Familie - nein danke?!: Familiengl|ck zwischen neuen Freiheiten und alten Pflichten (German Edition) 9783525401828, 9783647401829, 3525401825

English summary: The modern family is in a quagmire: On the one hand many myths, cliches and ridiculously high expectati

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Familie - nein danke?!: Familiengl|ck zwischen neuen Freiheiten und alten Pflichten (German Edition)
 9783525401828, 9783647401829, 3525401825

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Inge Seiffge-Krenke / Norbert F. Schneider

Familie – nein danke?! Familienglück zwischen neuen Freiheiten und alten Pflichten Mit 15 Abbildungen und 3 Tabellen

Vandenhoeck & Ruprecht © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401828 — ISBN E-Book: 9783647401829

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ­http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-40182-8 ISBN 978-3-647-40182-9 (E-Book) Umschlagabbildung: shutterstock.com © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen /  Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: e Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 2 Phantasmen der Familie: Zwischen gesellschaftlicher Prägung und individuellem Design . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 2.1 Was ist und was soll Familie? Einige Annäherungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 2.2 Eine kurze Sozialgeschichte der Familie . . . . . . . . . . . . . 22 2.3 Zur gegenwärtigen Vielfalt der Familienformen . . . . . . 28 2.4 Die Lebenslaufperspektive: Die Familie entwickelt und verändert sich lebenslang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2.5 Enorme Herausforderungen: Familien mit kleinen Kindern, mit Jugendlichen und erwachsenen Kindern 38 2.6 Welche Konsequenzen ergeben sich für die Arbeit mit Familien? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 3 Sozialer Wandel von Partnerschaft, Heirat und Ehe: Gibt es eigentlich etwas Komplizierteres als die Beziehung zwischen Mann und Frau? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 3.1 Stabile Paarorientierung und sinkende Heiratsneigung 52 3.2 Heiratsmotive im Wandel der Zeit: Warum heiraten Menschen (dennoch)? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 3.3 Wandel der Paarbeziehungen und der privaten Lebensformen: Wie lebt man heute? . . . . . . . . . . . . . . . . 61 3.4 Partnersuche und Kommunikation in den Zeiten des Internets . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64

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Inhalt

3.5 Kriterien der Partnerwahl und die zunehmende Bedeutung von Attraktivität oder: Macht Geld sexy? . . 67 3.6 Homogamie in Partnerschaften: »Gleich und Gleich« oder doch ganz anders? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 3.7 Liebe als Emotion und soziales Konstrukt . . . . . . . . . . . 73 3.8 Wie sich Partnerschaften von der Jugendzeit bis zum Erwachsenenalter entwickeln: Von der »ersten Liebe« zur »freundlichen Kompromiss­erotik« . . . . . . . . . . . . . . 75 3.9 Was zeichnet eine gute Partnerbeziehung aus? Und wann gelingen oder scheitern Partner­schaften? . . 81 3.10 Praxisbezug: Paarberatung und Therapie . . . . . . . . . . . . 89 4 Familie – nein danke?! Familie und Familienbeziehungen zwischen Sehnsucht und Enttäuschung . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 4.1 Was sind die Indikatoren für die schrumpfende Attraktivität von Familie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 4.2 Was »Kinder« sind und was »Elternschaft« bedeutet, hat sich verändert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 4.3 Zwei, eins oder keins? Kinderwunsch und die zunehmende Bedeutung bewusster Kinder­losigkeit . . . 101 4.4 Kinder als »Störenfriede« in der Partnerschaft? . . . . . . 108 4.5 Gravierende Veränderungen im Wert von Kindern und in den Erziehungsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 4.6 Veränderte Rollenbilder: Von Rabenmüttern und Neuen Vätern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 4.7 Sehnsucht Familie: Und sie wirkt doch! . . . . . . . . . . . . . 127 4.8 Bedeutung für die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 5 Lebensformen, Leitbilder und kindliche Entwicklung oder: Wie viel Mutter braucht ein Kind? . . . . . . . . . . . . . . . . 135 5.1 Unterschiede machen Politik – Familienregime in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136

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Inhalt

5.2 Frauen oder Kinder zuerst? Motive der Kinderbetreuungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 5.3 Wie viel Mutter braucht das Kind? . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 5.4 Ist die Kindesentwicklung durch Fremdbetreuung gefährdet? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 5.5 Perfekte Eltern und perfekte Erzieher: Von fehlenden Erfahrungen und falschen Idealen . . . . 158 5.6 Was heißt »erfolgreiche Entwicklung«? . . . . . . . . . . . . . 163 6 Vielfalt der Familie(n): Trennung, Scheidung, neu zusammengesetzte Familien – Ursachen und Folgen . . . . . 167 6.1 Das gegenwärtige Scheidungsgeschehen historisch und international betrachtet . . . . . . . . . . . . . 168 6.2 Gesunkene Barrieren und gewachsene Alter­nativen: Subjektive Scheidungsgründe und Faktoren des Scheidungsrisikos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 6.3 Geschieden und arm? Ökonomische Folgen von Scheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 6.4 Die Familie besteht weiter: Herausforderungen nachehelicher Familien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 6.5 Trennungen und Scheidungen als Herausforderungen in der psychologischen Arbeit mit Familien . . . . . . . . . 189 6.6 Andere Familienstrukturvarianten – vielfältigere Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 6.7 Welche Effekte haben Scheidungen und Trennungen auf Kinder? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 6.8 Wehrhafte Mütter und idealisierte Väter – zwei Beispiele aus der Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 6.9 Einige Überlegungen zur Arbeit mit Familien . . . . . . . 209 7 Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 8 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225

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1 Einleitung

In diesem Buch geht es um die Sehnsucht nach Familie und das Schwanken zwischen Hoffnung und Enttäuschung. Romane über Familien, die diese Ambivalenz zum Thema genommen haben, hat es in allen Epochen gegeben, nicht nur Thomas Manns »Buddenbrooks« (1901/1981) oder Leo Tolstojs »Familienglück« (1859). Eine merkwürdig kritische bis ambivalente Haltung über Familie ist also nicht ganz neu. Von Oscar Wilde stammt der Satz: »Familie ist eine schreckliche Last, besonders für jemanden, der nicht verheiratet ist.« Viel weniger bekannt als der aufsehenerregende Prozess um seine Homosexualität ist, dass Oscar Wilde ein hinreißender Familienvater war; es gibt viele Fotos, die ihn mit seinen Söhnen spielend zeigen, auf dem Boden herumkrabbelnd. Seine »Märchen« entstanden als Gute-Nacht-Geschichten für seine Kinder. Dennoch bleibt eine kritische Distanz. Familie als System und Familienbeziehungen haben sich sehr verändert. Weder sind Kinder heute etwas, was man sehen, aber nicht hören sollte – wie Thomas Mann meinte –, noch bleiben heute Partner in der Regel wegen der Kinder zusammen, wenn die Liebe erloschen ist – wie zu Tolstojs Zeiten –, und sogar Familien mit gleichgeschlechtlichen Partnerschaften sind zunehmend anerkannt. Das Interesse an (literarischen) Familiengeschichten besteht weiter fort. Es existiert eine große Zahl von Büchern, die sich mit Familien beschäftigen, wie Julia Francks »Die Mittagsfrau« (2007), Uwe Tellkamps »Der Turm« (2008) oder Melinda Abonjis »Tauben fliegen auf« (2010). Auch die Zahl von Familienratgeber-

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Einleitung

büchern ist beträchtlich. In den Massenmedien kann man viele kritische Stimmen hören, manche sprechen sogar vom »Tod der Familie«. Dabei wird oft auf die hohen Scheidungsraten, die geringen Heirats- und Geburtenziffern Bezug genommen – diese sind nur ein Ausschnitt des Geschehens und sie stellen zudem keine ausreichende Erklärung dar für den komplexen Wandel in den Familien- und Beziehungsformen, den wir gegenwärtig erleben. In den Medien beobachten wir eine Tendenz, zwischen positiven Voten (die Familie als Keimzelle des Staates, als Hort der Harmonie) und negativen Voten zu schwanken, in denen Familien als krankmachend, die Individualität beschneidend dargestellt werden und Personen, die sich entschließen, Kinder zu bekommen, mit dem finanziellen Ruin bedroht werden. Diese große Ambivalenz war Anlass zu einer Veranstaltungsreihe bei den Lindauer Psychotherapiewochen 2011, in der wir die verschiedenen Perspektiven beleuchteten und die Ursachen und Folgen der Ambivalenz gegenüber Familie aufzeigten. Dabei wurden zwei Ansätze zusammengeführt, die in der Regel getrennt voneinander verhandelt werden, unserer Meinung nach aber gerade gemeinsam großes Potenzial zur Einordnung dieser Ambivalenz entfalten: eine familiensoziologische und eine entwicklungspsychologische Sichtweise. Dabei wurden auch die Konsequenzen für die Beratungsarbeit und Therapie diskutiert. Diese Vorlesung stellt die Basis für dieses Buch dar. Wir werden zu zeigen versuchen, dass die enorme Ambivalenz hinsichtlich Familie sich sowohl aus der entwicklungspsychologischen als auch der familiensoziologischen Perspektive tatsächlich gut belegen lässt und vielfältige Konsequenzen für die Arbeit mit Familien hat. Dazu werden wir uns anschauen, welche Indikatoren für eine solche Ambivalenz sprechen, dann werden wir darauf eingehen, was sich hinsichtlich des Wertes von Kindern, der Rolle und Funktion von Eltern, von Erziehungsprinzipien verändert hat, insbesondere seit der Mitte des letzten Jahrhunderts. Diese teil-

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Einleitung

weise massiven Veränderungen sind überwiegend positiver Natur, zugleich erklären sie selbst aber einen Teil der Ambivalenz. Neben dem Wandel zeigt sich viel Kontinuität. Die Zweieltern-Familie mit Kindern beispielsweise ist weiterhin eine weit verbreitete Lebensform und die Familie hat entgegen aller Unkenrufe nichts von ihrer Bedeutung eingebüßt. Um zu verstehen, was Familie heute ist, lohnt ein Blick in die Geschichte, denn das, was »Familie« ausmacht, hat sich verändert. Gegenwärtig ist Familie zu einer Option im Vergleich zu Freizeit, Konsum und anderen geworden. Die Heirat als Partnerschaftsmodell wird von einer wachsenden Zahl junger Leute nicht mehr für erstrebenswert gehalten. Warum heiraten Menschen dennoch? Wie findet man den passenden Partner und welche Bedeutung hat das Internet bei der Partnersuche? Auch hier ist ein Blick in die Vergangenheit hilfreich, denn die Kriterien, die eine gelingende Partnerschaft ausmachen und was man an einem Partner attraktiv findet, haben sich teilweise stark gewandelt. Aber auch das, was »Liebe« in verschiedenen Lebensaltern ausmacht – von der Jugend bis ins hohe Erwachsenenalter –, unterliegt einem starken Wandel. Und wie können wir erklären, dass Männer gesundheitlich von einer Partnerschaft profitieren, Frauen aber nicht? Was hat es mit dem »verflixten siebten Jahr« auf sich – und ist es überhaupt das siebte Jahr, das so auffällig im Scheidungsgeschehen ist? Wieso sind die Ansprüche an die Liebe heute so gewachsen? Die meisten Menschen setzen das Ereignis der Geburt des ersten Kindes generell mit dem Beginn des Erwachsenenlebens gleich, der letztlich zur Konsolidierung und Gewöhnung an die neue Rolle und deren Integration in die Identität führt (Seiffge-Krenke, 2012). Viel zu wenig wird allerdings bedacht, dass Familienentwicklung über die Zeit verschiedene Phasen umfasst, die ganz unterschiedliche Aufgaben für Eltern bereithält. Der Beginn der Elternschaft ist besonders belastend – wegen des späten Auszugs der Kinder kann man aber heute auch fragen: Wann endet eigentlich Eltern-

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Einleitung

schaft, endet sie überhaupt? Und wie viel Unterstützung tut Kindern gut? Wie gehen Eltern mit der turbulenten Phase der Adoleszenz ihrer Kinder um? Wie unterscheiden sich heute die Rollen von Müttern und Vätern und warum gibt es zunehmend mehr »mütterliche Väter«? Hilfen, wie sie früher in größeren Familienverbänden selbstverständlich waren, existieren gegenwärtig nicht mehr in dieser unhinterfragten Weise und die eingeschränkteren Lernerfahrungen für die Elternrolle führen zu einer enormen Verunsicherung und Überlastung insbesondere bei Eltern kleiner Kinder. Aber ist die Kernfamilie überhaupt die bestmögliche Gewähr für eine liebevolle, glückliche und gelingende Erziehung? Und wie sehen das die Kinder? Wie gehen eigentlich andere Länder mit der frühkindlichen Betreuung um? Wir werden zeigen, dass die zeitgleiche Ausübung von Elternaufgaben und Erwerbstätigkeit hierzulande durch viele Barrieren erschwert ist. Aspekte wie etwa die Bindungsentwicklung des Babys zu beiden Eltern werden beleuchtet. Dabei wird deutlich werden, dass die frühen Phasen der Familienentwicklung, das heißt Familien mit Babys und Kleinkindern, hoch belastete Situationen für beide Eltern sind, besonders aber für die Mutter, die in der Regel tagsüber allein mit dem Baby ist. Die Zuschreibung, dass es die Mutter sein sollte, die diese Aufgabe übernimmt, erweist sich aus Sicht der Bindungsforschung als nicht zwingend und wird in verschiedenen Gesellschaften unterschiedlich gehandhabt – bereits die Ausübung der Mutterrolle gegenüber dem Säugling ist also gesellschaftlich überformt. Die hohen Scheidungs- und Trennungsraten werden oftmals als Indikatoren für ein Scheitern von Familie angesehen. Wir wollen deutlich machen, dass sie auch ein Indikator für die gestiegenen Ansprüche an die Beziehungsfähigkeit der Partner sind und dass Trennungsfamilien vor zahlreichen Aufgaben stehen, die sie in der Regel sehr gut meistern. Wir können keineswegs davon ausgehen, dass Kinder in Trennungsfamilien sich weniger gut entwickeln

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Einleitung

als Kinder, deren Eltern zusammenbleiben. Kinder leben heute in einer Vielzahl von Familienformen wie alleinerziehenden Eltern, Stieffamilien und auch in homosexuellen Partnerschaften – und es funktioniert in der Regel. Es soll auch herausgearbeitet werden, dass insbesondere neu zusammengesetzte Familien eine enorme Familienarbeit aufbringen, bis wieder ein »Familiengefühl« entsteht. Es zeigt sich bereits in diesem kurzen Aufriss, dass man sich, wenn man Familie begreifen möchte, von zahlreichen Mythen und Klischees verabschieden sollte. Wir hoffen, die Neugierde ist geweckt. Für uns war die Arbeit mit den Teilnehmern der Veranstaltung und die sich anschließende Arbeit an dem Buch bereichernd und spannend und wir sind überzeugt, dass das gewandelte Bild von Familie, die neuen Kompetenzen und Entwicklungsmöglichkeiten eine Chance für den weiteren Fortbestand der Familie darstellen. Zur Fertigstellung des Buchmanuskripts hat Frau Katharina Becker M. A. einen wesentlichen Beitrag geleistet. Wir danken Frau Becker für ihre kompetente und verantwortungsvolle wissenschaftliche Unterstützung bei der Anfertigung der Texte, bei der Endredaktion und bei der Recherche von Daten- und Literaturquellen sehr herzlich. Durch ihr engagiertes Mitwirken haben die Arbeiten an diesem Buch in jeder Phase viel Spaß gemacht.

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2 Phantasmen der Familie: Zwischen gesellschaftlicher Prägung und individuellem Design

Denkt man an Familie, kann einem ganz Unterschiedliches einfallen: Der eine denkt an seine eigene Familie, der andere an die scheinbar bunte Vielfalt der Familienformen, wieder andere denken an sogenannte Problemfamilien oder an die Familienidylle vorindustrieller Zeiten. In diesem Kapitel wird versucht, eine Ordnung in diese Gedanken zu bringen. Es werden Entwürfe dargestellt, wie Familie definiert werden kann und welche Aufgaben und Funktionen Familie erfüllt – für den Einzelnen und für die Gesellschaft. Dabei lohnt auch ein Blick in die Vergangenheit. Es wird rasch klar, dass man sich, um Familie richtig zu verstehen, von vielen gängigen Stereotypen verabschieden sollte: Familie erweist sich als vielgestaltig und historisch wandelbar. Den einen Typus der Familie gibt es nicht. Aus einem soziologischen Blickwinkel ist das plausibel. Familie hat hier eine Doppelgestalt: Familie ist durch die jeweiligen gesellschaftlichen Strukturen geprägt, sie wird jedoch auch individuell gestaltet. Soziale Strukturen geben den Rahmen für die Ausgestaltung von Familien vor, aber das Geschehen in Familien hat wiederum Einfluss auf die gesellschaftliche Rahmung. Die Anpassungsfähigkeit der Familie, ihrer inneren und äußeren Strukturmerkmale, sind in diesem Kontext sehr funktional. Die Flexibilität von Familie zeigt sich auch im Lebensverlauf: Aus einer psychologischen Perspektive werden Zusammenhänge von Lebensverläufen und Familienphasen in den Blick genommen. Spezifische Eigenschaften der jeweiligen Phasen, damit einhergehende Risiken und Chancen

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Phantasmen der Familie

für Individuen und Familien können aufgezeigt und daraus Rückschlüsse für die Arbeit mit Familien gezogen werden. Hierbei wird besonderes Augenmerk auf die Phase mit kleinen Kindern, mit Jugendlichen und die in den letzten Jahren bedeutsamer werdende Phase des leeren Nestes gelegt. Die sehr unterschiedlichen Perspektiven von Müttern und Vätern werden dabei deutlich.

2.1 Was ist und was soll Familie? Einige Annäherungen Auf die Fragen, was Familie ist und was Familie leisten soll, gibt es zahlreiche Antworten. Sie variieren kulturell, historisch und theoretisch beträchtlich. Aus dieser Beobachtung wird deutlich, dass es sich bei Familie nicht um eine natürliche und unverrückbare Konstante menschlicher Zivilisation handelt, sondern um einen wandelbaren sozialen Sachverhalt. Familie ist eine in vielerlei Hinsicht ambivalente und vielgestaltige Erscheinung. Die Familie gibt es nicht. Es existieren weder ein Prototyp noch eine Grundform von Familie, von der aus sich Abweichungen oder Variationen feststellen ließen (Lenz, 2009; Nave-Herz, 2009; Schneider, 2008). Angemessener ist es, von einer Vielfalt von Familienformen auszugehen. Wandel, Vielfalt und Ambivalenz sind Kernmerkmale von Familie, auch wenn Stereotype und Klischees dieser Wahrnehmung von Familie manches Mal entgegenstehen. Je nach Standpunkt werden Familie und ihre Aufgaben und Wirkungen sehr unterschiedlich interpretiert. Vielfach wird Familie als eine unveränderliche Konstante menschlichen Miteinanders gesehen, als die Grundlage jedweder gesellschaftlicher Ordnung, die sich ständig Bedrohungen ausgesetzt sieht und die um jeden Preis zu beschützen ist. Familie stellt sich aus dieser Sicht als unverzichtbare und unbedingt schützenswerte Keimzelle der Gesellschaft dar, die dem Wohle der Allgemeinheit ebenso dient wie dem Wohlerge-

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Was ist und was soll Familie? Einige Annäherungen

hen der einzelnen Familienmitglieder. Dem entgegengesetzt lassen sich aber auch Positionen finden, die in Ehe und Familie Institutionen zur Unterdrückung der Menschen sehen, die es daher abzuschaffen gilt. Die Annäherung an die Frage, was Familie ist, kann folglich auf völlig unterschiedlichen Wegen erfolgen. Einige dieser Wege wollen wir im Weiteren beschreiten. Unterschiedliche Sichtweisen auf Familie Im traditionellen Verständnis ist Familie ein Ehepaar, das zusammen mit seinen biologischen Kindern in einem Haushalt wohnt. Fünf Merkmale sind danach kennzeichnend für Familie (Schneider, 2008): das Vorhandensein von zwei Generationen, zwei Geschlechtern, der Ehe, verwandtschaftlicher Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern und einer Haushalts- und Wirtschaftsgemeinschaft. Diese Auffassung ist noch immer weit verbreitet, stimmt aber empirisch mit der tatsächlichen Lebenspraxis einer wachsenden Zahl von Menschen nicht mehr überein (z. B. Niemeyer u. Voit, 1995). In den letzten Jahrzehnten haben viele weitere Lebensformen neben der klassischen Familie (wieder) an Bedeutung gewonnen (vgl. Kapitel 3, 4 und 6). Beispiele sind etwa Alleinerziehende, nichteheliche Lebensgemeinschaften mit Kindern, gleichgeschlechtliche Paare, die mit dem Kind eines Partners oder einer Partnerin zusammenleben, und Paare ohne Kinder, die nicht zusammen wohnen, aber solidarisch verbunden sind und füreinander sorgen. Sind das Familien? Welche Merkmale sind zur Bestimmung von Familie also geeignet? Gibt es überhaupt geeignete Merkmale? Positionen im gesellschaftspolitischen Diskurs Im aktuellen gesellschaftspolitischen Diskurs darüber, was Familie ist oder sein soll, sind drei unterschiedliche Positionen erkenn-

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Phantasmen der Familie

bar (Huinink u. Konietzka, 2007; Schneider, Rosenkranz u. Limmer, 1998): –– Die erste Position, die sich eng am traditionellen Verständnis orientiert, ist sehr stark ehezentriert: Familie ist dort, wo ein Ehepaar mit seinen eigenen Kindern in einem gemeinsamen Haushalt zusammenlebt. Nur diese Lebensform ist sozial legitimiert, keine andere sollte ihr gleichgestellt werden. –– Die zweite Position rückt die Eltern-Kind-Beziehung in den Mittelpunkt: Familie ist eine Verantwortungsgemeinschaft zwischen Eltern und Kindern bzw. zwischen Kindern und Eltern. Prägnanter ausgedrückt: Familie ist überall dort, wo Kinder sind. Ehe und Haushaltsgemeinschaft sind für eine Familie demnach nicht länger bestimmend. Damit zeichnet sich ein neuer, weiter gefasster Familienbegriff ab, der auch zunehmend anerkannt wird. –– Die dritte Position ist noch offener gefasst, sie macht Familie am Vorliegen von Solidarbeziehungen fest. Familienartig ist danach jede exklusive Solidargemeinschaft zwischen zwei oder mehr Personen, die auf relative Dauer ausgerichtet ist. Familie ist also auch dort, wo keine Kinder sind. In Deutschland ist diese Auffassung vergleichsweise wenig etabliert, in einigen anderen europäischen Ländern, etwa in Schweden, Dänemark und in Frankreich, existieren hingegen bereits rechtliche Grundlagen, in denen solche Lebensformen berücksichtigt werden. Warum ist es wichtig, diese Sichtweisen zu kennen? Der Definition von Familie kommt deshalb eine große Bedeutung zu, weil mit der Antwort Lebensformen gesellschaftlich legitimiert werden und damit in die Schutz- und Förderungswürdigkeit des Staates gelangen, man bewegt sich also auf der Ebene rechtlicher und auch finanzieller Fragen. Laut Art. 6 des Grundgesetzes erscheinen als schutz- und förderungswürdig alle Lebensformen, die im gegenseitigen Eintreten der Partner füreinander gründen, auf längere

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Was ist und was soll Familie? Einige Annäherungen

Dauer ausgerichtet sind und daneben weitere Lebensformen ähnlicher Art ausschließen (z. B. Peuckert, 2008). Die drei demnach wesentlichen Merkmale Solidarität, Exklusivität und relative Dauerhaftigkeit bilden ein gutes Fundament für moderne Vorstellungen von Familie. Sie sind unter Hinzuziehung der Kriterien, dass eine Person der Familie freiwillig angehört und dass die Beziehung im Einvernehmen besteht, geeignet, die auf dem Kirchenrecht und dem bürgerlichen Recht basierende Normierung auf der Basis einer Kernfamilie abzulösen. Die Doppelgestalt von Familie … Nähern wir uns nicht über den öffentlichen Diskurs, sondern über eine sozialwissenschaftliche Betrachtung der Familie an, präsentiert sich Familie als soziale Institution, die in ihren sehr vielfältigen historischen Erscheinungsformen durch die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse geprägt ist. Gleichzeitig ist Familie aber auch ein individuell gestaltetes soziales Beziehungsnetz und damit eine sehr wandelbare Konstruktion, die jeweils subjektiv mit Sinn versehen wird (grundlegend König, 1976). Familie hat also eine Doppelgestalt: Sie ist zugleich eine Lebensform, die durch Strukturen und Erwartungen repräsentiert ist, sowie ein Entwicklungsprozess, der sehr dynamisch und wechselhaft verlaufen kann und durch Übergänge, Lebensphasen, Kontinuitäten und Brüche gekennzeichnet ist. Familie ist folglich kein konsistentes und homogenes Gebilde, sie besteht vielmehr aus ganz verschiedenartigen Teilen, die sich unterschiedlich wandeln und jeweils einer eigenen Logik folgen. Die wichtigsten dieser Teile sind Partnerschaft, Elternschaft (wobei hier zwischen Vater- und Mutterschaft zu differenzieren ist), Generationen-, Verwandtschafts- und Geschwisterbeziehungen. Darauf wird in den weiteren Kapiteln noch ausführlicher einzugehen sein.

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Phantasmen der Familie

… und weitere soziologische Perspektiven auf Familie Soziologisch können weiterhin sechs theoretische Perspektiven unterschieden werden. Keine davon ist erschöpfend, keine ist richtig oder falsch. Um ein möglichst umfassendes Bild von Familie zu gewinnen, und davon, wie unterschiedlich sie gedeutet werden kann, werden diese kurz vorgestellt (zum Überblick: Schneider, 2008; Huinink u. Konietzka, 2007; Nave-Herz, 2009). –– Familie als soziale Institution. Aus dieser Sicht erscheint Familie vor allem als Gefüge von Rollen und Verhaltenserwartungen (z. B. Schelsky, 1967). In den Blick geraten soziale Rollen, etwa die Rolle der Mutter, des Vaters oder des Ehemanns. Es ist weniger entscheidend, wer die Rolle einnimmt, wichtiger ist, dass die Rolle als solche besetzt ist. Diese Perspektive war bis in die 1950er Jahre dominierend. Rollen waren meist sehr genau definiert, es war in hohem Maße eindeutig, wie die innehabende Person die Rolle auszufüllen hatte. Eine individuelle Ausgestaltung der Rolle war nicht vorgesehen, Rollenabweichungen wurden streng sanktioniert. Heute sind Rollen diffuser geworden, die Gestaltungsfreiheit ist gewachsen. Räume für Abweichungen sind kleiner geworden und es bedarf größerer Abstimmungsleistungen im familialen Miteinander (vgl. Kapitel 4 und 5). –– Familie als Kleingruppe besonderer Art. Das Kennzeichen dieser Kleingruppe sind die intensiven Interaktionsbeziehungen zwischen den Familienmitgliedern. Solche Beziehungen sind auch in anderen Zusammenhängen anzutreffen, etwa unter Kollegen oder Sportkameraden. Die Familie unterscheidet sich von diesen aber dadurch, dass die Personen vollständig integriert sind und man praktisch alles übereinander weiß. Dieses Wissen ist Grundlage und Wesensmerkmal der Familie als Kleingruppe (Tyrell, 1983). Familie ist aus dieser Sicht, anders als bisher dargestellt, nur personenbezogen zu denken. Familie ist demnach

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Was ist und was soll Familie? Einige Annäherungen

zu verstehen als eine Solidargemeinschaft mit einem meist ausgeprägten Wir-Gefühl. –– Familie als soziales System. Zwei Fragen sind hier zentral: welche Funktionen Familie für die Gesellschaft hat und welche Leistungen sie für den Einzelnen erbringt. Familie gilt als Keimzelle der Gesellschaft, sie erbringt Funktionen, in denen sie nicht ersetzbar ist, damit ist sie unverzichtbar für die Gesellschaft (vgl. Kaufmann, 1995). Familie wird als zentral für die quantitative und für die qualitative Reproduktion der Gesellschaft angesehen. Quantitative Nachwuchssicherung erfolgt über die Geburt von Kindern, qualitative durch die Primärsozialisation, die Kinder in der Familie erfahren. Neben ihren gesellschaftlichen Funktionen erbringt Familie auch besondere Leistungen für die Familienmitglieder. Gründen wir eine Familie, sind damit in aller Regel viele subjektive Erwartungen verbunden, etwa an Geborgenheit, Schutz oder Unterstützung. Familie erhält hier ihren subjektiven Sinn. Aus psychologischer Sicht ist plausibel, dass es insbesondere dann zu Krisen kommen kann, wenn Familie diese Funktionen nicht wahrnimmt, wenn es dort zu Störungen kommt. –– Familie als soziales Unterstützungsnetzwerk. Diese vergleichsweise neue Perspektive sieht Familie als individuell konstruiertes Gefüge sozialer und emotionaler Unterstützung (z. B. Lenz, 2009). Die Festlegung, wer zur Familie gehört, wird allein durch den Einzelnen, nicht durch Gesetze oder Normen getroffen. Familie ist subjektiv und dynamisch. Das Zusammenleben und das Vorliegen einer Wirtschaftsgemeinschaft sind keine wesentlichen Merkmale von Familie. –– Familie als sozialer Prozess. In den bisherigen Perspektiven erscheint Familie als Strukturform. Das ist in dieser Sichtweise anders, Familie wird hier als biografischer Prozess angesehen, der sich über Übergänge, Ereignisse und daraus sich begrün-

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dende Phasen beständig fortentwickelt (exemplarisch Burkart u. Kohli, 1992). Typische Übergänge sind etwa die Heirat, der Übergang zur Elternschaft, Auszug der Kinder, Scheidung und Verwitwung. Familie entsteht als ein lebenslanger, kumulativer Erfahrensprozess. –– Familie als symbolisches Konstrukt. Familie erscheint aus dieser Sicht als Symbol für das, was wir darunter verstehen und kann nicht von außen definiert werden. Das ist die am wenigsten konkrete und subjektivste Auffassung. Es wurden sehr verschiedene Perspektiven vorgestellt, davon waren einige eher allgemein, andere sehr spezifisch. Viele dieser Unterschiede lassen sich aus dem Doppelcharakter der Familie (soziales Konstrukt und individuelle Gestaltung) herleiten. Es wurde deutlich, dass das Begreifen und der Umgang mit dieser Vielfalt Offenheit und Aufgeschlossenheit erfordern.

2.2 Eine kurze Sozialgeschichte der Familie Für ein angemessenes Verständnis der Familie und ihrer aktuellen Situation ist ein Blick in ihre Vergangenheit hilfreich. Eine umfangreiche kulturgeschichtliche Betrachtung des Wandels der Familie kann an dieser Stelle nicht geleistet werden, jedoch kann als Vergleichsfolie für Entwicklungen der jüngeren Zeit die Situation der vorindustriellen Familie in der Mitte des 19. Jahrhunderts – mit besonderem Fokus auf der Familie im bäuerlichen Bereich – knapp skizziert und die Frage nach ihren charakteristischen Merkmalen diskutiert werden.

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Eine kurze Sozialgeschichte der Familie

Jenseits der Großfamilie: Familien im 19. Jahrhundert Entgegen einer weit verbreiteten Überzeugung ist zunächst festzuhalten, dass es bereits damals eine erhebliche Vielfalt von Familienformen gab. Die Idee, die Großfamilie, in der drei Generationen harmonisch unter einem Dach zusammen leben und wirtschaften, sei die Normalform der vorindustriellen Familie, ist empirisch umfassend widerlegt (Mitterauer u. Sieder, 1991; Rosenbaum, 1982; Gestrich, 2008). Vielmehr existierte auch damals eine Vielfalt unterschiedlicher Familienformen, wozu beispielsweise auch nichteheliche Lebensgemeinschaften, Alleinerziehende und Stieffamilien gehörten. Aufgrund der hohen Zahl an Verwitwungen im mittleren Erwachsenenalter und der ökonomischen Notwendigkeit, die freie Position rasch wieder zu besetzen, ist es plausibel anzunehmen, dass die Verbreitung von Stieffamilien sogar höher war als gegenwärtig. Die Rückkehr zur Normalität der Vielfalt Die Vielfalt der Lebensformen blieb im Zeitverlauf weitgehend bestehen, es existierten zu jeder Zeit sehr verschiedenartige Konstellationen des familiären Zusammenlebens. Der historische Wandel der Familie hat jedoch bis in die 1960er Jahre zu einem Rückgang der Verbreitung der einzelnen Lebensformen geführt: Herausgebildet hat sich eine Monopolstellung der bürgerlichen Kleinfamilie. Dieser Zeitabschnitt, der auch als Golden Age of Marriage (z. B. Peuckert, 2008) bezeichnet wird, dauerte bis in die 1970er Jahre an. Seither können wir beobachten, dass sich Lebensformen jenseits der bürgerlichen Kleinfamilie wieder stärker verbreiten. Soziologen interpretieren diese Entwicklung als Pluralisierung der Lebensformen (Beck, 1986). Dabei handelt es sich nicht um die Entstehung eines völlig neuartigen Zustands, sondern vielmehr um eine Rückkehr zur Normalität der Vielfalt und eben nicht

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um eine »Auflösung der Familie«. Im längeren historischen Kontext sind die gegenwärtigen Tendenzen sehr viel weniger spektakulär. Sie erscheinen nur dann dramatisch, wenn man als Bezugspunkt für diachrone Vergleiche die historisch untypische Situation nach dem Zweiten Weltkrieg heranzieht. Diese stellt jedoch mit der vergleichsweise ausgeprägten Homogenität der Lebensformen eine historische Ausnahme dar. Der Abschied vom »Ganzen Haus« Familie war in der Vergangenheit als Ganzes Haus definiert, das heißt, zur Familie gehörten auch nicht verwandte Personen, vor allem das Gesinde und das Dienstpersonal. Ein ganz zentraler Bestandteil des Wandels der Familie ist das Verschwinden des Dienstpersonals aus der Familie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Familien verkleinerten sich zunächst nicht, weil weniger Kinder geboren wurden, sondern weil das Dienstpersonal aus der Familie ausgegliedert worden ist. Bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein wurden im Durchschnitt etwa fünf bis sieben Kinder je Frau geboren. Aufgrund der hohen Säuglings- und Kleinkindsterblichkeit erreichten jedoch oftmals nur zwei oder drei von ihnen das Jugendalter. Die Versorgung größerer Familien wäre den meisten Höfen ohnehin nicht möglich gewesen. In Gegenden mit Realteilung wurden die Schollen immer kleiner und damit die Familiengröße limitiert. In Regionen mit Anerbenrecht, gemäß dem nur ein Nachfahre erbte, waren die Höfe groß. Die nicht erbenden Brüder lebten als Knechte im Haus der Familie und pflegten Beziehungen, die heute als nichteheliche Lebensgemeinschaften bezeichnet werden. Diese nicht legitimen Beziehungen waren unerwünscht, wurden aber geduldet.

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Eine kurze Sozialgeschichte der Familie

Unsere Bilder von Elternschaft sind eine junge Entwicklung Familienbeziehungen waren damals sehr wahrscheinlich stärker instrumenteller Natur, als wir uns dies heute vorstellen können. Das galt in hohem Maße für die Beziehungen zu den Kindern. In den meisten Familien waren die Investitionen in Kinder gering. Ihre Aufgabe in den unteren Sozialschichten war es, möglichst früh und umfangreich ihren Anteil zum Überleben der Familie beizutragen. Überstieg die Zahl der geborenen Kinder die Versorgungsmöglichkeiten oder kamen Kinder aus nicht legitimierten Beziehungen zur Welt, verfügte man über Strategien, die Kinderzahl zu reduzieren. Systematische Vernachlässigung bis zum Tod war ebenso probat wie die Abgabe der Kinder in Findelhäuser oder an Familien mit einer zur ökonomischen Versorgung noch nicht ausreichenden Kinderzahl. Eine dauerhafte Weitergabe von Kindern im Alter von deutlich unter zehn Jahren war keine Seltenheit. Dabei waren die Personen, an die Kinder abgegeben wurden, oft selbst noch jung oder arm und vollständig mit Arbeit zum Lebensunterhalt beschäftigt. Es wurde sich um Kinder nur in notwendigem Maße gekümmert – Priorität hatte das Auskommen. Aber auch im Bürgertum bestand vielfach eine große Distanz zu den eigenen Kindern (vgl. Kapitel 5). Das Wohl der Kinder wurde Stillammen, Kindermädchen, Hausdamen und Hauslehrern übertragen. Die Mütter blieben auf Distanz und die Väter hatten vielfach keine persönliche Beziehung zum eigenen Nachwuchs. Typisch für die vorindustrielle Familie waren die starren Machtverhältnisse zugunsten des Mannes und die patriarchale Grundordnung. Ein prominentes Beispiel: Thomas Mann ließ sich angeblich sogar noch von seinen erwachsenen Kindern siezen. Die Idee, dass Eltern in einem herzlichen Verhältnis zu ihren Kindern stehen, dass sie diese als Persönlichkeiten wahrnehmen, dass sie sich liebevoll um diese kümmern, ist also recht jung – die

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ökonomischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen haben dies nicht immer zugelassen. Die instrumentelle Prägung der familialen Beziehungen Ein weiteres markantes Merkmal der vorindustriellen Familie war die Allgegenwart des Todes, der neben der hohen Säuglings- und Kindersterblichkeit häufig im mittleren Erwachsenenalter auftrat. Im Unterschied zu heute lag, von Kriegszeiten abgesehen, bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Lebenserwartung von Männern über der von Frauen. Die Ursache lag in deren hoher Kindbettsterblichkeit. Das hohe Sterberisiko führte gemeinsam mit dem hohen Heiratsalter zu einer im Vergleich zu heute kürzeren durchschnittlichen Ehedauer und es hatte zur Folge, dass die Familienentwicklung durch eine besondere Dynamik von Verwitwung, Wiederheirat und erneuter Verwitwung gekennzeichnet war. Es ist anzunehmen, dass die Zahl beendeter Ehen ähnlich hoch oder sogar höher als in der Gegenwart lag – wenn auch eine Verschiebung der Ursachen stattgefunden hat, vom Tod eines Partners hin zu Trennungen oder Scheidungen (vgl. Kapitel 6). Darüber hinaus waren viele Ehen in der damaligen Zeit während ihrer gesamten Bestandsdauer durch die Abfolge von Schwangerschaft und Geburt gekennzeichnet. Der Geburtenabstand zwischen dem ersten und dem letzten Kind betrug oftmals 15 oder mehr Jahre. Die sogenannte Empty-nest-Phase, also die Zeit nach dem Auszug des letzten Kindes aus dem Elternhaus, war damals nahezu unbekannt, heute stellt sie die längste Phase einer Ehe dar. Auf diese Phase wird an späterer Stelle vertiefend eingegangen. Eine spezielle Dynamik besaß die Beziehung zu den alten Eltern. Ein zentrales Thema gerade bei Bauernfamilien war die Hofübergabe. Die Hofübergabe von der alten zur mittleren Generation ging für die ältere Generation mit einem starken Machtverlust von einem Tag auf den anderen einher. Die Alten lebten fortan im Austrag oder

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Eine kurze Sozialgeschichte der Familie

auf dem Altenteil, einer meist schlichten Behausung am Rande des Hofgrundstücks. Sie waren dort nicht selten als Leistungsempfänger auf das Wohlwollen der übrigen Familienmitglieder angewiesen. Während heute die Generationenbeziehungen durch ein reges Miteinander und den Austausch von Dienstleistungen sowie von materiellen Transfers gekennzeichnet sind, wobei die Transfers in aller Regel von den Alten zu den Jungen fließen, war dies früher in ausgeprägterer Weise umgekehrt der Fall. Der wahrscheinlich markanteste Wandel vollzog sich jedoch nicht im Kern der Familie, sondern an ihren Rändern. Die Rede ist vom Gestaltwandel der erweiterten Verwandtschaft und vom Verschwinden ihrer besonderen Bedeutung als Kontroll- und Sanktionsinstanz. Verwandtschaft hat sich in den vergangenen 150 Jahren von einem meist weit verzweigten horizontalen Netz an Seitenverwandten zu einer drei oder vier Generationen umfassenden vertikalen Struktur verändert, wobei auf jeder Ebene nur noch wenige Personen vorhanden sind. Sie hat heute für viele nur noch eine untergeordnete Bedeutung, in der Vergangenheit hat »die Verwandtschaft« hingegen sehr intensiv auf das Leben der Einzelnen Einfluss nehmen können. Kein »Hort der Harmonie« Zusammenfassend ist festzuhalten, dass im Hinblick auf die vorindustrielle Familie zahlreiche Mythen existieren und falsche Vorstellungen vorherrschen, die teilweise bis heute unser Denken prägen und die Grundlage unseres bürgerlichen Ehe- und Familienrechts darstellen, das Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt wurde und im Bürgerlichen Gesetzbuch seit 1900 festgeschrieben ist. Die Realität der vorindustriellen Familie sah meist anders aus. Not und Knappheit sowie starre Machtverhältnisse und strenge Regelungen des richtigen Familienlebens wirkten beengend und ließen der individuellen Entwicklung wenig Spielraum. Ein Hort der Harmonie und

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des Glücks dürften nur wenige Familien gewesen sein, ihre Hauptfunktion bestand darin, gemeinsam das Überleben zu sichern oder, in den oberen Schichten, gemeinsam den Status und den Wohlstand zu mehren. Beziehungen um ihrer selbst willen, wie sie heute Grundlage der Familie sind, waren dagegen weithin unbekannt.

2.3 Zur gegenwärtigen Vielfalt der Familienformen Normalität im Sinne von Selbstverständlichkeit, Regelmäßigkeit und Vorhersehbarkeit gibt es heute weit weniger als noch vor vierzig, fünfzig Jahren. Das ehemalige Standardmuster der bürgerlichen Kernfamilie hat seine Monopolstellung verloren, die es noch im Golden Age of Marriage hatte. An die Stelle einer relativ großen Einheitlichkeit ist, wie beschrieben, eine Vielfalt der Lebensformen und – noch wichtiger – der Lebensverläufe getreten. Diese sind heute weit offener für individuelle Planung und Gestaltung als noch in der Vergangenheit. Zwar ist der Einfluss gesellschaftlicher Normen und Strukturen nicht verschwunden. Wie jedoch auch innerhalb der Individualisierungsthese (Beck u. Beck-Gernsheim, 1989) diskutiert wird, haben sich die Gewichte verschoben: von größerer gesellschaftlicher Prägung und Kontrolle der Lebensführung hin zu mehr individueller Entscheidungsfreiheit. Wahlfreiheit und Entscheidungszwang Diese Entwicklung ist für viele durchaus nicht nur positiv. Viele Menschen sehen sich heute mit einer Optionsvielfalt konfrontiert, die sie kaum noch bewältigen können. Die neu gewonnene Wahlfreiheit wird oftmals auch als Zwang erlebt, sich entscheiden zu müssen. Die teilweise Auflösung traditioneller Geschlechterrollen und damit tendenziell eindeutigerer Zuständigkeiten macht es für die Menschen zunehmend erforderlich, ihre eigenen Arran-

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Zur gegenwärtigen Vielfalt der Familienformen

gements zu entwickeln. Es entsteht eine oft permanente Notwendigkeit zur Aushandlung, ein Druck, der nicht immer erfolgreich bewältigt werden kann. Wichtige Entwicklungslinien des Wandels der Familie Betrachtet man den Wandel der Familie in den letzten vier Dekaden und versucht, einige der besonders bedeutsamen Entwicklungslinien herauszuarbeiten, zeigen sich folgende Muster, auf die auch innerhalb der folgenden Kapitel vertiefend eingegangen wird. Demografisch gesehen fallen jene Prozesse auf, die von Tyrell (1988) als »De-Institutionalisierung der Ehe« beschrieben wurden (vgl. auch Kapitel 3). Die Heiratsneigung ist gesunken und die Scheidungsrate stark gestiegen. Es zeigen sich ein ausgeprägter Aufschub der Familiengründung, rasch steigende Anteile nichtehelich geborener Kinder (dies insbesondere in Ostdeutschland) und die rasante Zunahme dauerhaft kinderloser Personen (vgl. Kapitel 3 und 4). An die Stelle von Kindern treten jedoch nicht Vereinzelung und Verantwortungslosigkeit, sondern Partnerschaften und soziale Netzwerke, die intensiv gepflegt werden und anstelle der klassischen Familie Zugehörigkeit, Solidarität und Identität vermitteln können. Mit Blick auf die äußere Struktur von Familien fällt auf, dass die Verbreitung sogenannter nicht konventioneller Lebensformen (jenseits der bürgerlichen Kernfamilie) seit den 1970er Jahren beträchtlich zugenommen hat. Im Alter zwischen 40 und 44 Jahren lebt – nach den Ergebnissen des Mikrozensus 2010 – gegenwärtig nur noch knapp die Hälfte der Deutschen in einer Ehe mit Kindern unter einem Dach (vgl. Tabelle 1, S. 62), ein wachsender Teil lebt allein oder als Paar ohne Kinder. Dabei bestehen durchaus beachtliche regionale Unterschiede in Deutschland, die sich vor allem an der Ost-West-Differenz kristallisieren. Hervorzuheben sind in dieser Hinsicht vor allem die weitaus stärkere Erwerbsbeteiligung von

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Müttern in Ostdeutschland und die annähernd doppelt so hohen Anteile nichtehelicher Geburten im Osten (vgl. Kapitel 4). Blickt man auf die Binnenstruktur der Familie, zeigen sich bedeutsame Veränderungen der Beziehungen zwischen Partnern oder Eltern und Kindern. Die starke Aufgabenorientierung der Familie der Vergangenheit weicht einer Beziehungsorientierung. Die Befriedigung, die die Familienmitglieder aus ihren Beziehungen erfahren, rückt zunehmend in den Mittelpunkt. Die Wahrung individueller Autonomie und die Herstellung von Gemeinsamkeit befinden sich im Wettstreit. Die Balance zwischen familialer Einheit und individueller Unabhängigkeit kann sich dabei als große Herausforderung erweisen. Waren früher Zuneigung, Liebe, aber auch Verpflichtungen die Fundamente der Familie, gewinnen in der Gegenwart Nutzenkalküle an Bedeutung, Familie und innerfamiliäre Beziehungen werden zunehmend wissenschaftlich-rationalen Bewertungs- und Qualitätsmaßstäben unterworfen (exemplarisch Esser, 2002). In der schieren Vielzahl von Experten und Ratgebern zum Gelingen von Partnerschaft, Elternschaft und Familienleben spiegelt sich einerseits die Suche nach Orientierung wider, andererseits können damit auch individuelle Ansprüche oder Leitgedanken etabliert und bestärkt werden – auch über das realisierbare Maß hinausgehend. Der Vergleich von Erwartung und Realität bzw. Realisierbarkeit kann für manche Menschen im Verzicht auf eine eigene Familie münden (»Wenn Familie nur so gelingt, dann nicht.« bzw. »Das gelingt ja ohnehin nicht.«) und für jene, die bereits Familie haben, mit steigender Unzufriedenheit einhergehen (»Warum gelingt das denn nicht?«). Solche Formen der Idealisierung und Überhöhung der Familie können zu ihrer Destabilisierung beitragen. Hinzu kommt, dass sich das Familienleben heute immer stärker im Spannungsfeld gestiegener Erwartungen an Partnerschaft und Elternschaft auf der einen Seite und wachsender Anforderungen an die Berufstätigen hinsichtlich der Verfügbarkeit und Flexi-

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Die Lebenslaufperspektive

bilität auf der anderen Seite befindet. In Zeiten erhöhter Forderungen nach mehr Wettbewerbsfähigkeit auf dem globalisierten Markt können Verbindlichkeiten im Privatbereich als Karrierehindernisse angesehen werden, vor allem für Frauen – weshalb viele auf Kinder und dauerhafte Partnerschaften verzichten. Die Familie in der »flexiblen Gesellschaft« Die Formel der flexiblen Gesellschaft, wie sie von Richard Sennett (2006) beschrieben wurde, beweglich zu bleiben und keine langfristigen Verpflichtungen einzugehen, fordert mehr und mehr auch die Familie heraus. Die traditionelle bürgerliche Familie hat ein spezifisches Bewusstsein hervorgebracht, das bis Mitte des 20. Jahrhunderts passgenau den Grundlagen und der Funktionslogik damaliger gesellschaftlicher Bedingungen entsprach: Tradition, Disziplin, Loyalität, hierarchische Strukturen, alles in allem: außengesteuerte soziale Bindungen. Diese Bedingungen haben sich verändert. Am deutlichsten wird das in der Arbeitswelt. An die Stelle dieser ein­ stigen Tugenden sind Eigenschaften getreten wie Flexibilität, die Bereitschaft zur Veränderung und frei wählbare, leicht aufkündbare Bindungen. Die Gestaltung von Familienbeziehungen hat hier nur zwei Alternativen: Sie orientiert sich an dieser Unverbindlichkeit oder sie schafft eine Gegenwelt zur Öffentlichkeit, einen Rückzug ins Private und eine Konfliktlinie an der Nahtstelle zwischen öffentlicher und privater Sphäre.

2.4 Die Lebenslaufperspektive: Die Familie entwickelt und verändert sich lebenslang Bisher bezog sich unsere Beschreibung der Familie eher auf soziologisch-demografische und historische Perspektiven. Dabei wurde auch die Lebensverlaufsperspektive benannt. Es lohnt sich, die

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Familie aus dieser Perspektive in den Blick zu nehmen und zu fragen, welche Veränderungen sich dort vollzogen haben. Was geschieht in Familien, von deren Gründung bis zu der Phase, in der die (alten) Eltern ohne Kinder leben, und wie haben sich die verschiedenen Phasen in der Familienentwicklung verändert? Einige Beispiele wurden bereits genannt, etwa die spätere Erstelternschaft oder das gestiegene Heiratsalter. Aber auch die Beelterung der Kinder dauert heute länger an, oft bis ins Erwachsenenalter. Zugleich gibt es Mythen und Phantasmen, wie Familie idealerweise auszusehen hat – diese Konzepte sind sehr statisch und können Eltern regelrecht erdrücken. Es wird viel zu wenig bewusst gemacht, welche rasante Dynamik die Familienentwicklung hat und dass in jeder Phase ganz unterschiedliche Herausforderungen und Risiken stecken, die letztlich zum Gelingen oder Scheitern der Familie als Ganzes führen können. Solchen starren Konzepten soll an dieser Stelle die Anpassungsfähigkeit der Familie an sich wandelnde Anforderungen entgegengehalten werden. Familienentwicklung: Was ist das überhaupt? Die Familie ist aus psychologischer Sicht eine (Zwangs-)Gemeinschaft von Eltern und Kindern mit hoher Intimität. Wie schon vorher beschrieben, wurde dies dadurch begünstigt, dass das Gesinde, Knechte und Mägde aus dem »Ganzen Haus« ausgegliedert wurden und in den letzten Jahrzehnten eine deutliche Reduktion der Familiengröße stattfand, sodass wir meist von der Kern- oder Kleinfamilie sprechen, in der wenige Mitglieder, das heißt Vater, Mutter und einige Kinder, leben. Dadurch ergeben sich verschiedene Spannungsfelder, zwischen den Einzelnen und zwischen den Generationen, als charakteristische Merkmale. So wie sich der Einzelne entwickelt, so entwickelt sich auch die Familie als Ganzes und hat in verschiedenen Phasen ganz unterschiedliche Herausforderungen zu meistern und Anpassungen zu leisten.

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Die Lebenslaufperspektive

Um zu verdeutlichen, was Familienentwicklung heißt, greifen wir auf ein Modell von Duvall (1977) zurück. Es unterscheidet sieben verschiedene Phasen, in denen jeweils charakteristische Familienaufgaben gelöst werden müssen. Es ist ein normativer Familienzyklus, der von einer traditionellen Vorstellung und Rollenverteilung ausgeht: davon, dass die Familie aus einem Vater, der Alleinernährer ist, einer Mutter, die Hausfrau ist, und zwei Kindern besteht (den sog. Dick-and-Jane-Familien). Die von Duvall zum damaligen Zeitpunkt festgelegten Familienentwicklungsstadien beginnen mit dem kinderlosen Paar. Die nächste Familienentwicklungsphase ist die der Geburt des ersten Kindes, dann folgen die Phasen der Familie mit Kindern in der Vorschulzeit, der Familie mit Kindern im Schulalter, der Familie mit jugendlichen Kindern. Schließlich folgen die Leere-Nest-Phase, in der die Kinder aus dem Elternhaus ausgezogen sind, sowie die nachelterliche Gefährtenschaft, das heißt, das Elternpaar lebt ohne Kinder. Diese Phase hat sich, historisch betrachtet, enorm verlängert. Wie sehen Mütter und Väter die Beziehungen in verschiedenen Phasen der Familienentwicklung? Interessant ist, und das zeigte sich schon in den ersten Untersuchungen, die auf der Grundlage des Modells von Duvall gemacht wurden (vgl. Seiffge-Krenke, 2009a), dass Mütter und Väter verschiedene Aspekte der Familienbeziehungen über den Zeitverlauf sehr unterschiedlich einschätzen. Beide Eltern haben die Qualität der familiären Beziehungen eingeschätzt. Zu dem Zeitpunkt, an dem das Paar noch kinderlos ist, wird die Qualität am besten eingeschätzt. Auch in der Phase mit kleinen Kindern wird die Qualität der Beziehungen noch relativ hoch eingeschätzt, aber mit deutlich abnehmender Tendenz (vgl. Abbildung 1).

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Abbildung 1: Einschätzungen der Qualität der familiären Beziehungen in verschiedenen Phasen der familiären Entwicklung aus der Sicht von Müttern und Vätern (Seiffge-Krenke, 2009a, S. 162)

Wenn aus Kindern Jugendliche werden, verschlechtern sich die familiären Beziehungen dramatisch und haben einen Tiefpunkt zu dem Zeitpunkt erreicht, zu dem die Kinder das Elternhaus verlassen. Danach erholt sich die Beziehung wieder. Es ist aber auffällig, dass über praktisch die gesamte Spanne hinweg die Männer das etwas anders sehen als die Frauen. Hinsichtlich der partnerschaftlichen Kommunikation sind die Unterschiede noch deutlicher (vgl. Abbildung 2). Frauen geben charakteristische Einbrüche in der Qualität der partnerschaftlichen Kommunikation an, wenn die Kinder geboren werden. Die partnerschaftliche Kommunikation erreicht einem Tiefpunkt, wenn die Kinder das Haus verlassen; es kommt zu einer gewissen »Erholung« danach, wenn die Kinder das Elternhaus verlassen haben. Die Kommunikation zwischen den beiden Partnern wird also wieder besser. Die Väter sehen dies über die gesamte Zeit hinweg sehr viel positiver als Mütter. Sie nehmen nicht so sehr wahr, dass sich ein Einbruch, eine deutliche Verschlechterung in der Kommunikation vollzogen hat.

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Die Lebenslaufperspektive

Abbildung 2: Einschätzungen der Qualität der partnerschaftlichen Kommunikation in verschiedenen Phasen der familiären Entwicklung aus der Sicht von Müttern und Vätern (Seiffge-Krenke, 2009a, S. 162)

Als letztes Beispiel betrachten wir, wann eine Scheidung erwogen wurde. Sie wurde zu einem Zeitpunkt erwogen, als die Kinder sehr klein waren, also im Vorschulalter, und dies wiederum deutlich häufiger von den Frauen als von den Männern (vgl. Abbildung 3). Ein zweiter Gipfel in den Überlegungen zu einer möglichen Trennung zeigt sich um den Zeitpunkt herum, wenn die Kinder aus dem Haus sind. Diese beiden Zeitpunkte erwiesen sich insgesamt als besonders bedeutsam für die Paarentwicklung. Sie verdeutlichen, dass der Prozess des Elternwerdens, aber auch das Ende der aktiven Elternschaft vermehrt Reflexionen in Gang setzen darüber, wie Elternschaft gestaltet werden und gleichzeitig wie die Paarbeziehung gelebt werden sollte. Was bis heute gleich geblieben ist: Die kritischere Sicht der Frauen und Mütter Obwohl die Überlegungen und Untersuchungen zu diesem Modell schon recht alt sind und wir heute nicht mehr ganz so viele Dick-

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Abbildung 3: Überlegungen bezüglich einer Scheidung in verschiedenen Phasen der familiären Entwicklung aus der Sicht von Frauen und Männern (Seiffge-Krenke, 2009a, S. 162)

and-Jane-Familien haben (also Familien mit einem traditionellen Ernährermodell, einem Vater als einzigem Ernährer, einer Mutter, die Hausfrau ist und zwei Kindern), zeigt die weitere Forschung auf, dass die grundsätzlichen Aussagen dieser ersten Studien sich auch heute nahezu unverändert bestätigen lassen (Schneewind, 2010). Dazu zählt die deutlich negativere Beurteilung der Frauen und Mütter, die Talfahrt der positiven Beziehungsaspekte, die sich erst nach Auszug der Kinder etwas erholen, und die häufiger durch Frauen initiierten Trennungen. Veränderte Familienentwicklung: Trotz geringerer Kinderzahl längere Beelterung Auch wenn in Deutschland die Familie mit beiden Eltern noch die dominante Familienform von Personen im Alter zwischen 25 und 44 ist, gibt es doch eine Vielzahl von Varianten, wie beispielsweise die zunehmende Zahl Alleinerziehender, von Stieffamilien, bei denen Partner mit Kindern aus früheren Beziehungen zusam-

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Die Lebenslaufperspektive

menziehen, oder von sogenannten Regenbogenfamilien, in denen gleichgeschlechtliche Partner gemeinsam Kinder aufziehen. Mit diesen nun verbreiteteren Familienformen werden wir uns verstärkt in den späteren Kapiteln beschäftigen. Hier wollen wir zunächst auf die Familie mit beiden Eltern, Vater und Mutter, als dominante Familienform eingehen und uns die Frage stellen: Was hat sich daran historisch geändert und wie sieht es heute aus? Heute werden in einer kürzeren Zeitspanne im Lebenslauf weniger Kinder geboren. Die eigentliche Elternschaft als Zeit im Lebenslauf ist nun sehr begrenzt, während früher, wie bereits erwähnt wurde, eine Frau, wenn sie mit 18 oder 20 Jahren geheiratet hatte, fast ihre gesamte fruchtbare Zeit Kinder bekommen hat – wenn sie nicht im Kindbett verstorben ist. Im Vergleich dazu gibt es heute eine relativ kurze Elternschaft, die erst sehr spät begonnen wird, durchschnittlich erst um das dreißigste Lebensjahr. Die Frage, warum die Elternschaft erst so spät realisiert wird, ist vielschichtig, wie in Kapitel 4 erläutert. Es ist in diesem Zusammenhang aber zu bedenken, dass die finanzielle Absicherung durch die verlängerten Ausbildungszeiten erst relativ spät erfolgt. Die verlängerten Ausbildungszeiten sind auch ein Grund dafür, dass sich das Auszugsalter der (erwachsenen) Kinder stark nach hinten verlagert hat. Im Alter von 22 Jahren leben noch 42 % der jungen Frauen und über 60 % der jungen Männer im elterlichen Haushalt (Statistisches Bundesamt, 2010b). Die Frage, wann eigentlich Elternschaft endet, stellt sich also heute anders als früher. Trotz der geringen Kinderzahl ist die Beelterung inzwischen eine fast lebenslange Aufgabe, zumindest eine sich zeitlich deutlich länger erstreckende Aufgabe geworden. Noch in den 1980er Jahren war die nachelterliche Gefährtenschaft, das heißt die Zeit, die das alte Paar ohne Kinder verbringt, länger als die mit den Kindern verbrachte Zeit. Inzwischen haben wir aber, vor allem unter bestimmten Bedingungen (Nesthocker, »Hotel Mama«), eine Verlängerung der »gelebten« Elternschaft. Das bringt, wie wir noch zeigen werden, durchaus auch Probleme in der Familie mit sich.

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2.5 Enorme Herausforderungen: Familien mit kleinen Kindern, mit Jugendlichen und erwachsenen Kindern Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Familie früher etwas anderes hieß als heute und dass sich sowohl die Familiengröße bzw. die Kinderzahl als auch die Qualität der innerfamiliären Beziehungen stark gewandelt haben. Nun ist es sinnvoll, sich der Entwicklung innerhalb einer Familie genauer zuzuwenden und die Familie unter der Lebenslaufperspektive, das heißt ihrer Veränderung über die Zeit des Bestehens einer jeweiligen Familie, zu analysieren. Wir betrachten dazu aus den verschiedenen Familienentwicklungsphasen beispielhaft drei Phasen: Familien mit kleinen Kindern, Familien mit Jugendlichen und Familien mit erwachsenen Kindern, die bereits das Elternhaus verlassen haben (sollten). Es wird deutlich werden, wie sehr Entwicklungsdynamik der Kinder und Familiendynamik innerhalb der Familie ineinandergreifen. Es wird dabei auch offenkundig, dass jede dieser Phasen ganz besondere Herausforderungen an die Familie stellt. Familien mit kleinen Kindern: Enorme Entwicklungs­ progression der Kinder, Überwältigung und Erschöpfung der Eltern Insbesondere Frauen sehen die Entwicklung der Partnerbeziehung nach der Geburt von Kindern sehr viel kritischer, bereits in dieser Phase wird über Trennung nachgedacht. Diese Sicht der Partnerbeziehung ist konfrontiert mit einem rasanten Entwicklungstempo der Kinder: In Bezug auf die Motorik, die Sprachentwicklung, das Denken und die emotionale Entwicklung der Kinder gibt es keine Entwicklungsphase, in der eine solch rasche Veränderung auftritt. Die Eltern müssen also mit einer enormen Entwicklungsprogression ihrer Kinder Schritt halten und zugleich treten Scheidungen

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Enorme Herausforderungen

oder Überlegungen zur Trennung zu einem Zeitpunkt auf, zu dem die Kinder diese enormen Entwicklungsfortschritte machen. Wie ist es zu erklären, dass die erste Phase der Familienentwicklung, kurz nach der Geburt des ersten Kindes, so belastend ist? Dazu muss man sich vergegenwärtigen, dass von einem Tag auf den anderen eine drastische Umstellung der Partnerschaft auf Elternschaft erfolgen muss. Die 24-Stunden-Rundumversorgung eines neugeborenen Babys bringt für das Paar eine völlig neue Situation mit sich, auf die es, trotz möglicherweise besuchtem Kurs der Elternschulung, so nicht eingestellt war. Gloger-Tippelt (1988) bezeichnet die ersten drei Monate nach der Geburt als die Phase der Überwältigung und Erschöpfung: Das Paar ist begeistert und überwältigt, zugleich aber auch durch die Rundumversorgung tagsüber und nachts und den unterbrochenen Schlafrhythmus erschöpft. Für manche Paare ist dies so beeinträchtigend, dass Gloger-Tippelt vom Erste-Kind-Schock spricht – diese Paare werden kein weiteres Kind mehr bekommen. Der allmählich regelmäßigere Schlaf-Wach-Rhythmus und die regelmäßigeren Still- bzw. Fütterungszeiten führen dann etwa in der Zeit zwischen dem dritten und sechsten Lebensmonat des Babys zu einer Phase der Gewöhnung und Stabilität, in der die elterlichen Rollen zunehmend festgelegt und umgesetzt werden. Das Paar bemerkt spätestens jetzt, dass es nur noch sehr wenig Zeit füreinander hat, sehr stark ans Haus gebunden ist und spontane gemeinsame Unternehmungen (Kino, Ausgehen) nur mit erheblichem Organisationsaufwand (Wer betreut das Baby?) verbunden sind. Die persönliche Freiheit von Mutter und Vater für eigene Interessen, die Berufstätigkeit, ist enorm eingeschränkt und es muss jeweils zwischen den Partnern verhandelt werden, wer welche Freiheiten oder Pflichten hat. Babys und Kleinkinder sind aufgrund ihrer raschen Entwicklungsprogression in dieser Phase der Familienentwicklung sehr verletzlich, gleichzeitig sind aber auch die Eltern in dieser Phase

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besonders vulnerabel, besonders verletzlich. Dies macht sich unter anderem an erhöhten Raten bezüglich mütterlicher Depression bemerkbar. Wir werden in Kapitel 5 verstärkt darauf eingehen, dass die Ideologie der allein zuständigen Mutter bzw. das Konzept der Rabenmutter in Deutschland auch heute noch besonders wirkmächtig ist. In anderen Ländern gibt es zahlreiche Modelle, die zu einer größeren Entlastung und zu einem umfassenderen Schutz von frischgebackenen Müttern beitragen. Aus der Konstellation einer relativ hohen Erwartung an Elternschaft, verbunden mit einem stark gestiegenen Wert von Kindern bei gleichzeitig starker Erschöpfung, kann sich eine Negativdynamik ergeben. Wie wir in Kapitel 4 ausführlicher erläutern werden, sind hier wesentliche Gründe für den deutlichen Rückgang in der partnerschaftlichen Zufriedenheit zu sehen. Geburt des zweiten Kindes: Ein langer Weg, bis das Familiensystem sich wieder stabilisiert hat Die drastische Umstellung von der Paar- auf die Elternebene charakterisiert den Beginn der Elternschaft: Innerhalb der ersten sechs Monate tritt allerdings eine gewisse Stabilisierung auf und bis zum Ende des ersten Lebensjahres haben sich die meisten Eltern gut in ihre Elternrolle eingefunden. Der Trend geht immer noch zur Zwei-Kind-Familie; Menschen, die ein Kind bekommen, bekommen häufig auch ein zweites. Die Berliner Studie von Kreppner (1988) hat den Familienentwicklungsprozess der Integration des zweiten Kindes anhand von Beobachtungen, Videoaufnahmen und Interviews zu Hause genau untersucht. Es wurde festgestellt, dass es lange dauert, bis das neue Familienmitglied in das Familiensystem integriert ist. Insgesamt dauert es der Studie zufolge zwei Jahre, bis das Familiensystem wieder zur Ruhe gekommen ist. Es ist also ein wichtiger Aspekt, dass eine Familie weiß: Dies braucht Zeit!

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Kreppner und sein Forschungsteam beobachteten das Muster, dass die Mutter unmittelbar nach der Geburt vollständig auf das neugeborene Kind fokussiert und überhaupt keine Augen für das ältere Kind hat. Dieses ist dann »freigesetzt« und wird optimalerweise vom Vater betreut. Es dauert etwa bis zum sechsten Lebensmonat des zweitgeborenen Kindes, in manchen Fällen bis zum Ende des ersten Lebensjahres des nachgeborenen Kindes, bis die Aufmerksamkeitsverteilung von Vater und Mutter wieder gleich ist. Die Aufnahme dieses zweiten Kindes ins familiäre System ist endgültig aber erst dann abgeschlossen, wenn das Geschwistersystem abgetrennt werden kann von dem Elternsystem, wenn also klare Regeln vorherrschen und wieder eine Generationsdifferenz vorhanden ist (»wir Eltern« gegen »wir Kinder«). Das ist ein relativ langer Prozess, der insgesamt etwa zwei Jahre in Anspruch nimmt. Diese Zeitperspektive ist bei vielen Familien aus dem Blick geraten bzw. ist ihnen gar nicht bewusst: In Bezug auf die Trennungsbereitschaft von jungen Paaren lässt sich erkennen, dass ein erheblicher Teil der jungen Paare mit Kindern, die sich trennen, das zu einem Zeitpunkt tun, an dem das Familiensystem noch nicht wieder zur Ruhe gekommen ist. Das ist sehr wichtig für die Beratungsarbeit mit Familien. Entsprechende Variationen gibt es, wenn die Kinder in einem extrem kurzen oder langen Abstand geboren sind oder die Eltern sehr jung oder sehr alt sind. Immer aber ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen: Die Integration eines neuen Familienmitgliedes braucht Zeit. Vor diesem Hintergrund sollten Trennungen abgewogen werden. Diese Perspektive ist auch für die klinische Arbeit mit Trennungsfamilien interessant (vgl. Kapitel 6).

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Familien mit Jugendlichen: Turbulenz, aber dennoch Stabilität Im Verlauf der Familienentwicklung, das wurde gezeigt, beurteilen beide Eltern ihre Beziehung negativer. Auch zu dem Zeitpunkt, an dem Kinder ins Jugendalter kommen, ist das der Fall, allerdings noch nicht so ausgeprägt wie zu dem Zeitpunkt, an dem die Kinder das Elternhaus verlassen (sollten). Auch diese Phase ist durch eine rasche und dynamische Kindesentwicklung gekennzeichnet, wobei im Zentrum die körperlichen Veränderungen des Kindes zum Jugendlichen und die allmähliche Ablösung von den Eltern steht. Hervorzuheben ist, dass Väter in dieser Familienentwicklungsphase für ihre Kinder ein gutes Modell für Autonomie darstellen (Pfaff u. Seiffge-Krenke, 2008). Streitigkeiten zwischen den Eltern und den Jugendlichen, in denen es um das Aushandeln von Autonomie geht, sind häufig, aber auch für die Eltern untereinander bietet diese Phase Anlass für Konflikte. In dieser Phase wird jedoch gleichzeitig rege kommuniziert und Scheidung ist kein größeres Thema als in anderen Phasen, sondern sie wird sogar etwas seltener erwogen. Die Entwicklung vom Kind zum Jugendlichen ist sehr bedeutsam, und das Familiensystem, die Familie, muss enorme körperliche und psychische Veränderungen des Kindes bewältigen. Familien haben dazu unterschiedlich lange Zeit. Man muss sich verdeutlichen, dass die Zeit vom ersten Einsetzen der körperlichen Reife in einigen Fällen 1,6 Jahre, bei anderen Jugendlichen sechs Jahre dauert. Manche Eltern und Kinder müssen sich also auf einen möglicherweise sehr beschleunigten Reifungsprozess einstellen, während anderen noch länger Zeit bleibt, sich mit den Veränderungen auseinanderzusetzen. Hinzu kommt der zeitliche Beginn der Reife, das heißt die Frage, ob das Kind frühreif, gerade richtig oder spät reif ist. Zu einem entsprechenden Zeitpunkt stehen dann die Bewältigungsprozesse an. Bei zeitgerecht

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reifenden Jugendlichen ist die Frühadoleszenz, also die Zeit zwischen 12 und 14 Jahren, durch einen enormen Längenwachstumsschub und oft sehr wechselhafte Stimmungen gekennzeichnet. In der Frühadoleszenz kommt ein passagerer erhöhter Narzissmus hinzu: Die Jugendlichen sehen sich als den »Nabel der Welt« an, sind extrem empfindlich und selbstbezogen, in einer Weise, die für die Eltern außerordentlich irritierend ist und die mit entsprechenden Schwierigkeiten und Anpassungsproblemen verbunden sein kann (­Seiffge-Krenke, 2009a). Unabhängig davon, wie sicher die Kinder an ihre Eltern gebunden sind, verschlechtert sich die Eltern-Kind-Beziehung in diesem Alter (Seiffge-Krenke, 1999). Die emotionale Bindung an die Eltern nimmt deutlich ab (Waters, Merrick, Treboux, Crowell u. Albersheim, 2000), natürlich auch, damit der Jugendliche in Beziehungen außerhalb der Familie investieren kann, dies ist eine wichtige Voraussetzung. Die Rate an familiären Konflikten nimmt in der Frühadoleszenz stark zu, und das ist normativ, denn diese Konflikte haben eine positive entwicklungsfördernde Funktion in Richtung auf die Aushandlung von Interaktionen auf einer Augenhöhe. In der Entwicklungspsychologie existieren zahlreiche Studien zu diesen normativen, alltäglichen Konflikten, die zu mehr Autonomie des Kindes beitragen (Laursen, 1993). In der Spätadoleszenz, also mit etwa 16 bis 17 Jahren, nimmt die Konfliktrate wieder ab, was auch ein Zeichen dafür ist, dass die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern nun ebenbürtiger geworden sind. Gleichzeitig tauchen neue Familienmitglieder auf, Partner oder Partnerin der Jugendlichen müssen integriert werden. Das ist für manche Eltern nicht einfach. Ein ganz substanzieller Befund der Forschung zu dieser Entwicklungsphase von Eltern mit jugendlichen Kindern ist die Tatsache, dass 40 % der Mütter in Familien mit Jugendlichen über psychosomatische Beschwerden und depressive Störungen klagen (Silverberg u. Steinberg, 1990). Diese recht hohen Zahlen weisen darauf hin, dass die Mütter stär-

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ker als die Väter in die Alltagsbelange und entsprechend die Alltagskonflikte involviert sind und möglicherweise der zunehmenden Autonomie ihrer Kinder auch kritischer gegenüberstehen, als dies Väter tun. Wie erwähnt, wird allerdings die Trennung oder Scheidung in dieser Phase, wenn Jugendliche in der Familie leben, seltener erwogen als in anderen Phasen. Man sollte insgesamt die Positivfunktion von Konflikten beachten: ohne Konflikte keine Fortentwicklung. Im Übrigen bleibt, bei einer nicht mehr ganz so starken emotionalen Bindung wie früher, eine positive Grundbasis erhalten und die hohe Kommunikation deutet an, dass zwar zahlreiche Konflikte in der Familie bestehen, man sich aber auch rege austauscht und einander teilhaben lässt. Hinzu kommt, dass der Vater in Familien mit Jugendlichen als Modell für Autonomie jetzt stärker gefördert, gefordert und gefragt wird und der Prozess der Ablösung aus dem Elternhaus durch die Väter auch stärker vorangetrieben wird (Seiffge-Krenke, 2003a). Der stärkere Einbezug von Vätern in dieser Phase der Familienentwicklung, in der sie als gutes Modell für Autonomie stehen, ist möglicherweise auch eine wichtige Ressource gegen die Gefahr einer potenziellen Scheidung. Die Rolle und Funktion von Vätern wird uns in Kapitel 5 noch ausführlich beschäftigen. Divergenz der Interessenlage in Familien mit erwachsenen Kindern: Zwischen leerem Nest und »Hotel Mama« Im Auszugsverhalten der Kinder haben sich in den letzten Jahrzehnten starke Veränderungen ergeben. Während es in den 1990er Jahren noch deutlich verbreiteter war, dass die Kinder mit dem Schulabschluss und dem Beginn des Studiums oder Berufs auszogen, kann man seit einiger Zeit beobachten, dass Kinder heute später ausziehen. Einige Kinder bleiben auch noch bis Mitte oder

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Ende zwanzig bei den Eltern wohnen, oft sehr komfortabel in der Einliegerwohnung und mit vielfältiger materieller und instrumenteller Unterstützung durch die Eltern (»Hotel Mama«). Mit dreißig Jahren wohnt noch rund jeder achte Mann bei seinen Eltern (13 %, bei Frauen sind es 5 %); das »Hotel Mama« ist also besonders bei den Söhnen sehr beliebt (Statistisches Bundesamt, 2010b). Der Auszug aus dem Elternhaus ist kein ganz einfacher Untersuchungsgegenstand, weil es nicht eindeutig ist, wann ein Kind auszieht und wann die Ablösungsprozesse als beendet anzusehen sind. Ein klassisches Beispiel sind die Studentinnen oder Studenten, die am Studienort leben, aber (fast) jedes Wochenende mit einem Sack schmutziger Wäsche nach Hause fahren und sonntags dann mit sauberer Wäsche, einem Paket voller Lebensmittel und etwas »Benzingeld« zurückkehren. Die Phase des leeren Nestes ist historisch vergleichsweise neu. Gleichzeitig zeigt sich eine neue Dynamik: Kinder ziehen, auch aufgrund verlängerter Ausbildungszeiten, später von zuhause aus. Andererseits ist bei vielen, die zeitgerecht ausziehen, die Notwendigkeit oder der Anspruch an Versorgung gestiegen (vgl. dazu Kapitel 5). Im Falle von Stieffamilien wird das (vorübergehend) leere Nest zudem wieder gefüllt, wenn einer der Partner jüngere Kinder mit in die Beziehung bringt. In solchen Fällen hat man dann eine sehr dynamische Abfolge und Überlagerung von Phasen der Elternschaft. In der Auszugsphase der Kinder – mit wie erwähnt einem ganz unterschiedlich vollen oder leeren Nest – zeigen sich interessante Veränderungen. Die Kinder werden stark durch die Eltern unterstützt, zum einen instrumentell (Wäschewaschen, Kochen, Übernahme von Behördengängen), zum anderen auch materiell. In unseren eigenen Studien (Seiffge-Krenke, 2010c) unterstützen die Eltern bei zumindest einem Drittel noch bis zum Alter von Ende zwanzig ihre erwachsenen Kinder materiell. Gleichzeitig versuchen

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die Kinder, ihre Eltern emotional auf Distanz zu halten. Die Eltern dagegen zeigen ein enormes emotionales Investment (aber häufig auch ein enormes finanzielles Investment) und sind stark an ihren Kindern interessiert. Ganz plausibel ist hier die sogenannte Divergenz in der Interessenlage: Die Eltern interessieren sich sehr für ihre Kinder, tun sehr viel für sie, die Kinder nabeln sich ab, halten auf Distanz. In dieser Phase ist es gegenwärtig die ältere Generation, die die jüngere stützt – und das ist eine historisch neue Situation. Die jüngere Generation nimmt diese Unterstützung gern an, fordert sie zum Teil sogar ein. In der Paarentwicklung kann sich in der Auszugsphase der erwachsenen Kinder ebenfalls eine interessante Veränderung ergeben: Die Ehefrauen genießen jetzt vielleicht die Freiheit und engagieren sich mehr im Beruf. Die Männer haben in vielen Fällen ihren Berufszenit überschritten und möchten sich womöglich jetzt stärker familienorientiert zeigen, nur hat sich die Familie dann bereits verändert, es sind dann ja keine Kinder mehr im Elternhaus vorhanden. Deswegen wird möglicherweise auch die Scheidung erwogen: Die Familienpflichten sind erfüllt, das Elternpaar muss jetzt nicht mehr der Kinder wegen zusammenbleiben – und orientiert sich womöglich um. Die entwicklungspsychologische Forschung über die Determinanten des Auszugsverhaltens hat gerade erst begonnen. Studien belegen 50 % zeitgerecht ausziehende Kinder, die Zahl der Nesthocker beträgt 20 % (Seiffge-Krenke, 2006a; Papastefanou, 1997). Nesthocker sind in diesen Analysen definiert als Erwachsene, die bis zum Alter von 25, 26 Jahren immer noch nicht ausgezogen sind. Es zeigt sich im Übrigen, dass die jungen Erwachsenen, die zeitgerecht ausziehen, häufiger sicher gebunden sind (von Irmer u. Seiffge-Krenke, 2008). Hier bestätigt sich, was die Bindungstheorie behauptet: Auf der Basis einer sicheren Bindung entwickelt sich verstärkt ein Explorationsverhalten, was sich unter anderem auch am zeitgerechten Auszug deutlich machen lässt. Des Weite-

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ren gibt es deutliche Hinweise darauf, dass zu lange andauernde und unangemessen hohe Unterstützung beider Eltern die Kinder zu lange bindet. Interessant ist, dass die Entwicklungspsychologie inzwischen Ideen aufgreift, die die Psychoanalyse schon seit langem kennt. Margret Mahler hat bereits 1972 elterliche Separationsängste beschrieben, die sie in klinisch auffälligen Familien beobachtete. Rund vierzig Jahre später wurde diese Idee aufgegriffen und elterliche Separationsängste untersucht, und zwar in ganz normalen, klinisch nicht auffälligen Familien (Kins, Soenens u. Beyers, 2011). Die Ergebnisse dieser Studie bestätigen die Ideen und Beobachtungen Margret Mahlers: Es gibt Konstellationen, in denen die Eltern ihre Kinder zu stark brauchen, zum Beispiel in einer Ersatzpartnerfunktion oder bei einer starken Elternideologie, die es Eltern schwer macht, den Kindern eine eigenständige Entwicklung zuzugestehen. Andererseits spüren Kinder Sorgen, dies trifft insbesondere auf Töchter Alleinerziehender zu. Sie trauen sich nicht auszuziehen, weil sie Angst haben, einen depressiven Elternteil, eine depressive Mutter zurückzulassen. Auch diese Sorge kann für die Verzögerung im Auszugsverhalten (mit) verantwortlich sein. Ein Auszug geht aber, das wurde ja deutlich, in der Regel nicht mit abreißenden Kontakten einher, und das trotz gestiegener Mobilität (Schneider u. Meil, 2008). Rund 60 % der Personen können zumindest einen Elternteil binnen dreißig Minuten Fahrtzeit erreichen. Die Mobilität reißt die Generationen also nicht zwingend auseinander. Des Weiteren ist auch in diesem Zusammenhang zu bedenken: Je intensiver die jungen Frauen- und Müttergenerationen ins Erwerbsleben eingebunden werden, desto wichtiger kann die Rolle der Großeltern für die Enkelbetreuung werden (vgl. Kapitel 4 und 5). Es entsteht damit eine neue Aufgabe für viele Großeltern in der Phase des leeren Nestes, die dann vermehrt in die Betreuung ihrer Enkelkinder eingebunden sind.

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2.6 Welche Konsequenzen ergeben sich für die Arbeit mit Familien? Es wurde anhand der Lebenslaufperspektive deutlich, dass sich heute im Vergleich zu früher viele Veränderungen ergeben. Wir haben vier Punkte herausgearbeitet: eine vergleichsweise kurze Elternschaft, eine lange Nachelternschaft, den späten Beginn der Elternschaft und eine relativ lange Beelterung für diejenigen Kinder, die noch lange Nesthocker bleiben. Zugleich haben wir auf die Reduzierung der Familiengröße, die geringe Kinderzahl, die relativ traditionellen Elternrollen in Familien mit sehr kleinen Kindern hingewiesen. Was bedeuten nun diese Veränderungen im Familienzyklus für Beratung und Therapie? In Deutschland gibt es gegenwärtig relativ viele Präventions- und Interventionsprogramme für die Phase des Elternwerdens. Darauf werden wir in Kapitel 4 und 5 noch verstärkt eingehen. Es existieren mindestens sechs verschiedene gängige Programme in Deutschland. Auch in der Therapieausbildung und der Weiterbildung von Therapeuten und Beratern erfolgt eine intensive Auseinandersetzung mit dem Elternwerden und den Problemen von Eltern sehr kleiner Kinder. Hingegen werden Therapeuten und Berater wenig geschult, wie sie Eltern stützen können, die Kinder im Schulalter haben, oder wie man mit Eltern von Jugendlichen oder mit Kindern in der Auszugsphase arbeitet. Auch die unterschiedlichen Entwicklungsdynamiken für die einzelnen Phasen der Familienentwicklung sind viel zu wenig bekannt. Hierin steckt noch viel Entwicklungspotenzial für die klinische Therapie und die Beratung. Die eingangs dieses Kapitels erläuterte soziologische Perspektive hilft uns – um mit Freud zu sprechen –, »privates Unglück in gemeines Leiden« umzuwandeln. Wenn Eltern klarer ist, dass die jeweiligen familiären Entwicklungsphasen ganz spezifische Merkmale haben und sie vor besondere Schwierigkeiten stellen, dann kann dies zu großer Entlastung auf Seiten der Eltern führen und

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Welche Konsequenzen ergeben sich für die Arbeit mit Familien?

zugleich ihre Neugier dafür wecken, was in der jeweiligen Phase möglich ist und welche Herausforderungen auf sie warten. Dies zu vermitteln und Eltern dahingehend zu sensibilisieren, darin liegt eine wichtige Aufgabe in der Beratungsarbeit für Familien. Gleichzeitig werden die Möglichkeiten geringer, im Alltag beiläufig Kontakte mit Kindern zu haben und Erfahrungen im (richtigen) Umgang mit ihnen zu machen. Es werden weniger Kinder geboren, es gibt eine Vielzahl von Familien, in denen es gar keine Kinder gibt, dadurch sinken auch die dementsprechenden Lernmöglichkeiten im Alltag. Das Gespür dafür, was gut ist für Kinder, das Wissen, was angebracht ist, kann so verloren gehen. Zugleich muss daran gearbeitet werden, was Eltern brauchen. In der Elternarbeit ist demnach eine Selbst-Objekt-Differenzierung (was ist für Eltern angemessen, was für Kinder?) und die Differenzierung zwischen den Generationsgrenzen wichtig. Die Bedürfnisse von sehr kleinen Kindern, von Babys, sind sehr verschieden von denen ihrer Eltern, wie wir gezeigt haben, und die Eltern brauchen Unterstützung beim plötzlichen Übergang von der ausschließlichen Paarorientierung in die Rundumversorgung des Kindes als Elternpaar. In Bezug auf Eltern mit Jugendlichen wurde deutlich, dass es in der Regel in dieser Phase der Familienentwicklung viel Streit gibt, aber auch eine dynamische Fortentwicklung und die Familie hat zumeist während der Adoleszenz der Kinder Bestand. In der Beratungsarbeit von Eltern mit erwachsenen Kindern müssen wir uns die Schieflage in den Interessen verdeutlichen, einerseits zwischen den erwachsenen Kindern und den Eltern, aber auch die Schieflage in den Bedürfnissen der Mutter und des Vaters. Ursula Lehr (1991), Psychologin und frühere Familienministerin, hat nachgewiesen, dass damals die nachelterliche Gefährtenschaft – also die Phase ohne Kinder – etwa dreißig Jahre umfasste und damit eine viel längere Spanne als die Zeit, die die Eltern mit den jeweiligen Kindern unter einem Dach verbringen. Heute hat sich eine Verschiebung ergeben, dennoch ist die generelle Botschaft

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eindeutig: Die Zeit, in der man Eltern ist, ist kurz. Es werden wenige Kinder in einem kurzen Abstand geboren. Diese Kinder bleiben vergleichsweise lange im Elternhaus und werden von den Eltern stark finanziell unterstützt, sind aber in einer späteren Phase nicht mehr so sehr an den Eltern interessiert. Die Eltern haben schließlich eine relativ lange Phase der nachelterlichen Gefährtenschaft vor sich, die dann auch gestaltet werden muss. Durch die Verlängerung der Lebenserwartung kommen nun zunehmend die Kinder in die Situation, dass sie sich noch relativ lange um ihre alten und womöglich gebrechlichen Eltern kümmern müssen, wenn sie die Betreuung nicht Institutionen überlassen wollen. Das ist eine immer noch vergleichsweise neue Perspektive. Besondere Herausforderungen liegen in der Arbeit mit Stieffamilien, da sich hier verschiedene Phasen der Familienentwicklung überlagern können. Auch die Arbeit mit Familien gestaltet sich demnach, wie die Familie selbst, differenziert und dynamisch.

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3 Sozialer Wandel von Partnerschaft, Heirat und Ehe: Gibt es eigentlich etwas Komplizierteres als die Beziehung zwischen Mann und Frau?

In diesem Kapitel geht es um Partnerwahl, Partnerschaft, Heirat und Ehe. Wir wollen uns aus soziologischer Sicht mit drei Fragen beschäftigen: Warum sinkt die Heiratsneigung? Aus welchen Gründen heiraten Menschen heute? Wer heiratet wen? Wir werden feststellen, dass die Partnerwahl intensiven sozialen Regelmäßigkeiten unterliegt und dass die Entscheidung für oder gegen eine Heirat in hohem Maße sozial überformt ist und gar nicht so individuell und privat wie meist angenommen. Aus psychologischer Sicht geht es dann um die Frage, wie sich Partnerschaft im Zeitverlauf verändert, zum Beispiel: Wie entwickeln sich Partnerschaften – vom Jugendalter bis ins Erwachsenenalter? Wie sehen Männer und Frauen ihre Partnerschaft und was macht eine zufriedenstellende Partnerschaftsqualität aus? Warum gelingen und warum scheitern Partnerschaften? Partnerschaften können im Übrigen in allen Stadien der Entwicklung eine sehr unterschiedliche Qualität haben – wie unterscheiden sich also hochromantische Partnerschaften von Partnerschaften, die nach Tucholsky durch »verbrühte Milch und Langeweile« (vgl. S. 79) gekennzeichnet sind? Es gibt, und das ist überraschend, schon bei jugendlichen Paaren sehr pragmatische Überlegungen zusammenzubleiben. Also: Partnerbeziehungen sind komplex, haben ähnlich wie Familienentwicklung einen ganz spezifischen Entwicklungsverlauf, und die Kriterien einer guten Partnerschaft haben sich auch historisch verändert. Sehr konstant hingegen ist die durchgängige

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Sozialer Wandel von Partnerschaft, Heirat und Ehe

Paarorientierung: Menschen suchen einen Partner. Über die Jahrzehnte gleich geblieben sind auch die unterschiedlichen gesundheitlichen Auswirkungen von Partnerschaft für Männer und Frauen. Wir beginnen mit der Heiratsneigung, den Heiratsmotiven und den entsprechend veränderten Lebensformen heute.

3.1 Stabile Paarorientierung und sinkende Heiratsneigung Die Wahl eines Partners oder der Verzicht auf eine Partnerschaft, der Entschluss, einen gemeinsamen Haushalt zu gründen und die Entscheidung für oder gegen eine Heirat sind zentrale Wegpunkte im Leben der meisten Menschen. Nur wenige andere Entscheidungen, wie etwa Elternschaft oder die Berufswahl, beeinflussen unser Leben ähnlich intensiv wie die Wahl eines Partners und die Art und Weise der Gestaltung der Partnerschaft. Erstaunlich stabile Paarorientierung Bei allem Wandel, den Partnerschaft und Partnerwahl in der Vergangenheit erfahren haben, sind zwei Merkmale erstaunlich stabil geblieben: Das erste Merkmal ist die ausgeprägte Paarorientierung. Zwar gibt es durchaus Menschen, die dauerhaft ohne Partner durch das Leben gehen möchten. Empirischen Belegen zufolge wird die Größe dieser Gruppe jedoch auf maximal 5 % geschätzt (Küpper, 2003). Auch polygame Lebensweisen, die außerhalb von Ehen in Europa durchaus möglich wären, werden äußerst selten praktiziert. Menschen streben danach, einen Partner an ihrer Seite zu haben. In unmittelbarem Bezug zu diesem ersten Merkmal steht auch das zweite: Eine als glücklich empfundene Partnerschaft ist von besonderer Bedeutung für die allgemeine Lebenszufriedenheit und das subjektive Wohlbefinden.

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Stabile Paarorientierung und sinkende Heiratsneigung

Die Paarorientierung ist also stabil geblieben. Allerdings haben sich die Modi der Partnerwahl und die Formen der Partnerschaft, insbesondere das Heiratsgeschehen, deutlich gewandelt. Dies werden wir im Folgenden noch genauer beleuchten. Zunächst geht es um die Heiratsneigung aus historischer Sicht. Veränderungen in der Heiratsneigung: Warum wird heute seltener geheiratet? Bis weit ins letzte Jahrhundert hinein waren unverheiratete Partnerschaften gesellschaftlich nicht legitim. Nichteheliches Zusammenleben war weitgehend unterbunden, gesetzlich verboten und sozial diskreditiert. Es war wenig verbreitet, entstand meist als Notlösung und war nur selten Ergebnis einer freien Wahl (Gestrich, 2008). In den 1960er Jahren, im Golden Age of Marriage (vgl. Kapitel 2), betrug die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mann mindestens einmal in seinem Leben heiratet, über 90 %.1 Seit den 1960er Jahren jedoch ist die Heiratsneigung erheblich gesunken, heute bleiben mehr als 25 % der jungen Männer dauerhaft ledig. Die Zahl der Eheschließungen nahm im Zeitverlauf von zu Beginn der 1960er Jahre rund 700.000 auf gegenwärtig rund 390.000 ab. Bezogen auf tausend Einwohner halbierten sich die Eheschließungen von 9,4 Eheschließungen je tausend Einwohner im Jahre 1960 auf 4,7 im Jahr 2010 (vgl. Abbildung 4).

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Die Heiratswahrscheinlichkeit der Frauen war in dieser Zeit geringer, da sie aufgrund der hohen Übersterblichkeit junger Männer im Zweiten Weltkrieg und der dadurch entstandenen zahlenmäßigen Geschlechterdisproportion nur eingeschränkte Chancen hatten, einen Mann zu finden.

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Sozialer Wandel von Partnerschaft, Heirat und Ehe

Abbildung 4: Entwicklung der Eheschließungsziffer in Deutschland 1950–2010 (Zahlen: Statistisches Bundesamt; grafische Darstellung: Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung)

Das Heiratsgeschehen ist außerdem dadurch gekennzeichnet, dass das Heiratsalter angestiegen ist. Lag das durchschnittliche Heiratsalter 1970 bei etwa 24 Jahren, ist es um mehr als sieben Jahre angestiegen und liegt gegenwärtig für ledige Männer bei 33 und für ledige Frauen bei dreißig Jahren. Ursachen für den Rückgang der Heiratsneigung Der Rückgang der Heiratsneigung kann auf vielfältige Ursachen zurückgeführt werden. Die Ehe hat heute zahlreiche der ihr vorbehaltenen rechtlichen Privilegien verloren. Ehe ist heute nicht mehr der einzige Ort für legitime Sexualbeziehungen, das nichteheliche Zusammenleben verliert mit der Abschaffung des sogenannten Kuppeleiparagrafen 1973 offiziell seine soziale Diskreditierung. Schrittweise kommt es gesellschaftlich wie auch rechtlich zu einer Entkopplung von Ehe, Sexualität, Elternschaft und Familie (z. B.

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Stabile Paarorientierung und sinkende Heiratsneigung

Kaufmann, 1995; Schneider, 2008). Beispiele für den Verlust exklusiver Privilegien der Ehe sind die veränderte rechtliche Stellung nichtehelicher Väter, das Auskunftsrecht im Krankheitsfall auch für unverheiratete Partner oder die Möglichkeit zur Übernahme eines Mietvertrages im Todesfall eines Partners. In diesen Punkten haben sich der Nutzen bzw. die Vorteile einer Ehe nach und nach verringert. Alternativen zur Ehe sind immer sozial anerkannter und ihre rechtliche Stellung gestärkt worden. In der Summe ergibt sich heute eine deutlich veränderte Kosten-Nutzen-Bilanz zwischen Heirat und Nichtheirat als noch vor wenigen Jahrzehnten. Ein zweiter wichtiger Grund für den Rückgang der Heiratsneigung liegt in der veränderten sozialen Stellung der Frau. Frauen waren lange Zeit aus dem Bildungssystem und aus dem Arbeitsmarkt großflächig ausgeschlossen und damit kaum in der Lage, für ihren eigenen Lebensunterhalt zu sorgen. Ehe ist unter diesem Gesichtspunkt als Versorgungsinstitution anzusehen, aber, wie Kritiker einwenden, zum Preis der Unterwerfung der Frau unter den Mann (Orloff, 1993). Derzeit sind Frauen angesichts stärkerer Bildungs- und Erwerbsbeteiligung dagegen sehr viel besser in der Lage, die eigene ökonomische Versorgung sicherzustellen, und damit weniger als früher auf Heirat und Ehe angewiesen. Empirisch finden sich zwar gerade dann, wenn Frauen Mütter werden oder sind – und das insbesondere in Westdeutschland –, beträchtliche Reste der klassischen Versorgerehe. Insgesamt lässt sich jedoch ein Bedeutungsrückgang erkennen, der als eine einflussreiche Ursache des Rückgangs der Heiratsneigung zu sehen ist. Weitere Gründe für die sinkende Heiratsneigung bestehen in der zunehmenden gewollten Kinderlosigkeit und in der weitgehenden Gleichstellung nichtehelich und ehelich geborener Kinder. Historisch war Heirat oftmals darauf ausgerichtet, gemeinsam Kinder zu bekommen, oder diente als Legitimation bei Schwangerschaft der Frau. Mit der wachsenden Verbreitung von Kinderlosigkeit (vgl. Kapitel 4) entfällt dieses Heiratsmotiv mit der Folge, dass die Hei-

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ratshäufigkeit sinkt. Ein vergleichbarer Effekt geht auch von der 1998 erreichten rechtlichen Gleichstellung ehelicher und nichtehelicher Kinder aus. Zudem wurden im Jahr 2011 die Rechte nichtehelicher Väter ebenfalls gestärkt. An diesen Stellen, wo es nun gute Alternativen gibt, verliert die Ehe an Attraktivität. Der Wandel der Institution Ehe und die abnehmende Diskriminierung alternativer Lebensformen verringern die Heiratshäufigkeit und auch der gesellschaftliche Bedeutungszuwachs von individueller Autonomie und eigener Individualität trägt dazu bei. Das eheliche »Wir« ist hinter das unabhängige »Ich« zurückgetreten, das Ideal vom Fusionspaar weicht zunehmend dem vom Assoziationspaar. Menschen möchten zwar in einer Partnerschaft leben, aber sie möchten in aller Regel nicht darin aufgehen, sondern als Teil eines Paares ein Stück weit selbstständig bleiben (z. B. Schneider, Limmer u. Ruckdeschel, 2002), sozusagen sie selbst plus eins. Da erscheint der Verzicht auf Ehe konsequent. Obwohl also der instrumentelle Nutzen von Ehe gesunken ist, entscheiden sich gegenwärtig immer noch etwa drei von vier Personen im Laufe ihres Lebens für eine Heirat. Die Wahrnehmung von Ehe als Wert an sich, davon ist auszugehen, besteht also weiter fort; dennoch dürften auch die weiterhin bestehenden finanziellen Vorteile von Ehen einen Beitrag zur Erklärung von Eheschließungen leisten (Schneider u. Rüger, 2008).

3.2 Heiratsmotive im Wandel der Zeit: Warum heiraten Menschen (dennoch)? Zahlreiche Befunde aus der Psychologie und der Soziologie verweisen auf die große Bedeutung von Partnerschaft (z. B. Fletcher, Simpson u. Thomas, 2000) und betonen, dass eine erfüllte Partnerschaft als mindestens ebenso zentral empfunden wird wie die berufliche Zufriedenheit oder beruflicher Erfolg.

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Heiratsmotive im Wandel der Zeit

Zunehmende Bedeutung von Partnerschaften trotz abnehmender Heiratsneigung Auch in Zeiten unsicherer Arbeitsmärkte und hoher Anforderungen hinsichtlich Flexibilität und Mobilität, in denen gleichzeitig die Selbstverwirklichung wichtiger geworden ist, scheinen Partnerschaften Stabilität und Sicherheit zu vermitteln, wie beispielhaft das Zitat einer Studentin verdeutlicht: »Es gibt immer weniger Sicherheit, was Arbeitsmarktlagen und Normen und Werte angeht. Wenn man aber liebt und sich geborgen fühlt, fühlt man sich sicher, hat eine Geborgenheit, also eine Konstante im Leben, wo alles im Fluss ist« (Shell-Studie, 2006).

Diese Beschreibung unterstreicht, dass Partnerschaften Sicherheit und Geborgenheit zugeschrieben werden, sie lässt jedoch gleichzeitig eine idealisierte Vorstellung der Paarbeziehung erkennen. Krisenhafte und problematische Aspekte wie Trennungen, Konflikte oder Partnergewalt, die durchaus empirisch relevant sind, werden ausgespart. Heynen (2001) beispielsweise resümiert auf Grundlage verschiedener Schätzungen, dass rund 17 % der Frauen in Westdeutschland mindestens einmal in ihrem Leben Partnergewalt ausgesetzt sind. Partnerschaften sind aus psychologischer Perspektive wichtige Orte der Identitätsentwicklung und des Lernens, das gilt auch für Konflikte innerhalb von Partnerschaften. Eine Studie von Neyer und Lehnart (2007) beispielsweise verweist darauf, dass die Identitätsentwicklung von partnerlosen Menschen tendenziell eher verharrt, während Menschen in Partnerschaften sich deutlicher weiterentwickeln. Auch die Bedeutung, die Partnerschaft für Identitätsbildung und Persönlichkeitsentwicklung hat, dürfte wesentlich zur ungebrochenen Paarorientierung der Menschen beitragen.

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Die reine Liebesheirat ist gar nicht so häufig Der instrumentelle Nutzen der Ehe hat, wie geschildert, abgenommen. Welche Motive liegen also der Entscheidung zur Heirat in der heutigen Zeit zugrunde? Entgegen gängiger Klischees ist festzustellen, dass die reine Liebesheirat nicht sehr weit verbreitet ist. Nur etwa jede siebte Eheschließung folgt diesem Muster. Liebe scheint also, technisch gesprochen, eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für Heirat zu sein. Sie ist eher ausschlaggebend, wenn es darum geht, ob man ein Paar wird oder nicht. Auch die weit verbreitete Annahme, Menschen heirateten dann, wenn sie gemeinsam Kinder wollen, lässt sich nicht bestätigen. Nur etwa jede zehnte Heirat erfolgt aus diesem Grund. Andere Gründe erweisen sich als wesentlicher: Hier sind traditionelle und nutzenorientierte Motive, aber auch sehr situationsspezifische Umstände bedeutsam (Neyer u. Lehnart, 2007). Dazu gehört etwa die Sicherstellung des Aufenthaltsrechts oder auch die Vermeidung räumlicher Trennung, die etwa durch Versetzung bei Beamten entstünde, wenn man unverheiratet bliebe. Diese sehr pragmatischen Gründe sind etwa für jede elfte Heirat maßgeblich. Männer blieben im Übrigen häufiger unverheiratet als Frauen. Und auch in bestehenden Partnerschaften geht der Impuls zur Heirat häufiger von Frauen aus; durchaus zahlreich sind Männer, die eine Heirat eigentlich nicht anstreben, einer Eheschließung in solchen Fällen, wenn die Frau drängt, aber zustimmen. Etwa jeder elfte Ehemann macht diese Erfahrung. Man kann zusammenfassen, dass Heirat gegenwärtig auf einer Mischung von Emotion, Rationalität und Tradition basiert.

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Heiratsmotive im Wandel der Zeit

Als Statuspassage ist Ehe nicht mehr wichtig, aber sie setzt ein Zeichen Weniger wichtig als früher ist Heirat als rite de passage – für die soziale Stellung einer Person ist es heute in der Regel nicht mehr relevant, ob sie verheiratet ist oder nicht. Der Bundespräsident Joachim Gauck etwa lebt, noch nicht geschieden, in »wilder Ehe« mit einer neuen Frau, auch wenn da natürlich Kritiker zur Heirat raten (Spiegel online, 2012a). In traditionellen Gesellschaften hingegen war und ist die Eheschließung eine wichtige und oft unverzichtbare Statuspassage von der Adoleszenz in das Erwachsenenalter. Ohne Alternative war dabei auch der gemeinsame Ehename. Fast immer war es der Name des Mannes, den die Frau übernahm. Bis 1958 war in Deutschland der gemeinsame Ehename zwingend, später waren Doppelnamen möglich. Seit 1992 gilt ein neues Namensrecht, ein gemeinsamer Zuname ist nicht mehr zwingend. Aber es zeigt sich, wie stark alte Traditionen weiter wirken können. In den weitaus meisten Fällen übernimmt die Frau auch nach der Reform noch den Namen des Mannes (Matthias-Bleck, 2000). Worauf Heiratende immer noch Wert legen, ist die Funktion von Ehe als rite de confirmation. Viele Paare entscheiden sich noch nach einer langen Zeit des nichtehelichen Zusammenlebens zur Heirat und setzen damit vor allem für sich selbst ein Zeichen – gegen die gewisse Unverbindlichkeit, die sie mit dem Fehlen der Ehe verbinden. Damit wird das »Wir« dann bestätigt und mehr oder weniger groß gefeiert. Lange Verlobungszeiten früher und gar nicht so wechselhafte Partnerschaftsbiografien heute Lange Verlobungszeiten vor der Hochzeit sind gegenwärtig nicht länger typisch. Dennoch kann keine umfassende Veränderung hin zu besonders brüchigen oder instabilen vorehelichen Partner-

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schaftsbiografien beobachtet werden, wie Schneider und Rüger (2008) auf Grundlage einer Analyse der Heiratskohorten 1999– 2005 feststellen. Die vorehelichen Beziehungserfahrungen haben im Verlauf der letzten Jahrzehnte zugenommen, allerdings weniger stark ausgeprägt, als man vermuten könnte. Für über ein Drittel (35 %) der Eheschließenden mündet bereits die erste längere Partnerschaft – dazu wurden jene Beziehungen gezählt, die mindestens ein Jahr bestanden haben – in eine Ehe, bei weiteren 30 % die zweite Partnerschaft (Schneider u. Rüger, 2008). Nur 11 % hatten vor ihrem gegenwärtigen Partner mindestens drei andere Partnerschaften. Ein Blick auf die Entwicklung und Gestaltung der Partnerschaft, die letztlich in eine Ehe mündete, zeigt eine wesentliche Veränderung. Der weitaus größte Teil, 84 %, lebte vor der Heirat bereits mit dem späteren Ehepartner zusammen, 37 % ohne verlobt zu sein, 47 % als Verlobte. Diese Phase dauerte im Durchschnitt 4,7 Jahre (Schneider u. Rüger, 2008). Das bedeutet, dass heute fast alle Partner, die heiraten, vorher mit dem Partner und knapp jedes zweite Paar auch eine relative lange Zeit als Verlobte zusammenlebten. Nur 16 % der Bräute waren zum Zeitpunkt der Heirat schwanger. Insgesamt ging noch jedes zehnte Paar einen ganz traditionellen Weg in die Ehe: als verlobtes Paar ohne voreheliches Zusammenleben und ohne dass die Braut ein Kind erwartete. Knapp 60 % aller Paare haben nicht nur standesamtlich, sondern auch kirchlich geheiratet bzw. gaben an, dies in Kürze tun zu wollen. Sieht man davon ab, dass Heirat heute nur noch selten zeitlich mit der Gründung eines ersten gemeinsamen Haushalts zusammenfällt, ergibt sich ein Bild mit überraschend vielen stabilen Tendenzen und insgesamt wenig Veränderungsdynamik. Die Dauer zwischen Kennenlernen und Heirat ist im Übrigen kein Indikator dafür, ob ein vorehelicher Partnerschaftsverlauf modern oder traditionell ist. Das wird deutlich, wenn man sich auf diejenigen konzentriert, die schon wenige Monate nach dem Ken-

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Wandel der Paarbeziehungen und der privaten Lebensformen

nenlernen heirateten und vorher nicht zusammengewohnt haben. Viele von ihnen haben jahrelang in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft gelebt, dann kam es zur Trennung. Und wenn sie dann einen neuen Partner hatten, kam es sehr schnell zur Heirat. Hier vermischen sich moderne und traditionelle Verhaltensmuster. Diese Ambivalenzen und Paradoxien sind ein Kennzeichen in unserer pluralistischen Gesellschaft. Sie zeigen, wie komplex und vielschichtig die Realität beschaffen ist.

3.3 Wandel der Paarbeziehungen und der privaten Lebensformen: Wie lebt man heute? Wenn die Heiratsneigung abgenommen hat, in welchen Formen leben die Menschen dann heute? Auswertungen mit Daten des Mikrozensus, einer einprozentigen jährlichen Haushaltsstichprobe und einer Datengrundlage von mehr als 3,5 Millionen Haushalten, ergeben für das Jahr 2010 ein recht buntes Bild (vgl. Tabelle 1). Dabei wurde die Analyse sogar auf 40- bis unter 45-Jährige beschränkt, da diese Personen statistisch die höchste Wahrscheinlichkeit aufweisen, in einer traditionellen Familie zu leben, mit verheirateten Eltern und mindestens einem minderjährigen Kind im Haushalt. Mit diesem Vorgehen wird also eine eher konservative Schätzung des bunten Lebens jenseits der Ehe vermittelt. Vor allem in den jüngeren Altersgruppen ist die Verbreitung der alternativen Lebensformen beträchtlich höher.

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Tabelle 1: Verbreitung konventioneller und nichtkonventioneller Lebensformen unter den 40- bis unter 45-Jährigen in Deutschland 2010 (in %) (Statistisches Bundesamt, Mikrozensus 2010) West1

mit Ehepartner und ledigen Kindern3

Ost2

Gesamt

51

35

48

mit Lebensgemeinschaft und ledigen Kindern4

3

7

4

alleinerziehend

6

7

6

13

20

15

5

6

5

21

25

22

mit Ehepartner ohne ledige Kinder mit Lebensgemeinschaft ohne ledige Kinder5 ohne Partner und ohne ledige Kinder

Anm.: Lebensform der Bevölkerung (ohne ledige Kinder) in Privathaushalten am Hauptwohnsitz. Es erfolgt keine Unterscheidung nach Bezugs- oder Nichtbezugspersonen (gemäß Lebensformenkonzept des Mikrozensus). Dadurch kann es zu Abweichungen von Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamtes kommen. 1 ohne Berlin 2 mit Berlin 3 Alle Angaben beziehen sich auf minderjährige Kinder (unter 18 Jahre). 4 darunter etwa 1,1 % in West und 0,8 % in Ost als gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft 5 darunter etwa 6,1 % in West und 4,8 % in Ost als gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft

Ein Blick auf Tabelle 1 zeigt, dass in Deutschland im Jahr 2010 von den 40- bis unter 45-jährigen Personen 58 % mit minderjährigen Kindern im Haushalt leben. Knapp die Hälfte (48 %) leben in einer Ehe mit Kindern. Auffällig sind durchaus beträchtliche Ost-WestUnterschiede. In Ostdeutschland lebt nur rund ein Drittel in einer traditionellen Familie, im Westen ist es mehr als die Hälfte. Der Anteil Alleinerziehender fällt mit 6 % im Westen bzw. 7 % im Osten des Landes jeweils mindestens genauso hoch aus wie derjenige nichtehelicher Lebensgemeinschaften mit Kindern (3 bzw. 7 %). Während im Osten jeder Fünfte in einer kinderlosen Ehe lebt, tut dies im Westen nur jeder Achte. Immerhin jede fünfte Person dort lebt ohne Partner und Kinder im Haushalt, in Ostdeutschland

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Wandel der Paarbeziehungen und der privaten Lebensformen

sogar jeder Vierte. Im Jahr 1996 war das Alleinleben noch seltener: Nur jede siebte (West, 14 %) bzw. achte Person (Ost, 12 %) lebte allein. Plausiblerweise haben sich die Anteile der Ehen mit und ohne Kinder verringert. Der Anteil von Ehen mit Kindern sank für Gesamtdeutschland um acht Prozentpunkte (56 % 1996, 48 % 2010), von kinderlosen Ehen um sechs Prozentpunkte (21 % 1996, 15 % 2010). Alleinwohnende oder Alleinerziehende sind natürlich nicht unbedingt partnerlos. Man kann schätzen, dass sich etwa ein Drittel von ihnen in einer Fernbeziehung befindet, also in einer festen Partnerschaft ohne gemeinsamen Haushalt. Dieser Befund verweist auf ein wesentliches Merkmal des Wandels der Partnerschaft: Zusammenleben hat an Bedeutung verloren. Ein detaillierter Blick auf das Phänomen der Fernbeziehung scheint daher lohnend und soll kurz vorgenommen werden. Fernbeziehungen sind ebenfalls bedeutsam Unter einer Fernbeziehung wird eine Beziehung verstanden, die seit mindestens einem Jahr besteht und bei der kein gemeinsamer Haushalt vorhanden ist (Schneider, 2009). Unterscheiden lassen sich zwei Arten von Fernbeziehungen. Wir bezeichnen sie als living apart together und als long distance relationships. Die »long distance relationships« machen etwa zwei Drittel, die »living apart together relationships« ein Drittel der Fernbeziehungen aus. Was ist der Unterschied? Bei »living apart together« handelt es sich um Partnerschaften, in denen auf Zusammenleben bewusst verzichtet wird. Die Partner wohnen oft in großer räumlicher Nähe, aber sie legen Wert darauf, getrennte Wohnungen zu haben. Das Partnerschaftsideal und die Vorstellung von Autonomie kommen dabei zum Tragen. Die Fusion zum Wir steht für die Partner nicht im Mittelpunkt. Besonders häufig findet sich diese Form der Fernbeziehung bei

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Personen im mittleren Erwachsenenalter mit Scheidungserfahrung, aber auch bei jungen Ledigen, die viel Wert auf Autonomie legen und in hohem Maße karriereorientiert sind. Dagegen entstehen »long distance relationships« tendenziell gegen den Willen der Akteure, meist aus beruflichen Gründen. Die Paare würden gern zusammenwohnen, können dies aber nicht, weil die Partner weit voneinander entfernt liegende Arbeitsplätze haben. Die hohe Verbreitung dieser Lebensform verdeutlicht, dass wir gar nicht so frei in unserer Wahl der Lebensform sind, sondern dabei teilweise erheblichen sozialen und gesellschaftlichen Einflüssen unterliegen. Die Art dieser Einflüsse hat sich verändert und auch ihre Intensität, sie sind jedoch auch in Zeiten von Individualisierung und vermeintlicher Selbstbestimmung nach wie vor sehr präsent und können durchaus den Charakter eines Zwangs annehmen.

3.4 Partnersuche und Kommunikation in den Zeiten des Internets Das Internet bietet neue Möglichkeiten der Partnersuche. Wie genau das funktionieren kann, wird in diesem Abschnitt kurz dargestellt. Des Weiteren wird aufgezeigt, dass schnelle und anonyme Kommunikationswege zu einer veränderten Intimität geführt haben. Online-Partnerbörsen – ist die Liebe tatsächlich »nur einen Klick entfernt«? Mit den sogenannten Neuen Medien und hier spezifischer OnlinePartnerbörsen, einsetzend mit den 1990er Jahren, ergeben sich neue Möglichkeiten, einen Partner kennenzulernen. Eine Vielzahl medienwissenschaftlicher, psychologischer und soziologischer Studien beschäftigt sich mit unterschiedlichen Aspekten des Online-

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Partnersuche und Kommunikation in den Zeiten des Internets

Datings (zum Überblick Blossfeld u. Schmitz, 2011). Doch haben sich angesichts des Internets Partnermärkte und Paarbeziehungen tatsächlich umfassend verändert? Online-Partnerbörsen erfreuen sich regen Zulaufs. Gegenüber herkömmlichen Partnerinstituten oder Single-Partys können Anmeldung, Bezahlung und Partnersuche bequem vom heimischen Schreibtisch oder Sofa aus erfolgen, der unmittelbare Kontakt mit einem Gegenüber ist nicht erforderlich. In dieser Hinsicht ähneln die Partnerbörsen dem klassischen Partnergesuch per Zeitungsannonce. Anhand einer Auswahl von allgemeinen Fragen zu Kriterien wie Beruf, Interessen und Persönlichkeitseigenschaften wird das persönliche Profil erstellt. In einer gängigen Variante, wie sie Pettman (2009) in seiner Studie »Love in the time of Tamagotchi« beschreibt, werden bis zu 29 Dimensionen berücksichtigt, um die Suche nach dem optimalen Partner zu erleichtern. Wesentliches Element dabei ist das Matching, bei dem die Profile der Teilnehmer miteinander verglichen und passende Profile einander zugeordnet werden. Die Teilnehmer werden daraufhin einander vorgeschlagen und können in Kontakt treten. Wer zueinander passt, wird also von einem Algorithmus bestimmt. Bei einigen Dimensionen sprechen Übereinstimmungen für gute Passung (z. B. bei Bildung), bei anderen ist es vorteilhaft, wenn die Teilnehmer möglichst verschieden erscheinen (z. B. bei bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen). Auf diese Aspekte der Homo- und Heterogamie werden wir später noch genauer eingehen. Räumliche Nähe spielt beim Matching meist keine Rolle, Partnerschaft auf Entfernung ist auch hier nicht ungewöhnlich. Interessanterweise ist gemäß der genannten Studie von Pettman in 20 % der Fälle ein zufriedenstellendes Matching nicht möglich. Einem Fünftel der Personen kann anhand der Dimensionen aus der Teilnehmerbasis der Online-Datenbank kein Gegenstück zugeordnet werden. Nur aus 6 % der so entstandenen Beziehungen gehen Ehen hervor (Sprecher, 2009).

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Zunehmend von der Forschung in den Blick genommen werden auch umgekehrte Verläufe wie Trennungen und Scheidungen, die aus Flirts oder Untreue resultieren, die innerhalb sozialer Netzwerke oder Partnerbörsen entstanden sind oder dort vom Partner aufgedeckt wurden (de Angelis, 2010). Beschleunigte Kommunikation – moderne Kommunikations­mittel bieten viele Chancen, aber sie »verführen« auch Früher fand Kommunikation stärker als heute in Briefform statt, die eine immanente Verzögerung mit sich brachte. Das geschriebene Wort wurde bedacht, und die üblichen Postlaufzeiten führten zu Wartezeit, die auch mit der Entwicklung von Fantasien und Vorstellungen des Partners überbrückt wurden. Sigmund Freud schrieb in seiner vierjährigen Verlobungszeit von Wien und Paris aus tausende von Briefen an seine Verlobte Martha Bernays in Hamburg (Grubrich-Simitis u. Hirschmüller, 2011). In dieser Zeit hat er das Bild seiner zukünftigen Frau und Mutter seiner Kinder geformt (»Sei mein, wie ich es mir denke!«) und Martha hat sich sehr über den Tyrannen beklagt, der ihr viele Aufgaben stellte. Diese Art der Kommunikation passte sehr gut mit den bereits erwähnten längeren Verlobungszeiten zusammen, die zu dieser Zeit noch geläufig waren. Heute sind solche »Wartezeiten« nicht mehr die Regel. Bereits das Telefon und gerade Mobiltelefone und E-Mails symbolisieren eine durchgängige Erreichbarkeit, sie ermöglichen einen rascheren und unmittelbareren Austausch auch über größere räumliche Distanzen. In Sekundenschnelle können Antworten erfolgen. Internet, E-Mails und Mobiltelefone sind innerhalb von Fernbeziehungen, in denen der persönliche Kontakt nicht täglich möglich ist, beliebte und viel genutzte Kommunikationsmittel (Schneider u. Collet, 2010). Gleichzeitig begünstigt ein beschleunigter Austausch aber auch unbedachte Äußerungen und Handlungen.

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Kriterien der Partnerwahl und die zunehmende Bedeutung von Attraktivität

Hinzu kommt ein relativ drastischer Umgang mit Selbstenthüllung, insbesondere in sozialen Online-Netzwerken und Partnerforen. Intime Details wie sexuelle Vorlieben oder Körpervorzüge werden sehr schnell preisgegeben. Diese Pseudointimität oder akzelerierte Intimität (SeiffgeKrenke, 2012) ist durchaus nicht unproblematisch, weil hier eine kulturelle Entwicklung mit irrsinniger Geschwindigkeit rückgängig gemacht wird, die Jahrhunderte zu ihrer Entwicklung brauchte. Wie man in Norbert Elias (1976) »Über den Prozess der Zivilisation« nachlesen kann, hat es bis in das 15., 16. Jahrhundert gedauert, bis man die Gabel benutzte, das Nachthemd trug; bis ins 17. Jahrhundert dauerte es schließlich, bis man ein Taschentuch benutzte. Das Verbergen von intimen Körpervorgängen wurde zur Regel, und Nacktheit war schambesetzt bzw. Entblößung wurde als Strafe eingesetzt, zum Beispiel auf öffentlichen Plätzen. Es findet also im »öffentlich-anonymen« Raum des Internets eine Umdeutung dessen statt, was im frei zugänglichen öffentlichen Raum möglich und geboten scheint.

3.5 Kriterien der Partnerwahl und die zunehmende Bedeutung von Attraktivität oder: Macht Geld sexy? Wie haben sich nun die Kriterien für die Partnerwahl verändert? Auch hier gilt, dass einige frühere Prinzipien erhalten geblieben sind, während andere Kriterien, die früher von geringerer Bedeutung waren, an Einfluss gewonnen haben. Hier kann das in den Medien häufig gebrauchte Schlagwort »Geld macht sexy« genannt werden. Es deutet sich an, dass damit Attraktivität, aber auch eine wirtschaftliche Ebene angesprochen ist. An dieser Stelle hat sich, zumindest in Teilen, eine Verschiebung vollzogen. Äußere Reize waren zum Beispiel in der vorindustriellen bäuerlichen Familie,

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in der mit Ehe und Partnerschaft verstärkt ökonomische Aspekte wie etwa die Arbeitskraft, Erweiterung des Besitzes und Sicherstellung der Erbfolge von Haus und Hof verbunden waren, kein relevantes Heiratsmotiv. Schönheit und Attraktivität hat man regelrecht gefürchtet. Es gab viele Sprichwörter, die darauf abhoben, wie »Demjenigen, der eine schöne Frau hat, dem mangelt es nicht an Streit« oder »Schöne Rose wird zur Hagebutte«. Man heiratet also eine Frau, die gebärfähig und arbeitsam ist, aber nicht unbedingt attraktiv. Mangelnde Attraktivität konnte durch ökonomische Anreize abgemildert werden. Früher war Mitgift sehr entscheidend, unter anderem um die jüngeren unverheirateten Töchter auszustatten; das ist heute bei einer zumeist finanziellen Unabhängigkeit der Brautleute nur noch selten wichtig für die Partnerwahl. Man sollte aber bedenken, dass dies eine junge Entwicklung ist, bis in die 1960er Jahre war es auch in Deutschland üblich, die Töchter auszustatten, ihnen eine Mitgift mitzugeben. In der Gegenwart wird dies deutlich seltener praktiziert, obwohl es durchaus üblich ist, dass Eltern eine Art Aussteuer mit in die Ehe geben. Erst im 19. Jahrhundert setzte sich die Liebesheirat durch. Überhaupt waren von da an die Beziehungen innerhalb der Partnerschaft stärker von Zärtlichkeit und Zuneigung, weniger von Furcht, Autorität und Kontrolle geprägt. Schöner Mann sucht reiche Frau? Attraktivität verstanden als physische Anziehung ist im Vergleich zu früher für beide Geschlechter relevanter geworden. Dies ist auch ein wesentliches Resultat einer Studie von Kümmerling und Hassebrauck (2001) mit dem vielsagenden Titel »Schöner Mann – reiche Frau?«. Die beiden Autoren haben bei drei Altersgruppen (16–30, 31–45 und 46–60 Jahre) die Kriterien der Partnerwahl untersucht. Bevorzugten Frauen in der Gesamtschau finanzkräftige,

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Kriterien der Partnerwahl und die zunehmende Bedeutung von Attraktivität

ältere Männer, fiel bei Männern die Wahl auf jüngere Frauen. Dies unterstützt zum einen gängige Stereotype, zum anderen steht es – wenngleich auf stark abgemilderte Weise – mit Prinzipien in Einklang, wie sie bereits von Darwin (im 17. Jahrhundert) und später von Trivers (1972) beschrieben wurden: Männer achten demnach verstärkt auf Signale, die in Richtung Feminität im Sinne einer hohen Fruchtbarkeit und einer erfolgreichen Ernährung und Aufzucht des Nachwuchses hinweisen (z. B. das Taille-Hüfte-Verhältnis). Diese (jüngeren) Frauen können, wenn sie nicht als Mütter der Kinder gesehen werden, auch die Funktion eines Statussymbols übernehmen. Frauen hingegen streben gemäß dem aufgezeigten Muster danach, die materielle Versorgung ihrer Kinder sicherzustellen, wie sie sich im Status und dem materiellen Vermögen des Mannes widerspiegelt. Ergänzend zu diesen Kriterien wurde in der oben genannten Studie von beiden Geschlechtern der Attraktivität große Bedeutung beigemessen. Als weniger wichtig erwies sich dagegen beruflicher Erfolg, insbesondere Männern war der Erfolg der Frauen nur selten wichtig. Ein Vergleich zwischen den Altersgruppen offenbart, dass für die jüngeren Frauengenerationen Status von noch geringerer Bedeutung ist, sie können sich durchaus vorstellen, einen »schönen« Mann zu heiraten, auch wenn dieser nicht über einen hohen beruflichen Status verfügt. Der gestiegenen Bedeutsamkeit von körperlicher Attraktivität auch für Männer wird in der öffentlichen Wahrnehmung Rechnung getragen. Schönheitsprogramme, Enthaarungszubehör oder Körperschmuck für Männer finden hierzulande zunehmend Verbreitung. Ökonomische Bedingungen scheinen angesichts der gewachsenen finanziellen Selbstständigkeit der Frauen als Motiv bei der Partnerwahl folglich an relativer Bedeutung zu verlieren. Altersdifferenzen wurden insgesamt toleriert, jedoch werden die Maßstäbe der Frauen enger gesetzt als die der Männer. Physiologische Einschränkungen wie die zeitlich begrenzte Fruchtbarkeit der Frau und

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das Wissen um die altersbedingt ebenfalls reduzierte Fruchtbarkeit von Männern könnten hierfür mit ursächlich sein. Diese Zeitfenster können durch medizinische Methoden wie etwa In-vitroFertilisation zwar verlängert, jedoch nicht durchbrochen werden. Wie verführt man jemanden, der bereits in einer festen Beziehung ist? Das Prinzip, dass Männer auf Attraktivität (bei Frauen) setzen und Frauen auf Status (bei Männern), gilt immer noch, wenn auch leicht abgemildert und durch Attraktivität als wesentliches Kriterium für beide Geschlechter ergänzt. Interessanterweise sieht man die alten Kriterien vor allem in Grenzsituationen, zum Beispiel bei »Revierkämpfen« oder in Situationen, in denen beide Personen bereits eine Beziehung haben, sich aber eine Verführung anbahnt. Die Studie »Nifty Ways to Leave Your Lover« von Schmitt und Shackelford (2003) beschäftigt sich mit dem Werbeverhalten in solchen Situationen. Männer signalisieren dann Status, Macht und Geld, um die Frau aufmerksam zu machen. Blumengeschenke und Einladungen geben der Frau zu verstehen, sie habe »etwas Besseres verdient«. Frauen hingegen stellen Attraktivität und sexuelle Bereitschaft heraus, indem sie verstärkt ihre körperlichen Reize betonen, mit dem Körper arbeiten. Im Falle der geglückten Verführung achten Männer darauf, gegenüber der eigenen Partnerin die Körpersignale herunterzufahren, berufliche Termine werden angeführt, um sie abzulenken. Verführte Frauen hingegen »beruhigen« ihre Partner durch häufigere körperliche und sexuelle Zuwendungen und ein besonders liebevolles Verhalten.

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Homogamie in Partnerschaften

3.6 Homogamie in Partnerschaften: »Gleich und Gleich« oder doch ganz anders? Zu den Kriterien der Partnerwahl, die sich bis heute erhalten haben, zählt auch die Homogamieregel: Man heiratet jemanden, der dem eigenen Rang entspricht. Auch heute noch heiraten Partner überwiegend innerhalb der gleichen Schicht, der gleichen Altersgruppe und der gleichen Region und Nationalität. Dies hängt natürlich auch damit zusammen, dass sich dadurch ein guter, attraktiver Partnermarkt ergibt. Der Partnermarkt An den voranstehenden Beispielen wird deutlich, dass die Partnerwahl wesentlich vom Partnermarkt mitbestimmt wird. Dabei haben die Partnermärkte durchaus Veränderungen erfahren, wie am Beispiel der Online-Partnerbörsen gezeigt wurde. Auch wenn beim Online-Dating räumliche Nähe nachrangig ist und viele Paare auf Distanz zusammenleben, erweist sich räumliche Nähe als vergleichsweise wichtige Dimension des Partnermarkts. Sie vervielfacht die Wahrscheinlichkeit, einem bestimmten Menschen überhaupt zu begegnen. Typische Orte des Kennenlernens sind der Freundeskreis oder der Arbeitsplatz bzw. Bildungseinrichtungen wie Schule oder Universität (z. B. Timm, 2004). Dies geht mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit einher, ähnlich ausgeprägte Merkmale bei den Partnern vorzufinden, bzw. damit, dass sich tendenziell Paare mit ähnlichen Erfahrungen, Einstellungen oder sozialstrukturellem Hintergrund zusammenfinden. Partnerwahl ist zuvor aus einer eher psychologischen Perspektive betrachtet worden, nun soll eine Annäherung aus soziologischer Sicht an die Frage erfolgen, welche der Redewendungen eher zutrifft: »Gleich und Gleich gesellt sich gern« oder »Gegensätze ziehen sich an«.

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Die Partner sind einander ähnlicher geworden Soziologisch ist diese Frage eindeutig zu beantworten. Die Partner sind sich immer ähnlicher geworden. Bei der Wahl des Partners dominiert heute eindeutig Ähnlichkeit, während sich Personen aus unterschiedlichen sozialen Milieus offenbar nur selten anziehend finden und statistisch gesehen wie beschrieben auch eine kleinere Chance haben, sich überhaupt zu begegnen. Der Partnermarkt ist in dieser Hinsicht selektiv. Homogamie, die soziale Ähnlichkeit von Paaren, erweist sich auch für Ehepaare als empirisch höchst relevant. Dies lässt sich anhand von Ähnlichkeiten in Bezug auf Alter, Bildung, räumlicher Nähe der potenziellen Partner gut belegen. Der Anteil von Eheschließungen, bei denen der Altersunterschied der Partner geringer als fünf Jahre ist, betrug im Jahre 2010 über 60 %, in mehr als einem Drittel der Paare liegt die Differenz sogar bei unter zwei Jahren. In rund 60 % der Fälle weisen die Partner das gleiche Bildungsniveau auf, in etwa einem Drittel der Fälle verfügt der Mann über eine höhere formale Bildung als die Frau. Dieses Muster ist in Westdeutschland ausgeprägter als in Ostdeutschland (Grünheid, 2011). Das Muster, dass die Frau einen statushöheren Mann heiratet, hat jedoch merklich an Bedeutung eingebüßt. Auch im Hinblick auf räumliche Dimensionen ist das Homogamieprinzip dominant: 85 % der Partner wohnten vor dem Kennenlernen innerhalb einer Entfernung von maximal zwanzig Kilometern (Blossfeld u. Timm, 2003). Bei nur jeder zehnten der im Jahre 2010 geschlossenen Ehen hatten die Ehegatten unterschiedliche Staatsbürgerschaften (Grünheid, 2011). Insgesamt vermischen sich durch Heirat soziale Schichten und Milieus weniger, als sie sich dadurch voneinander abgrenzen. Vom Prinzip der homogamen Partnerwahl und der sozialen Schließung durch Heirat gibt es nur eine mächtige Ausnahme: die Konfessionszugehörigkeit. Bis in die 1960er Jahre war die sogenannte

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Liebe als Emotion und soziales Konstrukt

Mischehe noch die Ausnahme und unterschiedliche Konfessionen der potenziellen Ehepartner oft sogar ein Heiratshemmnis. Heute dagegen spielt die Religionszugehörigkeit bei der Partnerwahl nur noch eine untergeordnete Rolle, gemischt konfessionelle Ehen sind weit verbreitet.

3.7 Liebe als Emotion und soziales Konstrukt In früheren Abschnitten wurden Aspekte der Partnerwahl beschrieben. Dabei ist zu betonen, dass die freie Partnerwahl ein vergleichsweise junges Phänomen ist. In der Vergangenheit war das Heiratsgeschehen deutlicher überformt als gegenwärtig. Die einzelne Person spielt heute eine viel größere Rolle, obwohl zahlreiche bekannte soziale Mechanismen weiterhin Wirkung zeigen. Im Folgenden soll es darum gehen, die Entwicklung knapp darzustellen und die Frage aufzuwerfen, wie Liebe (soziologisch) definiert werden kann. Noch gar nicht so alt: Die freie Partnerwahl Eine zentrale historische Veränderung ist die umfassende Durchsetzung der freien Partnerwahl im Europa des 19. Jahrhunderts. Lange Zeit war es üblich, dass Partner durch Familie und Verwandtschaft vermittelt oder zumindest angeraten wurden. Vor allem Töchter hatten wenig Einfluss darauf, wen sie zum Ehemann nehmen sollten. Zwar war dieser Mechanismus je nach Schicht unterschiedlich stark ausgeprägt und die Partner konnten auch Zuneigung zueinander entwickeln, es wirkten aber deutlich andere Faktoren als in der Gegenwart, die von weitgehender Selbstbestimmung in der Partnerwahl geprägt ist. Ein Zitat von Élisabeth Badinter zur Partnerwahl im 17. Jahrhundert verdeutlicht dies: »Zu den Ehevoraussetzungen gehörte nicht, dass Freundschaft oder gar dem Begehren Rechnung getragen wurde. Man konnte nur hoffen, dass sich

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durch Zufall oder durch Gewohnheiten des Ehelebens die Liebe allmählich einstellte« (Badinter, 1980). Die historischen Vorstellungen von Partnerwahl im 17. Jahrhundert, die sie beschreibt, spielen heute für breite Schichten der Bevölkerung keine große Rolle mehr. Und was ist das nun, die Liebe? Wie deutlich wurde, ist Liebe nur eines von zahlreichen Motiven, die ausschlaggebend für eine Ehe sind, in der Paarbildung nimmt sie in aller Regel dennoch eine zentrale Stellung ein. Was unter Liebe aber verstanden werden kann, ist vielfältig, wandelbar und nicht eindeutig. Aus einer kritischen, nüchternen sozialwissenschaftlichen Sicht verlieben sich zwei Menschen dann ineinander, wenn sie das Gefühl haben, das beste Objekt gefunden zu haben, das für sie in Anbetracht des eigenen Tauschwerts auf dem Markt erschwinglich ist, wie es Erich Fromm in seinem Werk »Die Kunst des Liebens« im Jahr 1956 (2005) zusammenfasst. Unabhängig davon, ob man sich persönlich von dieser eher unromantischen Sichtweise distanziert oder nicht, steht aus soziologischer Perspektive fest: Liebe ist nicht nur eine tiefe Emotion, sie ist auch ein soziales Konstrukt. Wie wir lieben, was wir unter Liebe verstehen und was wir von ihr erwarten, unterliegt dem sozialen Wandel, wie ein kursorischer Rückblick verdeutlichen soll. Das bürgerliche Liebesideal des 19. Jahrhunderts basierte auf der Idee, den Partner ungeachtet seiner individuellen Eigenschaften zu lieben. Maßgeblich war, wie diese Person ihre Rolle als Gattin oder als Gatte, als Mutter oder Vater ausfüllte, wie auch schon in Kapitel 3 angeklungen ist. Der Grundgedanke dieses Liebesideals, das bis weit ins 20. Jahrhundert hinein fast konkurrenzlos war, lässt sich mit folgendem Satz charakterisieren: »Ich liebe dich, weil du meine Frau bist.« In der Mitte des 20. Jahrhunderts setzte sich zunehmend das romantische Liebesideal durch, dessen

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Wie sich Partnerschaften entwickeln

Leitidee mit der Formel »Du bist meine Frau, weil ich dich liebe« umschrieben werden kann. Die Person wurde wegen ihrer Eigenschaften geliebt. Das Risiko bestand darin, dass die Liebe abkühlte, wenn sich die Person veränderte, was im Verlauf einer Ehe durchaus vorkommen kann. Heute scheint sich dagegen durchgesetzt zu haben, was Erich Fromm die »unreife« Form der Liebe nannte. Wieder als Leitsatz formuliert, lautet sie: »Du bist meine Frau, solange ich dich liebe.« Und weiter: »Ich liebe dich, solange du mir gibst, was ich brauche.« Ist Liebe also ein Tauschgeschäft? Vieles deutet darauf hin. Liebe heute ist die Sehnsucht nach maximaler Erfüllung, verbunden mit dem Gedanken, größere Abweichungen davon nicht zu tolerieren. Es werden also relativ hohe Erwartungen an den Partner gestellt. Wenn man nun noch bedenkt, dass Paare heute eine erhebliche Zeit zum Kennenlernen und Zusammenleben haben, verwundert die relativ hohe Rate an Trennungen und Scheidungen (vgl. auch Kapitel 6). Vermutlich liegt in den sehr hohen Ansprüchen an das, was der Partner bzw. die Partnerschaft für den Einzelnen erfüllen soll, auch ein zentraler Impulsgeber für eine wachsende Brüchigkeit von Partnerschaften und die Ausbreitung serieller Monogamie. Man setzt auf Zweisamkeit, aber nicht lebenslang mit demselben Partner.

3.8 Wie sich Partnerschaften von der Jugendzeit bis zum Erwachsenenalter entwickeln: Von der »ersten Liebe« zur »freundlichen Kompromiss­ erotik« Wir wollen in diesem Abschnitt verstärkt den Entwicklungsprozess in Paarbeziehungen betrachten – wenn ein Paar zusammenlebt, bringen beide Partner bereits eine gewisse Vorerfahrung mit anderen Partnern mit sich – sowie die unterschiedlichen »Typen

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von Paaren« in den Blick nehmen, denn Paarbeziehungen können sehr verschieden sein. Diese Diversität von Paarbeziehungen zeigt sich schon ganz früh, schon im Jugendalter. Welchen Einfluss haben frühere Beziehungserfahrungen während der Jugendzeit? Als Erwachsene stehen wir den romantischen Beziehungen von Jugendlichen durchaus ambivalent gegenüber. Zum Teil hält man sie für bedeutungslos, dann wieder für übertrieben, dann für so rasant kurzlebig, dass sie keiner weiteren Aufmerksamkeit wert scheinen. Der Psychologie erging es ähnlich: Die wissenschaftliche Psychologie ist zwar schon über ein Jahrhundert alt, aber erst vor gut zehn Jahren begann eine systematische Erforschung von romantischen Beziehungen im Jugendalter. Das erste Buch zum Thema erschien 1999 (Furman, Brown u. Feiring, 1999). Inzwischen liegt eine Vielzahl von Studien vor und eine der wichtigsten Feststellungen lautet, dass romantische Beziehungen im Jugendalter keineswegs banal sind – auch wenn Erwachsene sie belächeln mögen. Zwar lassen sich diese frühen Entwicklungen nicht mit der Qualität erwachsener Partnerbeziehungen vergleichen, dennoch bilden sie eine wichtige Vorstufe, in der entscheidende Lernprozesse stattfinden und Erfahrungen gemacht werden. Gerade der in diesen frühen Jahren häufige Partnerwechsel ist bedeutsam, lernen die Jugendlichen doch mit jedem neuen Partner ein Stück mehr über Partnerschaften und sich selbst. Trennungen, neue Partnerschaften und erneute Trennungen sind Teile eines wichtigen Entwicklungsprozesses, der von großer Bedeutung ist für die Entwicklung einer reifen Partnerschaftsqualität. In einer Längsschnittstudie von Seiffge-Krenke (2003b) konnten Jugendliche im Alter von 14 Jahren zum ersten Mal befragt und bis zum Alter von dreißig Jahren begleitet und untersucht werden. Der Anteil derer, die mit ihrem ersten romantischen Partner

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zusammengeblieben sind, liegt bei nur 4 %. Dabei handelt es sich um eine hoch auffällige Gruppe. Partnerwechsel ist also normativ und als eine Chance für den Lernprozess hin zu einer reifen Partnerbeziehung zu begreifen. Typische Entwicklungsphasen der Paarbeziehung während des Jugendalters In der Forschung werden verschiedene Phasen der romantischen Entwicklung Jugendlicher aufgezeigt (Seiffge-Krenke, 2003b), wobei sich einige Phasen als bedeutsamer für die weitere Entwicklung hin zu einer intimen Partnerschaft erweisen als andere. Insgesamt unterscheidet man vier Phasen. In der »initiation phase« (Frühadoleszenz, etwa 12–14 Jahre) sind die jungen Leute noch gar nicht darauf eingestellt, den romantischen Partner als konkretes Objekt in ihren Blick zu nehmen: Große Gruppen von Jungen und Mädchen treffen sich auf öffentlichen Plätzen und beäugen sich oder scherzen miteinander. Dies bricht mit den streng nach Geschlecht segregierten Gruppen, in denen man in der Kindheit gespielt hat. In dieser Phase stehen also das Wiedervertrautwerden mit dem anderen Geschlecht und auch das Selbst und der eigene Körper im Vordergrund. Man entwickelt bereits Fantasien über den Partner und hat vielleicht auch schon einen »ausgeguckt«, man ist jedoch noch zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um sich auf einen Partner zu fokussieren. Etwas später, in der »status phase«, etwa in der mittleren Adoleszenz von 14 bis 16 Jahren, spielt eine große Rolle, welchen Status dieser Junge oder dieses Mädchen in der Freundesgruppe hat – wie finden meine Freunde den- oder diejenige eigentlich? Der Fokus liegt auf der Peergroup und dem Urteil der Freunde. Erst in der mittleren bis späteren Adoleszenz, der »affection phase« (etwa 16 bis 18 Jahre), ist der Fokus wirklich auf den romantischen Partner gerichtet. Man geht jetzt als Paar aus. Die Beziehung

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ist dyadisch, ist eng geworden, länger andauernd und von hoher Intimität und starker Idealisierung. Beim Übergang ins junge Erwachsenenalter vollzieht sich noch einmal eine Veränderung, die Beziehung bleibt möglicherweise stabil und auch intim, aber sie wird pragmatischer (»bonding phase«). Sie ist nicht mehr so idealistisch wie in den Jahren zuvor. Der Fokus schwankt zwischen dem romantischen Partner und einem selbst, Fragen nach Autonomie und Gemeinsamkeit – also nach Intimität – gewinnen an Relevanz. Dies hat für beratende Berufe, die mit Paaren oder Jugendlichen arbeiten, für Therapeuten, eine große Bedeutung. Hat man Patienten, zum Beispiel Erwachsene, die immer noch stark auf das Selbst fokussieren oder auf die Wirkung in der Bezugsgruppe, sind diese im Grunde in ihrer romantischen Entwicklung noch nicht vorangeschritten. Sie haben den Partner noch nicht wirklich in den Fokus genommen und sind folglich noch nicht bei einer echten Reziprozität und Intimität angekommen. Wir werden im nächsten Abschnitt sehen, dass der Erwerb einer reifen Intimität in der Paarbeziehung das aus psychologischer Sicht wichtigste Reifekriterium für eine gelungene Paarbeziehung ist. … und die freundliche Kompromisserotik im mittleren und späten Erwachsenenalter Leider haben wir gar nicht so viele Befunde zur Qualität von Paarbeziehungen im mittleren Erwachsenenalter. Es gibt dagegen eine breite Basis von Studien aus der Familienforschung, das Paar ist also weniger als solches in den Blick gerückt als vielmehr als Eltern. Erkenntnisse aus der Paartherapie weisen jedoch darauf hin, dass eine Veränderung der Paarbeziehung in Richtung auf eine pragmatische Qualität erfolgt. Clement (2006) stellt diese pragmatische Qualität bezogen auf die Sexualität fest und spricht von einer »freundlichen Kompromisserotik«, das heißt davon, dass sich Paare

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nach einer Weile auf einen gemeinsamen erotischen Nenner einigen: Die Beziehung wird auch in sexueller Hinsicht sehr pragmatisch – keine Experimente mehr. Kirsten von Sydow (2008) hat ebenfalls ältere Paare untersucht und zahlreiche Paarbeziehungen gefunden, die eine sehr negative Beziehungsqualität hatten. Die Paare blieben zusammen, hatten sich aber nichts zu sagen. Sexualität spielte keine wichtige Rolle und wurde insbesondere von den älteren Frauen abgelehnt (»30 Jahre gedient ist genug«). Von Sydow (2008) bestätigt in ihrer Arbeit zur Sexualität im Alter die abgegrenzten, technischen, sehr distanzierten Beziehungen bei einem doch erheblichen Teil der älteren Paare. Man bleibt zusammen, hat sich aber im Grunde nichts mehr zu sagen. Kurt Tucholsky fasst es 1919 in seinem Gedicht »Danach« so zusammen: »Die Ehe war zum jrößten Teile // vabrühte Milch und Langeweile.« Solche Paarbeziehungen existieren bereits bei jungen Paaren, wie wir im Folgenden zeigen werden, allerdings aus anderen Beweggründen. Unterschiedliche Typen von Paaren: Mehr »Lover« oder mehr »Freunde«? Eine unterschiedlich ausgeprägte Partnerschaftsqualität tritt in Beziehungen in allen Lebensphasen auf. Sie kann bedingt sein durch die Tatsache, dass sich die Partner oder Paare in verschiedenen Stadien der Partnerschaft befinden, durch eine unterschiedliche Balance der Partner zwischen Autonomie und Verbundenheit oder dadurch, dass Paare unterschiedlich lange zusammen sind. Schon bei jugendlichen Paaren ist in etwa 30 % der Fälle keine positive Beziehungsqualität vorhanden, wie anhand einer Schulstudie zu konstatieren ist (Seiffge-Krenke u. Burk, 2012). Dazu wurden zweihundert Paare im Alter zwischen siebzehn und zwanzig Jahren gemeinsam untersucht. Fünf verschiedene Typen von Paaren im jugendlichen Alter ließen sich ausmachen: Die erste Gruppe, die

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am häufigsten vertreten war, war einerseits befreundet, aber auch romantisch verliebt (38 %). Es handelte sich um eine Mischung aus Freundschaft, Liebe und Passion. Paare der zweiten Gruppe waren ausschließlich verliebt (26 %). Das war offenkundig nicht nur positiv, denn diese Paare berichteten schwankende, massive und ambivalente Affekte, von »himmelhochjauchzend« bis »zu Tode betrübt«. Auch Eifersucht war sehr häufig. Partnerschaften der dritten Gruppe wiesen keine im engeren Sinne romantischen Elemente auf, sondern nur freundschaftliche (14 %). Dennoch fand Sexualität statt und die Beziehungsdauer unterschied sich nicht wesentlich von den anderen Gruppen. In der vierten Gruppe befanden sich Paare, bei denen die Beziehung durch starke Asymmetrie mit einem dominierenden Partner gekennzeichnet war (10 %). Verblüffenderweise fand sich eine fünfte Gruppe: Paare, die durch das Fehlen sowohl von Freundschaft als auch von Romantik gekennzeichnet waren (12 %). Erstaunlich war zudem, dass deren Beziehungsdauer wiederum nicht wesentlich von den anderen Gruppen abwich. Es schließt sich dann die Frage an, warum diese Paare eigentlich zusammenbleiben, handelt es sich doch um flache »Non-love«- oder »Empty-love«-Beziehungen, wie sie aus der Forschung an älteren Paaren bekannt sind (von Sydow, 2008). Status und Repräsentation könnten eine Rolle spielen, der Norm oder Forderung zu entsprechen und einen Freund bzw. eine Freundin zu haben. Möglicherweise spielt auch Bindung eine Rolle. Es könnte sich um Partner handeln, die unsicher gebunden sind und den Partner halten wollen, wenn auch auf Distanz. Das Ausmaß, in dem solche flachen, unemotionalen Beziehungen bereits im Jugendalter geführt werden, überrascht nachhaltig. Wie bereits erwähnt, ist bei älteren Paaren diese Form der »Zweckbeziehung« nachgewiesen.

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Was zeichnet eine gute Partnerbeziehung aus?

3.9 Was zeichnet eine gute Partnerbeziehung aus? Und wann gelingen oder scheitern Partner­ schaften? Wir haben nun verdeutlicht, dass sich Paarbeziehungen über die Zeit entwickeln und, unabhängig davon, auch von sehr unterschiedlicher Qualität sein können. Zugleich war bereits die Rede davon, dass die Ansprüche an die Partnerschaft und was sie alles für den Einzelnen erfüllen soll, sehr hoch sind und damit eine Gefahr für das Scheitern von Partnerschaft darstellen. Intimität: Die angemessene Balance zwischen Verbundenheit und Eigenständigkeit – und die Schwierigkeit, sie zu finden Die Fragen, was gute Partnerbeziehungen auszeichnet, wann Partnerschaften gelingen und wann sie scheitern, sind insbesondere innerhalb der Psychologie intensiv untersucht worden. Im Unterschied zu der akzelerierten Intimität in Internetbeziehungen versteht man unter Intimität in Partnerschaften in der Psychologie eine qualitativ sehr hochwertige Partnerschaft, die durch eine gute Balance zwischen dem Individuum und seinem jeweiligen Partner bzw. seiner jeweiligen Partnerin gekennzeichnet ist, also Partnerschaften, in denen eigene und gemeinsame Anteile ein ausgewogenes Verhältnis aufweisen (Seiffge-Krenke, 2012). Intimität in Paarbeziehungen wird dabei anhand eines Interviews (Orlofsky, 1993) in der Form ermittelt, wie gut man es versteht, in seiner Partnerschaft eine Balance herzustellen zwischen Individualität und der Verbundenheit. Intimität bemisst sich kurzgefasst am Verhältnis von Gemeinsamkeit und Autonomie. Eine Partnerbeziehung, die einen hohen Qualitätsanspruch im Sinne der Intimität hat, ist durch eine gute Balance zwischen Autonomie und Verbundenheit gekennzeichnet.

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Frauen sehen das anders – Männer auch Es wird bereits deutlich, dass Identität und Intimität in diesem Konzept sehr eng verbunden sind, dass also Aspekte des Selbst und des Anderen eng miteinander verflochten sind. Paare unterscheiden sich, wie nachfolgend dargestellt werden wird, darin, wie gut sie diese Balance gelöst haben. Interessanterweise unterscheidet sich aber auch der Umgang mit Intimität geschlechtsspezifisch. Untersucht man die Kommunikation von Männern, wenn diese über Paarbeziehungen sprechen, fallen rasche Wechsel auf zwischen intimen Bemerkungen, also solchen, die auf Nähe und persönliche Empfindungen abzielen, und distanzierenden Äußerungen, also Abgrenzungen, die die eigene Autonomie unterstreichen. Korobov und Thorne (2006) haben innerhalb einer Diskursanalyse für diese Art der Kommunikation nachgewiesen, dass der Anteil distanzierender zu intimer Äußerungen zwei zu eins betrug. Wenn Männer über ihre Partnerschaft oder Partnerinnen sprachen und dabei etwas sehr Intimes geäußert haben, revidierten sie das durch eine Distanz in der nächsten Äußerung direkt. Das zeigte sich als verbreitetes Kommunikationsmuster. Wie unterschiedlich Männer und Frauen kommunizieren, illustriert auch ein stereotyper Witz: Die Frau fragt: »Gibt es eigentlich noch etwas Komplizierteres als die Beziehung zwischen Mann und Frau?« Der Mann antwortet: »Die Steuererklärung.«

Es ist einleuchtend, dass es aufgrund des unterschiedlichen Fokus zu Kommunikationsmissverständnissen zwischen Männern und Frauen kommt, die schon früh ihren Ursprung haben können. Insbesondere in der Paarberatung sind diese häufig ein Thema.

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Was zeichnet eine gute Partnerbeziehung aus?

Gut balancierte, pseudointime, isolierte und symbiotische Paare Paare unterscheiden sich darin, wie gut ihnen die Balance zwischen Verbundenheit und Eigenständigkeit gelingt. Wie verschieden Partnern die Balance zwischen Identität und Intimität, zwischen Autonomie und Verbundenheit gelingt, zeigt das folgende Schema (vgl. Abbildung 5).

Abbildung 5: Zusammenhang von Identität und Intimität in Partnerbeziehungen (Seiffge-Krenke, 2012, S. 121)

Wie bereits beschrieben, bedeutet eine als intim charakterisierte Beziehung eine gute Balance in der Partnerbeziehung: dass jeder Partner noch etwas Eigenes hat, dass aber das Paar ausreichend Gemeinsames teilt; es gibt also einen Überlappungsbereich in der Mitte. Zudem gibt es Paarbeziehungen, die nach Orlofsky als pseudo­intim oder stereotyp bezeichnet werden. Es handelt sich um zwei Personen, die vollständig getrennt sind und keinen Überlappungsbereich aufweisen. Das sind sehr distanzierte Beziehungen, die dennoch sehr langlebig sein können. Die Partner sind relativ

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abgegrenzt, jeder verfolgt seine eigenen Interessen. Solche Paare sind ein häufiges Motiv der Bilder von Edward Hopper, wie zum Beispiel »Exkursion in die Philosophie« (1959). Das Paar sitzt dabei im selben Raum, es findet jedoch keine Bezugnahme aufeinander, kein Blickkontakt statt. Die Frage bleibt dabei stets, wie viel Separatheit eine Beziehung zulassen kann, ohne zu zerbrechen. Es kann sich hierbei um Beziehungen zwischen Partnern handeln, die ein Nähe-Distanz-Problem haben, das heißt, die Partner dürfen einander nicht zu nahe kommen. Es kann sich aber auch um Personen mit einer vermeidenden Bindung handeln, die aufgrund früherer negativer Beziehungserfahrungen auf Distanz bleiben, weil sie Ängste gegenüber dem Partner haben. Schließlich gibt es Partnerbeziehungen, in denen Partner aus anderen Gründen zusammenbleiben, auch wenn die Liebe längst erloschen ist oder von Beginn an nicht existiert hat. Dass dies keine Entwicklung ist, die nur für »alte Paare« gilt, haben wir bereits gezeigt. Schließlich existieren Partnerbeziehungen, in der beide Partner symbiotisch miteinander verschmolzen sind. In diesen Beziehungen geht die eigene Identität komplett in der Partnerschaft auf, gibt es keine Selbstständigkeit, keine Autonomie. Ein solches Phänomen beobachtet man oft am Beginn einer Partnerschaft bei starker Verliebtheit; in der Regel kommt es aber dann zunehmend zu Abgrenzungen. Bleibt eine solche Fusionierung jedoch länger bestehen, kann sie bedenkliche Folgen haben. Die Trennung vom Partner kann dann die Auslöschung der eigenen Identität bedeuten. Suizide oder erweiterte Suizide können als schreckliche Konsequenz aus einer Trennung auftreten. Es handelt sich also um psychologisch hochgefährliche Konstellationen. Paare, in denen die Partner zu symbiotisch sind, waren auch in der Kunst verbreitet. Die Beziehung von Frida Kahlo und Diego Riviera kann man als ein Beispiel für eine produktive, aber auch gefährliche Symbiose nennen. Es ist bekannt, dass sie nach einer

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Was zeichnet eine gute Partnerbeziehung aus?

Trennung wieder heirateten und dass das Paar eine enge und sehr dynamische Beziehung lebte. Thematisiert wurde das Symbiotische auch in ihren Werken. Kahlo malte mehrere Bilder, die sie und ihren Mann in enger Symbiose darstellen, so zum Beispiel jenes Bild, auf dem je eine Gesichtshälfte von Diego und von ihr stammt (Doppelbildnis aus dem Jahr 1944; vgl. Abbildung 6) – ein Geburtstagsgeschenk an ihn.

Abbildung 6: Diego und Frida 1929–1944 (Prignitz-Poda, Grimberg u. Kettenmann 1988, S. 164). © Banco de México, Diego Rivera & Frida Kahlo Museums Trust/VG Bild-Kunst, Bonn 2012

Wann gelingt oder scheitert eine Partnerschaft? Wie auch immer die Balance zwischen Autonomie und Verbundenheit ausfällt – die Aussagekraft über die Langlebigkeit der Beziehung ist beschränkt. Erkenntnisse aus der Bindungsforschung zeigen, dass hoch stabile Paarbeziehungen bei Paaren auftreten, in

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denen der Mann vermeidend gebunden ist und die Frau unsicher ambivalent. Die stabilsten Beziehungen sind in dieser Konstellation zu finden (Seiffge-Krenke, 2009a). Die sehr unterschiedlichen Bedürfnisse der Partner werden in diesen Beziehungen befriedigt. Das kann damit erklärt werden, dass ein Mann, der in seinen Affekten verhalten ist, das heißt an eine Frau vermeidend gebunden ist, besonders von einer Frau angezogen wird, die besonders starke und widersprüchliche Affekte zeigt: hoch ambivalent, ganz nah, dann wieder ganz fern. Er bewundert sozusagen ihre Affektausbrüche, sie hingegen seine Kontrolle. Jeweils hat der andere das, was der eine nicht hat. Die Hypothese der Bindungsforscher war eigentlich, dass Paare, in denen beide Partner sicher gebunden sind, die längsten Beziehungen haben. Als stabiler erwiesen sich jedoch die eben beschriebenen Paare, bei denen jeweils das, was der Partner für einen erfüllt, zentral war. Wir haben bislang schon einige Aspekte besprochen, die für eine gelingende Partnerschaft wichtig sind, zum Beispiel Einigkeit hinsichtlich der Gestaltung der Balance zwischen Autonomie und Verbundenheit. Es existieren aber noch weitere Kriterien. In einer Studie von Prodöhl (1979) wurden sechzig Paare untersucht: Dreißig Paare suchten eine Paarberatung auf, dreißig Paare fungierten als Kontrollpaare. Zwischen diesen beiden Gruppen waren deutliche Unterschiede feststellbar. Paare, die die Beratung aufsuchten, wiesen eine besondere Altersverteilung auf: Die Männer waren erheblich jünger als die Frauen. Ein weiterer Unterschied lag in der einseitigen Beurteilung der Verursachung von Konflikten. Wesentliches Motiv war die Zuschreibung der Konfliktursache zum Partner – der andere ist schuld. Hinzu kamen ein Mangel an Wertschätzung und ein Dominanzgefälle, das heißt, ein Partner dominierte die Beziehung. Schließlich war für die Hilfe suchenden Partnerschaften eine sehr große Diskrepanz zwischen dem tatsächlichen Partner und dem idealen Partnerbild zu finden.

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Was zeichnet eine gute Partnerbeziehung aus?

Bei Paaren, die eine zufriedenstellende Partnerbeziehung aufwiesen, waren die Männer etwas älter als die Frauen. Beide gaben an, zu Konflikten gleichzeitig und gleichrangig beizutragen. Trotz vorhandener Konflikte fühlten sich die Partner gewertschätzt. Die Machtverteilung war tendenziell egalitär und das Ideal- und das tatsächliche Partnerbild lagen relativ dicht beieinander. Diese Kriterien können also wesentlich zu einem Gelingen oder Scheitern einer Partnerschaft beitragen. Das richtige Streiten und die Bedeutung unterschiedlicher Kommunikationsstile Wir hatten bereits zuvor darauf hingewiesen, dass Männer und Frauen unterschiedliche Kommunikationsstile haben und daher nicht selten aneinander vorbeireden. Auch das »richtige« Streiten hat, in der Forschung, in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Dabei geht man zunächst davon aus, dass Konflikte häufig sind und zu jeder Partnerschaft gehören – zumindest im westlichen Kulturkreis. Gemäß dieser Auffassung können beide Partner an der Auseinandersetzung mit Konflikten wachsen und an Kompetenz gewinnen, was wiederum der Partnerschaft zugutekommt. Ursache für Konflikte können unter anderem Kommunikationsmissverständnisse, wie die unterschiedliche Bedeutung von Intimität für Männer im Vergleich zu Frauen sein. Anekdotisch: Die Frau fragt: »Ich will alles über dich wissen.« Der Mann antwortet: »Ich bin Borussenfan.«

Sie zielt also auf Intimität, er bleibt bei Fakten oder Handlungen. Erinnert sei auch in diesem Zusammenhang an die zuvor schon geschilderte Studie von Koborov und Thorne (2006), die belegt hat, dass Männer intime Äußerungen über ihre Partnerschaft immer zugleich auch durch distanzierende Äußerungen rahmen oder kor-

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rigieren, was möglicherweise Frauen als irritierend erleben. Ähnlich verhält es sich mit der Konfliktbewältigung, wo Frauen den Dingen auf den Grund gehen wollen und Männer gern mal weghören. Seit einigen Jahren werden verstärkt Kurse angeboten, in denen Paare Konfliktbewältigung in Partnerschaften lernen können. Das Zuhören und Eingehen auf den anderen sowie das Wertschätzen des Partners werden dort geübt (Bodenmann, 1997). Partnerschaften sind gut für die Gesundheit – aber nur für Männer: Sind Frauen zu stark involviert? Wir sind in diesem Kapitel auf ziemlich viele Unterschiede in der Sichtweise von Männern und Frauen gestoßen. Vielleicht sind diese verschiedenen Sichtweisen und die unterschiedlich starke Bedeutung von Partnerschaft für Männer und Frauen – erinnert sei unter anderem an die höhere Heiratsneigung der Frauen – mit ursächlich für die massiven Unterschiede in den gesundheitlichen Folgen von Partnerschaft und Ehe für Männer und Frauen. Bis in die jüngste Zeit zeigen viele Befunde, dass das Leben in einer Partnerschaft für Männer und Frauen unterschiedliche Konsequenzen haben kann. Negative Konsequenzen von Partnerschaft und Heirat auf die Gesundheit fallen für Frauen deutlicher aus als für Männer. Während Männer von der Ehe profitieren, sind für Frauen Ehe und Partnerschaft eher Risiken für die Gesundheit (Seiffge-Krenke, 2012). Alleinlebende Männer sterben früher und sind häufiger krank verglichen mit Männern, die verheiratet sind. Diese sind gesünder, viel weniger anfällig für Alkohol und Zigarettenabusus. Alleinlebende Frauen werden hingegen vergleichsweise alt  – bei verhältnismäßig guter Gesundheit. Verheiratete Frauen sind dagegen sehr viel häufiger depressiv und psychisch beeinträchtigt als alleinlebende Frauen. Kurzgefasst: Frauen profitieren gesundheitsmäßig nicht von einer Ehe, Männer hingegen schon.

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Praxisbezug: Paarberatung und Therapie

Diese Tendenzen zeigen sich bereits im Jugendalter. Eine Vielzahl von Studien belegt den Befund höherer Raten von Depressivität junger Mädchen in Partnerschaften gegenüber partnerlosen jungen Mädchen. Bei männlichen Jugendlichen ist, ungeachtet des Vorliegens einer Paarbeziehung, keine Zunahme an Depressivität zu beobachten (Seiffge-Krenke u. Shulman, 2012). Wie lässt sich die Stärke der gesundheitlichen Beeinträchtigungen von Frauen in Beziehungen erklären? In ihrem Buch »In a Different Voice« hat Carol Gilligan (1982) schon eine mögliche Antwort darauf gegeben: Da Frauen ihre Identität viel stärker über die Beziehungen bilden, sind auch die gesundheitlichen Folgen viel größer. Das in Kapitel 2 angeführte Phänomen, dass Mütter mit der Autonomieentwicklung ihrer jugendlichen Kinder sehr viel stärker mitfühlen als Väter, macht das deutlich. Frauen sind in ihrer Identität in viel stärkerem Umfang von Beziehungen abhängig als Männer, sie fühlen sich stärker verantwortlich bei gleichzeitig höheren Ansprüchen. Das führt auch zu höheren Erwartungen an Intimität in Beziehungen. Entsprechend trennen sich Frauen heute häufiger, wenn die Ansprüche an die Beziehungsqualität nicht mehr gegeben sind, verglichen mit Männern sind sie nach einer Trennung vorsichtiger und heiraten auch seltener erneut.

3.10 Praxisbezug: Paarberatung und Therapie Die Paarorientierung ist ungebrochen, und auch wenn man heute Beziehungen vergleichsweise leicht lösen kann, leben Menschen als Paar – teilweise lange mit demselben Partner, teilweise eher episodenhaft. Erstaunlich ist auch, dass sich viele »alte Kriterien« der Partnerwahl wie Homogamie, Status und Attraktivität durchaus bis heute erhalten haben, aber eine andere Gewichtung erfahren haben. Paarbeziehungen sind von großer Bedeutung für die Entwicklung jedes Menschen, viele Prozesse wie Identitätsentwicklung,

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Konfliktlösung und Persönlichkeitsentwicklung finden in diesem Kontext statt. Es ist wichtig, sich vor Augen zu halten, dass Paarbeziehungen seit dem Jugendalter Veränderungen durchmachen. Sie sind nicht von vornherein gleich so, wie wir sie im Erwachsenenalter erleben, weisen also andere Qualitäten auf und sind auch kurzlebiger. Auch die Gestaltung von Beziehungen kann sehr unterschiedlich ausfallen. Das gilt für Männer und Frauen, für die Beziehungen etwas Unterschiedliches bedeuten, das gilt aber auch für die Paarkonstellation. Wir haben gesehen, dass es eine hohe Diversität von Paarkonstellationen oder -typen gibt. Diese reichen von hoch romantischen Beziehungen bis hin zu Empty-love-Paaren, das zeigt sich schon in der Jugend und gilt bis ins hohe Alter. Diese Vielfalt von Paaren sollte in der Beratung ohne einen normativen Anspruch umfassend berücksichtigt werden – es wurde ja deutlich, dass es nicht allein Liebe ist, die Paare zusammenhält. Überhaupt wurde offenkundig, dass eine zu romantische Beziehung mit einer starken Idealisierung des Partners durchaus nicht als gelungene Partnerbeziehung angesehen werden kann, sondern dass sich reife Partnerbeziehungen durch eine gute Balance zwischen Autonomie und Verbundenheit mit dem Partner auszeichnen. Konflikte und deren Bewältigung sind ein wichtiger Teil der Aushandlung und können einen Beitrag zur Fortentwicklung von Beziehungen leisten. Ähnlich wie bei der Familienentwicklung sollten also Konflikte, sofern sie in einem tragbaren Rahmen stattfinden, als positiv angesehen werden, als Chance, die Beziehung weiterzuentwickeln. Eine Unterstützung der Konfliktfähigkeit der Partner kann eine wesentliche Aufgabe in der Paarberatung sein.

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4 Familie – nein danke?! Familie und Familien­ beziehungen zwischen Sehnsucht und Enttäuschung

In diesem Kapitel geht es um die Sehnsucht nach Familie und das Schwanken zwischen Hoffnung und Enttäuschung. Heute kann man in allen Massenmedien kritische Stimmen hören, manche sprechen gar vom »Tod der Familie«. Dabei wird oft auf die hohen Scheidungsraten, die geringen Heirats- und Geburtsraten Bezug genommen. Dies können Indikatoren sein, aber sie sind nicht eindeutig. So stecken hinter höheren Scheidungsraten auch andere Motive als die einer Ablehnung der Familie, nämlich zum Beispiel höhere Ansprüche an die Beziehungsfähigkeit und eine bessere ökonomische Absicherung, sodass eine Beziehung beendet wird, wenn sie nicht mehr den Ansprüchen genügt. Wir werden in diesem Kapitel die enorme Ambivalenz hinsichtlich Familie sowohl aus der familiensoziologischen als auch der entwicklungspsychologischen Perspektive verdeutlichen. Zunächst werden wir uns anschauen, welche Indikatoren für diese Ambivalenz sprechen. Dann werden wir darauf eingehen, was sich hinsichtlich des Wertes von Kindern, der Rolle und Funktion von Eltern, von Erziehungsprinzipien in den letzten fünfzig Jahren verändert hat. Auch wollen wir auf folgende weiteren Punkte eingehen: zum einen auf die Tatsache, dass die Geburt von Kindern eine Verschlechterung der Partnerbeziehung mit sich bringt, ein Aspekt, der schon in Kapitel 2 angeklungen ist und den wir hier verstärkt beleuchten wollen, des Weiteren die veränderte Einstellung zur gewollten Kinderlosigkeit. Was hat sich psychologisch getan in den letzten Jahren? Warum ist dies auf einmal so in Mode gekommen?

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Andererseits bleibt Hoffnung, denn die Paarfamilie mit Kind(ern) ist real immer noch die häufigste Lebensform von Menschen im mittleren Lebensalter – die Familie hat also allen Unkenrufen zum Trotz überlebt, wenn auch in veränderter Gestalt.

4.1 Was sind die Indikatoren für die schrumpfende Attraktivität von Familie? Zunächst befassen wir uns mit einigen soziologischen Indikatoren für die Ambivalenz in Bezug auf die Familiengründung. Dabei wird auf demografische Maßzahlen Bezug genommen, aber auch auf veränderte Sichtweisen davon, was »Eltern« und »Kinder« eigentlich heutzutage sind – im Vergleich zu früher. Es zeigen sich insbesondere hinsichtlich der Elternrollen und in der Eltern-Kind-Beziehung deutliche Veränderungen. Die gestiegene freiwillige Kinderlosigkeit ist ein weiterer wichtiger Punkt, der aus soziologischer Sicht, ergänzt um psychologische Perspektiven, beleuchtet wird. Erst Rückgang, dann Stabilität – das Geburtenverhalten in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg Seit Beginn der 1970er Jahre gehört Deutschland zu den »lowest low fertility countries«, zu den Ländern mit den niedrigsten Geburtenraten weltweit. Auf dem Höhepunkt des sogenannten BabyBooms in Deutschland wurden 1964 1,35 Millionen Kinder geboren, das entsprach einer Geburtenrate von etwa 2,5 Kindern je Frau (vgl. Abbildung 7). Danach setzte ein sehr massiver Rückgang der Geburten und der Geburtenziffer ein, der bis etwa 1974 andauerte. In diesem Jahr wurden nur noch etwa 800.000 Kinder in Deutschland geboren und die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau betrug rund 1,5. Seither ist die Geburtenhäufigkeit weiter auf etwa 678.000 im Jahr 2010 gesunken, die zusammengefasste Gebur-

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Was sind die Indikatoren für die schrumpfende Attraktivität von Familie?

tenziffer (TFR) ist dagegen nur noch geringfügig weiter zurückgegangen. Sie betrug im Jahr 2010 1,39. Damit ist jede nachfolgende Generation um etwa ein Drittel kleiner als ihre Elterngeneration. In der Folge dieser lang anhaltenden niedrigen Geburtenziffer nimmt also auch die Zahl der potenziellen Eltern ab. Die niedrigen Geburtenziffern »vererben« sich über die Generationen. Die zahlenmäßig kleinen Kohorten der nach 1975 Geborenen bringen selbst dann weniger Kinder hervor als ihre Eltern, wenn sie im Durchschnitt mehr Kinder hätten. Der Geburtenrückgang ist also nicht nur auf das heutige Verhalten der jungen Generation zurückzuführen, sondern er ist die späte Konsequenz des veränderten Gebärverhaltens ihrer Elterngeneration. Diese Entwicklung wird sich weiter fortsetzen. Gab es im Jahr 2000 noch knapp zwanzig Millionen Frauen im gebärfähigen Alter (15 bis 49 Jahre), werden es im Jahr 2020 nur noch knapp 16 Millionen sein – und damit etwa 20 % weniger (Statistisches Bundesamt, 2012b). Die niedrigen Geburtenraten stellen somit ein zentrales Element der demografischen Alterung dar.

Abbildung 7: Entwicklung der zusammengefassten Geburtenziffer in Deutschland 1960–2010 (Mikrozensus 2010; grafische Darstellung: Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung)

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Worin sind die Gründe für die langfristig sehr niedrige Geburtenziffer zu sehen? Grundsätzlich sind strukturelle und kulturelle Ursachen zu unterscheiden. Strukturell gilt Deutschland als ein Land, in dem die Vereinbarkeit von Familie und Beruf besonders erschwert ist. Gründe liegen im Fehlen einer ausreichenden Zahl an Kinderbetreuungsplätzen, vor allem im Krippen- und im Grundschulalter in Westdeutschland, aber auch in der geringen Bereitschaft der Arbeitgeber, durch flexible Arbeitszeitstrukturen und durch ein erhöhtes Angebot an vollzeitnahen Teilzeitarbeitsverhältnissen familienfreundlicher zu werden. Mutterschaft führt in Deutschland oftmals zum (teilweisen) Rückzug aus dem Erwerbsleben, Elternschaft hat an dieser Stelle für die Eltern also beträchtliche Kosten. Kulturell ist festzustellen, dass besonders in Westdeutschland traditionelle Familienleitbilder und Geschlechterrollen weiterhin eine große Bedeutung haben und die Förderung des Kindeswohls als Aufgabe der Eltern einen sehr hohen Stellenwert besitzt. Hinzu kommt das verbreitete Bestreben vieler (potenzieller) Eltern, in der Erziehung alles richtig zu machen und den hohen gesellschaftlichen Erwartungen an eine gelingende Erziehung zu entsprechen. Demografisch betrachtet hat sich das generative Verhalten in den letzten Jahrzehnten in vielfältiger Weise verändert. Besonders markant ist der rasch gestiegene Anteil dauerhaft kinderloser Frauen. Etwa jede fünfte Frau, die zwischen 1964 und 1968 geboren worden ist, war im Jahr 2008, also im Alter zwischen 40 und 44 Jahren, noch kinderlos und es kann angenommen werden, dass nur noch ein kleiner Teil dieser Frauen Mutter werden wird. Parallel zur Zunahme dauerhafter Kinderlosigkeit hat auch die Zahl der Frauen abgenommen, die mindestens drei Kinder geboren haben. Während noch jede dritte Frau der Geburtsjahrgänge 1933–1938 mindestens drei Kinder geboren hat, waren es in den

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Was sind die Indikatoren für die schrumpfende Attraktivität von Familie?

Geburtsjahrgängen 1959–1963 weniger als 20 % (Statistisches Bundesamt, 2012a). Der biografische Aufschub des Übergangs zur Elternschaft ist ein weiteres wichtiges Merkmal des Wandels des generativen Verhaltens. Mütter sind in Deutschland im Durchschnitt bei der Geburt ihres ersten Kindes über 28 Jahre alt und damit fast fünf Jahre älter als noch vor dreißig Jahren (Statistisches Bundesamt, 2012a). Gegenwärtig hat jedes vierte Neugeborene eine Mutter, die 35 Jahre oder älter ist. Als Folge dieses biografischen Aufschubs von Elternschaft erhöht sich das Risiko ungewollter Kinderlosigkeit. Demografisch ist damit auch eine Vergrößerung des Abstands zwischen den Generationen verbunden, mit erheblichen Folgen für die Geburtenzahl. Gleichzeitig ist der Anteil nichtehelich geborener Kinder drastisch angestiegen. In Ostdeutschland begann der Anstieg bereits mit Beginn der 1980er Jahre (vgl. Abbildung 8), während er in Westdeutschland erst seit etwa zehn Jahren über 20 % liegt.

Abbildung 8: Anteil der nichtehelich Geborenen an den Lebendgeborenen 1960– 2010 (in %) (Mikrozensus 2010; grafische Darstellung: Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung)

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Derzeit werden in Ostdeutschland mit einem Anteil von über 60 % deutlich mehr als doppelt so viele Kinder außerhalb einer Ehe geboren wie in Westdeutschland. Die weitgehende rechtliche Gleichstellung ehelicher und nichtehelicher Kinder sowie deren deutlich verringerte soziale Diskriminierung haben bisher nicht zu einer Angleichung der Niveaus geführt. In Westdeutschland erweist sich die Verknüpfung von Ehe und Elternschaft als wesentlich ausgeprägter, während bereits in der DDR Elternschaft auch außerhalb von Ehen oder in nachehelichen Phasen häufig war. Insgesamt fallen die strukturellen Bedingungen in Ost- und Westdeutschland sehr unterschiedlich aus, der Osten des Landes ist in dieser Hinsicht deutlich »kinderfreundlicher«. Auch kulturell lassen sich Unterschiede feststellen, das Rollenbild im Westen ist ein deutlich traditionelleres als im Osten (vgl. Tabelle 3, S. 143). Elternschaft ist aber in beiden Teilen eine anspruchsvolle Aufgabe, deren Schwierigkeit sich auch am sozialen Standing von Elternschaft bemisst, wie im Folgenden noch aufgezeigt wird.

4.2 Was »Kinder« sind und was »Elternschaft« bedeutet, hat sich verändert Möchte man sich der Frage annähern, inwieweit sich Elternschaft und Kindheit verändert haben, ist es hilfreich, sich zunächst vor Augen zu führen, welche Bedeutung hinter den Begriffen steckt. Die Gesellschaft hat, dies wird im gegenwärtigen Diskurs um die demografische Entwicklung deutlich, ein ausgeprägtes Interesse an der quantitativen und qualitativen Nachwuchssicherung. Die Auffassungen, inwieweit Kinder als Privatangelegenheit (der Eltern) oder als öffentliches Gut anzusehen sind, sind an dieser Stelle soziologisch von höchster Relevanz. Sie sind voraussetzungsvoll wie auch folgenreich. Entlang dieser Pole wird definiert, welche Rechte und

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Was »Kinder« sind und was »Elternschaft« bedeutet, hat sich verändert

Pflichten mit Elternschaft einhergehen, und welche Zuständigkeitsbereiche und Interventionsmöglichkeiten dem Staat zufallen. Elternpflichten als neue Errungenschaft Elternschaft bezeichnet soziologisch gesehen einen sozialen Status, der mit Rechten und Pflichten verbunden ist. Diese Rechte und Pflichten gelten weitgehend lebenslang, die Eltern-Kind-Beziehung ist die einzige in unserer Gesellschaft, die formal praktisch nicht aufkündbar ist (Schneider u. Rost, 1999). Eltern sind in der Pflicht, ihre Kinder zu versorgen und in ihrer Entwicklung zu unterstützen. Persönliche Zu- oder Abneigungen dürfen dabei keine Rolle spielen. Das ist historisch vergleichsweise neu: In wesentlich höherem Maße wurde früher durch die Eltern ökonomischer Nutzen aus Kindern gezogen, Fürsorge und Schutz waren keine Anliegen des Staates, sondern lagen im Interesse der Eltern. Kinder waren in dieser Hinsicht eine Privatangelegenheit. Mit der Einführung und Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird großflächig in diese Privatsache eingegriffen (Mitterauer, 1986). Die Fürsorge für Kinder steht heute gesellschaftlich und rechtlich stärker im Mittelpunkt. Eltern sollen eine positive Entwicklung der Kinder sicherstellen – Kinder werden als öffentliches Gut betrachtet. Das wird zum Beispiel dann besonders deutlich, wenn im öffentlichen Diskurs freiwillige Kinderlosigkeit als »Verstoß gegen den Generationenvertrag« bezeichnet wird. Wenn eine Gesellschaft Elternschaft zu einer öffentlichen Aufgabe erklärt, aber die strukturellen und auch kulturellen Rahmenbedingungen unattraktiv gestaltet sind, liegt eine gesellschaftliche Inkonsistenz vor. Diese erschwert die politische Handhabung von Elternschaft.

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Ansprüche an Elternschaft: Rabenmütter oder Mutterglucken? Auch kulturell und sozial haben sich die Ansprüche an Elternschaft verändert. Die Ideologie der »Rabenmutter« markiert sehr eindrücklich die gegenwärtige Situation, in der sich Frauen besonders in Westdeutschland befinden. Das deutsche Wort Rabenmutter gibt es in den meisten anderen Sprachen so nicht. Diese Redensart ist wohl darauf zurückzuführen, dass junge Raben, bevor sie flugfähig sind, das Nest verlassen und noch sehr unbeholfen wirken. Daraus leitete man ab, dass die Rabenvögel schlechte Eltern seien. Tatsächlich sind Raben jedoch recht fürsorgliche Eltern, die sich lange um die Jungen kümmern. Entsprechend wird mit dem Negativbild einer Rabenmutter eine Mutter assoziiert, die sich nicht mit der erforderlichen Hingabe um ihr Kind kümmert, zu wenig Zeit für es aufwendet, zu wenig Empathie zeigt und sich nicht in ausreichendem Maße dem Kind zuwendet und es nicht im gesellschaftlich erwünschten Umfang in seiner Entwicklung fördert und unterstützt. Die Autorin und Journalistin Jutta Hoffritz widmet sich der Thematik in ihrem am 29. August 2008 in der ZEIT erschienenen Artikel in folgender Weise: Mütter, die ins Büro gehen, müssen sich viele Fragen gefallen lassen. Ob sie ihr Kind denn so gar nicht vermissen? Ob sie auch Zeit haben fürs Baby-Schwimmen und den musikpädagogischen Krabbelkreis? Das Kümmern und Kosen ist weiterhin Frauensache. Und es ist ein 24-Stunden-Job. Wie sollte Mama sonst auch Zeit finden für den Erwerb der Spezialkompetenzen gehobener Mütterlichkeit? Von der Säuglingsmassage übers Tragetuchtragen zum allergenarmen Kochen fürs Kleinkind nebst Möhrenschaben – eine Unzahl von Kursen widmet sich all dem mit typisch teutonischer Gründlichkeit. Die Mütterbeschäftigungsindustrie ist kreativ. Sie erfindet immer neue Trends: zuletzt etwa den Englischunterricht

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Was »Kinder« sind und was »Elternschaft« bedeutet, hat sich verändert

für Kinder ab drei Monate. Rund 25.000 Kinder sind bundesweit bei Helen-Doron-Early-English eingeschrieben (Hoffritz, 2008).

Die Rabenmutter als Negativfolie veranschaulicht zweierlei. Einerseits handelt es sich um die Befürchtung der Eltern, ihre Kinder seien nicht »gut genug«. In der Gegenwart sind vermeintlich immer mehr Kinder krank oder instabil. ADS, ADHS, Dyskalkulie oder Lern- und Verhaltensstörungen stellen hier nur Beispiele der Schlagworte dar, die deutlich machen, welcher Druck und welche Ängste auf Kindern und Eltern lasten. Gleichzeitig hält die Pharmaindustrie eine Vielzahl von Lösungen und Programmen bereit, diesen zu begegnen. Andererseits geht die Rabenmutterideologie mit der Furcht einher, man selbst sei nicht gut genug für seine Kinder, man fördere sie nicht genug und tue zu wenig für sie. Mit einem Blick auf andere Länder erweist sich diese Angst in Deutschland als besonders ausgeprägt. In Frankreich etwa beunruhigt Eltern vor allem die Idee, Kinder zu verzärteln und zu sehr zu bemuttern. Das Rabenklischee kennt man dort nicht. Frankreichs Schreckensbild stellt ein anderer Vogel dar: die »mère poule«, die überfürsorgliche Mutterglucke (Ruckdeschel, 2009). Dieses Beispiel verdeutlicht, dass es sich bei Elternrollen und beim Erziehungsgeschehen nicht in erster Linie um natürliche, gegebene Institutionen und Geschehnisse handelt, sondern um soziale Konstruktionen, die sich im Zeitverlauf wandeln, innerhalb Europas unterschiedlich ausfallen und durch kulturelle sowie strukturelle Einflüsse geprägt werden. Elternstress – ein deutsches Phänomen? Dass die Belastung, eine Familie zu haben, möglicherweise von Deutschen als besonders groß erlebt wird, zeigen auch psychologische Untersuchungen, in denen Elternwerden und Elternsein in verschiedenen Ländern miteinander verglichen wurden. In der

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Studie von Nickel und Quaiser-Pohl (2001) zum Beispiel fühlten sich die deutschen Eltern – im Vergleich zu Eltern aus Korea, USA und Österreich – besonders gestresst. Im internationalen Vergleich wird immer wieder deutlich, dass Gefühle der Verunsicherung gegenüber Elternschaft in Deutschland besonders ausgeprägt sind. In einer Studie an Eltern von Kindergartenkindern fanden Hahlweg, Heinrichs, Bertram, Kuschel und Widdecke (2008), dass sich über zwei Drittel (68 %) der Eltern sehr belastet und verunsichert fühlen. Ähnlich sind die Befunde der Value-of-Children-Studie (Nauck, 2007): Im Vergleich zu Eltern aus anderen Ländern berichten deutsche Eltern relativ wenige positive Affekte in Bezug auf ihr Kind und erleben die Elternrolle als besonders wenig wertgeschätzt. Auch die erwartete soziale Wertschätzung durch Elternschaft ist in Deutschland im internationalen Vergleich ausgesprochen niedrig (vgl. Abbildung 9). Die Eltern nehmen also wahr, dass Elternschaft vergleichsweise gering geschätzt wird.

Abbildung 9: Erwartung einer höheren sozialen Anerkennung durch die Geburt eines Kindes (in %) (Generations and Gender Survey, 2005; grafische Darstellung: Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung) Anm.: nur Kinderlose im Alter zwischen 18 und 40 Jahren in ausgewählten Ländern

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Elternschaft und Eltern-Kind-Beziehungen sind gegenwärtig durch hohe gesellschaftliche Erwartungen an Erziehungsleistungen gekennzeichnet, man spricht auch von »Professionalisierung der Elternschaft«. Potenzielle Eltern können sich von dieser Tendenz überfordert und abgeschreckt fühlen. Gleichzeitig sind die Rollen- und Alltagsorganisation in Familien aufwändiger geworden, es muss immer mehr ausgehandelt und »unter einen Hut gebracht« werden. Soziologisch nennt sich das »doing family« (Schier u. Jurczyk, 2007) – Familie präsentiert sich also zunehmend als Gestaltungsleistung.

4.3 Zwei, eins oder keins? Kinderwunsch und die zunehmende Bedeutung bewusster Kinder­ losigkeit Was alles ausgehandelt werden muss und wie sich dies im Verlauf der Familienentwicklung verändert, wird uns noch in weiteren Abschnitten dieses Kapitels beschäftigen. Zunächst geht es um weitere Indikatoren für die vermeintlich abnehmende Attraktivität von Familie: der gesunkene Kinderwunsch, die allgemeine Haltung zu Kindern in den Massenmedien und die bewusste Kinderlosigkeit. Der pädagogische Pessimismus als Verhütungsmittel In den letzten Jahren kann man in jeder großen deutschen Zeitung Beispiele für einen zunehmenden pädagogischen Pessimismus finden. Es wird dann geschildert, dass die Kinder verwahrlost vor dem Computer dahindämmern, die Eltern überfordert seien, dass die Kinder die Eltern tyrannisieren, dass Kinder die Eltern ins Armutsrisiko stürzen. Eine Zeitung hat sogar behauptet, der pädagogische Pessimismus habe eine geradezu verhütende Wirkung, könnte also dazu führen, dass Paare keine Kinder mehr

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»einplanen«. Man muss heute keine Kinder mehr bekommen und wenn man sie bekommt, dann ist es eine Option im Vergleich zu Freizeit, Konsum usw. Menschen versuchen heute, vor dem Hintergrund der aufgezeigten gewandelten Bedingungen, immer häufiger die Kosten und Nutzen von Elternschaft aufzurechnen (Seiffge-Krenke, 2010a). Viele kommen dabei zu dem Ergebnis, dass es besser sei, auf Kinder zu verzichten. Kurz möchten wir eine dreißigjährige Akademikerin zu Wort kommen lassen, die im Rahmen einer Fokusgruppe zum Thema Elternschaft Folgendes erklärte: »Meine größte Angst ist es, die Lust am Leben zu verlieren. Man ist dann nicht mehr flexibel, aber mit Verantwortung zugekleistert. Ich finde mein Leben gerade interessant und möchte es nicht aufgeben.«

Ein Mann sagte uns zum gleichen Thema: »Ich will kein langweiliges Leben mit Kindern.«

Sehr aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang auch die Befunde der im Februar 2011 vorgestellten Eltern-Studie zum Thema: »Warum kriegt ihr keine Kinder?« Dort führte jeder vierte Befragte die zu hohen gesellschaftlichen Erwartungen an Eltern als Grund an. In der Folge entwickeln immer mehr Menschen eine Distanz zu Elternschaft. Wir können das über den berichteten Kinderwunsch messen: 13 % der Frauen und 27 % der Männer im Alter zwischen 25 und 44 Jahren wollen keine Kinder (ElternStudie, 2011). Der Kinderwunsch ist wandelbar und schwer messbar In Deutschland mit seiner niedrigen Geburtenrate haben sich Kinderlosigkeit und Einkindfamilien statistisch zu einer Art Norma-

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lität entwickelt, die für größer werdende Gruppen zunehmend Modellcharakter erhalten. Hinsichtlich des Kinderwunsches ist dabei eine weit verbreitete Annahme, die Menschen hätten einen mehr oder weniger stabilen und gut reflektierten Kinderwunsch, den sie dann auch umsetzen, wenn Anreize geschaffen bzw. Barrieren abgebaut werden. Empirisch ist diese Auffassung aber nicht haltbar. Kinderwünsche sind in aller Regel zunächst voraussetzungsvoll, das heißt, eine Person möchte ein Kind – oder auch mehr oder eben kein Kind –, wenn und sofern bestimmte Bedingungen erfüllt sind. Der Anteil von Menschen, die eine Art unbedingten Kinderwunsch aufweisen, fällt hingegen deutlich geringer aus und ist nicht die Regel. Gleichzeitig ist der Anteil von Menschen, die dauerhaft auf Kinder verzichten möchten, gewachsen. Dies führt im Gesamtbild zu einer verringerten gewünschten Kinderzahl. Die durchschnittlich gewünschte Kinderzahl von Frauen erweist sich mit 1,75 Kindern dabei als höher als diejenige von Männern mit 1,59 Kindern (Höhn, Ette u. Ruckdeschel, 2006). Warum der Kinderwunsch von Männern niedriger ausfällt als derjenige von Frauen, dazu gibt es bisher zwei geläufige Thesen. Die erste These beruft sich auf Bedenken, die sich aus dem Verhältnis rechtlicher Pflichten und Rechte ergeben. Zwar ist die rechtliche Stellung nichtehelicher Väter in den letzten Jahren gestärkt worden, das starke Ungleichgewicht der Rechte am Kind könnte aber dennoch einen Nachhall finden. Die zweite These bezieht sich stärker auf gewandelte gesellschaftlich-kulturelle Aspekte und besagt, dass der gewachsene Wunsch nach männlicher Verantwortungsübernahme und Engagement unter dem Stichwort aktive Vaterschaft oder Neuer Vater abschreckend wirkt und somit zu einer Distanzierung der Männer von eigenen Kindern führen kann – wenn ich mich engagieren muss: dann lieber nicht. Besonders bemerkenswert erscheint der ausgeprägtere Kinderwunsch von Frauen gegenüber Männern aber dann, wenn man

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berücksichtigt, dass die Vereinbarkeitsproblematik von Familie und Beruf vor allem aus einer weiblichen Perspektive geführt und bisher weitgehend unisono als »weibliches Problem« dargestellt wird. Es wäre also naheliegend anzunehmen, dass Frauen vor diesem Hintergrund eher angeben, auf Kinder verzichten zu wollen, während es aus einer männlichen Sichtweise eher »egal« sein könnte. Vielleicht sind es aber die Männer, die diese Vereinbarkeitsproblematik für sich schon im Vorfeld antizipieren und lieber präventiv auf Kinder verzichten. Die Absicht, ein Kind zu bekommen, und die Kriterien der Partnerwahl stehen in einem Zusammenhang. Insbesondere bei Frauen lässt sich beobachten, dass Partnermerkmale, die auf Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme hindeuten, in solchen Fällen eine zunehmend wichtige Rolle spielen (vgl. Kapitel 3). Sozialwissenschaftlich erweist sich auf quantitativ-repräsentativer Ebene eine empirische Annäherung an den Kinderwunsch als schwierig. An dieser Stelle wird zur besseren Illustration der empirischen Messung des Kinderwunsches ein Beispiel angeführt, das in der Praxis häufig angewendete Telefoninterview. Das Telefon klingelt, der Befragte antwortet und erklärt sich nach einer kurzen Einweisung in das Thema der Befragung bereit zur Teilnahme. Er soll sich zunächst mit Hilfe eines standardisierten Fragebogens, bei dem die Antworten vorgegeben sind, zu verschiedenen Themen äußern. An einem bestimmten Punkt drehen sich die Fragen dann um das Familienleben oder eine gegebenenfalls vorhandene Partnerschaft. Um den Kinderwunsch zu ermitteln, wird dann zum Beispiel gefragt: »Wenn Sie realistisch über eigene Kinder nachdenken: Wie viele (weitere) Kinder, denken Sie, werden Sie haben?«, oder »Haben Sie vor, innerhalb der nächsten drei Jahre (erneut) Vater/ Mutter zu werden?« Die vorgegebenen Antworten entsprechen dann in der Regel ganzen Zahlen oder lauten ja oder nein.

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An diesem Beispiel werden mehrere Probleme der empirischen Messung des Kinderwunsches deutlich: So mag der Befragte zwar an sich seinen Kinderwunsch sehr gut reflektiert haben, am Vorabend jedoch hatte er einen heftigen Streit mit seiner Partnerin. Die Antwort würde vor diesem Hintergrund gegebenenfalls anders ausfallen, als es dem Kinderwunsch des Befragten eigentlich entspricht. In einem anderen Fall kann eine Person sehr sicher wissen, dass sie ein bis zwei Kinder möchte. Nun hat sie aber nur die Möglichkeit, »eins« oder »zwei« als Antwort anzugeben. Es könnte außerdem sein, dass die Person sich noch nicht umfassend mit der Frage nach Kindern auseinandergesetzt hat, aber dem Interviewer dennoch eine Antwort liefern möchte. Auch in diesem Fall wäre diese dann verfälscht. Alles in allem gestaltet sich die Messung des Kinderwunsches, wenn man repräsentative Angaben machen möchte, also als schwierig. Es wurde ebenfalls deutlich, dass der Kinderwunsch nicht als Disposition zu begreifen ist, die unveränderlich einer Person innewohnt; er ist vielmehr auf ausgeprägte Weise voraussetzungsvoll. Ob jemand Kinder möchte, und wenn ja, wie viele, hängt von zahlreichen und sehr unterschiedlichen Faktoren ab und ist damit auch dynamisch. Die äußeren Umstände, beispielsweise die Arbeitsmarktsituation, können dabei eine große Rolle spielen, ebenso die Partnerschaft oder die Wohnsituation, um nur einige zu nennen. Gibt heute jemand an, drei Kinder zu wollen, und wird im nächsten Quartal arbeitslos, könnte und würde sich mit hoher Wahrscheinlichkeit die Antwort innerhalb dieses kurzen Zeitabschnittes drastisch verändern. Freiwillige und unfreiwillige Kinderlosigkeit Es macht durchaus Sinn, zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Kinderlosigkeit zu unterscheiden. Bei freiwilliger Kinderlosigkeit handelt es sich um ein soziales Phänomen, bei dem Menschen sich

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zeitweilig oder dauerhaft gegen ein Leben mit Kindern entscheiden. Unfreiwillige Kinderlosigkeit ist dagegen zunächst mit der biologischen Unfähigkeit, Kinder zu bekommen, gleichgesetzt. Schätzungen des Anteils von Personen, die körperlich nicht dazu in der Lage sind, Kinder zu zeugen oder zu bekommen, schwanken zwischen 5 % und 15 % (Brähler, Stöbel-Richter, Huinink u. Glander, 2001). Unfreiwillige Kinderlosigkeit entsteht aber auch dann, wenn sie aus einem Aufschubverhalten resultiert, eine Person also eigentlich ein oder mehrere Kinder haben möchte und dies immer weiter verzögert. Insbesondere längere Ausbildungszeiten und ein verspäteter Start ins Berufsleben sind häufige Gründe für einen Aufschub des Kinderwunsches. Für Frauen weiß man um die zeitliche Begrenzung der Fruchtbarkeit, bei Männern nimmt die Zeugungsfähigkeit mit dem Alter ebenfalls deutlich ab – so kann schließlich der freiwillige Aufschub in eine eigentlich unintendierte Kinderlosigkeit münden. Dies ist der vermutlich empirisch relevanteste Weg in die unfreiwillige Kinderlosigkeit. Die Motive, freiwillig kinderlos zu bleiben, sind vielfältig Es ist bereits mehrfach erwähnt worden, dass der Kinderwunsch sinkt. Die Annahme, dass Menschen Kinder wollen und sie aus irgendwelchen Gründen nicht bekommen, gehört der Vergangenheit an. Wir müssen zunehmend erkennen, dass Menschen tatsächlich keine Kinder oder nur wenige Kinder wollen. Welche Gründe sind hier relevant? Weit verbreitet ist der Wunsch nach Flexibilität und Unabhängigkeit, der in rund einem Viertel der Fälle für freiwillige Kinderlosigkeit angeführt wird und als erwachsenenzentrierter Lebensstil zusammengefasst werden kann (Rost u. Schneider, 1996). Insbesondere für Personen mit höherer Bildung spielt dieses Motiv eine zentrale Rolle und die Relevanz dieses Motivs nimmt mit dem Alter der Befragten zu – ein Leben mit Kindern ist dann immer schwe-

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rer vorstellbar. Viele Menschen verzichten aufgrund einer ausgeprägten Berufs- oder Karriereorientierung auf Kinder. Das liefert einen Hinweis auf eine als unzureichend empfundene Vereinbarkeit. Die mangelnde Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme, die einerseits auf Zweifel an den eigenen Fähigkeiten beruhen kann, andererseits aber auch auf die Frage Bezug nimmt, ob ein Kind in »diesen Zeiten« aufwachsen sollte, ist in 11 % der Fälle ausschlaggebend, auf Kinder zu verzichten. Die Partnerorientierung oder Befürchtungen, Kinder könnten die Qualität der Paarbeziehung zu stark beeinträchtigen, trifft für Männer eher zu als für Frauen. Zunehmend wichtig wird das Argument, (noch) nicht den richtigen Partner gefunden zu haben. Ist bewusste Kinderlosigkeit »in«? Auf die niedrigen Geburtenraten und die gestiegene Anzahl gewollt kinderloser Menschen wurde bereits hingewiesen. Auch die Motive für Kinderlosigkeit wurden dargestellt. Auffällig ist das relativ prominente Motiv der eigenen Unabhängigkeit. Wie hat sich nun die Wahrnehmung bewusster Kinderlosigkeit in den letzten Jahrzehnten verändert? Chancey und Dumais (2009) haben Bücher analysiert, in denen es in den letzten Jahrzehnten um Kinderlosigkeit geht, sie haben sich darüber Gedanken gemacht: Warum nimmt bewusste Kinderlosigkeit so zu? Bei der Analyse von Büchern zur Kinderlosigkeit, die im Zeitraum zwischen 1950 und 2000 publiziert wurden, haben sie einen historischen Wandel festgestellt. In den Jahren 1950 bis 1960 hat ein Paar, das keine Kinder bekommen wollte, dies verborgen. Es herrschte eine strikt negative Sicht von bewusster Kinderlosigkeit vor, ja es war geradezu ein Tabu, sich keine Kinder zu wünschen. Ab 1970 wuchs die Toleranz, berufliche Ambitionen wurden als ein Grund anerkannt, keine Kinder zu bekommen. Ab 1990 haben die beiden Autoren dann einen weiteren Wandel in den Einstellungen festgestellt: Es

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wurde als eine absolut mutige Entscheidung hingestellt, wenn sich jemand gegen die Norm entschied, keine Kinder zu bekommen. Allerdings muss man in diesem Zusammenhang erwähnen, dass Simone de Beauvoir bereits 1949 in »Das andere Geschlecht« den bewussten Verzicht auf Kinder als Voraussetzung für die weibliche Emanzipation propagiert hat. Es dauerte allerdings eine Weile, bis diese kühne Sicht rezipiert wurde und in Deutschland, zum Beispiel im Zuge der Frauenbewegung, diskutiert wurde. Beauvoirs radikale Haltung hat allerdings nicht viele Befürworter gefunden. Es wurde jedoch kritisch bis heute reflektiert, inwieweit für Frauen Mutterschaft und Berufstätigkeit schwer vereinbare Lebensziele sind.

4.4 Kinder als »Störenfriede« in der Partnerschaft? Wir haben bei der Erörterung der Motive für einen Verzicht auf Kinder gefunden, dass eine starke Partnerorientierung dazu beitragen kann, dass ein Paar kinderlos bleibt. In der Tat ist die dramatische Verschlechterung der Partnerbeziehungen durch die Geburt von Kindern ein substanzieller empirischer Befund, der sich immer wieder in Studien in verschiedenen Ländern gefunden hat (z. B. Petzold, 1998; Lawrence, Rothman, Cobb, Rothman u. Bradbury, 2008). Besonders dramatisch ist die Verschlechterung in den ersten fünf Jahren nach der Hochzeit, wie die 17-jährige Längsschnittstudie von van Laningham, Johnson und Amato (2001) beweist. Dies scheint anzudeuten, dass Kinder verantwortlich sind für die Verschlechterung in der Paarbeziehung. Aber ist dies – trotz aller möglicherweise auftretenden Belastungen in den Frühphasen der Familienentwicklung – tatsächlich der Fall? Brechen Kinder wirklich in die Paarbeziehung ein und führen zu einem drastischen Rückgang der Zufriedenheit? Besonders alarmierend sind die Befunde der vergleichenden Studie von Kurdek (2008).

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Kinder als »Störenfriede« in der Partnerschaft?

Warum scheinen Paare ohne Kinder glücklicher zu sein? Kurdek (2008) verglich verschiedene Formen von Partnerschaften und belegt ebenfalls den dramatischsten Abfall in der Qualität der Partnerbeziehungen bei heterosexuellen Partnern nach der Geburt von Kindern. Partnerschaften homosexueller Paare erweisen sich stabil als »am glücklichsten«. Ein leichter Abfall der Partnerschaftsqualität zeigt sich auch bei kinderlosen Paaren, besonders markant aber ist er bei Paaren mit Kindern. Type of Couple Lesbian Gay Heterosexual (No children) Heterosexual (Children)

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Year of Cohabitation

Abbildung 10: Veränderungen in den Paarbeziehungen bei heterosexuellen und homosexuellen Partnern mit und ohne Kinder (Kurdek, 2008, S. 705)

Ein sehr wichtiger Gesichtspunkt, der auch empirisch gut belegt ist, ist die Veränderung des Rollenverhaltens bei Männern und Frauen in Richtung eines Traditionalisierungseffekts (Kapella, Rille-­Pfeiffer,

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Rupp u. Schneider, 2009). Damit ist gemeint, dass durch die Geburt von Kindern auch berufstätige Frauen zu Hause bleiben, sich um die Kinder kümmern, plötzlich finanziell abhängig werden und der Mann als frischgebackener Vater nun besonders hohe Wochenarbeitszeiten aufbringt, insbesondere um die finanzielle Versorgung seiner Familie sicherzustellen. Dies führt zu Unzufriedenheit bei vielen frischgebackenen Müttern und einer Überlastung der Väter (Brüderl, 1989). Die Traditionalisierung bedeutet allerdings auch, dass nun die Paarebene verlassen wird und man nur noch Eltern ist. Diese rapide Rollenveränderung mit der Dominanz der Elternrolle, wie sie die Versorgung von sehr kleinen Kindern erfordert, kann ein Problem für viele Paare sein, die zunehmend weniger Zeit füreinander haben, also Zeit, die sie in ihre Paarbeziehung investieren können. Allerdings zeigt die Grafik von Kurdek, dass auch Paare ohne Kinder nach fünf Jahren einen Knick in der Zufriedenheitskurve aufweisen. In Kapitel 3 wurde der Entwicklungsverlauf von Partnerbeziehungen beschrieben, der im jungen Erwachsenenalter eine Entidealisierung und eine zunehmend pragmatische Perspektive erhält. Die sehr hohen Werte in der Qualität der Partnerbeziehung, die in Abbildung 10 bei heterosexuellen Paaren mit und ohne Kinder gleichermaßen auftreten, könnten also möglicherweise ein Hinweis darauf sein, dass man nach einer anfänglichen Idealisierung allmählich zu einer eher pragmatischen Perspektive gelangt. Aspekte wie Entidealisierung, Entromantisierung, der Traditionalisierungseffekt, erklären vieles, aber nicht alles. Möglicherweise kommen auch noch Routine und Belastung sowie die »freundliche Kompromisserotik«, von der Clement (2006) spricht, hinzu (vgl. Kapitel 3). In der Tat beschweren sich zahlreiche frischgebackene Väter darüber, dass ihre Partnerinnen nur noch Augen für das Kind hätten, und über eine sich seit der Geburt von Kindern verschlechternde Sexualität (Brüderl, 1989).

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Kinder als »Störenfriede« in der Partnerschaft?

… und warum scheinen Partnerschaften homosexueller Paare stabil am glücklichsten? Die Studie von Kurdek (2008) bzw. die zugehörige Abbildung 10 lassen erkennen, dass auch lesbische Paare sehr hohe Beziehungsqualitäten aufweisen, die sich dann im Laufe der Zeit zwar verschlechtern, aber nicht auf das Niveau der heterosexuellen Paare, insbesondere jener Paare mit Kindern, absinken. Über die Ursachen können wir zunächst nur spekulieren. Könnte es sein, dass sich homosexuelle Partner bewusster für die Partnerschaft entscheiden? Der soziale Druck, einen Partner zu haben, könnte für Homosexuelle geringer ausfallen als für Heterosexuelle. Es wird sich vielleicht bewusster auf die Partnerschaft eingelassen, hinzu kommen möglicherweise längere Suchphasen und andere Suchstrategien. Ein späteres Eintrittsalter in die Partnerschaft begünstigt dabei eine reife und fortgeschrittene Persönlichkeitsentwicklung. Vielleicht spielt auch eine Rolle, dass sich Männer besser in Männer und Frauen besser in Frauen einfühlen können. Von der wahrgenommenen Ähnlichkeit als Merkmal für die Wahl des Partners war ja in dem vorangegangenen Kapitel bereits die Rede. Soziologisch ist auch zu bedenken, dass gleichgeschlechtlich orientierte Menschen sehr viel eingeschränktere Partnermärkte haben als heterosexuell Orientierte und dadurch weniger Handlungsalternativen, insofern sind sie stärker auf die bestehende Beziehung verwiesen. Vielleicht gibt es bei gleichgeschlechtlichen Paaren auch mehr Solidarität, denn sie stehen natürlich einer Überzahl heterosexueller Paare gegenüber. Das könnte auch zusammenschweißen. Diese verschiedenen Vermutungen wären an empirischen Daten zu überprüfen. Allerdings ist die Forschung zu gleichgeschlechtlichen Paaren in Deutschland sehr beschränkt, und es existiert noch weniger Forschung, die gleichgeschlechtliche und heterosexuelle Paare hinsichtlich der Auswirkungen von Elternschaft auf Beziehungsqualität vergleicht.

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Besondere Herausforderungen für Eltern mit kleinen Kindern Die ersten fünf Jahre scheinen sehr wichtig zu sein, und wir hatten anlässlich der Darstellung der Familienentwicklung (vgl. Kapitel 2) erörtert, dass in dieser Phase die entscheidenden Veränderungen von der Paarebene zur Elternebene erfolgen, und zwar mit einer für die meisten Paare nicht absehbaren Intensität und Dringlichkeit. Dem Paar bleibt wenig Zeit, die es in die Paarbeziehung investieren kann, es muss zugleich zuverlässig und intensiv das Neugeborene bzw. Baby versorgen – rund um die Uhr. In der Frühphase der Familienentwicklung, wenn die Kinder klein sind, wird eine Scheidung vergleichsweise häufig erwogen. In der Tat zeigen die statistischen Daten, dass sich Paare häufig in einer frühen Ehephase trennen, das heißt, das Paar trennt sich eventuell zu früh, bevor das Familiensystem wieder zur Ruhe gekommen ist (vgl. Kapitel 6). Wir hatten bereits in Kapitel 2 dargestellt, dass die Integration von Familienmitgliedern Zeit braucht. Diese Zeit muss man dem Paar auch zugestehen bzw. muss sich das Paar auch nehmen. Wenn die Kinder klein sind, ist die Familienentwicklung, wie bereits beschrieben, dadurch gekennzeichnet, dass sich die Beziehung der Partner zu verschlechtern beginnt. Diese Veränderung der Paarbeziehung tritt zu einem Zeitpunkt auf, wenn die Kinder ein rasantes Entwicklungstempo in vielen Bereichen (Motorik, Sprachentwicklung, Denken und emotionale Entwicklung der Kinder) aufweisen. Zugleich sind aber auch die Eltern in dieser Phase besonders vulnerabel, besonders verletzlich. Wir wissen aus Untersuchungen von Corinna Reck und anderen (2008), dass der Beginn der Elternschaft eine massive Belastung darstellt, die nicht selten zu schweren Depressionen vor allem der Mütter führt, die mit der Rundumbetreuung eines kleinen Kindes überfordert sind. Überfordert, weil sie teilweise in kinderlosen oder kinderarmen Kontexten auf-

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Kinder als »Störenfriede« in der Partnerschaft?

gewachsen sind und auf diese Weise kaum Lernprozesse bezüglich des Umgangs mit kleinen Kindern machen konnten. Überfordert aber auch, weil durch die Verkleinerung der Familie häufig keine Ansprechpartner oder Hilfen im familialen Umfeld zur Verfügung stehen, die den frischgebackenen Eltern Unterstützung, Anleitung und Entlastung geben können. Dies sind Gründe dafür, dass inzwischen in vielen Bundesländern Frühe Hilfen gestartet wurden, in denen unter anderem Familienhebammen besonders belastete Familien unterstützen und sie regelmäßig während des gesamten ersten Lebensjahres des Kindes betreuen (vgl. auch Kapitel 5). Anlass dafür waren unter anderem alarmierende Befunde von postpartalen Depressionen bei den Müttern. Diese sind deutlich zu unterscheiden von den »ungefährlichen« Stimmungsschwankungen in der ersten Woche nach der Geburt, die ausschließlich durch die hormonelle Umstellung bedingt sind, den sogenannten Heultagen. Eine postpartale Depression kann sich in den ersten Wochen nach der Geburt bis zum ersten Lebensjahr des Kindes zeigen und ist eine sehr schwerwiegende psychische Erkrankung der Mutter, die es ihr unmöglich macht, ihr Baby angemessen zu versorgen, also dessen Signale einfühlsam wahrzunehmen und sie prompt und angemessen zu beantworten (Reck et al., 2004). International finden wir Prävalenzraten von bis zu 14 % (Reck et al., 2008). Von geringerer Verbreitung, aber äußerst gefährlich sind die sogenannten Wochenbettpsychosen, bei denen Mütter unter einer starken Verzerrung der Realität leiden (z. B. glauben, ihr Baby beiße sie absichtlich, weil es aggressiv sei) und Versuche vorkommen können, das Baby zu töten. Die Merkmale, die voraussagen, ob eine Mutter nach der Geburt des Kindes eine Depression entwickeln kann, sind heute gut untersucht und hängen mit der prämorbiden Persönlichkeitsstruktur zusammen und der Tatsache, dass auch zuvor im Lebenslauf der Frau schon depressive Verstimmungen aufgetreten waren. Die absoluten Zahlen von postpartalen Depressionen haben gegen-

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über den Vorjahren zwar nicht zugenommen, aber wir sind gegenwärtig sehr viel sensibler geworden dafür, welche Auswirkungen eine kranke Mutter auf die Kindesentwicklung hat. Es sind also keine Zunahmen in absoluten Zahlen, aber man ist gegenwärtig darauf aufmerksam geworden, dass ein Stützsystem fehlt, das diesen jungen Familien in der schwierigen Situation mit einem Baby helfen kann. Ein Blick auf die Wochenbettgebräuche in nichtwestlichen Ländern zeigt (vgl. Kapitel 5), dass dort sehr gut verstanden wird, dass die Wöchnerin bzw. junge Mutter sehr viel Versorgung und Unterstützung braucht, damit sie entsprechend ihr Kind gut bemuttern kann. Mütter sind zwar finanziell etwas abgesichert durch das Elterngeld. Zugleich haben wir, da sie als Mitverdienerin ausfallen, einen Traditionalisierungseffekt mit sehr hohen Wochenarbeitszeiten von Vätern kleiner Kinder (Kapella et al., 2009). Von allen Vätern haben Väter von kleinen Kindern die höchsten Wochenarbeitszeiten. Hinzu kommt, wie wir in Kapitel 5 noch genauer ausführen werden, die starke Stigmatisierung der Fremdbetreuung. Unter allen europäischen Ländern ist Deutschland das Land mit der ausgeprägtesten Mutterideologie, sodass Mütter, die ihr Kind fremdbetreuen lassen, und sei es nur wenige Stunden, sich häufig einem Rechtfertigungsdruck ausgesetzt sehen.

4.5 Gravierende Veränderungen im Wert von Kindern und in den Erziehungsprinzipien Wenn man die große Ambivalenz gegenüber der Familie – Sehnsucht und Enttäuschung – verstehen will, muss man sich aber auch den Veränderungen zuwenden, die sich in Bezug auf die Kinder ergeben haben. Möglicherweise sind sogar der veränderte Wert von Kindern und, in der Folge, das veränderte Erziehungsverhalten von

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Gravierende Veränderungen im Wert von Kindern

Eltern und damit die Rolle und Funktion von Eltern der eigentliche Schlüssel zum Verständnis der Ambivalenz (Seiffge-Krenke, 2010a). Der Wert von Kindern hat sich stark verändert Die bestmögliche Gewährleistung des Kindeswohls steht im Mittelpunkt der modernen Idee von Elternschaft. Auch in der soziologischen und psychologischen Forschung wird diese Position vertreten, etwa von Fthenakis und Minsel (2001, S. 18) wenn sie schreiben: »die Sicherung des subjektiven und objektiven kindlichen Wohlbefindens und die Gewährleistung des Kindeswohls […] ist untrennbarer Bestandteil von Erziehungsqualität« – und damit zentrale Aufgabe der Eltern. Wichtige Impulse für diese Sicht von Elternschaft sind von der Child-Savers-Bewegung ausgegangen, die sich vor etwa dreißig Jahren in den USA mit dem Ziel etablierte, jedem Kind eine Kindheit zu garantieren. Seitdem ist eine mächtige Bewegung mit zahlreichen positiv zu bewertenden Folgen entstanden. Die Anerkennung des Kindes als Subjekt in der Rechtsordnung ist ohne Zweifel eine der bedeutenden rechtlichen Errungenschaften des letzten Jahrhunderts. Grundlegend ist die Änderung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KHJG) von 1989, in der eine Abkehr von elterlicher Gewalt zur elterlichen Sorge institutionalisiert wird. Die Macht zwischen Eltern und Kind wird verschoben, das Kind wird vom willfährigen Objekt elterlicher Gewalt zum (Rechts-)Subjekt; der Kindeswille und das Kindeswohl nehmen eine zentrale Stellung ein. Die gesetzliche Grundlage wurde im Jahr 2003 noch einmal verschärft. Interessant ist dabei, dass die körperliche Bestrafung und Disziplinierung in Schulen bereits 1973 verboten worden war, also mehr als drei Jahrzehnte, bevor das Verbot in Familien etabliert wurde. Aber es gibt auch Stimmen, die auf mögliche problematische Auswirkungen dieser Bewegung hinweisen, nämlich dann, wenn das Kind überhöht, zunehmend romantisiert und verklärt wird.

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Kinder werden als schwach, schutzbedürftig und unschuldig dargestellt. Kritiker wie etwa Viviana Zelizer (1985) sprechen von Protektionismus und der »Sakralisierung der Kinder« oder, wie Dieter Lenzen (1985), sogar von einer »allfälligen Vergöttlichung der Kinder«. Ob diese moderne soziale Konstruktion von Kindern und Kindheit tatsächlich angemessen ist, darf aus unserer Sicht bezweifelt werden. Kinder hatten früher einen ökonomischen Nutzen in Form ihrer Mithilfe und Arbeit in Haushalt, Feld und Handwerk. Diesen ökonomischen Nutzen haben sie nahezu vollständig verloren, sie sind in dieser Hinsicht zu einem Kostenfaktor geworden. Zugleich, durch die Auslagerung der Altersversorgung in staatliche Institutionen, sind Kinder auch nicht mehr länger zur finanziellen Absicherung im Alter notwendig – zumindest keine große Zahl von Kindern. Es gibt immer wieder Zeitungsberichte, die ausgerechnet haben, wie viel ein Kind seine Eltern eigentlich kostet. Zumeist wird ein Betrag im Wert eines Einfamilienhauses genannt. Gleichzeitig hat der psychologische Nutzen der Kinder für die Eltern aber zugenommen, das heißt, Kinder haben andere Funktionen bekommen, und diese sind ihrer Entwicklung nicht immer zuträglich. Diese Veränderung wurde zunächst in der therapeutischen Arbeit mit Familien bemerkt. Es war Horst-Eberhard Richter, der schon in den 1960er Jahren beschrieben hat (Richter, 1963), dass in pathologischen Familien die Kinder Selbstaspekte übernehmen, ein ideales Selbst, ein Partnerersatz oder ein Gattensubstitut werden oder gar eine Sündenbockrolle einnehmen können. Auch Fraiberg, Adelson und Shapiro (1975), die dafür den Begriff der »Gespenster im Kinderzimmer« prägten, und später in der Folge dann Bion (1967/1993) zeigten auf, dass Eltern ihre Kinder als Container für die eigenen Ängste benutzen: Dies verzerrt entsprechend die Realitätswahrnehmung der Kinder und beeinflusst sie auch in deren Entwicklung. Dieses Phänomen, das zunächst im Rahmen von Familientherapien beobachtet wurde, ist heute, fünfzig Jahre

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Gravierende Veränderungen im Wert von Kindern

später, in milder Form in vielen Familien beobachtbar. Nicht unbedingt in solchen massiven pathologischen Auswirkungen, aber der enorme psychologische Nutzen der Kinder für die Eltern wird deutlich: Kinder werden unter anderem für den narzisstischen Selbstwert der Eltern benutzt, aber auch als »Abladeplatz« für die Sorgen und Ängste der Eltern. Der Wegfall der Aufgaben in Haus, Hof und Feld hat also die Tür geöffnet für die psychologische Bedeutung des Kindes – mit oftmals schwerwiegenden Konsequenzen für die Entwicklung der Kinder. Heute ist häufig die schulische Leistungsfähigkeit der einzige Indikator für den ökonomischen Wert eines Kindes. Dies macht auch einen Teil des enormen Schulstresses aus, den wir in Deutschland nachweislich haben (Seiffge-Krenke, 2006b) und der zu vielen psychischen und körperlichen Symptomen führen kann. Auch in den Massenmedien werden Kinder als Selbstobjekte inszeniert, die man in allen Hautfarben adoptieren und mit denen man sich schmücken kann, insbesondere wenn sie hübsch sind und Designerbekleidung tragen. Aber auch für weniger prominente Eltern gibt es einen starken Druck in Richtung auf typische Kindereinrichtung, Kinderspielzeug, Kinderkleidung etc. Das Kind wird regelrecht romantisiert. Es gibt inzwischen für Mädchen im Programm »Lillifee« so ziemlich alles, was man konsumieren kann, in Rosa. Von Kindeswohl und Elternwohl: Plädoyer für eine »gemäßigte Kinderfeindlichkeit« Wir haben in diesem Kapitel die enormen Ansprüche an die Elternrolle, die Ansprüche an die Partnerschaft, aber auch die zunehmende Selbstverwirklichung und das zunehmende Bedürfnis nach Unabhängigkeit als Motive kennengelernt, auf Kinder zu verzichten. Die Situation wird dann widersprüchlich, wenn der gesellschaftliche Anspruch an Eltern so ausfällt, dass eine zufriedenstellende Vereinbarkeit von Elternschaft mit diesen Aspekten nicht erreich-

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bar scheint. Dies sehen sogar konservative amerikanische Sozialwissenschaftler kritisch. David Popenoe (1996, S. 7) drückt es folgendermaßen aus: »Der Fokus auf die elterlichen Rollen hat zu einer ungesunden Missachtung der Bedürfnisse der partnerschaftlichen Beziehung geführt. […] Die Ideologie der neu entstehenden Lebensformen beinhaltet, dass die Erwachsenen auch für sich selbst leben müssen und nicht nur für ihre Kinder.«

Ein Journalist und Jugendpsychologe, Allan Guggenbühl, veröffentlichte sein »Plädoyer für eine gemäßigte Kinderfeindlichkeit«. Er schrieb, dass Kinder nicht die schwachen, verletzlichen und schutzbedürftigen Wesen sind, zu denen sie heute häufig romantisiert werden. Stattdessen sind sie, was sie immer waren: anarchisch, chaotisch, provokant. Es gilt, Kinder zu akzeptieren, wie sie sind; gleichzeitig ist es für Erwachsene wichtig, sich abzugrenzen. Der Autor plädiert dafür, zu überdenken, was »kindgerecht« sei, und rät zum Abschied vom Gedanken, Kinder in »Schonräume« stecken zu müssen. Kindgerecht seien vielmehr all jene Dinge und Erfahrungen, die Kindern helfen, erfolgreich erwachsen zu werden (Guggenbühl, 2010).

Bei der Betrachtung der Faktoren, die zu einer großen Ambivalenz in Bezug auf Kinder und Elternschaft geführt haben, ist also wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass überhöhte Ansprüche an das, was Eltern leisten müssen, ein zu großer psychologischer Wert von Kindern und eine zu romantische Idealisierung von Kindern Hürden darstellen, die letztendlich zu einem Verzicht auf Familie führen können.

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Gravierende Veränderungen im Wert von Kindern

Verunsicherte Eltern, kleine Tyrannen und die neuen Medien als Familienmitglied Im Zusammenhang mit dem veränderten Wert von Kindern sind Phänomene aufgetreten, die nachdenklich machen. Die Familien sind zwar kleiner geworden, aber es gibt auch »neue Mitglieder«. Bereits im Jahre 1995 gab es die ersten Veröffentlichungen in Indien zu »television as a family member«. Inzwischen mag man sich fragen, was machen die neuen Medien eigentlich in und mit den Familien? Besonders deutlich zeigt sich ein verändertes Verhalten bei den Familienmahlzeiten. Die Familienmitglieder essen nicht mehr miteinander, sondern sie essen (gemeinsam) mit Blick auf den Fernseher. Das ist inzwischen belegt. Fernsehen scheint in manchen Familien in diesem Moment wichtiger als die Familie selbst. Eine Studie von Diedrichsen (1995) zeigt, dass gemeinsame Familienmahlzeiten seltener und unbedeutender werden. Es wird sehr zügig gegessen und die Stimmung ist negativ. Die zehn Jahre später durchgeführte Studie von Kersting, Sichert-Hellert und Noll (2005) zeigte eine Verschärfung: Inzwischen halten 40 % der Kinder und Jugendlichen Fernsehen bei den Mahlzeiten für wichtiger als das Zusammensein mit der Familie. In Anbetracht dessen könnte man in den bereits erwähnten pädagogischen Pessimismus verfallen. Möglicherweise liegt aber die Ursache hierfür auch woanders, nämlich in dem enormen Druck, der auf den Kindern lastet. Wir hatten bereits dargestellt, wie der enorm gestiegene psychologische Wert von Kindern ihre Entwicklung beeinträchtigen kann. Kinder, die so viel für ihre Eltern leisten sollen, genießen es möglicherweise, einfach mal einen Moment »vorm Fernseher abzuhängen«. Wir wollen dies jetzt keineswegs verharmlosen, aber es ist eine Perspektive, über die man (auch) nachdenken könnte. Hinzu kommt allerdings auch, dass sich Eltern in Extremfällen mehr mit den neuen Medien als mit ihren Kindern beschäftigen. Inzwischen gibt es seit etwa 15 Jahren Studien darüber, wie das

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Fernsehen oder das Computerspielen und E-Mail-Schreiben die Mütter verändert. Die ersten Berichte dazu beschrieben Mütter, die zunächst drei Stunden am Tag mit Chatten und E-Mailen und Internet anfingen und dann nach sehr kurzer Zeit 14, 15 Stunden vor dem Computer saßen, ihre Familie vollständig vernachlässigt haben und eine Computersucht entwickelt haben. Hinweise darauf, dass die Verbreitung dieser Formen nicht völlig zu vernachlässigen ist, finden sich in der medizinischen Anerkennung: Ab 2012 wird im diagnostischen Inventar des DSM-IV, das für die Krankenkassenleistung zur Finanzierung von Psychotherapien herangezogen wird, ein eigenes Krankheitsbild ausgewiesen, in dem die Internetabhängigkeit, die Computersucht mit den gleichen Merkmalen definiert wird wie eine stoffgebundene Abhängigkeit, also Alkoholabhängigkeit oder Drogenabhängigkeit. Inzwischen gibt es auch in allen großen Städten Ambulanzen für Computerspielsucht und -abhängigkeit. Die Verunsicherung im Umgang mit Kindern, zum Beispiel die Schwierigkeiten bei der Grenzsetzung, kann ebenfalls zu einem hohen Fernsehkonsum beitragen. In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, dass viele jüngere Erwachsene in kindfernen Umgebungen leben und nur noch wenige oder keine Alltagserfahrungen im Umgang mit kleinen Kindern haben. Ihnen fehlt somit die natürliche Sicherheit, wie Beziehungen mit Kindern zu gestalten sind. Das kann sich erschwerend auf die Entscheidung zur Elternschaft auswirken, aber auch zu einer Unsicherheit in der Kindererziehung führen – insbesondere in dem bereits erwähnten Kontext der Romantisierung des Kindes und der Ansprüche an ideale Elternschaft. Der enorm gestiegene psychologische Wert von Kindern hat also Kosten, und diese werden zunehmend auch in der Öffentlichkeit bemerkt. Schon seit einer Weile gibt es Publikationen über »die kleinen Tyrannen« in den Massenmedien (z. B. Winterhoff u. Tergast, 2009).

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Gravierende Veränderungen im Wert von Kindern

Veränderte Erziehungsprinzipien: Erosion elterlicher Macht und die starke Zunahme psychologischer Kontrolle Im Zuge des gestiegenen psychologischen Wertes von Kindern haben sich auch die Erziehungsprinzipien verändert. An die Stelle der autoritären Kontrolle, die im Nachkriegsdeutschland zunehmend diskreditiert war, traten andere Erziehungsmethoden. Mitscherlich (1963) hat die »vaterlose Gesellschaft« beschrieben, das heißt die Abrechnung mit den autoritären Vätern mit einer Nazivergangenheit. Im Zuge des gesteigerten psychologischen und emotionalen Wertes von Kindern – und wohl auch als Folge der Nazivergangenheit mit ihren damals üblichen autoritären Erziehungsprinzipien – kam es zu einer allmählichen Abwendung von der elterlichen Autorität über einen Zeitraum von fünfzig Jahren. Die Zeitvergleiche, die Helmut Fend (1988) für die Jahre 1950, 1960 und 1980 angestellt hat, zeigen eine starke Erosion elterlicher Macht, vor allem väterlicher Macht. Körperliche Strafen waren 1950 und 1960 noch üblich und häufig, danach vollzieht sich ein starker Rückgang von körperlichen Strafen als Erziehungsmittel. Inzwischen geben nur noch 9 % der Eltern von Kindern im Kindergartenalter an, sie hätten ihr Kind gelegentlich oder häufig geschlagen (Hahlweg et al., 2008). Es ist überhaupt erstaunlich, dass dies Eltern offen mitteilen, denn dies erfüllt ja inzwischen einen Straftatbestand. Die Macht von Erwachsenen, speziell die Macht der Eltern, hat also abgenommen. Die Macht des Vaters war historisch immer eine Bestrafungs- und Kontrollmacht, er war eine weitgehend unhinterfragte Autorität. Gleichzeitig sind die Ansprüche an die Beziehungsfähigkeit von Vätern enorm gestiegen (Seiffge-Krenke, 2009b). Die Erziehungsprinzipien sind widersprüchlicher geworden, Erziehung ist zu einer schwierigeren und anspruchsvolleren Angelegenheit geworden als früher. An die Stelle der autoritären Kontrolle ist etwas anderes getreten, nämlich die sogenannte psychologische Kontrolle (Barber, 1996).

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Dies umfasst das Ausüben von Druck auf Kinder beispielsweise durch Schuldgefühle, durch manipulative Strategien, durch intrusives Verhalten. Man weiß aber inzwischen, dass die Auswirkungen der psychologischen Kontrolle auf die Gesundheit, die Selbstständigkeit, die Autonomie und die Identität von Kindern fast genauso massiv sind, als würden diese Kinder körperlich bestraft. Es ist demnach keine »bessere« Erziehungsstrategie, verdeutlicht aber zugleich die Hilflosigkeit der Eltern: Autoritäre Strafen waren diskreditiert, es herrschte Unsicherheit, wie bestimmte Erziehungsprinzipien umgesetzt werden können, und man griff dann in der Folge verstärkt zur psychologischen Kontrolle.

4.6 Veränderte Rollenbilder: Von Rabenmüttern und Neuen Vätern Damit ging auch eine Veränderung vor allem des väterlichen Rollenbildes einher. Bevor wir auf diese Veränderung eingehen, soll zunächst die relativ traditionelle Mutterrolle geschildert werden. Dabei ist zu bedenken, dass während die Anforderungen an Eltern steigen, gleichzeitig auch die Anforderungen des Berufslebens wachsen. Vor allem zunehmende Erwartungen an Mobilität und Flexibilität der Beschäftigten erschweren die Übernahme und Ausgestaltung von Elternrollen (Rüger u. Becker, 2011). Rabenmütter und die gesellschaftliche Realität Wir hatten im vorangegangenen Abschnitt bereits erwähnt, dass in Deutschland das Stereotyp der Rabenmutter sehr ausgeprägt ist. Insbesondere berufstätige Mütter stehen unter dem Generalverdacht, nicht genug für ihre Kinder zu tun, und können Versagensängste und Gewissensbisse entwickeln. Die Furcht vor der Rabenmutter besitzt also in den gesellschaftlichen Leitvorstellungen und im Selbstbild

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Veränderte Rollenbilder: Von Rabenmüttern und Neuen Vätern

vieler Frauen in den alten, nicht aber in den neuen Bundesländern, nach wie vor eine hohe Verbindlichkeit. Dies erschwert die Vereinbarkeit von Elternschaft und Beruf insbesondere für Frauen in Westdeutschland sehr, gerade in einer Situation, in der eine mangelhafte Ausstattung mit Kinderbetreuungsplätzen vorliegt. Ganz generell sinkt nach der Geburt eines Kindes die durchschnittliche Erwerbsarbeitszeit von Müttern deutlich, während die der Väter tendenziell steigt (Klenner u. Pfahl, 2009) und sie – wie bereits erwähnt – länger und mehr arbeiten. In Deutschland variiert die Erwerbsbeteiligung der Mutter mit dem Alter des jüngsten Kindes (vgl. Tabelle 2) so deutlich wie in keinem anderen der untersuchten westeuropäischen Länder. Der Anteil teilzeit- oder vollzeitbeschäftigter Frauen mit mindestens einem Kind unter drei Jahren liegt nur in Ungarn niedriger. In Ungarn wie auch in Deutschland steigt die Beschäftigungsquote deutlich an, wenn das Kind drei Jahre oder älter ist, und erneut, wenn das Kind zur Schule geht, während in Finnland nur ein sprunghafter Anstieg zu verzeichnen ist. In den Niederlanden, Portugal oder Italien bleiben die Anteile ungeachtet des Alters hingegen weitgehend konstant, wenn auch auf sehr unterschiedlichen Niveaus. Erwerbstätigkeit scheint in Deutschland also insbesondere für Mütter kleiner Kinder schwer mit Elternschaft vereinbar zu sein. Tabelle 2: Erwerbstätigenquote von 25- bis 49-jährigen Müttern in ausgewählten europäischen Ländern (in %) (UNECE Gender Statistics Database, 2010) Alter jüngstes Kind

bis 3 Jahre

3–5 Jahre

6–16 Jahre

Deutschland

40

58

72

Italien

53

56

57

Ungarn

14

58

73

Finnland

51

81

88

Niederlande

73

70

74

Portugal

75

79

77

Land

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Die Betreuungssituation für Kinder im Kleinkind-, aber auch im Vorschulalter ist besonders in Westdeutschland nicht ausreichend, sowohl quantitativ als auch qualitativ (vgl. Abbildung 11, S. 141). Für eine Vielzahl von Müttern bedeutet Elternschaft also immer noch die Wahl zwischen zufriedenstellender Kinderbetreuung und Erwerbstätigkeit, mit dem Resultat, dass die meisten Frauen während der ersten Elternjahre ihre Erwerbstätigkeit deutlich reduzieren oder ganz pausieren. Es sind also einerseits gesellschaftliche Rahmenbedingungen, andererseits aber eine relativ starke Ideologie der Mutter als allein Zuständige für die Kinderbetreuung, die zu dieser Situation geführt haben. Wir werden in Kapitel 5 verstärkt belegen, dass diese Mutterideologie in einigen anderen Ländern nicht so ausgeprägt ist, sondern eine Vielzahl von »Ersatzmüttern« das Baby in der Frühphase betreuen können und damit auch die frischgebackene Mutter stützen. Wo steckt der Neue Vater? Ist die Mutterrolle vergleichsweise klar gefasst, gestaltet sich die Situation für Väter deutlich anders. Einerseits wird von den Vätern erwartet, im Sinne der Gleichstellung aktiver an der Erziehung mitzuarbeiten. Andererseits bietet auch ihnen der Erwerbsalltag in aller Regel nicht die dazu notwendige Flexibilität, vor allem unter der Perspektive, dass sie zur Erhaltung des Familieneinkommens mehr und länger arbeiten (müssen), wenn ihre Kinder klein sind. Der Wandel vom Ernährer zum Erzieher ist eine Idee, die in der Praxis noch kaum angekommen ist und der sogenannte Neue Vater lässt sich empirisch praktisch nicht entdecken. In den Massenmedien ist der mütterliche Vater (die »Konkurrenz am Wickeltisch«) zwar sehr populär. Die empirischen Studien zeigen, beispielsweise die von Werneck (1998), dass dies jedoch nur eine sehr kleine Gruppe von Vätern ist, nur 9 % aller Väter in seiner Studie. Zwar

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Veränderte Rollenbilder: Von Rabenmüttern und Neuen Vätern

kann die steigende Inanspruchnahme der sogenannten Vätermonate als Andeutung eines allmählichen Wandels interpretiert werden, im Jahr 2010 nahm bereits mehr als jeder fünfte Vater (23 %) Elternzeit. Gleichzeitig heißt das jedoch auch, dass fast vier von fünf Vätern die Elternzeit nicht in Anspruch nehmen. Zudem legen die meisten Väter nur eine kurze Babypause ein: Nahezu drei Viertel der erwerbstätigen Männer in Elternzeit beantragten die zusätzlichen zwei Vätermonate (Statistisches Bundesamt, 2010c). Lediglich jeder zehnte Vater nahm sich ein ganzes Jahr Zeit für seinen Nachwuchs. Von den berufstätigen Müttern blieben hingegen 85 % zwölf Monate zu Hause. Insgesamt lässt sich nachweisen, dass im Zuge der Elterngeldreform zwar die Wahrscheinlichkeit für Männer gestiegen ist, Elternzeit in Anspruch zu nehmen, die Wahrscheinlichkeit dafür, dass sie dies länger als zwei Monate tun, jedoch gesunken ist (Pull u. Vogt, 2010). Verunsicherte und »mütterliche« Väter Die »leise Revolution«, von der die damalige Familienministerin von der Leyen sprach, lässt sich mit diesen Daten also nicht belegen. Väter können, wenn sie diese Rolle übernehmen, in den Massenmedien sehr populär auftreten, empirisch spielen sie jedoch eine deutlich geringere Rolle. Unter diesen Neuen Vätern sind sehr viele Buch- und Zeitschriftenautoren (»Fand mich wieder auf dem Fußboden mit einer Windel um den Kopf«). Bemerkenswert ist aber, und das ist möglicherweise für die Beratung und Therapie, für die Arbeit mit Eltern von wesentlich größerer Bedeutung, dass die Väter unsicher sind, wie sie sich eigentlich in ihrer Rolle verhalten sollen. Sie können sich nicht mehr länger an den autoritären Vätern von früher orientieren, die ihre Kinder weitgehend ignorierten. Helmut Fend (1988) hat nachgewiesen, dass die Aussage »Ich spiele nie mit meinen Kindern« noch 1950 und 1960 von vier von fünf Vätern bejaht wurde. 1980 hat dies nur

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noch einer von fünf gesagt. Die Beschäftigung mit Kindern und die Kinder selbst haben für Väter deutlich an Wert gewonnen. Es gestaltet sich aber schwierig, ein neues Rollenmodell für diese Männer zu finden, und so orientieren sich Väter heute vielfach eher an den eigenen Müttern als an ihren Vätern. Dies erklärt die mütterlichen Komponenten, die man zunehmend bei Vätern findet. Vätern kommen aber deutlich andere Funktionen in der familiären Dynamik zu als Müttern, sie sind insbesondere wichtig für Motorik, Sport und Spiele, in denen es um Regeln und den Körper geht, sowie für die Entwicklung von Autonomie, für die Verselbstständigung. Diese sogenannten distinktiven Funktionen (Seiffge-Krenke, 2011) sind heute für Väter sehr viel schwieriger durchzusetzen, weil ihnen selbst die Rollenmodelle fehlen. Traditionalisierungseffekt auf der einen Seite und größere Ähnlichkeit zwischen Müttern und Vätern – wie passt das zusammen? Väterliche und mütterliche Rollen und Verhaltensweisen sind einander ähnlicher geworden, was die warmherzige und unterstützende Beziehung zum Kind angeht, also die psychologischen Dimensionen. Faktisch ist auf der strukturellen Ebene weiterhin aber das belegt, was soziologisch unter dem Stichwort differenzielle Elternschaft verhandelt wird. Bis zum Alter von sechs Jahren des Kindes sind 80 % der Frauen nicht vollzeiterwerbstätig (zu Erwerbsquoten der Frauen allgemein vgl. auch Tabelle 2). Unter den Eltern von Kindern bis zum Schulalter sind es nach wie vor Frauen, die den überwiegenden Anteil der Erziehungs- und Betreuungsleistungen übernehmen. Die Folgen des Übergangs zur Elternschaft gestalten sich also für Frauen wesentlich anders als für Männer. Wie erwähnt, steigt die männliche Wochenarbeitszeit nach der Geburt der Kinder. Als wichtiges Motiv wird die Kompensation des Wegfalls des Einkommens der Frau angeführt, die mit der Mutterschaft zumindest

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vorübergehend, wenn nicht dauerhaft, die Arbeitszeit reduziert oder aus dem Arbeitsmarkt aussteigt. Gleichzeitig übernehmen Frauen verstärkt die Hausarbeit und Kinderbetreuung, im Zuge von Elternschaft kommt es also zu einer Re-Traditionalisierung der Rollen (Rost u. Schneider, 1995). Die Rollenveränderung kann in einem Verlassen der Paarebene mit einer klaren Dominanz der Elternrolle resultieren und sowohl die Partnerschaftszufriedenheit als auch die allgemeine Lebenszufriedenheit senken, wie zuvor in diesem Kapitel beschrieben (vgl. auch Kapitel 2 und 3). Emotional haben sich die Männer also stärker geändert als die Frauen, dennoch ist die Rollenaufteilung sehr traditionell geblieben, und zwar traditioneller, als sie in den meisten mittel- und nordeuropäischen Ländern ist (vgl. Kapitel 5).

4.7 Sehnsucht Familie: Und sie wirkt doch! Familiale Lebensformen stehen empirisch weiterhin hoch im Kurs, dies wurde bereits in den voranstehenden Kapiteln deutlich. ZweiEltern-Familien sind immer noch die dominante Familienform in Deutschland. Und es ist offensichtlich, dass selbst angesichts der wieder gewachsenen Zahl von Stieffamilien, auf die wir in Kapitel 5 noch eingehen werden, sich doch ein Familiengefühl, ein Gefühl von Verbundenheit und Zusammengehörigkeit entwickelt. Es dauert einfach nur ein bisschen länger, wie Visher und Visher (1989) nachgewiesen haben. Und wie sehen das die Kinder? Wir haben in diesem Kapitel relativ stark auf die Sicht von Müttern und Vätern abgehoben und die Schwierigkeiten beschrieben, die mit der Vereinbarkeit von Beruf und Elternschaft entstehen, aber auch die große Bedeutung von Kindern und die gewandelten

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Erziehungsprinzipien. Dabei wurde unter anderem deutlich, dass sich deutsche Eltern besonders belastet fühlen. Es bleibt nun die Frage zu klären: Wie sehen das die Kinder? Relativ gute Informationen haben wir darüber, wenn man ältere Kinder und Jugendliche befragt. Deutsche Jugendliche beschreiben ihre Familien überwiegend als harmonisch und geben relativ geringe Stresswerte in Bezug auf ihre Familie an. In einer internationalen Untersuchung an rund 12.000 Jugendlichen zeigen deutsche Jugendliche recht niedrige Werte hinsichtlich Elternstress (Seiffge-Krenke, 2006b; Persike u. Seiffge-Krenke, 2012) und entsprechen damit den Werten in Mitteleuropa, zusammen mit der Schweiz, Österreich, den Niederlanden und Finnland. Das spricht auch dafür, dass die Kinder durchaus mit den gewandelten Erziehungsprinzipien einverstanden sind. Höher als in Finnland fallen dagegen die Werte für Schulstress aus. Insbesondere der Druck, gute Noten zu erzielen, belastet deutsche Jugendliche. Elternstress ist in Südeuropa, in den asiatischen Ländern, im mittleren Osten und in Lateinamerika im Übrigen wesentlich höher als in Mitteleuropa. Auffällig ist über alle Länder hinweg der hohe Stellenwert der Autonomie (»Wenn meine Eltern mich doch nur autonom entscheiden ließen«), der in allen Ländern Rangplatz eins erzielt. Rangplatz zwei belegt der Leistungsdruck: »Die Eltern wollen nur gute Noten sehen.« Diese Stressoren scheinen universell zu sein. Aber die deutschen Jugendlichen erweisen sich insgesamt als eher wenig stressbelastet, das heißt, das Niveau ihrer Werte in diesen Stressoren ist – auch wenn die Rangplätze gleich sind – deutlich niedriger als in vielen anderen Ländern. Natürlich hängt der Druck zu guten Noten neben dem Verteilungskampf bei potenzieller Arbeitslosigkeit auch mit dem zuvor beschriebenen Wert von Kindern zusammen, der sich stark an deren Schulleistung orientiert. Dies wird bestätigt und ergänzt durch eine Umfrage, die Kloepfer und Kloepfer (2012) an Jugendlichen durchführten. Bei Fragen

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zum Erziehungsstil gaben die meisten der befragten 120 Jugendlichen an: »Es ist schon ziemlich gut so, wie es ist.« Obwohl vier Fünftel der Befragten bekannten, unter einem erheblichen Leistungsdruck zu stehen, wurde doch deutlich, dass Anstrengung und Leistungsbereitschaft da sind und dass die Eltern manchmal »ein klein wenig strenger« sein dürften. »Spaß haben« und »Party machen« waren wichtig, aber es wurde auch offen angesprochen, dass das Leben vor allem Spaß macht, wenn man erfolgreich ist (»ich will was leisten und das ist auch gut so«), und dass die meisten Kinder und Jugendlichen verstanden haben, dass sich dies mit einer gehörigen Portion Anstrengung und dem Antrieb der Eltern besser realisieren lässt. Zunahme an Familienwerten Ein weiterer Punkt, der bei Jugendlichen für die Bedeutung der Familie spricht, trotz vorhandener Probleme, ist die Zunahme von Familienwerten. Gemäß der Shell-Studie (2006) ergibt sich eine Verstärkung der Familienwerte bei den deutschen und noch deutlicher bei den ausländischen Jugendlichen in Deutschland. Während für deutsche Jugendliche Heiraten und Ehe eher nicht die alleinigen Partnerschaftsmodelle sind (Zusammenleben ohne Trauschein schon eher), finden wir die Familienwerte bei den ausländischen Jugendlichen ganz ausgeprägt. Ehe ja, Kinder ja, starker Wunsch nach Heirat und Familiengründung, das sind die Zukunftsmodelle für die ausländischen Jugendlichen. Die türkischen Jugendlichen liegen hier an der Spitze, gefolgt von den italienischen und griechischen Jugendlichen. Unabhängig davon, dass sie das Partnerschaftsmodell Ehe nicht mehr so stark befürworten, stehen für deutsche Jugendliche die stark mit Familie verknüpften Werte Vertrauen, Unterstützung, Zuverlässigkeit an der Spitze der angestrebten Werte.

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Schutzfaktoren in und außerhalb der Familie Wir haben uns bislang stark auf die Eltern-Kind-Ebene konzentriert, aber es sollte betont werden, dass Geschwister wichtig und eine große Ressource bei Armut und in Trennungsfamilien sind (Walper, Thönnissen, Wendt u. Bergau, 2009). Es gibt zahlreiche Studien darüber, welche Schutzfunktionen Geschwister in solchen krisenhaften Familienverläufen einnehmen können. Peter Härtling (1993) hat die enorme Bedeutung der Familie in »Nachgetragene Liebe« herausgearbeitet. Er hat beschrieben, wie auch negative Erfahrungen in der Familie zu Kreativität führen können: Das Schweigen des Vaters führte zum Sprechen und Schreiben des Sohnes, das ist faszinierend beschrieben. Er hat des Weiteren deutlich gemacht, dass es auch in äußerst schwierigen Verhältnissen (der Vater depressiv im Sessel zusammengesunken und desorientiert, die Mutter auf dem Weg nach New York zu einer Art Ego-Trip) immer Alternativen im familiären Umfeld gibt – man darf also die Familie nicht zu eng und nicht nur als Kleinfamilie auslegen: Es waren wichtige Andere im familialen und im außerfamiliären Umfeld, die Tante, der Arzt, der beste Freund Felix, die dem Sohn halfen, diese schwierige Situation zu meistern. Sie stellten Ressourcen da, wo er auftanken konnte, gaben ihm angemessene Aufgaben, an denen er reifen konnte, und setzten ihm Grenzen, wenn es notwendig war. Sie gaben ihm Hoffnung und zeigten ihm auch, Familie ist nur ein möglicher Lebenskontext. Und für Kinder und Jugendliche, gerade ab einem bestimmten Alter, gar nicht mehr nur der Wichtigste. Es ist auch ein Schutzfaktor, dass die anderen Kontexte in der Entwicklung eines Kindes so bedeutsam werden. Der Wandel – keine Krise In den voranstehenden Kapiteln wurden zahlreiche Tendenzen des Wandels beschrieben, die Familie in den letzten 150 Jahren und

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insbesondere den letzten Jahrzehnten durchlaufen hat. Gern wird dieser Wandel, wie eingangs erwähnt, als krisenhaft, als »Tod der Familie« beschrieben und interpretiert. Auch in den Sozialwissenschaften entwickelte sich ein lebhafter Diskurs. Die Pole des Spektrums bilden dabei die »family decline perspective« und die »family resilience perspective«. Die erste Position beurteilt den Wandel als ausgesprochen krisenhaft: Die Familie ist im Niedergang begriffen  – mit massiven Auswirkungen auf die gesellschaftliche Ordnung. Das folgende Zitat von Whitehead (1993, S. 77) illustriert diese Sichtweise sehr eindrücklich: »Family diversity in the form of increasing numbers of single-parent and step-parent families does not strengthen the social fabric. It dramatically weakens and undermines society, placing new burdens on schools, courts, prisons, and the welfare system.«

Dem gegenüber steht die Auffassung, der Wandel der Familie stelle eine Chance für mehr Vielfalt, Demokratie und Gleichheit dar und die Familie als Institution der Zusammengehörigkeit würde weiter bestehen und erstarken – die »family resilience perspective«. Sie wird von Stacey (1996, S. 9) folgendermaßen eingeschätzt: »changes in family […] open the prospect of introducing greater democracy, equality and choice than ever before.«

Die Diskussion um Familie als krisenhaft ist keineswegs neu. Der Niedergang der Familie wurde schon bei Platon beschrieben, also vor etwa 2400 Jahren (z. B. Vretska, 2000). Familie wäre dementsprechend bereits seit dieser Zeit mehr oder weniger in der Krise. Aus einer soziologischen Sichtweise ist diese Perspektive nicht haltbar. Wandel ist zu begreifen als immanenter Bestandteil der Familie. Sie passt sich in ihren Formen und ihrer Verbreitung an die jeweili-

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gen Bedingungen an. Erst wenn Lebensformen und Familien nicht mehr in der Lage sind, Anpassungsprozesse und Veränderungen zu vollziehen, wäre die Familie in der Krise.

4.8 Bedeutung für die Praxis Die enorme psychologische Bedeutung, die die Kinder in den letzten Jahren erhalten haben, macht es den Eltern heute viel schwerer, Generationsgrenzen zu ziehen und Elternfunktionen auszuüben. Eines der häufigsten Phänomene, die wir in der Elternarbeit bei der Psychotherapie von verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen sehen, ist, dass den Eltern zunächst einmal erklärt werden muss, wer die Eltern und wer die Kinder sind bzw. was die Elternfunktionen ausmacht, zum Beispiel in Abhängigkeit vom Alter des Kindes (vgl. Kapitel 2). Ferner: Wie unterscheiden sich Rollenmerkmale von Vätern, was sind die besonderen Aufgaben und Funktionen von Vätern in der Kindererziehung im Vergleich zu Müttern? Auch die Vermischung der Generationsgrenzen (Eltern auf einer Ebene mit ihren Kindern, als »beste Freunde« ihrer Kinder) ist eines der Hauptprobleme in Familien mit psychisch auffälligen Kindern und Jugendlichen. Aus der entwicklungspsychologischen Perspektive lastet zu viel auf relativ kleinen Familien. Wir müssen uns im Übrigen der Frage stellen, ob die veränderten Erziehungsprinzipien, die an sich eine größere Autonomie für die Kinder beinhalten, auch zu den Strukturdefiziten beigetragen haben, die wir in der Therapie sehen. Wie wir beschrieben haben, haben Kinder inzwischen eine unangemessen große Bedeutung für das Selbst ihrer Eltern bekommen und das nicht nur in den klinisch auffälligen Familien, sondern sozusagen universell. Es wurde in diesem Kapitel deutlich, dass Deutschland gar nicht so schlecht dasteht in Bezug auf Familienstress. Die heutige Arbeits-

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Bedeutung für die Praxis

welt und die Ansprüche an die Beziehungsfähigkeit können allerdings nicht gut zusammengebracht werden. Unser ausgeprägtes Autonomiebedürfnis, der sehr starke Individualismus, sind Faktoren, die zur gewollten Kinderlosigkeit führen können. Das ist in anderen Kulturen deutlich anders (Keller, 2003). Schließlich sollte bedacht werden, dass Familie mehr ist als Vater, Mutter, Kinder und dass das weitere soziale Umfeld ebenfalls stützt, mitversorgt und zu kreativen Lösungen führen kann, wenn die eigene Familie den Funktionen nicht nachkommen kann.

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5 Lebensformen, Leitbilder und kindliche Entwicklung oder: Wie viel Mutter braucht ein Kind?

Wie auch in anderen Kapiteln dieses Buches werden wir zunächst mit der soziologischen Perspektive beginnen, die den gesellschaftlichen Rahmen von Elternschaft und Kinderbetreuung umreißt, und uns dann verstärkt mit psychologischen Betrachtungen beschäftigen. Wir werden zeigen, dass die zeitgleiche Ausübung von Elternaufgaben und Erwerbstätigkeit durch strukturelle Barrieren erschwert ist. Aspekte wie etwa die Bindungsentwicklung des Babys zu beiden Eltern werden beleuchtet. Hilfen, wie sie früher in größeren Familienverbänden möglich waren, existieren gegenwärtig oft nicht mehr und die damit auch eingeschränkten Lernerfahrungen für die Elternrolle führen zu einer enormen Verunsicherung und Überlastung bei den Eltern. Die Fremdbetreuung ist durch eine Ideologie der perfekten, allein zuständigen Mutter immer noch erschwert, verglichen mit den Betreuungsformen in anderen Ländern. Auffällig ist auch die Tatsache, dass die Fremdbetreuung fast nur unter der Perspektive der Mutter und seltener unter der Perspektive des Kindes gesehen wird, das heißt, in welchem Umfang ein anderes soziales Setting für das Kind auch Anregung und Gewinn bedeuten kann. Untersuchungen über die Kindesentwicklung von Kindern in Waisenhäusern, von Adoptivkindern etc. haben oft besorgniserregende Befunde zutage gefördert, die dann unsachlich und fälschlich auf die Situation von Kindern, die bei Tagesmüttern oder in Krippen und Kitas untergebracht sind, generalisiert wurden. Auch dieser Umstand hat zu einer Reserviertheit gegenüber der Fremd-

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Lebensformen, Leitbilder und kindliche Entwicklung

betreuung von Kleinkindern beigetragen. Wir wollen in diesem Kapitel daher sowohl ältere Studien zum Hospitalismussyndrom vorstellen, aber auch aktuelle Befunde, um besser einschätzen zu können, ob die Kindesentwicklung wirklich durch Fremdbetreuung gefährdet ist.

5.1 Unterschiede machen Politik – Familienregime in Europa Familie kann auf verschiedene Art und Weise definiert werden. Wie in Kapitel 2 erläutert wurde, stehen das Verständnis darüber, was Familie ist, und die grundsätzliche familienpolitische Ausrichtung in einem engen Zusammenhang. Über den Familienbegriff wird festgelegt, welche Lebensformen als schutz- und förderungswürdig durch den Staat erachtet werden, also welche Familie im Begriff Familienpolitik steckt. In Europa lassen sich sehr unterschiedliche familienpolitische Modelle ausmachen. Die wohlfahrtsstaatlichen Modelle, wie sie von Esping-Andersen (1990) beschrieben wurden, stellen dabei immer noch eine nützliche Orientierung dar. Anhand dieser Modelle kann man die inhaltliche Ausrichtung, also die Ziele von Familienpolitik, für verschiedene Länder grob beschreiben (z. B. Gauthier, 1996). Das proegalitaristische Familienregime (z. B. Dänemark oder Schweden) hat als vorrangiges Ziel die Verwirklichung eines gleichberechtigten Geschlechterrollenmodells. Die Bereitstellung eines umfassenden Kinderbetreuungsangebotes durch den Staat ist dabei ebenso zentral wie großzügige Elternzeitregelungen zur besseren Einbindung beider Geschlechter in die Betreuung und Erziehung der Kinder. In den profamilialen, nichtinterventionistischen Regimen (Großbritannien, USA) wird weibliche Erwerbstätigkeit weder in besonderem Maße unterstützt noch behindert, gleichzeitig ist das tra-

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Unterschiede machen Politik

ditionelle Rollenmodell mit dem männlichen Haupternährer weiterhin sehr anerkannt. Unterstützungsleistungen für Familien sind bedarfsabhängig. Ein wesentlicher Unterschied zu den anderen Familienregimen liegt darin, dass Familie in der Erfüllung ihrer Funktionen unabhängig von Sozialleistungen sein soll. Mutterschutz- und Elternzeitregelungen sind nur in geringem Umfang staatlich beeinflusst. Diese werden zum Beispiel durch Kollektivverträge zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern verabredet und auch die Kinderbetreuung wird eher informell organisiert. Innerhalb des pronatalistischen Familienregimes, wie zum Beispiel in Frankreich, bedeutet Familienpolitik im Wesentlichen Bevölkerungspolitik. Staatliche Eingriffe sind umfangreich, die Unterstützung von Familien in Form von Geld- und Dienstleistungen wird für alle bereitgestellt. Entsprechend umfangreich sind staatliche Kinderbetreuungsangebote und auch private Betreuungseinrichtungen werden staatlich unterstützt. Dabei wird versucht, Hindernisse für weibliche Erwerbstätigkeit abzubauen. Das protraditionalistische Familienregime, wie es in Deutschland etabliert war und ist, unterstützt im Besonderen ein traditionelles Familienmodell. Die Unterstützungsleistungen nützen denen am meisten, die dieses Modell leben. Ein Beispiel hierfür ist das Ehegattensplitting. Die zeitgleiche Ausübung von Elternaufgaben und Erwerbstätigkeit ist durch strukturelle Barrieren erschwert. Hierzu zählt zum Beispiel ein unzureichend ausgebautes Angebot der Kinderbetreuung. Mit der Elterngeldreform ist ein Schritt in Richtung einer besseren Umsetzung von Familienfreundlichkeit und Gleichberechtigung der Geschlechter unternommen worden; die Nachhaltigkeit der Entwicklung steht derzeit auf dem Prüfstand (vgl. Kapitel 4).

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5.2 Frauen oder Kinder zuerst? Motive der Kinderbetreuungspolitik Ähnlich wie die verschiedenen vorgestellten Regime können auch die Leitlinien, an denen sich die Politik der Kinderbetreuung orientiert, sehr unterschiedlich ausfallen. Zwei grundsätzliche Ausrichtungen sind aber auszumachen (Scheiwe u. Willekens, 2009): Die erste Ausrichtung betont den Nutzen für das Kind, die zweite den Nutzen für die Geschlechtergleichstellung. In Frankreich, den USA oder Italien wird Kinderbetreuung als wichtiger Teil der öffentlichen Erziehung verstanden – Kinderbetreuung dient der Sozialisation und Erziehung der Kinder. Die Kinderbetreuung außerhalb des elterlichen Haushalts wird als relevant für die kindliche Entwicklung und die Frühförderung angesehen – die Kinder haben viel davon, außerhalb des eigenen Zuhauses betreut zu werden. Soziale Ungleichheiten und Benachteiligungen können in öffentlicher Betreuung gemildert werden, indem Kinder in Gruppen gemeinsam spielen, lernen und Erfahrungen machen. Dass die Kinderbetreuung auch der besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf dient, wird eher als Nebeneffekt angesehen, nicht als das vorrangige Ziel. Andere Länder sehen gerade in dieser Vereinbarkeit von Familie und Beruf das Hauptargument für öffentliche Kinderbetreuung. Sehr ausgeprägt ist diese Sichtweise in skandinavischen Ländern und auch in Deutschland. Wenn man sich für Kinderbetreuung oder für den Ausbau von Kinderbetreuung einsetzt, mit dem Argument, sie diene der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, besteht Gefahr, dass das im Sinne einer »Selbstverwirklichung der Frau« umgedeutet wird. Die Debatte kann dann schnell unsachliche Züge annehmen. Das tat sie zum Beispiel in der Auseinandersetzung der damaligen Familienministerin von der Leyen und dem ehemaligen Augsburger Bischof Walter Mixa im Jahre 2007. Die Familienministerin forcierte den Ausbau der Kinderbetreuung für Kleinkinder,

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Frauen oder Kinder zuerst?

um Müttern einen raschen Wiedereinstieg in den Beruf zu ermöglichen, der Bischof kritisierte, das sei schädlich für die Kinder, es sei ein Mittel, Frauen als Arbeitskräftereserve für die Industrie zu rekrutieren, sprach vom »ideologischen Fetisch« der Doppelverdienerehe und davon, dass Frauen auf diesem Wege zu »Gebärmaschinen« würden (Spiegel online, 2012b). Erwerbstätigkeit bedeutet nicht nur Selbstverwirklichung Weibliche Erwerbstätigkeit mit Selbstverwirklichung gleichzusetzen, ist darüber hinaus oft schlichtweg falsch. Ökonomische Notwendigkeit ist ein häufiges Motiv dafür, dass innerhalb einer Partnerschaft beide Partner erwerbstätig sind, sein müssen. Dieses Motiv wird inzwischen zunehmend auch gesellschaftlich anerkannt (Bertelsmann-Stiftung, 2010) und wird mit hoher Wahrscheinlichkeit zukünftig weiter an Bedeutung gewinnen. Außerdem: Die Teilhabe am Erwerbsleben ist identitäts- und sinnstiftend, ergänzend und parallel zu dem, was man innerhalb von Partnerschaft und Familie erfahren kann. Die Partnerschaftsqualität ist essenziell für die allgemeine Lebenszufriedenheit – noch vor dem Beruf (vgl. Kapitel 3), aber gleichzeitig bedeutet das eben auch, dass nach Familie und Partnerschaft die Erwerbstätigkeit und das Berufsleben eine sehr zentrale Stellung bezüglich der Lebenszufriedenheit der Menschen einnehmen. Besonders gilt das für höher Gebildete und Akademiker, deren Anteile in der Bevölkerung gewachsen sind und weiter wachsen werden. Damit steigt logischerweise die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen den Beruf, für den sie lange Zeit ausgebildet wurden, auch ausüben möchten. Dies gilt selbstverständlich ebenso für hoch gebildete Mütter. Wie wir in Kapitel 6 noch belegen werden, ist die fehlende oder qualitativ minderwertige Berufstätigkeit, verbunden mit einer extremen Mutterideologie, einer der Faktoren, die zu einem Maternal-gatekeeping-Verhalten in Trennungsfamilien führen.

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Interessant ist in diesem Zusammenhang eine qualitative Studie von Arlie Hochschild (2002), in der sie im Rahmen einer teilnehmenden Beobachtung die Abläufe in einer amerikanischen Firma untersucht. Die Firma führte ein Programm zur Familienfreundlichkeit durch, versuchte also, das Arbeitsleben der Beschäftigten zu entzerren und mehr Zeiträume für die Familie zu schaffen. Die Arbeitnehmer erwiesen sich als überfordert vom Zeitmanagement zwischen Beruf und Familie, vom allgegenwärtigen Effizienzdruck. Schließlich blieben die Beschäftigten immer länger im Betrieb und waren seltener und kürzer zuhause – wo, wie im Betrieb, Arbeit auf sie wartete, aber bei weniger klaren Strukturen und Regeln. Große Ost-West-Unterschiede in der öffentlichen Kinderbetreuung Für Eltern und insbesondere Mütter stellt sich früher oder später die Frage, wie umfangreich und in welcher Form Kinderbetreuung zu organisieren ist, ob die verfügbaren Betreuungsangebote den eigenen Vorstellungen entsprechen und als ausreichend erachtet werden. Vielfach sehen sie sich dabei dem Vorwurf ausgesetzt, außerfamiliale Betreuung sei schlecht für die Kindesentwicklung, führe zu Entfremdung. Dieser Punkt wird uns noch im weiteren Verlauf dieses Kapitels beschäftigen. In Abbildung 11 werden die Betreuungsquoten der Kinder im Alter von unter drei Jahren in den Landkreisen dargestellt. Es ergibt sich ein gemischtes Bild, das auf deutliche Unterschiede insbesondere zwischen Ost- und Westdeutschland aufmerksam macht. In fast allen ostdeutschen Landkreisen befinden sich mindestens 40 % der Kinder unter drei Jahren in öffentlicher Kinderbetreuung. In Westdeutschland wird diese Quote nicht erreicht. In nur wenigen Teilen liegt sie über 30 %, aber stets unter 40 %. Zahlreicher, aber immer noch selten sind Landstriche, in denen die Kinderbetreuungsquote Anteile zwischen 20 % und unter 30 % erreicht, zum

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Frauen oder Kinder zuerst?

Abbildung 11: Betreuungsquoten der Kinder im Alter von unter drei Jahren in den Kreisen am 1. März 2010 (Statistische Ämter des Bundes und der Länder; grafische Darstellung: Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung)

Beispiel in Teilen Bayerns oder den Metropolregionen Rhein-Main und Rhein-Neckar. Im absolut überwiegenden Teil Westdeutschlands wird aber nur jedes fünfte bis jedes zehnte Kind unter drei Jahren außerhalb von zuhause betreut, teilweise liegt die Quote sogar noch niedriger. Dort sind dann informelle Strukturen oder

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die Betreuung zuhause gefragt, zum Beispiel durch Verwandte wie die Großeltern oder etwa bei Tagesmüttern oder indem einer der Elternteile das Kind betreut, falls diese informellen Möglichkeiten wegfallen – mit bekanntem Ausgang. Mit der Einführung des Elterngeldes ergibt sich außerdem eine Verkürzung der Zeit, in der Eltern vergleichsweise umfangreich finanziell unterstützt werden, sofern sie zur Kinderbetreuung (vorübergehend) aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden. Der Zeitraum der regulären Förderung beträgt derzeit nur noch maximal 14 Monate statt wie bisher maximal drei Jahre. Auch wenn die neue Elternzeitregelung zeitlich flexibel in Anspruch genommen werden kann, ergibt sich aus ihr eine Versorgungslücke für ein- bis dreijährige Kinder. Häufig kommt, wie angesprochen, auch den Großeltern eine bedeutende Rolle bei der Kinderbetreuung zu – Opa und Oma sind wichtige Anlaufstellen für Eltern und Kinder. Sehr relevant ist diese Form zum Beispiel in Italien, aber auch in Deutschland »macht die Oma den Unterschied« (Ette u. Ruckdeschel, 2007). Eine weitere Betreuungslücke kann also auch dann entstehen, wenn die Großelterngeneration selbst noch erwerbstätig ist. Hier kann der Staat zwar nur beschränkt eingreifen, klar ist jedoch, dass auch diese Lücke irgendwie kompensiert werden muss.

5.3 Wie viel Mutter braucht das Kind? Diese Frage stellt sich auch für Eltern kleiner Kinder, wenn sie abwägen, was das Beste für sie und ihr Kind sein könnte: Wie viel Betreuung durch die Mutter braucht ein Kind, was ist schädlich für die Entwicklung, soll man das Kind überhaupt weggeben? Gesellschaftlich fällt die Antwort vergleichsweise deutlich aus: Rund die Hälfte der Westdeutschen ist der Meinung, ein Vorschulkind leide, wenn die Mutter arbeiten geht (vgl. Tabelle 3).

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Wie viel Mutter braucht das Kind?

Tabelle 3: Zustimmung zur Aussage »Ein Vorschulkind leidet, wenn seine Mutter erwerbstätig ist« nach Geschlecht (in %) (European Values Study, 2008, vierstufige Skala zur Zustimmung bzw. Ablehnung; vgl. Schneider u. Becker, 2012) Ostdeutschland

Westdeutschland

Männer 18–35 J. 36–53 J.

40,2 39,6

58,7 67,9

Frauen 18–35 J. 36–53 J.

35,5 26,5

48,7 53,8

N

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Es zeigt sich, dass diese Auffassung bei älteren Befragten noch häufiger vertreten wird als bei jüngeren. Auffällig sind auch hier wieder deutliche Unterschiede zwischen dem moderner eingestellten Ost- und dem eher traditionellen Westdeutschland. In Ostdeutschland hat Frauenerwerbstätigkeit eine völlig andere Tradition als in Westdeutschland, viele der Befragten sind mit einer erwerbstätigen Mutter aufgewachsen und beurteilen so den Sachverhalt positiver als im Westen. Dieses gesellschaftliche Bild, auch das wurde bereits mehrfach beschrieben, wirkt bezüglich der Überlegung der Einzelnen nach und kann dazu führen, dass man sich einem permanenten Rechtfertigungsdruck ausgesetzt sieht. »Wie viel Mutter braucht ein Kind?«: Ein Blick nach Afrika »Wie viel Mutter braucht ein Kind?« ist auch der Titel eines Buches von Lieselotte Ahnert (2010), die die Bindung von Kindern in Heimen und Krippen untersucht hat. Sie hat nachgewiesen, dass das Aufwachsen von Kindern historisch nur in Einzelfällen auf die Kernfamilie bzw. die Mutter beschränkt geblieben ist. Ähnlich wie innerhalb der Arbeiten von Heidi Keller (2003) belegt Ahnert, dass in Afrika eine Vielzahl von Betreuungspersonen in der Früh-

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Lebensformen, Leitbilder und kindliche Entwicklung

phase der Entwicklung normal ist, bis zu 14 verschiedene Personen am Tag betreuen das Kind und beschäftigen sich mit ihm, sechs bis acht Frauen übernehmen das Stillen. Die große Hitze führt dazu, dass Kinder häufig gestillt werden müssen, wegen der hygienischen Bedingungen möchte man Kinder nicht auf den Boden legen, also werden sie viel getragen. Diese Aufgaben übernehmen dann mehrere Personen – die Mutter könnte dies gar nicht allein leisten. Dieses Betreuungsmodell erweist sich als gut für das Bindungsverhalten der Kinder, gleichzeitig wird aber auch die Mutter in der Frühphase nach der Geburt stark entlastet. Interessant ist, dass die vielfache Bemutterung nur die ersten Lebensmonate des Säuglings andauert, es scheint also ein intuitives Wissen vorzuliegen, dass Kinder in der Frühentwicklung viel Zuwendung brauchen – jedoch nicht notwendigerweise von nur einer Person. Dies bestätigt auch die Bindungsforschung: In den ersten Monaten entwickelt ein Kind noch keine spezifische Bindung an eine Person, es braucht jedoch viel Schutz und Fürsorge. Das können dann auch verschiedene Personen bieten. Sobald das Kind bereit ist, sich an eine spezifische Person zu binden, also in der Phase ab dem sechsten oder achten Monat, reduzieren auch die afrikanischen »Ersatzmütter« ihre Aktivitäten, das Baby verbringt dann die meiste Zeit bei seiner Mutter. Die wirkmächtige Ideologie der allein zuständigen Mutter In Deutschland herrscht wie beschrieben noch eine sehr ausgeprägte Mutterideologie vor: Die Mutter und allein die Mutter, so ist eine häufig geäußerte Meinung, ist die richtige Person für die Kinder. Eine Entlastung der Mutter in der Frühphase ist bei uns tabuisiert. Es wäre undenkbar, das Kind fremdstillen zu lassen. Kinder brauchen aber nicht nur jemanden, der sie stillt und trägt, sie brauchen auch andere Personen, die sie anregen und fördern und Impulse für die weitere Entwicklung geben. Wir wissen, dass

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neben der Bindung die Exploration sehr wichtig ist, und dass es vor allem Väter sind, die die Exploration fördern. Väter tragen ebenso zu einer sicheren Bindung bei. Der Frage, inwieweit Mutter oder Vater Bindungspersonen für das Kind sind, und ob sie es trotz unterschiedlich hohem Involve­ ment gleichermaßen sind, gingen Bakermans-Kranenburg und van Ijzendoorn (2009) nach. Sie haben 10.000 Bindungsinterviews in 200 Studien in einer Metaanalyse zusammengefasst. Es zeigte sich, dass jeweils 57 % bzw. 58 % der Kinder sicher an Mutter und Vater gebunden waren. Ein hochinteressantes Ergebnis, wenn man berücksichtigt, dass der Vater den überwiegenden Teil des Tages nicht anwesend war – die Bindung ist trotzdem sicher. Zwei wichtige Punkte werden also deutlich. Erstens: In anderen Kulturen wird mit der frühkindlichen Betreuung deutlich anders umgegangen, es gibt umfassende Maßnahmen zur Unterstützung der Mutter und die frühkindliche Entwicklung funktioniert trotzdem. Zweitens erschließt sich, dass eine sichere Bindung sich auch dann entwickeln kann, wenn nicht viel Zeit miteinander verbracht wird. Auch die Diskussion, wie viel Mutter ein Kind braucht, ist nicht neu, sie wird schon sehr lange geführt und das auch immer mal wieder in der Öffentlichkeit. Schon Ursula Lehr, Entwicklungspsychologin und von 1988 bis 1991 Familienministerin, beschäftigte sich ausführlich mit der mütterlichen Berufstätigkeit und kam bereits damals zu dem Schluss, dass nicht nur die Quantität, sondern die Qualität der Auseinandersetzung mit Kindern entscheidend sei. Und das heißt eben Qualitätszeit (Lehr, 1991). Dennoch hat sich vor allem in Deutschland seit Jahrzehnten unverändert der Mythos der allein zuständigen, der perfekten Mutter erhalten (Tummala-Narra, 2009). Vom englischen Kindertherapeuten Winnicott, der selbst eine depressive Mutter hatte, stammt der Begriff des »good enough mothering« (Winnicott, 2002) – eine hinreichend gute Bemutterung reicht aus, um dem Baby zu vermitteln, dass es nicht allein ist, dass es versorgt wird. Zwar ist dies

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inzwischen weitgehend anerkannt, der soziale Druck auf Mütter hat aber nicht wesentlich nachgelassen und die Weggabe von Kleinkindern in Krippen wird oft immer noch mit Argwohn betrachtet. Stillamme statt Mutterliebe In Kapitel 4 wurde dargestellt, dass sich das Bild und die Rolle von Vätern verändert haben, das Verhältnis stärker von Emotionen und Gefühlen geprägt ist, dass es heute besonders viele liebevolle Väter gibt, während früher eher Autorität und Distanz die Regel waren. Dagegen ist die Mutterrolle in Deutschland erstaunlich stabil geblieben – zumindest wenn man sie mit der Mutterrolle beispielsweise in den skandinavischen Ländern vergleicht. Wie dargestellt, gilt die Mutter in Deutschland nach wie vor als die beste Betreuungsperson für die Kinder, und das heißt in aller Regel Ganztagsbetreuung. Eine Bindung von Mutter und Kind gab es immer, allerdings – auch dies wurde in früheren Kapiteln beschrieben – war diese historisch nur wenig emotional geprägt. Was also Mutterliebe ist, ist auch von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen abhängig. Badinter (1980) weist für Frankreich nach, dass die Mutterliebe ein Gefühl ist, das ab dem 18. Jahrhundert entstanden ist. Sie beschreibt die lange vorherrschende Autorität des Vaters und die relative Gleichgültigkeit der Eltern gegenüber dem (häufigen) Tod von Kindern. Es war vor dem 18. Jahrhundert üblich, die Kinder zu Stillammen wegzugeben, und zwar in allen Bevölkerungsschichten. Badinter (1980) belegt, dass die Abgabe zu Stillammen so verbreitet war, dass sogar eigens Polizeitransporte in Kutschen mit Geländern dafür eingesetzt wurden, um die vielen als Bündel verpackten Kinder sicher zu den Ammen zu bringen. Kinder wurden auch aus wirtschaftlicher Not ausgesetzt und es gab aus pragmatischen Gründen Formen der »selektiven Liebe«: Die erstgeborenen Söhne wurden besonders geschützt, besser ernährt und gekleidet als die Geschwister.

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Die Kindersterblichkeit der Kinder bei Stillammen war enorm, zwischen 25 % und 80 % werden angeführt. Stillammen waren in der Regel selbst arm und mangelernährt. Die Kinder wurden oft mit Mohn betäubt, um sie ruhigzustellen, denn die Frauen, die die Kinder übernommen haben, waren oft Bäuerinnen oder einfache Frauen, sie hatten in der Regel auch mehrere eigene Kinder und konnten sich den einzelnen Kindern entsprechend nicht intensiv zuwenden. Oft wurden die Kinder einfach abgelegt, während die Frauen ihre Arbeit verrichteten. Sofern die Kinder überlebten, wurden sie im Alter von etwa vier Jahren wieder ins Elternhaus gebracht. Dort waren dann beträchtliche psychische und gesundheitliche Schäden festzustellen. Die Rückkehr der Kinder, die häufig an Körper und Seele gebrochen waren, ist eindrucksvoll beschrieben. Der Mythos vom Mutterinstinkt und der spontanen Liebe einer Mutter zu ihrem Kind Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts vollzog sich Badinter (1980) zufolge so etwas wie eine Revolution der Einstellungen. Das Bild von der Mutter, ihrer Rolle und ihrer Bedeutung änderte sich tiefgreifend. Nach 1760 erschienen eine Unmenge medizinischer Schriften, die den Müttern regelrecht das Stillen verordneten, das Kind als unersetzlich darstellten und die Präsenz und Hingabe der Mutter sozusagen als eine Pflicht forderten. Man hatte offenkundig verstanden, dass das Weggeben zu Stillammen ohne ausreichende emotionale, soziale und materielle Versorgung die Kinder an Leib und Seele schädigte und man enorme Gesundheitskosten aufwenden musste, um diese Kinder dann psychisch und körperlich zu fördern. So entstand, gefördert durch eine gesellschaftliche Ideologie und unterstützt durch medizinische Schriften, der Mythos vom Mutterinstinkt und der spontanen Liebe einer jeden Mutter zu ihrem Kind. Das Wickelkissen wurde abgeschafft, Stillen, Hygiene, Präsenz und

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Hingabe an das Kind wurden gefordert. Der Begriff Mutterliebe entstand. Dieser Mythos ist laut Badinter heute noch sehr lebendig. Auch in Deutschland wechseln sich Phasen ab, in denen Stillen modern ist, und solche, in denen es als unnötig und unmodern gilt. Allein in den letzten hundert Jahren gab es mehrere Phasen, in denen Stillen als nicht sehr opportun galt, als altmodisch, die Figur der Mutter schädigend und in denen entsprechend die Flaschenernährung propagiert wurde. Es ist also nicht nur Mutterliebe, die zum Stillen führt, bzw. mangelnde Mutterliebe, die davon abhält. Unterstützung für Wöchnerinnen nach der Geburt: Was wir von anderen Kulturen lernen können Wir hatten schon darauf hingewiesen, dass es gegenwärtig in einigen afrikanischen Kulturen noch die Praxis gibt, ein Baby von vielen verschiedenen Personen stillen und betreuen zu lassen – zumindest während der ersten Monate seiner Lebenszeit. Schon vor Jahrzehnten war aufgefallen, dass andere Kulturen auch anders mit Wöchnerinnen umgehen. Therese Benedek (1956) hat die Wochenbettgebräuche sogenannter »primitiver Kulturen« schon früh untersucht. Auch George Devereux konnte in seiner Feldforschung belegen (vgl. Duerr, 1987), dass es in diesen Kulturen – er hat beispielsweise indianische Kulturen untersucht – eine ganze Reihe von Mechanismen gibt, die zeigen, dass die Frau, die gerade ein Kind geboren hat, in besonderem Maße geschützt, gepflegt und versorgt wird. Devereux untersuchte nicht nur indianische Gebräuche, sondern auch die Wochenbettgebräuche in Samoa, Neuseeland, Australien, Neu-Guinea und Indochina – in diesen Gesellschaften ist es ein Muster, die Mutter in einem Geburtshaus zu isolieren. Sie wird von anderen Müttern gefüttert, es gibt Speiseverbote, die auch für den Vater gelten, und ein klares Empfinden dafür, die oralen Bedürfnisse der Mutter zu stillen – die ja wiederum Nahrung für das Kind bereitstellen muss.

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Es wurde auch verstanden, dass die Geburt eine Regression beinhaltet, der man nachgeben, während der man aber zugleich die Mutter beschützen muss. Gemäß Devereux kann dies bis zur Tendenz der Mütter reichen, das Kind wieder zu reintegrieren, also in den Mutterleib »zurückzuholen«. Tatsächlich gibt es aus den 1980er Jahren, als die Frauenbewegung sich sehr intensiv mit Mutterschaft beschäftigte, viele Aufsätze über ein Gefühl der Leere, nachdem das Kind geboren wurde. Es wird der Wunsch bzw. die Fantasie beschrieben, sich wieder mit dem Kind zu vereinigen, sich erst durch das Kind im Bauch komplett zu fühlen (MoellerGambaroff, 1984). Was wir also vom Umgang mit Wöchnerinnen aus anderen Kulturen lernen können, ist, dass man die Mutter gut versorgen muss, dass man sie aber auch bewachen muss und dass sie selbst in dieser Situation der Regression eigentlich wie ein Kind ist. Bis in die jüngste Zeit haben in Deutschland die Großmütter, älteren Schwestern und Tanten sich sehr um die Wöchnerin bemüht. Dies ist gegenwärtig durch die Veränderungen der Familienstruktur schwerer möglich. In neuen Ansätzen, die noch geschildert werden (»Keiner fällt durchs Netz«), werden diese Aufgaben von Geburtsstationen und Krankenhäusern oder Hebammen mit übernommen. Auch Väter haben die Funktionen zum Teil übernommen, andererseits fehlt aber gerade Vätern oft die Zeit – sie sind ja häufig für den Beruf unterwegs. Gewalt gegen Kinder trotz Elternliebe: Wie passt das zusammen? In Kapitel 2 wurde bereits erwähnt, dass die frühe Phase der Familiengründung eine Phase erhöhter Vulnerabilität ist, in der postpartale Depression, Wochenbettpsychosen und andere schwere psychische Erkrankungen auftreten können. Besorgniserregend ist die hohe Zahl von gewaltsamen Verletzungen bei Babys. Auswertun-

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gen in Kinderkliniken zeigen, dass vor allem Babys am allermeisten gefährdet sind, und zwar durch Kopfverletzungen; es gibt keine Altersphase, die so stark von Gewalt betroffen ist, von potenziell tödlicher Gewalt, wie die Babyphase. Immer wieder wird man in den Massenmedien durch Berichte aufgeschreckt, denen zufolge überforderte oder psychisch kranke Eltern durch Schütteltraumen oder andere Gewalteinwirkungen ihre Babys schwer verletzt oder sogar getötet haben. Wie passt das – so muss man sich fragen – mit dem hohen Wert von Kindern zusammen? Das Statistische Bundesamt belegt, dass bei Kindern ab einem Lebensjahr Verletzungen die häufigste Todesursache sind. Ihr Anteil an den Sterbefällen beträgt im Alter zwischen einem und vier Jahren 19,8 %. Bei Säuglingen besteht ein hohes Risiko für Verletzungen mit Todesfolge durch Unfälle im häuslichen Umfeld sowie für Verletzungen durch Gewalt. Auch der hohe Anteil von Verletzungen an den stationären Behandlungen (zwischen 16 % und 20 %) macht deutlich, dass Verletzungen seit Jahren zu den häufigsten Einweisungsanlässen bei Kindern zählen. Verletzungen sind im Kleinkindalter seit 2005 der dritthäufigste Grund für die Aufnahme in ein Krankenhaus. Von allen Altersgruppen zeigen Säuglinge und kleine Kinder das höchste Risiko für Kopfverletzungen, Verbrennungen, Verbrühungen und Vergiftungen. Ab einem Alter von einem Lebensjahr haben Jungen ein höheres Risiko als gleichaltrige Mädchen, sowohl bei den Verletzungen mit Todesfolge als auch bei Verletzungen, die eine Krankenhausbehandlung erfordern. Unter Berücksichtigung der Nationalität und des Geschlechtes sind die höchsten verletzungsbedingten Sterberaten von allen Altersgruppen bei männlichen Säuglingen ausländischer Nationalität erkennbar. Natürlich sind diese amtlichen Statistiken kein eindeutiger Hinweis auf elterliche Gewalt, da die Verletzungen in vielen Fällen durch Unfälle zustande gekommen sein können. Die Auswertungen der Münchner Kinderkliniken von Herrmann (2005) belegen

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aber eindeutig, dass bei 4 % der aufgenommenen Kleinkinder und Babys elterliche Gewalt die Ursache ist, wenn etwa Knochenbrüche an den Armen oder Beinen bei Babys, die noch nicht laufen können, bemerkt oder Verbrennungen mit Zigaretten bzw. Übergießen mit heißem Wasser diagnostiziert wurden. Eine Annäherung an die Motive ist schwierig und brisant. Die Eltern befinden sich nach der Geburt eines Kindes in einer psychisch hoch belastenden Situation. Vieles ist neu und unbekannt, besonders beim ersten Kind, man weiß nicht, was die Zukunft bringt und inwieweit man den künftigen Herausforderungen gewachsen sein wird. Zur eigenen Unsicherheit kommen der Druck von außen, »gute Eltern« zu sein, wie er in den bisherigen Kapiteln beschrieben wurde, und häufig noch eine schlechte wirtschaftliche Ausgangslage der Eltern. In einzelnen Fällen, insbesondere bei psychischen Erkrankungen, kann die Situation, die Verzweiflung eskalieren. In dieser Situation befinden sich viele Eltern, dennoch gibt es nur einen kleinen Prozentsatz, bei dem es zu einer krisenhaften Zuspitzung mit Gewalt kommt – es müssen dort spezifische Hemmmechanismen außer Kraft gesetzt werden, das Kind vor Gefahr zu bewahren. Wochenbettpsychosen, zum Beispiel mit entsprechenden Realitätsverzerrungen und Fehleinschätzungen des Kindes, stellen einen Risikofaktor dar, aber auch Alkoholismus und Drogenabhängigkeit – also psychische Erkrankungen der Eltern, die ihre Realitätswahrnehmung beeinträchtigen. Insgesamt gesehen ist die Gewaltanwendung gegen Kinder im Zeitverlauf aber rückläufig (vgl. auch Kapitel 4). Die gesellschaftliche Sensibilität ist gestiegen. Die sogenannten Babyklappen stellen einen der Versuche dar, diesem Problem zu begegnen und Eltern in höchster Not einen Ausweg für ihr Baby zu ermöglichen. Frischgebackene Eltern brauchen mehr Unterstützung Es ist klar geworden: Man muss verstärkt auf das Paar, auf die frischgebackenen Eltern achten. Gerade beim Übergang zur Eltern-

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schaft handelt es sich um eine aufregende, belastende und völlig neue Situation, das Paar braucht selbst viel Unterstützung. Das wird heute viel besser verstanden als früher (Petzold, 1998). Wir haben Präventionsmaßnahmen, die speziell an Kleinfamilien ausgerichtet sind, die die Herausforderungen kaum mehr aus eigener Kraft bewältigen können. Unter der Voraussetzung, dass gegenwärtig das Unterstützungssystem der erweiterten Familien weggebrochen ist und enorme Erwartungen auf den jungen Eltern lasten, diese jedoch gleichzeitig kaum Alltagserfahrungen mit Kindern haben, wird schon deutlich, dass das Kindeswohl nicht nur allein Aufgabe der Eltern sein kann. Inzwischen gibt es im gesamten Bundesgebiet zahlreiche Programme zur Stärkung der Erziehungskompetenz durch Präventions- und Interventionsmaßnahmen, wie zum Beispiel die »Frühe Hilfe« (Gregor u. Cierpka, 2005). In Programmen wie »Keiner fällt durchs Netz«, »Pro Kind«, »STEP« und »SAVE« wird dem Elternwerden als besonders vulnerablem Entwicklungsabschnitt für die Familienentwicklung besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Allerdings sind spätere Phasen der Familienentwicklung vergleichsweise wenig beachtet worden (»Triple P«). Es ist wichtig, dass werdende und junge Eltern nicht nur in diesen Programmen geschult werden, sondern dass auch in der aufsuchenden Familienarbeit, etwa durch speziell ausgebildete Familienhebammen, niedrigschwellige Angebote gemacht werden, die häufig die Väter mit einbeziehen. Filmaufnahmen der frühen Interaktion und die Konfrontation mit diesen Videos sind Bestandteile in vielen Programmen (Thiel-Bonney, 2002). Insbesondere die niedrigschwelligen Angebote werden offenkundig sehr gut angenommen. Hier liegt eine Chance, mit vergleichsweise einfachen Mitteln die Elternarbeit ein Stück voranzutreiben.

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Ist die Kindesentwicklung durch Fremdbetreuung gefährdet?

5.4 Ist die Kindesentwicklung durch Fremdbetreuung gefährdet? Kommen wir nun zu der Frage, ob die Kindesentwicklung durch Fremdbetreuung gefährdet ist. Diese ist nicht einfach zu beantworten, teilweise liegen zum Hospitalismus nur Studien aus einer Zeit vor, in der die Qualität der Heimbetreuung noch deutlich schlechter war. Auch heute gibt es noch Heimsituationen, in denen die Kindesentwicklung nicht optimal gefördert wird. Die gegenwärtige Situation in deutschen Kindergärten und Krippen mit ihren zahlreichen Verbesserungen und dem Versuch, eine optimale Betreuung von wenigen Kindern durch eine Person sicherzustellen, unterscheidet sich jedoch deutlich von früheren Zuständen, in denen die Defizite ausgeprägter und vielfältiger waren – nicht nur in der Betreuung. Die Ergebnisse der älteren Studien und die Befunde aus dem Hospitalismus zeigen interessante Anhaltspunkte dafür auf, wie weit Konsequenzen reichen können, sie sollen jedoch aufgrund des sehr unterschiedlichen Settings nicht so verstanden werden, als seien sie auf Kindertagesstätten, Krippen oder Kindergärten heute übertragbar. Die alarmierenden Ergebnisse zum Hospitalismus Wir wollen kurz auf eine ältere Studie zum Hospitalismus eingehen, bevor aktuellere Studien von verschiedenen Waisenhäusern auf der ganzen Welt und auch Adoptionsstudien thematisiert werden. René Spitz (1954) hatte bei Beobachtungen in Kinderheimen festgestellt, dass dort einige Kinder (19 %) das Phänomen des Hospitalismus entwickelt haben: Die Kinder wurden hygienisch betreut und angemessen ernährt, trotzdem entwickelten sie sich nicht weiter. Die meisten dieser Kinder blieben nur kurzzeitig im Heim, solange ihre Mütter wegen der Geburt eines weiteren Kindes oder wegen eines Krankenhausaufenthaltes aus anderen Gründen ihre Babys und Kleinkinder nicht betreuen konnten. Nach drei bis sie-

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ben Monaten wurden sie wieder von den Müttern abgeholt. Während sie von ihren Müttern getrennt im Heim waren, magerten die Kinder auffallend ab, wurden völlig apathisch, zeigten kaum noch Reaktionen in Bezug auf andere Menschen und wiesen einen leeren Gesichtsausdruck auf. Die Sprachentwicklung ging zurück, die motorische Entwicklung verlangsamte sich, die Kinder wurden sehr anfällig gegenüber körperlichen Infekten und zeigten Schaukelbewegungen. Spitz hat die leichtere Form als anaklitische Depression, die schwere Form als Hospitalismus beschrieben. Beim Hospitalismus verbrachte das Kind den ganzen Tag in der pathognomischen Stellung, es wendet sich vom Betreuer, von anderen Menschen ab und verharrt mit starrem Gesichtsausdruck in einer Ecke. Die Einflüsse der Trennung von der Mutter und des Deprivationszustandes – die Kinder lagen in weißen Bettchen vor weißen Wänden und wurden selbst bei der Fütterung allein gelassen, indem die Flasche auf ein Kissen auf den Bauch des Kindes gelegt wurde – waren massiv. Um dies zu belegen, hat Spitz den Entwicklungsquotienten pro Kind berechnet. Der Entwicklungsquotient ist in Analogie zum Intelligenzquotienten definiert und umfasst die Entwicklung in verschiedenen Bereichen mit einem Mittelwert von 100 und einer Standardabweichung von 15. Spitz stellte fest, dass Kinder, die von ihren Müttern getrennt wurden, einen dramatischen Abfall im Entwicklungsquotienten zeigten, während die, die mit ihren Müttern zusammenblieben, sich auch unter widrigen Umständen (z. B. Kinder von Inhaftierten, die bei ihren Müttern im Gefängnis bleiben durften) weiterentwickelten (Spitz, 1954). Die Kinder, die in Heimen untergebracht waren und über mehrere Monate ohne ausreichend Ersatzbetreuung von ihren Müttern getrennt waren, die in den Waisenhausbettchen lagen ohne Bilder, ohne Musik, ohne hochgenommen zu werden, ohne Ansprache, zeigten gravierend abgefallene Entwicklungsquotienten. Je länger die Trennung dauerte, desto stärker ging der Entwick-

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lungsquotient zurück. Wenn die Trennung von der Mutter nicht mehr als zwei oder drei Monate dauerte, erholte sich nach der Wiedervereinigung der Entwicklungsquotient relativ schnell und erreichte das ursprüngliche Niveau. Wenn die Trennung aber über mindestens fünf Monate anhielt, dauerte es extrem lange und in manchen Fällen gab es keine Rückkehr mehr zum ursprünglichen Entwicklungsniveau. Dies waren erschütternde Befunde, und wie erwähnt handelte es sich um eine mehrfache Deprivation, die die Kinder durchleiden mussten, nicht nur der Ausfall der Mutter ohne ausreichende Ersatzbetreuung. … und heutige Untersuchungen an Waisenhauskindern vor und nach der Adoption Wie sieht es heute aus, wenn man Kinder in Waisenhäusern untersucht, oder Kinder, die adoptiert werden? Ganz generell zeigen die meisten Studien unterschiedliche Effekte in Abhängigkeit von der Güte der Betreuung. Wir wollen uns dazu zwei Studien genauer ansehen. Eine sehr große Studie ist jene von Zeanah, Smyke, Koga, Karlson und the BEIP Core Group (2005), innerhalb derer heimbetreute Waisenkinder in verschiedenen Ländern untersucht wurden. In der Regel wurden keine so großen Mängel festgestellt, auffällig ist aber immer noch der sehr schlechte Entwicklungszustand von Kindern in rumänischen Waisenhäusern. Hier scheinen die Zustände nach wie vor wirklich defizitär zu sein. Die enormen intellektuellen Defizite der Kinder werden beschrieben, das Untergewicht und der Kleinwuchs von Kindern. Nur ein Drittel dieser Kinder erwirbt nach der Adoption einen Bindungsstatus, und dies ist kein sicherer, sondern ein desorientierter Bindungsstatus, wie er charakteristisch ist für Kinder, die Gewalt- und Missbrauchserfahrungen gemacht haben. Ein weiteres Drittel dieser Kinder ist allgemein an Menschen interessiert, weist also eine unspezifische Bindung auf, wie sie für null bis

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sechs Monate alte Babys typisch ist. Ein weiteres Drittel der Kinder reagiert hingegen überhaupt nicht auf Menschen. Es existieren demnach große Unterschiede in Abhängigkeit von den Ländern und von der Art der Betreuung in Waisenhäusern. Besonders problematisch scheinen einige Waisenhäuser in Rumänien zu sein, wo Zeanah und Mitarbeiter auch heute noch ähnliche Bedingungen, ähnliche Defizite vorgefunden haben wie zu Spitz’ Zeiten (Nelson, Fox, Zeanah u. Furtado, 2010). Jesus Palacios hat untersucht, wie sich Kinder entwickeln, die aus Heimen adoptiert werden. Dazu hat er 8.000 Kinder, die in Spanien adoptiert wurden, nachuntersucht (Palacios u. SánchezSandoval, 2005). Wiederum waren die Kinder aus russischen und rumänischen Waisenhäusern am stärksten entwicklungsverzögert. Im Schnitt hatte jedes Kind acht verschiedene Stationen hinter sich, zum Beispiel von den Eltern zu Pflegeeltern, ins Heim, in ein weiteres Heim, in eine Pflegestelle etc. Diese Kinder kamen dann in spanische Mittelschicht- und Oberschichtfamilien: gern gesehen, liebevoll aufgenommen. Man konnte nun sehen, wie diese Kinder in einem Zeitrafferverfahren enorm an Gewicht zunahmen und gewachsen sind. Schon wenige Monate nach der Adoption waren die äußerlichen Merkmale, dass sie überdurchschnittlich klein und schmal waren, kompensiert, aber es waren noch relativ lange Defizite in der intellektuellen und sozialen Entwicklung nachweisbar. Die liebevolle Betreuung durch die Adoptiveltern führte nach insgesamt zwei Jahren dazu, dass immerhin 30 % eine sichere Bindung erwarben (der sichere Bindungsstatus liegt durchschnittlich bei etwa 56 %). Es blieben aber Reste des desorientierten Bindungsstatus erhalten. Selbst unter der besten Bemutterung bzw. Beelterung waren die frühen Schäden nur teilweise zu kompensieren. Das ist plausibel, wenn man sich vor Augen hält, welche negativen Erfahrungen die Kinder in ihrem vorherigen Leben gemacht haben und wie häufig ihre Betreuungsund Bezugspersonen wechselten.

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Ist die Kindesentwicklung durch Fremdbetreuung gefährdet?

Fremdbetreuung in Krippen: Mädchen profitieren mehr als Jungen Die Situation, die Kinder in der Krippenbetreuung in der Bundesrepublik Deutschland erleben, ist eine völlig andere. Die heutigen Krippensysteme hierzulande sind mit denen in einigen rumänischen oder russischen Waisenhäusern nicht zu vergleichen. Wie geschildert, handelte es sich um eine mehrfache Deprivation, da fehlte also nicht nur die Mutter. Krippenkinder haben bei uns in aller Regel keine dramatischen Trennungen von ihren Eltern und diverse Betreuungsstellen hinter sich, sondern kehren nach einer ruhigen Eingewöhnung, bei der die Mutter oder der Vater optimalerweise dabei sind und bei der sie zunächst nur für wenige Stunden in der Krippe bleiben, auch täglich wieder in ihr Zuhause zurück. Dennoch ist es richtig, dass diese Kinder einen ganz engen Betreuungsschlüssel brauchen, sechs bis acht Kinder pro Betreuer sind in dieser Hinsicht vielleicht schon zu viele. Ein Betreuungsschlüssel von eins zu drei gilt als maximal für die unter Einjährigen. Je jünger das Kind, desto weniger Zeit sollte es in der Krippe verbringen. Aber auch für ältere Kinder gibt es Richtwerte, dass die Zeit sechs Stunden nicht überschreiten sollte, vier Stunden wären optimal. Wie steht es mit der Bindung von Kindern in der Fremdbetreuung? Ahnert (2010) hat bereits 1989 eine erste Krippen-Untersuchung in Ostdeutschland durchgeführt, als die deutsch-deutsche Grenze noch bestand. Sie hat das Bindungssystem der Krippenkinder mit dem Fremde-Situations-Test untersucht und sie fand vergleichsweise gute Ergebnisse, die sich später nach der Grenzöffnung, zum Beispiel in Potsdam, auch bestätigten. Ein übereinstimmendes Ergebnis ihrer jahrelangen Forschung ist, dass die Betreuung gut war und die Kinder eine Bindung an die Betreuungsperson entwickelten. Es gibt also Bindungssicherheit bei Krippenkindern.

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Die Ergebnisse von Lieselotte Ahnert haben etwas weiteres sehr Entscheidendes gezeigt, das aber zunächst überraschte: Von der Krippenbetreuung profitieren vor allem die Mädchen. Die Mädchen entwickelten überwiegend eine sichere Bindung an ihrer Erzieherin. Die Jungen dagegen entwickelten in viel geringerem Umfang eine sichere Bindung und hatten schlechtere Entwicklungschancen. Dies hängt damit zusammen, dass eine sichere Bindungsbeziehung für die Entwicklung von Neugier und auch für das Lernen sehr entscheidend ist: Die Bindungstheorie und -forschung hat belegt, dass nur von einer sicheren Basis aus exploriert, gelernt wird. Es ist nicht auszuschließen, dass die langfristigen Folgen von unsicherer Bindungsentwicklung bei den Jungen bis ins Schulalter reichen können. Das mit zunehmendem Alter schlechtere schulische Abschneiden der Jungen gegenüber den Mädchen ist bekannt. Auch wenn an dieser Tatsache unterschiedliche Ursachen beteiligt sein mögen, ist es doch überlegenswert, dass Jungen möglicherweise mit einer deutlich schlechteren Voraussetzung für Lernen den Kindergarten oder die Krippe verlassen. Lieselotte Ahnert führt die besseren Entwicklungschancen der Mädchen darauf zurück, dass sich die Erzieherinnen besser in Mädchen einfühlen, sie entsprechend besser fördern können. Jungen profitieren dagegen mehr von der Aktivierung des Explorationssystems, für dessen Förderung traditionell eher Männer, Väter zuständig sind. Daraus sollte man den Schluss ziehen, dass ganz eindeutig in Kindergärten und Grundschulen mehr männliche Erzieher gehören, weil sie die jungenspezifische Art der Bindungsbeziehung, die Exploration, stärker fördern.

5.5 Perfekte Eltern und perfekte Erzieher: Von fehlenden Erfahrungen und falschen Idealen Es ist natürlich zu bedenken, dass die Krippe oder der Kindergarten nur einen Teil der Betreuung ausmachen, in der Regel sind da

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Perfekte Eltern und perfekte Erzieher

noch die Eltern, die das Kind betreuen und fördern. Insbesondere Alleinerziehende leisten hier Gewaltiges insofern, als sie väterliche und mütterliche Rollen übernehmen, wenn die jeweilige Bezugsperson fehlt, zum Beispiel wenn sie keinen neuen Partner haben. Dies macht ja auch einen Teil der Anstrengung von alleinerziehenden Müttern aus: einen Teil der Vaterfunktion zu kompensieren. Umgekehrt versuchen alleinerziehende Väter, mütterliche Aspekte umzusetzen. Wir sehen also, dass Alleinerziehende besonders gefordert sind, mütterliche und väterliche Funktionen zugleich zu übernehmen und dem Kind Bindung und Exploration in einem guten Mischungsverhältnis zu vermitteln. Zu bedenken ist allerdings auch, dass die Realität oftmals anders aussieht als die Empfehlungen, dass nämlich die Kinder länger untergebracht werden und dass die Arbeitszeiten längere Abwesenheiten der Mutter bzw. des Vaters erforderlich machen, als diese es sich wünschen oder es für das Kind förderlich ist. Die Frage, wie lange die Kinder getrennt von ihren Eltern sind, ist sehr wichtig. Wenn Eltern ihre Kinder nur noch sehen, um sie abends zu Bett zu bringen, kann man sich leicht vorstellen, dass es für Kinder schwer ist, eine sichere Bindung zu ihnen zu entwickeln. Die Weggabe des Kindes an Institutionen: Machen es sich Eltern zu leicht? Greifen wir nochmals die Idee der hinreichend guten Mutter nach Winnicott (2002) auf. Eine Mutter kann das heute angesichts der sehr geringen Kinderzahl schon im Vergleich zum Erziehungspersonal in der Kinderbetreuung leicht erreichen. Eine Erzieherin oder ein Erzieher mit zwanzig oder gar dreißig Kindern kann jedoch nicht für alle Kinder ausreichend gut sein, es ist in Anbetracht der festgelegten Zeitabläufe und der Vielzahl und der Verschiedenartigkeit der Kinder unmöglich, allen hinreichend gerecht zu werden. Hinzu kommt der Druck von den Eltern und der Gesellschaft,

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optimale Erziehungsarbeit zu leisten. Bekanntlich wird diese Arbeit auch nicht sehr gut bezahlt. Es macht einen Teil der Belastungen in solchen Institutionen aus, dass die jungen Menschen, meist Frauen, die dort arbeiten, oft das Gefühl haben, die Kinder würden dort »abgeliefert«. Und sie sollen es dann richten, sie sollen optimalerweise den Kindern eine sichere Bindungsbeziehung vermitteln, die Kinder erziehen und so manche andere Elternfunktion übernehmen. Die Delegation von elterlichen Erziehungsfunktionen an die Erzieherinnen und Erzieher ist eine häufige Klage: Die Eltern wüssten über elementare Dinge in der Kindererziehung nicht ausreichend Bescheid, man müsse ihnen erklären, dass Kinder warme Jacken brauchen, wie man Fieber misst und dass Kinder nicht beim Abendprogramm der Eltern dabeisitzen sollten. Elterliche Defizite seien schon bei ganz grundlegenden Dingen zu sehen. An dieser Stelle kommt man praktisch nicht umhin, eine Aufwertung der Erziehungsberufe zu fordern. Erziehungsberufe stehen an der Schnittstelle von Eltern und Kindern und müssen in beide Richtungen einiges vermitteln und abfedern. Eine noch bessere Ausbildung und ein zahlenmäßiger Ausbau des Erziehungspersonals bei womöglich stärkerer Attraktivität des Berufs, zum Beispiel durch bessere Bezahlung, sind hier mögliche Maßnahmen. Gleichzeitig wird aber deutlich, dass Elternkompetenz – nicht im Sinne eines sozialen Drucks, sondern im Sinne gezielter Maßnahmen – weiter gestärkt werden sollte. Eltern muss – mit dem nötigen Fingerspitzengefühl – die Möglichkeit gegeben werden, sich in ihre Aufgaben einzufinden, gegebenenfalls mithilfe professioneller, niedrigschwelliger Angebote. Wenn betroffene Eltern jedoch nicht bereit sind, solche Angebote in Anspruch zu nehmen, ist es auch schwierig, Hilfe anzubieten. An dieser Stelle wird die Leistung des Betreuungspersonals umso wichtiger. Auch die Kompetenz, solche Situationen einordnen zu können, kann ein Teil der Aufgaben von Erziehungspersonal sein.

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Perfekte Eltern und perfekte Erzieher

Wenn die Erfahrung fehlt: Wo Eltern (auch) unsere Hilfe brauchen Solche elterlichen Defizite werden auch in der Psychotherapie von Kindern deutlich. Die therapeutische Arbeit umfasst ja nicht nur Arbeit mit dem Kind oder Jugendlichen, sondern genauso die Elternarbeit. Hier stößt man immer wieder auf gravierende Defizite bei den Eltern (Seiffge-Krenke, 2010b). So kann es vorkommen, dass ein Vater seinen fünfjährigen Sohn, weil der so gern Flugzeuge mag, auf einen Diensttermin nach New York mitnehmen möchte und sich überhaupt nicht bewusst ist, was das für den Jungen bedeutet: acht Stunden angeschnallt, Essen und Filme, dann Stunden im King-Size-Bett, vermutlich vor dem Fernseher, während der Vater seine Diensttermine wahrnimmt. Es findet eine unzureichende Trennung zwischen eigenen und kindlichen Bedürfnissen statt bzw. hat der Vater in diesem Beispiel keine Vorstellungen davon, wie die Bewegungs- und Anregungsbedürfnisse eines Kindes aussehen. Vor Weihnachten zum Beispiel gibt es in psychotherapeutischen Beratungsstellen immer großen Zulauf der Eltern, weil sie mit ganz einfachen Dingen, etwa damit, wie man Weihnachten angemessen feiert oder einen Kindergeburtstag, anscheinend überfordert sind und sich beraten lassen wollen. Das stimmt schon nachdenklich. Oftmals führen diese Eltern dann an, es gäbe ja Institutionen, die es einem entweder beibringen oder sogar selbst erledigen sollten. Warum das so ist, darüber kann man natürlich kontrovers diskutieren. Es könnte eine unangemessene Anspruchshaltung sein, bei der man die Eltern mit ihren Elternfunktionen konfrontieren sollte. Es könnte aber auch ein wirkliches Defizit sein: Haben diese Eltern dies bisher nicht gelernt, als Kind nicht selbst erfahren? Ist es für sie daher schwierig weiterzugeben? Erwarten sie dann in der Fremdunterbringung, dass dies für sie erledigt wird, bzw. erwarten sie ein Kümmern von außen, weil sie es auch so erlebt haben?

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Zu diesem Punkt existieren keine Untersuchungen, aber es spricht einiges dafür, dass in der Vergangenheit Erziehung, Traditionen, die Regeln des Miteinanders ganz natürlich erworben wurden, weil einfach viele Personen lange Zeiträume miteinander verbracht haben und Kinder, selbst wenn sie keine persönlichen Erfahrungen sammeln konnten, die Vorgänge in anderen Familien beobachten konnten. Wachsende Teile der Gesellschaft haben heute wenig Umgang und Erfahrungen mit Kindern. Damit geht eine nebenbei erlernte Kompetenz zunehmend verloren und wird stärker professionalisiert. Der Mangel an Erfahrungen kann auch die Entscheidung zur Elternschaft erschweren, wenn der intuitive Umgang mit Kindern nicht mehr umfänglich stattfindet und sie »unbekannte Wesen« sind, die Kompetenzen erst entwickelt werden müssen. Die Frage »Wie feiere ich einen Kindergeburtstag?« ist ein starker Indikator für die Verunsicherung der Eltern, aber auch für die Idee, es gäbe so etwas wie die »richtige« Geburtstagsfeier, für den sozialen Druck: Ich will pflichtbewusst sein, ich will an dem Tag ein besonders guter Vater oder eine besonders gute Mutter sein, sagt mir, wie das geht. Dies bedeutet aber zugleich auch den Verlust der Natürlichkeit, Spontaneität und Individualität, die für den Erziehungsprozess wichtig sind. Wir müssen heute in der Therapie oftmals umdenken. Wir müssen, und das wahrscheinlich für viele Patienten, zunächst diese grundsätzliche Information bereitstellen und Strukturierung leisten, zum Beispiel in der Elternarbeit: Was sind Kinder, was brauchen Kinder in welchem Alter, wie erstellt man den Tagesplan, wie erklärt man die Entwicklungsdynamik, die Bedürfnisse von sechsjährigen Kindern im Vergleich zu neunjährigen Kindern? Es müssen also, bevor man zu therapeutischen Interventionen kommt, zunächst viele Informationen gegeben werden, weil manche Eltern nicht mehr über Beobachtung lernen können oder konnten. Diesen Eltern muss dabei oft auch vermittelt werden, dass Kinder zwar feste Ordnungen brauchen, sie aber trotzdem nicht nach

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Was heißt »erfolgreiche Entwicklung«?

Gebrauchsanweisung funktionieren, etwa dass es, um beim Beispiel zu bleiben, keine Formel für den »perfekten Geburtstag« gibt.

5.6 Was heißt »erfolgreiche Entwicklung«? Die Frage »Wie viel Mutter braucht ein Kind?« ist nicht nur aus der Sicht der Entwicklungspsychologie (Ahnert, 2010), sondern auch aus der Sicht der Kinder- und Jugendpsychiatrie gestellt worden. Damit ist schon deutlich geworden, dass sich der Erfolg der Kindererziehung an bestimmten Kriterien misst, wie etwa dem Herstellen einer sicheren Bindungsbeziehung, die Voraussetzung ist für Lernen und Neugier, oder an einer guten psychischen Gesundheit, also einer geringen Belastung durch psychopathologische Symptome (Schmidt, 2008). In diesem letzten Abschnitt des Kapitels geht es daher noch einmal kritisch, als Anregung zum Nachdenken, um die Frage, wie sich Erziehungserfolg bemisst. Es wurde im Vorangehenden viel über die Entwicklung von Kindern und Mythen in diesem Kontext gesprochen. Ein weiterer sehr beständiger Mythos besagt, heterosexuelle, zusammenlebende Paarkonstellationen seien die beste Grundlage für kindlichen Entwicklungserfolg. In einer »heilen« Familie, so ist eine weitläufige Meinung, entwickelten sich Kinder einfach am besten. Kinder aus Scheidungsfamilien, Kinder, die nur einen Elternteil haben, und Kinder in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften, so ist immer wieder zu hören und zu lesen, haben schlechtere Entfaltungschancen und erhöhte Entwicklungsrisiken gegenüber Kindern aus den sogenannten Normalfamilien. Die soziologischen Erkenntnisse sind jedoch eindeutig: Es gibt keine gesicherten Hinweise darauf, dass die traditionelle Familie die bestmögliche Gewähr für eine glückliche, liebevolle und gelingende Erziehung bietet. Vielmehr ist davon auszugehen, dass eine gesunde psychosoziale Entwicklung mit einem breiten Spektrum familialer Lebensformen vereinbar ist.

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Zahlreiche Studien (vgl. Amato u. Booth, 1997) zeigen, dass die Lebensform (z. B. alleinerziehend versus Elternfamilie) und der Erwerbsstatus der Mütter keinen direkten Einfluss auf die Entwicklung der Kinder haben. Neue Studienergebnisse (Rupp, 2011) bestätigen auch, dass Kinder, die bei gleichgeschlechtlichen Elternpaaren aufwachsen, keine Benachteiligungen erleiden. Ausschlaggebend für den Verlauf der kindlichen Entwicklung, hier am Beispiel Schulerfolg, sind gemäß der Studien insbesondere fünf Faktoren (z. B. Palentien, 2005). Als einflussstärkster Faktor wird die sozioökonomische Situation des Elternhauses angeführt. Armut, nicht ausreichende Teilhabe- und Teilnahmemöglichkeiten am sozialen Leben oder schlechte Wohnbedingungen stellen ungünstige Ausgangsbedingungen dar. Es ist klar: Die ökonomische Situation der Familien liegt außerhalb der Tätigkeits- und Einflussfelder der Psychologie oder der Sozialwissenschaft und ist eine Aufgabe für staatliches Handeln. Hier können wir nur wenig tun. Wichtig sind außerdem die Qualität der Paarbeziehung und die Persönlichkeitsmerkmale der Eltern – auch bei Alleinerziehenden. Eine als intakt empfundene Paarbeziehung, stabile Persönlichkeitsmerkmale und angemessene Bewältigungsstrategien bei Problemen und Hindernissen bieten eine Basis für eine positive Kindesent­ wicklung. Erst danach kommen in der Rangfolge das Erziehungsklima und die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung. Es sind dort vor allem zwei Dimensionen relevant: Das Verhältnis von Akzeptanz und Zurückweisung sowie das Verhältnis von Kontrolle und Autonomie. Bei beiden Dimensionen ist von einem umgekehrt u-förmigen Zusammenhang auszugehen, das heißt extreme Ausprägungen, also zum Beispiel eine starke Kontrolle, führen jeweils zu ungünstigen Ergebnissen bei der kindlichen Entwicklung, mittlere Ausprägungen sind hingegen günstiger. Zwischen Lebensform und Leistung bestehen also keine direkten, aber viele indirekte Zusammenhänge. Die Wahrscheinlichkeit, dass beispielsweise Alleinerziehende in ungünstigen ökonomischen

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Was heißt »erfolgreiche Entwicklung«?

Bedingungen leben und die Qualität der Beziehung zwischen den Eltern, also den Expartnern, schlecht ist, ist höher als bei Elternfamilien. Damit sind zwei Hochrisikofaktoren zwischen den Lebensformen sehr unterschiedlich verteilt. Umgekehrt heißt das aber, dass Kinder, die bei Alleinerziehenden in guten materiellen Verhältnissen aufwachsen, keine per se schlechteren Startbedingungen haben als in einer ärmeren Elternfamilie. Die Abhandlungen beziehen sich hauptsächlich auf den Schulerfolg. Es ist aber viel interessanter, auch einmal nachzudenken, was noch als Erfolg, also als Erziehungs- und Entwicklungserfolg, verstanden werden könnte, was als wünschenswerte Entwicklung für Kinder angesehen wird. Wenn man den Erfolg messen will, muss man ja die Zielgröße kennen – Erfolg ist schließlich abhängig von der Zielerreichung. Ohne Ziel ist Erfolg nicht messbar. Auch hier gibt es reichlich Stoff zum Nachdenken. Aus wessen Sicht sollten die Ziele definiert werden: Aus der kindlichen? Aus der Sicht der Erwachsenen? Aus der Sicht der Gesellschaft? Je nachdem, wer die Definitionsmacht hat, würden die Ergebnisse sicher sehr unterschiedlich ausfallen. Allein am Beispiel des Schulerfolgs wird das deutlich. Der objektive Schulerfolg bemisst sich an Noten und Abschlüssen, und die sollen möglichst gut sein. Damit ist eine vermeintliche Vergleichbarkeit hergestellt  – denn die Bedingungen können trotz einheitlicher Lehrpläne und Zentralabitur doch sehr unterschiedlich sein, angefangen beim Lehrpersonal oder dem Schulgebäude. Schulerfolg könnte aber genauso gut eine erfolgreiche Ausbildung dahingehend bedeuten, dass angestrebte Persönlichkeitsmerkmale erreicht werden, Selbstständigkeit, soziale Kompetenzen, ein »Zurechtkommen« in der Gesellschaft und mit dem Leben – das könnten ebenfalls mögliche Indikatoren sein. Außerdem gibt es noch die subjektive Komponente: Vielleicht ist es ja auch dann Schulerfolg, wenn ein Kind gern zur Schule geht, keine Angst hat – auch wenn die Noten eventuell nicht so gut sind.

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Ist eine Erziehung nicht dann erfolgreich, wenn Kinder zufrieden sind, sich gut integrieren können, zum Beispiel unter Gleichaltrigen? Erziehungserfolg, das ist es doch auch, wenn die Kinder dazu fähig sind, sich in Gruppen sicher zu bewegen, umsichtig die eigenen Bedürfnisse verwirklichen können. Die Verkürzung auf Schul- oder Bildungserfolg ist jedoch sicherlich nicht hinreichend.

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6 Vielfalt der Familie(n): Trennung, Scheidung, neu zusammengesetzte Familien – Ursachen und Folgen

Gegenwärtig existiert eine Vielfalt der Familienformen. Diese ist historisch nicht neu – neu ist die große Verbreitung der verschiedenen Lebensformen. Die Familie mit zwei verheirateten Eltern ist dabei immer noch weit verbreitet und die dominante Lebensform von Menschen im Alter von 40 bis unter 45 Jahren (vgl. Tabelle 1, S. 62). Die Zahl von nachehelichen Familien mit Kindern – Stieffamilien oder geschiedene Alleinerziehende – ist aber gewachsen. Amtliche Statistiken weisen bislang keine verlässlichen Zahlen aus, der Anteil von Stieffamilien an allen Familien (mit Kindern) wird für Westdeutschland auf 13 % und für Ostdeutschland auf 18 % geschätzt (Kreyenfeld, 2011). Rund 150.000 Kinder pro Jahr erleben gegenwärtig die Scheidung ihrer Eltern, die oft mit einer Verschlechterung der finanziellen Situation einhergeht und die für alle Betroffenen auch psychologisch große Herausforderungen mit sich bringt. Dieses Kapitel widmet sich Trennungsfamilien vor und insbesondere nach der Scheidung. Es wird zunächst die historische Entwicklung des Scheidungsgeschehens mithilfe statistischer Kennzahlen dargestellt. Die Rahmenbedingungen für Scheidungen und die Faktoren, die mit dem Scheidungsrisiko von Paaren in Zusammenhang stehen, werden aus einer soziologischen Perspektive beleuchtet, ebenso wie die Scheidungsfolgen. Daran schließt sich eine Betrachtung der Scheidungsursachen und -folgen aus einer psychologischen Perspektive an. Welche Probleme ergeben sich für die Familienmitglieder – Väter, Mütter und Kinder – während und nach der Trennungsphase? Welche Möglichkeiten

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zur Gestaltung gibt es? Welche Konsequenzen können sich für Beratung und Therapie ergeben? Diese Fragen werden im zweiten Teil des Kapitels, auch unter Berücksichtigung klinischer Beispiele, behandelt.

6.1 Das gegenwärtige Scheidungsgeschehen historisch und international betrachtet Wenn über Scheidungsgeschehen gesprochen wird, deckt das nur einen Teil der tatsächlichen Trennungen ab, nämlich die Trennungen verheirateter Paare. Bei nichtverheirateten Paaren ist das Trennungsrisiko allgemein höher als bei verheirateten Paaren (z. B. Kreyenfeld, 2011). Über Anzahl und Folgen der Trennungen nichtverheirateter Paare wissen wir vergleichsweise wenig. Wenn wir an dieser Stelle also nur Scheidungen thematisieren, unterschätzen wir die Zahlen der von Trennungserleben Betroffenen – wie in Kapitel 3 beschrieben lebt eine Vielzahl von Kindern ja auch bei Eltern, die nicht miteinander verheiratet sind, und sich folglich nicht scheiden lassen können. An dieser Stelle soll es zunächst ganz allgemein um die Entwicklung des Scheidungsgeschehens gehen. Wie haben sich die Bedingungen für Scheidungen verändert, wie die Scheidungszahlen? In einem weiteren Schritt wollen wir Scheidungsursachen und Ehestabilität soziologisch betrachten, zuletzt dann die Scheidungsfolgen. Von Veränderung und Verzögerung: Die Entwicklung der Ehescheidungsziffer Wie hat sich das Scheidungsgeschehen historisch entwickelt? Die Abbildung 12 beschreibt den Verlauf der Ehescheidungen (Anzahl in tausend) und der rohen Ehescheidungsziffer (Scheidungen je zehntausend Einwohner) seit Ende des 19. Jahrhunderts.

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Das gegenwärtige Scheidungsgeschehen

Abbildung 12: Ehescheidungen und rohe Ehescheidungsziffer in Deutschland, 1888– 2010 (Statistische Ämter des Bundes und der Länder; grafische Darstellung: Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung)

Es zeigt sich, dass es seit Ende des 19. Jahrhunderts, als es kaum Ehescheidungen gab, bis in die Gegenwart zu einem deutlichen Anstieg kam. Dieser Anstieg verlief aber nicht zwingend linear, teilweise gibt es massive Einbrüche, zum Beispiel um das Jahr 1977. Woher kommen diese Einschnitte? 1977 wurde mit der Umstellung vom Schuld- zum Zerrüttungsprinzip das Ehe- und Familienrecht reformiert. Es ist ein bekanntes Muster, dass in solchen Phasen der rechtlichen oder gesellschaftlichen Veränderung und Umstellung, die auch mit Unsicherheiten für die Einzelnen einhergehen, Scheidungen aufgeschoben werden. Auch andere wichtige biografische Entscheidungen wie Heirat und Elternschaft werden hinausgezögert. Kurz nach der Wiedervereinigung gab es in Ostdeutschland ein vorübergehendes Geburtentief (vgl. Kapitel 4). Häufig werden die aufgeschobenen Ereignisse dann in den Folgejahren zu einem erheblichen Teil nachgeholt. Man spricht hier von sogenannten

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Timing-Effekten. Daran zeigt sich, dass Menschen durchaus sensibel auf Rahmenbedingungen reagieren können. Ein Einschnitt in den Scheidungsziffern ist auch für die Jahre nach der Wiedervereinigung zu erkennen. Dieser ist fast ausschließlich von den in dieser Zeit stark einbrechenden Scheidungszahlen in Ostdeutschland getragen. War in der DDR eine Scheidung ein vergleichsweise unkomplizierter und kostengünstiger Vorgang, galt im Westen eine andere, wesentlich kompliziertere und teurere Struktur. Die mit der Wende rapide gesunkenen Scheidungszahlen in Ostdeutschland sind langfristig niedrig geblieben, das Scheidungsniveau liegt deutlich unter dem westdeutschen. In Gesamtdeutschland sind im Jahr 2010 187.027 Ehen geschieden worden. Scheidungshäufigkeit: Deutschland liegt im europäischen Mittelfeld Im europäischen Vergleich liegt Deutschland mit 2,3 Scheidungen pro tausend Einwohner im Jahr 2009 (neuere Zahlen liegen für einzelne Länder noch nicht vor) im mittleren Bereich. Ausgesprochen niedrig liegt die Scheidungsziffer in den Gebieten des ehemaligen Jugoslawien, auch in Irland und Italien liegen die Scheidungsziffern unter eins. Überdurchschnittliche Scheidungsziffern weisen hingegen die ehemaligen GUS-Staaten auf, die Scheidungsziffern liegen zum Beispiel bei 4,9 in Russland und bei 3,2 in der Ukraine. Weniger als die (ehemalige) politische Orientierung spiegelt sich im Scheidungsgeschehen die konfessionelle Orientierung wider. In ausgeprägt römisch-katholischen Ländern oder in stark muslimisch geprägten Gebieten liegt die Scheidungsziffer tendenziell unter dem Durchschnitt, dagegen in früh säkularisierten Gebieten und auch in den ehemals sozialistischen Staaten tendenziell höher. Wir sprechen hier jedoch nur von Trends, denn auch im Vereinigten Königreich, wo die Königin bis in die Gegenwart außerdem

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Kirchenoberhaupt ist, liegt die Scheidungsziffer bei 2,2 (Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, 2011). Es deutet sich hier schon an, dass in einigen Ländern Scheidungen sozial eher akzeptiert werden als in anderen Ländern, die traditionell höhere soziale Barrieren für Scheidung aufweisen. Wenn mit der Scheidung eine Stigmatisierung einhergeht, ist sie nur in besonders schwierigen Ehen eine Alternative. Bis etwa Ende der 1960er Jahre war auch in Deutschland Scheidung stigmatisierend, insbesondere für Frauen. Gelang die Ehe nicht, taten sich im Grunde nur zwei Alternativen auf: in dieser Ehe zu verbleiben oder sozial diskriminiert zu werden und mit dem Stigma zu leben, es nicht geschafft zu haben und persönlich gescheitert zu sein. Heute ist die Scheidung gesellschaftlich wesentlich anerkannter, es gibt ein »soziales Leben nach der Scheidung«. Die sozialen Kosten der Scheidung sind in dieser Hinsicht deutlich gesunken. Gewandelte Rahmenbedingungen des Scheidungs­ geschehens Es zeigte sich, dass politische und rechtliche Reformen Einfluss auf das Scheidungsgeschehen haben und zumindest zu einer Verschiebung der Ereignisse führen können. Die sozialen und rechtlichen Rahmenbedingungen sind grundlegend dafür, was unter Scheidung verstanden wird und in welcher Form und mit welchen Folgen Ehen gelöst werden können. Historisch lassen sich insgesamt sehr verschiedene Konstruktionen ausmachen. Zunächst ist die freie Aufhebbarkeit der Ehe zu nennen. Auf dem heutigen deutschen Gebiet war diese Form der Ehelösung bis ins 15. Jahrhundert hinein üblich. In der Gegenwart gibt es dieses Prinzip teilweise noch in arabischen Ländern – der Mann hat das Recht, die Ehe einseitig und relativ formlos aufzulösen. Gegenteilig hierzu ist die Auffassung der katholischen Kirche, die mit dem Konzil von Trient Mitte des 16. Jahrhunderts eingeführt wurde und

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die Unauflösbarkeit der Ehe beschreibt. Die Ehe als Sakrament kann durch den Mensch nicht aufgelöst werden. Bis in die Gegenwart ist aus kanonischer Sichtweise nur eine Trennung von Tisch und Bett realisierbar, nicht jedoch eine Scheidung. Rechtlich wurde in Deutschland 1871 das kanonische Eherecht durch das bürgerliche Eherecht abgelöst. Das Bürgerliche Recht besagte ein Verschuldensprinzip – man konnte sich dann scheiden lassen, wenn man dem Partner ein »ehewidriges Verhalten« gerichtlich nachweisen konnte, zum Beispiel sexuelle Untreue (z. B. Gestrich, 2008). Das Schuldprinzip wurde 1977 ersetzt durch das Zerrüttungsprinzip – es wird damit formal anerkannt, dass eine Ehe auch ohne »Verschulden« enden kann. Voraussetzung ist ein Getrenntleben der Partner und die grundsätzliche Annahme, dass die Ehe nicht wiederhergestellt werden kann. Je nachdem, ob beide Partner oder nur einer der Partner der Scheidung zustimmen, bemisst sich die Dauer des Getrenntlebens – in Ausnahmefällen genügt ein halbes Jahr, stimmen beide Partner zu, wird die Ehe nach einem sogenannten Trennungsjahr geschieden. Nach drei Jahren Trennung reicht der Antrag eines der Ehegatten aus, um die Ehe zu scheiden (§ 1565 BGB). Die Trennungszeit umfasst dabei auch, dass keine »ehelichen Aktivitäten«, beispielsweise Geschlechtsverkehr, stattfinden. Dies würde einen erneuten Beginn der angerechneten Zeit bedeuten. Neben der Scheidung bestehen weitere Möglichkeiten der Ehelösung, namentlich die Nichtigkeitserklärung und die Aufhebung der Ehe, bei der die Ehe für die Zukunft folgenlos bleibt, etwa weil sie nicht hätte geschlossen werden dürfen. Dafür gibt es enge rechtliche Grenzen, zum Beispiel Bigamie, Geschäftsunfähigkeit, Zustandekommen unter Drohung. Die Aufhebung der Ehe umfasst seit 1998 auch die Nichtigkeit der Ehe – hier wurde die Ehe auch rückwirkend aufgelöst, so als hätte sie nie bestanden. Bekannte Beispiele für diese Form der Ehelösung sind Stephanie von Monaco oder auch Britney Spears, die ihre Ehe wegen Trunkenheit nach zwei Tagen wieder annullieren ließ. Empirisch ist diese Form hier-

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Das gegenwärtige Scheidungsgeschehen

zulande aber nicht sehr relevant: Im Jahr 2009 wurden in Deutschland etwa 200 Ehen auf diese Weise für ungültig erklärt. Da das Zerrüttungsprinzip kompliziert und rechtlich schwer handhabbar ist, kann für die Zukunft erwartet werden, dass es in absehbarer Zeit durch das Vertragsprinzip abgelöst werden könnte. Die Ehe als Vertrag, vergleichbar mit zivilrechtlichen Verträgen und ebenso wie diese durch eine Partei kündbar, ist ein mögliches Szenario. Das verflixte fünfte und sechste Jahr Wann finden, bezogen auf die Ehedauer, die meisten Scheidungen statt? Nach welcher Dauer ist das Risiko für das Ende einer Ehe statistisch besonders hoch? Zur Beantwortung dieser Frage nutzt man die sogenannte ehedauerspezifische Scheidungsziffer. Diese gibt für ein bestimmtes Kalenderjahr an, wie viele Ehen je tausend Ehen eines Eheschließungsjahrgangs geschieden wurden. Derzeit steigt diese Ziffer bis zum fünften, sechsten Ehejahr vergleichsweise steil an. Dann erreicht sie mit rund 25 in Ost- und 28 von tausend in 2004 geschlossenen Ehen in Westdeutschland ihren Höhepunkt, danach nimmt sie mehr oder weniger kontinuierlich ab. Es kommt auch nicht zu einem weiteren Anstieg der Scheidungen nach 20 oder 25 Ehejahren, wenn die Kinder »aus dem Haus« sind, wie mancherorts angenommen wird. Für die Scheidungsstatistik ist diese Phase keine besonders auffällige – anders als sich das in der Psychologie darstellt. Im Gegensatz zu früher werden aber überhaupt Ehen nach einer solchen Dauer geschieden. Man sollte beachten, besonders im Falle junger Paare, dass die Trennung der Scheidung meist zeitlich deutlich vorgelagert ist, zumindest das Trennungsjahr muss ja in der Regel eingehalten werden. Die Paare, die sich um den Peak herum scheiden lassen, also im fünften, sechsten Ehejahr, trennen sich folglich bereits etwa drei oder vier Jahre nach der Hochzeit, also recht bald. Aus psy-

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chologischer Sicht kann dies zumindest teilweise darauf zurückzuführen sein, dass das Paar, zum Beispiel nach der Geburt eines Kindes, noch nicht zur Ruhe gekommen ist (vgl. Kapitel 4 und 5).

Etwa 150.000 Kinder erleben jährlich die Scheidung ihrer Eltern Abbildung 13 beschreibt, wie viele minderjährige Kinder (in tausend) in Ost- bzw. Westdeutschland von einer Scheidung ihrer leiblichen Eltern betroffen waren. Der Verlauf ähnelt dem der rohen Ehescheidungsziffer, wie er in Abbildung 12 (S. 169) dargestellt ist.

Abbildung 13: Von Ehescheidung betroffene minderjährige Kinder in West- und Ostdeutschland (Statistische Ämter des Bundes und der Länder; grafische Darstellung: Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung)

Ausgehend von noch kriegsbedingten Scheidungen ab Mitte der 1950er Jahre kam es zu einem Anstieg bis in die Mitte der 1970er

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Gesunkene Barrieren und gewachsene Alter­n ativen

Jahre, 1972 wird dann in Westdeutschland zum ersten Mal die Grenze der 100.000 durchbrochen. Auch hier zeigt sich wieder der nur ein paar Jahre währende Einbruch mit der Ehe- und Familienrechtsreform 1977, gefolgt von einer längeren Plateauphase in den 1980ern. Seit Anfang der 1990er, nach einem massiven Anstieg, liegt die Zahl immer deutlich über 100.000, seit der Jahrtausendwende ist sie nicht mehr unter 120.000 gesunken, und das allein im Westen. In Ostdeutschland war die Zahl der betroffenen Kinder über 15 Jahre von etwa 1973 bis zur Wende stabil hoch, insbesondere wenn man sich vor Augen hält, dass die Einwohnerzahl nur etwa ein Viertel der BRD betrug. Scheidungen sind mit der Wiedervereinigung aufwändiger geworden und mehr als die Hälfte der Kinder kommen nichtehelich zur Welt, sodass die Zahl seitdem nicht wieder über 40.000 gestiegen ist, bei abnehmender Tendenz. Die Entkoppelung von Ehe und Elternschaft ist in Ostdeutschland deutlich weiter vorangeschritten als im Westen. Die Kinder können somit zwar von einer Trennung der Eltern, nicht aber von Scheidungen betroffen sein. Und Trennungen werden in der amtlichen Statistik nicht erfasst. Addiert man die Werte aus Ost- und Westdeutschland, ergibt sich, dass gegenwärtig etwa 150.000 Kinder jährlich von der Scheidung ihrer Eltern betroffen sind. Welche Auswirkungen und Folgen diese Scheidungen haben können, wird in den folgenden Kapiteln näher beleuchtet.

6.2 Gesunkene Barrieren und gewachsene Alter­ nativen: Subjektive Scheidungsgründe und Faktoren des Scheidungsrisikos Unter welchen Umständen werden Ehen geschieden? Soziologisch lässt sich das mit folgender, recht unromantischer Formel beschreiben: Scheidungen finden in aller Regel dann statt, wenn die Kosten der Ehe höher sind als ihr Nutzen – bzw. wenn der Nutzen der Scheidung höher ist als ihre Kosten. Ob eine Ehe in der Scheidung

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endet, hängt dabei nicht zwingend von der Ehezufriedenheit ab, sondern auch von Barrieren und Alternativen. Wenn die Barrieren der Ehelösung niedrig sind und die Alternativen verlockend, können sogar gute Ehen gefährdet sein. Die Barrieren sind – es ist schon angeklungen – insgesamt niedriger geworden. Die Zahl derjenigen, die aus ökonomischen Gründen auf eine Ehe angewiesen sind, hat sich verringert, die soziale Diskriminierung Geschiedener ist weggefallen, Väter haben günstigere Sorgerechtsprognosen, um nur einige Entwicklungen zu nennen. Auch die Alternativen sind zahlreicher, so kann eine Frau heute durchaus nachehelich allein leben und das Zusammenleben mit einem neuen Partner ist weit weniger tabuisiert als in der Vergangenheit. Die Ehequalität ist hingegen in erster Linie ein subjektives Konstrukt. Sie ist eng gekoppelt an die Erwartungen, die man an eine Ehe richtet, und mit der Bereitschaft, Abweichungen von dieser »Idealehe« zu tolerieren. Die soziologischen Befunde verweisen auf eine sogenannte Erwartungsinflation – die Erwartungen an eine glückliche Partnerschaft, an eine gute Ehe sind stark gestiegen (z. B. Nave-Herz, 2009). Die Ehequalität hat es dann schwer, wenn man Anspruch und Realität vergleicht. Zusätzlich hat sich auch die Bereitschaft, Abweichungen zu akzeptieren, verringert. Die Barrieren der Auflösung sind niedriger geworden und die Alternativen größer. Bezüglich des Zustandekommens einer Scheidung unterscheidet die Soziologie zwei Dimensionen: die subjektiven Scheidungsgründe, also das, was die Menschen als Grund für die Trennung anführen, und die allgemeineren, objektive Risikofaktoren, die das Scheidungsrisiko beeinflussen. Bei den subjektiven Scheidungsgründen spielen die klassischen Motive, die beim Zerrüttungsprinzip noch relevant waren, keine übergeordnete Rolle mehr. Alkoholismus, Gewalt und Untreue haben an Bedeutung verloren – sie müssen auch nicht mehr zwingend vorliegen, um eine Scheidung überhaupt durchzusetzen. Wichtiger geworden sind Kommunikations- und Lebensstilprobleme, etwa wenn zu wenig gemein-

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same Interessen vorliegen oder die Interessen und Einstellungen des Anderen nicht respektiert werden. Wenn man nicht zueinander findet in der Besprechung von Alltag und Problemen, wenn der andere Partner die Dinge anders wahrnimmt und man keinen gemeinsamen Nenner findet oder wenn man keine gemeinsamen Lebensziele entwickeln kann – das sind heute die wichtigen Scheidungsgründe (z. B. Bodenmann, Bradbury u. Maderasz, 2002). In einer bereits älteren Analyse von Schneider (1990) gaben rund je ein Viertel an, Kommunikationsprobleme, enttäuschte Erwartungen und Entfremdung seien (mit-)ursächlich für die Trennung gewesen, etwa einem Fünftel fehlte die gemeinsame Zukunftsperspektive. Natürlich kann auch Untreue oder etwas anderes hinzukommen, diese Ereignisse sind heute jedoch häufiger der Anlass, nicht die Ursache der Scheidung. Die typischen Risikofaktoren, die das Risiko für eine Scheidung beeinflussen, sind soziologisch recht gut bekannt. Paare, die gemeinsam Pläne schmieden und verfolgen, in gemeinsame Projekte investieren, wie zum Beispiel in Kinder oder ein Haus, lassen sich mit geringerer Wahrscheinlichkeit scheiden. Hohe Investitionen bergen jedoch ein Risiko. Wenn die Beziehungen nicht mehr gut funktionieren und die Trennung als Ausweg zunächst weniger wahrscheinlich ist, steigt das Konfliktniveau. Nach einer (späten) Trennung ergeben sich oft hoch konflikthafte Nachscheidungssituationen. Der Weg zum freundlichen Umgang miteinander, zu einer für beide zufriedenstellenden Regelung ist da häufig schon versperrt. Der ­günstigere Verlauf, dafür liefert der Forschungsstand deutliche Hinweise, wäre hier eine frühere Trennung mit der Chance, die Nachscheidungssituation erfolgreicher zu bewältigen. Gemeinsame Investitionen senken das Scheidungsrisiko Die Einflussfaktoren auf das Scheidungsrisiko sind soziologisch gut erforscht. Wagner und Weiß (2003) haben verschiedene Stu-

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dien in einer Metaanalyse zusammengefasst und die Frage untersucht, welche Faktoren es sind, die erhöhend oder senkend auf die Wahrscheinlichkeit einwirken, sich scheiden zu lassen. Gemeinsame Investitionen, das wird auch hier nachgewiesen, senken das Scheidungsrisiko deutlich. Dabei wirken sehr unterschiedliche Mechanismen. Sicherlich haben wir es mit einem Selektionseffekt zu tun: Paare, die von einer Stabilität ausgehen, investieren mit einer höheren Wahrscheinlichkeit, zum Beispiel in ein gemeinsames Haus oder gemeinsame Kinder, als Paare, die sich nicht sicher sind. Andererseits ist es auch aufwändig, im Falle einer Trennung oder Scheidung eine Einigung über die Investition zu erzielen, also Sorgerechtsregelungen, Verkauf des Hauses usw. Man bindet sich ja auch selbst daran. Paare mit gemeinsamem Wohneigentum haben ein um 54 % niedrigeres Scheidungsrisiko, ein gemeinsames Kind senkt die Scheidungswahrscheinlichkeit gemäß der Studien um 40 %. Das gilt aber nur für das erste Kind, zweite oder weitere Kinder senken das Risiko nicht weiter. Bei Paaren mit Eheverträgen hingegen fällt das Scheidungsrisiko gegenüber solchen Paaren, die auf einen Ehevertrag verzichten, höher aus. Hier sind die finanziellen Folgen einer Trennung vergleichsweise klar geregelt, die Barriere für Scheidung in dieser Hinsicht also gesenkt. Zudem ist anzunehmen, dass Paare, die skeptisch gegenüber dem Beziehungserfolg sind, eher einen solchen Vertrag abschließen als Paare, die sich blind vertrauen. Homogamie – wichtig bei der Paarbildung, weniger für das Scheidungsrisiko Auch Altersfragen sind nicht unwichtig, wenn man sich fragt, welche Ehen dauerhafter sind. Paare, die nach dem heutigen Verständnis sehr jung heiraten und zum Zeitpunkt der Eheschließung unter 21 Jahre alt sind, haben ein doppelt so hohes Scheidungsrisiko wie andere Paare. Warum spätere Heiraten erfolgreicher sind, dazu gibt

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Gesunkene Barrieren und gewachsene Alter­n ativen

es verschiedene Thesen. In einem reiferen Alter weiß man vielleicht selbst besser, was man von einem Partner oder einer Beziehung erwartet. Die Suche war länger, die getroffene Wahl ist eventuell umso passender. Vielleicht haben sich die Paare einfach nur mehr Zeit gegeben, einander kennenzulernen. Auch eine lange voreheliche Beziehungsphase senkt nämlich das Scheidungsrisiko signifikant. Der Altersunterschied der Partner spielt eine geringere Rolle, bei Paaren, in denen die Partnerin älter ist als ihr Ehemann, ist das Risiko jedoch leicht erhöht. Bildungshomogamie der Partner, wie sie in Kapitel 3 beschrieben ist, verringert die Scheidungswahrscheinlichkeit nicht signifikant, bei der Partnerfindung scheint das Kriterium also wichtiger zu sein als bei der Ehestabilität. Ein signifikant erhöhtes Scheidungsrisiko liegt aber im Falle binationaler Ehen vor, wenn die Partner unterschiedliche Staatsbürgerschaften haben. Wird die Heirat kirchlich begangen oder sind beide Partner Kirchenmitglieder, wirkt das begünstigend auf die Ehestabilität. Religiöse Menschen sind in aller Regel stärker gegen Scheidungen eingestellt, zum anderen erhöhen das sakrale Ritual und die große Feier den sozialen Druck, zusammenzubleiben. In Großstädten hingegen, wo das Leben etwas anonymer verläuft, die Altersstruktur jünger ist und die Orientierungen tendenziell moderner als in Kleinstädten oder ländlichen Gebieten, ist das Scheidungsrisiko erhöht. Dort sind außerdem die Partnermärkte vielfältiger als in kleineren Städten, gerade für hoch Gebildete – die Alternativen also zahlreicher und greifbarer. Das Scheidungsrisiko hoch gebildeter Frauen ist gegenwärtig nicht mehr signifikant höher verglichen mit Frauen mit niedrigerer Bildung. Sind Frauen jedoch erwerbstätig, und hier kommt das Argument der ökonomischen Abhängigkeit ins Spiel, ist die Scheidungswahrscheinlichkeit um etwa ein Viertel erhöht (gegenüber solchen Paaren, in denen die Frau nicht erwerbstätig ist). Frauen mit eigenem Einkommen sind finanziell nicht darauf angewiesen, in einer Ehe zu verbleiben.

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Ökonomische Unselbstständigkeit – das klingt und ist unromantisch – trägt zur Stabilität von Ehen bei. Intergenerationale »Vererbung« von Scheidung? Ein längere Tradition haben Studien, die sich mit der »Vererbung« von Scheidung, der sogenannten intergenerationalen Scheidungstransmission, befassen, ein Thema, das auch innerhalb der Metaanalyse in den Blick genommen wurde. Die Scheidungswahrscheinlichkeit von Personen, deren Eltern geschieden sind, liegt gegenüber Partnern aus intakten Ehen der Eltern um 50 % höher. Der Effekt fällt noch deutlich stärker aus, wenn die Eltern beider Ehepartner geschieden wurden – hier ist das Risiko, dass die Ehe in der Scheidung endet, um weit mehr als doppelt so hoch (Wagner u. Weiß, 2003). Mögliche Erklärungen dafür sind – dies deckt sich nicht zwingend mit den Befunden der Psychologie –, dass diese Menschen Scheidung als einen gangbaren Weg erlebt haben, aus einer nicht mehr funktionierenden Beziehung auszusteigen, also bemerkt haben, dass es zwar negative Seiten hat, aber durchaus funktionieren kann und dass eine Scheidung auch neue Chancen bietet. Scheidungskinder können in diesem Sinne in Richtung einer Scheidung als Konfliktlösung sozialisiert worden sein. Aus einer anderen Richtung könnte argumentiert werden, dass die Scheidung der Eltern die eigene Ehefähigkeit einschränkt, dass man belastet ist und langfristige Bindungen tendenziell schwerer fallen als bei Menschen, die keine Zeugen der elterlichen Scheidung wurden. Ähnlich zeigt sich das auch in Studien zu den Scheidungsfolgen für Kinder, die an späterer Stelle ausführlicher dargestellt werden.

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Geschieden und arm? Ökonomische Folgen von Scheidungen

6.3 Geschieden und arm? Ökonomische Folgen von Scheidungen Die Folgen von Scheidungen sind vielschichtig und betreffen in einer grobmaschigen Unterteilung die soziale, die ökonomische und die psychische Ebene, wobei diese sich durchaus überschneiden. Die möglichen sozialen Folgen wurden bereits angedeutet. In diesem Kapitel sollen die ökonomischen Folgen vertiefend erläutert werden, in späteren Kapiteln werden die psychologischen Folgen stärker fokussiert. Beispielhaft soll die ökonomische Lage in zwei typischen Lebensformen von Eltern mit Kindern in der Nachscheidungsphase beschrieben werden, von Alleinerziehenden und in Stieffamilien. Auch Scheidungen kinderloser Ehen sind empirisch bedeutsam. Zum einen sind, wie in Tabelle 1 (S. 62) dargestellt, kinderlose Ehen mit einem Anteil von etwa 15 % der Bevölkerung weit verbreitet, zum anderen liegt das Scheidungsrisiko dieser Ehen deutlich höher als bei Ehen mit mindestens einem Kind. Aufgrund der spezifischen Fragestellung des Buches möchten wir uns an dieser Stelle jedoch auf Auswirkungen auf Familien mit Kindern beschränken. Bevor wir später die psychologischen Folgen diskutieren, werden wir zunächst auf die ökonomischen Lebensumstände in Familien nach der Scheidung eingehen. Eine naheliegende Konsequenz von Trennungen ist das Wegfallen der bisherigen Haushalts- und Wirtschaftsgemeinschaft. War es dem Paar bis zu diesem Zeitpunkt möglich, die Kosten für den Lebensunterhalt gemeinsam zu tragen, ergibt sich mit der Trennung eine neue Konstellation. In aller Regel geht damit die Gründung eines zweiten Haushalts einher – sofern es sich nicht ohnehin um eine Fernbeziehung handelte. Unterhaltszahlungen für den finanziell schlechter gestellten Partner bzw. den Partner, der die Kinder zu sich nimmt, haben den Zweck, diesen von einem Teil der finanziellen Belastungen zu

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befreien. Mit der Reform des Unterhaltsrechts im Jahre 2008 ergibt sich eine Neuregelung, die dem Unterhalt der Kinder Vorrang vor dem Unterhalt des Expartners einräumt und die Festsetzung und Bemessung insgesamt vereinfachen soll. Für die Unterhaltsverpflichteten entstehen finanzielle Kosten, die häufig auf der Seite des Partners und der Kinder dennoch nicht ausreichen, um den bisherigen Lebensstandard aufrechtzuerhalten. Mit der Scheidung geht somit für beide Partner häufig ein finanzieller Abstieg einher. Das hohe Armutsrisiko Alleinerziehender Scheidungen oder Trennungen vom Ehepartner sind der häufigste Weg ins Alleinerziehen, rund sechs von zehn Alleinerziehendenfamilien entstehen auf diese Weise; nur etwas mehr als ein Drittel war vor dem Alleinerziehen nicht verheiratet. Insgesamt sind Alleinerzieherhaushalte gar nicht so selten: Rund jeder fünfte Haushalt, in dem minderjährige Kinder leben, ist ein Alleinerziehendenhaushalt. Etwa 16 % der Kinder leben in Alleinerziehendenhaushalten (alle Angaben beziehen sich auf den Mikrozensus 2009: Statistisches Bundesamt, 2010a). Für Alleinerziehende stellt sich die Vereinbarkeitsproblematik von Familie und Beruf verschärft dar. Häufig stehen Alleinerziehende vor dem Problem, (notwendige) Erwerbstätigkeit und Kinderbetreuung zu vereinbaren. Gegebenenfalls muss Erwerbstätigkeit zugunsten der Kinderbetreuung reduziert werden – mit weiteren negativen Folgen. Auf das erhöhte Armutsrisiko Alleinerziehender wollen wir im Folgenden vertiefend eingehen. Das Armutsrisiko von Alleinerziehendenhaushalten liegt bei 40,6 % (1 Kind im Haushalt) bzw. 50,8 % (2 Kinder) und damit sehr deutlich über dem von Paarhaushalten mit Kindern (10,1 % bzw. 8,2 %). Armutsrisiko ist dabei so definiert, dass das verfügbare Haushaltseinkommen weniger als 60 % des mittleren Äquivalenzeinkommens in einer Gesellschaft beträgt. Der Schwellenwert, entlang

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Geschieden und arm? Ökonomische Folgen von Scheidungen

dessen Armut definiert wird, liegt für Alleinerziehende mit einem Kind (bis 14 Jahre) bei 1.201 Euro, mit zwei Kindern bei 1.478 Euro. Bei Paaren liegen die Werte bei entsprechend 1.663 bzw. 1.940 Euro. Das Risiko der Langzeitarmut liegt für Alleinerziehende jeweils etwa doppelt so hoch wie bei Paaren (alle Angaben: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2010). Alleinerziehende Mütter, alleinerziehende Väter – zwei sehr unterschiedliche Konstellationen In rund 90 % der Alleinerzieherhaushalte ist es die Mutter, die mit dem Kind oder den Kindern zusammenlebt. Die Erwerbssituation ist für Männer und Frauen sehr unterschiedlich. Von den alleinerziehenden Frauen sind rund 60 % aktiv erwerbstätig (Personen in Elternzeit nicht mitgezählt), bei den Männern über 70 %. Noch auffälliger werden die Unterschiede aber, wenn man den Umfang der Erwerbstätigkeit berücksichtigt: Von den alleinerziehenden Frauen arbeiten fast 60 % in Teilzeit, bei den Männern liegt dieser Anteil nur bei rund 13 % (Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, 2012). Alleinerziehende Frauen, so kann man die Aussage zuspitzen, arbeiten nicht oder in Teilzeit, alleinerziehende Männer arbeiten hingegen Vollzeit. Die möglichen Gründe dafür sind sehr vielfältig: Frauen erziehen in solchen Fällen meist mehrere und jüngere Kinder, während Männer in aller Regel nur ein Kind betreuen, wenn sie alleinerziehend sind – und das auch noch zu einem Zeitpunkt, an dem die Kinder schon älter sind; Frauen hingegen erziehen jüngere Kinder. Aber wir haben schon darauf hingewiesen: Dass jemand alleinerziehend ist, heißt nicht, dass er »allein erziehend« ist. Vielleicht haben Männer also auch eine (nicht- oder teilzeitbeschäftigte) Frau im Hintergrund, die sie bei der Kinderbetreuung unterstützt – die eigene Mutter, die Schwester, die neue Partnerin oder auch eine Tagesmutter. Vielleicht gehen sie aber auch entspannter und los-

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gelöster von gesellschaftlichen Ansprüchen mit der Situation um und denken, dass das Kind auch allein bzw. in öffentlicher Betreuung zurechtkommen wird. Darüber können wir an dieser Stelle nur mutmaßen, da gerade über alleinerziehende Väter bisher wenig bekannt ist. Zwar gibt es immer wieder Medienberichte, eine differenzierte Auseinandersetzung damit, wie der Alltag insbesondere alleinerziehender Väter aussieht, existiert hingegen bisher nicht. Dennoch werden alleinerziehende Väter heute stärker beachtet als früher: Der Bericht des Familienministeriums »Alleinerziehende Eltern« aus dem Jahr 1995 enthielt nur eine Seite über Väter. Das kann auch damit zu tun haben, dass sich die Bedeutung von Vätern für die kindliche Entwicklung nur zögerlich durchsetzt (Seiffge-Krenke, 2011). Es bleibt nicht bei ökonomischen Folgen Ganz klar sind mit der oft prekären Lage von Alleinerziehenden auch psychologische Folgen verbunden. Auch wenn aus der Forschung bekannt ist, dass sich selbst in Zweielternfamilien Väter zurückziehen, wenn Kinder chronisch krank oder dysfunktional sind, eben bei »Problemkindern« (Coley u. Medeiros, 2007), wären Väter vielleicht doch lieber etwas anderes als nur »Feierabendväter« – was ja aber die alleinerziehenden Väter oft sind. Inwieweit dahinter Wunsch oder die wirtschaftliche Notwendigkeit stehen, können wir letztlich nicht beurteilen. Fest steht jedoch, dass Alleinerziehende weitgehend die gleichen Aufgaben erfüllen müssen wie Elternpaare – in nicht seltenen Fällen fehlt dabei aber der unterstützende Partner, der einen Teil dieser Funktionen mit übernimmt (vgl. Kapitel 4 und 5). Das kann, insbesondere wenn eine geringe gesellschaftliche Wertschätzung hinzukommt, darin resultieren, dass Alleinerziehende überdurchschnittliche Depressivitätswerte und psychosomatische Beschwerden aufweisen, wie es häufig der Fall ist.

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Geschieden und arm? Ökonomische Folgen von Scheidungen

Stief- versus Patchworkfamilien Nach der Scheidung gründen sich häufig mittel- oder langfristig Stieffamilien. Stieffamilien entstehen, wenn mindestens einer der Partner ein Stiefelternteil für die Kinder ist (vgl. Walper, 2011). Stieffamilien, deren Anteil auf rund 14 % aller Familien mit minderjährigen Kindern geschätzt wird (Kreyenfeld, 2011), können sehr vielfältig sein: Sie sind ehelich oder nichtehelich; sie können komplex sein, wenn beide Partner Kinder mitbringen und vielleicht weitere Verzweigungen, zum Beispiel aus früheren Beziehungen hinzukommen, Adoption und Ähnliches. Sie können aber auch recht einfach sein, etwa wenn nur ein neuer Partner hinzukommt, der selbst keine eigenen Kinder hat und so die biologische Elternschaft nur um eine soziale Elternschaft ergänzt wird. Empirisch finden sich Hinweise darauf, dass diese einfachen Formen der Stieffamilie überwiegen. Sie machen rund zwei Drittel der Stieffamilien aus, die komplexeren Formen rund ein Drittel (Walper, 2011). Stieffamilien haben einige spezifische Eigenschaften, wie die asymmetrischen Elternrollen der biologischen und sozialen Elternschaft oder die Doppelung der Elternpositionen. Der Familienzyklus entspricht nicht der Norm und eine gemeinsame Familiengeschichte muss erst noch geschrieben werden. Trotz dieser Eigenheiten ist das Leben in Stieffamilien nicht zwingend komplizierter als in einer ehelichen oder biologischen Familie. Man kann vor diesem Hintergrund darüber nachdenken, inwieweit der Begriff der Patchworkfamilie, der sich als Synonym für Stieffamilien seit 1990 etabliert hat, dazu geeignet ist, die Realität darzustellen. Der Begriff Stieffamilie ist zwar seit den Grimm’schen Märchen negativ konnotiert, wenn man ihn von diesem Unterton befreit, ist er aber möglicherweise der geeignetere, um der Realität in den Familien gerecht zu werden.

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Auch Stieffamilien sind wirtschaftlich schlechter gestellt Wie auch für Alleinerziehende ergibt sich für Stieffamilien eine deutliche wirtschaftliche Schlechterstellung gegenüber Kernfamilien (vgl. Kreyenfeld, 2011; Klocke, 2008). Zwei Gründe dafür sind naheliegend, nämlich dann, wenn sich die Stieffamilie zeitlich nachgelagert zum Alleinerziehen ergibt, was ein empirisch häufiger Weg ist. Und auch dann, wenn ein Unterhaltsverpflichteter in eine Stieffamilie eingeht, entfallen seine finanziellen Pflichten nicht, sondern es kommen, sofern weitere Kinder vorhanden sind, noch neue hinzu. Unterhaltsverpflichtete sind in der Regel die Männer. Zwar gibt es in solchen Fällen häufig wieder ein zweites Einkommen, vermittelt über den Partner, die finanziellen Folgen scheinen damit aber nicht aufgewogen zu sein. Dementsprechend beurteilen westdeutsche Stieffamilien das Auskommen mit dem Einkommen wesentlich schlechter als Kernfamilien, sie liegen aber gleich auf mit ostdeutschen Kernfamilien. Wiederum unterscheiden sich für Ostdeutschland Kernfamilien und Stieffamilien nicht in ihrer Beurteilung (Kreyenfeld, 2011). Dies lässt sich über die nach wie vor bestehenden Arbeitsmarktund Einkommensdifferenzen von Ost- und Westdeutschland erklären und darüber, dass in den neuen Bundesländern Vollzeiterwerbstätigkeit beider Partner sozial leichter realisierbar ist. Zudem haben dort nacheheliche Unterhaltszahlungen keine große Rolle gespielt, sodass die Auswirkungen männlicher Unterhaltszahlungen hier als geringer eingeschätzt werden können.

6.4 Die Familie besteht weiter: Herausforderungen nachehelicher Familien Mit Blick auf die Scheidungsfolgen jenseits ökonomischer Sachverhalte muss die weit verbreitete Vorstellung korrigiert werden,

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Die Familie besteht weiter: Herausforderungen nachehelicher Familien

dass die Familie mit der Scheidung der Eltern endet. Selbstverständlich gehen mit Scheidungen massive Veränderungen einher, für die Partner, für die Kinder, ebenso für die Großeltern und das weitere Umfeld. Aber das verändert sich ja auch schon vor der faktischen Scheidung. Wichtig ist: Mit der Scheidung endet in der Regel nicht die Interaktion der Partner oder die Interaktion der Eltern mit dem Kind. Diese Beziehungen bleiben häufig bestehen – wenn auch eingeschränkt und unter anderen Vorzeichen als vor der Trennung. Zudem sind die Parteien, dies wurde deutlich, durch rechtliche Verpflichtungen aneinander gebunden, selbst wenn hier einige Reformen stattgefunden haben. Sie müssen funktionierende Möglichkeiten finden für das Sorgerecht, Unterhaltsrecht, Umgangsrecht. Und gerade vor diesem Hintergrund ist es im Sinne der Kinder wichtig, dass die Eltern ihre Nachscheidungssituation möglichst erfolgreich bewältigen. Dass Dinge weitgehend sachlich geregelt werden können und Vater und Mutter sich nicht wie »fiery foes« (Ahrons, 1983) – also glühende Feinde – gegenüberstehen. Die Scheidungsbewältigung durch die Kinder, das zeigen zahlreiche empirische Studien, gelingt dann besonders schlecht, wenn das Kind instrumentalisiert und für die eine oder andere Seite vereinnahmt wird. Scheidung bedeutet meist einen Neubeginn in Form der nachehelichen Familie. Die Expartner sind gehalten, die Paar- und die Elternebene möglichst getrennt zu halten (vgl. Kapitel 4). Das gilt für Alleinerziehende, die sich nun großen Herausforderungen gegenübersehen, für den Partner, der nun ohne das Kind lebt, und auch für neue Partner, vielleicht neue Kinder, wenn es dann anschließend neue Familien geben sollte. Das Alte ist deshalb ja nicht weg. Wie der Psychologe Bliersbach (2000, S. 15) schreibt: »Die Patchwork-Familie hat ein Grundproblem: Sie existiert nicht allein; eine zweite Familie nimmt auf sie Einfluss.« Die Gestaltung der Umgangsformen ist eine sehr zentrale Aufgabe, die auch nicht einfach zu lösen ist und in der verschiedene

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Akteure ganz unterschiedliche Rollen spielen können. Und auch wenn Kontakte weniger werden und vielleicht ganz abreißen, zum Beispiel zu den Großeltern, muss zugesehen werden, dass jeder in die Lage gebracht wird, die Veränderung zu bewältigen: das Kind, die Eltern, die Großeltern. »Kids on tour« – Kinder werden mobil Die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern müssen weiterhin gestaltet werden, insbesondere im Fall des gemeinsamen Sorgerechts oder umfassender Besuchsrechte. Hier gibt es bereits interessante Möglichkeiten: Die Bahn (2012) zum Beispiel bietet ein Programm mit dem Titel »Kids on Tour« an, bei dem freitags und sonntags alleinreisende Kinder von Mitarbeitern der Bahnhofsmission betreut reisen können. Das Programm wird bevorzugt von getrennten Eltern in Anspruch genommen, sodass die Kinder auch räumliche Entfernungen überbrücken und zwischen den Eltern pendeln können. Im Jahr 2011 nutzten über 7.700 Kinder im Alter von 6 bis 15 Jahren den Service. Die Folgen der räumlichen Trennung sind wie auch die Folgen einer Scheidung insgesamt abhängig vom Alter und vom Geschlecht der Kinder. Einer britischen Studie zufolge fällt es insbesondere Kindern im Grundschulalter vergleichsweise leicht, ihre Zeit zwischen den Eltern aufzuteilen und zu gestalten. Schwieriger wird es in der Pubertät, wenn Kinder beginnen, sich zu verweigern (Smart, 2006). Moderate Konflikte als Bewältigungshilfe Wichtig für die Folgen einer Scheidung bei Kindern ist aber auch das Konfliktniveau, das die Eltern an den Tag legen. Kinder leiden bei einem hohen Konfliktniveau, sie leiden, wenn sie zwischen den Fronten stehen und wenn man sie instrumentalisiert. Sie können jedoch außerdem dort leiden, wo sie ein (zu) niedriges Konflikt-

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Trennungen und Scheidungen als Herausforderungen

niveau wahrnehmen – und die Trennung gegebenenfalls auf sich beziehen: »Wenn sich Mama und Papa nie streiten und sich weiter verstehen – warum trennen sie sich dann? Liegt das etwa an mir?!« Extreme Ausprägungen des Konfliktniveaus sind also insgesamt deutlich ungünstiger als ein »normales« Konfliktniveau in der Trennungssituation. Daraufhin sollten Maßnahmen abzielen, dafür sollten Eltern und Angehörige sensibilisiert werden – auch wenn es sicherlich schwerfällt.

6.5 Trennungen und Scheidungen als Herausforderungen in der psychologischen Arbeit mit Familien Wir haben in Kapitel 3 auf die gestiegenen Erwartungen an Partnerschaften hingewiesen und in weiteren Kapiteln den enormen Wert, die Bedeutung von Kindern für den Selbstwert belegt, verbunden mit der starken normativen Erwartung an perfekte Eltern, perfekte Mütter (Mythos der Mutterliebe). Zugleich wurde herausgearbeitet, dass heute weniger reale Erfahrungen mit Familie, mit Elternrollen und Funktionen möglich sind als noch vor einigen Generationen. Es ist einleuchtend, dass aus diesem Mix von gestiegenen Erwartungen, aber nur unzureichenden Kompetenzen und Vorbildern leicht eine krisenhafte Situation entstehen kann. Im Folgenden soll die allgemeinere Perspektive, die bislang in diesem Kapitel verfolgt wurde, nun stärker um psychologisch-therapeutische Aspekte ergänzt werden. Zu diesem Zweck soll auch auf spezifische Herausforderungen eingegangen werden, die sich im Beratungsalltag ergeben.

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Das Familiensystem ist noch nicht zur Ruhe gekommen Wir hatten bereits in Kapitel 3, in dem die Familienentwicklung als lebenslanger Prozess geschildert wurde, darauf hingewiesen, dass Trennungen verstärkt zu Beginn und Ende der Familienphase mit Kindern erfolgen. Es ist also die Familie mit sehr kleinen Kindern, im Alter zwischen zwei und vier Jahren, in der es häufig zu Trennungen, aus klinischer Sicht zu einem ersten Scheidungsgipfel kommt, und es sind die Familien, in denen die Kinder das Elternhaus verlassen, wo wir als Therapeuten noch einmal viele Scheidungen wahrnehmen. Trennungen entstehen teilweise dann, wenn das Paar noch nicht verstanden hat, dass familiäre Übergänge Zeit brauchen, sich also nicht ausreichend Zeit zur Anpassung gibt. Die Familienentwicklung ist noch nicht zur Ruhe gekommen bzw. nach dem Auszug des letzten Kindes scheint sich die Familie aufzulösen. Gemäß der Längsschnittforschung, die wir gegenwärtig vorliegen haben, braucht es ein Minimum von zwei Jahren, bis ein neues Familienmitglied aufgenommen bzw. eines verabschiedet ist, bis das Familiensystem also wieder zur Ruhe kommt. Die Scheidung wird manchmal – aus psychologischer Sicht – möglicherweise zu früh eingeleitet. Es ist für Berater und Therapeuten wichtig, diese Perspektive zu beachten. Man sollte einem Paar mit Trennungsgedanken deutlich machen: »Dazu brauchen Paare Zeit, das kann man nicht so schnell schaffen. Nehmen Sie sich ein weiteres Jahr Zeit und wenn Sie das Gefühl haben, wir haben es immer noch nicht geschafft, kann man eine Trennung immer noch erwägen.« Erinnern wir uns an die Studie von Kreppner (1988) aus Berlin, die Paare nach der Ankunft des zweiten Kindes begleitet hat (Kapitel 3). Er hat gezeigt, dass die Mutter das erste halbe Jahr nur Augen für das Baby hat und dass der Vater das erstgeborene Kind, das jetzt freigesetzt ist, optimalerweise übernimmt. Erst ab dem sechsten bis achten Lebensmonat des nachgeborenen Kindes wird

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Trennungen und Scheidungen als Herausforderungen

die Aufmerksamkeit wieder etwa gleichmäßig verteilt. Damit wäre die Familienentwicklung aber noch nicht abgeschlossen, sondern das System ist erst dann zur Ruhe gekommen, wenn sich ein Elternund Geschwistersubsystem ausgebildet haben, und dazu müssen die Kinder noch ein bisschen älter werden. Die Einrichtung von Generationsgrenzen (»wir Geschwister« gegenüber »ihr Eltern«) braucht also noch zusätzlich Zeit. Familientherapeuten haben in gestörten Familien immer wieder Grenzverletzungen gefunden, zum Beispiel die Verletzung von Generationsgrenzen. Insofern ist die Einrichtung von Generationsgrenzen ein wichtiger Schritt in der Familienentwicklung. Trennung von Paar- und Elternebene Es wurde schon darauf hingewiesen, dass es in der Nachscheidungs- oder Nachtrennungsphase wichtig ist, zwischen der Paarund der Elternebene zu unterscheiden. In der Arbeit mit Familien ist aber ganz generell, wenn Probleme auftauchen, eine solche Trennung sinnvoll. Untersuchungen wie die von Sabine Walper (2005) haben gezeigt, dass die problematischen Auswirkungen von Armut von der Paarebene ausgehen, also von den Konflikten zwischen den Ehepartnern und der zunehmenden Depressivität eines oder beider Elternteile. Es zeigt sich dann ein starker Einfluss dieser Paarbefindlichkeit auf die Kinder (Spillover). Wenn die Eltern dagegen keine Paarkonflikte haben und keine Depression entwickeln, waren die Auswirkungen von Armut nicht sehr gravierend. Es kommen natürlich noch andere Dinge dazu, die den Einfluss von Armut auf Kinder ausmachen, wie die Ausgrenzung bei Gleichaltrigen. Aber die Paarebene, die Reaktion der Eltern auf Armut, ist der entscheidende Motor, der das Risiko der Kinder, unter den Folgen von Armut zu leiden, vorantreibt. Auch in Trennungsfamilien ist es sinnvoll, die Paar- und die Elternebene zu trennen und insbesondere die Elternfunktion des getrennt

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lebenden Paares zu stärken. Wie bereits geschildert, bleiben die rechtlichen Ansprüche (Sorgerecht, Unterhaltspflicht, Umgangsrecht) nach wie vor erhalten und müssen zum Wohle des Kindes geregelt werden. Elternarbeit in Trennungsfamilien Bei Scheidungsfamilien müssen wir als Therapeuten daher immer wieder in der Elternarbeit die Paar- und die Elternebene auseinandersortieren. Ganz häufig versuchen die Eltern, uns zur Parteinahme zu bewegen, uns in diesen Trennungsprozess einzubeziehen, den jeweiligen Partner anzuschwärzen oder in Gerichtsverhandlungen Material gegen den Partner zu verwenden. Es ist also ganz wichtig, auf der Elternebene zu bleiben, wenn es um die Trennungsfolgen für Kinder geht. Wir sind in der Psychotherapie und Beratung Anwälte des Kindes, kümmern uns hier nur um die Elternebene – nicht um die Paarebene. Und das ist, wie erwähnt, eine Pflicht der Eltern, die nicht durch die Trennung erlischt. In der Regel ist das zerstrittene Paar so mit sich selbst beschäftigt, dass es keine Augen für die zurückbleibenden Kinder hat. Hier ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen: Es gibt einen gesetzlichen Anspruch der Kinder in Trennungsfamilien auf Therapie und Beratung und eine entsprechende Erwartung, dass die Eltern das auch unterstützen und einen Blick dafür haben, dass dies für ihre Kinder nötig sein könnte. Das ist aber in vielen Trennungsfamilien nicht der Fall. Das Paar ist völlig mit dem eigenen Paarkonflikt und Partnerverlust befasst und die Kinder befinden sich in einem regelrechten Kontrollloch: Keiner schaut nach den Kindern. Hier besteht eine wesentliche Funktion der Arbeit mit Trennungsfamilien darin, die Kinder in ihren Rechten zu stützen und Wege zu finden, wie Eltern ihre Elternfunktionen und -pflichten wahrnehmen können.

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Andere Familienstrukturvarianten – vielfältigere Aufgaben

6.6 Andere Familienstrukturvarianten – vielfältigere Aufgaben Vielfältige Familienstrukturvarianten hat es immer gegeben – früher durch Tod der Eltern durch Kriege, Hungersnöte, Krankheiten und eventuelle Wiederheiraten. Heute kommen sie eher durch Trennung und neue Partner zustande. Inzwischen gibt es auch viele Familien, in denen Adoptivkinder aufwachsen, und es gibt eine zunehmende Zahl von Heiraten, in denen die Eltern aus unterschiedlichen Ländern stammen. Stieffamilien In der klinischen Arbeit haben wir vielfach mit Stieffamilien und auch mit sehr komplexen Stieffamilien zu tun. Als Beispiel wurde ein Genogramm eines beliebigen Kindes herausgegriffen, das wegen verschiedener Symptome in Therapie kam (Abbildung 14).

Abbildung 14: Genogramm der Familie X väterlicherseits (eigene Darstellung)

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Wir betrachten zunächst die Familie väterlicherseits. Die Patientin und ihre Eltern stehen im Zentrum. Der Vater stammt bereits aus einer relativ großen Familie mit zwei Söhnen und zwei Töchtern. Die Patientin hat also väterlicherseits einen Onkel und zwei Tanten. Der Onkel hat eine Lebensgefährtin, eine Tante ist verheiratet und hat mit ihrem Mann zwei Kinder, die andere Tante ist verheiratet, ihre Kinder stammen aber aus einer anderen Beziehung. Insgesamt ist das schon sehr komplex. Dazu haben die Großeltern der Patientin auch noch zwei Kinder adoptiert – Tante M und Onkel N, der kurz davor ist, sich von seiner Frau zu trennen. Es ergibt sich für die väterliche Seite also ein buntes Bild verschiedener Familienkonstellationen, Altersunterschieden, Abschnitten im Lebensverlauf und sogar Adoption.

Abbildung 15: Genogramm der Familie X mütterlicherseits (eigene Darstellung)

Das war nur die Familie väterlicherseits von der Patientin. Abbildung 15 zeigt die Familie mütterlicherseits. Da ist es – aus der Sicht eines Kindes – nicht gar so verwirrend mit Adoption, Trennung, neuen Kindern und Zusammenleben und einer Unklarheit, von wem die Kinder eigentlich sind. Aber wir sehen auch da, dass ein zweiter Opa vorkommt und Halbgeschwister.

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Andere Familienstrukturvarianten – vielfältigere Aufgaben

Nimmt man das Genogramm von der mütterlichen und der väterlichen Familie des Kindes in einer neu zusammengesetzten Familie, so wird also sofort offenkundig, wie kompliziert und vielfältig die Verbindungen innerhalb von solchen Familien sind und in welchem Umfang zum Beispiel Trennungen, eheliche und nichteheliche Kinder bzw. Adoptionen vorkommen können (vgl. SeiffgeKrenke, 2010a). Es ist also verständlich, dass es eine Weile dauert, bis ein Familiengefühl, eine Familienidentität entsteht. Viele Probleme sind in solchen Stieffamilien zu lösen, wie der Umgang mit Verlust, Loyalität mit dem nicht mehr in der Familie lebenden Elternteil, unrealistische Erwartungen, wie viel Zeit der getrennt lebende Elternteil mit neuer Familie noch in sein Kind aus früherer Beziehung investieren kann etc. Die Untersuchungen an Stieffamilien (Visher u. Visher, 1989) zeigen eine geringere Kohäsion in diesen Familien, Schwierigkeiten, wenn verschiedene Lebenszyklen aufeinanderprallen, und dass es viel länger dauert, bis eine Familienidentität, ein Familiengefühl entsteht – dies ist eine der Hauptaufgaben der neu zusammengesetzten Familie. Wenn man Kinder in der Therapie bittet: »Mal doch mal bitte deine Familie in Tieren«, ist das oft ebenso eindrucksvoll wie ein Genogramm und gibt die Sicht des Kindes noch besser wider. Vor kurzem hatte in der Supervision ein Mädchen sich selbst, ihre Eltern und noch diverse Kinder aus früheren Beziehungen gemalt. Zunächst malte sie ihre Mutter mit dem jetzigen Lebenspartner und dessen diversen Kindern aus früheren Beziehungen, aber auch das neue Kind aus dieser Verbindung. Dann hat sie den Vater gezeichnet, der auch eine neue Partnerin mit Kindern aus diversen anderen Beziehungen hat. Man bekommt ein eindrucksvolles Gefühl dafür, wie verwirrend dies für ein Kind ist. Daher haben wir uns in der Supervision dieses Falles entschlossen, einfach alle vier Eltern einzuladen. Das ist dann auch passiert, die vier Eltern sind gekommen, also jeweils die Eltern mit den neuen Partnern, und dann haben alle durcheinandergeredet, es entstand ein riesiges Tohuwabohu und es

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wurde deutlich, wie verunsichert sich das Kind fühlen muss. Dies waren jetzt nur die vier Eltern; es waren also noch nicht die leiblichen, die neuen Geschwister, die Stiefgeschwister dabei. Selbstverständlich kann eine große und neu zusammengesetzte Familie auch eine Bereicherung, ein Gewinn sein, aber wir sollten bedenken, dass es auch zu Irritationen kommen kann. Vor allem aber ist bei der so entstandenen Komplexität wichtig, sich ausreichend Zeit zu geben für die Entwicklung dessen, was Manfred Cierpka (2002) »Familiengefühl« genannt hat – das dauert tatsächlich eine ganze Weile! Wir hatten bereits in Kapitel 2 darauf hingewiesen, dass es mindestens zwei Jahre dauert, bis ein neues Familienmitglied integriert ist – man kann sich also vorstellen, wie lange dies in einer so komplexen Familie dauert. Hier muss man wirklich sehr geduldig sein und diese Geduld den Eltern und Kindern immer wieder vermitteln. Das ist nicht deren persönliches Versagen, sondern es braucht einfach diese Zeit, das ist ganz legitim. Wir wissen, dass die Entstehung eines Familiengefühls oft dadurch erschwert wird, dass sich die neuen Partner der Mütter in der familiären Kommunikation zurückziehen. Sie übernehmen also in aller Regel keine dominante Rolle in den Familien, sondern können besonders vorsichtig, passiv und unentschlossen sein. Es gibt also wiederum eine Tendenz, eher wenig väterlich im Sinne der distinktiven Funktionen von Vätern (vgl. Seiffge-Krenke, 2001) zu reagieren. Adoptionen: Ist Kontakt zu den leiblichen Eltern sinnvoll? Eine Frage, die im Zusammenhang von Adoptionen immer wieder erörtert wird, ist die Frage der offenen Adoption, das heißt, ob ein Kontakt zwischen den leiblichen Eltern und der Adoptivfamilie hergestellt werden soll. Es gibt Studien, die belegen, dass dies von den Adoptiveltern und -kindern positiv erlebt wird, wenngleich die Kontakte über die Zeit abnehmen und auch nicht

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Andere Familienstrukturvarianten – vielfältigere Aufgaben

notwendigerweise in Person erfolgen müssen. Das haben Crea und Barth (2009) in ihrer 14-jährigen Längsschnittstudie nachgewiesen. Wenige Autoren weisen darauf hin, dass ein solcher Kontakt eher problematisch und das Kind in seiner Identitätsbildung beeinträchtigt ist. Es ist also eher so, dass die Adoptivfamilien von dem Kontakt mit der leiblichen Familie profitieren. Dies hängt damit zusammen, dass nun etwas auf eine reale Basis gehoben wurde, sodass das Kind nicht mehr so viel fantasiert, was das für eine Mutter war, die es damals ins Heim und dann zur Adoption freigegeben hat. Vor allem die Kinder wollen diesen Kontakt, man sollte ihn daher auch mit dysfunktionalen Eltern, etwa beim begleiteten Umgang mit Anwesenheit von Vertretern der Jugendfürsorge, zulassen. Die Kinder reduzieren die Kontakte meist über die Zeit wieder und verstehen zunehmend besser, dass manche Eltern nicht gut Eltern sein können. Und dass dann Kinder woanders besser aufgehoben sind. Familien von gemischt ethnischen Paaren Wir haben einerseits eine deutliche Zunahme solcher Partnerschaften, aber es gibt auch auffällig hohe Scheidungsraten, hohe Trennungsraten bei gemischt ethnischen Paaren. Schroedter (2006) untersuchte binationale Ehen in Deutschland und fand eine steigende Tendenz zu interethnischen Heiraten seit Mitte der 1990er Jahre. Spanier und Italiener, aber auch Griechen und Personen aus dem ehemaligen Jugoslawien weisen schon in der ersten Generation hohe Heiratsraten mit Deutschen auf (zwischen 20 % und 40 %), in der zweiten Generation bis über 50 %. Auffällig ist, dass türkische Migranten eine Sonderstellung einnehmen, die sich über die Jahre nicht verändert hat: Sowohl die türkischen Männer als auch die türkischen Frauen weisen von allen Nationalitäten mit Abstand die geringsten Anteile auf, in die deutsche Bevölkerung einzuheiraten, nämlich 6 % der türkischen Frauen und 15 % der türkischen

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Männer. Dieser Prozentsatz ist bei Migranten der ersten und zweiten Generation praktisch unverändert geblieben. Dies ist verständlich, wenn man bedenkt, wie sehr sich der Modus der Partnerwahl bei türkischstämmigen Personen unterscheidet. Wie geht ein Paar damit um, dass es unterschiedliche ethnische Identitäten hat? Das ist eine wichtige Frage für das therapeutische Vorgehen, denn wir haben eine hohe Zahl von Trennungen, die zwei- bis dreimal höher ist als bei Paaren mit gleicher ethnischer Herkunft (Toth u. Kemmelmeier, 2009). Die Frage des Umgangs mit unterschiedlicher ethnischer Herkunft ist auch bei den häufigen transethnischen Adoptionen relevant (Hollingsworth, 1997). Da die Entwicklung einer ethnischen Identität für Adoptivkinder so wichtig ist – wie können dies Adoptiveltern leisten? Unter den vielen Kriterien des Adoptionsbüros ist auffällig, dass man darauf achtet, ob die Eltern dem Kind positive Aspekte seiner Herkunftskultur vermitteln können und ob sie willens sind, das zu tun. Nur wenn dies gemacht wird, hat das Kind die Chance, auch rassistischen Anspielungen und Stigmatisierungen zu widerstehen – es muss positiv identifiziert sein mit seiner Herkunftskultur (Seiffge-Krenke, 2012).

6.7 Welche Effekte haben Scheidungen und Trennungen auf Kinder? Kommen wir nun zu Forschungsergebnissen, zu allgemeineren Trends der Scheidungsforschung, die die zuvor zu Eingang des Kapitels erörterte soziologische Perspektive um psychologische Dimensionen ergänzt. Was zunächst auffällt, wenn man sich mit der Frage auseinandersetzt, welche Folgen Scheidungen für Kinder haben, sind die unterschiedlichen Ergebnisse, zu denen verschiedene Studien kommen. Im Folgenden sollen exemplarisch zwei der Studien kurz

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Welche Effekte haben Scheidungen und Trennungen auf Kinder?

vorgestellt werden, um das Spektrum darzustellen, auf dem die Befunde sich bewegen. Chronische Belastung versus vorübergehende Krise Wallerstein, Lewis und Blakeslee (2002) haben 131 Kinder aus 60 Familien über einen Zeitraum von 25 Jahren begleitet, beginnend mit den frühen 1970er Jahren. Vergleichsgruppe waren Kinder ähnlichen Alters aus intakten Familien in derselben Nachbarschaft und Schule, um eine Vergleichbarkeit zum Beispiel nach infrastrukturellen und groben sozioökonomischen Gesichtspunkten herzustellen. Kurz- und mittelfristig übernahmen die Trennungskinder häufig die Rolle des fehlenden Elternteils, schrieben sich Schuld zu oder zeigten Orientierungslosigkeit und übertrugen eventuell zuhause erlebte Gewalt auf ihr Umfeld. Langfristig wurden die Kinder oft beruflich erfolgreich, praktisch durchweg zeigten sich privat aber Folgen wie mangelndes Vertrauen in stabile Bindungen, fehlende Kriterien, was eine gute Partnerschaft ausmacht, eine permanente Verlustangst. Das ging teilweise soweit, dass diese Personen bewusst auf Kinder verzichteten, um ihnen eine solche Entwicklung zu ersparen. Die Befunde wurden dahingehend interpretiert, dass Scheidungen immer mit langfristigen Konsequenzen für die Kinder einhergehen, dass Scheidung in chronischen Belastungsfolgen resultiert. Eine andere, ebenfalls längsschnittliche Studie, kommt zu einem deutlich anderen Ergebnis: Hetherington und Kelly (2002) haben das Anpassungsverhalten von Kindern in Nachscheidungs- und Trennungsfamilien untersucht, indem sie diese Kinder, beginnend in den 1960er Jahren, über zwanzig Jahre begleitet haben. Es sollte der Frage nachgegangen werden, ob Scheidung tatsächlich so negative Folgen hat, wie bis dahin angenommen wurde. Sie stellten zwar kurzfristige Krisen fest (im Zeitraum bis zwei Jahre nach der Scheidung), besonders häufig zwischen Müttern und Söhnen. Mit-

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telfristig zeigten sich bei den Scheidungskindern gegenüber Nichtscheidungskindern etwa doppelt so häufig Probleme wie Angst oder unsoziales Verhalten, die sich aber mit der Erweiterung des Kreises von Bezugspersonen (z. B. Peers, Lehrer) abschwächten. Längerfristig fanden Ablösungsprozesse und Sexualerfahrungen früher statt, wobei diese wiederum stark von Freunden und anderen Orientierungspersonen abhingen und nicht zwangsläufig vorgezogen wurden. Insgesamt passte sich aber jedes vierte von fünf Scheidungskindern im Zeitverlauf an die Situation an und verlor ein etwaiges »auffälliges« Profil. Klar wurde zudem, dass es kein einheitlich wirksames Bewältigungsmuster gibt, funktionierende Freundeskreise und unterstützende Eltern aber bei der Bewältigung helfen. Unter diesen Bedingungen können zahlreiche der möglichen negativen Konsequenzen elterlicher Scheidungen verhindert oder abgemildert werden. Anders als beim chronischen Belastungsmodell von Wallerstein et al. (2002) lautet hier die Schlussfolgerung, dass zwar kurzfristige Krisen und vorübergehende Probleme durchaus sichtbar seien, im Zeitverlauf aber insgesamt eine gute Anpassung der Kinder stattfindet, insbesondere, wenn noch begünstigende Rahmenbedingungen hinzukommen. Der kritische Einwand gegenüber beiden Studien lautet, dass möglicherweise ausschlaggebende, die Auswirkungen von Scheidung beeinflussende Umstände nicht umfassend und systematisch berücksichtigt wurden. … und Ergebnisse weiterer Studien zu Scheidungsfolgen Amato (2000) berücksichtigt solche Faktoren stärker. Er unterscheidet in seinem »Stressorenmodell« zwischen Risikofaktoren und Schutzfaktoren und berücksichtigt auch die Persönlichkeit des Kindes als wirkenden Faktor bei der Anpassung. Die Risikofaktoren (Stressoren) sind beispielsweise erhöht, wenn Eltern in einer Krise vor oder während der Scheidung bereits wenig Zeit

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Welche Effekte haben Scheidungen und Trennungen auf Kinder?

haben, es zum Umzug und zur Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage kommt usw. Die Schutzfaktoren, wozu auch therapeutische Maßnahmen zählen, können in diesen Prozess eingreifen, die Stressoren entkräften. Zusammengefasst zeigt sich im Forschungsüberblick, dass die Anpassungsniveaus im Zeitverlauf in Abhängigkeit stehen zum Alter und zum Geschlecht des Kindes (z. B. Walper, 2002). Sie sind aber auch davon abhängig, wie die Situation vor der Scheidung und insbesondere das Konfliktniveau innerhalb der Familie aussieht. Bei problematischen Situationen kann eine Scheidung sogar »heilsam« für die Kinder sein. Auch das Konfliktniveau während und nach der Scheidung ist natürlich wesentlich ausschlaggebend dafür, wie die Bewältigung ausfällt, ebenso wie die Frage, wer geht. Das ist in den meisten Fällen immer noch der Vater. Im Folgenden wollen wir auf einige der genannten Aspekte vertiefend eingehen, beginnend mit der Vaterabwesenheit. Befunde zur Vaterabwesenheit Amato (2000, 2001) hat große Gruppen von Studien in einer Metaanalyse zusammengefasst und nach einheitlichen Ergebnissen in der Scheidungsforschung gesucht. Dies ist wichtig, denn auch hier zeigten sich in einzelnen Studien durchaus sehr unterschiedliche Befunde. Nehmen wir zum Beispiel die Befunde, die an einer Inanspruchnahme-Population der Mannheimer Risikokinderstudie (Franz, Lieberz, Schmitz u. Schepank, 1999) gemessen wurden und die man als »der Vater war abwesend und deswegen sind die Kinder so gestört« lesen könnte. Das ist natürlich so einfach formuliert nicht zutreffend. Vaterabwesenheit bei klinischen Populationen, aber nicht nur bei solchen, ist ein komplexes Defizit, weil die Kinder oft in Armut gelebt haben, häufige Umzüge nötig waren, sie von der Mutter vielleicht schlecht betreut wurden oder die Mutter nach der Trennung depressiv geworden ist. Es war also

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viel mehr als nur der fehlende Vater, der zu dem Auftreten einer Störung beim Kind beigetragen hatte, und dieses komplexe Ursachenbündel Vaterabwesenheit hatte noch bis ins Erwachsenenalter Auswirkungen. Es ist also sinnvoll, Studien einzubeziehen, die sich an Normalpopulationen orientieren, die Effekte wie einen niedrigen sozioökonomischen Status oder Armut kontrollieren und die insbesondere die Langzeitauswirkungen im Blick haben. Keine Effekte für Töchter, leicht negative Auswirkungen auf Söhne Der einheitliche Befund der erwähnten Metaanalysen (Amato u. Keith, 1991; Amato, 2001) ist, dass es keine eindeutig negativen Effekte der Vaterabwesenheit durch Scheidung oder Trennung gibt. Die Ergebnisse zeigen, dass Töchter in solchen Scheidungsfamilien selbstständiger werden können und dass lediglich die Jungen im Alter zwischen 9 und 13 Jahren eine gewisse Risikogruppe insofern darstellen, als sie in der Schulleistung absinken, auffälliges Verhalten zeigen können und insgesamt eine Weile brauchen, bis sie sich an diese Situation gewöhnt haben. Es ist auch leicht nachvollziehbar, dass für sie in der zentralen Phase der mittleren Kindheit und beginnenden Pubertät, in der es um das Erlernen der männlichen Geschlechtsrolle geht, ein fehlender Vater als Rollenmodell eine größere Benachteiligung darstellt als für Töchter. Bei Töchtern dagegen findet man, wie erwähnt, überhaupt keine Effekte oder sogar eine eher positive Entwicklung in Richtung einer größeren Selbstständigkeit. Die Metaanalysen zeigen auch, dass die Auswirkungen von chronischen elterlichen Streitereien auf Kinder sehr viel nachteiliger sind als die Folgen von Trennung und Scheidung. Man hat in einer intergenerationalen Perspektive immer wieder gefunden, dass Kinder aus Scheidungsfamilien sich auch häufiger scheiden lassen, aber dieser Trend wird dann abgemildert, wenn in

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Wehrhafte Mütter und idealisierte Väter

den Scheidungsfamilien das Arrangement des Kontaktes mit dem Vater gut und regelmäßig ist. Es ist also nicht die Scheidung als solche, die einen Risikofaktor für die spätere Beziehungsentwicklung der Kinder darstellt, sondern die Häufigkeit und die Qualität des Kontaktes mit dem Vater. Wenn der Kontakt sehr gering ist oder gar nicht stattfindet, dann ist das auf jeden Fall problematisch, sowohl für die langfristige Beziehungsentwicklung der Söhne als auch der Töchter.

6.8 Wehrhafte Mütter und idealisierte Väter – zwei Beispiele aus der Therapie Trennungen und Scheidungen gehen mit ganz besonderen Herausforderungen für die beteiligten Partner und besonders die minderjährigen Kinder einher. Das wurde in den bisherigen Abschnitten deutlich. Kurzfristig sind Belastungsgipfel und Krisen durchaus normal. Wie sich Scheidungen langfristig auswirken, hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab und wird auch davon beeinflusst, wie die Eltern miteinander umgehen. Im Folgenden werden anhand von zwei bekannten Problemen – dem »maternal gatekeeping« und der Vateridealisierung – Beispiele aus der Beratungspraxis dargestellt. Dabei werden das Loyalitätsproblem der Kinder und die Umgangsmöglichkeiten des Wechselmodells verhandelt. Maternal gatekeeping »Kind ja und Ehe nein«, das heißt sehr häufig auch eingeschränkter Kontakt zum Vater. Ein Phänomen, das wir bei Trennungsfamilien immer wieder beobachten können, ist ein Maternal-gatekeeping-Verhalten, ein meist unbewusstes Verhindern des Kontakts zwischen Vater und Kind. Dieses Verhalten wurde sehr viel häufiger bei Müttern als bei Vätern beobachtet – deswegen heißt es

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auch »maternal gatekeeping«. Das verstärkte Auftreten bei Müttern hängt vermutlich damit zusammen, dass das Kind für die Identität der Mutter wichtig ist, und zwar wichtiger als für die Identität des Vaters (Seiffge-Krenke, 2012). Hauptfaktoren des Gatekeeping sind ein Paarkonflikt mit einer Mutterideologie und die Zuschreibung väterlicher Inkompetenz. Die Mütter geben an, dem Vater mangele es an Kompetenz, um die Erziehungsaufgaben zu bewältigen, es gibt viel Kritik am väterlichen Erziehungsverhalten. Faktisch macht er die Dinge oft anders, aber nicht unbedingt schlechter. Gaunt (2008) fand ein solches Maternal-gatekeeping-Verhalten vor allem bei schlecht oder gar nicht verdienenden Müttern, für die die Mutterrolle für die weibliche Identität besonders zentral ist, weil sie meist wenig Möglichkeiten für alternative Selbstbestätigung haben. Ein derartiges elterliches Verhalten findet sich natürlich verstärkt in klinisch auffälligen Familien. Dennoch sollte bedacht werden, dass 60–80 % aller Mütter nach einer Trennung nicht möchten, dass sich der Vater mehr einbringt (Schoppe-Sullivan, Brown, Cannon, Mangelsdorf u. Sokolowski, 2008). Das ist ein beängstigend hoher Prozentsatz! Idealisierung des Vaters: Der Disneyland-Daddy Zu den Gefahren, die sich aus einem unregelmäßigen oder seltenen Kontakt des Kindes zum Vater ergeben können, zählt die Idealisierung. Es wurde schon relativ früh untersucht, wie sich Kinder in Scheidungsfamilien fühlen, und ein Befund ist, dass eine große Gefahr darin besteht, dass die Kinder anfangen, den Vater zu idealisieren – und zwar dann, wenn der Kontakt selten und unregelmäßig ist. Die Idealisierung nimmt in dem Maße zu, wie der Kontakt zum Vater abnimmt. Idealisierung trat also nur bei Kindern auf, die wenig Kontakt zum Vater hatten (Seiffge-Krenke u. Tauber, 1997). Nun ist ja bekannt, dass Idealisierung ein Abwehrmechanismus gegen starke negative Affekte ist. Idealisiert werden im Krieg

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Wehrhafte Mütter und idealisierte Väter

gebliebene Väter, verstorbene Väter, es ist also eine Mischung aus Sehnsucht, aber auch Ärger und Wut. In den USA hat man dieses Phänomen »Disneyland-Daddy« genannt, das sind Väter, die nur episodenhaft auftauchen, eine ganz kurze Zeitspanne mit den Kindern verbringen und in dieser kurzen Zeitspanne die Kinder mit Dingen überhäufen, Geschenke, Aktivitäten, McDonald’s, Kino. Disneyland-Daddys haben zwei Merkmale, die Väter generell aufweisen, nämlich geringes Involve­ ment und Überstimulation – das zeigen ja auch Väter in Zweielternfamilien recht häufig (Seiffge-Krenke, 2001). Dieses Verhalten wird beim Disneyland-Daddy sozusagen auf die Spitze getrieben. Mütter in Trennungsfamilien sollten also darauf achten, dass der Kontakt zu dem mitsorgeberechtigten Vater, der das Umgangsrecht hat, regelmäßig bleibt und sich auf den Alltag bezieht, um Idealisierung zu vermeiden. Das ist ganz wichtig. Loyalitätsprobleme bei Kindern In Trennungsfamilien geschieht es häufiger, dass Mütter den Kontakt einschränken oder verhindern. Wir haben viele Fälle von Trennungskindern dieser Art in der Psychotherapie. Ein Mädchen, Luise zum Beispiel, kam mit einem merkwürdigen Symptom, hatte immer Tränen in den Augen. Es war unerklärlich, es gab keine medizinische Erklärung, warum dieses Mädchen immer so verweint aussah. Ihre Eltern hatten sich vor kurzem getrennt und sie lebte bei der Mutter. Ihre Symptomatik hing mit ihrer großen Sehnsucht nach dem Vater zusammen, die sie aber nicht äußern durfte, um die Mutter nicht ärgerlich oder traurig zu machen. Über den Vater durfte nicht gesprochen werden, er war tabu. Das, was in der Familie passierte, machte es schwierig, eine Behandlung durchzuführen. Dieses Mädchen zeigte etwas, was man in der Psychoanalyse einen Übertragungswiderstand nennt. Die Botschaft gegenüber der

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Therapeutin war eine große Distanz und Skepsis und könnte lauten: »Wenn ich mich auf Sie einlasse, verliere ich auch noch meine Mutter – wegen des Loyalitätskonflikts – und meinen Vater bringen Sie mir ja auch nicht wieder.«

Dieses Mädchen hat die tiefenpsychologisch fundierte Behandlung nach zwanzig Stunden abgebrochen, es war ihr einfach nicht möglich, in der Therapie an ihrem Problem zu arbeiten und gemeinsam mit der Therapeutin einen Kontakt zum Vater zu etablieren. In Kapitel 4 haben wir über die Veränderungen der Erziehungsprinzipien gesprochen und darüber, dass die autoritäre Kontrolle zunehmend durch eine erhöhte psychologische Bedeutung und psychologische Kontrolle ersetzt wird – eine bedenkliche Veränderung. Aufgrund des hohen Wertes von Kindern für den Selbstwert der Eltern versuchen diese, Kinder durch intrusives Verhalten, durch Schuldgefühle in eine gewünschte Richtung zu bringen. Wenn Kinder von ihren Eltern eine solche enorme psychologische Bedeutung zugeschrieben bekommen, ist auch klar, dass das bei einer Trennung eine ziemliche Zerreißprobe zur Folge hat, weil jeder das Kind haben möchte – wie im kaukasischen Kreidekreis von Brecht (1963). Diese Zerreißprobe kann bis zum Missbrauchsvorwurf gehen. Vor einer Weile wurde anhand von Akten an Familiengerichten das Verhältnis der von Müttern geäußerten Missbrauchsvorwürfe gegenüber den getrennt lebenden Vätern und deren Schuldigsprechung untersucht. Man hat herausgefunden, dass ein ganz erheblicher Anteil dieser Vorwürfe des Missbrauchs unzutreffend sind und von den Müttern benutzt werden, sozusagen als letzte Möglichkeit, das Kind zu bekommen und letztlich den Vater auszuschalten.

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Wehrhafte Mütter und idealisierte Väter

Das Wechselmodell: Eine ideale Lösung? Wir wollen abschließend eine Trennungsfamilie betrachten, die mit dem Wechselmodell arbeitet. Robin ist ein Scheidungskind und wohnt abwechselnd eine Woche bei seiner Mutter, eine Woche bei seinem Vater und geht von beiden aus zur Schule. Robin ist elf Jahre; er zeigt sehr viel Aggression in der Schule, ist nicht zu bändigen, springt über Tisch und Bänke und greift andere Kinder an. Deutlich wird schon in den ersten Stunden der Therapie, dass er unter einem extremen Loyalitätskonflikt leidet: Auf welche Seite soll er sich schlagen? Es wurde eine tiefenpsychologisch fundierte Therapie durchgeführt, fünfzig Stunden wurde mit dem Jungen gearbeitet und zehn Stunden wurde begleitende Elternarbeit durchgeführt, die wegen der vielfältigen Spannungen bei den getrennt lebenden Eltern eine große Herausforderung für die Therapeutin darstellte (Seiffge-Krenke u. Welter, 2008). Es fanden massive Abwertungen statt, insbesondere bei der Übergabe. Dazu ein Beispiel: Wenn Robin die Woche beim Vater verbrachte und am Sonntag dann zu seiner Mutter wechselte, kam es häufiger vor, dass er mit seinem Vater einen Kuchen gebacken hatte und noch etwas übrig war. Und der Vater sagte: »Dann pack ich dir das ein und dann kannst du das mit der Mama essen.« Robin nimmt also seinen Rucksack und klingelt dann zwei Straßen weiter bei der Mutter, den Kuchen noch in der Hand. Seine Mutter schmeißt daraufhin den Kuchen, ohne das weiter zu kommentieren, in den Müll. Wie soll der Junge nun damit umgehen? Der Loyalitätskonflikt ist deutlich, denn er liebt beide Eltern, zugleich darf die Aggression in der Familie nicht benannt werden, sondern ist abgespalten und verschoben auf die Schule. Auch die Therapeutin fühlte sich zwischen den Eltern »hin und her gerissen«, jeder wollte sie auf seine Seite ziehen, es gab permanente Konfrontationen, weshalb sie dann »im Wechselmodell« auch beide Eltern abwechselnd, aber getrennt sah.

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In der ersten Phase der Therapie spielte Robin häufig Spiele, bei denen es um Gerechtigkeit und um Anklagen ging, zum Beispiel das Cluedo-Spiel »Ich klage an«. Er saß dann im Therapeutensessel, die Therapeutin musste sich auf das Sünderbänkchen setzen und dann hat er ihr gesagt, was Recht und Sache ist. Er hat auch ihr Verhalten verbessert und ihr Noten gegeben (»Im Dartspiel sind Sie gut, aber beim Vorlesen müssen Sie noch etwas dazulernen!«). Der Humor des Patienten und seine liebevollen Korrekturen nahmen die Therapeutin für den Patienten ein, es entstand eine liebevoll-ironische Übertragungsbeziehung, in der der Patient von seiner bisherigen Ohnmacht spielerisch in eine Position wechselte, in der er Macht hatte. In der zweiten Phase symbolisierte er den Konflikt in Bildern. Er hat viel gezeichnet und sich unter anderem als einen vor Waffen starrenden Jungen dargestellt, der aber von einer älteren Frau zur Strecke gebracht, das heißt getötet wird. Die Botschaft lautet also: Man kann sich stark bewaffnen, aber letztendlich wird einen eine Frau zur Strecke bringen, auch wenn sie noch so schwach und klein aussieht. Solche Bilder, in denen er sich selber waffenstarrend darstellt, hat er eine ganze Zeitlang gemalt. Dann folgen neue Bilder, die sehr karg sind und die mit den Therapiestunden und der Übertragung auf die Therapeutin zu tun haben. Er hat in dieser Phase beispielsweise Bilder gemalt, die die Therapietür zeigen und die Uhr darüber und seinen Blick auf die Uhr. Schließlich folgen wieder Bilder, die ihn selbst darstellen, allerdings sind alle Waffen weggefallen und es finden sich viele Fragezeichen neben dem Strichmännchen, das ihn darstellt. Die Botschaft war: Wenn man mir alle Waffen wegnimmt, was bleibt dann eigentlich von mir noch übrig? Nicht viel mehr als ein großes Fragezeichen. Der therapeutische Fortschritt wurde nun immer deutlicher erkennbar, zum Beispiel wie nackt und bloß er sich fühlte, wie wenig sicher er sich über seine männliche Identität war (Seiffge-Krenke, 2012). Soll er sich mit seinem liebevollen, aber schwachen und arbeitslo-

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Einige Überlegungen zur Arbeit mit Familien

sen Vater identifizieren? Oder soll er sich mit seiner aggressiven und abwertenden Mutter identifizieren? Am Ende der Therapie setzte er die unglaubliche Wut und Belastung, die Zerreißprobe, in die Übertragung um. Er malte Folterbilder, auf denen die Therapeutin das Opfer ist. Er malte die Therapeutin mit Gewichten beschwert, gehemmt und beeinträchtigt, unter Strom gesetzt – als eine Projektion seiner gequälten Selbstanteile. Während des Malens betonte er immer wieder seine Nähe und Sympathie für die Therapeutin: »Eigentlich mag ich Sie ja!« Real stand er nach wie vor durch den permanenten Elternstreit »unter Strom«, er konnte aber diese Belastungen durch die liebevolle Beziehung zu seiner Therapeutin und die Identifizierung auch mit den männlichen Anteilen der Therapeutin gut aushalten.

6.9 Einige Überlegungen zur Arbeit mit Familien In der Elternarbeit, aber auch generell in der Arbeit mit den erwachsenen Patienten sollte man bedenken, dass Kinder in Trennungsfamilien ein Recht auf Beratung und Therapie haben, das ist im Jugendhilfegesetz festgelegt. Dies ist auch sinnvoll, denn Paare, die sich trennen, haben in der Regel nur Augen für sich und die Kinder fallen regelrecht in ein »Kontrollloch«. Das Paar ist also noch nach der Trennung intensiv mit sich befasst, aggressiv verstrickt und hat wenig Empathie für die Situation der Kinder. Kinder können sich wünschen, trotz aller Realitäten des Streits und der Konfrontation, dass das Elternpaar wieder vereint ist – zumindest ist dies eine häufige Fantasie von Kindern aus Trennungsfamilien, die man in der Psychotherapie sieht. Bei der Psychodynamik sollte man sehr auf das »maternal gatekeeping« achten, also auf die Neigung von Jugendämtern, Gerichten und natürlich auch Müttern selber, Mütter als die allein in Frage kommenden Betreuer für ein Kind darzustellen und die Väter abzuwerten. In

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der therapeutischen und beraterischen Arbeit ist es immer wieder notwendig, die Trennung zwischen Paar- und Elternebene einzuführen oder erneut zu markieren, zu unterstreichen. Dies kann nicht nur in gemeinsamen Sitzungen der Eltern von Trennungskindern geschehen; es kann auch notwendig werden, getrennte Sitzungen, mit Mutter und Vater abwechselnd, zu gestalten, um beiden Perspektiven gerecht zu werden. Manchmal kann es sogar sinnvoll sein, wie vorher beschrieben, mit allen vier Eltern in einer gemeinsamen Sitzung zu sprechen. Wir haben in diesem Kapitel die Problematik der DisneylandDaddys erörtert. Es ist aber auch zu bedenken, dass ein nicht unerheblicher Anteil von getrennt lebenden Vätern sich nicht um die finanzielle Absicherung ihrer Kinder kümmert und den gesetzlich geforderten Mindestbetrag nicht bezahlt. Ein letzter Punkt, der aber ebenfalls wichtig ist, betrifft die Transparenz der finanziellen Ressourcen. Die meisten Väter zahlen gewöhnlich für das Kind und haben deswegen zum Beispiel ein Anrecht, das Kind zu sehen und zu erfahren, wie ihr Beitrag zum Familieneinkommen der getrennt lebenden Mutter verwendet wird. Viele getrennt lebende Väter wissen aber nicht, was eigentlich mit ihrem Geld geschieht. Wie fühlen sie sich dabei, sie zahlen ja jeden Monat, was haben sie eigentlich davon, von ihrem Kind? Oder was hat ihr Kind genau davon? Solche Fragen im Hinterkopf zu behalten und vielleicht auch in Gesprächen aufzuwerfen, kann durchaus sinnvoll sein.

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7 Schlussbemerkungen

In den voranstehenden Kapiteln wurden wichtige Fragen in Bezug auf Familie aufgeworfen und Versuche unternommen, sie zu beantworten. Was ist Familie? Wie wird Familie gestaltet? Welche Wandlungstendenzen und welche Kontinuitäten lassen sich ausmachen? Welche Herausforderungen bietet das Familienleben über die Lebenspanne und wie kann man diese bewältigen? Ist die Familie in der Krise? »Die Familie« gibt es nicht Es zeigte sich, dass Familie ein in vielerlei Hinsicht komplexer Sachverhalt ist. Familie präsentierte sich als vielfältig in ihren Erscheinungsformen und auch in ihren Entwicklungsverläufen. Auffällig ist die Doppelgestalt der Familie: Sie wird individuell gestaltet, aber die Gestaltungsspielräume, die dafür den Rahmen stecken, sind in hohem Maße gesellschaftlich geprägt, wobei die praktizierte und gelebte Realität Einfluss nimmt, was sozial als »normal« gilt und anerkannt ist: Erinnert sei etwa an die umfassende Akzeptanz nichtehelicher Lebensgemeinschaften seit den 1980er Jahren. Selbstverständlich gibt es zu jeder Zeit Abweichungen von der Norm, vom gesellschaftlichen »Sollen«. Diese resultieren nicht zuletzt daraus, dass es Individuen sind, die in Familien leben (müssen) und die ihre Familie, verstanden als Beziehungsnetz, gestalten. Diese Gestaltung erfolgt zum einen entlang der jeweiligen Bedürfnisse, zum anderen muss aber auch die Schnittstelle von Familie

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Schlussbemerkungen

und Gesellschaft gestaltet werden. Das kann historisch und kulturell sehr unterschiedlich ausfallen: Familie kann als Privatsache angesehen werden, die sich weitgehend den äußeren Einflussnahmen entzieht, Familie kann aber auch als Teil der Öffentlichkeit begriffen werden, der wichtige Funktionen für die Gesellschaft erfüllt. Wie Menschen zusammenleben und was als »Familie« definiert wird, ist also wandelbar und dynamisch – das reicht, um Beispiele zu nennen, vom »Ganzen Haus« in der vorindustriellen Gesellschaft über die Dominanz der bürgerlichen Kernfamilie in den 1950er Jahren bis hin zu nichtehelichen Lebensgemeinschaften mit oder ohne Kinder in der Gegenwart. Doch neben dieser gesellschaftlichen Dynamik umfasst der Wandel auch noch eine individuelle Dynamik im Lebensverlauf. Was Familie ist und in welcher Form der Familie man lebt, kann sehr unterschiedlich ausfallen – in Abhängigkeit davon, in welcher Phase im Lebensverlauf man sich befindet. Am Beispiel des Übergangs zur Elternschaft mit, zumindest vorübergehenden, negativen Konsequenzen auf die Partnerschaftszufriedenheit wurde dargestellt, dass Familienphase und Wahrnehmung der Familie ebenfalls in Zusammenhang stehen können. Historisch sind neue Phasen entstanden bzw. haben an Bedeutung gewonnen, etwa das voreheliche Zusammenleben von Paaren in einem gemeinsamen Haushalt oder die deutlich verlängerte Empty-nest-Phase, in der Elternpaare ohne Kinder im Haushalt leben. Es wurde deutlich, dass in diesen neuen Phasen, für die es kaum Vorbilder gibt, relativ viel Anpassungsarbeit von Männern wie Frauen zu leisten ist. So komplex und vielschichtig Familie ist, so kompliziert kann es auch sein, in Familien zu leben: Die Auseinandersetzung damit, wie eigene Vorstellungen und Entwürfe mit der gesellschaftlichen Realität und gesellschaftlichen Ansprüchen vereinbar sind, und das Einfinden in die jeweiligen (Familien-)Phasen im Lebensverlauf sind anspruchsvolle Gestaltungsaufgaben. Rollen müssen abgestimmt und mit den jeweiligen persönlichen Merkmalen, Einstellungen

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und Wünschen in Einklang gebracht werden, im Rahmen gesellschaftlicher Strukturen und Erwartungen, die als Restriktionen und als Gelegenheitsstrukturen in Erscheinung treten können. Dabei unterscheiden sich die Sichtweisen von Männern und Frauen oft auffallend. Bei diesen Aufgaben brauchen Einzelne und auch ganze Familien oft Hilfe und Unterstützung. Das kann informelle Hilfe durch Freunde oder Verwandte sein, das kann aber ebenso formelle und professionelle Unterstützung im Rahmen von Beratung, Therapie oder Hilfsprogrammen sein. Auch hier gilt ganz klar, dass dem Festhalten an Klischees und Stereotypen entgegenzuwirken ist, da diese oft zu falschen Ansprüchen führen, die sich als nicht umsetzbar und damit hoch problematisch erweisen. In diesem Buch haben wir zum Beispiel zu hohe Erwartungen an Elternschaft als einen der Gründe für den Verzicht auf Kinder und die Verschlechterung der Partnerbeziehungen nach der Geburt herausgearbeitet. Gewachsene Gestaltungsspielräume bei Partnerschaften Die Paarorientierung der Menschen erweist sich als historisch konstant. Menschen neigen in der Gegenwart wie auch in der Vergangenheit dazu, sich zu Paaren zusammenzufinden. Jedoch haben sich in diesem Zusammenhang zahlreiche Veränderungen ergeben. Ein entscheidender Wandel vollzog sich hinsichtlich der Motive und Prinzipien der Partnerwahl. Seit dem 18. Jahrhundert setzte sich sukzessive das Ideal der romantischen Liebe durch, eine »Neuerfindung« der Liebe um ihrer selbst willen. Mit dieser in engem Zusammenhang steht das Prinzip der freien Partnerwahl, das sich schließlich als dominantes Prinzip durchsetzte. Frühe Ideen der romantischen Liebe lassen sich zwar bereits im Mittelalter am Beispiel der Minne erkennen, diese Beziehungen blieben jedoch auf einer ideellen Ebene und wurden selten »gelebt«. An dieser Stelle hat sich eine deutliche Veränderung der Formen und Verläufe von Partnerschaften ergeben.

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Liebe ist das leitende Prinzip heutiger Partnerschaften, instrumentelle und insbesondere ökonomische Faktoren haben an Bedeutung eingebüßt. Partnerschaften, und in höherem Maße Ehen, hatten in der Vergangenheit eine grundlegende Funktion als Versorgungsinstitution. Aufgrund der gewandelten sozialen Stellung der Frauen sind diese heute aber vielfach nicht mehr auf Ehen angewiesen. Es wäre falsch, daraus zu schließen, Beziehungen seien frei von funktionalen Aspekten. Pragmatische, leere Partnerschaften sind überraschenderweise bereits im Jugendalter verbreitet und lassen sich damit über die komplette Lebensspanne finden. Mit ursächlich für die Verbreitung dieser Art Beziehung ist sicherlich die große Bedeutung, die Partnerschaften für die Identitätsbildung und den sozialen Status zukommt. Die eigene Identität wird wesentlich durch die Partnerbeziehung mitbestimmt (Seiffge-Krenke, 2012) und Partner gehören auch heute noch vielfach im öffentlichen Leben dazu, was beispielsweise zu Entwicklungen wie einem Begleitservice bei offiziellen Einladungen geführt hat. Wer heute heiratet, tut dies nicht immer nur aus Liebe: Rationale und pragmatische Motive spielen hier eine Rolle, ebenso wie der Wunsch, die Beziehung vor Zeugen zu bestätigen. Heirat erscheint als eine Mischung von Emotion, Rationalität und Tradition und ist, trotz aller Veränderung, immer noch weit verbreitet. Intimität, verstanden als Verhältnis von Autonomie und Zusammenhalt, ist ein wichtiger Indikator für das Gelingen oder Scheitern von Partnerschaften. Die Frage der Intimität und die Bedeutung von Partnerschaften für die Identität scheinen dabei geschlechtsspezifisch zu variieren und das Vorhandensein einer Beziehung für Frauen relevanter zu sein als für Männer. Autonomie ist jedoch insgesamt bedeutsamer geworden, auch und gerade in Partnerschaften. Die Assoziation in Partnerschaften tritt vermehrt an die Stelle der Fusion. Statt in einer Beziehung komplett aufzugehen, strebt man heute stärker als früher danach, innerhalb von Beziehungen

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eigenständig zu bleiben und seine Wünsche zu realisieren. Dies hat unter anderem zur größeren Verbreitung neuer Formen wie Fernbeziehungen geführt. Liebe wird mit neuen Inhalten gefüllt: Die Zuneigung zu einem Menschen hängt nun stärker davon ab, wie gut die Realisierung eigener Bedürfnisse an seiner Seite möglich ist. Wenn sich Bedürfnisse und Interessen ändern, kann dies konsequenterweise auch zu einem »Verlust von Liebe« führen. Anstelle der praktisch lebenslangen Partnerschaft mit einem Menschen kann die sogenannte serielle Monogamie treten. Daraus lässt sich aber nicht zwangsläufig ableiten, die Partnerschaftsbiografien seien gegenwärtig besonders brüchig und durch eine Vielzahl von Partnerwechseln gekennzeichnet. Generell sollten Befunde einer Gegenwartsdiagnose vorsichtig interpretiert werden. Die Heiratsneigung hat sich im Vergleich zur Mitte des letzten Jahrhunderts zwar deutlich verringert, alternative Lebensformen zur ehelichen Kernfamilie haben ihre soziale Diskriminierung verloren und sind heute weit verbreitet. Dabei handelt es sich aber weniger um eine historische Neuheit als vielmehr um eine Rückkehr zur Vielfalt, die historisch die Normalität war und vom sogenannten Golden Age of Marriage mit der ausgeprägten Dominanz der Kernfamilie unterbrochen wurde. Der Wandel von Kindheit und Elternschaft – (k)ein Grund zu Verzagen Die durchschnittlichen Kinderzahlen sind im Zeitverlauf gesunken. Mit dem Rückgang der Säuglings- und Kleinkindsterblichkeit infolge der besseren gesundheitlichen Versorgung und dem abnehmenden instrumentellen Nutzen der Kinder als Arbeitskräfte und Altersversorgung wurde es immer weniger wichtig, viele Kinder auf die Welt zu bringen. Man begann viel in wenige Kinder zu investieren und sich verstärkt um deren Wohlergehen und bestmögliche Entwicklung zu kümmern. Vor diesem Hintergrund konnte

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sich Kindheit als eigenständiger Lebensabschnitt entwickeln und die Bedeutung von Kindern wandeln. Heute haben Kinder einen hohen emotionalen Wert und werden als eigene Persönlichkeiten wahrgenommen. Kennzeichnend sind die veränderten Erziehungsprinzipien und der Wandel von einer befehls- zu einer stärker auf Verhandlungen basierten Eltern-Kind-Beziehung. Die Verwendung von psychologischer Kontrolle, die an die Stelle von autoritären Prinzipien getreten ist, ist allerdings hoch problematisch für die Kindesentwicklung. Das Kindeswohl ist ein zentrales und wichtiges Anliegen der Gesellschaft. Dessen Entwicklung und Wahrung wird als zentrale Aufgabe an Eltern herangetragen. Dabei lassen sich Tendenzen der Überformung erkennen: Der Begriff des Kindeswohls umfasst inzwischen viel mehr als die Sicherstellung von psychischem und physischem Wohlbefinden sowie die Möglichkeit einer guten Entwicklung und Entfaltung. Kinder und Eltern stehen unter gesellschaftlicher Beobachtung, musikalische Frühförderung und Englisch im Kindergarten sind nur einige der Indikatoren, an denen sich dies ablesen lässt. In dieser Hinsicht kann durchaus von einer »Professionalisierung der Elternschaft« gesprochen werden, die zur gesellschaftlichen Realität geworden ist. Viele Eltern reagieren mit Verunsicherung. Sie nehmen ihre Rolle oft als diffus und gleichzeitig anspruchsvoll wahr, sodass es schwerfällt, ihr gerecht zu werden. Es ergibt sich oft, dass mit der Geburt von Kindern eine Re-Traditionalisierung der Geschlechterrollen einhergeht und Frauen Tätigkeiten rund um Haushalt und Kinderbetreuung übernehmen, während die Väter ihre Arbeitszeit aufstocken – was vielfach aber nicht als zufriedenstellende Lösung empfunden wird. Elternschaft hat ihre biografische Selbstverständlichkeit verloren und ist zu einer Option neben anderen geworden. Damit steht sie subjektiv nicht selten in Konkurrenz zu beruflicher Karriere oder einem erwachsenenzentrierten Lebensstil. Der Anteil von Perso-

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nen, die gewollt kinderlos sind, hat innerhalb der letzten Jahrzehnte zugenommen und sich auf einem hohen Niveau eingependelt. Der Wunsch nach einem Kind ist nicht universell. Gleichzeitig ist er aber auch individuell dynamisch – Menschen, die zunächst auf Kinder verzichten, entscheiden sich später vielleicht doch noch zur Elternschaft. Umgekehrt kann ein langer Aufschub des vorhandenen Kinderwunsches in ungewollter Kinderlosigkeit enden. Die Vereinbarkeitsproblematik von Familie und Beruf ist insbesondere für Frauen umfassend dokumentiert. Interessant ist vor diesem Hintergrund, dass Männer, gemessen am Kinderwunsch, eine höhere Distanz zur Elternschaft aufweisen als Frauen. Worin diese Differenz begründet sein mag, darüber konnten wir nur spekulieren. Eine mögliche Vereinbarkeitsproblematik auch für Männer wird von der Forschung gegenwärtig zunehmend in den Fokus genommen. Dies hängt nicht zuletzt mit der Idee der Neuen Väter zusammen, die empirisch nicht in erwartetem Umfang auszumachen sind. Vielmehr zeigen gerade Männer aufgrund der gewandelten Erwartungen an ihre Rolle – in Richtung eines verstärkten Engagements – eine große Verunsicherung. Das hat unter anderem zu einer Übernahme eher mütterlicher Anteile in der Vaterrolle geführt. Erziehungs- und Entwicklungsziele Die Ansprüche, die an Elternrollen gestellt werden, zeigen sich auch in Form des immer noch weit verbreiteten Denkens, die Kindesentwicklung sei durch Fremdbetreuung gefährdet und noch zugespitzter in der Ideologie der »allein zuständigen Mutter«. Das Klischee, elterliche Betreuung und – insbesondere im frühkindlichen Alter – Betreuung durch die Mutter seien optimal, erweist sich, zumindest in Westdeutschland, als wirkmächtig. Es besteht ein enger Zusammenhang mit dem Gedanken, die Familie sei als Sozialisationsinstanz nicht adäquat zu ersetzen und dass

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die Sozialisation innerhalb der Familie ausreiche, um eine erfolgreiche Entwicklung sicherzustellen. Sowohl aus der Psychologie als auch der Soziologie sind die Befunde jedoch eindeutig: Sofern die außerfamiliäre Betreuung qualitativ hochwertig und verlässlich ist und nicht zu umfangreich erfolgt, ist sie nicht schädlich, sondern kann im Gegenteil sogar Chancen bieten. Auswirkungen sozialer Ungleichheit können abgemildert werden, Eltern werden entlastet, der Horizont der Kinder erweitert sich, sie machen Erfahrungen mit Gleichaltrigen und vieles mehr. Insbesondere in Westdeutschland ist die Betreuungsinfrastruktur noch unzureichend ausgebaut: Gerade für die unter Dreijährigen reicht die Zahl der Betreuungsplätze in der öffentlichen Kinderbetreuung nicht aus, die Öffnungszeiten sind oft unattraktiv, der Betreuungsschlüssel unerfreulich. Die Vereinbarkeit von Elternschaft und Beruf ist hier, gerade für Frauen, besonders aufwändig und schwierig. Hinzu kommen vergleichsweise traditionelle Geschlechterrolleneinstellungen. In Ostdeutschland gestaltet sich die Situation anders: Vollzeiterwerbstätigkeit von Müttern wird hier weniger kritisch gesehen. Dabei fällt auf, dass die Frage, wann eine Erziehung überhaupt als erfolgreich eingestuft werden kann, gar nicht so trivial ist. In vielen Kontexten wird sie – in ungünstigem Maße vereinfachend – mit dem Schulerfolg des Kindes gleichgesetzt. Das ist jedoch deutlich zu kurz gegriffen, da auch die Erlangung einer sicheren Bindung und diverser sozialer Kompetenzen wichtige Merkmale von Erziehungserfolg sind. An dieser Stelle sind noch große Anstrengungen erforderlich, um einen belastbaren Forschungsstand zu erreichen. Es ist aber auch die Öffentlichkeit dafür zu sensibilisieren, dass eine alleinige Konzentration auf die schulische Leistungsfähigkeit von Kindern zu kurz greift.

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Hilfen zur Bewältigung von Übergängen Übergänge im Lebensverlauf gehen mit spezifischen Belastungen einher, betreten die Betroffenen doch damit oft unbekanntes Terrain. Das gilt nicht nur für jeden Einzelnen, das gilt auch für die jeweiligen Konstellationen, das Paar, die Familie. Auch die Geburt eines Kindes ist ein solcher Übergang. Die Paar- und die Elternebene müssen definiert und abgegrenzt werden und für das Paar bleibt, insbesondere am Beginn der Elternschaft, deutlich weniger Zeit als für Elternaufgaben. Für die Mütter ändert sich in aller Regel mehr als für die Väter. Es sind meist die Mütter, die in den ersten Lebensmonaten und -jahren das Kind pflegen und betreuen; nicht selten ist diese Phase problematisch und wird von Heultagen oder seltener postpartalen Depressionen begleitet. Die spontane Liebe der Mutter zu ihrem Kind erweist sich damit zumindest teilweise als Mythos. Väter verbringen hingegen viel Zeit, häufig sogar mehr Zeit als davor, mit der Erwerbsarbeit. Dabei nehmen Väter für die Bindungsentwicklung der Kinder eine wichtige Stellung ein, wenn auch in anderen Bereichen als Mütter. Das gilt für die späteren Phasen im Leben der Kinder ebenso: Beide Eltern sind wichtig für die Entwicklung des Kindes. Das Engagement der Väter sollte also kontinuierlich sein und zwei »Vätermonate« allein reichen nicht aus. Barrieren, die väterliches Engagement behindern, müssen sowohl auf der infrastrukturellen Ebene als auch innerfamiliär abgebaut werden – »maternal gatekeeping« hilft hier nicht weiter. Wo Eltern unsicher sind, brauchen sie Unterstützung. Eine Vielzahl von Unsicherheiten ergibt sich vor dem Hintergrund veränderter familiärer Kontexte, wenn keine größere Familie vorhanden ist oder man räumlich getrennt wohnt, so dass eine größere Unterstützung nicht stattfinden kann. In solchen Fällen kann die Bereitstellung von Hilfen durch andere Stellen, beispielsweise Beratungsstellen oder Besuchsdienste, besonders wichtig sein. Gleichzeitig

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erscheint es sinnvoll, den gesellschaftlichen Druck, der auf Eltern lasten kann, niedrig zu halten – insbesondere dann, wenn ihre Aufgaben auch als ein gesellschaftliches Anliegen gelten. In diesem Kontext ist immer wieder die bereits geleistete Familienarbeit der Eltern hervorzuheben, denn in der Regel kommen Paare bzw. Eltern erst zu einem Zeitpunkt in die Beratung oder Therapie, zu dem sie bereits verschiedene Alternativen ausprobiert haben, um anstehende Probleme zu lösen. Dieser familiären Entwicklungsarbeit ist also Respekt zu zollen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen, die für den spezifischen Kontext angemessen sind. Scheidungen und Trennungen: Nacheheliche Familien sind nicht neu und nicht zwingend problematisch Ein augenfälliger Wandel hat sich im Verlauf der letzten hundert Jahre hinsichtlich der Entwicklung der Scheidungshäufigkeit vollzogen. Möglich wurde die großflächige Verbreitung von Scheidungen als Weg, aus einer nicht zufriedenstellenden Ehe auszusteigen, durch verschiedene Entwicklungen. Die Ehe hat als Versorgungsinstitution an Bedeutung verloren und der Abschied vom Schuldprinzip hat die Scheidungsbarrieren gesenkt. Gleichzeitig sind die Alternativen nach einer Scheidung zahlreicher geworden. Es ist gesellschaftlich heute unproblematisch, als Geschiedener zu leben, ob allein oder in einer Partnerschaft. Neben diesen strukturellen Komponenten haben sich auch die Ansprüche an gelingende Partnerschaften verändert. Das Erreichen einer guten Balance zwischen eigenen Bedürfnissen und Interessen, Ansprüchen und Erwartungen wurde als ein wichtiges Kriterium für gelingende Partnerschaften herausgearbeitet. Die Ansprüche an Partnerschaft sind gestiegen, weswegen Kommunikations- und Lebensstilprobleme, abweichende Vorstellungen und Lebensentwürfe heute die wichtigsten subjektiven Gründe sind, sich scheiden zu lassen.

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Unbestritten sind Scheidungen folgenreich. In ökonomischer Hinsicht verschlechtert sich in der Regel die Situation aller von einer Scheidung Betroffenen. Besonders gravierend spüren dies Alleinerziehende – das sind in der Regel immer noch Frauen. Nicht selten kommen mit Trennungen erhebliche Aufgaben auf Kinder zu. Vor allem Befunde der psychologischen Forschung zeigen, dass die Folgen elterlicher Scheidung vor allem kurzfristig spürbar sind. Langfristig hingegen zeigen Scheidungskinder in der überwiegenden Zahl gute Anpassungsprozesse. Als wirkungsvolle Faktoren auf den Verlauf und Grad der Anpassung erwiesen sich die partnerschaftliche Kommunikation, also das Auskommen der Eltern miteinander, die ökonomische Situation, in der die Kinder aufwachsen, aber auch Netzwerke außerhalb der Familie und die Persönlichkeit des Kindes und der Eltern. Ein gesundes Konfliktniveau muss nicht zwingend schädlich sein. Sind die Konflikte und Anlässe transparent und werden sie auf »zivilem« Niveau ausgetragen, kann das förderlich auf die Bewältigung wirken. Das völlige Fehlen von Konflikten vor der Trennung kann verstörend wirken, weil die Trennungsgründe nicht offensichtlich werden bzw. weil eventuell so gar nicht klar wird, dass eine Trennung nötig ist. In diesem Zuge ist es wichtig, extreme Reaktionen wie »maternal gatekeeping« oder die Idealisierung des Vaters als DisneylandDaddy zu vermeiden, da sie einen normalen Umgang erschweren und das Kind instrumentalisiert wird. Es kann sehr hilfreich sein, wenn Eltern eine Trennung nicht »der Kinder wegen« so lange aufschieben, bis das Verhältnis so konflikthaft ist, dass ein normaler Umgang nicht mehr möglich scheint. Die Familie endet ja nicht mit der Scheidung. Innerhalb der nachehelichen Familie muss noch sehr viel abgestimmt werden, man hat weiterhin miteinander zu tun, die Kontakte reißen nicht ab. Sorgerecht, Umgang und Unterhalt sind nur einige der Punkte, mit denen man sich auseinandersetzen muss. Die Schwierigkeiten und Bewältigungsstrategien von Scheidungen und dem Leben in nachehelichen Familien sind wichtige

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Themen im therapeutischen Alltag. Stieffamilien, also Familien, in denen mindestens ein Erwachsener als Stiefelternteil lebt, machen rund 14 % der Familien mit minderjährigen Kindern aus und sind damit durchaus von empirischer Relevanz. Diese Familien sind aber nicht per se problematischer als Kernfamilien. Nur wenige Belastungen entstehen genuin aus der Familienkonstellation heraus, vielmehr sind sie durch Faktoren, zum Beispiel eine prekäre finanzielle Lage, vermittelt, für die das Risiko in Stieffamilien höher ist. Spezifische Herausforderungen wie eine Doppelung der Elternrollen oder die Asymmetrien von biologischer und sozialer Verwandtschaft bedürfen dennoch einer besonderen Aufmerksamkeit und Unterstützung, sofern sie sich als problematisch erweisen. Dann macht es Sinn, sehr exakt auf den Einzelfall einzugehen und, falls notwendig, die Maßnahmen auf komplette Familienzusammenhänge auszuweiten. Stieffamilien sind historisch nicht neu. Sie waren in der vorindustriellen Zeit ein gängiges Mittel, sich nach einer Verwitwung wirtschaftlich abzusichern. Stieffamilien wurden in Märchen häufig aufgegriffen und sie erhielten dort einen negativen Ruf, man denke an die »böse Stiefmutter«. In den 1990er Jahren wurde der Begriff der Patchworkfamilie populär. Er wird häufig undifferenziert verwendet, sowohl im Sinne einer »einfachen« Stieffamilie als auch, um komplexere Konstellationen von Stieffamilien zu beschreiben, zum Beispiel wenn beide Partner Kinder mit in die Beziehung einbringen und/oder zusätzlich gemeinsame Kinder vorhanden sind. Mit seinen Assoziationen des Kunterbunten und unpassend Zusammengeflickten ist er aber nur bedingt geeignet, die empirische Realität zu beschreiben. Ist die Familie in der Krise? Rückblickend auf das Geschriebene präsentiert sich Familie als äußerst dynamisch, vielschichtig und wandelbar. Neben den Ten-

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denzen des Wandels, von denen für die jüngere Vergangenheit der Dominanzverlust der Kernfamilie am prägnantesten erscheint, lassen sich jedoch auch zahlreiche Konstanten ausmachen. Hierzu zählen beispielsweise die Paarorientierung und die weiter bestehende Beliebtheit der Ehe. Es zeigte sich, dass die Familie als Institution durchaus sensibel ist für gesellschaftliche Entwicklungen. Sie zeigt jedoch auch Tendenzen der Kontinuität, etwa indem sich vermeintliche Veränderungen als Ausnahme mittlerer Beständigkeit erweisen – wie die Hochphase der bürgerlichen Kernfamilie in den 1950er und 1960er Jahren – oder sich Einbrüche, wie am Beispiel der Scheidungsziffern 1977, als Periodeneffekt entpuppen. In umgekehrter Wirkrichtung trägt auch das Geschehen in Familien einen Teil zur Gestaltung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen bei. Diese Wechselwirkungen sind äußerst funktional, denn nicht immer sind subjektive Vorstellungen von Familie und gesellschaftliche Ansprüche oder Deutungen widerspruchsfrei in Einklang zu bringen. Anpassungsfähigkeit und die Möglichkeiten zur Veränderung sind wichtige Eigenschaften der Familie und in diesem Sinne ist Wandel einer ihrer immanenten Bestandteile. Es wurde mehrfach angeführt, dass Familie und familiale Werte keineswegs unbeliebt sind, sondern weiterhin als zentral und wünschenswert empfunden werden. Um die eingangs erwähnte zentrale Frage aufzugreifen: Ist die Familie in der Krise, wie in den Medien gern behauptet und auch in der Wissenschaft, zum Beispiel aus der »family decline ­perspective«, diskutiert wird? Aus unserer Perspektive besteht kein Anlass dazu, die beschriebenen Wandlungstendenzen der Familie als krisenhaft wahrzunehmen. Diese Sichtweise ist aber dann versperrt, wenn man an Idealen und Klischees der vermeintlich »richtigen« Familie oder »allein gültiger« Wege der Familiengestaltung festhält. Statt die Krise der Familie zu beschwören, erscheint es vielmehr angebracht, sich von solchen Bildern zu verabschieden und die Familie als das zu akzeptieren, was sie ist: gar nicht so einfach, aber robust.

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