Staatsfeinde. Studien zur politischen Anthropologie

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Staatsfeinde. Studien zur politischen Anthropologie

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Pierre Clastres tritt in seinem Buch über die Staatsfeinde der weit verbreiteten Annahme entgegen, dass diejenigen Gesellschaften, die ohne Staat und Institutionen der Herrschaft leben, »primitiver« seien als andere. Die Abwesenheit staatlicher Institutionen bei den indigenen Völkern des Amazonas­ beckens ist kein Hinweis darauf, dass diese sich nicht auf die Höhe zivilisierter Gesellschaften zu erheben vermögen. Im Gegenteil: Clastres zeigt anhand seiner Feldstudien, dass diese Völker nicht nur keinen Staat haben, sondern auch keinen wollen. Sie sind >>Gesellschaften gegen den Staat«. Sie haben komplexe politische, ökonomische und symbolische Mechanismen entwickelt, um zu vermeiden, dass sich Institutionen entwickeln, die eine dauerhafte Macht von Menschen über Menschen ermöglichen. In dieser Hinsicht ist Clastres' Buch auch für die politische Theorie der Gegen­ wart neu zu entdecken.

Mit Pierre Clastres' Staatsfeinde ist ein Klassiker der politischen Anthropologie wiederzuentdecken, der den Hauptströmungen der politischen Wissenschaften seiner Zeit entschieden widersprach. Das Werk hat u.a. Gilles Deleuze, Eduardo Viveiros de Castro, Philippe Descola, James C. Scott, David Graeber und Tim Ingold maßgeblich beeinflusst und ist nach wie vor eine zentrale Quelle für das Verständnis und die Kritik politischer Herrschaft. PIERRE CLASTRES

(1934-1977) war

ein französischer Anthropologe und Ethnologe. Seine Beiträge zur politischen Anthropologie, die Feldforschung bei den Guayaki in

Paraguay und die Suche nach Alternativen zu den hierarchisch organisierten westlichen Gesell­ schaften haben ihn bekannt gemacht. Umschlagabbildung: Prachi (Werkzeuge zum Bau von Pfeilen, Zeichnung von Jean-Marc Chavy) aus: Pierre Clastres,

Chronicle of the

Guayaki, übers. von Paul Auster, New York 1998, S.

102.

l

ethno graphien herausgegeben von Thomas G. Kirsch, Michael Neumann, Dorothea E. Schulz und Marcus Twellmann

Pierre Clastres STAATSFEINDE Studien zur politischen Anthropologie Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer

Konstanz University Press

Titel der Originalausgabe: La societe contre /'Etat, 1974

© 1974 by Les Editions de Minuit, Paris Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Konstanz University Press 2020 www.k-up.de

I www.wallstein-verlag.de

Konstanz University Press ist ein Imprint der Wallstein Verlag GmbH Vom Verlag gesetzt aus der Chaparral Pro Einbandgestaltung: Eddy Decembrino, Konstanz Druck und Verarbeitung: Hubert & Co, Göttingen ISBN 978-3-8353- 9121-5

Inhalt

1

Kopernikus und die Wilden 7

2 Tausch und Macht: Theorie des indianischen Häuptlingsturns 23 3 Unabhängigkeit und Exogamie 39 4 Demographische Elemente des indianischen Amerika 61 5 Der Bogen und der Korb

6

77

Worüber lachen die Indianer? 99

7 Die Pflicht zum Wort 117 8 Propheten im Dschungel 121 9

10

Vom Einen ohne das Viele 129 Über die Folter in primitiven Gesellschaften 135

11 Die Gesellschaft gegen den Staat 145 Nachwort von Andreas Gehrlach und Morten Paul 169

1

Kopernikus und die Wilden

»On disoit a Socrates que quelqu'un ne s'estoit aucunement amende en son voyage: Je croy bien, dit-il, il s'estoit emporte avecques soy.« Montaigne

Läßt sich ernsthaft nach der Macht fragen? Ein Abschnitt aus Jenseits von Gut und Böse beginnt mit folgenden Worten: »Insofern es zu allen Zeiten, solange es Menschen gibt, auch Menschenherden gegeben hat (Geschlechts­ Verbände, Gemeinden, Stämme, Völker, Staaten, Kirchen) und immer sehr viel Gehorchende im Verhältnis zu der kleinen Zahl Befehlender - in Anbe­ tracht also, daß Gehorsam bisher am besten und längsten unter Menschen geübt und gezüchtet worden ist, darf man billig voraussetzen, daß durch­ schnittlich jetzt einem jeden das Bedürfnis darnach angeboren ist, als eine Art formalen Gewissens, welches gebietet: >du sollst irgend etwas unbedingt tun, irgend etwas unbedingt lassendu sollstDie kri­ tische Untersuchung der Erkenntnisse über das soziale Verhalten der Tiere und insbesondere über den Prozeß der sozialen Selbstregulierung hat uns gezeigt, daß bei ihnen jede, selbst eine embryonale Form politischer Macht fehlt ...archaischen< Formen der politischen Macht in den menschlichen Gesellschaftendie Politik die Tätigkeit der Gesamtgesellschaft betrifft« (S. 41) und wenn »Macht ausüben heißt, für die Gruppe insgesamt entscheiden« (S. 44), dann kann man nicht sagen, daß die fünfzig Sachems, aus denen sich der Große Rat der Irokesen zusammensetzte, einen Staat bildeten. Der Bund war keine Gesamtgesell­ schaft, sondern ein politisches Bündnis von fünf Gesamtgesellschaften, den fünf Irokesenstämmen. Die Frage nach der Macht bei den Irokesen kann also nicht auf der Ebene des Bundes, sondern nur auf der der Stämme gestellt werden: und auf dieser Ebene, daran besteht kein Zweifel, waren die Sachems nicht besser ausgestattet als die anderen Indianerhäuptlinge. Die englischen Typologien der afrikanischen Gesellschaften sind vielleicht für den schwarzen Kontinent relevant; fürAmerika können sie kein Modell sein, denn, wirwiederholen es, zwischen dem irokesischen Sachem und dem Anführer der kleinsten Nomadenhorde besteht kein Wesensunterschied. Andererseits ist darauf hinzuweisen, daß, auch wenn der Irokesenbund mit Recht das Interesse der Spezialisten weckt, es anderswo weniger auffällige,

da diskontinuierliche Versuche tribaler Zusammenschlüsse gegeben hat, unter anderem bei den Tupi-Guarani aus Brasilien und Paraguay. Die vorstehenden Bemerkungen wollen die traditionelle Form der Prob­ lematik der Gewalt problematisieren: es leuchtet uns nicht ganz ein, daß Zwang und Unterwerfung überall und immer das Wesen der politischen Macht bilden. Damit öffnet sich eine Alternative: entweder ist der klassi­ sche Begriff der Macht der Realität angemessen, die er meint, in welchem Fall er der Nicht-Macht dort Rechnung tragen muß, wo er sie entdeckt; oder er ist unangemessen, dann muß er aufgegeben oder modifiziert werden. Doch zuvor muß man nach der Geisteshaltung fragen, in der ein solcher Begriff entstehen kann, und hier kann uns das Vokabular der Ethnologie selbst weiterhelfen. Betrachten wir zunächst die Kriterien des Archaismus: Abwesenheit von Schrift und Subsistenzwirtschaft. Über das erste ist nichts weiter zu sagen,

Kopernikus und die Wilden

11

denn es handelt sich um ein Faktum: eine Gesellschaft kennt die Schrift oder sie kennt sie nicht. Die Relevanz des zweiten hingegen scheint weni­ ger gesichert. Denn was heißt »subsistieren«? Es heißt, ständig in einem unsicheren Gleichgewicht zwischen den Nahrungsbedürfnissen und den Mitteln zu ihrer Befriedigung l eben. Eine Gesellschaft mit Subsistenzwirt­ schaft ist also eine solche, die ihre Mitglieder nur mit knapper Not zu ernäh­ ren vermag, und sich damit dem geringsten Naturereignis preisgegeben sieht (Trockenheit, Überschwemmung usw.), da sich die Verminderung der

Nahrungsquellen automatisch durch die Unmöglichkeit ausdrücken würde, alle zu ernähren. Oder anders gesagt, die archaischen Gesellschaften leben nicht, sondern sie überleben, ihr Dasein ist ein endloser Kampf gegen den Hunger, denn sie sind unfähig, Überschüsse zu produzieren, aufgrund tech­

nologischer und darüber hinaus kultureller Unzulänglichkeit. Nichts ist langlebiger als diese Anschauung der primitiven Gesellschaft, und nichts ist falscher. Wenn man in jüngerer Zeit von paläolithischen Jäger-Sammler­ Gruppen als »ersten Überflußgesellschaften«2 sprechen konnte, warum dann nicht auch von den »neolithischen«3 Ackerbauern? Wir können hier auf diese für die Ethnologie entscheidende Frage nicht näher eingeben. Wir wollen nur darauf hinweisen, daß viele jener archaischen Gesellschaften »mit Subsistenzwirtschaft«, z. B. in Südamerika, ein Quantum an Nah­ ngsüberschüssen produzieren, das oftmals der Menge gleichkommt, die für

ru

den Jahresverbrauch der Gemeinschaft notwendig ist: eine Produktion also, welche die Bedürfnisse doppelt zu befriedigen oder eine doppelt so große Bevölkerung zu ernähren vermag. Das soll natürlich nicht heißen, daß die archaischen Gesellschaften nicht archaisch sind; es geht lediglich darum, die »wissenschaftliche« Leere des Begriffs der Subsistenzwirtschaft her­ vorzuheben, der weit mehr die Verhaltensweisen und Gewohnheiten der abendländischen Beobachter gegenüber den primitiven Gesellschaften als die ökonomische Realität, auf der diese Kulturen gründen, zum Ausdruck bringt. Jedenfalls haben die archaischen Gesellschaften nicht, weil sie eine Subsistenzwirtschaft hatten, »in einem Zustand äußerster Unterentwick­ lung bis heute überlebt« (S. 225). In dieser Hinsicht scheint uns sogar, daß man eher das ungebildete und unterernährte europäische Proletariat des 19.

Jahrhunderts als archaisch bezeichnen müßte. In Wahrheit gehört der

Gedanke der Subsistenzwirtschaft in das ideologische Feld des modernen Abendlands und keineswegs zum Begriffsapparat einer Wissenschaft. Und es ist paradox, daß die Ethnologie selbst einer so groben Mystifizierung 2 M. Sahlins, »La Premiere Societe d'abondance«, Les Temps modernes, Oktober 1968. Für die Probleme, die eine Definition des Neolithikums stellt, vgl. letztes Kapitel, $. 153 f.

3

12

Kopemikus und die Wilden

zum Opfer fällt, die um so gefährlicher ist, als sie dazu beigetragen hat, die Strategie der Industrienationen gegenüber der sogenannten unterentwik­ kelten Welt zu bestimmen. Doch all dies, so wird man einwenden, hat nur wenig zu tun mit dem Prob­ lem der politischen Macht. I m Gegenteil: gerade die Perspektive, in der die Primitiven als Menschen erscheinen, »die kümmerlich in einer Subsistenz­ wirtschaft im Zustand technischer Unterentwicklung leben . « (S. 319), determiniert auch den Sinn und den Wert der gewohnten Rede über das Politische und die Macht. Gewohnt insofern, als seit jeher die Begegnung des Abendlands mit den Wilden eine Gelegenheit bot, dieselbe Rede zu wie­ derholen. Als Beweis z. B., was die ersten europäischen Entdecker Brasiliens über die Tupinamba-Indianer sagten: »Leute ohne Glauben, ohne Gesetz, ohne König.« Ihre mburuvicha, ihre Häuptlinge, hatten in der Tat keiner­ lei »Macht>Stamm« zur Bezeichnung jeglicher Gemeinschaft,

was sie bezüglich der Tukano-Stämme des Uaupes-Caqueta zu dem überra­ schenden Begriff der Stammes-Exogamie führt.7 Sicher geht es hier nicht darum, diese These zu widerlegen und zu ver­ suchen, die Stämme des Tropenwaldes mit denen der Anden in eine Reihe zu stellen. Dennoch scheint es, als sei das geläufigste Bild der betreffenden Gesellschaften nicht immer richtig; und wenn, wie Murdock schreibt, >>the

warlikeness and atomism of simple societies have been grossly exagger­ ated>zentralisierte« Autori­ tät und bewahrt gleichzeitig die »lokalen« Unterhäuptlinge. Und diesem Dualismus der Macht entsprach wahrscheinlich bei diesen Indianern die Institution eines »Ältestenrats«, dessen Zustimmung für die Ausübung der Autorität durch den Oberhäuptling notwendig war. Die Populationen der Tupi-Guarani-Gruppe unterscheiden sich also von den anderen Ethnien dieses Kulturareals durch die größere Komplexität ihrer politischen Proble­ matik, die mit einer zuweilen ganz erheblichen Erweiterung ihres Horizonts einherging. Aber es sieht ganz so aus, als hätten die Tupi diese Ausdehnung nicht auf die Bildungvon mehrlinigen Dorfgemeinschaften beschränkt und als hätte sich in verschiedenen Zonen des Waldes die Tendenz entwickelt, ein Modell der Autorität zu schaffen, das weit über den dörflichen Rah­ men hinausreichte. Es ist bekannt, daß die intertribalen Beziehungen in Südamerika im allgemeinen weit enger und häufiger waren, als es die nach­ drückliche Betonung des kriegerischen Geists dieser Völker würde ahnen lassen, und verschiedene Autoren, z. B. Claude Levi-Strauss21 und Alfred Metraux22, haben die Intensität des Handelsaustauschs zwischen Gruppen nachgewiesen, die zuweilen sehr weit voneinander entfernt lebten. Bei den Tupi jedoch handelt es sich nicht nur um Handelsbeziehungen, sondern um eine wahre territoriale und politische Expansion, wobei sich die Auto-

21 C. Levi-Strauss, »Guerre et commerce chez !es Indiens de l'Amerique du Sud•, Renaissance, Bd. !., Faks. 1 und 2.

22 A. Metraux, La Civilisation materielle des tribus Tupi-Guarani, Paris 1928, S. 2n.

Unabhängigkeit und Exogamie

57

rität bestimmter Häuptlinge über mehrere Dörfer erstreckte. Erinnern wir an die Gestalt von Quoniambec, jenen berühmten Tamoio-Häuptling, der Thevet und Staden so stark beeindruckte: »Dieser König wurde von allen Wilden hochverehrt, sogar von denen, die nicht zu seinem Land gehörten, weil er zu seiner Zeit ein so guter Soldat war und sie so umsichtig in den Krieg führte.>Gut! Jetzt können wir unsere Reise fortsetzen.« Sie zogen wieder los, immer im Rhythmus desselben Gesangs:

uitache! kuvo'uitache! kuvo'uitache! .

.

. E-selin! E-selin! E-selin! ..

.

«

Kuvo'

Plötzlich

zuckte das Ohr des Tieres: »Tschuuuk«, sagte der Alte. In diesem Augen­ blick erinnerte er sich daran, daß sich ganz in der Nähe ein Bienenstock befand, den er einstwieder zugestopft hatte, damit von neuem die Bienen kämen und hier ihren Honig herstellten. Um es der Eselin zu ermöglichen,

Worüber lachen die Indianer?

101

zu diesem Ort zu gelangen, schlugen die Schamanen einen Weg durch den Wald. Als sie zu dem Bienenstock kamen, stellten sie die Eselin mit dem Hinterteil gegen den Baum, und sie begann, mit ihrem Schwanz· den Honig herauszuziehen. Der Alte sagte: »Leckt den Honig ab! Leckt den ganzen Honig ab, der in den Schwanzhaaren klebt! Wir werden noch mehr herausholen.« Das Tier wiederholte die Operation, und es kam noch viel Honig zum Vorschein: »Los, los!«, sagte der Alte. »Eßt allen Honig, Män­ ner mit der gleichen Nase! Wollt ihr noch mehr oder habt ihr genug?« Die anderen Schamanen hatten keinen Hunger mehr. >>Sehr gut! Gehen wir also weiter!>Tschuuuk! Da vorne ist was! Was mag das wohl sein? Sicher ein ts'ich'e, ein böser Geist!« Sie näherten sich, und der Alte versicherte: >>0! das ist ein sehr schnelles Wesen! Das können wir nicht erwischen!E-selin! E-selin! E-selin! ...>Tschuuuk!Die Eselin geht nicht mehr weiter! Da vorne ist was!>Das soll unser Hund sein!«, beschloß der Alte. >>Er ist sehr hübsch, es ist ein wilder Hund.« Sie bildeten einen Kreis um das Tier, und er selbst stellte sich in die Mitte und verkündete: »Ich bin älter und geschickter als ihr!>E-selin! E-selin! E-selin!« schritten sie zum Angriff. Doch das Stinktier verschwand in seinem Bau." »Da ist es reingeschlüpft! Ich will versuchen, es rauszuholenlEs stinkt! Es stinkt fürchterlich!>Also gut! Jetzt wollen wir ein bißeben rauchen>Da bin ich wieder!« >>Also da bist du wieder? Dann könnenwir jetzt ein bißchen rauchen.« Und sie begannen zu rauchen. Als sie gut geraucht hatten, machten sie sich wieder auf den Weg; immer noch sangen sie. Plötzlich zuckte das Ohr des Tieres, und der Alte alar­ mierte seine Gefährten: »Tschuuuk! Es sieht so aus, als wäre da unten ein Tanz!« In der Tat hörte man Trommeln. Die Schamanen begaben sich zum Ort des Fests und begannen zu tanzen. Jeder von ihnen gesellte sich einem tanzenden Paar zu. Sie tanzten eine Weile, verabredeten sich dann mit den Frauen zu einem kleinen Spaziergang. Sie verließen den Tanzplatz, und alle Schamanen vögelten mit den Frauen. Auch ihr alter Häuptling kopulierte. Doch kaum war er fertig, fiel er in Ohnmacht, denn er war sehr alt. »Äch! Äch! Äch!« Er keuchte immer stärker, und auf dem Höhepunkt der Anstrengung baute er schließlich ab. Nach einer Weile kam er wieder zu sich: »Äch! Äch! Äch!« stöhnte er, schon viel ruhiger. Er erholte sich langsam, rief seine Gefährten zusammen und fragte sie: »Na? Habt ihr euch auch erleichtert?« »0 ja! Jetzt sind wir frei. Wir können weggehen, und sehr viel leichter!« Singendzogen sie weiter. Nach einerWeilewurdederWegsehr schmal. »Wir müssen diesen Pfad sauber machen, damit die Eselin sich keine Dornen in die Füße jagt.« Es waren nur Kaktusse. Sie machten also sauber und gelang­

ten zu der Stelle, wo der Weg wieder breiter wurde. Immer noch sangen sie: >>E-selin! E-selin! E-selin! ... « Ein Ohrzucken des Tiers ließ sie innehalten. »Da vorne ist was! Schauen wir nach, was es ist!« Sie gingen hin, und der alte Schamane bemerkte, daß es seine HUfsgeister waren. Er hatte sie schon davon unterrichtet, was er suchte. Er trat näher, und sie verkündeten: >>Es ist Faiho'ai, der Geist der Kohle, der die Seele deines Urenkels zurückhält. Er läßt sich auch von Op'etsukfai helfen, dem Geist des Kaktus.« »Ja! Ja! Genau! So ist es! Ich kenne sie sehr gut, diese Geister!« Es waren noch andere da, aber die kannte er nicht. Von seinen Hilfsgei­ stern informiert, wußte er nun, wo sein kleiner Urenkel steckte: in einer Scheune.4 .

4 Hütte aus Zweigen, in der die Indianer ihre Vorräte aufbewahren.

Worüber lachen die Indianer ?

:1.03

Auf seiner Eselin hockend, ritt er singend zum angegebenen Ort. Doch dort hielten ihn die dornigen Zweige des Bauwerks gefangen. Er b�kam es mit der Angst und rief die anderen Zauberer zu Hilfe. Doch als er sah, daß sie nicht reagierten, stieß er einen Schrei aus. Erst jetzt eilten seine HUfsschamanen herbei, und so konnte er den Geist des Kranken holen. Er brachte ihn nach Hause und führte ihn wieder in den Körper des Kindes ein. Da stand seine Enkelin auf, nahm ihr geheiltes Kind und ging fort. Dieser alte Schamane hatte noch zwei andere Enkelinnen. Sie gingen sehr gerne die Früchte des schwarzen algarrobo sammeln. Am nächsten Tag bei Morgengrauen suchten sie ihn auf: »Ist unser Großvater schon aufgestanden?«

>>0 ja! Er ist schon lange wach!« »Gut! Gehen wir also!« Und er ging den schwarzen algarrobo suchen mit einer seiner Enkelinnen, die noch unverheiratet war. Er führte sie zu einer Stelle, wo viele Bäume wuchsen, und das junge Mädchen begann, die Früchte zu pflücken. Er selbst setzte sich hin, um zu rauchen. Doch schon bekam er langsam Lust, etwas mit seiner kleinen Enkelin anzustellen, denn die Sitzung vom Vor­ abend mit den Frauen, die sie während der Reise getroffen hatten, hatte ihn sehr animiert. Er überlegte also, wie er seine Enkelin herumkriegen könnte. Er las einen algarrobo-Dorn auf und steckte ihn sich in den Fuß. Dann tat er so, als würde er versuchen, ihn herauszuziehen. Er stöhnte: »Au! Au! Aul« »Oh! Mein armer Großvater! Was ist dir passiert?« »Ein Unglück! Ich habe einen Dorn im Fuß! Und ich habe ganz das Gefühl, daß er mir ins Herz wandern wird!«

Das junge Mädchen war gerührt und kam näher, und der Großvater sagte zu ihr: »Zieh deinen Gürtel aus, damit wir die Wunde abbinden können! Denn ich halte es nicht mehr aus!« Sie tat, wie er gesagt hatte, und der Großvater veranlaßte sie, sich zu setzen. »Zieh doch deinen Schurz ein wenig hoch, damit ich meinen Fuß auf deine Schenkel setzen kann! Au! Au! Aua! Aua!« Ein schreckliches Gestöhn! Er litt große Schmerzen: »Laß mich meinen Fuß auf deine Schenkel setzen! Au! Au! Au! Wie ich leide! Ich kann es nicht mehr aushalten! Mach deine Schenkel ein bißeben aus­ einander! Aua! Aua!« Und das mitleidige Mädchen gehorchte. Der Alte war ganz, aufgeregt, denn sie war jetzt ganz nackt: »Hm! Was hat sie für schöne Beine, meine Enkelin! Kannst du meinen Fuß nicht ein bißeben höher legen, liebe Enkelin?Tsü! Siehst du! Jetzt bist du dabei, von meinen Resten zu pro­

fitieren! Wirklich, den letz ten ! « Dann kehrten sie ins Dorf zurück. Sie erzählte nichts, weil sie sich so sehr schämte.

Der alte Schamane hatte noch eine andere Enkelin, die auch noch nicht verheiratet war. Auch diese hätte er gerne vernascht. Er lud sie also ein, algarrobo-Früchte zu pflücken, und als sie an Ort und Stelle waren, spielte er dieselbe Komödie mit dem Dorn. Doch diesmal hatte er es eiliger, er zeigte seiner Enkelin den Dorn und warf sie ohne Umschweife auf die Erde und legte sich auf sie. Er begann, in sie einzudringen. Doch das junge Mädchen zuckte heftig zusammen, und der Penis des Alten fuhr in ein Grasbüschel; ein Halm stach ihn und verletzte ihn ein wenig: >>Aua! Meine Enkelin hat mir in die Nase gestochen!«5 Abermals warf er sich auf sie. Sie kämpften auf dem Boden. Im geeigneten Moment nahm der Großvater seinen Anlauf, verfehlte wiederum sein Ziel,

und sein Penis riß in seiner Wucht den ganzen Grasbüschel aus. Er begann zu bluten, beschmierte den Bauch seiner Enkelin mit Blut. Diese machte eine große Anstrengung, und es gelang ihr, sich unter ihre m Großvater herauszuwinden. Sie packte ihn an den Haaren, schleifte ihn zu einem Kaktus und rieb sein Gesicht an den Stacheln. Er flehte:

»Hab Mitleid mit deinem Großvater!« >>Ich will nichts wissen von meinem Großvater!« >>Du wirst deinen Großvater verlieren!« »Das ist mir wurscht!« Und sie fuhr fort, seinen Kopf in den Kaktus zu stoßen. Dann packte

sie ihn wieder an den Haaren und s chleifte ihn mitten in ein caraguata­ Gestrüpp. Der Alte hielt einige Augenblicke stand, dann versuchte er aufzustehen. Doch sie hinderte ihn daran. Die Dornen des caraguata zer­ kratzten ihm den Bauch, die Hoden und den Penis: »Meine Hoden! Meine Hoden werden zerreißen!Vom Einen ohne das VieleMobilisierung« der Indianer bewirken, sie konnten jenes in der primitiven Gesellschaft Unmögliche erreichen: in der religiösen Wanderung die große Vielfalt der Stämme vereinen. Es gelang ihnen, mit einem Schlag das »Programm« der Häuptlinge zu verwirklichen! List der Geschichte? Verhängnis, das trotz allem die primitive Gesellschaft zur Abhängigkeit verdammt? Wir wissen es nicht. Jedenfalls verlieh der Aufstand der Pro­ pheten gegen die Häuptlinge, wie in einer merkwürdigen Umkehrung der Dinge, den ersteren unendlich mehr Macht, als die letzteren je besaßen. Vielleicht müssen wir nun die Vorstellung vom Wort als dem Gegenteil der Gewalt berichtigen. Wenn der wilde Häuptling mit der Pflicht zum unschul­ digen Wort beauftragt ist, so kann die primitive Gesellschaft untergewissen Umständen auch einem anderen Wort lauschen und vergessen, daß die­ ses Wort als Befehl gesagt wird: es ist das prophetische Wort. In der Rede der Propheten ruht vielleicht im Keim die Rede der Macht, und hinter den schwärmerischen Zügen des Menschenführers, der den Wunsch des Men­ schen ausspricht, verbirgt sich vielleicht die stumme Gestalt des Despoten. Prophetisches Wort, Macht dieses Worts: sollte dies der Geburtsort der Macht schlechthin sein, der Beginn des Staats im Wort? Propheten, welche die Seelen erobern, bevor sie Herren über die Menschen sind? Vielleicht. Aber noch in der höchsten Erfahrung der Prophetie (denn die Tupi-Guarani­ Gesellschaft hatte, aus demographischen oder anderen Gründen, zweifellos die äußersten Grenzen erreicht, die eine Gesellschaft als primitive Gesell­ schaft definieren) zeigen uns die Wilden die fortwährende Anstrengung, die Häuptlinge daran zu hindern, Häuptlinge zu sein; die Ablehnung der Vereinheitlichung; die Arbeit der Beschwörung des Einen, des Staats. Die Geschichte der Völker, die eine Geschichte haben, ist, wie es heißt, die Geschichte des Klassenkampfs. Die Geschichte der Völker ohne Geschichte ist, wie man mit mindestens ebenso großer Wahrheit sagen kann, die Geschichte ihres Kampfs gegen den Staat.

Nachwort Ethnologe gegen den Staat •Wenaber sahen die Entdecker der Neuen Welt an den Ufern des Atlantik auftauchen? •Leute ohne Glauben, ohne Gesetz, ohne KönigBy contraries execute all thingsc Figures of the savage in Euro­ pean philosophy«, Radical Philosophy 2.04 (2019), S. 9-22, hier S. 10 ff. l Mark Thwaite, »Interview with David Graeber•, Ready Steady Books, 16.1. 2007, http:/I www.readysteadybook.com/Artide_page_davidgraeber.html [letzter Zugriff: 21.:11. 2019]. Wir bedanken uns herzlich beiAndreas Warneisdorf filr seine sorgfältige Durchsicht wichtiger Passagen und das großzügige Teilen seiner ethnologischen Fachkenntnisse. Ihm verdanken wir wichtige Hinweise auf gegenwärtige ethnographische Forschungen und Debatten. 3 Die Aufnahme in Frankreich dokumentiert der Ideenhistoriker Danilo Scholz in seiner noch unveröffentlichten Dissertation, L'Bcat en d�bat dans Ia pensee franfaise (�947-�99�): sa ral:iona­ lit�, son origine, son espace. (Unveröffentlichte Dissertation an der Ecole des hautes etudes en sciences sodales (EHESS), Paris 2019, S. 315 ff.) Wir danken Danilo Scholz filr die Einsicht in die Arbeit, der wir viele wichtige Informationen entnehmen konnten. Der grade erschienene Band Eduardo Viveiros de Castros, Polil:ique des Multiplicites. Pierre Clastresface a I'etat (Paris 2019) enthält außerdem eine Auswahlbibliographie von Texten mit Bezug auf Clastres' Arbeiten.

Ethnologe gegen den Staat

169

Gebiet, das Amazonasbecken und seine indigenen Gesellschaften, zu denen seither neue Forschungen vorgelegt wurden. Ein Grund für die Wiederver­ öffentlichung dieses Buches ist entgegen der etwas abschätzigen Bemer­ kung Graebers aber, dass Clastres' Bedeutung für die Ethnologie (und über sie hinaus) in den letzten Jahren offenkundiger geworden ist:• In Fußnoten und als Epigraph, als Zitat oder Verweis taucht La Societe contre l'Etat in so unterschiedlichen Büchern wie James C. Scotts Die Mühlen der Zivilisation,5 Eduardo Viveiros de Castros Kannibalische Metaphysiken, 6 aber auch in David Graebers zusammen mit Marshall Sahlins verfassten On Kings auf, 7 um nur einige der derzeit intensiv diskutierten Kontexte anzudeuten. Miguel Abensours Demokratie gegen den Staat, eine Studie zum politischen Denken des jungen Marx, entlehnt seinen Titel gar Clastres' Buch. 8 Aus diesem Blickwinkel zeigt sich eine über weite Strecken eher unter­ gründige, aber nachhaltige Wirkung dieser Sammlung von Aufsätzen auf ein disziplinenübergreifendes Denken von Politik, wie es in den 1970er Jahren insbesondere in Frankreich entstanden und bis heute einflussreich ist. Dieses hartnäckige Fortwirken deutet eine Aktualität der Texte an, die eine Rückkehr zu den dort entwickelten Überlegungen auch für ein nicht­ ethnologisches Publikum lohnenswert macht. Bei der neuerlichen Lektüre waren wir jedenfalls eingenommen von der theoretischen, politischen und nicht zuletzt auch poetischen Dringlichkeit dieser Texte, obwohl sie sich doch in ganz anderen intellektuellen Debatten verorten und sich strate­ gisch zu anderen Auseinandersetzungen (>>railing against the Marxists of his day«9) verhalten als denjenigen, die uns heute umtreiben. Die Inten4 Eine erste Übersetzung der Staatsfeinde ins Spanischewie ins Portugiesische erfolgte bereits 1978. Neben den im Folgenden diskutierten Arbeiten des brasilianischen Ethnologen Eduardo Viveiros de Castro hat das Buch etwa auch für Carlo Paustos zentrale Studie Warfare and Shamanism in Amaz.onia, 2012 in englischer Übersetzung erschienen, wichtige Anregungen geliefert. Schon 1988 schaltet sich der Ethnologe Philippe Descola, der in den 1970erJahren Feldforschung bei den Shuar im Amazonasgebiet Ecuadors und Boliviens unternahm und mit seinem Buch Jenseitsvon Naturund Kultur (Frankfurt a. M. 2011) auch weit über die Fach­ grenzen hinausAufmerksamkeit gefunden hat, in die Debatte um das Fortwirken und

die

Gültigkeit der Clastresschen Forschungen ein. Philippe Descola, »La chefferie amerindienne dans l'anthropologie politique•, Revue franfai se de sdencepolitique 38, Nr. 5, 1988, S. 819.

5 James C. Scott, DieMahlender Zivilisation. Eine Tiefengeschichte der frühesten Staaten, Berlin 2019. Auch Scotts Buch The Art ofNotBeing Govemed. AnAnarchist History ofUpland Southeast Asia (Yale 20.u) ist, wie der Titel bereits andeutet, deutlich von Clastres' Werk geprägt.

6 Eduardo ViveiYos de Castro, Kannibalische Metaphysiken, Berlin 2019, $. 224, 242, 261. 7 David Graeber u. Marshall Sahlins, On Kings, Chicago 2017, S. 81, 130, 389f.

8 Miguel Abensour, Demokratie gegen den Staat. Marx und das machiavellische Moment, Frank­ furt a. M. 2012. 9 Thwaite, »Interviewwith David Graeber«.

170

Nachwort

sität, mit der dieses Buch nachhallt, haben wir auch in der Zusammenar­ beit mit der Übersetzerio Eva Moldenhauer gespürt, die von der Idee, die Staatsfeinde neu aufzulegen, begeistert gewesen ist und der die genaue Bei­ behaltung ihrer Übersetzung bis hin zu ihrer kämpferischen Übertragung des Buchtitels ein Herzensanliegen war. Eva Moldenhauer erlebt diese Neuausgabe nicht mehr, sie starb im April 2019. Wir bedanken uns für ihre Großzügigkeit und für die Genauigkeit ihrer Übersetzung. Entsprechend wurden am Text nur kleinere Änderungen vorgenommen, die sich weitge­ hend in der Korrektur von Druckfehlern und der Aktualisierung von Lite­ raturangaben erschöpfen. Auf den folgenden Seiten wollen wir einerseits einige Kernargumente des Buchs rekonstruieren und für eine heutige Lek­ türe erschließen; andererseits den Text aber auch einer Einordnung und Historisierung unterziehen, die es zum Abschluss möglich macht, seine Aktualität zu skizzieren.

Die Wahrnehmung der »WildenAmerika entdeckt< worden war, beschrieb Kolumbus ein� Erfahrung, die er bei einer Begeg­ nungmit den Einwohnern der Karibikgemacht hatte: »Ich sah, wie einer von ihnen, den die anderen >Kazike< nannten und den ich für den Gouverneur der Provinz hielt, ein handgroßes Goldblatt in Händen hielt und so tat, als wolle er es gegen etwas anderes austauschen.>Die Menschen«, so schreibt Clastres, >>arbeiten immer nur unter Zwang mehr, als ihre Bedürfnisse erfordern.«17 Das Fehlen eines solchen Zwangs macht er nun zum Grundmerkmal >primi­ tiver GesellschaftenEhre unsere Gleich­ heit!< zusammenzufassen. Doch es ist genau diese differenzierte Beschrei­ bung der »Folter« , wie Clastres offen eingesteht, die Lefort aufhorchen lässt und die ihn zu einer weitreichenden Infragestellung von Clastres' Interpretation dieser Szene veranlasst: Zunächst entdeckt Lefort, dass es sich in den Passagen zum Initiationsritus um diejenigen Abschnitte in

Staatsfeinde handelt, in der ein für das politische Denken Europas zentrales Wort in den Vordergrund tritt: das Gesetz. 49 Es ist ein Gesetz - zwar ein Gesetz der Gleichheit, aber nichtsdestotrotz ein Gesetz -, das den Jugend­ lichen beim Initiationsritus auf blutige Weise in ihren Körper geschrieben wird, sodass sie es nie vergessen können. Während für Clastres gerade diese nichtlöschbare Einschreibung in den Körper - als eine Markierung und als Narbe - eine autonome Existenz des Gesetzes, seine Verselbstständigung zu einer äußeren Macht verhin­ dert, wie sie die »historischen« Gesellschaften auszeichne, besteht Lefort in einer dichten Interpretation darauf, dass die Einschreibung bereits eine

46 47 48 49

Clastres, »Über Folter in primitiven Gesellschaften«, in diesem Band S. 140. Clastres, •Über Folter in primitiven Gesellschaften>Unglück des wilden Kriegers«, in: ders., Archäologie der Gewalt, Zürich u. Berlin 2008, S. 33-81 und 93-123. 58 Jürg Helbling, Trihaie Kriege. Konflikte in Gesellschaften ohne Zentralgewalt, Frankfurt a. M. 2006.

Ethnologe gegen den Staat

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Tod ihn dort ereilt.59 Auch wenn es zunächst paradox erscheint, so kann Clastres doch zeigen, dass die indigenen Gesellschaften zugleich kriegeri­ sche Gesellschaften, aber auch >>Gesellschaften gegen den Krieger>Der primitive Krieg ist die Arbeit einer Logik der Fliehkraft, eine Logik der Trennung, die von Zeit zu Zeit im bewaffneten Konflikt am deutlichsten ihren Ausdruck fmdet.«64 Der Clou dieser Interpre­

tation ist nun für Viveiros de Castro, dass die Möglichkeit des Krieges, statt die indigene Gesellschaft in sich selbst zu schließen, diese überhaupt erst der Vielfalt öffnet. Paradigmatisch formuliert er: >>the enemy dies to secure the persistence of the multiple, the logic of separation.«65 Der Krieg zwischen den Gemeinschaften etabliert die einzelne Gemeinschaft also zugle ich als ungeteilte, wie er die indigene Gesellschaft insgesamt als eine Vielfältige

etabliert, als einen, mit Clastres gesprochen , Prozess der Multiplikation des Multiplen. >>The will to non-division that Clastres sawin the primitive socius«

schreibt Viveiros de Castro deshalb, >>becomes an impulse to the absolute 62

Eduardo Viveiros de Castro, >>lntroductionArchäologie der

Gewalt«, S. 62.

64 Clastres, »Archäologie der Gewalt«, S. 77· 65

Viveiros de Castro, »Introduction>Des Indiens contes avec amour«, Le Monde, 24. 11. 1972. 7 1 Viveiros de Castro, •lntroduction«, S. 34· 72 Gilles Deleuze u. Felix Guattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie JI, Berlin 1992. s. 489 ff

.•

528, 595·

192 Nachwort

der Krieg hält die Zersplitterung und Segmentarität der Gruppen aufrecht, und der Krieger ist mit der Anhäufung seiner Heldentaten beschäftigt, was zu

Einsamkeit und Tod führt und ihm zwar Prestige, aber keine Macht

verleiht.73 In zwei wichtigen Aspekten gehen allerdings zunächst Deleuze und Guattari und später Eduardo Viveiros de eastro über elastres' Analyse hinaus. Zunächst entledigen sich Deleuze und Guattari der allzu statischen Gegen­ überstellung von >Gesellschaften mit< und >Gesellschaften ohne< Staat, die bei elastres durchaus noch in der zeitlichen Abfolge befangen bleiben, die sich auch in James C. Scotts Rede von den »neolithic survivors« ausdrückt. Viel eher gehen Deleuze und Guattari von einer ursprünglichen Koexistenz der beiden Vergesellschaftungsformen aus. Wir müssen also zugeben, daß es immer einen ziemlich perfekten und vollständig ausgebildeten Staat gegeben hat. [...] Wir können uns kaum primitive Gesellschaften vorstellen, die nicht an der Peripherie oder in unzureichend kontrollierten Gebieten mit imperialen Staaten Kontakt gehabt hätten. Aber wichtiger ist die umgekehrte Hypothese: der Staat selber hat immer in Beziehung zu einem Außen gestanden, er ist ohne diese Beziehung nicht denkbar.74 Eine konzeptuelle Dreiteilung erlaubt, diese Gleichzeitigkeit zu denken: Primitive Segmentarität, die Staatsapparate und die Kriegsmaschine; alle drei sind gleichzeitig am Werk, sodass auch die gegenwärtigen Gesell­ schaften mit ihrer primitiven, »molekularen Infrastruktur« in Verbindung bleiben und sie dauernd aktualisieren. Den Vorzug dieser Auflösung der elastressehen Gegenüberstellung formuliert Viveiros de eastro dabei so: »With this, the exhaustive and mutually exclusive dichotomy between the two macro-types of society (>with< and >against< the State) gets diversifi.ed and complexified.«75 Viveiros de Castro nimmt schließlich den Anthropozentrismus der elastressehen Konzeption in den Blick, den er mit Leforts Interpreta: tion von elastres' Gesellschaften gegen den Staat als ein dem politischen Humanismus verschriebenes Projekt noch verstärkt sieht: »The soci­ ety against the State is a human-only project; politics is an affair that is

73 Deleuze u. Guattari, Tausend Plateaus, S. 490. 74 Deleuze u. Guattari, Tausend Plateaus, S. 493 f. 75 Viveiros de

Castro, »lntroduction•, S . 37·

Ethnologe gegen den Staat

193

strictly intra-specific.Wilden< wird zu einer Philosophie des Vielen: »Die Logik der primitiven Gesellschaft ist also eine Logik der Fliehkräfte, eine Logik des Multiplen. Die Wilden wollen eine Vervielfältigung des Multiplen.«82 Wie aber steht es um die Ungeteiltheit der indigenen Gemeinschaft?

Clastres selbst nimmt hier immer wieder eine Einschränkung vor: »I n der primitiven Gesellschaft gibt es denn auch keinerlei Arbeitsteilung, bis auf 76 Viveiros de Castro, »Introduction•, S. 44· 77 Viveiros de Castro, »Introduction•, S. 44· 78 Auf deutsch zuletzt erschienen: Eduardo Viveiros de Castro, Kannibalische Metaphysik; ders., Die Unbeständigkeit der wilden Seele, Wien u. Berlin 2016 sowie gemeinsam mit Deborah Danowski, In welcher Weltleben? Ein Versuch aber die Angst vor dem Ende, Berlin 2019. 79 Eduardo Vivciros de Castro, »Perspektivismus und Naturalismus im indigenen Amerika«, in: ders., Die Unbesändigkeit t der wilde nSeele, Wien u. Berlin 2016, S . 258-305, hier S . 261. So Eduardo Viveiros de Castro, »Perspektivismus und Naturalismus im indigenen Amerika«, S. 288. Der Aufsatz diskutiert auch das verwandte Konzept des Animismus, wie es Philippe Descola erneut verstärkt ins Spiel gebracht hat und fragt, n i wiefern der Vorwurf berechtigt ist, dass der Multinaturalismus in Konsequenz selbst einen Anthropozentrismus reproduziere.

81 Viveiros de Castro, »Perspektivismus und Naturalismus«, S. 45· 82 Clastres, •Archäologie der Gewalt«, S. n.

194

Nachwort

die, welche durch den Geschlechtsunterschied bedingt ist.«83 So wie eine strikte Gleichheit die indigene Gesellschaft durchwirkt, beherrscht sie eine ebenso strikte Trennung zwischen den Geschlechtern. In Staatsfeinde ist der Form dieser Teilung bei den nomadisch lebenden Gemeinschaften der Guayaki das Kapitel >>Der Bogen und der Korb« gewidmet. Gerade die Bei­ spiele, die diese Ordnung durchkreuzen, stellen ihre Rigidität aus: Wäh­ rend derjenige, der vollständig die Rolle der Frau einnimmt, fortan in der Gemeinschaft als Frau leben darf, wird derjenige, der weder die Kritierien der einen Rolle erfüllt noch die der anderen, lächerlich gemacht, er hat keinen Ort mehr in der Gemeinschaft.84 Bei der Frage der Heiratspolitik spricht Clastres generalisierend von »Frauentausch«. Er ordnet die Frauen so in das >Universum der Kommunikation< ein. Sie sind darin keine Akteu­ rinnen, sondern Objekte einer männlichen Reziprozität - oder schlicht Kriegsbeute. Darin, dass der Häuptling als einziges Privileg die Polygamie praktizieren darf, haben die Frauen in diesen Gemeinschaften die Funk­ tion von Statusmarkierungen, zwar erhalten sie dadurch selbst höheres Prestige, aber eben auch eine Verantwortung für die materielle und symbo­ lische Ökonomie der Gemeinschaft. So verfällt Clastres an diesem Punkt, wie Rüdiger Haude schreibt, einer >>androzentristischen Perspektivematrilineare und matrilokale Gesellschaften durch­ aus bekanntKlassenkampf< einer­ seits, und von >Struktur< andererseits und immer von dem Staat oder der Politik die Rede war. Insofern kann eine erneute Lektüre Clastres' heute wieder den Blick für die konkreten Institutionen und ihre Mechanismen schärfen, die eine bestimmte Gesellschaft bestimmen. In jüngerer Zeit hat Danilo Scholz den Versuch unternommen, die französische Philosophie­ geschichte der Nachkriegszeit im Bezug auf die Frage des Staates zu unter­ suchen.103 Dabei spielt Clastres' Denken, seine Auseinandersetzungen mit den Marxisten seiner Zeit, aber auch die Aufnahme dieses Denkens durch Deleuze und Guattari eine entscheidende Rolle für Scholz' Argument. Auch ein Buch wie Guillaume Silbertine-Blancs State and Politics. DeZeuze and

Guattari on Marx (2016) setzt einer enthistorisierten und verallgemeinem­ den Lesart der französischen politischen Philosophie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Denken der Politik entgegen - und vermerkt des­ halb wiederholt die Rolle, die Clastres für die Herausbildung dieses Den­ kens bei Deleuze und Guattari gespielt hat. Eine direkte Spur, die der Import Clastres' in der bundesdeutschen politischen Theorie hinterlassen hat, findet sich zum Beispiel in Hermann Arnborns 2016 erschienenem Buch Das Recht als Hort der Anarchie. 104 Grund­ legend ist der Versuch des empirischen Nachweises und der theoretischen Erarbeitung des Konzepts »herrschaftsfreier Institutionen« durch Rüdiger Haude und Thomas Wagner, die bereits 1999 ein gleichnamiges Buch vorge­ legt haben.105 Zentral sind dafür neben der Inspiration durch Clastres die 102 Michel Foucault, »Gespräch mit Michel Foucault«,

in: ders., Dits et Ecrits. Band 111,

1976-1979, Frankfurt a. M. 2003. S. 186-213, hier S. 202. 103 Scholz, L'Etat en debat dans Ia pensee franfaise, S.

299-486.

104 Hermann Ambom, Das Recht alsHort der Anarchie. Gesellschaften ohne Herrschaft und

Staat, Berlin 2016. 105 Haude u. Wagner, Herrschaftsfreie Institutionen.

202

Nachwort

Arbeiten der Ethnologen Fritz Kramer und Christian Sigrist zu segmentä­ ren Gesellschaften und regulierter Anarchie.106 Haude und Wagner entwik­ keln, auch in Absetzung von Clastres, 107 ein differenziertes begriffliches Instrumentarium, das ihnen nicht nur die Beschreibung historischer und gegenwärtiger herrschaftsfreier Gesellschaften erlaubt, sondern es ihnen auch ermöglicht, präzis e zwischen diesen Gesellschaften zu unterscheiden. Ihr wichtiger Einsatzpunkt bleibt dabei, dem Vorurteil gegenüber dem Anarchismus als >>Chaos« einerseits und dem Vorwurf gegenüber >>regulier­ ter Anarchie« als herrschaftsförmig die Möglichkeit und Denkbarkeit einer dauerhaften Stabilität anarchistischer Gemeinwesen auf Grundlage herr­ schaftsfreier Institutionen entgegenzuhalten. Es ist sicherlich einerseits die starke Polemik gegen den Marxismus und die aus der Enttäuschung über sein Scheitern gespeiste Sehnsucht nach einer neuen, anderen Erzählung, die zunächst auch Clastres' Rezeption in Deutschland steuerte.

Societe contre l'Etat erscheint bereits 1976 in der

Übersetzung von Eva Moldenhauer in der renommierten Wissenschafts­ reihe »Theorieden Anderen< gesetzten Hoffnungen, der Normierung durch eurozentrische, koloniale oder staatliche Kategorien zu entgehen, findet in den Feiern einer indigenen Alterität innerhalb einer ontologischen Wende der Geistes- und Sozialwissenschaftler ihre Fortsetzung. »Primitive society is the conceptual embodiment of the thesis that another world is possible«, schreibt der bereits diskutierte und derzeit viel rezipierte Eduardo Viveiros de Castro über Clastres' Forschung.114 So wertvoll diese Perspektivumkeh­ rungen sind, so sehr laufen sie doch Gefahr, die indigenen Gruppen in ihrer durch den Kolonialismus und Neokolonialismus bedingten Verwobenheit mit den ökonomischen und politischen Herrschaftssystemen zu verken­

nen.115 Ein solches Denken droht zudem leichtfertig Komplizenschaft ein­ zugehen mit dem alles durchdringenden Verwertungsimperativ des neoli­ beralen Kapitalismus, in dem auch Indigenität, Andersheit oder Ursprüng­ lichkeit zur Marke und zur Ware werden können.116 Dieses Problem kann heute vielleicht vor allem durch eine ethnologische Forschung in den Blick 113 114 115

Clastres, •Tausch undMacht«, in dies em Band S. 26. Viveiros de Castro, •lntroduction•, S. 15. Am Ende ihres politischen Manifests In welcher Weltleben? (Berlin 2019) schreiben die

Philosophin Deborah Danowski und Eduardo Viveiros de Castro deshalb: »[V]ielleicht ist es,

historisch gesehen, unmöglich, wieder Indio zu werden. Ein lokales und globales, besonderes und aUgemeines Indio-Werden ist hingegen absolut möglich - und geschieht ja auch tatsächlich

[. ..] .

..

(S. 152)

116 Lucas Bessire, »The Rise of Jndigenous Hypermarginality. Native Culture as a Neoliberal Form of Life«,

CurrentAnthropology 55, Nr. 3, 2014, S. 276-295.

Ethnologe gegen den Staat

205

genommen werden, die die vielfältigen Überschneidungen, Verschränkun­ gen und Widersprüchlichkeiten indigener Gesellschaften mit ihren Umwel­ ten befragt. Gegen aktuelle Wiederaufführungen des »edlen Wilden« oder

Scotts »neolithic survivors« ,117 lässt sich deshalb mit dem Anthropologen Lucas Bessire, der zwischen 2001 und 2016 Feldforschung in der Gran Chaco Region von Bolivien und Paraguay betrieben hat, fragen: »What pos­ sibilities for political anthropology emerge not from fantasies of a radical primitive alterity but from the ethnography of the fractured and desiring subjectivities of the ex-primitive?«118 Auch seine eigene ethnographische Studie

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Behold the black caiman (2014)

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zu einer zuvor isoliert lebenden

Gruppe vonAyoreo und deren prekärer Existenz außerhalb des Waldlandes, aus dem sie vertrieben wurden, sowie die Herausforderungen, die sie für eine Ethnologie auf der Suche nach dem Unberührten oder Authentischen darstellen, trägt ein Epitaph von Clastres. Die Ethnologie bleibt beides, Ort der Entdeckung des Anderen und damit der De-Zentrierung wie zugleich auch Ort der Re-Zentrierung des Eigenen und seiner Reproduktion.119 Wenn uns aber vor allem Clastres' minutiöse Darstellung des enormen Auf­ wands, den die indigenen Gesellschaften des Amazonasbeckens in ihrem Kampf gegen den Staat betrieben, etwas lehren kann, dann doch vielleicht, dass der Staat eben nicht-notwendig ist, seine Verhinderung aber nicht von selbst geschieht, sondern komplexer Mechanismen bedarf. Sie geben weiterhin zu denken. Andreas Gehrlach und Morten Paul

117

Zur komplizierten Wissens- und Wissenschaftsgeschichte der Figur des »edlen Wilden