass seine 1898 gegründete Göttinger Vereinigung geordnet überführt wurde, wenn er auch nicht mehr alle Wünsche durchsetzen konnte. 9.4.2 Gauß-Weber- / Helmholtz-Gesellschaft Durch den Versailler Vertrag vom 28. Juni 1919 waren der deutschen chemischen Industrie alle Verfahrenspatente entzogen worden. Chemieindustrielle entwickelten deshalb ein besonderes Interesse an Innovationen und statteten neue Fördergesellschaften an Hochschulen sowie spezifische Fachgesellschaften mit Mitteln aus: Emil-Fischer-Gesellschaft zur Förderung der chemischen Forschung e.V. (gegr. 15.6.1920); Adolf-Baeyer-Gesellschaft zur Förderung der chemischen Literatur e.V. (gegr. 16.6.1920); Justus-Liebig-Gesellschaft zur Förderung des chemischen Unterrichts e.V. (gegr. 1920).124 Felix Klein nahm dies zur Kenntnis, trat der 1919 neu gegründeten Gesellschaft für technische Physik bei, gab Hinweise zur Gestaltung deren Satzungen125 und versuchte, für mathematisch-physikalischtechnische Forschungen in Göttingen weiterhin finanzielle Mittel zu erhalten. Als der persönlich stark für Göttingen engagierte Böttinger am 9. Juni 1920 verstarb, informierte Klein die Mitglieder der Göttinger Vereinigung am 21. Juni, schrieb am 22. Juni an den Krupp-Manager Emil Ehrensberger, um die Gelder für den Bau des anvisierten Mathematischen Instituts zu sichern. Und er schloss den Brief mit der Sentenz: Nicht verzweifeln, sondern neue Initiative entwickeln.126 Böttinger hatte noch Carl Duisberg als Ersatz für den Vorstand der Göttinger Vereinigung vorgeschlagen. Dieser, seit 1912 Generaldirektor und Vorstandsvorsitzender der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co., leitete jedoch außerdem die Liebig-Gesellschaft, managte das Zustandekommen und die Satzungen des Stifterverbandes der Notgemeinschaft (gegr. 14.12.1920), entfaltete zahlreiche weitere Initiativen, sodass er sich für Göttingen nur als „Liquidator“ sah.127 Das 123 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 4 A: Bl. 308-09, 309v (Schmidt-Ott an Klein, 19.7.1922; Kleins Antwortentwurf, 27.7.1922). 124 Vgl. hierzu bereits die Studie von REISHAUS-ETZOLD 1972. 125 Korrespondenz mit Georg Gehlhoff, 1919 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 5B: 57, 64-71, 124-28. 126 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 5C: Bl. 42-43v (Klein, Briefe v. 21.6. und 6.7.1920). 127 Duisberg an Klein, 13.11.1920, ebd. 5D: Bl. 36-39.

476

9 Erster Weltkrieg und Nachkriegszeit

Agieren der Göttinger Vereinigung „auf dem freien Zusammenwirken ihrer Mitglieder“ ohne feste Satzung wirkte sich jetzt ungünstig aus. Die industriellen Mitglieder zeigten sich weniger spendenfreudig. Personalverschiebungen in Göttingen bedingten, dass Stellen in Mathematik und Physik längere Zeit unbesetzt blieben. Duisberg schickte sich somit an, die Vereinigung in eine neue, größere Gesellschaft zur Förderung von physikalisch-technischer Forschung zu überführen, welche nicht nur Göttingen, sondern deutschlandweit unterstützen sollte. Als Vorsitzenden für diese neue Helmholtz-Gesellschaft zur Förderung der physikalischtechnischen Forschung e.V. (gegr. 28.10.1920)128 installierte Duisberg Dr.-Ing. Albert Vögler, Generaldirektor der Deutsch-Luxemburgischen Bergwerks- und Hütten A.G., Dortmund. Vögler, konservativ und nationalistisch, hatte im Ersten Weltkrieg eine aggressive Annexionspolitik betrieben und sollte schließlich die NSDAP mit auf den Weg bringen (vgl. KOHL 2002). Klein notierte: „Allerlei Skrupel betr. die neue Gesellschaft“. Er vermisste eine hinreichende Zahl hervorragender Gelehrter und insbesondere norddeutsche Gelehrte im ersten Verwaltungsrat; er vermisste die Organisation der Forschungstätigkeit; er qualifizierte die neue Gesellschaft als „Sammelbüchse“ von Kapital ab.129 Es sollten nur die Zinsen verwendet werden dürfen, während die Göttinger Vereinigung von den Eintritts- und Jahresbeiträgen (5000 plus 500 als Minimum) gelebt hatte. Klein war auch mit der Benennung nach Helmholtz unzufrieden, da dieser 1893 gegen Universitätsinstitute für technische Physik plädiert hatte. Seinen eigenen Vorschlag, Gauß-Weber-Gesellschaft, um das enge Band von Mathematik und Physik zu unterstreichen, hatte Duisberg mit dem Bemerken abgelehnt, dass der Name Helmholtz breiteren Kreisen bekannt sei. Die neue Gesellschaft nahm ihren Sitz in München, obgleich Duisberg Klein noch am 20. Juli 1920 entgegenkommend geschrieben hatte, dass der bisherige Sitz der Göttinger Vereinigung auch für die größere Gesellschaft gewiss beibehalten würde. Mathematik kam im neuen Namen nicht mehr vor, obwohl Duisberg auch noch von Mathematik gesprochen hatte.130 Ebenso entfiel Unterricht als Förderfeld.131 Klein erreichte noch, dass neu berufene Professoren der Physik (Max Reich für den verstorbenen H. Th. Simon; Max Born für Peter Debye; James Franck für den verstorbenen Woldemar Voigt) sich gern in die Vereinigung integrierten, dort aufgenommen und gefördert wurden. So schrieb Born am 15. Juli 1920 an Klein: 128 Vgl. Niederschrift über die Gründung am 28.10.1920 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 4 B: Bl. 1-3. 129 Duisberg informierte Klein am 22.1.1921, dass die Industrie lieber Geld für konkrete Zwecke gebe. Für die Helmholtz-Gesellschaft seien inzwischen 35 Mill. Mark eingegangen, bis zu 50 Mill. würden erwartet, während die industriellen Spenden für die Notgemeinschaft („die Wissenschaft im allgemeinen“) sehr gering seien. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 4 B: Bl. 5. – Klein vermisste das von Prandtl vertretene Gebiet, wollte ihm 1 Mill. Mark aus den Mitteln der Vereinigung zusagen (um ihn in Göttingen zu halten). Duisberg lehnte das ab. (Ebd., Bl. 7). 130 Ebd. 5C und D, Korrespondenz Duisberg – Klein, Briefentwürfe Kleins an Duisberg, Vögler. 131 Der Göttinger Oberbürgermeister schrieb am 17.2.1922 an Klein, er möge die Bitte an die Helmholtz-Gesellschaft leiten, dass die Göttinger Mechanikerschule (einst von der Göttinger Vereinigung initiiert) unterstützt wird. Die H.-G. lehnte mit der Begründung ab, dass sie nur Forschungszwecken diene. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 5 E: Bl. 117-18, 131 (27.4.1922).

9.4 Forschungsförderung

477

Ich freue mich sehr, daß die Göttinger Fakultät Prof. Franck dem Ministerium vorschlagen will. Es ist ja eine beträchtliche Verantwortung, die ich auf mich nehme, indem ich in so bestimmter Weise eine Person als richtige für die Göttinger Physik bezeichne; aber ich glaube, meiner Sache ganz sicher zu sein, weil Franck in der Tat geeignet ist, Schule im großen Stil zu machen. […] Franck ist sicherlich über die Göttinger Vereinigung gut im Bilde […] Er wird sicherlich, ebenso wie ich, mit allen Kräften Ihnen behilflich sein, Ihr großes Ziel zu erreichen, durch die Wissenschaft die Industrie zu befruchten und dadurch umgekehrt die Industrie am Gedeihen der Wissenschaft zu interessieren. Ihre neue Gründung, die Gauß-Weber-Gesellschaft ist in der Tat eine Sache größter Wichtigkeit; wie Sie das zustande gebracht haben trotz der Schwierigkeiten, die Ihre schwache Gesundheit in den Weg legt, ist bewundernswert. Denn ich habe selbst angefangen, in ähnlicher Weise zu werben. Meine Idee ist seit Jahren ein „Recheninstitut für theoretische und technische Physik“. […] Wenn Sie mich für die Ziele Ihres Unternehmens brauchen können, stehe ich Ihnen mit Leib und Seele zur Verfügung.132

Klein konnte noch bei Duisberg erwirken, dass über die Göttinger Vereinigung und von den Farbenfabriken Leverkusen Mittel von 15.000 M für den Druck von Band I seiner Gesammelten Mathematischen Abhandlungen gestiftet wurden: Indem ich meiner ganz besonders grossen Freude darüber Ausdruck gebe, dass es uns so möglich ist, Ihnen als dem Begründer und spiritus rector der Göttinger Vereinigung einen kleinen Teil der Dankesschuld abzustatten, verbleibe ich mit dem Wunsche, dass es Ihnen in dem begonnenen Jahr, wie uns allen im niedergetretenen deutschen Vaterlande besser gehen möge wie im abgelaufenen, in Verehrung Ihr sehr ergebener C. Duisberg.133

Klein fand schließlich für das Überführen der Göttinger Vereinigung einen zweigleisigen Weg, den er dem Physiker Wilhelm Westpfahl, nebenamtlich Referent im Kultusministerium, wie folgt erklärte: Die G.[öttinger] V.[ereinigung] als solche ist in der Tat vom 1. Okt.[ober] 1921 beginnend in die Helmholtzgesellschaft aufgegangen, wobei ein kleiner Teil der von den Industriellen für die H.[elmholtz] G.[esellschaft] gezeichneten Summe – es mögen 450.000 M sein – ausdrücklich für die von der G.[öttinger] V.[ereinigung] geschaffenen Institute reserviert wurde. Prof. Prandtl wurde Vorstandsmitglied der H.G., während ich zum Ehrenmitglied ernannt bin. Andererseits haben wir aus dem Geldern, welche die G. V. für das zu erbauende Math.[ematische] Institut gesammelt hatte und die sich auf etwa 350.000 M belaufen, sowie einer Summe von 700.000 M, die der Stifterverband der N.[ot] G.[emeinschaft] ausdrücklich für die Institute der G. V. überwiesen hat, eine besondere „Stiftung für Math.[ematik] u. Physik, insbesondere den Anwendungen“ beim hiesigen Universitätsbund begründet. Die Stiftung untersteht innerhalb des U.[niversitäts]B.[undes] einem besonderem Kuratorium, dem von industrieller Seite Duisberg […] angehören, von Universitätsseite aber Courant, Runge und ich. Courant hat die Geschäftsführung übernommen. Wie bei der H.G. sollen im allgemeinen nur die Zinsen des aufgesammelten Kapitals zur Verwendung kommen; die Zukunft steht also unter dem Druck der fortschreitenden Markentwertung. Die jüngeren Kollegen werden sich also Mühe geben müssen, für die neue Stiftung je nach Gelegenheit eine breite Grundlage und allseitige Beziehungen zu schaffen. Ich selbst fühle mich nachgerade zu alt, um mich auf die neuen Verhältnisse einzustellen.134

132 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 5C: Bl. 68-69 (Born an Klein, 15.7.1920). 133 [UGB] Cod. Ms. F. Klein 8: 533/A und A/1, Bl. 91 und 92, Duisberg an Klein, 6.1.1921; und ebd, 5 D: Bl. 105 (Duisberg an die Mitglieder der Göttinger Vereinigung, 4.1.1921). 134 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 5E: Bl. 144 (Klein an Westpfahl, Briefentwurf, 8.6.1922).

478

9 Erster Weltkrieg und Nachkriegszeit

Die Idee einer Stiftung beim Universitätsbund hatte Klein bereits am 3. August 1920 in einem Schreiben an Schmidt-Ott dargelegt. Daraus geht hervor, dass er auch die einst vom Finanzministerium bewilligten 300.000 M für das Mathematische Institut retten wollte.135 Am 3. Juli 1922 verschickten Klein (als vormaliger 2. Vorsitzender der Göttinger Vereinigung) und Courant (als Geschäftsführer der Stiftung) ein Schlussprotokoll der Göttinger Vereinigung sowie die Satzungen der „Stiftung für Mathematik, Physik und ihre Anwendungen (vorm. Göttinger Vereinigung)“ an die Mitglieder. Sie informierten, dass „die bisher von der Göttinger Vereinigung verfolgten Zwecke unter Berücksichtigung der sich weiter entwickelnden Verhältnisse und gegebenenfalls auch der Sonderwünsche zukünftiger Stifter“ weitergeführt werden sollen. Zu den industriellen Mitgliedern des Stiftungskuratoriums gehörten neben Duisberg: Dr. ing. Carl Still, Recklinghausen (seit 1922 auch DMV-Mitglied); Dr. ing. Max Walter, Direktor des Norddeutschen Lloyd, Bremen136. Das Stiftungsvermögen wurde vom Göttinger Universitätsbund verwaltet.137 Hiervon ausgehend (und mit Mitteln der Rockefeller Foundation) konnte Courant dafür sorgen, dass im Jahre 1929 das Mathematische Institut in der Bunsenstraße seine Einweihungsfeier erlebte.138 9.5 LEBENSENDE Heinrich Behnke, der damals in Göttingen studierte, überlieferte eine Geschichte, wie Felix Klein im Winter 1918-19 seinen Tod vorausplante: Von Klein erzählte [Erich] Hecke später folgende makabre Geschichte. An einem Abend ließ Klein einen seiner nächsten Mitarbeiter kommen und erklärte ihm, daß er in der folgenden Nacht sterben würde. Er möge morgen früh kommen, diese Meldung entgegennehmen, darauf zum Standesamt gehen, dann zur Druckerei usw. usw. Der Beauftragte kam wunschgemäß am anderen Morgen zur festgesetzten Stunde. Aber Klein war nicht gestorben. Doch war er höchst ärgerlich, daß das Schicksal sein Programm nicht befolgt hatte.139

Dies deutet nicht nur an, wie inflationär Klein programmatisch plante. Dies lässt auch erahnen, dass Kleins Krankheit schon fortgeschritten war. An Schmidt-Ott berichtete er später von „Muskelschwund, den die Aerzte nicht aufhalten können“, sodass er „nur noch mit Mühe am Stock im Zimmer“ umhergehen könne.140 Sommerfeld erfuhr etwas von „allseitigem Muskelrheumatismus“.141 Bereits am 6. Dezember 1919 hatte Klein nach Adolf Hurwitz Tod an den Historiker Alfred Stern in Zürich, einem seiner wenigen Duzfreunde und Sohn des Mathematikers Moritz Abraham Stern, geschrieben: 135 136 137 138 139 140 141

[UBG] Cod. Ms. F. Klein 5 D: Bl. 127 (Klein an Schmidt-Ott, Briefentwurf, 3.8.1920) Vgl. NEUBAUR 1907, 612-13 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 5 D: Bl. 2-6. Zur Rockefeller-Stiftung vgl. SIEGMUND-SCHULTZE 2001. BEHNKE 1978, 35. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 5 E: Bl. 5v (Klein an Schmidt-Ott, 20.1.1921). Klein an Sommerfeld, Karte v. 12.12.1922 [UBG] Cod. Ms. Teubner 49.

9.5 Lebensende

479

Lieber Freund! Diese Karte lag adressiert aber noch unausgefüllt schon mehrere Tage auf meinem Schreibtisch, es war gar zu viel zu tun. Vielen Dank für deine Nachricht vom Tode von Hurwitz und für die anderen Mitteilungen! Wenn man das Elend unserer Zustände überdenkt, möchte man diejenigen, die vorher dahingegangen sind, beneiden. So müssen wir uns wohl oder übel weiter durchschlagen. Meine Frau und ich selbst gehören nachgerade zu denjenigen, deren körperliche Leistungsfähigkeit stark gelitten hat. Ich empfinde am meisten, dass ich nicht mehr richtig gehen kann, bemerke etwa auch sonst, dass ich viel langsamer arbeite […] als früher. Dabei bin ich doch noch immer in allgemeinen Universitätsangelegenheiten und wissenschaftlich tätig, - letzteres z.B. mit der Absicht, einen Abdruck meiner alten Arbeiten […] vorzubereiten. Ob sich aber ein Verleger dafür findet, ist unter den jetzigen Zeitumständen zweifelhaft. Herzliche Grüsse Deines alten F. Klein142

Wir wissen inzwischen, dass sich ein Verleger fand und Klein bis zum letzten Atemzug tätig war. – Das Ministerium für Volksbildung in Thüringen, Verwalter der Carl-Zeiß-Stiftung, ließ 1921 während der Jahrestagung der Mathematiker und Physiker in Jena mitteilen, dass der Nominalbetrag von 100.000 Mark in Kriegsanleihe als Fonds zur Verfügung gestellt wird, um ab 1924 aller zwei Jahre einen Ernst-Abbe-Gedächtnis-Preis für hervorragende Leistungen in Mathematik, Physik und deren Anwendungsgebieten zu vergeben. Felix Klein erhielt 1924 den ersten Preis für sein mathematisches Werk, auf Vorschlag der dafür eingesetzten Fachkommission (Fricke, Koebe und Weyl).143 Allerdings ging es Klein inzwischen gesundheitlich so schlecht, dass er keinerlei Feier oder Empfang zum 75. Geburtstag wünschte, wie Ludwig Prandtl Richard von Mises mitteilte.144 Von Mises veranlasste, dass Klein 1924 Ehrenmitglied der GAMM wurde und die Universität Berlin ihm die Ehrendoktorwürde (Dr. rer. pol. h.c.) verlieh.145 Zugleich brachte von Mises einen biographischen Aufsatz über Klein in die Zeitschrift für angewandte Mathemattik und Mechanik (ZAMM) sowie in die Deutsche allgemeine Zeitung (Nr. 193/194), dessen vielseitige Tätigkeit einordnend und die „außerordentliche Arbeitskraft und Pflichttreue“ bewundernd.146 Auf Wunsch des VDI-Verlags hatte Klein der 1921 durch v. Mises begründeten ZAMM ein Geleitwort mit auf den Weg gegeben, in dem er „Genugtuung und eine besondere Freude [ausdrückte], dass sich die Ingenieure und die Mathematiker zusammengefunden haben.“ 147 Der erwähnte erste International Congress for Applied Mechanics 1924 in Delft fand gerade während Felix Kleins Geburtstag statt. Das Executive Committee des Kongresses verfasste folgendes Telegramm: Der internationale Kongress für technische Mechanik[,] der vom 22–28 April zu Delft tagt, und Mitglieder zählt aus Aegypten, Amerika, Australien, Belgien, Bulgarien, Deutschland, 142 [Deutsches Museum] HS 1968-4 (Klein an Alfred Stern, Postkarte v. 6.12.1919). 143 Vgl. Jahresbericht DMV 30 (1921) 74; Math. Ann. 86 (1922) 328; 94 (1925) 176. 144 Prandtl an R. v. Mises, 21.2.1924 [MPI Archiv] 1078, Bl. 4. – Für die Hinweise auf die Briefe R. v. Mises’ dankt die Autorin R. Siegmund-Schultze, Kristiansand. 145 [MPI Archiv] 2378, Bl. 60 (v. Mises an Prandtl, 12.12.1923). 146 MISES 1924; und Zeitungsausschnitt, in Kleins Personalakte [UAG] Kur. 5956, Bl. 205. 147 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 5 D: Bl. 106 (Klein an Diedrich Meyer, Direktor des VDI, Ende Febr. 1921).

480

9 Erster Weltkrieg und Nachkriegszeit England, Frankreich, Holland, Italien, Norwegen, Polen, Russland, Schottland, Spanien, Schweiz, Tschech-Slowakei, Turkei sendet Ihnen zu Ihrem 75. Geburtstag seine herzlichsten Glückwünsche in dankbarer Anerkennung der unschätzbaren Dienste, welche Sie sowohl der mathematischen Wissenschaft wie auch der Mechanik geleistet haben!148

Auf dem Rückweg von Delft überbrachte Richard von Mises Klein die Urkunde der GAMM und die Urkunde zur Berliner Ehrendoktorwürde. Er berichtete: Auf dem Rückweg von Delft war ich ein paar Stunden in Göttingen, um Klein aufzusuchen. Er sitzt trotz seiner 75 Jahre und schwerer Krankheit, die ihn ganz unbeweglich macht, aufrecht und peinlich angezogen am Schreibtisch und arbeitet. Alles, was er braucht, befindet sich in Greifnähe und im Zimmer nebenan wohnt nicht eine Pflegerin, sondern sein Assistent, dem er Briefe und Manuskripte diktiert usf. Ein solches Willensphänomen war noch nicht da.149

Norbert Wiener beschrieb die Situation wenige Monate vor Kleins Tod. Er sah ihn […] in seinem großen Arbeitszimmer, einem freundlichen, hohen, luftigen Raum mit Bücherregalen an den Wänden und einem großen Tisch in der Mitte, auf dem in geordneter Unordnung Bücher und offene Zeitschriften lagen. Der große Mann saß in einem Armsessel hinter dem Tisch, eine dicke Wolldecke über den Knien. Er trug einen Bart, hatte scharf geschnittene Züge und es umschwebte ihn eine Aura von Altersweisheit.150

Walther Lietzmann, der häufiger dort war, schilderte die Räume genauer: Die Bilder an der Wand (Stiche nach Raffael), der Ofen, vor dem Heizkörper der Arbeitstisch, der runde Konferenztisch vor dem Sofa, die Bücherregale hier und auch im Nebenzimmer und im Schlafzimmer, die Stellen, wo die Neuerscheinungen lagen usf. Als Klein das Bett nicht mehr verlassen konnte, fand auch dieses im Arbeitszimmer seinen Platz.151

David Hilbert formulierte am 23. Juni 1925 kurze Gedenkworte (Anhang Nr. 14), nachdem Klein am Abend zuvor verstorben war. Klein hatte als seinen letzten Willen mit allem Nachdruck hinterlassen, von offiziellen Kranzspenden und Ansprachen abzusehen.152 Die Beerdigung fand am Donnerstag, den 26. Juni, um 15.30 Uhr, von der Kapelle des Göttinger Zentralfriedhofs aus, statt,153 wo neben dem Geistlichen Carl Runge sprach. Die Göttinger Mathematische Gesellschaft und die Direktion des Mathematischen Instituts veranstalteten am 31. Juli 1925, um 11.00 Uhr, eine öffentliche Gedächtnisfeier in der Aula der Universität am Wilhelmsplatz. Hilbert unterzeichnete die Einladung. Richard Courant hielt die Gedächtnisrede.154 Kleins programmatische Planung reichte über den Tod hinaus. Seine umfangreiche Bibliothek konnte die in Gründung befindliche Universität in Jerusalem erwerben. Dies hatte er gemeinsam mit seinen Angehörigen sowie Ri148 Biezeno, C.B.; Burgers, J. M. (eds.), Proceedings of the First International Congress for Applied Mechanics in Delft 1924. Delft: J. Waltman JR, 1925, Preface, XV. 149 [Harvard Archives] R.v. Mises an seine Mutter, Brief v. 7.5.1924. 150 WIENER 1962, 87. 151 LIETZMANN 1960, 54. 152 Prandtl an R. v. Mises, 25.6.1925 [MPI Archiv] 1078, Bl. 33. 153 [Archiv TU München] Carl Runge am 24.6.1924 an W. Dyck; [UAG] Kur. 5956, Bl. 208. 154 Courant, R.: „Felix Klein“. Die Naturwissenschaften 13 (1925) H. 37, 765-72, und in Jahresbericht DMV 34 (1926) 197-213.

9.5 Lebensende

481

chard Courant und Edmund Landau schon 1921 entschieden.155 Für seinen Grabstein hatte Klein selbst die Worte sincere et constanter (lat. ehrlich und beständig) bestimmt156 und damit die Sentenz des Roten Adlerordens ausgewählt. Kleins Hinterbliebene gaben pflichtgemäß am 25. Juli 1925 die Orden an den preußischen Staat zurück: Roter Adlerorden II. Klasse mit Eichenlaub (verliehen zum 150-jährigen Jubiläum der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften); den Kronen-Orden II. Klasse, die Sterne zu beiden Orden. Auch der 1898 verliehene Bayerische Maximilians-Orden (vgl. 4.3.1) musste wieder abgegeben werden. Sohn Otto Klein, damals in Hannover-Wülfel, kümmerte sich um die Angelegenheiten für die Mutter: dass sie die zustehende Summe (einmalig 1400 Mark) aus der Professoren-Witwen- und Waisen-Versorgungsanstalt der Universität erhielt. Das Prozedere zog sich bis 1926 hin, ein bürokratischer Vorgang, bei dem Angaben über die familiären Vermögensverhältnisse eingefordert und über das Anrechnen der außerpreußischen Dienstzeiten (13 Jahre 182 Tage) verhandelt wurde. Die Grundvermögenswerte von Anna Klein wurden mit 45.000 Mark geschätzt. Felix Klein hatte zuletzt ein Grundgehalt von insgesamt 13.690,00 Mark (11550 M; 1140 M Ortszuschlag; 1000 M ruhegehaltsfähige Nebenbezüge) bezogen.157 Für Anna Klein wurde ein Witwengeld von jährlich 6571,80 Mark errechnet, ausgezahlt monatlich: 547,65 M.158 Anna Klein folgte ihrem Mann am 18. Oktober 1927. Ihre Schwester Sophie Hegel, die sie bis zum Schluss gepflegt hatte, schrieb am 27. November 1927 von Göttingen aus an Walther von Dyck nach München: Sie hat sich sehr nach dem Ende gesehnt. Dieser Gedanke ist mir auch immer wieder ein Trost wenn es mir gar einsam werden will in dem alten, trauten Räumen, wo ich so viele, schöne Jahre mit den beiden lieben Menschen verlebt habe. Ich habe ihnen viel zu danken und meine gute Schwester hat nun auch noch bestimmt, daß ich im Haus bleiben u. zwei Zimmer im 1. Stock haben soll; dazu wollen „die Kinder“ das einstige Studierzimmer ihres Vaters für sich behalten, um noch immer ein Abstiegsquartier im Elternhaus zu haben; das ist auch mir ein sehr lieber Gedanke u. so steht den alten Freunden das Haus Klein auch künftig immer offen.159

Der Rest der Familie blieb verbunden. Sophie Hegel verbrachte mit ihrer Nichte Elisabeth Staiger, Felix Kleins jüngster Tochter, damals Studienrätin in Kiel, das Weihnachtsfest 1927 beim Neffen Otto Klein in Magdeburg.160 Beim Einweihen der Gedenktafel an Felix Kleins Geburtshaus in Düsseldorf am 12. Oktober 1927 waren der Bruder Alfred Klein und Tochter Elisabeth dabei. Die Göttinger Zeitung berichtete am 13. März 1928, dass die bisherige Lindenstraße in Felix-KleinStraße umbenannt wurde. In Düsseldorf und in Erlangen, Kleins erstem Wirkungsort als Professor, wurden ebenfalls Felix-Klein-Straßen eingerichtet. 155 Klein an Koebe (der sie von der Carl-Zeiss-Stiftung ankaufen lassen wollte), 9.12.1923 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 509B. – http://www.ma.huji.ac.il/~landau/landuniv.html 156 Prange, Georg: „Felix Klein zum Gedächtnis“. Hannoverscher Kurier, 2.8.1925. 157 [UAG] Kur. 9038, Bl. 7, 9-25. 158 Ebd., Bl. 17. 159 [BStBibl] Dyckiania, Sophie Hegel an Dyck, 27.11.1927. 160 Ebd., Elisabeth Staiger an W. Dyck, 28.12.1927; [BBF] Personalblatt; TOBIES 2008a.

482

9 Erster Weltkrieg und Nachkriegszeit

In München konstatierte Constantin Carathéodory: Man muß ihn von den verschiedensten Seiten beleuchtet haben, wenn man seine Bedeutung begreifen will.161

Abb. 37: Felix Klein. Zeichnung von Leonard Nelson

161 CARATHÉODORY 1925, 2.

10 SCHLUSSBETRACHTUNGEN Ich möchte […] auf G. Cantor hinweisen, der einmal sagt[e]: „Das Wesen der Wissenschaft liegt in ihrer Freiheit“, d.h. die Mathematik kann treiben, was sie will, wenn sie aus ihren Prämissen nur richtige Folgerungen zieht. Indem ich diesen Cantorschen Satz theoretisch anerkenne, füge ich eine praktische Einschränkung hinzu, die mir sehr wesentlich erscheint, nämlich daß jeder, der über Freiheit verfügt, auch eine Verantwortung trägt. Ich möchte daher nicht der absoluten Willkür bei der mathematischen Ideenbildung das Wort reden, sondern jedem anheimgeben, daß er dabei das Ganze der Wissenschaft im Auge behalten soll.1

Felix Klein dehnte Georg Cantors Maxime, die sich nur auf Mathematik bezog,2 auf die Wissenschaft insgesamt aus. Kleins Verantwortungsgefühl für die Mathematik und ihre breiten Anwendungen mag wohl auch beigetragen haben, dass er am 7. Juni 1923 in den Orden Pour Le Mérite für Wissenschaften und Künste aufgenommen wurde, gleichzeitig mit Albert Einstein, dem Dichter Gerhart Hauptmann, dem Bildhauer Hugo Lederer und dem Maler Max Liebermann.3 Mit der Weimarer Reichsverfassung vom Sommer 1919 war die Kriegsklasse dieses preußischen Ordens verboten worden. Die durch Alexander von Humboldt angeregte, 1842 eingeführte Friedensklasse avancierte in den 1920er Jahren zu einer sich selbst ergänzenden „freien Vereinigung von hervorragenden Gelehrten und Künstlern“, die heute noch besteht. Vor Klein waren folgende Mathematiker Mitglied der Friedensklasse geworden: C. F. Gauß (1842), C. G. J. Jacobi (1842), A. L. Cauchy (1849), J. V. Poncelet (1863), K. Weierstraß (1875), Ch. Hermite (1878), G. G. Stokes (1879), C. Neumann (1897), L. Cremona (1902), L. Sylow (1904). Wenn es auch hervorragender Gelehrte bedurfte, um die Mathematik voranzubringen, so agieren diese doch nicht isoliert, sondern immer in einem bestimmten Rahmen mit gegebenen Bedingungen. Dass es notwendig ist, diese Bedingungen, Umstände, mit zu erfassen, um einordnen und urteilen zu können, drückten bereits Clebsch und Klein in ihren Statements über Wissenschaftsgeschichte aus, als sie den Nachruf auf Plücker verfassten (vgl. Abschnitt 8.3.1). Im Folgenden sollen zunächst die in der Einleitung (Abschnitt 1.2) formulierten forschungsleitenden Aspekte noch einmal aufgegriffen werden (vgl. 10.1). Außerdem wird zusammenfassend betrachtet, inwiefern wir Felix Klein als einen Vorreiter bezeichnen können (10.2).

1 2 3

KLEIN 31928, 157; (11902). Enthalten in Schönflies, A. (1927): „Die Krisis in Cantor’s mathematischen Schaffen“. Acta Mathematica 50 (1927) 1-23, Zitat 14. – Vgl. dazu PURKERT/ILGAUDS 1987. http://www.orden-pourlemerite.de/ - Orden Pour le Mérite für Wissenschaften und Künste. Die Mitglieder des Ordens, Bd. 2 (1882-1952). Berlin: Gebr. Mann Verlag, 310; FUHRMANN 1992.

483 © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Tobies, Felix Klein, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58749-2_10

484

10 Schlussbetrachtungen

10.1 KOMPRIMIERTE ANTWORTEN AUF DIE FORSCHUNGSFRAGEN Für den ersten forschungsleitenden Aspekt, wie Klein zu einem international anerkannten Mathematiker werden konnte, sei betont: Klein zeigte sich bereits als 23-Jähriger als Weltbürger. Er bekundete, dass Mathematik durchaus eine internationale Wissenschaft ist, und der eigene Fortschritt des producirenden Mathematiker’s ohne allseitige Fühlung mit den gleichzeitigen Betrachtungen Anderer wesentlich gehemmt ist (Anhang Nr. 2). Dabei folgte er Alfred Clebsch’ Programm, Vereinigung von Gebieten und Personen (vgl. 2.4.1) und unterschied sich von einseitig agierenden Mathematikern (vgl. 5.5.2.4). Klein verknüpfte die verschiedensten, im internationalen Raum entwickelten mathematischen Gebiete (Geometrie, Algebra, Funktionentheorie, Zahlentheorie) einschließlich ihrer Ränder (Anwendungen, Philosophie, Geschichte, Psychologie, Unterricht). Er verband Personen zu Diskussionen und Projekten. Dabei formulierte er immer wieder offene Probleme und neue Forschungsprogramme, in die er zahlreiche Mathematiker/innen aus dem In- und Ausland einbezog. Er erreichte, dass sie seinen Visionen folgten, oder – wie es CARATHÉODORY (1925, 2) ausdrückte – dass die Direktiven, die er gegeben hatte, wirklich eingehalten wurden. Hinsichtlich Aspekt zwei, die wichtigsten Kooperationspartner, sei zunächst gesagt, dass Klein aufgrund seiner Arbeitsweise möglichst alle Kollegen und Schüler auf Kooperationsfähigkeit testete. Wer in den einzelnen Phasen seines Berufswegs bevorzugter Partner bzw. Partnerin (Emmy Noether) wurde, hing vom konkreten Forschungsfeld, von Buch- und Editionsprojekten bzw. sonstigem Aktionsfeld ab. Die Partner und Mitarbeiter sind in den vorangegangenen Kapiteln genannt worden. Die Wichtigsten davon waren Sophus Lie, Paul Gordan und Adolf Hurwitz. Einige Merkmale, die die kooperative Arbeitsweise bedingten, beförderten bzw. auszeichneten, seien im Folgenden unterstrichen. Ein erstes Merkmal war Kleins offene Haltung gegenüber ausländischen Kollegen und deren Ergebnissen. Hierbei folgte er Plücker und Clebsch, die bereits versucht hatten, ihren geometrischen Denkstil im Verein mit Kollegen aus anderen Ländern und gegen eine in Deutschland dominierende „Berliner Schule“ durchzusetzen. Klein hob sich ab von nationalistisch orientierten deutschen Gelehrten und kritisierte derartiges Auftreten (vgl. 2.5.2, 5.5.2.4). Als 20-Jähriger fand er mit dem Norweger Sophus Lie seinen wichtigsten mathematischen Partner. Dank Klein (und A. Mayer) wurde Lie in Norwegen durch einen deutschen Mathematiker (Friedrich Engel) beim Aufschreiben seiner Ideen unterstützt. Im Jahre 1886 erreichte Klein, dass Lie ihn auf dem Geometrie-Lehrstuhl der einzigen sächsischen Universität (Leipzig) nachfolgen konnte, dies unter Protest von in Preußen (Berlin) einflussreichen Mathematikern (vgl. 5.8.3). Kleins gelebte internationale Kooperation äußerte sich ebenfalls im Erfolg, Studierende aus Skandinavien, Italien, Frankreich, Großbritannien, den USA, Russland, Österreich, der Schweiz, u.a. zu eigenen neuen Resultaten zu führen. Er selbst sprach von einer Lust am sozialen Trieb, auf andere zu wirken (vgl. 2.8.3.4; 3.1.2; 4.2.4.2). Zweitens waren Kleins Kooperationsbeziehungen durch ein umgängliches, diplomatisches, nicht nachtragendes Verhalten geprägt – ganz im Unterschied zum

10.1 Komprimierte Antworten Auf die Forschungsfragen

485

„impulsiven“ Hilbert. Beispielhaft sei erwähnt, dass Klein Hilbert aufforderte, zur Akademie-Sitzung zu kommen. Hilbert blieb aber fern, solange dort der „reaktionäre“ Germanist Edward Schröder agierte4 und überließ ihm das Feld. Auch die interdisziplinäre Redaktion der Mathematischen Annalen vermochte Hilbert nach Kleins Tod nicht zusammenzuhalten. Klein blieb diplomatisch, auch wenn Kooperationspartner unangemessen (vgl. 6.3.6 z.B. zu Lie) bzw. rückwärts gewandt agierten. Letzteres betraf Paul Gordan, den Klein neben sich nach Erlangen geholt hatte. Klein profitierte von Gordans algebraischem Wissen (3.5; 4.2) und war mit ihm (wie mit Lie) eine Art Symbiose eingegangen. Klein redigierte lange Zeit deren Arbeiten. Max Noether überlieferte, dass auch Gordan schwerfällig in der Handhabung der Feder war (3.5). Als Gordan jedoch gegen Hilberts moderne Invariantentheorie auftrat, ermunterte Klein diesen, sich von der alten ClebschGordan-Richtung zu lösen (vgl. 6.3.7.3). Als sich Gordan 1894 (er fungierte gerade als DMV-Vorsitzender) gegen die Aufnahme von Hilbert in die Redaktion der Mathematischen Annalen wandte, wartete Klein ab und setzte es später durch. Von einem Treffen 1894 in Wien berichtete Klein an Walther Dyck, den er für das redaktionelle Hauptgeschäft der Annalen gewonnen hatte (vgl. 2.4.2 und 5.4.1): G.[ordan] ist ein merkwürdiger Mann. Hat er doch mit [Max] N.[oether] allen Ernstes die Frage diskutiert, ob man nicht dadurch eine Kürzung des Annaleninhalts herbeiführen könne, daß man a priori gewisse Gebiete, z.B. Zahlentheorie, ausschließe! Und dabei ist Zahlentheorie gerade das Feld, auf welchem nach meiner Ueberzeugung die Fortschritte der nächsten Zeit liegen werden! Er hat wahrscheinlich eine Zeit lang sich in den Gedanken eingelebt, es sei zweckmäßig und er sei stark genug, die Annalen auf dem Standpunct der Clebsch’schen Schule vom Anfang der [18]70er Jahre zurückzuschrauben! So wie ich dann mit ihm in Wien sprach und derartige Tendenzen als reactionär bezeichnete, zog er zurück.5

Klein unterließ es dennoch in der Folgezeit nicht, Sophus Lie ebenso wie Paul Gordan besondere wissenschaftliche Anerkennung zu zollen.6 Wir können hieran eine weiteres Merkmal erkennen. Hatte Klein einen neuen mathematischen Ansatz als richtig erkannt, so setzte er ihn durch, auch gegen Kooperationspartner, wobei es ihm in der Regel gelang, die Freundschaft aufrechtzuerhalten. Dies zeichnete sein Verhältnis zu Adolf Hurwitz in besonderem Maße aus (vgl. 4.2.4.2; 5.4.1; 6.3.3). Hurwitz war entscheidender kreativer Kopf beim Erarbeiten der theoretischen Grundlagen für die elliptischen und die automorphen Funktionen. Diesen kreativen Kopf wollte Klein bewusst nicht für die Kärrner-Arbeit des Aufschreibens verschleißen (vgl. 5.5.7.2). Noch 1918 vertraute Klein auf Hurwitz’ Urteil, wenn er ihm nach Zürich schrieb: Durch die Stiftung meiner Freunde soll es ja nun wirklich zu einem Wiederabdruck meiner alten Arbeiten kommen. Ich bin schon einige Zeit mit der Vorbereitung beschäftigt, indem ich die Hilfskraft, die ich gewonnen habe, Hrn Alex.[ander] Ostrowski aus Kiew, in die Materie einführe. Wir werden den Wiederabdruck mit mehr oder minder ausführlichen Erläuterungen 4 5 6

Vgl. FREI 1985, 144 (Hilbert an Klein, 7.3.1918). – Schröder gehörte einer deutschnationalen, antisemitisch und antifeministisch gesinnten Bewegung an; hatte schon 1909 die Promotionen von zwei jüdischen Hilbert-Schülerinnen zu verhindern gesucht, vgl. TOBIES 1999, 2010, 92. [BStBibl] Klein an Dyck, 12.8.1894. Vgl. hierzu insbes. KLEIN 1921 GMA I, 384-401;1922 GMA II, 255-61, 380-84, 426-38.

486

10 Schlussbetrachtungen begleiten. Ich will Sie schon hier bitten, dass ich Ihnen von den Abhandlungen, die Ihr Arbeitsgebiet berühren, Fahnen zusenden darf mit der Bitte, die Erläuterungen auf Richtigkeit und Vollständigkeit zu prüfen. Herzliche Grüsse von Haus zu Haus Ihr K.7

Hurwitz starb vor seinem Doktorvater und konnte nicht mehr beitragen. Beide hatten ein gutes Einvernehmen bewahrt, obgleich Klein Hurwitz relativ schnell hintangestellt hatte, als der impulsive rotbärtige Hilbert diesen wissenschaftlich zu überflügeln begann (vgl. 6.3.7.3, 7.9 und Anhang Nr. 6). Kleins Handeln entsprach dem Konzept, jede Ressource für die Entwicklung der Mathematik in Göttingen geeignet zu nutzen (vgl. 1.2). Walther Lietzmann gewann als Kleins mehrjähriger Mitarbeiter bei Unterrichtsthemen den Eindruck: Er verstand, in dem Bilde, das er sich von einem Menschen machte, das Wesentliche von dem Äußerlichen oder für die Arbeitseignung nicht in Betracht kommenden zu trennen; er konnte dabei über Dinge, die die Meisten je nachdem blenden oder ärgern, wie Eitelkeit, Prahlsucht, ja Opportunismus, erst recht über politische, nationale, rassenkundliche, religiöse Verschiedenheiten hinwegsehen. Das Geheimnis seines Erfolges lag, wie Hilbert in seinem Gedenkwort in der Göttinger mathematischen Gesellschaft am Tage nach Kleins Hinscheiden sagte, in seiner unbestechlichen Sachlichkeit.8

Wenn Henri Poincaré kein Kooperationspartner wurde (anders als z.B. zahlreiche italienische Mathematiker), sondern Konkurrent, so lag das nicht an Klein, sondern an von französischer Seite geschürten nationalistischen Animositäten (vgl. 5.5.3.2). Es hinderte Klein nicht, Poincarés Leistungen als herausragend zu beurteilen, ihn u.a. als „das französische Genie“, als „singuläre Erscheinung“ und „modernen Cauchy“ zu bezeichnen.9 Abgestimmt mit Darboux schlug Klein Poincaré als ersten Preisträger für den János-Bolyai-Preis vor (vgl. 5.4.2.4); verbunden damit konzentrierte Klein 1905/06 die Vorträge der Göttinger Mathematischen Gesellschaft auf Poincarés Arbeiten.10 Als im Jahre 1910 in Frankreich die Idee aufkam, Poincaré für den Nobelpreis zu nominieren, hielt sich Klein zurück, sagte aber noch im März 1914 zu, „dem Komité beizutreten, das eine dauernde Ehrung von Poincaré vorbereiten soll“.11 Wenn der jüngere David Hilbert (zweiter Preisträger dieses Bolyai-Preises, ebenfalls vereinbart zwischen Klein und Darboux) nicht der Kooperationspartner wurde, von dem sich Klein verjüngende Wirkung erhofft hatte (vgl. Abschnitt 7.9), so lag das nicht an Hilbert. Hilbert stand bis zum Schluss zu Klein, kooperierte mit ihm in Seminaren und bei anderen akademischen Angelegenheiten. Es lag an Klein, der geraume Zeit gebraucht hatte, um die Wende zur neuen begrifflichen Mathematik mit abstrakten Methoden zu akzeptieren (vgl. 8.2.2; 8.3.2). Klein erklärte seine Mathematik mit reichlichem Wortschatz. Orientiert am (damaligen) französischen Beispiel (vgl. 2.6.3) wollte er, dass die dargestellten 7 8 9

[UBG] Math.Archiv 77: 272 (Klein an Hurwitz, Karte v. 20.12.1918). LIETZMANN 1925, 259. – Zur im Zitat erwähnten Rede Hilberts vgl. Anhang Nr. 14. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 22 A: Bl. 76a, 77 (Aufzeichnungen für seine Vorlesung, 23.11.1915). – Vgl. auch KLEIN 1926 Vorlesungen I, 374-81, 1927 II, 68-69. 10 Vgl. Berichte in Jahresbericht DMV 14 (1905) Abt. 2, 586; 15 (1906) Abt. 2, 153, 274. 11 [Paris] Klein an Darboux, Nr. 81 (16.12.1905); Nr. 82 (21.1.1910); Nr. 83 (25.3.1914).

10.1 Komprimierte Antworten Auf die Forschungsfragen

487

Ergebnisse von jedem verstanden werden – nicht nur von Spezialisten. So sah er etwa in der „Verbannung der gew.[öhnlichen] Sprache“ durch die symbolische Logik, im „Streit um die endliche Anzahl von Worten“ (bei Russell und Whitehead), eine „grosse Vereinseitigung“, die den „Gesammtzweck der Math.[ematik] aus dem Auge verloren hat.“12 Dennoch versuchte Klein, in alle neuen Gebiete einzudringen und auch diejenigen Richtungen zu fördern, die ihm selbst nicht lagen (vgl. besonders Kleins Verhältnis zu Edmund Landau in 8.2.2 und 9). Wie er Hilbert geeignet würdigen könne, fragte sich Klein beim Erarbeiten seines Überblicks über die Mathematik im 19. Jahrhundert. Dafür studierte er Anfang 1916 noch einmal HILBERT (1900), Zukunftsprobleme der Mathematik, vom Pariser Kongress und notierte: Wie werde ich dieser „Probleme“ in meinem Bericht gedenken? Etwa als Abschluss (des Jahrhunderts)? Zum Beweis, dass die Math.[ematik] nicht todt ist.13 Klein schrieb die Überschriften der Probleme in abgekürzter Version auf, mit eigener Variation und kleineren Randbemerkungen: Spiel zwischen Denken und Erfahrung. Strenge ist Einfachheit. Jeweils klare Axiomatisierung! 1. Mächtigkeit des Kontinuums14 2. Widersprüchlichkeit der Arithmetik. Nur postuliert. Math.[ematisch] existiert, was widerspruchslos ist. 3. Volumengleichheit zweier Tetraeder. 4. Gerade als kürzeste Verbindungslinie. Minkowskis Geometrie. 5. Liesche Gruppen ohne Differenzierbarkeit. Ueberhaupt Funktionalgleichungen. 6. Axiome der Physik. Wahrscheinlichkeitsrechnung. Mechanik. 7. Irrationalität etc. bestimmter Zahlen.15 8. Primzahlprobleme. 9. allgemeinste Reziprozitätsgesetze 10. Lösbarkeit Diophantischer Gleichungen 11. Quadrat.[ische] Formen mit alg.[ebraischen] Zahlenkoeffizienten. 12. Kroneckers Satz über Abelsche Körper beliebig ausgedehnt. Das ist, was ich zunächst brauche! Geleistet für Wurzelfunktionen. F.[unktionen]Th.[eoretische] Analogieen. Das hat nun keiner von den zahlreichen Schülern begriffen. Vergl. Fueter […].16 13. Gleichungen 7. Grades nicht nomografisch zu lösen. 14. Endlichkeit von Formensystemen. 15. Schubert’s Abzählungskalkul. 16. Topologie von Kurven u. Flächen. 17. Definite Formen u. Quadrate. 18. Aufbau des Raumes aus Fundamentalbereichen. [p. 286 Analytische Funktionen, nicht andere Funktionsklassen].17 12 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 22 A: Bl. 74a (Notizen Kleins von 1915, o.D.). Russell, B.; Whitehead, A. N. (1910-13): Principia Mathematica, 3 vol. Cambridge: The University Press. 13 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 22A: Bl. 83, 83v (Notizen Kleins v. 4.2.1916). 14 Bei den Problemen 1 bis 6 setzte Klein die Klammer: „Grundlagen“. 15 Hier setzte Klein die Bemerkung „Ausbau“ darüber. 16 Rudolf Fueter befasste sich damit in seiner Dissertation „Der Klassenkörper der quadratischen Körper und die komplexe Multiplikation“ (1903, bei Hilbert) und weiteren Arbeiten. 17 Kleins Seitenzahl (p. 286) bezog sich auf die Publikation in den Göttinger Nachrichten (HILBERT 1900). Bei Problem 18 hatte Hilbert u.a. FRICKE/KLEIN 1897 hervorgehoben.

488

10 Schlussbetrachtungen 19. 20. 21. 22. 23.

Analytische Natur regulärer Variationsprobleme. Allgemeines Randwertproblem. Lineare Differentialgleichungen mit vorgeschriebener Monodromiegruppe. Uniformisierung analytischer Beziehungen. Weiterführung der Variationsrechnung. (Hier einzige Einzelausführungen). Die Mathematik eine Einheit!18

Für den dritten forschungsleitenden Aspekt, Kleins politische Haltung, passt ebenfalls das von Mitchell Ash inaugurierte Ressourcen-Konzept, wie in Abschnitt 1.2 angedeutet. Für Mathematik und deren Anwendungen nutzte Klein sowohl Mittel von (u.a. am Krieg verdienenden) Industriellen als auch von verschiedenen staatlichen Instanzen. Als Parteiloser passte er sich jeweils zweckmäßig an die Situation, Lage, politischen Verhältnisse an. Wenn er sich an Entscheidungsträger jeder politischen Couleur wandte (im Kaiserreich, in der Weimarer Republik), so handelte er pragmatisch im Interesse seiner Fächer. So wie Kleins Bruder Alfred den Eltern eine rationalistische Denkweise in religiösen Fragen bescheinigt hatte (vgl. 2.1.2), so können wir bei Felix Klein ein rationales Herangehen an die jeweiligen Vertreter im Kultusministerium erkennen. Das erklärt auch sein Verhalten im Ersten Weltkrieg (vgl. Abschnitt 9.1). Kleins Hinwenden zu staatlicher Politik hatte jedoch Grenzen. Im Jahre 1908 erklärte er sich entschieden gegen den aufkommenden nationalen Chauvinismus, in einem Dokument, welches an das Preußische Kultusministerium ging (vgl. 8.4). Er lehnte auch nach dem Ersten Weltkrieg Nationalismus ab, wie wir seine Aussage aus der kleinen Autobiographie von 1923 deuten können: Die wenigen Ausländer, die damals in Göttingen mit uns arbeiteten, wirkten überhaupt wie ein anregendes Ferment; von den nationalistischen Gegensätzen, die sich heute in der Öffentlichkeit geltend machen, war damals noch nichts zu spüren.19

Mit Schülern/Kollegen aus Übersee, Italien, Russland u.a. trug Klein bei, das Band nach dem Kriege wieder zu festigen. Dazu nutzte er Briefkontakte und initiierte die Wahl zu Korrespondenten der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften, so u.a. 1922 W. F. Osgood und David George Birkhoff; 1923 Guido Castelnuovo, 1924 Luigi Bianchi (vgl. 4.2.4.2; 9.3.1; Anhang Nr. 13).20 Für Klein war Maßstab, was der Mathematik, ihren Anwendungen, dem Mathematikunterricht dient. Wenn Klein die Position von Mathematik in Gefahr sah, führte er alle denkmöglichen Argumente (historische wie militärische) ins Feld. Er bündelte und mobilisierte Kräfte, um ein Zurückdrängen mathematischnaturwissenschaftlichen Unterrichts zu verhindern, dies noch 1924, ein Jahr vor seinem Tode (vgl. 8.3.4, 9.3.2). D.h., er passte sich nicht um jeden Preis an.

18 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 22 A: Bl. 83, 83v (Aufzeichnungen Kleins, Anfang 1916). 19 KLEIN 1923a, 15. 20 Birkhoffs Wahl managte Klein auf Vorschlag von Osgood [UBG] Cod. Ms. F. Klein 11: 152153 (Osgood an Klein, 31.12.1921; 5.2 und 17.6.1922); Wahlvorschläge mit Kleins Handschrift [AdW Göttingen] Pers. 20: 1088 (Castelnuovo), Pers. 20: 1105 (Bianchi).

10.2 Ein Vorreiter

489

10.2 EIN VORREITER Als im Jahre 1913 geurteilt wurde, Klein sei einer der wenigen Mathematiker, die jetzt noch imstande sind, das ganze der Mathematik zu übersehen (vgl. Anhang Nr. 11), so waren unter den Urteilenden nicht nur die ihm wohl gesonnenen Friedrich Schottky und Max Planck, sondern auch Hermann Amandus Schwarz und Georg Frobenius, mit denen Klein zuvor manchen Streit hatte austragen müssen (vgl. 5.8.2; 6.2.1; 6.2.2; 7.4; Anhang Nr. 4). Aus heutiger Sicht können wir wohl Klein, Hilbert und Poincaré als die letzten Generalisten unter den Mathematikern bezeichnen. Klein hatte die neue Generation auf den Weg bringen helfen, die in Deutschland vor allem mit Hilbert Bahn brach. Vor dem damit verbundenen Umbruch in eine moderne, begrifflich axiomatische Richtung der Mathematik hatte Klein Dinge in die Wege geleitet, die ihn in vielerlei Hinsicht als einen Vorreiter für die Mathematik und deren Betrieb erscheinen lassen. Kleins offener Blick auf neue mathematische Ansätze führte nahezu zwangsläufig dazu, dass er viele Dinge als Erster aufnahm, angriff, umsetzte. Manches davon halten wir heute für selbstverständlich. Oftmals ist der Ursprung vergessen. Zu den einzelnen mathematischen Begriffen, die Kleins Namen tragen, sei auf die Einführung 1.1 verwiesen. Meist tragen die Begriffe zurecht seinen Namen. Nur als Poincaré begann, des groupes Kleinéens et des fonctions Kleinéennes zu benennen, legte Klein sein Veto ein (vgl. 5.5.5.5). Darüber hinaus sei eine nette Kleinigkeit angemerkt: auf Klein geht der Begriff isomorph zurück, wie einem Brief von Lie an Klein zu entnehmen ist (vgl. Abschnitt 5.5.6). Klein erhielt deutschlandweit als Erster eine Universitätsprofessur, die nur der Geometrie gewidmet war: 1880 an der Universität Leipzig.21 Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er, ausgehend von Clebsch, bereits maßgeblich begonnen, Riemanns geometrisches Programm ins Zentrum zu rücken. Hilbert hatte Klein 1909 zugerufen: Riemann war der Name, der auf Ihrer Fahne stand und unter diesem Zeichen haben Sie auf der ganzen Linie gesiegt – gesiegt über die Gegner wegen der Richtigkeit Ihrer Ideen (vgl. Anhang Nr. 8), oder wie es Courant ausdrückte: Klein war der leidenschaftlichste und erfolgreichste Apostel des Riemannschen Geistes.22 Klein verhalf dem von Riemann ausgehenden geometrisch-physikalischen Denkstil zum Durchbruch (vgl. Koenigsbergers Aussage in Abschnitt 1.2). Zuvor hatte Klein mit einem (anschaulichen) Gruppenbegriff (vgl. 2.6.1; 2.8.2) ein Werkzeug zum Ordnen gefunden. Er systematisierte mit dem Gruppenbegriff nicht nur geometrische Richtungen, sondern klassifizierte und verwob damit weitere mathematische Gebiete (vgl. 4.2) sowie Mechanik und Relativitätstheorie (vgl. 9.2.2). Kleins Erlanger Programm (vgl. 3.1.1), in dem geometrische Richtungen als Invariantentheorie gegenüber einer vorgegebenen Gruppe

21 An Technischen Hochschulen bestanden bereits zuvor Professuren für Darstellende Geometrie, orientiert an der École polytechnique in Paris. 22 COURANT 1926, 202.

490

10 Schlussbetrachtungen

von geometrischen Transformationen aufgefasst werden, verglich Courant mit der ordnenden Kraft des Periodensystems der chemischen Elemente.23 Kleins Arbeitsweise, möglichst alle neuen Theorien zu erfassen und Passendes in sein Methodenarsenal zu integrieren, ließ ihn nicht bei einem fixierten Denkstil verharren. Er versuchte, sich die Ergebnisse anderer Denkstile anzueignen, wozu auch das Herangehen in Berlin gehörte. Die Quellen dokumentieren, dass Klein die Ergebnisse der Berliner zunehmend schätzte und nutzte, während umgekehrt lange Zeit Herabschätzung dominierte (vgl. hierzu 5.5.2; 6.5.1.1). Klein war der erste deutsche Mathematiker, der 1883 einen Ruf in die USA erhielt. Wenn er ihn auch nicht annahm, so fuhr er schließlich doch 1893 nach Übersee und verbreitete dort in Deutschland/Europa entwickelte mathematische Ergebnisse. Dazu gehörten Ergebnisse seiner eigenen Denkrichtung und auch Resultate von Sophus Lie, David Hilbert, Hermann Minkowski, Alfred Pringsheim, Heinrich Weber, u.a. (vgl. 7.5). Aufgrund seines Blickes über Schulengrenzen und über das deutsche Territorium hinaus griff Klein nicht nur neue mathematische Ideen auf, sondern ebenso neue Anwendungsfelder, Lehrgebiete und Institutionsformen, Modelle und Instrumente, Formen der Wissenschaftsorganisation und Forschungsförderung. Wir können urteilen, dass Klein für das Sichern der Position der Mathematik im 19. Jahrhundert Dinge voraussah, die im 20. Jahrhundert wichtig werden sollten.24 Kleins Vorreiterfunktion beim Aufstellen von Forschungsprogrammen für Anwendungen der Mathematik war bisher weitgehend unbekannt. Sein bereits 1881 anvisiertes derartiges Programm konnte einem Brief an Hurwitz entnommen werden (vgl. 5.5; auch 6.4.2). Nach Abschweifen davon, um im (bereits abgelegten) Gebiet der Uniformisierungstheorie noch Höchstleistungen zu erreichen, absolvierte Klein eine intensive Vorarbeit im breiten Feld der Anwendungen. Er erkannte hierbei offene mathematische Probleme und formulierte Programme (vgl. 8.2.4). Das betraf vor allem die Gebiete Strömungsforschung (wozu er Probleme benannte, bevor er Ludwig Prandtl nach Göttingen holte); Baustatik (wozu er noch Dissertationen u.a. anregte); allgemeine Relativitätstheorie (wozu er mit Emmy Noether kooperierte und von Einstein geschätzt wurde, vgl. 9.2.2). Kleins Vertrauen in die mathematischen Grundlagen naturwissenschaftlicher Gebiete ließ ihn weitsichtig neue Theorien erahnen bzw. unterstützen, wozu die Kristallographie (vgl. 6.3.7.2) und die kinetische Gastheorie (vgl. 7.4) zählten. Mit seinem Plädoyer für eine präzise Approximationsmathematik (vgl. hierzu 8.3.2) bereitete Klein den Weg, der letztlich zur modernen Techno- und Wirtschaftsmathematik25 führen sollte. Zu den neuen Lehrgebieten, die Klein an die Universität brachte, gehörte die aus der Ingenieurausbildung entnommene Darstellende Geometrie (1874 in Erlangen26; 1881 in Leipzig, vgl. 5.3.1; 1888 in Göttingen, vgl. 6.2.3). Daneben sei 23 24 25 26

COURANT 1926, 200. – Vgl. auch JI/PAPADOPOULOS 2015; RATAJ/ZÄHLE 2019. Vgl. hierzu auch DASTON 2017. Vgl. NEUNZERT/PRÄTZEL-WOLTERS 2015; FRAUNHOFER ITWM 2018. Vgl. dazu auch Klein an Lietzmann, 24.6.1910 [UBG] Cod. Ms. W. Lietzmann I: 43.

10.2 Ein Vorreiter

491

erwähnt, dass er an der TH München als Professor für analytische Geometrie, Differential- und Integralrechnung und analytische Mechanik auch das System der mathematischen Lehre für Ingenieure nachhaltig revolutionierte (vgl. 4.1.2). Um für Mathematik-Studierende an der Universität neue Berufswege zu eröffnen, initiierte Klein einen Ausbildungsgang Versicherungswissenschaft (mit Versicherungsmathematik), dies 1895 erstmals an einer deutschen Universität (vgl. 7.7). Drei Jahre später erarbeitete er den Inhalt für eine spezielle Facultas (Lehrbefähigung) für angewandte Mathematik im Rahmen der Prüfungsordnung für Lehramtskandidaten in Preußen. Dies floss auch in die Ordnungen weiterer deutscher Bundesstaaten. Die mit der Facultas verankerten Anwendungsfelder wurden in den nachfolgenden Jahren stetig erweitert (vgl. Tab. 10 in Abschnitt 8.1.2). Damit ging der Aufbau entsprechender Professuren und Institute einher. Dank Kleins Initiative entstand deutschlandweit die erste ordentliche Professur für „angewandte Mathematik“ (1904) mit der Entfaltung von numerischen, graphischen und instrumentellen Methoden (Carl Runge). Es wuchsen Institute und Professuren für mathematische Statistik, technische Physik (angewandte Mechanik), angewandte Elektrizitätslehre (Elektrotechnik), Geophysik u.a. an den Universitäten in Göttingen und z.T. in Jena27. Darunter waren Gebiete, die sonst nur für die Ingenieurausbildung an Technischen Hochschulen existierten. Aerodynamik wurde durch Kleins Eingreifen 1909 universitäres Lehrfach in Göttingen. Dies geschah im selben Jahre in Paris, wo der ehemals bei Klein studierende Paul Painlevé das Gebiet in eben dieser Form etablierte (vgl. 6.2.3; 8.1.3).28 Die genannten Gebiete konnten nur verankert werden, weil Klein einen neuen Weg der Forschungsfinanzierung gefunden hatte. Was er in den USA bei Privatuniversitäten gesehen hatte, übertrug Klein auf die staatliche Universität Göttingen. Dabei war ihm auch die Carl-Zeiss-Stiftung in Jena Vorbild. Klein initiierte eine Gesellschaft, die Göttinger Wissenschaftler mit zahlungskräftigen, wissenschaftlich interessierten Industriellen aus ganz Deutschland verband: Die Göttinger Vereinigung zur Förderung der angewandten Physik (1898), die zwei Jahre später auf angewandte Mathematik erweitert wurde. Wir können urteilen, dass Klein damit den Weg ebnete, um heute sogenannte Drittmittel aus der deutschen Industrie für universitäre Forschung zu erlangen. (Vgl. 8.1.1; 8.1.3) Als zu Beginn der Weimarer Republik erneut die Art der Forschungsfinanzierung überdacht werden musste, entstand im Jahre 1920 die Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft, seit 1929 Deutsche Forschungsgemeinschaft. Es kennzeichnet Kleins Position, dass er 1920 zum ersten Vorsitzenden des Fachausschusses für Mathematik, Astronomie und Geodäsie bestimmt wurde (vgl. 9.4.1). Kleins Wirken für den Unterricht vom Kindergarten bis zum Hochschulunterricht (8.3) schloss zahlreiche einzelne auf ihn zurückgehende Neuerungen ein. Für den tertiären Bereich (Hochschule, Universität) sind sowohl weitere neue Lehrgebiete für das Lehramtstudium (über die Facultas für angewandte Mathe27 Zu Kleins Plädoyer für Jena vgl. 8.1 und 9.3.1. 28 In der herausragenden Biographie über Ludwig Prandtl (ECKERT 2017) finden wir noch nichts über diese Entwicklungen in Frankreich.

492

10 Schlussbetrachtungen

matik hinaus) als auch neue Lehrformen zu benennen. So richtete Klein 1892 erstmals mathematische Fortbildungskurse (Ferienkurse) für bereits in der Praxis stehende Gymnasiallehrer ein (vgl. 7.3). Diese wurden im zweijährigen Rhythmus veranstaltet. Darüber hinaus ist es ihm ebenfalls zu danken, dass der erste derartige Fortbildungskurs für Oberlehrerinnen durchgeführt wurde, im Jahre 1909 in Göttingen (vgl. 8.3.4.2). Dies beruhte auf der Mädchenschulreform (preußischer Erlass vom 18.8.1908), die Klein maßgeblich in Gang gebracht hatte. Damit war erstmals wissenschaftlicher Unterricht in Mathematik und Naturwissenschaften in die Lehrpläne der öffentlichen höheren Mädchenschulen gelangt. Wir wussten seit längerer Zeit, dass das erstmalige Erteilen einer venia legendi für Didaktik der mathematischen Wissenschaften (1912) auf Kleins Engagement beruhte (vgl. 8.3.4.2). Bereits zuvor hatte Klein veranlasst, dass das erste Lehrbuch zur Didaktik der Mathematik bei B.G. Teubner im Jahre 1910 publiziert wurde, wie er überhaupt das dortige Verlagsprogramm in Mathematik und ihren Anwendungen, einschließlich Unterricht, lange Zeit maßgeblich prägte. Zu Kleins Beraterposition bei Teubner gehörte, dass er um 1900 ein gewisses System in das dort verlegte mathematische Zeitschriften-Programm brachte – wobei er Mathematik, Anwendungen, Geschichte, Lehrerinteressen beachtete; auch die heutigen Mitteilungen der DMV gehen darauf zurück (vgl. Abschnitt 5.6 mit Abb. 25). Unbekannt war bisher, dass Klein seit 1906 darauf zielte und 1908 erreichte, dass die venia legendi für Mathematik, namentlich Geschichte der Mathematik erstmals in Göttingen vergeben wurde. Das erhellte der Blick in die Habilitationsakte des betreffenden Kandidaten (Conrad Heinrich Müller), dessen Habilitationsleistung eng mit dem Teubner-Programm verknüpft war (vgl. 8.3.1).29 Höchst überraschend ergaben die Akten auch, dass es Klein bereits als sinnvoll erachtete, spezifische mathematische Lehrveranstaltungen für Lehramtstudierende bzw. angehende Forscher/innen durchzuführen (vgl. 9.3.2). Zudem schlug er am Beginn der Weimarer Republik vor, Professuren für Didaktik aller exakten Fächer, für allgemeine Pädagogik und für Hochschulpädagogik zu etablieren. Schon zuvor hatte er mit Blick auf internationale Kontakte dezidiert empfohlen, an den Universitäten Lehrstühle für neuere Sprachen einzurichten. Außerdem trat er offensichtlich als einziger Mathematiker der 1913 gegründeten Deutschen Gesellschaft zum Studium Rußlands als Mitglied bei (vgl. 9.3.1). Klein sorgte als einer der ersten Mathematik-Professoren im Interesse der Studierenden für kollegiale Abstimmung im Lehrangebot, erarbeitete Ratschläge für die Studierenden (vgl. 5.7.1; 6.2.3). Er führte mit anderen Lehrenden (Privatdozenten bzw. Professoren) gemeinsame Forschungsseminare durch, wozu er die meisten jüngeren Kollegen (mit wenigen Ausnahmen) gewinnen konnte.30 Das Mathematische Kolloquium als Diskussionsforum über neue Ergebnisse an den mathematischen Instituten/Fachbereichen können wir ebenfalls auf Klein zurück29 Dies erfahren wir nicht aus dem Standardwerk DAUBEN/SCRIBA 2002, 493. 30 Zu den Ausnahmen (Otto Hölder, Hans Lorenz) vgl. 6.2.2; 8.1.2. – Zu Seminaren mit Hilbert und Minkowski u.a. vgl. 5.5.4.4; zu interdisziplinären Seminaren in angewandter Mathematik 8.2.4.

10.2 Ein Vorreiter

493

führen. Er schuf dafür 1892 die Mathematische Gesellschaft in Göttingen; Heinrich Weber setzte das nach diesem Beispiel in Straßburg fort (vgl. 7.2). Als erster Ordinarius der Mathematik an einer deutschen Universität erwarb Klein 1874 eine mechanische Rechenmaschine und weitere mathematische Instrumente. Er erklärte sie in seinen Lehrveranstaltungen und empfahl sie auch für andere universitäre Aufgaben (vgl. 3.2). Klein nutzte als erster Mathematiker in Deutschland neue Verfahren (Lithographie) zum Vervielfältigen, um mathematische Übungsblätter und auch die Autographien herstellen zu lassen.31 Dabei stützte er sich auf französische und italienische Erfahrungen. Er richtete Sammlungen mathematischer Modelle und Instrumente überall dort ein, wo noch keine existierten, wenn er als Professor berufen wurde: Universität Erlangen, TH München, Universität Leipzig. Darüber hinaus ließ er erstmals in Leipzig (und nachfolgend in Göttingen) spezielle Arbeitsräume für Mathematik-Studierende ausstatten: ein mathematisches Lesezimmer mit Präsenzbibliothek. (Vgl. 5.2; 5.8.2) Weniger bekannt ist, dass sich auch Emil Wiechert beim Einrichten einer Präsenzbibliothek für das Geophysikalische Institut in Göttingen daran orientierte.32 Klein war in Deutschland der erste Mathematik-Professor, der einen bezahlten Assistenten für sich erkämpfen konnte (vgl. 4.1; 5.2; 6.5.2; 7.1). Als Hauptargument für die jeweiligen Anträge diente der Aufbau und die Betreuung einer Modell-Sammlung, auch wenn weitere Aufgaben hinzutraten. Klein blieb lange Zeit der einzige Mathematik-Professor mit diesem Privileg. So erhielten z.B. Hilbert und Minkowski erst ab 1904 einen gemeinsamen, aus dem Staatshaushalt bezahlten Assistenten für Vorlesungsausarbeitungen (vgl. 7.1). Zu Kleins neuen, die Unterrichtsreform im tertiären Bereich betreffenden Aktionen gehörte nicht zuletzt sein Engagement für das mathematische Frauenstudium. Mit ihm begann dieses Studium in Preußen. Obgleich Frauen die offizielle Immatrikulation an preußischen Universitäten erst mit dem erwähnten Erlass vom 18. August 1908 gewährt werden sollte, setzte Klein in Göttingen durch, dass ab Wintersemester 1893/94 die ersten Frauen (mit dem Hörerinnen-Status33) studieren durften. Zwei von ihnen führte er zur Promotion. Er schuf ein Klima, das zahlreiche weitere Hörerinnen aus dem In- und Ausland anzog (vgl. 7.6). Für die Reform im sekundären Bereich bürgerte sich der Begriff Kleinsche Unterrichtsreform bereits zu seiner Lebenszeit ein. Es sei noch einmal hervorgehoben, dass er selbst die Wurzeln nicht in seiner Person sah (vgl. 8.3.4). Wir können ihn als einen Motor im Prozess beschreiben, der national wie international Personen zusammenführte und Gremien managte, um als richtig erkannte Reformideen umzusetzen. Klein gehörte 1899, neben dem Heidelberger Mathematikhistoriker Moritz Cantor, als einziger deutscher Mathematiker zum ersten Comité de Patronage der ersten internationalen Zeitschrift für Mathematikunterricht L’Enseignement Mathématique (vgl. Abb. 33). Auf der preußischen Schulkonferenz vom Juni 1900 plädierte Klein als erster Mathematiker dafür, die mathemati31 Vgl. dazu Abschnitt 4.1.2. und auch WEIß 1989; 2017. 32 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 12: 320 (Wiechert an Klein, 29.12.1897). 33 Jeder Lehrende musste einzeln um Teilnahme-Erlaubnis ersucht werden.

494

10 Schlussbetrachtungen

sche Allgemeinbildung offiziell in den Lehrplänen der höheren Schulen zu erweitern (um die Anfänge der Differential- und Integralrechnung). Orientiert am französischen Beispiel wünschte er die durchgängige Verwendung des Funktionsbegriffs im Mathematiklehrgang. Im Jahre 1908 zog Klein als erster Mathematiker in die Erste Kammer (Herrenhaus) des preußischen Landtags ein und übernahm kurz darauf den Vorsitz der in Rom gegründeten IMUK. (Vgl. 8.3.4) Im Herrenhaus und darüber hinaus setzte sich Klein – als erster Universitätsprofessor – aktiv für verbesserten mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht an den Mädchenschulen wie auch im primären Schulbereich, einschließlich Kindergarten, ein. Auch hier folgte er dem ausländischen Beispiel (insbesondere der Perry-Bewegung in Großbritannien). Die Quellen offenbarten Kleins Erkenntnis, dass sich in Deutschland breite Kreise erst dann für besseren Unterricht an Volks- und Fortbildungsschulen (Berufsschulen) gewinnen ließen, nachdem die Sozialdemokratie dergleichen eingefordert hatte (vgl. 8.3.4.2). Klein gehörte zu den damals wenigen Mathematikern, die sich bewusst dafür engagierten, dass Philosophie rational, basierend auf mathematisch-naturwissenschaftlichen Erkenntnissen begründet wird. Bereits als junger Privatdozent hatte er sich aufgrund seiner Arbeiten zur nichteuklidischen Geometrie mit Philosophen auseinanderzusetzen, die über dreidimensionale Geometrie nicht hinauszudenken vermochten (vgl. 2.8.3.3). Klein konnte den Philosophen Carl Stumpf überzeugen und war später maßgeblich beteiligt, mathematisch gebildete Philosophen wie Edmund Husserl und Leonard Nelson in Positionen zu bringen. Klein unterzeichnete 1913, begleitet von Hilbert, den Gründungsaufruf für eine Gesellschaft für positivistische Philosophie, um entsprechend orientierte Philosophie zu fördern (vgl. 8.3.2). Eine philosophische Grundhaltung, die Transzendentales ablehnt und Erkenntnisse ausschließlich auf „positive“, sinnlich wahrnehmbare und überprüfbare Befunde stützt, war Klein durch Darwins Evolutionstheorie und dessen deutschen Propagandisten Ernst Haeckel früh nahegebracht worden (vgl. 2.3.2; 4.3.3). Abschließend bleibt, Kleins letztlich generell aufgeschlossene Haltung gegenüber Neuem zu unterstreichen. Wenn wir begreifen wollen, warum er erfolgreich war und viele jüngere Mathematiker und weitere Personen in seinen Bann ziehen konnte, so scheint es seine allgemeine Grundhaltung gewesen zu sein, nicht stur an Gewonnenem festzuhalten, nicht in Altersstarrsinn zu verfallen, sondern sich seines jugendlichen Herangehens zu erinnern. So hatte Klein zwar Kroneckers Methoden studiert, aber dessen einseitiges Agieren kritisiert (vgl. 5.4.2.4; 6.5.1.1), das sich letztlich nicht durchsetzen konnte. Und so rief Klein denn Weierstraß – der unter Kroneckers Polemik stark gelitten hatte – im Nachhinein zu: […] er hätte es nicht so schwer nehmen sollen; es ist doch nun einmal so, dass alles Irdische dem ewigen Gesetz der Bewegung unterworfen ist. Der Überlebende muß sich mit seinem Schicksal abfinden, daß andere Gedanken bei den Jüngeren in den Vordergrund treten. Keiner von uns kann es hindern wollen, daß die Welt sich über uns hinaus fortbewegt. Wir können es nicht einmal wünschen, haben wir doch, als wir jung waren, die damals herrschenden Meinungen in entsprechender Weise zur Seite geschoben.34 34 KLEIN 1926 Vorlesungen I, 285.

ANHANG: AUSWAHL VON DOKUMENTEN Nr. 1) Brief Felix Kleins an den Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten, Herrn Heinrich von Muehler.1 Duesseldorf, 19.12.1870 Ew. Excellenz, hatte ich mir erlaubt in einem Gesuche vom 7ten Maerz dieses Jahres um diplomatische Empfehlungen nach Frankreich und England zu bitten, behufs einer von mir zu unternehmenden wissenschaftlichen Reise, gleichzeitig hatte ich mich erboten, bei meiner ev. Rückkehr Referate über die dortigen mathematischen Verhältnisse einzureichen. Auf dieses Gesuch hatte ich das Glück unter U 7737, den 26ten Maerz, von Ew. Excellenz die Antwort zu erhalten, daß mir die betreffenden diplomatischen Empfehlungen bewilligt seien, und Ew. Excellenz die Mittheilungen über französische und englische Mathematik seiner Zeit gern entgegen nehmen würden. Leider hat, unter den obwaltenden Zeitverhältnissen meine Reise nicht in der Art ausgeführt werden können, wie ich das beabsichtigte. Mein Aufenthalt in Paris – wohin ich mich mit dem 19ten April begeben hatte – wurde durch die Kriegserklärung vom 16ten Juli plötzlich unterbrochen. Ich eilte nach Hause (Duesseldorf) und trat, da ich von der betreffenden Behörde als augenblicklich zum Militärdienste nicht brauchbar gefunden wurde, einem inzwischen in Bonn gegründeten Verein zur freiwilligen Krankenpflege bei. Als Mitglied dieses Vereins habe ich die Zeit vom 16ten August bis zum 2ten October, wo ich wegen Unwohlsein’s nach Hause zurückkehren mußte, auf dem Kriegsschauplatze zugebracht. Seit kurzem ziemlich wieder hergestellt, mochte ich wegen des Zeitverlustes, den ich gehabt, nicht noch die in Wegfall gekommene Reise nach England durchführen; vielmehr habe ich mich bereits zur Habilitation als Privatdocent der Mathematik in Goettingen gemeldet und denke mit Neujahr dorthin überzusiedeln. Ist es mir hiernach nicht möglich, in der Art, wie das meine Absicht war, Referate über die französischen und englischen mathematischen Verhältnisse zu geben, so möchte ich wenigstens zum Zeichen, daß ich während meines Pariser Aufenthaltes in der angegebenen Richtung gearbeitet habe, diesem Schreiben einen kurzen Bericht über französische mathematische Zustände in Abschrift beigeben, der, von mir redigirt, durch mich und einen meiner Studienfreunde, Dr. Lie aus Christiania, mit dem zusammen ich in Paris lebte, an den akademischen mathematischen Verein der Universität Berlin am 7ten Juli abgesandt wurde. Gleichzeitig erlaube ich mir eine Arbeit „Sur une certaine famille de courbes et de surfaces“ beizulegen, die mir mit meinem Freunde Lie gemeinsam ist, und 1

[Stabi] Sammlung Darmstaedter. – Vgl. dazu Abschnitt 2.6 im Buch.

495 © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Tobies, Felix Klein, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58749-2

496

Anhang: Auswahl von Dokumenten

die wir in zwei Abtheilungen, am 6ten und 13ten Juni, der Académie des Sciences einreichten, in deren Comptes Rendus von dem genannten Datum sie Aufnahme fand. Indem wir diesen Weg der Veröffentlichung wählten, durften wir hoffen, eine nähere Einsicht in die dortigen Verhältnisse und eine persönliche Bekanntschaft mit einer größeren Zahl dortiger Mathematiker zu erreichen, was uns dann auch geglückt ist. Schließlich sei mir noch gestattet, beizufügen, daß wir eine aus derselben Zeit stammende ebenfalls gemeinsame Arbeit „Ueber die Haupttangenten-Curven der Kummer’schen Fläche vierten Grades mit 16 Knotenpunkten“, deren Resultate wir kürzlich Herrn Professor Kummer privatim mitgetheilt hatten, auf dessen Wunsch der Akademie der Wissenschaften in Berlin eingereicht haben, in deren Monatsberichten sie unter dem Datum des 15ten December erscheinen wird. – Indem ich Ew. Excellenz meinen tiefsten Dank für die freundliche Aufnahme meines anfänglichen Gesuches ausspreche und um ferneres geneigtes Wohlwollen bitte verharre ich Ew. Excellenz hochachtungsvoll ergebenster Dr. Felix Klein. Nr. 2) Antrag Felix Kleins an den akademischen Senat der Universität Erlangen, betr. Bewilligung einer Summe zur Ausstattung der mathematischen Abtheilung der Universitäts-Bibliothek, 15.11.18722 Königlicher akademischer Senat! Für die Zwecke eines Mathematiker’s genügt zwar eine kleine Bibliothek, aber diese muß auch durchaus zu seiner Verfügung sein, da er im wissenschaftlichen Interesse wie im Interesse des Unterrichts fortwährend auf sie zu verweisen hat. Die mathematische Abtheilung der hiesigen Universitäts-Bibliothek befindet sich aber zur Zeit leider durchaus nicht in einem Zustande, der den bescheidensten Anforderungen genügt. Es sei mir gestattet, dem Königlichen Senate zunächst mit kurzen Worten die wesentlichen Lücken darzulegen. Die sogenannte mathematische Abtheilung der Universitäts-Bibliothek umfaßt etwa 1200 Bände. Allein der größere Theil der in ihr enthaltenen Bücher ist für jetzige Universitätszwecke völlig werthlos, da sie sich auf Ingenieurkunde, Architektur u.s.w. beziehen. Die kleinere Hälfte der eigentlich mathematischen und sonach in Betracht kommenden Werke ist nun nicht etwa nach einem einheitlichen Principe gesammelt, sondern der Zufall hat bei der Anschaffung ein wechselndes Spiel getrieben, so daß neben manchem Anerkennenswerthen fast unbegreifliche Lücken vorhanden sind. Von Werken älterer Autoren finden sich z.B. die Schriften von Galilei und Newton in genügendster Ausführlichkeit; aber von Kepler’s Werken sind nur die drei letzten Bände der neuen Gesamtausgabe da, von Huygens, von Euler und Lagrange fehlen die wichtigsten Dinge. Unter den mathematischen Zeitschriften sind die deutschen, soweit sie in Betracht kommen, alle vorhanden. Aber die ausländischen fehlen gänzlich. Es ist das 2

[UA Erlangen] Ph. Th. I Pos. 20 V Nr. 8. – Vgl. hierzu auch Abschnitt 3.3 im Buch.

Anhang: Auswahl von Dokumenten

497

um so mehr zu bedauern, als Mathematik durchaus eine internationale Wissenschaft ist, und der eigene Fortschritt des producirenden Mathematiker’s ohne allseitige Fühlung mit den gleichzeitigen Betrachtungen Anderer wesentlich gehemmt ist. Bei der Belastung, welche die laufenden Ausgaben der Bibliothek durch Beschaffung einer neuen Zeitschrift erfahren, glaube ich allerdings mich in meinen bez. Wünschen beschränken zu sollen, und bringe nur ein französisches Journal, welches fortlaufende Referate über die neuen Publikationen enthält, das Bulletin des Sciences Mathématiques et Astronomiques von Darboux, in Vorschlag. In früheren Zeiten sind auch von astronomischen Zeitschriften eine Reihe gehalten worden. Mit alleiniger Ausnahme der Annalen der Sternwarte zu München, brechen dieselben sämmtlich zu verschiedenen Zeiten ab, ohne daß eine innerer Grund dazu ersichtlich wäre. So ist namentlich das Berliner Jahrbuch von seinem Anfange in 1776 bis 1861 vorhanden; ich beantrage, daß es von da an nachgeschafft und fortan weiter geführt wird. Was neuere selbständige Publicationen betrifft, so ist unter den mathematischen Disciplinen Geometrie verhältnismäßig am besten vertreten, wie denn Geometrie in Erlangen immer mit Vorliebe cultivirt wurde. Aber es fehlt doch sehr bis zur Vollständigkeit, die ich mich bemühen würde, im Laufe der Zeit zu erzielen; besonders fehlen neuere Handbücher, die zur Einleitung in das specielle geometrische Studium geeignet scheinen. Andere Partieen der Mathematik sind zum Theil fast ohne Vertretung, und nicht die unwichtigsten. Ueber Mechanik ist z.B. außer Poisson’s allerdings vortrefflichem Buche Nichts vorhanden; ebenso fehlen die wichtigsten neuen Werke über Differential- und Integral-Rechnung; von mathematischer Physik findet sich Nichts, soweit nicht von physikalischer Seite her etwas Abhülfe gebracht worden ist. In diesen Disciplinen gilt es, durch Ausfüllung der empfindlichen Lücken einen gleichförmigen Zustand zu schaffen, so daß wenigstens das Allernothwendigste, ohne welches ein ersprießlicher Unterricht überhaupt nicht denkbar ist, vorhanden ist. Ich erlaube mir daher, auf Grund eines beigefügten Kostenanschlag’s, dessen einzelne Positionen ihre Begründung in den voraufgehenden Ausführungen finden, den Königlichen akademischen Senat zu bitten, die Bewilligung einer Summe von 350 Gulden zur Completirung der mathematischen Abtheilung der Universitätsbibliothek aus den Erübrigungen der Universität an höchster Stelle zu beantragen. Verehrungsvollst Eines Königlichen akademischen Senates ergebenster Felix Klein o.ö. Professor der Mathematik3 3

Dekan Eugen Lommel (vgl. z.B. Lommel-Funktion; Lommel-Differentialgleichung) reichte Kleins Antrag mit einem Gutachten weiter. Das Bayerische Ministerium gewährte für das laufende Jahr die beantragte Summe von 350 Gulden. [UA Erlangen] Ph. Th, I. Pos. 20 V. Nr. 8.

498

Anhang: Auswahl von Dokumenten Voranschlag zu einer Completirung der math. Abtheilung der Universitätsbibliothek Aeltere Werke

Kepler’s Euler.

Gesammtausgabe. Bd.1-5 ..................................... 25.Introductio in analysin ............................................ 5.Calculus differentialis ............................................. 7.20 Mechanica ............................................................... 6.Methodus inveniendi lineas curvas ......................... 4.Mécanique analytique ........................................... 15.Horolagium oscillatorium ....................................... 3.-

Lagrange. Huygens. Nachschaffung von Zeitschriften. Darboux. Bulletin. Zwei Baende ........................................... 11.Astronomisches Jahrbuch. Zehn Baende ........................................ 20.Geometrie. Grassmann. Ausdehnungslehre 1, 2 ............................................. 3.15 Pluecker. Analyt. geometr. Entwicklungen ............................. 1.10 Algebraische Curven ................................................ 1.25 Hesse. Vorlesungen. Raum, Ebene ...................................... 4.20 Salmon. Geometrie der Ebene, des Raumes .......................... 9.14 Reye. Geometrie der Lage ................................................. 3.Cremona. Ebene Curven .......................................................... 2.20 Durège. Curven dritter Ordnung ........................................... 2.80 Sturm. Flaechen dritter Ordnung ........................................ 2.20 Lamé. Coordonnées curvilignes ......................................... 2.Mechanik. Jacobi. Vorlesungen ueber Dynamik .................................. 6.Schell. Theorie der Bewegung ............................................ 4.20 Poinsot. Statik ....................................................................... 2.10 Jullien. Mécanique rationelle ............................................... 4.20 Duhamel. Mechanik ................................................................ 2.20 Differential-, Integral-Rechnung. Functionentheorie. Serret. Diff.-Integralrechnung ............................................ 7.Bertrand. Differentialrechnung ............................................. 12.20 Integralrechnung ..................................................... 9.Casorati. Funktionentheorie ................................................... 3.15 Durége. Elliptische Functionen ............................................ 3.Functionentheorie ................................................... 1.18 Koenigsberger. Elliptische Functionen ............................................ 1.10 Heine. Kugelfunctionen ...................................................... 2.Lommel. Bessel’sche Functionen ........................................... 1.Neumann. Bessel’sche Functionen ........................................... -.20 Baltzer. Elemente ................................................................. 3.15 Mathematische Physik. Beer. Optik ....................................................................... 2.Elasticitaet, Capillaritaet ......................................... 1.10 Clebsch. Elasticitaet ............................................................... 2.20 Lamé. Waerme ................................................................... 2.Elasticitaet ............................................................... 2.Summe 205.20 205 Taler, 20 Sgr. = 359 Gld. 55 Krzr.

Klein

Anhang: Auswahl von Dokumenten

499

Nr. 3) Wahlvorschlag für Dr. Felix Klein, o. Professor der Mathematik an der TH München zum außerordentlichen Mitgliede der mathematisch-physikalischen Classe der Kgl. Akademie der Wissenschaften, 7.6.1879.4 Dr. Felix Klein, seit dem Tode unseres ordentlichen Mitgliedes Dr. Otto Hesse, als ordentlicher Professor für Mathematik an der hiesigen technischen Hochschule angestellt, (nachdem er vorher ein paar Jahre den entsprechenden Lehrstuhl an der Universität Erlangen eingenommen hatte), – ein Schüler von Plücker in Bonn und von Clebsch in Goettingen, ist als einer der produktivsten und der geistreichsten Vertreter derjenigen jüngeren mathematischen Schule in Deutschland zu bezeichnen, welche ihre Richtung ganz besonders durch Clebsch erhalten hat, und wie dieser zum Felde ihrer Thätigkeit vornehmlich ein gewisses Grenzgebiet zwischen Geometrie und Algebra erwählt hat. – Das anliegende, für einen noch so jungen Autor ungewöhnlich lange Verzeichnis seiner bisher erschienenen Veröffentlichungen enthält zwar einige Wiederholungen (indem der Verfasser Manches nacheinander an verschiedenen Orten, in der Hauptsache gleich, hat abdrucken lassen) und mehrfache Variationen desselben Themas, etwa zuerst vorläufig angekündigt, dann ausführlicher vorgetragen und später noch mit weiteren Ausführungen versehen, – und einige der bedeutenderen Arbeiten haben ihre Entstehung den Impulsen verdankt, die durch vorausgegangene Publikationen Anderer gegeben waren (z.B. von Schwarz in Göttingen in Bezug auf den Zusammenhang der sogenannten hypergeometrischen Reihe mit der Ikosaeder-Gleichung und mit einer neuen Art der Auflösung der Gleichungen fünften Grades überhaupt), aber auch so bleibt genug übrig, um die mathematische Gewandtheit, die Erfindungsgabe und den Scharfsinn des Verfassers in sehr günstigem Lichte zu zeigen, seinen Arbeiten dauernde Anerkennung zu sichern und weitere Erwartungen auch für die Zukunft zu begründen. Auch als einer der Herausgeber der „mathematischen Annalen“ des hauptsächlichsten Publikations-Ortes für die Arbeiten der vorhin genannten jüngeren Schule, die in Klein einen ihrer vorzüglichsten Vertreter erblickt, hat sich derselbe verdient gemacht, sowie auch durch die Veranlassung der Veröffentlichung instruktiver Modelle, besonders zu den Plücker’schen Arbeiten. Da durch den Abgang nach Erlangen unseres außerordentlichen Mitgliedes Dr. J. Volhard eine Vakatur eingetreten ist, so glauben wir, daß zu Gunsten keines anderen hiesigen Gelehrten, der der Akademie noch nicht angehört, seinem Fach nach aber unserer Classe näher steht, mit mehr Recht als für Dr. Felix Klein der frei gewordene Platz in Anspruch genommen werden könnte; wir schlagen daher der Classe und eventuell der Gesamt-Akademie vor: Professor Dr. Felix Klein zum außerordentlichen Mitgliede der mathematisch-physikalischen Classe der Kgl. Bayerischen Akademie der Wissenschaften zu wählen. (Der Zustimmung auch unseres abwesenden Collegen Dr. C. von Bauernfeind haben wir uns versichert.) München den 7. Juni 1879 Dr. Ludwig Seidel Dr. Gustav Bauer

4

[AdW München] 18791. – Die Kgl. Bayerische Akademie der Wissenschaften bestand seit 1759. Klein wurde am 25.6.1879 in der Math.-physikal. Classe mit 15 weißen (von 15) und in der allgemeinen Sitzung mit 29 weißen (von 34) gewählt [Protokoll der Wahlsitzungen]. Mit Kleins Wechsel nach Leipzig wurde aus der außerordentlichen eine korrespondierende Mitgliedschaft. – Vgl. zu Kleins Wahl das Urteil von Paul Gordan, Zitat im Abschnitt 4.4.

500

Anhang: Auswahl von Dokumenten

Nr. 4) Bericht der Philosophischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen, betr. Besetzung der durch den Übertritt des Professors Stern in den Ruhestand erledigten Professur der Mathematik, nebst Separatvotis der Professoren Schering und Schwarz, vom Universitätskurator an den Kgl. Staatsminister der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal- Angelegenheiten, Herrn Dr. von Gossler.5 Göttingen, den 28. Januar 1885 Ew. Excellenz beehren wir uns die ehrerbietigste Bitte vorzutragen um die Berufung eines ordentlichen Professors der Mathematik auf den Lehrstuhl, welcher durch den Uebertritt des Professors Stern in den Ruhestand thatsächlich erledigt worden ist. Durch das Ausscheiden dieses Mannes, welcher unserer Universität eine lange und erfolgreiche Thätigkeit gewidmet und durch seine gediegenen Vorlesungen nicht wenig zur Blüte des mathematischen Studiums an derselben beigetragen hat, ist eine sehr empfindliche Lücke in unserem Lehrkörper entstanden, deren baldige Ausfüllung uns dringend nothwendig erscheint. Aus der ruhmvollen Vergangenheit unserer Universität, eine Reihe der bedeutendsten Mathematiker Deutschlands zu den Ihrigen zu zählen, erwächst für uns die Pflicht, die Blüte des mathematischen Studiums an derselben, ihre Bedeutung für den Fortschritt der mathematischen Forschung mit vollem uns zu Gebote stehenden Mitteln zu erhalten und zu fördern. Der große Umfang der mathematischen Disciplinen hat aber eine gleichmäßige Beher[r]schung und Bearbeitung des ganzen Gebietes für einen Einzelnen schon längst unmöglich gemacht und es ist daher das Fach der Mathematik an allen unsern Hochschulen durch mehrere Lehrstühle, an den größeren derselben durch mehrere ordentliche Professuren vertreten. Wenn unsere Universität die Pflanzschule gewesen ist, in welcher eine verhältnismäßig große Zahl der gegenwärtigen Vertreter der Mathematik ihre Ausbildung erhalten hat, so wurde sie zu diesem Erfolge insbesondere auch dadurch befähigt, daß durch größere Zahl der ordentlichen Professuren der Mathematik die Möglichkeit einer vollständigeren Vertretung der verschiedenen Richtungen dieser weitverzweigten Wissenschaft und damit einer vielseitigen Ausbildung ihrer Jünger gewährt wurde. Wir heben mit Bezug hierauf hervor, dass bis zu dem Tode des Hofraths Ulrich hier für das Fach der Mathematik vier ordentliche Professuren bestanden haben, dagegen wirken gegenwärtig nach dem Abgange des Professors Stern nur noch zwei Gelehrte als ordentliche Professoren der Mathematik in unserer Mitte, welche sich in ihrer wissenschaftlichen Arbeit und Lehrthätigkeit vorzugsweise den Gebieten der Theorie der analytischen Funktionen, der Mechanik, Zahlentheorie und der krummen Flächen und Curven doppelter Krümmung zugewandt haben. Für ihre Thätigkeit würde daher nach unserer Ueberzeugung die wirksamste Ergänzung gewonnen werden, wenn an ihre Seite ein Vertreter der geometrisch-algebraischen Richtung berufen würde. 5

Bericht in [UAG] Phil. Fak. 170a, Nr. 41ss-41tt und in Kleins Personalakte [UAG] Kur. 5956, Bl. 1-8. – Vgl. hierzu Abschnitt 5.8.2 im Buch.

Anhang: Auswahl von Dokumenten

501

Als solchen schlagen wir in erster Linie vor den Dr. Felix Klein, ordentlicher Professor der Geometrie in Leipzig, geboren 1849. Derselbe hat seine mathematischen Studien in Bonn begonnen und hat sich nachdem er daselbst promovirt war, zu ihrer Vollendung in Göttingen und Berlin während mehrere Semester aufgehalten. Er habilitirte sich im Jahre 1871 in Göttingen, wurde aber schon im folgenden Jahr als ordentlicher Professor nach Erlangen berufen; 1875 ging er an die technische Hochschule in München, 1880 nach Leipzig. Schon seine ersten Arbeiten, welche sich in den von Plücker und Cayley angebahnten Richtungen geometrischer Forschung bewegten, ließen die hervorragende Begabung des Verfassers erkennen. Sie zeichneten sich ebenso aus durch den Reichthum der geometrischen Anschauung, wie durch die Weite des wissenschaftlichen Blickes und ließen erwarten, daß der Verfasser in der weiteren Entwicklung seiner wissenschaftlichen Laufbahn sich nicht auf das engere Gebiet der rein geometrischen Untersuchungen beschränken, sondern gestützt auf die Hülfsmittel der Geometrie auch anderen Problemen der Mathematik sich zuwenden werde. In der That wurde er durch eine allgemeinere Betrachtung der verschiedenen Methoden geometrischer Forschung zunächst auf die Theorie der Transformationsgruppen geführt. Diese hat den Mittelpunkt seiner weiteren wissenschaftlichen Thätigkeit gebildet, und er hat sich seitdem durch zahlreiche und umfangreiche Untersuchungen, welche Zeugnis ablegen von der Vielseitigkeit seines Geistes, einen allgemein geachteten Namen in der wissenschaftlichen Welt errungen. Klein ist ein ausgezeichneter Lehrer, dessen Persönlichkeit seine Schüler mit aufrichtiger Verehrung erfüllt; er versteht es in hervorragendem Maße seine Zuhörer für die mathematische Forschung zu begeistern und zur Ausführung selbstständiger wissenschaftlicher Untersuchungen anzuregen. Er entfaltet außerdem eine sehr ersprießliche Thätigkeit als Herausgeber der Leipziger mathematischen Annalen und ist nach all den berührten Richtungen hin als eine unermüdliche Arbeitskraft anerkannt. Wir würden es daher mit ganz besonderer Freude begrüßen, wenn es gelänge, den ausgezeichneten Gelehrten für unsere Hochschule zu gewinnen und wir haben sicheren Grund zu den Annahme, daß er selbst aus persönlichen Ursachen wohl geneigt ist, Leipzig mit Göttingen zu vertauschen. Sollte es aber nicht gelingen, Herrn Klein für unsere Hochschule zu gewinnen, so beehren wir uns folgende Herren Euer Excellenz secundo loco et pari passu gehorsamst vorzuschlagen: Dr. Aurel Voss, geboren 1845, gegenwärtig Professor in Dresden, zu Ostern dieses Jahres nach München an die technische Hochschule München berufen und Dr. Alfred Enneper, geboren 1830, außerord. Professor an unserer Universität. Dabei sind wir uns bewußt, daß Professor Enneper der Richtung seiner wissenschaftlichen Thätigkeit nach den im Eingange dieses Berichts hervorgehobenen Gesichtspunkten, weniger entspricht. Allein, wenn es nicht gelingt, den erledigten Lehrstuhl durch einen Geometer von der Bedeutung des Professors F. Klein zu besetzen, so kommen nach unserer Ueberzeugung den früheren Erwägungen gegenüber die treuen Dienste in Betracht, welche Professor Enneper der Wissenschaft und unserer Universität eine lange Reihe von Jahren hindurch geleistet hat. […weiter zu Voss und Ennepers Leistungen, R. To]

502

Anhang: Auswahl von Dokumenten

Sollten sich der Berufung der Herren Klein, Voss oder Enneper unvorhergesehene Hindernisse in den Weg stellen, so bitten wir Ew. Excellenz gehorsamst der Fakultät zu neuen Vorschlägen Gelegenheit geben zu wollen. Die philosophische Facultät. Der Dekan. (gez.) W. Müller Separatvotum von E. Schering, Professor ordinarius für Mathematik betreffend die von der philosophischen Fakultät am 22. Januar beschlossenen und in einem Gesuche bei dem Kgl. Ministerium eingereichten Vorschläge zur Ernennung eines dritten ordentlichen Professors für Mathematik6 Göttingen 1885. Januar 22 Eurer Excellenz erlaubt sich der gehorsamst Unterzeichnete seine Ansicht, so weit sie in wesentlichen Punkten von dem Gesuche der Mehrzahl der Mitglieder der philosophischen Fakultät abweicht, ehrerbietigst zu unterbreiten. Der Inhalt jenes Gesuchs geht von einer zu hohen Wertschätzung der projectivischen Geometrie aus und gelangt dadurch zu einer nach meinem und nach dem Urtheile anderer competenter Fachgenossen unrichtigen Vorstellung von dem Nutzen, welchen die Berufung des Herrn Professor Felix Klein nach Göttingen für unsere Universität hervorbringen könnte. Gegenüber dieser vorgeschlagenen Berufung würde für das Studium und für die Fortbildung derjenigen strengen Methoden, welche von den großen Göttinger Mathematikern Gauß und Dirichlet eingeführt und auch von Riemann mit glänzendem Erfolge angewendet worden sind, ferner für die Ausbildung der an den höheren Schulen anzustellenden Mathematik-Lehrer, bei welchen Sicherheit und Klarheit im Denken die Hauptsache ist, ein erheblich größerer Gewinn durch die Ernennung des hiesigen außerordentlichen Professors Herrn Alfred Enneper oder auch des Herrn Professor Georg Hettner in Berlin zum ordentlichen Professor in Göttingen erwachsen. Diese Beförderung des […] Extraordinarius Enneper würde den Verdiensten seiner nun sechsundzwanzig-jährigen erfolgreichen academischen Lehrthätigkeit und seinen werthvollen literarischen Leistungen die wohlverdiente Anerkennung gewähren und der grösseren Zahl der von Herrn Professor Stern gelehrten Disciplinen einen gute und würdige Vertretung durch den Ordinarius bieten. Außerdem würde hierdurch die Möglichkeit entstehen, in die erledigte außerordentliche Professur eine wissenschaftliche Kraft zu berufen, welche auch noch […] für das Studium der Gymnasial-Lehrer […] eine nothwendige Ergänzung zu den hier gehaltenen Vorlesungen herbeiführen kann. Herr Hettner hat sowohl als Privatdocent in Göttingen wie als außerordentlicher Professor in Berlin eine academische Thätigkeit mit ungewöhnlichem Erfolge und zwar nicht nur äußerlich der Zahl der Zuhörer nach sondern auch nach der Durchbildung der Studirenden im streng richtigen und klaren Denken entwickelt. Literarisch hat er besonders durch seine Untersuchungen der aus hyperelliptischen Integralen zusammengesetzten Determinanten Bedeutendes geleistet. 6

[UAG] Kur. 5956, Bl. 9-10v.

Anhang: Auswahl von Dokumenten

503

Daß derselbe während der letzten Zeit seiner Anstellung bei der Berliner Universität nichts veröffentlicht hat, beruht wesentlich auf dem Umstande, daß die dortigen Verhältnisse ihm bisher eine außerordentlich große […] Lehrthätigkeit auferlegten. Seine genaue Bekanntschaft mit den höchsten Theilen der verschiedenen mathematischen Gebiete verbürgt aber noch sehr werthvolle literarische Leistungen. Die von ihm behandelten Gebiete würden vollkommen die von Herrn Professor Stern vertreten gewesenen Disciplinen decken. (gez.) Schering. Votum des Prof. H. A. Schwarz bezüglich der Berufung eines Nachfolgers des Herrn Prof. Stern7 Göttingen, den 25ten Januar 1885. Ew. Excellenz bitte ich um Erlaubniß, meine in einigen Punkten von der Mehrheit meiner Herren Collegen abweichenden und in Hinsicht auf wesentliche Gesichtspunkte mit dem Gutachten meines nächsten Herren Fachkollegen, Prof. Schering, übereinstimmende Überzeugung bezüglich der bei der Besetzung einer dritten ordentlichen Professur für Mathematik in unserer Facultät in Betracht kommenden Personenfrage gehorsamst darlegen zu dürfen. Ein von seinen Fachgenossen nicht hoch genug anzuerkennendes Verdienst des jetzt in den Ruhestand übergetretenen Herrn Prof. Stern besteht darin, daß derselbe seinem ganzen Universitätsunterrichte nicht allein für die Bedürfnisse der in höhern Semestern befindlichen Studirenden der Mathematik, sondern auch für die Bedürfnisse der Anfänger, solange seine Kräfte es gestatteten, mit unermüdlicher Hingebung und mit nachhaltigem Erfolge Sorge getragen hat. Daß die Studirenden der mathematischen Wissenschaft an unserer Universität in den letzten Jahrzehnten stets Gelegenheit hatten, die, unumgängliche[n] Grundlagen fast aller höheren mathematischen Studien bildenden Disciplinen (Algebra, Differential- und Integralrechnung, sowie elementare Mechanik) durch die Vorlesungen eines ausgezeichneten Lehrers und durch die von demselben geleiteten Seminar-Übungen kennen zu lernen, diesem Verdienste des Herrn Prof. Stern ist es zum großen Theile zuzuschreiben, daß an unserer Universität die mathematischen Studien zu einer solchen Blüte gelangen konnten. Wenn andere Gelehrte ihren mathematischen Vorlesungen der Pflege spezieller Disciplinen sich widmen konnten und eine größere Zahl wohlvorbereitete Zuhörer fanden, so ist dies unzweifelhaft nur dadurch ermöglicht worden, daß für die in erster Linie in Betracht kommenden nothwendigsten Bedürfnisse des mathematischen Unterrichts durch Herrn Prof. Stern in bester Weise gesorgt war. Dieser Gesichtspunkt ausreichender Fürsorge für die in erster Linie nothwendigsten Bedürfnisse des mathematischen Unterrichts ist auch in Zukunft für die Heranbildung tüchtiger Gymnasiallehrer von außerordentlicher Wichtigkeit. Die Blüthe der mathematischen Studien an unserer Universität aufrecht zu erhalten wird nach meiner Überzeugung zweifellos nur dann gelingen, wenn bei der 7

[UAG] Kur. 5956, Bl. 11-14.

504

Anhang: Auswahl von Dokumenten

Auswahl des als Nachfolger des Herrn Prof. Stern zu berufenden Gelehrten an der Forderung festgehalten wird, daß derselbe nicht allein eine unbestritten hervorragende Lehrbefähigung besitzen, sondern auch die Gewähr bieten müsse, daß er in Gemeinschaft mit den gegenwärtigen Vertretern der Mathematik in unserer Facultät auch für die Bedürfnisse der Anfänger ausreichend sorgen werde. Durch keinen der beiden gegenwärtig der Facultät ange[hören]den ordentlichen Professoren der Mathematik wird das Fach der Algebra vertreten; dieses für die Heranbildung der künftigen Gymnasiallehrer so außerordentlich wichtige Fach gehört auch nicht zu den Disciplinen, als deren fachlicher Vertreter der der Facultät gegenwärtig angehörende außerordentliche Professor der Mathematik angesehen werden kann. Nach der übereinstimmenden Ueberzeugung des Herrn Professor Schering und des Unterzeichneten ist es im Interesse einer möglichst vollständigen Vertretung der mathematischen Disciplinen an unserer Universität sehr wünschenswert, daß der Nachfolger des Herrn Prof. Stern – selb[st]verständlich, ohne sonst in seiner Lehrthätigkeit irgendwie eingeschränkt zu sein – die Vertretung der Algebra in ihrem ganzen Umfange übernehmen kann. Als einen solchen Gelehrten glaubte der Unterzeichnete in Uebereinstimmung mit Herrn Prof. Schering Herrn Dr. Georg Hettner, geboren 1854, gegenwärtig außerordentlicher Professor an der Universität Berlin, Ew Excellenz gehorsamst bezeichnen zu dürfen. Herr Prof. Hettner hat seine algebraischen Studien unter Leitung des hervorragensten Forschers auf dem Gebiete der Algebra unter allen jetzt lebenden Mathematikern, des Herrn Kronecker in Berlin gemacht, außerdem ist Herr Prof. Hettner einer der talentvollsten Schüler der Herren Kummer und Weierstrass in Berlin. Bezüglich des Lobes des Herrn Prof. Hettner schließe ich mich sowohl hinsichtlich der Würdigung seiner wissenschaftlichen Arbeiten, als auch hinsichtlich seines eminenten Lehrtalentes den Ausführungen des Herrn Prof. Schering in seinem Votum in allen Punkten an. In Hinsicht auf die von der Mehrheit der Facultät Ew. Excellenz unterbreiteten Vorschläge betreffend die Berufung eines Nachfolgers des Herrn Prof. Stern kann ich den die Professoren Felix Klein und Aurel Voss betreffenden Vorschlägen nicht entgegentreten. Wenn die Berufung des Herrn Prof. Klein gelingt, so wird damit eine hervorragende Lehrkraft und ein bedeutender Gelehrter für unsere Universität und für unser preußisches Vaterland gewonnen. Analoges gilt bezüglich des Herrn Prof. Voss. Zu meinem lebhaften Bedauern kann ich aber dem Vorschlage gegenüber, Herrn Prof. Enneper zum ordentlichen Professor und zum Nachfolger des Herrn Prof. Stern zu befördern, aus den dargelegten sachlichen Gründen dieselbe Stellung nicht einnehmen. Ew. Excellenz gehorsamster (gez.) H. A. Schwarz

Anhang: Auswahl von Dokumenten

505

Nr. 5) Zur wissenschaftlichen Polemik zwischen Felix Klein und Lazarus Fuchs. Aus einem Briefentwurf Felix Kleins an Wilhelm Foerster, 15.1.18928 […] Hier nur noch einige Ausführungen über meine Beziehungen zu Fuchs. Ich schicke vor allem unter Kreuzband beifolgend die autographirte Ausarbeitung einer Vorlesung, die ich im Sommer 91 gehalten habe. Sie finden da auf p. 66-89 eine Darstellung der historischen Entwicklung jener Untersuchungen, die nun vor 10 Jahren die Polemik zwischen Fuchs und mir hervorrief, und wenn diese Darstellung zunächst selbstverst.[ändlich] für meine Zuhörer bestimmt ist, so wird dieselbe wie ich hoffe doch auch dem Fernerstehenden lesbar sein. Ich meine die Darstellung, bei der ich genau meine frühere Auffassung festhalte, solle den Eindruck von schwerster Aufrichtigkeit hervorrufen. Sie werden dem Hefte ferner entnehmen, dass ich wieder energisch gerade über diese Fragen arbeite und daran bin, die letzten Vorbereitungen für eine endgültige Darstellung des ganzen Gebietes zu treffen. ((Sie werden beiläufig aus demselben ersehen, wie ich die Aufgabe des Geometers verstehe, nämlich dahin gehend, dass er das Gesammtgebiet der Mathematik (und ich darf hinzufügen: ihrer Anwendungen) von der geometr.[ischen] Anschauung aus zu verstehen hat.))9 Ich muss nun ferner aussprechen, dass es auch in den letzten Jahren zweimal indirecte Conflicte zwischen Fuchs und mir gegeben hat […]: 1) Fuchs publiciert eine Theorie, die sich als schlechtweg falsch herausstellt.10 2) ein jüngerer Mathematiker bemerkt das, wendet sich zunächst an Fuchs selbst und findet bei diesem nicht dasjenige Verständnis, welches er erhofft hatte.11 3) Darauf sendet er mir für die Gött. Nachrichten oder die Math. Annalen eine Darstellung des Sachverhaltes ein, die ich, wenn sie richtig ist, zur Publication bringe, nachdem ich übrigens gegebenenfalls die Ausdrucksweise geglättet habe. 8 9

[UBG] Cod. Ms. F. Klein 1 C: 2. – Vgl. hierzu die Abschnitte 5.5.5 und 6.5.1.1 im Buch. Klein strich den in Doppelklammer gesetzten Satz wieder. Der Satz könnte andeuten, dass er seine Auffassung als Geometer durchaus gern in der Hauptstadt durchgesetzt hätte. 10 Fuchs, L.: „Über diejenigen algebraischen Gebilde, welche eine Involution zulassen“ (Sitzungsberichte Berliner Akademie, Juli 1886). – Hurwitz hatte Klein informiert: „Ich habe neuerdings gefunden, dass man alle diese Curven durch Gleichungen f (s2, z) = 0 darstellen kann, woraus unmittelbar folgt, dass dieselben keineswegs durch die hyperelliptischen Curven erschöpft werden, wie das neuerdings von anderer Seite (Berichte d. Berliner Akademie etc.) behauptet worden ist.“ [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 1034 (28.12.1886). 11 Hurwitz hatte Fuchs seine Korrektur des Fehlers geschickt und schrieb Klein: „Fuchs hat noch nicht geantwortet. Wissen Sie auch, dass die Jubel-Arbeit in Bd. 100 des Crelle’schen Journal’s auf dem falschen Satz aufgebaut ist und damit vollständig in sich zusammenbricht? Es ist ja ein fabelhaftes Pech, welches F. trifft. Aber bei allem Mitleid, liegt mir doch auch der Gedanke nicht fern, dass es eine gerechte Strafe für Fuchs ist. Warum liest er unsere Arbeiten nicht?! Hätte er mit einiger Aufmerksamkeit die vielen Aufsätze über Modularcorrespondenzen oder meine Correspondenznote (welche ich ihm der Zeit zugeschickt habe) nur durchblättert – dieser entsetzliche Lapsus hätte ihm nicht passiren können.“ [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 1037 (3.1.1887). – Schwarz erklärte Weierstraß den Fehler von Fuchs in einem Brief v. 9.1.1887 (CONFALONIERI o. J., 311-19) und unterstützte Hurwitz’ Publikation in den Göttinger Nachrichten.

506

Anhang: Auswahl von Dokumenten

So war es mit Hurwitz 188712, so ist es eben nun mit den russischen Mathematikern Nekrassoff und Anissimoff. Um nur von Letzeren zu reden: Die falschen Entwicklungen, welche Fuchs ursprünglich in Crelle 75 gegeben hatte, wurden von ihm auf den Vorhalt von Anissimoff in Crelle 106 durch andere ersetzt, die wieder unrichtig war, und zwar in einer Form, durch welche A.[nissimoff] sich auch persönlich nicht befriedigt fühlt. Hierauf gibt Nekrassoff in Annalen 38 die richtige Theorie,13 irrt sich dabei aber allerdings in einem Nebenpuncte, nämlich da, wo er den inneren Grund des von Fuchs in Bd. 106 begangenen Fehlers aufdecken will. Letzteres bemerkt Fuchs und antwortet in Bd. 108 mit einer groben Replik, in der er die Theorie von Bd. 106 rückhaltlos aufrecht erhält! Hierauf leidenschaftliche Zusendungen von Nekr. und A. an mich, die ich nun eben in den Weihnachtsferien in ruhige Form gebracht habe und demnächst in den Annalen veröffentlichen werde.14 Ein jedes solches Vorkommnis dient natürlich dazu, den blinden Hass [geändert in: das Gefühl der Abneigung], mit dem Fuchs auf mich geworfen hat, auf’s Neue zu steigern. Das geht so weit, dass darüber die Gebote des Anstands ausser Acht gesetzt werden. Mein Schüler, Hr. Dr. Fricke, der in den letzten Jahren in Berlin lebte (und den ich persönlich u. mathematisch ausserordentlich hoch halte), weiß davon zu erzählen. Vor Jahresfrist übersandte er Fuchs den 1ten Band meiner von Fricke bearbeiteten ellipt.[ischen] Modulfunctionen (in denen gar keine Polemik enthalten ist) mit der Bitte um persönliche Bezugnahme: er erhielt gar keine Antwort. Eben damals wandte sich Fr.[icke] an Kronecker (dem er wissensch.[aftlich] sehr nahe getreten war) mit der Frage, wie sich Kr.[onecker] einem von Fricke bei der Berliner Facultät einzureichenden Habilitationsgesuch gegenüber stellen werde. Kr. antwortete rundweg, dass er nicht in der Lage sei, ein Gesuch zu unterstützen, über welches noch erst die Facultät zu befinden haben werde. 12 Hurwitz, A.: „Ueber diejenigen algebraischen Gebilde, welche eindeutige Transformationen in sich zulassen“. Göttinger Nachrichten 1887, 86-104. Der Aufsatz endete mit: „Wenn das Geschlecht einer Gruppe gleich p ist, so giebt es immer ein der Gruppe holoedrisch isomorphes System linearer Substitutionen bei p homogenen Variablen und ein solches System ganzzahliger linearer Substitutionen bei 2p Variablen.“ Danach folgte der Abdruck von Hurwitz’ Brief an Fuchs und Fuchs Erwiderung, dass er bis jetzt verhindert gewesen sei, sich mit dem Gegenstand zu beschäftigen. (104-107) – Als Fuchs seinen Fehler in einer Note der Berliner Akademie zu korrigieren suchte (24.2.1887), schrieb Hurwitz an Klein, dass er ganz empört sei […] durch die Art wie er mich erwähnt und die ganze Sache darstellt […] Es ist dieselbe Wendung mit welcher er Ihnen neuerdings klein beigiebt mit der hochmüthigsten Miene. Nein, ich bin ganz aus dem Häus’chen und zu erregt um weiter schreiben zu können. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 1046 (11.3.1887). Fuchs reagierte noch einmal mit „Bemerkungen zu einer Note des Herrn Hurwitz“, Göttinger Nachrichten (1887) 502-504. 13 Vgl. Nekrassoff, P.A.: „Ueber den Fuchs’schen Grenzkreis“. Math. Ann. 38 (1891) 82-90. – Die Arbeit schloss mit: „Man wird also die Fälle, in welchen die Fuchs’schen Sätze nicht gelten, keineswegs als Ausnahmefälle bezeichnen dürfen.“ – Hurwitz informierte Klein: Fuchs, [Meyer] Hamburger und Genossen sollen in großer Aufregung über Nekrassoffs Publication in den Annalen sein. Sie rechnen Tag und Nacht, um zu zeigen, dass irgend etwas identisch Null ist. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 1090 (4.5.1891). 14 Anissimoff, W. A.: „Ueber den Fuchs‘schen Grenzkreis“. Math. Ann. 40 (1892) 145-48.

Anhang: Auswahl von Dokumenten

507

Nehmen Sie dies Alles zusammen, so beantwortet sich die Frage, wie sich das Verhältnis zwischen F.[uchs] und mir bei etwaiger näherer Collegenschaft gestalten würde von selbst. Ich würde gewiss nicht provocirend auftreten sondern möglichst alle aeusseren Conflicte vermeiden. Aber auf meinen Arbeitsplan kann ich ebenso wenig verzichten wie darauf, dass ich drucke, was ich für richtig halte. Niemand kann verlangen, dass ich einer Berliner Prof.[essur] zu Liebe meine ganze Vergangenheit verleugne. (Und schon die blosse Thatsache meiner etwaigen Berufung nach Berlin wird Fuchs als eine ihm angethane schwere Beleidigung empfinden. Mich persönlich schreckt diese Perspective eigentlich wenig (meine Bedenken, die ich an A.[lthoff] schrieb, gehen nach ganz anderer Richtung), aber ich weiß nicht, wie sich die Sache von einem allgemeineren Standpuncte aus darstellt, und ob Sie es verantworten wollen, zur Herbeiführung so unerquicklicher Verhältnisse die Hand geboten zu haben.[…] Nr. 6) Briefe, betreffend die Nachfolge von H. A. Schwarz in Göttingen 6.1 Auszug aus einem Brief Felix Kleins an Adolf Hurwitz, 28.2.189215 […] Althoff ist drei Tage hier gewesen und hat die Berliner Neuberufungen zum Abschlusse gebracht. Neben Frobenius kommt Schwarz hin, und zwar schon zum 1. April. – Ich selbst bin, wenn ich Das hier aussprechen darf, mit der Wendung der Dinge durchaus zufrieden. Denn ich bin mit einer gewissen Auszeichnung behandelt worden und gewinne ja an Bewegungsfreiheit. – Aber um bei der Sache zu bleiben: nun wird Schwarz’ Stelle hier in Göttingen besetzt werden müssen und zwar soll das schon in nächster Zeit geschehen. Ich weiß auch genau, welche Vorschläge ich der Facultät machen will (Wobei Sie natürlich nicht vergessen dürfen, dass ich nicht die Facultät bin; ich will mir sogar ausdrücklich alle Freiheit vorbehalten, im Laufe der demnächstigen Verhandlungen meine jetzige Ideen möglicherweise zu modifciren): Sie werden es ungefähr rathen, dass ich Sie und Hilbert vorschlagen will, als die beiden Einzigen, die im Stande sind, mit mir zusammen Berlin gegenüber unserem Platze wissenschaftliches Ansehen zu sichern, ohne schon in ein Alter getreten zu sein, welches die fernere wissenschaftliche Entwicklung in der Hauptsache ausschliesst. Und nun die grosse Schwierigkeit, die mir viele Ueberlegung gekostet hat, bis ich mich entschloss Ihnen selbst darüber zu schreiben. Selbstverständlich werde ich Sie zuerst nennen und Hilbert hinter Ihnen. Aber es sind eine Reihe Bedenken, was Ihre Berufung angeht, und es ist die Frage, wie weit ich diesen Bedenken Ausdruck geben und vielleicht geradezu aussprechen soll, dass Hilbert’s Hierherkommen schliesslich unseren Bedürfnissen doch noch in höherem Maasse entsprechen würde.16 Da ist erstens Ihre Kränklichkeit, deren Bedeutung ich ja nicht überschätzen will aber doch auch nicht ganz ignoriren darf. Da ist zweitens der 15 [UBG] Math. Arch. 77: 228. 16 Klein konnte den Privatdozenten Hilbert nicht durchzusetzen, kämpfte daraufhin für Hurwitz.

508

Anhang: Auswahl von Dokumenten

viel feinere Grund, dass Sie mir nicht nur persönlich sondern auch nach der Art Ihrer mathematischen Denkweise viel näher stehen als Hilbert, so dass mit Ihrem Hierherkommen unsere Göttinger Mathematik vielleicht zu einseitigen Charakter erhalten würde. Da ist drittens – ich muß es berühren, so widerlich mir die Sache ist und so sehr ich Ihre berechtigte Empfindlichkeit in dieser Hinsicht kenne – die Judenfrage. Nicht dass Ihre Berufung als solche Schwierigkeiten machte, die würde ich überwinden können. Aber wir haben bereits Schönflies, dem ich immer eine feste Stellung hierorts zuwenden möchte (besoldetes Extraordinariat). Und das setze ich weder in der Facultät noch beim Minister durch, dass Sie und Schönflies nebeneinander angestellt werden! Doch ich komme zum Schlusse. Die Entscheidung zwischen Ihnen und Hilbert ist mir, wenn ich rein objectiv die Gründe für und wider abwägen soll, schwer genug. Aber nun die subjective Schwierigkeit, dass ich Sie am allerwenigsten bei jetziger Gelegenheit kränken möchte, vielmehr Alles thun möchte, um Ihnen behülflich zu sein. Schreiben Sie mir bitte umgehend eine Zeile, wenn es sein kann der Beruhigung; jedenfalls aber sprechen Sie sich ebenso rückhaltlos gegen mich aus, wie ich es hier gethan habe. Am Donnerstag soll die Facultätssitzung sein; bis dahin kann ich ja wohl Ihre Antwort haben! Wie immer sich diese Sache wenden wird, versprechen Sie mir, dass unsere persönliche Beziehung darunter nicht leiden soll. Mit herzlichen Grüssen verbleibe ich Ihr Felix Klein 6.2 Auszug aus einem Briefentwurf F. Kleins an Friedrich Althoff, 7.3.189217 Hochgeehrter Herr Geh. Oberregierungsrath! Gestatten Sie, dass ich schon heute, ehe die neuen Personalvorschläge der Facultät fertig vorliegen, über Herrn Dr. Schönflies Bericht zu erstatten. Sie berührten die Frage des Antisemitismus. Da erhalte ich von allen Seiten den Eindruck, dass man an einem Juden keinerlei Anstoss nehmen würde, die Nebeneinanderstellung zweier Juden aber als unzulässig betrachtet.18 Wenn also Hurwitz herkommen soll (wie ich noch immer befürworte), so muß ich Schönflies opfern. Ich bedauere das nachgerade sehr, denn ich habe Schönflies’ eigenartige Begabung nicht unter persönlichen Gesichtspuncten sondern auch im Interesse unserer Universität je länger je mehr schätzen lernen. Schönflies ist im Grunde ein sehr begabter Mann, hat einen eindringenden Verstand und dabei eine in populärem 17 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 1 C: 2, Bl. 22 (7 DinA3-Blätter). 18 Klein kannte den verbreiteten Antisemitismus, urteilte aber nach fachlichen Gründen. – Am 13.12.1887 hatte der aus jüdischem Elternhause stammende Moritz Pasch mit Bezug auf eine Berufungsfrage an der Universität Gießen an Klein geschrieben: „Nur habe ich natürlich keinen jüdischen Fachgenossen in das Verzeichniß aufnehmen dürfen, sonst hätten Gelehrte wie Nöther und Hurwitz darin nicht gefehlt.“ (Brief abgedruckt bei SCHLIMM 2013, 198)

Anhang: Auswahl von Dokumenten

509

Sinne vortreffliche Lehrgabe. Sein geometrisches Talent rühmte ich wiederholt. Ist etwas bei ihm zu vermissen, so ist es die consequente Energie: er muß von aussen gezwungen sein, dann aber arbeitet er eben so rasch als sicher. (Ich zweifele nicht, dass Ihnen von anderer Seite andere Urtheile über Sch.[önflies] zugehen werden. Ich möchte mich demgegenüber darauf berufen, dass ich von Weihnachten ab nicht weniger als 8-mal zwei Stunden dem von Schönflies und Burkhardt geleiteten Seminare angewohnt habe; da war wirkliches wissenschaftliches Leben und jede Täuschung über die Qualification des Dirigenten, der wiederholt selbst vortrug, ist für mich ausgeschlossen). Entscheidend ist mir aber, wie ich schon bemerkte, die Rücksicht auf die in Aussicht genommene Berufung. […] Hiernach ist mir nicht fraglich, dass wir bei der jetzigen Sachlage vor allen Dingen darauf abzielen sollen, in Richtung der strengeren Schule Ergänzung neben mir zu schaffen. Herr Prof. Schwarz war in dieser Hinsicht neben mir vorzüglich, Hr. Prof. Lindemann wird es nicht in gleichem Masse sein. […]19 Prof. Hurwitz hat ursprünglich bei mir, dann auch in Berlin bei Kronecker und namentlich Weierstraß studirt, nachdem er schon auf der Schule die Anregung eines besonders begabten Lehrers nach Seiten der synthetischen Geometrie genossen hatte. Auf solche Weise vorbereitet, vereinigt er die gesammten Prämissen für den Inbegriff moderner Forschungen in sich, welche darauf abzielen, die Functionentheorie als centrale Disciplin mit Zahlentheorie und Geometrie zu verbinden. Und mit diesen Prämissen verbindet Hurwitz eine geniale Productionskraft, die trotz der Hemmnisse, die ihm eine etwas zarte Gesundheit bereitet, nie erlahmt. Die Zahl der Publicationen wie die Zahl der Gegenstände, über die Hurwitz geschrieben, ist sehr gross: am höchsten möchte ich (von meinem subjectiven Standpuncte aus) diejenigen Arbeiten stellen, in denen er Problemstellungen der geometr.[ischen] Funct.[ionen]theorie, die von mir selbst herrühren, aufgreift und sehr viel weiter führt, als ich das je vermocht hätte. Da liegt die Ergänzung, welche ich suche, in greifbarer Wirklichkeit und glücklichster Vollendung wirklich vor.[…]20 19 Hier folgte ein lobendes Urteil über Lindemann, weil sich dieser darüber beschwert hatte, dass Klein die jüngeren Hurwitz und Hilbert bevorzuge. 20 Anschließend urteilte Klein über Hilbert und Schottky (Zürich). Dabei setzte er Schottky nur desshalb hier hinterher, weil die beiden Anderen (Hurwitz, Hilbert) ihm an Vielseitigkeit voranstehen. – In einem weiteren Brief erklärte Klein Althoff noch, dass die Fakultät Frobenius für nicht erreichbar hielt und betonte: Ich persönlich würde allerdings Hilbert dem Prof. Schottky, der eine etwas schwerfällige Art besitzt, vorgezogen haben, um so mehr als ich von Hilbert noch Ausserordentliches in Zukunft erwarte, ich konnte die Facultät aber nicht bestimmen, den jungen Privatdocenten auf gleiche Linie mit den älteren Vertretern des Faches zu setzen. Der Name Weber ist erst später auf unsere Liste gekommen, als der Hr. Curator uns auf die Nothwendigkeit aufmerksam machte, drei Namen zu nennen. Ich habe nicht verheimlicht und im Facultätsbericht tritt das wohl auch unverkennbar hervor, dass ich betreffs Weber bestimmte Bedenken habe. […] dass Weber mir wie allen Anderen unter persönlichen Gesichtspuncten besonders willkommen wäre, brauche ich kaum auszusprechen. Aber gemeint habe ich bei dem Facultätsbericht und die grosse Majorität mit mir: Hurwitz. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 1C: 2, Bl. 29, 29v (Brief v. 21.3.1892).

510

Anhang: Auswahl von Dokumenten

Nr. 7) Vorschläge F. Kleins zur Ausgestaltung des mathematischen Instituts in Göttingen, an den Curator der Universität Geh. Reg. Rath Dr. E. v. Meier21 Göttingen, den 29. Februar 1892 Betreff: Ausgestaltung des mathematischen Instituts etc. Aufgefordert, betreffs Ausgestaltung des mathematischen Instituts geeignete Vorschläge zu machen, will ich etwas weiter ausholen und mit wenigen Worten die Gesichtspunkte darlegen, nach denen ich unter den neu gegebenen Verhältnissen meine Thätigkeit einzurichten denke, und mich überhaupt über die Organisation äußern, mit deren Hülfe ich den betr. Gesichtspunkten gerecht werden möchte. Entsprechend der Auffassung, welche ich von den Aufgaben der philosophischen Fakultät habe, ziele ich auf Vertretung der Mathematik nach ihrem ganzen Umfange. Ich verstehe darunter zunächst, wie in Göttingen selbstverständlich, eine möglichst vollständige Repräsentation und Mitarbeit an den auf unserem wissenschaftlichen Gebiete geltenden theoretischen Anschauungen. Hierüber hinaus aber auch eine Pflege der Beziehungen zu den Nachbargebieten und den Aufgaben des praktischen Lebens. Soll ich ein Detail anführen, welches mich der allgemeinen Darlegung enthebt, so bin ich von dieser Auffassung aus in letzter Zeit ebenso lebhaft dafür eingetreten, daß seitens unserer philosophischen Fakultät (durch Herrn Geh. Rath Schering) eine fachtheoretische mathematische Preisaufgabe gestellt wurde, wie andererseits dafür, daß die von dem Herrn Minister neuerdings geplanten Ferienkurse für Gymnasiallehrer nicht auf Naturwissenschaften beschränkt sondern auf Mathematik ausgedehnt werden möchten. Nun brauche ich kaum auszusprechen, daß ich allein in keiner Weise in der Lage bin, der großen hiermit gegebenen Aufgabenstellung auch nur entfernt zu entsprechen, zumal meine unmittelbare Thätigkeit, wie Ew. Hochwohlgeboren bekannt ist, sich immer in engen Grenzen halten muß. Ich suche aber indirekt meine Leistungsfähigkeit zu vermehren, nämlich einerseits durch zweckmäßige Cooperation mit jüngeren Collegen, andererseits durch Entwickelung der mathematischen Unterrichtseinrichtungen. Die Neuberufung eines jüngeren Ordinarius (die ich nur erst gesprächsweise in Anregung brachte und betreffs deren ich den Berathungen der Philosophischen Fakultät in keiner Weise vorgreifen will), liegt in der hiermit bezeichneten Richtung. Aber sie wird, und dies möchte ich hier ausdrücklich hervorheben, namentlich dem Bedürfnisse einer vollen theoretischen Repräsentation unserer Wissenschaft zu dienen haben. In der That muß es sich ja bei der Neuordnung der Verhältnisse in erster Linie darum handeln, Göttingen das wissenschaftliche Ansehen zu wahren, welches eine der Lebensbedingungen unserer Universität ist. – Wir Beide, der Neuzuberufende und ich, werden gewiß Alles thun, um dem Lernbedürfnisse auch des Anfängers gerecht zu werden. Es ist aber nicht möglich, daß wir dies allein leisten, und ich komme also hier auf einen Plan zurück, den ich wiederholt vorlegte: daß wir ein mathematisches Extraordinariat haben müssen, dessen Träger den Lehrauftrag erhalten sollte, den Ordinarien bei der Abhaltung 21 [UAG] Kur. 5691, Bl. 1-8v.

Anhang: Auswahl von Dokumenten

511

der Anfangsvorlesungen, wie namentlich auch der geometrischen Construktionsübungen etc. an die Hand zu gehen. Es handelt sich dabei um die Verbindung von wissenschaftlicher Thätigkeit mit pädagogischem Geschick, wie sie nicht häufig vorkommt; ich möchte mir demnächst erlauben, eine geeignete Persönlichkeit hierfür zu bezeichnen.22 Für 1 bis 2 Privatdozenten, die ich daneben immer in Göttingen zu haben wünsche, bleibt dann auch noch Raum zur Bethätigung. Die Thätigkeit des Dozenten findet ihre Ergänzung in der Wirksamkeit der mathematischen Institute. Wir haben hierzu in Göttingen den z.Z. wünschenswerthen allgemeinen Ansatz, indem neben Lesezimmer (und Seminarbibliothek) die Sammlung mathematischer Modelle und Apparate besteht. Was das Lesezimmer angeht (über welches ich ja noch vor wenigen Tagen ausführlich berichtete), so bedarf dasselbe nicht eigentlich der neuen Entwickelung, sondern nur des gleichförmigen Fortschritts; ich werde sogleich noch einige wenige hierauf bezügliche Wünsche formuliren. Hier sei nur angeführt (worauf ich weiter unten Bezug nehmen muß), daß für meine eigene Lehrthätigkeit das Lesezimmer mit Jahren eine ganz besondere Bedeutung dadurch gefunden hat, daß ich meine Vorlesungen fortlaufend ausarbeiten lasse und die Ausarbeitungen im Lesezimmer den Mitgliedern zur Benutzung hinstelle. Ich bin dadurch in der Lage, unseren Studenten eine viel allseitigere Anregung zu geben, als nur durch die Vorlesungen des einzelnen Semesters geschieht, auch höhere Vorlesungen […] durch mehrere Semester hindurch zu halten, überhaupt aber mir bezüglich der Wahl meiner Vorlesungen eine größere Freiheit zu lassen. Im Vergleich zum Lesezimmer ist die Modellsammlung nicht ganz so fortgeschritten, wie dies der Fall sein sollte. Schon was Geometrie im engeren Sinn angeht, so besitzen wir eine Reihe werthvoller Modelle nicht, die anderweitig existiren, namentlich aber fehlt es an Modellen zu Mechanik, wie insbesondere der Bewegungslehre. Ich würde die Direktion der Modellsammlung allerdings nicht übernehmen können, wenn mir hierfür nicht ein Assistent zur Verfügung gestellt wird, der vielleicht zugleich die jetzt von einem Studenten geleistete Beaufsichtigung des Lesezimmers übernehmen und überhaupt die Anweisung erhalten könnte, mir bei der Ausarbeitung meiner Vorlesungen (für die Lesezimmer) behülflich zu sein. Ich habe seither auf diese Ausarbeitungen, die von wechselnden Zuhörern und zum Theil von mir selbst ausgeführt werden, eine ganz unverhältnismäßige Zeit verwenden müssen, auch habe ich oft den Wunsch gehabt, eine Hülfskraft zu besitzen, welche neu ankommende Zuhörer, insbesondere Ausländer, in der nachgerade großen Zahl der neben einander stehenden Ausarbeitungen zurecht weisen könnte. Trotzdem diese letztere Aufgabe ja mehr mit dem Lesezimmer in Verbindung steht, würde ich doch bitten, den Assistenten bei der Modellsammlung anzustellen, indem ja das Lesezimmer allgemeines Seminarinstitut ist und also im Princip der Generaldirektion des math.phys. Seminars untersteht. Ich komme nun zu den speciellen auf die Institute bezüglichen Wünsche, wobei ich die Fragen der Etatisirung hintanstelle. 22 Damit bereitete Klein sein wiederholtes Engagement für Arthur Schönflies vor.

512

Anhang: Auswahl von Dokumenten

Beim Lesezimmer habe ich da nur anzuführen: 1) Daß ich dem bislang benutzten Leseraum das kleinere nebenan liegende, bisher von der Modellsammlung benutzte aber von dieser gern zu entbehrende Zimmerchen hinzufügen möchte, 2) Daß ich ferner bitte, die bisher von Herrn Prof. Schwarz verwaltete sog. Seminarbibliothek mit dem Lesezimmer als solchem zu vereinen.23 In der Zeit fällt ja jetzt, wie Ew. Hochwohlgeboren bekannt ist, jeder Grund fort, die ohnehin nur theoretische Trennung aufrecht zu erhalten. Immerhin wird hierüber die Gesammtdirektion des Seminars zu hören sein, und ich möchte Ew. Hochwohlgeboren bitten, zu Beginn des neuen Semesters an letztere hierauf bezügliche Anfrage zu richten. Bei der Modellsammlung beantrage ich nur gewisse äußere Aenderungen. Es wird sich da 1) darum handeln, eine große Reihe der jetzt dort aufgestellten Gegenstände, die für uns längst keinen Zweck mehr haben: Feldmeßinstrumente etc. etc. zu veräußern oder an andere Institute abzugeben. 2) darum, dem Hauptraum der Modellsammlung, der je länger je mehr auch als Sprechzimmer und Versammlungszimmer dient, und der von den Sammlungsschränken keineswegs vollständig gefüllt wird, in etwas zu meubliren [sic!]. Vielleicht auch Auswechslung der Schränke gegen solide neuere Construktion etc. Das Universitätsbauamt würde ja wohl hierüber am besten genauere Vorschläge ausarbeiten können. Nun denn zuletzt zur Etatisirung der Institute! Beim Lesezimmer bedarf ich, wie ich neulich ausführte, eigentlich keiner Erhöhung der letzten Dotation; ich wünschte nur nicht, daß dieselbe verringert wird. Immerhin könnte man die Summe von 734 M., die ich bislang habe (sofern ich die Beiträge der Lesezimmermitglieder abziehe, die ja eine Sache für sich sind), etwa auf 800 M. abrunden. Wenn dann die Seminarbibliothek resorbirt wird und damit wohl auch die 150 M. in Wegfall kommen, welche die Seminardirektion bisher auf letztere verwandte, wenn andererseits die 80 M., die ich bislang dem Aufsichtführenden Bibliothekar zahlte, fortfallen, insofern ich dessen Thätigkeit dem Assistenten der Modellsammlung übertragen will, so bleibt Alles ziemlich beim Alten (734 + 150 – 80 = 804 M) Die Modellkammer hat z.Z. einen Etat von 240 M, ich bringe die 60 M eigener Einnahmen, welche in den letzten Jahren einkamen, mit in Ansatz, weil ich die construktiven Uebungen, deren Theilnehmer diesen Betrag an Beiträgen aufbrachten, anderweitig organisiren will. Daneben findet sich ja in der Kasse des Instituts wohl ein Baarbestand von 1000 - 1500 M. vor. Ich hoffe also zu reichen, wenn der Jahresetat von 240 M auf 400 M erhöht wird. Eventuell würde ich mir vorbehalten, eine einmalige größere Summe zur Completirung der Sammlung bei Gelegenheit zu beantragen (wobei ich daran denke, daß im Herbst dieses Jahres bei der in Nürnberg tagenden Naturforscherversammlung, die ich besuchen will, 23 Ein Vorschlag (Klein, Schering), Lesezimmer und Seminarbibliothek zu vereinen, war im Jahre 1889 von Schwarz vereitelt worden. [UAG] Math.Nat 0012

Anhang: Auswahl von Dokumenten

513

zum ersten Male eine große [staatlich unterstützte] Ausstellung mathematischer Apparate und Modelle stattfinden soll, die dann für eine solche Nachschaffung voraussichtlich den richtige Maßstab giebt). Neben diesem sachlichen Etat von 400 M würde ich dem einstweilen für den Assistenten 600 M in Ansatz bringen, so daß sich der Gesammtetat der Modellsammlung auf 1000 M belaufen würde. Darf ich zum Schluß hervorheben, daß sich der Gesammtbetrag der für die sachlichen Ausgaben vorstehend beantragten Erhöhungen 800 – 734 = 66 M 400 – 240 = 160 M 226 M sich innerhalb desjenigen Betrages hält, der von dem früheren Prämienfonds (380 M) noch zur Verfügung steht, nachdem aus demselben der Etat des Lesezimmers bereits um 134 M erhöht worden ist (380 – 134 = 246 M). Indem ich bitte, die vorstehend bezeichneten Anträge in geneigte Erwägung ziehen zu wollen, zeichne ich Ganz ergebenst Prof. Dr. F. Klein Nr. 8) David Hilbert: An Klein zu seinem 60. Geburtstage, 25.4.190924 Meine lieben und verehrten Gäste. Ich habe hier zunächst unseren hochgeschätzten Kollegen Poincaré in meinem Hause zugleich im Namen meiner Frau zu begrüssen und ihm zu danken, dass er unserer Einladung gefolgt ist. Aber auch etwas Anderes haben ich und wir Alle ihm zu danken, was ihm selbst vielleicht gar nicht bewusst ist und was er doch allein durch sein Herkommen zu Wege gebracht hat nämlich dass wir hier die Freude haben Kollegen Klein zu seinem 60. Geburtstag bei uns zu sehen. Denn ohne diese Poincaré-Feier25 würde Klein fern von Göttingen in einem weltabgelegenen Versteck heute sich verborgen halten und es ist besser doch so, wo wir wenigstens seine nächsten Kollegen und Freunde ihm gratulieren können und sie haben allen Grund dazu. Denn was für eine Lust ist es heute, Mathematiker zu sein, wo allerwegen die Math.[ematik] emporspriesst und die emporgesprossene erblüht, wo in ihrer Anwendung auf Naturwissenschaft wie andererseits in der Richtung nach der 24 [UBG] Cod. Ms. Hilbert 575: Nr. 1. Redemanuskript zum 25.4.1909, Absätze eingefügt. Abgedruckt in englischer Übersetzung in ROWE 2018a, 198-99. 25 Henri Poincaré weilte vom 22.-28.4.1909 zu Vorträgen in Göttingen (Vortragstitel in Jahresbericht DMV 18 (1909) Abt. 2, 78-79). Klein schrieb Fricke am 15.5.1909: Die Poincarétage sind ja nach aussen recht befriedigend verlaufen. Nach innen war ihr Ertrag geringer, weil Poincaré sich darauf beschränkte, seine neuesten Arbeiten, die doch nur ältere Ideen ausführen, ohne Hervorkehrung allgemeiner Gesichtspunkte unter Vorführung der Einzelheiten einem ziemlich verständnislosen Publikum auseinanderzusetzen. Poincaré ist auch in der Unterhaltung nichts weniger als ausgiebig. Er hört freundlich an, was man ihm sagt, aber er erwiedert [sic!] sehr wenig. [UA Braunschweig]. Zur Poincaré-Woche vgl. auch ROWE 2018a, 195-202. – Während Poincarés Anwesenheit tagte die Göttinger Mathematische Gesellschaft am Donnerstag, 23.4., mit Vorträgen von Hilbert und Klein; am Dienstag, 27.4., mit Vorträgen von Landau und Zermelo, vgl. Jahresbericht DMV 18 (1909) 79.

514

Anhang: Auswahl von Dokumenten

Philosophie hin die Math.[ematik] immer mehr zur Geltung kommt und ihre ehemalige zentrale Stellung zurückzuerobern im Begriff steht. Was für eine Lust aber muss es da erst speziell der Math.[ematiker] F. Klein an seinem 60ten Geburtstage zu sein. Zur Kennzeichnung Ihrer wissenschaftlichen Erfolge möchte ich nur 3 Punkte, die als typische Beispiele nur gelten sollen, herausgreifen. Erstens von Beginn an haben Sie die geom.[etrische] Anschauung, ihre Pflege durch Zeichnung und Modelle betont überhaupt die physikalische, kinematische, mechanische Deutung der math.[ematischen] Gedanken in den Vordergrund gestellt. Riemann war der Name, der auf Ihrer Fahne stand und unter diesem Zeichen haben Sie auf der ganzen Linie gesiegt – gesiegt über die Gegner wegen der Richtigkeit Ihrer Ideen, weswegen sie Unterstützung erhielten, wo Sie sie gar nicht erwarteten z.B. durch M.[inkowski], der stets das geomet.[risch] Anschauliche als math.[ematische] Methode ausgestaltet hat. Wenn ich 2.) ein speziell math.[ematisches] Gebiet auswählen soll, nun wenn wir die Namen Poincaré – Klein zusammen hören, welcher Math.[ematiker] wird da nicht an die automorphen Funktionen erinnert, deren Th.[eorie] P.[oincaré] zuerst begründet, deren reiche Ausgestaltung aber ihr Verdienst ist. Gerade die tiefste Seite, die sie praesagiente animo vorhergesagt und für die sie auch die Beweisideen beigebracht haben. Gerade heute sehen sie ihrer Vollendung entgegen.26 Und 3.) Wenn unserer aller Namen verschollen sind, vielleicht noch der eine oder andere historisches Interesse haben wird, werden Ihnen die spätesten Geschlechter dankbar bleiben für das grossartige Werk der Encyk.[lopädie] dessen Hervorbringung gerade eines Mannes wie Sie bedurfte, der soviel Entsagung und Aufopferung wie Sie besass. Und dadurch komme ich dazu, zu sagen, dass vielmehr wie das thatsächlich Erreichte, wie Ihre Erfolge Sie das Bewusstsein mit Befriedigung erfüllen müssen, dass diese Erfolge Ihrem mit der Minute kargenden Fleisse, Ihrer Energie, Ihrer Thatkraft, Ihren Charakter nicht allein Ihrer glänzenden Begabung zu danken haben. Ihr Sinn war niemals auf Ihren persönlichen Vorteil, noch auf den Vorteil einer anderen Person gerichtet, sondern galt stets der Sache. Daher lassen Ihnen heute auch Alle, auch Ihre Gegner, an denen es einem Manne, wie Sie nie fehlen kann, volle Gerechtigkeit widerfahren und im Kreise Ihrer Kollegen haben Sie vollste Anerkennung und die Gefühle höchster Dankbarkeit ausgelöst. Aber Ihr Lebenswerk ist nicht vollendet. Sie befinden sich in jugendlicher Frische auf Ihrem Lebensschifflein auf voller Fahrt. M.[inkowski] hat uns gelehrt, dass der Begriff der Gleichzeitigkeit ein relativer ist. Vielmehr gilt das vom Begriff der Gleichaltrigkeit. Das Alter, in dem Sinne auf den es allein ankommt, ist nicht so eine einfache Funktion der Zeit allein, sondern von vielen imponderabilen [unwägbaren] Parametern und ein Mann von 70 Jahren kann mit einem Jünglinge an Frische, Plänen, Lebenskraft gleichaltrig sein. Dass dies bei Ihnen einmal der Fall sein und, dass entspricht aller Wahrscheinlichkeit und mit diesem Wunsche schliesse ich, dass dieser wahrscheinliche Fall Wirklichkeit wird. 26 praesagiente animo = vorausahnend. – Koebe, Paul (1909): „Über die Uniformisierung der algebraischen Kurven. I“. Math. Ann. 67, 145-224.

Anhang: Auswahl von Dokumenten

515

Nr. 9) Felix Klein an Ludwig Bieberbach zum Entwurf von dessen Dissertation27 Göttingen 15 Mai 09 Lieber Hr. Bieberbach! Ich habe eben Ihre Dissertation durchgesehen und nehme daraufhin grossen Anstand an Teil I. Was richtig ist, ist nicht neu, was neu ist, ist falsch. Beweis: Ad. 1. Dass die kanonischen Schnittsysteme keineswegs durch die Perioden der Abel’schen Integrale festgelegt sind, wird Ann. XXI. pag. 184/185 nicht nur bemerkt, sondern auch erklärt.28 – Fricke kommt in Bd. I der Automorphen, p. 324, darauf zu sprechen und beweist dort, dass zur Erzeugung aller kanonischen Schnitte zwei Operationen ausreichen.29 Ad. 2. Der Satz von der Erzeugung aller binaeren Periodentransformationen im hyperelliptischen Falle durch Monodromie der Verzweigungspunkte ist nur für p = 2 richtig; für p = 3 gibt es schon 36 getrennte Schaaren. Ich habe diesen Gegenstand 1892 durch H. D. Thompson in seiner Dissertation behandeln lassen (American Journal XV; – im Lesezimmer unter meinen Separaten).30 Falsch ist aber auch die Zurückführung der Frage für beliebige Riemann’sche Flächen auf zweiblättrige. Der Irrtum hat seine Quelle darin, dass bei ClebschLüroth unter „Blatt“ einer R.[iemannschen] Fl.[läche] gar nicht ein solches Stück der Fläche verstanden wird, welches die […] Ebene genau einmal überdeckt, sondern nur irgend ein einfach zusammenhängendes Stück. Was soll nun bei dieser Sachlage geschehen? Ich bin leider in diesen Tagen angesichts der wieder beginnenden Herrenhausverhandlungen über alle Maasen beschäftigt. Immer bitte ich Sie, Montag um 12 zu mir in’s Sammlungszimmer zu kommen. Wollen Sie übrigens Dr. Koebe diesen Brief vorlegen.31 Ihr sehr ergebener F. Klein

27 [Deutsches Museum] Nachlass Ludwig Bieberbach. – Für den Hinweis auf den Brief dankt die Autorin Reinhard Siegmund-Schultze, Kristiansand. 28 Klein bezog sich auf seine eigene Arbeit „Neue Beiträge zur Riemann’schen Functionentheorie“. Math. Ann. 21 (1883) 141-218, speziell 184-85. 29 FRICKE/KLEIN 1897. 30 Thompson, H. D.: „Hyperelliptische Schnittsysteme und Zusammenordnung der algebraischen und transcendenten Thetacharacteristiken“. American Journal of Mathematics 15 (1893) 91-123. 31 Bieberbach hörte Vorlesungen bei Klein von 1906/07 bis 1908. Er arbeitete (mit Max Caspar) die Vorträge aus, die Klein vom 1.5. bis 31.7.1907 über automorphe Funktionen hielt ([Protokolle] Bd. 26). Bieberbachs Dissertation Zur Theorie der automorphen Funktionen hatte Privatdozent Koebe angeregt, worauf Klein im Gutachten zur Dissertation verwies. – Max Caspar reichte seine Dissertation (Über die Darstellbarkeit der homomorphen Formenscharen durch Poincarésche Z-Reihen) bei A. Brill in Tübingen ein; sie beruhte auf Kleins Anregung. Zu den Kurzbiographien, einschließlich Noten und Fächern im Rigorosum, vgl. TOBIES 2006, 58 (Bieberbach), 78 (Caspar).

516

Anhang: Auswahl von Dokumenten

Nr. 10) Zwei Gutachten über Felix Kleins Gesundheitszustand von Dr. Klaus, Nervenarzt, Sanatorium Hahnenklee (Oberharz)32 Gutachten vom 9. März 1912 Der o. Professor der Mathematik, Herr Geh. Reg. Rat Dr. Klein aus Göttingen, befindet sich seit December vorigen Jahres in meinem Sanatorium. Durch vorausgegangene jahrelange Überanstrengung in seinem Berufe und dadurch, dass er sich bisher niemals die nötig gewordene Ruhe und Erholung gönnen konnte, ist ein Zustand hochgradiger Erschöpfung und Reizbarkeit seines Nervensystems eingetreten. Eine organische Erkrankung liegt nicht vor. Es handelt sich um eine echte Neurasthenie, d.h. eine vorübergehende und heilbare Schwäche eines an sich gesunden Nervensystems. Die Dauer der Ausheilung ist durch die Länge und Intensität der vorausgegangenen Schädigung der Zeit nach naturgemäß eine lange. Wenn auch dadurch, dass der Patient für das Wintersemester 1911-12 seine Vorlesungen niederlegte und sich hierher zur Kur begab, eine leichte Besserung seiner nervösen Erschöpfung unverkennbar ist, so ist es doch vom ärztlichen Standpunkt aus vollkommen ausgeschlossen, dass Herr Geh. Rat Klein im Sommer Semester 1912 wieder lesen darf. Ein Rückfall in die frühere Schwäche und damit eine viel schwierigere Ausheilung seines Leidens würden die zweifelslosen Folgen verfrühter Arbeitsaufnahme sein. Ich bitte deshalb ganz gehorsamst meinen Patienten weiteren vollen Urlaub bis zum Wintersemester 1912-13 aus obigen dringlichen Gründen gewähren zu wollen. Er wird weiter hier oben in meinem Sanatorium verbleiben. gez. Dr. Klaus Nervenarzt. Gutachten vom 10. Oktober 1912 Der Geh. Reg. Rat Herr Professor Dr. Klein, Göttingen, hat Ende Sept. d. J. mein Sanatorium, in welchem er seit Jahresanfang weilte, verlassen und ist in seine Universitätsstadt zurückgekehrt. In der ihn umgebenden Ruhe hier oben fühlte sich derselbe schliesslich so gestärkt, dass er die Hoffnung hegen konnte, im Winter Semester 12/13 Vorlesung zu halten. Ich habe jetzt nach der Übersiedlung Herrn Klein eingehend untersucht und dabei leider feststellen müssen, dass sein Nervensystem noch sehr leicht erschöpfbar ist und dass er unter einigen besonders schweren Anfällen von Darmneurose zu leiden hatte. Patient nur vorübergehend dadurch wieder sehr leidend geworden. Solche Rückfälle sind bei dem raschen Wechsel der Umgebung und dem Aufhören der Kur nichts Auffallendes und nicht etwa von schlimmer Prognose – aber sie verlangen gebieterisch, dass man sie eingehend berücksichtigt. Um deshalb zu verhüten, dass Herr Geh. Rat Klein einer grösseren Erschöpfung wieder anheim fällt muss ich demselben im Interesse seiner Gesundheit und vollständigen Wiederherstellung das Halten von Vorlesungen im Winter Semester 12/13 vom ärztlichen Standpunkte aus verbieten. Dr. Klaus.

32 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 2 D, Bl. 65 und 66. – Vgl. hierzu Abschnitt 8.5.1 im Buch.

Anhang: Auswahl von Dokumenten

517

Nr. 11) Wahlvorschlag für Felix Klein zum korrespondierenden Mitglied der Kgl. Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 27.2.191333 Die Unterzeichneten beehren sich, der Akademie die Wahl des Herrn Professor Felix Klein zum correspendirenden Mitgliede im Fache Mathematik vorzuschlagen. Klein wurde geboren den 25ten April 1849 in Düsseldorf, er studierte in Bonn, Göttingen und Berlin, promovierte in Bonn 1868, wurde 1871 Privatdocent in Göttingen, 1872 ordentlicher Professor in Erlangen, ging von dort 1875 an die technische Hochschule in München. 1880 wurde er an die Universität Leipzig berufen und lehrt seit 188734 an der Göttinger Universität. Klein, einer der wenigen Mathematiker, die jetzt noch imstande sind, das ganze der Mathematik zu übersehen, war ursprünglich Geometer. Vertraut mit den Ideen des geistvollen Plücker, begann er seine Laufbahn mit Arbeiten, die der Theorie der Liniencomplexe angehören. Er stellt eine einfache Form auf für die Gleichung einer Fläche zweiten Grades in Liniencoordinaten, bestimmt zusammen mit Sophus Lie die Haupttangentencurven der Kummer’schen Fläche und giebt für die Liniencomplexe ein Analogon des Dupin’schen Krümmungssatzes. Seine Kenntnis der Ideen von Plücker, Staudt, Sophus Lie und seine eigenen Untersuchungen führen ihn dazu, die von seinen Vorgängern behandelten Fragen unter gemeinsamem Gesichtspunkt zu betrachten, und in seiner Erlanger Antrittsrede35 vereinigt er alle damals neuen geometrischen Ideen zu einem Ganzen, indem er nicht mehr Formeln, sondern Gedanken darlegt. – Auf einen Geometer, der so allgemein dachte, mußte die Riemann’sche Theorie der Abel’schen Funktionen eine starke Anziehungskraft ausüben. Das Interesse, das Klein immer für Riemann bekundet hat, tritt in seinem Buch über die elliptischen Modulfunktionen besonders deutlich hervor. Dieses Buch, zwei starke Bände, enthält Vorlesungen, die Klein gehalten hat und umfaßt eine große Reihe von einzelnen Arbeiten, die er vorher veröffentlicht hatte. Ein schönes Capitel in ihm bildet die Klein’sche Darstellung der Riemann’schen Theorie. Das Buch handelt im wesentlichen von einer einzigen Funktion, aber von einer sehr wichtigen, der Modulfunktion. Ihr funktionentheoretischer Charakter war zuerst von Gauß erkannt worden, der selbst nichts darüber mittheilte, aber ein Blatt mit einigen charakteristischen Zeichnungen von Gauß, das im Nachlaß aufgefunden wurde, wurde noch rechtzeitig veröffentlicht, um Gauß in diesem Punkte die Priorität zu sichern. An die Modulfunktionen knüpften sich schon von Gauß und Jacobi her algebraische Forschungen von großem Interesse, die Klein mit neuen Mitteln und in neuer Form wieder aufnimmt. Aber Klein faßt diese ganze Arbeit nur als Vorstufe auf für eine umfassende Untersuchung derjenigen Funktionen, die um jene Zeit, teilweise auch erheblich früher, entdeckt worden waren und die Poincaré Fuchs’sche und Klein’sche, Klein automorphe Funktionen nennt. Wenn man, wie es Klein thut, die Gauß-Jacobi’sche Modulfunktion zum Ausgangpunkt nimmt, so hat man doch das erste Bei33 [BBA] III b, Bd. 22, Nr. 135, Bl. 70-74v. (Handschrift von Friedrich Schottky). 34 Falsche Jahresangabe; Klein lehrte seit April 1886 in Göttingen. 35 Gemeint ist die Erlanger Programmschrift (KLEIN 1872).

518

Anhang: Auswahl von Dokumenten

spiel einer automorphen Funktion, und dieses offenbart unmittelbar einige der Tiefen und Schwierigkeiten der Theorie, die Klein im Wettbewerb mit Poincaré aufstellt. Wenn es darauf ankommt, die einfachsten und prinzipiell wichtigsten der damals und in den vorangehenden Jahren von deutschen Mathematikern neu gewonnenen Funktionen auf direktem Wege zu definieren, so hat man anders zu verfahren. Aber nächst Poincaré war Felix Klein derjenige, der am meisten für die neuen Funktionen gearbeitet hat. Auch diese Untersuchungen füllen zwei starke Bände. Klein hat auch seine übrigen Göttinger Vorlesungen, in denen die wichtigsten Resultate seiner Arbeiten enthalten sind, dadurch einem weiteren Kreise zugänglich gemacht, daß er sie autographiren ließ. Es sind Vorlesungen über das Ikosaeder, über die nicht-Euklidische Geometrie, über Anwendung der Differential- und Integralrechnung auf die Geometrie, eine Revision der Prinzipien, über die hypergeometrische Funktion, über Riemann’sche Flächen. Es ist zu hoffen, daß alles dies dem Druck übergeben werden wird.36 Dann wird, was sehr wünschenswerth ist, für Deutschland ein großes bänderreiches Lehrbuch der Analysis existiren, voll eigenthümlicher geometrischer Methoden und mit geometrischer Tendenz. Die rastlose Thätigkeit Felix Klein’s beschränkte sich nicht auf die eigenen wissenschaftlichen Forschungen. Es ist sein Verdienst, wenn die schwierige Aufgabe der Veröffentlichung von Gauß’ Nachlaß jetzt fast vollständig und in musterhafter Weise gelöst ist, daß ferner das große Werk der mathematischen Encyklopädie begonnen und energisch fortgeführt wurde. Er war unermüdlich thätig auf Congressen, um den Zusammenschluß der Mathematiker zu fördern und auf wichtige Ziele hinzuweisen. Fast alle Akademien und mathematische Gesellschaften zählen ihn zu ihren Mitgliedern, mehrere Universitäten haben ihn zu ihrem Ehrendoktor ernannt. In der letzten Zeit war sein Eifer hauptsächlich auf die Hebung des mathematischen Unterrichtes in Hoch- und Mittelschulen gewidmet, er war hierbei ebenso unermüdlich wie die Jahrzehnte vorher als Mathematiker. H. A. Schwarz, Frobenius, Schottky, Planck37

36 Die Vorlesungen über das Ikosaeder (Leipzig: B.G. Teubner, 1884) waren von Beginn an ein von Klein ausgearbeitetes gedrucktes Buch. Mit autographierten Vorlesungen sind Vervielfältigungen von handschriftlichen Ausarbeitungen gemeint. Klein konnte davon einige noch selbst für den Druck als Buch vorbereiten (vgl. Abschnitt 9.2). 37 Kleins Wahl erfolgte gleichzeitig mit Hilbert zum Korrespondenten der Berliner Akademie. In der mathematisch-physikalischen Klasse wurden beide am 29.5.1913 einstimmig gewählt. Bei der Wahl in der Gesamtsitzung der Akademie am 10.7.1913 erhielt Klein 40 von 44 Stimmen. Hilbert erhielt alle Stimmen.

Anhang: Auswahl von Dokumenten

519

Nr. 12) Ansprache von Eduard Riecke beim Überreichen des Gemäldes von Max Liebermann an Felix Klein, gestiftet anlässlich seines 40-jährigen ProfessorenJubiläums, und Antwort Felix Klein, am 25.5.191338 Lieber Freund! Das Alter ist im allgemeinen ein etwas zweifelhafter Vorzug; allein heute bin ich ihm dankbar, denn es gibt mir die schöne Pflicht und die herzliche Freude, dass ich im Namen der Kollegen einige Worte an Dich richten darf. Ich erinnere mich noch deutlich der Kollegstunde bei Clebsch, wo ich Dich zum ersten Male sah und wo ich, ohne noch ein Wort mit Dir gewechselt zu haben, mir sagte, hinter diesen Augen und hinter dieser Stirn steckt etwas Besonderes. Als ich dann im Laufe des Semesters Dir näher kam, sah ich, daß mein Auge mich nicht getäuscht hatte. Die folgenden Semester, die Ereignisse des Krieges führten Dich von Göttingen weg und erst im Sommer 1871 fanden wir uns wieder als Göttinger Privatdozenten. Neben den geometrischen Problemen, die Dich damals beschäftigten, standen lebhafte physikalische Interessen; Du hast damals auch eine Vorlesung über die Theorie des Lichts gehalten, begleitet von Experimenten. Der Fresnelsche Spiegel, der damals konstruiert wurde, befindet sich, wenn auch nicht ganz im originalen Zustande, noch heute im physikalischen Institut. Als im Jahre 1885 Stern seine Professur niederlegte,39 erschien die ferne Hoffnung Dich wieder für Göttingen zu gewinnen; die Sache gelang trotz großer Schwierigkeiten; Althoff, der dem Plane an sich sympathisch gegenüberstand, fürchtete eine Absage. Auf dem Wege von der Sternwarte nach der Stadt, auf dem ich ihn begleitete, erfolgte seine Entschließung. An der Ecke, wo der Schildweg von dem Kasernenhof abzweigt, frug er mich: „Stehen Sie mir dafür, dass Klein annimmt!“ Ich antwortete: „Ja“ und darauf sagte er die Berufung zu. Daß Du als unser neuer Kollege Dich nicht nach dem Spruche: ‚quieta non movere’40 richten würdest, wusste ich wohl; aber eben deshalb hielt ich Deine Berufung für so wichtig und schien sie mir geradezu eine Lebensfrage für unsere Universität zu sein. Es bestand damals die Gefahr, dass diese allmählich auf den Stand einer reinen Provinzialuniversität herabsinken würde, deshalb war ein neuer Impuls von außen dringend notwendig. Daß wir uns in dieser Annahme nicht getäuscht haben, davon zeugt die Geschichte der letzten Jahrzehnte; Neuorganisation des mathematischen Unterrichts, Neugründung der Gesellschaft der Wissenschaften, Göttinger Vereinigung, um nur zu nennen, was Göttingen besonders angeht. Bei all diesen organisatorischen Arbeiten haben wir immer drei Dinge vor allem bewundert: den hohen Standpunkt und den weiten Blick, mit dem Du alle in Betracht kommenden Fragen zu umfassen, mit dem Du die Beziehung der ver38 [Privatnachlass Hillebrand]; [UBG] Cod. Ms. F. Klein 107. – Vgl. Abschnitt 8.5.2 im Buch. 39 Moritz Stern stellte am 19.4.1884 bereits den Antrag auf Dispens vom Amt, was ihm zum 1.10.1884 genehmigt wurde (vgl. Abschnitt 5.5.1). 40 quieta non movere = Was ruht, soll man nicht aufrühren.

520

Anhang: Auswahl von Dokumenten

schiedensten Dinge zu erkennen wußtest, um alle zu einem und demselben Ziele zu lenken; ferner die vollkommene Gerechtigkeit gegenüber allen Sachen und Personen und den Idealismus und die Selbstlosigkeit, mit der Du Deine Arbeit in den Dienst der Allgemeinheit gestellt hast. Alles hängt schließlich von dem Standpunkt ab, von dem aus man die Dinge betrachtet; je höher dieser ist, um so mehr verschwindet das Persönliche und um so reiner erscheinen die sachlichen Interessen. So hat die Art, wie Du zum Wohle unserer Hochschule, zum Wohle der Wissenschaft, zum Wohle unserer ganzen Kultur tätig warst, unbeabsichtigt noch eine andere Wirkung geübt. Die höchsten Werte des Menschen liegen doch wohl nicht auf dem intellektuellen, sondern auf dem ethischen Gebiete. Es mögen viele Deiner Freunde und Schüler erlebt haben, daß Ihnen nach einer Plauderstunde mit Dir zumute war, wie dem Wanderer in reiner Bergluft hoch über dem alltäglichen Treiben der Menschen, das wie im wesenlosen Scheine tief unter ihm verschwindet. Alles Kleinliche und Beschränkte ist verschwunden und abgefallen, und die Seele erfüllt von großem und reinen Gefühl. Auch für manche Deiner Schüler ist diese Wirkung vielleicht von tieferer Bedeutung geworden als die unmittelbare Lehre, und so sei Dir auch hierfür ein besonders warmer Dank gesagt. Ich stehe nun aber nicht bloß hier als ein Vertreter Deiner Göttinger Kollegen, sondern im Namen einer großen Zahl von Freunden, Verehrern und Schülern aus allen Teilen der Welt, und in ihrem Namen darf ich nun lesen, was sie Dir am heutigen Tage zu sagen, wofür sie Dir danken und was sie Dir zu wünschen haben. (Wortlaut der Grußadresse)41 Eduard Riecke, 25. Mai 1913 41 Der Wortlaut der Grußadresse bietet inhaltlich nichts Neues. Interessant ist das weltweite Netz. Die 71 Personen, die zur Stiftung aufgerufen hatten, waren: A. Ackermann-Teubner, L. Bianchi, O. Blumenthal, M. Bôcher, H. v. Böttinger, A. v. Brill, H. Burkhardt, C. Carathéodory, G. Darboux, R. Dedekind, W. v. Dyck, E. Ehlers, F. Enriques, H. Fehr, L. Fejér, R. Fricke, R. Fueter, P.. Gordan, G. Greenhill, Cav. G. B. Guccia, A. Gutzmer, J. Hadamard, O. Henrici, D. Hilbert, E. W. Hobson, A. Höfler, O. Hölder, A. Hurwitz, G. Kerschensteiner, P. Koebe, J. König, A. Krazer, E. Landau, E. Lange, W. Lietzmann, C. v. Linde, F. Lindemann, F. Mertens, F. Meyer, O. v. Miller, G. Mittag-Leffler, J. Molk, E. H. Moore, C. H. Müller, M. Nöther, W. Osgood, E. Picard, H. Poincaré, E. Riecke, K. Rohn, C. Runge, R. Schimmack, H. Schotten, F. Schur, A. Sommerfeld, P. Stäckel, W. Stekloff, O. Taaks, A. Thaer, P. Treutlein, G. Veronese, W. Voigt, V. Volterra, K. VonderMühll, A. Voss, E. Waelsch, A. Wassiliew, H. Weber, A. Wiman, W. Wirtinger, H. G. Zeuthen. – Sie gewannen 331 Spender, die aus Australien, Belgien, Canada (J.C. Fields), Dänemark (P. Heegaard…), Deutschland, Frankreich (P. Appell, E. Borel, B. Boutroux …), Griechenland (C. Stephanos), Großbritannien (A. Berry, G. Darwin, A.E.H. Love), Indien, Italien (G. Castelnuovo, G. Loria, E. d’Ovidio, E. Pascal, C. Segre…), Japan (R. Fujisawa, T. Yoshiye), den Niederlanden (L.E.J. Brouwer, J. Cardinaal), Österreich-Ungarn, (J. König, G. Rados, G. Zemplén ...), Portugal (F.G. Teixeira). Sie waren Polen (S. Dickstein, K. Zorawski), kamen aus Russland (darunter Nadjeschda Gernet, A.N. Kriloff, A. Markoff, D.M. Sintzow …), Schweden, der Schweiz (darunter E. Fiedler, C. Jaccottet, F. Rudio, A. Weiler), den USA (darunter F.N. Cole, F. Franklin, M.W. Haskell, W. D.E. Smith, V. Snyder, H.W. Tyler, E.B.V. Vleck, F.S. Woods). – Die Namen befinden sich nur dann im Personenregister des Buches, wenn sie noch an weiterer Stelle im Buch vorkommen.

Anhang: Auswahl von Dokumenten

521

Antwort Felix Kleins, am 25. Mai 1913 Meine verehrten Kollegen und Freunde! Für die außerordentliche Ehrung, die Sie mir durch Adresse und Bild erwiesen, sage ich Ihnen und Ihren Auftraggebern tiefgefühlten Dank. Das Bild nehme ich als glückverheißendes Symbol dafür, daß der Bau des selbstständigen mathematischen Instituts, wie wir ihn in unmittelbarer Nähe des physikalischen Instituts planen, tatsächlich zustande kommt.42 Dort möge es seinen Platz finden, als Zeichen dafür, daß ich daran gearbeitet habe, die mathematischen Wissenschaften in lebendiger Beziehung zu den Nachbargebieten als ein großes, vielseitiges Ganze zur Geltung zu bringen, das über die Leistungen des Einzelnen und gewiß meinen eigenen bescheidenen Anteil weit hinausgreift. Ihre Adresse aber sei mir eine teure Erinnerung an die vielen Freunde und Mitarbeiter, mit denen ich auf meinem Wege habe in Beziehung treten dürfen. Das Zusammenwirken mit Gleichstrebenden ist immer mein eigentliches Lebenselement gewesen. Auch hoffe ich, hierauf gestützt, trotz aller Hemmungen, die mir der Stand meiner Gesundheit bereitet, doch noch die von mir seit Jahren begonnenen zusammenfassenden Arbeiten weiter fördern zu können. Inzwischen blüht um mich herum neues, vorwärtsdrängendes Leben immer reicher empor, dessen steigende Bedeutung ich mit wachsender Teilnahme begleite. Ich wünsche es nicht besser, als daß die Zeit, in der ich wirkte, der rückschauenden Betrachtung später als Vorbereitung zu neuem Anstieg erscheinen möge. Ich danke Ihnen wiederholt und bitte Sie, diesen Dank Ihren Auftraggebern in geeigneter Form zur Kenntnis zu bringen. Nr. 13) Virgil Snyder aus Ithaca (New York) an Felix Klein, betreffend den Internationalen Mathematiker-Kongress in Toronto (Canada), 4.7.192443 Sehr geehrter Herr Geheimrat, Meinen verbindlichsten Dank für Ihren liebenswürdigen Brief, der gerade hier eintraf, als ich wegen einer Operation ins Hospital musste. Ich möchte Ihnen nun die Grüsse auf das Herzlichste erwidern und Ihnen zu gleicher Zeit meine Stellung zu dem bevorstehenden Congress in Canada erklären. Während meines Aufenthaltes in Rom vor zwei Jahren, erfuhr ich zuerst, dass der nächste Congress in den Ver.[einigten] Staaten abgehalten werden sollte, aber nichts von etwaiger Teilnahme oder Nichtteilnahme der verschiedenen Nationen. So viel ich weiss, ist die Sache der Amer.[ican] Math.[ematical] Society nie vorgelegt worden; jedenfalls ist sie gewiss nie zur Abstimmung gekommen. 42 Wie erwähnt, wurde das Institut erst 1929 vollendet (Bunsenstraße 3-5), vgl. 9.4.2. 43 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 11: 1040A. – Snyder hatte vier Semester (1892/93 bis 1894) Vorlesungen bei Klein gehört und zweimal im Seminar vorgetragen. Ausgehend vom Vortrag über „Kugelgeometrie“ ([Protokolle] Bd. 11, 265-73) lenkte Klein ihn zur Dissertation: Über die linearen Komplexe der Lie’schen Kugelgeometrie, 1895. Seit 1910 war Snyder Full Professor an der Cornell University (Ithaca, New York). In den USA setzte er Kleins Erbe in der algebraischen Geometrie fort, vgl. auch PARSHALL/ROWE 1994.

522

Anhang: Auswahl von Dokumenten

Herr Professor R. C. Archibald,44 der zur selben Zeit in Rom war, und ich machten Pläne, wenigstens einige der Mathematiker, die sich am Congress beteiligten, nach dem Schluss desselben einzuladen, Vorträge an unseren Universitäten zu halten, vielleicht in der Form von kürzeren Kursen, die in einigen Wochen gegeben werden könnten. Auf diese Weise hofften wir, dass Studenten wie Fakultät an unsern Universitäten diese Männer kennen lernen würden und denen dadurch zum Teil wenigstens die lange Reise hierher finanziell erleichtert würde. Es wird Sie interessieren zu hören, dass Castelnuovo, Enriques, Levi-Civita, Segre, Severi,45 denen ich diesen Plan mitteilte, ausserordentlich annehmbar fanden und jeder von ihnen äusserten den Wunsch, dass auch Einladungen für die Ausführung desselben an die Vertreter Mitteleuropas geschickt würden. Ich habe nie erfahren, warum die finanzielle Unterstützung, erst versprochen, wieder zurückgezogen wurde, was notwendigerweise auch die amerikanische[n] Einladungen aufhob. Sobald die Einladung Canada’s erfolgte und angenommen war, legte ich den Plan von Archibald und mir dem Vorsitzenden des Ausschusses des canad.[ischen] Congresses, Herrn Professor J. C. Fields,46 vor. Dieser billigte ihn und forderte mich auf, ihn weiter zu entwickeln, etc. Von einer Beschränkung der Einladungen war nicht die Rede. Hierauf fragte ich bei den Universitäten Chicago, Harvard, Cornell an. Aus Chicago erhielt ich die Nachricht von der Beschränkung der Teilnahme am Congress. Ich wurde gebeten, meinen Plan aufzugeben, da er den canad.[ischen] Ausschuss nur in Verlegenheit versetzen würde. Auf meine Anfrage um weitere Aufklärungen erhielt ich einen langen Brief von Professor Dickson.47 Er schrieb, alle Welt weiss von der Sachlage – warum erst Alles wieder aufstöbern? Doch in der in New York bald danach stattfindenden Sitzung der Math.[ematical] Society wusste niemand etwas davon. Ich sprach mit etwa vierzig Teilnehmenden. Allerdings nach einer langen Unterredung mit Herrn Fields sah ich ein, dass ich meinen Plan nicht durchführen konnte und gab ihn auf. Doch nun bietet sich mir eine Gelegenheit, etwas durchzusetzen, was mir sehr am Herzen liegt. Die verschiedenen amerikanischen Körperschaften (Mathematical Society, Physical Society, National Academy etc.) wurden aufgefordert, Re44 Der in Canada geborene Raymond Clare Archibald hatte 1900 bei Theodor Reye in Straßburg promoviert und lehrte seit 1908 an der Brown University (Rhode Island) in den USA. 45 Klein ordnete ein: „Das allgemeine Problem der birationalen Transformation der Flächen ist dann insbesondere von der jungen italienischen Schule weiterentwickelt worden, der Segre, Veronese, Enriques, Castelnuovo, Severi angehören.“ KLEIN 1926 (Vorlesungen I, 314). 46 John Charles Fields, Toronto, gehörte wie Snyder zu den Stiftern des Liebermann-Gemäldes für Klein 1912. Fields hinterließ bei seinem Tod 1932 eine Summe für eine nach ihm benannte Medaille für herausragende mathematische Leistungen. Sie wird seit 1936 auf den internationalen Mathematiker-Kongressen verliehen. 47 Leonard Eugene Dickson, vor allem Algebraiker und Zahlentheoretiker, hatte in Chicago bei Mathematikern, die eng mit Klein verbunden waren (H. Maschke, O. Bolza, E. H. Moore) und auch bei S. Lie in Leipzig und C. Jordan in Paris studiert. Er kannte die in Frankreich noch bestehenden Aversionen gegen eine Teilnahme deutscher Mathematiker an internationalen Kongressen, vgl. auch SIEGMUND-SCHULTZE 2011.

Anhang: Auswahl von Dokumenten

523

presentanten [sic!] zu ernennen, die amerikanische Gruppe der International Mathematical Union [zu] bilden. Von diesen Representanten – siebzehn an der Zahl – sind nun drei gewählt worden als Delegierte nach Toronto. Die gewählten Delegierte[n] sind Coble, Richardson, Snyder.48 Uns wurde aufgetragen den folgenden Vorschlag vorzulegen: “Resolved that the International Mathematical Union request the International Research Council to consider whether the time is ripe for removing the restrictions on membership in the International Union, now imposed by the rules of that Council”. Sollte dieser nicht in Betracht gezogen werden, so haben wir den Entschluss gefasst, uns gänzlich von der Union zurückzuziehen.49 Mit der Hoffnung, dass Sie wieder in guter Gesundheit sind, und mit den besten Grüssen an Sie, bin ich Ihr ergebener Virgil Snyder Nr. 14) Gedenkworte David Hilberts für Felix Klein, am 23.6.192550 M.[eine] D.[amen] u.[nd] H.[erren]. Gestatten Sie mir einige Worte vor Eintritt in die Tagesordnung. Unser lieber Lehrer, Kollege und Freund Felix Klein ist gestern Abend sanft entschlafen. Sein Ende war friedlich und schmerzlos; es war uns nicht überraschend, sondern lange vorausgesehen. Aber das Ereignis, nachdem es nun da ist, hat uns doch alle auf tiefste berührt und aufs schmerzlichste erschüttert. Denn bis dahin war F. Klein doch noch immer bei uns, wir konnten ihn besuchen, auf seinen Rat hören und sehen, welch lebhaften Anteil er nahm. Jetzt ist es damit vorbei. Ein grosser Geist, ein starker Wille, ein vornehmer Charakter ist uns genommen. – Hier ist nicht der Platz, Klein zu würdigen; eine Würdigung liesse sich nicht in wenig Worten machen. Denn das Schaffen u.[nd] Wirken war so vielseitig und so gewaltig, dass man nicht gut Einzelnes bevorzugen kann. Man kann nicht einmal entscheiden, ob er am meisten als Lehrer, als Forscher oder als Persönlichkeit gewirkt hat. Als Lehrer, da gedenken wir hier vor Allem seiner glänzenden Vorträge und Vorlesungen. Aber wenn wir den grossen Zug nennen wollen, so müssten wir schildern, wie er im Gegensatz zu der damals vorherrschenden Richtung des Abstrakten u.[nd] Formalen stets das Anschauliche und 48 Arthur Byron Coble, Prof., University of Illinois, hatte eine Zeitlang bei E. Study studiert. – Roland Richardson hatte vor seiner Promotion in Yale (1906) auch in Göttingen studiert und war Professor an der Brown University geworden. Zum Einfluss durch Hilbert, Klein und M. Bôcher, vgl. https://projecteuclid.org/download/pdf_1/euclid.bams/1183514768 49 Der von der US-Delegation in Toronto 1924 gestellte Antrag wurde von den Teilnehmern aus Dänemark, Großbritannien, Italien, Niederlande, Norwegen, Schweden unterstützt. Snyder, Präsident der American Mathematical Society 1927/28, war Delegierter beim Kongress in Bologna 1928, wo deutsche Mathematiker/innen wieder teilnahmen, nicht ohne heftigen Widerspruch nationalistisch eingestellter Mathematiker (vgl. SIEGMUND-SCHULTZE 2016). 50 [UBG] Cod. Ms. Hilbert 575: Nr. 3 (Hilbert, Notizen am 23.6.1925). – Hilbert leitete mit diesen Worten die Sitzung der Mathematischen Gesellschaft zu Göttingen am Dienstag, den 23. Juni 1925, ein.

524

Anhang: Auswahl von Dokumenten

die Anwendungen betonte und damit das Vielgestaltige in der Math.[ematik] zum Ausdruck und zur Geltung brachte. Und mit dieser Tendenz ist er trotz scharfer Gegenströmungen durchgedrungen. Und das wissenschaftliche Zeichen, mit dem er siegte war der Name Riemann, den er auf seine Fahne schrieb. Was den Forscher Klein angeht, so ist kaum ein math.[ematisches] Gebiet nicht von ihm gepflegt worden. Besonders Geom.[etrie] und insb.[esondere] geom.[etrische] Funktionenth.[eorie]. Gerade die tiefsten Sätze über Unif.[ormisierung] hat er zuerst praesagiente animo vorausgesehen, auch die Beweisgründe erbracht und heute steht der ganze starke Bau ausgeführt von seinen Schülern da. Die letzten Kräfte in seinen letzten Lebensjahren hat er dazu verwandt, uns ein besonders wertvolles Geschenk zu machen, die 3 Bde seiner Abh.[andlungen], ein Musterbeispiel, wie die Werke eines Gelehrten herauszugeben sind. Aber, wenn auch diese Betätigungen Kleins für die Welt u.[nd] Wiss.[enschaft] die Hauptsache sein mögen, für uns hier kommt noch wesentlich in Frage, was er für Göttingen geschaffen: eine neue Blütezeit, nicht bloss den Grund gelegt, sondern die Ausführungsbestimmungen erlassen. Alles was Sie hier in Göttingen sehen ist das Werk seiner Persönlichkeit: Lesezimmer, Modellsammlung, die […] Institute, die Berufungen, die Bereitwilligkeit des Ministeriums, die bedeutenden Personen aus der Industrie, die er interessierte. Dies verdanken wir seiner Persönlichkeit, durch die er überall den Erfolg auf seiner Seite hatte, und woher der Erfolg: Das Geheimnis des Erfolges lag in seiner unbestechlichen Sachlichkeit. Grosse Ziele, nie kleinste persönliche Nebenzwecke. So hat Klein auch seinen Geist uns hinterlassen: in seinem Geiste das Werk fortführen. Fortdauer, solange uns dieser Geist nicht verblasst.

Abb. 38: Grabstein Felix und Anna Klein, alter Stadtfriedhof Göttingen

BIBLIOGRAPHIE ARCHIVALIEN [AdW Göttingen] Archiv der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. [AdW München] Archiv der Bayerischen Akademie der Wissenschaften München, Protokoll der Wahlsitzung vom 25. Juni 1879. [AdW Wien] Archiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. ENCYKLOPÄDIE-Akten; Wirtinger, Wilhelm: Autobiographische Aufzeichnungen von Juni 1939. [Archiv Sächs. AdW] Archiv der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, Personalakte F. Klein (1 Blatt Personalangaben, sonst Kriegsverlust). [Archiv St. Petersburg] Archiv der Akademie der Wissenschaften zu St. Petersburg, Wahlvorschläge 1895; Nachlass A. A. Markow Fond 173, Opis 1, Nr. 40. [Archiv TU München] Directorium d. Kgl. Polytechnischen Schule in München. Betr. Dr. Felix Klein, Kgl. o.ö. Professor, Registratur II 5; X2d. [BBA] Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Wahl Kleins zum Korrespondierenden Mitglied; NL W. Ostwald. [BBF] Bibliothek für bildungsgeschichtliche Forschung Berlin, Archiv, Personalblätter von Lehrern und Lehrerinnen Preußens. [BHSt] Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Akten des Kgl. Staatsministeriums des Innern für Kirchen und Schulangelegenheiten. [BStBibl] Bayerische Staatsbibliothek München, Handschriftenabteilung, Dyckiania. [Canada] Canada Institute for Scientific and Technological Information, National Research Council, Ottawa. K.A. Ø S 2. [Debye] Kuhn, T. S.; Uhlenbeck, G., Interview with Peter Debye, am 3. Mai 1962. Rockefeller Institute, New York City. (Die Autorin dankt D. E. Rowe für die Übermittlung der Quelle.) [Deutsches Museum] Archiv des Deutschen Museums München; Abteilung Sondersammlungen. [Gymnasium Düsseldorf] Zeugnis der Reife Felix Kleins (2.8.1865); schriftliche Abiturarbeiten. [Harvard Archives] Nachlass Richard von Mises. [Innsbruck] Nachlass Otto Stolz. Briefe Kleins an Otto Stolz, Transliteration durch Christa Binder. [Lindemann] Privatnachlass von Irmgard Verholzer geb. Balder, Enkeltochter von Ferdinand Lindemann: Lebenserinnerungen Ferdinand Lindemanns, 1911. [Math. Institut Leipzig] Klein, nicht edierte Vorlesungen, Vorträge (aufbewahrt durch Frau Ina Letzel). [MPI Archiv] Max-Planck-Archiv in Berlin-Dahlem, Repertorium Prandtl, III. Abt., Repositur 61. [Nachlass Blaschke] Mathematische Gesellschaft in Hamburg (MHG), Briefe Kleins an Blaschke (übermittelt durch Prof. Dr. Alexander Kreuzer, Jahrverwalter der MHG). [Nachlass Hecke] Nachlass Erich Hecke, Mathematisches Institut der Universität Hamburg, Ausarbeitung einer Vorlesung Kleins von 1910-11. [Nachlass Lorey] Universitätsbibliothek J.C. Senckenberg, Na 42. [Oslo] Nasjonalbiblioteket, Nachlass S. Lie; I. Briefe, Klein an Lie; II. Klein: Ueber Lie’s und meine Arbeiten aus den Jahren 1870-72 (v. 1.11.1892), publiziert in ROWE 1992a, 588-604. [Paris] Bibliothèque de l’Institut de France, Faculté des Sciences de Paris, MS 2719, Lettres de Klein (an Gaston Darboux). [Pisa] Scuola Normale Superiore Pisa, Biblioteca, Archivio Betti. [Privatnachlass Hillebrand] Privatnachlass der Familie Barbara und Meinolf Hillebrand, Scheeßel. Klein, Alfred (1910), (1918), Familien-Geschichte Klein; Fotos u.a.

525 © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Tobies, Felix Klein, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58749-2

526

Bibliographie

[Protokolle] Protokollbände 1-29 der Mathematischen Seminare Felix Kleins. Originale in der Bibliothek des Mathematischen Instituts der Universität Göttingen, jetzt [UBG], online: http://www.uni-math.gwdg.de/aufzeichnungen/klein-scans/klein/ [Roma] Rom, Istituto Matematico “G. Castelnuovo”, Università di Roma, Briefe Felix Kleins an Luigi Cremona. [StA Berlin] Staatsarchiv Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Abt. Merseburg. [StA Dresden] Sächsisches Staatsarchiv Dresden, Ministerium für Volksbildung 10210; 10281. [StB Berlin] Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin, Handschriftenabteilung. [UA Bonn] Universitätsarchiv Bonn. [UA Braunschweig] Archiv der Technischen Universität Braunschweig, Nachlass Robert Fricke, Briefe Felix Kleins an Fricke. [UA Chemnitz] Archiv der Technischen Universität Chemnitz. [UA Erlangen] Universitätsarchiv Erlangen. [UA Freiburg] Universitätsarchiv Freiburg i.Br., DMV 1, Korrespondenzbuch. Vorbereitung und Gründung der DMV, 1889 – 1895. [UAG] Universitätsarchiv Göttingen. [UB Erlangen] Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Erlangen, Akten der Physicalisch-medicinischen Societät. [UB Frankfurt a.M.] J.C. Senckenberg, Na 42 – Nachlass Wilhelm Lorey. [UBG] Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung. Cod. Ms. F. Klein (http://hans.sub.uni-goettingen.de/nachlaesse/Klein.pdf); Cod. Ms. Hilbert; Cod. Ms. W. Lietzmann; Cod. Ms. Teubner 49; Cod. Ms. Math.-Arch. 49 (Math. Gesellschaft Göttingen); Cod. Ms. Math.-Arch. 50-52 (Göttinger Vereinigung); Cod. Ms. Math.-Arch. 7679 (Briefnachlass Adolf Hurwitz). [UA Leipzig] Universitätsarchiv Leipzig [UB Leipzig] Universitätsbibliothek Leipzig, Handschriftenabteilung.

LITERATUR ABELE, Andrea; NEUNZERT, Helmut; TOBIES, R. (2004): Traumjob Mathematik. Basel: Birkhäuser. ADB. Allgemeine Deutsche Biographie (1875-1912). Leipzig: Duncker & Humblot. ALBERS, Donald J.; ALEXANDERSON, Gerald L.; REID, Constance (1987): International mathematical congresses. An illustrated history, 1893–1986. New York: Springer (revised). AMTLICHER BERICHT (1877) der 50 Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in München, vom 17. bis 22. September 1877. Hg. unter Leitung v. F. Klein. München: F. Straub. AMTLICHES VERZEICHNIS (1869) des Personals und der Studirenden auf der Kgl. Friedrich-Wilhelm-Universität zu Berlin, Winterhalbjahr von Michaelis 1869 bis Ostern 1870. Berlin: Gustav Schade. ALLMENDINGER, Henrike (2014): Felix Kleins Elementarmathematik vom höheren Standpunkte aus. Eine historische und mathematikdidaktische Analyse (Siegener Beiträge zur Geschichte und Philosophie der Mathematik 3). Siegen: Universitätsverlag. ASH, Mitchel (2002): „Wissenschaft und Politik als Ressourcen für einander“. In: R. vom Bruch (Hg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik – Bestandaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deuschland des 20. Jahrhunderts. Stuttgart: Franz Steiner, 32-51. — (2016): „Reflexionen zum Ressourcenansatz“. In: S. Flachowsky/R. Hachtmann/F. Schmaltz (Hg.), Wissenschaftspolitik, Forschungspraxis und Ressourcenmobilisierung im NS-Herrschaftssystem. Göttingen: Wallstein, 535-54. ATZEMA, Eisso J. (1993): The Structure of Systems of Lines in 19th Century Geometrical Optics: Malus’ Theorem and the Description of the Infinitely thin Pencil. Doctoral Thesis. Rijks-Universiteit te Utrecht.

Bibliographie

527

AUBIN, David; GOLDSTEIN, Catherine (eds.) (2014): The War of Guns and Mathematics: Mathematical Practices and Communities in France and Its Western Allies around World War I (History of Mathematics, 42). American Mathematical Society. BARROW-GREEN, June (2006): “Geometry at Cambridge 1863 – 1940”. Historia mathematica 33, 315-56. BATTIMELLI, Giovanni (2016): “About the Early International Congresses of Applied Mechanics.” In: P. Eberhard/S. Juhasz (eds.), IUTAM. A Short History. Springer, 20-30. BECKER, Heinrich; DAHMS, Hans-Joachim; WEGELER, Cornelia (Hg.) (1987): Die Universität Göttingen unter dem Nationalsozialismus. München: Sauer. BECKER, Thomas P. (2006): Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität. Ansichten – Einblicke – Rückblicke. Erfurt: Sutton. BECKERT, Herbert; PURKERT, Walter (Hg.), Leipziger mathematische Antrittsvorlesungen. Auswahl aus den Jahren 1869-1922. Leipzig: B.G. Teubner 1987. BECKERT, Herbert; SCHUMANN, Horst (Hg.) (1981): 100 Jahre Mathematisches Seminar der KarlMarx-Universität Leipzig. Berlin: VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften. BEČVÁŘOVÁ, Martina (2015): “Mathematische Kränzchen in Prag – A forgotten German Mathematical Society”. Technical Transactions Fundamental Sciences 19, issue 2, pp. 41-68. — (2016): “Women and mathematics at the universities in Prague in the first half of the 20th century”. Antiquitates Mathematicae 10, 133-167. BEER, Günther; REMANE Horst (Hg.) (2000): Otto Wallach 1847–1931. Chemiker und Nobelpreisträger. Lebenserinnerungen. Berlin: Engel. BEHNKE, Heinrich (1960): „Felix Klein und die heutige Mathematik“. Math.-physikal. Semesterberichte 7, 129-44. — (1978): Semesterberichte. Ein Leben an deutschen Universitäten im Wandel der Zeit. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. BEIN, REINHARD (2009): Sie lebten in Braunschweig. Biografische Notizen zu den in Braunschweig bestatteten Juden (1797 bis 1983) (Mitteilungen aus dem Stadtarchiv Braunschweig, 1). Braunschweig: Döhring. BELANGER, Mathieu (2010): Grothendieck et les topos: rupture et continuité dans les modes d’analyse du concept d'espace topologique. Thèse. Université de Montréal. BELHOSTE, Bruno; GISPERT, Hélène; HULIN, Nicole (éds.) (1996): Les Sciences au Lycée. Un siècle de réformes des mathématiques et de la physique en France et à étranger. Paris : Vuibert. BERGMANN, Birgit; EPPLE, Moritz (Hg.) (2009): Jüdische Mathematiker in der deutschsprachigen akademischen Kultur. Berlin/Heidelberg: Springer. BERICHT (1875) bis BERICHT (1881). Bericht über die Königl. Polytechnische Schule zu München für das Studienjahr 1874-1875; 1875-1876; 1876-1877; 1877-1878; 1880-188. München: Straub. BERNSTORFF, Florian (2009): Darwin, Darwinismus und Moralpädagogik. Zu den ideengeschichtlichen Voraussetzungen der Darwinismus und seiner Rezeption im deutschsprachigen pädagogischen Diskurs des späten 19. Jahrhunderts. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. BIERMANN, Kurt-Reinhard (1988): Die Mathematik und ihre Dozenten an der Berliner Universität 1810-1933. Berlin: Akademie-Verlag. BINDER, Christa (1989): „Über den Briefwechsel Felix Klein – Otto Stolz“. Wiss. Z. Ernst-MoritzArndt-Univ. Greifswald, Math.-naturwiss. Reihe 38 (4), 3-7. BIOESMAT-MARTAGON, Lise (Hg.) (2011): Éléments d’une biographie de l’Espace projectif. Nancy: Presses Universitaires de Nancy. — (Hg.) (2016): Éléments d’une biographie de l’Espace géométrique. Nancy: Presses Universitaires de Nancy. BIRKHOFF, Garrett; BENNETT, M. K. (1988): “Felix Klein and his ‘Erlanger Programm’”. In: Aspray/Kitcher (eds.), History and Philosophy of Modern Mathematics. University of Minnesota Press, 145-76.

528

Bibliographie

BISCHOF, Thomas (2014): Angewandte Mathematik und Frauenstudium in Thüringen. Jena: Garamond. BLOOR, David (2011): The Enigma of the Aerofoil: Rival Theories in Aerodynamics, 1909-1930. Chicago: University of Chicago Press. BLÜMEL, Günter; NATONEK, Wolfgang (22016). „Das edle Bestreben, der breiten Masse zu nützen“. Beiträge zur Geschichte der Volkshochschule Göttingen. Göttingen: Universitätsverlag. BLUMENTHAL, Otto (1928): „Einweihung einer Gedenktafel für Felix Klein am 12.10.1927, mit Ansprache Blumenthals“. Jahresbericht DMV 37, Abt. 2, 1-3. BÖLLING, Reinhard (2016): „Zur Biographie von Karl Weierstraß und zu einigen Aspekten seiner Mathematik“. In: KÖNIG/SPREKELS, 53-121. BOLZA, Oskar (1936): Aus meinem Leben. München: Ernst Reinhardt. BORN, Hedwig; BORN, Max (1969): Der Luxus des Gewissens: Erlebnisse und Einsichten im Atomzeitalter, hg. v. A. Hermann. München: Nymphenburger Verlagsbuchhandlung. BORN, Max (1975): Mein Leben. Die Erinnerungen des Nobelpreisträgers. München: Nymphenburger Verlagsbuchhandlung. BOTTAZINI, Umberto (1986). The Higher Calculus: A History of Real and Complex Analysis form Euler to Weierstrass. New York: Springer. — ; DAHAN DALMEDICO, Amy (eds.) (2001): Changing Images in Mathematics: From the French Revolution to the New Millennium (Studies in the History of Science Technology and Medicine). London/New York: Routledge. (Reprint 2013). — ; GRAY, Jeremy (2013): Hidden Harmony – Geometric Fantasies. The rise of complex function theory, Springer BRADLEY, Robert E.; SANDIFER, C. Edward (2009): Cauchy’s Cours d’analyse. An Annodated Translation. New York: Springer BRAUER, Richard (1935): „Über die Kleinsche Theorie der algebraischen Gleichungen“. Math. Ann. 110, 473-500. BRECHENMACHER, Frédéric (2011): « Self-Portraits with Évariste Galois (and the Shadow of Camille Jordan) ». Revue d’histoire des mathématiques 17, 271-369. BROCKE, Bernhard vom (1980): „Hochschul- und Wissenschaftspolitik in Preußen und im Deutschen Kaiserreich 1882-1907: das ‚System Althoff’“. In: P. Baumgart (Hg.), Preußen in der Geschichte, Bd. 1. Stuttgart: Klett-Cotta, 9-118. — (1981): „Der deutsch-amerikanische Professorenaustausch. Preußische Wissenschaftspolitik, internationale Wissenschaftsbeziehungen und die Anfänge einer deutschen auswärtigen Kulturpolitik vor dem Ersten Weltkrieg“. Zeitschrift für Kulturaustausch 31, 128-82. — (Hg.) (1991): Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftspolitik im Industriezeitalter. Das „System Althoff“ in historischer Perspektive. Hildesheim: August Lax. BURCKHARDT, J. J. (1972): „Der Briefwechsel von E. S. von Fedorow und F. Klein 1893“. Archive for History of Exact Sciences 9, Nr. 2, 85-93. CARATHÉODORY, Constantin (1919): „Die Bedeutung des Erlanger Programms“. Die Naturwissenschaften 7, H. 17, 297-300. — (1925): „Felix Klein †“. München- Augsburger Abendzeitung Nr. 181, Ausgabe B, 2-3, auch in C. Carathéodory, GMA, Bd. 5. München: Beck, 53-56. CATALOGUE (1889) des dissertations et ecrits académiques provenant des échanges avec les universités étrangères et recu par la bibliothèque nationale en 1886 et 1887. Paris: Libraire C. Klincksieck. CASNATI, Gianfranco; CONTE, Alberto; GATTO, Latterio; GIACARDI, Livia; MARCHISSIO, Marina; VERRA, Alessandro (2016) eds.: From Classical to Modern Algebraic Geometry. Corrado Segre’s Mastership and Legacy. Basel: Birkhäuser (Springer). CHISLENKO, Eugene; TSCHINKEL, Yuri (2007): “The Felix Klein Protocols”. Notices of the AMS 54, 960-70. CILIBERTO, CIRO (2000): “The geometry of algebraic varieties”. In: J.-P. Pier (ed.), Development of Mathematics 1950–2000. Basel: Birkhäuser, 269-312.

Bibliographie

529

CLEBSCH, Alfred (1872): „Zum Gedächtnis an Julius Plücker (Gelesen am 2.12.1871)“. Abhandlungen der Kgl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen 16, 1-32. — (1874). „Rudolf Friedrich Alfred Clebsch. Versuch einer Darlegung und Würdigung seiner wissenschaftlichen Leistungen, von einigen seiner Freunde“. Math. Ann. 7, 1-55. — (1876/91). Vorlesungen über Geometrie, bearb. und hg. v. F. Lindemann. Bd. 1: Geometrie der Ebene, mit einem Vorwort von F. Klein; Bd. 2. Die Flächen erster und zweiter Ordnung oder Klasse und der lineare Complex. Leipzig: B.G. Teubner. (Franz. Übers. Bd. 1, A. Benoist, Leçons sur la Géométrie, Paris: Gauthier-Villars, 1879-1883). — ; KLEIN, Felix (1872): „Über Modelle von Flächen dritter Ordnung“. Nachrichten von der Kgl. Gesellschaft der Wissenschaften und der Georg-August-Universität zu Göttingen Nr. 20 (v. 14.8.1872), 402-404 (Sitzung v. 3.8.1872). COCHELL, Gary G. (1998): “The Early History of the Cornell Mathematics Department: A Case Study in the Emergence of the American Research Community”. Historia Mathematica 25, 133-53. COEN, Salvatore (2012) ed.: Mathematicians in Bologna 1861-1960. Basel: Birkhäuser. COLLATZ, Lothar (1990): „Numerik“. In: FISCHER et al., 269–322. CONFALONIERI, Edoardo (o.J.): Beiträge zur Geschichte der Mathematischen Werke von Karl Weierstrass, T. III. CORAY, Daniel; FURINGHETTI, Fulvia; GISPERT, Hélène; HODGSON, Bernard R.; SCHUBRING, Gert (eds.) (2003): One Hundred Years of L’Enseignement Mathématique. Genève: L’Enseignement Mathematique. COURANT, Richard (1926): „Felix Klein (Gedächtnisrede, gehalten am 31.7.1925)“. Jahresbericht der DMV 34, 197-213. CROIZAT, Barnabé (2016): Gaston Darboux : naissance d’un mathématicien, genèse d’un professeur, chronique d’un rédacteur. Diss., l’école doctorale Sciences pour l’Ingénieur (Lille). CZICHICHOWSKI, Günter; FRITZSCHE, Bernd (Hg.) (1993): Sophus Lie, Eduard Study, Friedrich Engel: Beiträge zur Theorie der Differentialinvarianten (Teubner-Archiv zur Mathematik, 17), Leipzig: B.G. Teubner. DALEN, Dirk van (2005): Mystic, Geometer, and Intuitionist. The Life of L. E. J. Brouwer. Oxford: Clarendon Press. DARBOUX, Gaston (1873): Sur une classe remarquable de courbes et de surfaces algébriques et sur la théorie des imaginaires. Paris: Gauthier-Villars. DASTON, Lorraine (2017): “The Immortal Archive: Nineteenth-Century Science Imagines the Future.” In: L. Daston (ed.), Science in the Archives: Pasts, Presents, Futures. Chicago: University of Chicago Press, 159-82. DAUBEN, Joseph W.; SCRIBA, Christoph J. (eds.) (2002): Writing the History of Mathematics: Its Historical Development. Basel: Birkhäuser. DEMIDOV, Sergey S. (2015): “World War I and Mathematics in 'The Russian World'”. Technical Transactions. Fundamental Sciences (Krakow) 19 (2), 77-92. — ; FOLKERTS, Menso; ROWE, David E.; SCRIBA, Christoph J. (1992) (Hg.), Amphora, Festschrift für Hans Wussing. Basel: Birkhäuser. — ; PETROVA, S. S.; TOKAREVA, T. A. (2016): “Moscow Mathematical Society and the development of Russian mathematical community”. International Archive of the History of Science 66, 307-18. DICK, Auguste; STÖCKL, Gabriele (1986): Wilhelm Wirtinger. Katalog zur Sonderausstellung im Stadtmuseum der Stadt Ybbs a.d. Donau. Ybbs. DIE REICHSSCHULKONFERENZ 1920. Ihre Vorgeschichte und Vorbereitung und ihre Verhandlungen. Amtl. Bericht, erstattet vom Reichsministerium des Innern. Leipzig: Quelle & Meyer, 1921. DOMBROWSKI, Peter (1990): „Differentialgeometrie“. In: FISCHER et al., 323-60. DU BOIS-REYMOND, Emil (1877): „Kulturgeschichte und Naturwissenschaft“. In: Estelle du BoisReymond (Hg.), Emil du Bois-Reymond, Reden, Bd. 1, Leipzig: Veith &Comp. (1912) 567629.

530

Bibliographie

DUREN, Peter et al. ed. (1988/1989/1989): A Century of Mathematics in America, Part I, II, III. Providence: American Mathematical Society. DYCK, Walther (Hg.) (1892): Katalog mathematischer und mathematisch-physikalischer Modelle, Apparate und Instrumente. München: Wolf. — (Hg.) (1893): Deutsche Unterrichtsausstellung in Chicago: Spezialkatalog der Mathematischen Ausstellung (Gruppe X der Unterrichtsausstellung). München: Wolf. ECCARIUS, Wolfgang (1976): „August Leopold Crelle als Herausgeber des Crelleschen Journals“. Journal für die reine und angewandte Mathematik 286/287, 5-25. ECKERT, Michael (2013): Arnold Sommerfeld. Atomphysiker und Kulturbote 1868 – 1951. Eine Biografie (Deutsches Museum, Abhandlungen und Berichte – Neue Folge, Bd. 29). Göttingen: Wallstein (engl. Ed. Springer, 2013). — (2017): Ludwig Prandtl. Strömungsforscher und Wissenschaftsmanager. Ein unverstellter Blick auf sein Leben. Berlin/Heidelberg: Springer. — (2018): Strömungsmechanik zwischen Mathematik und Ingenieurwissenschaft. Felix Kleins Hydrodynamikseminar 1907-08. Hamburg: University Press. EINSTEIN, Albert (1997/1998/2004): The Collected Papers. Vol. 6, 8 und 9. Princeton: University Press. ENCYKLOPÄDIE (1898-1935). Encyklopädie der mathematischen Wissenschaften mit Einschluss ihrer Anwendungen. 6 Bde. Leipzig: B.G. Teubner. ENGEL, Friedrich (1899): „Sophus Lie“. Berichte über die Verhandlungen der Kgl. Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig, math.-phys. Classe 51, XI-LXI; erneut gedruckt in Jahresbericht DMV 8 (1900) 30-46. EPPLE, Moritz (1995): “Branch Points of Algebraic Functions and the Beginnings of Modern Knot Theory.” Historia Mathematica 22, 371-401. — (1999): Die Entstehung der Knotentheorie. Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg. ERNST, Wilhelm (1933): Julius Plücker. Eine zusammenfassende Darstellung seines Lebens und Wirkens als Mathematiker und Physiker auf Grund unveröffentlichter Briefe und Urkunden. Bonn: Universitäts-Buchdruckerei. EUKLID (1933-37): Die Elemente. Teil 1-5 (13 Bücher), hg. v. Clemens Thaer (Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften, 235, 236, 240, 241, 243). Leipzig: Akademische Verlagsgesellschaft Geest & Portig (Reprint). EWEN, Wolfgang (2008): „Über die Grundsätze der Mathematik von Carl Stumpf“. Gestalt Theory 31 (2), 129-41. FEDERSPIEL, Ruth, unter Mitarbeit von Samia SALEM (2011): Der Weg zur Deutschen Akademie der Technikwissenschaften. Berlin/Heidelberg: Springer. FEHR, Henri (1909): „Vorbericht über Organisation und Arbeitsplan der Kommission“ (übers. v. W. Lietzmann). Berichte und Mitteilungen, veranlasst durch die IMUK, 1. Folge, H. 1. — (1920): « La Commission internationale de l’enseignement mathématique de 1908 à 1920: Compte rendu sommaire suivi de la liste complète des travaux publiés parla Commission et les sous-commissions nationales ». L’Enseignement mathématique 21, 305-42. FENSTER, Della Dumbaugh; PARSHALL, Karen Hunger (1994): “Women in the American Mathematical Research Community: 1891-1906”. In: E. Knobloch/D.E. Rowe (eds.), The History of Modern Mathematic. Vol. III: Images, Ideas, and Communities. Boston: Academic Press, 229-61. FISCHER, Gerd (1985): „Abitur 1865: Reifeprüfungsarbeit in Mathematik von Felix Klein“. Der mathematische und naturwissenschaftliche Unterricht 38 (8), 459-65. — (Hg.) (1986): Mathematische Modelle aus den Sammlungen von Universitäten und Museen, 2 Bde. Berlin: Akademie-Verlag; Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg; neu ediert Springer 2018. — ; HIRZEBRUCH, Friedrich; SCHARLAU, Winfried; TÖRNIG, Willi (Hg.) (1990): Ein Jahrhundert Mathematik 1890-1990. Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg. FISHER, Gordon (1981): “The infinite and infinitesimal quantitites of du Bois-Reymond and their reception”. Archive for history of exact sciences 24, 101-63.

Bibliographie

531

FLECK, Ludwik (1935/1980): Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Hg. v. L. Schäfer/Th. Schnelle. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. FLÖTER, Jonas (2009): Eliten-Bildung in Sachsen und Preußen: die Fürsten- und Landesschulen Grimma, Meißen, Joachimsthal und Pforta (1868-1933). Köln: Böhlau. FORD, Lester R. (1915): An introduction to the theory of automorphic functions. London: G. Bell and Sons; 1916, 1918; Automorphic Fonctions. New York: McGraw-Hill, 1929; Chelsea (Reprint) 1951. FOTHE, Michael; SCHMITZ, Michael; SKORSETZ, Birgit; TOBIES, Renate (Hg.) (2014): Mathematik und Anwendungen (Forum 14). Bad Berka: Thillm. FRAENKEL, Abraham A. (1967): Lebenskreise. Aus den Erinnerungen eines jüdischen Mathematikers. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt. FRAUNHOFER ITWM (2018). Erfolgsformeln. Wie die Mathematik Technik und Wirtschaft nach vorne bringt (bild der Wissenschaft plus. Eine Sonderpublikation in Zusammenarbeit mit dem Fraunhofer ITWM). Leinfelden-Echterdingen: Konradin Medien GmbH. FREI, Günther (Hg.) (1985): Der Briefwechsel David Hilbert – Felix Klein (1886 – 1918). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. FREUDENSTEIN, Christiane (Hg.) (2016): Göttinger Stadtgespräche. Persönlichkeiten aus Kultur, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. FREUDENTHAL, Hans (1960): „Die Grundlagen der Geometrie um die Wende des 19. Jahrhunderts“. Math.-physikal. Semesterberichte 7, 69-91. FREWER-SAUVIGNY, Magdalene (1985): „Das mathematische Lesezimmer der Universität Göttingen unter der Leitung von Felix Klein (1886-1922)“. Bibliothek und Wissenschaft 19, 1-48. FRICKE, Robert (1913a): Elliptische Funktionen. ENCYKLOPÄDIE, Bd. II B. 3, 177-348. — (1913b): Automorphe Funktionen mit Einschluss der elliptischen Modulfunktionen. ENCYKLOPÄDIE, Bd. II B. 4, 349-470. — (1919): „Felix Klein zum 25. April 1919, seinem siebzigsten Geburtstag“. Die Naturwissenschaften 7, 275-80. — (2012): Die elliptischen Funktionen und ihre Anwendungen. Erster Teil: Die funktionentheoretischen und analytischen Grundlagen (Teubner, 11916). Zweiter Teil: Die algebraischen Ausführungen (Teubner 11922). Dritter Teil: Anwendungen, hg. v. C. Adelmann, J. Elstrodt & E. Klimenko. Berlin: Springer. FRICKE, Robert; KLEIN, Felix (1897): Vorlesungen über die Theorie der automorphen Functionen. Bd. I: Die Gruppentheoretischen Grundlagen. Leipzig: B.G. Teubner. FRICKE, Robert; KLEIN, Felix (1912): Vorlesungen über die Theorie der automorphen Functionen. Bd. II: Die functionentheoretischen Ausführungen und die Anwendungen. Leipzig/Berlin: B.G. Teubner. FRIED, Michael N.; JAHNKE, Hans Niels (2015): „Otto Toeplitz’s 1927 Paper on the Genetic Method in the Teaching of Mathematics“. Science in Context 28 (2), 285-310. FUHRMANN, Horst (1992): POUR LE MÉRITE über die Sichtbarmachung von Verdiensten. Sigmaringen: Jan Thorbecke Verlag. GAIER, Dieter (1990): „Über die Entwicklung der Funktionentheorie in Deutschland von 1890 bis 1950“. In: FISCHER et al., 361-420. GALLENKAMP, Wilhelm (11851): Die Elemente der Mathematik: Ein Leitfaden für den mathematischen Unterricht an Gymnasien und Realschulen. Mülheim/Ruhr: Jul. Bagel, 41875. GIACARDI, Livia (2013): “The Italian School of Algebraic Geometry and the Teaching of Mathematics in Secondary Schools: Motivations, Assumptions, and Strategies”. Rend. Sem. Mat. Univ. Politec. Torino 71, 3-4, 421-61. GISPERT, Hélène (1985): « Sur la production mathématique française en 1870 (Etude du tome premier du Bulletin des Sciences Mathématiques) ». Archives Internationales d’Histoire des Sciences 35, Nr. 114/15, 380–99.

532

Bibliographie

— (1987): « La correspondance de G. Darboux avec J. Hoüel: Chronique d’un rédacteur (déc. 1869 – nov. 1871) ». Cahiers du séminaire d’histoire des mathématiques 8, 67-202. — (1991): La France mathématique. La société mathématique de France (1872-1914). Paris: Société française d’histoire des sciences et des techniques, Société mathématique de France. — (1999): « Les débuts de l’histoire des mathématiques sur les scènes internationales et le cas de l’entreprise encyclopédique de Felix Klein et Jules Molk ». Historia Mathematica 26, 344-60. — ; Verley, Jean-Luc (éds.) (2000) : L’Encyclopédie des sciences mathématiques pures et appliquées (1904–1916), traduire ou adapter l’entreprise de Felix Klein. Springer-France. Goldstein, Catherine (2011a): « Charles Hermites stroll through the Galois fields ». Revue d’histoire des mathématiques 17, 211-70. — (2011b): « Un arithméticien contre l’arithmétisation : les principes de Charles Hermite ». In: D. Flament/Ph. Nabonnand (éds.), Justifier en mathématiques, Paris : MSH, 129–65. GRAU, Conrad (1993): Die Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Heidelberg: Spektrum/Berlin: Akademie Verlag. GRATTAN-GUINNESS, Ivor (1972): „A mathematical union: William Henry and Grace Chisholm Young“. Annals of Science 29 (2), 105-85. GRAY, Jeremy (1984): “Fuchs and the theory of differential equations”. Bulletin (New Series) of the American Mathematical Society 10 (1), 1-26. — (1985): Ideas of Space: Euclidean, Non-Euclidean, and Relativistic. Oxford: Clarendon. (11979) — (2005): “1872 Felix Klein’s Erlangen Program, ‘Comparative considerations of recent geometrical researches’”. In: I. Grattan-Guinness ed., Landmark Writings in Western Mathematics 1640-1940. Elsevier Science, 544-52. — (2006): Worlds out of Nothing: A Course in the History of Geometry in the 19th Century. Berlin: Springer. — (2008): Linear Differential Equations and Group Theory from Riemann to Poincaré. Basel: Birkhäuser (11986). — (2013): Henri Poincaré. A Scientific Biography. Princeton: University Press. — (2018): A History of Abstract Algebra. From Algebraic Equations to Modern Algebra (Springer Undergraduate Mathematics Series). Basel: Springer Nature Switzerland. GRENZEBACH, Gerrit; HABERMANN, Katharina (2016): „Das Zentralarchiv für Mathematiker-Nachlässe“. Mitteilungen der DMV 24, 110-14. GREUEL, Gert-Martin (1992): „Deformation und Klassifikation von Singularitäten und Moduln“. Jahresbericht der DMV (Jubiläumstagung 1990), 177-238. GRUBER, Peter Manfred (1990): „Zur Geschichte der Konvexgeometrie und der Geometrie der Zahlen“. In: FISCHER et al., 421-455. GUTZMER, August (1904): „Geschichte der Deutschen Mathematiker-Vereinigung“. Jahresbericht der DMV 10 (1909) 1-49. — (1908): Die Tätigkeit der Unterrichtskommission der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte: Gesamtbericht enthaltend die Vorverhandlungen in Cassel und Breslau sowie die Seitens der Kommission den Versammlungen in Meran, Stuttgart und Dresden unterbreiteten Reformvorschläge. Leipzig: B.G. Teubner. — (1914): Die Tätigkeit des DAMNU in den Jahren 1908 bis 1913. Leipzig: B. G. Teubner. HARTMANN, Uta (2009): Heinrich Behnke (1898-1979) – Zwischen Mathematik und deren Didaktik. Frankfurt a. M.: Peter Lang. HARTWICH, Yvonne (2005): Eduard Study (1862-1930) – ein mathematischer Mephistopheles im geometrischen Gärtchen. Dissertation. Johannes Gutenberg-Universität Mainz. HASHAGEN, Ulf (1995): „Die Mathematik und ihre Assistenten an der TH München (1868–1918)“. In: Behara/Fritsch/Lintz (Hg.), Symposia Gaussiana. Berlin: de Gruyter & Co., 135-46. — (2003): Walther von Dyck (1856-1934). Mathematik, Technik und Wissenschaftsorganisation an der TH München. Stuttgart: Steiner.

Bibliographie

533

HAWKINS, Thomas (1977): “Weierstrass and the theory of matrices”. Archive for history of Exact Sciences 17, 119-63. — (1989): “Line Geometry, Differential Equations, and the Birth of Lie’s Theory of Groups”. In: ROWE/MCCLEARY I, 275-327. — (2000): Emergence of the Theory of Lie Groups. An Essay in the History of Mathematics 1869–1926. New York: Springer. HEGEL, Karl (1900): Leben und Erinnerungen. Leipzig: Hirzel. HELLER, Henning (2015): Beiträge Felix Kleins zur Gruppen- und Invariantentheorie. BachelorArbeit. Friedrich-Schiller-Universität Jena. HENSEL, Susann; IHMIG, Karl-Norbert; OTTE, Michael (1989): Mathematik und Technik im 19. Jahrhundert in Deutschland. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. HENTSCHEL, Klaus (1990): Interpretationen und Fehlinterpretationen der speziellen und der allgemeinen Relativitätstheorie durch Zeitgenossen Albert Einsteins. Basel: Birkhäuser. — ; TOBIES, Renate (2003): Brieftagebuch zwischen Max Planck, Carl Runge, Bernhard Karsten und Adolf Leopold. Eingeleitet und annotiert, mit den Promotions- und Habilitationsakten Max Plancks und Carl Runges im Anhang (Berliner Beiträge zur Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik, 24). Berlin: ERS-Verlag (11999). HILBERT, David (1900): „Mathematische Probleme“. Göttinger Nachrichten. Mathematisch-physikalische Klasse, 253-97. — (1901): „Ueber das Dirichlet’sche Princip“. In: Festschrift zur Feier des hundertfünfzigjährigen Bestehens der Kgl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Abhandlungen der Mathematisch-physikalischen Klasse. Berlin: Weidmannsche Buchhandlung, 1-27; Math. Ann. 59 (1904), 161-86; GA III, 10-14, 15-37. — (1917): „Gaston Darboux“. Göttinger Nachrichten. Geschäftliche Mitteilungen, 71-75. — (1921): „Adolf Hurwitz“. Math. Ann. 83 (1921) 161-72. — (1932, 1933, 1935): Gesammelte Abhandlungen. 3 Bde. Berlin: Julius Springer. — ; COHN-VOSSEN, Stephan (1932): Anschauliche Geometrie. Berlin: Julius Springer; engl. Übers. Geometry and the Imagination. Chelsea Publishing Co. 11952, 21999. HILDEBRANDT, Stefan; STAUDE-HÖLDER, Birgit (Hg.) (2014): Otto Hölder, Briefe an die Eltern 1878 bis 1887. Leipzig: Edition am Gutenbergplatz. HÖFLECHNER, Walter (Hg.) (1994): Boltzmann, Ludwig: Gesamtausgabe. Bd. 9: Leben und Briefe. Graz: Akademische Druck- und Verlags-Anstalt. HÖFLER, Alois (1910): Didaktik des mathematischen Unterrichts. Leipzig: B. G. Teubner. HOFMANN, Karl H. (1992): „Zur Geschichte des Halbgruppenbegriffs“. Historia Mathematica 19, 14-59. HOßFELD, Uwe, OLSSON Lennart (2009): Kommentare zu Charles Darwin, Zur Evolution der Arten und zur Entwicklung der Erde. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. — ; LEVIT, Georgy S.; OLSSON Lennart (2016): „150 Jahre Biogenetisches Grundgesetz“. Biologie in unserer Zeit 16, 190-95. HOWSON, A. G. (1984): Sebenty five years of the International Commission on Mathematical Instruction“. Educational Studies in Mathematics 15, 75-93. ISRAEL, Giorgio (ed.) (2017): Correspondence of Luigi Cremona (1830–1903). Roma: Brepols. JACOBS, Konrad (1977): Felix Klein. Handschriftlicher Nachlass. Erlangen: Mathematisches Institut der Universität. JAECKEL, Barbara; PAUL, Wolfgang (1970): „Die Entwicklung der Physik in Bonn 1818–1868“. In: Bonner Gelehrte. Beiträge zur Geschichte der Wissenschaften in Bonn. Mathematik und Naturwissenschaften. Bonn: H. Bouvier u. CO. Verlag & Ludwig Röhrscheid Verlag, 99-100. JAHNKE, Hans Niels (2018): „Die Algebraische Analysis in Felix Kleins ‚Elementarmathematik vom höheren Standpunkte aus’“. Math. Semesterberichte 65, 211-51. JAMES, I. M. (Hg.) (1999): History of Topology. Amsterdam: Elsevier B.V. (Reprint 2006).

534

Bibliographie

JI, Lizhen; PAPADOPOULOS, Athanase eds. (2015): Sophus Lie and Felix Klein: The Erlangen Program and Its Impact in Mathematics and Physics (IRMA Lectures in Mathematics and Theoretical Physics, 23). European Mathematical Society. KAEMMEL, Thomas, unter Mitarbeit von Philipp SONNTAG (2006): Arthur Schoenflies. Mathematiker und Kristallforscher. Eine Biographie mit Aufstieg und Zerstreuung einer jüdischen Familie. Halle: Projekte-Verlag. KAENDERS, Rainer (1999): „Die Diagonalfläche aus Keramik“. DMV-Mitteilungen Nr. 4, 16-21. KAISER, Gabriele (ed.) (2017): Proceedings of the 13th International Congress on Mathematical Education (ICME-13 Monographs). Springer. KÁRMÁN, Theodore von (1968): Die Wirbelstraße: Mein Leben für die Luftfahrt. Hamburg: Hoffmann & Campe. KARP, Alexander; SCHUBRING, Gert (eds.) (2014): Handbook on the History of Mathematics Education. New York: Springer. KARZEL, Helmut; SÖRNESEN, Kay (Hg.) (1984): Wandel von Begriffsbildungen in der Mathematik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. KAUFHOLZ, Eva; OSWALD, Nicola (2019): Against all Odds. The first Women in Mathematics at European Universities – A comparative Approach. Berlin: Springer (forthcoming) KELLERHALS, Ruth (2010): „Ludwig Schläfli – ein genialer Schweizer Mathematiker“. Elemente der Mathematik 65, 165-77. KIEPERT, Ludwig (1926): „Persönliche Erinnerungen an Karl Weierstraß“. Jahresbericht DMV 35, 56-65. KILLING, Wilhelm (1885): Die nicht-euklidischen Raumformen in analytischer Behandlung. Leipzig: B.G. Teubner. KIRCHHOFF, Arthur (Hg.) (1897): Die akademische Frau. Gutachten hervorragender Universitätsprofessoren, Frauenlehrer und Schriftsteller über die Befähigung der Frau zum wissenschaftlichen Studium und Berufe. Berlin: Steinitz. KIRCHHOFF, Jochen (2007): Wissenschaftsförderung und forschungspolitische Prioritäten der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft 1920-1932. (Diss. Universität München 2003). (https://edoc.ub.uni-muenchen.de/13026/1/Kirchhoff_Jochen.pdf – Zugriff 6.8.2018). KLEIN, Felix (1872): Vergleichende Betrachtungen über neuere geometrische Forschungen. Programm zum Eintritt in die philosophische Facultät und den Senat der k. Friedrich-Alexanders-Universität zu Erlangen. Erlangen: Verlag von Andreas Deichert. — (1875): „Otto Hesse“. In: BERICHT (1875) 46-50. — (1882): Ueber Riemann’sche Theorie der algebraischen Funktionen. Leipzig: Teubner; auch in KLEIN 1923 GMA III, 500-73. — (1883): „Neue Beiträge zur Riemann’schen Functionentheorie“. Math. Ann. 21 (1883) 141218 (datiert 2.10.1882); KLEIN 1923 GMA III, 630-710. — (1884): Vorlesungen über das Ikosaeder und die Auflösung der Gleichungen vom fünften Grade. Leipzig: B.G. Teubner (vgl. SLODOWY 1993, Reprint mit Einleitung und Kommentaren) – Trans. by George Gavin Morris ( Lectures on the Ikosahedron and the solution of equations of the fifth degree) London: Trübner & Co., Ludgate Hill, 1888, Paperback Reprint 2007; Dover Publications Inc, New York, N.Y, 1956. — (1893): “Mathematik”. In: W. Lexis (Hg.), Die deutschen Universitäten. Berlin: A. Asher & Co.; engl. Übers. “The Development of Mathematics at the German Universities”. In: Klein (1894a), 99-109. — (1894a): Lectures on Mathematics, reported by Alexander Ziwet (The Evanston Colloquium). New York & London: Macmillan. Neuer Abdruck, besorgt durch die American Mathematical Society, New York 1911. Franz. Übers. durch M. L. Laugel, Paris 1898. — (1894b): “Riemann und seine Bedeutung für die Entwicklung der modernen Mathematik”. In: KLEIN 1923 GMA III, 482-97; engl. (A. Ziwet) „Riemann and his significance for the development of modern mathematics“. Bulletin of the American Mathematical Society (2) 1, 16580.

Bibliographie

535

— (1895a): „Über die Beziehungen der neueren Mathematik zu den Anwendungen (25. Oktober 1880)“. Zeitschrift für mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht 26 (1895) 535-40. Neu ediert in: H. Beckert/W. Purkert (Hg.), Leipziger mathematische Antrittsvorlesungen. Auswahl aus den Jahren 1869–1922 (Teubner-Archiv zur Mathematik, 8). Leipzig: B. G. Teubner, 1987, 40-45. — (1895b): Vorträge über ausgewählte Fragen der Elementargeometrie. Ausgearb. v. F. Tägert. Eine Festschrift zu der Pfingsten 1895 in Göttingen stattfindenden dritten Versammlung des Vereins zur Förderung des mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterrichts. Leipzig: B.G. Teubner. – Leçons sur certaines questions de géométrie élémentaire: possibilité des constructions géométriques; les polygones réguliers; transcendance des nombres e et π (Démonstration élémentaire). Rédaction française autorisée par l’auteur par J Griess. Paris: Nony et Cie, 1896. – Conferenze sopra alcune questioni di geometria elementare (tr. prof. F. Giudice, con una prefazione del prof. Gino Loria). Torino: Rosenberg & Sellier, 1896 – Famous problems of elementary geometry: the duplication of the cube, the trisection of an angle, the quadrature of the circle (tr. W. W. Beman and D. E. Smith). Boston/London: Ginn & Co., 1897. — (1897): The Mathematical Theorie of the Top. New York: Charles Scribner’s Sons. — (1900): Über die Neueinrichtungen für Electrotechnik und allgemeine technische Physik an der Universität Göttingen. Mit einer Antwort auf die von Professor Slaby in der Sitzung des Preußischen Herrenhauses vom 30. März 1900 gehaltenen Rede. Leipzig: B. G. Teubner. — (1904a): „Mathematik, Physik, Astronomie.“ In: W. Lexis (Hg.), Das Unterrichtswesen im Deutschen Reich. Bd. 1, Die Universitäten. Berlin: A. Asher & Co., 243-66. — (1907): Vorträge über den mathematischen Unterricht an den höheren Schulen. Bearb. von Rudolf Schimmack. Teil 1. Von der Organisation des mathematischen Unterrichts. Leipzig : B.G. Teubner. — (1908a): „Die Göttinger Vereinigung zur Förderung der angewandten Physik und Mathematik“. Internationale Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 2, 519-32. — (1908b): „Wissenschaft und Technik“. Ebd. 2, 1313-22. — (1909): „Die Einrichtungen zur Förderung der Luftschiffahrt an der Universität Göttingen“. Jahresbericht der DMV 18, 130-32. — (Hg.) (1909–16). Abhandlungen über den mathematischen Unterricht, veranlaßt durch die IMUK. 5 Bde. Leipzig/Berlin: B.G. Teubner. — (Hg.) (1912–14). Die Mathematischen Wissenschaften (Die Kultur der Gegenwart, Teil III, Abt. 1). Leipzig/Berlin: B.G. Teubner. — (1914a): „Wilhelm Lexis“. Jahresbericht der DMV 23, 314-17. — (1914b): „Bericht über den gegenwärtigen Zustand des mathematischen Unterrichts an der Universität Göttingen.“ Jahresbericht der DMV 23, 419-28. — (1918): „Festrede zum 20. Stiftungstage der Göttinger Vereinigung zur Förderung der angewandten Physik und Mathematik“. Jahresbericht DMV 27, 217-28. — (1921/1922/1923). Gesammelte mathematische Abhandlungen [GMA I, II, III]. Springer: Berlin, 3 Bde. (https://gdz.sub.uni-goettingen.de/id/PPN237839962) — (1923a): Göttinger Professoren (Lebensbilder von eigener Hand): Felix Klein. Mitteilungen des Universitätsbundes Göttingen 5 (1), 11-36. — (31924): Elementarmathematik vom höheren Standpunkte aus, I: Arithmetik, Algebra, Analysis. Für den Druck fertig gemacht und mit Zusätzen versehen von Fr. Seyfarth (Grundlehren der mathematischen Wissenschaften, 14). Berlin: Julius Springer (11908). — (31925): Elementarmathematik vom höheren Standpunkte aus, II: Geometrie. Für den Druck fertig gemacht und mit Zusätzen versehen von Fr. Seyfarth (Grundlehren der mathematischen Wissenschaften, 15). Berlin: Julius Springer (11908, 21914). — (31928): Elementarmathematik vom höheren Standpunkte aus, III: Präzisions- und Approximationsmathematik. Für den Druck fertig gemacht und mit Zusätzen versehen von Fr. Seyfarth (Grundlehren der mathematischen Wissenschaften, 16). Berlin: Julius Springer (als Au-

536

Bibliographie

tographie mit dem Titel Anwendung der Differential- und Integralrechnung auf Geometrie, eine Revision der Principien, gehalten während des Sommersemesters1901, ausgearbeitet von Conrad Müller 11902, 21907). — (1926/27): Vorlesungen über die Entwicklung der Mathematik im 19. Jahrhundert, I und II. Berlin: Springer. – Trans. by M Ackerman von I: Development of Mathematics in the 19th Century. Appendices „Kleinian mathematics from an advanced standpoint“ by Robert Hermann. Brookline, Mass.: Math Sci Press, 1979. — (1986): Riemannsche Flächen. Vorlesungen, gehalten in Göttingen 1891/92. Hg. v. G. Eisenreich und W. Purkert (Teubner-Archiv zur Mathematik, 5). Leipzig: B.G. Teubner. — (1987): Funktionentheorie in geometrischer Behandlungsweise, Vorlesung, gehalten in Leipzig 1880/81. Hg. und kommentiert v. F. König (Teubner-Archiv zur Mathematik, 7). Leipzig: B.G. Teubner. — (1991): Einleitung in die analytische Mechanik. Vorlesung, gehalten in Göttingen 1886/87. Hg. und bearb. v. E. Dietzel und M. Geisler, mit einem Beitrag v. F. König (Teubner-Archiv zur Mathematik, 15). Leipzig: B.G. Teubner. — (2016): Elementary Mathematics from a Higher Standpoint. Vol. I-III. (Vol. I-II trans. by G. Schubring; Vol. III by Martha Menghini with Anna Baccaglini-Frank). Heidelberg: Springer. — ; FRICKE, Robert (1890/92): Vorlesungen über die Theorie der elliptischen Modulfunktionen, 2 Bde. Leipzig: B.G. Teubner. KLEIN/BLASCHKE (1926). Klein, Felix: Vorlesungen über höhere Geometrie. Bearb. und hg. v. W. Blaschke, Berlin: Springer. KLEIN/ROSEMANN (1928). Klein, Felix: Vorlesungen über nicht-euklidische Geometrie. Für den Druck neu bearb. v. W. Rosemann. Berlin. Springer. KLEIN, Felix; SOMMERFELD, Arnold (1897/1898/1903/1910): Über die Theorie des Kreisels. H. I. H. II. Durchführung der Theorie im Falle des schweren symmetrischen Kreisels. H. III. Die störenden Einflüsse. Astronomische und geophysikalische Anwendungen. H. IV. Die technischen Anwendungen der Kreiseltheorie. Für den Druck bearb. v. Fritz Noether. Leipzig: B. G. Teubner. KLEIN, Felix; SOMMERFELD, Arnold (2008-2014): The Theory of the Top. Vol. I-IV. Basel: Birkhäuser. KNOKE, Josef-Wilhelm (2016): Der Unternehmer und Wirtschaftsbürger Henry Theodor von Böttinger 1848–1920. Düsseldorf: Heinrich-Heine-Universität (Diss.). KÖNIG, Fritz (1982): Die Entstehung des Mathematischen Seminars an der Universität Leipzig im Rahmen des Institutionalisierungsprozesses der Mathematik an den deutschen Universitäten des 19. Jahrhunderts (Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der Produktivkräfte und zur Felix-Klein-Forschung). Leipzig: Karl-Marx-Universität Leipzig. (Diss., Manuskriptvervielfältigung, 184 S. + Anhänge) KÖNIG, Wolfgang; SPREKELS, Jürgen (Hg.) (2016): Karl Weierstraß (1815–1897). Aspekte seines Lebens und Werkes – Aspects of his Life and Work. Wiesbaden: Springer-Spektrum. KOENIGSBERGER, Leo (1902-03): Hermann von Helmholtz. 3 Bde. Braunschweig: Vieweg & Sohn. — (1919): Mein Leben. Heidelberg: Winter. KOREUBER, Mechthild (2015a): Emmy Noether, die Noether-Schule und die moderne Algebra. Berlin/Heidelberg: Springer-Spektrum. — (2015b): „Zur Einführung einer begrifflichen Perspektive in die Mathematik: Dedekind, Noether, van der Waerden“. Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 38, 243-58. KÖSSLER, Franz (2008): Personenlexikon von Lehrern des 19. Jahrhunderts. Berufsbiographien aus Schul-Jahresberichten und Schulprogrammen 1825–1918 mit Veröffentlichungsverzeichnissen. Universitätsbibliothek Gießen: Giessener Elektronische Bibliothek. KOHL, Ulrike (2002): Die Präsidenten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Max Planck, Carl Bosch und Albert Vögler zwischen Wissenschaft und Macht. Stuttgart: Steiner.

Bibliographie

537

KOSMANN-SCHWARZBACH, Yvette (2011): The Noether Theorems. Invariance and Conversations Laws in the Twentieth Century. (Trans. Bertram Schwarzbach). New York: Springer. KOWALEWSKI, Gerhard (1950): Bestand und Wandel. Meine Lebenserinnerungen zugleich ein Beitrag zur neueren Geschichte der Mathematik. München: Oldenbourg. KRAUS, Hans-Christof (2015): Bismarck. Größe – Grenzen – Leistungen. Stuttgart: Klett-Cotta. KREIS, Marion (2012): Karl Hegel. Geschichtswissenschaftliche Bedeutung und wissenschaftsgeschichtlicher Standort. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. KRENGEL, Ulrich (1990): „Wahrscheinlichkeitstheorie“. In: FISCHER et al., 457-489. KÜHLEM, Kordula (Hg.) (2012): Carl Duisberg (1861-1935). Briefe eines Industriellen. München: Oldenbourg. KÜMMERLE, Harald (2018): Die Institutionalisierung der Mathematik als Wissenschaft im Japan der Meiji und Taishō-Zeit. Halle: Martin-Luther-Universität (Dissertation). KUHN, Thomas S. (1962): The Structure of Scientific Revolutions. Chicago: University of Chicago Press 21970, deutsch Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1969, 51981. KURRER, Karl-Eugen (2008): The History of the theory of structures. From arch analysis to computational mechanics. Berlin: Ernst & Sohn. — (2016): Geschichte der Baustatik. Auf der Suche nach dem Gleichgewicht, 2., stark erw. Aufl., Berlin: Ernst & Sohn. LAGARDE, Paul de (1894): Erinnerungen aus seinem Leben. Für die Freunde zusammengestellt von Anna de Lagarde. Göttingen: Kästner. LAITKO, Hubert (1996): „Persönlichkeitszentrierte Forschungsorganisation als Leitgedanke der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Reichweite und Grenzen, Ideal und Wirklichkeit“. In: B. vom Brocke/H. Laitko (Hg.), Die Kaiser-Wilhelm-/Max-Planck-Gesellschaft und ihre Institute. Studien zu ihrer Geschichte: Das Harnack-Prinzip. Berlin: de Gruyter, 583-632. — (1999): „Die Preußische Akademie der Wissenschaften und die neuen Arbeitsteilungen. Ihr Verhältnis zum 'Kartell der deutschsprachigen Akademien und zur Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft'.“ In: J. Kocka (Hg.), Die Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin im Kaiserreich. Berlin: Akademie-Verlag, 149-73. LAMOTKE, Klaus (22009): Riemannsche Flächen. Berlin/Heidelberg: Springer. LAUGWITZ, Detlef (2013): Bernhard Riemann, 1826-1866. Basel: Birkhäuser (11996). Trans. by Abe Shenitzer (Bernhard Riemann 1826-1866. Turning Points in the Conception of Mathematics). Boston: Birkhäuser, 1999. LAZZERI, Giulio; BASSANI, Anselmo (1891): Elementi di geometria. Livorno: Giusti (21898). Dt. v. P. Treutlein, Elemente der Geometrie. Leipzig: B.G. Teubner, 1911. LE, François (2013): « Entre géométrie et théorie des substitutions : une étude de cas autour des vingt-sept droites d’une surface cubique ». Confluentes Mathematici 5 (1), 23-71. — (2015a): Vingt-sept droites sur une surface cubique: rencontres entre groupes, équations et géométrie dans la deuxième moitié du XIXe siècle. Thèse de doctorat, dirigée par Catherine Goldstein, Université Pierre et Marie Curie. — (2015b): “'Geometrical Equations': Forgotten Premises of Felix Klein’s Erlanger Programm”. Historia Mathematica 42 (3), 315-42. — (2017): “Alfred Clebsch’s 'Geometrical Clothing' of the Theory of the Quintic Equation”. Archive for History of Exact Sciences 71 (1), 39-70. — ; PAUMIER, Ann-Sandrine (éds.) (2016): La classification comme pratique scientifique. Cahiers François Viète - Série III, n°1. LEIS, Rolf (1990): „Zur Entwicklung der angewandten Analysis und mathematischen Physik in den letzten hundert Jahren“. In: FISCHER et al., 491-535. LIE, Sophus (1888-1893): Theorie der Transformationsgruppen. 3 Bde. Unter Mitwirkung von Friedrich Engel. Leipzig: B.G. Teubner. — (1934): Gesammelte Abhandlungen (GMA), Bd. I: Geometrische Abhandlungen erste Abteilung, hg. v. F. Engel und P. Heegaard. Leipzig: B. G. Teubner.

538

Bibliographie

LIEBMANN, Heinrich (1915): „Zur Erinnerung an Heinrich Burkhardt“. Jahresbericht der DMV 24, 185-94. LIETZMANN, Walther (1919): Methodik des mathematischen Unterrichts. 2 Bde. Leipzig: Quelle & Meyer. — (1925): „Erinnerungen an Felix Klein“. ZmnU 56, 257-63. — (1960): Aus meinen Lebenserinnerungen. Hg. v. Kuno Fladt. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. LINDE, Carl (1984): Aus meinem Leben und von meiner Arbeit. Düsseldorf: VDI-Verlag (Reprint der Ausgabe von 1916, München: Oldenbourg). LORANAT, Jemman (2015): “Die Freude an der Gestalt”: méthodes, figures et pratiques de la géométrie au début du dix-neuvieème siècle. Thèse de doctorat. Simon Fraser University (Canada) et Universitè Pierre et Marie Curie (France). LOREY, Wilhelm (1916): Das Studium der Mathematik an den deutschen Universitäten seit Anfang des 19. Jahrhunderts (Abhandlungen über den mathematischen Unterricht, veranlasst durch die Internationale mathematische Unterrichtskommission, hg. v. F. Klein), Bd. III, H. 9. Leipzig/Berlin: B.G. Teubner. — (1926): „Felix Klein“. Acta Leopoldina 25, 136-51. LUCIANO, Erika; ROERO, Clara Silvia (2012): “From Turin to Göttingen: Dialogues and Correspondence (1879-1923)”. Bollettino di Storia delle Scienze Matematiche 32 (1), 7-232. LUDWIG, Karl-Heinz Ludwig unter Mitwirkung von Wolfgang KÖNIG (Hg.) (1981): Technik, Ingenieure und Gesellschaft, Geschichte des Vereins Deutscher Ingenieure 1856-1981. Düsseldorf: VDI-Verlag. MANEGOLD, Karl-Heinz (1968): „Felix Klein als Wissenschaftsorganisator“. Technikgeschichte 35, H. 3, 177-204. — (1970): Universität, Technische Hochschule und Industrie. Ein Beitrag zur Emanzipation der Technik im 19. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung der Bestrebungen Felix Kleins. Berlin: Duncker & Humblot. MARCHISOTTO, Elena Anne; SMITH, James T. (2007): The Lecacy of Mario Pieri in Geometry and Arithmetic. Boston: Birkhäuser. MATTHEIS, Martin (Hg.) (2000): „Felix Klein und die Berliner Schulkonferenz des Jahres 1900“ (Themenheft mit Beiträgen von M. Mattheis, R. Tobies, G. Schubring). Der Mathematikunterricht 46 (3). MEHRTENS, Herbert (1985): „Die ‚Gleichschaltung’ der mathematischen Gesellschaften im nationalsozialistischen Deutschland“. Jahrbuch Überblicke Mathematik, 85-103. Engl. “The ‚Gleichschaltung’ of Mathematical Societies in Nazi Germany.” The Mathematical Intelligencer 11 (3) (1989) 48-60. — (1987): “Ludwig Bieberbach and ‚Deutsche Mathematik’.” In: E. R. Phillips (ed.), Studies in the History of Mathematics (MAA Studies in Mathematics, 26). Washington: Mathematical Association of America, 195-241. Auszüge in Franz. « Mathématiques et national-socialisme: le cas Bieberbach ». Revue des Deux Mondes 1995 (février), 65-76. — (1990): Moderne, Sprache, Mathematik. Eine Geschichte des Streits um die Grundlagen der Disziplin und des Subjekts formaler Systeme. Frankfurt/Main: Suhrkamp. — (2004): „(71/4 – 3/4 = 29/4 – 3/4 = 26/4 = 61/2) = Jüdische Mathematik?“ In: TYRADELLIS/ FRIEDLANDER, 183-97. MENGHINI, Marta (1992-96) (ed.): La corrispondenza di Luigi Cremona 1830–1903. Roma: Università degli studi di Roma “La Sapienza”. — (1993): “Il ruolo di 'capiscuola' di Felix Klein e L. Cremona alla luce della loro corrispondenza”. Rivista di Storia della Scienza, se. II, 1, 183-225. — ; FURINGHETTI, F.; GIACARDI, L.; ARZARELLO, F. (eds.) (2008): The first century of the International Commission on Mathematical Instruction (1908-2008). Roma: Istituto della Enciclopedia Italiana.

Bibliographie

539

MERZ, John Theodore (1904-12): A History of Europeen Thought in the Nineteenth Century. 4 Vol. Edinburgh/London: Blackwood. – (Vol. II, Chapter XIII: “On the Development of Mathematical Thought during the Nineteenth Century”, 627-740; Reprint: Gloucester, Mass. 1976). MEYER, Franz (1928): „Spezielle algebraische Flächen“. ENCYKLOPÄDIE Bd. III.2.2. Hälfte B, C 10. Leipzig: B.G. Teubner, 1437-777. MEYER, Heiner; TOBIES, Renate (1987): „Zu einigen erkenntnistheoretischen Positionen von Felix Klein“. Mitteilungen der Mathematischen Gesellschaft der DDR (3), 56-75. MINKOWSKI, Hermann (1973): Briefe an David Hilbert. Mit Beiträgen und hg. v. L. Rüdenberg/H. Zassenhaus. Berlin: Springer. MISES, Richard von (1921): „Hermann Amandus Schwarz“. ZAMM 1, 494-96. — (1924): „Felix Klein. Zu seinem 75. Geburtstag am 25. April 1924”. ZAMM 4, 86-92. MOORE, E. H.; BOLZA, O.; MASCHKE, H.; WHITE, H. S. (1896): Mathematical Papers read at the International Mathematical Congress held in connection with the World’s Columbian Exposition Chicago 1893. New York: Macmillan and Co. MÜHLHAUSEN, Elisabeth (1993): “Grace Emily Chisholm Young”. In: WEBER-REICH, 195-211. MÜLLER, Felix (1904). „Das Jahrbuch über die Fortschritte der Mathematik 1869–1904“. Bibliotheca mathematica 3. Folge, Bd. 5, 292-97. MÜNCHEN (1877). München in naturwissenschaftlicher und medicinischer Beziehung. Führer für die Theilnehmer der 50. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte. Redaktionscomité unter Leitung v. F. Klein. Leipzig & München: G. Hirth. NAAS, Josef; SCHMID, Hermann Ludwig (Hg.) (1961/1984): Mathematisches Wörterbuch mit Einbeziehung der theoretischen Physik, Bd. I und II (unveränderter Nachdruck der 3. Aufl. 1979, 1984). Berlin/Leipzig: Akademie-Verlag & B.G. Teubner. NDB. Neue Deutsche Biographie. München: Bayerische Akademie der Wissenschaften. NERNST, Walther; SCHÖNFLIES, Arthur (1895): Einführung in die mathematische Behandlung der Naturwissenschaften. Kurzgefasstes Lehrbuch der Differential- und Integralrechnung mit besonderer Berücksichtigung der Chemie. München: Wolff (Engl. Übers. New York 1900). NEUBAUR, Paul (1907): Der Norddeutsche Lloyd. 50 Jahre der Entwicklung, 1857-1907. 2 Bde. Leipzig: Grunow. NEUENSCHWANDER, Erwin (1983): „Der Aufschwung der italienischen Mathematik zur Zeit der politischen Einigung Italiens und seine Auswirkungen auf Deutschland“. In: Symposia Mathematica. Istituto Nationale di Alta Matematica Francesco Severi, 213-37. — (1984): Die Edition mathematischer Zeitschriften im 19. Jahrhundert und ihr Beitrag zum wissenschaftlichen Austausch zwischen Frankreich und Deutschland. Göttingen: Mathematisches Institut (Preprint 4). NEUKIRCH, Jürgen (1990): „Algebraische Zahlentheorie“. In: FISCHER et al., 587-628. NEUMANN, Olaf (1979/80): „Zur Genesis der algebraischen Zahlentheorie“. NTM 16 (1), 22-39, 17 (1), 32-48, (2), 38-58. NEUNZERT, Helmut; PRÄTZEL-WOLTERS, Dieter (eds.) (2015): Currents in industrial mathematics: from concepts to research to education. Berlin: Springer. NEUNZERT, Helmut; ROSENBERGER, Bernd (1991): Schlüssel zur Mathematik. Düsseldorf, Wien, New York, Moskau: Econ. NEVALINNA, Robert (1953): Uniformisierung (Grundlehren der mathematischen Wissenschaften). Berlin: Springer, 21967. NISSEN, Walter (1962): Göttinger Gedenktafeln. Ein biographischer Wegweiser. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. NOETHER, Max (1900): „Sophus Lie“. Math. Ann. 53, 1-41. — (1908): „Geschichte der Physikalisch-Medizinischen Sozietät zu Erlangen im ersten Jahrhundert ihres Bestehens 1808-1908“. In: Festschrift der Physikalisch-Medizinischen Sozietät zu Erlangen zur Feier ihres 100jährigen Bestehens am 27.6.1908. Erlangen, 1-83. — (1914), unterstützt durch F. Klein und E. Noether: „Paul Gordan“. Math. Ann. 75, 1-41.

540

Bibliographie

OLESKO, Kathryn M. (1991): Physics as a Calling: Discipline and Practice in the Koenigsberg Seminar for Physics. Ithaca, NY: Cornell University Press. OSTERHAMMEL, Jürgen (2009): Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München: C. H. Beck. OSTROWSKI, Alexander (1966): „Zur Entwicklung der numerischen Analysis“. Jahresbericht der DMV 68, 97-111. OSTWALD, Wilhelm (1909): Große Männer. Studien zur Biologie des Genies. Bd. 1. Leipzig: Akademische Verlagsgesellschaft. OSWALD, Nicola (2016): „Geometrie der Zahlen“. arXiv, 1-39. https://arxiv.org/abs/1605.04146 — ; STEUDING, Jörn (2014): “Complex Continued Fractions – Early Work of the Brothers Adolf and Julius Hurwitz.” Archive for History of Exact Sciences 68, 499-528. PARSHALL, Karen Hunger (2006): James Joseph Sylvester: Jewish Mathematician in a Victorian World. Baltimore: The John Hopkins University Press. — ; RICE, Adrian C. (eds.) (2002): Mathematics Unbound: The Evolution of an International Research Community, 1800–1945. American Mathematical Society/London Mathematical Society, Providence, RI. PARSHAL, Karen; ROWE David E. (1994): The Emergence of the American Mathematical Research Community (1876-1900): J. J. Sylvester, Felix Klein, and E. H. Moore (Series in the History of Mathematics, 8). Providence: American Mathematical Society and London: London Mathematical Society; paperback edition 1997). PATTERSON, Samuel (1997): „Uniformisierung und diskontinuierliche Gruppen“. In: R. Remmert (Hg.), H. Weyl, Die Idee der Riemannschen Fläche. Leipzig: B.G. Teubner, 232-40. — (2016): „Der Mathematiker Felix Klein, Kosmopolit und Nationalist. Der Begründer der goldenen Ära der Mathematik in Göttingen“. In: FREUDENSTEIN, 128-35. PAUL DE SAINT-GERVAIS, Henri (2016): Uniformization of Riemann Surfaces. Revisiting a hundred-year-old theorem. Trans. from the French (Original 2011) by Robert G. Burns (Heritage of European Mathematics). European Mathematical Society. PECKHAUS, Volker (1990): Hilbertprogramm und Kritische Philosophie (Studien zur Wissenschafts-, Sozial- und Bildungsgeschichte, 7). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. PERRY, John (21897): The calculus for engineers. London: Arnold. – Bearb. v. R. Fricke/F. Süchting (1902): Höhere Analysis für Ingenieure. Leipzig: B.G. Teubner. — (1899): Practical Mathematics. Summary of Six Lectures Delivered to Working Men. London: Wyman. PETSCHE, Hans-Joachim (2006): Graßmann. Basel: Birkhäuser. PIEPER, Herbert; TOBIES, Renate (1988): „Zum Verhältnis deutscher Mathematiker des 19. Jahrhunderts zur Geschichte ihrer Wissenschaft“. Mitteilungen der Mathematischen Gesellschaft der DDR (3/4), 55-71. PLÜCKER, Julius (1868/1869): Neue Geometrie des Raumes, gegründet auf die Betrachtung der geraden Linie als Raumelement. Erste Abtheilung (1868, mit einem Vorwort von Alfred Clebsch). Zweiter Abtheilung (1869, hg. von Felix Klein). Leipzig: B.G. Teubner, — (1895/96): Gesammelte wissenschaftliche Abhandlungen. Bd. 1 Mathematische Abhandlungen, hg. v. A. Schönflies, Bd. 2 Physikalische Abhandlungen, hg. v. F. Pockels. Leipzig: B. G. Teubner. PLUGMACHER, Birgit (2001): Max Liebermann – sein Briefwechsel mit Alfred Lichtwark. Hamburg: Universität (Diss.). (online: http://d-nb.info/961986166/34) PLUMP, Mechthild Ulrike (2014): Julius Plücker – Leben und Werk eines analytischen Geometers im 19. Jahrhundert. Wuppertal: Gesamthochschule/Universität (Diss.). PONT, Jean-Claude (1974): La topologie algébrique des origines à Poincaré. Paris: Presses Universitaires de France. PURKERT, Walter; ILGAUDS, HANS-JOACHIM (1987): Georg Cantor 1845–1918 (Vita Mathematica, 1). Basel: Birkhäuser. RATAJ, Jan; ZÄHLE, Martina (2019): Curvature Measures of Singular Sets. Heidelberg: Springer.

Bibliographie

541

REBENICH, Stefan; FRANKE, Gisa (Hg.) (2012): Theodor Mommsen und Friedrich Altthoff. Briefwechsel 1882-1903. München: Oldenbourg. REGISTER (1889) über die Berichte der Verhandlungen und zu den Bänden I bis XII (1846-1885) der Abhandlungen der mathematisch-physikalischen Classe der Kgl. Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig. REICH, Karin; Roussanova, Elena (2013): „Eine kritische Bestandsaufnahme der Werkausgabe von Carl Friedrich Gauß.“ Math. Semesterberichte 60, 217-47. REID, Constance (1970): Hilbert. New York: Springer. — (1976): Courant in Göttingen and New York. New York: Springer. Dt. Übers. (Jeanette Zehnder-Reitinger): Richard Courant. Der Mathematiker als Zeitgenosse, 1979. REINHARDT, Hans (1985): Gauß und die Anfänge der nicht-euklidischen Geometrie. Mit Originalarbeiten von J. Bolyai, N. I. Lobatschewski und F. Klein (Teubner-Archiv zur Mathematik, 4). Leipzig: B.G. Teubner. REISHAUS-ETZOLD, Heike (1972): „Die Herausbildung von monopolkapitalistischen Lenkungsorganen der Wissenschaft während der Weimarer Republik unter dem Einfluss der Chemiemonopole“. Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte III, 13-35. REMMERT, Reinhold (2001): „Felix Klein und das Riemannsche Erbe“. DMV-Mitteilungen (1), 2230. REMMERT, Volker R.; SCHNEIDER, Ute (2010): Eine Disziplin und ihre Verleger. Disziplinenkultur und Publikationswesen der Mathematik in Deutschland, 1871–1949 (Mainzer Historische Kulturwissenschaften, 4). Bielefeld: transcript. REPORT (1874): Report of the Forty-Third Meeting of the British Association for the Advancement of Science Held at Bradford in September 1873. London: John Murray. RICHARDS, Robert J. (2009): The Tragic sense of life. Ernst Haeckel and the Struggle over Evolutionary Thought. Chicago/London: The University of Chicago Press. RICHENHAGEN, Gottfried (1985): Carl Runge (1856-1927): Von der reinen Mathematik zur Numerik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. RICHTER, Tina (2015): Analyse der Briefe des französischen Mathematikers Gaston Darboux (1842-1917) an den deutschen Mathematiker Felix Klein (1849-1925). Jena: Universität (Lehramtsstaatsexamens-Arbeit). RIEMANN, Bernhard (1876): Gesammelte Mathematische Werke und wissenschaftlicher Nachlass. Hg. v. H. Weber unter Mitwirkung v. R. Dedekind. Leipzig: B.G. Teubner. RINOW, Willi (1961): Die innere Geometrie der metrischen Räume (Grundlehren der mathematischen Wissenschaften in Einzeldarstellungen, 105). Berlin/Heidelberg: Springer. RÖHLE, Stefan (2002): Mathematische Probleme in der Einstein – de Sitter Kontroverse. MaxPlanck-Institut für Wissenschaftsgeschichte Berlin: Preprint 210 (Diss. Universität Mainz). ROSSITER, Margaret (1984): Women Scientists in America: Struggles and Strategies to 1940. Baltimore: Johns Hopkins University Press. ROTTA, Julius C. (1990): Die Aerodynamische Versuchsanstalt in Göttingen, ein Werk Ludwig Prandtls. Ihre Geschichte von den Anfängen bis 1925. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. ROWE, David E. (1986): “ ‘Jewish Mathematics’ at Göttingen in the Era of Felix Klein”. Isis 77, 422-49. — (1988): „Der Briefwechsel Sophus Lie – Felix Klein, eine Einsicht in ihre persönlichen und wissenschaftlichen Beziehungen“. NTM 25 (1), 37-47. — (1989): “The Early Geometrical Works of Sophus Lie and Felix Klein.” In: ROWE/ MCCLEARY I, 209-73. — (1992a): Felix Klein, David Hilbert, and the Goettingen Mathematical Tradition, 2 Vols. City University of New York (PhD). — (1992b): “Klein, Mittag-Leffler, and the Klein-Poincaré Correspondence of 1881-1882”. In: DEMIDOV/FOLKERTS/ROWE/SCRIBA, 597-618. — (1996): “On the reception of Grassmann’s work in Germany during the 1870’s”. In: SCHUBRING, 131-45.

542

Bibliographie

ROWE, David E. (1999): “The Göttingen Response to General Relitivity and Emmy Noether’s Theorems”. In: J. Gray (ed.), The Symbolic Universe. Geometry and Physics 1890-1930. Oxford: Oxford University Press, 189-233. — (2000): “Episodes in the Berlin – Göttingen Rivality, 1870-1930”. The Mathematical Intelligencer 22 (1), 60-69. — (2003): Book Review: Emergence of the Theory of Lie Groups: An Essay in the History of Mathematics, 1869–1926. Notices of the AMS 50, 668-77. — (2007): “Felix Klein, Adolf Hurwitz, and the ‘Jewish Question’ in German Academia”. The Mathematical Intelligencer 29 (2), 18-30. — (2013): “Mathematical models as artefacts for research: Felix Klein and the case of Kummer surfaces”. Math. Semesterberichte 60, 1-24. — (2015): “Historical Events in the Background of Hilbert’s Seventh Paris Problem”. In: ROWE/HORNG, 211-44. — (2017): “Segre, Klein, and the Theory of Quadratic Line Complexes.” In: G. Casnati et al. (eds.), From Classical to Modern Algebraic Geometry: Corrado Segre’s Mastership and Legacy (Trends in the History of Science). Basel: Birkhäuser, 243-63. — (2018a): A Richer Picture of Mathematics: The Göttingen Tradition and Beyond. Berlin: Springer. — (Hg.) (2018b): Otto Blumenthal. Ausgewählte Briefe und Schriften, Bd. I, 1897–1918. Berlin: Springer. — ; McCleary, John (eds.) (1989), The History of Modern Mathematics. Vol. I und II. Boston: Academic Press. — ; Horng, Wann-Sheng (eds.) (2015): A Delicate Balance: Global Perspectives on Innovation and Tradition in the History of Mathematics (A Festschrift in Honor of Joseph W. Dauben). Basel: Birkhäuser. RUNGE, Carl (1926): „Persönliche Erinnerungen an Karl Weierstraß“. Jahresbericht der DMV 35, 175-79. RUNGE, Iris (1949): Carl Runge und sein wissenschaftliches Werk. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. SALMON, George (11848): A Treatise on Conic Sections. Übers. u. bearb. v. Wilhelm Fiedler: Analytische Geometrie der Kegelschnitte mit besonderer Berücksichtigung der neueren Methoden. Leipzig: B. G. Teubner 1860, 21866, 71907. — (11862) A Treatise of the Analytic Geometry of three dimensions. Übers. u. bearb. v. Wilhelm Fiedler Analytische Geometrie des Raumes, 2 Bde. Leipzig: B. G. Teubner, 1863/65, 41898. SATTELMACHER, Anja (2017): Anfassen, Anschauen, Auffassen: Eine Wissensgeschichte mathematischer Modelle. Berlin: Humboldt-Universität (Dissertation). SAUER, Tilman (1999): “The Relativity of Discovery: Hilbert’s First Note on the Foundations of Physics“. Arch. Hist. Exact Sci. 53, 529-75. SCHAPPACHER, Norbert (2010): “Rewriting points” [Invited Talk, History of Mathematics section]. Proceedings of the International Congress of Mathematicians, Hyderabad, India, 3258-3291. — (2015): “Remarks about intuition in Italian algebraic geometry”. Oberwolfach Reports (In Press). — ; TOLLMIEN, Cordula (2016): “Emmy Noether, Hermann Weyl, and the Göttingen Academy”. Historia mathematica 43, 194-97. SCHARLAU, Winfried (Hg.) (1990): Mathematische Institute in Deutschland 1800–1945 (Dokumente zur Geschichte der Mathematik, 5). Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg. SCHEEL, Katrin (2014): Der Briefwechsel Richard Dedekind – Heinrich Weber (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Hamburg, 5). Berlin: de Gruyter. SCHILLING, Martin (61903): Catalog mathematischer Modelle für den höheren mathematischen Unterricht. Halle: Verlag von Martin Schilling (71911).

Bibliographie

543

SCHIMMACK, Rudolf (1911): Die Entwicklung der mathematischen Unterrichtsreform in Deutschland (Abhandlungen über den mathematischen Unterricht, veranlasst durch die IMUK, hg. v. F. Klein) Bd. 3. H. 1. Leipzig: B.G. Teubner. SCHLEGEL, Victor (1878): Hermann Grassmann. Sein Leben und seine Werke. Leipzig: Brockhaus. SCHLIMM, Dirk (2013): “The correspondence between Moritz Pasch and Felix Klein”. Historia mathematica 40 (2), 183-202. SCHLOTE, Karl-Heinz (2004): „Zu den Wechselwirkungen zwischen Mathematik und Physik an der Universität Leipzig in der Zeit von 1830 bis 1904/05“. Abhandlungen der Sächs. Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Math.-naturwiss. Klasse 63 (1), 1-132. — (2017): „Neumannsch oder nicht – das ist die Frage“. In: Ch. Binder (Hg.), Namenspatrone und Taufpaten. Wie mathematische Begriffe zu ihrem Namen kamen. TU Wien, 52-59. SCHMIDT-OTT, Friedrich (1952): Erlebtes und Erstrebtes, 1860–1950. Wiesbaden: Steiner. SCHNEIDER, Ivo (1989): Die Entwicklung der Wahrscheinlichkeitstheorie von den Anfängen bis 1933. Einführung und Texte. Berlin: Akademie-Verlag. SCHOENFLIES, Arthur (1898): Mengenlehre. ENCYKLOPÄDIE. Bd. 1.1., 184-207. — (1900/1908): „Die Entwicklung der Lehre der Punktmannigfaltigkeiten“ (2 Teile). Jahresbericht DMV 8 (1900) (2), 1-250; (1908) 1-331. — (1919): „Klein und die nichteuklidische Geometrie“. Die Naturwissenschaften 7 (17), 288-97. — ; HAHN, Hans (1913): Die Entwicklung der Mengenlehre und ihrer Anwendungen. Leipzig: B.G. Teubner. SCHOLZ, Erhard (1980): Geschichte des Mannigfaltigkeitsbegriffs von Riemann bis Poincaré. Basel: Birkhäuser. — (1989): Symmetrie-Gruppe-Dualität. Zur Beziehung zwischen theoretischer Mathematik und Anwendungen in Kristallographie und Baustatik des 19. Jahrhunderts. Basel: Birkhäuser. — (Hg.) (1990): Geschichte der Algebra. Eine Einführung. Mannheim: BI Wissenschaftsverlag. — (Hg.) (2001): Hermann Weyl’s Raum – Zeit – Materie and a General Introduction to His Scientific Work. Basel: Birkhäuser. SCHOT, Johan W.; SCRANTON, Philip (eds.) (2013-17): Making Europe: Technology and Transformations 1850-2000. Basingstoke: Palgrave Macmillan. SCHOUTEN, Jan A. (1914): Grundlagen der Vektor- und Affinoranalysis. Mit einem Einführungswort von F. Klein. Leipzig/Berlin: B. G. Teubner. SCHREIBER, Peter; SCRIBA, Christoph J. (2001): 5000 Jahre Geometrie. Berlin: Springer. SCHUBRING, Gert (1983): Die Entstehung des Mathematiklehrerberufs im 19. Jahrhundert. Studien und Materialien zum Prozeß der Professionalisierung in Preußen (1810-1870). Weinheim: Beltz. — (1985): „Die Entwicklung des Mathematischen Seminars der Universität Bonn 1864–1929“. Jahresbericht der DMV 87, 139-63. — (1986a): Bibliographie der Schulprogramme in Mathematik und Naturwissenschaften (wissenschaftliche Abhandlungen) 1800–1875. Bad Salzdetfurth: Franzbecker. — (1986b): „Wilhelm Lorey (1873-1955) und die Methoden der mathematikgeschichtlichen Forschung (1)“. mathematica didactica 9 (2), 75-87. — (1989a): “Pure and Applied Mathematics in Divergent Institutional Settings in Germany: The Role and Impact of Felix Klein”. In: ROWE/MCCLEARY II, 171-220. — (1989b): “The Rise and the Decline of the Bonn Natural Science Seminar”. Osiris 5, 57-93. — (Hg.) (1991): ‚Einsamkeit und Freiheit’ neu besichtigt. Universitätsreformen und Disziplinbildung in Preußen als Modell für Wissenschaftspolitik im Europa des 19. Jahrhunderts. Stuttgart: Steiner. — (Hg.) (1996): Hermann Günther Graßmann (1809-1877): Visionary Mathematician, Scientist and Neohumanist Scholar. Dortrecht: Kluwer. — (2000): „Felix Kleins Gutachten zur Schulkonferenz 1900: Initiativen für den Systemzusammenhang von Schule und Hochschule, von Curriculum und Studium“. Der Mathematikunterricht 46 (3), 62-76.

544

Bibliographie

SCHUBRING, Gert (2016): „Die Entwicklung der Mathematikdidaktik in Deutschland“. Math. Semesterberichte 63, 3-18. SCHÜTTE, Friedhelm (2007): „Jahrzehnt der Neuordnung 1890 – 1901. Die Reform des technischen und allgemeinen Bildungssystems in Deutschland“. Zeitschrift für Pädagogik 53 (4), 544-61. SCHULZE, Friedrich (Hg.) (1911): B. G. Teubner 1811–1911. Geschichte der Firma. Leipzig: B. G. Teubner. SHAFAREVICH, Igor (1983): „Zum 150. Geburtstag von Alfred Clebsch“. Math. Ann. 266, 135-40. SIEGMUND-SCHULTZE, Reinhard (1993). Mathematische Berichterstattung in Hitlerdeutschland. Der Niedergang des „Jahrbuchs über die Fortschritte der Mathematik“. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. — (1996): „Das an der Berliner Universität um 1892 ‚herrschende mathematische System’ aus der Sicht des Göttinger Mathematikers Felix Klein: Eine Studie über den ‚Raum der Wissenschaft’“. Berlin: Humboldt-Universität, Institut für Mathematik, Preprint 96-14. — (1997a): „Felix Kleins Beziehungen zu den Vereinigten Staaten, die Anfänge deutscher auswärtiger Wissenschaftspolitik und die Reform um 1900“. Sudhoffs Archiv 81, 21-38. — (1997b): „Ein Bericht Felix Kleins aus dem Jahre 1902 über seine mathematischen Vorträge in den Vereinigten Saaten 1893 bis 1896“. NTM N.S. 4, 245-52. — (2001): Rockefeller and the Internationalization of Mathematics Between the Two World Wars. Basel: Birkhäuser. — (2004): “A Non-Conformist Longing for Unity in the Fractures of Modernity: Towards a Scientific Biography of Richard von Mises (1883–1953).” Science in Context 17, 333–70. — (2011): “Opposition to the Boycott of German Mathematics in the early 1920s: Letters by Edmund Landau (1877-1938) and Edwin Bidwell Wilson (1879-1964)”. Revue d’Histoire des Mathématiques 17, 135-61. — (2016): “‚Mathematics Knows No Races’: A Political Speech that David Hilbert Planned for the ICM in Bologna in 1928”. The Mathematical Intelligencer 38 (1), 56-66. — (2018): “Applied Mathematics versus Fluid Dynamics: The Catalytic Role of Richard von Mises (1883-1953).” Historical Studies in the Natural Sciences 48 (4), 475-525. SLODOWY, Peter (1990): Einführung und Kommentare zu F. Kleins Ikosaederbuch. Bonn: MaxPlanck-Institut für Mathematik, Preprint 90-13. — (Hg.) (1993): Felix Klein, Vorlesungen über das Ikosaeder und die Auflösung der Gleichung vom fünften Grade (Leipzig: B.G.Teubner 1884). Basel: Birkhäuser. SOMMERFELD, Arnold (1949): „Zum hundertsten Geburtstag von Felix Klein“. Die Naturwissenschaften 36, 289-91. SONAR, Thomas (2011): 3000 Jahre Analysis. Berlin: Springer. SPALT, Detlef D. (2015): Die Analysis im Wandel und im Widerstreit. Eine Formierungsgeschichte ihrer Grundbegriffe. Freiburg i. Br.: Verlag Karl Alber. STAPF, Aiga (2016): Hochbegabte Kinder: Persönlichkeit, Entwicklung, Förderung. München: C. H. Beck. STENOGRAPHISCHE BERICHTE über die Verhandlungen des preußischen Herrenhauses, 1899/1900 bis 1917/18. Berlin. STRÖHLEIN, Thomas (1989): Fakultät für Mathematik und Informatik der Technischen Universität München – Zur Geschichte der Fakultät. München. Manuskriptdruck (32 S.). STRUVE, Horst; STRUVE, Rolf (2004): „Klassische nicht-euklidische Geometrien – ihre historische Entwicklung und Bedeutung und ihre Darstellung. Teil I und II“. Math. Semesterberichte 51, 37-67; 207-23. STUBHAUG, Arild (2002): The Mathematician Sophus Lie: It was the Audacity of My Thinking. Trans. from the Norwegian by Richard H. Dale. Berlin: Springer. — (2003): Es war die Kühnheit meiner Gedanken. Der Mathematiker Sophus Lie. Übers. aus d. Norweg. v. Kerstin Hartmann-Butt. Berlin/Heidelberg: Springer.

Bibliographie

545

— (2010): Gösta Mittag-Leffler. A Man of Conviction. Trans. by Tina Nunnally. Heidelberg: Springer. STUMPF, Carl (1924): „Carl Stumpf“. In: R. Schmidt (Hg.), Die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Bd. 5. Leipzig: Meiner, 205-65. STURM, Rudolf (1892-96): Die Gebilde ersten und zweiten Grades der Liniengeometrie in synthetischer Behandlung, T. I bis III, Leipzig: B.G. Teubner. SYBEL, Heinrich von (Hg.) (1868): Bericht über das fünfzigjährige Jubiläum der rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Bonn: Cohen. TAMKE, Gerd; DRIEVER, Rainer (2012): Göttinger Straßennamen. Stadt Göttingen. TERRACINI, Alessandro (1926): “Corrado Segre (1863-1924)”. Jahresbericht der DMV 25, 209-50. — (1952): “Gino Fano”. Necrologio, Bologna, 485-90. TEUBNER (1908). B. G. Teubner’s Verlag auf dem Gebiete der Mathematik, Naturwissenschaften, Technik, nebst Grenzwissenschaften mit einem Gedenktagebuche für Mathematiker und den Bildnissen von G. Galilei, H. Bruns, M. Cantor, F. R. Helmert, F. Klein, Fr. Kohlrausch, K. Kraepelin, C. Neumann, A. Penck, A. Wüllner sowie einen Anhang Unterhaltungsliteratur enthaltend. Ausgabe 101. Leipzig/Berlin: B.G. Teubner. THIELE, Rüdiger (2000): „Felix Klein in Leipzig 1880 – 1886“. Jahresbericht DMV 102, 69-93. — (2011, 22018): Felix Klein in Leipzig, mit F. Kleins Antrittsrede, Leipzig 1880. Leipzig: Edition am Gutenbergplatz. TILITZKI, Christian (2012): Die Albertus-Universität Königsberg. Bd. 1 1871-1918. Berlin: Akademie-Verlag. TOBIES, Renate (1979a): „Zur internationalen wissenschaftsorganisatorischen Tätigkeit von Felix Klein (1849-1925) auf dem Gebiet des Mathematikunterrichts“. NTM 16 (1), 12-29. — (1979b): „Zur wissenschaftsorganisatorischen Tätigkeit von Felix Klein im Rahmen der Breslauer Unterrichtskommission“. NTM 16 (2), 50-63. — (1981a): Felix Klein (unter Mitwirkung von Fritz König). Leipzig: B. G. Teubner. — (1981b): „Zur Unterstützung mathematischer Forschungen durch die Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft im Zeitraum der Weimarer Republik“. Mitt. Math. Gesell. d. DDR (1), 81-99. — (1982): „Die ‚Gesellschaft für angewandte Mathematik und Mechanik’ im Gefüge der imperialistischen Wissenschaftsorganisation“. NTM 19 (1), 16-26. — (1984a): „Herausbildung der Internationalen Mathematischen Unterrichtskommission und ihre Funktion bei der Reformierung der Mathematikausbildung“. Mitt. Math. Gesell. DDR (4), 14-23. — (1984b): „Untersuchungen zur Rolle der Carl Zeiss-Stiftung für die Entwicklung der Mathematik an der Universität Jena“. NTM 21 (1), 33-43. — (1986a): Die gesellschaftliche Stellung deutscher mathematischer Organisationen und ihre Funktion bei der Veränderung der gesellschaftlichen Wirksamkeit der Mathematik (18711933). Leipzig: Karl-Sudhoff-Institut (Habilitationsschrift). — (1986b): „Zur Geschichte deutscher mathematischer Gesellschaften“. Mitt. Math. Gesell. DDR (2/3), 112-34. — (1986c): „Zu Veränderungen im deutschen mathematischen Zeitschriftenwesen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert (Teil I) – Briefe, Briefentwürfe, Notizen“. NTM 23 (2), 19-33. — (1987a): „Zu Veränderungen im deutschen mathematischen Zeitschriftenwesen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert (Teil II) – Einordnung, unter besonderer Berücksichtigung der Aktivitäten Felix Kleins“. NTM 24 (1), 31-49. — (1987b): „Zur Berufungspolitik Felix Kleins. – Grundsätzliche Ansichten“. NTM 24 (2), 4352. — (1988a): „Felix Klein und die Anwendungen der Mathematik“. Wiss. Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität, Jena, Naturwiss. Reihe 37 (2), 259-70.

546

Bibliographie

TOBIES, Renate (1988b): „Zu den Bestrebungen von August Gutzmer, die Anwendungen der Mathematik zu fördern“. In: ALMA MATER JENENSIS, Studien zur Hochschul- und Wissenschaftsgeschichte (5), 31-50. — (1989a): „Felix Klein als Mitglied des preussischen Herrenhauses. Wissenschaftlicher Mathematikunterricht für alle Schüler – auch für Mädchen und Frauen“. Der Mathematikunterricht 35 (1), 4-12. — (1989b): “On the Contribution of Mathematical Societies to Promoting Applications of Mathematics in Germany”. In: ROWE/MCCLEARY II, 223-48. — (1990a): „Zum Verhältnis von Felix Klein und Friedrich Althoff“. In: Friedrich Althoff 1839– 1908, Beiträge zum 58. Berliner Wissenschaftshistorischen Kolloquium (74), 35-56. — (1990b): „Zur Stellung der angewandten Mathematik an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert – allgemein und am Beispiel der Versicherungsmathematik“. In: PANEM & CIRCENSES, Mitteilungsblatt des Fördervereins für Mathematische Statistik und Versicherungsmathematik, Göttingen, Beilage zu (2), 1-11. — (1990c): „O svazi mezdu sovetskimi i nemeckimi matematikami: P. S. Aleksandrov i nemeckaja matematika“ (Russ.) (Zu den Beziehungen zwischen sowjetischen und deutschen Mathematikern: P. S. Aleksandrov und die Mathematik in Deutschland). In: Istoriko-matematičeskie issledovanija, Bd. 32/33. Moskva: Nauka 1990, 417-30. — (1991a): „Warum wurde die Deutsche Mathematiker-Vereinigung innerhalb der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte gegründet? Mathematiker-Briefe zur Gründungsgeschichte der DMV“. Jahresbericht der DMV 93, 30-47. — (1991b): „Zum Beginn des mathematischen Frauenstudiums in Preußen“. NTM 28 (2), 7-28. — (1991c): „Wissenschaftliche Schwerpunktbildung: der Ausbau Göttingens zum Zentrum der Mathematik und Naturwissenschaften“. In: BROCKE, 87-108. — (1992a): „Felix Klein in Erlangen und München: ein Beitrag zur Biographie“. In: DEMIDOV/ FOLKERTS/ROWE/SCRIBA, 751-72. — (1992b): „Bemerkungen zur Biographie von Felix Bernstein und zur ‚angewandten Mathematik’ in Göttingen“. PANEM & CIRCENSIS, Mitteilungsblatt des Fördervereins für Mathematische Statistik und Versicherungsmathematik Göttingen, Beilage zu (4), 1-34. — (1993a): „Elisabeth Staiger, geborene Klein“. In: WEBER-REICH, 248-60. — (1993b): „Mathematiker und Mathematikunterricht während der Zeit der Weimarer Republik“. In: R. Dithmar (Hg.), Schule und Unterrichtsfächer in der Endphase der Weimarer Republik. Auf dem Weg in die Diktatur. Neuwied: Luchterhand, 244-61. — (1994a): „Mathematik als Bestandteil der Kultur – Zur Geschichte des Unternehmens ‚Encyklopädie der mathematischen Wissenschaften mit Einschluss ihrer Anwendungen’.“ Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte 14, 1-90. — (1994b): „Albert Einstein und Felix Klein“. Naturwissenschaftl. Rundschau 47 (9), 345-52. — (1996a): “The reception of Grassmann’s mathematical achievements by A. Clebsch and his school”. In: SCHUBRING, 117-30. — (1996b): „Physikalische Gesellschaft und Deutsche Mathematiker-Vereinigung“. In: D. Hoffmann/F. Bevilacqua/R. H. Stuewer (eds.), The Emergence of Modern Physics. Pavia: La Goliardica Pavese, 479-94. — (1998): „Die Suche der Mathematiker nach Wegen für die Kommunikation“. In: TOBIES/ VOLKERT, 125-57. — (1999a): „Der Blick Felix Kleins auf die Naturwissenschaften. Aus der Habilitationsakte“. NTM N.S. 7, 83-92. — (1999b): „Felix Klein und David Hilbert als Förderer von Frauen in der Mathematik“. Prague Studies in the History of Science and Technology, N.S. 3, 69-101. — (2000a): „Felix Klein und der Verein zur Förderung des mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterrichts“. Der Mathematikunterricht 46 (3), 22-40. — (2000b): „Allen Parteien in der Mathematik offen sein. Die Entstehung der DMV-Mittelungen“. DMV-Mitteilungen (1), 43-48.

Bibliographie

547

— (2002a): “The Development of Göttingen into the Prussian Centre of Mathematics and the Exact Sciences”. In: N. Rupke (ed.), Göttingen and the Development of the Natural Sciences. Wallstein: Göttingen, 116-42. — (2002b): “Christian Felix Klein”. In: DAUBEN/SCRIBA, 455-57. — (2003): „Briefe Emmy Noethers an P. S. Alexandroff“. NTM, N.S. 11, 100-15. — (2004): „Die Noether-Theoreme“. In: TYRADELLIS/FRIEDLANDER, 283-84. — (2005): „Einstein und die Mathematiker/innen“. In: J. Maaß/U. Langer/G. Larcher (Hg.), Philosophie und Geschichte der Mathematik, Vorträge aus dem Johannes Kepler Symposium 1995-2005. Linz: Trauner, 164-78. — (2006): Biographisches Lexikon in Mathematik promovierter Personen. Augsburg: Rauner. ergänzte online-Version: https://www.mathematik.de/kurzbiographien?view=form — (2008a): „Elisabeth Staiger – Oberstudiendirektorin in Hildesheim“. In: Hildesheimer Jahrbuch für Stadt und Stift Hildesheim, 80. Hildesheim: Verlag Lax, 51-68. — (2008b): „Mathematik, Naturwissenschaften und Technik als Bestandteile der Kultur der Gegenwart“. Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 31 (1), 29-43. — (2008c): „Aller Männerkultur zum Trotz“. Frauen in Mathematik, Naturwissenschaften und Technik. Frankfurt a.M./New York: Campus. — (2010): „Morgen möchte ich wieder 100 herrliche Sachen ausrechnen“ − Iris Runge bei Osram und Telefunken. Mit einem Geleitwort von Helmut Neunzert. Steiner: Stuttgart. — (2012): Iris Runge: A Life at the Crossroads of Mathematics, Science, and Industry. With a Foreword by Helmut Neunzert. Translated by Valentine A. Pakis (Science Networks. Historical Studies, 43). Birkhäuser (Springer): Basel. — (2014): „Das Seminar Elektrotechnik innerhalb der Lehre von angewandter Mathematik an der Universität Göttingen, 1905“. In: FOTHE et al., 42-49. — (2015): „Klein und Lie über die Mathematik in Frankreich im Jahre 1870“. In: Ch. Binder (Hg.), Mathematik – Verschollen und Gefunden (XII. Österreichisches Symposium zur Geschichte der Mathematik, Miesenbach 4.-10. Mai 2014). TU Wien, 24-31. — (2016): „Felix Klein und französische Mathematiker“. In: Th. Krohn/S. Schöneburg (Hg.), Mathematik von einst für jetzt. Hildesheim: Franzbecker, 103-32. — (2017a): „Die Clebsche Diagonalfläche in der Korrespondenz Darboux – Klein“. In: Ch. Binder (Hg.), Namenspatrone und Taufpaten. Wie mathematische Begriffe zu ihrem Namen kamen. TU Wien, 38-51. — (2017b): „Thekla Freytag: Die Mädchen werden beweisen, dass auch sie exakt und logisch denken können…“. In: WOLFSCHMIDT, 344-93. — (2017c): „Moritz von Rohr: Optik – Mathematik – Medizintechnik“. Jenaer Jahrbuch zur Technik- und Industriegeschichte 20, 117-69. — (2018a): „Felix Klein und Andrej A. Markov im Kontext der Beziehungen zu russischen Mathematikern, mit Bemerkungen zur Differenzenrechnung“. In: Ch. Binder (Hg.), Vernachlässigte Teile der Mathematik und ihre Geschichte (XIV. Österreichisches Symposium Geschichte der Mathematik). TU Wien, 142-47. — (2018b): Beiträge Ernst Abbe; Carl Pulfrich; Wilhelm Rein; Moritz von Rohr; Mathilde Vaerting. In: Jena. Lexikon zur Stadtgeschichte. Berching: Tümmel. — (2019a): “Felix Klein – Mathematician, Academic Organizer, Educational Reformer”. In: WEIGAND et al., 5-20. — (2019b): “Internationality: Women in Felix Klein’s Courses at the University of Göttingen”. In: KAUFHOLZ/OSWALD (forthcoming). — ; Pieper, Herbert (1988): „Zum Verhältnis deutscher Mathematiker des 19. Jahrhunderts zur Geschichte ihrer Wissenschaft“. Mitt. der Math. Gesell. der DDR, H. 3/4, 55-71. — ; ROWE, David (1990): Korrespondenz Felix Klein – Adolph Mayer. Auswahl aus den Jahren 1871 bis 1907. Leipzig: B.G. Teubner. — ; VOGT, Annette B. (Hg.) with the Assistance of Valentine Pakis (2014): Women in Industrial Research (Wissenschaftskultur um 1900, 8). Steiner: Stuttgart

548

Bibliographie

TOBIES, Renate; VOLKERT, Klaus (1998): Mathematik auf den Versammlungen der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Aerzte, 1843-1890 (Schriftenreihe zur Geschichte der Versammlungen deutscher Naturforscher und Aerzte, 7). Stuttgart: Wiss. Verlagsgesellschaft. TÖLKE, Friedrich (1966): Praktische Funktionenlehre. Bd. 2: Theta-Funktionen und spezielle Weierstraßsche Funktionen. Berlin: Springer. TOEPELL, Michael (Hg.) (1991): Mitgliedergesamtverzeichnis der Deutschen Mathematiker-Vereinigung 1890-1990. Universität München: Institut für Geschichte der Naturwissenschaften. TOLLMIEN, Cordula (1987): „Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Strömungsforschung verbunden mit der Aerodynamischen Versuchsanstalt“. In: BECKER et al., 464-88. — (1990): „Emmy Noether, zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Habilitation von Frauen an der Universität Göttingen“. Göttinger Jahrbuch 38, 153-219. — (1993): „Der ‚Krieg der Geister’ in der Provinz – das Beispiel der Universität Göttingen 1914–1919“. Göttinger Jahrbuch 41, 137-209. — (1997): „Zwei erste Promotionen: die Mathematikerin Sofja Kowalewskaja und die Chemikerin Julia Lermontowa“. In: R. Tobies (Hg.), „Aller Männerkultur zum Trotz“ Frauen in Mathematik und Naturwissenschaften. Frankfurt a.M.: Campus, 83-129. — (2018): „’Invariantentheorie ist jetzt hier Trumpf’. Hundert Jahre Noether-Theoreme“. Physik in unserer Zeit 49 (4), 176-82. TRISCHLER, Helmuth (1992): Luft- und Raumfahrtforschung in Deutschland, 1900-1970: politische Geschichte einer Wissenschaft. Frankfurt a.M.: Campus. TSCHINKEL, Yuri (2008): „Die Felix Klein Protokolle. Aus dem ‚Giftschrank’ der Mathematischen Fakultät“. Wissenschaftsmagazin der Georg-August-Universität Göttingen, Ausgabe 6, 24-29. TYRADELLIS, Daniel; FRIEDLANDER, Michal S. (Hg.) (2004): 10 + 5 = Gott. Die Macht der Zeichen (Jüdisches Museum Berlin). Köln: DuMont. UEBERSICHT des Personal-Standes bei der Kgl. Bayerischen Friedrich-Alexanders-Universität Erlangen, nebst dem Verzeichniß der Studirenden im SS 1874. Erlangen. Jacob. ULLRICH, Peter (Hg.) (1988): Karl Weierstraß. Einleitung in die Theorie der analytischen Funktionen. Vorlesung Berlin 1878, in einer Mitschrift von Adolf Hurwitz (Dokumente zur Geschichte der Mathematik, 4) Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg. — (2017): „Karl Weierstraß zum 200sten Geburtstag“. In: WOLFSCHMIDT, 275-95. VAN DALEN, Dirk (2013): L. E. J. Brouwer – Topologist, Intuitionist, Philosopher: How Mathematics Is Rooted in Life. London: Springer. VERHANDLUNGEN (21902) über Fragen des höheren Unterrichts, Berlin 6 bis 8. Juni 1900. Nebst einem Anhange von Gutachten, hg. im Auftrage des Ministers der geistlichen, Unterrichtsund Medizinal-Angelegenheiten. Halle: Waisenhaus. VERHULST, Ferdinand (2012): Henri Poincaré. Impatient Genius. New York: Springer. VOGT, Annette (2009): „Von der Ausgrenzung zur Akzeptanz, von der Akzeptanz zur Ausschließung“. In: B. BERGMANN/M. EPPLE (Hg.), 12-32. VOLKERT, Klaus (1986): Die Krise der Anschauung: Eine Studie zu formalen und heuristischen Verfahren in der Mathematik seit 1850. Göttingen: Vandenhoeck& Ruprecht. — (2013): Das Undenkbare denken. Die Rezeption der nicht-euklidischen Geometrie im deutschsprachigen Raum (1860–1900). Heidelberg: Springer. — (2018a): In höheren Räumen: Der Weg der Geometrie in die vierte Dimension. Heidelberg: Springer Spektrum. — (2018b): „Vater und Sohn“. Math. Semesterberichte 65, 137-52. VOSS, Aurel (1907): „Zur Erinnerung an Gustav Bauer“. Jahresbericht DMV 16, 54-108. — (1919): „Felix Klein als junger Doktor“. Die Naturwissenschaften 7, 280-87. VOSS, Waltraud (2003): „Zur Geschichte der Versicherungsmathematik an der TU Dresden bis 1945“. Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft 92 (2), 275-303. WALLWITZ, Georg von (2017): Meine Herren, dies ist keine Badeanstalt. Wie ein Mathematiker das 20. Jahrhundert veränderte. Berlin: Berenberg.

Bibliographie

549

WEBER-REICH, Traudel (Hg.) (1993): „Des Kennenlernens werth“. Bedeutende Frauen Göttingens. Göttingen: Wallstein. WEIERSTRAß, Karl (1988): Ausgewählte Kapitel aus der Funktionenlehre. Hg. v. R. SiegmundSchultze (Teubner-Archiv zur Mathematik, 9). Leipzig: B.G. Teubner. — (2001): Mathematische Werke, Bde. 1-6 (Reprint). Hildesheim: Olms-Weidmann. WEIGAND, H.-G.; MCCALLUM, W.; MENGHINI, M.; NEUBRAND, M.; SCHUBRING, G. (eds.) (2019): The Legacy of Felix Klein (ICMI-13 Monographs). Springer Open. WEIß, Jürgen (1989): „Steindruck und autographierte Vorlesungshefte zur Mathematik“. Papier und Druck 38 (6), 281-84. — (2017): Steindruck – Offset – Digitale Gesellschaft – Print on Demand – Open Access. Leipzig: Edition am Gutenbergplatz. — (2018): Erfolgreiche Alt-68er. Mathematische Annalen – Mitteilungen B. G. Teubner – Alfred Clebsch – Felix Klein – Carl Neumann. Leipzig: Edition am Gutenbergplatz. WENDLAND, Wolfgang L.; STEINBACH, Olaf (2005): Analysis. Integral- und Differentialrechnung, gewöhnliche Differentialgleichungen, komplexe Funktionentheorie. Wiesbaden: B.G. Teubner. WENIG, Otto (Hg.) (1968): Verzeichnis der Professoren und Dozenten der Rheinischen FriedrichWilhelms-Universität zu Bonn 1818-1968. Bonn: H. Bouvier u. Co. Verlag, Ludwig Röhrsched Verlag. WEYL, Hermann (1913): Die Idee der Riemannschen Fläche. Leipzig/Berlin: B.G. Teubner; 21923, 3 1955; neu 1997 mit Beiträgen v. R. Remmert, S. Hildebrandt, K. Hulek, S. Patterson & M. Schneider (Teubner-Archiv zur Mathematik, Suppl. 5), Leipzig. — (1930): „Felix Kleins Stellung in der mathematischen Gegenwart“. Die Naturwissenschaften 18, 4-11. — (1949): “Relativity Theory as a stimulus in mathematical research”. Proceedings of the American Philosophical Society 93, 535-41. WIENER, Norbert (1962): Mathematik mein Leben. Düsseldorf/Wien: Econ. WIRTINGER, Wilhelm (1919): „Klein und die Mathematik der letzten fünfzig Jahre“. Die Naturwissenschaften 7, H. 17, 287-88. WOLFSCHMIDT, Gudrun (Hg.) (2017): Festschrift – Proceedings of the Scriba Memorial Meeting – History of Mathematics. Hamburg: tradition. WUßING, Hans (1968): „Zur Entstehungsgeschichte des Erlanger Programmes“. Mitt. Math. Gesellschaft der DDR 1, 23-40. — (2007): The Genesis of the Abstract Group Concept: A Contribution to the History of Abstract Group Theory (Dover edition, Reprint from Cambridge/Mass.: The MIT Press, 1984 – Deutsch 1969). YOUNG, Henry William (1928): “Christian Felix Klein 1849–1925”. Proceedings of the Royal Society of London, A, 121, i – xix. YOUNG, Laurence Chisholm (1981): Mathematicians and their times. Amsterdam & New York: North-Holland Publishing Company. ZIEGLER, Renatus (1985): Die Geschichte der geometrischen Mechanik im 19. Jahrhundert. Eine historisch-systematische Untersuchung von Möbius und Plücker bis zu Klein und Lindemann (Boethius, 13). Stuttgart: Steiner. ZIGMAN, Peter (2000): „Ernst Haeckel und Rudolf Virchow: Der Streit um den Charakter der Wissenschaft in der Auseinandersetzung um den Darwinismus“. Medizinhistorisches Journal 35, (3/4), 263-302.

550

Bibliographie

Abb. 39: Urkunde zur Verleihung der Ehrendoktorwürde der TH München, 23.12.1905

ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abb. 1: Felix Klein, 1975. Quelle: [Privatnachlass Hillebrand]. ................................................ v Abb. 2: Auszug aus dem Stammbaum der Familien Klein und Hegel. Quelle: Eigene Zusammenstellung nach [Privatnachlass Hillebrand] Alfred Klein. ..... x Abb. 3: Felix Klein an Sophus Lie, Briefauszug vom 1.4.1872. Quelle: [Oslo] ...................... xvi Abb. 4: Felix Klein im Alter von zwei Jahren (Zeichner unbekannt). Quelle: [Privatnachlass Hillebrand]. ............................................................................ 12 Abb. 5: Promotionsurkunde Felix Kleins, 12.12.1868. Quelle: [UBG] Cod. Ms. F. Klein 101. ........................................................................ 34 Abb. 6: Alfred Clebsch. Quelle: B. G. Teubner Leipzig; Tobies/Rowe 1990, 10. .................... 38 Abb. 7: Titelblatt der Mathematischen Annalen Bd. 6 (1873). ................................................. 46 Abb. 8: Kummersche Fläche mit 16 reellen Doppelpunkten. Quelle: FISCHER 1986, Foto 34. ................................................................................... 50 Abb. 9: Titelblatt des Bulletin des Sciences Mathématiques et Astronomique. ........................ 65 Abb. 10: Auszug aus einem Brief von Felix Klein an Sophus Lie nach Paris, vom 29. Juli 1870. Quelle: [Oslo] Nachlass Sophus Lie. ............................................. 74 Abb. 11: Diagonalfläche von Clebsch. Quelle: Quelle: FISCHER 1986, Foto 10. ...................................................................... 93 Abb. 12: Fläche dritter Ordnung mit vier reellen Knotenpunkten. Quelle: KLEIN 1922 GMA II, 15. . .............................................................................. 96 Abb. 13: Eduard Riecke. Quelle: [UBG] Math. Archiv 52. ........................................................ 98 Abb. 14: Titelblatt zum Erlanger Programm (Oktober 1872). ................................................. 110 Abb. 15: Kleins Kreis in Erlangen 1873. Von rechts: Felix Klein, Ferdinand Lindemann, Wilhelm Bretschneider, Siegmund Günther, Adolf Weiler, Ludwig Wedekind. Quelle: Otto Volk-Zimmer des Mathematischen Instituts der Universität Würzburg; publiziert in: TOBIES/VOLKERT 1998, 132. ........................................................... 115 Abb. 16: Arithmomètre. Vierspezies-Rechenmaschine von Charles Xavier Thomas, Serien-Nr. 759, Baujahr 1868. Quelle:Informatik-Sammlung, Universität Erlangen, Foto: Georg Pöhlein. .............. 126 Abb. 17: Verlobungsanzeige. Quelle: [Oslo] Nachlass Sophus Lie. ......................................... 141 Abb. 18: Zur Silberhochzeitsfeier von Anna und Felix Klein aufgenommenes Foto, am Sonntag, den 19. August 1900. Quelle: [Privatnachlass Hillebrand]. .................. 145 Abb. 19: Kleins Modulfigur, abgeleitet nach Dedekind. Quelle: KLEIN 1923 GMA III, 23. ............................................................................ 162 Abb. 20: Kleins „Hauptfigur“ mit 2 x 168 Kreisbogendreiecken. Quelle: KLEIN 1923 GMA III, 126. .......................................................................... 164 Abb. 21: Adolf Hurwitz. Quelle: [UBG] Cod. Ms. F. Klein. .................................................... 173 Abb. 22: Carl Linde, 1872. Quelle: [Deutsches Museum] Porträtsammlung, Bild-Nr. 41926. ............................. 179 Abb. 23: Felix Klein in Leipzig. Quelle: [Privatnachlass Hillebrand]. ..................................... 188 Abb. 24: Kleinscher Schlauch. Quelle: KLEIN/ROSEMANN 1928, 262. ............................... 230 Abb. 25: Auszug aus einem Briefentwurf F. Kleins an A. Ackermann-Teubner, 31.12.1899. Quelle. [UBG] Cod. Ms. F. Klein. ............................................................................. 273 Abb. 26: Gründungsmitglieder der Deutschen Mathematiker-Vereinigung. Postkarte. ........... 292 Abb. 27: Wohnhaus Felix Kleins, Göttingen, Wilhelm Weber-Str. 3. Quelle: Aufnahmen v. Dr. W. Mahler am 31.5.2014. ................................................ 294

551 © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Tobies, Felix Klein, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58749-2

552

Tabellenverzeichnis

Abb. 28: Rohns Gasthaus auf dem Hainberg. Quelle: Historische Postkarte. .......................... Abb. 29: Göttinger Mathematische Gesellschaft, 1902. Quelle: [UBG] Cod. Ms. F. Klein. ... Abb. 30: ENCYKLOPÄDIE-Reise nach Wales: Felix Klein und Arnold Sommerfeld bei der Familie von George Hartley Bryan. Quelle: [Deutsches Museum] CD 66310. ......... Abb. 31: Göttinger Vereinigung zur Förderung der angewandten Physik und Mathematik, Postkarte zum Stiftungsfest, 1908. Quelle: [UBG] Cod. Ms. F. Klein 4E. ................ Abb. 32: Plan Kleins für den Band „Die mathematischen Wissenschaften“ im Projekt Kultur der Gegenwart, 1912 (Anzeige des Verlags B.G. Teubner). .......................... Abb. 33: Titelblatt der Zeitschrift L’Enseignement mathématique, Bd. 1 (1899). .................... Abb. 34: Gremien in Deutschland, in denen Klein Unterrichtsfragen diskutierte. ................... Abb. 35: Historische Postkarte, Bocksberg-Hahnenklee mit Sanatorium. ................................ Abb. 36: Max Liebermann: Bildnis Felix Klein, 1912. ............................................................ Abb. 37: Felix Klein. Zeichnung von Leonard Nelson. Quelle: [Privatnachlass Hillebrand]. .......................................................................... Abb. 38: Grabstein Felix und Anna Klein, alter Stadtfriedhof Göttingen. Quelle: Aufnahme Dr. W. Mahler. ............................................................................ Abb. 39: Urkunde zur Verleihung der Ehrendoktorwürde der TH München, 23.12.1905. Quelle: [UBG] Cod. Ms. F. Klein 113, Nr. 8 .............................................................

295 348 359 384 410 424 426 441 445 482 524 550

TABELLENVERZEICHNIS Tab. 1:

Urteile über Felix Kleins Leistungen aus seinem Reifeprüfungszeugnis vom 3. August 1865. .................................................................................................... 18

Tab. 2:

Mathematische Abituraufgaben, Gymnasium Düsseldorf 1865. ................................. 19

Tab. 3:

Lehrveranstaltungen, die Felix Klein an der Universität Bonn besuchte. .................... 23

Tab. 4:

Verzeichnis der im SS 1871 an der Universität Göttingen angebotenen mathematisch, physikalischen und astronomischen Lehrveranstaltungen. .................. 81

Tab. 5:

Zum Erlanger Programm. ......................................................................................... 112

Tab. 6:

Teilnehmer an Kleins Forschungsseminaren, 1880/81 – 1885/86. ............................ 203

Tab. 7:

Vorträge in der Göttinger Mathematischen Gesellschaft, 1892/93. ........................... 346

Tab. 8:

Angewandte Mathematik in der Prüfungsordnung für Lehramtskandidaten ab 1898. ............................................................................... 390

Tab. 9:

Mitglieder der Kommission für Unterrichtswesen des Herrenhauses (Erste Kammer des preußischen Landtags), gebildet am 19. März 1909. .................. 428

Tab. 10: Vorträge Felix Kleins, 1914 – 1922. .......................................................................... 456

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Tobies, Felix Klein, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58749-2

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS ADB

Allgemeine Deutsche Biographie

a.o. Professor

außerordentlicher Professor

BBF

Bibliothek für bildungsgeschichtliche Forschung

Breslauer Unterrichtskommission

Unterrichtskommission der GDNÄ, 1904-07

Crelle-Journal

Zeitschrift für die reine und angewandte Mathematik, gegr. 1826

DAMNU

Deutscher Ausschuß für mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht, gegr. 1908

DDP

Deutsche Demokratische Partei, gegr. 1919

DIR

Differential- und Integralrechnung

DMV

Deutsche Mathematiker-Vereinigung, gegr. 1890

DVP

Deutsche Volkspartei, 1918 entstanden aus der Nationalliberalen Partei

ENCYKLOPÄDIE bzw. Enc

Encyklopädie der mathematischen Wissenschaften mit Einschluss ihrer Anwendungen, 6 Bde., 1898 – 1935

Förderverein

Verein zur Förderung des mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterrichts, gegr. 1890

GAMM

Gesellschaft für angewandte Mathematik und Mechanik, gegr. 1922

GDNÄ

Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte, gegr. 1822

Gesellschaft derWissenschaften zu Göttingen

1751 1918 1942

GMA

Gesammelte Mathematische Abhandlungen

Göttinger Nachrichten

Nachrichten von der Kgl. Gesellschaft der Wissenschaften und der Georg-Augusts-Universität zu Göttingen (ab 1894 getrennt nach Institutionen und Klassen)

Göttinger Vereinigung

Göttinger Vereinigung zur Förderung der angewandten Physik und Mathematik, gegr. 1898 für Physik; 1900 erweitert auf Mathematik

Helmholtzgesellschaft

Helmholtzgesellschaft zur Förderung der physikalischtechnischen Forschung, gegr. 1921

Herrenhaus

Erste Kammer des preußischen Landtags (1850-1918)

Kgl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen Akademie der Wissenschaften zu Göttingen

553 © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Tobies, Felix Klein, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58749-2

554

Abkürzungsverzeichnis

IMUK

Internationale Mathematische Unterrichtskommission, gegr. 1908 (International Commission on Mathematical Instruction)

IMUK-Abhandlungen

Abhandlungen über den mathematischen Unterricht, veranlaßt durch die IMUK hg. v. Felix Klein. 5 Bde. Leipzig/Berlin: B.G. Teubner, 1909-16.

Jahresbericht DMV

Jahresbericht der Deutschen Mathematiker-Vereinigung

Kgl.

Königlich

KWG

Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft e.V.

KWI

Kaiser-Wilhelm-Institut

Kultusministerium (preußisches)

Preußisches Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten (1817-1918), ab 1910 ohne Medizin; Preußisches Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung (1918-1933)

Math. Ann.

Mathematische Annalen, gegr. 1869

Annalen

Mathematische Annalen, gegr. 1869

Mathematischer Reichsverband

Reichsverband deutscher mathematischer Gesellschaften und Vereine, gegr. 1921

NDB

Neue Deutsche Biographie

Notgemeinschaft

Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft, gegr. 1920 seit 1929 Deutsche Forschungsgemeinschaft (=DFG)

NTM

1960: NTM-Schriftenreihe für Geschichte der Naturwissenschaften, Technik und Medizin, Akad. Verlagsgesellschaft Geest & Portig K.-G. Leipzig 1993: Internationale Zeitschrift für Geschichte und Ethik der Naturwissenschaften, Technik und Medizin (International Journal of History and Ethics of Natural Sciences, Technoly and Medicine), Birkhäuser Basel ab 2008: Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin (Journal of the History of Science, Technology, and Medicine), Birkhäuser Basel

o.Mitglied / o. Professor

ordentliches Mitglied / ordentlicher Professor

SPD

Sozialdemokratische Partei Deutschlands, gegr. 1863

TH

Technische Hochschule

VDI

Verein Deutscher Ingenieure, gegr. 1856

WoStd

Wochenstunden

ZAMM

Zeitschrift für angewandte Mathematik und Mechanik, gegr. 1921

ZmnU

Zeitschrift für mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht, gegr. 1870

PERSONENVERZEICHNIS Im Verzeichnis ist die Mitgliedschaft in der Deutschen Mathematiker-Vereinigung (DMV) und die Mitarbeit an der ENCYKLOPÄDIE (Enc) angegeben. Abbe, Ernst 1840–1905, Physiker, Math., Unternehmer, DMV: 27, 382, 479, 547 Abel, Niels Henrik 1802–1829, norweg. Math.: vii, 39, 41, 43f., 47, 54, 57f., 81, 86, 95, 130, 132, 156-58, 191, 198, 202, 204f., 212f., 217, 226, 232f., 235f., 243, 253, 261, 267-69, 277, 290, 305-07, 309, 315, 326, 346, 362, 364, 487, 515, 517 Abraham, Max 1875–1922, theor. Physiker, DMV, Enc: 37, 462, 348 Ackermann-Teubner, Alfred Gustav Benedictus 1857–1941, Verleger, DMV: 191, 269, 270, 272-75, 356, 520, 551 Afanassjewa (verh. Ehrenfest), Tatjana A. 1876–1964, russ. Math., Enc: 356 Ahrens, Wilhelm 1872–1927, Math., DMV: 355 Airy, George Biddell 1801–1892, brit. Math. Astr.: 406 Aleksandrov, Pavel S. 1896–1982, russ. Math., DMV: 458, 546 Alexejewsky, W. P., Charkow, Math.: 347 Althoff, Friedrich 1839–1907, preuß. Ministerialbeamter: 6, 72, 74, 207f., 216, 286f., 298, 300f., 316, 319f., 323f., 326, 331-39, 342, 360, 362, 365f., 36870, 373, 375-79, 382-88, 391, 419, 431, 438, 444, 464, 507-09, 519, 528, 546 Amelung, Julius *1864, stud. Math. bei Klein, Lehrer: 177 Ameseder, Adolf 1858–1891, österr. Math.: 204, 221 Appell, Paul 1855–1930, franz. Math., Enc(f): 239, 315, 424, 520 Archenhold, Friedrich Simon 1861–1939, Astr., DMV: 329 Archibald, Raymond Clare 1875–1955, kanad. Math., Math.hist., DMV: 522 Argelander, Friedrich Wilhelm 1799–1875, Astr.: 23

Aronhold, Siegfried 1819–1884, Math.: 41, 44, 105 Artin, Emil 1898–1962, österr. Math., DMV: 457 Ascoli, Giulio 1843–1896, ital. Math.: 136 Aßmann, Richard 1845–1918, Meteorol.: 391f. Asthöwer, Fritz 1835–1913, Ing.: 376 Baade, Walter 1893–1960, Astr., DMV: 456f. Bach, Carl von 1847–1931, MaschinenbauIng.: 10, 272 Bacharach, Isaak 1854–1942, Math., DMV: 180 Bäcklund, A. Victor 1845–1922, schwed. Math., DMV: 117 Baeyer, Adolf (seit 1885 Ritter von), Adolf 1835–1917, Chem.: 337, 475 Ball, Robert Stawell 1840–1913, irischer Math., Astr.: 130, 297, 322 Baltzer, Richard 1818–1887, Math.: 89, 279f., 498 Barkhausen, Heinrich 1881–1956, Physiker: 403 Barnum, Charlotte Cynthia 1860–1934, USamerik. Math.: 369 Bartling, Friedrich Gottlieb 1798–1875, Botan.: 78 Battaglini, Guiseppe 1826–1894, ital. Math.: 33, 36, 65, 75, 132, 134 Bauer, Gustav 1820–1906, Math., DMV: 108, 150f., 499, 548 Bauer, Max 1844–1917, Mineral.: 101 Bauernfeind, Karl Maximilian von 1818– 1894, Geodät: 149, 151, 181, 499 Bauschinger, Johann 1834–1893, techn. Mech.: 150, 177 Bauschinger, Julius 1860–1934, Astr., DMV, Enc: 177, 472, 474 Bayer, Friedrich 1851–1920, Unternehmer: 383, 427, 475

555 © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Tobies, Felix Klein, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58749-2

556

Personenverzeichnis

Bechmann (seit 1891 Ritter von), August 1834–1907, Rechtswiss.: 124 Becker, Carl Heinrich 1876–1933, Orientalist, Politiker: 449, 465 Beer, August 1825–1863, math.Physik.: 498 Beetz (seit 1876 von), Wilhelm 1822–1886, Physik.: 150 Behnke, Heinrich 1898–1979, Math., DMV: 464, 478, 527, 532 Behrendsen, Otto 1850–1921, Gymn.-Prof.: 346, 352 Behrens, Wilhelm 1885–1917, Math., Dr.Schüler Kleins, DMV: 421, 442 Beke, Emanuel 1862–1946, ungar. Math., DMV: 347, 423, 429 Beltrami, Eugenio 1835–1900, ital. Math.: 45, 75, 89f., 133-35, 220, 228, 312 Beman, Wooster Woodruff 1850–1922, USamerik. Math., DMV: 352, 535 Beneke, Carl Gustav 1800–1864, Prediger: 414, 416f. Beneke, Friedrich Eduard 1798–1854, Philos.: 414, 416f. Benfey, Bruno 1891–1962, Pastor: 148 Benfey, Theodor 1809–1881, Orient.: 322 Bernays, Paul 1888–1977, Math., DMV: 457 Berneker, Erich 1874–1937, Slawist: 466 Bernstein, Felix 1878–1956, Math., DMV: 271, 348, 375, 413, 421f., 442, 546 Bertheau, Ernst 1812–1888, Orient.: 78 Bertini, Eugenio 1846–1933, ital. Math.: 136 Bertrand, Joseph 1822–1900, franz. Math.: 72, 280, 314, 498 Bessel-Hagen, Erich 1898–1946, Math., DMV: 251, 455, 457f. Betti, Enrico 1823–1892, ital. Math.: 133, 135 Beumer, Wilhelm 1848–1929, Indust.: 376 Bezold, Wilhelm von 1837–1907, Physik., Meteorol.: 178f. Bianchi, Luigi 1856–1928, ital. Math.: 172, 175f., 185, 190, 319, 488, 520 Bieberbach, Ludwig 1886–1982, Math., DMV, Enc: 355, 396, 422, 447, 470, 474, 515, 538 Biedermann, Paul *1862, Math., Dr.-Schüler Kleins: 57, 171, 201, 203, 263, 279 Birkhoff, George D. 1884–1944, US-amerik. Math., DMV: 488 Bischof, Johann N., Math.: 150-52, 187

Bischof, Karl G. 1792–1870, Geochem.: 25 Bismarck, Otto von 1815–1898, Politiker: 21, 73, 296, 438, 537 Blake, Edwin Mortimer 1868–1955, USamerik. Math.: 363 Blaschke, Wilhelm 1885–1962, österr. Math., DMV: 31, 113, 357, 448, 456 Blumenthal, Otto 1876–1944, Math., DMV: v, 48, 348, 380, 393, 463, 474, 520 Bobek, Karl 1855–1899, österr. Math., DMV: 203, 221 Bôcher, Maxime 1867–1918, US-amerik. Math., Dr.-Schüler Kleins, DMV, Enc: 88, 271, 310, 347, 363, 394, 520, 523 Bödiker, Tonio 1843–1907, Jurist, Beamter, Vorstand Siemens &Halske: 383 Boelitz, Otto 1876–1951, Päd., Politiker: 471 Börnstein, Richard 1852–1913, Physik.: 85 Böttger, Adolf, Math.: 203, 206 Böttinger (seit 1907 von), Henry Theodor 1848–1920, Chem., Unternehmer: 37678, 383-86, 389, 391-93, 427, 431f., 438, 453, 475, 520, 536 Bohlmann, Georg 1869–1928, Vers.math., DMV, Enc: 347, 374, 388 Bokowski, Adalbert 1899–1948, Math., DMV: 457 Boltzmann, Ludwig 1844–1906, österr. Physik, DMV, Enc: vii, 274, 325, 337, 354, 358, 391, 414, 420, 533 Bolyai, János (Johann) 1802–1860, ungar. Math.: 60, 62, 88f., 222, 486, 541 Bolza, Oskar 1857–1942, Math., DMV: 146, 303, 361, 363 Bolzano, Bernhard 1781–1848, böhm. Theologe, Math.: 120 Borchardt, Carl Wilhelm 1817–1880, Math.: 53, 252, 303f., 325, 368 Borel, Émile 1871–1956, franz. Math.: 271, 357, 392, 520 Born, Max 1882–1970, Physik, DMV, Enc: viii, 271, 317, 345, 349, 383, 408, 463, 476, 528 Bortkiewicz, Ladislaus von 1868–1931, poln.-russ. Statistiker, Enc: 374 Bosse, Robert 1832–1901, Politiker, Kultusminister: 352, 382 Bosworth, Anne Lucy verh. Focke 1868– 1907, US-amerik. Math.: 347 Boulanger, Auguste 1866–1923, franz. Mathematiker, Enc(f): 300

Personenverzeichnis Boussinesq, Valentin Joseph 1842–1929, franz. Math., Physik: 357, 404 Boutroux, Pierre 1880–1922, franz. Math., Math.hist., Enc(f): 520 Boyd, James H. 1862–1946, US-amerik. Math.: 300 Branford, Benchara 1867–1944, schott. Mathematiker: 271 Brater geb. Pfaff, Pauline 1827–1907: 140 Brater verh. Sapper, Agnes 1852–1929, Schriftstellerin, Freundin Anna Hegels: 140 Brater, Karl Ludwig Theodor 1819–1869, Redakteur, Politiker: 140 Brauer, Richard 1901–1977, Math., DMV: 259 Braun, Wilhelm *1852, Math., Dr.-Schüler Kleins: 47, 114, 117 Braune, Christian 1831–1892, Anatom: 278, 281 Braunmühl, Anton von 1853–1908, Math., DMV: 171 Bravais, Auguste 1811–1863, franz. Physiker, Kristallograph: 317 Brendel, Martin 1862–1939, Astr., DMV: 375, 388, 402, 412 Bretschneider, Wilhelm 1847–1931, Math., Gymn.-Prof., Doz., Dr.-Schüler Kleins, DMV: 95, 114-16, 551 Brill (seit 1897 von Brill), Alexander W. 1842–1935, Math., DMV: 39-41, 44, 47, 75, 104f., 140, 150-55, 168, 170f., 178-80, 182-85, 187, 196, 202, 221f., 235, 241, 277, 330, 471, 515, 520 Brill, Ludwig, Verleger: 153, 182 Brioschi, Francesco 1824–1897, ital. Math.: 133, 136, 157, 159-61, 163, 166, 258 Brouwer, Luitzen 1881–1966, niederl. Math., DMV: 48, 249, 251, 396, 447f., 520, 529, 548 Bruhns, Karl Christian 1830–1881, Astr., Geodät: 197 Brunel, Georges 1856–1900, franz. Math., Enc: 203, 217f., 239, 241 Bruns, Heinrich 1848–1919, Math., Astr., DMV: 56, 197, 203, 206, 276, 329, 340, 545 Bryan, George Hartley 1864–1928 brit. Math., Physik, Enc: 358f., 552 Buchheim, Arthur 1859–1888, brit. Math.: 130, 203, 217 Budde, Emil A. 1842–1921, Physik.: 36

557

Büttner, Friedrich 1859–1915, Math., Gymnasial-Prof. 203, 239 Burkhardt, Heinrich 1861–1914, Math., DMV, Enc: 150, 292, 298, 304-07, 320, 326, 328, 339, 343, 346, 348, 356, 361f., 372, 401, 509, 520, 538 Busch, Wilhelm 1832–1908, Dichter, Zeichner: 141 Campbell, George Ashley 1870–1954, USamerik. Math., Ing.: 352, 403 Cantor, Georg 1845–1918, Math., DMV: 47, 53, 169, 213, 292, 321, 327-30, 332, 415, 421f., 458, 483, 540 Cantor, Moritz 1829–1920, Math.hist., DMV: 183, 272-74, 412, 424, 493 Capelli, Alfredo 1855–1910, ital. Math.: 361 Carajaiannides, A., griech. Math.: 300 Carathéodory, Constantin 1873–1950, griech. Math., DMV: 1, 3, 48, 66, 107, 294, 344, 402, 413, 447f., 451, 465, 482, 484, 520, 528 Casorati, Felice 1835–1890, ital. Math.: 133, 498 Caspar, Max 1880–1956, Math., Math.hist., DMV: 515 Castelnuovo, Guido 1865–1952, ital. Math., Enc: 488, 520, 522, 526 Cauchy, Augustin-Louis 1789–1857, franz. Math.: 36, 193, 198, 264, 367, 483, 486, 528 Cauer geb. Schelle, Wilhelmine 1841–1922, Päd., Frauenrechtlerin: 435 Cayley, Arthur 1821–1895, brit. Math.: 3, 29, 39f., 43, 45, 60-62, 75, 79, 88-90, 127-31, 167, 169, 175, 180, 187, 190, 216, 259, 282, 315, 501 Chasles, Michel 1793–1880, franz. Math., Math.hist.: 42, 58, 64, 68, 72, 92, 95, 113, 169, 173, 215 Chisholm (verh. Young), Grace 1868–1944, engl. Math.: 133, 271, 347f., 352, 370f., 372, 452f., 458, 464, 532, 539, 549 Christoffel, Elwin Bruno 1829–1900, Math.: 105, 235, 379 Cicero, Marcus Tullius 106–43 v. Chr., röm. Politiker, Philos.: 17 Clebsch, Alfred 1833–1872, Math.: 3, 7, 11, 25, 29, 32f., 37-55, 57-59, 64, 67, 69, 76-86, 88f., 93-95, 97-99, 101, 103-05, 108, 111, 113f., 116-20, 122, 128, 132,

558

Personenverzeichnis

134f., 137f., 140, 150, 163, 168f., 174, 187, 191f., 196, 221, 226, 235f., 268, 297, 304, 318f., 321, 329, 336, 363, 411f., 414, 451, 464, 483-85, 489, 498f., 515, 519 Clifford, William Kingdon 1845–1879, engl. Math.: 3, 40, 90, 128f., 169, 312 Coble, Arthur Byron 1878–1966, US-amerik. Math.: 304f., 523 Cohen, Hermann 1842–1918, Philos.: 545 Cohn, Gustav 1840–1919, Nationalökonom: 459, 533 Cohn-Vossen, Stephan 1902–1936, Math., DMV: 459, 533 Cole, Frank Nelson 1861–1926, US-amerik. Math., Dr.-Schüler Kleins: 204, 219, 259, 303, 520 Collatz, Lothar 1910–1990, Math., DMV: 389, 529 Cornelius, Hans 1863–1947, Philos.: 204 Courant, Richard 1888–1972, Math., DMV: vii, 102, 375, 413, 448, 455, 457-59, 470, 473f., 477f., 480, 489f., 529, 541 Cram, Myrthel, Schwiegertochter Kleins: x, 145 Crelle, August L. 1780–1855, Math.: 53 Cremona, Luigi 1830–1903, ital. Math., DMV: 29, 43f., 75, 95, 133-36, 166, 182, 191, 305, 405, 424, 483, 498, 526 Culmann, Karl 1821–1881, dt.-schweiz. Bauing.: 63, 405 Curie (Skłodowska), Marie 1867–1934, polnisch-franz. Physik., Chem.: 453, 537f. Czapski, Siegfried 1861–1907, Physiker, techn. Optik: 100 Czermak, Johann Nepomuk 1828–1873, Physiol.: 194 Czuber, Emanuel 1851–1925, österr. Math.: 424 Dalwigk, Friedrich von 1864–1943, Math., DMV: 347 Darboux, Gaston 1842–1917, franz. Math.: 5, 10, 37, 63-66, 70, 72, 74, 76, 84, 8789, 94, 104, 107, 110f., 114, 119, 139, 159, 169, 172f., 184f., 189, 212, 217, 218, 222, 226f., 239, 241, 262, 279f., 289, 300, 355, 400, 429, 438, 452, 486, 497f., 520, 525, 529, 532f., 541, 547 Darwin, Charles Robert 1809–1882, brit. Biologe: 28, 181, 494, 527, 533 Darwin, George Howard 1845–1912, brit. Astr., Math., Enc: 28, 520

Debye, Peter 1884–1966, niederl. Physik., DMV, Enc: 294f., 413, 476, 525 Decoster, Paul 1886–1939, belg. Philosoph: 421 Dedekind, Richard 1831–1916, Math., DMV: 82, 95, 162, 206, 221f., 235, 252, 254, 307f., 310, 326, 363, 398, 520, 536, 541f., 551 Des Coudres, Theodor 1862–1926, Physiker: 205, 383, 389 Despeyroux, Théodore 1815–1883, franz. Math., Physik.: 400 Deussen, Gustav Adolf Hugo *15.10.1837, Religionslehrer: 17 Dickson, Leonard Eugene 1874–1954, USamerik. Math.: 522 Dickstein, Samuel 1851–1939, poln. Math., Math.hist., DMV: 113, 520 Diekmann, Joseph 1848–1905, Math., Dr.Schüler Kleins: 94, 99 Diels, Hermann 1848–1922, Philologe: 386, 439 Diestel, Friedrich 1863–1925, Math., Bibl., DMV: 346, 348 Diesterweg, Adolph 1790–1866, Päd.: 465 Dingeldey, Friedrich 1859–1939, Math., Dr. -Schüler Kleins, DMV, Enc: 203, 206, 233, 278 Dini, Ulisse 1845–1918, ital. Math.: 136 Dirichlet, Peter Gustav Lejeune 1805–1859, Math.: 7, 38, 52, 54, 82, 226, 230, 23235, 242, 247, 296, 319f., 367, 412, 422, 448, 502, 533 Domsch, Paul 1860–1918, Math., Dr.-Schüler Kleins, DMV: 88, 203, 206, 235, 237, 278 Dove, Heinrich Wilhelm 1803–1879, Meteorologe: 58, 77 Dove, Richard Wilhelm 1833–1907, Kirchenrechtler: 77, 427 Drenckhahn, Friedrich 1894–1977, Math., Didaktiker, DMV: 435, 457 Dreßler, Heinrich, Lehrer: 203, 206, 233 Du Bois-Reymond, Emil Heinrich 1818– 1896, Physiol.: 52, 425, 530 Du Bois-Reymond, Paul 1831–1889, Math.: 55, 196, 211, 237, 297, 419 Duhamel, Jean-Marie Constant 1797–1872, franz. Math., Physik.: 498 Dühring, Eugen 1833–1921, Philos.: 101 Duisberg, Carl 1861–1935, Chem., Unternehmer: 427, 475-78, 537

Personenverzeichnis Dupin, Charles 1784–1873, franz. Math., Ing.: 73, 517 Durège, Heinrich 1821–1893, Math.: 498 Dyck (seit 1901 Ritter von), Walther 1856– 1934, Math., Dr.-Schüler Kleins, DMV, Enc: 6, 48, 76, 131, 140, 155, 170-72, 176, 180, 184-86, 194, 198, 200-03, 207f., 231f., 237, 241, 255, 265, 269, 272f., 276, 279, 305f., 327-30, 332, 347, 353f., 356f., 360f., 367, 375, 385, 388, 410, 423, 439, 442, 444, 446f., 472, 474, 480f., 485, 520, 530, 533 Ebert, Hermann 1861–1913, Physik.: 147 Eckardt, Friedrich Emil, Lehrer: 47, 95, 105 Ehlers, Ernst 1835–1925, Zool.: 116, 130, 520 Ehlers, J., Hörer bei Klein: 352 Ehrenfest, Paul 1880–1933, österr. Physik., Enc: 356 Ehrenfeuchter, Friedrich 1814–1878, ev. Theologe: 78 Ehrensberger, Emil 1858–1940, Chem., Manager bei Krupp: 383, 475 Einstein, Albert 1879–1955, Physik., DMV: ix, 48, 209, 350, 420, 456f., 459-63, 474, 483, 490, 530, 541, 546f. Eisenstein, Gottlob 1823–1852, Math.: 175 Encke, Johann Franz 1791–1865, Astr.: 52, 55 Eneström, Gustaf 1852–1923, schwed. Math., Math.hist., Bibl., DMV: 207, 273, 409, 412 Engel, Friedrich 1861–1941, Math., DMV: 58, 67, 91, 111, 204f., 207f., 213f., 272, 280f., 288, 393, 412, 484, 527, 529 Engels, Hubert 1854–1945, Ing.: 404 Enneper, Alfred 1830–1885, Math.: 12, 81, 83, 105f., 212, 284-86, 298, 501-02, 504 Enriques, Frederigo 1871–1946, ital. Math., Enc: 90, 271, 314, 422, 520, 522 Errera, Alfred 1886–1960, belg. Math.: 421 Escherich, Gustav von 1849–1935, österr. Math., DMV: 354 Euklid [Euclid], um 300 v. Chr., griech. Math.: 88f., 123, 160, 412, 421, 530 Euler, Leonhard 1707–1783, schweiz. Math.: 7, 99, 154, 407, 412, 496, 498 Faltings, Gerd *28.7.1954, Math., DMV: 398 Fano, Gino 1871–1952, ital. Math., DMV, Enc: 8, 35, 113, 133, 352, 545

559

Fedorow, Evgraph Stepanowitsch 1853– 1919, russ. Mineraloge: 6, 317, 528 Fehr, Henri 1870–1954, schweiz. Math., DMV: 423f., 428f., 437, 443, 453f., 520, 530 Fellmann, Emil 1927–2012, schweiz. Wiss. hist.: 9 Fick, Richard 1867–1944, Bibl., Indologe: 338 Fiedler, Ernst 1861–1954, schweiz. Math., Dr.-Schüler Kleins, DMV: 204, 263, 520 Fiedler, Otto Wilhelm 1832–1912, deutschschweiz. Math., DMV: 33, 60, 89, 105, 204, 263, 542 Fields, John Charles 1863–1932, kanad. Math., DMV: 398, 520, 522 Fine, Henry Buchard 1858–1928, US-amerik. Math., Dr.-Schüler Kleins: 204, 219, 365, 400 Finsterwalder, Sebastian 1862–1951, Math, DMV, Enc: 41, 154, 327, 391 Fischer, Emil 1852–1919, Chem.: 475 Fischer, Gottlob, Math., erster Assistent Kleins: 154f. Fischer, Otto 1861–1916, Math., Physiol., Dr.-Schüler Kleins, DMV, Enc: 201, 203, 259, 279, 281 Fleck, Ludwik 1896–1961, poln. Mikrobiol., Erkenntnistheoretiker: 7 Flender geb. Klein, Aline Leonore 1847– 1914, Schwester Kleins: x, 14f. Flender, Hermann August 1839–1882, Unternehmer, Schwager Kleins: x, 14f. Föppl, August 1854–1924, techn. Mech., DMV, Enc: 197, 327, 344, 405 Föppl, Ludwig 1887–1976, Math., Mechn., DMV: 344 Ford, Lester Randolph 1886–1967, US-amerikanischer Math.: 310, 531 Förster (Foerster), Wilhelm 1832–1921, Astronom: 329, 334, 452, 505 Forsyth, Andrew R. 1858–1942, brit. Math.: 90, 370 Fourier, Jean Baptiste Joseph 1768–1830, franz. Math.: 40, 82, 127, 211, 214, 262, 381 Fraenkel, Abraham A. 1891–1965, Math., DMV: 412, 450, 531 Frahm, Wilhelm 1849–1875, Math.: 47, 168 Franck, James 1882–1964, Physiker: 476f.

560

Personenverzeichnis

Franklin, Fabian 1853–1939, US-amerik. Math., DMV: 259, 300, 320f., 363, 369f., 520 Fresnel, Augustin Jean 1788–1827, franz. Physik., Ing.: 519 Freundlich (Finley-Freundlich), Erwin 1885 –1964, Math. Astr., DMV: 421f. Freytag verh. Loeschcke, Thekla 1887– 1932, Math.-Lehrerin: 372, 435, 547 Fricke geb. Flender, Leonore 1873–1912, Nichte Kleins: x, 14 Fricke, Robert 1861–1930, Math., Dr.Schüler Kleins, DMV, Enc: ix, x, 15, 147, 172, 204, 206, 243f., 249, 263f., 266, 307, 326, 333, 339, 346, 351, 381, 455, 463, 520, 526 Friedberg, Robert 1851–1920, Ökon.: 373 Friedrich Wilhelm III., preuß. König: 21 Friedrich, Georg *1860, Math., Dr.-Schüler Kleins: 204, 263 Friesendorff, Theophil 1871–1913, russ. Math., Ing., DMV: 271 Fröbel, Friedrich 1782–1852, Pädag.: 465 Frobenius, Georg 1849–1917, Math., DMV: 56, 95, 318, 329f., 332, 334-36, 355, 399, 448, 489, 507, 509, 518 Fuchs, Lazarus 1833–1902, Math., DMV: 3, 5, 53f., 85, 159, 206, 220, 225, 238, 245, 252, 254f., 286, 308-10, 316, 325, 330-32, 334, 393, 395, 505f., 532 Fueter, Rudolf 1880–1950, schweiz. Math., DMV: 487, 520 Fujisawa, Rikitaro 1861–1933, japan. Math.: 520 Furtwängler, Philipp 1869–1940, Math., Dr.Schüler Kleins, DMV, Enc: 344, 372, 397f., 520 Galilei, Galileo 1564–1642, Math., Physiker, Astr.: 167, 496, 545 Gallenkamp, Wilhelm 1820–1890, Math. Lehrer, Autor: 425, 531 Galois, Évariste 1811–1832, franz. Math.: 50, 64, 67, 69, 88, 158, 163f., 172, 213, 349, 354, 528, 532 Gauß, Carl Friedrich 1777–1855, Math., Astr.: 1, 7, 23, 38, 62, 78, 82f., 89, 99, 131, 135, 161f., 258, 264, 270, 326, 330, 361, 381, 383, 396, 411f., 417f., 422, 449, 473, 475-77, 483, 502, 517f., 541 Gauthier-Villars, Albert 1861–1918, franz. Verleger, DMV: 65f., 169, 356, 529

Gegenbauer, Leopold 1849–1903, österr. Math., DMV: 264f., 373 Gehlhoff, Georg 1882–1931, Ind.-Physiker: 475 Gehring, Franz 1838–1884, Math., Musikpublizist: 23f. Geibel, Emanuel 1815–1884, Lyriker: 322 Geiser, Karl Friedrich 1843–1934, schweiz. Math.: 75 Gentry, Ruth 1862–1917, US-amerik. Math. 369 Gerbaldi, Francesco 1858–1934, ital. Math., DMV: 133, 204, 220 Gerber, Carl von 1823–1891, sächs. Kultusminister: 186, 194, 282, 286, 407 Gerber, Heinrich 1832–1912, Ing.: 407 Gernet, Nadjeschda von 1877–1943, russ. Math., DMV: 349, 520 Gibbs, Josiah Willard 1839–1903, US-amerikanischer Physiker: 365, 381 Gierster, Josef 1854–1893, Math., Dr.Schüler Kleins, DMV: 155, 172, 180, 205, 241, 255, 279 Gilman, Daniel Coit 1831–1908, US-amerik. Bildungsreformer: 218, 282, 365 Goeb, Margarethe 1892–1962, Lehrerin: 447 Goethe, Johann Wolfgang von 1749–1832, Dichter, Naturforscher: 23, 116 Göpel, Adolph 1812–1847, Math.: 236 Görres, Joseph 1776–1848, Philos.: 10, 15 Gontschareff, A. *1840, russ. Student: 22 Gordan, Paul 1837–1912, Math., DMV: 3941, 44f., 46, 48, 51, 55, 105, 111, 114, 116, 118, 124, 137-39, 155, 159, 161, 165f., 168f., 171, 174f., 183-87, 190, 208, 215, 221f., 235f., 238, 249, 258, 268, 282, 292, 318f., 328-30, 335f., 351, 363, 484f., 499, 520, 540 Goßler, Gustav von 1838–1902, preuß. Kultusminister: 210, 500 Götting, Eduard 1860–1926, Gymn.-Prof., DMV: 346 Graefe, Walther *26.8.1892, Ass. Kleins, Lehrer: 344, 456 Graßmann, Hermann G. 1809–1877, Math.: 1, 92, 105, 214, 272, 280f., 540, 543 Greenhill, Alfred George Sir 1847–1927, brit. Math., DMV: 212, 357, 380, 412, 423f., 428, 443, 520 Griess, Jean franz. Math.: 352 Groth, Paul von 1843–1927, Mineral.: vii

Personenverzeichnis Grüning, Martin 1869–1932, Bauing.: 406 Gruson, auch Grüson, Johann Philipp 1768– 1857, Gymn.-Prof., Math.: 142 Günther, Siegmund 1848–1923, Math., Geograph, Math.hist., DMV: 108, 114f., 150f. Gundelfinger, Sigmund 1846–1910, Math., DMV: 168, 183 Gutzmer, August 1860–1924, Math., DMV: 6, 105, 273f., 330, 388f., 393, 423, 427, 429, 435, 465, 520, 532, 546 Haber, Fritz 1868–1934, Chem.: 472f. Hadamard, Jacques 1865–1963, franz. Mathematiker: 520 Haeckel, Ernst 1834–1919, Zool.: 10, 28, 181, 214, 452, 494, 541, 549 Haenisch, Konrad 1876–1925, Journalist, SPD-Politiker: 453, 468 Haeseler, Gottlieb Graf von 1836–1919, Offizier: 428, 436 Hagemann, Eberhard 1880–1958, Jurist, Schwiegersohn Kleins: x, 145, 147 Hahn, Hans 1879–1934, österr. Mathematiker, DMV: 404, 444, 520, 543 Hall, G. Stanley 1846–1924, US-amerik. Psychologe: 315 Halphen, Georges Henri 1844–1889, franz. Math.: 69, 215f., 221, 238, 240 Hamburger, Hans 1889–1956, Math., DMV: 272, 323, 372, 506 Hamel, Georg 1877–1854, Math., DMV: 348, 389, 469f. Hamilton, William Rowan 1805–1865, irischer Math.: 91f., 146, 216, 381 Hammerschmidt verh. Klein, Maria Catharina 1787–1871, Großmutter Kleins väterlicherseits: x, 11 Hankel, Hermann 1839–1873, Math.: 92,107 Hankel, Wilhelm Gottlieb 1814–1899, Physiker: 288 Hanstein, Johannes von 1822–1880, Botan.: 24f. Harnack (seit 1914 von), Adolf 1851–1930, ev. Theologe: 141, 432, 436, 472, 537 Harnack, Axel 1851–1888, Math., Dr.-Schüler Kleins: 47, 115, 117f., 141, 156, 168, 187, 191, 211, 265, 279, 288, 432 Hartnack, Eduard 1826–1891, Optiker: 28 Haskell, Mellen Woodman 1863–1948, USamerik. Math., Dr.-Schüler Kleins, DMV: 255, 305-07, 520

561

Hauck, Guido 1845–1905, Math.: 272, 330, 431, 433 Hayashi, Tsuruichi 1873–1935, japan. Math., Math.hist., DMV: 351 Hecke, Erich 1887–1947, Math., DMV, Enc: 355, 440, 448, 458, 463, 478, 525 Hedrick, E. Raymond 1876–1943, USamerik. Math., DMV: 233 Heegaard, Poul 1871–1948, dän. Math., DMV, Enc: 83, 86, 304, 347f., 352, 520, 537 Heffter, Lothar 1862–1962, Math., DMV: 329, 361, 408 Hegel geb. Tucher von Simmelsdorf, Susanne Maria Caroline H. 1826–1878, Schwiegermutter Kleins: x, 143 Hegel verh. Lommel, Louise Friederike C. 1853–1924, Schwägerin Kleins: x, 144 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 1770– 1831, Philos.: x, 142, 414 Hegel, Georg, 1856–1933, bayer. Oberst, Schwager Kleins: x, 144 Hegel, Friedrich Wilhelm Karl (Ritter von, bayer. Personenadel) 1813–1901, Hist., Schwiegervater Kleins: x, 27, 102, 140, 142f., 145, 537 Hegel, Maria 1855–1929, Schwägerin Kleins: x, 144f. Hegel, Wilhelm Sigmund 1863–1945, Reg.Rat, Schwager Kleins: x, 144f. Hegel, Sophie Louise 1861–1940, Lehrerin, Schwägerin Kleins: x, 144f., 190, 256, 481 Heimsoeth, Friedrich 1818-1877, Philol.: 27 Heine, Eduard 1821–1881, Math.: 105, 498 Heine, Heinrich 1797–1856, Dichter, Publizist: 186, 443 Heinemann, Käthe *8.5.1889, Math., Botan., Lehrerin: 456, 458 Hellinger, Ernst 1883–1950, Math., DMV, Enc: 344f. Helmert, Robert 1843–1917, Geodät, Math., DMV, Enc: 272, 545 Helmholtz, Hermann von 1821–1894, Physiker, Physiol.: 53, 82, 85, 99, 136, 290, 312-14, 332, 334, 360, 364, 367, 375, 385, 416, 475f., 536 Henneberg, Lebrecht 1850–1933, Math., DMV, Enc: 182f., 292, 405 Henrici, Olaus 1840–1918, Math., DMV 40, 127, 163, 167, 169, 520

562

Personenverzeichnis

Hensel, Kurt 1861–1941, Math., DMV, Enc: 54 Herglotz, Gustav 1881–1953, Math., DMV, Enc: 403, 404, 448 Hermite, Charles 1822–1901, franz. Math.: viii, 5, 113, 157-59, 161, 163, 169, 236, 238f., 241, 252, 258, 262, 308, 310f., 315, 319, 346, 361, 366f., 394, 397, 399, 400, 483, 532 Heß, Wilhelm 1858–1937, Math.: 171 Hesse, Otto 1811–1874, Math.: 39-41, 67, 95, 103, 105, 119, 150, 154f., 178, 498f., 534 Hettner, Georg 1854–1914, Math., DMV: 228, 285f., 502, 504 Heun, Karl 1859–1929, Math., DMV, Enc: 408 Hilb, Emil 1882–1929, Math., DMV, Enc: 249, 311, 338 Hilbert, David 1862–1943, Math., DMV, Enc: viii, ix, 1, 5, 8, 32, 41f., 48, 55, 76f., 91, 118, 137, 169, 173-75, 204, 209, 210, 215f., 222, 229f., 232f., 235, 240, 249f., 252, 256, 272f., 275, 279, 289, 292, 294, 298, 300, 311, 314f., 318-21, 326-31, 335, 340, 344-50, 353, 361, 363, 372, 375, 378-80, 383, 385, 393-97, 399, 402f., 407f., 415-17, 420, 426, 430, 434, 443f., 447f., 451f., 456f., 459f., 463f., 467, 470, 480, 48587, 489f., 492-94, 507-09, 513, 518, 520, 523, 526, 531, 533, 539, 541f., 544, 546 Hildebrand, Rudolf, Math.: 204 Hillebrand, Meinolf Rudolf *3.3.1937, Urenkel Kleins: 9f., 525, 551f. Hillebrandt, Alfred 1853–1927, Philologe: 386, 428, 465f. Hinneberg, Paul 1862–1934, Hist.: 409, 439 Hirst, Thomas Archer 1830–1892, brit. Math.: 40 Hirzebruch, Friedrich 1927–2012, Math., DMV: 197, 531 Hjelmslev (Petersen), Johannes 1873–1950, dän. Math.: 357 Hobson, Ernest William 1856–1933, brit. Math., Enc.: 520 Hoeck, Karl Friedrich Christian 1794–1877, Althist., Altphilol., Bibl.: 78 Höckner, Georg Woldemar, Math., Gymn.Lehrer: 203

Höfler, Alois 1853–1922, österr. Math.Didakt., Philos., DMV: 274, 414, 420, 434, 520, 533 Hölder, Otto 1859–1937, Math., DMV, Enc: 48, 50, 53, 61, 109, 195f., 204, 206f., 208, 212, 219, 237, 270, 296-301, 32133, 354, 389, 457, 492, 520, 533 Höpfner, Ernst 1836–1915, Pädag., Univ.Kurator: 344, 370, 373, 383 Hoetzsch, Otto 1876–1946, Historiker: 466 Hofmann, August Wilhelm 1818–1893, Chemiker.: 28 Holst, Elling Bolt 1849–1915, norweg. Math.: 118, 291 Holzmüller, Gustav 1844–1914, Math., DMV: 400, 425 Hoppe, Edmund 1854–1928, Math., Math.Hist., DMV: 450 Hoppe, Robert Heinrich 1857–1899, Math., Lehrer, DMV: 203, 206, 233 Hoppe, Reinhold 1816–1900, Math., DMV: 105, 183, 292, 329 Hoüel, Jules 1823–1886, franz. Math.: 65, 89, 532 Humboldt, Alexander von 1769–1859, Naturforscher: 16, 483, 542, 544 Humboldt, Wilhelm von 1767–1835, Gelehrter: 16, 483, 542, 544 Hurwitz, Adolf 1859–1919, Math., DMV: 8, 43, 47, 102, 118, 133, 155, 161, 169, 172-75, 185-87, 190, 198-200, 202f., 205, 207-210, 212f., 221, 224, 228, 231f., 239, 241-43, 245f., 254-56, 26069, 276f., 279-81, 284, 287f., 290, 294f., 299f., 305, 307, 311, 313, 315, 318-22, 325, 328f., 331-33, 335f., 338, 340f., 351, 361, 366, 369, 372, 378-80, 396-400, 439, 478f., 484-86, 490, 50509, 520, 526, 533, 542, 548, 551 Hurwitz, Julius 1857–1919, Math., DMV: 43, 540 Husserl, Edmund 1859–1938, Philos.: 420, 494 Huygens, Christiaan 1629–1695, niederl. Math., Physik., Astr.: 496, 498 Ihlenburg, Wilhelm *1884, Math., Dr.Schüler Kleins: 395 Intze, Otto 1843–1904, Bauing.: 376 Jaccottet, Charles 1872–1938, schweiz. Math., Dr.-Schüler Kleins, DMV: 300, 311, 347, 352, 520

Personenverzeichnis Jacobi, Carl Gustav J. 1804–1851, Mathem.: 7, 29, 39f., 53, 57, 157, 161, 236, 243, 258, 263f., 268, 483, 498, 517 Jacobs, Konrad 1928–2015, Math., DMV: 3 Jahnke, Eugen 1861–1921, Math.: 274 Jerrard, George 1804–1863, brit. Math.: 157 Jordan, Camille 1838–1922, franz. Math.: 3, 5, 43, 45, 47, 50, 64, 67, 69, 74, 76f., 79, 88, 91, 113, 120, 157, 159, 166, 169, 174, 213, 218, 238, 258, 304, 451, 522, 528 Joubert, Charles 1825–1906, franz. Math.: 158 Joukowsky, Nikolai, Jegorowitsch 1847– 1921, russ. Math., Ing.: 391, 393, 401 Jullien, Michel 1827–1911, franz. Gelehrter: 498 Jung, Guiseppe 1845–1926, ital. Math., Enc: 136, 166, 183 Kamerlingh Onnes, Heike 1853–1926, niederl. Physiker, Enc: 358 Kant, Immanuel 1724–1804, Philos.: 101, 420 Kantor, Seligmann 1857–1902, österr. Mathematiker: 203, 221 Kármán, Theodore von 1881–1963, Ungar.amerik. Mech., Aerod., DMV, Enc: 404, 454, 534 Katz, David 1884–1953, Psychologe: 423 Kayser, Christian Gottfried 1791–1849, Woll- und Tuchhändler, Großvater Kleins mütterlicherseits: 14 Kayser, Heinrich 1845–1927, Physiker: 11, 13f. Keesom, Willem Hendrik 1876–1956, niederl. Physiker, Enc: 358 Kekulé, August 1829–1896, Chem.: 28 Kępiński, Stanisław 1867–1908, poln. Math., DMV: 300 Kepler, Johannes 1571–1630, Math., Astr.: 496, 498, 547 Kerry, Benno 1858–1889, öst. Philos.: 419 Kerschensteiner, Georg 1854–1932, Pädag.: 471, 520 Ketteler, Eduard 1836–1900, Physik.: 24, 27 Kiepert, Ludwig 1846–1934, Math., DMV: xvi, 51, 56-58, 102, 105, 140, 162f., 175, 177, 183, 187, 199, 210, 292, 329, 373, 534 Kiesel, Karl 1812–1903, Gymn.-Dir.: 16 Killing, Wilhelm 1847–1923, Math., DMV: 129, 291, 312, 333, 534

563

Kirchberger, Paul *1878, Gymn.-Prof.: 14 Kirchhoff, Gustav Robert 1824–1887, Physiker: 332, 420 Kirdorf, Adolph 1845–1923, Montanindustrieller: 20, 376 Klaus, Dr., Nervenarzt: 441-43, 516 Klein, Alfred *15.10.1854, Justizrat, Bruder Kleins: x, 12-15, 144f., 481, 551 Klein geb. Hegel, Anna Maria Caroline 1851–1927, Ehefrau Kleins: viii, x, 100, 140-42, 144-48, 190, 294, 297, 380, 388, 414, 431, 442, 444, 446, 481, 524, 551, 552 Klein, Peter Caspar 1809–1889, preuß. Beamter, Vater Kleins: x, 11 Klein verh. Staiger, Elisabeth Marie Aline 1888–1968, Lehrerin, Schuldirektorin, Tochter Kleins: x, 144-46, 446, 456, 458, 481, 546f. Klein, Eugenie 1861–1910, Schwester Kleins: x, 15, 145 Klein, Johannes Peter Friedrich, 1777–1858, Schmied, Eisenhändler, Großvater Kleins: x, 11 Klein verh. Süchting, Luise (Louise) 1879– 1961, Tochter Kleins: x, 144f., 147 Klein, Otto Karl 1876–1963, Dipl.-Ing. Dr.Ing. h.c., Sohn Kleins: x, 136, 144-46, 189, 230, 256, 481 Klein, geb. Kayser, Sophie 1819–1890, Mutter Kleins: x, 13f. Klein verh. Hagemann, Sophie Eugenie 1885–1965, Tochter Kleins: x, 144f. Kleine, Friedrich Peter *1731, Bauer, Urgroßvater Kleins: 11 Klingenfeld, Friedrich August 1817–1880, Math.: 150, 186 Klinkerfues, Ernst Friedrich Wilhelm 1827– 1884, Astr.: 81f., 84, 105 Klitzkowski, Felix, Math.: 300 Kneser, Helmuth 1898–1973, Math., DMV: 457 Knoblauch, Johannes 1855–1915, Math., DMV: 78, 206 Koebe, Paul 1882–1945, Math., DMV: 24952, 275, 396, 440, 447, 464, 479, 481, 514f., 520 Koehl, Oberbibl.: 131 König, Julius 1849–1914, ungar. Math., DMV: 90, 105, 222, 520 Koenigsberger, Leo 1837–1921, Math., DMV: 7, 39, 45, 51, 53, 55, 57, 85,

564

Personenverzeichnis

231, 245, 264, 314, 327, 336, 367, 420, 498, 536 Kötter, Fritz 1857–1912, Math., Mech., DMV: 401 Kohlrausch, Wilhelm 1855–1936, Physiker, Elektrotechniker: 146 Kollert, Julius 1856–1937, Lehrer, Prof., Elektrotechn., DMV: 203, 233 Koppel, Friedrich 1854–1933, Bankier: 439 Korkin, Aleksandr Nikolaevič 1837–1908, russ. Math.: 223 Korteweg, Dieterik J. 1848–1941, niederl. Math.: 359 Kortum, Carl Arnold 1745–1824, Bergarzt, Dichter: 141 Kortum, Hermann 1836–1904, Math. DMV: 333 Kottler, Friedrich 1886–1965, österr.-USamerik. theor. Physik.: 460 Kovalevskaya geb. Korwin-Krukowskaja, Sofia 1850–1891, russ. Math.: 85, 190, 368, 401, 548 Kowalewski, Gerhard 1875–1950, Math., DMV: 216, 357, 537 Kraepelin, Karl 1848–1915, Biol.: 39, 427, 545 Krause, Martin 1851–1920, Math., DMV: 361 Krauß (seit 1905 Ritter von), Georg 1826– 1906, Unternehmer: 179, 378 Krazer, Adolf 1858–1926, Math., DMV, Enc: 204, 207f., 211f., 235f., 267, 350, 457, 470, 472-74, 520 Kregel von Sternbach, Karl Friedrich 1717– 1789, Stifter: 213 Krell, Otto 1866–1938, Ing., Industr.: 391 Kretzschmar, Hermann 1848–1924, Musikwiss.: 146 Krieg v. Hochfelden, Franz 1857–1919 stud. math.: 204 Kronecker, Leopold 1832–1891, Math., DMV: 27, 47, 52-55, 57, 157-60, 165, 172-74, 206, 209, 211-13, 221f., 231, 235, 237, 258, 263, 265, 267, 290, 296, 308, 319, 328f., 331-35, 363, 415, 487, 494, 504, 506, 509 Kronheimer, Peter *1963, brit. Math.: 260 Krüger, Louis 1857–1923, Math., Geodät, DMV: 472, 474 Krull, Wolfgang 1899–1971, Math., DMV, Enc: 457

Krupp von Bohlen und Hallbach, Gustav 1870–1950, Ltr. d. Krupp-Konzerns: 148, 376, 383, 385f., 453, 475 Krylow [Kriloff], Alexej, N. 1863–1945, russ. Schiffbauing., Math., Enc: 413, 520 Kuhn, Thomas S. 1922–1996, US-amerik. Physiker, Wiss.philos.: 7 Elster, Ludwig 1856–1935, Volkswirt 345 Kummer, Ernst Eduard 1810–1893, Math.: 1, 27, 49-53, 55f., 61, 67, 73, 75-77, 86f., 182, 196, 206f., 268, 297, 332, 363, 496, 504, 517, 542 Kundt, August 1839–1894, Physiker: 334 Kutta, Wilhelm 1867–1944, Math., DMV: 391 Ladd-Franklin, Christine 1847–1930, USamerik. Math.: 369f. Lagarde, Paul Anton de 1827–1891, Kulturphilos., Orientalist: 285f., 325, 537 Lagrange, Joseph-Louis 1736–1813, franz. Math.: 7, 99, 157, 381, 398, 413, 496, 498 Laisant, Charles-Ange 1841–1920, franz. Mathematiker: 65, 274, 424 Lamb, Horace 1849–1934, brit. Math., Physiker, Enc: 271, 358 Lamé, Gabriel 1875-1870, franz. Math., Physiker: 226, 310f., 400f., 498 Lampe, Emil 1840–1918, Math., DMV: 65, 105, 274, 292, 329, 431, 439 Lanchester, William 1868–1946, brit. Ing., Math., Automobilfabrikant, Flugzeugbauer: 392 Landau, Edmund 1877–1938, Math., DMV: viii, 294, 385, 399, 443, 447f., 450, 457, 465, 481, 487, 513, 520, 544 Landolt, Hans Heinrich 1831–1910, schweiz. Chem.: 24f., 85 Lange, Ernst Julius M. *1858, Math., Dr.Schüler Kleins: 197, 205f., 276, 520 Lange, Helene 1848–1930, Päd., Frauenrechtlerin: 435 Larmor, Joseph 1857–1942, irischer Math., Physiker: 358 Laski, Gerda 1893–1928, österr. Physikerin: 457 Laue, Max von 1879–1960, Physiker, DMV, Enc: 317 Laugel, Léonce 1859–1936, franz. Math.: 313, 366, 397, 400, 415, 534

Personenverzeichnis Launhardt, Wilhelm 1832–1918, Bau-Ing., Verkehrswiss.: 323, 326 Lederer, Hugo 1871–1940, Bildhauer: 483 Legendre, Adrien-Marie 1752–1833, franz. Math.: 23, 224, 243 Leibniz, Gottfried Wilhelm 1646–1716, Universal-Gelehrter: 436, 454 Lejeune-Dirichlet, Johann Peter Gustav 1805–1859, Math.: 7, 38, 52, 54, 82, 226, 230, 232-35, 242, 247, 296, 319f., 367, 412f., 448, 502, 533 Lemoine, Émile 1840–1912, franz. Math.: 361 Lenard, Philipp 1862–1947, Exp.Phys.: 462f. Leo, Friedrich 1851–1914, Altphilol.: 12 Lerch, Matyás 1860–1922, tschech. Math., DMV: 361 Levi-Civita, Tullio 1873–1941, ital. Math., DMV: 176, 401, 522 Lexis, Wilhelm 1837–1914, Math., Statis– tiker, Ökon.: 360, 370, 373-75, 383, 387, 393, 431, 433, 534f. Lichtenberg, Georg Christoph 1742–1799, Physiker: 38 Lichtenstein, Leon 1878–1933, poln.-dt. Math., DMV, Enc: 227, 251, 475 Lichtwark, Alfred 1852–1914, Kunsthistori– ker: 444, 540 Lie, Sophus 1842–1899, norweg. Math., DMV: viii, xvi, 1, 5, 13, 19, 21, 32, 37, 47f., 51, 54-56, 58-61, 63f., 66-80, 8394, 96f., 99, 103-07, 110f., 113-19, 123, 127-30, 132, 135, 137-40, 142f., 158f., 161, 182f., 185, 198, 200, 205, 213f., 217, 225, 238f., 247, 255-57, 260, 272, 276, 280, 282f., 288-91, 295f., 300, 302, 311-14, 332, 340, 346, 354, 363, 368, 416, 422, 484f., 489f., 495, 517, 521f., 525, 529f., 533f., 537, 539, 541f., 544f., 547 Liebermann, Max 1847–1935, Maler: ix, 444f., 447, 452, 454, 483, 519, 522, 540, 552 Liebig, Justus (ab 1845 Freiherr von) 1803– 1873, Chem.: 475 Liebisch, Theodor 1852–1922, Mineral., Enc: 285, 317, 325, 340, 343 Liebmann, Heinrich 1874–1935, Math., DMV, Enc: 271, 305, 401, 538 Lietzmann, Walther 1880–1959, Math., Didakt., DMV: 350, 428f., 433-35,

565

441-43, 467, 469f., 480, 486, 490, 520, 526, 530, 538 Lilienthal, Reinhold von 1857–1935, Math., DMV, Enc: 333 Linde (seit 1897 Ritter von), Carl 1842– 1934, Ing., Unternehmer: 150, 177-79, 375, 377f. 386, 442, 520, 551 Lindemann, Ferdinand 1852–1939, Math., Dr.-Schüler Kleins, DMV: 4, 14, 33, 40, 47, 53, 76f., 82-85, 99-101, 103, 105, 114-16, 118, 138-41, 149, 168f., 174, 183-85, 192, 210, 235f., 279, 28890, 300, 312, 318, 328, 331f., 334, 338, 343, 347, 357, 360, 509, 520, 525, 529, 549, 551 Linné, Carl von 1707–1778, schwed. Natur– forscher: 421 Liouville, Joseph 1809–1882, franz. Math.: 74 Lippich, Ferdinand 1838–1913, österr. Phy– siker, Math.: 47 Lipschitz, Rudolf 1832–1903, Math., DMV: 23-26, 34, 36, 53, 99, 105, 329 Lissajous, Jules Antoine 1822–1880, franz. Physiker: 117 Listing, Johann Benedikt 1808–1882, Math., Physik.: 81-83, 105, 209 Lobatschewski, Nikolai I. 1792–1856, russ. Math.: 60-62, 89, 313, 541 Loewy, Alfred 1873–1935, Math., DMV: 347 Lommel (seit 1892 von), Eugen 1837–1899, Physiker, DMV, Schwager Kleins: x, 108, 139, 144, 466, 497f. Lommel, Herman 1885–1968, Linguist, In– dogermanist, Neffe Kleins: 466 Lorentz, Hendrik Antoon 1853–1928, nie– derl. Physik., Math., Enc: 130, 272, 349, 358, 407, 430, 439 Lorenz, Hans 1865–1940, techn. Physik., DMV: 383, 389, 492 Lorey, Wilhelm 1873–1955, Vers.-Math., DMV: 23, 40, 43, 56, 78, 82, 84, 94, 100, 109, 125, 154f., 194, 206, 246, 281, 352, 372-74, 413, 431, 435, 451, 452, 525f., 538, 543 Loria, Gino 1862–1954, ital. Math., Math.hist., DMV, Enc: 4, 35, 116, 352, 520, 535 Lotze, Rudolf Hermann 1817–1881, Philo– soph: 78, 101

566

Personenverzeichnis

Love, Edward Hough 1863–1940, brit. Math., Enc: 271, 356, 358, 405f., 520 Ludwig II., Otto F. W. von Wittelsbach 1845–1886, König von Bayern: 149f. Ludwig, Carl 1816–1895, Physiol.: 2, 278, 280f. Lüders, Otto 1844–1912, klass. Philol.: 28 Lüroth, Jacob 1844–1910, Math., DMV: 33, 39-41, 44, 75, 87, 105, 150, 183, 187, 281, 328, 332, 515 Luther, Robert 1822–1900, Astr.: 20 Mach, Ernst 1838–1916, österr. Physik., Philos.: 264, 265, 420 Maddison, Ada Isabel 1869–1950, brit. Ma– thematikerin: 415 Magnus, Gustav 1802–1870, Physiker: 52 Maltby, Margaret Eliza 1860–1944, USamerik. Physikochemikerin: 370 Mansion, Paul 1844–1919, belg. Math., Math.hist., DMV: 111, 424 Mariotte, Edme ca. 1620–1684, franz. Physiker: 178 Markow (Markoff, Markov), Andrej An– dreevič 1856–1922, russ. Math.: 6, 223f., 271, 310f., 316, 520, 525, 547 Marotte, F. franz. Math., Übersetzer: 433 Maschke, Heinrich 1853–1908, Math., DMV: 303f., 325f., 361, 363, 369, 522 Massenbach, Leo Freiherr von 1797–1880, Jurist, preuß. Beamter: 12 Maxwell, James Clerk 1831–1879, schott. Physiker: 367, 401, 405 Mayer, Adolph 1839–1908, Math., DMV: 6, 39, 44-48, 79, 88, 103-07, 136, 140, 159-61, 169, 171, 184-86, 189-91, 195, 197, 200-02, 213f., 223, 238, 272, 276, 279f., 288, 290-92, 302, 316, 328f., 354, 412, 484, 547 McClintock, Emory 1840–1916, US-amerik. Vers.-Math.: 365, 373 Mehmke, Rudolf 1857–1944, Math., DMV, Enc: 126, 271-73 Meier, Ernst von 1832–1911, Jurist, Univ.Kurator: 337, 339, 369f. Mendelejeff, Dmitri I. 1834–1907, russ. Chem.: 323 Merkel, Friedrich 1845–1919, Anatom: 101f., 412 Merz, John Theodore 1840–1922, brit. Chem., Hist., Industr.: 413, 415f., 539 Metzler, G. F., Hörer bei Klein: 352 Meyer, Diedrich, Baurat, Direktor VDI: 479

Meyer, Eugen 1868–1930, techn. Physik., DMV: 378, 389 Meyer, Wilhelm Franz 1856–1934, Math., DMV, Enc: 170f., 180, 216, 269, 274, 292, 328, 330, 346, 349, 353, 357, 361, 379, 520 Meyerstein, Moritz 1808–1882, Univ.Mech.: 105 Michelson, Albert Abraham 1852–1931, US-amerik. Physik.: 349 Mie, Gustav 1868–1957, theor. Physiker, DMV: 275, 459 Mill, John Stuart 1806–1873, brit. Philos., Ökonom: 28 Miller (ab 1875 von), Oskar 1855–1934, Bauing.: 442, 520 Minding, Ferdinand 1805–1885, deutschruss. Math.: 117 Minkowski, Hermann 1864–1909, Math., DMV, Enc: 48, 210, 292, 294, 379, 393, 490 Minkowski, Rudolph 1895–1976, dt.-USamerik. Astr.physiker: 457 Minnigerode, Bernhard 1837–1896, Math., Mineral.: 43, 81, 84, 105 Mises, Richard von 1883–1953, Math., DMV, Enc: 6, 237, 273, 355, 389, 448, 454, 474, 479f., 525, 539, 544 Mittag-Leffler, Gösta 1846–1927, schwed. Math., DMV: viii, 47, 187, 223, 243, 247f., 264, 273, 283, 296, 308, 424 444, 520, 541, 545 Młodziejewski, Bolesław 1858–1928, poln.russ. Math.: 300 Möbius, August Ferdinand 1790–1868, Math.: 29f., 91, 99, 120, 184, 191, 193, 211, 221, 229, 270, 278-80, 411, 549 Mohrmann, Hans 1881–1941, Math., DMV, Enc: 356f., 458 Molien, Theodor 1861–1941, dt.-balt., sowj. Math., DMV: 204, 223, 262, 279 Molk, Jules 1857–1914, franz. Math., DMV, Enc(f): 356, 520, 532 Mollier, Richard 1863–1935, angew. Phy– siker, Ing.: 378, 389 Monge, Gaspard 1746–1818, franz. Math., Physik.: 30, 37, 66, 198 Moore, Eliakim Hastings 1862–1932, USamerik. Math., DMV: 280, 352, 361f., 369, 520, 522, 539f. Morera, Giacinto 1856–1909, ital. Math.: 204, 220f., 262, 279

Personenverzeichnis Morgan, Augustus de 1806–1871, brit. Math.: 131 Morrice, George Gavin 1859–1936, brit. Wiss., Übersetzer: 259 Moutard, Théodore Florentin 1827–1901, franz. Ing., Math.: 70 Mügge, Otto 1858–1932, Mineraloge, Enc: 317, 447 Mühler, Heinrich von 1813–1874, Jurist, preuß. Kultusminister: 32, 71, 495 Mühll (auch VonderMühll), Karl von der 1841–1912, schweiz. Math., DMV: 39, 45f., 48, 105, 191, 195, 197, 202, 520 Müller, Conrad Heinrich 1878–1953, Math., Math.hist., Dr.-Schüler Kleins, DMV, Enc: 266, 274, 344, 356, 406, 412f., 415, 440, 458, 492, 520, 536 Müller, Felix 1843–1928, Gymn.-Prof., Math.hist., DMV: 104f., 292 Müller, Georg-Elias Nathanael 1850–1934, exp. Psychol.: 230, 285, 325, 416f., 420, 423 Müller, Wilhelm 1812–1890, Germanist: 78, 285, 502 Müller-Breslau, Heinrich 1851–1925, BauIng.: 272, 405 Nachtweh, Alwin 1868–1939, Ing., Hoch– schullehrer: 146f. Naumann, Otto 1852–1925, preuß. Minis– terialbeamter: 345, 451, 461 Neesen, Friedrich 1849–1923, Math., Phy– siker: 26, 85, 95, 99, 145, 183, 310 Nekrassoff (Nekrasow), Pavel A. 1853– 1924, russ. Math.: 316, 506 Nelson, Leonard 1882–1927, Philos.: 219, 259, 303, 414, 421f., 464, 482, 494, 552 Nernst, Walther 1864–1941, Physiko-Che– miker: 340, 370, 377, 433, 442, 447, 452, 539 Netto, Eugen 1848–1919, Math., DMV, Enc: 56, 105, 361 Neugebauer, Otto 1899–1990, österr.-USamerik. Math.hist., DMV: 413, 450, 458f. Neuhäuser, Joseph 1823–1900, Philos., Logiker: 23 Neumann, Carl G. 1832–1925, Math., DMV: 38-40, 44-47, 53, 95, 120, 191, 196-98, 202, 205, 225f., 228, 232f., 274, 279f., 288, 291, 483, 498, 545, 549

567

Neumann, Franz E. 1798–1895, Physiker: 39f. Newcomb, Simon 1835–1909, kanad.-ame– rik. Math. 219, 365 Newton, Isaac 1642–1727, brit. Math., Physik.: 24, 421, 496 Nielsen, Jakob 1890–1959, dän. Math., DMV: 457 Nimsch, Paul *1860, Math., Dr.-Schüler Kleins: 203, 263 Noble, Charles Albert 1867–1962, US-ame– rik. Math.: 233, 352 Noether, Emmy 1882–1935, Math., DMV: viii, ix, 8, 42, 319, 373, 457, 459-61, 484, 490, 536, 540, 542, 547f. Noether, Max 1844–1921, Math., DMV: 40-44, 47-49, 59, 69, 90, 94, 103-05, 111, 134, 137-39, 155, 159, 165, 180, 183f., 210, 221f., 235, 249, 307, 318, 326, 330, 340, 349, 361, 460, 464, 485, 508, 520 Nöggerath, Johann Jakob 1788–1877, Mine– raloge, Geologe: 24f. Ocagne, Maurice d’ 1862–1938, franz. Ma– thematiker, Enc(f): 271, 361, 418 Ohrtmann, Carl 1839–1885, Oberlehrer: 104, 106 Olbricht, Richard *1859, Math., Dr.-Schüler Kleins: 203 Oliver, James Edward 1829–1895, US-ame– rik. Math.: 363f. Osgood, William Fogg 1864–1943, USamerik. Math., DMV, Enc: 222, 250, 306f., 364, 488, 520 Ostrowski, Alexander M. 1893–1986, russ.schweiz. Math., DMV: 385, 417, 457, 464, 485, 540 Ostwald, Wilhelm 1853–1932, PhysikoChem.: 354, 439, 452, 525, 540 Padé, Henri Eugène 1863–1953, franz. Math.: 113, 300 Padova, Ernesto 1845–1896, ital. Math.: 136 Painlevé, Paul 1863–1933, franz. Math., Enc: 36, 212, 300, 380, 392, 491 Paladini, Bernard, ital. Math.: 361 Papperitz, Erwin 1857–1938, Math., Dr.Schüler Kleins, DMV, Enc: 203, 206, 250, 292, 328f. Parseval, August von 1861–1942, Ing., Offizier: 393

568

Personenverzeichnis

Pascal, Ernesto 1865–1940, ital. Math.: 135, 326 Pasch, Moritz 1843–1930, Math., DMV: 87, 105, 415, 421, 508, 543 Pasquier, Ernest 1849–1926, belg. Math.: 105, 111 Pasteur, Louis 1822–1895, franz. Chem., Mikrobiologe: 28 Pauli, Wolfgang Ernst 1900–1958, österr. Physiker, Enc: 457, 460 Peano, Guiseppe 1858–1932, ital. Math.: 415, 421 Peipers, Johann Philipp David 1838–1912, Philosoph: 102 Penrose, Roger *1931, brit. Math., theor. Physiker: 411 Perry, John 1850–1920, irischer Ing., Math.: 147, 271, 430, 433, 436, 494, 540 Pervouchine, T. M., russ. Math.: 361 Pestalozzi, Johann Heinrich 1746–1827, schweiz. Pädag.: 465 Peter, Albert 1853–1937, Botaniker: 352 Petermann, August Heinrich 1822–1878, Geogr., Kartograph: 29 Pfaff, Friedrich 1825–1886, Geologe, Mine– raloge: 125 Pfaff, Hans Ulrich Vitalis 1824–1872, Ma– thematiker: 107f., 125, 140 Pfeiffer, Friedrich 1883–1961, Math., DMV: 406 Pfitzer, Ernst 1846–1906, Botaniker: 24 Picard, Émile 1856–1941, franz. Math.: 225, 239, 262, 300, 306, 308f., 315, 318, 367, 395, 424, 438, 452, 454, 520 Pick, Georg 1859–1942, österr. Math., DMV: 8, 204, 221, 262, 264, 289, 297, 372 Pickering, Edward Charles 1846–1919, USamerik. Astr.: 365 Pieri, Mario 1860–1913, ital. Math. Enc(f): 113, 538 Pietzker, Friedrich 1844–1916, Gymn.Prof., DMV: 429, 433 Pincherle, Salvatore 1853–1936, ital. Math., DMV, Enc: 361, 415 Planck, Gottlieb 1824–1910, Jurist: 294 Planck, Max 1858–1947, Physiker, DMV: 8, 155, 180, 355, 371, 386, 420, 452, 454, 461, 489, 518, 525, 533, 536f., 541, 544 Platon ca. 428–348 v. Chr., griech. Philo– soph: vii, 28, 123

Plücker, Antonie geb. Altstätter, Ehefrau v. Julius P.: 32, 85, 97, 411 Plücker, Julius 1801–1868, Math., Physik.: 2, 7, 11, 15, 21-33, 35, 39, 43f., 49-52, 54, 56-59, 77f., 97, 99, 111, 131f., 182f., 191, 207, 269f., 297, 411, 483f., 499, 501, 517, 529f., 540, 549 Pockels, Friedrich 1864–1913, Math., Physiker, DMV, Enc: 271, 310, 394, 411, 540 Poincaré, Henri 1854–1912, franz. Math., Physik., Astr.: viii, 4, 5, 165, 217, 222, 224f., 238-55, 264, 306, 308, 318, 340, 343, 349, 362, 367, 395, 416, 424, 438f., 444, 486, 489, 513f., 517, 520, 532, 540f., 543, 548 Poinsot, Louis 1777–1859, franz. Math.: 155, 498 Poisson, Siméon Denis 1781–1840, franz. Math., Physiker: 497 Poncelet, Jean-Victor 1788–1867, franz. Math., Ing., Physiker: 1, 29, 31, 58, 111, 483 Pontani, Bernhard *27.10.1845, Kommilitone Kleins, Lehrer: 22 Poske, Friedrich 1852–1925, Päd., Naturw.: 429, 469 Prandtl, Ludwig 1875–1953, Mech., Strömungsphysik, DMV, Enc: viii, 3, 6, 275, 294, 382, 390-93, 402, 404, 406, 447f., 454, 476f., 479f., 490f., 525, 530 Prange, Georg 1885–1941, Math., DMV, Enc: 481 Pringsheim, Alfred 1850–1941, Mathematiker, DMV, Enc: 180, 430, 490 Pringsheim, Nathanael 1823–1894, Bota– niker: 29 Prym, Friedrich 1841–1915, Math., DMV: 211, 228, 235, 267 Puiseux, Victor 1820–1883, franz. Math.: 95 Pulfrich, Carl 1858–1927, Physiker, Kon– strukteur opt. Instrumente: 27, 547 Pupin, Mihajlo Idvorski 1854–1935, serb.US-amerik. Physiker: 404 Rabinowitsch-Kempner, Lydia 1871–1935, Mikrobiologin: 435 Radicke, Gustav 1810–1883, Physiker: 24 Rados (Raussnitz), Gusztáv 1862–1942, ungar. Math., DMV: 204, 221f., 520 Raffael 1483–1520, ital. Maler: 480

Personenverzeichnis Ranke (seit 1865 von), Leopold 1795–1886, Historiker: 102, 143, 355, 409 Rausenberger, Otto 1852–1931, Math., Lehrer: 245f. Reeß, Maximilian Ferdinand Franz 1845– 1901, Botaniker: 116 Reich, Max 1874–1941, Physiker: 476 Reichardt, Willibald Alexander *1864, Math., Dr.-Schüler Kleins: 62, 204, 268, 279, 303 Rein, Wilhelm 1847–1929, Pädag.: 423, 547 Reißner, Hans 1874–1967, Ing., Math., Phy– siker, DMV, Enc: 454 Repsold, Johann A. 1838–1919, Instrumen– tenbauer: 323, 326 Réthy, Mór (Moritz) 1846–1925, ungar. Math., DMV: 105 Reye, Karl Theodor 1838–1919, Math., DMV: 59, 63, 68, 75, 105, 184, 191, 214, 329, 498, 522 Ricci-Curbastro, Gregorio 1853–1925, ital. Math., DMV: 175f. Richardson, Roland George Dwight 1878– 1949, kanad.-US-amerik. Math., DMV: 523 Richelot, Friedrich Julius 1808–1875, Math.: 39, 105, 198, 336 Richert, Hans 1869–1940, Lehrer, Schul– politiker: 433, 471 Riecke, Eduard 1845–1915, Physiker, DMV: 84, 97-102, 105, 140, 209, 274, 28487, 293, 301f., 323, 325, 376, 379, 383, 391, 408, 447, 464, 519f., 551 Riedler, Alois 1850–1936, österr. Ing.: 385 Riemann, Bernhard 1826–1866, Math.: 1, 4, 38f., 42, 47, 55, 62f., 82, 84, 86, 89f., 95, 111f., 120-23, 132f., 135f., 162f., 179f., 193, 198, 204, 221, 225f., 22831, 233-37, 241, 244f., 247f., 252f., 255, 263f., 304, 306, 308f., 315, 318, 321, 326, 366f., 399, 412, 489, 502, 514f., 517f., 524, 532, 534, 537, 540f. Rieppel (seit 1906 von), Anton 1852–1926, Brückenbauing., Industr.: 383, 386f., 407 Ritter, Ernst 1867–1895, Math., Dr.-Schüler Kleins, DMV: 4, 292, 342f., 347, 370, 380 Roch, Gustav 1839–1866, Math.: 236 Rockefeller, John D. 1839–1937, US-ame– rik. Unternehmer: 478, 525, 544

569

Rodenberg, Carl Friedrich 1851–1933, Math., DMV: 85, 95, 277, 292 Rohn, Karl 1855–1920, Math., Dr.-Schüler Kleins, DMV, Enc: 133, 170f., 180, 182, 195-98, 201, 210, 268f., 276, 279, 357, 520 Rohns, Christian Friedrich Andreas 1787– 1853, Architekt, Bauunternehmer: 147, 295, 350, 464, 551 Rohr, Moritz von 1868–1940, Math., Indus– trieforscher: 100, 547 Rosanes, Jacob 1842–1922, Math., DMV: 332 Rosemann, Walther 1899–1971, Math.: 129, 229, 456, 536 Rosenbach, Friedrich Julius 1842–1923, Med., Chirurg: 340 Rosenhain, J. Georg 1816–1887, Math.: 210 Rosenthal, Arthur 1887–1959, Math., DMV, Enc: 338, 357, 375 Rost, Georg 1870–1958, Math., DMV: 267 Routh, Edward John 1831–1907, brit. Math.: 271, 358 Roux, Karl 1826–1894, Maler: 185 Rüdenberg, Reinhold 1883–1961, ElektroIng.: 403, 539 Rudio, Ferdinand 1856–1929, dt.-schweizer. Math., Math.hist.: 284, 412, 520 Ruer, Julius Wilhelm 1784–1864, Arzt: 20 Ruer, Wilhelm, Mitschüler Kleins: 20 Ruffini, Paolo 1765–1822, ital. Math.: 157 Runge, Carl 1856–1927, Math., DMV, Enc: viii, 19, 55, 78, 155, 206, 232, 272, 292, 294, 341, 345, 375, 387, 389, 392f., 402, 404, 406, 408, 413, 418, 420, 431, 438, 443, 447f., 451, 458f., 465, 473f., 477, 480, 491, 520, 533. Runge, Iris 1888–1966, Industrie-Math., Physikerin: 436, 442, 458, 464, 547 Russell, Bertrand 1872–1970, brit. Philos., Math., Logiker: 487 Sachs, Eva Henriette 1882–1936, Philol., Lehrerin: 28 Sachs, José (Joseph) 1864–1927, schweiz.brasil. Math.-Lehrer, Missionar: 430 Sachs, Julius 1832–1897, Botaniker: 29 Sagorski, Ernst 1847-1929, Kommilitone Kleins, Gymn.Prof.: 22, 28, 36 Salié, Hans 1902–1978, Math., DMV: 198 Salmon, George 1819–1904, irischer Math.: 33, 39, 75, 498, 542

570

Personenverzeichnis

Sanden, Horst von 1883–1965, Math., DMV: 393 Sartorius Freiherr von Waltershausen, Wolf– gang 1809–1876, Geologe: 78 Sauppe, Hermann 1809–1893, klass. Philol.: 285, 324, 325 Scheibner, Wilhelm 1826–1908, Math., DMV: 181, 191, 197, 203, 205, 207, 211, 213, 276, 279f., 288 Schellbach, Karl Heinrich 1805–1892, Ma– thematiker, Pädagoge: 53, 55 Schering, Ernst Christian Julius 1833–1897, Math., Astr., DMV: 81-83, 86, 105, 209f., 284-86, 293, 298f., 301, 323, 326, 335, 338f., 346, 379, 411, 500, 502-04, 510, 512 Schiller, Friedrich 1759–1805, Dichter, Dra– matiker: 10, 348, 394, 533, 546 Schilling, Carl 1857–1932, Math., DMV: 292 Schilling, Friedrich (Fritz) 1868–1950, Math., Dr.-Schüler Kleins, DMV: 271, 320, 341-43, 345, 347, 384, 388f. Schimmack, Rudolf 1881–1912, Math., Didaktik, DMV: 271, 344, 388, 434, 440, 442, 520, 535, 543 Schlegel, Victor 1843–1905, Math., Lehrer, DMV: 93, 280, 361, 543 Schleicher verh. Kayser, Eleonora 1793– 1875, Großmutter Kleins: 14 Schlesinger, Ludwig 1864–1933, ungar.-dt. Math., DMV: 310 Schlömilch, Oscar 1823–1901, Math., DMV: 272 Schmeidler, Werner 1890–1969, Math., DMV: 457 Schmidt (ab 1920 Schmidt-Ott), Friedrich 1860–1956, Jurist, Wiss.Politiker: 360, 369, 386, 390, 392f., 467, 472-75, 478, 543 Schmoller (ab 1908 von), Gustav 1838– 1917, Ökonom: 431 Schneider, Jakob 1818–1898, Math.-Lehrer Kleins: 18f. Schönflies, Arthur 1853–1928, Math., DMV, Enc: 3, 8, 31, 84, 89-91, 133, 135, 297-99, 301, 317, 320, 335, 339, 341, 346, 361f., 377, 411, 433, 458, 483, 508, 511, 534, 539, 540, 543 Scholze, Peter *1987, Math., DMV: 398 Schopenhauer, Arthur 1788–1860, Philos.: 419

Schotten, Heinrich 1856–1939, Gymn.Prof., DMV: 271, 429, 520 Schottky, Friedrich 1851–1935, Math., DMV: 208, 228, 489, 517 Schouten, Jan Arnoldus 1883–1971, niederl. Math., DMV: 112, 271, 543 Schröder, Edward 1858–1942, Germanist: 469, 485 Schröder, Ernst 1841–1902, Math., DMV: 105, 292, 329 Schröder (Schroeder), Johannes 1865–1937, Math., Gymn.Prof., Dr.-Schüler Kleins, DMV: 305, 372 Schrödter, Emil 1855–1928, Ing.: 376 Schröter, Heinrich Eduard 1829–1892, Math., DMV: 53, 75, 116, 331f. Schubert, Hermann Cäsar Hannibal 1848– 1911, Math., DMV, Enc: 42, 56, 87, 104, 105, 215, 292, 328, 329, 487 Schüler, Wilhelm, Math.: 150, 154f. Schur, Friedrich 1856–1932, Math., DMV: 194, 198, 207f., 223, 276, 279, 290, 520 Schur, Issai 1875–1941, Math., DMV: 47274 Schur, Wilhelm 1846–1901, Astr., DMV: 293, 299, 323, 379 Schürfeld verh. Kleine, Catharina Marga– rethe, Urgroßmutter Kleins: 11 Schütz, L., Hörer bei Klein: 352 Schwalbe, Bernhard 1841–1901, Math., Gym.-Prof., DMV: 431 Schwarz, Hermann Amandus 1843–1921, Math., DMV: 4, 55, 58, 86, 105, 159, 162, 182f., 187, 207, 209f., 212, 228, 231-33, 235, 237, 240, 242, 247, 250, 252f., 264, 284-90, 293, 295-301, 303, 308f., 318, 323, 325, 330, 332, 334f.,떸339, 346, 355, 367-69, 395, 489, 499f., 503-05, 507, 509, 512, 518, 539 Schwarzschild, Karl 1873–1916, Astr., DMV, Enc: 348, 393, 399 Seeger, Johannes, Kommilitone Kleins: 36 Seeliger (Ritter von), Hugo 1849–1924, Astr., DMV: 197, 272 Segre, Corrado 1863–1924, ital. Math., DMV, Enc: 6, 35, 113, 132f., 212, 380, 520, 522, 528, 542, 545 Seidel (seit 1882 Ritter von), Philipp Lud– wig 1821–1896, Math., DMV: 151, 170f., 181, 184, 214, 331, 337, 499

Personenverzeichnis Selenka, Emil 1842–1902, Zoologe: 116 Selling, Eduard 1834–1920, Math., DMV: 346 Seyfarth, Friedrich 1891–1960, Math., Studiendirektor, DMV: 435, 456, 458, 535 Sibley, Hiram 1807–1888, US-amerik. Un– ternehmer: 365 Siedentopf, Henry 1872–1940, Physiker, Zeiss-Forscher: 352, 403 Siemens, Werner von 1816–1892, Elek– trotechn., Industr.: 382f., 385, 391 Simon, Hermann Theodor 1870–1918, Phy– siker: 274, 389, 403, 476 Simon, Max 1844–1918, Math., Math.hist., DMV: 56, 105, 430 Simony, Oscar 1852–1915, österr. Math.: 183 Sintzow, Dimitrij M. 1867–1946, russ. Math., DMV: 113, 520 Sitter, Willem de 1872–1934, niederl. Astr.: 462 Slaby, Adolf 1849–1913, Elektrotechniker: 385, 391, 428, 431-33, 535 Slodowy, Peter 1948–2002, Math., DMV: 4, 157, 258, 260, 534, 544 Smend, Rudolf 1851–1913, Theologe: 379 Smith, David Eugene 1860–1944, US-ame– rik. Math., Math.hist., Pädag., DMV: 349, 352, 423, 443, 454, 535 Smith, Henry John Stephen 1826–1883, iri– scher Math.: 128-30, 161, 172, 176, 217, 282 Smith, William Robertson 1846–1894, schott. Theologe, Arabist: 85, 92, 107, 127, 161, 315 Snyder, Virgil 1869–1950, US-amerik. Math., Dr.-Schüler Kleins, DMV: 352, 365, 372, 520-23 Sohncke, Leonhard 1842–1897, Physiker, Kristallograph: 317 Sommerfeld, Arnold 1868–1951, Math., Physiker, DMV, Enc: 3, 6, 225, 228f., 272f., 310, 343-45, 347f., 354, 358f., 372f., 379f., 393f., 400f., 459, 478, 520, 530, 536, 544, 552 Sonin, Nikolaj Jakovlevič 1849–1915, russ. Math., DMV: 224, 429 Spiegel-Borlinghausen, Adolph von 1792– 1852, Offizier, preuß. Beamter: 12 Spiess, Otto 1878–1966, schweiz. Math., Math.hist.: 458

571

Spiro, Eugen (Eugene) 1874–1972, deutschUS-amerik. Maler: ix Spitzer, Simon 1826–1887, österr. Math.: 183 Springer, Anton 1825–1891, Kunsthist.: 23 Springer, Julius 1880–1968, Verleger, DMV: 48, 271, 275, 296, 448, 455 Stäckel, Paul 1862–1919, Math., Math.hist., DMV, Enc: 271, 273, 354, 410, 412, 427, 429, 520 Stähelin, Helene 1891–1970, schweiz. Ma– thematikerin: 456, 458 Stahl, Hermann von 1843–1909, Math., DMV: 267, 385 Staiger, Robert 1882–1914, Musikwiss., Schwiegersohn Kleins: 145f., 451 Stark, Johannes 1874–1957, Exp.Phys.: 408, 462 Starke, Dorothea 1902–1943, Mathemati– kerin: 407 Staude, Otto 1857–1928, Math., Dr.-Schüler Kleins, DMV, Enc: 54, 61, 88, 109, 196, 203, 205, 207, 211, 235f., 279f., 296, 435, 533 Staudt, Karl Georg Christian von 1789– 1867, Math.: 60, 69, 90, 107, 191, 517 Steindorff, Ernst 1839–1895, Hist.: 102 Steiner, Jacob 1796–1863, Math.: 30, 39, 51, 57, 191, 526, 533, 536, 543, 547-49 Steinitz, Ernst 1871–1928, Math., DMV, Enc: 36, 534 Stephanos, Cyparissos 1857–1918, griech. Math., DMV: 424, 520 Stern, Alfred 1846–1936, Hist.: 102, 478f. Stern, Antonie 1892–nach 1967, Mathema– tikerin, DMV: 457 Stern, Moritz Abraham 1807–1894, Math., DMV: 43, 80-82, 102, 106, 111, 284, 478, 503f., 519 Still, Carl 1868–1951, Ing., Unternehmer, DMV: 478 Stöhr, Friedrich, stud.math.: 203 Stokes, George Gabriel 1819–1903, irischer Math., Physik.: 358, 483 Stolberg (Fürst zu), Christian Ernst 1864– 1940, Standesherr: 428 Stolz, Otto 1842–1905, österr. Math., DMV: 6, 51, 56, 59, 88, 94, 102, 104f., 107, 111, 119, 140, 161, 184f., 189, 194, 197, 264f., 525, 527 Stresemann, Gustav 1878–1929, Politiker: 471

572

Personenverzeichnis

Stringham, Irving W. 1847–1909, US-ame– rik. Math.: 203, 218f. Struik, Dirk 1894–2000, niederl.-amerik. Math., Math.hist., DMV: 458f. Strutt (Lord Rayleigh), John William 1842– 1919, brit. Physiker: 131, 358 Struve, Ludwig von 1858–1920, deutschbalt. Math., Astr.: 62, 204, 544 Studt, Konrad von 1838–1921, preuß. Kul– tusminister: 389, 428, 431f. Study, Eduard 1862–1930, Math., DMV, Enc: 3, 42, 199, 204, 207, 214, 290, 297, 304, 318, 329, 361, 363, 462, 532 Stumpf, Carl 1848–1936, Philos.: 101f., 417, 420, 494, 530, 545 Sturm, Rudolf 1841–1919, Math., DMV: 35, 47, 105, 184, 292, 329, 332f. Süchting, Friedrich (Fritz) Wilhelm 1874– 1969, Elektrotechn., Schwiegersohn Kleins: x, 145, 147, 442 Sylow, Ludwig 1832–1918, norweg. Math.: 213, 483 Sylvester, James Joseph 1814–1897, brit. Math.: 29, 39f., 75, 128, 131, 218f., 282f., 320, 365f., 369, 540 Tägert, Friedrich 1863–1950, Oberlehrer, Gymn.-Prof.: 351, 535 Tait, Peter Guthrie 1831–1901, schott. Math., Physik.: 83f., 92, 128, 228 Tannery, Jules 1848–1910, franz. Math.: 64f., 271, 409 Tannery, Paul 1843–1904, franz. Math., Math.hist.: 271 Tedone, Orazio 1870–1922, ital. Math., DMV, Enc: 406 Teixeira, Francesco Gomes 1851–1933, portug. Math., Math.hist.: 424, 520 Terquem, Orley 1782–1862, franz. Math.: 273 Thaer, Albrecht 1855–1921, Math., Päd., DMV: 429, 520, 530 Thomae, Johannes 1840–1921, Math., DMV: 107 Thomas de Colmar, Charles Xavier 1785– 1870, franz. Erfinder: 126, 551 Thompson, Henry Dallas, US-amerik. Ma– thematiker, Dr.-Schüler Kleins: 305, 365, 515 Thomson, Joseph John 1856–1940, brit. Physiker: 358, 388

Thomson, William (Lord Kelvin) 1824– 1907, brit. Physik.: 84, 127, 136, 181, 228, 233 Tichomandritzky, Matvej Aleksandrowitsch 1844–1921, russ. Math.: 207, 223 Tietjen, Friedrich 1834–1895, Astr.: 334 Tietze, Heinrich 1880–1964, österr. Math., DMV, Enc: 357, 520 Tilly, Joseph Marie de 1837–1906, belg. Math.: 312 Timerding, Heinrich Emil 1873–1945, Mathematiker, DMV, Enc: 3, 410, 469 Timoshenko, Stephen P. 1878–1972, ukrainisch-US-amerik. Mechan.: 403, 407 Timpe, Aloys 1882–1959, Math., Dr.-Schüler Kleins, DMV, Enc: 271, 344, 406, 412 Toeplitz, Otto 1881–1940, Math., Math.hist., DMV, Enc: 421, 431, 531 Tollens, Bernhard 1841–1918, Chem.: 101f. Treitschke, Heinrich von 1834–1896, Hist.: 102 Treutlein, Peter 1845–1912, Pädag., Math.Historiker, DMV: 429, 440, 520, 537 Troschel, Franz Hermann 1810–1882, Zoologe: 24f. Tschebyschow, Pafnuti Lwowitsch 1821– 1894, russ. Math.: 223, 316, 418 Tyler, Harry Walter 1863–1938, US-amerik. Math., DMV: 222, 363, 520 Uffrecht, Bernhard 1885–1959, Math., Reformpädagoge: 421 Ulrich, Georg Karl Justus 1798–1879, Math.: 81f., 105 Uppenkamp, August 1824–1909, Lehrer: 16 Urysohn, Pavel S. 1898–1924, russ. Math.: 458 Vaerting, Mathilde 1884–1977, Math.Lehrerin, Univ.-Professorin: 422, 547 Valentiner, Herman 1850–1913, dän. Math.: 133, 166, 220f, 258 Valentiner, Theodor 1869–1952, Jurist, Beamter: 471 Varićak, Vladimir 1865–1942, serbischer Math., DMV: 408 Vermeil, Hermann 1889–1959, Math., DMV: 94, 249, 455-57 Veronese, Guiseppe 1854–1917, ital. Math., DMV: 132, 203, 220, 314, 520, 522 Vessiot, Ernest 1865–1952, franz. Math., Enc: 36

Personenverzeichnis Vietoris, Leopold 1891–2002, österr. Math., DMV, Enc: 357 Virchow, Rudolf 1821–1902, Pathologe, Anthropologe: 181, 549 Vleck, Edward Burr van 1863–1943, USamerik. Math., Dr.-Schüler Kleins, DMV: 300, 311, 320, 363, 365 Vleck, John Monroe van 1833–1912, USamerik. Astronom: 365 Vögler, Albert 1877–1945, Unternehmer, Politiker: 476, 536 Voellmy, Erwin 1886–1951, schweiz. Math., Lehrer, DMV: 458 Voigt, Georg 1866–1927, Politiker: 428 Voigt, Woldemar 1850–1919, Physiker, DMV: 285, 293, 299, 323, 379, 383, 399, 402, 428, 447, 476, 520 Volhard, Jakob 1834–1910, Chem.: 499 Voss, Aurel 1845–1931, Math., DMV, Enc: 3, 43f., 47, 49, 83, 85, 87, 104f., 114, 118, 126, 137f., 142, 230, 270, 279, 285f., 289, 305, 325, 330, 340, 393, 423, 464, 501, 504, 520 Vries, Gustav de 1866–1934, niederl. Math., DMV: 359 Waelsch, Emil 1863–1927, tschech. Math., DMV: 204, 221f., 520 Waerden, Bartel Leendert van der 1903– 1996, niederl. Math., DMV: 215, 319, 536 Wagner, Ernst Leberecht 1829–1888, Pa– thologe, Mediziner: 230, 352 Wahrendorff, Ferdinand 1826–1898, Land– arzt, Klinikgründer: 291 Waitz, Georg 1813–1886, Historiker: 78, 102, 143, 464 Walker, Gilbert 1868–1958, brit. Math., Physiker, Meteorologe: 358 Wallach, Otto 1847–1931, Chemiker: 101, 383, 447, 527 Walter, Max *1857, Schiffbau-Ing.: 478 Wangerin, Albert 1844–1933, Math. DMV, Enc: 373 Warnstedt, Adolf von 1813–1897, Jurist, Univ.-Kurator: 286 Wassiljef [Wassiliew], Alexander W. 1853– 1929, russ. Math., Math.hist., DMV: 313, 316, 415, 424, 467, 520 Weber, Carl Maria von 1786–1826, Kom– ponist: 27 Weber, Eduard Ritter von 1870–1934, Math., DMV, Enc: 347

573

Weber, Ernst Heinrich 1795–1878, Physiker, Physiologe: 276, 321 Weber, Heinrich 1842–1913, Math., DMV, Enc: 39-41, 48, 222, 235, 253, 272, 276, 292, 326, 329f., 332, 335f., 33840, 346f., 349f., 353f., 361, 379f., 413, 430, 490, 493, 520, 541f. Weber, Moritz Gustav 1871–1951, Ing., Prof. f. Mechanik, DMV: 302, 345 Weber, Wilhelm Eduard 1804–1891, Phy– siker: 78, 81f., 85, 98f., 105, 209, 285, 294, 325, 361, 412, 475-77 Wedekind, Ludwig 1843–1908, Math., Dr.Schüler Kleins: 115, 117-19, 127, 168, 360, 551 Weichold, Guido *1857, Math., Dr.-Schüler Kleins: 203, 232, 235f. Weierstraß, Karl 1815–1897, Math., DMV: 7, 27, 34, 41, 47, 51-58, 61f., 85, 105, 118f., 122f., 131, 161, 169, 173-75, 180, 183, 187, 193, 197, 206f., 209, 211f., 221, 228, 231-33, 235-37, 239, 242, 261, 263f., 267f., 286-90, 296f. 305f., 308, 318, 327-32, 334f., 367f., 418, 430f., 483, 494, 504f., 509, 528f., 533f., 536, 542, 548f. Weiler, Adolf 1851–1916, schweiz. Math., Dr.-Schüler Kleins, DMV: 35, 85, 95, 96, 114f., 551 Weingarten, Julius 1836–1910, Math., DMV: 87, 176 Weinreich, Hermann 1884–1932, Math., Pädagoge, DMV: 271, 425 Weiß, Wilhelm 1859–1904, österr. Math., DMV: 204, 221f. Weitzenböck, Roland 1885–1955, österr. Math., DMV, Enc: 357 Welcker, Friedrich Gottlieb 1784–1868, klass. Philologe, Archäologe: 28 Wellhausen, Julius 1844–1918, Theologe, Orientalist: 128, 338 Wende, Erich 1884–1966, Jurist, Verwal– tungsbeamter: 450 Wenker, Albert †1871, Schulfreund Kleins: 19, 50, 75, 78 Wernicke, Friedrich Alexander 1857–1915, Math., Pädagoge, DMV: 425 Westpfahl, Wilhelm 1882–1978, Physiker: 477 Weyl, Hermann 1885–1955, Math., DMV: 2, 123, 217, 230, 413, 420f., 442, 542f.

574

Personenverzeichnis

Weyr, Eduard 1852–1893, tschech. Math.: 361 Weyr, Emil 1848–1894, tschech. Math., DMV: 65, 221, 306 White, Henry Seely 1861–1943, US-amerik. Math., Dr.-Schüler Kleins, DMV: 307, 335, 361 Whitehead, Alfred North 1861–1947, brit. Mathematiker, Philosoph: 487 Wiechert, Emil 1861–1928, Geophysiker, DMV, Enc: 384, 388, 391f., 403, 447, 470, 493 Wiedemann, Eilhard 1852–1928, Physiker: 197 Wieghardt, Karl 1874–1924, Math., Schüler Kleins, DMV, Enc: 345, 403, 406 Wiener, Christian 1826–1896, Math., DMV: 41, 103, 317 Wiener, Hermann 1857–1939, Math., DMV: 204, 207f., 213, 292, 328 Wiener, Norbert 1894–1964, US-amerik. Math., DMV: 480, 549 Wiger, J., Hörer bei Klein: 352 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von 1848–1931, klass. Philologe: 28, 326, 381, 451f. Wilbrandt, Adolf von 1837–1911, Schriftsteller: 322 Wilhelm I. 1797–1888, deutscher Kaiser und preuß. König: 73, 287 Wilhelm II. 1859–1941, deutscher Kaiser und preuß. König: 323, 325, 360, 371, 386, 391f., 425, 427f., 432 Wiltheiss, Eduard 1855–1900, Math., DMV: 292, 307, 326, 328, 333 Wiman, Anders 1865–1959, schwed. Math., DMV, Enc: 86, 133, 166, 258, 304, 520 Windau, Willi 1889–1928, Math., DMV: 457 Winkelmann, Max 1879–1946, Math., Dr.Schüler Kleins, DMV: 372, 401, 407 Wirtinger, Wilhelm 1864-1945, österr. Mathematiker, DMV, Enc: 3f., 121, 161, 212, 250, 261, 306f., 326, 329, 356, 372, 380, 414, 520, 525, 529, 549 Wirtz, Karl 1861–1928, Elektrotechn.: 203f. Witting, Alexander 1861–1946, Math., Dr.Schüler Kleins, DMV: 186, 204, 206, 304 Wöhler, Friedrich 1800–1882, Chem.: 38 Wolff, Georg 1886–1977, Math., Lehrer, DMV: 469

Wolfskehl, Paul Friedrich 1856–1906, Arzt, Math., DMV: 249, 349, 459 Woods, Frederick Shenstone 1864–1950, US-amerik. Math., Dr.-Schüler Kleins: 300, 520 Wright, Orville 1871–1948, US-amerik. Luftfahrtpionier: 391, 392 Wright, Wilbur 1867–1912, US-amerik. Luftfahrtpionier: 391, 392 Wulff, George V. 1863–1925, russ. Kris– tallograph: 317 Wüllner, Adolf 1835–1908, Physiker: 22, 545 Wundt, Wilhelm 1832–1920, Psychologe, Philosoph: 195, 206, 278, 423, 452 Wußing, Hans 1927–2011, Math.hist.: ix, 4, 67, 112, 412, 549 Yoshiye (Yoshie), Takuji (Takuzi) 1874– 1947, japan. Mathematiker: 348, 520 Young, George Paxton 1818–1889, brit. Theologe, Logiker: 19 Young, William Henry 1863–1942, engl. Math., DMV: 447 Zacharias, Max 1873–1962, Math., DMV, Enc: 357 Zarncke, Friedrich 1825–1891, Germanist: 23, 195 Zeiß, Carl 1816–1888, Mechaniker, Unternehmer: 382, 479 Zemplén, Győző 1879–1916, ungar. Physiker, Enc: 404, 520 Zeppelin, Ferdinand Graf von 1838–1917, General, Ing.: 383, 391 Zermelo, Ernst 1871–1953, Math., DMV, Enc: 275, 348, 421, 440, 513 Zeuner, Gustav 1828–1907, Ing.wiss.: 378 Zeuthen, Hieronymus Georg 1839–1920, dän. Math., Enc: 39, 42, 45, 58, 105, 216, 277, 348, 412, 520 Zindler, Konrad 1866–1934, österr. Math., DMV, Enc: 35, 36 Ziwet, Alexander 1853–1928, poln.-dt.-USamer. Ing., Math., DMV: 363, 424, 534 Zoepffel, Richard 1843–1891, ev. Kirchenhistoriker: 102 Zoepffel, Selma geb. Wiesinger: 102 Żorawski, Kazimierz 1866–1953, poln. Math., DMV: 300f., 320, 520 Zorn, Philipp 1850–1928, Kirchen-, Staatsrechtler: 428 Zühlke, Paul 1877–1957, Math., Didaktik, DMV: 435