Evolution öffentlicher Aufgaben und Ökonomische Theorie des Institutionellen Wandels [1 ed.] 9783428489176, 9783428089178

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Evolution öffentlicher Aufgaben und Ökonomische Theorie des Institutionellen Wandels [1 ed.]
 9783428489176, 9783428089178

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MARTIN ROSENFELD

Evolution öffentlicher Aufgaben und Ökonomische Theorie des Institutionellen Wandels

Volkswirtschaftliche Schriften Begründet von Prof. Dr. Dr. h. c. J. Broermann t

Heft 466

Evolution öffentlicher Aufgaben und Ökonomische Theorie des Institutionellen Wandels

Von

Martin Rosenfeld

Duncker & Humblot • Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Rosenfeld, Martin:

Evolution öffentlicher Ausgaben und ökonomische Theorie des Institutionellen Wandels I von Martin Rosenfeld. Berlin : Duncker und Humblot, 1996 (Volkswirtschaftliche Schriften ; H. 466) Zugl.: Hamburg, Univ., Habil.-Schr., 1994 ISBN 3-428-08917-0 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten

© 1996 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0505-9372 ISBN 3-428-08917-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

9

Vorwort

Die Entscheidung über den Umfang sowie die Organisation der lJffentlichen AujgabenerjUllung ist in jeder Volkswirtschaft stets von erheblicher Bedeutung für die Höhe, Struktur und Verteilung der Wirtschaftsleistung. In der Finanzwissenschaft fehlt es aber bis heute noch immer an einer geschlossenen positiven ökonomischen Theorie, mit welcher erklärt werden könnte, aufgrund von welchen Faktoren es in bestimmten Volkswirtschaften zu bestimmten Zeitpunkten jeweils zu ganz bestimmten Ausprägungen der Staatstätigkeit gekommen ist.

Die vorliegende Arbeit versucht, zur Entwicklung einer solchen allgemeinen Theorie der Entstehung und Veränderung - der "Evolution" - öffentlicher Aufgaben beizutragen, und zwar mit Hilfe einer versuchsweisen Anwendung des noch jungen Konzepts der "Okonomischen Theorie des Institutionellen Wandels" - der evolutionstheoretischen Variante der "Neuen Institutionen-Ökonomik" - auf zwei besonders aufflillige Strukturveränderungen der Staatstätigkeit in Deutschland: (1.) die gleichsam schlagartige Einführung der "Offentlichen Arbeitsvermittlung" als einer neuen kommunalen Aufgabe in den 1890er Jahren sowie (2.) die totale Abkopplung der Öffentlichen Arbeitsvermittlung von den Kommunen und ihre Überführung in eine zentral staatlich gestaltete "parajiskaZische" Organisationsform in den 1920er Jahren. Die vorliegende Arbeit wurde am 14. Dezember 1994 vom Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Universität Hamburg als Habilitationsschrift angenommen. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft und ihren Fachgutachtern danke ich für die Zubilligung eines Habilitandenstipendiums, das mir den Abschluß meiner Untersuchungen erlaubte. Für ihre Bereitschaft, als Gutachter bzw. Vorsitzender im Rahmen des für mich eingesetzten Habilitationsausschusses tätig zu werden, danke ich Gunther Engelhardt, Christian Scheer, Horst Todt und Manfred Holler; mein Dank gilt auch den übrigen Mitgliedern des Habilitationsausschusses, Willi Küpper, Heinz Rieter und Lothar Streitferdt. Horst Todt danke ich auch für die Gelegenheit, die Konzeption und erste Ergebnisse meiner Arbeit im Rahmen seines wirtschaftstheoretischen Oberseminars zur Diskussion zu stellen. Christi an Scheer danke ich für seinen fachlich-

6

Vorwort

kompetenten Rat; auf seine hilfreiche Unterstützung konnte ich stets vertrauen. Meinem langjährigen Chef am Institut filr Finanzwissenschaft der Universität Hamburg, Gunther Engelhardt, danke ich filr seine zahlreichen kritischen Inputs zur konzeptionellen Gestaltung meiner Untersuchung. Schließlich, aber gewiß nicht zuletzt, trug Karin Reese in vielerlei Hinsicht zum Gelingen meiner Arbeit bei; ihr danke ich ganz besonders herzlich, und ihr ist diese Arbeit gewidmet.

Hamburg-Winterhude und MeiSen, im Dezember 1995

Martin Rosen/eid

Inhaltsübersicht Einleitung

Erster Teil

Theoretlsc:he Grundlagen und Elngrenzung des Erldirungsgegenstandes

21

37

1. Überblick über die "Ökonomische Theorie des Institutionellen Wandels" ("önw") und das verwendete Begriffs-Instrumentarium ...................................

37

2. Entwurf eines Analyserasters für die Erklärung realer Institutionen-Änderungen

62

3. Eingrenzung des Erklärungsgegenstandes ............................................................

74

Zweiter Teil

Positive Erldirungen am Beispiel der ElnfIlbrung und paraftBkalllchen Organisation der ÖlrentUchen Arbeitsvermittlung In Deutschland 4. Die Kommunalisierung der Arbeitsvermittlung . ..... .............. ..... ........ ........ ...... ....

89 89

5. Der Übergang zur paraflSkalischen Organisation ................................................. 184

Dritter Teil

Ergebnisse und Schlußfolgerungen

316

6. Gesamtwürdigung der Detailergebnisse ............. ........... ... ............. ... ........ ..... ....... 317 7. Perspektiven für eine allgemeine Theorie der Evolution öffentlicher Aufgabenerftlllung ................................................................................................................ 334

Literatur- und QueUenverzelcbnls

343

Anhang

373

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

21

ErSlerTeü Theoretische Grundlagen und Eingrenzung des Erklärungsgegenstandes

37

1. Überblick über die "Ökonomische Theorie des Institutionellen Wandels" ("ÖTIW") und das verwendete Begriffs-Instrumentarium ...................................

37

1.1. Angebot und Nachfrage auf dem "Institutionen-Markt" .............................

43

1.1.1.

Ein einfaches Basis-Modell des "Institutionen-Marktes" ........

45

1.1.1.1.

Überzeugungstransaktionen ... ... ..... ... ... ..... ..... ... ..... ... ..... ... ... ....

46

1.1.1.2.

Entgelttransaktionen ... ... ... .......... ... ..... ... ..... ... ..... ... ... ..... ... .......

48

1.1.2.

Erste Erweiterung des Modells ... ... ..... ... ..... ... ........ ... ..... ... ....... 51

1.1.3.

Zweite Erweiterung des Modells ......................................... ....

52

1.2. Das Kalkül der Änderungs- und Bewahrungsagenten ............................... 53 1.3. Die Entstehung von Änderungs- und Bewahrungsanreizen ....................... 57 1.3.1.

Veränderungen der Änderungskosten ...................................... 59

1.3.2.

Veränderungen der Status-quo-Kosten (-Nutzen) ...................

61

2. Entwurf eines Analyserasters für die Erklärung realer Institutionen-Änderungen

62

2.1. Analyseschritt 1: Eingrenzung der relevanten Akteure ..............................

66

2.2. Analyseschritt 2: Erklärung des "Änderungs-lBewahrungs-Anreizes" ......

69

2.2.1.

Ermittlung der relevanten Vorläufer-Institutionen ..................

69

2.2.2.

Erkundung der allgemeinen Nutzenvorstellungen der relevanten Akteure .. ..... ... ... ..... ... ..... ........ ... ..... ... ..... ... ..... ... ..... ... ... .......

71

Inhaltsverzeichnis

10 2.2.3.

Rekonstruktion der Status-quo-Kosten (-Nutzen) und der Veränderungen dieser Größen sowie Ermittlung der Ursachen von Status-quo-Kosten (-Nutzen)-Veränderungen .................. 72

2.2.4.

Rekonstruktion und Erklärung von Veränderungen in den erwarteten Änderungs-lBewahrungs-Kosten ..............................

73

2.3. Analyseschritte 3 und 4: Erklllrung des Änderungs-lBewahrungs-Kalküls sowie der Nachfragebefriedigung ............................................................... 73 3. Eingrenzung des Erklärungsgegenstandes ............................................................ 74 3.1. "Ordnungs-" versus "Leistungsaufgaben" als Teilmengen der öffentlichen Aufgabenerfüllung ....... ................................... ..... ..... ... ..... ........... .......

75

3.2. Der exemplarisch untersuchte Teilbereich der Leistungsaufgaben: Die "Öffentliche Arbeitsvermittlung" ("ÖAV") in Deutschland und ihre beiden zentralen Evolutionsschübe ........ ... ............. ... ..... ........ ................ ..........

79

Zweiter Teil

Positive Erklärungen am Beispiel der Einführung und paraftskaUschen Organisation der ÖlI'entUchen Arbeitsvermittlung In Deutschland

89

4. Die Kommunalisierung der Arbeitsvermittlung ................................. ........ ... .......

89

4.1. Vorläufer-Institutionen ........................................................ ..... ........ ... .......

91

4.1.1.

Die "Umschau" als Form der individuellen Selbstsuche nach Arbeit (-skräften) .....................................................................

94

4.1.2.

Die "Arbeitsmakler" als gewerbsmlßige Anbieter von Arbeitsvermittlungsleistungen ...................... .......... ... ........ ..... .....

96

4.1.3.

Arbeitgebemachweise .............................................................. 102

4.1.4.

Gewerkschaftsnachweise ....................................................... ,. lCY7

4.1.5.

Die "Vereinsnachweise " als Vermittlungseinrichtungen "gemeinnütziger" Vereinigungen ............................. ... ... .......... ..... 110

4.1.6.

Armenverwaltungs-Vermittlung .............................................. 114

4.2. Der Erklllrungsbedarf .................................................................................. 115

Inhaltsverzeichnis

11

4.3. Die Nachfrage einzelner Akteure nach Institutionen-Änderungen und die Befriedigung der Nachfrage ........................................................................ 121 4.3.1.

Die Stadtverwaltung .... ........ ... ..... ... ..... ... ..... ... ..... ... ........ ... ....... 123

4.3.1.1.

Allgemeine Nutzenvorstellungen ... ... ................ ..... ... ... ..... ... .... 123

4.3.1.2.

Änderungs-lBewahrungs-Anreize .. .......................................... 124

4.3.1.2.1.

Kosten und Nutzen der Umschau ............................................ 125

4.3.1.2.2.

Kosten und Nutzen der Arbeitsmalder ..................................... 132

4.3.1.2.3.

Kosten und Nutzen der Arbeitgebernachweise ........................ 134

4.3.1.2.4.

Kosten und Nutzen der Gewerkschaftsnachweise ................... 135

4.3.1.2.5.

Kosten und Nutzen der Vereinsnachweise und der Armenverwaltungs-Vermittlung .............................................................. 136

4.3.1.3.

Änderungs-lBewahrungs-Kalkül ............................................. 137

4.3.1.3.1.

Erste Phase ............................................................................... 139

4.3.1.3.2.

Zweite Phase ............................................................................ 149

4.3.1.3.3.

Zusammenfassung .................................................................... 149

4.3.1.4.

Transaktionen auf dem "Institutionen-Markt" zur Befriedigung der Nachfrage .................................................................. 150

4.3.2.

Die Gewerkschaften ................................................................. 153

4.3.2.1.

Allgemeine Nutzenvorstellungen ............................................. 153

4.3.2.2.

Änderungs-lBewahrungs-Anreize ............................................ 154

4.3.2.2.1.

Kosten und Nutzen der Umschau ............................................ 154

4.3.2.2.2.

Kosten und Nutzen der Arbeitsmalder ..................................... 157

4.3.2.2.3.

Kosten und Nutzen der Arbeitgebernachweise ........................ 158

4.3.2.2.4.

Kosten und Nutzen der Gewerkschaftsnachweise ................... 160

4.3.2.2.5.

Kosten und Nutzen der Vereinsnachweise und der Armenverwaltungs-Vermittlung .............................................................. 162

4.3.2.3.

Änderungs-lBewahrungs-Kalkül ............................................. 163

4.3.2.3.1.

Erste Phase ............................................................................... 164

Inhaltsverzeichnis

12

4.3.2.3.2. Zweite Phase ..................................................... ....................... 168 4.3.2.3.3.

Dritte Phase .............................................................................. 168

4.3.2.4.

Transaktionen auf dem "Institutionen-Markt" zur Befriedigung der Nachfrage ..... ... ... .......... ......... ............. ..... ... ... ..... ....... 169

4.3.3.

Die Arbeitgeberverbände .. ..... ... ..... ... ..... ... ................ ... ............ 169

4.3.3.1.

Allgemeine Nutzenvorstellungen ............................................. 170

4.3.3.2.

Änderungs-lBewahrungs-Anreize ........................................... 171

4.3.3.2.1.

Kosten und Nutzen der Umschau ............................................ 171

4.3.3.2.2.

Kosten und Nutzen der Arbeitsmakler ..................................... 173

4.3.3.2.3.

Kosten und Nutzen der Arbeitgebernachweise ........................ 173

4.3.3.2.4.

Kosten und Nutzen der Gewerkschaftsnachweise ................... 177

4.3.3.2.5.

Kosten und Nutzen der Vereinsnachweise und der Armenverwaltungs-Vermittlung ...... ...... ..... ... ..... ... ..... ... ..... ........ ... ..... ..... 177

4.3.3.3.

Änderungs-lBewahrungs-Ka1kü1 ............................................. 177

4.3.3.3.1. Erste Phase ............................................................................... 178 4.3.3.3.2. Zweite Phase ............................................................................ 182 4.3.3.3.3.

Dritte Phase .............................................................................. 182

4.3.3.4.

Transaktionen auf dem "Institutionen-Markt" zur Befriedigung der Nachfrage ................................................................... 183

5. Der Übergang zur paraflSkalischen Organisation ................................................. 184 5.1. Vorläufer-Institutionen ............................................................................... 185 5.1.1.

Nicht-öffentliche Vermittlungs-Institutionen .......................... 187

5.1.2.

Institutionen der ÖAV .............................................................. 189

5.2. Der Erklärungsbedarf ...................................................... ............................ 194

Inhaltsverzeichnis

13

5.3. Die Nachfrage einzelner Akteure nach Institutionen-Änderungen und die Befriedigung der Nachfrage ........................................................................ 204 5.3.1.

Die Reichsregierung ................................................................. 206

5.3.1.1.

Allgemeine Nutzenvorstellungen ............................................. 206

5.3.1.2.

Änderungs-lBewabrungs-Anreize ............................................ 208

5.3.1.3.

Änderungs-lBewabrungs-Kalkül ............................................. 219

5.3.1.3.1. Erste Phase ............................................................................... 224 5.3.1.3.2. Zweite Phase ............................................................................ 228 5.3.1.3.3. Dritte Phase .............................................................................. 231 5.3.1.4.

Transaktionen auf dem "Institutionen-Markt" zur Befriedigung der Nachfrage .................................................................. 233

5.3.1.4.1. Erste Phase ............................................................................... 233 5.3.1.4.2. Zweite Phase ............................................................................ 234 5.3.1.4.3. Dritte Phase .............................................................................. 234 5.3.2.

Die Gewerkschaften ................................................................. 236

5.3.2.1.

Allgemeine Nutzenvorstellungen ............................................ 237

5.3.2.2.

Änderungs-lBewabrungs-Anreize ............................................ 238

5.3.2.3.

Änderungs-lBewabrungs-Kalkül ............................................. 242

5.3.2.3.1. Erste Phase ............................................................................... 245 5.3.2.3.2. Zweite Phase ............................................................................ 245 5.3.2.3.3.

Dritte Phase .............................................................................. 246

5.3.2.4.

Transaktionen auf dem "Institutionen-Markt" zur Befriedigung der Nachfrage .................................................................. 253

5.3.3.

Die Arbeitgeberverbände ......................................................... 255

5.3.3.1.

Allgemeine Nutzenvorstellungen ............................................. 255

5.3.3.2.

Änderungs-lBewabrungs-Anreize ............................................ 256

Inhaltsverzeichnis

14 5.3.3.3.

Änderungs-lBewahrungs-Kalkül ............................................. 260

5.3.3.3.1.

Erste Phase ............................................................................... 264

5.3.3.3.2.

Zweite Phase ............................................................................ 264

5.3.3.3.3.

Dritte Phase .............................................................................. 265

5.3.3.3.4.

Vierte Phase ............................................................................. 267

5.3.3.4.

Transaktionen auf dem "Institutionen-Markt" zur Befriedigung der Nachfrage .................................................................. 270

5.3.4.

Kommunale Spitzenverbände (KSV) ...................................... 271

5.3.4.1.

Allgemeine Nutzenvorstellungen ............................................. 272

5.3.4.2.

Änderungs-lBewahrungs-Anreize ............................................ 273

5.3.4.3.

Änderungs-lBewahrungs-Kalkül ............................................. 275

5.3.4.3.1.

Erste Phase ............................................................................... 277

5.3.4.3.2.

Zweite Phase ............................................................................ 277

5.3.4.3.3.

Dritte Phase .............................................................................. 277

5.3.4.4.

Transaktionen auf dem "Institutionen-Markt" zur Befriedigung der Nachfrage ........................................................... ....... 279

5.3.5.

Die Entscheidungsagenten ....................................................... 281

5.3.5.1.

SPD-Fraktion ........................................................................... 284

5.3.5.1.1.

Allgemeine Nutzenvorstellungen ............................................. 285

5.3.5.1.2.

Änderungs-lBewahrungs-Anreize ............................................ 287

5.3.5.1.3.

Änderungs-lBewahrungs-Kalkül ............................................. 288

5.3.5.1.4.

Transaktionen auf dem "Institutionen-Markt" zur Befriedigung der Nachfrage .................................................................. 295

5.3.5.2.

Bürgerliche Fraktionen ............................................................ 297

5.3.5.2.1.

Allgemeine Nutzenvorstellungen ............................................. 298

5.3.5.2.2.

Änderungs-lBewahrungs-Anreize ............................................ 300

5.3.5.2.3.

Änderungs-lBewahrungs-Kalkül ............................................. 303

Inhaltsverzeichnis

15

5.3.5.2.4. Transaktionen auf dem "Institutionen-Markt" zur Befriedigung der Nachfrage ..... ........ ... ..... ........... ... ........ ..... ... ... ............ 314

Dritter Teil

Ergebnisse und Schlußfolgerungen

316

6. Gesamtwllrdigung der Detailergebnisse ... ..... ..... ................ ... ..... ... ... ..... ... ..... ....... 317 6.1. Determinanten ftlr die Änderung des Aufgabenbestandes ... ... ..... ... ..... ... .... 317 6.1.1.

Änderungsanreize .................................................................... 317

6.1.2.

Änderungskalkül ...................................................................... 320

6.1.3.

Nachfragebefriedigung ............................................................ 322

6.2. Determinanten ftlr die Entstehung der Aufgabenorganisation .................... 323 6.2.1.

Output-Regeln .......................................................................... 323

6.2.2.

Ausführungs-Regeln ................... ............................................. 323

6.2.2.1.

Verwaltungs ausschüsse ............................................................ 323

6.2.2.2.

Drittelparität ............................................................................. 324

6.2.2.3.

Organisatorische Verknüpfung der ÖAV mit der ELF ............ 325

6.2.2.4.

Reichsanstalt ............................................................................. 326

6.2.2.4.1. Änderungsanreize .................................................................... 326 6.2.2.4.2. Änderungskalkül ...................................................................... 328 6.2.2.4.3.

Nachfragebefriedigung ............................................................ 330

6.2.3.

Finanzierungs-Regeln .............................................................. 331

6.2.3.1.

Unentgeltlichkeit ...................................................................... 331

6.2.3.2.

Beitragsfmanzierung ................................................................ 331

6.2.3.2.1.

Änderungsanreize .................................................................... 331

6.2.3.2.2.

Änderungskalkül ...................................................................... 332

6.2.3.2.3.

Nachfragebefriedigung ............................................................ 333

Inhaltsverzeichnis

16

6.2.3.3.

Ausschließliche Beitragsfinanzierung ..................................... 333

6.2.3.4.

Räumliche Einheitlichkeit der Beitragsätze ............................. 334

7. Perspektiven für eine allgemeine Theorie der Evolution öffentlicher Aufgabenerfüllung ... ... ..... ........ ..... ... ... ..... ... ..... ... ..... ... ..... ... ... .......... ... ..... ... ... ... ..... ... ..... ....... 334

Llteratur- und QueUenverzeichnls

343

Anhang

373

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

Abb.l:

Die Grundzusammenhänge der Ökonomischen Theorie des Institutionellen Wandels (ÖTIW) .................................. 42

Abb.2:

Synoptische Darstellung des vorgeschlagenen Analyserasters zur Erklärung einer Institutionen-Änderung IÄn* .......

64

Abb.3:

Der Standort der ÖAV im System der öffentlichen Aufgaben ........................................................................................

80

Die Evolution der wichtigsten Institutionen der deutschen ÖAV im Überblick ...............................................................

84

Abb.4: Abb.5:

Die wichtigsten Institutionen der Arbeitsvermittlung, Stand ca. 1890 (in Deutschland) .. .................................................. 93

Abb.6:

Die wichtigsten Institutionen der Arbeitsvermittlung, Stand Mitte der 1890er Jahre (in den "Pionier-Städten") ............... 116

Abb.7:

Die wichtigsten Institutionen der Arbeitsvermittlung nach dem ANG von 1922 (in Deutschland) .... ........... ..... ... ... ....... 186

Abb.8:

Die wichtigsten Institutionen der Arbeitsvermittlung, Stand 1923/24 (in Deutschland) ................... .................................. 195

Abb.9:

Die wichtigsten Institutionen der Arbeitsvermittlung nach dem AV AVG von 1927 (in Deutschland) ............................ 199

Tab. 1:

Die Zahl der "Gesindevermieter" in Dresden, 1838-1895 ...

Tab. 2:

Die Sitzverteilung im Reichstag, 1922-28 ........................... 283

Tab. 3:

Die Entwicklung der Anteile der verschiedenen Vermittlungs-Einrichtungen an der Arbeitsvermittlung im Deutschen Reich insgesamt (in %) ........................................ ...... 374

2 Rosenfeld

96

Abkürzungsverzeichnis

AA

Arbeitsamt/-ämter

Abb.

Abbildung

Abs.

Absatz

AER

American Economic Review

AFG

Arbeitsförderungsgesetz

AG

(Zeitschrift) Der Arbeitgeber

ALV

Arbeitslosenversicherung

amtl.

amtlich

ANG

Arbeitsnachweisgesetz

AVAVG

Arbeitsvermittlungs- und Arbeitslosenversicberungsgesetz

BA

Bundesanstalt fUr Arbeit

BGBI.

Bundesgesetzblatt

BI.

Blatt

BVP

Bayerische Volkspartei

Cbl.

Correspondenzblatt der Generalcommission der Gewerkschaften Deutschlands

c. p.

ceteris paribus

DAGZ

Die Deutsche Arbeitgeberzeitung

D.C.

District of Columbia

DDP

Deutsche Demokratische Partei

DGB

Deutscher Gewerkschafts-Bund

DHV

Deutschnationaler Handlungsgehilfenverband

DHW

Deutsche Handels-Wacht (Zeitschrift des DHV)

Abkürzungsverzeichnis

19

DllIT

Deutscher Industrie- und Handelstag

DNVP

Deutschnationale Volkspartei

DST

(Zeitschrift) Der Städtetag (bzw. vor Jg. 21 [1927): "Mitteilungen des Deutschen Städtetages"; vor Bd. 8 [1921): "Mitteilungen der Zentralstelle des Deutschen Städtetages")

DVP

Deutsche Volkspartei

ELF

ErwerbslosenfUrsorge

FA

(Zeitschrift) Finanzarcbiv

GewZ

Gewerkschaftszeitung (des ADGB; Nachfolgeorgan des "Cbl.")

H.

Heft

HdF

Handbuch der Finanzwissenschaft

HdKWP

Handbuch der Kommunalen Wissenschaft und Praxis

HdST

Handwörterbuch der Staatswissenschaften

HdSW

Handwörterbuch der Sozialwissenschaften

HdWW

Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaften

I

Institution

IÄn

Institutionen-Änderung

Jb.1 Jbb.

Jahrbuch I Jahrbücher

Jbb. f. NÖ u. Stat

Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik

Jb. f. NPÖ

Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie

JEL

Journal of Economic Literature

Jg.

Jahrgang

JITE

Journal of Institutional and Theoretical Economics (= Z. f. d. g. Staatsw.)

JLE

Journal of Law and Economics

JPE

Journal of Public Economics

KPD

Kommunistische Partei Deutschlands

KSV

Kommunale Spitzenverbände

LAA

Landesarbeitsamtl-ämter



20

AbkUrzungsverzeicbnis

N.C.

North Carolina

NF

Neue Folge

NIÖ

Neue Institutionen-Ökonomik

NÖNG

Nicht-öffentlich, Nicht-gewerbsmäßig

NSDAP

Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei

N.Y.

NewYork

ÖAN

Öffentlicher Arbeitsnachweis/Öffentliche Arbeitsnachweise

ÖAV

Öffentliche Arbeitsvermittlung

ÖTIW

Ökonomische Theorie des Institutionellen Wandels

o.VA

ohne Angabe des Vornamens

PVS

Politische Vierteljahresschrift

QJE

Quarterly Journal of Economics

RABl.

Reichsarbeitsblatt

RAVAV

Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung

RGBl.

Reichsgesetzblatt

RM

Reichsmark

RWR

Reichswirtschaftsrat

SP

(Zeitschrift) Soziale Praxis

SPD

Sozialdemokratische Partei Deutschlands

VDA

Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände

VO

Verordnung

VSWG

Vierteljahrsschrift fUr Sozial- und Wirtschaftsgeschichte

WiSt

(Zeitschrift) Wirtschaftswissenschaftliches Studium

ZBl.

Zentralblatt der Christlichen Gewerkschaften Deutschlands

zm

Zeitschrift für Betriebswirtschaft

Z. f. d. g. Staatsw.

Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft (= HTE)

ZWS

Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften

"Schuhwerk braucht die soziale Gemeinschaft auch, deshalb ist die Schuhfabrikation noch lange nicht notwendig eine öffentliche Angelegenheit, obgleich sie es sein kann. Oberhaupt gibt es nichts, was nicht 'öffentliche' oder 'staatliche' Angelegenheit sein kann, wenn der Staat einmal da ist, und nichts, was in den Kreis des 'Öffentlichen' oder 'Staatlichen' fallen muß in dem Sinn, daß wir andernfalls nicht von einem Staat sprechen könnten." 1 Joseph A. Schumpeter

Economic institutions are always means and never ends. Rarely does any mode of organization dominate another in all relevant performance respects. Choice among alternative modes ... always involves tradeoffs: Improvements in one or more performance measures are realized only at the sacrifice of others.,,2 Oliver E. Williamson

Einleitung

Seit den achtziger Jahren scheint sich in nahezu allen westlichen Volkswirtschaften ein bedeutsamer Stimmungsumschwung anzubahnen: Der moderne "Wohlfahrtsstaat" und seine vielfältigen Aufgabenbereiche werden seither immer heftiger kritisiert und teilweise sogar grundsätzlich in Frage gestellt. Dabei wird von manchen Kritikern vor allem der negative Einfluß einzelner Bereiche und Regelungen der öffentlichen Aufgabenerfiillung auf die Wirtschaftslei1 Joseph A. Schumpeter, Die Krise des Steuerstaats, in: Zeitfragen aus dem Gebiet der Soziologie, J$. 1918, Heft 4, S. 3-74, hier: S. 11; wieder abgedruckt in: tiers., Aufsätze zur SOZiologie, hrsg. von Brich Schneider und Arthur Spiethoff, Tübingen 1953, S. 1-71, hier: S. 9; erneut abgedruckt in: ders . ..und Rudoif Goldscheid, Die Finanzkrise des Steuerstaats - Beiträge zur politischen Okonomie der Staatsfmanzen, hrsg. von RudolfHickel, Frankfurt a. M. 1976, S. 329-379, hier: S. 335. 2 Oliver E. WiUiamson, The Economic Institutions of Capitalism, New York und London 1985 (im folgenden zitiert als "Williamson, Economic Institutions"), S. 408.

22

Einleitung

stung hervorgehoben 3. In besonderem Maße wird kritisiert, daß die heutigen "wohlfahrtsstaatlichen" Leistungen und die Regelungen der Leistungserbringung vielfach den Willen der Bürger zur Selbsthilfe untergraben würden. 4 Gegenstand der Kritik sind weiterhin die mit verschiedenen Elementen des vorhandenenen Systems der öffentlichen Aufgabenerfüllung programmierte Dynamik der öffentlichen Ausgaben,S der ein heute kaum noch elastisches Instrumentarium der öffentlichen Einnahmenbeschaffung gegenüber steht, sowie das heute bereits erreichte hohe Niveau der staatlichen Zwangsabgaben, die vorn privaten Sektor aufzubringen sind. Zahlreiche Ökonomen und Politiker sind deshalb dafür eingetreten, den Bestand an öffentlichen Aufgaben und Regelungen zur Organisation der Aufga3 Vgl. hierzu z. B. Willi Alben, Grenzen des Wohlfahrtsstaates, in: Soziale Probleme der modemen Industriegesellschaft, hrsg. von Bernhard KUlp und Heinz-Dieter Haas, Berlin 1977, S. 935-960; Wolfram Engels, Eine konstruktive Kritik des Wohlfahrtsstaates, Tübingen 1979; Walter Hamm, Gefahren des Wohlfahrtsstaates aus ökonomischer Sicht, in: Wirtschaftsentwicklung und soziale Sicherheit; Interdisziplinäre Fachtagung am 18. und 19. Juni 1982 an der Philipps-Universität Marburg, Köln etc. 1983, S. 27-44; Wolfram Engels u. a. ("Kronberger Xreis"), Das soziale Netz reißt - Vorschläge zur Rettung des Systems der sozialen Sicherheit, Bad Homburg v. d. H. 1988; Wilhelm Adamy UM Johannes StejJen, Finanzierungsprobleme des Sozialstaats in der Beschäftigungskrise, Regensburg 1990, speziell S. 33-46; Heinz Lampert und Albrecht Bossert, Sozialstaat Deutschland, Mtlnchen 1992, speziell S. 101-128; Weniger Staat - Mehr Markt: Wege aus der Krise, hrsg. von Norbert Walter, München 1993. 4 In diesem Zusammenhang werden im einzelnen genannt das Übermaß und die ständig weitere Zunahme von gesetzlichen Reglementierungen (auch als "Verrechtlichung" bezeichnet; zu diesem Begriff vgl. z. B. Heinz Lampert, Sozialpolitik, Berlin, Heidelberg und New York 1980 [im folgenden zitiert als "Lampert, Sozialpolitik'1, S. 178 u. 487) fast jedes Lebensbereiches und die hierdurch bedingte "Fesselung" und "Entmündigung" der Bürger (vgl. hierzu z. B. die kritische Darstellung im Sammelband Verwaltete Bürger - Gesellschaft in Fesseln: Bürokratie und ihre Folgen für Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, hrsg. von Heiner Geißler, Frankfurt a. M., Berlin und Wien 1978); die "Rentiersmentalität" (vgl. zu diesem Begriff etwa Wolfram Fischer, Wirtschaftliche Bedingungen und Faktoren bei der Entstehung und Entwicklung von Sozialversicherung, in: Bedingungen für die Entstehung und Entwicklung von Sozialversicherung, hrsg. von Hans F. Zacher, Berlin 1979, S. 91-102, hier: S. 98; Kurt Naujeck, Die Anfänge des sozialen Netzes, 1945-1952, Bielefeld 1984, hier: S. 1), d. h. der von den staatlichen Sozialprogrammen initiierte Wunsch vieler Menschen nach Freizeit zulasten von ihrer Erwerbstätigkeit; die "Lähmung der Eigenverantwortlichkeit" (vgl. hierzu z. B. Wirifried SchmlJhl, Sozialausgaben, in: HdWW, hrsg. von Willi Albers u. a., Bd. 6, Stuttgart etc. 1981, S. 562-603, hier: S. 601; Kurt Naujeck, S. I) aufgrund der fehlenden Honorierung der Selbstinitiative durch die staatlichen Sozialprogramme; das "Anspruchsdenken" (vgl. z. B. Wirifried Schmiihl, S. 601) sowie die sog. "Einholungsmentalität" , d. h. das Bestreben der durch die staatlichen Ab.gaben immer höher belasteten Bürger, ihre Lasten durch einen möglichst hohen Konsum staatlicher Leistungen zu kompensieren (vgl. zu diesem Zusammenhang z. B. Heim Lampert, Sozialpolitik, S. 489). 5 Zur Konkretisierung möglicher Folgewirkungen, die von verschiedenen staatlichen Aufgaben-Strukturen (z. T. im Zusammenspiel mit veränderten ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen) ausgehen und in anderen Bereichen der öffentlichen Aufgabenerfüllung zu einer "Ausgabenexplosion" führen, vgl. etwa die Darstellung bei Vif Fink, Die neue Kultur des Helfens - Nicht Abbau, sondern Umbau des Sozialstaats, München 1990, S. 23-31.

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benerfüllung ab-, zumindest aber umzubauen 6; Vorschläge zur "Deregulierung", "Entstaatlichung", "Privatisierung", "Modernisierung" oder "Neu-Erfindung" der öffentlichen Aufgabenerfüllung erleben heute dementsprechend eine Hochkonjunktur wie nur selten zuvor. 7 In der aktuellen finanzpolitischen wie -wissenschaftlichen Diskussion wird vor diesem Hintergrund vor allem die normative Frage erörtert, wie die heutigen Aufgaben und Regelungen ihrer Erfüllung sowie verschiedene bereits vorliegende Programme zum "Umbau des Wohlfahrtsstaates" zu beurteilen sind, und ob ggf. "bessere" Alternativvorschläge zu diesen Programmen entwickelt werden können. Nicht weniger relevant erscheint eine Beantwortung der Frage nach der wahrscheinlichen zukUnftigen Entwicklung der öffentlichen Aufgabenerfüllung, nach der "Zukunft des Wohlfahrtsstaates". Es fehlt der Finanzwissenschaft aber bis heute noch immer an einer - über eine Reihe von Einzelhypothesen hinausreichenden - allgemeinen positiven Theorie der lang-

fristigen Entwicklung lJlfentlicher versus nicht-lJffentlicher Modi der LeistungsBereitstellung, 8 die für eine Prognose der Zukunftsentwicklung der öffentlichen Leistungen zwingend benötigt würde.

Für die Konstruktion einer derartigen Theorie erscheint es erforderlich, zunächst ein theoretisches Instrumentarium zu entwickeln, mit dem sich der vergangene Prozeß der Entstehung und Entwicklung - oder: der "Evolution"9 staatlicher Aufgabenerfüllung - der bisherige "Weg zum Wohlfahrtsstaat"l0positiv erklären läßt. Im einzelnen wäre zu klären: Weshalb wurden bestimmte Aufgaben dem Staat übertragen? Warum hat sich dabei jeweils eine bestimmte Organisation der Aufgabenerfüllung herausgebildet? Weshalb zeigt die Entwicklung der öffentlichen Aufgabenerfilllung im internationalen Vergleich z. T. deutliche Konvergenzen, gibt es aber andererseits "nationale Sonderwege"? Inwieweit waren dabei "Vorgaben" auf6 Die Forderun~ nach "Nicht Abbau, sondern Umbau des Sozialstaats" fmdet sich beispielsweise explizit im Untertitel der oben bereits zitierten Schrift von Ulf Fink. 7 Exemplarisch sei hier nur verwiesen auf die folgenden Schriften: Aufbruch zu mehr Marktwirtschaft! Die Arbeitsgemeinschaft SelbstIIndiger Unternehmer ("ASU") fordert eine Deregulierungs-Offensive, Bonn 1989; JUrgen B. Donges, Deregulierung am Arbeitsmarkt und Beschäftigung, TUbingen 1992; Weniger Staat - Mehr Markt: Wege aus der Krise, hrsg. von Norbert Walter, München 1993; David Osbome und Ted Gabler, Reinventing Government - How the Entrepreneurial Spirit is Transforming the Public Sector, New York 1992. 8 Zum Stand der theoretischen Diskussion vgl. unten, Seite 25-29. 9 Zur allgemeinen Definition des Begriffs der Evolution sei hier exemplarisch nur verwiesen auf Karl Heinz Hülmann und Ganter Hartfiel, Wörterbuch der Soziologie, 3. Aufl., Stuttgart 1982, S. 189. 10 So der Titel einer Schrift von Karl-Heinrich Hansmeyer, Der Weg zum Wohlfahrtsstaat - Wandlungen der Staats tätigkeit im Spiegel der Finanzpolitik unseres Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1957.

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grund der frtiheren Festlegung bestimmter "nationaler Entwicklungspfade" wirksam, welche die Auswahl bestimmter Modi der Aufgabenerfüllung "determinierten"? . Mit der vorliegenden Arbeit soll versucht werden, einen Beitrag zur Beantwortung dieser Fragen zu leisten. Diese Hinwendung zur positiven Analyse bedeutet zwar, daß zunächst darauf verzichtet werden muß, Lösungsvorschläge für einen "guten" Umbau des "Wohlfahrtsstaates" liefern zu können; immerhin läßt sich aber auch mit Hilfe der positiven Analyse insoweit zur aktuellen Reformdiskussion beitragen, als durch die Aufdeckung der maßgeblichen Faktoren für den Trend zu den heute so heftig kritisierten wohlfahrts staatlich-kollektiven Versorgungs-Arrangements zumindest verständlich wird, weshalb die Entscheidungsträger frtiherer Perioden die Kreation eines - aus heutiger Sicht - derartig "mißratenen" öffentlichen Leistungsangebots überhaupt befürworten konnten. Und durch die Ermittlung jener Faktoren, die in früheren Perioden zur Herausbildung der heutigen öffentlichen Aufgaben beigetragen haben, heute hingegen nicht mehr wirksam sind, lassen sich Aussagen darüber treffen. welche zukünftigen Veränderungen der öffentlichen Aufgabenerfilllung besonders plausibel erscheinen. Die positive Analyse der Evolution öffentlicher Aufgabenerfüllung erscheint derzeit auch deshalb als ganz besonders aktuell. weil die Volkswirtschaftslehre in den letzten Jahren generell darum bemüht ist. die Rolle von gesellschaftlichen Institutionen aller Art - nicht zuletzt: die diversen Regelungen der öffentlichen Aufgabenerfüllung _11 für die wirtschaftliche Entwicklung - wieder stärker zu beachten. Diese Bemühungen haben dazu beigetragen. daß im Rahmen der noch jungen "Neuen Institutionen-Okonomik" ("NIO")12 auch neuartige Erklärungsansätze einer "Okonomischen Theorie des institutionellen Wandels" ("OTIW") 13 entstanden sind. Diese - nicht zuletzt in den Arbeiten des Ökonomie-Nobelpreisträgers Douglass C. North entwickelten - Ansätze gehen den Fragen nach, welche Bedingungskonstellationen in der Vergangenheit zur Entstehung und Veränderung von Institutionen geführt haben und welche Auswirkungen veränderte Insti11 Näheres zur Einordnung der öffentlichen Aufgaben in die Gesamtmenge aller Institutionen vgl. unten. Unterabschnitt 3.1. 12 Zu ausführlichen Literaturangaben zur NIÖ vgl. unten. Abschnitt 1. 13 Zu näheren Erläuterungen und ausführlichen Literaturangaben zur ÖTIW vgl. unten. Abschnitt 1. Zur Erörterung der Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen einer p'ositiven Theoriebildun~ mit Hilfe normativer Verhaltensannahmen. wie dies ~~n der OTIW versuc4~ wird. sei verwiesen auf Gunther Engelhardt. Imperialismus der Okonomie? in: Die Okonomisierung der Sozialwissenschaften. hrsg. von Hans-Bernd Schäfer und Klaus Wehrt. Frankfurt a. M. und New York 1989. S. 19-49. hier: S. 38-42.

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tutionen auf die Dynamik des ökonomischen und gesellschaftlichen Handeins und die langfristigen Wachstumsprozesse ausüben konnten.

Es läßt sich erwarten, daß gerade mit Hilfe dieser neuartigen Ansätze auch zur Verbesserung der im folgenden Unterabschnitt skizzierten bisherigen positiven ökonomischen Analyse der Entwicklung der öffentlichen Aufgabenerfüllung beigetragen werden kann: Spätestens14 seitdem Adolph Wagner (1835-1917) sein inzwischen berühmtes sog. "Gesetz der wachsenden Ausdehnung der öffentlichen und speciell der StaatsthilJigkeiten "15 formuliert hatte, ist zwar von der Finanzwissenschaft immer wieder versucht worden, die reale Evolution der Staatstätigkeit - und insbesondere ihre relative Zunalune im Vergleich zur privaten Wirtschaftstätigkeit - zu beschreiben und positiv zu erklären 16. Dabei wurde jedoch der 14 Zu Vorläufern von Wagner, die vergleichbare Tendenzaussagen formulierten, vgl. Martin Heilmann, Adolph Wagner - Ein deutscher Nationalökonom im Urteil der Zeit, Frankfurt a. M...und New York 1980, S. 52 f.; Rainer Fellmeht, Staatsaufgaben im Spiegel politischer Okonomie, München 1981 (Diss., Bremen 1980), S. 274-276. 15 Adolph Wagner, Grundlegung der politischen Ökonomie, 3. Aufl., Erster Theil, 2. Halbband, Leipzig 1893 (im folgenden zitiert als "Wagner, Grundlegung"), S. 892-915. Eine vergleichbare Darstellung gibt Wagner vor allem auch in seinem Artikel "Staat in nationalökonomischer Hinsicht", in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, hrsg. von Johannes Conrad u. a., 3. Aufl., Bd. 7, Jena 1911, S. 727-739 (im folgenden zitiert als "Wagner, Staat"), hier: S. 734-736. 16 Als heute fast schon "klassische" Beiträge zum "Wagnersehen Gesetz" (schwerpunktmäßig zur Entwicklung in Deutschland) können gelten: Jens Jessen, Das "Gesetz der wachsenden Ausdehnung des Finanzbedarfs ", in: Schmollers Jahrbuch, Jg. 67 (1943), S. 539-558; Karl-Heinrich Hansmeyer; Konrad Littmann, Zunehmende Staatstätigkeit und wirtschaftliche Entwicklung, Köln und Opladen 1957 (Habilitationsschrift, Münster o. J.); Alan T. Peacock und Jack Wiseman, The Growth of Public Expenditures in the United Kingdom, Princeton und London 1961; Herbert Timm, Das Gesetz der wachsenden Staatsausgaben, in: FA, NF, Bd. 21 (1961), S. 201-247; Suphan Andic und Jindrich Veverka, The Growth of Govemment Expenditure in Germany since the Unification, in: FA, NF, Bd. 23 (1963/64), S. 169-278. Als weitere wichtige Beiträge zur Diskussion sind zu nenn: Kurt Schmidt, Zu einigen Theorien über die relative Ausdehnung der öffentlichen Aus~aben, in: FA, NF, Bd. 24 (1965), S. 193-208 (im folgenden zitiert als "Schmldt, Theorien"); ders., Entwicklungstendenzen der öffentlichen Ausgaben im demokratischen Gruppenstaat, in: FA, NF, Bd. 25 (1966), S. 213-241; Otto Weitzel, Die Entwicklung der Staatsausgaben in Deutschland, Diss., ErlangenINürnberg 1967; Horst Claus Recktenwald, Staatsausgaben in säkularer Sicht, in: Theorie und Praxis des frnanzpolitischen Interventionismus, hrs~. von Heinz Haller, Tiibingen 1970, S. 407-430; Wemer W. Pommerehne, Determmanten öffentlicher Ausgaben - Ein einfaches politisch-ökonomisches Modell, in: Schweizerische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik, Bd. 110 (1974), S. 455-491; Christian Scheer, Sozialstaat und öffentliche Finanzen, Köln 1975 (Diss., Bonn); Konrad Littmann und Berend Krager, Definition und Entwicklung der Staatsquote, Göttingen 1975; Kurt Schmidt, Zur politischen Reaktion auf Nachfragewogen in der Staatswirtschaft, in: FA, NF, Bd. 33 (1974175), S. 30-44; Thomas E. Boreherding, The Sources of Growth of Public Expenditures in the Uni ted States, 1902-1970, in: Budgets and Bureaucrats: The Sources of Government Growth, hrsg. von Thomas E. Boreherding, Durham, N.C., 1977, S. 4570; James M. Buchanan, Why does Govemment Grow?, in: Budgets and Bureaucrats The Sources of Government Growth, hrsg. vqp Thomas E. Boreherding, Durham, N.C., 1977, S. 3-18; Konrad Littmann, Ausgaben, Offentliehe 11: Die "Gesetze" ihrer langfri-

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Umfang der Staatstätigkeit ganz überwiegend mit den öffentlichen Ausgaben identifiziert l7 ; die jeder Entscheidung über die Höhe der öffentlichen Ausgaben vorgelagerten und diese Ausgabenhöhe maßgeblich bestimmenden Entscheidungen über - den Umfang und die Art der vom Staat angebotenen Güter und Dienste (Entscheidung über das "Ob" der öffentlichen Aufgabenerfüllung bzw. Festlegung des Aufgabenbestandes und der "richtigen Combination" des "privat-", des "gemeinwirtschaftlichen" und des "caritativen Systems" [Wagner] 18) sowie - die Organisation des öffentlichen Güter- und Dienstleistungsangebotes (Entscheidung über das "Wie" der öffentlichen Aufgabenerfüllung, bzw. Festlegung der AufgabenerjUllungs-Organisation), denen Wagner einen großen Teil seiner Erörterungen gewidmet hatte, 19 wurden in den späteren ökonomischen Arbeiten zum "Wagnerschen Gesetz" demgegenüber zumeist als "Datenkranz"-Vorgaben aufgefaßt und weitgehend aus der Analyse ausgeklammert. 20 stigen Entwicklung, in: HdWW, hrsg. von Willi Albers u. a., Bd. I, Stuttgart etc. 1977, S. 349-363 (im folgenden zitiert als "üttmann, Gesetze''); Horst Claus Recktenwald, Umfang und Struktur der öffentlichen Ausgaben in säkularer Entwicklung, in: HdF, 3. Aufl., hrsg. von Fritz Neumark, Bd. I, Tübingen 1977, S. 713-752; Egon Malmer, W. Blaas und Wilfried SchönbClck, Die Entwicklung des Staatsanteils - Eine funktionsanalytische Betrachtung, in: Staat und Wirtschaft, hrsg. von Christian Carl von Weizsäcker, Berlin 1979, S. 505-527; Wilfried SchönbClck, Subjektive Unsicherheit als Gegenstand staatlicher Intervention, Frankfurt a. M. 1980; Malthias SchiJrgers, Staatsausgaben und politisches System, Thun und Frankfurt a. M. 1980 (Diss., Hamburg 1979); Douglass C. North und John Joseph Wollis, American Government Expenditures: A Historical Perspective, in; AER, Bd. 72 (1981), Papers and Proceedings, S. 336-340; Benedikt Fehr, Erklärungsansätze zur Entwicklung der Staatsausgaben, Freiburg i. Br. 1984 (Diss., Freiburg i. Br. 1984); Thomas E. Boreherding, The Causes of Government Expenditure Growth: A Survey of the U.S. Evidence, in: JPE, Bd. 28 (1985), S. 359-382; Douglass C. North, The Growth of Government in the United States: An Economic Historian's Perspective, in: JPE, Bd. 28 (1985), S. 383-399 (im folgenden zitiert als "North, Growth ''). Für eine zusammenfassende Darstellung der neueren - vorwiegend angelsächsischen - Diskussion sei verwiesen auf Dennis C. Mueller, Public Choice n, Cambridge etc. 1989, S. 322-347. 17 Zu dieser Feststellung vgl. - speziell in bezug auf die von ihm sog. "faktoranalytischen" Arbeiten zum "Wagnersehen Gesetz" - auch Benedi/a Fehr, S. 32. 18 Adolph Wagner, Grundlegung, S. 900. 19 Vgl. Adolph Wagner, Grundlegung, S. 900-906 (zur "richtigen" Staatsabgrenzung und allgemein zur Übernahme von privat- und freigemeinwirtschaftlichen Tätigkeiten durch den Staat sowie speziell zur Verstaatlichung von Verkehrsanstalten ); S. 909-915 (zu Veränderungen in der Art der Durchführung der Staatszwecke i. S. der Tendenz von der "Reaktion" und "Repression" zur "Prävention"). 20 Nur vereinzelt und zumeist beiläufig, ohne Integration in die Analyse, fmden sich in der vorliegenden Literatur zum "Wagnerschen Gesetz" überhaupt explizite Aussagen über die öffentlichen Aufgaben. So verwies z. B. Jens Jessen, S. 170, auf die "Verstaatlichung des Bildungswesens in England". Karl-Heinrich Hansmeyer, S. 107, führte die "Autobahnen" als n~ue öffentliche Aufgabe an. Herbert Timm, S. 236, erwähnte den

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Insbesondere Konrad Littmann hat darauf hingewiesen, daß mit einer Vernachlässigung der in der Vergangenheit erfolgten "Institutional Choice"21 i. S. der skizzierten Entscheidungen über öffentliche Aufgaben jede Erklärung der "zunehmenden Staatstätigkeit" zu kurz greifen muß;22 Ausgaben haben stets Aufgaben und jeweils spezifische organisatorische Regelungen zu deren Erfüllung (= vor allem mit Gesetzen, Verordnungen, Satzungen oder Venrllgenjest-

gelegte Handlungsrechte bzw. -pflichten der einzelnen (jffentlichen Verbllnde und ihrer Sub-Einheiten) zur Voraussetzung 23 . Stets dürften somit die Installie-

Fall der "Verstaatlichung d~s Eisenbahnwesens". Kurt Schmidt, Theorien, S. 204, schrieb pauschal von der "Übernahme" von neuen Aufgaben durch den Staat. Egon Matzner, W. Blaas und Wilfried SchönblIck untersuchten zwar explizit die Entstehung neuer öffentlicher Aufgaben (im Bereich der Sozialpolitik), "erklärten" diese aber mit Hilfe der normativen Theorie des Marktversagens; sie versuchten, die Aufgabenübernahme als "ökonomisch rational" und "zwingend" zu begründen. Speziell für die Organisation der öffentlichen Aufgabenerfüllung mit Hilfe von "Parafisci" wird im Rahmen der allgemeinen Erörterung der "hilfsfiskalischen Gebilde" auch auf die Frage nach den Ursachen für die Einführung dieser Organisationsformen "zwischen Staat und Markt" eingegangen, so speziell in den Werken von Fritz Karl Mann, Die intermediäre.n Finanzgewalten und ihr Einfluß auf Deutschlands fmanzielle Belastung, in: Jbb. f. NÖ u. Stat., Bd. 129 [3. Folge, Bd. 74] (1928), S. 219-237 (im folgenden zitiert als "Mann, Finanz~ewalten"); ders., Deutsche Finanzwirtschaft, Jena 1929 (im folgenden zitiert als 'Mann, Finanzwirtschaft"); ders., Die Staatswirtschaft unserer Zeit, Jena 1930 (im folgenden zitiert als "Mann, Staatswirtschaft"); Walther Hernnann, Intermediäre Finanzgewalten - Eine Analyse deutscher hilfsfiskalischer Gebilde im ersten Jahrzehnt nach der Stabilisierung, Jena 1936. 21 Zu dem vor allem in den Arbeiten von Karl-Emst Schenk verwendeten Begriff "Institutional Choice" sei exemplarisch ver:wiesen auf Karl-Emst Schenk, Institutional Choice und Ordnungstheorie, in: Jb. f. NPÖ, Bd. 2 (1983), S. 70-85, hier: S. 70; ders., Vergleichende Länderstudien, in: Vergleichende System- und Industriestudien - Ein "Institutional-Choi.ce~"Ansatz, hrsg. von Karl-Ernst Schenk, Stuttgart und New York 1983, S. 21-106, hIer. S. 24, S. 26 f. 22 V t:l. Konrad Littmann, Problemstellung und Methoden der heutigen Finanzwissenschaft, m: HdF, 3. Aufl., hrsg. von Fritz Neumark, Bd. I, Tübingen 1977, S. 99-120, hier: S. 113: "Die wichtige Vorfrage, warum der Staat in gewissen Funktionsbereichen überhaupt aktiv ist, warum etwa Universitäten - vorwiegend - öffentliche und warum sie keine ~rivaten Organisationen sind, stellt sich in dem Zusammenhang nicht, sie wird auch mcht zusätzlich aufgeworfen ... Eine umfassende Beantwortung der Frage nach den Bestimmungsgründen öffentlicher Ausgaben ist von ihnen (d. h. den vorliegenden Analysen zum 'Wagnerschen Gesetz', MR) keinesfalls zu erwarten." In die gleiche Richtung geht auch Littmanns Kritik an der bislang unzureichenden positiven Analyse der "Institutional Choice" zwischen verschiedenen Kategorien staatlicher Maßnahmen, in: Konrad Littmann, Gesetze, S. 357. 23 In Analogie hierzu kommen Zentralisierungstendenzen in den öffentlichen Ausgaben - ein Anstieg der "Zentralitlitsquote" - nur dann zustande, wenn zuvor eine bestimmte (Veränderung der) Verteilung von verschiedenen Kompetenzarten durchgesetzt wurde. V gl. hierzu ausführlich Martin Rosen/eld, Ausgabeneffekte kommunaler Funktionalreformen - Zum Problem der Operationalisierung und empirischen Überprüfung des Popitzschen "Gesetzes von der Anziehungskraft des Uber~eordneten Etats", Baden-Baden 1985 (Diss., Hamburg 1983) (im folt:enden zitiert als 'Rosel!feld, Ausgabeneffekte''), vor allem S. 78-83; ders., Hat dIe Dezentralisierung öffentlicher Aufgabenerfüllung eine Chance? - Ein Versuch der Integration und Erweiterung vorliegender Hypothesen zum "Popitzschen Gesetz", in: Archiv für Kommunalwissenschafu:n, Jg. 28 (1989), S. 28-44 (im folgenden zitiert als "Roser(eld, Dezentralisierung''), hier: S. 33.

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rungen neuer Aufgaben bzw. neuer Regelungen ihrer Erfüllungs-Organisation (= Veränderungen im Bestand der Handlungsrechte und -pflichten der öffentlichen Verbände) als die wesentlichen Akzeleratoren der Ausgaben und als entscheidende Bindeglieder zwischen Ausgabenveränderungen und der wirtschaftlichen Entwicklung anzusehen sein. Durch die ausschließliche Betrachtung der Ausgabenentwicklung können zudem Teile des Wandels der öffentlichen Aufgabenerfüllung - den es doch eigentlich zu beschreiben und zu erklären gilt - schlichtweg fortdefiniert werden, nämlich immer dann, wenn - die "Ausgabenintensität"24 zweier Modi - A und B - zur Erfüllung einer bestimmten öffentlichen Aufgabe völlig oder weitgehend gleich ist, und im Zeitverlauf ein Wechsel von A zu B oder vice versa stattgefunden hat, oder wenn - Ausgaben für eine Aufgabe (I) durch Ausgaben in gleicher Höhe für eine Aufgabe (ll) substituiert wurden. Des weiteren werden ohne Berücksichtigung der Zusammenhänge zwischen Aufgaben und Ausgaben alle nicht-ausgabenwirksamen Instrumente der staatlichen Aufgabenerfüllung und ihre Veränderungen aus der Erklärung ausgeblendet;25 der hohen Relevanz der "unsichtbaren", "verdeckten"26 oder "versteckten"27 (= nicht aus den staatlichen Budgets abzulesenden) staatlichen Aufgaben erfüllung für die Volkswirtschaft wird damit ebenso wenig Rechnung getragen wie den in der Vergangenheit erfolgten Substitutionsprozessen, die einen Übergang von "sichtbaren" zu "unsichtbaren" Instrumenten (oder vice versa) zum Gegenstand hatten und bei einer Beschränkung der Analyse auf den "sichtbaren" Teil der staatlichen Aufgabenerfüllung vorschnell als "Schrumpfung" (resp. "Wachstum") der Staatstätigkeit aufgefaßt werden. Hinzu kommt schließlich noch, daß ohne eine nähere Analyse des "Wie" der öffentlichen Aufgabenerfüllung in zahlreichen Fällen vermutlich auch das "Ob" 24 Zu diesem von Horst Zimmermann geprägten Begriff sei verwiesen auf Horst Zimmermann, Die Ausgabenintensität der öffentlichen AufgabenerfUllung, in: FA, NF, Bd. 32 (1973/74), S. 1-20 (im folgenden zitiert als "Zimmermann, Ausgabenintensität"); ders., Instrumente der Finanzpolitik, in: HdF, 3. Aufl., hrsg. von Fritz Neumark, Bd. I, Tübingen 1977, S. 165-192 (im folgenden zitiert als "Zimmermann, Instrumente"), hier: S. 168 f. 25 Auf die Problematik der Vernachlässigung des "verdeckten" zu~unsten des "sichtbaren" Staatsbedarfs in der Diskussion über das "Wagnersche Gesetz' wies zwar bereits Jens Jessen, S. 158 f., hin; dennoch änderte sich damit nichts an der in der finanzwissenschaftlichen Analyse üblichen Reduktion der "Staatstätigkeit" auf "Staatsausgaben", vgl. hierzu auch die resümierende Darstellung bei Benedikt Fehr, S. 32. 26 Jens Jessen, S. 158, schrieb vom "verdeckten" Staatsbedarf. 27 Zum Begriff des "versteckten" öffentlichen Bedarfs vgl. bereits Fritz Karl Mann, Finanzwirtschaft, S. 75.

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nur ganz unzureichend erklärt werden kann. Häufig dürften die relevanten Entscheidungsträger der Übernahme einer neuen öffentlichen Aufgabe (oder auch dem erhöhten Ressourceneinsatz für vorhandene Aufgaben) nur dann zugestimmt haben, wenn eine ganz bestimmte Form der Aufgaben-Organisation gewählt wurde. Es erscheint demnach dringend geboten, den bisher in der finanzwissenschaftlichen Analyse der Entwicklung der Staatstätigkeit verwendeten Erklärungsgegenstand der "Ausgaben" durch eine differenzierte Betrachtung der Evolution öffentlicher Aufgaben und ihrer Erfüllungs-Organisation zu ersetzen,28 und die ursprünglichen Überlegungen Wagners hinsichtlich der "Institutional Choice" zwischen verschiedenen Modi der Leistungs-Bereitstellung wieder zu revitalisieren. Die Handlungsrechte und -pflichten der öffentlichen Verbände und ihrer Sub-Einheiten, mit welchen Art, Umfang und Organisation der öffentlichen 28 Auch im Rahmen anderer wissenschaftlicher Disziplinen (infrage kommen hier insbesondere Geschichts-, Politik-, Rechtswissenschaft und Soziologie) fehlt es bislang an systematischen positiven Analysen der Evolution der öffentlichen Aufgabenerfüllung und ihrer Organisation. Immerhin haben einzelne Vertreter dieser Disziplinen gerade in den letzten Jahren eine Reihe interessanter - freilich weitgehend nur deskriptiver - Fallstudien zu einzelnen Bereichen und Regelungen der öffentlichen Aufgabenerfüllung vorgelegt, die für eine ökonomische Analyse der Evolution öffentlicher Aufgaben als Materialien herangezogen werden können. Zu nennen sind hier namentlich: Bedingungen für die Entstehung und Entwicklung von Sozialversicherung, hrsg. von Hans F. Zacher, Berlin 1979; Wolfgang R. Krabbe, Munizipalsozialismus und Interventionsstaat, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Jg. 30 (1979), S. 265-283 (im folgenden zitiert als "Krabbe, Munizipalsozialismus"); ders., Die Gründung städtischer Arbeiterschutzanstalten in Deutschland: Arbeitsnachweis, Arbeitslosenfürsorge, Gewerbegericht und Rechtsauskunftsstelle, in: Arbeiterexistenz im 19. Jahrhundert, hrsg. von Wemer Conze und Ulrich Engelhardt, Stuttgart 1981, S. 425-445 (im folgenden zitiert als "Krabbe, GriJndung"); Jens Alber, Vom Armenhaus zum Wohlfahrtsstaat - Analysen zur Entwicklung der Sozialversicherung in Westeuropa, Frankfurt a. M. und New York 1982; Die Entstehung des Wohlfahrtsstaates in Großbritannien und Deutschland, 18501950, hrsg. von Wolfgang J. Mommsen und Wolfgang Mock, Stuttgart 1982; Wolfgang R. Krabbe, Die Entfaltung der modemen Leistungsverwaltung in den deutschen Städten des 19. Jahrhunderts, in: Urbanisierung im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. von Hans Jürsen Teuteberg, Köln und Wien 1983, S. 373-391 (im folgenden zitiert als "Krabbe, Entfaltung ''); Gerhard A. Ritter, Sozialversicherung in Deutschland und England - Entstehung und Grundzüge im Vergleich, München 1983 (im folgenden zitiert als "Ritter, Sozialversicherung''); Wolfgang R. Krabbe, Kommunalpolitik und Industrialisierung - Die Entfaltung der städtischen Leistungsverwaltung im 19. und frühen 20. Jahrhundert: Fallstudien zu Dortmund und Münster, Berlin 1985 (Kurzfassung einer Habilitationsschrift, Dortmund 1983; im folgenden zitiert als "Krabbe, Kommunalpolitik"); Anselm Faust, Arbeitsmarktpolitik im Deutschen Kaiserreich - Arbeitsvermittlung, Arbeitsbeschaffung und Arbeitslosenunterstützung, 1890-1918, Stuttgart 1986 (im folgenden zitiert als "Faust, Arbeitsmarktpolitik 1986"); Karl Christian Fahrer, Arbeitslosigkeit und die Entstehung der Arbeitslosenversicherung in Deutschland, Berlin 1990 (Diss., Hamburg 1986); Peter Lewek, Arbeitslosigkeit und Arbeitslosenversicherung in der Weimarer Republik, 1918-1927, Stuttgart 1992 (Diss., Bochum 1989). Für die vorliegende Arbeit nicht mehr berücksichtigt werden konnte Naoki Fukuzawa, Staatliche Arbeitslosenunterstützung in der Weimarer Republik und die Entstehung der Arbeitslosenversicherung, Frankfurt a. M. etc. 1995.

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Aufgabenerfüllung geregelt werden, sind Elemente der Gesamtmenge der volkswirtschaftlichen Institutionen. Da heute mit der modernen ÖTIW neuartige theoretische Ansätze vorliegen, die sich explizit darauf richten, die Entstehung und Veränderungen von Institutionen positiv zu erklären, erscheint es naheliegend, diese Ansätze auch für die Erklärung der Evolution öffentlicher Aufgaben und ihrer Erfüllungs-Organisation anzuwenden. Die bislang vorliegenden Beiträge zur ÖTIW29 konzentrieren sich - teilweise recht pauschal - auf die Erklärung der Evolution ganzer westlicher Volkswirtschaften in Richtung auf kapitalistische Wirtschafts- und Sozialstrukturen sowie auf die Erklärung des Wandels staatlich gesetzter Eigentumsrechte an privaten Gütern und staatlicher Regulierungen der privaten Wirtschaftstätigkeit. Die Übertragung der ÖTIW auf die Entstehung und Veränderung einzelner öffentlicher Aufgaben - und vor allem der konkreten Regelungen ihrer Erfüllung - im Bereich der für die Finanzwissenschaft relevanteren, weil mit Ausgaben verbundenen, öffentlichen "Leistungsaufgaben"30 steht demgegenüber noch weitgehend aus. Dabei erscheint die Analyse der Entstehung und Veränderung von Institutionen im Bereich der öffentlichen Leistungsaufgaben nicht zuletzt deshalb besonders relevant, weil die Entstehung der Leistungsaufgaben als eines der wichtigsten Merkmale für die seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erfolgte Herausbildung der modernen "wohlfahrtsstaatlichen" Aufgabenerfüllung gelten kann. Zudem handelt es sich bei den zur Erfüllung der Leistungs-Aufgaben bereitgestellten Gütern und Dienstleistungen z. gr. T. um solche Güter und Dienstleistungen, die grundsätzlich auch von nicht-öffentlichen Anbietern bereitgestellt werden (können). Für die Erklärung des "Weges zum Wohlfahrtsstaat" erscheint es ganz besonders relevant, die Frage zu beantworten, weshalb die öffentlichen Verbände ihre Aufgabenerfüllung auch auf derartige Güter und Dienstleistungen ausgedehnt haben.

In der vorliegenden Arbeit soll den soeben angedeuteten Mliglichkeiten nachgegangen und untersucht werden, ob sich die vorliegenden AnstJJze zur OTIW so spezifizieren lassen, daß mit ihnen die Evolution liffentlicher Leistungsaufgaben und der /Ur sie vorgesehenen Regelungen der AufgabenerfUllungs-Organisation positiv erkltlrt werden kann.

29 Zu ausführlichen Literaturangaben zur ÖTIW sei hier nochmals verwiesen auf die Darstellung im Abschnitt 1. 30 Zur in dieser Arbeit vorgeschlagenen Unterscheidung zwischen vorwiegend mit Hilfe "ausgabenintensiver" Instrumente erfüllten "Leistungs aufgaben" und den vorwiegend durch "ausgabenextensive" Regelungen gekennzeichneten "Ordnungsaufgaben" vgl. unten, Unterabschnitt 3.1.

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Mit dieser Untersuchung 31 sollen gleichzeitig Beiträge zur positiven finanzwissenschaftlichen Theorie der Entwicklung öffentlicher Aktivitäten - durch Analyse der bislang vernachlässigten Prozesse der Aufgabenentstehung und der Selektion bestimmter Formen der Aufgabenerfüllungs-Organisation - und zur weiteren Spezifizierung der ÖTIW-Ansätze - durch ihre heute noch weitgehend ausstehende Übertragung auf den Bereich der öffentlichen Leistungsaufgaben sowie ihre Konkretisierung für einzelne Detailregelungen der öffentlichen Aufgabenerfüllung - geleistet werden. Für diese Zwecke erscheint es zunächst erforderlich, einen knappen Überblick über die grundlegenden Hypothesen zu geben, auf welchen die vorliegenden Beiträge zur ÖTIW basieren, und hierbei insbesondere eine Reihe von zentralen Faktoren und Zusammenhängen für die weitere Analyse begrifflich eindeutig festzulegen; dies wird im Abschnitt 1. versucht. Wie bei dieser Bestandsaufnahme der ÖTIW-Hypothesen gezeigt wird, liegt eine der Stärken dieses theoretischen Ansatzes darin, daß recht verschiedenartige Erklärungsfaktoren des institutionellen Wandels in ein einheitliches Erkll1rungsraster integriert, und daß die diversen Interdependenzen und "Evolutionsketten" zwischen den verschiedenen Erklärungsfaktoren in einen systematischen Zusammenhang gebracht werden können. Derartige Interdependenzen und Zusammenhänge sowie die daraus auf der Grundlage der ÖTIW abzuleitenden Erklärungen für reale Institutionen-Änderungen lassen sich nur unter Zuhilfenahme qualitativer empirischer Erhebungen und systematischer Erkundungen mit konkretem Inhalt füllen; diese Erhebungen und Erkundungen müssen sich an jenen Klassen von Erklärungsfaktoren ausrichten, wie sie im ÖTIW-Konzept unterschieden und im Abschnitt 1. näher erläutert werden 32. Der Ausarbeitung eines solchermaßen operationalisierenden Konzepts zur Durchführung empirischer Recherchen wurde in den vorliegenden Beiträgen zur ÖTIW bislang nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Dementsprechend vermißt man bislang auch systematische Versuche zur Anwendung der ÖTIW; 31 Hinter der soeben genannten Frage steht das allgemeinere Forschungsanliegen, die möglichen Alternativen zum Status quo der staatlichen Aufgabenerfüllung systematisch auszuloten; vom Verfasser der vorliegenden Arbeit liegen hierzu bereits die folgenden Schriften vor: Martin Rosen/eid, Ausgabeneffekte; ders., Shifts of Expenditures between Counties and Local Units in Lower Saxony as a Resu1t of Recent "Functional Reforms" , Hamburg 1984 (Diskussionsschriften aus dem Institut für Finanzwissenschaft der Universität Hamburg, Nr. 19); ders., Reallocation of Competences between Local and Higher Levels of Government as so-called "Functional Reforms": A Case of (De-) Centralization?, in: Fiscal Decentralization, hrsg. von Peter Friedrich und Paul van Rompuy, Baden-Baden 1987, S. 13-36; ders., Dezentralisierung. 32 Hierbei - und ebenso im weiteren Verlauf der Arbeit - erscheint es vielfach angebracht, wichtige Faktoren auch sprachlich hervorzuheben; für diesen Zweck werden zahlreiche Wortkomposita entgegen der sonst zumeist gebräuchlichen Schreibweise bewußt mit Bindestrichen versehen.

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die meisten Beiträge beschränken sich darauf, einzelne Institutionen-Änderungen mit Hilfe von empirischen Aussagen über ausgewählte - von der ÖTIW als besonders relevant vermuteten - Erklärungsfaktoren zu begründen, ohne die empirische Relevanz weiterer Faktoren zu ermitteln. 33 Eine vollständige Beantwortung der Frage nach der Leistungsfähigkeit des ÖTIW-Ansatzes für die Erklärung der Evolution öffentlicher Leistungsaufgaben setzt aber unbedingt voraus, daß eine möglichst differenzierte Betrachtung der diversen Einflußfaktoren erfolgt, und daß die Entscheidungsprozesse über Institutionen-Änderungen soweit wie möglich aufgeschlüsselt werden. Es erscheint deshalb erforderlich, vor Beginn der empirischen Recherchen eine eigene Operationalisierung der ÖTIW vorzunehmen und ein Analyseraster zu entwickeln, mit dem entsprechende qualitative empirische Erhebungen durchgeführt werden können; ein solches Analyseraster wird im Abschnitt 2. der vorliegenden Arbeit vorgeschlagen. Die im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit vorgestellte Anwendung des vorgeschlagenen Analyserasters versteht sich folglich auch als eine erste Erprobung dieses Operationalisierungsversuches. Aus den bisherigen Erläuterungen dürfte deutlich geworden sein, daß die angestrebte Analyse in zweierlei Hinsicht den Charakter einer "Pionier-Studie" hat: Zum einen soll mit der Anwendung des im Abschnitt 2. konzipierten Analyserasters auf die Evolution der Regelungen öffentlicher Leistungsaufgaben erstmalig eine systematische Übertragung der ÖTIW auf derartige Institutionen versucht werden; zum anderen wird dabei das Amalyseraster selbst einer ersten Erprobung unterzogen. Dieser "Pionier-Charakter" der Analyse und die soeben begründete Forderung nach einer hinreichenden "Tiefenschärfe" der Recherchen lassen es zweckmäßig erscheinen, sie vorerst nur am Beispiel eines für die eingangs skizzierte Kritik an der "wohlfahrtsstaatlichen" Aufgabenerfüllung hierzulande prototypischen Falles vorzunehmen. Der für die vorliegende Arbeit ausgewählte Bereich der "o.ffentlichen Arbeitsvermittlung" ("OAV") in Deutschland erscheint für das erstrebte Vorhaben

aus verschiedenen Gründen als besonders geeignet. Dies zunächst deshalb, weil die ÖA V - jedenfalls in der Bundesrepublik Deutschland - in den letzten Jahren verstärkt ins Zentrum der Kritik an der "wohlfahrtsstaatlichen" Aufgabenerfül33 So schrieb etwa Alexander J. Field in seiner "Review of 'Institutions, Institutional Change and Economic Performance' by Douglass C. North", in: The Journal of Economic History, Bd. 51 (1991), S. 999-1001, hier: S. 1001:" .. The empirical content of this book is (... ) ultimately so thin and anecdotal (Hervorhebung: MR) as to serve up an unslltisfying intellectual repast". Zur Kritik an der im Rahmen der ÖTIW praktizierten Überbetonung einzelner Erklärungsfaktoren (speziell der Transaktionskosten) vgl. etwa die Darstellung bei Sidney Pollard, Besprechung von "Douglass C. North, Theorie des institutionellen Wandels", in: VSWG, Bd. 76 (1989), S. 275 f., hier: S. 276. Es erscheint aber nicht gerechtfertigt, aus den - berechtig~p - Einwänden gegen das Vorgehen einzelner Autoren eine pauschale Ablehnung des OTIW-Konzepts insgesamt abzuleiten.

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lung geruckt ist. 34 Gerade in Anbetracht unserer heutigen (1995/96) MassenArbeitslosigkeit muß sich nicht zuletzt die ÖAV die Frage gefallen lassen, ob sie unter den modernen Bedingungen (noch) zur Prävention und Beendigung von Arbeitslosigkeit beitragen kann - oder etwa diese Probleme gerade noch verschärft. Ein Versagen der heute vom Zentralstaat (Bund) verantworteten ÖAV hat gerade in der gegenwärtigen Wirtschaftssituation ganz erhebliche finanzielle Konsequenzen, nicht zuletzt auch für die von den Kommunen finanzierten Sozialhilfeaufwendungen. Und als Folge der immer längeren Ausbildungszeiten werden die gesamtwirtschaftlichen Kosten einer qualitativ schlechten Arbeitsvermittlung auch unabhängig von der Lage am Arbeitsmarkt generell immer höher. Trotz aller Kritik an einzelnen Regelungen der ÖAV weist dieser Aufgabenbereich weiterhin das interessante Merkmal auf, daß die Zugehörigkeit der

OAV zum Katalog der lJffentlichen Aufgaben heute von keinem Kritiker ernst-

haft injrage gestellt wird,35 und zwar gilt dies für nahezu alle Volkswirtschaf-

34 Die Kritik richtet sich vor allem auf die - vielfach als "unzureichend" bewertete Qualität der öffentlichen Vermittlungs-Leistungen, auf das zur Zeit der Entstehung dieser Arbeit noch gültige weitgehende öffentliche "Arbeitsvermittlungs-Monopol" sowie auf die heutigen Finanzierungs-Regelungen: Als Indiz für die "unzureichende" Qual.~tät der öffentlichen Vermittlungs-Leistungen wird häufig der recht geringe Anteil der OAV an der Gesamtheit aller betrieblichen NeueinsteIlungen genannt, (vgl. etwa Frank Beilstein, Arbeitsvermittlung: Grundlagen, Monopol, Reformen, Koblenz 1988, S. 33) der 1992 nur ca. 23 % betrug (vgl. Geschäftsbericht 1992 der Bund~~anstalt für Arbeit, Nürnberg 1992, S. 28). Im einzelnen wird vor allem kritisiert, die OAV sei zu ~chwerfällig, die Stellenbesetzung durch die ÖAV nähme zu viel Zeit in AnsPIJIch, die ÖAV würde häufig nur ungeeignete und unwillige Arbeitskräfte vermitteln, die OAV sei nicht in der Lage, "individuell" zu vermitteln, und die öffentlichen Arbeitsvermittier zeichneten sich durch ein zu geringes Engagement aus. (V gl. hierzu etwa die Darstellung bei Gisela Rauschhofer, Das Arbeitsvermittlungsmonopol - Kritische Analyse des Marktes für Stellenvermittlung in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1974, S. 169; Wilhelm Eberwein und Jochen Tholen, Die öffentliche Arbeitsvermittlung als politisch-sozialer Prozeß, FranIgurt a. M. 1987, S. 17.) Weiterhin werden die heutigen Kapazitätsengpässe bei der OAV kritisiert, die zu einer nicht-problemadäquaten Betreuung von Arbeitslosen und zur "Ausdünnung" der für eine effektive Arbeitsvermittlung dringend erforderlichen Kontakte der Vermittler mit den Betrieben geführt hätten. (Vgl. Hans-Peter Klös, Reform der Arbeitsvermittlung, Köln 1991, S. 24-27.) Nicht ~~letzt aufgrund dieser Kritik wurde die Aufhebung des weitgehenden "Monopols" der OAV verlangt. V gl. zu dieser Forderung etwa Frank Beilstein, S. 43 f.; zur bis 1994 gültigen gesetzlichen Regelung des öffentlichen "Arbeitsvermittlungs-Monopols" vgl. Arbeitsförderungsgesetz vom 25. Juni 1969: BGBl. 1969, Teil I, S. 582 (Stand: Juli 1991; zuletzt geändert durch Gesetz zur Herstellung der Rechtseinheit in der gesetzlichen Renten- und Unfallversicherung vom 25. Juli 1991, BGBl. 1991, Teil I, S. 1606; im folgenden zitiert als'JtFG"), §§ 4 sowie 23 Abs. I und V; zur Aufhebung des "Arbeitsvermittlungs-Monopols" vgl. etwa Ulrich Walwei, Service für Aufsteiger, in: DIE ZEIT, Jg. 1994, Nr. 6 vqp14. Februar 1994, S. 25 (im folgenden zitiert als "Walwei, Service"). In bezug auf die OAV :finanzierung schließlich wird seit langem kritisiert, daß die heutige Finanzierung der OAV nur aus den Zwangsbeiträgel! der Arbeitgeber und -nehmer zur Arbeitslosenversicherung "systemwidrig" sei, da die OAV -Leistungen nicht nur von den Beitragszahlern ~enutzt würden (vgl. etwa Giblther Schmid, Steuerungssysteme des Arbeitsmarktes, Göttingen 1975, S. 302). 35 Dies gilt auch für die Gegner des öffentlichen "Arbeitsvermittlungs-Monopols". 3 Rosenfeld

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ten 36 . Vor 100 Jahren konnte von einer solchen allgemeinen Akzeptanz der ÖAV als einer öffentlichen Aufgabe überhaupt noch keine Rede sein. Vielmehr war die ÖAV auch nach ihrer erstmaligen Übernahme in den Katalog der öffentlichen Aufgaben gegen Mitte der 1890er Jahre noch über Jahrzehnte hinweg ein äußerst strittiger Bereich der öffentlichen Aufgabenerfüllung. 37 Und ganz besonders deutlich läßt sich für die ÖAV in Deutschland die Institutionenwahl i. S. eines mehrstufigen "Institutional-Choice-" bzw. Evolutionsprozesses - der (teilweisen) Ersetzung privater und "freigemeinwirtschaftlicher" Organisationsformen für die Bereitstellung von Gütern und Leistungen durch öffentliche Institutionen, - der Zurückdrängung und teil weisen Substitution der öffentlichen "Ordnungsaufgaben " zugunsten von bzw. durch "Leistungsaufgaben ",38 entsprechend der von Wagner prognostizierten Zunahme der "präventiven" gegenüber der "reaktiven" und "repressiven" Staatstätigkeit 39, - des Übergangs von einem dezentral-kommunalen zu einem zentral staatlichkontrollierten Arrangement der öffentlichen Aufgabenerfüllung sowie - der Auslagerung der Aufgaben-Ausführung aus dem allgemeinen Budget auf einen durch spezielle Zwangsbeiträge finanzierten "Parafiskus" verdeutlichen. 40 Diese Tendenzen können als typisch für die Entwicklung der öffentlichen Aufgaben insgesamt angesehen werden. 41 36 V gl. hierzu die Übersicht über ÖAV -Regelungen im internationalen Vergleich, unten, Unterabschnitt 3.2., Fn. 110. 37 V gl. hierzu die Übersicht über die ÖAV -Evolution, unten, Unterabschnitt 3.2. 38 Zu näheren Erläuterungen zur Abgrenzung von "Ordnungs-" und "Leistungsaufgaben" vgl. unten, Unterabschnitt 3.1. 39 Vgl.Adolph Wagner, Grundlegung, S. 908-915. 40 Zu näheren Angaben über die Evolution der deutschen ÖAV im Überblick sei nochmals verwiesen auf die Darstellung im Unterabschnitt 3.2. 41 Allgemein zur realwirtschaftlichen Tendenz einer Ersetzung privater und freigemeinwirtschaftliche Organisationsformen durch öffentliche Institutionen vgl. etwa GUnter Schmölders, Finanzpolitik, 3. Aufl., Berlin, Heidelberg und New York 1970, S. 39 und 193. Zur Tendenz der Ersetzung der öffentlichen Ordnungs- durch öffentliche Leistungs-Aufgaben v$l. insbesondere die ausführlichen Erörterungen bei Wolfgang Krabbe, Kommunalpohtik, sowie tiers., Die deutsche Stadt im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 1989 (im folgenden zitiert als "Krabbe, Stadt"), speziell S. 124. Eine zusammenfassende Erörterung der unter dem Stichwort des "Popitzschen Gesetzes von der Anziehungskraft des übergeordneten Etats" diskutierten Zentralisierun~stendenzen bietet der Artikel von Martin Rosen/eld, Dezentralisierung. Die allgememe Tendenz der Zunahme "parafiskalischer" Formen der Güterbereitstellung konstatierte bereits Fritz Karl Mann, Staatswirtschaft, S. 17-20; vgl. u. a. auch Ganter Schmlilders, S. 39. Zur besonderen Relevanz der Parafisci in der Form der Sozialversicherung~p für die Zunahme der "Staatsquote" in Deutschland vgl. etwa Horst Zimmermann, Anderungen in der

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Weiterhin griff der öffentliche Sektor mit der ÖAV erstmalig seit dem Übergang zum Regime der freien Wirtschaftsordnung explizit in den Ablauf der (Arbeits-) Marktprozesse ein;42 damit wurde die ÖAV die allererste Teilaufgabe oder "Basis-Institution" der heutigen Aufgaben der "ArbeitsmarktAusgleichspolitik" und der in Deutschland erst spät evolvierten Öffentlichen Arbeitslosenversicherung (ALV), die bis heute als zentrale Bereiche der modemen "Wohlfahrtsstaaten" gelten können. Schließlich, aber nicht zuletzt, ist jede Form der Arbeitsvermittlung darauf gerichtet, die Transaktionskosten der Akteure auf dem Arbeitsmarkt zu senken; weil die ÖTIW in besonderem Maße die Senkung von Transaktionskosten als wichtiges Motiv zur Institutionen-Änderung hervorhebt,43 erscheint der Bereich der ÖAV einer Analyse mit diesem Konzept besonders zugänglich zu sein. Über die Konzentration der Analyse auf die deutsche ÖAV hinaus erscheint es für die in der vorliegenden Arbeit angestrebte erste Erprobung des vorgeschlagenen Analyse-Rasters und für das Ziel einer hinreichend "tiefenscharfen" Analyse zweckmäßig, die Untersuchung auf die wesentlichen zwei "Evolutionsschube" der OAV zu beschränken: Die erstmalige Schaffung von öffentlichen Einrichtungen zur Arbeitsvermittlung (= die Einführung der sog. "Offentlichen Arbeitsnachweise" ["OAN") durch die Kommunen in den 1890er Jahren, die sog. "Kommunalisierung" oder "Verstadtlichung der Arbeitsvermittlung'1 und die Transformation dieser Einrichtungen in einen durch Zwangsbeitrage finanzierten "Parafiskus" (= die Etablierung der "Reichsanstalt /Ur Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung" ["RA VA V") in den 1920er Jahren. Diese Eingrenzung des Erklärungsgegenstandes der vorliegenden Arbeit wird im Abschnitt 3. näher erläutert, der mit den Abschnitten 1. und 2. zu einem Ersten Teil der Arbeit zusammengefaßt wird. Im anschließenden Zweiten Teil der Arbeit wird sodann damit begonnen, zunächst die mit dem ersten (Abschnitt 4.) und sodann die mit dem zweiten (Abschnitt 5.) der genannten Evolutionsschübe erfolgten Institutionen-Änderungen auf der Grundlage des zuvor entwickelten Analyse-Rasters zu erklären. Struktur der Staatsfinanzierung, in: Die Zukunft der Staatsfmanzierung, hrs~. von Horst Zimmermann, Stuttgart 1988, S. 29-42 (im folgenden zitiert als "Zlmmemumn, Anderungen"), hier: S. 36. Zum Wachstum der (Zwangs-) Sozialbeiträge als der in diesem Jahrhundert wichtigsten Strukturveränderung auf der Einnahmenseite der öffentlichen Budgets vgl. ebenda, S. 36-39. 42 Vgl. Michael Wennel und Roswitha Urban, Arbeitslosenfürsorge und Arbeitslosenversicherung in Deutschland, Bände 1,11, ID, München 1949 (Neue Soziale Praxis, Hefte 6-1, -11 und -ID), Band I, S. 17. 43 V gL hierzu unten, Abschnitt 1. 3*

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Da sich die vorliegenden Darstellungen zur Entwicklung der ÖAV44 überwiegend auf eine Beschreibung der ÖAV-Veränderungen beschränken, ohne die hinter den Institutionen-Änderungen liegenden Faktoren systematisch zu überprüfen, war es unerläßlich, einen großen Teil der eigenen Recherchen auf der Basis von Primärmaterialien vorzunehmen. Hierfür wurden vor allem zeitgenössische Veröffentlichungen in Fach- und Verbandszeitschriften sowie Monographien über die Arbeitsvermittlung und nicht zuletzt die Sitzungsprotokolle des Deutschen Reichstages herangezogen. Weiterhin war es zur Unterstützung der Analyse notwendig, diverse Studien über die generelle Struktur und die Motive der verschiedenen Akteure im "Kampf um den Arbeitsnachweis"45 heranzuziehen. Im Ergebnis der Erklärungsversuche des Zweiten Teiles der Arbeit wird im abschließenden Dritten Teil zunächst versucht, auf der Basis der für die beiden ÖAV-Evolutionsschübe qua Detail-Analyse identifizierten Bestimmungsfaktoren herauszuarbeiten, welche Faktoren - bei einer zusammenfassenden Betrachtung - für die Einführung der wichtigsten ÖAV-Regelungen "maßgeblich" gewesen sein dürften (Abschnitt 6.). Abschließend wird sodann (im Abschnitt 7.) versucht, aus den Detail-Untersuchungsergebnissen zur Ableitung von SchltifJ-

folgerungen jUr die Erarbeitung einer allgemeinen Theorie der Evolution lJffentlicher AufgabenerfUllung zu gelangen.

44 Den ersten Abschnitt der Entwicklung beleuchtet vor allem die Untersuchung des Historikers Anselm FlUUt, Arbeitsmarktpolitik 1986. Die historischen Studien von KarlChristian Fahrer und Peter Lewek zur Entstehung der Arbeitslosenyersicherung seit ca. 1914 enthalten auch ~ichti$e Hinweise für die Veränderung des ÖAV-Arrangements. Ein beschreibender Überblick über die Gesamtentwicklung wird vor allem in den folgenden Arbeiten gegeben: Erdmann Graack, Die Arbeitsvermittlung in Deutschland, Stuttgart 1926 (im folgenden zitiert als "Graack, Arbeitsvermittlung"); Michael Wermel und Roswitha Urban; Ludwig Preller, Sozialpolitik in der Weimarer Republik, Stuttgart 1949 (Nachdruck: Düsseldorf 1978); Bemhard Weller, Arbeitslosigkeit und Arbeitsrecht, Stuttgart 1969; Ouo Uhlig, Arbeit - amtlich angeboten - Der Mensch auf seinem Markt, Stuttgart etc. 1970. 4S Zum Be~f "Kampf um den Arbeitsnachweis" vgl. z. B. OUo Michalke, Die Arbeitsnachweise der Gewerkschaften im Deutschen Reich, Berlin 1912, S. 302.

Erster Teil

Theoretische Grundlagen und Eingrenzung des Erklärungsgegenstandes

1. Überblick über die "Ökonomische Theorie des Institutionellen Wandels" ("ÖTIW") und das verwendete Begriffs-Instrumentarium In den letzten Jahren lassen sich in den Wirtschaftswissenschaften verschiedene Entwicklungen ausmachen, die sich als Tendenzen zu einer Revitalisierung älterer theoretischer Ansätze interpretieren lassen: Im Rahmen der "Neuen Institutionen-Okonomik" ("NIO") bzw. ihrer zentralen Sub-Theoriebereiche, der "Property-Rights-Theorie", der "Transaktionskosten-Okonomik" und der "Okonomischen Theorie der Verfassung", wird versucht, die Wirkungen von und die Entscheidungen zwischen sozialen Institutionen mit Hilfe ökonomischer Analyse-Instrumente (auf der Grundlage und teilweise in Erweiterung der neoklassischen Wirtschaftstheorie) zu untersuchen.} 1 Einen Überblick über die NIÖ und ihre verschiedenen Sub-Theoriebereiche bietet der Artikel von Karl-Emst Schenk, Die neue Institutionenökonomie - Ein Überblick über wichtige Elemente und Probleme der Weiterentwicklun$, in: ZWS, J$. 112 (1992), S. 337-378 (im folgenden zitiert als "Schenk, Neue InstitutIOnenökonomie"). Von den wichtigsten Beiträgen zur NIÖ seien hier nur genannt: Ronald H. Coase, The Nature of the Firm, in: Economica, Bd. 4 (1937), S. 386-405; lames M. Buchanan und Gordon Tullock, The Calculus of Consent: Logical Foundations of Constitutional Democracy, Ann Arbor 1962; Harold Demsetz, The Exchange and Enforcement of Property Rights, in: JLE, Bd. 7 (1964), S. 11-26; Mancur Olson lr., The Logic of Collective Action, Cambridge (Mass.) 1965 (im folgenden zitiert als "01son, Logic"); George A. Akerlof, The Market for Lemons: Quality, Uncertainty and the Market Mechanism, in: Quarterly Journal of Economics, Bd. 84 (1970), S. 487-500; Harold Demsetz, The Private ProviSion of Public Goods, in: JLE, Bd. 13 (1970), S. 292306; lohn Raw1s, A Theory of Justice, Cambridge (Mass.) 1971; Annen A. A1chian und Harold Demsetz, Production, Information Costs, and Economic Organization, in: AER, Bd. 62 (1972), S. 777-795; Oliver E. Williamson, Markets and Hierachies: Analysis and Antitrust Implications, New York 1975; Thomas E. Borcherding, Competition, Exclusion, and the Optimal Supply of Public Goods, in: JLE, Bd. 21 (1978), S. 111-132; Oliver E. Williamson, Trartsactions Cost Economics: The Governance of Contractual Relations, in: JLE, Bd. 22 (1979), S. 233-261; Karl-Ernst Schenk, Märkte, Hierarchien und Wettbewerb - Elemente einer Theorie der Wirtschaftsordnung, München 1981; ders., Institutional Choice und Ordnungstheorie, in: Jb. f. NPÖ, Bd. 2 (1982), S. 70-85;, Willi

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1. Die Ökonomische Theorie des Institutionellen Wandels (ÖTIW)

Dabei werden von der NIÖ als "Institutionen" grundsätzlich gesellschaftliche Regelungen aller Art aufgefaßt, die das individuelle Verhalten steuern; beispielhaft angeführt sei hier die Definition von Douglass C. North, wonach unter "Institutionen" sämtliche "... Spielregeln einer Gesellschaft oder, förmlicher ausgedruckt, die von Menschen erdachten Beschränkungen menschlicher Interaktion"2 verstanden werden können. Indem die Vertreter des "Neuen Institutionalismus" von einer "verhaltensprägenden Wirkung der Institutionen" ausgehen, greifen sie auf Denkansätze der Klassiker sowie der Historischen und Sozialrechtlichen Schulen zurück, die aus der wirtschaftswissenschaftlichen Analyse lange Zeit verdrängt worden waren. 3 Eine weitere "Rückbesinnung" auf ältere ökonomische Denktraditionen (Witt verwies explizit auf "... Vorarbeiten von Menger, Schumpeter und Hayek Meyer, Entwicklung und Bedeutung des Property Rights-Ansatzes in der Nationalökonomie, in: Property Rights und ökonomische Theorie, hrsg. von Alfred Schüller, München 1983, S. 1-44; Robert Axelrod, The Evolution of Cooperation, New York 1984; Girard Gilfgen, Entwicklung und Stand der Theorie der Property Rights: Eine kritische Bestandsaufnahme, in: Ansprüche, Eigentums- und Verfügungsrechte, hrsg. von Manfred Neumann, Berlin 1984, S. 43-62 (im folgenden zitiert als "Gilfgen, Entwicklung"); Oliver E. Williamson, The Economics of Governance: Framework and Implication, in: llTE, Bd. 140 (1984), S. 195-223; GeofJrey Brennan und James M. Buchanan, The Reason of Rules, Cambridge (Mass.) etc. 1985; Oliver E. Wüliamson, Economic Institutions; Karl-Emst Schenk, New Institutional Dimensions of Economics - Comparative Elaboration and Application, Berlin etc. 1988; Rudolf Richter, Sichtweise und Fra~estel­ lungen der Neuen Institutionenökonomik, in: ZWS, )g. 110 (1990), S. 571-591; Elrik G. Furubotn und Rudolf Richter, The New Institutional Economics - Recent Progress; Expanding Frontiers, in: llTE, Bd. 149 (1993), S. 1-10; Horst Feldmann, Eine institutionalistische Revolution? - Zur dogmenhistorischen Bedeutung der modernen Institutionenökonomik, Berlin 1995. 2 Douglass C. North, Institutionen, institutioneller Wandel und Wirtschaftsleistun~, Tübingen 1992 (im folgenden zitiert als "North, Institutionen 1992"), S. 3; in der amerIkanischen Originalausgabe (ders., Institutions, Institutional Change and Economic Performance, Cambridge, Mass., etc. 1990, im folgenden zitiert als "North, Institutions 1990') befindet sich diese Definition ebenfalls auf S. 3. Elsner schlug folgende Definition vor: "Unter 'Institution' ist .. eine Regel (Norm) für rekurrente Entscheidungssituationen zu verstehen, welche insoweit allgemeine Gültigkeit erlangt (sei es durch freiwillige Anerkennung oder durch Sanktionsdrohung), daß relativ stabile reziproke Verhaltensweisen entstehen, durch welche bestimmte Konsequenzen individueller Entscheidungen und Handlungen spezifiziert und damit Unsicherheit in. bzw. Komplexität von Entscheidungssituationen reduziert werden" (Wolfram EIsner, Ökonomische Institutionenanalyse, Berlin 1986, S. 200). Da häufig oder i. d. R. d~verse Institutionen nach bestimmten Gesichtspunkten miteinander für bestimmte Zwecke kombiniert werden, läßt sich dann von "institutionellen Arrangements" sprechen; vgl. ebenda, S. 201. Zur Konkretisierung des Begriffs der Institutionen vgl. auch die Aufzählung diverser volkswirtschaftlicher Institutionen, ebenda, S. 202. 3 Karl-Emst Schenk, Neue Institutionenökonomie, S. 340. Zu den Differenzen zwischen der NIÖ und dem alten "Amerikanischen Institutionalismus" von Thorstein B. Veblen, Wesley C. Mitchell, John R. Commons u. a. vgl. die Darstellu~~ bei Norbert Reuter, Institutionalismus, Neo-Institutionalismus, Neue Institutionelle Okonomie und andere "Institutionalismen", in: ZWS, Jg. 114 (1994), S. 5-23.

1. Die Ökonomische Theorie des Institutionellen Wandels (ÖTIW)

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... ")4 kommt auch in verschiedenen neueren Ansätzen zu einer evolutorischen Betrachtung des Wirtschajtsgeschehens zum Ausdruck. Während sich die Ver-

suche einiger Autoren, (u. a. durch Rückgriffe auf die Evolutionstheorie der Biologie sowie "soziobiologische" Modelle) zum Entwurf einer allgemeinen "Evolutorischen Okonomik" zu gelangen, derzeit erst in ihren Anfängen befinden,S handelt es sich bei den im Rahmen der NIÖ entstandenen modernen Ansätzen zu einer "Okonomischen Theorie des Institutionellen Wandels"6 ("017W") um ein bereits vergleichsweise ausgereiftes Konzept, dessen Bedeutung für den Fortschritt des ökonomischen Denkens nicht zuletzt durch die Verleihung des Ökonomie-Nobelpreises an Douglass C. North, den wohl prominentesten Repräsentanten der ÖTIW, weltweite Anerkennung und Beachtung erfahren hat: 7 4 Ulrich Win, Eine individualistische Theorie der Entwicklung ökonomischer Institutionen, in: Jb. f. NPÖ, Bd. 7 (1988), S. 72-95, hier: S. 72 f. 5 V &1. den ausführlichen Überblick über die vorliegenden Beiträge zur "Evolutorischen Okonomik" bei Ulrich Win, Individualistische Grundlajen der evolutorischen Ökonomik, Tübingen 1987 (Habilitationsschrift, Mannheim 198!), S. 37-100. 6 Die deutsche Übersetzung von Douglass C. Nonhs Werk "Structure and Change in Economic Theory", New York 1981 (im folgenden zitiert als "Nonh, Structure'') erhielt den TItel "Theorie des institutionellen Wandels" (Tübingen 1988; im folgenden zitiert als "Nonh, Theorie''). Explizit von "... der ökonomischen Theorie des institutionellen Wandels" ist die Rede bei Helmuth Leipold, Institutioneller Wandel und Systemtransformation: Ökonomische Erklärungsansätze und ordnungspolitische Folgerungen, in: Evolution und Transformation von Wirtschaftssystemen, hrsg. von Hans-Jür$en Wagener, Berlin 1991, S. 17-38, hier: S. 19. Ein Artikel von John J. Wallis trägt die Überschrift "Towards a Positive Economic Theory of Institutional Change" (in: JITE, Bd. 145 [1989], S. 98-112). 7 Als wichtige Schriften zur ÖTIW seien hier die folgenden Werke genannt: Douglass C. Nonh und Roben Paul Thomas, An Economic Theory of the Growth of the Western World, in: The Economic History Review, 2. Folge, Bd. 23 (1970), S. 1-17. Dies., The Rise and Fall of the Manorial System: A Theoretical Model, in: The Journal ofEconomic History, Bd. 31 (1971), S. 777-803. Svetozar Peiovich, Towards an Economic Theory of the Creation and Specification of Property Rights, in: Review of Social Economy, Bd. 30 (1972), S. 309-3~5. Douglass C. Nonh und Robert Paul Thomas, The Rise of the Western World: A New Economic History, Cambridge, Mass., 1973. Terry L Anderson und P. J. Hili, The Evolution of Property Rights: A Study of the American West, in: JLE, Bd. 18 (1975), S. 163-179. Knut BorchaTdt, Der "Property-Rights-Ansatz" in der Wirtschaftsgeschichte - Zeichen für eine systematische Neuorientierung des Faches?, in: Theorien in der Praxis des Historikers, hrsg. von Jargen Kocka, Göttingen 1977, S. 140-156 (= Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 3). Douglass C. North und Roben Paul Thomas, The First Economic Revolution, in: The Economic History Review, 2. Folge, Bd. 30 (1977), S. 229-241. Douglass C. Nonh, Structure and Performance: The Task of Economic History, in: JEL, Bd. 16 (1978), S. 963-978. Ganter Hesse, Der Property.-Rights-Ansatz - eine ökonomische Theorie der Veränderung des Rechts?, in: Jbb. f. NO u. Stat., Bd. 195 (1980), S. 481-495 (im folgenden zitiert als "Hesse, Property-Rights''). Douglass C. Nonh, Structure. Ders. und John Joseph Wallis, American Govemment Expenditures: A Historical PersP,ective, in: AER, Bd. 72 (1981), Papers and Proceedings, S. 336-340. GUnter Hesse, Die Anderung von Rechten im Pro~rty-Rights­ Ansatz, in: WiSt, Jg. 11 (1982), S. 249-257 (im folgenden zitiert als"Hesse, Änderung''). Girard GlJ/gen, Institutioneller Wandel und ökonomische Erklärung, in: Jb. f. NPÖ, Bd. 19-49 (im folgenden zitiert als "Giifgen, Wandel''). Ganter Hesse, Zur Er2 (1983),

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1. Die Ökonomische Theorie des Institutionellen Wandels (ÖTIW)

Die Vertreter dieser theoretischen Richtung verfolgen das Vorhaben, den Prozeß aufeinander folgender Schritte der Neuentstehung (oder "Emergenz"8) und Veränderung - mithin: die "Evolution"9 - von sozialen Institutionen mit Hilfe ökonomischer Analyse positiv zu erklären (und damit auch einen Beitrag zur Erklärung der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung zu leisten) 10. Gerade aus jinanzwissenschaftlicher Sicht kommt der ÖTIW ein besonderes Interesse zu, ist doch die Analyse der Entstehung und Veränderung von Institutionen zur Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen "zwischen Markt und Staat" in der Finanzwissenschaft zu einem geradezu "klassischen" Analysefeld geworden, seitdem Adolph Wagner vor gut einem Jahrhundert sein inzwischen berühmtes "Gesetz der wachsenden Ausdehnung der liffentlichen und speciell der Staatsthl1tigkeiten"l1 aufgestellt hat. 12 Wie bereits in der Einleitung erläutert wurde, soll mit der vorliegenden Arbeit der Versuch einer Übertragung der ÖTIW auf dieses "klassische" finanzwissenschaftliche Analysefeld unternommen werden. Für dieses Vorhaben sollen in diesem Abschnitt der Arbeit zunächst die

grundlegenden Hypothesen der ÖTIW systematisch vorgestellt werden.

Dabei soll keine ausführliche Diskussion aller möglichen Wirkungszusammenhänge erfolgen, die jeweils für die Evolution verschiedener - möglicher Arten von Institutionen relevant sein können. Das Anliegen der folgenden Erklärung der Änderung von Handlungsrechten mit Hilfe ökonomischer Theorie, in: Property-Rights und ökonomische Theorie, hrsg. von Alfred Schüller, München 1983, S. 79-109 (im folgenden zitiert als "Hesse, Erkliirung"). Douglass C. North, Transaction Costs, Institutions, and Economic History, in: JITE, Bd. 140 (1984), S. 7-17 (im folgenden zitiert als "North, Transaction Costs"). Ders., Growth. Alfred Kieser, Erklären die Theorie der Verfügungsrechte und die Transaktionskostenanalyse den historischen Wandel von Institutionen?, in: Betriebswirtschaftslehre und Theorie der Verfügungsrechte, hrsg. von Dietrich Budäus, Elmar Gerum und Gebhard Zimmermann, Wiesbaden 1988, S. 299-323. Douglass C. North, Theorie. Ders.: Final Remarks - Institutional Change and Economic HIstOry, in: JITE, Bd. 145 (1989), S. 238-245 (im folgenden zitiert als "North, Final Remarks"). lohn l. Wallis 1989. Douglass C. North, Institutions 1990. Engelbert Theurl, Gesetze der Entwicklung der Staatstätigkeit - Der Transaktionskostenansatz, in: WiSt, Jg. 19 (1990), S. 503-507. Helmuth Leipold. Douglass C. North, Institutionen 1992. 8 Zur Verwendung des Begriffes der "Emergenz" als Synonym für "Entstehung" vgl. z. B. Wolfram Elsner, S. 203. 9 Zur allgemeinen Definition des Begriffes der Evolution sei exemplarisch verwiesen auf Karl Heinz Hillmann und Günter Hartfiel, S. 189. 10 Dieses Anliegen kommt insbesondere in den verschiedenen Arbeiten von North zum Ausdruck, demzufolge die ökonomische Theorie der Institutionen als eine notwendige Bedingung zur Erklärung wirtschaftlicher Leistung in der Geschichte anzusehen ist (vgl. etwa North, Structure, S.7; ders., Theorie, S.7). 11 Vgl. vor allem: Adolph Wagner, Grundlegung, S. 892-915; ders., Staat, S. 734736. 12 Zu jüngeren Beiträgen zum "Wagnerschen Gesetz" sei hier auf die bereits in der Einleitung gemachten Angaben verwiesen.

1. Die Ökonomische Theorie des Institutionellen Wandels (ÖTIW)

41

läuterungen besteht vielmehr vor allem darin, eine eindeutige begriffliche Festlegung und Abgrenzung von einer Reihe zentraler Größen vorzunehmen, weil die ÖTIW bislang noch nicht über ein einheitliches begriffliches Instrumentarium verfügt. Gemäß dem Anliegen der vorliegenden Arbeit, zur Erklärung der Evolution der lJffentlichen Aufgabenerfüllung beizutragen, beziehen sich die folgenden Ausführungen zudem ausschließlich auf jene "formellen Institutionen" (= Institutionen, die durch formalisierte Vereinbarungen, Verträge, Satzungen, Gesetze etc. Gültigkeit erlangen 13 ), welche die Versorgung der Bürger mit Gütern und Dienstleistungen durch die lJffentlichen Verbltnde zum Gegenstand haben.l 4 Unter Zugrundelegung des Prinzips des methodologischen Individualismus I5 und der Annahme eines gewinn- bzw. nutzenmaximierenden Verhaltens I6 versuchen die vorliegenden Ansätze zur ÖTIW, die Emergenz und Veränderung von Institutionen auf der Grundlage der in Abb. I zusammenfassend dargestellten drei Basis-Hypothesen zu erklären, die in den folgenden Unterabschnitten erläutert werden. I? Da sich die von der ÖTIW aufgestellten Erklärungszusammenhänge für die Fälle der "Institutionen-Emergenz" und der "Institutionen-Veränderung" nicht unterscheiden, sollen beide Fälle im folgenden stets gemeinsam unter dem Terminus der "Institutionen-Änderung" diskutiert werden.

13 Neben den "formellen Institutionen" gehören zur Gesamtmenge der gesellschaftlichen Institutionen auch die "informellen Institutionen" (die aufgrund von gesellschaftlichen Konventionen oder Traditionen· Gültigkeit erlangen); zu einer vergleichbaren Unterscheidung verschiedener Kategorien von Institutionen vgl. z. B. Douglass C. NOl1h, Institutions 1990, s. 4 und 46; ders., Institutionen 1992, s. 4 und 55. 14 Auch wenn sich die Evolution anderer Institutionen weitgehend analog zu den im folgenden vorgestellten Zusammenhängen erklären lassen dürften. 15 Vgl. z. B. Ganter Hesse, Erklärung, S. 82 f.; Viktor Vanberg, Der individualistische ~satz zu einer Theorie der Entstehung und Entwicklung von Institutionen, in: Jb. f. NPO, Bd. 2 (1983), S. 50-69, hier: S. 53. 16 Vgl. z. B. Günter Hesse, Erklärung, S. 83; Viktor Vanberg, S. 53. Zur Frage nach den Grenzen einer positiven Theoriebildung mit Hilfe derartiger normativer Verhaltensannahmen vgl. zusammenfassend die kritische Diskussion bei Gunther Engelhardt, S. 38-42. 17 Zu den Basis-Hypothesen der ÖTIW und den im folgenden vorgestellten drei Erklärungsfeldern sei vor allem auf die folgenden Arbeiten verwiesen: Svetozar Pejovich, speziell S. 313-316; Eirik G. Furubotn und Svetozar Pejovich, Introduction, in: The Economics of Property Rights, Cambridge, Mass., 1974, S. 1-9, hier: ~. 7-9; Ganter Hesse, Property-Rights; Douglass C. NOl1h, Structure; Ganter Hesse, Anderung; Gerard Gäfgen, Wandel, speziell S. 34-48; Günter Hesse, Erklärung; Wolfram Elsner, S. 340; Douglass C. NOl1h, Theorie; lohn l. Wallis, speziell S. 98-105; Douglass C. NOl1h, Institutions 1990, speziell S. 86 f.; Helmuth Leipold, speziell S. 1929; Douglass C. North, Institutionen 1992, speziell S. 102 f.

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1. Die Ökonomische Theorie des Institutionellen Wandels (ÖTIW)

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Abb. 1,' Die Grundzusammenhänge der Ökonomischen Theorie des Institutionellen Wandels (ÖTIW)

1.1. Angebot und Nachfrage auf dem "Institutionen-Markt"

43

1.1. Angebot und Nachfrage auf dem "Institutionen-Markt" Zumindest implizit gehen die Erklärungen des institutionellen Wandels im Rahmen der ÖTIW von der Vorstellung aus, daß es einen "MarktjUr Institutionen und Institutionen-Anderungen"18 - oder kurz: "Institutionen-Markt" - gibt, auf dem Änderungsnachfrager mit potentiellen -anbietern in Kontakt treten und die gewünschten Institutionen-Änderungen "kaufen" können:

Institutionen-Anderungen kommen nur im Ergebnis von - kosten wirksamen Transaktionen auf dem "Institutionen-Markt" zustande (Basishypothese 1; vgl. ErkllirungsfeldA in Abb. 1).19 Die für dieses Erklärungsfeld aufgestellten Hypothesen der ÖTIW entsprechen weitgehend jenen der "Neuen Politischen Ökonomie". 20 Jene Änderungsnachfrager, die Transaktionen auf dem "Institutionen-Markt" (im folgenden als "Anderungstransaktionen" bezeichnet) zum Zwecke eines "Abschlusses von Kaufverträgen" mit den Änderungsanbietern durchführen, werden damit zu den maßgeblichen Initiatoren des institutionellen Wandels und sollen daher im folgenden als "Anderungsagenten" ("change agents")21 be18 Analog hierzu schrieb z. B. Norbert Eickhol, .staatliche Regulierung zwischen Marktversagen und Gruppeninteressen, in: Jb. f. NI>Ö, Bd. 5 (1986), S. 122-139, hier: S.133 - unter Bezugnahme auf Joseph A. Schumpeter, Capitalism, Socialism and Democracy, New York 1942 (deutsche Fassung unter dem Titel: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, MUnchen 1950); Anlhony Downs, An Economic Theory of Democracy, New York 1.957 (im folgenden zitiert als "Downs, Democracy"; deutsche Fassung unter dem Titel: Ökonomische Theorie der Demokratie, Tübingen 1968 [im folgenden zitiert als "Downs, Demokratie'l); Philipp Herder-Domeich, Politisches Modell zur Wirtschaftstheorie, Freiburg i. Br. 1957; sowie George J. Stigler, The Theory of Economic Regulation, in: The Bell Journal of Economics and Management Science, Bd. 2 (1971), S. 3-21 - vom "Markt für Regulierung". 19 Den mit diesen Transaktionen verbundenen Zeitaufwand meinte Tirnm, als er von den "institutionellen Hemmungen" oder "institutionellen lags" schrieb, die aus seiner Sicht unter jedem Regime - und zwar explizit auch bei fortgeschrittener Demokratisierung - vor einer Realisierung politischer Forderungen zu überwinden sind. V gl. Herbert Timm, S. 235 f. Entgegen anderen Deutungen der Ttmmschen Hypothesen (so bezeichnete z. B. Matthias SchUrgers, S. 37, als institutionelle lags die "Verzögerungen im Prozeß" der Demokratisierung) läßt sich Tirnms Ausführungen eindeutig entnehmen, daß die Demokratisierungstendenz und ihre Verzögerungen - als einige der Hauptfaktoren für das Wachstum der Staatsausgaben (Herbert Timm, S. 232; 234; 226 f.) - aus seiner Sicht vom institutionellen lag zu trennen sind, das auch bei fortgeschrittener Demokratisierung noch zum Tragen kommen kann (Herbert Timm, S. 235). 20 So auch Gerard GiJfgen, Wandel, S. 43. Für einen Überblick über diese ökonomische Theorie der Gesetzgebung bzw. der "Public Choice in a Representative Democracy" sei hier nur exemplarisch verwiesen auf die Darstellung bei Dennis C. Mueller, S. 179-273, sowie auf die dort angegebene Literatur. 21 Der Begriff des "change agents" stammt aus der betriebswirtschaftlichen Konzeption des "Planned Organizational Change"; er bezeichnet dort allerdings nicht den Änderungs-Initiator, sondern denjenigen, der von der Unternehmungsleitung mit der Planung und Durchführung des organisatorischen Wandels beauftragt wird (also z. B. einen ex-

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1. Die Ökonomische Theorie des Institutionellen Wandels (ÖTIW)

zeichnet werden. Wie im folgenden Unterabschnitt (1.2) näher erläutert wird, wird die Motivation der Änderungsagenten für ihre Änderungstransaktionen von der ÖTIW darin gesehen, mit Hilfe einer bestimmten, von ihnen nachge.. .. * fragten Institutionen-Anderung IAn ihre im folgenden sog. "Status-quo-Kosten" (= die ihnen entstehenden Nachteile aus dem institutionellen Status quo)22 zu senken. Als Anderungsanbieter kommen dabei vor allem jene Akteure in Betracht, denen die für die jeweils angestrebte Institutionen-Änderung maßgeblichen Entscheidungsrechte zugeordnet sind (also z. B. die Mitglieder eines Parlaments), die im folgenden als "Entscheidungsagenten" bezeichnet werden sollen, und die Konkurrenten dieser Entscheidungsagenten ("potentielle Entschei-

dungsagenten").

Je nachdem, wie innerhalb eines Staatswesens (oder auch innerhalb von anderen Organisationen) die Entscheidungsrechte alloziiert sind, befinden sich jeweils bestimmte Akteure in der Rolle der (potentiellen) Entscheidungsagenten. Unter einem parlamentarisch-demokratischen Regime z. B. können üblicherweise die Angehörigen der Regierungskoalitions-Fraktionen als Entscheidungsagenten über alle Institutionen-Änderungen entscheiden, zu denen die Parlamentsmehrheit gemäß der Staatsverfassung befugt ist; die Angehörigen der (inner- und außerparlamentarischen) Oppositionsparteien lassen sich dann i. d. R. als potentielle Entscheidungsagenten identifizieren. Im Fall einer absolutistischen Monarchie verfügt der (Allein-) Herrscher ("Fürst" oder "König")23 über das Recht zur Durchführung von nahezu jeder nur denkbaren Institutionen-Änderung. Allerdings hat auch der Herrscher zumeist mit Konkurrenz (ggf. auch von seiten ausländischer Akteure) zu rechnen, d. h. auch in einer absolutistisch ternen Unternehmensberater). Vgl. hierzu z. B. die Darstellung bei Horst Dienstbach, Dynamik der Unternehmungsor~anisation, Wiesbaden 1972, S. 62 f. Dienstbach gibt auch nähere Auskunft zur GeschIchte des Begriffs "change agent" (der lautR. Lippitt, J. Watson und B. Westley, The Dynamics of Planned Change, New York 1958, S. 10, zitiert nach Horst Dienstbach, S. 62, 1947 vom US-"National-Training-Laboratory" kreiert wurde) sowie zu alternativen Begriffsbildungen anderer Autoren (Horst Dienstbach, a. a. 0., S. 62). 22 Der Begriff der "Kosten des Status quo" wurde explizit verwendet von Dietrich Fürst, Kommunale Entscheidungsprozesse, Baden-Baden 1975 (Habilitationsschrift, Köln 1974), S. 147. Gerard Gäfgen, Wandel, S. 36, schrieb vom "Wert" der gegebenen Institutionen, als dem Nutzen, " ... den Individuen aus dem Bestehen einer Regelung im Vergleich zu ihrer Abschaffung oder Veränderung ziehen". Auch im Rahmen der betriebswirtschaftlichen Konzeption des "Planned Organizational Change" wurde auf die Unzufriedenheit mit dem Status quo als notwendiger Bedin~ung für Anderungstransak:tionen hingewiesen, so z. B. von Richard Beckhard, StrategIen zur Veränderung großer Systeme, in: Organisati?ns.entwicklung als Problem, hrsg. von Burkhard Sievers, Stuttgart 1977, S. 134-151, hIer. S. 136. 23 Svetozar Pejpvich, S. 315, schrieb von "Princes" und "Kings" als den Anbietern von Institutionen-Anderungen.

1.1. Angebot und Nachfrage auf dem "Institutionen-Markt"

45

verfaßten Monarchie gibt es potentielle Entscheidungsagenten, die als Anbieter von Institutionen-Änderungen auftreten können. 24 Als Motiv für die Konkurrenz zwischen den EntscheidWlgsagenten und den potentiellen Entscheidungsagenten um die Entscheidungsrechte in einem öffentlichen Verband wird - weitgehend entsprechend den Annahmen der Neuen Politischen Ökonomie - zumeist das Ziel genannt, ein mit diversen Vorteilen verbWldenes (hohes gesellschaftliches Ansehen; Ausübung von "Macht" gegenüber zahlreichen Personen; zumeist relativ hohes Geldeinkommen; nur am Rande: die Chance zur Realisierung der eigenen Überzeugungen hinsichtlich des "Gemeinwohls") hohes RegiefWlgsamt für sich selbst und für möglichst viele Anhänger Positionen in der Exekutive zu erlangen ("Ämter-Patronage").25

1.1.1. Ein einfaches Basis-Modell des "Institutionen-Marktes"

Im folgenden soll zur Vereinfachung der Darstellung zunächst ein absolutistisch-monarchistisches Regime betrachtet werden,26 das zusätzlich durch einen geringen Konkurrenzdruck für den Herrscher gekennzeichnet sei 27; des weiteren sei davon ausgegangen, daß es nur einen einzigen Änderungsagenten gibt, der nicht mit dem Herrscher identisch ist. Der Herrscher wird zur Realisierung der vom ÄndefWlgsagenten nachge.. .. * fragten Institutionen-AndefWlg (lAn ) stets nur dann bereit sein, wenn 24 Douglcus C. North, Structure, S. 23 f., sowie ders., Theorie, S. 23 f., nannte als Rivalen des Alleinherrschers andere Staaten und ambitionierte Einzelakteure. Aber die potentiellen Entscheidungsagenten haben unter einem absolutistisch-monarchistischen Regime nur die Möglichkeiten der Invasion, des Staatssu:eichs oder der Revolution, um an die Macht zu gelangen; und je besser der staatliche Oberwachungs-, Repressions- und Militärapparat ausgebaut ist, desto geringer ist für den Herrscher der Konkurrenzdruck. In einer parlamentarischen Demokratie hingegen ist die Rolle der potentiellen Entscheidungsagenten fest institutionalisiert und die Bedrohung der Entscheidungsagenten durch diese daher permanent vorhanden. 25 Politiker "... act solely in order to attain the income, prestige, and power which come from being in office ... Their only goal is to reap the rewards of holding office per se" (Anlhony Downs, Democracy, S. 28). 26 Ein. solches Regime legte auch Nort~ für ~ein neoklass~ches Modell des Staates zugrunde, Douglcus C. North, Structure, S. !Z3-32, ders., Theone, S. 23-33. 27 Etwa als Folge eines perfekten Polizeiapparates und eines funktionierenden Geheimdienstes, wobei das betrachtete Staatswesen aufgrund einer reichen Ausstattung mit natürlichen Ressourcen den Bürgern ein hohes Wohlstandsniveau und damit ein hohes Maß an Zufriedenheit garantiert und zudem aufgrund seiner Insellage ausländische Invasoren nicht zu fUrchten hat.

46

1. Die Ökonomische Theorie des Institutionellen Wandels (ÖTIW)

- ihm vom Änderungsagenten ein im folgenden sog. "Änderungsentgelt" gezahlt wird, und durch dieses Entgelt für den Herrscher im folgenden sog. "Änderungsnutzen" (für den Änderungsagenten hingegen: ''Änderungskosten") entstehen,28 und/oder wenn für den Herrscher selbst durch die Institutionen-Änderung eine Senkung seiner Status-quo-Kosten zu erwarten ist, ihm also unabhängig von der Entgeltzahlung durch den Änderungsagenten Vorteile aus der gewünschten Institutionen-Änderung entstehen, z. B. eine Erhöhung der direkt dem Herrscher zustehenden Staatseinkünfte29, und wenn - die Änderungsnutzen des Herrschers und/oder die erwartete Senkung seiner Status-quo-Kosten die von ihm möglicherweise erwarteten Einbußen an Status-quo-Nutzen (= Vorteile des Herrschers aus dem institutionellen Status quo) sowie die u. U. auch ihm entstehenden - wie weiter unten erläutert wird - Änderungskosten (= Aufwendungen des Herrschers im ProzeB der Entscheidungsfindung über Institutionen-Änderungen) übersteigen.

1.1.1.1. Oberzeugungstransaktionen

.. *

Wenn der Herrscher durch IAn eine Senkung seiner Status-quo-Kosten erwartet, wäre zwar eigentlich anzunehmen, daß der Herrscher auch ohne Änderungstransaktionen von seiten des Änderungsagenten von sich aus die Institutionen-Änderung IÄn * ins Kalkül fassen und ggf. realisieren würde. Es dürfte aber vielfach der Fall eintreten, daß bei dem Herrscher zum Zeitpunkt, zu dem ein Änderungsagent erstmalig seine Änderungsnachfrage artikuliert, aufgrund von unvollstltndiger Information und/oder der beim Herrscher vorhandenen Theorien über die Wirkungen von IÄn * auf sein Nutzenniveau keine Kenntnis über die für den Herrscher zu erwartene Senkung seiner Status-quo-Kosten durch IÄn * besteht30. Mit Hilfe von "Oberzeugungstransaktionen", d. h. der •. 28 Auch von Ganter Hesse (Erklärung, S. 83 und 102-104) wurde der Terminus der "Anderungskosten" verwendet, um jene Kosten zu bezei~.hnen, die einem Individuum bei seinen Versuchen zur Realisierung einerJnstitutionen-Anderung auf dem "Institutionen-Markt" entstehen, 4: h. im Prozeß der Anderung, nicht jedoch die Kosten aus dem durch die Institutionen-Anderung geschaffenen neuen Zustand. 29 Das Motiv der Einnahmenmaximierung des Herrschers wurde z. B. von Svetozar Pejovich (S. 315) betont: "A revenue seeking Prince ist then moved by his own desire for more revenue to define and enforce property rights" . 30 Zur Bedeutung der jeweils vorhandenen Theorien (die von North als "mental constructs" oder "Gedankenmodelle" bezeichnet wurden) als wesentlicher Faktoren des institutionelle~ W.andels vgl. die Darstellung bei Douglass C. North, Institutions 1990, S. 8; ders., Institutionen 1992, S. 9.

1.1. Angebot und Nachfrage auf dem "Institutionen-Markt"

47

Verbreitung bestimmter Informationen und Theorien, kann der Änderungsagent dann versuchen, den Herrscher für die für ihn mögliche Senkung der Statusquo-Kosten zu sensibilisieren. 31 Für diese Überzeugungstransaktionen kann der Änderungsagent auf verschiedene Elemente seines Einkommens i. w. S. zurückgreifen; dies sind vermutlich vor allem die folgenden Elemente, die in der Literatur vielfach auch als einige der "Elemente der Macht" eines Akteurs bezeichnet werden: 32 - Lieferung von bewußt unverfaIschten Informationen, über die der Änderungsagent, nicht aber der Herrscher verfügt, zur Aufklärung des Herrschers, - Lieferung von bewußt verfaIschten Informationen zur Manipulation des Herrschers,33 wenn diesem die Kontrolle der Informationen nicht gelingen kann, - Einsetzung der persönlichen Überzeugungskraft 34 i. S. von Elementen der Persönlichkeit (Auftreten, Aussehen, Formulierungsgeschick o. ä.) des Änderungsagenten, - Appellierung an vorhandene gefühlsmäßige Abhängigkeiten des Herrschers vom Änderungsagenten, als Folge derer der Herrscher eine Nutzensteigerung beim Änderungsagenten eigentlich stets auch als eine Erhöhung der eigenen Wohlfahrt ansehen müßte, d. h. der Herrscher identifiziert sich gefühlsmäßig mit dem Änderungsagenten und seinen Wertvorstellungen (= Ausübung der sog. "referent power")35, - Hinweis auf die Sachverständigkeit des Änderungsagenten, die vom Herrscher akzeptiert wird und dazu führt, daß er die vom Änderungsagenten erhaltene Information nicht in Zweifel zieht, sondern für die eigene Nutzenbewertung zugrundelegt (= Ausübung der sog. "expert power")36.

31 Dem Änderungsagenten entstehen dabei ggf. "Theorie-Kreationskosten" sowie "Theorie-Verbreitungskosten", die hier zur Vereinfachung nicht näher untersucht werden sollen. 32 Zu verschiedenen Klassifikationen von "Machtmitteln" sei verwiesen auf die Darstellung bei Dietrich Farst,.~. 248-250. Zum Einsatz von "Machtmitteln" im Kontext des Erwerbs von Institutionen-Anderungen vgl. auch Ganter Hesse, Erklärung, S. 104. 33 Zu den Möglichkeiten der Manipulation als Machtgrundlage vgl. etwa Dorwin Canwright, Influenemocracy, der für seine "Okonomische Theorie der Demokratie" jede Partei wie eine Einzelperson behandelte: Eine Partei ist demnach "... a S'

68

2. Entwurf eines Analyserasters

Für die empirische Ermittlung der jeweils maßgeblichen Entscheidungsagenten sowie ihrer etwaigen Konkurrenten, der potentiellen Entscheidungsagenten, dürfte sich das folgende Vorgehen empfehlen: Zunächst ist der genaue

Zeitpunkt in Erfahrung zu bringen, zu welchem die zu erklärende InstitutionenÄnderung IÄn * realisiert wurde; sodann ist zu ermitteln, welche Akteure sich innerhalb des öffentlichen Verbandes, für den IÄn * eingeführt wurde, zu diesem Zeitpunkt ~uflrund der jeweils gültigen verfassungsrechtlichen Regeln im Besitz der für IAn maßgeblichen Entscheidungsrechte befanden. 88

Die abrigen Akteure, die als Anderungs- und Bewahrungsagenten sowie als Modijikiltoren auf dem "Institutionen-Markt" agierten, können mit Hilfe einer qualitativen Literatur- und Dokumentenanalyse identifiziert werden:

Hierfür erscheint es zweckmäßig, für die jeweils untersuchte reale Situation einer Institutionen-Änderung zunächst einen Überblick über diejenigen Akteure zu gewinnen, die auf dem "Institutionen-Markt" ganz allgemein eine Rolle spielten. Sodann sind weitergehende qualitative empirische Erkundungen unerläßlich, um herauszufinden, welche dieser Akteure auch im Vorfeld der betrachteten Institutionen-Änderung ihre Nachfrage artikulierten, welches die konkreten Inhalte ihrer Nachfrage waren, und welche dieser Akteure ggf. - zu Aggregaten - zusammengefaßt betrachtet oder aber in weitere Subgruppen (mit jeweils spezifischer Nachfrage) unterteilt werden müssen. Dieser erste Analyseschritt stellt die notwendige Vorbedingung für alle weiteren Recherchen dar.

coalition whose members agree on all their goals instead of on just part of them ... Their goals can be viewed as as single, consistent preference-ordering" (Anthony Downs, Democracy, S. 25 f.). Dabei erscheint noch der Hinweis von Bedeutung, daß jedes Individuum durchaus mehreren Organisationen zugleich angehören kann. Zu derartigen sog. Mehrfachmitgliedschaften vgl. etwa Knut Bleicher, Untemehmungsentwicklung und organisatorische Gestaltung, Stuttgart und New York 1979, S. 27 f. 88 Unter dem Regime der parlamentarischen Demokratie etwa sind die Entscheidungsagenten typischerweise mit den jeweiligen Regierungs-Koalitions-Fraktionen im Parlament identisch, sofern eine Mehrheitsregierungs besteht; für den Fall einer Minderheitsre~ierung lassen sich alle Fraktionen zusammen als Entscheidungsagenten auffassen. Die jeweils nicht an der Regierungen beteilisten Fraktionen und/oder die nicht im Parlament vertretenen Parteien haben dann die Rolle der potentiellen Entscheidungsagenten.

2.2. Analyseschritt 2

69

2.2. Analyseschritt 2: Erklärung der Änderungs-IBewahrungs-Anreize Im Unterabschnitt 1.3. wurde erläutert, daß sich das Auftreten eines Akteurs als Änderungsagent stets auf einen Anstieg der für ihn maßgeblichen Statusquo-Kosten und/oder auf sinkende erwartete Änderungskosten als Folge veränderter Situationsfaktoren zurückführen läßt. Die Transaktionen der Bewahrungsagenten lassen sich dementsprechend mit (u. U. sogar: steigenden!) Status-quo-Nutzen und/oder sinkenden erwarteten Bewahrungskosten dieser Akteure erklären. Allerdings: Allein mit Veränderungen der erwarteten Änderungs-lBewahrungs-Kosten läßt sich nur erklären, weshalb bestimmte Akteure - erst - zu bestimmten Zeitpunkten mit Transaktionen auf dem "Institutionen-Markt" begonnen haben. Auch im Fall sinkender erwarteter Änderungs-lBewahrungs-Kosten muß es für die Änderungsagenten zu einem - zeitlich vorgelagerten - Anstieg der Status-quo-Kosten gekommen sein, den es zu erklären gilt; für die Bewahrungsagenten ist dementsprechend stets zu erklären, aufgrund welcher Faktoren es für sie zu - ggf. sogar steigenden - Status-quo-Nutzen gekommen ist. Für jeden Akteur ist deshalb zunächst eine Erklärung seiner Status-quo-Kosten (-Nutzen) -Veränderungen erforderlich; die Basis hierfür stellt die Ermittlung der für die betrachtete Institutionen-Änderung relevanten "VorllJuter-lnstitutionen" dar:

2.2.1. Ermittlung der relevanten Vorläufer-Institutionen

Grundsätzlich könnte jede Veränderung der Status-quo-Kosten (-Nutzen) eines Akteurs aus einer der unzähligen in der Zeit vor der Schaffung einer neuen Institution 1* (= dem institutionellen Status quo) vorhandenen Institutionen, die für die Aktivitäten dieses Akteurs bedeutsam sind, Einfluß auf seine Nachfrage auf dem "Institutionen-Markt" ausüben. MaßgebliCh für die Erklärung der von .. * .. einem Akteur in bezug auf IAn entfalteten Anderungs- bzw. Bewahrungsnachfrage dürften aber stets nur jene Institutionen sein, die sich im institutionellen Status quo auf diejenigen Aktivitäten dieses Akteurs bezogen haben, die auch von 1* geregelt werden, und die sich daher als VorllJuter-lnstitutionen von 1* bezeichnen lassen 89 . Es erscheint zweckmäßig, die Suche nach relevanten 89 Der Bel!;riff der "Vorläufer-Institutionen" fmdet sich etwa auch bei Peter A. Köhler, Entstehung von Sozialversicherung - Ein Zwischenbericht, in: Bedingung~n für

70

2. Entwurf eines Analyserasters

Status-quo-Kosten (-Nutzen) -Veränderungen vorrangig auf dieses Feld der Vorläufer-Institutionen zu konzentrieren. 90 In einem ersten Unterschritt des zweiten Analyseschrittes gilt es daher, für die zu erklärende Institutionen-Änderung IÄn * diese Vorläufer-Institutionen in Erfahrung zu bringen. Auch dieser Arbeitsschritt läßt sich nur mit Hilfe qualitativer empirischer Erhebungen zur realen Situation der Institutionen-Änderung IÄn * ausführen. Den Ausgangspunkt muß dabei die neue Institution 1* bilden; aus der von den jeweiligen Entscheidungsagenten für 1* gegebenen Begründungen läßt sich auf diejenige Aktivität schließen, deren Regelung 1* dienen soll.91 Für diese Aktivität sind sodann die Vorläufer-Institutionen von 1* zu ermitteln. 92 Da die Vorläufer-Institutionen von 1* für alle Akteure im "Spiel um IÄn *" in gleicher Weise von Bedeutung gewesen sein dürften, erscheint es zweckmäßig, bei der PrlJsentation der Analyseergebnisse im Zweiten Teil der vorliegenden Arbeit den ersten Unterschritt des zweiten Analyseschrittes gleichsam "vor die Klammer" zu ziehen: In den Unterabschnitten 4.1. sowie 5.1., bevor auf die Abgrenzung der Akteure im einzelnen eingegangen wird und bevor der Erklärungsbedarf dargestellt wird (4.2.; 5.2.), erfolgt zunächst eine Darstellung der jeweils relevanten Vorläufer-Institutionen.

die Entstehung und Entwicklung von Sozialversicherung, hrsg. von Hans F. Zacher, Berlin 1979, S. 19-88, hier: S. 57 und S. 87. 90 Wie im Unterabschnitt 4.1. näher erläutert wird, lassen sich etwa die diversen Institutionen zur Re~elung der Arbeitsvemrlttlungs-Angebote der "Arbeitsmakler", der "Arbeitgebemachwelse", der "Gewerkschaftsnachweise", der "Vereinsnachweise", der "Armenverwaltungs-Vermi~ung" sowie der "Selbstsuche" nach Arbeit (-skräften) als Vorläufer-Institutionen der ÖAV auffassen. 91 Vielfach mag 1* der Regelung mehrerer Aktivitäten dienen. Es ist dann jedoch aus analytischen Gründen zweckmäßig, sich nur auf einige - die von den Entscheidungsagenten hervorgehobenen - Aktivitäten zu beschränken und für diese die Vorläufer-Institutionen zu ermitteln; die anderen Aktivitäten kommen dann auf die Weise zum Tragen, daß sie als Neben-Nutzen der Haupt-Aktivität bzw. ihrer Regelung thematisiert werden. 92 Der Fall, daß für die mit 1* neu geregelte gesellschaftliche Aktivität zuvor gar keine Institution vorhanden war, dUrfte in der Realität kaum relevant sein; "neue" Aktivitäten sind in aller Regel lediglich Ausdifferenzierungen von älteren Aktivitäten, für welche es stets wie immer geartete Vorläufer-Institutionen gab.

2.2. Analyseschritt 2

71

1.1.1. Erkundung der aUgemeinen Nutzenvomellungen der relevanten Akteure

Im Anschluß an die Ermittlung der Vorläufer-Institutionen stellt sich die Aufgabe, für jeden Akteur die für ihn mit den Vorläufer-Institutionen zum Zeitpunkt des institutionellen Status quo verknüpften Nutzen oder Kosten sowie deren etwaige Veränderungen in Erfahrung zu bringen und diese zu erklären. Hierbei erscheint es nur teilweise möglich, die für die einzelnen Akteure maßgeblichen Status-quo-Kosten (-Nutzen) -Veränderungen mit Hilfe qualitativer empirischer Erhebungen zu leisten, indem festzustellen versucht wird, wie sich die betrachteten Akteure selbst geäußert haben, und indem Äußerungen oder Darstellungen Dritter über die betrachteten Akteure herangezogen werden. Vielfach fehlt es an entsprechenden Primärmaterialien. Zudem erscheint es erforderlich, auch die von den untersuchten Akteuren selbst geäußerten Statusquo-Nutzen-Vorstellungen auf ihre Plausibilität hin - bzw. auf ihre Konsistenz mit den allgemeinen Nutzenvorstellungen dieser Akteure hin - zu untersuchen, denn zahlreiche Äußerungen der Änderungs- bzw. Bewahrungsagenten über die Vorläufer-Institutionen dürften nicht Ausdruck der eigenen Nutzenvorstellungen sein, sondern den Charakter von Überzeugungstransaktionen aufweisen, mit welchen bei anderen Akteuren eine Veränderung der eigenen Status-quoNutzen oder -Kosten bewirkt werden sollte. Demgemäß sind in einem zweiten Unterschritt des zweiten Analyseschrittes zunächst Überlegungen über die bzw. Recherchen zu den allgemeinen NutzenvorsteIlungen anzustellen; da diese auch für die Erklärung des Kosten-NutzenKalküls (vgl. Analyseschritt 3; Unterabschnitt 2.3.) relevant sind, erscheint es zweckmäßig, die ermittelten Kenntnisse über die allgemeinen Nutzenvorstellungen eines Akteurs im Zweiten Teil der vorliegenden Arbeit jeweils zum Auftakt der akteurspezifischen Ausführungen zu präsentieren. Auch Erkenntnisse über die allgemeinen Nutzenvorstellungen der Akteure lassen sich wiederum nur mit Hilfe qualitativer empirischer Erkundungen gewinnen: Aus den eigenen Äußerungen der betrachteten Akteure sowie aus den vorliegenden Darstellungen über diese Akteure und ihre - vermuteten - Motive muß versucht werden, zumindest ein grobes Bild dieser allgemeinen NutzenvorsteIlungen abzuleiten. 93 93 Für zahlreiche Organisationen lassen sich deren allgemeinen Nutzenvorstellungen z. T. aus der jeweiligen Satzung, Geschäftsordnung o. lL entnehmen, in welchen die Haupt- und Nebenzieie bzw. -Auf$aben dieser Organisationen kodifIZiert wurden. Allerdings sind diese Darstellungen Vielfach äußerst allgemein gehalten und/oder dienen geradezu zur Kaschierung von Partialinteressen. Es dUrfte mithin unerläßlich sein, zur Herleitung der allgemeinen Nutzenvorstellungen eines Akteurs stets auf zusätzliche

72

2. Entwurf eines Analyserasters

2.2.3. Rekonstruktion der Status-quo-Kosten (-Nutzen)

und der Veränderungen dieser Größen sowie Ermittlung

der Ursachen von Status-quo-Kosten (-Nutzen) -Veränderungen

Auf der Grundlage der bisher skizzierten Analyseschritte und mit Hilfe weiterer qualitativer empirischer Erhebungen kann sodann versucht werden, für die einzelnen Akteure die mit den Vorläufer-Institutionen von 1* im institutionellen Status quo verbundenen (Veränderungen von) Kosten und Nutzen zu rekonstruieren. Anschließend ist für jeden Akteur herauszufinden, durch welche Verl1nderungen welcher Situations/aktoren die Status-quo-Kosten (-Nutzen) -Verände-

rungen verursacht wurden.

Die Ermittlung der wichtigsten Veränderungen in den Situationsfaktoren, mit welchen die veränderten Status-quo-Kosten (-Nutzen) der einzelnen Akteure erklärt werden können, lassen sich wiederum z. T. mit Hilfe qualitativer Erhebungen aus den überlieferten Äußerungen dieser Akteure sowie anderen Berichten - über diese Akteure - entnehmen; zusätzlich erscheint z. T. ein Rekurs auf allgemeine wirtschaftshistorische Darstellungen erforderlich, um relevante Situationsfaktoren-Veränderungen in Erfahrung zu bringen. Alle Situationsfaktoren (bzw. deren Veränderungen), die zur Erklärung der Status-quo-Kosten (-Nutzen) - oder auch zur Erklärung veränderter Änderungsund Bewahrungskosten, vgl. 2.2.4. - herangezogen werden, lassen sich - wie im Abschnitt 1. angedeutet wurde - zum großen Teil ihrerseits auf InstitutionenÄnderungen (IÄn°) zurückführen, die dem betrachteten Status quo zeitlich vorgelagert sind. Eine vollstl1ndige Erklärung der Institutionen-Änderung setzte mithin eigentlich voraus, auch IÄn° zu erklären - und so fort. Das damit angedeutete Problem des infiniten Regresses bei der Erklärung von InstitutionenÄnderungen 94 läßt sich nur auf die Weise - pragmatisch - umgehen, daß ein bestimmter Status quo zur Ausgangslage der Analyse gewählt wird. Diese gemäß dem jeweiligen Erkenntnisinteresse der Analyse festzulegende Ausgangslage wird sodann nicht auf ihr Zustandekommen hin untersucht; nur für die nach dem gewählten zeitlichen Ausgangspunkt der Analyse feststellbaren Veränderungen der Status-quo-Kosten und -Nutzen der einzelnen Akteure sind sodann die Ursachen - i. S. veränderter Situationsfaktoren - zu ermitteln.

Quellen (welche die Einschätzung dieses Akteurs zurückzugreifen. 94 V g1. hierzu Wolfram Elsner, S. 205 und S. 312 f.

durch

Dritte

beinhalten)

2.3. Analyseschritte 3 und 4

73

2.2.4. Rekonstruktion und Erklärung von Veränderungen In den erwarteten Änderungs-lBewahrungs-Kosten

Sofern damit über die ggf. erfolgten Status-quo-Kosten (-Nutzen) -Veränderungen Klarheit besteht, stellt sich die Frage nach dem möglichen Einfluß der zweiten Determinante des Änderungs-lBewahrungs-Anreizes, den Veränderungen in den von den einzelnen Akteuren erwarteten Änderungs-lBewahrungsKosten. Es ist kaum zu erwarten, daß von den jeweils betrachteten Akteuren selbst Betrachtungen über die von ihnen erwarteten Änderungs-lBewahrungsKosten dokumentarisch niedergelegt wurden. Es lassen sich derartige Veränderungen mithin fast nur aus den Darstellungen Dritter entnehmen, oder aus allgemeinen Darstellungen über den Umbruch wichtiger volkswirtschaftlicher Institutionen, nicht zuletzt jener Institutionen, die für die Allokation der Entscheidungsrechte der öffentlichen Verbände maßgeblich waren.

2.3. Analyseschritte 3 und 4: Erklärung des Änderungs-lBewahrungs-Kalküls sowie der Nachfragebefriedigung Gemäß dem unter 1.2. erläuterten theoretischen Konzept der ÖTIW lassen sich das Auftreten der Nachfrager und die Nachfrageinhalte der einzelnen Akteure auf dem "Institutionen-Markt" mit dem Bestreben nach einer Senkung der Status-quo-Kosten, Bewahrung oder Steigerung der Status-quo-Nutzen und mit den Strukturen der erwarteten Änderungs-lBewahrungs-Kosten erklären. Eine Konkretisierung dieser Zusammenhänge für die einzelnen Akteure im Rahmen eines dritten Analyseschrittes läßt das folgende Vorgehen zweckmäßig erscheinen: - Zunächst muß für jeden Akteur mit Hilfe von qualitativen Erhebungen in Erfahrung gebracht werden, wann er sich in der Realität mit welchen Nachfrageinhalten zu Wort gemeldet hat (Ermittlung der Nachfrage-Inhalte). - Sodann ist zunächst zu fragen, wie sich der Zeitpunkt der Nachfrageartikulation erkll1ren läßt, d. h. welche Rolle hierfür jeweils die Veränderungen der Status-quo-Kosten (-Nutzen) sowie der Änderungs- bzw. Bewahrungskosten spielten.

74

3. Eingrenzung des Erldärungsgegenstandes

- Anschließend müssen die Nachfrageinhalre daraufhin untersucht werden, ob sie sich mit den Status-quo-Kosten (-Nutzen) der Akteure aus den jeweiligen Vorläufer-Institutionen plausibel erkllJren (bzw. aus ihnen herleiten) lassen, oder ob ggf. andere Faktoren eine Rolle spielten. Gemäß der ersten der drei Basishypothesen der ÖTIW (vgl. oben, Unterabschnitt 1.1.) hängt die Änderungsrealisierung (und damit: die Nachfragebefrie-

digung für die Änderungs- oder Bewahrungsagenten) von den Transaktionen der Akteure auf dem "Institutionen-Markt" ab. Für die Erklärung des Zustande.. .. * kommens einer realen Institutionen-Anderung IAn aus den Nachfrageinhalten der verschiedenen Akteure - wobei diese Nachfrageinhalte keineswegs mit der realisierten IÄn * übereinstimmen müssen - sind gemäß den Ausfilluungen unter 1.1. im Rahmen des abschließenden vienen Analyseschrittes in Betracht zu ziehen: die von den Vorläufer-Institutionen bewirkten Status-quo-Kosten und Nutzen der jeweiligen (potentiellen) Entscheidungsagenten; Entgelt- und Überzeugungstransaktionen sämtlicher Akteure gegenüber den (potentiellen) Entscheidungsagenten. Für eine Rekonstruktion dieser Transaktionen sowie zur Ermittlung der mit ihnen verbundenen - effektiven - Änderungs- und Bewahrungskosten für die einzelnen Akteure gibt es wiederum keinen anderen Weg als die Durchfilluung qualitativer empirischer Erhebungen.

3. Eingrenzung des Erklärungsgegenstandes Bevor im anschließenden Zweiten Teil der vorliegenden Arbeit die Ergebnisse einer Anwendung des soeben im Abschnitt 2. vorgestellten Analyserasters auf den ausgewählten Erklärungsgegenstand - die Leistungsaufgabe der deutschen ÖAV und ihre beiden zentralen Evolutionsschübe - vorgestellt werden, soll dieser Erklärungsgegenstand zunächst in seinen Grundzügen skizziert und in das Gesamtspektrum der öffentlichen Aufgabenerfüllung eingeordnet werden:

3.1. "Ordnungs-" versus "Leistungsaufgaben"

75

3.1. "Ordnungs-" versus "Leistungsaufgaben" als Teilmengen der öffentlichen AufgabenerfüUung Die Gesamtmenge aller Regelungen der öffentlichen Aufgabenerfiillung läßt sich als Teilmenge der "formellen Institutionen "95 einer Volkswirtschaft auffassen: Zu den formellen Institutionen zählen insbesondere alle Regelungen für die Existenz und den Betrieb der in einer Volkswirtschaft vorhandenen "Verbände" oder "Organisationen"96. Diese volkswirtschaftlichen Organisationen lassen sich - in Anlehnung an eine bereits von Wagner getroffene Unterscheidung grob unterteilen in

- "gewinnorientierte" oder "gewerbsml1ßig betriebene" Organisationen,97 - "Nicht-OjJentliche, Nicht-gewerbSml1ßige" (kurz: W()NG"-) Organisationen,98

95 Die Gesamtmenge volkswirtschaftlicher Institutionen läßt sich in "informelle" und "formelle" Institutionen untergliedern, wobei "informelle" Institutionen aufgrund von ~esellschaftlichen Konventionen oder Traditionen Gültigkeit erhalten, wohingegen , formelle" Institutionen durch die formalisierten Vereinbarungen, Verträge, Satzungen, Gesetze etc. einzelner volkswirtschaftlicher Organisationen (Vereine, Unternehmungen, private Verbände, öffentliche Verbände) gesetzt werden. Zu einer vergleichbaren Unterscheidung verschiedener Institutionen-Arten vgI. z. B. Douglass C. North, Institutions 1990, S. 4 und 46; ders., Institutionen 1992, S. 4 und 55. 96 Zur hier zugrundegelegten Definition einer "Organisation" vgI. z. B. Gerard GIifgen, Entscheidung, S. 191, der jedes Kollektiv, in dem für einen bestimmten Zweck eine Arbeitsteilung festgelegt wurde, als Organisation bezeichnete. Eine vergleichbare Begriffsfassung wurde auch von Douglass C. North, Institutions 1990, S. 5; ders., Institutionen 1992, S. 5, verwendet. Abweichend hiervon werden von einigen Autoren Organisationen aller Art (also auch die im folgenden Absatz erörterten öffentlichen Organisationen) selbst bereits als "Institutionen" bezeichnet, so z. B. von Karl Heinz Hillmann und Ganter Hartjiel, S. 341; Bruno S. Frey, S. 3. In dieser Arbeit sollen hingegen - dem o. a. Wortsinn von "Institutionen" als "Regelungen" folgend - Organisationen als Komplexe von diversen Institutionen aufgefaßt werden, mit welchen jeweils verschiedene Teilbereiche der von den Organisationen entfalteten Aktivitäten geregelt werden; entst'rechend wurde z. B. auch von Gerard Glifgen, Wandel, S. 42, speziell der "Staat" (als eme Organisation) als ein "Komplex von Institutionen" bezeichnet. 97 Von Wagner wurde für die Gesamtheit dieser Organisationen der Begriff des "privatwirtschaftlichen Systems" verwendet, vgI. Adolph Wagner, Grundlegung, S. 784-827. 98 So wurde etwa im "Stellenvermittlergesetz" von 1910 der Begriff der "nichtgewerbsmäßigen" Arbeitsnachweise verwendet, wobei die "öffentlichen" Arbeitsnachweise als eine Teilmenge der "nichtgewerbsmäßigen" Arbeitsnachweise angesehen wurden; vgI. Hugo Poetzsch, Das neue Stellenvermittler-Gesetz, in: CbI., Jg. 20 (1910), S. 385387, speziell S. 387. Adolph Wagner, Grundlegung, S. 849-856, benutzte für die Kennzeichnung der NÖNG-Organisationen den Begriff der "Freien Gemeinwirtschaften" . Der im angelsächsischen Sprachraum verbreitete Begriff der "Non-Profit-Organisationen" (vgI. hierzu etwa Axel Murswieck, Sozialpolitik in den USA, Opladen 1988, S. 129) schließt demgegenüber die - auch - zur Ausübun~ politischer Lobby-Funktionen gegründeten Verbände (z. B. Gewerkschaften, Arbeltgeber- und Unternehmungsverbände)

76

3. Eingrenzung des Erklärungsgegenstandes

- "(jffentliche" oder "zwangsgemeinwirtschaftliche "99 Organisationen, die sich gegenüber den anderen Organisationen in einer Volkswirtschaft durch das "Gewaltmonopol" als ein exklusiv den öffentlichen Organisationen vorbehaltenes Bündel von Handlungsrechten auszeichnen l()().

Die Gesamtheit all jener Institutionen in einer Volkswirtschaft, auf deren Einführung sich die Mitglieder der (jffentlichen Organisationen geeinigt haben,IOI ist als die formale Konkretisierung der (jffentlichen Aufgaben sowie der Organisation der Aufgabenerfllllung aufzufassen. Allerdings: Welche Institutionen der öffentlichen Aufgabenerfüllung dabei jeweils als eine öffentliche Aufgabe aufzufassen sind, läßt sich allgemein nicht festlegen. 102 nicht ein (vgl. ebenda). Zum Begriff der "Non-Profit-Organisationen" vgl. u. a. auch die Darstellung beiAlan Ware, Between Profit and State, Cambridge 1989, S. 23 f. 99 Zum Begriff der "Zwangsgemeinwirtschaften" vgl. Adolph Wagner, Grundlegung, S.856-869. 100 "The state has one basic resource which in pure principle is not shared with even the mightiest of its citizens: the power to coerce" (George J. Stigler, S. 4). Vgl. auch bereits Adolph Wagner, Grundlegung, S. 858. 101 Aufgrund von wie immer gearteten Entscheidungsregeln. 102 Die Be~riffe "Aufgabe" und "Funktion" werden von verschiedenenen wissenschaftlichen Disziplinen, wie auch von verschiedenen Autoren, recht uneinheitlich verwendet. Leopold von Wiese (Organisation, in: HdSW, hrsg. von Erwin von Beckerath u. a., Bd. 8, Stutt~art, Tübingen und Göttingen 1964, S. 108-111, hier: S. 108) setzte "Funktion" mit 'Aufgabe" gleich und betonte den Charakter der Aufgaben als Dienste untergeordneter Stellen für ein übergeordnetes Gebilde. (In bezug auf .!iie öffentlichen Aufgaben wären die Bürger als übergeordnete "Prinzipale" anzusehen.) Ahnlich betrachteten Karl Heinz HiUmann und Ganter Hartjiel, S. 230 f., unter Berufung auf Durkheim die "Funktion" eines System-Elements als seinen Beitrag für das Gesamtsystem. Eberhard lAux (Aufgaben und kommunale Organisation, in: HdKWP, 2. Aufl., hrsg. von GUnter PUttner, Bd. 3, Berlin etc. 1983, S. 31-38, hier: S. 31-33) trennte entsprechend der betriebswirtschaftlichen Betrachtungsweise zwischen Aufgabe und Funktion. Hiernach ist "Aufgabe" der Inhalt des Handeins, die "Funktion" der Beitrag einzelner Handlungsträger zur Aufgabe. Erwin Grochla (Organisation I: Theorie, in: HdWW, hrsg. von Willi Albers u. a., Bd. 6, Stuttgart etc. 1981, S. 1-15, hier: S. 2) subsumierte unter die Aufgaben das Ziel eines Systems plus die aus diesem Ziel hergeleiteten Teilaufgaben. Zu den unterschiedlichen Aufgaben-Definitionen verschiedener Autoren vgl. auch die Darstellung bei Erhard Miiding, Aufgaben als Reformthema, in: Reform kommunaler Aufgaben, hrsg. vom Institut für Kommunalwissenschaften der Konrad-Adenauer-Stiftung, Bonn 1978, S. 1-46, hier: S. 12 f. Von Ganter partner (Das System der kommunalen Aufgaben, in: HdKWP, 2. Aufl., hrsg. von Günter Püttner, Bd. 3, Berlin, Heidelberg und New York 1983, S. 3-8, hier: S. 4 f.) stammt der Vorschlag, eine begriffliche Unterscheidung zwischen öffentlichen "Aufgabenfeldern", "Einzelaufgaben" und "Teilaufgaben" vorzunehmen. Die im folgenden skizzierte Unterscheidung verschiedener Regelungsebenen der öffentlichen Aufgabenerfüllung folgt teilweise der in einem Gutachten der amerikanischen "Advisory Commission on Intergovernmental Relations" (The Organization of Local Public Economies: Report der Advisory Commission on Intergovernmental Relations [ACIR), Washington, D.C., 1987, hier; S. 6 f.) vorgeschlagenen Unterteilun~ der öffentlichen "Provision" von Gütern und Dienstleistungen in verschiedene Teilaktlvitäten, vor allem

3.1. "Ordnungs-" versus "Leistungsaufgaben"

77

So ließen sich etwa sowohl die ÖAV (= die Verpflichtung der öffentlichen Verbände, Arbeitgeber und -nehmer mit Arbeitsvermittlungs-Leistungen zu versorgen), als auch die sog. "Arbeitsmarkt-Ausgleichspolitik" insgesamt - zu welcher neben der ÖA V u. a. die Arbeitslosenversicherung und Arbeitbeschaffungs-Maßnahmen zu zählen sind _103 als jeweils eine öffentliche Aufgabe auffassen. Aber auch z. B. die heute - als Teilmenge der Regelungen zur ÖAV - in der Bundesrepublik Deutschland gegebene Verpflichtung der öffentlichen Verbände, den Output ihrer ÖAV-Leistungen "unparteiisch" zu gestalten, 104 ließe sich bereits als eine öffentliche Aufgabe verstehen. Geht man demgegenüber von "der ÖAV" als "einer" öffentlichen Aufgabe aus, so wäre die genannte Verpflichtung zur "unparteiischen" Arbeitsvermittlung als eine (Detail-) Regelung des Outputs der OAV aufzufassen. Eindeutiger erscheint demgegenüber die Abgrenzung zwischen den "öffentlichen Aufgaben" und den "Regelungen oder Instrumenten zur Organisation der Aufgabenerftlllung": Erstere lassen sich als "Output-Größen" charakterisieren; zu letzteren sind alle Institutionen zu zählen, die sich auf die Regelung der "Produktion" oder "AusjUhrung" eines gewünschten Outputs der öffentlichen Aufgabenerfüllung und auf seine "Finanzierung" (= Ressourcen-Beschaffung zur Gewährleistung der Produktion) 105 beziehen. Zur "Regelung der Produktion (oder: AusjUhrung)" gehört auch die Festlegung der Produzenten und ihrer Entscheidungsspielräume sowie der Regelungen zur Kontrolle der Produzenten und zur Durchsetzung des gewünschten Outputs 106. Dabei kann die Ausführung (oder: Produktion des gewünschten Outputs) der öffentlichen Aufgabenerfüllung grundsätzlich zunächst auf die Weise erfolgen, daß die öffentlichen Verbände laufende Sach- und Personalausgaben, Transferzahlungen, investive Ausgaben oder Steuerprivilegierungen einsetzen; man spricht dann von einer sog. "budgetintensiven" öffentlichen

-

die Festlegung des "Ob" der öffentlichen Provision, die Gestaltung der Güter-Quantität und -Qualität, die Festlegung der Form der Finanzierung, die Festlegung des Weges der Produktion (der mit der Produktion beauftragten Organisationen). 103 Vgl. hierzu unten, Unterahschnitt 3.2. 104 Zu dieser Regelung vgl. AFG, § 20 Abs. I. 105 Hierfür kommen grundsätzlich alle öffentlichen Finanzierungsinstrumente (Erwerbseinkünfte, Gebühren, Beiträge, Steuern, Kreditaufnahme ) infrage. 106 Als Produzenten einer Leistung, die von einem bestimmten öffentlichen Verband angeboten wird, kommen neben diesem Verband selbst ("inhouse production") sowohl andere öffentliche Verbände, als auch private Organisationen infrage ("contractingout").

78

3. Eingrenzung des Erklärungsgegenstandes

Aufgabenerfüllung 107 . Der gewünschte Output der öffentlichen Aufgabenerfüllung läßt sich aber auch mit "budgetextensiven" Ausführungs-Regelungen erreichen; hierzu zählen Gesetze und Verordnungen oder vergleichbare Rechtswerke, mit welchen bestimmte Rechte und Pflichten der privaten Wirtschaftssubjekte festgelegt werden. Da die öffentlichen Verbände für den Bereich ihrer budgetextensiven Aufgabenerfüllung einen vergleichsweise geringen Ressourcenbedarf haben, sind die öffentlichen Regelungen zur Mittelbeschaffung ("Finanzierungs-Regeln") in erster Linie für den Bereich ihrer budgetintensiven Aufgabenerfüllung von Bedeutung. Nach dem Kriterium der jeweils zu ihrer Erfüllung eingesetzten budgetextensiven bzw. -intensiven Regelungen läßt sich die Gesamtmenge der öffentlichen Aufgaben grob in zwei Teilmengen zerlegen: Jene Aufgaben, zu deren Erfüllung überwiegend budgetextensive Instrumente eingesetzt werden, sollen im folgenden als "Offentliehe Ordnungsaujgaben" bezeichnet werden; Aufgaben, zu deren Erfüllung demgegenüber vorwiegend budgetintensive Instrumente eingesetzt werden, sollen mit dem Terminus der "Offentliehen Leistungs-Aufgaben" belegt werden. Eine Analyse der Leistungsaufgaben und der budgetintensven Regelungen der öffentlichen Aufgabenerfüllung erscheint aus jinanzwissenschaftlicher Sicht sicherlich stets naheliegender als eine Auseinandersetzung mit den Ordnungs-Aufgaben und den budgetextensiven Regelungen der öffentlichen Aufgabenerfiillung. Gerade für Untersuchungen zur Evolution der öffentlichen Aufgabenerfüllung erscheint es aber auch aus inhaltlichen Gründen fast zwingend, den Schwerpunkt der Analyse auf die Leistungsaufgaben und die budgetintensiven Regelungen der öffentlichen Aufgabenerfüllung zu legen. Denn der Übergang von den öffentlichen Ordnungsaufgaben und den budgetextensiven Regelungen ihrer Erfüllung auf die Leistungsaufgaben und budgetintensiven Erfüllungs-Instrumente ist ein zentrales Merkmal des Prozesses der Herausbildung unserer modernen "wohlfahrtsstaatlichen" Aufgabenerfüllung seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts; der "Wohlfahrtsstaat" ist im Gegensatz zu seinen Vorgängern zugleich "Leistungs-Staat" und "Steuer-Staat". Zudem handelt es sich bei den mit Leistungsaufgaben bereitgestellten Gütern und Dienstleistungen z. gr. T. um solche Güter und Dienstleistungen, die grundsätzlich auch vom Markt und/oder von NÖNG-Organisationen bereitgestellt werden (können); für die Erklärung der Evolution zum heutigen "Wohlfahrtsstaat" erscheint es besonders relevant, die Frage zu beantworten, weshalb die öffentli107 V gl. hierzu die Darstellung bei Horst Zimmermann, Ausgabenintensität; ders., Instrumente, hier: S. 168 f.

3.2. Der exemplarisch untersuchte Teilbereich der Leistungsaufgaben

79

chen Verbände ihre Aufgabenerfiillung zunehmend auch auf derartige Güter und Dienstleistungen ausgedehnt haben.

3.2. Der exemplarisch untersuchte Teilbereich der Leistungsaufgaben: Die "Öffentliche Arbeitsvermittlung" ("ÖAV") in Deutschland und ihre beiden zentralen Evolutionsschübe Zum (zumeist kaum grundsätzlich umstrittenen) 108 Kernbereich der öffentlichen Leistungsaufgaben zählt heute in nahezu allen modemen, marktwirtschaftIich organisierten Volkswirtschaften 109 die Bereitstellung von Leistungen zur Ojfentlichen Arbeitsvermittlung (OA V), auch wenn sich in der Organisation der ÖAV deutliche Unterschiede zwischen verschiedenen Volkswirtschaften feststellen lassen 110. Wie in Abb. 3 dargestellt ist, wird die ÖAV üblicherweise 108 Als typisch kann das folgende Zitat gelten:"In der Bundesrepublik besteht ein Konsens aller maßgebenden gesellschaftlichen Gruppen und Kräfte: Die öffentliche Arbeitsvermittlung gehört zu den notwendigen Institutionen einer freien Gesellschaft und eines sozialen Rechtsstaats" (K. Maibaum, F. Beie und M. Rademacher, Die Praxis der Arbeitsvermittlung, 2. Aufl., Stuttgart etc. 1975, S. 188). Auch jene Kritiker, die für eine Aufhebung des sog. "öffentlichen Arbeitsvermittlungs-Monopol" eintraten, stellten die ÖAV nicht grundsätzlich infrage. 109 Eine völlig andere "Institutional Choice" mit einem Verzicht auf eine selbständige ÖAVerfolgte demgegenüber in den zentralverwaltungswirtschaftlich organisierten Volkswirtschaften des ehemaligen Ostblocks, wo die Steuerung des Arbeitsmarktes nur ein Element der z~ntralen staatlichen Wirtschaftsplanung ausmachte; vgl. hierzu etwa die Darstellung bei GUnther Sehmid, S. 107-119. . 110 Die Auswahl der deutschen ÖAV als Analysegegenstand wurde bereits in der Einleitung begründet. Zur Organisation der ÖAV in anderen Volkswirtschaften vgl. vor allem GUnther Sehmid, S. 81-119; Joachim Volz, Arbeitslosenversicherung und Arbeitslosigkeit in Integrierten Wirtschaftsräumen, München 1980 (Diss., Berlin 1980), S. 146-175,332-337,354-367; Brigitte Sehmidt u. a, Struktur und Arbeitsweise von Arbeitsverwaltungen in EG-Ländern, NOmberg 1982; Ulrieh Walwei, Job Placement in Europe, in: Intereconomics, Bd. 26 (1991), S. 248-254, im folgenden zitiert als "Walwei, Job Placement"; ders.: Die soziale Dimension der europäischen Integration, in: Arbeit und Sozialpolitik, Jg. 47 (1993), S. 47-59. In verschiedenen Volkswirtschaften werden neben der ÖAV bereits seit langem auch gewerbsmäßige Stellenvermittler ("Arbeitsmakler") allgemein zugelassen (vgl. z. B. Ulrieh Walwei, Job Placement, S. 248 f.), zudem haben in einigen Volkswirtschaften auch die NÖNG-Arbeitsvermittlungsstellen eine gewisse Bedeutung (so etwa die paritätisch von den Arbeitgebern und -nehmern geleiteten Arbeitsvermittlungsstellen in Frankreich; vgl. Joachim Volz, S. 336). Vielfach besteht keine organisatorische Verknüpfung zwischen der ÖAV und der Verwaltung der Arbeitslosenversicherung (so etwa in Großbritannien, Dänemark, den Niederlanden; vgl. GUnther Sehmid, S. 92-101, Joachim Volz, S. 332-334). U. a. in den USA ist die Verwaltung der Arbeitsämter den Gliedstaaten überlassen worden, freilich im Rahmen von Richtlinien des Bundes (vgl. Joachim Volz, S. 171 f.).

80

3. Eingrenzung des Erklärungsgegenstandes Volkswirtschaftliche Institutionen insgesamt

Informelle Institutionen

Formelle Institutionen

/~

Institutionen der örrentlichen Aufgabenerf"ullung

Örrentliche Ordnungsaufgaben

Übrige formelle Institutionen

Örrentliche Leistungsaufgaben

Sozialpolitische Leistungs. aufgaben

Arbeitsmarkt· Ausgleichspolitik

Arbeitsvermittlung

Übrige Leistungsaufgaben

Übrige sozialpolitische Leistungsaufgaben (z. B. Gesetzliche Renten., Kranken., Unfall., POege. versicherung, Sozialhilfe)

Übrige ArbeitsmarktAusgleichspolitik (vor allem: Arbeits· losenversicherung. Arbeitsbescharrung, Mobilitätsrörderung, Berufsberatung)

Abb. 3: Der Standort der ÖAV im System der öffentlichen Aufgaben

Hinsichtlich der Finanzierung wird z. T. die gesamte ÖAV aus allgemeinen Budgetmitteln des Zentralstaates fmanziert (so etwa in Schweden, vgl. GUnther Schmid, S. 101); in den USA werden die Arbeitsämter vom Zentralstaat finanziert, freilich aus einem mit Hilfe der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung gespeisten Sonderfonds, vgl. Joachim Volz, S. 171 f.; für die in den USA an die Gliedstaaten abzuführenden Teile der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung, die zur Finanzierung der Transfers an die Arbeitslosen eingesetzt werden, können die Gliedstaaten über die Höhe der Beitragsätze entscheiden, vgl. Joachim Volz, S. 162 f.

3.2. Der exemplarisch untersuchte Teilbereich der Leistungsaufgaben

81

dem staatlichen Aufgabenbereich der Sozialpolitik 111, und hierbei wiederum der Arbeitsmarkt-Ausgleichspoli tik 112 zugeordnet. 113 Das fundamentale Ziel jeder Form von ''Arbeitsvermittlung'' besteht darin, den Arbeitsanbietern und -nachfragern ihre Suche nach geeigneten Stellen bzw. Arbeitskräften auf dem Arbeitsmarkt zu erleichtern, d. h. die dem Abschluß von Arbeitsverträgen vorangehenden Transaktionskosten (i. S. der Kosten der Information über die Lokalisierung und die Qualität von Arbeitsplätzen und kräften) zu senken. 114 Alle Institutionen, mit denen das offentliehe Angebot an - auf das genannte Basis-Ziel gerichteten - Leistungen zur Arbeitsvermittlung geregelt sind, lassen sich zur Leistungsaufgabe der "Offentlichen Arbeitsvermittlung" ("OAV") zählen. Ein wesentliches Merkmal der ÖA V liegt darin, daß es sich bei ihr - wie bei den meisten der modernen "wohlfahrtsstaatlichen" Leistungsaufgaben - um eine noch relativ junge öffentliche Aufgabe handelt. 115 Denn bis vor ziemlich exakt 100 Jahren gab es in Deutschland - wie in allen anderen Volkswirtschaften keine OAV, sondern - neben dem auf die Gruppe der Fürsorge-Empfanger beschränkten Vermittlungsangebot im Rahmen einzelner Armenverwaltungen ("Armenverwaltungs-Vermittlung") - nur privatwirtschaftliche Anbieter von Arbeitsvermittlungs-Leistungen, die weitgehend frei von öffentlichen Regulierungen waren. Daneben vollzog sich der größte Teil der Arbeitsmarkt-Transaktionen auf dem Wege der Selbstsuche, vor allem des Umherziehens der Arbeitsuchenden von Ort zu Ort und von Betrieb zu Betrieb (sog. "Umschau "). Um 1890 hatten die gewerbsmäßigen Stellenvermittler, die ''Arbeitsmakler'', den weitaus größten Anteil an den Arbeitsvermittlungen insgesamt; neben ihnen waren vor allem noch die Arbeitsvermittlungs-Einrichtungen gemeinnütziger Vereine, die "Vereinsnachweise", von Bedeutung; die Vermittlungsanteile der ''Arbeitgebemachweise'' (= Arbeitsvermittlungs-Einrichtungen der ArbeitgeZum Begriff der "Sozialpolitik" vgl. z. B. Heinz Lampert, Sozialpolitik, S. 3-7. Zur Abgrenzung der "Arbeitsmarktpolitik" vgl. z. B. Dieter Mertens und Jürgen Kahl, Arbeitsmarkt I: Arbeitsmarktpolitik, in: HdWW, hrsg. von Willi Albers u. a., Bd. I, Stuttgart etc. 1977, S. 279-291. Zum Begriff sowie zur Abgrenzung der "Arbeitsmarkt-Ausgleichspolitik" vgl. z. B. Heinz Lampert, Sozialpolitik, S. 289. 113 Dabei gibt es neben den sozial- und arbeitsmarktpolitischen Leistungsaufgaben auch ein breites Spektrum von entsJ?rechenden Ordnungs aufgaben. Vgl. hierzu z. B. die Darstellung bei Heinz Lampert, SOZialpolitik, S. 189-214; 295-315; 318-341. 114 Zur näheren Erläuterung dieser fundamentalen wirtschaftlichen Funktion der Arbeitsvermittlung vgl. die Darstellung bei GiselaRauschhofer, S. 17 f. sowie S. 21-24. 115 Nähere Angaben sowie ausführliche Belege zu der im fol~enden skizzierten Evolution der ÖAV werden im Zweiten Teil der vorliegenden Arbeit gegeben. Einen all$emeinen Überblick über die Entwicklung bis 1925 gibt Erdmann Graack, Arbeitsvemuttlung; für einen groben Überblick über die institutionelle Gesamtentwicklung vgl. vor allem OUo Uhlig sowie Bernhard WeUer. 111

112

6 Roscnfcld

3. Eingrenzung des Erklärungsgegenstandes

82

berverbände) und "Gewerkschaftsnachweise" (= Arbeitsvermittlungs-Einrichtungen der Gewerkschaften) waren noch recht niedrig. Bei rückläufigem Anteil (aber erheblicher Ausdehnung der absoluten Zahl der Vermittlungen) der Arbeitsmakler und leichten Zuwächsen der Gewerkschaftsnachweise konnten von 1890-1914 vor allem die Arbeitgebernachweise ihren Vermittlungs-Marktanteil deutlich steigern, fielen danach aber deutlich zurück. Im wesentlichen im Zuge von zwei Evolutionsschüben, durch InstitutionenÄnderungen in den 1890er Jahren sowie in den 1920er Jahren, wurde in Deutschland ein Arrangement der ÖAV geschaffen, das seither - bis heute! - in nahezu allen seinen zentralen Charakteristika bewahrt worden ist. 116 Der Gesamtprozeß der Evolution der deutschen ÖAV-Institutionen ist in

Abb. 4 (S. 84/85) zusammenfassend dargestellt und wird im folgenden erläutert:

Gegen Mitte der 1890er Jahre kam es fast gleichzeitig in mehreren "OAVPionier-Stlldten" zur Gründung spezieller kommunaler ArbeitsvermittlungsÄmter (der im folgenden sog. "lJlfentlichen Arbeitsnachweise", "OAN"); und in den Folgejahren wurden dann immer mehr deutsche Städte von einem wahren ÖAN-Gründungs-Boom erfaßt (1. OAV-EvolutionsschubJ.

Mit der ÖAN-Etablierung entschlossen sich zahlreiche große Städte erstmalig, neben dem privaten ein öffentliches Angebot an Arbeitsvermittlungs-Leistungen bereitzustellen, d. h. die Frage nach dem "Ob" der öffentlichen Aufgabenerfüllung wurde erstmalig zugunsten des öffentlichen Angebots entschieden 117. Damit wurde in bezug auf die Arbeitsvermittlung die entscheidende "Institution al Choice" i. S. einer öffentlichen Aufgabenbestands-Erweiterung getroffen (sog. "Verstadtlichung" oder "Kommunalisierung" der Arbeitsvermittlung). Hinsichtlich ihrer Output-Gestaltung verfolgten bereits diese ersten ÖAV -Institutionen die bis heute gültigen Regeln der Allgemeinheit, Unpartei116 Abgesehen von den Regelungen in der ehemaligen DDR; vgl. zu diesen etwa GUnther Schmid, S. 107-113. Zwar wurden unter dem Regime 4~r NS-Diktatur als wesentliche Veränderungen im institutionellen Arrangement der OAV die Selbstverwaltungs-Organe der RAVAV aufgehoben (10. November 1933) und die Befugnisse des RAVAV -Präsidenten dem Reichsarbeitsminister Ubertragen (21. Dezember 1938); nach 1945 wurden für das Gebiet der Bundesrepublik aber fast alle Regelung von 1927 wieder in Kraft gesetzt. Zur Entwicklung der ÖAV im "Dritten Reich" sei verwiesen auf Erdmann Graack, Ein Halbjahrhundert öffentliche Arbeitsvermittlung, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltun~ und Volkswirtschaft, Jg. 71 (1951), S. 721-748, im folgenden zitiert als "Graack, Halbjahrhunden". hier: S. 740 f.; Ouo Uhlig, S. 267274. Zu den Veränderun&~n seit 1945 v~l. Ouo Uhlig, S. 275-325. Zu den heutigen Regelungen der deutschen OAV sei verwiesen auf die derzeitige gesetzliche Grundlage, dasAFG. 117 Abgesehen von der bereits erwähnten Armenverwaltungs-Vermittlung, die nur für Fürsorge-Empfänger durchgeführt wurde.

3.2. Der exemplarisch untersuchte Teilbereich der Leistungsaufgaben

83

lichkeit und Arbeitsmarkt-NeutralitlU der Arbeitsvermittlung; 118 ebenfalls bereits eingeführt wurden damals die zunächst nur von Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern paritätisch besetzten "VerwaltungsausschUsse" als spezielle ÖAV-Aufsichtsorgane; schließlich galt seit Mitte der 1890er Jahre fast überall das Finanzierungs-Prinzip der GebUhrenfreiheit. 1923 wurde dann gleichzeitig mit dem Übergang zur Beitragsfinanzierung bei der "ErwerbslosenfUrsorge" ("ELF") - der Vorläuferin der "Arbeitslosenversicherung" ('~ V") - auch für die ÖAV die Finanzierung durch Zwangsbeitrl1ge der Arbeitgeber und -nehmer eingeftlhrt, die 1927 zu einer ausschließliche~ Beitragsjinanzierung erweitert wurde: Seither wird die ÖAV zu 100% nur durch Zwangsbeiträge finanziert, ohne Zuschüsse der öffentlichen Verbände. Ebenfalls 1923 wurde der Grundstein für die bis heute gültige organisatorische VerknUpfung zwischen OAV und ALV gelegt, indem den ÖAN die Ausführung der ELF zugewiesen wurde. Mit der Verabschiedung des "Arbeitsvennittlungsund Arbeitslosenversicherungsgeserzes" ("AVAVG") im Jahre 1927 wurden sodann die ÖAN sowie die inzwischen geschaffenen "Landesarbeitsämter"119 (LAA) völlig von den Kommunen bzw. Ländern abgetrennt und zu Sub-Organisationen der vom Reich eingerichteten, "parafiskalischen"120 "Reichsanstalt }Ur Arbeitsvennittlung und Arbeitslosenversicherung" ("RA VA V") umgestaltet, der Vorgängerin der heutigen "Bundesanstalt}Ur Arbeit" ("BA"). Weiterhin wurde mit dem AV AVG das bis heute gültige Prinzip der DrittelparitlU Ge 1/3 Vertreter der Arbeitgeber, der -nehmer sowie der öffentlichen Verbände) in den ÖAV-Aufsichtsgremien eingeführt.

Die skizzierten Institutionen-Änderungen der Jahre 1923-1927 lassen sich zusammenfassend als ein zweiter und bis heute im wesentlichen letzter Evolutionsschub im Bereich der deutschen OA V auffassen. Alle nach 1927 durchgeführten Veränderungen im Arrangement der ÖAV blieben für die institutionelle Gesamtentwicklung der deutschen ÖAV vergleichsweise unbedeutend. Die zwischen den beiden vorgestellten Evolutionsschüben angesiedelten Institutionen-Änderungen der Jahre von ca. 1910-1922 hatten überwiegend eine sukzessiv zunehmende Regulierung der nicht-öffentlichen VermittlungseinrichNäheres hierzu vgl. unten, Unterabschnitt 4.2. Die Etablierung von LAA durch die Länder in den Jahren 1918-1922 erscheint für die Gesamtentwicklung der deutschen ÖAV von untergeordneter Bedeutung; zur Entstehung der LAA vgl. z. B. o. V., Aus der Befründung des Entwurfs eines Arbeitsnachweisgesetzes, in: RABl., Amtl. Teil, NF, Jg. (1921), S. 533-535 und 597-604 (im folgenden zitiert als "0. v., Aus der Begrandung ANG'), hier: S. 602 und 604. 120 Zum Begriff der und zur finanzwissenschaftlichen Diskussion über die "Parafisci" sei verwiesen auf den Sammelband Theorie der Parafisci, hrsg. von Klaus Tiepelmann und Gregor van der Beek, Berlin und New York 1992. 118 119

84

3. Eingrenzung des Erklärungsgegenstandes

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Fortsetzung Abb. 4

85

3. Eingrenzung des Erklärungsgegenstandes

86

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= jeweils neuentstandene Institutionen = jeweils bewahrte Institutionen

= "Aussterben" einer Institution

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= Öffentliche Arbeitsnachweise

ÖAV

= Öffentliche Arbeitsvermittlung

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= Reichsamt ftlr Arbeitsvermittlung

LAA

= Landesänter ftlr Arbeitsvermittlung

RAVAV

= Reichsanstalt ftlr Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung

ELF

= Erwerbslosenftlrsorge

ALV

= Arbeitslosenversicherung

a b c d e f g h

= Zwangsschließung

der (meisten) Arbeitsmaklerfirmen durch das ANG von 1922. = freiwillige Schließung; diese erfolgte in einzelnen Kommunen bereits seit Mitte der 1890er Jahre. = freiwillige Schließung in jenen Kommunen, die einen ÖAN etablierten. = zunächst nur in einzelnen Kommunen. =" Allgemeinheit", "Unparteilichkeit", "Arbeitsmarkt-Neutralität". = als ÖAN-Aufsichtsgremien. = Organisatorische VerknUpfung der ELF (später der ALV) mit der ÖAV. = Übernahme der ÖAN, LAA und des RAA in eine "parafiskalisehe" Organisationsform.

3.2. Der exemplarisch untersuchte Teilbereich der Leistungsaufgaben

87

tungen zum Gegenstand 121 und mündeten 1922 schließlich in das in der Bundesrepublik Deutschland bis 1994 gültige weitgehende öffentliche "Arbeitsvermittlungs-Monopol" 122. Diese Regulierungs-Maßnahmen lassen sich dem Bereich der budgetextensiven Regelungen der öffentlichen Aufgabenerfüllung zurechnen, welche im vorliegenden Fall zum Zwecke einer Förderung der ÖAV - als einer vorwiegend mit budgetintensiven Instrumenten erfüllten Leistungsaufgabe - in das ÖAV-Arrangement integriert wurden. Entsprechend der - im vorangegangenen Unterabschnitt 3.1. begtiindeten weitaus höheren Relevanz einer Erklärung der Evolution von budgetintensiven im Vergleich zu den -extensiven Regelungen der öffentlichen Aufgabenerfül121 Vgl. hierzu zusammenfassend: o. v., Aus der BegrUndung ANG, S. 597-604. Die seit der Mitte der 1890er Jahre zu verzeichnende rasche Ausbreitung der ÖAN hatte nicht zur Fol$e, daß für das ÖAV -Angebot ein flächendeckendes Netz zustande$ekommen wäre. Die ÖAN blieben zunächst eine sog. "freiwillige" Aufgabe der KreISe und Gemeinden - mit der Folge, daß die Entscheidungder kommunalen Entscheidungsträger in vielen Fällen gegen die Etablierung von ÖAN fallen konnte. Die dennoch erfolgte Übernahme der zunächst nur von einigen "Pionier-Städten" etablierten Vermittlungs-Institutionen durch immer mehr "Nachfolger-Gemeinden" läßt sich vermutlich im wesentlichen völlig analog zur Entscheidungsfmdung in den "Pionier-Städten" erklären und soll in der vorliegenden Arbeit deshalb nicht untersucht werden; jene Faktoren, die für die Entscheidungsträger der "Pionier-Städte" maßgeblich waren, dUrften im Verlauf der Zeit für immer mehr Gemeinden eine Rolle gespielt haben. Zwar versuchten die Länder teilweise, die Kommunen zur Gründung von ÖAN anzure~en; sie blieben damit aber überwiegend ohne Erfolg. Nachdem einzelne Länder bereIts Regelungen zur interlokalen Arbeitsvermittlung getroffen und "Landeszentralen" der ÖAN etabliert hatten, war die erste wesentliche Maßnahme des Zentralstaates auf dem Gebiet der Arbeitsvermittlung die Verabschiedung des sog. "SteUenverminler-Gesetzes" im Jahre 1910, das weit über die zuvor gültigen Re~elungen hinausreichende Regulierungen der Arbeitsmakler zum Inhalt hatte, und $lelchzeiti$ eine gewisse Förderung bzw. Privilegierung der ÖAN vorsah. Die Verems-, Arbeltgeber- und Gewerkschaftsnachweise - zusammenfassend als "Nichtlijfentliche, nichtgewerbsmiJjJige (N(JNG-) Nachweise" bezeichnet - blieben demgegenüber bis 1915 frei von staatlichen Regulierungen. In der Zeit des 1. Weltkriegs sowie der Demobilisierung kam es dann zu weiteren Regulierungsmaßnahmen des Zentralstaates, die zunehmend nicht mehr ausschließlich die Arbeitsmakler und auch nicht nur die NÖNG-Nachweise zum Gegenstand hatten, sondern vielmehr auch darauf abzielten, die ÖAN nach reichseinheitlichen Gesichtspunkten auszubauen. Diese Maßnahmen des Zentralstaates fanden ihren Abschluß mit dem sog. "Arbeitsnachweisgesetz" ("ANG") von 1922 (Arbeitsnachweisgesetz vom 22. Juli 1922: RGBl. 1922, Teil I, S. 657, im folgenden zitiert als'~G"); mit den ANG wurde die §ewerbsmäßige Stellenvermittlung verboten, d. h. das "Arbeitsverminlungs-Monopol' der öffentlichen Verbände eingeführt; zudem wurde die gesamte ÖAV nach einheitlichen Grundsätzen fürs ganze Reich gestaltet...d. h. die Selbstverwaltungs-Entscheidun~sspiel­ räume der Kommunen hinsichtlich der OAV wurden vermindert (sog. "Verreichllchunf der ÖAV; zu diesem Begriff vgl. etwa Erdmann Graack, Halbjahrhundert, S. 727). DIe NÖNG-Nachweise wurden in den 1920er Jahren zunächst nicht verboten; erst durch das Gesetz über Arbeitsvermittlung, Berufsberatung und Lehrstellenvermittlung vom 5. 11. 1935 wurde der RAV AV das (fast) totale Monopol der Arbeitsvermittlung übertragen, . vgl. Erdmann Grack, Halbjahrhundert, S. 741; Otto Uhlig, S. 268. 122 Zu den ehemals vorhandenen Möglichkeiten einer Ausnahme vom Verbot nichtöffentlicher Arbeitsvermittlungs-Leistungen vgl. AFG, § 23 Abs. I und V.

88

3. Eingrenzung des Erklärungsgegenstandes

lung muß das Untersuchungsinteresse vorrangig den beiden - oben skizzierten Haupt-Evolutionsschüben der deutschen ÖAV gelten, im Rahmen derer die Kernelemente der bis heute gültigen budgetintensiven Regelungen der ÖAV evolvierten. Dementsprechend erscheint eine Eingrenzung des Analyseobjektes auf diese beiden Evolutionsschübe naheliegend. Auch der Charakter der vorliegenden Untersuchung als einer Art "Pionier-Studie" spricht für eine solche Eingrenzung: Wichtiger als die Erklärung jeder Detailveränderung im Arrangement der ÖA V erscheint beim heutigen Stand der Forschung eine hinreichend tiefenscharfe Analyse für ausgewählte Institutionen-Änderungen. Die DetailAnalyse im anschließenden Zweiten Teil dieser Arbeit soll deshalb auf die zuvor erläuterten beiden Evolutionsschübe der 1890er sowie der 1920er Jahre beschränkt werden. 123

123 Eine Studie des Verfassers der vorliegenden Arbeit zur Analyse der Entstehung des staatlichen "Arbeitsvermittlungs-Monopols" sowie anderer "ausgabenextensiver" staatlicher Regelungen des Arbeitsvermittlungsmarktes ist in Vorbereitung.

Zweiter Teil

Positive Erklärungen am Beispiel der ~inrtihrung und parafiskalischen Organisation der Offendichen Arbeitsvermittlung in Deutschland

Wie in der Einleitung erläutert wurde, soll mit der vorliegenden Arbeit ein Beitrag zur positiven Erkll1rung der Entstehung und des institutionellen Wandels der lJffentlichen AufgabenerfUllung geleistet werden, und zwar mit Hilfe des im Abschnitt 1. vorgestellten Erklärungskonzepts der ÖTIW, fiir dessen systematische Anwendung auf reale Institutionen-Änderungen im Abschnitt 2. ein Analyseraster vorgeschlagen wurde. Dieses Analyseraster soll nunmehr einer ersten empirischen Erprobung unterzogen werden, und zwar fiir die soeben im Abschnitt 3. im Überblick vorgestellten beiden zentralen Evolutionsschübe der deutschen ÖAV: Im anschließenden Abschnitt 4. werden zunächst die im Zuge der "Kommunalisierung" oder "Verstadtlichung" der Arbeitsvermittlung durchgeführten Institutionen-Änderungen untersucht, bevor sodann im Abschnitt 5. der Übergang zur parafiskalischen Organisation der Arbeitsvermittlung analysiert wird.

4. Die Kommunalisierung der Arbeitsvermittlung Mitte der 1890er Jahre kam es fast wie auf einen Schlag, "als wäre (auf einmal, MR) ein Verbot aufgehoben ... " worden,l in einer ganzen Anzahl süd- und westdeutscher Städte erstmalig zur Gründung spezieller kommunaler Arbeitsvermittlungs-Ämter,2 die üblicherweise als "Kommunale Arbeitsnachweise" oder "Offentliche Arbeitsnachweise" ("OAN") bezeichnet wurden 3. lOtto Uhlig, S. 112. Am 1. April 1894 wurde der erste deutsche ÖAN in Eßlingen.~röffnet, vgl. z. B. Otto Uhlig, S. 101. Laut Otto Uhlig, S. 100, wurden 1894 weitere OAN in Heilbronn, Erfurt, Elberfeld und Trier etabliert, 1895 in Stuttgart sowie in 16 weiteren Städten. Laut Carl Conrad, Die Organisation des Arbeitsnachweises in Deutschland, Leipzig 1904, S. 337 f., erfolgten 1894 Gründungen in Elberfeld und Krefeld, 1895 in Frankfurt a. M., 2

90

4. Die Kommunalisierung der Arbeitsvermittlung

Die Emergenz dieser ÖAN wurde in den 1890er Jahren von zahlreichen Zeitgenossen als eine geradezu "revolutionllre Neuerung" betrachtet, 4 weil mit den ÖAN die öffentlichen Verbände erstmals seit dem Übergang zur freien Wirtschaftsordnung explizit "... in den normalen Verlauf der Wirtschaft (eingriffen, MR), zu dem eben auch die Arbeitslosigkeit gehörte ... "5.6

Die Etablierung der OAN war darUber hinaus auch einer der zentralen "breaking points" des Obergangs von der "repressiven" und "reaktiven" (mit München, Stuttgart, Straßburg (V gl. Carl Conrad, S. 369, 352, 340, 362). Conrad bezog allerdings nur die Großstädte in seine Untersuchung ein. In den Folgejahren wurden in immer mehr Städten ÖAN ge~ründet. Nur in ländlichen Gemeinden und auf Kreisebene kam es zunächst so gut wie mcht zur Etablierung von ÖAN. SO enthlUt noch die Übersicht von /gnaz J astrow, Sozialpolitik und Verwaltungs wissenschaft, Bd. 1: Arbeitsmarkt und Arbeitsnachweis, Gewerbegerichte und Einigungsämter, Berlin 1902 (im folgenden zitiert als "Jastrow, Sozialpolitik"), S. 142-144, fast nur städtische ÖAN. 1912 hatten außer Altona, Bremen und Hamborn alle Großstädte mit mehr als 100.000 Einwohnern einen ÖAN eingerichet (oder subventionierten einen "allgemeinen" Vereinsnachweis [= Arbeitsnachweis in der Trägerschaft gemeinnütziger Vereine]); vgl. Statistisches Jahrbuch deutscher Städte, brsg. von M. Neefe, Jg. 20 (1914), S. 146-175, speziell S. 146 f. Einen umfassenden Überblick über die Ausbreitung der OAN bis 1912 versucht Anselm FQlUt, Arbeitsmarktpolitik 1986, S. 292 f., Tab. 10, zu geben; diese Angaben sind freilich insofern irreführend, als dabei nicht zwischen der Gründun~ von ÖAN und jener von kommunal-subventionierten Vereinsnachweisen unterschieden wird; und bei den Vereinsnachweisen wird nicht auf das Datum ihrer erstmaligen Unterstützung durch die Kommunen ab~estellt, sondern auf jenen Zeitpunkt, zu welchem die Vereinsnachweise - z. gr. T. ohne Jede kommunale Beteiligung - gegründet wurden, was vielfach vor Mitte der 1890er Jahre der Fall war. Eine Erklärung der ÖAN-Ausbreitung auf immer mehr Kommunen soll in dieser Arbeit - wie bereits erläutert wurde - nicht vorgenommen werden. Hier sei nochmals die Vermutung angeführt, daß sich die weitere Verbreitung der ÖAN weitgehend analog zur erstmaligen ÖAN-Entstehung erklären läßt Die zunächst in den "Pionier-Städten" entstandenen Veränderungen waren für die "Nachfolger-Städte" lediglich später als für jene relevant. Auch die kommunale Bezuschussung von Vereinsnachweisen hatte vergleichbare Ursachen wie die Etablierung von ÖAN, vgl. hierzu die Darstellung bei Carl Conrod, S. 396-459. Für die weitere Entwicklung der ÖAN war jedoch die ÖAN-Etablierung weitaus wichtiger als die kommunale Bezuschussung von Vereinsnachweisen, weshalb die kommunale Bezuschussung von Vereinsnachweisen in dieser Arbeit nicht ~e­ sondert zu erklären versucht werden soll. Zudem wurden die meisten Vereinsnachweise im weiteren Verlauf der Entwicklung in ÖAN transformiert, vgl. etwa Anselm Faust, Arbeitsmarktpolitik 1986, S. 52; Woljram FlJrster, Arbeitsamt Mannheim, 1893-1993, Mannheim 1994, S. 29 f. 3 Zu diesen Bezeichnungen vgl. z. B. Carl Conrod, S. 337-396; Otto Uhlig, S. 112; zum Teil wurde bereits die später allgemein übliche Bezeichnung des "Arbeitsamtes" gewählt, vgl. Otto Uhlig, S. 112. 4 Vgl./gnaz Jastrow, Die Arbeitslosenversicherung im Rahmen der wirtschaftlichen und sozialpolitischen Entwicklung, in: Das Problem der Arbeitslosenversicherung in Deutschland, Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit am 20. Februar 1925 zu Berlin, Berlin 1925, S. 8-20 (im folgenden zitiert als "Jastrow, ALV'~, hier: S. 14; Erdmann Graack, Volkswirt, S. 16 f. S Michael Wermel und Roswitha Urban, Bd. I, S. 17. 6 Dementsprechend war der Streit um die "Kommunalisierung" der Arbeitsvermittlung "... mit Heftigkeit, ja zuweilen mit Erbitterung gefilhrt" worden (/gnaz Jastrow, Sozialpolitik, S. 139).

4.1. Vorläufer-Institutionen

91

Hilfe von Polizei und ArmenjUrsorge) zur "leistenden" und ''prliventiven'' Staatstlitigkeit. Für die Erklärung dieser institutionellen Innovation sollen in diesem Abschnitt der Arbeit zunächst (4.1.) die wichtigsten Vorläufer-Institutionen der ÖAN näher charakterisiert werden, denen gemäß den Erläuterungen zum hier verwendeten Analyseraster (vgl. Abschnitt 2.) eine maßgebliche Rolle für die angestrebten Erklärungen zukommen dürfte. Unter 4.2. wird sodann der Erklärungsbedarf - das in den 1890er Jahren evolvierte institutionelle Arrangement der ÖAN - näher erläutert, bevor im Unterabschnitt 4.3. die einzelnen für die Emergenz der ÖAN relevanten Akteure und ihre Transaktionen auf dem entsprechenden "Institutionen-Markt" untersucht werden, in deren Resultat die zu erklärende "Verstadtlichung" der Arbeitsvermittlung realisiert wurde.

4.1. Vorläufer-Institutionen

Die vor Mitte der 1890er Jahre in Deutschland? vorhandenen Institutionen der Arbeitsplatz- und Arbeitskräftesuche waren die Regelungen der 8 - traditionellen individuellen Suche nach geeigneten Arbeitsplätzen bzw. kräften auf dem Wege des Umherziehens (= sog. "Umschau") als Form der "Selbstsuche"; 7 Auch in allen anderen Volkswirtschaften mit Ausnahme der Schweiz (dort wurden seit 1888 einzelne ÖAN etabliert, vgl. Friedrich von Reitzenstein, Der Arbeitsnachweis Seine Entwickelung und Gestaltung im In- und Auslande, Berlin 1897 [Schriften der Centralstelle für Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen. Nr. 11 - im folgenden zitiert als "Reitzenstein, Arbeitsnachweis'1. S. 287-289) gab es - soweit bekannt - vor 1894 noch keine Institutionen der Ö AV; vgl. hierzu ebenda. S. 17-41; eine teilweise Ausnahme bildeten die seit 1886 entstandenen französischen uBourses du Travail u• die aber als kommunal finanzierte und allein gewerkschaftlich verwaltete Vermittlungseinrichtungen mit den deutschen ÖAN kaum zu vergleichen sind; zu den uBourses du Travail u vgl. ebenda, S. 280-283. sowie Peter Schöttler, Die Entstehung der uBourses du Travail u• Frankfurt a. M. und New York 1982. 8 Hierbei handelte es sich um Institutionen im oben (zu Bel{in~ des Abschnittes I) erllluterten allgemeinen Sinne der Institutionen als "volkswirtschaftliche Regelungen aller Art". keineswegs (mit Ausnahme der Armenverwaltungs-Vermittlung) um Institutionen, die von den Mitgliedern der öffentlichen Verbände qua Gesetzes- oder Satzungsvorschrift für verbindlich erklärt worden wären. Die uSelbstsuche u wurde nur durch informelle Institutionen i. S. gesellschaftlicher Traditionen geregelt; für die Arbeitsmakler und die NÖNG-Nachweise galten Institutionen i. .:;. der von den einzelnen Arbeitsmakler-Firmen bzw. den Trägerorganisationen der NONG-Nachweise für die von ihnen jeweils betriebene Arbeitsvermittlung festgelegten Regelungen. teilweise i. V. m. einzelnen (gewerberechtlichen o. ä.) staatlichen Rahmenvorschriften. Nähere Angaben und Erläuterungen zu diesen hier zunächst nur schlagwortartig aufgezählten Institutionen werden in den folgenden Unterabschnitten gegeben.

92

4. Die Kommunalisierung der Arbeitsvermittlung

- Vermittlungsangebote "gewerbsmIJßiger Stellenvermittler" (oder: "Arbeits-

makler");

- Vermittlungsangebote von "Nichtöffentlichen und Nichtgewerbsmäßigen" ("NÖNG"-) Verbänden (= "Vereinsnachweise" von "gemeinnützigen" Vereinen; "Gewerkschaftsnachweise" von Gewerkschaften; "Arbeitgebernachweise" von Arbeitgeberverbänden); die Arbeitgeber- und Gewerkschaftsnachweise werden häufig auch zusammenfassend als "Interessentennachweise" bezeichnet;9 - VermittIungsangebote der kommunalen Armen- oder Fürsorgeämter (= "Ar-

menverwaltungs-Vermittlung'').

Diese in Abb. 5 zusammenfassend dargestellten Vorlauter-Institutionen der ÖAV und ihre Rolle für die Stellensuche bzw. -besetzung sollen zu Beginn dieses Abschnittes - gemäß dem im Abschnitt 2. der vorliegenden Arbeit vorgestellten Analyseraster - näher charakterisiert werden, weil ihnen eine zentrale Rolle für Veränderungen in den Status-quo-Nutzen der relevanten Änderungsund Bewahrungsnachfrager zugekommen sein dürfte. Eine Erklärung des Zustandekommens dieser Vorläufer-Institutionen ist demgegenüber nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit, sondern muß zukünftigen Untersuchungen überlassen bleiben.

9 Bereits vor 1890 gab es zwar als weitere Kategorie von Vermittlungs-Institutionen auch einzelne sog. "Paritätische Fach-Arbeitsnachweise, vgl. z. B. Anselm Faust, Arbeitsmarktpolitik 1986, S. 60, aber bis 1900 spielten sie auf dem Arbeitsvermittlun$sMarkt keine RoUe, bis 1900 gab es nur insgesamt 3 Paritätische Fach-Arbeitsnachweise in Deutschland, vgl. Anselm Faust, Arbeitsmarktpolitik 1986, S. 292 f., Tab. 10. Auf die Paritätischen Fach-Arbeitsnachweise wird deshalb im folgenden nicht eingegangen.

93

4.1. Vorläufer-Institutionen

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= Abschluß von Arbeitsverträgen = Suche nach und Angebot von Stellen!Arbeitskräften

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= Ausübung von Entscheidungs- und Kontrollrechten

= Finanzierung

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4. Die Kommunalisierung der Arbeitsvermittlung

94

4.1.1. Die "Umschau"

als Form der individuellen Selbstsuche nach Arbeit (-skräften)

Bei der Selbstsuche lO nach Stellen bzw. Arbeitskräften bedienen sich die Arbeitnehmer und -geber explizit nicht der Dienste einer Vennittlungsinstanz; gleichwohl wird auch diese Selbstsuche durch verschiedene volkswirtschaftliche Institutionen - wie bestimmte Gewohnheiten und Kommunikationsmedien "kanalisiert" . Nach den erst für das Jahr 1911 vorliegenden Angaben wurden damals ca. 2/3 aller Stellen qua Selbstsuche besetzt 11. Im ausgehenden 19. Jahrhundert bestand - als die damals bei weitem wichtigste Form der Selbstsuche - in zahlreichen Berufszweigen bei den Arbeitnehmern der Brauch der sog. "Umschau", d. h. des planlosen Umherziehens und Wanderns von Ort zu Ort und von Betrieb zu Betrieb, um dort mündlich nach einer freien Stelle "anzufragen" 12. Zwischen ca. 1850 und dem 1. Weltkrieg waren immer mehr "Umschauende" als 'Wanderer"13 immer länger - über immer weitere Entfernungen hinweg - und immer häufiger - ohne sich für längere Zeit an einern Ort fest niederzulassen - unterwegs. 14 Zu diesem Begriff vgl. z. B. Gisela Rauschhoter, S. 52. Franz Xaver Zahnbrecher, Die Arbeitgebernachweise in Deutschland, NUmberg 1914, S. 4. 12 Zur Beschreibung der Umschau als Form der Selbstsuche vgl. Friedrich von Reitzenstein, Arbeitsnachweis, S. 51 f. 13 Vgl. zum Begriff der "Wanderer" nach den Regeln der ArmenfÜl'sorge des 19. Jahrhunderts: Amold Weller, Sozialgeschichte Südwestdeutschlands, Stuttgart 1979, S. 225 f. 14 Zu dieser Tendenz vgl. Dieter Lan~ewiesche, Wanderungsbewegungen in der Hochindustrialisierungsperiode: Regionale, mterstädtische und innerstädtische Mobilität in Deutschland, 1880-1914, in: VSWG, Bd. 64 (1977), S. 1-40; vgl. auch die Darstellung der "Völkerwanderung am Bettelstab"bei Otto Uhlig, S. 75-77; die in der Zunahme der Umschau zum Ausdruck kommende Steigerung der heute sog. "Such-Arbeitslosi$.keif" (zu diesem Begriff vgl. etwa die Darstellung bei Heim Lampen, Arbeitslosigkeit, in: Arbeitsmarktpolitik, hrsg. von Heinz Lampert, Stuttgart und New York 1979, S. 3951 [im folgenden zitiert als "Lampen, Arbeitslosigkeit'1, hier: S. 46 f.) läßt sich vermutlich mit einem deutlichen Anstieg der Transaktionskosten auf dem Arbeitsmarkt (i. S. der Informationskosten in bezug auf die Arbeitsplatz- und Arbeitnehmerqualitäten) erklären; die Ursachen hierfür waren vermutlich u. a. - die wachsende Spezialjsierung vieler Unternehmungen, die den" ... Arbeitgebern und Arbeitsuchenden den Überblick darüber (erschwerte, MR), wo freie Arbeitskräfte und unbesetzte Arbeitsstellen vorhanden waren" (Gisela Rauschhofer, S. 26), - die steigende Unsicherheit über die Arbeitnehmer-Qualitäten, weil in der Industrie zunehmend solche Fähigkeiten verlangt wurden, die nur noch z. T. mit den von den Arbeitnehmern gelernten Gewerben kongruierten, - das dynamische Wachstum und die permanente Veränderung und Ausweitun$ großstädtischer Ballungszentren (vgl. hierzu die zusammenfassende Darstellung bel Heinz 10

11

4.1. Vorläufer-Institutionen

95

Gegenüber der Umschau dürften in den 1890er Jahren alle Formen der Arbeitsvermittlung nur von verschwindend geringer Bedeutung gewesen sein; auch die anderen Formen der Selbstsuche waren im ausgehenden 19. Jahrhundert entweder auf dem Rückzug oder erst in den Anfängen begriffen und dürften deshalb als Vorläufer-Institutionen der ÖAN kaum eine Rolle gespielt haben,15

Lampen, Sozialpolitik, S. 52), in denen es für die Arbeitnehmer immer schwieriger wurde, sich zurecht zu finden. Weiterhin erhöhten die zumeist sehr niedrigen Löhne im ausgehenden 19. Jahrhundert (vgl. hierzu z. B. Heinz Lampen, Sozialpolitik, S. 64-68) den Anreiz, aus Gründen der Lohnsteigerung eine höher dotierte Stellung zu finden - und damit die Such-Arqeitslosigkeit. Die Basis für diese Tendenzen bildete die im Zusammenhang mit dem Übergang zum Regime der freien Wirtschaftsordnung geschaffene weitgehende Arbeitsvertrags-Freiheit (vgl. hierzu etwa ebenda, S. 70); zuvor hatten" ... Zunftzwang, Leibeigenschaft, Höri~eit und Schollenpflichtigkeit ... (dazu gefilhrt, MR), daß sich die Frage nach der Wahl eines Arbeitsplatzes gar nicht gestellt hatte" (Gisela Rauschhofer, S. 25). 15 Eine zweite traditionell-überlieferte, freilich stets nur in einzelnen Regionen verbreitete, Regelung der Selbstsuche war die Einrichtung der sog. "Menschenmlirkte". Dies waren regelmäßig, aufgrund alter Gewohnheiten stattJmdende Zusammenkünfte auf bestimmten Plätzen, bei welchen die Angehörigen bestimmter Berufe mit potentiellen Arbeitgebern Kontakt aufnehmen konnten. Zu den "Menschenmärkten" vgl. z. B. die Darstenun~ bei Friedrich von Reitzenstein, Arbeitsnachweis, S. 56 f.; Otto Uhlig, S. 175-181. Die 'Menschenmärkte" wurden im ausgehenden 19. Jahrhundert freilich immer mehr eingestellt und können deshalb im folgenden vernachlässigt werden. Zum Rückgang der "Menschenmärkte" vgl. Friedrich von Reitzenstein, Über Beschäftigung arbeitsloser Armer und Arbeitsnachweis als Mittel vorbeugender Armenpflege, in: Schriften des deutschen Vereins für Armenpflege und WOhltä~'eit, Heft 4, Leipzig 1887, S. 1-76 (im folgenden zitiert als "Reitzenstein, Ober Besc igung"), S. 33; Franz Ludwig, Die Gesindevermittlung in Deutschland, Tübingen 19 3 ·(Ergänzungsheft 10 der Z f. d. g. Staatsw.), S. 4; Otto Uhlig, S. 179 und 182. Und auch die Bedeutung der speziell bei den Dienstboten bis weit ins 19. Jahrhundert hinein üblichen "Empfehlung" von Arbeitskräften - vor allem durch die ehemaligen Dienstherrschaften und durch die bisherigen Dienstboten der Arbeitgeber - nahm gegen Ende des 19. Jahrhunderts - als Folge der wachsenden Anonymität und Unübersichtlichkeit in den dynamisch wachsenden Großstädten - vermutlich deutlich ab; vgl. hierzu Rolf Engelsing, Der Arbeitsmarkt der Dienstboten, in: Wirtschaftspolitik und Arbeitsmarkt, hrsg. von Hermann Kellenbenz, München 1974, S. 159-237, hier: S. 169. Demgegenüber erfuhr das Stellen-lnseratenwesen gerade erst in den 1890er Jahren in den damals enorm aufblühenden (vgl. z. B. Friedrich von Reitzenstein, Arbeitsnachweis, S. 17) Tages- und Wochenzeitungen einen Aufschwung (vg,l. ebenda, S. 60-63). Das Inseratenwesen kommt mithin als Vorläufer-Instituion der OAN ebenfalls kaum in Betracht. Für das Gros der Arbeitnehmer bewirkte das Inseratenwesen zudem nur eine weitere Zunahme des Umherziehens (vgl. Protokoll über die Sitzung des Gewerbegerichts der Stadt Mainz sowie Gutachten des Gerichts betreffend die Eingaben des Vereins selbständiger Gewerbetreibender und des Mainzer Gewerkschaftskartells wegen Errichtung eines städtischen Arbeitsamtes zu Mainz, in: Anhang m von "Arbeitslosigkeit und Arbeitsvermittlung in Industrie- und Handelsstädten: Bericht über den am 8. und 9. Oktober 1893 vom Freien Deutschen Hochstift zu Frankfurt a. M. veranstalteten sozialen Kongreß", Berlin 1894, S. 211-217 (im folgenden zitiert als "Protokoll Mainz"), S. 214), da eine schriftliche Bewerbung um die angebotenen Stellen zumeist nicht üblich war.

4. Die Kommunalisierung der Arbeitsvermittlung

96

4.1.2. Die" Arbeitsmakler" als gewerbsmäßige Anbieter von Arbeitsvermittlungsleistungen

Bereits aus dem Mittelalter liegen vereinzelte Berichte über Geschäftsleute vor, die gegen Entgelt Arbeitskräfte an Arbeitgeber vermittelten. 16 Aber erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden die "gewerbsmäßigen Stellenvermittler" - oder im folgenden kurz: "Arbeitsmakler" _17 von einer nur vereinzelten zu einer überall in Deutschland weit verbreiteten Erscheinung. Vor allem seit ca. 1870 kam es offenbar zu einer hohen Zahl von Firmenneugründungen; dabei wuchs zumindest in einzelnen Städten die Zahl der Arbeitsmakler "... oft rascher .. als die Bevölkerungszahl" 18. 1894 erreichten die Arbeitsmakler in Preußen einen Anteil von 64,9 % an allen über Vermittlungs-Instanzen besetzten Stellen. 19 16 V g1. z. B. Friedrich von Reitzenstein, Arbeitsnachweis, S. 12.

Zu verschiedenen ehedem üblichen Bezeichnungen für diese Gewerbetreibenden wie "Arbeitsmakler", "Mäkler" oder "Agenten" - vgl. z. B. Franz Ludwig, S. 50, S. 52; Orto Uhlig, S. 47. 18 Franz Ludwig, S. 13, konstatierte dies für die "Gesindevermieter" als Teilgruppe der Arbeitsmakler, die sich auf die Vermittlung von Dienstboten spezialisiert hatte. Eine aussagefähige Zeitreihe zur Entwicklung der Arbeitsmakler liegt leider nur für die Stadt Dresden und nur für die "Gesindevermieter" als Teilgruppe der Arbeitsmakler vor. Die bruchstückhaften Angaben für einzelne andere Städte (Zu diesen Daten vg1. Franz Ludwi~, S. 13) sowie die qualitativen Aussagen in der zeitgenössischen Literatur (So z. B. bei Friedrich von Reitzenstein, Über Beschäftigung, S. 33) weisen aber in die gleiche Richtung: 17

Tab. 1

Die Zahl der "Gesindevermieter" in Dresden, 1838-1895

Jahr

1838

1866

1870

1875

1885

1890

1895

Zahl

2

4

20

55

105

137

190

Quelle: Franz Ludwig, S. 13. 19 V g1. Tab. 3 im Anhang der vorliegenden Arbeit. Diese Ausbreitungstendenz der Arbeitsmakler läßt sich vermutlich - ebenso wie die weiter unten erläuterten gängigen Praktiken der Arbeitsmakler zur "Ausbeutung" der Arbeitnehmer wie der -geber - z. T. auf die weitgehende Liberalisierung dieses Gewerbes durch die Gewerbeordnung von 1869 zurückführen (zu dieser Vermutung vgl. etwa Friedrich von Reitzenstein, Arbeitsnachweis, S. 24). Mit dieser Maßnahme wurden die bis dahin vorgeschriebene Konzes-

4.1. Vorläufer-Institutionen

97

Bereits aus der Entgeltforderung der Arbeitsmakler läßt sich folgern, daß die Arbeitsmakler ihr Angebot auf jene Arbeitnehmer beschrankten, für deren Arbeitsleistung zumindest eine gewisse Nachfrage bestand - die also nicht als "schwervermittelbar" einzustufen waren - und die aufgrund ihres (aktuellen oder potentiellen, zukünftigen) Einkommens in der Lage waren, die Vermittlungsgebühren zu zahlen 20. Nahezu alle Arbeitsmakler beschränkten ihr Angebot - den vorliegenden Berichten zufolge - offenbar i. d. R. auch räumlich auf eine einzelne Stadt oder Gemeinde21 . Zudem beschränkten die meisten Arbeitsmakler ihr Angebot auf eine oder wenige Berufsgruppe(n).22 sionspflicht und die Möglichkeit der Kontrolle der Arbeitsmakler durch die Ortspolizeibehörden so gut wie beseitigt: Zuvor durften z. B. in Preußen nach dem "Allgemeinen Landrecht" vom 5. Februar 1794 nur jene Personen als "Gesindevermieter" arbeiten, die von der Ortsobrigkeit bestellt worden waren (Vgl. Franz Ludwig, S. 37). Auch die Gebühren wurden von der Ortsobrigkeit festgelegt (vgl. ebenda). Ein Entzug der Konzession war jederzeit möglich (vgl. ebenda). Auch nach der preußischen Allgemeinen Gewerbeordnung vom 17. Januar 1845 blieb die Tätigkeit der Gesindevermieter von der Konzessionierung abhängig (vgl. ebenda, S. 38). In fast allen Staaten des späteren Norddeutschen Bundes gab es vergleichbare Regelungen (vgl. ebenda, S. 38 f.). Ober die 1869 erfolgte Liberalisierun~ der genannten Bestimmungen hinaus läßt sich die Ausbreitung der Arbeitsmakler auf die gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmende Unübersichtlichkeit des Arbeits- (Vermittlungs-) Marktes zurückfUhren: Die Tendenz steigender Transaktionskosten auf dem Arbeitsmarkt wurde bereits oben erläutert (vgl. oben, Fn. 14). FUr die von den Arbeitsmaklern typischerweise bedienten Teilarbeitsmärkte lassen sich ganz besonders hohe Informationskosten bzw. eine besonders hohe Intransparenz erwarten, als Folge von - besonderen Vertrauensanforderungen an die Arbeitskräfte, (vgl. hierzu etwa Friedrich von Reitzenstein, Ober Beschäftigung, S. 33; tkrs., Arbeitsnachweis, S. 71) besonders schwerer Standardisierbarkeit der Qualitätsmerkmale, (vgl. z. B. Hildegard Sachs, Entwicklungstendenzen in der Arbeitsnachweisbewegung, Jena 1919, S. 15) - der Notwendigkeit einer spezifischen Vorbildung der Arbeitskräfte, (vgl. Friedrich von Reitzenstein, Ober Beschäftigung, S. 33). Die hohen Arbeitsmarkt-Transaktionskosten bedingten dann ebenfalls hohe Transaktionskosten auf dem Arbeitsvermittlungsmarkt, in deren Folge der Konkurrenzmechanismus zwischen den Arbeitsmaklern versagen mußte, und eine "Ausbeutung" der Arbeitgeber wie -nehmer durch die Arbeitsmakler möglich wurde(vgl. zu diesen Zusammenhängen die Darstellung bei Gisela Rauschhofer, S. 124-131). Zu den weiteren Faktoren, die den Arbeitsmaklern im 19. Jahrhundert eine Ausbeutung speziell der Arbeitnehmer erlaubten, vgl. GiselaRauschhofer, S. 122-124. 20 Vgl. z. B. GiselaRauschhofer, S. 119. 21 Eine Ausnahme bildeten jene Arbeitsmakler, die ihr Gewerbe im Umherziehen betrieben; vgl. hierzu z. B. Franz Ludwig, S. 15 und S. 20 f. 22 Das Hauptbetätigungsfeld der Arbeitsmakler war die Dienstbotenvermittlung. Von den 1894 bei einer statistischen Erhebung für Preußen erfaSten 5216 Arbeitsmaklern waren 1646 ausschließlich als spezialisierte sog. "Gesindevermieter" - Vermittler fUr Dienstboten - tätig; zum Begriff der "Gesindervermieter" vgl. z. B. Franz Ludwig, S. 10; zu den Zahlenangaben vgl. Friedrich von Reitzenstein, Arbeitsnachweis, S. 79. Weitere wichtige Berufsgruppen, die von den Arbeitsmaklern bedient wurden, waren vor allem : "Bedienstete höherer Art" (z. B. Hauslehrer, Erzieher, sog. Wirtschaftsbeamte), Seeleu7 Rosenfeld

98

4. Die Kommunalisierung der Arbeitsvermittlung

Da es an den meisten Orten mehr als nur eine Arbeitsmaklerftrma gab, lag die Zahl der Vermittlungen je Firma sehr niedrig. 23 Die meisten Arbeitsmaklerfirmen bestanden vor 1900 dementsprechend nur aus der Person des Geschäftsinhabers und allenfalls wenigen Angestellten. 24 Teilweise wurde in der Literatur und politischen Diskussion um die Jahrhundertwende hervorgehoben und zu belegen versucht, daß es sich bei einem grossen Teil der Arbeitsmakler um "gescheiterte Existenzen" gehandelt hätte, denen oft keine anderen - "ehrlicheren" - Erwerbsmöglichkeiten mehr offen gestanden hätten, um "arbeitsscheue" und "verkommene Subjekte"2S sowie um "sittlich anrüchige" Persönlichkeiten26, die allein bereits aufgrund ihrer Persönlichkeitsstruktur zu Geschäftspraktiken tendierten, die am Rande oder jenseits der Legalität lagen. Zahlreiche Arbeitsmakler waren hauptberuflich als Gastwirte,27 z. T. auch als Einzelhändler28 tätig,29 und boten aus diesen Positionen heraus den Stellensuchenden über die Vermittlungsleistungen hinaus komplementäre Nebenleistungen an, speziell Übernachtungsmöglichkeit und Beköstigung 30. Viele Arbeitsmakler versuchten offenbar, sich dadurch zu bereichern, daß sie für ihre Nebenleistungen extrem UberhlJhte Preise verlangten 31 und den Erwerb der Nebenleistungen zur Voraussetzung ihrer Tätigkeit machten 32. Weiterhin wurde das Instrument der Nebenleistungen von vielen Arbeitsmaklern auch gezielt eingesetzt, um die Stellensuchenden von sich abhlJ.ngig zu machen,

te, Transportarbeiter, Angehörige gastronomischer Berufe, Schauspieler, Musiker, landwirtschaftliche Arbeiter und gering verdienende "Handlungsgehilfen" (= kaufmännische Angestellte); vgl. Friedrich von Reitzenstein, Arbeitsnachweis, s. 70 f. 23 Vgl. hierzu die Angaben bei Anselm Faust, Arbeitsmarktpolitik 1986, S. 288, Tab. 6. 24 Vgl. Franz Ludwig, a. a. 0., S. 15 f. 25 So z. B. der Präsident des landwirtschaftlichen Vereins von Rheinpreußen, zitiert nach Friedrich von Reitzenstein, Arbeitsnachweis, S. 78. 26 Carl Conrad, S. 152. 27 V gl.z. B. Carl Conrad, S. 154. 28 Vgl. z. B. Franz Ludwig, S. 16. 29 In Baden waren 1894 rd. 67 % der Arbeitsmakler nur nebenberuflich tätig, vgl. ebenda, S. 36. 30 Vgl. hierzu u. a. Friedrich von Reitzenstein, Arbeitsnachweis, S. 74, Franz Ludwig, S. 28 f., Carl Conrad, S. 155. Teilweise wurden diese Nebenleistungen auch von Wuten oder Händlern erbracht, die mit den Arbeitsmaklem in Verbindung standen, vgl. z. B. Friedrich von Reitzenstein, Arbeitsnachweis, S. 364. 31 ~gl. z. B. Friedrich von Reitzenstein, Arbeitsnachweis, S. 87; Franz Ludwig, S. 26-28, Carl Conrad, S. 155. 32 Vgl. hierzu z. B. Friedrich von Reitzenstein, Arbeitsnachweis, S. 87; Franz Ludwig, S. 28.

4.1. Vorläufer-Institutionen

99

indem die Nebenleistungen auf Kreditbasis verkauft wurden,33 so daß die Stellensuchenden den Arbeitsmaklern gegenüber längerfristig verpflichtet wurden 34 . Wenn die Stellensuchenden von einem Makler mit Kost und Logis versorgt wurden und noch Rücklagen besaßen, entstand fiir die Arbeitsmakler ein starker Anreiz, die Vermittlung dieser Personen so lange hinaus zu zögern, bis auch sie ihnen gegenüber in ein Schuldverhältnis gerieten 3S. Die durch die Verschuldung geschaffenen Abhängigkeiten konnten vom Arbeitsmakler dann auszunutzen versucht werden, um - von den schließlich doch vermittelten Personen regelmäßige Tributzahlungen zu verlangen,36 - die Vermittelten zu verpflichten, auch in Zukunft stets nur die Vermittlungsleistungen der jeweiligen Firma in Anspruch zu nehmen,37 sowie um - weibliche Stellensuchende zur Prostitution zu nötigen 38 . Die zuvor genannten Tributzahlungen versuchten andere Makler auch mit der Drohung zu erreichen, anderenfalls den jeweiligen Arbeitgeber durch das Angebot einer "besseren" Arbeitskraft39 oder durch Bestechungszahlungen 40 zur Kündigung des betreffenden Arbeitsvertrages zu bewegen. Entsprechende Tributzahlungen konnten auch von den Arbeitgebern verlangt werden, indem die Arbeitsmakler diesen damit drohten, die von ihnen vermittelten Kräfte wieder abzuwerben (wobei manche Arbeitnehmer einem solchen Abwerbungsversuch bereits aufgrund der zum jeweiligen Makler ggf. bestehenden Abhängigkeit4 1 folgen mußten).42

33 V gl. z. B. Arbeitslosigkeit und Arbeitsvermittlung in Industrie- und Handelsstädten: Bericht über den am 8. und 9. Oktober 1893 vom Freien Deutschen Hochstift zu Frankfurt a. M. veranstalteten sozialen Kongreß, Berlin 1894 (im folgenden zitiert als "Arbeitslosigkeit und Arbeitsvermittlung"), S. 133 (Ausführungen von J. Will, Hamburg); Friedrich von Reitzenstein, Arbeitsnachweis, S. 86. 34 V gl. z. B. Friedrich von Reitzenstein, Arbeitsnachweis, S. 364. 35 V gl. z. B. Franz Ludwig, S. 28 und 36. 36 Zu solchen Praktiken vgl. z. B. Friedrich von Reitzenstein, Arbeitsnachweis, S. 80 und 82. 37 Verträge mit der Verpflichtung der Arbeitnehmer, auch in Zukunft stets nur einund denselben Makler in Anspruch zu nehmen, wurden später nach § 4 des Stellenvermittler-Gesetzes vom 2. Juni 1910, RGBI, S. 860. für nichtig erklärt. 38 V gl. z. B. Friedrich von Reitzenstein, Arbeitsnachweis, S. 74. 39 Vgl. z. B. Friedrich von Reitzenstein, Arbeitsnachweis, S. 363; Erdmann Graack, Arbeitsvermittlung, S. 57. 40 Vgl. z. B. Arbeitslosigkeit und Arbeitsvermittlung, S. 181 (Ausführungen von C. Kloß, Stuttgart). 41 V gl. Franz Ludwig, S. 28. 42 V gl. Friedrich von Reitzenstein, Arbeitsnachweis, S. 80.

100

4. Die Kommunalisierung der Arbeitsvermittlung

Auch ohne Tributforderungen griffen die Arbeitsmakler offenbar häufig zum Mittel einer derartigen Abwerbung von Arbeitskräften 43, um mit diesen dann die ihnen von anderen Arbeitgebern erteilten Vermittlungsaufträge zu erledigen, wobei die Arbeitnehmer vielfach auch zum Bruch noch laufender Arbeitsverträge verleitet wurden 44. In manchen Fällen erfolgte die Abwerbung wohl auch nur unter dem Versprechen gegenüber den Arbeitnehmern, ihnen eine "passendere" Stelle zu vermitteln 4S; hatten die Arbeitnehmer ihre alten Stellen aber erst einmal verlassen, konnte der Makler dann versuchen, sie von sich abhängig zu machen. War eine Abwerbung erfolgt, so entstand auf seiten der bisherigen Arbeitgeber ggf. ein neuer Bedarf an Vermittlungsleistungen. Eine Steigerung des Bedarfs der Arbeitgeber wie auch jenes der -nehmer an Vermittlungsleistungen konnte einem Arbeitsmakler auch gelingen, indem er gezielt qualitativ schlechte Vermittlungsleistungen bereitzustellen versuchte 46. Wenn sich dann erst nach Abschluß der vermittelten Arbeitsverträge herausstellte, daß die Arbeitskräfte und Stellen nicht "zueinander paßten", wurde dem Makler ggf. alsbald ein neuer Vermittlungsauftrag erteilt47• Zusätzlich versuchten viele Arbeitsmakler, von den Arbeitnehmern wie von den -gebern 48 stets mlJglichst hohe Entgelte oder "Gebühren" zu verlangen, indem sie ihren Kunden bei der Auftragserteilung zwar ihre Vermittlungsgebühren- ("Provisions"-) Tarife49 mitteilten, diese aber nicht eindeutig definiert waren 50, sondern Höchst- und Mindestsätze vorsahen SI und/oder nach der Quali43 Vesa Laine und Walter Massar (Das Arbeitsvermittlun(:smonopol der Bundesanstalt für Arbeit, Freiburg [Diskussionsbeiträge aus dem Institut fUr Allgemeine Wirtschaftsforschung, Abteilung Sozialpolitik] 1984), s. 50, versuchten, die jährlich mehrfache Vermittlung eines Arbeitnehmers durch einen Makler nur damit zu erklären, daß die Arbeitnehmer früher eben häufig entlassen wurden. Damit stehen sie aber in einem erheblichen Widerspruch zur wissenschaftlichen Diskussion im 19. und frühen 20. Jahrhundert, vgl. z. B. Friedrich von Reitzenstein, Ober Beschäftigung, S. 60 und 75. 44 Vgl. z. B. Franz Ludwig, S. 20 f.; Erdmann Graack, Arbeitsvermittlung, S. 59. 45 Vgl. z. B. Franz Ludwig, S. 20. 46 Vgl. z. B. Friedrich von Reitzenstein, Arbeitsnachweis, S. 75; Erdmann Graack, Arbeitsvermittlung, S. 59. Franz Ludwig, S. 19, nannte als Beispiel die Vermittlung einer Kellnerin für die Stelle einer Sta1lmagd. 47 Vgl. z. B. Franz Ludwig, S. 19 f. Ein besonderer Anreiz fUr eine schlechte Vermittlungsqualität bestand vor allem auch bei Vermittlungsaufträ$en von auswärtigen Arbeitgebern (Vgl. z. B. Franz Ludwig, S. 21 f.), bei deren Erledigung ein Arbeitsmakler sicher sein konnte, daß Nachteile i. S. einer Abwanderung der Nachfrager kaum zu erwarten waren. 48 Soweit bekannt, wurde in den meisten Fällen versucht, Gebühren von beiden Arbeitsmarktparteien zu erheben, vgl. z. B. Franz Ludwig, S. 23 f.; Carl Conrad, S. 155. 49 V g1. z. B. Franz Ludwig, S. 24. 50 V g1. z. B. Friedrich von Reitzenstein, Arbeitsnachweis, S. 363. 51 Vg1. z. B. Franz Ludwig, S. 25.

4.1. Vorläufer-Institutionen

101

tät der Stellensuchenden gestaffelt waren 52, wobei dann im Fall der Vermittlung fast immer die jeweiligen Höchstsätze durchzusetzen versucht wurden 53. Darüber hinaus konnten zahlreiche Arbeitsmakler noch zusätzliche Gebührenforderungen durchsetzen, insbesondere - Aufwandsentschädigungen für besondere ("Auslagen") der Arbeitsmakler,54

Vermittlungsaufwendungen

- Sondervergütungen ("Trinkgelder") für besonders gute Stellen bzw. besonders rasche Befriedigung der Nachfrage55 oder auch allein bereits für die ~ereitschaft der Arbeitsmakler, für bestimmte Klienten überhaupt aktiv zu werden,56 sowie - "Einschreibgebühren", die bei der Erteilung des Vermittlungsauftrags zu entrichten waren und zumeist unabhängig vom Vermittlungserfolg von den Arbeitsmaklern einbehalten wurden 57. Offenbar hatten die skizzierten diversen Formen der von den Arbeitsmaklern praktizierten Ausbeutung stets die Arbeitnehmer stärker als die -geber zum Opfer.58 52 Franz Ludwig, S. 26, nannte als Beispiel für eine solche Staffelung jene für den Beruf eines Koches in "gewöhnliche - perfekte - feine Köche". 53 Vgl. z. B. Franz Ludwig, S. 25. 54 V gl. z. B. Carl Conrad, S. 156. 55 V gl. Franz Ludwig, S. 26 f. 56 Z. T. wurden solche Sondervergütungen von den potentiellen Arbeitgebern verlangt, zumeist jedoch von den Stellensuchenden, die den Arbeitsmaklern oft tagelang die Zeche und alle möglichen Vergnügungen bezahlen mußten, bevor die Arbeitsmakler bereit waren, ihnen eine Stelle zu beschaffen, vgl. Franz Ludwig, S. 27. 57 Vgl. hierzu z. B. ebenda, S. 22 f.; Carl Conrad, S. 156. 58 V gl. z. B. Friedrich von Reitzenstein, Arbeitsnachweis, S. 362 f. Dies läßt sich zunächst mit der auf dem Arbeitsmarkt grundsätzlich herrschenden Informations-Asymmetrie zugunsten der Arbeitgeber (weil diese zumeist häufiger auf dem Arbeitsmarkt auftreten, weil sie i. d. R. mehrere Stellen kontrollieren) erklären, die stets auch mit einer besseren Kenntnis der Arbeitsvermittlungsleistungen verbunden sein dUrfte; vgl. Gisela Rauschhojer, S. 125, Fn. 31. Weiter läßt sich zur Erklärung anfUhren, daß - die Arbeitsmakler den Arbeitgebern tendenziell deshalb stärker als den -nehmern entgegenkamen, weil für sie die Herstellung von Kontakten zur Arbeitgeberseite schwieriger und wichtiger war; vgl. Friedrich von Reitzenstein, Arbeitsnachweis, S. 362, - viele Arbeitnehmer um die Jahrhundertwende des Lesens und Schreibens unkundig (vgl. z. B. ebenda, S. 75) und damit nicht in der Lage waren, die Vermittlungsbedingungen eingehend zu überprüfen, - viele Arbeitnehmer damals eine besonders geringe psychische Widerstandskraft hatten, als Folge einer schlechten medizinischen Versorgung, schlechten Ernährung sowie langer Wochenarbeitszeit (vgl. Gisela Rauschhojer, S 186); - viele Arbeitnehmer schlecht über ihre Rechte informiert waren (vgl. ebenda, S. 185) und häufig eine Scheu hatten, sich zur BeschwerdefUhrung an staatliche Instanzen zu wenden (vgl. Carl Conrad, S. 160),

102

4. Die Kommunalisierung der Arbeitsvermittlung 4.1.3. Arbeitgebernachweise

Als "Arbeitgeberverbände i. w. S." - und mithin als mögliche Träger von Arbeitgebernachweisen -lassen sich neben den explizit als "Arbeitgeberverbände" firmierenden Zusammenschlüssen von Unternehmungen mit dem vorrangigen Ziel, die sozialpolitischen Vorstellungen dieser Unternehmungen zu vertreten,59 auch alle anderen - überwiegend mit wirtschaftspolitischen Fragen beschäftigten - Unternehmungs-Interessenverbände auffassen, d. h. nicht zuletzt

- die Widerstandskraft der Arbeitnehmer gegenüber den Maklern auch deshalb geringer als jene der -geber war, weil für die Arbeitnehmer damals als Folge der um 1900 weitgehend üblichen niedrigen Löhne (vgl. hierzu exemplarisch die zusammenfassende Darstellung bei Heinz lAmpen, Sozialpolitik, S. 40 f.) ein besonders starker "An~ebotsdruck" am Arbeitsmarkt bestand, weil sie stets auf eine Beschäftigung angewiesen waren, und weil es erst wenige Ansätze einer Arbeitslosenunterstützung gab (vgl. hierzu z. B. GiselaRauschhofer, S. 123), - auf seiten der Arbeitgeber aufgrund der Dominanz der Umschau der Eindruck entstand, jederzeit auf Teile der "Reservearmee" der Arbeitslosen zurückgreifen zu können, - andere Leistungen der sozialen Sicherung (Renten-, Kranken- und Unfallversicherung) erst im Aufbau begriffen, aber die vorindustriellen Formen der Sicherung bereits entfallen waren, so daß die Abhängigkeit der Arbeitnehmer von ihrem Arbeitsangebot besonders groß war; vgl. zu diesem Faktor: Gisela RauschMfer, S. 123, - es speziell den vom Lande zugewanderten Arbeitnehmern vielfach ganz allgemein an "Weltkenntnis" fehlte; vgl. Franz Ludwig, S. 17, viele Arbeitnehmer tatsächlich die o. a. Nebenleistungen der Arbeitsmakler dringend benötigten, weil gerade für Dienstboten und Zugewanderte kaum alternative An~ebo­ te zur Deckung ihres Bedarfs an Kost und Logis zu einem angemessenen PreIS zur Verfügung standen; vgl. z. B. ebenda, S. 54 und 83. Schließlich hatten die Arbeitnehmer auf jenen Märkten, auf denen sich die Arbeitsmakler besonders stark betätigten, eine ganz besonders schwache Position wegen - der dort nur ~eringen gewerkschaftlichen Organisation (vgl. z. B. Die Aufhebung der gewerbsmäßigen Arbeitsvermittlungsstellen: Internationale Arbeitskonferenz, 16. Tagung in Genf, 1932, Genf 1932 [im folgenden zitiert als "Die Alifhebung'1, S. 155), d. h. der besonderen Schutzlosigkeit der auf diesen Märkten agierenden Arbeitnehmer, - der relativ unbeständigen Beschäftigung auf diesen Märkten (zu diesem Charakteristikum der Berufe, die von den Arbeitsmaklern vorrangig bedient wurden, vgl. z. B. ebenda, S. 155). S9 Zur Charakterisierung der Arbeitgeberverbände als sozialpolitisch - auf die Gestaltung der Arbeitsverhältnisse - orientierte Verbände sowie der übrigen Unternehmungsverbände als primär wirtschaftspolitisch orientiert vgl. etwa die Darstellung bei Jürgen Kuczynski, Darstellung der ~e der Arbeiter in Deutschland von 1871 bis 1900 (= Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, Teil I, Bd. 3), (Ost-) Berlin 1962, S. 288 f. Zur Entstehung und Entwicklung der Arbeitgeberverbände vgl. z. B. Roswitha Leckebusch, Entstehung und Wandlungen der Zielsetzungen, der Struktur und der Wirkungen von Arbeitgeberverbänden, Berlin 1966, S. 33-43, 89-102. Die wichtigsten Zusammenschlüsse der - industriellen - Arbeitgeberverbände waren später - seit 1904 - und auf der Reichs-Ebene: die "HauptsteIle Deutscher Arbeitgeberverbände" sowie der "Verein Deutscher Arbeitgeberverbände", die 1913 zur "Vereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände" ("VDA") fusionierten; vgl. Roswitha Leckebusch, S. 50-58.

4.1. Vorläufer-Institutionen

103

auch die sog. "Landwirtscha/tskammem"60 sowie die "Innungen" als Nachfolgeorganisationen der mittelalterlichen "ZünftelO61. TImen allen gemeinsam ist und war die Organisation nach einzelnen Branchen. Mit Ausnahme der Innungen befanden sich die Arbeitgeberverbände gegen Ende des 19. Jahrhunderts noch in der Aufbauphase. Dementsprechend gab es in den 1890er Jahren überall in Deutschland Arbeitsnachweis-Einrichtungen der Innungen;62 diese "Innungsnachweise" waren wie die Innungen selbst bereits aus der vorindustriellen Zeit her überliefert 63. Sie beschränkten ihre Tätigkeit freilich ganz überwiegend auf Gewerbe mit einem ausgeprägten Innungswesen: Bäcker, Schlachter, Barbiere, Friseure, Perückenmacher, Maler. 64 Die industriellen Arbeitgeberverbände ("Industrieverbände lO ) sowie die Landwirtschaftskammern begannen demgegenüber erst etwa seit Beginn der 1890er Jahre mit dem Aufbau eigener - im folgenden sog. - "Industrienachweise"65 sowie "Landwirtscha/tsnachweise"66. Letztere hatten für die Entstehung der ÖAN - die zunächst nur in größeren Städten erfolgte - keinen Einfluß. Alle Arbeitgebemachweise beschrlJ.nkten ihr Angebot i. d. R. auf die von dem Trägerverband vertretene Branche und auf einzelne Orte; Ansätze zur interlokalen branchen mäßigen Zentralisierung der Vermittlung oder zur ortsmässigen Zentralisierung der Arbeitgeber-Vermittlung für alle Branchen gab es noch 1910 nur in Ansätzen67 . Die Industrienachweise konzentrierten sich zunächst auf die weiterverarbeitende Maschinen- und Metallindustrie, die durch mittel- und kleinbetriebliche Strukturen, einen hohen Facharbeiteranteil und ei60 Zur Gründung von Landwirtschaftskammern seit 1894 vgl. z. B. Fritz Blaich, Staat und Verblinde in Deutschland zwischen 1871 und 1945, Wiesbaden 1979 (im folgenden zitiert als "Blaich, Staat"), S. 3. 61 V gl. etwa Fritz Blaich, Staat, S. 3. Bereits Carl Conrad, S. 54-117, faßte die Industrie-, Landwirtschafts- und Innungsnachweise zu den "Arbeitgebernachweisen" zusammen. Zwar lassen sich die Innungen und Landwirtschaftskammern offlziell nicht als Arbeitgeberorganisationen auffassen; aber zumindest für die Innungsnachweise gilt, daß diese fast ausschließlich von Arbeitgebern geleitet wurden, vgl. Carl Conrad, S. 69; EmU Heinrich Meyer, Entwicklung und gegenwärtiger Stand der Arbeitsvermittlung im In- und Ausland, Hannover 1912 (Diss., München o. J.), S. 111. 62 Laut Anselm Faust, Arbeitsmarktpolitik 1986, S. 292 f., Tab. 10, gab es vor 1890 bereits 163 Innungsnachweise in Deutschland. 63 Zur Arbeitsvermittlung der Zünfte im Mittelalter vgl. die Darstellung bei Anselm Faust, Arbeitsvermittlung 1986, S. 55. 64 V gl. Emil Heinrich Meyer, S. 110. 65 Zum Aufbau der Industrienachweise ab ca. 1890 vgl. z. B. die Darstellung bei Gerhard Kessler, Die Arbeitsnachweise der Arbeitgeberverbände, Leipzig 1911 (im folgenden zitiert als "Kessler, Arbeitsnachweise"), S. 4-11. 66 V gl. Carl Conrad. S. 96 f. 67 V gl. die Darstellung bei Gerhard Kessler, Arbeitsnachweise, S. 38-54. Speziell die Innungsnachweise betrieben fast nur örtliche Vermittlung. vgl. Carl Conrad. S. 70.

104

4. Die Kommunalisierung der Arbeitsvermittlung

nen hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad gekennzeichnet war 68. Die Schwerpunkte waren Hamburg und Berlin. 69 Etwa südlich der Mainlinie, wo im ausgehenden 19. Jahrhundert vorwiegend kleinere, räumlich verstreute und weniger krisenanfällige Industriebetriebe die Gewerbelandschaft prägten 70 und die "Arbeiterbauern" als "Nicht-Proletarier"71 nur einen geringen gewerkschaftlichen Organisationsgrad aufwiesen 72, gab es deutlich weniger Industrienachweise als im Norden; so wurde z. B. im Jahre 1894 für Stuttgart nur von Innungsnachweisen berichtet73 . Auch im schwerindustriell geprägten Ruhrgebiet verzichteten die Arbeitgeberverbände lange Zeit auf eigene Nachweise, weil sie ihren Personalbedarf voll auf dem Wege der Umschau decken konnten 74 . Die Vermittlung durch die Industrienachweise erfolgte für die Arbeitnehmer durchweg unentgeltlich, während die Arbeitgeber z. T. geringe Gebühren entrichten mußten.15 Bei den Innungsnachweisen wurden nur z. T. von beiden Seiten Gebühren erhoben.16 Die Landwirtschaftsnachweise vermittelten für die Arbeitnehmer gebührenfrei, während die -geber zahlen mußten. 77 Vor allem die Industrienachweise, in abgeschwächter Form auch die Innungs- 78 , aber kaum die Landwirtschaftsnachweise79, sollten explizit in erster Linie dem Arbeitskamp! sowie der "Maßregelung" mißliebiger Arbeitnehmer dienen, indem

68

V gl. z. B. AnseLm Faust, Arbeitsmarktpolitik 1986, S. 93.

69 Zusammenfassend zum "Hamburger" sowie "Berliner System" vgl. die Darstel-

lung bei Erdmann Graack, Arbeitsvermittlung, S. 38 f. und S. 42. 70 V gl. HaraLd WinkeL, Das Süd-Nord-Gefälle - Historische Betrachtungen zu einem aktuellen Thema, in: Deutsche Wirtschaftsentwicklung im regionalen Vergleich, hrsg. von Dieter Leutholt, Bremen 1989 (Schriftenreihe des Fachbereichs Wirtschaftswissenschaften der Hochschule Bremen, Bd. 41), S. 41-59, hier: S. 45-48. 71 V gl. ebenda, S. 45. 72 V gl. AmoLd WeLLer, S. 214 f. 73 Vgl. Otto Uhlig, S. 105. 74 V gl. AnseLm Faust, Arbeitsmarktpolitik 1986, S. 92. 75 V gl. CarL Conrad, S. 61. 76 V gl. ebenda, S. 71. 77 V gl. ebenda, S. 98. 78 Laut Carl Conrad, S. 55 f., gründeten auch einzelne Innungen Kampf-Arbeitsnachweise oder schlossen sich den Industrienachweisen an. Für das Beispiel des Bauhandwerks, das mit seiner Vermittlung Arbeitskampf-Nebenzwecke verfolgte, vgl. Klaus Saul, Staat, Industrie, Arbeiterbewegung im Kaiserreich, 1903-1914, Düsseldorf 1974 (im folgenden zitiert als "Saul, Staat"), S. 85. 79 Laut Carl Conrad, S. 93, waren die Landwirtschaftsnachweise wenig auf den Arbeitskampf ausgerichtet. Zu einer Ausnahme vgl. Jens Flemming, Landwirtschaftliche Interessen und Demokratie, Bonn 1978 (Diss., Hamburg 1978; im folgenden zitiert als "Flemming, Landwirtschaftliche Interessen"), S. 67.

4.1. Vorläufer-Institutionen

105

- bestreikte Betriebe mit Streikbrechern versorgt werden sollten, 80 - streikende Arbeitnehmer81 sowie "Agitatoren"82, Ausgesperrte 83, Teilnehmer an früheren Streikaktivitäten 84 und zum Teil sogar alle Gewerkschaftsmitglieder 85 und Sozialdemokraten 86 von der Vermittlung ausgeschlossen werden .sollten. Weiterhin sollten von den Arbeitgebemachweisen vielfach, und zwar gerade auch von den Landwirtschaftsnachweisen, jene Arbeitnehmer von der Vermittlung ausgeschlossen werden, die ihre letzte Stelle bereits nach kurzer Zeit wieder gekündigt oder sogar vertragswidrig verlassen hatten bzw. nach Abschluß eines Arbeitsvertrages nicht zur Arbeitsaufnahme erschienen waren (mithin "Kontraktbruch" begangen hatten),87 sowie jene, die während der letzten Monate überwiegend nicht gearbeitet hatten 88 oder als "arbeitsuntauglich" galten 89 YO Abgesehen von den skizzierten Vermittlungspraktiken legten vor allem die Industrienachweise großen Nachdruck darauf, stets eine Vermittlung nach dem Kriterium der Eignung vorzunehmen. 91 Grundsätzlich wurde nur an Mitgliedsunternehmungen der jeweiligen Nachweis-Trägerverbände vermittelt, d. h. es wurde ein sog. "Organisationszwang" 80 Vgl. Verhandlungen des Ausschusses und der Verbandsversammlung der Hauptstelle Deutscher Arbeitgeberverbände am 8. Dezember 1905 in Berlin, Berlin 1906, S. 21 f., Stellungnahme von Fritz Tänzler, zitiert nach Anselm Faust, Arbeitsmarktpolitik 1986, s. 91; vgl. auch Gerhard Kessler, Arbeitsnachweise, s. 130 f. 81 Vgl. Verhandlungen des Ausschusses und der Verbandsversammlung der Hauptstelle Deutscher Arbeitgeberverbände am 8. Dezember 1905 in Berlin, Berlin 1906, s. 21 f., Stellungnahme von Fritz Tänzler, zitiert nach Anselm Faust, Arbeitsmarktpolitik 1986, s. 91; vgl. auch Gerhard Kesslf;!r, Arbeitsnachweise, S. 163 f .. 82 V gl. Carl Conrad, S. 58. 83 V gl. Gerhard Kessler, Arbeitsnachweise, S. 163 f. 84 V gl. ebenda, S. 164. 85 Vgl. z. B. Carl Conrad, S. 58; Klaus Saul, Staat, S. 85; Anselm Faust, Arbeitsmarktpolitik 1986, S. 55 und S. 58. 86 Vgl. z. B. Carl Conrad, S. 58; Klaus Saul, Staat, S. 85; Anselm Faust, Arbeitsmarktpolitik 1986, S. 55 und S. 58. 87 Vgl. Carl Conrad, S. 95; Gerhard Kessler, Arbeitsnachweise, S. 164 f.; L. ThielIww, Zum Kampf um den Arbeitsnachweis, Berlin 1910, S. 18; Franz Xaver Zahnbrecher, S. 82; Anselm Faust, Arbeitsmarktpolitik 1986, S. 58. 88 V gl. Carl Conrad, S. 63. 89 V gl. z. B. ebenda, S. 58; Anselm Faust, Arbeitsmarktpolitik 1986, S. 58. 90 Vielfach wurden speziell von den industriellen Arbeitgebern auf den Entlassungspapieren der Arbeitnehmer geheime Kennzeichnungen über deren Leistung und "Führung" angebracht, die nur vom jeweils zuständigen Arbeitgebemachweis dechiffriert werden konnten und ggf. zum Ausschluß der Arbeitnehmer von der Vermittlung führen konnten; vgl. z. B. Carl Conrad, S. 63. Vermutlich wurde diese Praxis aber erst ab Ende der 1890er Jahre üblich. 91 V gl. etwa ebenda, S. 61.

106

4. Die Kommunalisierung der Arbeitsvermittlung

ausgeübt; nur bei einem Arbeitskräfteüberhang fanden auch Vermittlungen an Nicht-Mitglieder statt. 92 Vielfach waren bei den Industrieverbänden alle Mitgliedsunternehmungen darüber hinaus auch verpflichtet, sich stets des Industrieverbands-Nachweises zu bedienen (= sog. "Benutzungszwang" oder "Obligatorium"),93 was durch die Androhung von Geldbußen durchzusetzen versucht wurde94.95 Während die Innungsnachweise überwiegend nur über neben- oder ehrenamtlich tätige Vermittler verfügten, allenfalls mit wenig qualifiziertem Personal tätig waren und als "schlecht organisiert" galten,96 arbeiteten fiir die Industrienachweise stets ausgewählte Angestellte als hauptamtliche Vermittler 97. Auch die Landwirtschaftsnachweise setzten hauptamtliches Personal ein. 98 Bis gegen 1900 spielten die Landwirtschaftsnachweise so gut wie keine Rolle. Vor 1890 wurde überhaupt nur von einem Landwirtschaftsnachweis berichtet, bis 1899 kamen 3 weitere Einrichtungen dieser Art hinzu. 99 Noch 1894 war der Anteil der Innungsnachweise an allen qua Vermittlung besetzten Stellen mit 8,0 % zwar höher als jener der Industrienachweise mit 2,9 %.100 Aber in einzelnen Branchen dürften die Industrienachweise auch bereits 1894 einen wesentlich höheren Anteil als 2,9 % an den Stellenbesetzungen insgesamt gehabt haben, wobei dieser Anteil vermutlich tendenziell im Steigen begriffen war; denn die Zahl der Industrienachweise nahm in den 1890er Jahren deutlich zu. Vor 1890 wurde nur von 6 Arbeitgebemachweisen der Industrie berichtet, zwischen 1890 und 1899 wurden 18 weitere Industrienachweise gegründet. 101 Und bereits 1904 hatten allein die Industrienachweise einen Anteil von 8,1 % an allen qua Vermittlung besetzten Stellen erreicht 102. 92 V g1. Gerhard Kessler, Arbeitsnachweise, S. 97 f.

Carl Conrad, S. 66. ebenda. 95 Bei den Innungen bestand nur z. T. ein Benutzungszwang, bei dessen Verletzung es ebenfalls teilweise üblich war, Geldbußen zu verlangen; vg1. ebenda, S. 69 und 71. 96 Vg1. ebenda, S. 91 f. Bei den Innun~en erfolgte die Vermittlung vielfach nur durch Aushänge in den sog. "Herbergen zur HelDlat"; vg1. ebenda, S. 70. Andere Innungen beschäftigten besoldete Beamte, die zu bestimmten Stunden am Tag Arbeitsvermittlung betrieben (vg1. ebenda); nur dann läßt sich überhaupt von einem Innungsnachweis sprechen. 97 Vg1. ebenda, S. 61. 98 Vg1. ebenda, S. 97. 99 V g1. Anselm Faust, Arbeitsmarktpoltik 1986, S. 292 f., Tab. 10. 100 Vg1. Tab. 3 im Anhang der vorliegenden Arbeit. Dabei umfaßt dieser Wert allerdings neben den Industrienachweisen i. e. S. auch die Arbeitsnachweise der Verkehrsund Transportbranche, speziell der Hafenwirtschaft. Die Landwirtschaftsnachweise lagen bei 0,3 %, vg1. ebenda. 101 Vg1. Anselm Faust, Arbeitsmarktpolitik 1986, S. 292 f., Tab. 10. Dabei umfaßt auch dieser Wert - wie dies soeben angemerkt wurde - neben den Industrienachweisen i. 93 V g1. 94 V g1.

4.1. Vorläufer-Institutionen

107

4.1.4. Gewerkschaftsnachweise

Für den gesamten Untersuchungszeitraum der vorliegenden Arbeit, d. h. bis 1927, lassen sich grob vor allem drei Hauptgruppen von ("Richtungs-") Arbeitnehmerorganisationen unterscheiden, die alle unter den Oberbegriff der "Gewerkschaften" zusammengefaßt werden sollen: 103 - die "sozialdemokratisch" orientierten Arbeitergewerkschaften, die sog. "Freien Gewerkschajten",I04 - die "christlich" orientierten Arbeitergewerkschaften - oder kurz: "Christlichen Gewerkschajten"105 - sowie e. S. auch die Arbeitsnachweise der Verkehrs- und Transportbranche, speziell der Hafenwirtschaft. 102 V gl. Tab. 3 im Anhang der vorliegenden Arbeit. Der Grund für den zunehmenden Erfolg der Industrienachweise lag vermutlich zum einen in der im späten 19. Jahrhundert gegebenen Arbeitsmarktsituation: Tendenziell herrschte speziell in den Ballungszentren aufgrund der permanenten Zuwanderung, die von den fudustrienachweisen zusätzlich noch stark forciert wurde (Vgl. Carl Conrad, S. 84 f.), eine ständige - lokale Arbeitslosigkeit; zudem standen die Arbeitnehmer aufgrund der zumeist niedrigen Löhne und der erst wenig entwickelten sozialen Sicherung im Fall der Arbeitslosigkeit unter einem sehr starken "Angebotsdruck" . Die fudustrienachweise konnten deshalb stets auf ein großes Reservoir an Arbeitssuchenden zurückgreifen, was die Voraussetzung für die Erreichung der Arbeitskampf- und "Maßregelungs-" Ziele war. Um den zunehmenden gewerkschaftlichen Streikaktivitäten Paroli bieten zu können, waren die industriellen Arbeitgeber offenbar bereit, sich dem Benutzungszwang der Industrienachweise zu unterwerfen, der allerdings in den 1890er Jahren zunächst nur ansatzweise durchgesetzt werden konnte (zur im Zeitverlauf zunehmenden Durchsetzung des Benutzungszwangs vgl. Gerhard Kessler, Arbeitsnachweise, S. 129.). Zur Erklärung des Erfolgs der fudustrienachweise vgl. auch Anselm Faust, Arbeitsmarktpolitik 1986, S. 56 f. Die funungsnachweise waren nicht nur wegen ihrer schlechteren Organisation weniger erfolgreich, sondern wohl vor allem wegen der schlechteren Durchsetzbarkeit des Benutzungszwanges; dies dilrft!l nicht zuletzt eine Folge des - im Vergleich zur fudustrie - geringeren Arbeitangebots-Oberhangs im Handwerk gewesen sein, denn immer mehr Arbeitnehmer waren bemüht, eine Stelle in der fudustrie zu finden. Auch den Landwirtschaftsnachweisen waren stets nur gerin§e Erfolge beschieden, vor allem wohl wegen des als Folge der allgemeinen "Landflucht' nur geringen Arbeitsangebots ("Leutenot") auf dem Lande; vgl. hierzu z. B. Carl Conrad, S. 106. 103 Die "Angestelltennachweise" der zumeist bürgerlichen Angestelltenverbände betrieben die Vermittlung zentralisiert für ganz Deutschland, vgl. z. B. Carl Conrad, S. 137 f. Dementsprechend waren die Angestelltennachweise als Vorläufer-Institutionen der (kommunalen) ÖAN ohne Bedeutung. Auch die Angestelltenverbände spielten als Akteure weder für die Kommunalisierung noch für die parafiskalische Orgarusation der Arbeitsvermittlung eine relevante Rolle. Zu näheren Angaben zu den Angestelltenverbänden und ihrer Entstehung vgl. Ganter Hartfiel, Angestellte und Angestelltengewerkschaften in Deutschland, Berlin 1961, S. 117-168. 104 Zur Entstehung und Entwicklung der Freien Gewerkschaften sei exemplarisch verwiesen auf Norbert Eickhof, Eine Theorie der Gewerkschaftsentwicklung, TIlbingen 1973 (im folgenden zitiert als "Eickhof, Gewerkschaftsentwicklung"), S. 140-146. 105 Eine ausführliche Darstellung der Entstehung, Ziele und Aktivitäten der Christlichen Gewerkschaften bietet die Arbeit von Michael Schneider, Die Christlichen Ge-

108

4. Die Kommunalisierung der Arbeitsvermittlung

- die "liberal" orientierten Arbeiter-"Gewerkvereine" oder "Hirsch-Duncker-

sehen Gewerkschaften "106.

Alle diese Gewerkschaften etablierten verbandseigene Vermittlungs-Einrichtungen oder "Gewerkschaftsnachweise";107 für die Zeit bis Mitte der 1890er Jahre spielten aber nur die Nachweise der Freien Gewerkschaften eine Rolle, denn die Gewerkvereine besaßen vor 1900 lediglich 2 eigene Nachweise in ganz Deutschland,108 die damals erst in der Entstehung befindlichen 109 Christlichen Gewerkschaften gar keinen 11 O. Bei den Freien Gewerkschaften kam es seit Mitte der 1880er Jahre zur verstärkten Gründung eigener Nachweise, wobei sich diese Tendenz über die Mitte der 1890er Jahre hinaus ungebrochen fortsetzte. 111 Das Angebot der freigewerkschaftlichen Nachweise blieb auf die Angehörigen jener Branchen beschrlJnkt, in welchen eine Gewerkschaftsgründung zustandegekommen war l12 . Entsprechend der Untergliederung der Freien Gewerkschaften in Berufsverbände und in Ortsgruppen dieser Berufsverbände 113 hatten die Ansätze einer berufsmäßigen Zentralisierung der Vermittlung fürs gesamte Reich oder für einzelne Regionen oder einer ortsmäßigen Zentralisierung aller Gewerkschafts-Ortsgruppen nur wenig Erfolg 114. werkschaften, 1894-1933, Bonn 1982 (Habilitationsschrift, Hamburg 1982; im folgenden zitiert als "Schneider, Gewerkschaften"). 106 Zur Gründun~ der Gewerkvereine durch die beiden Abgeordneten der Fortschrittspartei, Max Hlfsch und Franz Duncker (1868), sowie zur weiteren Entwicklung der Gewerkvereine vgl. W. Gleichauf, Geschichte des Verbandes der deutschen Gewerkvereine (Hirsch-Duncker), Berlin-Schöneberg 1907; Michael Wennel und Roswitha Urban, Bd. I, S. 69-72; vgl. auch Norbert Eickhof, Gewerkschaftsentwicklung, S. 141 f. 107 Als Vorläufer dieser Gewerkschaftsnachweise lassen sich die ehedem von den Gesellenverbänden betriebenen Vermittlungseinrichtungen ansehen, vgl. zu diesen z. B. Erdmann Graack, Arbeitsvermittlung, S. 4-7. . 108 Vgl. Anselm Faust, Arbeitsmarktpolitik 1986, S. 292 f., Tab. 10; laut Friedrich von Reitzenstein, Arbeitsnachweis, S. 3~ f., 11 0 f., begannen die Gewerkvereine erst spät mit der Einrichtung von Arbeitsnachweisen. 109 Zu den Anfängen der Christlichen Gewerkschaften ab 1890 sei wiederum verwiesen auf die Darstellung bei Michael Schneider, Gewerkschaften, speziell S. 54-116. 110 Vgl. Anselm Faust, Arbeitsmarktpolitik 1986, Tab. 10, S. 292 f. 111 Zur Tendenz der zunehmenden Gründung von freigewerkschaftlichen Nachweisen vgl. ebenda; vgl. auch die Darstellung bei Friedrich von Reitzenstein, Arbeitsnachweis, S. 112-115. . 112 Vgl. etwa Carl Conrad, S. 50. 113 Vgl. hierzu z. B. Friedrich von Reitzenstein, Arbeitsnachweis, S. 113 f.; Carl Conrad, S. 32 f. 114 Zu den Ansätzen einer zentralisierten Vermittlun~ bei den Freien Gewerkschaften auf Orts- und Reichsebene vgl. z. B. die Darstellung bel Friedrich von Reitzenstein, Arbeitsnachweis, S. 113 f.; Carl Conrad, S. 46-49. Laut Carl Conrad, S. 48, hatten die Freien Gewerkschaften bei der berufsmäßigen Zentralisierung der Vermittlung fürs ganze Reich freilich nur minimale Erfolge.

4.1. Vorläufer-Institutionen

109

Dabei erfolgte die Arbeitsvennittlung bei den Freien Gewerkschaften i. d. R. unentgeltlich. 115 Für die Gestaltung der Vermittlungsleistungen waren bei den freigewerkschaftlichen Nachweisen vier Regelungen von besonderer Bedeutung. Zunächst sollte die Vermittlung durch Kontrolle des Arbeitsangebots durch die Gewerkschaften dem gewerkschaftlichen Arbeitskil.mpf dienen 116; an bestreikte Arbeitgeber oder an Arbeitgeber, die die Tarifverträge und die von den Gewerkschaften erfochtenen Arbeitsbedingungen nicht einhielten oder ihre Arbeitnehmer auf die eine oder andere Weise "bedrückten", sollten dementsprechend keine Arbeitskräfte vermittelt werden. Sodann sollte die Vennittlung stets nach der Reihenfolge der Anmeldungen erfolgen 117 (dies aus Gründen der Gerechtigkeit, sozialen Motiven sowie zur Einsparung von gewerkschaftlichen Unterstützungszahlungen); nur Streikende, Arbeitslose und die von den Arbeitgebern "gemaßregelten" Arbeitnehmer sollten vorrangig vermittelt werden 118. Weiterhin wurden zumeist nur die Mitglieder des jeweiligen Fachverbandes vermittelt ("Organisationszwang") 119. Prinzipiell bestand schließlich für alle Verbandsmitglieder die Pflicht, stets nur den verbandseigenen Nachweis zu benutzen ("Benutzungszwang" oder "Obligatorium")120, damit die Freien Gewerkschaften das Arbeitsangebot kontrollieren konnten. Fast alle Nachweise der Freien Gewerkschaften wurden nur ehrenamtlich oder nebenamtlich verwaltet, d. h. es gab kaum hauptamtliches Vennittlungspersonal; die Gewerkschaftsfunktionäre (haupt- oder ehrenamtliche) führten also auch die gewerkschaftliche Arbeitsvermittlung durch. 121 Besondere Schwierigkeiten ergaben sich für die Nachweise der Freien Gewerkschaften durch die weitgehende Weigerung der meisten Arbeitgeber, ihnen Informationen aber offene Stellen zukommen zu lassen 122. In aller Regel fanVgl. Carl Conrad, S. 32. z. B. die Darstellung bei Carl Conrad, S. 27-30; Anselm Faust, Arbeitsmarktpolitik 1986, S. 80 f. 117 Vgl. z. B. Carl Conrad, S. 33. 118 V gl. ebenda 119 Laut Carl Conrad, S. 33, konnten Stellen aber auch nichtorganisierten Arbeitnehmern Uberlassen werden, sofern kein Gewerkschaftsmitglied vermittelt werden wollte. 120 Vgl. ebenda; ..... jede Umgehung des gewerkschaftlichen Nachweises (sollte, MR) mit dem Verlust der Unterstlltzungsberechtigung geahndet" werden (ebenda). 121 Vgl. z. B. Friedrich von Reitzenstein, Arbeitsnachweis, S. 114; Carl Conrad, S. 115

116 V~1.

32f.

122 Vgl. Z. B. Carl Conrad, S. 44. Diese Weigerung dUrfte sich mit dem allgemeinen Ziel der Arbeitgeber, die Gewerkschaften zu bekämpfen (vgl. hierzu z. B. Otto Michal/ce, S. 6), mit den Schwierigkeiten der Gewerkschaften, alle Arbeitnehmer auf die Benutzung der Gewerkschaftsnachweise zu verpflichten (vgl. Carl Conrad, S. 49 f.), und mit dem - tendenziellen - Arbeits-AngebotsUberhang im aus~ehenden 19. Jahrhundert (vgl. hierzu z. B. die Darstellung bei Heinz Lampert, SozialpolItik, S 64-68) erklären lassen.

4. Die Kommunalisierung der Arbeitsvermittlung

110

den die Arbeitgeber vor 1914 auch ohne die Gewerkschaftsnachweise genügend Arbeitskräfte l23 . Die Freien Gewerkschaften mußten deshalb versuchen, über ihre Vertrauensleute in den Betrieben Informationen über offene Stellen zu erhalten; diese wurden von den Gewerkschaftsnachweisen sodann den Arbeitssuchenden mitgeteilt, ohne daß vom jeweiligen Arbeitgeber ein Vermittlungsauftrag erteilt worden wäre; die Arbeitssuchenden meldeten sich daraufhin als "Umschauende" direkt beim jeweiligen Arbeitgeber oder auch bei dem von ihm beauftragten Arbeitgebernachweis. l24 1894 gab es in Preußen insgesamt 297 Arbeitergewerkschaftsnachweise (d. h. also ganz überwiegend: freigewerkschaftliche Nachweise),I25 die aber nur einen Anteil von 4,5 % an allen von Vermittlungsinstanzen besetzten Stellen erreichten - erheblich weniger als die Vereinsnachweise (13,8 %) und die gesamten Arbeitgebernachweise (10,9 %)}26 Ganz im Gegensatz zu den Arbeitgeber-, speziell den Industrienachweisen, nahm dieser Vermittlungsanteil der Gewerkschaftsnachweise im weiteren Zeitverlauf kaum noch zu, sondern stagnierte, um dann ab ca. 1910 zunehmend zu sinken.t 27

4.1.5. Die "Vereinsnachweise" als Vermittlungseinrichtungen "gemeinnütziger" Vereinigungen

Seit den 1840er Jahren hatten "gemeinnützige" Vereine in immer mehr deutschen Städten - jeweils auf einzelne Orte beschränkte - Einrichtungen zur z. T. unentgeltlichen l28 Arbeitsvermittlung ins Leben gerufen, die sich unter dem Sammelbegriff der "Vereinsnachweise" zusammenfasen lassen 129.130 Vgl. Carl Conrad, S. 42. B. Friedrich von Reitzenstein, Arbeitsnachweis, S. 114. 125 Diese Angaben von Anselm Faust (Arbeitsmarktpolitik 1986, S. 288, Tab. 6) stimmen freilich nicht mit denen von Faust (Arbeitsmarktpolitik 1986) in seiner Tab. 10 (S. 292 f.) Oberein, wonach bis 1894 nur 109 Gewerkschaftsnachweise gegründet worden sein sollen. 126 Vgl. Tab. 3 im Anhang der vorliegenden Arbeit. 127 Vgl. Tab. 3 im Anhang zur vorliegenden Arbeit. Dieser geringe Vermittlungserfolg der Gewerkschaftsnachweise läßt sich tendenziell spiegelbildlich zum Erfolg der Arbeitgebernachweise erklären; zu diesem vgl. oben, Fn. 128 Zur teilweisen GebOhrenfreiheit bzw. -pflichtigkeit der Vermittlung bei verschiedenen Vereinsnachweisen vgl. Friedrich von Reitzenstein, Arbeitsnachweis, S. 292, 298, 302,333. 129 Zu den Vereinsnachweisen allgemein vgl. z. B. Carl Conrad, S. 166; Anselm Faust, Arbeitsmarktpolitik 1986, S. 51. Als Beispiele fUr die Art der Trägervereine wurden u. a. genannt: "Verein zur Schutzpflege entlassener Gefangener", "Verein gegen Ar123

124 Vgl. Z.

4.1. Vorläufer-Institutionen

111

Mitglieder (und damit: Finanziers)131 dieser Vereine waren zumeist "Menschenfreunde"132, "gemeinnützig gesinnte Bürger"133, "... Vertreter des Bürgertums, die aber eher 'Intellektuelle' waren, weniger 'Bourgeois'" 134 und sich zum groBen Teil dem Spektrum der sog. - bürgerlichen - Sozialre/ormer l35 zurechnen lassen dürften. Als Resultat aus der Zusammensetzung ihrer Trägervereine hatten die Vereinsnachweise überwiegend den Charakter "fürsorglicher" und "karitativer" Veranstaltungen für "Arme" mit dem Ziel, "Arbeit statt Almosen" zu gewähren. 136 Damit beschrlinkten sie ihr Angebot zwar nicht auf einzelne Berufs- und Gewerbezweige, wohl aber tendenziell auf die Gruppe der "Armen", "Fürsorgebedürftigen ". Durch ihren fürsorglichen Charakter hatten die Vereinsnachweise erhebliche Schwierigkeiten, von den Arbeitgebern mit Vermittlungsaufträgen versorgt zu werden:

Es war für sie fast "... unmöglich, unter den Arbeitgebern einen festen Kunden kreis zu erwerben",137 weil es stark von der jeweiligen wirtschaftlichen Lage abhing, ob geeignete Arbeitnehmer nachgewiesen werden konnten 138. Bei guter Beschäftigungslage hatten die "fürsorglichen" Nachweise kaum Arbeitskräfte nachzuweisen 139, weil sich jetzt nur wenige vermittlungsfahige Bedürftige bei ihnen meldeten. Zudem war es bei guter Konjunkturlage eben doch einfacher, den Armen aus der wohlgefiillten Kasse "Almosen" zu gewähren, als mennot und Bettelei", "Verein für Armenpflege", "Verein für Unterstützun* armer Reisender" (vgl. z. B. Friedrich von Reitzenstein, Arbeitsnachweis, S. 378), 'Arbeiterbildungsverein" (v~l. Otto Uhlig, S. 51), "Verein für Arbeiter- und Arbeits-Gesuche" (vgl. ebenda, S. 37), 'Zentralverein für Arbeitsnachweis"(vgl. ebenda, S. 81 f.), "Patriotische Gesellschaft" (vgl. ebenda, S. 88 f.). 130 Zur Entstehung einiger Vereinsnachweise seit den 1840er Jahren vgl. die Darstellung bei Otto Uhlig, S. 36-43, 51-69, 81-85. 131 Verschiedene Vereinsnachweise erhielten zusätzlich auch - zumeist freilich nur geringe lJ!ld unstetige - Zuschüsse aus öffentlichen Mitteln, vgl. etwa die Darstellung bei Otto Uhl,g, S. 38, 86-89. 132 Vgl. ebenda, S. 37. 133 Ebenda, S. 81 f. 134 Ebenda, S. 51. 135 Zur Gruppe der Sozialreformer vgl. z. B. Ursula Ratz, Sozialreform und Arbeiterschaft, Berlin f980; RUdiger vom Bruch, Bürgerliche Sozialreform im deutschen Kaiserreich, in: Weder Kommunismus ~och Kapitalismus - Bürgerliche Sozialreform in Deutschland vom Vormärz bis zur Ara Adenauer, hrsg. von Rüdiger vom Bruch, München 1985, S. 61-179. 136 Vgl. hierzu z. B. Friedrich von Reitzenstein, Arbeitsnachweis, S. 378 f.; Erdmann Graack, Ein deutscher Arbeitsnachweis in seiner geschichtlichen Entwicklung, DresdenNeustadt 1915 (im folgenden zitiert als "Graack, Entwicklung"), S. 26. 137 19naz Jastrow, Sozialpolitik, S. 182; Jastrows Ausführungen (denen auch bei den folgenden beiden Fußnoten gefolgt wird) bezogen sich zwar auf die ArmenverwaltungsVermittlung, dürften aber auf die Vereinsnachweise ohne weiteres zu übertragen sein. 138 Ebenda.

112

4. Die Kommunalisierung der Arbeitsvermittlung

nach geeigneten Stellen zu forschen. In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit dagegen kamen die Arbeitgeber gar nicht erst auf die Idee, bei den "fürsorglichen" Nachweisen um Arbeitskräfte nachzufragen, weil sich bei ihnen genügend "Umschauende" meldeten. Sie wandten sich zudem stets ungern an die Vereinsnachweise, weil sie die von den "fürsorglichen" Nachweisen Vermittelten als "minderwertige Arbeitskräfte" ansahen 140 und der Qualität der Vermittlung nicht trauen konnten l41 . Und auch jeder etwas qualifiziertere Arbeitnehmer versuchte, die stets mit dem ..... Beigeschmack eines Erziehungswerks oder einer Unterstützung .... verbundene 142 "fürsorgliche" Vermittlung so weit wie irgend möglich nie in Anspruch nehmen zu müssen, um nicht als "minderwertiger" Arbeitnehmer angesehen zu werden l43 . Zudem wurden die Vereinsnachweise häufig von den Arbeitnehmern auch deshalb so weit wie möglich gemieden, weil sie als Institutionen der Besitzbürger (und der Arbeitgeber) identifiziert wurden, von welchen die Arbeitnehmer keine objektive und neutrale Vermittlung erwarten konnten 144. Da Arbeitsvermittlung stets nur in "Co-Produktion" zwischen den Vermittlern und den Nachfragern (Arbeitnehmern und -gebern) erfolgen kann, muß eine Vermittlungsinstanz stets tendenziell versagen, wenn für die Arbeitgeber und/oder -nehmer kein Anreiz besteht, sich dieser Vermittlungseinrichtung zu bedienen. Einige - jüngere - Vereinsnachweise verstanden sich zwar als "allgemeine" Nachweise, die ohne jeden "fürsorglichen" Beigeschmack ..... Arbeitsgelegenheiten und Arbeitskräfte jeder Art" 145 vermitteln wollten 146. Aber auch sie waren in den Augen vieler Arbeitgeber und -nehmer noch mit dem von den "fürsorglichen" Vereinen her gewohnten Odium der Vermittlung von Armen behaftet, und auch sie galten als Institutionen der Besitzbürger; jedenfalls erwarteten die Arbeitgeber dort kaum taugliche Arbeitskräfte. 147 Ebenda. Vgl. z. B. Erdmann Graack, Entwicklung, S. 19. 141 Zur allgemeinen Auffassung von der schlechten Qualität der "fürsorglichen" Vereinsnachweise vgl. z. B. Carl Conrad, S. 177; Erdmann Graack, Entwicklung, S. 19; Otto Uhlig, S. 37. 142 Friedrich von Reitzenstein, Arbeitsnachweis, S. 379. 143 V gl. z. B. ebenda, sowie Erdmann Graack, Entwicklung, S. 26. 144 V gl. z. B. Carl Conrad, S. 172. 145 Ebenda, S. 168. 146 Die bekanntesten dieser allgemeinen Vereinsnachweise waren jene in Stuttgart (gegrUndet 1865) und in Berlin (gegründet 1883). Vgl. zu diesen sowie zu weiteren allgemeinen Vereinsnachweisen die Darstellung bei Friedrich von Reitzenstein, Arbeitsnachweis, S. 291-309. 147 Auch die allgemeinen Vereinsnachweise hatten laut Carl Conrad, S. 166, eine "... fast unvermeidliche Erweiterung ihrer Aufgabe nach der Richtung auf die Fürsorge für 139

140

4.1. Vorläufer-Institutionen

113

Weitere Schwierigkeiten ergaben sich für alle Vereinsnachweise durch ihre geringe Stabilität. Diese allgemeine "Misere der Gemeinnatzigkeit"148 beruhte zum einen auf der ungenügenden Finanzierungs-Sicherheit der Vereinsnachweise, die auf stets unbeständige Spenden und freiwillige Beiträge der Trägervereins-Mitglieder angewiesen waren 149, und die infolge der unsicheren Finanzierung häufig nur ehrenamtliches und wenig geeignetes Personal einsetzen konnten l50 . Zum anderen wurden viele Vereinsnachweise von mehreren Vereinen gemeinsam getragen, zwischen denen es häufig zu Zwistigkeiten, z. T. mit der Folge des Ausscheidens von Trägervereinen, kam 151 . Trotz derartiger Probleme nahm freilich bis in die neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts hinein die Zahl der Vereinsnachweise vermutlich zu; die Zahl der von jedem Vereinsnachweis pro Jahr besetzten Stellen aber dürfte stagniert haben l52 . 1894 wurden in Preußen 143 Vereinsnachweise gezählt, die einen Anteil von 13,8 % an allen über Vermittlungsinstanzen besetzten Stellen erreichten. 153 In den Folgejahren nahm dieser Anteil rapide immer weiter ab. 154

Bedürftige hin .. " Zur Erwartung der Arbeitgeber, bei den allgemeinen Vereinsnachweisen kaum taugliche Arbeitskräfte zu finden, vgl. z. B. ebenda, S. 172. 148 Zu diesem laut Conrad von Max Quarck geprägten Schlagwort vgl. ebenda, S. 247. 149 Vgl. z. B. Friedrich von Reitzenstein, Arbeitsnachweis, S. 376; Carl Conrad, S. 245. Ernst Lautenschlager führte (in den von ihm verfaßten "Anträgen des Gewerbegerichtes Stuttgart zur Errichtung eines städtischen Arbeitsamtes in Stuttgart", in: Anhang n zu Arbeitslosigkeit und Arbeitsvermittlung in Industrie- und Handelsstädten: Bericht über den am 8. und 9. Oktober 1893 vom Freien Deutschen Hochstift zu Frankfurt a. M. veranstalteten sozialen Kongreß, Berlin 1894, S. 198-211 [im folgenden zitiert als "Anträge Stuttgart", hier: S. 207) das Beispiel des Arbeitsnachweisvereins in Wien an, dem 1891 "... em Beitrag von 500 Gulden von dem Komitee des Industriellenballs zugewiesen worden (wäre, MR); im folgenden Jahre (hätten, MR) .. die Industriellen nicht mehr für die Arbeitsvermittlung getanzt und der Beitrag von 500 Gulden, der 11 % der gesamten Einnahmen ausgemacht (hätte, MR) .. , (wäre, MR) .. ausgefallen". 150 Zu dieser Kritik der Vereinsnachweise vgl. z. B. Arbeitslosigkeit und Arbeitsvermittlung, S. 82 (Diskussionsbeitrag J.( ... ) Bardorf, Wien); Bericht über den ersten Verhandlungstag der Konferenz der Centralstelle für Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen vom 11. und 12. Mai 1896 in Berlin: Entwicklung und gegenwärtiger Stand der Frage des Arbeitsnachweises, in: Schriften der Centralstelle für Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen, Nr. 10, Berlin 1896, S. 17-53 (im folgenden zitiert als "Bericht Centralstelle"), hier: S. 32 (Diskussionsbeitrag K.( ... ) Möller, Brackwede); Helmuth Barde, Die Organisation und Zentralisation des badischen Arbeitsmarktes, Tübingen 1914 (= Z f. d. g. Staatsw., Ergänzungsheft 52), S. 8. 151 Vgl. z. B. Carl Conrad, S. 247. 152 Beim Stuttgarter Vereinsnachweis, über den relativ umfassendes Material vorliegt, blieb die Zahl der vermittelten Stellen von 1865-1893 in etwa konstant, in Relation zu den anderen Vermittlungs-Institutionen ging seine Bedeutung kontinuierlich zurück, vgl. Otto Uhlig, S. 56. 153 V gl. Tab. 3 im Anhang dieser Arbeit. 154 V gl. Tab. 3 im Anhang zur vorliegenden Arbeit. 8 RosenCeld

114

4. Die Kommunalisierung der Arbeitsvermittlung

4.1.6. Armenverwaltungs-Vermittlung

Analog ZU den gemeinnützigen Vereinen zogen auch die kommunalen Armenverwaltungen "... den Nachweis von Arbeit der Darreichung von Almosen .. (vor, MR) und (kamen, MR) .. darüber zu einer mehr oder weniger entwickelten Organisation des Arbeitsnachweises .. "155. Dabei beschrankte sich das Angebot dieser Fürsorgeamts-Vermittlung stets auf "... wirtschaftlich schwächere oder moralisch minderwertige Personen ... "156, die bei der Armenverwaltung um Armenfürsorge nachgesucht hatten, sowie auf einzelne Orte. Offenbar erfolgte die Vermittlung stets unentgeltlich. 157 Besonders bekannt geworden sind die Arbeitsvermittlungs-Regelungen im Rahmen der Armenordnungen der Stadt Elberfeld (das sog. "Elberfelder System'1 158, die schon frühzeitig den Armenpflegern die Aufgabe zuwiesen, "... Arbeitsgelegenheit für die ihrer Fürsorge anvertrauten arbeitsfähigen Armen zu vermitteln"159. Dabei wurde aber keine spezielle Organisation für diese Vermittlung geschaffen; die Vermittlung blieb der Initiative des einzelnen Armenpflegers überlassen. Eine spezielle Vermittlungsorganisation innerhalb der Armenverwaltung wurde demgegenüber z. B. 1843 in Leipzig eingerichtet. 160 Völlig analog zu den Vereinsnachweisen mit "fürsorglichem" Charakter hatte die Armenverwaltungs-Vermittlung große Schwierigkeiten, von den Arbeitgebern mit Auskünften über offene Stellen versorgt zu werden. 161 Demgemäß waren auch die Vermittlungserfolge der Armenverwaltungs-Vermittlung gegen

ISS Carl Conrad, S. 175. Vgl. zu diesen Ansitzen z. B. die Darstellung bei Friedrich von Reitzenstein, Ober Beschäftigung, S. 4-6, 46 f. In den Bereich der "fürsorgerischen" Vermittlung gehören auch eini~e weitere - vor allem von der evangelischen Inneren Mission ins Leben gerufene - Emrichtungen, die auch die Arbeitsvermittlung betrieben: Die "Herbergen zur Heimat", "Naturalverpflegungsstationen" und "Arbeiterkolonien", vgl. hierzu z. B. Friedrich von Reitzenstein, Arbeitsnachweis, S. 335-337. IS6 Carl Conrad, S. 175. IS7 V gl. hinsichtlich der Unentgeltlichkeit fUr Arbeitnehmer: Ebenda, S. 176. IS8 Zum - seit 1853 eingeführten - "Elberfelder System" insgesamt V$l. z. B. die zusammenfassende Darstellung bei Albin Gladen, Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland, Wiesbaden 1974, S. 8, sowie Christoph Sachße, und Florian Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland vom Spätmittelalter bis zum l. Weltkrieg, Stuttgart etc. 1980 (im fol~enden zitiert als "Sachßeffennstedt, Geschichte"), S. 214-222, 286289; dies.: Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Bd. 2: Fürsorge und Wohlfahrtspflege 1871-1929, Stuttgart etc. 1988 (im folgenden zitiert als "SachßeIl'ennstedt, FUrsorge und Wohlfahrtspflege"), S. 23 f. IS9 Friedrich von Reitzenstein, Arbeitsnachweis, S. 332. 160 Vgl. hierzu z. B. ebenda, S. 332 f.; Otto Uhlig, S. 39. 161 V gl. Carl Conrad, S. 177 f.

4.2. Der Erklärungsbedarf

115

Ende des 19. Jahrhunderts nur gering 162 und tendenziell rückläufig 163. Hinzu kam, daß die Armenverwaltungs-Vermittlung von den Arbeitnehmern noch stärker als die Vereinsnachweise gemieden wurde: Bei den meisten Arbeitnehmern herrschte gegen die Armenpflege eine starke Abneigung. l64 So war die Inanspruchnahme der Armenfürsorge mit dem Verlust des Wahlrechts verbunden. 165 Und für Arbeitnehmer wie -geber war es nur zu offensichtlich, daß gerade die Armenverwaltungen stets stärker an einer raschen denn an einer qualitativ guten Vermittlung interessiert waren,l66 um Fürsorgeausgaben einzusparen.

4.2. Der Erklärungsbedarf

Das soeben skizzierte Gesamtsystem der Arbeitsplatz- und -kräftesuche wurde mit der gegen Mitte der 1890er Jahre in verschiedenen "Pionier-Städten"167 evolvierten institutionellen Innovation der ÖAN nachhaltig transformiert und erhielt in diesen Städten die in Abb. 6 zusammenfassend dargestellte Gestalt:

162 So hatte die Armenverwaltungs-Vermittlung 1894 nur einen Anteil von 1,5 % an allen von Vermittlungs-Instanzen besetzten Stellen, vgl. Tab. 3 im Anhang dieser Arbeit. 163 V gl. Carl Conrad, S. 178. 164 V gl. Ignaz lrutrow, Sozialpolitik, S. 182. 165 Vgl. z. B. ebenda, S. 182 f. 166 V gl. zu dieser Tendenz für die Armenverwaltungen: ebenda, S. 182. 167 Die ganz überwiegende Zahl der "ÖAN-Pioniergrilndungen" erfolgte in Städten in Süd-, West- und Mitteldeutschland. Vgl. die zu Beginn dieses Abschnittes (4.) dargestellten Angaben zu den "Pionier-Städten"; vgl. auch Otto Uhlig, S. 133, sowie die Kartenübersicht, ebenda, S. 132.

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4. Die Kommunalisierung der Arbeitsvermittlung

116

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Abb. 6: Die wichtigsten Institutionen der Arbeitsvermittlung, Stand Mitte der I 890er Jahre (in den "Pionier-Städten")

Legende: ÖAN

= Öffentliche Arbeitsnachweise

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= Abschluß von Arbeitsverträgen

D

= Suche nach und Angebot von Stellen!Arbeitskräften

~



= Vermittlungseinrichtungen

.- - - - - - ... = Ausübung von Entscheidungs- und Kontrollrechten ~ _. _. _. -~ = Finanzierung

4.2. Der Erklärungsbedarf

117

Fortsetzung der Legende von Abb. 6

a b c

= vor allem: Regelung des ÖAV -Outputs, Bestimmung des ÖANVorsitzenden und des Vermittlungspersonals = Delegation von Beisitzern in den ÖAN-Verwaltungsausschuß = teilweise zurückgebaut

Wie aus einem Vergleich von Abb. 6 mit Abb. 5 hervorgeht, wurde in den "Pionier-Städten" - aber nicht in allen deutschen Kommunen - die zuvor übliche Armenverwaltungs-Vermittlung eingestellt und durch die ÖAN ersetzt,168 während alle anderen Arbeitsvermittlungs-Institutionen erhalten blieben 169. Die Einzel-Regelungen der ÖAN lassen sich wie folgt charakterisieren: (I.) Output-Regeln:

- Der Vermittlungs-Output sollte bestimmten neuartigen Vermittlungs-Grundsätzen folgen, die zuvor von keiner der Vorläufer-Institutionen erreicht worden waren:

Allgemeinheit der Vermittlung,170 d. h. die ÖAN sollten ihre Vermitt-

lungsleistungen allen Anbietern und Nachfragem auf dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stellen, nicht nur den Angehörigen bestimmter Branchen oder Problemgruppen (wie den Arbeitslosen oder den Empfängern der kommunalen Armenfürsorge),

Unpaneilichkeit der Vermittlung,171 d. h. die Vermittlung sollte ohne Berücksichtigung der Gruppen- und Organisations-Zugehörigkeit der Vermittlungs-Nachfrager erfolgen, Arbeitsmarkt-Neutralitl1t der Vermittlung, was i. d. R. wie folgt konkre-

tisiert wurde: l72 Fortsetzung der Vermittlung bei Arbeitskämpfen; Bekanntgabe der bestreikten Betriebe an die Arbeitsuchenden.

168 Die Detailregelungen waren von Stadt zu Stadt unterschiedlich, stimmten aber in einer Reihe zentraler Gesichtspunkte weitgehend überein. Im folgendel\. wird versucht, so weit wie möglich ein gleichsam idealtypisches Bild der wichtigsten OAN-Institutionen zu skizzieren. 169 Wie weiter unten erläutert wird, war die Et~lierung der ÖAN allerdings vielfach an die Zusage einer freiwilligen Schließung der NÖNG-Nachweise gekoppelt. 170 Zur Gültigkeit dieses Grundsatzes für die ÖAN in den I 890er Jahren vgl. z. B. Anträge Stuttgart, S. 208, sowie Carl Conrad, S. 198 f. 171 Zur Gültigkeit dieses Grundsatzes für die ÖAN in den 1890er J~n vgl. ebenda, S. 195 f.; dieser Grundsatz wurde vor allem durch die Leitung der ÖAN durch einen "neutralen" Vorsitzenden und die Einrichtung eines paritätischen Verwaltungsausschusses zu realisieren versucht, vgl. ebenda sowie Erdmann Graack, Halbjahrhundert, S. 731 f. 172 Vgl. zur Einführung der folgenden Regel als typischem Merkmal der ÖAN z. B. Carl Conrad, S. 197 f.

118

4. Die Kommunalisierung der Arbeitsvermittlung

Alle diese Vermittlungsgrundsätze lassen sich als eine explizite Festlegung sowie Operationalisierung der Zielsetzung interpretieren, bei der Vergabe der öffentlichen Vermittlungs-Leistungen die sog. ''Ausschließbarkeit vom Konsum"173 außer Kraft zu setzen: Jede Person und jede Unternehmung sollten stets in den Genuß von Vermittlungs-Leistungen gelangen, unabhängig von ihrem Einkommen, ihrem Wohn- bzw. Firmensitz, ihrer Berufs- oder Verbandsoder Parteizugehörigkeit oder von sonstigen persönlichen bzw. untemehmungsspezifischen Merkmalen. Wie im Unterabschnitt 4.1. dargestellt wurde, zeichneten sich demgegenüber alle Vorläufer-Institutionen der ÖAV dadurch aus, stets bestimmte Personen bzw. Unternehmungen von der Vermittlung auszuschließen: Die sog. "Nichtausschließbarkeit vom Konsum" als eines der heute in der Literatur genannten Merkmale sog. "öffentlicher Güter" 174 ist für das Gut "Arbeitsvermittlung" grundsätzlich nicht gegeben; die genannten Vermittlungsgrundsätze der ÖAV stellten die "Nichtausschließbarkeit" gewissermaßen künstlich her.

(11.) AusjUhrungs-Rege1n: - Der ÖAN wurde als ein spezielles kommunales Amt, außerhalb der Armenfürsorge und allen anderen bisherigen kommunalen Behörden, etabliert. - Wie in Abb. 6 dargestellt ist, wurde die Regelung der Vermittlungs-AusjUhrung - ganz anders als etwa bei der Armenverwaltungs-Vermittlung - stets nicht total von der Kommune festgelegt, sondern vielmehr zum Teil einem später sog. - paritätischen "Verwaltungsausschuß" übertragen, dem unter einem "neutralen" Vorsitzenden in gleicher Zahl Vertreter der Arbeitnehmer und -geber angehörten. 175 Der Verwaltungsausschuß war zur Detailregelung und laufenden Kontrolle der Vermittlungstätigkeit berechtigt. - Die gen aue Abgrenzung der Kompetenzen zwischen dem Verwaltungsausschuß und der Kommune war von Stadt zu Stadt unterschiedlich geregelt, speziell hinsichtlich der Festlegung der ÖAN-Geschäftsordnung sowie der Einstellung des Vermittlungspersonals.176 Auf jeden Fall wurde aber der ÖAN-Vorsitzende stets allein von der Kommune bestimmt. 177 - Als wichtige Regelung ist noch der spezielle Wahlmodus des Verwaltungsausschusses hervorzuheben, wonach dieser typischerweise Gedenfalls bei 173 Zur "Ausschließbarkeit vom Konsum" als einem der in der Literatur genannten Merkmale privater Güter (ulndividualgüter") vgl. etwa die Darstellung bei Gerold Krause-Junk, S. 700-705. 174 Vgl. ebenda. 175 Vgl. hierzu z. B. Carl Conrad, S. 195-197. 176 Zu genaueren Angaben etwa für Frankfurt a. M. vgl. ebenda, S. 370-372. 177 Vgl. ebenda, S. 196.

4.2. Der Erklärungsbedarf

119

den zuerst gegründeten ÖAN) von den Beisitzern der kommunalen Gewerbegerichte178 gewählt wurde. 179 Mit diesen Regelungen verzichteten die Kommunen erstmalig 180 darauf, die Ausführung sämtlicher öffentlicher - kommunaler - Aufgaben allein der Aufsicht durch die Stadtverwaltung und das Stadtparlament zu unterstellen; neben der "kommunalen Selbstverwaltung" wurde eine "/UnkJionale Selbstverwaltung" installiert, durch welche den ÖAN innerhalb der kommunalen Verwaltung eine Sonderstellung zukam, die sich als eine "Misch/orm aus kommunaler undfreigemeinwinschaftlicher AufgabenerfUllung" charakterisieren läßt.

(IlI.) Finanzierungs-Regeln: - Fast immer galt der Grundsatz der Unentgeltlichkeit der Vermittlung. 181 - Die ÖAN wurden typischerweise ausschließlich 182 von den Kommunen (aus allgemeinen Deckungsmitteln) finanziert. Auch diese Finanzierungs-Regeln lassen sich als - weitere - Maßnahmen zur Herstellung der "Nichtausschließbarkeit" von der Vermittlung interpretieren.

(IV.) Regeln in bezug auf die NONG-Nachweise: Üblicherweise wurde in den "Pionier-Städten" versucht, Absprachen mit den Trägern der NÖNG-Nachweise zu treffen, damit diese sich freiwillig zu einem partiellen Rückbau ihrer Nachweise bereit erklärten. 183 Dies läßt sich als ein 178 Die Gewerbegerichte waren die Vorläufer der heutigen Arbeitsgerichte; zu näheren Erläuterungen sei verwiesen auf die Darstellung bei Ignaz Jastrow, Sozialpolitik, S. 405491. 179 Vgl. hierzu z. B. ebenda, S. 148 f.; Carl Conrad, S. 195-197: Dieser Wahlmodus wird zwar zumeist als typisches Charakteristikum der frühen ÖAN angeführt, fand aber nicht in jeder Stadt Anwendung. 180 Nur fUr die kommunalen Gewerbegerichte bestanden bereits vergleichbare Strukturen einer Mitwirkung von Arbeitgebern und -nehmern an der öffentlichen Verwaltung, allerdings kam den Arbeitgeber- und -nehmervertretern bei den Gewerbegerichten nur ein Einfluß auf die Rechtsprechung zu. Vgl. die Darstellung der Gewerbegerichte bei Ignaz Jastrow, Sozialpolitik, S. 405491. 181 Zum Grundprinzip der Gebührenfreiheit der ÖAN vgl. z. B. die Darstellung bei Carl Conrad, S. 199 f. 182 Zahlreiche ÖAN erhielten später Zuschüsse von den Ländern, V$l. z. B. für WOrttemberg: Otto Uhlig, S. 150-153.l>iese Dotationen hatten aber auf die ÖAN-"Pioniergründungen" keinen Einfluß mehr und können daher im folgenden vernachlässigt werden. 183 Diese Regelung war zwar kein Bestandteil der offiziellen ÖAN-Satzungen, aber fast immer wurde die Einrichtung der ÖAN an entsprechende Zusagen der Inhaber von NÖNG-Nachweisen gekoppelt Vgl. etwa für Stutt~art: Carl Conrad, S. 343 f.; OUo Uhlig, S. 110. In Dresden lehnte der Rat noch 1901 die Etablierung eines ÖAN ab, weil die Arbeit$eberverbände sowie die Gewerkschaften nicht zum Verzicht auf ihre Vermittlungsemrichtungen bereit waren, vgl. Erdmann Graack, Entwicklung, S. 29.

120

4. Die Kommunalisierung der Arbeitsvermittlung

freilich nicht satzungsmäßig verankerter - vierter Regelungsbereich der ÖAN interpretieren: - Freiwilliger partieller Rückbau der NÖNG-Nachweise. Damit wurde tendenziell eine totale "Verstadtlichung" der Arbeitsvermittlung und Verdrängung der nicht-öffentlichen Anbieter in die Wege geleitet. Die Emergenz der skizzierten institutionellen Neuerungen läßt eine Beantwortung der Frage notwendig erscheinen, wie die erstmalige l84 Ein[Uhrung ei-

nes nlfentlichen Angebotes an Arbeitsvermittlungs-Leistungen - neben dem nicht-nlfentlichen Angebot - sowie die konkreten Detail-Regelungen erklllrt werden knnnen, mit denen die "Ausschließbarkeit vom Konsum" im Bereich der Arbeitsvermittlung außer Kraft gesetzt und eine "funktionale Selbstverwaltung" installiert wurden: Wie durch die Existenz der geschilderten Vorläufer-Institutionen der ÖAN dokumentiert wird, war es in der Realität des 19. Jahrhunderts nicht zu einem "totalen Marktversagen" - als Argument der normativen Finanztheorie zur Rechtfertigung und Erklärung der öffentlichen Bereitstellung von Gütern und Leistungen _185 gekommen. Gemäß dem im Abschnitt 1. dieser Arbeit vorgestellten theoretischen Konzept der ÖTIW läßt sich vermuten, daß die Arbeitsvermittlungs-Leistungen durch die Vorläufer-Institutionen für verschiedene Gruppen von Akteuren im Zeitverlauf verstärkt zu relevanten Extemalitltten i. S. von Status-quo-Kosten führten; derartige Status-quo-Kosten könnten z. B. aufgrund von verschiedenen "Marktmängeln" der im Status quo gegebenen Strukturen des Arbeitsvermittlungs-Angebotes erzeugt worden sein. Die Einführung des ÖAV-Angebots läßt sich dann als Maßnahme zur Senkung dieser Status-quo-Kosten verstehen. Im folgenden Unterabschnitt gilt es mithin, zunächst zu erklären, welche Status-quo-Kosten es konkret waren, die für einzelne Akteure zu einem Änderungsanreiz i. d. S. führten, daß sie institutionelle Neuerungen auf dem Arbeitsvermittlungs-Markt für wünschenswert hielten. Gemäß dem im Abschnitt 2. vorgeschlagenen Analyseraster stellen sich sodann die Fragen, aufgrund welcher KostenlNutzen-Kalküle einige dieser Akteure just eine Nachfrage i. S. des soeben skizzierten, spezifischen institutionellen Arrangements der ÖAN artikuliert haben könnten, und wie es diesen Akteuren gelingen konnte, ihre Nachfrage nach Institutionen-Änderungen auf dem "Institutionen-Markt" gegenüber der ggf. rivalisierenden Nachfrage etwaiger Bewahrungsagenten zu realisieren. 184 Sofern man von der stets nur einzelnen Arbeitnehmer-Gruppen vorbehaltenen Armenverwaltungs-Vermittlung absieht. 185 Vgl. hierzu etwa die zusammenfassende Darstellung bei Gerold Krause-Junk, S. 700-703.

4.3. Die Nachfrage einzelner Akteure und ihre Befriedigung

121

4.3. Die Nachfrage einzelner Akteure nach Institutionen-Änderungen und die Befriedigung der Nachfrage Zur Beantwortung der soeben genannten Fragen sollen - gemäß dem im Abschnitt 2. skizzierten Analyse-Raster - in diesem Unterabschnitt für jeden bzw. jede Gruppe der relevanten Akteure getrennt jeweils zunächst deren allgemeine Nutzenvorstellungen skizziert werden, bevor jeweils zu erklären versucht wird, weshalb es für diese Akteure zu einem Änderungs- oder Bewahrungsanreiz gekommen ist (und welchen Einfluß hierauf die bislang etablierten Vorläufer-Institutionen der ÖAN ausübten). Ebenfalls für jeden bzw. jede Gruppe der relevanten Akteure getrennt wird sodann das akteurspezifische KostenlNutzen-Kalkal hinsichtlich der jeweils artikulierten Nachfrage zu erklären versucht, sowie schließlich die (Nicht-) Befriedigung dieser Nachfrage auf dem "Institutionen-

Markt".

Da die institutionelle Innovation der Einführung von ÖAN - wie oben dargestellt wurde - in einer Reihe deutscher Städte um die Mitte der 1890er Jahre nahezu gleichzeitig erfolgte, hierfür aber in jeder Stadt in völliger Eigenständigkeit eine eigene Entscheidung getroffen wurde, müßte zur Erklärung der betrachteten Institutionen-Änderung eigentlich der "Institutionen-Markt" für jede dieser Städte gesondert analysiert werden. Eine solche Analyse würde allerdings den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen; zudem sind die relevanten kommunalen Entscheidungsprozesse nur höchst lückenhaft dokumentiert. 186 Im folgenden kann deshalb lediglich versucht werden, mit Hilfe der vorliegenden Informationen so weit wie möglich ein für alle "Pionier-Städte"

gemeinsam gUltiges, gleichsam idealtypisches Bild des kommunalen "Institutionen-Marktes" sowie der auf ihm tätigen Akteure und ihrer Nachfrage zu rekonstruieren und gemäß dem im Abschnitt 2. vorgeschlagenen Raster zu analysie-

ren.1 87 Dabei wird unterstellt, daß die betrachtete "Pionier-Stadt" im Süden oder Südwesten Deutschlands lokalisiert war 188. Soweit dies zu ermitteln war, kommen als für die hier betrachtete Institutionen-Änderung relevante Akteure auf dem "Institutionen-Markt" in der betrach186 Zur Darstellung des tatsächlichen politischen Ents~heidungsprozesses in einzelnen Städten und zur Position der einzelnen Akteure zum OAN vgl. Otto Uhlig, S. 106111, 129-133; vgl. auch Gerhard Brunn, Köln als sozialpolitischer Pionier: Die Arbeitsnachweis-Anstalt von 1894 und der Kölner Arbeitsmarkt, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins, Jg. 56 (1985), S. 107-135, hier: S. 111-117. 187 Dabei wird zur weiteren Vereinf~chun$ auch von jenen Auswirkungen abgesehen, die in der Realität der Erfolg des ÖAN m einer ersten auf die anderen "PionierStädte" ausüben konnte. Zur Vermutung derartiger Effekte vgl. z. B. Friedrich von Reitzenstein, Arbeitsnachweis, S. 317. 188 Entsprechend der o. a. Tatsache, daß die ersten ÖAN in diesen Regionen evolvierten, vgl. oben, S. 64.

122

4. Die Kommunalisierung der Arbeitsvermittlung

teten "Pionier-Stadt" neben der Stadtverwaltung - also gewissermaßen der kommunalen "Exekutive"189 - vor allem die (örtlichen) Gewerkschaften und ArbeitgeberverblJnde in Betracht: Die akteurspezifische Analyse wird im folgenden Unterabschnitt (4.3.1.) zunächst für die Stadtverwaltung durchgeführt, weil die Stadtverwaltung in der "idealtypisch" betrachteten "Pionier-Stadt" als erster oder "primärer" Änderungsagent auftrat, indem sie zu Beginn der 1890er Jahre 190 einen Änderungsplan zur Etablierung eines ÖAN vorlegte. 191 Im Unterabschnitt 4.3.2. werden sodann die Gewerkschaften, schließlich unter 4.3.3. die ArbeitgeberverblJ.nde untersucht. 192 Auf eine gesonderte Untersuchung der kommunalen Parlamentarier (= Mitglieder der Gemeindevertretung) als den relevanten Entscheidungsagenten kann verzichtet werden, weil deren Nutzenvorstellungen im wesentlichen jenen der Arbeitgeberverbände entsprochen haben dürften: Die kommunalen Parlamentarier waren ganz überwiegend - als Folge der damals gegebenen Allokation der kommunalen Wahlrechte zugunsten der Besitzer von Haus- und Grundvermögen - Angehörige der Arbeitgeberschaft; 193 es läßt sich deshalb vermuten (und belegen)194 , daß die Ratsmitglieder fast immer weitgehend entsprechend den Vorstellungen der Arbeitgeberverbände abstimmten. 189 Hierunter sollen die Leiter der Stadtverwaltung (die Bürgermeister bzw. StadtSchu1theisse sowie die anderen Mitglieder des Magistrats) und die ihnen unterstellten Verwaltungsbediensteten zusammengefaßt werden; dabei hatte der Bürgermeister (Stadt-Schultheiß) - z. B. in Preußen - die Position eines Vorsitzenden des Magistrats, vgl. A. Riess, Stadtverfassungen, A., Preußen, in: Handwörterbuch der Kommunalwissenschaften, hrsg. von JosefBrix u. a., Bd. 4, Jena 1924, S. 45-60, hier: S. 56. 190 Laut Ignaz Joslrow, Sozialpolitik, S. 140, war der Änderun~splan i. S. der unten erläuterten Idee der Verbindung des ÖAN mit dem Gewerbegencht im Juni 1890 in Frankfurt a. M. entstanden. 1892 wurde in Stuttgart eine entsprechende ÖAN-Satzung entworfen (vgl. ebenda, S. 141). 4ut 0110 Uhlig, S. 101, übersandte der Gewerberichter Lautenschlager (Stuttgart) seinen Anderungsp1an im Juli 1893 an die dortige Gemeindevertretung. 191 Soweit dies zu ermitteln war, waren in den meisten der "Pionier-Städte" die Stadtverwaltungen die primären Änderungsag~pten; in einzelnen Städten waren es allerdings auch die Gewerkschaften, die den ÖAN-Anderungsp1an als erste aufbrachten, vgl. hierzu unten, 4.3.2. 192 Die in Form von "Runderlassen" ausgesprochenen Empfehlungen der Länder an die Kommunen, ÖAN zu etablieren (vgl. hier,zu zusammenfassend: Anselm Fausl, Arbeitsmarktpolitik 1986, S. 75-79) waren den Anderungsplänen in den "Pionier-Städten" zeitlich nachgelagert; auf die Einbeziehung der Landesregierungen als Akteure wird deshalb im folgenden verzichtet. 193 Vgl. z. B. Ignaz Joslrow, Sozialpolitik, S. 139 f., 149; vgl. auch die Darstellung der kommunalen Wahlrechts-Regelungen bei Wolfgang R. Krabbe, Stadt, S. 48-52. 194 Zur Darstellung des tatsächlichen Entscheidungsprozesses in einzelnen Städten sei nochmals verwiesen auf 0110 Uhlig, S. 106-111, 129-133; vgl. auch Gerhard Brunn, Köln als sozialpolitischer Pionier: Die Arbeitsnachweis-Anstalt von 1894 und der Kölner Arbeitsmarkt, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins, Jg. 56 (1985), S. 107135, hier: S. 111-117.

4.3. Die Nachfrage einzelner Akteure und ihre Befriedigung

123

Wichtig erscheint vorab noch der Hinweis, daß die kommunalen Entscheidungsrechte im betrachteten Zeitraum nicht ausschließlich den Parlamentariern, sondern z. T. auch der Stadtverwaltung übertragen waren, deren Leiter zwar von der Gemeindevertretung (oder: dem "Gemeindeparlament") gewählt wurden, aber zumeist für eine sehr lange Amtsdauer (6-12 Jahre), teilweise sogar auf Lebenszeit: 195 Für die Ausführung der den Kommunen vom Reich und Land ("Bundesstaat") übertragenen Aufgaben waren die Verwaltungen fast ganz unabhängig von den Parlamentariern 196. U. a. in Preußen hatten die Leiter der Verwaltung sogar ein Vetorecht gegenüber Beschlüssen der Gemeindevertretung, von dem "... auch wegen Verletzung des Staatswohls und des Gem(einde, MR) Interesses ( ... )"197 Gebrauch gemacht werden konnte. Zudem war die Wahl der (Ober-) Bürgermeister an die Bestätigung durch die Länder gebunden l98 . Veränderungen der erwarteten Änderungs-lBewahrungs-Kosten spielten für die Entstehung von Änderungsreizen - soweit dies zu ermitteln war - in bezug auf die betrachteten Institutionen-Änderung bei keinem der untersuchten Akteure eine Rolle; von einer akteurspezifischen Betrachtung dieser Faktoren wird deshalb in diesem Abschnitt der vorliegenden Arbeit abgesehen.

4.3.1. Die Stadtverwaltung

4.3.1.1. Allgemeine Nutzenvorstellungen Im ausgehenden 19. Jahrhundert wurden die Leiter der Stadtverwaltung zwar typischerweise stark von der liberalen Einstellung der städtischen Eliten 199 geprägt und vertraten ebenfalls liberale, z. T. aber auch konservative 195 V gl. z. B. Erwin Ruck, Gemeindeverfassungen (Württemberg), in: Handwörterbuch der Kommunalwissenschaften, hrsg. von Josef Brix u. a., Bd. 2, Jena 1922, S. 292299, hier: S. 295 f.; H. Reh, Gemeindeverfassungen (Hessen), in: Handwörterbuch der Kommunalwissenschaften, hrsg. von Josef Brix u. a.. Bd. 2. Jena 1922, S. 305-311. hier: S. 308; A. Riess, S. 57. 196 So etwa in Preußen, vgl. A. Riess, S. 58 f. Nähere Informationen zur Stellung speziell,des Bürgermeisters in Preußen gibt ebenfalls A. Riess; S. 56; für Württemberg vgl. Erwm Ruck, S. 295; für Hessen: H. Reh. S. 308. 197 A. Riess, S. 58. 198 Vgl. Heinrich Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert, 2. Aufl., Stuttgart 1969, S. 6i6. 199 Vgl. hierzu Wolfgang R. Krabbe. Stadt, S. 58.

124

4. Die Kommunalisierung der Arbeitsvermittlung

Auffassungen 2OO . Jedoch betonten sie dabei stets die Vorstellung einer "fachgerechten", an "Schiedsrichter-Funktions"-Vorstellungen orientierten Verwaltung "... und bewiesen auch oft die Unabhängigkeit von den gesellschaftlichen Gruppen, deren Vertreter sie gewählt hatten, und mit denen sie gesellschaftlich verkehrten."201 Die Unbestechlichkeit und Neutralität der deutschen Kommualverwaltungen galt im 19. Jahrhundert als weltweit vorbildlich und als ein typisches Element der deutschen Verfassungswirklichkeit;202 sie dürfte auf die oben bereits skizzierte203 große Unabhängigkeit der Verwaltungsleiter von den Gemeindevertretungen zurückzuführen sein. Folglich dürfte das Bestreben um eine "fachgerechte", interessenunabhlJ.ngige ErfUllung der den Kommunen ubenragenen Aufgaben zur Steigerung der

"wirtschaftlichen Potenz", der "politischen Bedeutung" und des "Prestiges" der jeweiligen Stadt204 für die Stadtverwaltung die wichtigste Zielvorstellung gebildet haben. Es läßt sich erwarten, daß diese Nutzenvorstellung eng verknüpft war mit dem Bestreben, die für die "fachgerechte" Aufgabenerfüllung der Kommunen erforderlichen Offentlichen Einnahmen zu sichern.

4.3.1.2. Anderungs-/Bewahrungs-Anreize Aufgrund der skizzierten allgemeinen Nutzenvorstellungen dürfte es für die Stadtverwaltung in den frühen 1890er Jahren zu einem ganz deutlichen Rückgang der von den bestehenden Arbeitsvermittlungs-Institutionen bewirkten Status-qua-Nutzen gekommen sein, und zwar vor allem in bezug auf die von der Stadtverwaltung erstrebte "fachgerechte" Erfüllung verschiedener kommunaler Aufgaben; hieran waren das im folgenden skizzierte "Marktversagen" (bzw. "Staatsversagen") der unter 4.1. vorgestellten ÖAN-Vorläufer-Institutionen bei 200 Vgl. Helmuth Croon, Das Vordringen der politischen Parteien im Bereich der kommunalen Selbstverwaltung, in: Kommunale Selbstverwaltung im Zeitalter der Industrialisierung, Stuttgart etc. 1971, S. 15-54, hier: S. 16. 201 Ebenda. "Obwohl die Städte in der Regel von Männern verwaltet wurde, die den liberalen Parteien angehörten oder nahestanden, wurde das Problem der städtischen Leistungsverwaltung ... nicht aus der Perspektive eines doktrinären Liberalismus gesehen ... " (Wolfgang J. Krabbe, Stadt, S. 122). Zur Position der kommunalen Verwaltungsleiter im ausgehenden 19. Jahrhundert als ausgesprochene "Fachpolitiker" vgl. auch Wolfgang Hofmann, Oberbürgermeister und Stadterweiterungen, in: Kommunale Selbstverwaltung im Zeitalter der Industrialisierung, Stuttgart etc. 1971, S. 59-85, hier: S. 79. 202 V gl. hierzu die Darstellung bei Heinrich Hejfter, S. 622. 203 Vgl. die diesem Unterabschnitt 4.3.1. vorangehenden Ausführungen zu Beginn des Unterabschnittes 4.3.! 204 Wolfgang J. Krabbe, Stadt, S. 140.

4.3. Die Nachfrage einzelner Akteure und ihre Befriedigung

125

der Senkung der Arbeitslosigkeit sowie die kommunalen Aufgaben und verschiedene weitere Situationsfaktoren wie folgt beteiligt:

4.3.1.2.1. Kosten und Nutzen der Umschau Die Umschau ist stets jener Modus der Stellensuche und -besetzung, der am wenigsten dazu in der Lage ist, die Arbeitslosigkeit zu senken; so reichte im ausgehenden 19. Jahrhundert bereits das GerUcht, an bestimmten Orten gäbe es offene Stellen, dazu aus, gleichsam eine "Völkerwanderung" in Richtung auf diese Orte in Marsch zu setzen - wo es dann ggf. zu einer enormen Steigerung der lokalen Arbeitslosigkeit kam. Das bevorzugte Ziel aller Umschauenden waren dabei fast immer die großen Städte; in diesen bewirkte die Arbeitslosigkeit (der Umschauenden) zu Beginn der 1890er Jahre zunächst eine stltndige starke Beanspruchung der kommunalen ArmenfUrsorge durch "Bedürftige in folge von Arbeitslosigkeit"205 und damit eine Beschränkung der für andere Zwecke verfügbaren kommunalen Mittel. Weitere negative Effekte hatte die Arbeitslosigkeit auf die kommunalen Aufgabe "()ffentliche Sicherheit und Ordnung": Generell wurde im 19. Jahrhundert angenommen, daß ..... der sittliche Verfall der großen Mehrzahl der auf die Verbrecherlautbahn gerathenen Personen auf den Mangel an BeschlJjtigung und Erwerbsgelegenheit sowie auf verwahrloste Erziehung zurückzuführen ... " sei 206. Und speziell der mit der Arbeitslosigkeit stets verknüpften Umschau wurden vielfach negative Begleiterscheinungen wie Bettelei, Vagabondage, "sittlicher Verfall" und Kriminalität jeder Art nachgesagt,207 sowie eine Tendenz zu sozialen Unruhen 208 . 205 Zum Problem der Beanspruchung der Armenverwaltungen durch Umschauende vgl. Anträge Stuttgart, S. 209 f. Zu den im ausgehenden 19. Jahrhundert üblichen Regelungen der ArmenfÜfsorge (sog. Prinzip des durch einen ununterbrochenen Aufenthalt in einer Gemeinde erworbenen "Unterstützungs-Wohnsitzes") V$l. etwa Christoph Sachße und Florian Tennstedt, Von der natürlichen zur gesellschaftlIchen Armut: Aspekte des Strukturwandels von Armut, Armen- und Arbeiterpolitik im 19. Jahrhundert, in: Bettler, Gauner und Proleten, hrsg. von Christoph Sachße und Florian Tennstedt, Reinbek 1983, S. 153-188 (im folgenden zitiert als "Sachße/Tennstedt, Annut"), hier: S. 174 f. 206 Friedrich von Reitzenstein, Über Beschäftigung, S. 6. Vgl. hierzu z. B. auch Michael Wennel und Roswitha Urban, Teil I, S. 16. 207 V gl. Anträge Stuttgart, S. 204. 208 V gl. Gerhard Brunn, S. 110.

126

4. Die Kommunalisierung der Arbeitsvermittlung

Da die Kommunen mit ihren OrtspolizeibehlJrden 209 (bzw. speziellen "Bettelvögten")210 zuständig für die Bekämpfung von Kriminalität (einschließlich der Landstreicherei und Bettelei)211 und sozialen Unruhen waren, dürfte es durch die diese Probleme verursachende Arbeitslosigkeit für die Stadtverwaltung stets zu einer Gefährdung der ordnungsgemäßen Aufgabenerfiillung im Bereich der Öffentlichen Sicherheit und Ordnung gekommen sein: "Die Behörden wissen auch jetzt ganz gut, daß das Umschauen in vielen Fällen weiter nichts ist als Bettel, aber trotzdem können die Behörden nicht energisch einschreiten, denn unter den gegenwärtigen Verhältnissen ... (ist, MR) das Umschauen ... in vielen Fällen der einzige Weg, auf dem die Arbeiter eine Stelle bekommen können."212 Indem die Umschau absolut nicht dazu in der Lage war, die skizzierten Nachteile zu verhindern, dürfte sie für die Stadtverwaltung stets Status-quoKosten bewirkt haben. Ein relevanter Anstieg dieser Kosten, der fiir die Stadtverwaltung als Änderungs-Anreiz gewirkt haben könnte, wäre immer dann zu erwarten, wenn die kommunalen Einnahmen deutlich sanken, die kommunalen Ausgaben fiir andere Budgetbereiche deutlich stiegen, und/oder wenn der Umfang der Arbeitslosigkeit und/oder der Umschau deutlich zunahm. Die Wirtschaftskrise der Jahre 1892-94 fiihrte zu einer deutlichen Steigerung der Arbeitslosigkeit,213 wenngleich diese möglicherweise vom Ausmaß der Arbeitslosigkeit im Verlauf der "Großen Depression" (oder "Gründerkrise") übertroffen worden sein könnte214. Demnach wäre fiir 1892-94 zwar ein konjunkturbedingter Anstieg der kommunalen Armenpflege-Ausgaben zu erwarten, d. h. die Zunahme der Arbeitslosigkeit bewirkte für die Stadtverwaltung eine Situationsfaktoren-Veränderung i. S. eines RUckgangs des "kommunalen Einkommens", indem das Volumen der fiir andere Zwecke zur Verfiigung stehenden kommunalen Mittel durch den Anstieg der Armenpflege-Ausgaben c. p. ab209 In zahlreichen (Groß-) Städten waren die Polizei behörden zwar als Landesorgane eingerichtet worden, jedoch blieben die Kommunen auch an diesen in starkem Maße (finanziell sowie durch Zustimmungs- und Anhörungsrechte) beteiligt. Vgl. Wolfgang R. Krabbe, Stadt, S. 39-41. 210 V gl. Chrisloph SachjJe und Florian TennsledI, Armut, S. 174. 211 Zur strafrechtlichen Verfolgung von Bettelei und Landstreicherei im 19. Jahrhundert vgl. etwa. Bernd Balkenhol, Armut und Arbeitslosigkeit in der Industrialisierung, Düsseldorf 1976, S. 139; Frank Niess, Geschichte der Arbeitslosigkeit, Köln 1919, S. 12; Chrisloph Sachße und Florian TennsledI, Armut, S. 174. 212 Anträge Stuttgart, S. 209. 213 Jürgen Kucz;ynski, S. 266, schätzte für 1892 eine Arbeitslosenquote von 6 %, für 1893-95 von 3,5 %. Vgl. auch die Darstellung bei Anselm FausI, Arbeitsmarktpolitik 1986, S. 24. Die zwischenörtliche Migration der Arbeitnehmer nahm im Verlauf dieser Wirtschaftskrise offenbar deutlich ab, vgl. Dieler Langewiesche, S. 9. 214 Für die Zeit vor ca. 1890 liegen nur höchst unzureichende Angaben über das Ausmaß der Arbeitslosigkeit vor. V gl. Jürgen Kucz;ynski, S. 256; Frank Niess, S. 22, 28-30.

4.3. Die Nachfrage einzelner Akteure und ihre Befriedigung

127

nahrn;215 dabei könnte dieser "kommunale Einkommens-Rückgang" aber möglicherweise geringer gewesen sein als jener im Verlauf der früheren Wirtschaftskrisen.216 Allerdings dürften sich etwajust seit Beginn der 1890er Jahre und z. T. auch im Verlauf der Wirtschaftskrise von 1892-94 die Theorien der Stadtverwaltung und weiter Bevölkerungskreise deutlich verandert haben, i. d. S., daß der Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Inanspruchnahme der Armenfürsorge "infolge von Arbeitslosigkeit" im Vergleich zu früher (und vorangegangenen Krisen) sowie der zuvor vielfach geleugnete "soziale" (= z. gr. T. nicht im einzelnen Individuum begründete) Charakter der Arbeitslosigkeit erstmalig erkannt wurden 217 . In der aus der Diskussion über das "Wagnersche Gesetz" her bekannten Terminologie von Peacock und Wiseman wäre hier von einem "inspeetion elfeet" zu sprechen,218 der in diesem Fall freilich interessanterweise nicht Folge eines Krieges war - wie dies von Peacock und Wiseman hervorgehoben wurde - , sondern vermutlich vor allem durch zeitlich vorgelagerte Institutionen-Änderungen bewirkt wurde, wie im folgenden gezeigt wird. Es läßt sich vermuten, daß es für die Stadtverwaltung vor allem durch diese Theorieveränderungen im Verlauf der Krise 1892-94 zu einem deutlichen Anstieg der Status-quo-Kosten der Umschau gekommen sein dürfte: Für diese Theorieveränderungen dürften zunächst die Etablierung und zunehmende Verbreitung der diversen Arbeitsvermittlungs-Institutionen 219 eine Rolle gespielt haben, die das Problem der Arbeitssuche ins Bewußtsein der Menschen rückte. Weiterhin nahm im ausgehenden 19. Jahrhundert die saisonale Arbeitslosigkeit in den Städten ganz erheblich zu, und zwar vor allem infolge der mit dem allgemeinen Städtewachstum verbundenen enormen Expansion des Hoch- und 21S Ohne expliziten Hinweis auf die Fürsorgeaus~aben betonte z. B. Carl Conrad, S. 181, die Bedeutung der übermäßigen Arbeitslosigkeit im Verlauf dieser Wirtschaftskrise i. S. eines zunehmenden ..... Druck(es, MR) ... auf die Gemeinwesen .... 216 Die vorliegenden empirischen Studien zur Entwicklun~ der kommunalen Ausgaben können diese Vermutungen aufgrund der unzureichenden Disa$gre~ation der Datenangaben allerdings nicht bestätigen. Die kommunalen Ausgaben Je Emwohner für das Sozial- und Gesundheitswesen ins$esamt stiegen (in den preußischen Großstädten) zwischen 1869 und 1911 relativ kontinuierlich von 4,36 auf 18,65 Mark (vg1. lUrgen Bolenz, Wachstum und Strukturwandlungen der kommunalen Ausgaben in Deutschland, 1849-1913, Diss., Freiburg i. Br. 1965, S. 183 sowie 168, Tab. 29). Diese Daten enthalten aber auch die Ausgaben für den Ausbau der kommunalen Kranken- und Pflegeanstalten (vg1. Bemd Balkenhol, S. 87). 211 Zur (aUerdin~s nicht explizit auf die Stadtverwaltung bezogenen) Vermutung eines solchen allgememen Theonewandels vg1. Wolfgang l. Krabbe, Gründung, S. 426. 218 Vg1. Alan T. Peacock und lack Wiseman, S. XXIV; vg1. etwa auch die Erörterungen bei Herbert Timm, S. 225. 219 V g1. oben, Unterabschnitt 4.1.

128

4. Die Kommunalisierung der Arbeitsvermittlung

Tiefbausektors;220 der offensichtliche Zusammenhang zwischen der saisonalen Einschränkung der Bautätigkeit und der Arbeitslosigkeit zahlreicher Arbeitnehmer war kaum zu übersehen und dürfte zum Erkennen des Risikos der Arbeitslosigkeit und seines nicht-individuellen Charakters beigetragen haben 221 . Zudem: In den früheren Wirtschaftskrisen - vor 1892-94 - konnte die "Bedürftigkeit in folge von Arbeitslosigkeit" auch von jenen Personen als Ursache ihrer Not angegeben werden, die in Wahrheit als Folge ihres hohen Alters, von Unfällen oder Krankheiten aus dem Arbeitsprozeß hatten ausscheiden müssen. Durch die Sozialversicherungsgesetzgebung der 1880er Jahre 222 war aber nunmehr für diese Personen eine soziale Sicherung außerhalb der Fürsorge gewährleistet, so daß der Anteil der arbeitsfähigen und -willigen Arbeitslosen an der Gesamtzahl der Fürsorgeempfanger zugenommen haben und das Problem der Arbeitslosigkeit gerade für die für die Armenfürsorge zuständige Stadtverwaltung deutlicher geworden sein dürfte. 223 Die Entlastung der kommunalen Armenfürsorge von konjunktur-invarianten Lasten (infolge der Sozialversicherungs-Gesetzgebung) führte vermutlich dazu, daß sich für die Stadtverwaltung die Abhängigkeit der Armenfürsorge-Ausgaben vom Konjunkturverlauf wesentlich deutlicher als zuvor darstellte. 224 Sodann hat der vorläufige Abschluß der Sozialversicherungsgesetzgebung im Jahre 1889225 vermutlich auch mit dazu beigetragen, daß die Öffentlichkeit und vor allem auch die bürgerlichen Sozialreformer ihre Aufmerksamkeit nunmehr wieder stärker anderen sozialen Problemen - wie jenem der Arbeitslosigkeit - widmen konnten 226 und die Erscheinung der Arbeitslosigkeit allen Teilen 37.

220

Vgl. Christoph Sachße und Florian Tennstedt, Fürsorge und Wohlfahrtspflege, S.

221 Zur zunehmenden Einsicht zumindest zahlreicher Nationalökonomen in den"sozialen Charakter" der Arbeitslosigkeit vgl. die Darstellung bei Anselrn Faust, Arbeitsmarktpolitik 1986, S. 38 f. 222 Exemplarisch hierzu sei verwiesen auf die Darstellung auf Albin Gladen, S. 5878. 223 Auch Bemd Balkenhol vermutete, daß erst mit dem Abschluß der Sozialversicherungsgesetzgebung das Anspruchskriterium der "Arbeitslosigkeit" von den Bedürftigen (= potentiellen Empfängern der ArmenfUrsorge) und der Stadtverwaltung "entdeckt" wurde, vgl. Bemd Balkenhol, S. 109. 224 Vgl. ebenda, S. 117. Tatsächlich läßt sich auch nach den von Balkenhol ausgewerteten Quellen erst ab Ende der 1880er Jahre eine deutliche Korrelation zwischen Konjunkturverlauf sowie Veränderung der Arbeitslosigkeit auf der einen und den kommunalen Armenpflege-Ausgaben "fUr Arbeitslose" auf der anderen Seite feststellen (vgl. ebenda, S. 106-109 und S. 117; das Kriterium der "Arbeitslosigkeit" wurde grundsätzlich bereits ab 1872 von den Armenverwaltungen statistisch erfaßt, vgl. ebenda, S. 109), was als Beleg für die veränderte Wahrnehmung der Arbeitslosigkeit durch die Stadtverwaltung gelten kann. 225 Vgl. z. B. Gerhard Erdmann, Die Entwicklung der deutschen Sozialgesetzgebung, Göttingen, Berlin und Frankfurt a. M. 1957, S. 10. 226 Laut Michael Wermel und Roswitha Urban, Bd. I, S. 22, standen in den 1880er Jahren die Sozialversicherungen "... im Mittelpunkt des Interesses aller sozialpolitisch

4.3. Die Nachfrage einzelner Akteure und ihre Befriedigung

129

der Bevölkerung ins BewuBtsein rücken konnte227 . Jedenfalls wurden die Arbeitslosigkeit und die Arbeitsvermittlung seit den 1880er Jahren zunehmend zum Thema der wissenschaftlichen wie politischen Diskussion 228. Des weiteren lassen sich die Theorieveränderungen der Stadtverwaltung vermutlich auch darauf zurückführen, daB es im Verlauf der Wirtschaftskrise von 1892-94 zu einem im Vergleich zu früheren Wirtschaftskrisen g~z erheblichen Anstieg der Kriminalität 229 sowie zu sozialen Unruhen 230 kam; diese auf die Arbeitslosigkeit sowie eine Verhaltensänderung der Arbeitslosen zurückgeführinteressierten Kreise ... ", nachdem zuvor die "Grunderkrise" bereits kurzfristig die Aufmerksamkeit dieser Kreise des Bürgertums auf das Problem der Arbeitslosigkeit gelenkt hatte: "Den Anstoß (hierzu, MR) ~ab .. Lujo Brentano (Hervorhebung durch MR) (im Rahmen seiner Werke "Die Arbeiter und die Produktionskrisen", in: Jb. f. Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft, Jg. 2 (1878), S. 565-632, sowie "Die Arbeiterversicherung gemäß der heutigen Wirtschaftsordnung - Geschichtliche und ökonomische Studien", Leipzig 1879; MR) der ... den Gewerkvereinen die Durchführung der Arbeitslosenversicherung übertragen wollte, die er als Voraussetzung jeder Sozialversicherung überhaupt betrachtete" (Anselm Faust, Arbeitsmarktpolitik 1986, S. 36). Reitzenstein stellte bereits 1887 fest, daß die Auswirkungen der Grunderkrise dazu geführt hätten, daß die Frage der ArbeitslosiRkeit "... auch weiteren Kreisen zum Bewußtsein ... " kam (Friedrich von Reitzenstein, (Jber Beschäftigung, S. 2). 227 Diese Zusammenhänge kann man mit Zöllner auch als das "... verfeinerte öffentliche Apperzeptionsvermögen für verbleibende Inseln der Ungesichertheit" bezeichnen, das aus dem Ausbau der Sozialen Sicherung folgt, ohne d~.sich der Gesamt-Bedarf an Sozialer Sicherung verändert haben müßte; Detlev Zöllner, Offentliche Sozialleistungen und wirtschaftliche Entwicklung, Berlin 1963, S. 78. 228 Zur nationalökonomischen Diskussion über die Arbeitslosigkeit seit 1890 vgl. die zusammenfassende Darstellung bei Michael Wennel und Roswitha Urban, Bd. I, S. 2244, sowie die dort angeführten Belege. Friedrich von Reitzenstein, Der Arbeitsnachweis und seine Weiterentwickelung, in: Entwickelung und gegenwärtiger Stand der Frage des Arbeitsnachweises und Weibliche Hülfskräfte in der Wohlfahrtspflege; Vorberichte und Verhandlungen der Konferenz vom 11. und 12. Mai 1896 in Berlin, Berlin 1896 (Schriften der Centralstelle für Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen, Nr. 10), S. 3-16, hier: S. 3, stellte fest: "Wenn noch vor einem Jahrzehnt eine der Erörterung des Problems des Arbeitsnachweises gegebene Arlregung fast allgemeiner Gleichgültigkeit begegnen konnte, so ist heute solche Gefahr nicht mehr vorhanden ... Die Behandlung derselben (Frage, MR) ist aber auch keineswegs eine bloß theoretische $eblieben, es hat vielmehr das Emporschnellen des Interesses für den Gegenstand sich m Neuorganisationen auf den verschiedensten Gebieten kundgetan." "... Die breiteste Öffentlichkeit befaßte sich jetzt ... " mit den Fragen der Arbeitslosigkeit (Michael Wennel und Roswitha Urban, Bd. I, S. 28). 229 "Während des Höhepunktes der Arbeitslosigkeit im Jahre 1892 stiegen die Eigentumsdelikte auf einen bis dahin noch nie erreichten Stand" (Michael Wennel und Roswitha Urban, Bd. I, S. 16). 230 Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, NF, Jg. 8 (1892), München 1893, notierte unter dem Datum des 25.-27. Februars 1892: "In Berlin fmden in mehreren Straßen Ausschreitungen von Arbeitslosen statt." Im Januar 1893 fanden in zahlreichen deutschen Städten sowie im Ausland Versammlungen von Arbeitslosen statt, aus deren Anlaß es z. T. zu Blutvergießen kam; vgl. die Ausführungen des Abg. Liebknecht (SPD) im Reichstag, am 12. Januar 1893 (Steno graphische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstages, Bd. 127 [8. Legislaturperiode, 11. Session, 1. Band], S. 430 f.). Vgl. zu diesen Zusammenhängen auch die Darstellung bei Anselm Faust, Arbeitsmarktpolitik 1986, S. 71, insbesondere Fußnote 82. 9 Rosenfeld

130

4. Die Kommunalisierung der Arbeitsvermittlung

ten Erscheinungen 231 ließen diese damit auf drastische Weise "populär" werden. 232 Neben den soeben skizzierten - vermutlich steigenden - Status-quo-Kosten der Stadtverwaltung aus der Umschau (aufgrund ihres Versagens, zur Senkung der Arbeitslosigkeit beizutragen) lassen sich noch weitere kostenwirksame Effekte der Umschau vermuten: So verhinderte gerade die völlig individuelle Umschau mit ihrem hohen Anteil an der Gesamtzahl der Stellenbesetzungen einen klaren Überblick über den Arbeitsmarkt, wie er im Idealfall in einer Arbeitsmarktstatistik zum Ausdruck kommen kann, die Auskunft über die Zahl und Zusammensetzung der Stellensuchenden, der offenen Stellen, der Beschäftigten sowie über die Veränderung dieser Größen zu geben vermag; freilich trugen auch die anderen Vorläufer-Institutionen erheblich dazu bei, einen solchen Überblick zu verhindern. Eine Arbeitsmarktstatistik kann u. a. positive Effekte auf die Durchführung sog. "Notstandsarbeiten " haben; hierunter wurden früher öffentliche Ausgabenprogramme zur Beschäftigung von Arbeitslosen bei der Ausführung von (zumeist: Straßen- und Tiefbau-) Maßnahmen verstanden, die im "öffentlichen Interesse" liegen;233 mit Hilfe der Arbeitsmarktstatistik läßt sich die Notwendigkeit von Notstandsarbeiten besser antizipieren und eine effektivere Abstimmung der Notstandsarbeiten auf die tatsächliche Struktur der Arbeitslosen erreichen ("Notstandsarbeits-Optimierung sfunktion" der Arbeitsmarktstatistik)234. Da die Kommunen - auch - im Verlauf der Wirtschaftskrise von 1892-94 Notstandsarbeiten durchfiihrten,235 dürften für die Stadtverwaltung die Statusquo-Kosten der Umschau i. S. der Verhinderung der Notstandsarbeits-Optimierungsfunktion damals gestiegen sein. Vor ca. 1890 waren Notstandsarbeiten demgegenüber kaum gebräuchlich. 236 Es spricht demnach vieles dafür, daß es auch über den "Hebel" der Notstandsarbeiten für die Stadtverwaltung zu BeV gl. Michael Wermel und Roswitha Urban, Bd. I, S. 16 und 28. Möglicherweise spielte für die dargestellten Theorieveränderungen auch der Umstand eine Rolle, daß sich die Krise von 1892-94 nicht auf Deutschland beschränkte, sondern internationalen Charakter hatte (vgl. hierzu Frank Niess, S. 29). 233 Zum Begriff und zum Inhalt der Notstandsarbeiten im 19. Jahrhundert und zu ihrer Konzentration auf Baumaßnahmen vgl. z. B. Bemd Balhmhol, S. 70. 234 "Ohne das wirtschaftliche Barometer, das eine Arbeitsnachweisstatistik sein kann, läßt sich das Herannahen einer Krisis weder voraussehen noch den Gefahren einer solchen vorbeugen. Die hierfür in Betracht kommenden Organe werden von den mißlichen Zeitläuften überrumpelt; die etwa angeordneten sog. Notstandsarbeiten kommen zu spät, sind den Bedürfnissen, denen sie abhelfen sollen, nicht angepaßt, und die großen Summen, die sie kosten, schaffen wenig Nutzen" (Carl Conrad, S. 294 f.). Zu den Nachteilen der fehlenden Arbeitsmarkt-Statistik für die Notstandsarbeiten vgl. auch bereits Antrage Stuttgart, S. 211. 235 V gl. etwa Carl Klop, Arbeitslosigkeit im all~emeinen und Notstandsarbeiten, in: Arbeitslosigkeit und Arbeitsvermittlung, S. 32-43, hier: S. 40-42. 231

232

4.3. Die Nachfrage einzelner Akteure und ihre Befriedigung

131

ginn der 1890er Jahre zu einem relevanten Änderungsanreiz gekommen sein könnte. Wichtiger als dieser "Hebel" dürfte aber noch eine andere, heute weitgehend in Vergessenheit geratene Kategorie von Status-quo-Kosten der Stadtverwaltung aus der von der Umschau verhinderten Arbeitsmarkt-Übersicht gewesen sein, die über den "Hebel" der Aufgaben der kommunalen Gewerbegerichte vermittelt wurden: Die Gewerbegerichte sollten Rechtsstreitigkeiten in allen ArbeitsvertragsAngelegenheiten schlichten, etwa entsprechend den heutigen Arbeitsgerichten; mit· dem Reichsgewerbegerichtsgesetz von 1890237 war den Gemeinden die Befugnis übertragen worden, derartige Gerichte zu etablieren; die Gemeinden machten von dieser Befugnis in erheblichem Umfang Gebrauch. 238 "Bei Entschädigungsklagen wegen kündigungsloser Entlassung oder wegen unbefugten Austritts aus der Arbeit mußte (von den Gewerbegerichten, MR) häufig festgestellt werden, ob wirklich der entlassene Arbeiter keine andere Arbeit finden und ob wirklich der Arbeitgeber keine anderen Arbeiter bekommen konnte."239 Davon hing die Entscheidung bzw. die Höhe der festzusetzenden Entschädigungen ab. 240 Der hohe Anteil der ungeregelten, individuellen Umschau an der gesamten Stellenbesetzung stand einer Klärung der genannten Fragen in ganz besonderem Maße entgegen. Und wegen des Charakters der Gewerbegerichte als - abgesehen von einigen Städten241 - einer durch eine dem Status quo vorgelagerte Institutionen-Änderung geschaffenen neuen kommunalen Aufgabe (ab 1890), dürfte es naheliegend erscheinen, daß diese Status-quo-Kostenkategorie fiir die Entscheidungen über den ÖAN eine wichtige Rolle gespielt haben dürfte. 242

Vgl. hierzu z. B. Wolfgang R. Krabbe, Gründung, S. 434. Vgl. hierzu Ignaz Jastrow, Sozialpolitik, S. 140 und S. 405-425. 238 Vgl. ebenda, S. 419-423. Nach dem Gewerbegerichtsgesetz von 1890 waren die Gewerbegerichte kommunale Einrichtungen, die aber außerhalb des kommunalen Verfassungsrechts standen. Vgl. hierzu ebenda, S. 140. 239 Arbeitslosigkeit und Arbeitsvermittlung, S. 70 (Diskussionsbeitrag Ernst Lautenschlager). 240 Friedrich von Reitzenstein, Arbeitsvermittlung, S. 315. 241 In Frankfurt a. M. bestand bereits vor 1890 ein Gewerbegericht. Die Einführung .os. III AVA VG) zur "Trägerin" der gesamten ÖAV und AL V514 bestimmt wurde (§ 1 Abs. lAVAVG). - Das bisherige "Reichsamt /Ur Arbeitsvermittlung" ("RAA") wurr~e zur sog. "Hauptstelle" (= Zentralverwaltung) der RAVA V umgestal~~t, die LAA wurden als Landesstellen übernommen, die ÖAN unter der aeuen Bezeichnung "Arbeitsllmter" ("AA") als Ortsstellen 515 (§ 2 Abs. I A VA VG). - Der HauptsteIle wurden nunmehr die gesamte die Faclt- und die Dienstaufsicht über die Geschllfts/Uhrung und Verwaltung der LAA und der AA516 sowie Anordnungsrechte in bezug auf die Geschäftsführung (§ 41 AVAVG) der LAA und der AA übertragen; zuvor waren dem RAA und den LAA nur Fachaufsichtsrechte übertragen gewesen. Dem Reichsarbeitsrninister wurde die Aufsicht über die RAVAV insgesamt zugewiesen (§ 47 AV AVG). (I/. b) Selbstverwaltungs-Kompetenzen:

- Wie zuvor für die ÖAN, die LAA und das RAA, wurden den AA und LAA sowie der HauptsteIle sog. Verwaltungsausschüsse (bei den AA und LAA) bzw. ein Verwaltungsrat (bei der HauptsteIle ) zugeordnet. Aber auch für die Verwaltungsausschüsse der AA galt ab sofort die Drittelparitllt, d. h. ihnen sollten neben Vertretern von Arbeitgebern und -nehmern auch Repräsentanten der Kommunen 517 angehören. Zudem wurden die Kompetenzen dieser

AV AVG; vgl. Krisenfürsorgegesetz vom 19. 11. 1926, RGBl., Jg. 1926, Teil I, S. 489. p'a die Krisenfürsorge für die Erklärung der in dieser Arbeit betrachteten InstitutionenAnderungen von untergeordneter Bedeutung ist, kann sie aus den weiteren Erörterungen ausgeklammert bleiben. 514 Sowie der öffentlichen Berufsberatung und Lehrstel1envermittlung sowie weiterer Aufgaben, vgl. AVAVG, § 1 Abs. 11. 515 In Württemberg z. B. waren die ÖAN von vornherein als ''Arbeitsämter'' bezeichnet worden, vgl. Otto Uhlig, S. 112. 516 Dies kommt darin zum Ausdruck, daß die RAV AV hierarchisch organisiert wurde; vgl. hierzu auch die Kritik am Status quo, unten, 5.3.1.! 517 Kreise und Gemeinden, deren Bezirke jenem des AA angehörten. Dabei wurden die Arbeitnehmer- und -gebervertreter von den Gewerkschaften und den Arbeitgeberverbänden verbindlich vorgeschlagen (AV AVG, § 6 Abs. I). Mit "beratender Stimme" hatten die Kommunen auch bereits laut ANG weitere Vertreter in die VerwaltungsausschUsse entsenden können, vgl. ANG, § 7 Abs. ll.

202

5. Der Übergang zur parafiskalischen Organisation

Gremien deutlich ausgeweitet; den Kommunen und den LiJ.ndem wurde jegliche direkte Einflußnahme auf die OAV genommen. - Den Verwaltungsausschüssen der AA (Ortsstellen) wurden nunmehr vor allem die Entscheidungsrechte für folgende Teile der ÖAV-Ausführung übertragen: S18

AnhlJrungsrechte bei der Ernennung des AA-Vorsitzenden (§ 34 Abs. I

AVAVG), zuvor gab es auch Einspruchsrechte; die Emennungsrechte wurden nunmehr der HauptsteIle zugewiesen (§ 34 Abs. m AV AVG),

Vorschlagsrechte jUr das Verminlungspersonal, wie zuvor; die Bestel-

lung des Personals sollte durch den Vorsitzenden des LAA erfolgen (§ 36 Abs. I AVAVG),

Entscheidungsrechte jUr die Regelung der GeschlJ.jtsjUhrung, wie zuvor,

(§ 42 AVAVG) wobei die HauptsteIle bzw. der Verwaltungsrat der RAVAV - wie auch bisher laut ANG, und wie bereits oben erwähnt wurde allgemeine Anordnungen über die Geschäftsführung erlassen konnte (§ 41 AVAVG),

Festsetzungsrecht (Entscheidungsrecht) jUr den Haushaltsplan des AA

(zuvor nur Vorschlagsrecht!); dem Verwaltungsausschuß des LAA wurde gegenüber dem VAdes AA nur ein Genehmigungsrecht übertragen (§ 43 Abs. I AVAVG),

Kontrolle der ALV-Vergabe S19 • (1II.) Finanzierungs-Regeln: - GebUhrenjreiheit, wie zuvor (§ 60 Abs. lAVAVG). - Die RAVAV mit allen ihren Aufgaben (d. h. neben der ÖAV vor allem die gesamte AL V) sollte nunmehr einheitlich grundslJtzlich zu ]00 % durch Zwangsbeitrl1ge aller Arbeitgeber und -nehmer finanziert werden. (§ 142 AVAVG) Beide Gruppen sollten wie zuvor je 50 % der Beiträge zahlen. (§ 143 AVAVG) - Die Höhe des Beitragsatzes konnte - innerhalb eines bestimmten gesetzlich festgelegten Rahmens - vom Verwaltungsrat der RAVAV variiert werden; die Verwaltungsausschüsse der LAA erhielten das Recht, die Beitragshöhe S18 Zu den Kompetenzen der Verwaltungsausschüsse der LAA, die weitgehend analog zu jenen der AA gestaltet waren, vgl. AVAVG, §§ 43 Abs. H, 42, 34 Abs. H, 36 Abs. m. Der Verwaltungsrat der RAV AV sollte u. a. den Gesamtbaushalt festsetzen, vgl. AV AVG, § 43 Abs. m; zu weiteren Kompetenzen des Verwaltungsrates vgl. AVAVG, §§ 34,35, 41. 519 Dies ergibt sich aus den im AVAVG, § 23, genannten Kontrol1rechten der Mitglieder der Selbstverwaltungsorgane.

5.2. Der Erklärungsbedarf

203

für einen Teil des Beitragsatzes nach unten zu variieren, d. h. es gab neben der "Reichs-Beitragsgemeinschaft" auch "LlJ.nder-Beitragsgemeinschaften", sofern die wirtschaftliche Lage es nicht zwingend erscheinen ließ, für das ganze Reich den gesetzlich zulässigen Beitrags-Höchstsatz zu erheben. (§§ 149, 150, 153, 160, 161, 162 AVAVG). Demgegenüber war das frühere Recht der lokalen Verwaltungsausschüsse auf iJrtliche Festlegung der Beitragslltze aufgehoben worden. 520

- Das gesamte Beitragsaufkommen sollte zunächst den LAA zustehen; diese finanzierten über Zuweisungen aus ihrem Beitragsaufkommen neben den eigenen Ausgaben auch die AA (entsprechend ihrem jeweiligen tatsächlichen Finanzbedarf); der etwaige Überschuß aus dem Beitragsaufkommen eines LAA-Bezirks wurde von der HauptsteIle für den sog. Reichsausgleich verwendet und an jene Bezirke transferiert, deren Beitragsaufkommen nicht zur Deckung der Ausgaben ausreichte. (§§ 151, 154, 155, 157 AVAVG) - Demnach wurden Reich, LlJ.nder und Kommunen von den OAV-Lasten zu 100 % entlastet; das Reich blieb nur in Krisenzeiten verpflichtet, der RAVAV mit Darlehen zur Finanzerung der ALV-Lasten zu helfen, wenn die Beiträge und die aus ihnen gebildeten Rücklagen zur Deckung der Ausgabenverpflichtungen der RAVAV nicht ausreichten 521 . Die mit den beiden skizzierten Maßnahmen-Bündeln der Jahre 1923/24 sowie 1927 installierten institutionellen Neuerungen betrafen - im Gegensatz zu den im Abschnitt 4. erörterten Innovationen - nicht die Verltnderung des Bestandes der öffentlichen Aufgaben, sondern vielmehr eine Verltnderung der AujgabenerjUllungs-Organisation, die sich als "Parajiskalisierung" (bei gleichzeitiger Kompetenz-Zentralisierung) charakterisieren läßt: Die - vowiegend: kommunalen - Institutionen der ÖAV wurden zu einem vom Reich kontrollierten "Parafiskus" transformiert. Es stellt sich die Frage, aufgrund welcher Faktoren es hinsichtlich des im Status quo - vor 1923/24 - existierenden institutionellen Arrangements der 520 Das AV AVG sah zwar auch die Möglichkeit vor, daß die Beitragsätze z. T. ins Ermessen der Verwaltungsausschüsse der AA (V gl. AVA VG, § 156) gestellt werden konnten, aber aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit des Jahres 1927 war davon auszugehen, daß auf absehbare Zeit (ab 1927) mit dem einheitlichen Beitrag zu rechnen war (vgl. Fritz Stier-Somlo, Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung vom 16. Juli 1927, Erläuterte Handausgabe, München 1928, S. 406). 521 V gl. AVAVG, § 163. Reich und Kommunen blieben zudem auch nach dem Inkrafttreten des AVAVG an der Finanzierung der im Jahre 1926 für die aus der ALV "Ausgesteuerten" (= arbeitslose Personen, deren Ansprüche auf ALV-Transfers erschöpft sind) eingeführten sog. "KrisenunterstUtzung" beteiligt, die in etwa der heutigen "Arbeitslosenhilfe" entsprach. und zwar zu 4/5 (Reich) bzw. 1/5 (Kommunen); vgl. AVAVG, §§ 101 und 167.

204

5. Der Übergang zur parafiskalischen Organisation

ÖAV zu einem "Staatsversagen "522 gekommen sein kann, wobei dieses "Staatsversagen" von den seinerzeit maßgeblichen Akteuren offenbar nicht als ein totales, sondern vielmehr nur als ein partielles "Staatsversagen" aufgefaßt wurde: Sie hielten es nicht für zweckmäßig, eine totale "Entstaatlichung" (etwa i. S. der Wiederherstellung des vor Mitte der 1890er Jahre gegebenen institutionellen Arrangements) vorzunehmen, sondern vielmehr nur einen - allerdings radikalen - Umbau der öffentlichen Aufgabenerfüllung, der sich mit den in der Einleitung skizzierten allgemeinen Tendenzen der "wohlfahrtsstaatlichen" Aufgabenerfüllung deckte. Gemäß dem im Abschnitt 1. vorgestellten theoretischen Konzept der ÖTIW ist zu vermuten, daß die kommunalen Institutionen der ÖAV in den 1920er Jahren aufgrund veränderter Situationsfaktoren für verschiedene Akteure zu steigenden Status-quo-Kosten führten (die sich als Aspekte eines partiellen "Staatsversagens" bei der ÖAV interpretieren lassen dürften). Im folgenden Unterabschnitt ist zunächst diesen Vermutungen hinsichtlich veränderter Status-quo-Kosten für die relevanten Akteure nachzugehen. Sodann ist zu fragen, welche Akteure aufgrund welcher KostenlNutzen-Kalküle eine Nachfrage i. S. der Institutionen-Änderungen der Jahre 1923/24 und 1927 - der Einführung eines "parafiskalischen" Arrangements für die ÖAV - artikulierten, und wie es diesen Akteuren gelingen konnte, ihre Nachfrage auf dem "Institutionen-Markt" gegenüber der ggf. rivalisierenden Nachfrage etwaiger Bewahrungsagenten zu realisieren.

5.3. Die Nachfrage einzelner Akteure nach Institutionen-Änderungen und die Befriedigung der Nachfrage Zur Beantworung der soeben skizzierten Fragen sollen gemäß dem im Abschnitt 2. vorgestellten Analyseraster wiederum zunächst für jeden Akteur die allgemeinen Nutzenvorstellungen skizziert werden, sodann die Änderungs- bzw. Bewahrungs-Anreize, und schließlich soll die (Nicht-) Befriedigung der jeweiligen akteurspezijischen Nachfrage auf dem "Institutionen-Markt" untersucht werden. Wie bereits unter 5.1. erläutert wurde, sollen hierbei für die Erörterung

522 Zur finanzwissenschaftlichen "Theorie des Staatsversagens" sei hier nur verwiesen auf die zusammenfassende Darstellung bei Horst Claus Recktenwald, Unwirtschaftlichkeit im Staatssektor - Elemente einer Theorie des ökonomischen "Staatsversagens", in: Hamburger Jahrbuch ftIr Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, Bd. 23 (1978), S. 155-166; tiers., Zur Theorie des Staatsversagens, in: Public Finance, Bd. 35 (1980), S. 72-78.

5.3. Die Nachfrage einzelner Akteure und ihre Befriedigung

205

der ÄnderungslBewahrungs-Anreize nur die Vorläufer-Institutionen i. S. der im Status quo vorhandenen Institutionen der ().f!entlichen Arbeitsvermittlung herangezogen werden. Soweit dies zu ermitteln war, übernahmen für die zu erklärenden Institutionen-Änderungen vor allem die folgenden Akteure eine Rolle, wobei die "Bühne" ihres Auftretens nicht der relativ begrenzte städtische "Institutionen-Markt" war - der im Abschnitt 4. untersucht wurde -, sondern der für die gesamte Volkswirtschaft relevante "Institutionen-Markt" auf der Ebene des Zentralstaates (Reiches): - die Reichsregierung, - die Gewerkschaften, - die Arbeitgeberverbände, - die Kommunalen Spitzen verbände (KSV), - die Fraktionen des Zentralparlaments (Reichstags) als relevante Entscheidungsagenten .523 Da die Reichsregierung für einen Teil der betrachteten Institutionen-Änderungen die Rolle eines "primlJren" Änaerungsagenten in ne hatte, soll im folgenden Unterabschnitt (5.3.1.) mit einer Betrachtung der Regierung begonnen werden, bevor die drei genannten Gruppen von lnteressenverbllnden (5.3.2.: Gewerkschaften; 5.3.3.: Arbeitgeberverbllnde; 5.3.4.: KSV) analysiert werden; den Abschluß bildet sodann die Untersuchung der Reichstags-Fraktionen, denen die Rolle der (potentiellen) Entscheidungsagenten zustand; hierbei erscheint es zweckmäßig, diese Entscheidungsagenten zu nur zwei wesentlichen Gruppen zusammenzufassen: der SPD-Fraktion (5.3.5.1.) sowie den BUrgerli-

chen Fraktionen (5.3.5.2.)524.

523 Der "Reichsrat", als Vertretungsorgan der Länder auf der Reichsebene, soll in die folgenden Erörterungen nicht einbezogen werden; er hatte lediglich das Recht, zu Gesetzesentwürfen der Regierung "Stellung zu nehmen" und gegen Gesetzesbeschlüsse des Parlaments einen "aufschiebenden Einspruch" zu erheben, welchen der Reichstag jedoch mit einer 213-Mehrheit zurückweisen konnte. Der Reichsrat war somit für den Gesetzgebungsprozeß in der Weimarer Republik weitgehend bedeutungslos. Vgl. die Darstellung bei Ernst Rudolf Huber, Geschichte Bd. 6, S. 383 f. und 411 f. Und konkret die vom Reichsrat 1926 verlangten Veränderungen des Regierungs~ptwurfs zur ALV hatten für die in der vorliegenden Arbeit betrachteten Institutionen-Anderungen keinen Einfluß; vgl. zu diesen Forderungen des Reichsrates etwa o. v., Die Abänderunt:en im Entwurf zum Arbeitslosenversicherungs-Gesetz nach der Reichstagsvorlage, m: SP, Jg. 36 (1927), Sp. 111-114, hier: Sp. 112, sowie bJdwig Preller, S. 370. 524 Zur näheren Erläuterung dieses Vorgehens und zur Abgrenzung dieser Akteure vgl. unten, 5.3.5.

206

5. Der Übergang zur parafiskalischen Organisation

Neben veränderten Status-quo-Kosten- und -Nutzen spielten Veränderungen der erwarteten Änderungs- und Bewahrungskosten im betrachteten Zeitabschnitt vermutlich nur für einzelne Akteure eine Rolle und werden deshalb nur für diese Akteure in die Analyse der Änderungsanreize einbezogen.

5.3.1. Die Reichsregierung

In bezug auf die Institutionen-Änderungen der Jahre 1923/24 wirkte die Regierung als primltrer Änderungsagent; demgegenüber hatte sie für die o. a. Institutionen-Änderungen durch das AVAVG von 1927 nur teilweise diese Rolle inne. 525

5.3.1.1. Allgemeine Nutzenvorstellungen Da die Reichsregierung unter dem seit 1919 eingeführten parlamentarischdemokratischen Regime von der Legislative (ab-) gewählt wurde bzw. werden

konnte,526 mußte sich die Regierung stets zumindest teilweise527 an den Nutzenvorstellungen derjenigen Parlaments-Fraktionen orientieren (bzw. deren Nutzenvorstellungen übernehmen), die sich im Reichstag zur "RegierungsKoalition" zusammengefunden hatten oder die - im Fall einer Minderheits-Regierung - zumindest zeitweise zur Unterstützung der Regierung bereit waren. Diese Nutzenvorstellungen der für die Regierung relevanten Parlaments-Fraktionen werden in bezug auf die zu erklärenden Institutionen-Änderungen in der vorliegenden Arbeit in den Unterabschnitten 5.3.5.1. und 5.3.5.2. untersucht. Um eine Vorwegnahme (und spätere Wiederholung) der dort vorgestellten Erklärungen zu vermeiden und zum Zweck der Herausarbeitung bzw. Isolierung der sonstigen Regierungs-Ziele, soll im folgenden von der Fiktion ausgegangen werden, daß für die Änderungs- bzw. Bewahrungsanreize der Regierung nur jene ihrer Nutzenvorstellungen relevant waren, die sich mit denen der Parlaments-Fraktionen nicht überschnitten haben; fiktiv wird damit unterstellt, daß

525 Zu näheren Angaben vgl. unten, 5.3.1.3. 526 Nähere Erläuterungen zur damaligen Verfassungsregelung der Abhängigkeit der

Regierung vom Parlament gibt Ernst Rudolf Huber, Geschichte Bd. 6, S. 329-336. 527 D. h. insoweit, wie es der Parlamentsmehrheit effektiv möglich war, die Exekutive zu kontrollieren.

5.3. Die Nachfrage einzelner Akteure und ihre Befriedigung

207

die Regierung als ein Akteur auf dem "Institutionen-Markt" auftrat, der parlamentarische Unterstützung für die aufgrund seiner allgemeinen Nutzenvorstellungen entstandene Nachfrage gegen die von den Parlaments-Fraktionen angestrebte Beteiligung an den Regierungsämtern tauschte, und daß die Regierung mithin erst infolge von Transaktionen der einzelnen Parlaments-Fraktionen auf dem "Institutionen-Markt" mit deren Nutzenvorstellungen konfrontiert wurde (und infolge dieser Transaktionen sodann ggf. eine Nachfrage-Modifizierung vornahm). Demgemäß läßt sich - fiktiv - annehmen, daß für die Regierung im wesentlichen vergleichbare Zielvorstellungen eine Rolle gespielt haben dürften, wie sie im Unterabschnitt 4.3.1.1. für die Stadtverwaltung vermutet wurden: - Sicherung der "fachlich richtigen" Erfüllung der vorhandenen Reichs-Aufgaben gemäß dem vom Parlament beschlossenen Modus der Aufgabenerfüllung; - Sicherung der für diese Aufgabenerfüllung erforderlichen Ressourcen 528. Des weiteren kann erwartet werden, daß die Regierung stets an einer Erweiterung des von ihr verwalteten Budgets sowie ihrer Kompetenzen interessiert war, um auf diese Weise das Einkommen (i. w. S.) der einzelnen Regierungsmitglieder zu erhöhen, speziell deren (Neben-) Einkünfte und ihr gesellschaftliches "Ansehen". 529

528 Zum Motiv jeder Regierung, die Finanzierung der öffentlichen Aufgaben aufgrund ihrer Verantwortlichkeit für den Ausgleich des Budgets nicht zuletzt auch gegen ein eher ausgabenfreudiges Parlament zu sichern, vgl. etwa die Darstellung bei Ganter Schmölders, S. 99. 529 Zu diesen aus der "Ökonomischen Theorie der Bürokratie" her geläufigen Verhaltensannahmen vgl. die grundlegenden Arbeiten von Anthony Downs, Non-Market Decision-Making - A Theory of Bureaucracy, in: AER, Papers and Proceedings, .Bd. 55 (1965), S. 439-446 (im folgenden zitiert als "Downs, Burecmcracy"); deutsche Übersetzung: Ders., NichtDUI!ktwirtschaftliche Entscheidungssysteme - Eine Theorie der Bürokratie, in: Politische Okonomie des Wohlfahrtsstaates, hrsg. von HOJIS Peter Widmaier, Frankfurt a. M. 1974, S. 199-207 (im folgenden zitiert als "Downs, Bürokratie"); William A. Niscanen Jr., Bureaucracy and Representative Government, Chicago 1971; vgl. auch Ulrich Roppel, Ökonomische Theorie der Bürokratie - Beiträge zu einer Theorie des Angebotsverhaltens staatlicher Bürokratien in Demokratien, Freiburg i. Br. 1979. Zur neueren Diskussion sei weiterhin verwiesen auf die Darstellung bei Dennis C. Mueller, S. 337-342.

208

5. Der Übergang zur parafiskalischen Organisation

5.3.1.2. Änderungs-/Bewahrungs-Anreize Die Lasten des Reichs aus der 50 %-igen Reichsbeteiligung an der ELF530 sowie aus den ELF-Lasten der Länder und Kommunen 531 - für welche das Reich nach den damals gültigen Regelungen des Aktiven Finanzausgleichs 532 mit der Überweisung von Anteilen an den wichtigsten Steuern als zentralen Einnahmenkategorien der Länder bzw. Kommunen indirekt ebenfalls zu sorgen hatte _533 hatten für die Regierung vermutlich bereits seit 1919 zu Status-quoKosten gefillut, weil diese Lasten wegen ihrer Konjunkturabhängigkeit eine weitgehend unberechenbare Position für den Reichshaushalt darstellten 534 und damit negative Auswirkungen auf die Erfüllung der sonstigen Reichsaufgaben und/oder die Stetigkeit des Abgabenrechts haben konnten. Weiterhin kam es vor allem infolge der erheblichen Belastung der Kommunen durch die ELF535 zu immer neuen Forderungen der Länder und Kommunen, die geltenden Regelungen des Aktiven Finanzausgleichs zu revidieren; damit kam es auch für die Regierung fast ständig zu erheblichen Aufwendungen i. S. der Neuaushandlung

der Regelungen des Aktiven Finanzausgleichs.

Tatsächlich dürfte es aber erst im Herbst 1923 für die Regierung zu einem signifikanten Anstieg dieser Status-quo-Kosten aufgrund der damals gültigen ÖAV- (und ELF-) Ausführungs- sowie Finanzierungs-Regeln gekommen sein, und zwar aus den folgenden Gründen: Die Regierung und die sie unterstützenden Parlaments-Fraktionen hatten sich damals entschlossen, im Anschluß an die Aufgabe des sog. "Passiven Widerstands" gegen die alliierte Besetzung des Rhein-Ruhr-Gebiets 536 endlich mit Vg1. Verordnung über ELF 1918, § 4. V g1. ebenda. 532 Mit dem Begriff des "Aktiven Finanzausgleichs" werden in der Finanzwissenschaft alle Regelungen der Einnahmenaufteilung zwischen den verschiedenen (Ebenen von) öffentlichen Verbänden im föderativen Staat bezeichnet, im Gegensatz zum "Passiven Finanzausgleich" (= der Regelung der Kompetenzverteilung für die öffentlichen Aufgaben und Ausgaben); vg1. Theo Keller, Finanzausgleich I - Allgemeines, in: HdSW, hrsg. von Erwin von Beckerath u. a., Bd. 3, Stuttgart, TIlbingen und Göttingen 1961, S. 541-547, hier: S. 542. 533 Zur Problematik und Regelung des Aktiven Finanzausgleichs in der Weimarer Republik vg1. z. B. die Darstellung bei Claus-Dieter Krohn, Stabilisierung und ökonomische Interessen - Die Finanzpolitik des Deutschen Reiches, 1923-27, Düsseldorf 1974 (Diss., Hamburg 1973), S. 43-53 und 148-164, sowie Ernst Rudolf Huber, Geschichte Bd. 6, S. 496-498. 534 Zu der etwa von Erzberger bereits 1919 vertretenen negativen Bewertung derartiger Lasten vg1. Peter Lewek, S. 111. 535 Laut Peter Lewek, S. 141, war diese Belastung seit 1920 "unhaltbar" geworden. 536 Zu dieser Entscheidung der Regierung vg1. etwa Claus-Dieter Krohn, S. 22; vg1. dort auch die Darstellung der Auswirkungen des "Ruhrkampfes" für die Reichsfinanzen und die Inflation. Lewek verwies darauf, daß es durch die Aufgabe des "Passiven Wi530 531

5.3. Die Nachfrage einzelner Akteure und ihre Befriedigung

209

durchgreifenden Maßnahmen gegen die sich zunehmend beschleunigende Inflation vorzugehen, wobei der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte eine wichtige Funktion zukommen sollte. 537 Aufgrund dieser Veränderung, die in der vorliegenden Arbeit zur Vereinfachung als eine nicht zu erklärende "PrtJ.!erenzverl1nderung"538 der Regierung und der Koalitions-Fraktionen (in bezug auf ÖAV-fremde Regelungen) aufgefaßt werden soll, mußte es für die Regierung gerade wegen ihrer damals nur mit der "Notenpresse" finanzierten 539 hohen Lasten aus der ELF zu deutlich steigenden Status-quo-Kosten aus den bestehenden ELF-Institutionen kommen. Neben der enormen Belastung der öffentlichen Budgets durch die ELFTransfers540 kam es für die Regierung vermutlich auch aufgrund jener Regelung zu entsprechenden Status-quo-Kosten (-Zuwächsen), wonach das Reich für die Finanzierung des RAA zu 100 %, und für jene der LAA zu 2/3 zu sorgen hatte. Schließlich: Die mit der gegebenen Finanzierung der ELF aus allgemeinen Budgetmitteln verknüpften Zugangsbedingungen zu den ELF-Leistungen begünstigten insoweit eine geringe Neigung der Arbeitslosen, sich selbst um eine Beendigung ihrer Arbeitslosigkeit zu bemühen, als die ELF-Leistungen nicht an eine vorangegangene Erwerbstätigkeit (mit welcher die ELF-Ansprüche derstands" zu einer schla$artigen Senkung der Status-quo-Nutzen der Regierung aus der Finanzierung der ELF nut allgemeinen Budgetmitteln gekommen wäre (vgl. Peter Lewek, S. 143): Die ELF-Zahlungen im besetzten Gebiet waren von der Regierung gezielt als Instrument zur Erhöhung der Beteiligung der Bevölkerung am "Passiven Widerstand" eingesetzt worden; eine solche "Zweckentfremdung" der ELF wäre bei einer Finanzierung der ELF mit Hilfe von Zwangsbeiträgen gegenüber den Beitragszahlern kaum zu legitimieren gewesen bzw. hätte zu einer erheblichen Beitragsbelastung geführt. - Freilich wäre es ja möglich gewesen, die Beitragsfmanzierung nur für die unbesetzten Gebiete einzuführen und für das Rhein-Ruhr-Gebiet eine Sonderfinanzierung der ELF vorzusehen; dem von Lewek genannten Argument kann deshalb keine große Bedeutung zugebilligt werden. 537 Vgl. zu der Motivation der Regierung (-sfraktionen), 1923 Maßnahmen zur Währungsstabilisierun~ einzuleiten, etwa die Darstellungen bei Claus-Dieter Krohn, S. 2230; Dietmar Petzma, Die deutsche Wirtschaft in der Zwischenkriegszeit, Wiesbaden 1977, S. 84. Zu den einzelnen Maßnahmen der Währungsreform vgl. Rolf E. Lake, Von der Stabilisierung zur Krise, Zürich 1958, S. 3-52, sowie die zusammenfassende Darstellung bei Ernst RUdolf Huber, Deutsche Verfassun~sgeschichte seit 1789, Bd. 7, Stuttgart etc. 1984 (im folgenden zitiert als "Huber, GeschIchte Bd. 7"), S. 422-427. Zum hiermit verbundenen Bestreben der Regierung, die Reichsfinanzen zu konsolidieren, vgl. Rolf E. Lüke, S. 25 f., sowie Friedrich Wilhelm Henning, Das industrialisierte Deutschland, 1914-1972, Paderbom 1974, S. 70, 78-80. Zu den Konsolidierungsmaßnahmen im einzelnen: Claus-Dieter Krohn, S. 36-43. 538 Diese kann vermutlich auf verschiedene veränderte Preisrelationen zurückgeführt werden. Vgl. hierzu die Darstellung bei Claus-Dieter Krohn, S. 22 f. 539 V gl. o. v., Die Verordnung über die Aufbringung der Mittel für die Erwerbslosenftlrsor~e, in: SP, Jg. 32 (1923), Sp. 959 f. (im folgenden zitiert als "0. v., Die Verordnung'), hier: Sp. 959; Claus-Dieter Krohn, S. 22. 540 Zur Relevanz dieses Faktors vgl. etwa die Darstellung bei Peter Lewek, S. 107. 14 Rosenr.1d

5. Der Übergang zur parafiskalischen Organisation

210

stets erneut zu erwerben waren) geknüpft war. 541 Aufgrund der genannten Zugangsbedingungen konnten auch arbeitsunwillige Personen in den GenuS der ELF gelangen (sie hatten ihre Arbeitswilligkeit nicht durch eine vorausgegangene Erwerbstätigkeit und Beitragszahlungen unter Beweis stellen müssen)542. Diese disincentive-Wirkungen der ELF-Regelungen hatten für die Regierung vermutlich ebenfalls bereits seit 1919 zu Status-quo-Kosten geführt;543 wegen der nunmehr angestrebten Begrenzung der Lasten des Reiches dürfte es im Herbst 1923 auch über diesen "Hebel" für die Regierung zu steigenden Statusquo-Kosten gekommen sein.

Auch im Anschluß an die - oben unter 5.2. vorgestellten - Institutionen-Änderungen von 1923/24 dürften die ÖAV und die mit ihr verknüpften ELF-Institutionen für die Regierung zu Status-quo-Kosten geführt haben, die im Zeitverlauf gestiegen sein dürften: Auch nach der Währungsstabilisierung dürften die verbliebenen, aufgrund ihrer Konjunkturabhängigkeit kaum ex ante kalkulierbaren Finanzierungslasten des Reiches aus der ELF (dies waren nunmehr: Reichszuschüsse an überlastete Bezirke, deren Beitragsaufkommen zur ELF-Finanzierung nicht ausreichte) für die Regierung weiterhin zu Status-quo-Kosten geführt haben. Vergleichbare Status-quo-Kosten dürften der Regierung unverändert auch aus den ÖAV-und ELF-Lasten der Länder und Kommunen entstanden sein, weil die Länder und Kommunen diese (ihnen ja qua Reichsgesetz oktroyierten) Lasten immer wieder als Argumente für eine Neuregelung des Aktiven Finanzausgleichs zu ihren Gunsten anführen konnten. Die Beitragsfinanzierung hatte diese Status-quoKosten der Regierung zwar tendenziell senken können. Zu einem erneuten drastischen Anstieg dieser Kosten mußte es aber stets dann kommen, wenn die Arbeitslosigkeit deutlich zunahm und zu einem RUckgang des "Reichs-Einkommens" i. S. der für Zwecke außerhalb der ELF verfügbaren Mittel des Reichs führte. Speziell die Massenarbeitslosigkeit des Jahres 1926 dürfte demnach für die Regierung zu einem erheblichen Status-quo-Kosten-Anstieg geführt haben: Die Arb~itslosenzahlen stiegen von ihrem niedrigen Stand von 200.000 im Jahresverlauf 1925 auf mehr als 2 Millionen im Winter 1925/26, und auch der Sommer 1926 brachte "... nur einen Abschwung bis auf reichlich fiinf viertel Millionen ... "544. Die im Verlauf dieser sog. "Reinigungskrise"545 rapide stei541

Zu den damit angesprochenen "demoralisierenden" Effekten der ELF vgl. z. B.

Ludwig Preller, S. 278. Zur Wirkung der Beitragszahlung als Maßnahme zur Erhöhung der individuellen Selbstverantwortung vgl. Karl Christian Fahrer, S. 210. 542 Vgl. 543 Vgl.

hierzu ebenda, S. 172 f. und S. 210. hierzu Peter Lewek, S. 108. 544 Ludwig Preller, S. 165. Vgl. auch die Angaben zur Entwicklung der Arbeitslosigkeit ab 1923 bei Peter Lewek, S. 210-225. 545 Vgl. z. B. Ludwig Preller, S. 336. Zu näheren Einzelheiten der Wirtschaftskrise von 1925/26 sei verwiesen auf die Darstellung von Fritz Blaich, Die Wirtschaftskrise

5.3. Die Nachfrage einzelner Akteure und ihre Befriedigung

211

gende Zahl der aus der ELF "Ausgesteuerten"546 führte zu einer ganz erheblichen Zusatzbelastung und Finanznot der Kommunen durch die Zahlung von Für8orge-Tranfers;547 auch diese Tendenz konnte als Argument für eine Neuregelung des Aktiven Finanzausgleichs zulasten des Reichs eingesetzt werden, und damit die Status-quo-Kosten der Regierung aufgrund der bestehenden ELF- und ÖAV-Institutionen weiter steigern548. Des weiteren wurden die durch den "Finanzierungs-StreB" bedingten Statusquo-Kosten der Regierung 1926 vermutlich auch von den damals durchgeführten Institutionen-Änderungen i. S. deutlicher Steuersenkungen weiter erhöht, weil sich in folge dieser Maßnahmen schon bald erhebliche Finanzierungsengpässe für den Reichsetat abzeichneten, die auch in den Folgejahren - nach einer kurzen Entspannung im 2. Halbjahr 1926 - virulent blieben und deutliche Ausgabenkürzungen opportun erscheinen ließen. 549 In den Jahren nach 1923 kam es vermutlich zusätzlich auch deshalb zu erheblichen - zuvor nicht erkannten - Status-quo-Kosten für die Regierung, weil vom Reichstag infolge des für die ELF-Leistungen geltenden BedürftigkeitsPrinzips immer wieder eine Erhöhung der ELF-Leistungssätze verlangt (und z. T. durchgesetzt) werden konnte; dies hatte häufige finanzielle Mehrbelastungen des Reiches zur Folge, für deren Deckung sodann stets die Regierung nach Möglichkeiten suchen muBte. 550 Das auslösende Moment für die Theorieverltnderung, welche der Regierung die geschilderten Zusammenhänge bewuBt werden lieB, war vermutlich der von den ELF-Ausgaben i. V. m. der WlJhrungsstabilisierung verursachte RUckgang des "Reichs-Einkommens" (i. S. der für Zwecke außerhalb der ELF verfügbaren Mittel des Reichs): Vor der Währungsstabilisierung war die Anpassung der ELF-Leistungssätze an die zunehmende Geldentwertung zum einen kaum grundsätzlich umstritten, zum anderen konnte 1925/26 und die Reichsregierung - Von der Erwerbslosenfllrsorge zur Konjunkturpolitik, KallmUnz 1977 (im folgenden zitiert als "Blaich, Wirtschaftskrise"). 546 D. h. der Langzeit-Arbeitslosen, die ihren (stets zeitlich begrenzten) Anspruch auf ELF bereits voll ausgeschöpft hatten. 547 V gl. hierzu etwa Peter Lewek, S. 313 f. 548 Tatsächlich wurde nach 1923, speziell 1926, von den Ländern und Kommunen ihre wa,chsende Belastung durch die Ausgaben für Arbeitslose ständig als Argument fllr den Übergang zur ALV und fllr die Neuordnung des Aktiven Finanzausgleichs angeführt; teilweise wurde die ELF sogar als "Kernproblem" des Aktiven Finanzausgleichs bezeichnet, vgl. ebenda, S. 315, 325 (Fn. 175) sowie 399 f. 549 V gl. zu diesen Zusammenhängen: Dieter Hertz-Eichenrode, Wirtschaftskrise und Arbeitsbeschaffung, Frankfurt a. M. und New York 1982, S. 109-112. Zum Steuererleichterungs-Programm des (seit Januar 1926 amtierenden) Reichsfmanzministers Peter Reinhold vgl. die Darstellung bei Claus-Dieter Krohn, S. 199-205. 550 V~l. hierzu Karl Christian Fahrer, S. 184 f. Bei Gültigkeit des Versicherungsprinzips 1St eine derartige Einflußnahme des Parlaments i. d. R. nicht möglich, weil sich die ALV -Transfers nach festen Regeln am früheren Erwerbseinkommen der Transferempfänger bemessen. 14"

212

5. Der Übergang zur parafiskalischen Organisation

sie von der Regierung - scheinbar! - zum "Nulltarif' über die "Notenpresse" finanziert werden. Neben den bislang genannten Status-quo-Kosten dürfte nach 1923/24 in besonderem Maße auch die von den ÖAV-Ausführungs- sowie -Finanzierungsregeln bewirkte mangelllafte QualitlLt der lJffentlichen Vermittlungsleistungen für die Regierung zu steigenden Status-quo-Kosten geführt haben: Unverändert waren auch nach dem Inkrafttreten des ANG zahlreiche Kommunen von sich aus nicht geneigt, den ÖAN die für eine qualifizierte Vermittlung benötigten Mittel zur Verfügung zu stellen. SSl Vielmehr sahen viele Kommunen in ihren ÖAN nur Kontrollinstanzen für die ELF-Auszahlungen; daher degenerierten ihre ÖAN zu reinen Zahlstellen und "Stempel-Ämtern" für die

ELF.SS2

Dementsprechend verfügten viele ÖAN nicht über fachlich gebildetes Vermittlungs-Personal und waren in völlig ungeeigneten Gebäuden untergebracht,SS3 was der Benutzung besonders stark abträglich war. Und gerade im Zuge des allgemeinen Abbaus von Beamtenstellen im Jahre 1924 wurden die ÖAN noch weiter personell ausgedünnt. SS4 Die damals von vielen Akteuren als unzureichend kritisierte Vermittlungsqualität der ÖAN lag auch darin begründet, daß den Gemeinden im ANG über die allgemeinen - o. a. - Output-Normen der ÖA V hinaus keine verbindlichen Qualitäts-Standards für die Ausführung der Arbeitsvermittlung vorgegeben worden waren, was nicht zuletzt auf den Charakter der Arbeitsvermittlung als einem schwer zu spezifizierenden Gut zurückzuführen sein dürfte, das sich einer allgemeinen Beschreibung qua Gesetz z. T. entzieht. Das RAA und die LAA konnten mit ihren nur "fachlichen" Aufsichts- und Anordnungrechten nur in die GeschlJftsfUhrung und die Vermittlungsgrundsätze eingreifen, nicht aber in die Selektion und die Zahl der Angestellten und in die Beschaffenheit der Räumlichkeiten (sog. "Verwaltung" der OAN).SSS Für

55l Vgl. hierzu z. B. HermOlln JUlich, Die wirtschaftliche Selbstverwaltung im öffentlichen Arbeitsnachweis, in: GewZ, Jg. 35 (1925), S. 318-320 und 336-337 (im folgenden zitiert als "JUlich, Selbstverwaltung .~, hier: S. 319. 552 Vg1. z. B. o. v., Die Arbeitslosenversicherung, in: GewZ, Jg. 37 (1927), S. 45 f., 61-63,74 f., 87 f., 119 f., 145 f., 162, 176 f. und 199-201 (ilil folgenden zitiert als "0. v., Die Arbeitslosenversicherung 1927'~, hier: S. 62. 553 Vg1. Hermann JUlich, Selbstverwaltung, S. 319; Deutsche Sozialpolitik 19181928 - Erinnerungsschrift des Reichsarbeitsministeriums, Berlin 1929 (im folgenden zitiert als "Deutsche Sozialpolitik'~, S. 149. 554 V g1. Deutsche Sozialpolitik, S. 147. 555 Zur Auffassung der Gewerkschaften, ein - im Gegensatz zum Status quo - mit Fach- und Dienstaufsichtsrechten ausgestattetes LAA wUrde zur "... Befruchtung der unteren Instanz ... " dienen können, vg1. etwa o. v., Der neue Entwurf einer Arbeitslosen-

5.3. Die Nachfrage einzelner Akteure und ihre Befriedigung

213

die auf die "Verwaltung" bezogene Dienstaufsicht waren - wie oben dargestellt wurde - nicht die LAA, sondern die allgemeine Landesverwaltungen über den Umweg der Kommunen zuständig,556 derer sich die LAA bedienen mußten, wenn sie die ÖAN-"Verwaltung" beeinflussen wollten. Dies war stets mit erheblichen Transaktionskosten verbunden, ganz speziell aber in Preußen, wo die LAA nicht Landes-, sondern Provinzialbehörden waren. 55? Auch die Verwaltungsausschüsse der ÖAN558 hatten fast keinerlei Einfluß auf die von den Kommunen bestimmte "Verwaltung",559 wohingegen es diverse Möglichkeiten der Kommunen gab, über die Vorsitzenden der ÖAN (die ja nur den Kommunen gegenüber verantwortlich waren) auch Einfluß auf die sog. GeSchäftsführung zu nehmen 560. Und auch über den "Goldenen Zügel" der Miuelbewilligung für die ÖAN konnten die Kommunen Einfluß auf die Geschäftsfiihrung der Verwaltungsausschüsse nehmen. 561 Die geringen Einflußmöglichkeiten der Verwaltungsausschüsse hemmten jedenfalls war dies so nach Auffassung der Gewerkschaften - zudem auch das Vertrauen der Arbeitgeber und -nehmer in die öffentlichen Nachweise, und damit ihre Bereitschaft zur "Co-Produktion", als eine weitere Voraussetzung für eine hohe Vermittlungsqualität. 562 Die Vermittlungsqualität litt weiterhin unter der gegebenen Abgrenzung der ÖAN-Bezirke, die grundsätzliCh mit den Gemeindegrenzen übereinstimmen sollten,563 nicht mit den wirtschaftlichen Einzugsgebieten oder Regionen. In versicherung, in: GewZ, Jg. 35 (1925), S. 590 f., 604-606,622-624,635-637,644 f., 663 f., 692 f. und 719-721 (im folgenden zitiert als "0. V., Der neue Entwuif''), hier: S. 720. 556 V gl. hierzu etwa Geschäftsbericht 1923 und 1924 der Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Berlin 1925 (im folgenden zitiert als "Geschäftsbericht 1923/24''), S.62. 557 Den Provinzverwaltungen gegenüber hatte dielreußische Landesregierung keinerlei Anordnungsrechte, vgl. Geschäftsbericht 1923/2 ,S. 105. 558 Die Gewerkschafts- und Arbeitgeberverbands-Delegierten in den VerwaltungsausschOssen waren vermutlich stark an einer funktionsfähigen Arbeitsvermittlung interessiert: Die Arbeitgeberverbände wollten die Belastung der Wirtschaft gering halten und die Versorgung der Verbandsmitglieder mit Arbeitskräften sichern; die Gewerkschaften waren stets bestrebt, Arbeitslosigkeit zu vermeiden. 559 Der Verwaltungsausschuß konnte eine Änderung der Verwaltung nur durch Beschwerden bei der Kommunalaufsichtsbehörde erwirken.Vgl. etwa Friedrich Syrup, S. 306. 560 Vgl. o. Probleme der Arbeitslosenversicherung, in: GewZ, Jg. 35 (1925), S. 40 f., 53-55, 68-70, 80-82, 112-114, 124, 136-138, 154 f. (im folgenden zitiert als "0. Probleme der Arbeitslosenversicherung"), hier: S. 154; Hermann Jalich, Selbstverwaltung, S. 318. 561 Vgl. hierzu etwa Das Arbeitsnachweisgesetz, S. 9. 562 Vgl. o. V., Probleme der Arbeitslosenversicherung, S. 155; o. V., Die Arbeitslosenversicherung 1927, S. 201. 563 Zur Kritik an der Orientierung der ÖAN-Grenzen an den politischen Grenzen vgl. o. V., Die Gemeinden und die Organisation der Arbeitslosenversicherung, in: GewZ, Jg.

v.,

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5. Der Übergang zur paraflSkalischen Organisation

manchen Städten bestanden sogar 2 ÖAN nebeneinander, jener der Kreisfreien Stadt und jener des Kreises. S64 Und wegen ihrer (teilweisen) Beteiligung an der Finanzierung der ELF-Mittel tendierten manche Gemeinden offenbar zur "Vermittlung um jeden Preis".S6S Zwar standen den Kommunen seit den Institutionen-Änderungen von 1923/24 prinzipiell auch zur Finanzierung der ÖAN zusätzliche Mittel (aus dem Beitragsaufkommen) zur Verfügung. Aber die Kommunen scheuten vor einem Ausbau ihrer ÖAN auch jetzt zurück, weil höhere Ausgaben für die Arbeitsvermittlung zu Konflikten zwischen den Dezernenten und/oder hohen Mittelanforderungen der anderen Dezernate (die auf "Gleichbehandlung" pochten) geführt hätten; angesichts der mehr als prekären allgemeinen Haushaltslage mußten die Gemeinden 1923/24 aber in allen Bereichen eher Stellen abbauen.S66 Schließlich bewirkten die Institutionen-Änderungen von 1923/24 noch eine weitere Verschlechterung der Output-QualitlJJ, indem sie die organisatorische

Verknüpfung der ÖAN mit der ELF herstellten: "Die Arbeitsvermittler wurden (z. T. schon zuvor, MR) durch die Arbeiten, die mit der Durchführung der Erwerbslosenfürsorge verbunden waren, ihren eigenen Aufgaben vielfach in unerwünschter Weise entfremdet. Auch bei der Einstellung von Personal wurde häufig mehr Wert auf die Eignung für den Büro- und Rechnungsdienst der Erwerbslosenfürsorge gelegt, als auf die viel seltenere Eignung für die Tätigkeit eines Arbeitsvermittlers. "S67 Die im Herbst 1923 einsetzende rapide Steigerung der Arbeitslosigkeit, die auch in den Folgejahren nur teilweise zurückging, S68 trug zusätzlich dazu bei, daß die OAN faklisch immer mehr zu Institutionen der ELF denn der OAV wurdenS69, weil die Vermittler immer stärker mit den ELFAufgaben belastet wurden. Es erscheint naheliegend, daß die von vielen Akteuren als unzureichend kritisierte ÖAN-Vermittlungsqualität für die Regierung wegen ihrer noch immer bestehenden teilweisen Beteiligung an den ELF-Lasten (die von den ÖAN nicht 37 (1927), S. 245-247 (im folgenden zitiert als "0. v., Die Gemeinden'" bier; S. 247; Deutsche Sozialpolitik, S. 147. S64 V g1. Deutsche Sozialpolitik, S. 147. S6S Vgl. z. B. Bemhard Weller, S. 49. 566 Vg1. z. B. Hermann Jalich, Selbstverwaltung, S. 319. 567 Deutsche Sozialpolitik, S. 148. 568 Von 12.000 Arbeitslosen im Jahre 1922, über ".. 140.000 im August 1923 schnellte die Ziffer (der Arbeitslosen, MR) auf 1,5 Millionen im Winter 1923/24 hoch." (Ludwig Preller, S. 164) 1924 ging die Arbeitslosenziffer dann auf 400.000, 1925 auf 200.000 zurück (vgl. ebenda, S. 165). 569 Geschäftsbericht 1923/24, S. 113.

5.3. Die Nachfrage einzelner Akteure und ihre Befriedigung

215

hinreichend gesenkt werden konnten) stets zu Status-quo-Kosten führen mußte. Ein relevanter Anstieg dieser Kosten ist für 1923/24 aufgrund der erwähnten Zunahme der Dominanz der ELF aber die OA V zu erwarten, sowie aufgrund der o. a. KonsolidierungsbemUhungen der Regierung. Zudem dürften die Regierung und alle anderen Akteure erst ab ca. 1923/24 zu der theoretischen Oberzeugung gelangt sein, wonach die OAV-AusjUhrungs- und Finanzierungsregeln jUr die OAV-Qualit/1t maßgeblich sind (Theorie-VerlJnderung); vor den Erfahrungen mit dem 1922 verabschiedeten ANG tendierten die meisten Akteure vermutlich zu jener Theorie, wonach es ausreichen würde, qua Gesetz gewisse allgemeine Vermittlungsgrundsätze zu fixieren und alle Kommunen zur Etablierung von ÖAN zu verpflichten. 570 Allerdings scheint die Regierung diese Theorieveränderung in vollem Maße erst durch die MassenarbeitslOSigkeit im Zuge der sog. "großen Reinigungskrise'OS71 von 1925/26 realisiert zu haben: Zur gerade aufgrund dieser Krise erforderlichen Vermittlung der Arbeitslosen zwischen verschiedenen Branchen und Regionen reichten die Fähigkeiten der vorhandenen ÖAN (-Mitarbeiter) sowie die gegebenen Möglichkeiten zur zentralen Lenkung der ÖAN nach einheitlichen Gesichtspunkten offenbar ebensowenig aus wie zur Implementation des von der Regierung durchgeführten und von der Arbeitsvermittlung abhängigen572 großen Notstandsarbeits- bzw. ''Arbeitsbeschqffungs''-Programms,573 welches daher weitgehend fehlschlug. 574 Die von der Regierung und den Koa570 Zur Vermutung einer derartigen Theorie-Veränderung in der Zeit nach 1922, allerdings in bezug auf die Abhängigkeit der QualitiU fkr ELF von den ÖAV -AusfUhrunJsregeln, vgl. z. B. o. 11., Probleme der Arbeitslosenversicherung, S. 41; Hermann JUl,eh, Die Verwaltung der Arbeitslosenversicherun~, in: GewZ, Jg. 36 (1926), S. 461463 (im folgenden zitiert als "JUlieh Verwaltung'~, hier: S. 461 f. sn Vgl. etwaLudwig Preller, S. 336. 572 Die ÖAV ist zur Umsetzung von Notstandsarbeiten und ArbeitsbeschaffungsMaßnahmen stets unbedingt erforderlich, um Oberhaupt geeignete Arbeitslose ft1r diese Maßnahmen vermitteln zu können. Gerade das "Artieitsbeschaffungs" -Programm von 1926 verlangte wegen der Standortgebundenbeit der Maßnahmen (z. B. des Kanalbaus) verstärkt eine interlokale Vermittlung; vgl. hierzu auch Dieter Hertz-Eichenrofk, S. 165. 573 Zum erstmals sog. "Arbeitsbeschaffungs"-Programm von 1926 als dem ersten Versuch der deutschen Regierung, eine verstärkte staatliche Auftr~svergabe auch mit Hilfe von Anleihen zu finanzieren, vgl. die Darstellung bei Claus-D,eter Krohn, S. 210; Dieter Hertz-Eichenrofk, S. 162-183; Fritz Blaieh, Wirtschaftskrise, S. 146-152. Trotz der neuen Bezeichnung (als "Arbeitsbeschaffungs"-Programm) blieben die Maßnahmen der Regierung 1926 im wesentlichen auf just jene Bereiche beschränkt, die auch zuvor bereits durch die Notstandsarbeiten gefördert worden waren (Tiefbau; Erdarbeiten); vgl. Dieter Hertz-Eiehenrofk, S. 166 f. 574 Vgl. hierzu Ludwig Preller, S. 368 f. und 371 f., sowie Heinrich August Winkler, Der Schein der Normalität - Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik, 1924 bis 1930, Berlin und Bonn 1985 (im folgenden zitiert als "Winkler, Schein',), S. 294. Zum tendenziellen Fehlschlag des "Arbeitsbeschaffungs"-Programms vgl. Fritz Blaich, Wirtschaftskrise, S. 148 f.; Dieter Hertz-Eichenrofk, S. 182 f. Um zumindest eine gewisse Verbesserung der Vermittlungsqualitllt zu erreichen, stellte das Reichs-Arbeitsministerium den ÖAN im März 1926 "... sog. 'Verstlrkungsbeamte' zur Verfllgung,

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5. Der Übergang zur parafiskalischen Organisation

litionsfraktionen 1926 verstärkt versuchte Durchführung von Notstandsarbeiten, die in der vorliegenden Arbeit zur Vereinfachung als eine nicht zu erklärende "PrlJ/erenzverlJnderung"575 der Regierung und der sie stützenden Fraktionen (in bezug auf ÖAV-fremde Regelungen) aufgefaßt werden soll, und der RUckgang des "Reichs-Einkommens" i. S. der für Zwecke außerhalb der ELF verfügbaren Mittel des Reiches (höhere Reichszuschüsse zur ELF infolge der Massenarbeitslosigkeit) dürften sich als die für den Anstieg der Status-quo-Kosten der Regierung aus der ÖAV maßgeblichen Veränderungen von Situationsfaktoren festhalten lassen. Noch wichtiger als diese Kosten infolge der schlechten VermittIungsqualität dürfte für die Regierung eine weitere Kategorie von Status-quo-Kosten gewesen sein, nämlich jene infolge der opportunistischen Ausnutzung der bestehenden AusjUhrungs- und Finanzierungsregeln durch die Kommunen: 576 Vielfach versuchten die Kommunen, ihren o. a. starken Einfluß auf die ÖAN opportunistisch auszunutzen, indem sie den Arbeitslosen aus Mitteln der ELFBeiträge und/oder aus Reichs- und Landes-Mitteln finanzierte 577 Notstandsarbeiten zuwiesen oder sie zur Ableistung der im Oktober 1923 eingeführten sog. Pjlichtarbeit578 einsetzten, dabei aber vielfach solche - unaufschiebbaren Maßnahmen als Pflicht- und Notstandsarbeiten deklarierten, die sie ohnehin (mit regulären Mitteln) hatten durchführen wollen. 579 Der ÖAN-Vorsitzende die als Fachbeamte die Arbeitsnachweise rationalisieren, entlasten und unterstützen sollten" (Ludwig Preller, S. 372). 575 Es läßt sich vermuten, daß sich auch diese "Präferenzveränderung" mit veränderten Preisrelationen erklären läßt. 576 In der Begründung zum Entwurf eines Gesetzes über Arbeitslosenversicherung, in: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstages, Anlagen, Bd. 413, Drs. Nr. 2885 vom 16. Dezember 1926 (~ folgenden zitiert als "Entwurf ALV 1926''), S. 30 und 34, wurde die Notwendigkeit der ÖAV-Organisations-Reform als Problem angedeutet. In seiner Begründung des ALV -Gesetzentwurfs im Reichstag (Steno graphische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstages, Bd. 392, S. 8898) führte der Reichs-Arbeitsminister Brauns am 7. Februar 19+.7 die damaligen Mißstände bei der ELF-Vergabe und die unzureichende Qualität der OAV als Probleme an. Zur Betonung dieser Kosten durch die Regierung vgl. auch Entwurf ALV 1926, S. 35. 577 Vgl. hierzu u. a o. v., Die Neuregelung, S. 452; o. V. • Probleme der Arbeitslosenversicherung, S. 137; Bernhard Weller, S. 73 f. 578 Soweit wie möglich sollte die ELF seit Oktober 1923 von der Ableistung einer gemeinnützigen Arbeit (der sog. Pflichtarbeit) abhängig gemacht werden, vgl. z. B. Michael Wermel und Roswitha Urban, Bd. n, S. 40; Verordnung über Mittelaufbringung, § 9. Zur Zuständigkeit der Verwaltungsausschüsse hinsichtlich der Entscheidung über Notstands- und Pflichtarbeiten vgl. u. a. o. v.: Die Neuregelung, S. 452; Fr. Spliedt, Zur Erwerbslosenfürsorge, in: GewZ, Jg. 34 (1924), S. 93-95 (im folgenden zitiert als "Spliedt, ELF"), S. 94. 579 Vgl. zur gewerkschaftlichen Kritik hieran z. B. o. V., Der neue Entwurf, S. 721; Voigt (0. VA), S. 189; o. v., Probleme der Arbeitslosenversicherung, S. 155. Zur opportunistischen Ausnutzung der Notstandsarbeiten vgl. auch die Ausführungen von Gerhard Erdmann (VOA) im Bericht des Sozialpolitischen Ausschusses des Vorläufigen Reichswirtschaftsrates zu dem Entwurf eines Gesetzes über Arbeitslosenversicherung, in: Ent-

5.3. Die Nachfrage einzelner Akteure und ihre Befriedigung

217

war als Gemeinde-Dezernent natürlich stets primär an den kommunalen Interessen orientiert580 und setzte diesen Bestrebungen keinen Widerstand entgegen. Offenbar tendierten viele Kommunen weiterhin dazu, sich durch eine entsprechende Interpretation der Anspruchskriterien (Arbeitsfähig-, -willigkeit, unfreiwillige Arbeitslosigkeit) von Armen-Fürsorgeempfangern zu entlasten; nach Angaben der Arbeitgeberverbände gab es Gemeinden, in welchen mit Ausnahme des Gemeindevorstehers sämtliche Einwohner als "Staatspensionäre" - so die VDA - ständig ELF empfingen 581 . Eine Verstärkung dieses opportunistischen Verhaltens dürfte die Massenarbeitslosigkeit von 1923/24 und vermutlich auch jene von 1926 erzeugt haben: Die Arbeitslosen übten starken Druck, z. T. mittels gewalttätiger Aktionen,582 auf die Kommunen aus; zur Entlastung erleichterten die Kommunen den Zugang zur ELF.583 Vor allem jedoch dürften die Institutionen-Änderungen von 1923/24, i. S. der Einführung der Beiträge (und der finanziellen Entlastung der Kommunen von der ELF) und der Pflichtarbeit, für eine Verstärkung des skizzierten opportunistischen Verhaltens der Kommunen verantwortlich gewesen sein. Das opportunistische Verhalten der Kommunen gegenüber den ELF-Mitteln sowie den Notstands- und Ptlichtarbeiten mußte für die Regierung aufgrund der Reichszuschüsse zur ELF stets zu Status-quo-Kosten führen. Die VerstlJ.rkung dieses Verhaltens seit 1923/24 und vermutlich auch 1926 sowie die verstlJ.rkte ELF-Inanspruchnahme (sinkendes "Reichs-Einkommen" i. S. der für Zwecke außerhalb der ELF verfügbaren Mittel) als Folge der Massenarbeitslosigkeit von 1926 dürften diese Kosten erhöht haben; zudem kam es auch in bezug auf wurf eines Gesetzes über Arbeitslosenversicherung; Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstages, Anlagen, Bd. 413, Drs. Nr. 2885 vom 16. Dezember 1926, S. 207-223 (im folgenden zitiert als "Bericht Reichswirtschaftsrat"), S. 209; Michael Wennel und Roswitha Urban, Bd. 11, S. 52, Fn. 149. 580 VgI. Geschäftsbericht 1925 und 1926 der Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Berlin 1927 (im folgenden zitiert als "Geschiiftsbericht 1925/26), S. 155. 581 Ebenda, S. 151. 582 V gl. o. v., Bedeutet die Ersetzung der Erwerbslosenfürsorge durch die Arbeitslosenversicherung eine Mehrbelastun~ der Wirtschaft?, in: AG, Jg. 1925, S. 42-44 (im folgenden zitiert als "0. V., Bedeutet die Ersetzung") , hier: S. 44. 583 V gI. Gerhard Erdmann, Die Arbeitslosenversicherung im Rahmen der wirtschaftlichen und sozialpolitischen Entwicklung, in: Das Problem der Arbeitslosenversicherung in Deutschland, Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit am 20. Februar 1925 zu Berlin, Berlin 1925, S. 20-32 (im folgenden zitiert als "Erdmann, ALV"), hier: S. 27 f.; o. V., Die Arbeitslosenversicherung, in: GewZ, Jg. 36 (1926), S. 122 f., 129 f. und 148-150 (im folgenden zitiert als "0. V., Die Arbeitslosenversicherung 1926"), hier: S. 122 f.; Schreiben des Reichslandbundes an den Reichsminister der Finanzen vom 18. Januar 1926; Bundesarchiv Potsdam, Repositur 39.01, 1015, BI. 11-13, hier: BI. 11.

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5. Der übergang zur paraflSkalischen Organisation

diesen Kostenaspekt im Zeitverlauf vermutlich für alle Akteure zu einer Theorieverllnderung: Zunehmend wurde aufgrund der Erfahrungen mit dem bestehenden Arrangement die Theorie akzeptiert, wonach auch die Qualität der ELF maßgeblich von den bestehenden Ausführungs- und Finanzierungsregeln abhing. 584 Zur Entstehung dieser Theorieveränderung dürften auch die Erfahrungen einer deutschen Studienkommission aus Regierungs-, Arbeitgeberverbands- und Gewerkschaftsvertretem beigetragen haben, die im Oktober und November 1925 nach England reiste, um das dortige System der ÖAV und ALV zu erkunden585 . Da die bestehenden Regelungen der Fach- und Dienstaufsicht nichts dazu beitragen konnten, das opportunistische Verhalten der Kommunen einzudämmen, dürften gerade diese zu den von diesem Verhalten bewirkten Status-quoKosten der Regierung beigetragen haben. 586 Wie unter 5.1.2. und 5.2. dargestellt wurde, waren den Ländern zwar Aufsichtsrechte gegenüber den ÖAN eingeräumt worden, soweit diese mit der Ausführung der ELF befaßt waren; aufgrund ihrer noch immer teilweisen Beteiligung an den ELF-Lasten hatten die Länder auch nach 1923/24 noch ein starkes Interesse, Mittelverschwendungen zu verhindern. Das fachliche "know-how" zur Beurteilung der ELF-Vergabe durch die ÖAN war jedoch z. gr. T. nur bei den LAA vorhanden; nur diese waren in der Lage, zu beurteilen, ob die ÖAN die Arbeitsfähigkeit, -willigkeit und Nicht-Vermittelbarkeit eines Antragstellers "richtig" festgestellt hatten, denn

die "richtige" Vergabe der ELF entspricht weitgehend der "richtigen" Arbeitsvermittlung. Mithin war stets ein erheblicher Koordinationsaufwand der allge-

meinen Landesverwaltung mit den LAA zur Durchführung der Aufsicht über die ÖAN erforderlich, der speziell im Land Preußen noch dadurch enorm gesteigert wurde, daß die LAA keine BehlJrden des Landes, sondern vielmehr der Provinzen waren, denen gegenUber das Land keinerlei Anordnungsrechte be-

saß587.

Zusammenfassend lassen sich die folgenden Verllnderungen von Situationsfaktoren als maßgebliche Ursachen für eine deutliche Zunahme der Status-quoKosten der Regierung und die Entstehung von Änderungs-Anreizen vermuten:

584 Zur Anerkennung eines derarti~en 'Ibeoriewandels speziell fUr die Gewerkschaften vgl. z. B. o. v., Probleme der ArbeItslosenversicherung, S. 41; Hermann JaJich, Verwaltung, S. 461 f. 585 Vgl. Geschäftsbericht 1925/26, S. 153, 156; Gerhard Erdmann, Das Gesetz Ober Arbeitsvermittlunf und Arbeitslosenversicherung, in: AG, Jg. 1927, S. 340-347 (im folgenden zitiert als 'Erdmann, Gesetz'1, hier: S. 342. 586 Vgl. hierzu z. B. Geschäftsbericht 1925/26, S. 152 S87 Vgl. Geschäftsbericht 1923/24, S. 105.

5.3. Die Nachfrage einzelner Akteure und ihre Befriedigung

219

- die "Prll!erenzverllnderung" der Regierung und der Koalitions-Fraktionen vom Herbst 1923, die Währung und die öffentlichen Finanzen zu stabilisieren, - der RUckgang des "Reichs-Einkommens" i. S. der für Zwecke außerhalb der ELF verfügbaren Mittel des Reichs als Folge der Währungsstabilisierung von 1923 sowie der Massenarbeitslosigkeit von 1925/26, - die Institutionen-Änderungen i. S. der 1926 durchgeführten Maßnahmen zur Steuersenkung, - die Institutionen-Änderungen vom Oktober 1923, die ebenso wie die ab Herbst 1923 einsetzende Dauer-Massenarbeitslosigkeit zur Umformung der ÖAN zu "Stempelstellen" beitrugen und den Anreiz der Kommunen zur opportunistischen Ausnutzung der ELF- und der Notstandsarbeits-Mittel erhöhten, - die Theorie-VerlJ.nderung i. d. S., daß nunmehr ein Zusammenhang zwischen der ÖAV- sowie ELF-Qualität und den ÖAV-Ausführungs- und Finanzierungsregeln anerkannt wurde, und - die "Prll!erenzverllnderung" der Regierung und der Koalitionsfraktionen von 1926, die Arbeitslosigkeit verstärkt via Notstandsarbeiten zu bekämpfen.

5.3.1.3. Änderungs-IBewahrungs-KalkUI Die Regierung trat zwischen 1922 und Mitte des Jahres 1927 vor allem zu drei Zeitpunkten als Änderungsnachfrager in bezug auf die ÖAV auf; 1923/24 verlangte sie die Reform der ELF- sowie ÖAV-Finanzierung sowie der Ausführung von ELF-Aufgaben durch die ÖAN; im September 1925 legte sie ihren 3. Gesetzentwurf einer ALV vorS88 , mit dem sie auf entsprechende Initiativen der Bürgerlichen Fraktionen reagierte; im Mlln 1927 schließlich nahm die Regierung dann in bezug auf diesen Entwurf eine ganz erhebliche Modifizierung der eigenen Nachfrage vor, indem sie sich die Nachfrage der Freien Gewerkschaften - hinsichtlich der Ausführungs-Regeln - weitgehend zu eigen machte 589: 588 Zum Wortlaut des 3. ALV-Gesetzentwurfs der Regierung vgl. Entwurf ALV 1925. Zum Schicksal der vorangegangenen ALV-GesetzentwOrfe vgl. z. B. Bemhard Weller, S. 53 f. 589 Zum Wortlaut der neuen Nachfrage der Regierung vom März 1927 vgl. Bericht des 9. Ausschusses (Soziale Angele$enheiten) über den Entwurf eines Gesetzes über Arbeitslosenversicherung: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deut-

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5. Der Übergang zur parafiskalisehen Organisation

Phase 1: Im Oktober 1923 (bzw. im Februar 1924)590 verlangte die Regierung genau jene Institutionen-Änderungen, die unmittelbar darauf total realisien wurden und den oben in Abb. 8 dargestellten Zustand herstellten; diese InstitutionenÄnderungen wurden im einzelnen bereits unter 5.2. näher erläutert. Phase 2: Im September 1925 legte die Regierung ihren 3. Entwurf./Ur eine ALV vor; dieser Änderungsplan betraf das Arrangement der ÖAV vor allem mit den folgenden Regelungen: 591 (1.) Output-Regeln: - Ersetzung der bisherigen ELF-Leistungen nach dem "Bediirftigkeitsprinzip" durch ALV-Anspruche der Arbeitnehmer nach dem "Versicherungsprinzip", d. h. die ALV-Transfers sollten nur an vormalige Beitragszahier gezahlt werden, und ihre Höhe sollte sich nach dem vormaligen Erwerbseinkommen richten 592 . (11.) AusjUhrungs-Regeln: - Die AusjUhrung der (JA V durch kommunale, Landes- (Provinzial-) und Reichsbehörden sowie die gegebene Allokation der Aufsichtsrechte in bezug auf die ÖAV sollten gegenüber dem ANG von 1922 nicht verändert werden 593 . - Hinsichtlich der AusjUhrung der ALV-Aufgaben, die dem RAA, den LAA und den ÖAN übertragen werden sollte,594 sollte die Fachaufsicht über das sehen Reichstages, Anlagen, Bd. 417, Drs.-Nr. 3622 vom 13. August 1927 (im folgenden zitiert als "BerichI9. Ausschuß"), S. 11-15. Ihre Nachfrage leitete die Regierun~ damals nicht direkt an den Reichstag, sondern ließ sie durch den Vorsitzenden des Relchstags-Sozialausschusses, den Zentrumsabgeordneten Thomas Esser, in die Ausschußberatun~en einbringen; daher werden die Nachfrageinhalte vielfach als "Antrag Esser" diskutiert. Zu diesem Verfahren vgl. z. B. o. v., Der Entwurf für den organisatorischen Aufbau der Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, in: SP, Jg. 36 (1927), Sp. 318-320, hier: S. 318. Für dieses Verfahren war vermutlich das weiter unten begründete Bestreben der Regierung bestimmend, die ALV möglichst rasch zu realisieren und eine zeitraubende Behandlung der Vorlage im Reichswirtschaftsrat sowie Reichsrat zu vermeiden, vgl. z. B. Peler Lewek, S. 335, Fn. 224. 590 Wie unter 5.2. erläutert wurde, sollen in der vorliegenden Arbeit die beiden Reformschritte von 1923 und 1924 zusammenfassend als ein Maßnahmenbündel behandelt werden. 591 Zum Wortlaut des 3. ALV-Gesetzentwurfs der Regierung vgl. Entwurf ALV 1925, S. 423-433. 592 Entwurf ALV 1925, §§ 44 und 58. 593 Entwurf 1925, § 103 Abs. I satz 2. 594 Zur Übertragung der ALV-Aufgaben auf RAA, LAA, ÖAN bzw. deren Selbstverwaltungsgremien vgl. Entwurf ALV 1925, §§ 1-27. Dem genauen Wortlaut des Gesetz-

5.3. Die Nachfrage einzelner Akteure und ihre Befriedigung

221

RAA der Reichsregierung595 , jene über die LAA dem RAA596 übertragen

werden; die vor allem relevante Aufsicht über die ÖAN als ALV-TransferVergabestellen wurde im Gesetzentwurf nicht erwähnt, es sollte also offenbar den LAA nur die über das ANG geregelte Fachaufsicht, aber den Ländern (über die Kommunen) weiterhin die entscheidende Dienstaufsicht zugeteilt werden597 . (1/1.)

Finanzierungs-Regeln:

- Bewahrung der GebUhrenjreiheit. - Hinsichtlich der OA V-Finanzierung sollten die ÖAN und die LAA wie bisher zu 2/3 aus den ALV-Beiträgen, zu 1/3 von den Kommunen bzw. Ländern (Provinzen) finanziert werden, das RAA zu 100 % durch das Reich 598 . - Aber die ALV-Leistungen sollten - anders als bisher die ELF-Leistungen voll aus den BeitrlJgen fmanziert werden 599, d. h. Reich, Länder und Kommunen sollten in diesem Bereich total entlastet werden. - Die von den Arbeitnehmern (sowie ihren Arbeitgebern) zu zahlenden 600 Pflichtbeiträge601 sollten aus einem Reichs- und einem Landes- (Provinzial-) Beitragsteil bestehen 602, während 1923/24 nur kommunale Beitragsgemeinschaften eingeführt worden waren 603 (auf welche nunmehr verzichtet werden sollte). - Die Entscheidungen über die Höhe der zwei Teil-Beitragsätze sowie über die Mittelzuweisungen an die jeweils untergeordneten Instanzen sollten den entwurfs von 1925 zufolge sollten die ALV -Auf~aben auf der Reichs- und Landesebene zwar auf neuartige Organe übertragen werden, die sog. Reichs- und Landesarbeitslosenkassen; diese Organe sollten aber dem Verwaltungs ausschuß bzw. dem Verwaltungsrat der LAA und 4em RAA nachgebildet werden, und ihre Mitglieder solten sich aus diesen Gremien der ÖAV rekrutieren. Zur Vereinfachung der Darstellung sollen in der vorliegenden Arbeit deshalb diese geplanten neuen Organe mit den LAA bzw. dem RAA gleichgesetzt werden. 595 Entwurf ALV 1925, § 28 Abs. n. 596 Entwurf ALV 1925, § 28 Abs. I. 597 Lt o. v., Der neue Entwurf, S. 692 f. 598 Entwurf ALV 1925, § 113 Abs. n. 599 Entwurf ALV 1925, § 113. 600 Nur weite Teile der Landwirtschaft sollten von der Beitragspflicht ausgenommen werden, vgl. Entwurf ALV 1925, §§ 34-37. 601 Entwurf ALV 1925, §§ 33-43. 602 Entwurf ALV 1925, §§ 115, 121, 119 Abs. n. Unter bestimmten Bedingungen sollten die LAA berechtigt werden, zusätzlich auch kommunale Beitragsgemeinschaften zuzulassen. Vgl. Entwurf ALV 1925, § 119 Abs. I. 603 Wie bereits oben erwähnt wurde, war das Arran$ement von 1923/24 allerdings bereits in der Zwischenzeit durch die Einführung von Relchs- und Landes- (Provinzial-)

222

5. Der Übergang zur parafiskalischen Organisation

Selbstverwaltungsgremien des RAA und der 1AA übertragen werden 604, wo-

bei eine Gesamt-Beitragshöchstgrenze nicht überschritten werden durfte 605. 1923/24 war demgegenüber allein den VerwaltungsausschUssen der OAN das Recht der Beitragsfestsetzung übertragen worden; die Zuweisung von Reichs- und Landes-Mitteln an die ÖAN war nach den Regelungen von 1923/24 von den LlJIIdern geregelt und kontrolliert worden.606 - Hinzu kamen u. U. nur noch Darlehen des Reichs zur Deckung etwaiger Defizite. Von allen genannten Elementen ihrer in der Phase 2 artikulierten Nachfrage konnte die Regierung auf dem "Institutionen-Markt" lediglich die vier zuletzt genannten Regelungs-Vorschläge, nämlich die - 100 %-ige Beitragsfinanzierung der AL V, - Teilung der Beiträge in Reichs- und Landes- (Provinzial-) Beitragsteile, - Entscheidungsrechte der RAA- und LAA-Selbstverwaltungsgremien über die Höhe der Beitragsätze sowie die Mittelzuweisungen an die jeweils untergeordneten Instanzen, - Darlehen des Reichs im Fall von AL V-Defiziten realisieren 607 •

Phase 3: Im März 1927 nahm die Regierung dann eine Nachfrage-Modijizierung vor, indem sie hinsichtlich der Ausführungs-Regeln weitgehend die unter 5.3.2. erläuterte Nachfrage der Freien Gewerkschaften Ubernahm; für die anderen Regelungsbereiche hielt die Regierung demgegenüber weitgehend an ihrer in Phase 2 artikulierten Nachfrage fest: 608

Beitragsgemeinschaften modifiziert worden, deren Emergenz in der vorliegenden Arbeit nicht gesondert erklärt werden soll. 604 Entwurf ALV 1925, §§ 115, 121, 119 Abs. 11. 60S Entwurf ALV 1925, § 121 Abs. ill. 606 Vgl. hierzu oben, 5.2. 607 Vgl. oben, 5.2. 608 Zum Wortlaut der neuen Nachfrage der Regierung vom März 1927 vgl. Bericht 9. Ausschuß, S. 11-15. Auch der im Januar 1927 dem Reichstag zugeleitete (4.) ALV-Gesetzentwurf unterschied sich bereits in einzelnen Details von dem oben erläuterten 3. ALV -Entwurf; auf diesen 4. Entwurf soll in der vorliegenden Arbeit zur Vereinfachung nicht eingegangen werden, vgl. zu Einzelheiten: Entwurf ALV 1926, S. 3-21. Die Basis für die öffentliche Diskussion und die Nachfrage der Interessenverbände bildete auf jeden Fall der (3.) Entwurf von 1925.

5.3. Die Nachfrage einzelner Akteure und ihre Befriedigung

223

(I.) Output-Regeln: - wie in Phase 2!

(Il.) AusjUhrungs-Regeln: (Il.a) AusjUhrung i. e. S.: - Abspaltung der LAA und der ÖAN von den Ländern (Provinzen) bzw. Kommunen und Verschmelzung der LAA und der ÖAN mit dem RAA zu einer neuen "Reichsanstalt jUr Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung"

("RAVAV");

- 3 Ebenen der Verwaltung (Hauptstelle; Landesstellen [bzw. LAA]; Ortsstellen ["Arbeitsämter", "AA"]) innerhalb der neuen RAVAV; - Fach- und Dienstaufsicht durch die LAA, die Hauptstelle und die Reichsregierung609 über die jeweils nachgeordneten Instanzen bzw. die RAVAV insgesamt. Diese Nachfrageelemente konnten vollständig realisiert werden. 610

(Il.b) Selbstverwaltungs-Kompetenzen: 611 - DrittelparitlJJische Aufsichtsgremien auf allen drei Ebenen der RA VAV; dies wurde realisiert!

- Für die Ausgestaltung der Kompetenzen der VerwaltungsausscllUsse der neuen Arbeitsämter verlangte die Regierung: Anhörungsrechte fiir die Auswahl des Vorsitzenden; Bestimmung durch die Hauptstelle; dies wurde realisiert! Vorschlagsrechte fiir das Vermittlungspersonal; Bestimmung durch die LAA; dies wurde realisiert! Entscheidungsrechte fiir die Regelung der Geschäftsführung; dies wurde realisiert! Vorschlagsrechte fiir die Etataufstellung; dies wurde nicht realisiert.

(III.) Finanzierungs-Regeln: - Bewahrung der Gebührenfreiheit; wie in Phase 2!

609 Genauer: durch den Reichs-Arbeitsminister. 610 Vgl. oben, 5.2. 611

Zur Realisierung dieser einzelnen Nachfrage-Elemente vgl. oben, 5.2.

224

5. Der Übergang zur parafiskalischen Organisation

- Finanzierung der gesamten OAV und ALV zu JOO % durch ZwangsbeitrlJge der Arbeitgeber und -nehmer,612 während in Phase 2 für die ÖAV die Bewahrung der Teilfinanzierung aus allgemeinen Budgetmitteln vorgesehen gewesen war; - Teilung des Beitragsatzes in einen Reichs- und Landesanteil, über deren Höhe die Verwaltungsausschüsse der LAA bzw. der Verwaltungsrat der RAVAV entscheiden sOllten;613 wie in Phase 2. - Zuweisungen der Hauptstelle an "überlastete" LAA-Bezirke sowie Finanzierung der AA (mit allen ihren Aufgaben) nur durch Zuweisungen der LAA, wobei die jeweiligen Selbstverwaltungsgremien die Entscheidungskompetenz in bezug auf die Zuweisungsvergabe haben sollten; wie in Phase 2. - Gewährung von Reichs-Darlehen an die RA VAV, sofern die Beiträge zur Deckung der Ausgaben nicht ausreichten; wie in Phase 2. Diese Elemente der Nachfrage wurden vollständig realisiert. 614 Für die Nachfrage der Regierung in den drei vorgestellten Phasen dürften für sie die folgenden Kalküle maßgeblich gewesen sein:

5.3.1.3.1. Erste Phase

Output-Regeln Die 1923/24 geplante neue Vergabe-Bedingung für die ELF, wonach die Transfervergabe nur noch an Personen erfolgen sollte, die zuvor ELF-Beiträge entrichtet hatten, läßt sich zunächst mit der projektierten Beitrags-Einführung und den hierfür maßgeblichen Faktoren erklären, auf die unten (bei den Finan612 Diese Forderung als logische Konsequenz aus der Abspaltung der ÖAV von den Ländern (Provinzen) und Kommunen wurde zwar explizit nicht von der Regierung, sondern von den Bürgerlichen Fraktionen des Reichstags erhoben, dürfte jedoch auch der Nachfrage der Regierung entsprochen haben, deren Vertreter im Sozialpolitischen Ausschuß des Reichstages auf jeden Fall keinen Widerspruch erhoben. Vgl. Bericht 9. Ausschuß, S. 166. 613 Hinzu sollte wiederum noch ein - nur fakultativer - kommunaler Beitragsatz kommen, der in der vorliegenden Arbeit zur Vereinfachung der Darstellung nicht in die Erklärung einbezogen werden soll. Zur Forderung der Regierung nach einem fakultativen lokalen Beitragsatz vgl. Bericht 9. Ausschuß, S. 162. 614Vgl. oben, 5.2.

5.3. Die Nachfrage einzelner Akteure und ihre Befriedigung

225

zierungs-Regeln) eingegangen wird. Allerdings dürfte gerade die durch die Bei-

trags-Einführung gegebene Möglichkeit, diese neue Vergabe-Bedingung einzuführen, damit diverse Personen aus der ELF auszugrenzen, und somit die Status-quo-Kosten der Regierung aufgrund der hohen finanziellen Belastung des Reiches zu senken, eines der Motive für den Übergang zur Beitrags-Finanzierung gebildet haben.

AusfUhrungs-Regeln Die geplante neue Zuständigkeit der ÖAN für die ELF-Vergabe läßt sich vermutlich im wesentlichen als eine - allerdings nicht zwingend erscheinende Maßnahme zur Steigerung der verwaltungsinternen Effizienz (und zur Senkung der Status-quo-Kosten der Regierung aufgrund von Effizienz-Mängeln) begreifen. Erstens war diese Maßnahme vermutlich eine direkte Konsequenz der verlangten Beitrags-Finanzierung und der geplanten Zuständigkeit der ÖAN-Verwaltungsausschüsse für die Festlegung der Beitragshöhe; die weiter unten für die Finanzierungs-Regeln erörterten Bestimmungsfaktoren waren insoweit auch für die veränderte Kompetenzverteilung maßgeblich: Da die Verwaltungsausschüsse die Höhe der Beiträge verantworten sollten, mußte ihnen auch die Kontrolle der Mittelverwendung ermöglicht werden; bei direkter organisatorischer Verbindung der ELF-Vergabe-Instanzen mit den von den Verwaltungsausschüssen ohnehin bereits beaufsichtigten ÖAN konnten die bei den Verwaltungsausschüssen anfallenden Kontrollkosten geringer gehalten werden, als wenn die Mittelvergabe durch die allgemeine Kommunalverwaltung - wie zuvor - erfolgt wäre. Zudem konnte durch die veränderte Kompetenzverteilung "finanzpsychologisch" der Eindruck verhindert werden, bei den ELF-Beiträgen würde es sich lediglich um eine neue Finanzierungsquelle der Kommunen handeln. Zweitens konnten durch die neue Kompetenzverteilung - unabhängig von der Beitrags-Einführung - u. U. auch die verwaltungsinternen Transaktiönskosten i. S. der Kosten der Entscheidung über die ELF-Anträge gesenkt werden. Wie oben (5.1.2.) bereits dargestellt wurde, waren die ÖAN seit jeher in die ELF-Vergabe eingeschaltet worden, denn die "richtige" ELF-Vergabe - die nur an Arbeitsfähige, -willige und Nicht-Vermittelbare erfolgen sol1- ist stets weitgehend identisch mit einer "richtigen" Arbeitsvermittlung. Indem nach dem Plan der Regierung auch die endgültige Entscheidung über die ELF auf die ÖAN übertragen wurde, die neben den o. a. Vergabekriterien nur noch von der IS Roscnfcld

226

5. Der Übergang zur parafiskalischen Organisation

"Bedürftigkeit" der Antragsteller abhing, lieBen sich vermutlich die Kosten der verwaltungsinternen Entscheidungsfindung im Vergleich zum Status quo senken, zumal vor allem in kleineren Kommunen nunmehr die gesamte ELF-Antragsbearbeitung auf das Vermittlungspersonal übertragen werden konnte.

Finanzierungs-Regeln Es erscheint naheliegend, daß die von der Regierung angestrebte Einführung der Beitragsjinanzierung vor allem mit dem o. a. Anstieg der Status-quo-Kosten der Regierung vom Herbst 1923 (als Folge der Präferenzveränderung der Regierung sowie der Koalitions-Fraktionen - SPD und Bürgerliche Fraktionen der DDP, DVP und des Zentrums - in Richtung auf die Stabilisierung der Währung und der Staatsfinanzen) erklärt werden kann;615 die Budgetentlastung spe-

ziell von zyklisch schwankenden und schlecht planbaren Ausgabenpositionen

dürfte mithin das zentrale Motiv für die durch die Beitrags-Finanzierung realisierte erste Stufe in Richtung auf die "Parafiskalität" der ÖAV konstituiert haben.

Zwar hätten diese Status-quo-Kosten durch eine 100 %-ige Beitragsfinanzierung von ELF und ÖAV noch weiter gesenkt werden können; eine derartige Regelung hätte aber vermutlich Kosten i. S. erwarteter Mehrausgaben zur Folge gehabt: Es hätte bereits 1923/24 das Versicherungsprinzip (der Rechtsanspruch aller arbeitslosen vormaligen Beitragszahier) hinsichtlich der ELFTransfervergabe eingeführt werden müssen (nur so wäre die 100 %-ige Beitrags-Finanzierung zu rechtfertigen gewesen); dies wäre nach Ansicht zahlreicher Zeitgenossen jedoch mit erheblichen Ausgabensteigerungen verbunden gewesen616 und hätte zudem längere Vorbereitungen (hinsichtlich der Ausarbeitung entsprechender Regelungen) erforderlich gemacht als die Solo-Maßnahme der Beitrags-Erhebung. Und speziell der kommunalen Interessenquote kam zudem vermutlich der Zweck zu, sicherzustellen, daß die Kommunen sich um eine möglichst rigide Vergabe der ELF bemühen sollten. Mit der kommunalen Interessenquote an der ELF wurde den Kommunen ein Anreiz zur Mitteleinsparung gesetzt - jedoch war dieser Anreiz natürlich geringer als in jenen Bereichen des kommunalen Budgets, die voll von den Kommu615 Zur Motivation der Regierung, die öffentlichen Finanzen qua Beitrags-Finanzierung zu sichern, vgl. etwa die Darstellung bei Peter Lewek, S. 140-144. 616 Vgl. hierzu unten, 5.3.3.2.

5.3. Die Nachfrage einzelner Akteure und ihre Befriedigung

227

nen ZU finanzieren waren. Offenbar wurde der damit zugleich gesetzte Anreiz zur opportunistischen Substitution anderer Etatpositionen zulasten der ELF von der Regierung 1923/24 nicht gesehen, und/oder sie sah damals in den Aufsichtsrechten der Länder ein hinreichendes Mittel gegen den kommunalen Opportunismus. Mithin erscheint die "Institutional Choice" der Regierung i. S. der geplanten teil weisen Beitrags-Finanzierung nicht unplausibel; jedoch hätten für die Sanierung der Reichs-Finanzen grundsätzlich auch andere Einnahmequellen erschlossen werden können, wenn die Bürgerlichen Fraktionen nicht auf der Einfiill!ung von Beiträgen beharrt hätten 617. Weiterhin dürfte die Einführung der Beiträge freilich auch noch insoweit als Maßnahme zur Senkung der Reichslasten gedient haben, als es nunmehr möglich wurde, die ELF-Vergabe an eine nicht zulange zurückliegende Erwerbstätigkeit zu knüpfen und damit eine Anzahl von Personen aus der ELF auszugrenzen (entsprechend der unter den Output-Regelungen angeführten neuen Vergabe-Bedingungen für die ELF). Eine zusätzliche Senkung der Status-quo-Kosten der Regierung aufgrund ihrer hohen Belastung durch die ELF- und ÖAV-Ausgaben wurde von ihr 1923/24 vermutlich mit den weiteren Institutionen-Änderungen im Bereich der Finanzierung angestrebt: Die Übertragung des Rechts zur Beitragsfestsetzung auf die OAN-VerwaltungsausschUsse stellte vermutlich eine Maßnahme zur Effizienzsteigerung, in

Richtung auf die Realisierung der sog. "Fiskalischen Äquivalenz"618 dar: Die Vertreter in den Selbstverwaltungsgremien mußten nunmehr über den Hebel der Beitragsfestsetzung die Verantwortung für das Ausgabenvolumen der ÖAN übernehmen und erhielten einen Anreiz, die Ausgaben (und damit die Beiträge für die am Ort des ÖAN tätigen Arbeitgeber und -nehmer) gering zu halten, wenn diese Vertreter den Interessen der örtlichen Arbeitgeber und -nehmer entsprechen (und wiedergewählt werden) wollten. 619 Hinzu kam eine Senkung der Status-quo-Kosten i. S. der verbesserten Sicherung der Finanzmittel vor der Gefahr der Inflation, über deren Überwindung 617 Vgl. zu den Vorstellungen der Bürgerlichen Fraktionen: unten, Unterabschnitt 5.3.5.2. 618 Nach diesem von Olson geprägten Grundprinzip der Ökonomischen Föderalismustheorie ist eine der Vorbedingungen für eine optimale Allokation der Ressourcen darin zu sehen, daß das Kollektiv der Nutznießer öffentlicher Leistungen mit den Kollektiven der Entscheidungstrl!ger sowie der Finanziers kongruiert; v~1. Mancur Olson Jr., The Principle of "Fiscal hquivalence": The Division of Responslbilities Amon~ Different Levels of Govemment, in: AER. Bd. 59 (1969). S. 479-487 (im folgenden Zitiert als "Olson, Fiscal Equivalence"). 619 Zu diesem Motiv vgl. o. V., Die Verordnung, Sp. 959.

IS·

228

5. Der Übergang zur parafiskalischen Organisation

noch keinerlei Gewißheit bestand: Die Zeitspanne zwischen Erhebung und Verwendung der BeiträgelMittel konnte durch den Verzicht auf eine zeitintensive Einzahlung der Beiträge in (und der anschließenden Zuweisungsvergabe durch) eine zentrale Kasse minimiert und ihr Wert damit gesichert werden. 620 Schließlich kam es zu einer Senkung der Kontrollkosten für die Länder, weil diese nunmehr eine strenge Aufsicht nur noch gegenüber jenen Kommunen ausüben mußten, in welchen das lokale Beitragsauf'kommen zur Deckung der Ausgaben nicht ausreichte und von denen Zuweisungen von Ländern und Reich angefordert wurden.621

5.3.1.3.2. Zweite Phase Das Kernelement der Regierungsnachfrage von 1925 war die verlangte EinjUhrung des Versicherungsprinzips jUr die ELF- (ALV-) Leistungen, d. h. für

die Arbeitslosenunterstützung sollte fortan ein Rechtsanspruch der BeitragszahIer bestehen, und die Höhe der Transferzahlungen sollte sich für den einzelnen (arbeitslosen) Antragsteller nach der Höhe seines früheren Erwerbseinkommens richten. Mit diesem Übergang zum Versicherungsprinzip bei den Leistungen konnte es gerechtfertigt werden, daß die Transferzahlungen in Zukunft allein aus den Beiträgen finanziert werden sollten: Das bisherige Fürsorgeprinzip bei der ELF, wonach sich die Leistungen im Fall der Arbeitslosigkeit nach dem Grad der Bedürftigkeit des Arbeitslosen bemessen sollten, hatte demgegenüber stets für eine (Teil-) Finanzierung aus allgemeinen Budgetmitteln gesprochen. 622 Für die Forderung nach Übergang zum Versicherungsprinzip war vermutlich z. T. die Entstehung einer entsprechenden Nachfrage der (BUrgerlichen) Koalitions-Fraktionen im Jahre 1925 verantwortlich, auf die unten 623 eingegangen wird; die Regierung kam dieser Nachfrage vermutlich im Tausch gegen das ihr

v.,

620 Zu diesem Aspekt vgI. z. B. ebenda sowie o. Die neue Verordnung über die Ern;~rbslose!lfürsorge, in: Gew~, Jg: 34 (1924), S. 62-64 und 76 f. (im folgenden zitiert

als o. V., D,e neue Verordnung ), hier: S. 77. 621 VgI. hierzu etwa Heymonn (0. VA), Die Arbeitslosenversicherung und die Gemeinden (Artikel aus der Zeitschrift für Kommunalwirtschaft, Jg. 15 [1925]; dokumentiert im Bundesarchiv Koblenz, Repositur R 43 1/2029, BI. 344 f.). 622 Zur umgekehrten Argumentation: "Wenn allgemeine Mittel eingesetzt werden, dann müssen Fürsorge-Regeln gelten", vgl. die Ausführun$en des Reichs-Arbeitsministers Brauns am 7. Februar 1927 im Reichstag (Stenogr~hlSche Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstages, Bd. 392, S. 8897). Zur Begründung der geplanten Finanzierungsregeln vgl. auch Entwurf ALV 1925, S. 42 f. 623 Vgl. UnlerabschniI15.3.5.2.

5.3. Die Nachfrage einzelner Akteure und ihre Befriedigung

229

von den Koalitions-Fraktionen gewährte Generalentgelt i. S. der allgemeinen parlamentarischen Unterstützung der Regierung nach. Allerdings wäre es auch bei Einführung des Versicherungsprinzips durchaus möglich gewesen, nach wie vor einen Teil der ELF- (ALV-) Aufwendungen aus allgemeinen Budgetmitteln zu finanzieren. Mindestens ebenso wichtig wie die angeführte Nachfrage der Bürgerlichen Fraktionen dürften deshalb für die Regierung die durch den Übergang zur totalen Beitragsfinanzierung der ELF (ALV) ermöglichte finanzielle Entlastung des Reichs und die Konsolidierung des Reichsfinanzen gewesen sein: Die o. a. Status-quo-Kosten der Regierung aus den im Zeitverlauf stark schwankenden ELF-Lasten sollten vermutlich nochmals deutlich gesenkt werden 624. Hinzu kam vermutlich eine angestrebte Senkung jener Status-quo-Kosten, die durch die Geflihrdung der Reichsfinanzen aufgrund der ELF-Lasten der Länder und Kommunen (über den Mechanismus des Aktiven Finanzausgleichs) bewirkt wurden: Tatsächlich wurde die ALV-Einführung von der Regierung als ein Element der geplanten Neuregelung des Aktiven Finanzausgleichs angesehen. 625 Und da eine Neuregelung des Aktiven Finanzausgleichs auf jeden Fall zu Beginn des Jahres 1927 erfolgen mußte,626 mußte die Regierung folglich auch an einer mlJglichst raschen Verabschiedung ihres ALV -Gesetzentwurfs ganz erheblich interessiert sein. Der Verzicht der Regierung auf kommunale ALV-Beitragsgemeinschajten dürfte sich ebenfalls vor allem mit dem Motiv der finanziellen Entlastung des Reichs und der Stabilisierung der Reichsfinanzen erklären lassen: Je größer die ALV-Beitragsgemeinsschaft war, desto eher konnten die Defizite einzelner ÖAN-Bezirke (in denen das Beitragsaufkommen nicht zur Deckung der von einer überdurchschnittlich hohen Arbeitslosigkeit bewirkten ELF- [AL V-] Ausgaben ausreichte) aus dem Beitragsaufkommen anderer ÖAN-Bezirke (mit einer geringeren Arbeitslosigkeit) gedeckt werden, d. h. desto geringer waren die 624 V gl. zu dieser Motivation der Regierung bei der Ausarbeitung des ALV -Gesetzentwurfs von 1925 z. B. Peter Lewek, S. 238 und 244. 625 Die 1927 neu zusammengesetzte Regierung, wie zuvor die frühere Regierung (vor 1927), wollte die ALV nach den Worten des Reichs-Arbeitsministers Brauns aus Gründen der Haushaltsplanung und des Aktiven Finanzausgleichs so rasch wie möglich realisieren (Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstages, Bd. 392, S. 8898); zur Motivation des Finanzministers, wonach die Kostenregelung des ALV-Entwurfs einen Teil der Neuregelung des Aktiven Finanzausgleichs bilden sollte, vgl. etwa o. V., Die Arbeitslosenversicherung 1927, S. 45; vgl. auch die Darstellung bei Peter Lewek, S. 399 f. 626 Nach dem Finanzausgleichsgesetz von 1925 war geplant gewesen, eine Neuregelung zum 1. April 1927 zu verabschieden, welche den Ländern und Kommunen bewegliche Anteile an der ~inkommen- und Körperschaftsteuer einräumen sollte; vgl. Entwurf eines Gesetzes zur Obergangsregelung des Finanzaus$leichs zwischen Reich, Ländern und Gemeinden, vom 16. Dezember 1926: Steno graphische Berichte über die Verhand-

230

5. Der Übergang zur paraflskalischen Organisation

zusätzlich benötigten Reichs-Darlehen an die ELF (ALV).627 Die Beitragsgemeinschaften (sowie die teilweise Entscheidung über die Höhe der Beiträge) auf der Ebene der LAA (Landesarbeitslosenkassen) erschienen der Regierung vermutlich als Kompromiß zwischen Effizienz (Setzung von Anreizen, die regionalen Beitragslasten qua guter Arbeitsvermittlung senken zu können) und der angestrebten Senkung der Notwendigkeit zur Vergabe von Reichsdarlehen. Die Senkung der o. a. Status-quo-Kosten der Regierung aufgrund jener zusätzlichen Instabilität der Reichsfinanzen, die speziell durch das BedürftigkeitsPrinzip bei der ELF i. V. m. der dadurch ermöglichten Neigung des Reichstags zur wiederholten Erhöhung der ELF-Leistungssätze (ohne Rücksichtnahme auf die Reichsfinanzen) bewirkt wurde, dürfte ein weiteres Motiv der Regierung zur Einführung des Versicherungs-Prinzips gebildet haben. 628 Die verlangte Bewahrung der bestehenden Regelungen der OA V-Finanzierung läßt sich vermutlich auf die geplante Bewahrung der Ausführungs-Institutionen zurückführen: Die Allokation der AujsichJs- und Entscheidungsrechte hinsichtlich der OA V und der ELF (AL V) sollte kaum verl11ldert werden, obgleich doch für die Regie-

rung oben erhebliche Steigerungen der Status-quo-Kosten aufgrund dieser Allokation vermutet wurden und das Reich ja noch teilweise an der Finanzierung der ALV beteiligt bleiben sollte (durch die Vergabe von Krediten, wenn die Beitragsfinanzierung zur Deckung des Finanzbedarfs nicht ausreichte). Zur Erklärung, weshalb die Regierung trotz dieser Kosten aufForderungen zur Veränderung der Aufsichts- und Entscheidungsrechte verzichtete, ließe sich vermuten, daß die Kosten aus der im Status quo gegebenen Allokation der Aufsichtsund Entscheidungsrechte für die Regierung niedriger als etwa für die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände waren, die sich in besonderem Maße für eine Institutionen-Änderung in diesem Regelungsbereich einsetzten 629.

lungen des Deutschen Reichstages, Anlagen, Bd. 413, Drs. Nr. 2883 (im folgenden zitiert als "Entwurf Finanzausgleich'1, S. 2. 627 Vgl. hierzu z. B. Ludwig Grell, Die Lastenverteilung in der ErwerbslosenfUrsorge und Arbeitslosenversicherung, in: GewZ, Jg. 23 (1927), S. 445-447, hier: S. 446. 628 Zu dieser Motivation der Regierung vgl. die Darstellung bei Karl Christian FUhrer, S. 184 f. 629 Vgl. unten, 5.3.2., 5.3.3.

5.3. Die Nachfrage einzelner Akteure und ihre Befriedigung

231

5.3.1.3.3. Dritte Phase Da filr eine dramatische Veränderung der Status-quo-Kosten (-Nutzen) der Regierung im März 1927 keinerlei Hinweise vorliegen, läßt sich diese Nachfrage-Modifikation nur prognostizieren, wenn die Nachfrage der BUrgerlichen Fraktionen bekannt ist: 630 Wie im Unterabschnitt 5.3.5. erläutert wird, bestand seit März 1927 zwischen der großen Mehrheit aller Entscheidungsagenten Einigkeit darüber, daß sie sich im wesentlichen der unter 5.3.2. erläuterten Nachfrage der Freien Gewerkschaften anschließen und eine selbständige RAVAV kreieren wollten. Die Bürgerlichen Koalitions-Fraktionen koppelten ihr Generalentgelt i. S. der weiteren Unterstützung der Regierung nunmehr daran, daß diese ihre Nachfrage entsprechend den Gewerkschafts-Plänen abänderte 631 . Das für die Änderungsnachfrage der Bürgerlichen Fraktionen maßgebliche Kalkül soll an dieser Stelle nicht erläutert werden 632• Hinzu kamen filr die Regierung vermutlich Nutzen i. S. ihres oben vermuteten allgemeinen Strebens nach Maximierung der Reichslwmpetenzen633 , die in diesem Fall gleichzeitig mit einer Entlastung des Reiches von den Risiken der Budget-Instabilität erreicht werden konnte. Möglicherweise spielte für die Nachfrage-Modifizierung der Regierung im Jahre 1927 allerdings auch der o. a. vermutlich erhebliche Anstieg ihrer Statusquo-Kosten aufgrund der bestehenden Ausführungs-Regeln eine Rolle, der bereits im Verlauf des Jahres 1926 eintrat; es ließe sich dann vermuten, daß die Regierung ihre Nachfrage im Jahre 1926 - vor der Zusendung des ALV-Gesetzentwurfs an den Reichstag - zunächst nur deshalb nicht offen legte, um eine zeitraubende nochmalige Vorlage des Entwurfs beim Reichswirtschaftsrat sowie Reichsrat zu vermeiden und die Verabschiedung des AL V-Gesetzes mög630 Lewek führte die Neigung der Regierung zur Reorganisation der ÖAV -Aufsichtsund Ausführungsregeln auf die geplante Einführung der sog. KrisenfUrsorge zurück, die eine starke fmanzielle Inanspruchnahme des Reiches bedeutete; deshalb hätte sich eine Zentralisierung der ÖAV -Organisation angeboten (Peter Lewek, S. 307). Lewek lieferte hierfür aber keine Belege; zudem erscheint seine these wenig plausibel, da die Regierung zuvor, speziell vor 1923/24, ja noch weitaus stllrker an der Arbeitslosenunterstützung beteiligt war (als durch die Krisenfürsorge), ohne daß die Regierung damals deshalb eine Kompetenz-Reform verlangt hätte. 631 Vgl. die Darstellung unter 5.3.5.2./ 632 Vgl. hierzu unten, 5.3.5.2.! 633 Bei der Parlaments-Debatte über den Aktiven Finanzausgleich am 1. 4. 1927 betonte der Reicbsfinanzminister die durch die Lastenübernahme von den Ländern und Kommunen entstandene "... Vermehrung der Reichsgewalt" (Schulthess' EuroJ?äischer Geschichtskalender, NF, J$. 43 [1927], München 1928, S. 79 f.). MöglicherweISe kam die Nachfrage der Entscheidungsagenten auch den Vorstellungen einzelner Regierungsmitglieder entgegen, die mit den Gewerkschaftsplänen sympathisiert hatten, sich aber

232

5. Der Übergang zur parafiskalischen Organisation

liehst rasch zu ermöglichen, wie dies aus den oben (siehe 5.3.1.3.2.) genannten Gründen erwünscht war. 634 Die hier diskutierte Nachfrage-Modifizierung läßt darauf schließen, daß die Regierung die eben erwähnten Nutzen höher gewichtete als die möglichen Kosten i. S. von FiJderalismuskonflikten (Auseinandersetzungen zwischen Reich, Ländern und Kommunen aufgrund der geplanten Kompetenzverluste der unteren Ebenen). Die relativ geringe Relevanz dieser Kostenart dürfte sich z. T. mit dem geringen Einkommen (i. w. S.) der Länder und dem noch geringeren Einkommen (i. w. S.) der Kommunen erklären lassen: Die Entscheidungen des Reichsrates hatten gemäß der Weimarer Reichsverfassung kaum Relevanz; 635 diese Verfassungs-Institutionen dürften demnach eine nicht zu unterschätzende Rolle für das Kalkül der Regierung gehabt haben. Hierbei spielte vermutlich weiterhin eine Rolle, daß die Länder vermutlich sehr viel weniger als die Kommunen an der ÖA V interessiert waren, weil die Bedeutung der ÖAV für die Erfüllung von Länderaufgaben im Vergleich zur Bedeutung der ÖAV für die Kommunen nur gering war636 . Und vermutlich war die Regierung überzeugt, daß die finanzielle Entlastung der Länder und Kommunen von den ELF- und ÖAV-Lasten von diesen als hinreichende Kompensationen für die Kompetenzverluste betrachtet werden würde. 637 Daß nunmehr auch die OA V nur durch Beitrl1ge finanziert wurde, wurde vermutlich mit dem reduzierten Einfluß der öffentlichen Verbände auf die RAV AV rationalisiert638 • Freilich hätte es durchaus auch gute Argumente für eine Bewahrung der (Teil-) Finanzierung aus allgemeinen Mitteln gegeben. 639 Daher mag die totale Beitragsfinanzierung auch der ÖAV wohl auch als eine

innerhalb der Regierung nicht hatten durchsetzen können. Zu dieser Vermutung vgl. Ludwig Preller, S. 372. 634 FUr diese Verm4~ng spricht, daß die Regierung 1927 dem Verlangen der Koalitions-Fraktionen nach Anderung des Gesetzentwurfs in bezug auf die Ausführungs-Regeln ohne jeden Einspruch sofort entsprach. Zur Vermutung, daß die Regierung 1927 ihren auf Antrag des Sozialpolitischen Reichstags-Ausschusses veränderten ALV -Gesetzentwurf als "Antrag des Zentrumsabgeordneten Esser" einbringen ließ, um keine Zeitverzögerungen auftreten zu lassen, vgl. z. B. Peter Lewek, S. 335, Fn. 224. 635 Vgl. hierzu oben, Fn. 523. Das Reich konnte qua Verfassungsrevision ..... die bestehenden Landeshoheitsrechte jedweder Art und in jedwedem Umfang auf sich überführen", aber den Ländern war ..... ein solches Maß eigener Zuständigkeiten (zu, MR) belassen, daß der Staatscharakter der Länder erhalten blieb" (Ernst Rudolf Huber, Geschichte Bd. 6, S. 79). 636 Dies aufgrund der gegebenen Regelung des Passiven Finanzausgleichs, d. h. der Allokation der Kompetenzen fUr die Erfüllung öffentlicher Aufgaben im Bundesstaat. 637 Vgl. zu dieser Vermutung z. B. Peter Lewek, S. 324 f.; vgl. auch unten, Unterabschnitt 5.3.4. 638 V gl. die Belege im Unterabschnill 5.3.5.2.! 639 Vgl. ebenfalls unten, 5.3.5.2.

5.3. Die Nachfrage einzelner Akteure und ihre Befriedigung

233

Kompensation an die Länder und Kommunen für ihre Kompetenzverluste zu interpretieren sein. Die im Vergleich zur Nachfrage der Gewerkschaften 640 von der Regierung für die Verwaltungsausschüsse der AA verlangten relativ begrenzten Entscheidungsrechte lassen sich vermutlich mit der größeren Skepsis der Regierung wie der Bürgerlichen Fraktionen hinsichtlich der Verantwortungsbereitschaft von Selbstverwaltungskörperschaften erklären. 641

5.3.1.4. Transaktionen au/dem "Institutionen-Markt" zur Befriedigung der Nachfrage 5.3.104.1. Erste Phase Gegenüber den an der Regierungskoalition beteiligten Bürgerlichen Fraktionen dürften für die Regierung kaum Transaktionen erforderlich gewesen sein, um die Zustimmung zum Regierungs-Änderungsplan zu erwerben: Wie unten (unter 5.3.5.2.) dargestellt ist, stimmten die Bürgerlichen Regierungs-Fraktionen der EinjUhrung von Zwangsbeitrl1gen im Herbst 1923 sogleich zu. Der - als Bewahrungsagent auftretenden und damals zugleich in der Rolle der Entscheidungsagenten (gemeinsam in einer "Großen Koalition" mit den Bürgerlichen Fraktionen der DDP, DVP und des Zentrums) befindlichen - SPD-Fraktion, für die die erwarteten Änderungs- und Bewahrungskosten im Herbst 1923 vermutlich erheblich gestiegen waren,(vgl. unten, 5.3.5.1.) brauchte die Regierung i. V. m. den Bürgerlichen Regierungs-Fraktionen aufgrund dieses Kostenanstiegs nur ein geringes Änderungsentgelt zu zahlen; in diesem Zusammenhang werden genannt: (1.) Bewahrung der ELF an sich,642 (2.) Konzessionen bei der gesetzlichen Neuregelung der Arbeitszeit,643 (3.) Zusage einer Unterstützung der gewerkschaftlichen Position bei den anstehenden Lohn- und Arbeitszeitfragen durch den Reichsarbeitsminister644. VgI. unten, Unterabschnitt5.3.2. VgI. zu näheren Einzelheiten die Darstellung im Unterabschnitt 5.3.5.2.! 642 Verschiedene Akteure hatten im Herbst 1923 die generelle Einstellung der ELF in der bisherigen Form gefordert, vgI. etwa o. v., Probleme der Erwerbslosenfürsorge, in: CbI., Jg. 33 (1923), S. 470 f. 643 V gI. hierzu Uwe Oltmann, Reichsarbeitsminister Heinrich Brauns in der Staatsund Währungskrise 1923/24, Diss., Kiel 1968, S. 236. 644 VgI. Peter Lewek, S. 146 f. 640

641

234

5. Der Übergang zur paraflskalischen Organisation

Für die Detailausgestaltung der Beitrags-Finanzierung und der mit ihr verbundenen Neuregelungen des Outputs und der Ausführung der ÖAV bzw. ELF brauchte die Regierung auf die Entscheidungsagenten vermutlich gar keine Rücksicht zu nehmen, weil diese mit einem sog. "Ermllchtigungsgesetz" im Herbst 1923 freiwillig auf einen großen Teil ihrer Entscheidungsrechte verzichteten (und der Regierung damit u. a. explizit freie Hand für die Ausgestaltung der Beitrags-Finanzierung gaben).645

5.3.1.4.2. Zweite Phase Die an der Regierung beteiligten Bürgerlichen Fraktionen und die damals oppositionelle SPD verweigerten 1927 dem ursprünglichen Regierungs-Plan hinsichtlich der geplanten Bewahrung der ÖA V-Ausführungs-Regeln ihre Zustimmung;646 die Regierung übernahm darautltin - wie dies oben dargestellt wurde - die Nachfrage der Bürgerlichen Fraktionen, ohne mit Hilfe von Entgelt- und/oder Überzeugungstransaktionen zu versuchen, die Koalitions-Fraktionen zur Veränderung ihrer Forderungen zu bewegen. 647

5.3.1.4.3. Dritte Phase Nachdem die Regierung die Nachfrage der Bürgerlichen Fraktionen in bezug auf die Abspaltung der ÖAV von den Kommunen und den Ländern übernommen hatte,648 versuchte sie offenbar, diese ihre für viele Zeitgenossen völlig überraschende Nachfrage-Modifizierung gegenüber der Öffentlichkeit dadurch plausibel zu machen, daß sie zur Erhöhung der Status-quo-Kosten aus der ÖA V bei verschiedenen anderen Akteuren eine anonyme "Denkschrift über die Wirkungen des Einflusses der Kommunalbehörden auf den öffentlichen Arbeits645

Zu näheren Angaben Ober das Zustandekommen des Ermächtigungsgesetzes vgl.

Uwe Oltmann, S. 194-213; Ernst Rudolf Huber, Geschichte Bd. 7, S. 363 f. und 387. Ein

weiteres Ermächtigungsgesetz wurde vom Reichstag am 8. Dezember 1923 beschlossen und galt bis zum 15. Februar 1924, vgl. ebenda, S. 454. 646 V gl. unten, 5.3.5. 647 Zur Erklärung dieser Nachfrage-Modif'lZierung durch die Regierung vgl. oben, 5.3.1.3. 648 Vgl. hierzu wieder oben, 5.3.1.3.

5.3. Die Nachfrage einzelner Akteure und ihre Befriedigung

235

nachweis" verbreitete, in welcher die verschiedenen o. a. Kostenfaktoren eingehend erläutert (aber kaum empirisch belegt) wurden 649 . In Anbetracht der breiten Zustimmung der Entscheidungsagenten zur geplanten Neuregelung der ÖAV-Ausführung650 waren derartige Oberzeugungstransaktionen zur Sicherung einer Realisierung dieser Institutionen-Änderung eigentlich nicht erforderlich; diese Transaktionen lassen sich deshalb nur als Maßnahmen verstehen, mit welchen die Regierung und die Bürgerlichen Fraktionen ihre möglichen Kosten aus einer Solidarisierung der Wähler mit den "Verlierern" bzw. "Geschädigten" des AVAVG - nämlich den Kommunen _651 zu senken versuchten. Hinsichtlich aller übrigen Regelungen hielt die Regierung - wie unter 5.3.1.3. dargestellt - an ihren bereits in der Zweiten Phase postulierten Forderungen fest 652, die von den Bürgerlichen Fraktionen unterstützt wurden, ohne daß die Regierung den Bürgerlichen Fraktionen hierfür ein Änderungsentgelt zahlen mußte653 . Allerdings waren die Bürgerlichen Fraktionen vermutlich nur dann zur Zustimmung bereit, sofern auch die Arbeitgeberverbände den geplanten Regelungen zustimmten654. Deshalb mußte auch die Regierung versuchen, diese Zustimmung der Arbeitgeberverbände zu sichern: Zunächst verwendete sie viel Energie auf die Durchführung von Oberzeugungstransaktionen, insbesondere um ihren - von den Arbeitgeberverbänden abgelehnten - Verzicht auf kommunale Beitragsgemeinschajten plausibel zu

machen, vermutlich um auf diese Weise die Kosten aus dieser Maßnahme für die Arbeitgeberverbände zu reduzieren; dies geschah vor allem durch den Hinweis auf

- die zu großen örtlichen Belastungsunterschiede in folge von örtlichen Beitragsgemeinschaften, 655 - das häufige Auseinanderfallen von Wohnort- (Beitrags-Zahler-) und Arbeitsort- (Beitrags-Gläubiger-) Kommunen, das allenfalls mit sehr transaktions-

o. v., Eine Denkschrift, S. 355. V gl. unten, 5.3.5. 651 Vgl. hierzu unten, 5.3.4. 652 Eine Ausnahme bi)dete nur die nunmehr - zusätzlich - vorgesehene 100 %-ige Beitragsfinanzierung der ÖAV, vgl. oben, 5.3.1.3. 653 V gl. unten, 5.3.5.2. 654 Vgl. unten, 5.3.5.2. 655 Vgl. Entwurf ALV 1926, S. 46. 649 Vgl. 650

236

5. Der Übergang zur parafiskalischen Organisation

kostenintensiven Verrechnungsverfahren rückgängig gemacht werden könnte,656

- den Vorteil einer Senkung der individuellen Beitrags-Lasten durch eine Ausweitung des Zahler-Kollektivs 657 . Weiterhin leistete die Regierung - und zwar gemeinsam mit den KoalitionsFraktionen - den Arbeitgeberverbänden fiir deren Zustimmung zum AVAVG insgesamt, speziell fiir die vollständige Realisierung des Versicherungsprinzips bei der Arbeitslosenunterstützung, offenbar Anderungsentgelte in der Form einer Zustimmung zu einer Neuregelung der Arbeitszeit, die den Vorstellungen der Arbeitgeberverbände weit entgegen kam, sowie einer Senkung der Realsteuern durch Länder und Kommunen und eines Verzichts auf die Einführung beweglicher Einkommen- und Körperschaftsteuer-Anteile fiir die Länder und Kommunen 658 •

5.3.2. Die Gewerkschaften

Während die Gewerkschaften gegenüber dem ersten Teil der soeben diskutierten Nachfrage der Regierung (der Einführung von Pflichtbeiträgen zur Finanzierung der ÖAV und der ELF) - erfolglos - als Bewahrungsagenten auftraten, verhielten sie sich ab 1923/24 mit der pauschalen Forderung nach Einführung des Versicherungsprinzips fiir die ELF-Transfers als priml1re Anderungsagenten. Ab 1925, nach der Vorlage des neuen ALV-Entwurfs der Regierung kreierten die Gewerkschaften dann fast gen au jenen Änderungsplan zur Übernahme der ÖAV in die "ausschließliche Reichsverwaltung", der schließlich realisiert wurde, d. h. die Gewerkschaften waren nunmehr auf dem "InstitutionenMarkt" Uberaus erfolgreich - dies, obgleich 1927 die den Freien Gewerkschaften nahestehende SPD nicht an der Regierung beteiligt war, sondern vielmehr eine bürgerliche Mitte-Rechts-Koalition als Entscheidungsagent agierte.

V gl. ebenda. Vgl. ebenda, S. 48. 658 Näheres hierzu vgl. unten, 5.3.5.2.; auch die Neueinführung der speziellen Krisenfürsorge für die aus der ALV "Ausgesteuerten" - entsprechend der heutigen Arbeitslosenhilfe - scheint die ablehnende Haltung der Arbeitgeberverbände vermindert zu haben, vgl. hierzu ebenda. 656 657

5.3. Die Nachfrage einzelner Akteure und ihre Befriedigung

237

5.3.2.1. Allgemeine Nutzenvorstellungen Auch für die hier betrachteten Institutionen-Änderungen der Jahre 1923/24 sowie 1927 waren nur die Nachfrage und die Transaktionen der - sozialdemokratischen - Freien (Arbeiter-) Gewerkschaften relevant, die sich nach 1918 zum "Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund" ("ADGB") neu formiert hatten 659 • Wenn im folgenden pauschal von den "Gewerkschaften" die Rede ist, sind mithin wiederum stets die Freien Gewerkschaften gemeint. Die unter 4.3.2.1. aufgeführten grundlegenden Nutzenvorstellungen der Freien Gewerkschaften dürften sich bis 1927 nicht erheblich verändert haben; 660 neu war vermutlich das Ziel der Realisierung einer Art von "Wirtschaftsdemokratie" durch Verstarkung der Mitbestimmungs- und Selbstverwaltungs-Rechte der Gewerkschafts- bzw. Arbeitnehmervertreter in allen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft661 •

659 Vgl. z. B. Heinrich Potthoff, Gewerkschaften und Politik zwischen Revolution und Inflation, Düsseldorf 1979 (im folgenden zitiert als "Potthoff, Gewerkschaften"), S. 59. FUr die Liberalen und die Christlichen Gewerkschaften sind zwar tendenziell vergleichbare Änd~fungsanreize zu erwarten wie ft1r die Freien Gewerkschaften, was durch entsprechende Au8erungen auch zu belegen ist (vgl. hierzu unten, Unterabschnitt 5.3.5.2.2.). Jedoch traten die Liberalen und Chril?~lichen Gewerkschaften im Ge~ensatz zu den Freien Gewerkschaften nicht mit eigenen Anderungsplänen an die Öffl~ntlichkeit Noch 1926 hielten etwa die Christlichen Gewerkschaften eine Reform der ÖAV -AusfIlhrungsregeln explizit nicht ft1r erforderlich. V gl. die Ausführungen der Sachverständigen Clara MleineIi: im Sozialpolitischen Ausschuß des Reichswirtschaftsrat, in: Bericht Reichswirtschaftsrat, S. 209; laut Michael Schneider, Gewerkschaften, S. 674, war Clara Mleinek Mitglied des christlich-nationalen DGB. Hinsichtlich der Finanzierungs-Institutionen stimmten die Christlichen Gewerkschaften allerdings wei~ehend mit dem ADGB überein. Vgl. wiederum die Ausführungen von Clara Mleinek, 10: Bericht Reich§wirtschaftsrat, S. 211. Auch ohne daß die Liberalen und Christlichen Gewerkschaften Anderungsforderungen erhoben, dUrften ihre Nutzenvorstellungen allerdings fUr das KalkUl der BUrgerlichen Fraktionen nicht unerheblich gewesen sein (vgl. hierzu ebenfalls: Unterabschnitt 5.3.5.2.2.). 660 Nähere Aufschlüsse zu den Zielen und der Politik des ADGB in den 1920er Jahren bietet neben Heinrich Potthoff. Gewerkschaften, auch z. B.: ders., Freie Gewerkschaften 1918-1933, DUsseldorf f~87 (im folgenden zitiert als "Potthoff, Freie Gewerkschaften"). 661 Vgl. hierzu z. B. Heinrich Potthof!, Freie Gewerkschaften, S. 170-185.

238

5. Der Übergang zur parafiskalischen Organisation

5.3.2.2. Änderungs-IBewahrungs-Anreize Die Nutzen der Gewerkschaften aus den eigenen Nachweisen waren in den 1920er Jahren fast gleich Null (da es so gut wie keine Gewerkschaftsnachweise mehr gab 662); im Vergleich zu den 1890er Jahren waren deshalb die Nutzen der Gewerkschaften aus der ÖAV vermutlich ganz erheblich gestiegen. Jedoch bewirkten einzelne Regelungen der ÖAV sowie der ELF fiir die Gewerkschaften vermutlich auch Status-quo-Kosten, und zwar vor allem ab 1923/24: Die ELF führte fiir die Gewerkschaften vermutlich vor allem aufgrund der geltenden BedUrjtigkeitsprufung und der fehlenden Orientierung der ELFTransfers am vormaligen Erwerbseinkommen der Arbeitslosen zwischen 1919 und 1927 zu erheblichen Status-quo-Kosten: Nicht-Iohnbezogene Transfers konnten den von den Arbeitslosen ausgehenden Lohndruck nur partiell vermindern 663 . Die Bedürftigkeitsprüfung mußte gemäß den o. a. GewerkschaftsZielsetzungen auch als diskriminierend 664 und sozial ungerecht665 abgelehnt werden. 666 Indem es durch die 1923/24 neueingeführte weitgehende Beitragsjinanzierung der ELF und der ÖAV zu einer erheblichen Neu-Belastung der Arbeitneh-

mer durch die Beiträge (Senkung der Nettoeinkommen der Arbeitnehmer) kam, mußte es infolge dieser Neu-Belastung fiir die Gewerkschaften zu neuartigen Status-quo-Kosten kommen, zumal da die Arbeitgeberseite durch gleichzeitig vorgenommene Maßnahmen zur steuerlichen Entlastung fiir die Beitragslasten kompensiert wurde667 .

Und auch die neueingeführte Regelung der lokalen Beitragsgemeinschaften dürfte für die Gewerkschaften zu neuartigen Status-quo-Kosten geführt haben. Zum einen widersprach diese Regelung der von den Gewerkschaften stark ver662 Vgl.

oben, 5.1.1. Zur Motivation der Freien Gewerkschaften, qua ALV den Lohndruck zu mildem und damit die Arbeitsmarkt-Position der Gewerkschaften zu verbessern, vgl. etwa die Darstellung bei Anselm Faust, Arbeitsmarktpolitik 1986, S. 156. Zur Kritik an den zu niedrigen ELF-Unterstützungs sätzen aufgrund des geltenden FUrsorgeprinzips vgl. z. B. Fr. Spliedt, Die Forderungen der Gewerkschaften zur Arbeitslosenversicherung, in: GewZ, Jg. 35 (1925), S. 183-185 (im folgenden zitiert als "Spliedt, Forderungen"), hier: S.184. 664 "Unerträglich ist, daß die derzeitige Erwerbslosenfürsorge nichts als eine verbesserte 'Armenpjlige' darstellt" (ebenda). 66S Weil aufgrund der Ermessensspielräume der Kommunen bei der ELF-Vergabe der Kreis der ELF-Empfänger von Ort zu Ort recht unterschiedlich abgegrenzt wurde; vgl. hierzu ebenda. 666 Einzelne Teilverbände des ADGB traten allerdings in den 1920er Jabren zunächst für das FUrsorgeprinzip ein; vgl. Karl Christian FUhrer, S. 189-201. 667 Vgl. hienu unten, 5.3.3.2. 663

5.3. Die Nachfrage einzelner Akteure und ihre Befriedigung

239

tretenen Ideologie des Solidarprinzips (wonach die weniger von der Arbeitslosigkeit betroffenen Bezirke verpflichtet waren, Opfer zugunsten der stärker belasteten Bezirke zu bringen 668 ). Zum anderen stand die sehr starke Belastung einzelner Bezirke stets jeder Verbesserung auf der Leistungsseite der ELF entgegen; bei einer Reichs-Beitragsgemeinschaft wären die Lasten für die einzelnen Beitragszahier weniger spürbar und Leistungsverbesserungen leichter durchzusetzen gewesen (Zentralisierungsargument: Leistungsverbesserung). 669 Zu weiteren Status-quo-Kosten dürfte es für die Gewerkschaften aufgrund des vor allem von ihnen explizit konstatierten "Versagens" der OAV gekommen sein670; für dieses "Versagen" dürften aus der Sicht der Gewerkschaften jene Gründe maßgeblich gewesen sein, die bereits oben für die Regierung skizziert wurden. Damit kam es für die Gewerkschaften vermutlich nach 1922 zunächst deshalb zu Status-quo-Kosten aus den ÖAN, weil die von ihnen als unbefriedigend angesehene Vermittlungsqualität zur Folge hatte, daß - die Gewerkschaften mit - aus ihrer Sicht - überhöhten Aufwendungen für ihre gewerkschaftseigene Arbeitslosenunterstützung konfrontiert wurden, 671 - sich die Position der Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt wegen der - wiederum: überhöhten - Arbeitslosigkeit nicht nachhaltig verbessern konnte, - die fehlende Fähigkeit der ÖAN zur raschen Restitution der Arbeitslosen der von den Gewerkschaften stark angestrebten Realisierung des Versicherungsprinzips bei den ELF-Leistungen entgegenstand (bzw. im Fall der Einführung des Versicherungsprinzips zu einer eigentlich überflüssigen Überbelastung der Beitragszahler hätte führen müssen); denn für Leistungen nach dem Versicherungsprinzip erscheint die Arbeitsvermittlung erheblich wichtiger als für Leistungen nach dem Bedürftigkeits-Prinzip, weil die am Versicherungsprinzip orientierten Leistungen (Unabhängigkeit von der Bedürftigkeit; Orientierung am ehemaligen Einkommensniveau) einen weitaus stärkeren Anreiz für ein opportunistisches Verhalten der Arbeitnehmer setzen. 668 Allgemein zur Forderung der Freien Gewerkschaften nach Solidarität bei der Finanzierung der ALV vgl. etwa o. V., Zum Entwurf einer Arbeitslosenversicherung, in: ebl., Jg. 32 (1922), S. 504 f. und 520-522, hier: S. 521; speziell zur Forderung nach räumlicher Solidarität vgl. o. v., Erwerbslosenfürsorge, S. 7, sowie Ziegler (0. VA), Die Lastenverteilung innerhalb der Arbeitslosenversicherung, in: Das Problem der Arbeitslosenversicherung in Deutschland, Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit am 20. Februar 1925 zu Berlin, Berlin 1925, S. 43-61, hier: S. 46. . 669 Vgl. hierzu etwa o. V., Die ~emessung der Unterstützungssätze für Erwerbslose, m: GewZ, Jg. 34 (1924), S. 513 f. hIer: S. 514. 670 Vgl. etwa o. v., Die Arbeitslosenversicherung 1927, S. 62. 671 Lt o. V. , Die Leistungen der Gewerkschaften, in: GewZ, Jg. 36 (1926), S. 467, zahlten die Freien Gewerkschaften 1925 13,8 Mio. RM für Zwecke der Arbeitslosenunterstützung.

240

5. Der Übergang zur parafiskalischen Organisation

Die genannten Status-quo-Kosten der Gewerkschaften dürften seit dem Herbst 1923 nicht nur infolge der damals realisierten Institutionen-Änderungen deutlich zugenommen haben, sondern auch aufgrund weiterer Veränderungen von Situationsfaktoren: Weitgehend analog zur Entwicklung von Mitte der 1890er Jahre 672 kam es für die Gewerkschaften ab dem Herbst 1923 zu einem RUckgang des "gewerkschaftlichen Einkommens" (i. w. S.),673 weil die Inflation das Gewerkschaftsvermögen zu einern beträchtlichen Teil entwertet hatte,674 die Arbeitslosigkeit675 und damit die gewerkschaftlichen Aufwendungen für Arbeitslosenunterstützungen deutlich anstiegen,676 während der Mitgliederbestand vor allem seit der Währungsreform vorn November 1923 677 ganz erheblich zurückging und erst seit dem Herbst 1926 wieder leicht zunahm 678 . Hinzu karn noch der von der Arbeitslosigkeit ausgehende Lohndruck. Und wie dies bereits oben für die Regierung skizziert wurde, dürfte es durch die Institutionen-Änderungen von 1923/24 und die damals einsetzende Massenarbeitslosigkeit zur Verstärkung des ÖAV-Versagens (und zu einer Erhöhung der über diesen "Hebel" bewirkten Kosten) gekommen sein. 679 Späterhin dürfte auch die Beschliftigungskrise von 1926 - analog zur Arbeitslosigkeit vorn Herbst 1923 - die Kosten des ÖAV-Status-quo für die Gewerkschaften erneut Vg1. hierzu oben, 4.3.2.2. Vg1. hierzu: o. v., Ein schwarzes Jahr, in: GewZ, Jg. 34 (1924), S. 1 f. (im folgenden zitiert als "0. v., Ein schwarzes Jahr"). 674 Vg1. 0 .. V:' Gemeinsame Tagung der BundesausschUsse, in: GewZ, Jg. 33 (1923), S. 441-444, hier. S. 442. 675 Die Arbeitslosigkeit stieg von 140.000 im Sommer 1923 auf 1,5 Mio. im Winter 1923/24, vg1. Ludwig Preller, S. 164; zur weiteren Entwicklung der Arbeitslosigkeit vg1. ebenda, S. 164 f. 676 Zu den Folgen der Arbeitslosigkeit fUr die Freien Gewerkschaften vg1. etwa o. V., Ein schwarzes Jahr, S. 1. Während von 1918-1923 der Anteil der vom ADBG geleisteten Unterstützungszahlungen (insgesamt, d. h. fUr alle UnterstUtzungszwecke) an seinen Gesamtausgaben kontinuierlich gesunken war, kam es 1924, 1925 und vor allem 1926 zu ganz erheblichen Steigerungen; 1926 betrugen die Unterstützungszahlungen 45,8 % der ADGB-Gesamtausgaben. Vg1. Heinrich Potthoff, Freie Gewerkschaften, S. 375, 672 673

Tab.5.a.

Ebenda, S. 43. 1920 erreichte die Mitgliedschaft allein beim ADGB (nur Arbeitergewerkschaften) über 8 Millionen; Ende 1924 waren es nur noch 4 Mio., vg1. ebenda, S. 43, Fn. 7. Danach kam es zwar zunächst wieder zur Zunahme, aber mit weniger als 4 Mio. Mitgliedern wurde dann im Herbst 1926 ein neuer Tiefstand erreicht; vg1. ebenda, S. 44. Erst danach ging es wieder etwas bergauf; vg1. ebenda. Weitgehend analog war die Entwicklung bei den anderen Gewerkschaften. V g1. Michael Schneider, Gewerkschaften, S. 452, Tab. 47. Als Ursachen fUr die Mitgliederrückgänge seit Ende 1923 werden u. a. angeführt: das höhere "Gewicht" der Beiträge nach der Währungsreform; das Ende der Vollbeschäftigung und die Angst vor der Arbeitslosigkeit; die Reallohneinbußen, die jetzt als Folge der Währungsreform spUrbar wurden. Vgl. zu diesen Ursachen Heinrich Potthoff, Freie Gewerkschaften, S. 44. 679 Vg1. oben, 5.3.1.2. 677 678

5.3. Die Nachfrage einzelner Akteure und ihre Befriedigung

241

erhöht haben; nicht zuletzt auch das Scheitern des staatlichen "Arbeitsbeschaffungsprogramms" von 1926 (als Folge der vorhandenen ÖAV -Institutionen)680 dürfte hierzu beigetragen haben. Wiederum analog zur Regierung dürfte es im Zeitverlauf auch für die Gewerkschaften zu einer Theorieverl1nderung (und in deren Folge zu Status-quoKosten-Steigerungen) gekommen sein; die Abhängigkeit zwischen ÖAV -Qualität und den bestehenden Verwaltungs- und Finanzierungsregeln wurde den Gewerkschaftsführern (wie auch anderen Akteuren) erst durch die Erfahrungen

mit dem ANG bewußt681 •

Und ebenfalls analog zur Regierung dürfte auch für die Gewerkschaften die seit 1923/24 zunehmende opponunistische Ausnutzung (u. a. als Folge der damals realisierten Institutionen-Änderungen) der ELF- und der Notstandsarbeitsmittel sowie der Pflichtarbeit durch die Kommunen 682 zu - steigenden Status-quo-Kosten geführt haben: Mit der Ausnutzung der Notstands- und Pflichtarbeits-Regelungen wurden reguläre Arbeiten vielfach ausgesetzt und die Löhne tendenziell gedrückt. 683 Gerade in Anbetracht der mit der Zunahme der Arbeitslosigkeit wachsenden Not zahlreicher Erwerbsloser sowie der Verschlechterung der gewerkschaftlichen Arbeitsmarktposition mußten die Gewerkschaften schließlich auch die im Status quo gegebene Ausschaltung der OAV-Selbstverwaltungs-Gremien bei der ELF-Vergabe zunehmend negativ bewerten. 684

Zusammenfassend dürften sich die folgenden Veränderungen von Situationsfaktoren als maßgeblich für einen Anstieg der gewerkschaftlichen Status-quoKosten vermuten lassen: - Institutionenl1nderungen i. S. der Einführung der Beitragsfinanzierung, der lokalen Beitragsgemeinschaften und der Pflichtarbeit,

- RUCkgang des gewerkschaftlichen "Einkommens" seit ca. 1923 und erneut durch die Krise von 1926,

- Theorieverl1nderung der Gewerkschaften i. S. der Übernahme der Überzeu-

gung vom Versagen der ÖAV aufgrund der geltenden Ausführungs- und Finanzierungs-Regeln.

Auch zu diesen Zusammenhängen vgl. oben, 5.3.1.2. Zur Anerkenq.ung eines Theoriewandels gegenüber der Zeit vor 1922 vgl. (in bezug auf die von der OAV bewirkte ELF-Qualität) z. B. o. v., Probleme der Arbeitslosenversicherung, S. 41. Vgl. auch Hermann JUlich, Verwaltung, S. 461 f. 682 Vgl. hierzu oben, 5.3.1.2. 683 Vgl. hierzu z. B. Fr. Spliedt, ELF, S. 94. 684 Zur damaligen Forderung der Gewerkschaften nach Erweiterung der Selbstverwaltungsrechte vgl. etwa ebenda. 680 681

16 Rosenfeld

242

5. Der übergang zur paraflSkalischen Organisation

5.3.2.3. Änderungs-/Bewahrungs-KalkUI

Nach 1922 lassen sich 4 Phasen der gewerkschaftlichen Nachfrage ausmachen: Phase 1:

Bis zum Herbst 1923 lehnten die Freien Gewerkschaften Zwangsbeitrltge zur Finanzierung der ELF und ÖAV kategorisch ab;68S sie forderten eine Bewahrung der bisherigen Finanzierungs-Institutionen, es sei denn, die ELF würde sogleich durch die AL Versetzt, d. h. das Versicherungsprinzip anstelle des fUr die ELF gültigen Bedürftigkeitsprinzips würde eingeführt, oder aber die Arbeitgeber würden zu einer besonderen Vorleistung herangezogen (etwa i. S. einer Steuerreform, "... die eine durchgreifende Heranziehung des Besitzes zu den öffentlichen Lasten durch eine wirkliche Erfassung der Sachwerte gewährleistet[e, MR)")686. Phase 2:

Offenbar stimmten die Gewerkschaften im Oktober 1923 schließlich doch der Einführung der Zwangsbeiträge zu,687 sie nahmen also eine Nachfrage-Modifizierung vor. Phase 3:

Nach 1923/24, verstärkt im März 1925, forderten die Gewerkschaften weiterhin die Abschaffung der Bedürftigkeits-Prüfung und den Übergang zum Versicherungsprinzip bei den ELF-Transfers (Orientierung der Transferzahlungen am vormaligen Erwerbseinkommen; Transfers nur an vormalige Beitragszahler). Mit dem AVAVG von 1927 konnte dieses Nachfrage-Element schließlich realisiert werden. Phase 4:

Nach der Vorlage des Regierungsplans zur ALV von 1925 traten die Gewerkschaften als Modifikatoren auf, indem sie vor allem im Herbst 1926, im Verlauf der Beratungen des Reichswirtschaftsrates (RWR) über den Regierungsplan, einen umfassenden Änderungsplan aufstellten. 685 O. V., Die Neuregelung der ErwerbslosensfUrsor~e, in: Cbl., Jg. 33 (1923), S. 451 f. (im folgenden zitiert als "0. v., Die Neuregelung'') ,hier; S. 451. 686 Ebenda; vgl. auch o. v., Zur Arbeitslosenversicherung, in: Cbl., Jg. 31 (1921), S. 745 f., hier: S. 746; Ludwig Preller, S. 281. 687 Vgl. Peter Lewek, S. 146.

5.3. Die Nachfrage einzelner Akteure und ihre Befriedigung

243

Im Gegensatz zur Regierung forderten die Freien Gewerkschaften eine Kopplung der ALV -Einführung mit einer Reform der ÖA V i. S. des Obergangs zur parojiskalischen Organisation. Thre Forderungen lassen sich wie folgt zusarnrnenfassen: 688 (I.) Output-Regeln:

- Wie bereits in der Zweiten Phase, so forderten die Gewerkschaften auch jetzt unverändert die Abschaffung des Fürsorge-Prinzips bei der ELF. (11.) AusjUhrungs-Regeln: (II.a) AusjUhrung i. e. S.:

- "Träger" der ÖA V-und der AL V-Aufgaben sollte nach dem Willen der Freien Gewerkschaften eine neue "Reichsanstalt fUr Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung" ("RA VAV")689 als eine von den Länder- und Gemeindeverwaltungen völlig und vom Reich weitgehend abgetrennte Körperschaft werden. - Die neue RAVAV sollte sich - so die Forderung der Freien Gewerkschaften - in eine Hauptstelle (auf Reichsebene) sowie in "Landesarbeitsllmter" ('1AA") und Bezirks-Arbeitsllmter ("M") untergliedern. - Die Fach- und Dienstaufsicht über die AA sollte den LAA, jene über die LAA der HauptsteIle übertragen werden; der Reichsarbeitsminister sollte die Aufsicht über die Hauptstelle ausüben. Alle diese Nachfrage-Elemente konnten 1927 vollständig realisiert werden. (II.b) Selbstverwaltungs-Kompetenzen:

- In den Verwaltungsausschüssen der AA sollten mit gleicher Zahl der Stimmen neben den Arbeitgebern und -nehmern auch die Kommunen vertreten 688 Vgl. hierzu und zum folgenden: O. v., Der neue Entwurf, S. 720. Vgl. auch die Darstellung der im Reichswirtschaftsrat erhobenen Forderungen: Bericht Reicbswirtschaftsrat, S. 219 f.; vgl. auch bereits Hermann JUlich, Selbstverwaltung, S. 318; Fr. Spliedt, Forderungen, S. 185; o. v., Die Stellun$ des Deutschen Städtetages zum Arbeitsnachweis und zur Arbeitslosenversicherung, 10: GewZ, Jg. 36 (1926), S. 337 f. (im folgenden zitiert als "0. v., Die SteUung"), hier: S. 338; o. V., Die Arbeitslosenversicherung 1927, S. 62. Speziell bei der sog. "Vernehmung" von "Sachverständigen" der einzelnen Gruppen im Reichswirtschaftsrat JRWR) wurden vom ADGB die im folgenden erläuterten Forderungen zur ALV- und ÖA V-Finanzierung erhoben. Vgl. die Aussagen des Sachverständigen Broecker im sozialpolitischen Ausschuß des RWR, in: Bericht Reichswirtschaftsrat, S. 211; aus Broeckers Stellungnahmen läßt sich auf eine Vertretung der ADGB-Position schließen. 689 Im Forderungskatalog der Gewerkschaften war noch nicht die Rede von einer "RAVAV", sondern von einem "Reichsarbeitsamt" . Zur Vermeidung von begrifflichen Verwirrungen wird hier sogleich die später verwendete Bezeichnung "RAV AV" eingeführt.

16·

244

5. Der Übergang zur parafiskalischen Organisation

sein. Für die Hauptstelle und die LAA sollten die hier bereits vorhandenen drittelparitätischen Aufsichtsgremien erhalten werden. Auch dieses Nachfrage-Element konnte realisiert werden. - Die Verwaltungsausschüsse der AA sollten im einzelnen die Entscheidungsrechte für folgende Teile der Produktion bekommen: Vorschlagsrechte für die Auswahl des AA-Vorsitzenden; Bestellung des Vorsitzenden durch das LAA; dies wurde nicht realisiert, Entscheidungsrechte für die Einstellung des Vermittlungspersonals; dies wurde nicht realisiert, Entscheidungsrechte für die selbständige Regelung der gesamten Geschäftsführung; dies wurde realisiert, Vorschlagsrechte für die Etataufstellung 690; dies wurde nicht realisiert. (Ill.) Finanzierungs-Regeln: - Bewahrung der Gebührenfreiheit. - Die ÖAV und die AL V sollten tendenziell wie bisher zu 2/3 aus den Pflichtbeiträgen finanziert werden, sowie zu 1/3 von Reich, Ländern und Kommunen. 691 - Weiterhin sollte auf jede Differenzierung der Beitragsätze zwischen den Ländern bzw. Kommunen verzichtet und nur eine "Reichs-Beitragsgemeinschaft" installiert werden. 692 - Über Zuweisungen an die jeweils untergeordneten Instanzen sollten die Selbstverwaltungsgremien der Hauptstelle bzw. der LAA entscheiden. 693 Von diesen Nachfrageelementen konnte nur die Zuweisungsregelung realisiert werden. Für die skizzierte Nachfrage der Gewerkschaften in den verschiedenen Phasen lassen sich die folgenden Kalküle vermuten: 690 Diese Forderung läßt sich nur vermuten, explizite Äußerungen hierzu konnten nicht ermittelt werden. 691y~1. die Aussagen des Sachverständigen Broecker im Sozialpolitischen Ausschuß des RWR, in: Bericht Reichswirtschaftsrat, S. 211. Zu den genauen Anteilsquoten vgl. auch die Zusammenstellung der im RWR angenommenen Anträge und Entschließungen zum ALV -Gesetzentwurf, in: Bericht Reichswirtschaftsrat, S. 217. 692y~1. die Aussagen des Sachverständigen Broecker im Sozialpolitischen Ausschuß des RWR, in: Bericht Reichswirtschafsrat, S. 211. Zu dieser Forderung vgl. auch bereits o. v., Zu den Kosten der ErwerbslosenfUrsorge, in: GewZ, Jg. 35 (1925), S. 724. 693 Diese Forderung läßt sich nur vermuten, explizite Äußerungen hierzu konnten nicht ermittelt werden.

5.3. Die Nachfrage einzelner Akteure und ihre Befriedigung

245

5.3.2.3.1. Erste Phase Zwar filhrten die bestehenden Regelungen der ELF vor 1923/24 für die Gewerkschaften zu beträchtlichen Status-quo-Kosten; eine Bewahrung dieses Arrangements (mit Finanzierung aus allgemeinen Budgetmitteln) mußte ihnen aber erheblich vorteilhafter erscheinen als die von der Regierung verlangte (und realisierte!) Umstellung auf die Beitrags-Finanzierung. Wenn nicht nur die Arbeitnehmer infolge der EinfUhrung der Pflichtbeiträge Nutzeneinbußen erlitten hätten, sondern wenn gleichzeitig auch die Arbeitgeberseite durch spezielle Maßnahmen (etwa in Form einer Sonder-Abgabe) schlechter gestellt worden wäre, hätten die Gewerkschaften der Beitrags-Finanzierung vermutlich deshalb zugestimmt, weil hiermit immerhin ein erster Schritt in Richtung auf die vollständige Realisierung des Versicherungsprinzips - die ALV - eingeleitet worden wäre, und weil ihnen die Beitrags-Finanzierung fortan als ein wichtiges Argument für eine verstärkte Forderung nach einem Übergang zur AL V hätte dienen können.

5.3.2.3.2. Zweite Phase Die Zustimmung der Gewerkschaften zur Beitragsfinanzierung wurde vermutlich z. T. durch die an die SPD-Fraktion entrichteten und bereits unter 5.3.1.4. skizzierten Änderungsentgelte von seiten der Bürgerlichen Fraktionen und der Regierung erwirkt, indem diese (1.) der generellen Bewahrung der ELF zustimmten, (2.) Konzessionen bei der gesetzlichen Neuregelung der Arbeitszeit gewährten, (3.) informell zusagten, daß der Reichs-Arbeitsminister die gewerkschaftliche Position bei den anstehenden Lohn- und Arbeitszeitfragen unterstützen würde; z. T. dürften auch die Gewerkschaften realisiert haben, daß die erwarteten Änderungs- und Bewahrungskosten der SPD-Fraktion 1923 erheblich gestiegen waren,694 mit der Konsequenz, daß es auch den Gewerkschaften (über ihre Verbindungen zur SPD) erschwert wurde, den Status quo zu bewahren.

694Vgl. unten, 5.3.5.1.

246

5. Der Übergang zur paraflskalischen Organisation

5.3.2.3.3. Dritte Phase

Es bedarf keiner näheren Erläuterung, daß sich der geforderte Übergang vom Fürsorge- zum Versicherungsprinzip bei den ELF-Transferzahlungen mit den o. a. Status-quo-Kosten der Gewerkschaften aufgrund des geltenden Fürsorgeprinzips erklären lassen dürfte. Anregungen ftir ihr insgesamt innovatives Konzept zur parafiskalischen Organisation der ÖAV und AL Verhielten die Freien Gewerkschaften vermutlich durch das britische ALV-System,695 Aber auch die bereits im 19. Jahrhundert von der SPD entwickelte Konzeption der staatlichen "Arbeitsämter" als allgemeiner Organe zur Aufsicht über den Arbeitsmarkt und die staatlichen Arbeitsmarkt-Regulierungen 696 könnte den Freien Gewerkschaften als Anregung gedient haben. Die 1/3-Paritäts-Regel war im ANG zwar bereits ftir die LAA- und RAA-Ebene vorgesehen worden,697 aber ihre Übertragung auf die Ortsebene stellte eine Innovation dar.

AusjUhrungs-Regeln i. e. S. Die Abspaltung der ÖAN von den Kommunen und der LAA von den Ländern (Provinzen) erscheint als eine plausible Maßnahme zur Senkung der o. a.

StalUs-quo-Kosten der Gewerkschaften aus der unzureichenden Qualitm der OAN und aus dem opportunistischen Verhalten der Kommunen bei der ELFVergabe:

Ohne die bisherigen Rechte der Kommunen in bezug auf die ÖAN entfielen deren Neigung zur "AusdÜDnung" der Vermittlungsqualität und die Ausschaltung der Selbstverwaltungs-Gremien bei der ELF- bzw. ALV-Vergabe sowie die Auswirkungen der kommunalen Anreize zur Substitution kommunaler durch ELF- bzw. ALV-Mittel weitgehend (= Senkung der Kosten des Opportunismus). Falls die neuen AA-Verwaltungsausschüsse aber zur Mittelverschwendung i. S. einer opportunistischen Auslegung