Evangelischer Religionsunterricht und reflektierte Toleranz: Aufgaben und Möglichkeiten religiöser Bildung im Pluralismus 9783737000727, 9783847100720, 9783847000723

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Evangelischer Religionsunterricht und reflektierte Toleranz: Aufgaben und Möglichkeiten religiöser Bildung im Pluralismus
 9783737000727, 9783847100720, 9783847000723

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Arbeiten zur Religionspädagogik

Band 54

Herausgegeben von Prof. Dr. Dr. h.c. Gottfried Adam, Prof. Dr. Dr. h.c. Rainer Lachmann und Prof. Dr. Martin Rothgangel

Evelyn Krimmer

Evangelischer Religionsunterricht und reflektierte Toleranz Aufgaben und Möglichkeiten religiöser Bildung im Pluralismus

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0072-0 ISBN 978-3-8470-0072-3 (E-Book) Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Evangelischen Landeskirche in Württemberg und der Calwer Verlag-Stiftung. Ó 2013, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: istockphoto.com Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einführung 1. Zielsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Thematische Einführung und grundlegende Fragestellungen . . . 1.2 Aufbau und Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Situationsanalyse 2. Der Evangelische Religionsunterricht inmitten einer multireligiösen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Allgemeine Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Religiöse Pluralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Die Entwicklung hin zu einer multireligiösen Gesellschaft . . 2.2.2 Religiöse Pluralität als empirische Gegebenheit . . . . . . . 2.3 Religiöse Individualisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Religiöse Individualisierung als Phänomen unserer Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Religiöse Individualisierung und Toleranzfähigkeit . . . . . 2.4 Der Evangelische Religionsunterricht in der kritischen Diskussion 2.4.1 Historische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Die kritische Diskussion der Gegenwart . . . . . . . . . . .

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Inhalt

III. Analyse verschiedener Rezeptionen des Toleranzbegriffs in der wissenschaftlichen Diskussion, im Bildungsplan und aus Lehrersicht 3. Toleranz in der evangelischen systematischen Theologie, in der Religionspädagogik und in der Erziehungswissenschaft . . . . . . . . 3.1 Pluralismus und Toleranz in der evangelischen systematischen Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Pluralismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1.1 Zum Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1.2 Das evangelische Verständnis des Pluralismus . . . . 3.1.2 Toleranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2.1 Zum Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2.2 Toleranz im Konflikt: philosophische Überlegungen (R. Forst) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2.3 Das evangelische Verständnis von Toleranz (Chr. Schwöbel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2.3.1 Toleranz und Identität . . . . . . . . . . . . 3.1.2.3.2 Toleranz aus Glauben . . . . . . . . . . . . . 3.1.2.3.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2.4 Toleranz und Dialog: religionssoziologische Überlegungen (P.L. Berger) . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2.4.1 Formen und Bedingungen des Dialogs . . . 3.1.2.5 Der Versuch einer systematischen Toleranzbegründung: reflektierte und abstrakte Toleranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Toleranz in der Religionspädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Toleranz im religionspädagogischen Zeitschriftendiskurs . . 3.2.1.1 Veröffentlichungen zu Toleranz zwischen 1953 und 2004 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1.2 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Die Diskussion der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.1 Toleranz bei G. Adam: Toleranz als Problem des Religionsunterrichts in religionspädagogischer Sicht . 3.2.2.2 Toleranz bei R. Englert: Religiöse Erziehung als Erziehung zur Toleranz . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.3 Toleranz bei K.E. Nipkow: Wahrheit und Toleranz – theologische Präzisierungen zum Kern des Glaubensdialogs und interreligiösen Lernens . . . . . 3.2.2.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

3.3 Toleranz in der Erziehungswissenschaft . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Der Toleranzdiskurs im erziehungswissenschaftlichen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Pädagogik und Religion – ein grundlegendes Wahrnehmungsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3 Toleranz und Religion: Parallele oder interdependente Wahrnehmungsprobleme? . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.4 Ausblick und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . .

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4. Toleranz im baden-württembergischen Bildungsplan – eine exemplarische Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Der Auftrag der Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Toleranz im Bildungsplan 2004 für das Gymnasium . . 4.2.1 »Toleranz« als Substantiv . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Das Verb »tolerieren« . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Toleranz im Bildungsplan 2004 für GS, HS und RS . . . 4.4 Synonym verwendete Konzepte . . . . . . . . . . . . . 4.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5. Toleranz aus Sicht von Religionslehrkräften . . . . . 5.1 Erläuterungen zur Durchführung der Umfrage . 5.1.1 Ort, Umfang und Vorgehensweise . . . . . 5.1.2 Der Fragebogen . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.3 Die an der Umfrage beteiligten Lehrkräfte 5.1.4 Beschreibung der Daten . . . . . . . . . . 5.2 Die Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Leitfragen zur Analyse und Auswertung . 5.2.2 Inhaltliche Auswertung . . . . . . . . . . . 5.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . .

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IV. Modelldiskussion 6. Alternative Modelle zum konfessionellen Religionsunterricht und deren Anspruch auf Toleranzerziehung . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Erläuterungen zur Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 LER in Brandenburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Historische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Motive, Inhalte, Konzeptionen . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2.1 Motive für LER (aus dem Grundsatzpapier des Ministeriums) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2.2 Unterrichtsinhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

6.2.2.3 Fachdidaktisches Konzept: Die Dimensionen L, E und R . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3 Analyse: LER und Toleranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Das Hamburger Modell: Religionsunterricht für alle . . . . . . . . 6.3.1 Historische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2 Konzeptionen und Inhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2.1 Theoretische Grundlagen einer dialogischen Religionspädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2.2 Thesen zu einer Didaktik des interreligiösen Lernens 6.3.2.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.3 Analyse: Der Hamburger »Religionsunterricht für alle« und Toleranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Religionspädagogische Ansätze aus England und Wales . . . . . . 6.4.1 Historische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.2 Konzeptionen und Inhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.2.1 Eine pluralitätstheoretische Begründung (R. Jackson) 6.4.2.2 Eine säkularisierungstheoretische Begründung (J.M. Hull) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.3 Analyse: Der englische »multi-faith approach« und Toleranz

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V. Zusammenfassung und Handlungsstrategien für die Praxis 7. Bündelung und Bilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Rückblick auf die Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Zur Notwendigkeit religionsunterrichtlicher Reformen . . . . . . 8. Evangelischer Religionsunterricht und Toleranzfähigkeit – Zukunftsperspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Evangelischer Religionsunterricht in weiterentwickelter Gestalt: Organisationsformen und Zielsetzungen einer Toleranzerziehung . 8.1.1 Dialogischer Religionsunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.2 Konfessionell-kooperativer Religionsunterricht (KRU) . . . . 8.1.3 Dialogische Kooperation mit islamischem Religionsunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Der Beitrag zu Toleranzfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort Dieses Buch ist die erste Monographie im deutschsprachigen Raum, die sich aus religionspädagogischer Perspektive mit dem Thema Toleranz auseinandersetzt. Dies mag verwundern, insbesondere da Toleranz auch und gerade zwischen den Religionen ein gleichermaßen aktuelles wie heikles Thema ist. Nicht zuletzt der Blick auf die mitunter besorgniserregenden politischen Entwicklungen weltweit zeigt dies deutlich. Wo man auch hinschaut, es mehrt sich der Eindruck, dass die Konflikte zwischen Anhängern unterschiedlicher religiöser Gruppierungen eher zu- als abnehmen. Auch als evangelische Religionslehrerin wurde ich regelmäßig mit der Erwartung konfrontiert, der schulische Religionsunterricht müsse heutzutage doch in erster Linie zu tolerantem Verhalten erziehen – wobei sich auf Nachfrage herausstellte, dass damit zumeist eine Haltung gemeint war, die eine Vielzahl von Meinungen oder auch Wahrheitsansprüchen gleichberechtigt nebeneinander stehen lassen kann. Eine derartige Auffassung von tolerantem Verhalten wird jedoch dann problematisch, wenn sie gleichsam als Ausrede dafür fungiert, sich gar nicht mehr ernsthaft mit anderen religiösen Sichtweisen – oder gar der eigenen – auseinandersetzen zu müssen, da ja sowieso jeder das glauben sollte, was ihm persönlich am einleuchtendsten erscheint. Eine so verstandene Toleranz muss aber unbefriedigend bleiben, da Religiosität und Religionen in ihrem jeweiligen Eigenrecht nicht wahr- geschweige denn ernst genommen werden. Dies führt gezwungenermaßen zu einem Zwiespalt im Kontext von interreligiösen Begegnungen, einerseits zwar tolerant sein zu wollen, es andererseits aber nicht sein zu können, insofern Toleranz bedeutet, den eigenen sowie den fremden Wahrheitsanspruch einfach zu relativieren und zu nivellieren oder bestenfalls gar nicht erst zur Sprache kommen zu lassen. Was aber bedeutet Toleranz dann? Und wie kann eine Erziehung zu Toleranz im schulischen Religionsunterricht aussehen? An welchen Stellen und in welcher Form wird sie bereits im Bildungsplan und auf Seiten der Religionslehrkräfte verfolgt? Welche Gestalt kann eine Toleranzerziehung im Rahmen des schulischen Religionsunterrichts künftig annehmen? Mit diesen Fragen setzt sich die vorliegende Untersuchung aus der Sicht einer evangelischen Theologin und Religionspädagogin auseinander. Das Erscheinen dieses Buches ist für mich Anlass zu vielfältigem Dank. Die Evangelisch-theologische Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen hat diese Untersuchung unter gleichlautendem Titel im Sommersemester 2012 als Dissertation angenommen. Besondere Unterstützung habe ich dabei von Seiten meines Doktorvaters Herrn Prof. Dr. Friedrich Schweitzer erfahren. Den gesamten Arbeitsprozess hat er mit fachkundiger Beratung, konstruktiver Kritik und wohlwollender Ermutigung beständig begleitet. Auf diesem Weg möchte ich

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Vorwort

ihm ganz herzlich dafür danken. Herrn Prof. Dr. Christoph Schwöbel bin ich zu großem Dank für die Erstellung des Zweitgutachtens verpflichtet. Die Auszeichnung mit dem Christian-Gottlob-Barth-Preis im Jahr 2008 durch die Calwer Verlag-Stiftung war für mich eine große Motivation, meine wissenschaftliche Arbeit voranzutreiben. Dafür sowie für die weitere Unterstützung bei der Veröffentlichung dieses Bandes bin ich sehr dankbar. Auch die Evangelische Landeskirche in Württemberg hat auf freundliche und großzügige Weise zum Erscheinen dieses Buches beigetragen. Ohne die Bereitschaft zur Kooperation von Seiten derjenigen evangelischen und katholischen Religionslehrerinnen und Religionslehrer, die einen ausgefüllten Fragebogen zurückgesandt haben, hätte dieses Buch auf ein zentrales Kapitel verzichten müssen. Ein großes Dankeschön geht daher an die an der Umfrage beteiligten Religionslehrkräfte an allgemein bildenden Gymnasien im Landkreis Tübingen, deren Überlegungen, Anregungen und Erfahrungen hinsichtlich einer Erziehung zu Toleranz im schulischen Religionsunterricht diese Untersuchung bereichern. Danken möchte ich darüber hinaus meinem Mann, meinen Eltern, Geschwistern und Schwiegereltern für die vielfältigen Formen der Unterstützung, die mir zuteil wurden. Zu guter Letzt möchte ich meine Freude darüber zum Ausdruck bringen, dass dieses Buch als Band 54 der Reihe Arbeiten zur Religionspädagogik erscheint. Dem Verlag sei an dieser Stelle herzlich gedankt für die engagierte und vertrauensvolle Zusammenarbeit. Tübingen, im Dezember 2012

Evelyn Krimmer

I. Einführung

1. Zielsetzung

1.1

Thematische Einführung und grundlegende Fragestellungen

In seiner Studie »Tolerance and Curriculum« macht der norwegische Religionspädagoge Geir Afdal darauf aufmerksam, dass es sich bei »Toleranz« um eine der Tugenden handelt, denen sowohl von Lehrer- als auch von Schülerseite eine wachsende Bedeutung und eine zunehmend prominente Rolle im Kontext von Erziehung und Bildung zugeschrieben wird.1 Befragt nach den ihrer Ansicht nach wichtigsten Inhalten einer Erziehung zu einer ethischen und moralischen Lebensführung, nannte die große Mehrheit der in einer empirischen Studie interviewten norwegischen Lehrkräfte folgende Werte: Toleranz und Respekt, Empathie und Einfühlungsvermögen, Solidarität und Verantwortungsbewusstsein. Auch die allgemeine Erklärung der Menschenrechte greift in Artikel 26 Abs. 2 das Thema Bildung auf und besagt, sie müsse auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und auf die Stärkung der Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten gerichtet sein. Demnach muss Bildung »zu Verständnis, Toleranz und Freundschaft zwischen allen Nationen und allen rassischen oder religiösen Gruppen beitragen und der Tätigkeit der Vereinten Nationen für die Wahrung des Friedens förderlich sein.«2 Eine Verankerung des Toleranzprinzips im Zusammenhang mit Bildung lässt sich somit deutlich erkennen. Doch die zentrale Bedeutung von Toleranz ist nicht nur auf den Bereich von Bildung und Erziehung beschränkt. Für viele andere gesellschaftliche Bereiche erscheint Toleranz ebenso erstrebenswert zu sein. Der oftmals unspezifizierte oder pauschale Vorwurf, nicht tolerant zu sein, sich also intolerant zu verhalten, hat den Charakter einer ernsthaften Anschuldigung und kann sich durchaus 1 Vgl. G. Afdal, Tolerance and Curriculum, 13. 2 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Art. 26 Abs. 2 (http://www.amnesty.de/alle-30artikel-der-allgemeinen-erklaerung-der-menschenrechte; gesehen am 02. 06. 2011).

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Zielsetzung

negativ auf das gesellschaftliche Ansehen einer Person auswirken. Doch was genau bedeutet »Toleranz« überhaupt? Häufig verbirgt sich hinter dem nicht selten überstrapazierten Gebrauch des Toleranzbegriffes Unsicherheit hinsichtlich seiner exakten Bedeutung, und bei aller überwiegend festzustellenden Zustimmung führen Versuche einer präzisen Definition aufgrund einer Vielzahl unterschiedlicher Sichtweisen doch immer wieder zu Verwirrung. Obwohl vor der Zeit der Aufklärung kaum von »Toleranz« die Rede war, handelt es sich bei dem Phänomen der Toleranz nicht ausschließlich um eine Erscheinung der Moderne. So weist u. a. Afdal darauf hin, dass Toleranz in mittelalterlichen Gesellschaftsordnungen wie beispielsweise in der des Osmanischen Reiches praktiziert wurde.3 Als ein politisches Prinzip diente Toleranz der Stabilitäts- und Friedenssicherung zwischen den Herrschenden und den diversen religiösen und ethnischen Minderheiten sowie zwischen den verschiedenen Gesellschaftsgruppen untereinander. Unterschiedliche Glaubensgemeinschaften und religiöse Gruppierungen lebten Seite an Seite. Ihre Existenz und Legitimität wurde von Seiten der politischen Autoritäten akzeptiert, und so war es den religiösen Gemeinschaften möglich, ihre Traditionen zu bewahren.4 Damals wie heute kam Toleranz also inmitten bestehender gesellschaftlicher Vielfalt und Pluralität zum Tragen. Mit der Entwicklung hin zu einer pluralen Gesellschaft der (Post-)Moderne, die zunehmend durch Individualisierung gekennzeichnet ist, muss der Toleranzbegriff weiter gefasst werden. Wo immer Gruppierungen, Individuen und Gesellschaften mit unterschiedlichen Ansichten, Lebensgewohnheiten oder Weltanschauungen aufeinander treffen und vor die Aufgabe gestellt sind, ein friedliches Zusammenleben zu gestalten, scheint dies ohne Toleranz nicht möglich zu sein. Toleranz wird also gerade in unserer pluralistisch verfassten gesellschaftlichen Gegenwart zu einer erstrebenswerten und unverzichtbaren Tugend. Die lauter werdende Forderung nach mehr Toleranz für ein gelingendes gesellschaftliches Zusammenleben kann sich auf eine durchaus breite Zustimmung von Seiten der Mitglieder unserer pluralen Gesellschaft stützen. Tolerant zu sein hängt eng damit zusammen, sich inmitten einer in ethnischer, kultureller und religiöser Hinsicht wachsenden Vielfalt zurecht zu finden. Toleranz hat unmittelbar mit der Anerkennung kultureller Differenz zu tun. Angesichts einer Zahl von rund vier Millionen in Deutschland lebender Muslimen, etwa 80 % davon türkischer Herkunft5, scheint die Realität kultureller Differenz sowie die Notwendigkeit, sich mit ihr auseinanderzusetzen, deutlich vor Augen zu treten. 3 Vgl. G. Afdal, Tolerance and Curriculum, 13. 4 Vgl. dazu auch A. Bardakog˘lu, Religion and Society : New Perspectives from Turkey, 78 f. 5 Vgl. Kirchenamt der EKD (Hg.), Christlicher Glaube und nichtchristliche Religionen, 1; P. Kliemann, Das Haus mit den vielen Wohnungen, 163.

Thematische Einführung und grundlegende Fragestellungen

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Allerdings wird zugleich kontrovers diskutiert, wie weit eine Art von Toleranz, die auf Anerkennung kultureller Differenz zielt, innerhalb unserer demokratischen Gesellschaft reichen darf. Gerade mit Blick auf den Umgang mit den in Deutschland lebenden Muslimen attestiert die aus der Türkei stammende Autorin, Sozialwissenschaftlerin und Islamkritikerin Necla Kelek den Deutschen einen »Schuldkomplex« und eine daraus resultierende »falsch verstandene Toleranz«. Ihrer Ansicht nach handele es sich beispielsweise beim Kopftuch um »kein Zeichen des Glaubens«6, sondern schlichtweg um eine Menschenrechtsverletzung, bei der die Toleranz aufhören müsse.7 Doch aufgrund ihrer »nazistischen Vergangenheit«, so Kelek, gebe es in Deutschland »eine panische Angst davor, Islamisten wegen ihrer Religion oder Herkunft zu diskriminieren.« Lieber nehme man deren Verletzung von Grundrechten billigend in Kauf. Das aber verdanke sich auch einem spezifischen Identitätsproblem der Deutschen. »Tolerant, so hat Rudolf Wernstedt, Sozialdemokrat und niedersächsischer Landtagspräsident, es einmal ausgedrückt, könne letztlich nur der sein, der weiß, wer er ist.«8 Sonst führe Toleranz zur Übernahme des Anderen oder produziere Missverständnisse. Einen neuen und energischen Anstoß erhielt die Integrationsdebatte in Deutschland unlängst durch die Veröffentlichung des Buches »Deutschland schafft sich ab« von Thilo Sarrazin9, bei dessen Präsentation auch Kelek maßgeblich beteiligt war. Darin begründet der SPD-Politiker und ehemalige Bundesbank-Vorstand Sarrazin seine umstrittenen und provokanten Thesen über Ursachen gescheiterter Integration und fordert ein schärferes Vorgehen gegen Integrationsunwillige. Er erzeugte damit ein erhebliches Echo in den Medien und in der Politik. Die Tatsache, dass seine Äußerungen neben tiefer Empörung einerseits aber auch auf hohe Zustimmung trafen, macht deutlich, dass die von ihm angesprochenen Themen viele Menschen bewegen. Seine Kritik an muslimischen Migranten und die Warnung vor einer Entwicklung hin zu einem Leben in Parallelgesellschaften schienen die Ängste und Befürchtungen zahlreicher Bürgerinnen und Bürger in Deutschland zu artikulieren. Ein nicht minder großes Medienecho löste die Rede des Bundespräsidenten Christian Wulff zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2010 in Bremen aus10. Seine Aussage, auch der Islam gehöre inzwischen – wie das Christentum und das Judentum – zu Deutschland, war heftig umstritten und setzte neue Debatten in Gang. Während der türkische Ministerpräsident Recep 6 7 8 9

N. Kelek, Die fremde Braut, 242. Vgl. a. a. O., 249. A. a. O., 256. Th. Sarrazin, Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen, erschienen am 30. August 2010 in München. 10 Die Rede des Bundespräsidenten kann im Internet unter www.bundespraesident.de nachgelesen werden.

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Zielsetzung

Tayyip Erdogan und muslimische Verbände das deutsche Staatsoberhaupt lobten11, waren die Meinungen in Kirchen und Parteien geteilt. Der EKD-Ratsvorsitzende, Präses Nikolaus Schneider, bezeichnete Wulffs Äußerungen als nüchterne, sachliche und gelassene Beschreibung der deutschen Wirklichkeit12. Kritischer äußerte sich hingegen Schneiders Vorgänger im Amt des Ratsvorsitzenden. So erklärte Bischof i.R. Wolfgang Huber gegenüber dem Deutschlandradio Kultur, man müsse mit den Muslimen in Deutschland offen darüber diskutieren, welche Gestalt ein Islam haben soll, der auf Dauer zu Deutschland gehören könnte. Toleranz gegenüber dem Islam höre auf, wenn wir blind gegenüber denen seien, die die Voraussetzungen der Toleranz aufheben, weil sie selber nicht die gleichen Rechte für Menschen anderer Überzeugungen anerkennen.13 Von regelrechter »Deutschenfeindlichkeit« bei jungen Muslimen an Berliner Schulen und gegenüber Polizisten ist darüber hinaus sogar in einem Bericht der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung, Maria Böhmer (CDU), die Rede14. Die Hitzigkeit, mit der diese Debatte im gesellschaftlichen Diskurs geführt wird, belegt die Aktualität und die Brisanz der Frage nach Toleranz im Zusammenleben verschiedener Kulturen und Religionen in Deutschland. Dabei bringt insbesondere die Überlegung, wie viel Toleranz im Konfliktfall richtig und angemessen ist, deutlich zum Vorschein, dass Toleranz durchaus umstritten sein kann. Weiterführend werden Probleme bezüglich des Verständnisses von Toleranz sichtbar, wenn es darum geht, welches tolerante Verhalten gefordert oder unter Umständen als falsche Toleranz abgelehnt wird. Die vorliegende Arbeit ist sich der Schwierigkeit einer abschließenden Klärung dessen, was Toleranz an sich ist und wie sie konkret praktiziert werden soll, bewusst. Ein solches Ziel wäre angesichts der herrschenden Uneinigkeit über den Toleranzbegriff – je nach Perspektive des Betrachters – sowie seiner Komplexität und Vielschichtigkeit wohl kaum zu realisieren. Fest steht aber, dass Toleranz einer der Grundpfeiler demokratischer Gesellschaften ist15. In einer pluralistisch gestalteten Demokratie gehört Pluralitäts- und Toleranzfähigkeit zu den wichtigsten Voraussetzungen für ein gelingendes gesellschaftliches Zusammenleben, das zunehmend auch in einem globalen Horizont gedacht werden muss. Weit über die Grenzen Deutschlands hinaus stellt das Zusammenleben 11 Vgl. »Erdogan lobt Bundespräsident Wulff für Darstellung der Realität«, erschienen in stern.de am 09. Oktober 2010. 12 Vgl. »Debatte nach Wulff-Rede. CSU-Politiker : Islam nicht Teil unserer Kultur«, erschienen in FAZ.net am 05. Oktober 2010. 13 Vgl. »Islamthese: Verwunderung über Wulff in der Union«, erschienen in: Der Tagesspiegel, 05. Oktober 2010. 14 Vgl. »Die mobbende Minderheit«, erschienen in: Passauer Neue Presse, 08. Oktober 2010. 15 Vgl. im Folgenden F. Schweitzer/Chr. Schwöbel, Vorwort, in: F. Schweitzer/Chr. Schwöbel (Hg.), Religion-Toleranz-Bildung, 5 ff.

Thematische Einführung und grundlegende Fragestellungen

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von Menschen mit unterschiedlichen kulturellen und religiösen Prägungen und Zugehörigkeiten eine große, mit Problemen behaftete Herausforderung dar, die spätestens immer dann konkret vor Augen tritt, wenn sich gewachsene Spannungen in Form von Gewalttätigkeit und Aggression entladen. Nicht zuletzt Konflikte, die aus religiösen Glaubensüberzeugungen erwachsen, fordern die in der europäischen Geschichte mühsam errungene Toleranz neu heraus. Dabei tritt gerade Religion in der öffentlichen Wahrnehmung häufig als eine Quelle von Intoleranz in Erscheinung. Als Reaktion darauf ergriffene Maßnahmen, insbesondere von politischer Seite, die zur äußeren Befriedung und Eindämmung von Gewalt dienen sollen, sowie von außen an die Religionen herangetragene, nachdrücklich geäußerte Forderungen nach mehr Toleranz, ungeachtet der jeweils eigenen Intentionen der Religionen, lassen »bestenfalls Widerstände gegen alle Toleranzforderungen«16 und eine Verstärkung entsprechender Aggressionen erwarten. Gleichzeitig wird hingegen die Möglichkeit, im Innern17 der Religion, also in den religiösen Traditionen selbst auf Begründungen und Motive für eine starke, tragfähige Toleranz zu stoßen, noch viel zu selten in Betracht gezogen. Unter eben diesem Gesichtspunkt eines positiven Zusammenhangs zwischen Religion und Toleranz möchte sich diese Untersuchung mit dem komplexen Thema der Toleranz auseinandersetzen und einen klärenden Beitrag zu einem besseren Verständnis von Toleranz leisten, indem aus evangelischer Perspektive nach einem möglichst gangbaren Weg zu mehr Toleranzfähigkeit in der Pluralität gesucht wird. Es stellt sich die Frage nach möglichen Handlungsstrategien, die sich aus den Wurzeln der Toleranz im Innern der Religion für die Praxis des Evangelischen Religionsunterrichts ergeben. Ein dezidiert protestantischer Standpunkt soll herausgearbeitet werden: Ganz am Anfang steht die Frage, wie gerade ein evangelischer Christ tolerant sein kann, ja sogar insofern sein muss, wenn er sich über das Zustandekommen seiner eigenen Glaubensgewissheit bewusst ist. Die Möglichkeit zur Entstehung eines solchen Bewusstseins ist innerhalb eines Raumes zur Identitätsbildung gegeben. Idealerweise ist der Evangelische Religionsunterricht ein solcher Raum zur Identitätsbildung und ein Ort, an dem sowohl von Lehrer- als auch von Schülerseite die konfessionelle Identität ausgedrückt werden darf und soll – schließlich heißt er »evangelisch«. In jüngster Zeit scheint das Modell des schulischen Religionsunterrichts jedoch immer häufiger mit kritischen Anfragen an seine Daseinsberechtigung konfrontiert zu sein, die auf die »Gegebenheit des religiösen und weltanschaulichen Pluralismus«, »den fortschreitenden Individualisierungsprozess im Bereich von Glaube und Religion« sowie auf »die zunehmende Entkirchlichung unserer Gesellschaft« verweisen, »wie sie sich 16 A. a. O., 6. 17 Vgl. dazu Chr. Schwöbel, Toleranz aus Glauben.

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Zielsetzung

etwa als ›Traditionsabbruch‹, Distanz zu kirchlicher Christlichkeit oder als kirchlich-konfessionelles Desinteresse äußert«18. Zwar konstatieren empirische Studien tatsächlich eine abnehmende Kirchlichkeit und ein Schwinden konfessioneller Bindungen19, jedoch zeigt sich ebenso klar, dass religiöse Interessen weiterhin bestehen und dass von einem Niedergang der Religion, etwa als Konsequenz der Moderne, nicht die Rede sein kann20. Es wird deutlich, dass nicht die Existenz des Religionsunterrichts an sich auf dem Spiel steht, sondern dass sich vielmehr eine Krise seiner konfessionellen Ausrichtung abzeichnet, die in Zeiten der gesellschaftlichen Pluralität und der verbreiteten Forderung nach Toleranz nicht mehr ohne Weiteres als plausibel gelten kann. Den Ergebnissen empirischer Untersuchungen zur Religiosität Jugendlicher, der religiösen Pluralität und mit ihr dem Phänomen der religiösen Individualisierung muss als sozio-kulturelle Voraussetzung in der religionspädagogischen Arbeit Rechnung getragen werden. Der Wandel seines »Klientels« bringt den Religionsunterricht in Entwicklungszwang. Somit kristallisiert sich als eine der wegweisenden Fragen für diese Untersuchung heraus, in welcher konkreten Form der Evangelische Religionsunterricht Veränderung und Weiterentwicklung erfahren sollte, um lebens- und gegenwartsrelevant, pluralitäts- und zukunftsfähig gestaltet werden zu können und um effektiv zu Toleranzfähigkeit in der Pluralität beizutragen. In der erwähnten kritischen Diskussion um die Legitimation des konfessionellen Religionsunterrichts werden mitunter religionskundliche Ansätze als die der Toleranz dienlicheren Modelle favorisiert. Da deren Konzeption bezüglich einer Toleranzerziehung bislang allerdings nicht analysiert ist, erscheint es vor diesem Hintergrund sinnvoll, auch alternative Modelle zum konfessionellen Religionsunterricht in die Untersuchung miteinzubeziehen. Die Frage nach ihrem jeweiligen Beitrag zur Ausbildung von Toleranzfähigkeit und danach, was der konfessionelle Religionsunterricht von den dargestellten Ansätzen gegebenenfalls lernen könnte, soll dabei leitend sein. Die Arbeit will also eine Brücke bauen: Sie will die wissenschaftliche Diskussion innerhalb der evangelischen systematischen Theologie und der Religionspädagogik über Toleranz mit der Praxis, also dem Schulalltag bzw. dem Religionsunterricht an der Schule verbinden. Da die Erziehungswissenschaft als eine wichtige Bezugsdisziplin der Religionspädagogik gilt, soll darüber hinaus die Rezeption des Toleranzbegriffs im erziehungswissenschaftlichen Diskurs betrachtet werden. Eine exemplarische Analyse zum Toleranzbegriff im badenwürttembergischen Bildungsplan sowie eine Umfrage zu Toleranz aus Sicht von Religionslehrkräften werden den Blick in die Praxis der Toleranzerziehung an 18 R. Lachmann, Gegenwärtige Entwicklungen und Perspektiven des Religionsunterrichts, 100. 19 Vgl. Deutsche Shell (Hg.), Jugend 2000 und Jugend 2010. 20 Vgl. 2.1 – 2.3.

Thematische Einführung und grundlegende Fragestellungen

19

der Schule vertiefen. Nach der Betrachtung alternativer Modelle zum konfessionellen Religionsunterricht und der kritischen Analyse ihres Anspruchs auf Toleranzerziehung wird nach den Organisationsformen und Zielsetzungen einer Erziehung zu Toleranzfähigkeit im Rahmen einer Weiterentwicklung des Evangelischen Religionsunterrichts gefragt. Da diese Thematik im wissenschaftlichen Diskurs bislang noch kaum Beachtung gefunden hat, verzichte ich an dieser Stelle auf eine ausführliche Darstellung zum Stand der Forschung. Hinzuweisen ist jedoch auf die Studie des bereits erwähnten norwegischen Religionspädagogen und Erziehungswissenschaftlers Geir Afdal, die im Folgenden knapp skizziert werden soll. Afdal befasst sich dabei mit der Frage, wie Toleranz speziell im erziehungswissenschaftlichen Kontext in Norwegen verstanden wird. Seine Studie folgt vier Arbeitsschritten. Nach einer ausführlichen Darlegung seiner Vorgehensweise21 wendet sich Afdal im zweiten Abschnitt einigen Überlegungen zu Theorie und Praxis des Bildungsplans sowie zur Komplexität des Toleranzkonzepts22 zu. Die hierbei gewonnenen Ergebnisse bilden die Grundlage für die Auswertungsarbeit des dritten Arbeitsschrittes und sind für die unmittelbar folgende Analyse des Toleranzverständnisses norwegischer Lehrkräfte äußerst ergiebig23. Daran schließt sich die Analyse von Toleranz im Bildungsplan sowie in der wissenschaftlichen Diskussion24 an. Im abschließenden vierten Teil der Studie wird nun eine vergleichende Gegenüberstellung dieser je verschiedenen Konzeptionen von Toleranz auf Lehrer-, Bildungsplan- und akademischer Ebene in Norwegen durchgeführt, gefolgt von Überlegungen zu der Frage, wie die Zusammenarbeit der genannten Bereiche im Hinblick auf ihr jeweiliges Toleranzverständnis intensiviert werden könnte25. Der Zweck seiner über einen Zeitraum von zehn Jahren hinweg durchgeführten Untersuchung ist es, einen Beitrag zum Verständnis von Toleranz in der Theorie und Praxis des Bildungsplans für die Primär- und Sekundarstufe I (»compulsory school«) in Norwegen zu leisten26. Dabei ist die Frage ausschlaggebend, ob die verschiedenen bildungspolitischen Ebenen eine gemeinsame Auffassung von Toleranz teilen: Afdal spricht von den »three curricula domains – the perceived curricula of teachers (Ebene der Lehrkräfte), the formal curricula (Ebene des nationalen Bildungsplans) […] and the ideological curri-

21 22 23 24 25 26

G. Afdal, Tolerance and Curriculum, 13 – 49. A. a. O., 50 – 85 bzw. 86 – 133. A. a. O., 134 – 242. A. a. O., 243 – 278 bzw. 279 – 319. A. a. O., 320 – 331 bzw. 332 – 350. Vgl. a. a. O., 16.

20

Zielsetzung

cula in form of academic articles on tolerance (Ebene der wissenschaftlichen Diskussion)«27. Durch die Analyse verschiedener Konzepte von Toleranz aus Theorie und Praxis und deren Vergleich miteinander nähert sich Afdal der Antwort auf die Frage, wie Toleranz auf den oben genannten Ebenen des erziehungswissenschaftlichen Kontexts verstanden wird. Lehrerinterviews bieten hierzu einen Einblick in die Toleranzpraxis im Schulalltag. Eine Textanalyse des norwegischen Bildungsplans von 1997 für die Primär- und Sekundarstufe I gibt Aufschluss darüber, wie Toleranz an der Schwelle zwischen Theorie und Praxis aufgefasst wird, bevor schließlich das akademische Toleranzkonzept, das der bildungspolitischen und ethischen Debatte in Norwegen zugrunde liegt, herausgearbeitet wird. Das Ergebnis seiner Auswertungsarbeit macht deutlich, dass in der Tat eine große Diskrepanz bezüglich des Toleranzverständnisses in Theorie und Praxis des norwegischen Bildungssystems festzuhalten ist. Afdal konstatiert einen mangelhaften Praxisbezug auf Seiten sowohl des Bildungsplans als auch der wissenschaftlichen Diskussion und geht sogar so weit zu sagen, dass beim Austausch über Toleranz im norwegischen Bildungssystem oftmals nicht über dasselbe Phänomen gesprochen wird28. Die aus diesen Unterschieden resultierende Forderung Afdals nach mehr Zusammenarbeit und besserer Verständigung über die jeweilige Auffassung von Toleranz von der akademischen Diskussion über den Bildungsplan bis hin in den Schulalltag von Norwegen scheint also mehr als berechtigt zu sein. Afdals Studie zeichnet sich nicht allein durch die große Aktualität der Thematik aus, die weit über die Grenzen Norwegens hinaus reicht, sondern ebenso durch den bemerkenswerten Ansatz, verschiedene Auffassungen von Toleranz in Theorie und Praxis des norwegischen Bildungssystems zu analysieren und zu vergleichen. Auch wenn die Durchführung der verschiedenen Arbeitsschritte entgegengesetzt erfolgt, wird sich die vorliegende Untersuchung in dieser Hinsicht an Afdals Vorgehensweise anlehnen und verschiedene Toleranzrezeptionen in der Wissenschaft, im allgemeinen Bildungsplan und in der Praxis des Schulalltags in den Blick nehmen. Allerdings wird sich der Fokus im Unterschied zu Afdal verstärkt auf die religionspädagogischen Fragestellungen richten, die sich aus den verschiedenen Ansätzen und Blickwinkeln auf die Toleranzthematik ergeben. So wird durchweg nach den direkten Konsequenzen zu fragen sein, die sich aus den Ergebnissen der jeweiligen Arbeitsschritte für den Evangelischen Religionsunterricht ergeben. Als alternative Ansätze, um sich der Toleranzthematik in religionspädagogischer Hinsicht anzunähern, wären darüber hinaus umfassende Unterrichts27 A. a. O., 320 (Ergänzungen d. Vf.). 28 A. a. O., 323.

Thematische Einführung und grundlegende Fragestellungen

21

beobachtungen und -dokumentationen sowie gezielte Lehrbuchanalysen denkbar. Da jedoch insbesondere letzteres bereits ausgiebig durch den Religionswissenschaftler Udo Tworuschka29 unternommen wurde, folgt diese Arbeit schwerpunktmäßig ganz bewusst dem norwegischen Beispiel Afdals. Auf die profilierte Position aufbauend, welche speziell die evangelische systematische Theologie hinsichtlich der nur scheinbar »unmögliche(n) Tugend«30 der Toleranz einnimmt, sollen Handlungsstrategien und Möglichkeiten für die konkrete Praxisgestaltung des Evangelischen Religionsunterrichts betrachtet werden. Die Klärung der theologischen Sachverhalte ist deshalb von besonderer Wichtigkeit, da »das Erbe der Reformation«31 und somit die protestantische Lehre einen sehr vielversprechenden Ansatz- und Ausgangspunkt für eine Toleranz aus Glauben, also aus dem Innern der Religion heraus32, bietet. Eine derartige Toleranz zeichnet sich durch ihre theologische Fundierung und Verankerung aus und wird daher im Verlauf der Untersuchung als starke und reflektierte Toleranz zu charakterisieren sein. Im Gegensatz zu schwachen und abstrakten Formen von Toleranz, die aufgrund von Unkenntnis oder Desinteresse an Andersartigem sowie Unklarheiten bezüglich des eigenen Standpunktes mitunter beliebig und unreflektiert bleiben, scheint allein eine reflektierte Toleranz aus Glauben, die sich ihres eigenen Standpunktes bewusst ist, einen vielversprechenden Ausgangspunkt für dialogische Auseinandersetzungen mit anderen Positionen zu bieten. Dies kann und sollte sich speziell der Evangelische Religionsunterricht in der Praxis zu Nutzen machen, indem in ihm neben Raum zur Identitätsbildung auch genügend Raum für Begegnungen und Dialog mit Anhängern anderer Religionen und Weltanschauungen gegeben wird. Nur so kann unerwünschten gesellschaftlichen Entwicklungen wie etwa der Ausbreitung sowohl relativistischer als auch fundamentalistischer Strömungen – beides nicht zu unterschätzende Gefahrenquellen für ein gelingendes gesellschaftliches Zusammenleben in der Pluralität – vorgebeugt werden. Wie aus dem Titel »Evangelischer Religionsunterricht und reflektierte Toleranz: Aufgaben und Möglichkeiten religiöser Bildung im Pluralismus« hervorgeht, besteht das Anliegen dieser Untersuchung darin, das Potential eines Religionsunterrichts mit evangelisch-konfessioneller Ausrichtung hinsichtlich reflektierter33 Toleranzfähigkeit im Pluralismus34 zu prüfen. Hierzu möchte die

29 30 31 32 33 34

U. Tworuschka, Der Islam in den Schulbüchern der Bundesrepublik Deutschland. Chr. Schwöbel, Pluralismus und Toleranz aus der Sicht des Christentums, 25. E. Herms, Pluralismus aus Prinzip, 485. Vgl. Chr. Schwöbel, Toleranz aus Glauben. Vgl. zu dieser Terminologie 3.1.2.5. Alternativ könnte auch der Begriff der Pluralität verwendet werden, der zunächst die bloße Gegebenheit gesellschaftlicher, kultureller, religiöser oder weltanschaulicher Vielfalt be-

22

Zielsetzung

Arbeit aus evangelisch-systematischer Perspektive den Zusammenhang von Religion und Toleranz vor Augen führen und gleichzeitig auf die Dringlichkeit aufmerksam machen, eben diesen Zusammenhang als Thema von Bildung und Erziehung zu formulieren.35 Dabei stellt sich die Frage, welche Handlungsstrategien sich aus den Erkenntnissen der evangelischen systematischen Theologie hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen Glaube und Toleranz für die Praxis des Evangelischen Religionsunterrichts ergeben können. Die sich im Titel der vorliegenden Untersuchung widerspiegelnde Thematik des Verhältnisses von Religion, Toleranz und Bildung ist ohne Zweifel von größerer Aktualität denn je. Ein Bewusstsein über die Herausforderungen, die diese Thematik mit sich bringt, ist nicht zuletzt eine Voraussetzung dafür, eine tragfähige Grundlage für Freiheit, Frieden und Demokratie in unserer Gesellschaft zu bewahren.

1.2

Aufbau und Vorgehensweise

Nachdem der einleitende erste Abschnitt als Heranführung an den Gegenstand der Arbeit und als Darlegung der Vorgehensweise konzipiert ist, soll in einer Situationsanalyse im zweiten Kapitel die Entwicklung hin zu einer multireligiösen Gesellschaft nachgezeichnet und religiöse Pluralität als empirische Gegebenheit aufgezeigt werden. Dieser Arbeitsschritt wird deshalb unverzichtbar sein, um angesichts der darin beschriebenen soziologischen Veränderungen die wachsende Notwendigkeit von Toleranz für ein friedliches und gelingendes gesellschaftliches Zusammenleben vor Augen zu führen. Toleranz entwickelt sich jedoch nicht automatisch oder als Nebeneffekt sozusagen von selbst, sondern muss in Erziehung und Bildung, also in der Schule und insbesondere im Religionsunterricht gezielt gefördert werden. Da sich allerdings im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklungen auch die Schülerschaft, genauer gesagt die Religiosität der Schülerinnen und Schüler verändert und somit die Zielgruppe des Religionsunterrichts, setzt diese Tatsache den Religionsunterricht unter Entwicklungszwang: Neue gesellschaftliche Voraussetzungen und eine komplexe soziologische Ausgangssituation erfordern neue Arbeitsformen. Der Religionsunterricht muss sich weiterentwickeln, um an die lebensweltlichen Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler auch weiterhin anknüpfen zu können, um lebens- und gegenwartsrelevant, pluralitäts- und zukunftsfähig zu sein. Die zukunftsweisende Frage, auf die erst an späterer Stelle zurückzukommen sein wird, lautet dann, welche Art von Weiterentwicklung der konfessionelle Religionsunterricht schreibt. Pluralismus hingegen bezeichnet ein reflektiertes Verhältnis zu dieser Situation, vgl. 3.1.1. 35 Vgl. dazu auch F. Schweitzer/Chr. Schwöbel (Hg.), Religion-Toleranz-Bildung.

Aufbau und Vorgehensweise

23

erfahren muss, um einen wertvollen und wirksamen Beitrag zur Toleranzfähigkeit seiner Schülerinnen und Schüler leisten zu können. Zu diesem Zweck wird es notwendig sein, den soziologischen Veränderungen der Gesellschaft und somit auch der veränderten Religiosität der Schülerinnen und Schüler Rechnung zu tragen und für neue Formen offen zu sein. Somit ergibt sich zunächst als Leitfrage für Kapitel 2: Welche neuen Herausforderungen für den Evangelischen Religionsunterricht werden mit Blick auf die soziologischen Entwicklungen hin zu einer multireligiösen Gesellschaft insbesondere hinsichtlich einer Toleranzerziehung erkennbar? Als nächster Arbeitsschritt werden sich die Kapitel 3 bis 5 mit der Analyse verschiedener Rezeptionen des Toleranzbegriffes in der wissenschaftlichen Diskussion, im Bildungsplan und aus Lehrersicht befassen. Das Ziel dieses Arbeitsschrittes ist die Klärung des Toleranzverständnisses. Die Leitfrage lautet daher : Was ist Toleranz? Genauer : Wie wird Toleranz (a) in der Religionspädagogik sowie (b) in der evangelischen systematischen Theologie und der Erziehungswissenschaft (als Bezugsdisziplinen der Religionspädagogik) und darüber hinaus (c) im baden-württembergischen Bildungsplan und (d) aus Sicht der Lehrkräfte verstanden und aufgenommen? Daran schließt sich das sechste Kapitel an, in dem exemplarisch drei alternative Modelle zum konfessionellen Religionsunterricht, die aufgrund ihrer jeweiligen Konzeption mitunter als effektiver für Toleranz zu gelten scheinen, hinsichtlich ihres Beitrags zur Ausbildung von Toleranzfähigkeit untersucht und analysiert werden: LER (»Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde«) in Brandenburg, das Hamburger Modell (»Religionsunterricht für alle«) sowie religionspädagogische Ansätze aus England und Wales. Anhand der einflussreichen Vertreter Robert Jackson und John Hull wird sowohl eine pluralitätstheoretische als auch eine säkularisierungstheoretische Begründung für den englischen »multi-faith approach« in den Blick genommen. Als Leitfrage für diesen Arbeitsschritt kann also formuliert werden: Was leisten die beschriebenen alternativen Modelle zum konfessionellen Religionsunterricht hinsichtlich der Toleranzerziehung? Daraus ergeben sich bereits die Folgefragen: Wäre es empfehlenswert, diese alternativen Modelle zu übernehmen? Falls dies nicht der Fall sein sollte, was könnte der Evangelische Religionsunterricht gegebenenfalls von den alternativen Modellen lernen?

24

Zielsetzung

Schließlich wird das siebte Kapitel die gewonnenen Erkenntnisse zusammenfassen, bevor das achte Kapitel den Gedankengang zu Ende führt und unter Berücksichtigung der Ergebnisse aus den vorangegangenen Arbeitsschritten versucht, eine mögliche Antwort auf die bereits im zweiten Kapitel der Arbeit angelegte Frage nach der konkreten Art und Weise der Weiterentwicklung des Evangelischen Religionsunterrichts zu finden: Welche neuen Formen sollte der Evangelische Religionsunterricht annehmen und wie muss er sich praktisch weiterentwickeln, um lebens- und gegenwartsrelevant, pluralitäts- und zukunftsfähig zu sein, um Orientierungshilfe in der Konfrontation mit dem Pluralismus religiöser und weltanschaulicher Strömungen bieten zu können und um einen Beitrag zur Toleranzfähigkeit seiner Schülerinnen und Schüler zu leisten?

II. Situationsanalyse

2. Der Evangelische Religionsunterricht inmitten einer multireligiösen Gesellschaft

2.1

Allgemeine Einführung

Bereits seit einiger Zeit ist der zunehmende Wandel von Gesellschaft und Kultur besonders auch in Europa hin zu einer multikulturellen und multireligiösen Lebenssituation angesichts eines sich zunehmend verstärkenden kulturellen, weltanschaulichen und religiösen Pluralismus36 ein nicht zu leugnendes Faktum. Die Auswirkungen der Globalisierung stellen sich spürbar und sichtbar in Form von pluralen Verhältnissen ein. Als »zeittypische Gesamterscheinung«37 beschreibt der Pluralismus eine gesellschaftliche Situation, in der unterschiedliche kulturelle Lebensformen, eine Vielfalt von weltanschaulichen Überzeugungen sowie unterschiedliche Religionen aufeinander treffen. Sowohl das Individuum als auch Gruppen innerhalb der Gesellschaft erkennen dabei, dass es neben der eigenen sinnstiftenden Welt- und Lebensdeutung auch andere alternative Deutungen gibt. Damit könnte alles, was ist, zugleich auch radikal anders sein. Diese Einsicht erzeugt eine Struktur der Differenz, die, so Nipkow, die »Kernstruktur«38 des Pluralismus ist. Differenz, Vielfalt und Unterschiedlichkeit erscheinen als Bereicherung einerseits und als Bedrohung andererseits. Als Bereicherung kann der Pluralismus dort erscheinen, wo er als Voraussetzung freiheitlich-demokratischer Gesellschaften erkannt und anerkannt wird. In solch einem Falle wird die multikulturelle und multireligiöse Situation als Voraussetzung für die gesellschaftliche Existenz bzw. Koexistenz der Religionen und Konfessionen sowie für eine wechselseitige Achtung und Toleranz aufgefasst.39 36 Zur möglichst präzisen begrifflichen und inhaltlichen Annäherung an diesen sowie an ähnlich komplexe Schlüsselbegriffe wird hier und im Folgenden (insbesondere auch unter 3.1) vermehrt auf betreffende Lexikonartikel als hilfreiche und ergiebige Quellen zur Begriffsklärung zurückzugreifen sein. 37 K.E. Nipkow, Art. Pluralismus III, 1405. 38 K.E. Nipkow, Bildung in einer pluralen Welt, 215. 39 Vgl. F. Schweitzer, Art. Pluralismus II, 1404.

28

Evangelischer Religionsunterricht inmitten einer multireligiösen Gesellschaft

Doch nicht zuletzt seit den schockierenden Geschehnissen des 11. September 2001 und den sich daran anschließenden weltweiten Entwicklungen wird gesellschaftliche Vielfalt, sei es kultureller oder religiöser Art, nicht unvoreingenommen begrüßt, sondern mit gemischten Gefühlen beäugt. Nur zu deutlich tritt in kleinem wie in großem Rahmen immer wieder das explosive Konfliktpotential ans Licht, welches ein Zusammenleben bzw. Koexistieren verschiedener Kulturen und Religionen unausweichlich mit sich zu bringen scheint. Als Bedrohung erscheint der Pluralismus also dort, wo er Verunsicherung und Orientierungslosigkeit verursacht oder fördert, indem das Vertraute durch das Fremde in Frage gestellt wird, und wo er Gleichheit, Solidarität und Gerechtigkeit innerhalb einer Gesellschaft zu stören und zu erschüttern scheint. Wird Differenz zunehmend als Bedrohung wahrgenommen, so können auch wechselseitige Achtung und Toleranz nicht länger als selbstverständlich angesehen werden. Der religiöse Pluralismus, der sich beispielsweise in der gegenwärtigen Vielfalt koexistierender Kirchen, Sekten, Konfessions- und Religionsgemeinschaften zeigt, kann begrifflich als die »Kopräsenz divergenter Glaubenssysteme, Weltbilder [und] Stile«40 gefasst werden. Damit Kopräsenz und Koexistenz divergenter Systeme nicht primär als Bedrohung wahrgenommen werden, muss das durch den Pluralismus entstandene und kontinuierlich sich erweiternde Netz »differenter Relationen«41 bewältigt werden, wobei der Pluralismus die Fähigkeit zur Kommunikation im Bezug auf diese Relationen voraussetzt. Kommunikation wiederum setzt sowohl Sprach-, Dialog- und Toleranzfähigkeit als auch den Willen und die Bereitschaft dazu voraus. Werte wie Frieden, Solidarität und im Besonderen auch Toleranz gewinnen aufgrund dessen heute zunehmend an Aufmerksamkeit. Als Voraussetzung für ein friedliches Leben und Zusammenleben in der Pluralität, in Deutschland ebenso wie in ganz Europa oder im globalen Zusammenhang, scheinen sie unentbehrlich und unbedingt erstrebenswert. Da die Aneignung von Toleranzfähigkeit jedoch nicht vorausgesetzt werden bzw. von selbst oder in irgendeinem Sinne automatisch von statten gehen kann, wird Toleranz mehr und mehr als ein zentrales Erziehungs- und Bildungsziel angesehen, das in der Schule vorbereitet und eingeübt werden muss. Zum angemessenen Umgang mit kultureller, religiöser und weltanschaulicher Pluralität soll aus nahe liegenden Gründen am ehesten im Rahmen des Unterrichts in religiöser Erziehung angeleitet werden, dem daher auch im Bereich der Politik verstärkt Beachtung geschenkt wird. Es ist der Religionsunterricht, der nach der Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) mit dem Titel Identität und Ver40 P. Haigis, Art. Pluralismus II, 1403. 41 Ebd.

Religiöse Pluralität

29

ständigung. Standort und Perspektiven des Religionsunterrichts in der Pluralität »unter den unterrichtlichen Voraussetzungen der Schule als ein Angebot an alle die Sprach-, Toleranz- und Dialogfähigkeit christlichen Glaubens in der Gesellschaft«42 erprobt. Er leistet damit einen entscheidenden Beitrag zu »Verständnis und Dialog«, die »für das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Religionszugehörigkeit in einer freiheitlichen Demokratie unerlässlich«43 sind. Durch seine neue Plausibilität kann es dem Religionsunterricht einerseits gelingen, einen Schritt aus der ihm zu Gunsten anderer (insbesondere naturwissenschaftlicher) Fächer häufig zugeschriebenen Marginalisierung heraus zu machen und seine Randposition durch einen neu erlangten Stellenwert wenigstens ansatzweise zu verlassen. Andererseits muss er sich jedoch zunehmend den praktischen Problemen und Herausforderungen stellen, die mit der gegenwärtigen Pluralisierung einhergehen – interreligiöses Lernen, Vertrautheit mit anderen Kulturen und Religionen sowie die Fähigkeit zu einer dialogischen Verständigung angesichts kultureller und religiöser Unterschiede gewinnen unaufhaltsam an Bedeutung. Im gegenwärtigen öffentlichen Diskurs wird daher auch eher selten die Frage gestellt, ob Religion an öffentlichen Schulen unterrichtet werden soll. Vielmehr wird zunehmend diskutiert, wie ein solcher Unterricht angesichts dieser neuen Herausforderungen zu gestalten sei.44 Im Folgenden sollen nun die religiöse Pluralität als empirische Gegebenheit in Deutschland, das Phänomen der individualisierten Religion und die spezielle Problematik des Evangelischen Religionsunterrichts inmitten dieser Situation beschrieben werden.

2.2

Religiöse Pluralität

2.2.1 Die Entwicklung hin zu einer multireligiösen Gesellschaft Vor noch nicht allzu langer Zeit schienen sich Sozialwissenschaftler und Theologen gleichermaßen darin einig zu sein, dass wir in einer Zeit der Säkularisierung leben.45 Dieser Überzeugung liegt die so genannte Säkularisierungstheorie zugrunde, deren Grundthese recht einfach erscheint: »Modernisierung bedeutet einen Rückgang der Religion, sowohl in der institutionellen Ordnung als auch im Bewusstsein der Einzelnen.«46 Die Religion befinde sich auf Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), Identität und Verständigung, 45. A. a. O., 43. Vgl. H.-G. Ziebertz, Interreligiöses Lernen und die Pluralität der Religionen, 126. Da dieser Abschnitt schwerpunktmäßig der religionspädagogischen Sicht auf die Thematik nachgeht, wird hauptsächlich religionspädagogische Literatur herangezogen. 46 P.L. Berger, Dialog zwischen religiösen Traditionen in einem Zeitalter der Relativität, 11.

42 43 44 45

30

Evangelischer Religionsunterricht inmitten einer multireligiösen Gesellschaft

dem Rückzug, da sie langsam aber stetig einem übermächtigen und umfassenden Säkularisierungsprozess weichen müsse.47 Religiöse Weltbilder, so wurde erwartet, würden in zunehmendem Maße von naturwissenschaftlichen und rationalen Sichtweisen abgelöst. Der Einfluss persönlicher religiöser Überzeugungen auf das Leben sollte gemäß derartigen Prophezeiungen lediglich noch ein minimaler sein. Doch während beispielsweise der Harvard Theologe Harvey Cox im Jahre 1965 noch seinen Bestseller »Stadt ohne Gott?«48 veröffentlichte, in dem er seine Erwartung einer Zukunft ohne Religion schildert, sah er sich 1984 aufgrund überraschender gesellschaftlicher Entwicklungen dazu veranlasst, in einer Art Fortsetzung seines ersten Buches die unerwartete Wiederkehr von Religion zu beschreiben. In »Religion in der Stadt ohne Gott«49 macht Cox nun »neue vitale Formen von Religion« zum Thema, »die erst nach den 60er Jahren aufgetreten sind, beispielsweise den Fundamentalismus auf der einen und die Befreiungstheologie auf der anderen Seite.«50 All jene Vorhersagen über das unmittelbar bevorstehende Ende der Religionen wurden somit als keineswegs empirisch entlarvt und stellten sich als unbegründete Spekulationen ohne wirklichen Anhaltspunkt heraus. Renommierte Wissenschaftler wie beispielsweise der Soziologe Peter L. Berger, der selbst der Säkularisierungstheorie anhing und sie weiter voran trieb, mussten eingestehen, einem Trugschluss unterlegen zu sein.51 Laut Berger wäre Nietzsche, der vor etwas mehr als hundert Jahren an der Schwelle zu einem, wie er dachte, atheistischen Zeitalter den Tod Gottes verkündete, enttäuscht, wenn er heute noch leben würde.52 Doch selbst wenn sich die geschilderten Erwartungen der Säkularisierungstheorie bezüglich des Niedergangs der Religion nicht bewahrheiteten, so kann dennoch ein nachhaltiger Wandel der Dinge nicht bestritten werden. In der Tat, so Berger, habe die Modernität die gesellschaftliche und psychologische Umwelt von Religion verändert. Aber diese Veränderung bedeute nicht unweigerlich eine Säkularisierung. Zwar sehen sich die traditionellen Kirchen in der westlichen Welt zunehmend mit dem Problem eines erheblichen Mitgliederschwunds sowie mit dem Verlust des von der Soziologie so genannten Monopols auf Religion in der Gesellschaft konfrontiert: »Während noch vor dreißig oder vierzig Jahren

47 48 49 50 51 52

Auch wenn es sich bei dieser Veröffentlichung Bergers im Vergleich etwa zu Der Zwang zur Häresie oder Lob des Zweifels lediglich um eine Preisrede handelt, ist es der Versuch des Autors, sich aufgrund seiner Erfahrungen darin zusammenfassend mit der Thematik auseinanderzusetzen. So wird im weiteren Verlauf vermehrt Bezug auf diesen Beitrag genommen, da Berger sich in eben diesem Text auf die für die vorliegende Untersuchung relevanten Fragen bezieht. Vgl. F. Schweitzer, Postmoderner Lebenszyklus und Religion, 22 ff. Vgl. H. Cox, Stadt ohne Gott? Vgl. ders., Religion in the Secular City. F. Schweitzer, Postmoderner Lebenszyklus und Religion, 23. Vgl. P.L. Berger, Dialog zwischen religiösen Traditionen in einem Zeitalter der Relativität, 11. Vgl. a. a. O., 13.

Religiöse Pluralität

31

zumindest für die Mehrheit der Menschen in Deutschland feststand, dass religiös sein bedeute, Mitglied einer der großen Kirchen zu sein, so hat sich die Situation in dieser Hinsicht nachhaltig verändert.«53 Doch während einerseits von einer wachsenden Zahl so genannter konfessionsloser Menschen, die sich keiner Konfession oder Religionsgemeinschaft zugehörig fühlen, die Rede ist, kann andererseits ein deutlich wachsender Einfluss kleinerer christlicher Kirchen und Gruppen sowie nicht-christlicher Religionen festgestellt werden, was nicht zuletzt auf ihre wachsende zahlenmäßige Präsenz in vielen westlichen Ländern zurückzuführen ist. Von einem weltweiten »Aufflammen religiöser Leidenschaft«54 spricht Berger, die zum Teil mit weitreichenden kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Konsequenzen einhergehe. Berger zufolge führt Modernität nicht automatisch zu einer Säkularisierung der Gesellschaft. Was sie jedoch unweigerlich mit sich zu bringen scheint, ist Pluralität. Pluralität tritt als das entscheidende Kennzeichen der gegenwärtigen Welt in Erscheinung, betrifft sämtliche Bereiche des Lebens und bezieht Religion und Religiosität mit ein. In Anlehnung an Berger sprechen Ziebertz, Kalbheim und Riegel in Bezug auf die christliche Religion von der Funktion eines »alles überwölbenden Baldachins«55, welche ihr jedoch »in der funktional ausdifferenzierten modernen Gesellschaft«56 bereits mehr und mehr abhanden gekommen sei. Folgt man dem französischen Philosophen Lyotard57, einem prominenten Vertreter der Postmoderne, so sei davon auszugehen, dass uniformierende Ideologien in der Postmoderne nicht überleben können. Einheit sei demzufolge ein Zeichen der Vergangenheit.58 Die Schwächung Einheit stiftender Systeme hingegen erscheint vor dem Hintergrund postmoderner Theorien also als ein Merkmal unserer Zeit. Ein solches Einheit stiftendes System in der Gesellschaft der Bundesrepublik stellte der Konsens über die tragenden Wertorientierungen der Gesellschaft dar, der in einer weitgehend impliziten Anerkennung gemeinsamer Grundwerte bestand. Gestützt wurde dieser Konsens durch die Voraussetzung eines gemeinsamen, sowohl von den Traditionen der Aufklärung als auch des Christentums geprägten Menschenbildes. Doch an die Stelle einer einheitlichen religiösen und weltanschaulichen Wertgrundlage, die in einem einheitlichen Wirklichkeitsverständnis verankert ist, tritt mit dem religiösen und weltanschaulichen Pluralismus die Vielfalt der Wertorientierungen, die jeweils von unterschiedlichen Wirklichkeitsverständnissen gestützt werden. »In den euro53 54 55 56 57 58

F. Schweitzer, Postmoderner Lebenszyklus und Religion, 23. P.L. Berger, Dialog zwischen religiösen Traditionen in einem Zeitalter der Relativität, 13. H.-G. Ziebertz/B. Kalbheim/U. Riegel, Religiöse Signaturen heute, 29. Ebd. J.-F. Lyotard, The postmodern condition. Vgl. a. a. O., 31 ff.; F. Schweitzer, Postmoderner Lebenszyklus und Religion, 11.

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Evangelischer Religionsunterricht inmitten einer multireligiösen Gesellschaft

päischen Gesellschaften bedeutet das, dass das Christentum die Situation der Gesellschaft nicht mehr monokulturell bestimmt, sondern sich im Konzert unterschiedlicher Basisorientierungen artikulieren muss.«59 Abgesehen also von dem für unseren Kulturkreis in vielerlei Hinsicht prägend gewordenen volkskirchlichen Christentum in der Fülle seiner unterschiedlichen Ausprägungen, sieht sich der bzw. die Einzelne in Anbetracht der pluralen Verhältnisse in Deutschland sowie in den meisten anderen Ländern West- und Mitteleuropas zunehmend mit einem breiten Spektrum an religiösen und weltanschaulichen Positionen konfrontiert. Berger zufolge bedeutet Pluralisierung allerdings zugleich auch Relativierung. Jede Art von religiöser Tradition werde vor eine große Herausforderung gestellt, die sich jedoch von der Herausforderung der Säkularisierung unterscheide. Alle grundlegenden Mechanismen der Modernisierung ließen eine Situation entstehen, in der die meisten Menschen ständig Weltanschauungen, Wertesystemen und Lebensweisen begegneten, die sich von denjenigen unterscheiden, mit denen sie aufgewachsen sind. Da die Weltanschauung vorhergehender Generationen im Zuge einer umfassenden Relativierung für den Einzelnen nicht mehr selbstverständlich sei, müsse er sich zwischen verschiedenen Weltanschauungen, Wertesystemen und Lebensweisen, die in seinem Milieu angeboten werden, entscheiden.60 Neben dezidiert nicht-christlichen Religionen, insbesondere dem Buddhismus und dem Islam, begegnen verschiedene Formen »nicht oder ›alternativ‹ institutionalisierter Religiosität, angefangen von hochgradig individualisierten Formen einer offenen religiösen Praxis bis hin zu sektenartig straff organisierten Gruppierungen.«61 In seiner Aufzählung nennt Englert des Weiteren diverse Ideologien, die als umfassende Systeme der Daseinsdeutung religiöse Sinnkonzepte ersetzen könnten, sowie in Bezug auf Luckmann und Schilson unterschiedliche Spielarten »unsichtbarer« bzw. »säkularer« Religion. Gemeint seien damit »religiös aufgeladene«62 Lebensvollzüge, wie beispielsweise Familismus, Konsum, Popmusik, Sport und dergleichen.

2.2.2 Religiöse Pluralität als empirische Gegebenheit Religiöse Pluralität tritt in verschiedenen Erscheinungsformen als empirische Gegebenheit auf. So scheint es, als könne der Einzelne heute seine Religion bzw. »seine Weltanschauung beinahe genauso wählen […] wie die meisten anderen 59 Chr. Schwöbel, Pluralismus und Toleranz aus der Sicht des Christentums, 107. 60 Vgl. P.L. Berger, Dialog zwischen religiösen Traditionen in einem Zeitalter der Relativität, 13 – 15. 61 R. Englert, Dimensionen religiöser Pluralität, 17. 62 Ebd.

Religiöse Pluralität

33

Aspekte seiner privaten Existenz.«63 Die grundlegende Herausforderung besteht also darin, dass religiöse Überzeugung nun eine Entscheidung erfordert. Eine Vielfalt prinzipiell wählbarer Möglichkeiten steht dem Einzelnen offen, der sich somit seinem »Schicksal zur Wahl«64 hingeben, aus einem Spektrum religiöser Positionierungsmöglichkeiten auswählen, sich entscheiden und sich an einem bestimmten Ort religiös beheimaten kann. Religiöse Pluralität kann auf unterschiedlichen Ebenen lokalisiert werden. Englert unterscheidet zwischen positionellen und stilistischen Optionen sowie deren jeweiligen Varianten65. Zu den drei Grundformen positioneller Differenzen zählt er an erster Stelle, gemäß der Reihenfolge, in der sie in der Geschichte Europas ins breite Bewusstsein traten, die Pluralität innerhalb des Christentums. Die Trennung der Ost- und Westkirche im 11. Jahrhundert hatte eine zunehmende Differenzierung in eine Vielzahl christlicher Kirchen zur Folge. Durch das zentrale Ereignis der Reformation im 16. Jahrhundert, welches eine Fortsetzung des Differenzierungsprozesses sowohl im protestantischen als auch im katholischen Bereich mit sich brachte, kann die christliche Ökumene – heute zählt die Christenheit etwa 300 unterschiedliche Denominationen66 – selbst als ein Beispiel für den Umgang mit Pluralität betrachtet werden. So wurde religiöse Pluralität in Deutschland bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein hauptsächlich in Form von konfessionellen Differenzen wahrgenommen. Wohl kaum ein anderes Land sei, laut Ebertz, so stark geprägt durch die historisch-politisch vorgegebene Dominanz zweier, sich zumeist scharf voneinander abgrenzender Großkonfessionen, die zudem politische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Konfliktlinien ausbildeten, wie Deutschland.67 Neben derartigen konfessionellen Abgrenzungen, auf die auch in der Theologie und Glaubensvermittlung der verschiedenen christlichen Großkirchen Wert gelegt wurde, spielen jedoch auch intrakonfessionelle Differenzen eine wachsende Rolle. Sowenig wie katholische bzw. evangelische Christinnen und Christen einfach alle an das Gleiche glauben (»fides quae«), glauben sie einfach alle gleich (»fides qua«). Als »corpus permixtum« wird die Kirche in der EKD-Studie Christsein gestalten bezeichnet, das aus solchen besteht, »die gegenwärtig im Glauben stehen, solchen, die um ihn ringen, und anderen, denen er entglitten ist oder die ihn noch nie ergriffen haben, aus Menschen, die es im Glaubenswissen (notitia) nicht weit brachten, aber voll herzlicher Hingabe (fiducia) sind, und anderen, die sich den Sinn ihrer Taufe kaum je ernstlich zu Eigen gemacht haben.«68 Auch an den weltweit kulturell sehr 63 64 65 66 67 68

P.L. Berger, Der Zwang zur Häresie, 30. Ebd. Vgl. R. Englert, Dimensionen religiöser Pluralität, 19 ff. Vgl. H.-G. Ziebertz/B. Kalbheim/U. Riegel, Religiöse Signaturen heute, 33. Vgl. M.N. Ebertz, Kirche im Gegenwind, 11. EKD, Christsein gestalten, 44.

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unterschiedlichen Ausprägungen des römischen Katholizismus inklusive der bestehenden Differenzen zwischen Amtsträgern und Laien wird erkennbar, dass »auch konfessionelle Identität heute nicht mehr unter Umgehung der Pluralität gedacht werden kann.«69 Im Übrigen lassen sich konfessionsinterne Pluralitätskonflikte bis in die Bibel zurückverfolgen: Bereits die Auseinandersetzung zwischen Petrus und Paulus über die Zulässigkeit der Heidenmission endete mit einer Entscheidung »zugunsten der Pluralität.«70 Die Differenz zwischen Christentum und Atheismus, die Auseinandersetzungen also über die Frage nach der Existenz Gottes, führt Englert als zweite Grundform positioneller Differenzen an. Obwohl allerdings die Anzahl konfessionsloser Personen in Deutschland deutlich zunimmt, ist dennoch zumindest in den westlichen Bundesländern lediglich eine geringe Quote an überzeugten Atheisten zu verzeichnen.71 Deshalb scheint anstelle des dualistischen Schemas Christentum/Atheismus bzw. Glaube/Unglaube eine differenziertere Betrachtungsweise, wie Nipkow sie beispielsweise vorgeschlagen hat, eher angebracht zu sein. Von abgestuften Formen der Zustimmung oder des Einverständnisses in Bezug auf eine bestimmte Religion ausgehend spricht Nipkow von den Varianten des aktuell gegebenen Einverständnisses, »des einst vorhanden gewesenen und jetzt bewusst neu gesuchten […], des nie vorhanden gewesenen […] und des radikal verloren gegangenen Einverständnisses bis hin zur Situation völliger religiöser Indifferenz.«72 Die Differenz zwischen Christentum und nicht-christlichen Religionen stellt nach Englert schließlich die dritte Grundform positioneller Differenzen dar. Im ehemals homogen christlichen Deutschland sind die verschiedenen Weltreligionen heutzutage stärker präsent als je zuvor. Im Alltagsleben und im öffentlichen Bewusstsein besitzt der Islam das wohl größte Gewicht. Weitgehend als Religion einer Migrantenkultur spielt er in Gestalt von mehreren Millionen ihrem Glauben vielfach stark verpflichteten Mitbürgerinnen und Mitbürgern im sozialen Leben, sei es in Schule, Straßenbild oder Nachbarschaft, eine große Rolle. Abgesehen von der wahrgenommenen religiösen Andersartigkeit des Islam treten auch ethnische und soziale sowie politische und im Rechtsbewusstsein deutlich werdende Differenzen bei Begegnungen zwischen Christen und Muslimen in Erscheinung73. Zahlenmäßig zwar wesentlich kleiner, aber 69 70 71 72 73

H.-G. Ziebertz/B. Kalbheim/U. Riegel, Religiöse Signaturen heute, 33. Ebd. Vgl. M.N. Ebertz, Kirche im Gegenwind, 66. K.E. Nipkow, Bildung in einer pluralen Welt, 233. Hingewiesen sei an dieser Stelle beispielsweise auf das unlängst in Kraft getretene Gesetz zum Verbot der sogenannten »Zwangsehen«, von denen insbesondere junge Migrantinnen betroffen sind. Für das Erzwingen einer Heirat drohen in Deutschland künftig bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe.

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dennoch in der Öffentlichkeit ebenfalls gegenwärtig zeigt sich das Judentum, dessen Präsenz in Deutschland vor dem Hintergrund einer langen Geschichte des Antijudaismus an besonderer Bedeutung gewinnt. Nennenswert ist darüber hinaus außerdem der Buddhismus, der zunehmend »als ›Hintergrund‹ bestimmter Meditations- und Kontemplationsformen, als Kontext weisheitlicher Perspektiven und lebenspraktischer Maximen, […] aber auch als Kultreligion gesellschaftlicher Aufsteiger«74 erscheint. Zahlreiche Sekten und religiöse Sondergruppen treten schließlich neben die verschiedenen in Deutschland in nennenswertem Umfang präsenten Weltreligionen. Die neu erlangte geographische Nähe dieser genannten Religionen zueinander lässt sich nicht zuletzt auf die Auswirkungen der Globalisierung zurückführen. Abgesehen von wirtschaftlichen Prozessen mit hauptsächlich finanziellen und technologischen Implikationen bringt sie darüber hinaus »den Zusammenstoß der verschiedenen Kulturen und Religionen in der Welt«75 und somit weitere Ausprägungen religiöser Pluralität in Deutschland mit sich.

2.3

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2.3.1 Religiöse Individualisierung als Phänomen unserer Gesellschaft Neben oben genannten positionellen Differenzen sind nun jedoch auch die von Englert so genannten stilistischen Differenzen in den Blick zu nehmen, anhand welcher, allerdings äußerst holzschnittartig, drei verschiedene Religiositätsstile unterschieden werden können. Adjektive wie »regressiv« und »antimodernistisch« sollen dazu dienen, den charakteristischen Religiositätsstil des exklusiven Typus verbal einzufangen. Während er sich »ausschließlich auf eine ganz bestimmte, normativ für ihn verbindliche religiöse Tradition«76 bezieht, steht der säkulare Religiositätstypus stellvertretend für eine Art »Weltfrömmigkeit«77. »Weltliche« Dinge wie beispielsweise Konsum, Sport, Werbung, Popmusik und moderne Technologien treten hier zumindest teilweise an die Stelle dessen, was »klassische«78 Religionen im Leben eines Menschen zu leisten versuchen. Dem dritten von Englert genannten Typus, dem der individualisierten Religiosität, soll im Folgenden besondere Aufmerksamkeit zuteil werden.

74 75 76 77 78

R. Englert, Dimensionen religiöser Pluralität, 22. F. Schweitzer, Postmoderner Lebenszyklus und Religion, 26. R. Englert, Dimensionen religiöser Pluralität, 23. A. a. O., 27. A. a. O., 26.

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So scheint es, dass für die jüngere Generation die weltanschauliche Pluralität eine Selbstverständlichkeit darstellt. Jugendliche werden in die Normalität der Pluralität hineingeboren und erfahren, dass sich vorhandene Werte, Glaubensüberzeugungen und Lebensstile nicht mehr auf eine einzige Weltanschauung zurückführen lassen. Religiöse Einsicht oder Glaube können nicht mehr aus einer klar identifizierbaren Quelle geschöpft werden, innerhalb wie außerhalb der Kirche ist religiöse Pluralität vorherrschend.79 Das Finden eines Glaubens für sich selbst sowie die Gestaltung des eigenen Lebens überhaupt nimmt die Gestalt eines Projektes an und gilt mit Blick auf die Vielfalt neuer Chancen als signifikante Herausforderung der postmodernen Gesellschaft.80 Hinter allem steht dabei die Auffassung, dass jedem Einzelnen, unabhängig von Herkunft und jeweiligem sozialen Hintergrund, sowohl die Chance als auch das Recht und die Verantwortung zukommt, das eigene Leben selbst in die Hand zu nehmen und gemäß den individuellen Wünschen und Plänen zu gestalten. Auf dieses soziologische Konzept der Individualisierung deuten auch die Forschungsergebnisse mehrerer Untersuchungen in neuerer Zeit hin, die sich verstärkt mit dem Verständnis von Kindern und Jugendlichen und ihrer Sicht auf verschiedene Kulturen, Religionen und Konfessionen beschäftigt haben.81 So scheint es, dass sich diese Individualisierung auch in der Religiosität der deutschen Jugendlichen niederschlägt. Unter ihnen ist zumindest im westlichen Teil Deutschlands wider Erwarten82 keine Säkularisierung im Sinne eines Religionsverlusts, sondern vielmehr eine gewandelte, veränderte Rolle von Religion festzustellen. Der postmodernen Gesellschaft mit ihrer charakteristischen religiösen Pluralisierung und Privatisierung korrespondiert das Phänomen einer sich speziell unter Jugendlichen etablierenden religiösen Individualisierung, die als Signatur der Gegenwart wahrgenommen und gedeutet werden kann. Dazu gehört, dass an die Stelle von konfessioneller oder kirchlicher Bindung der individuelle Glaube tritt, wie dies u. a. durch die Ergebnisse der aktuellen Shell Jugendstudie belegt wird.83 Die persönliche Bedeutung von evangelisch und katholisch sowie allgemein von Konfessions- und zum Teil auch von Reli79 Vgl. F. Schweitzer, Postmoderner Lebenszyklus und Religion, 27. 80 Vgl. ebd.; H.-G. Ziebertz/B. Kalbheim/U. Riegel, Religiöse Signaturen heute, 24 ff. 81 Vgl. u. a. F. Schweitzer/J. Conrad, Globalisierung, Jugend und religiöse Sozialisation. Neue Herausforderungen für die Religionspädagogik? F. Schweitzer/A. Biesinger (Hg.), Gemeinsamkeiten stärken – Unterschieden gerecht werden. Erfahrungen und Perspektiven zum konfessionell-kooperativen Religionsunterricht; F. Schweitzer/R. Boschki, What children need: co-operative religious education in German schools: results from an empirical study ; A. Biesinger/F. Schweitzer (Hg.), Brauchen Kinder Religion? Neue Erkenntnisse – Praktische Perspektiven. 82 So z. B. D. Pollack, Säkularisierung – ein moderner Mythos? Studien zum religiösen Wandel in Deutschland. 83 Vgl. Deutsche Shell (Hg.), Jugend 2010, 204 ff.

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gionszugehörigkeit relativiert sich für die Jugendlichen dadurch, »dass sie konsequent zwischen dem individuellen Glauben – also auch ihrem eigenen Glauben – und der Kirche unterscheiden.«84 Eine deutliche Distanzierung zur Glaubenslehre der Institution Kirche ist erkennbar, und es wird betont, dass der eigene Glaube zwar durchaus vorhanden ist, aber keineswegs dem der Kirche entspricht.85 Die tiefe Überzeugung, dass es richtig ist, eigene religiöse Ansichten zu haben, ist vorherrschend. Auch wenn diese von denen der Kirche abweichen sollten, stellt dies für die Jugendlichen keinerlei Problem dar. Wie selbstverständlich nehmen sie für sich das uneingeschränkte Recht auf eine individuelle Meinung in religiösen Fragen sowie auf eine individuelle Glaubenswahl als ein faktisches in Anspruch, wobei jegliche Einmischung von außen pauschal als Verletzung der Religionsfreiheit abgelehnt wird.86 Der Einzelne trifft komplizierte und oftmals exzentrische Entscheidungen zwischen religiösen Angeboten, in dessen Folge es somit zu einer spezifischen Mischung unterschiedlicher Einstellungen kommt. Berger verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass die französische Soziologin Daniele Hervieu-L¦ger87 von »bricolage« spricht, um dieses Phänomen zu beschreiben – ein Bild, das an herumbastelnde Kinder erinnert, die verschiedene Legosteine zusammenbauen. In Anlehnung an Luckmann rede ihr amerikanischer Kollege Robert Wuthnow des Weiteren von »Patchwork-Religion«88. Zur Verfügung stehende verschiedene Wahlmöglichkeiten, auch hinsichtlich des Bereichs der Konfessions- bzw. Religionszugehörigkeit, werden als positiv empfunden und von den Jugendlichen begrüßt. Religiöse Orientierungen scheinen also immer weniger durch Kirchen oder religiöse Institutionen bzw. durch die Traditionen, für die diese Institutionen stehen, bestimmt zu sein. Als unausweichliche Konsequenz einer Situation, in der die Möglichkeit verschiedener religiöser Optionen von Kindheit an erfahren wird, zeigt sich Religion stattdessen als eine Frage der individuellen Wahl und des jeweiligen Geschmacks.89 Diese Wahlmöglichkeit stellt sich jedoch als äußerst abstrakt heraus, da ein Übertritt zu einer anderen Konfession oder Religion für die meisten Befragten offensichtlich theoretisch möglich wäre, praktisch allerdings außer Frage steht und keine Option für sie darstellt.90 Trotz 84 85 86 87 88

F. Schweitzer/A. Biesinger (Hg.), Dialogischer Religionsunterricht, 20. Vgl. ebd; F. Schweitzer, Religious individualization, 91. Vgl. a. a. O., 92. Vgl. D. Hervieu-L¦ger, Pilger und Konvertiten: Religion in Bewegung. Vgl. R. Wuthnow, America and the Challenges of Religious Diversity ; vgl. auch P.L. Berger, Dialog zwischen religiösen Traditionen in einem Zeitalter der Relativität, 21. 89 An dieser Stelle kann auf den so genannten »häretischen Imperativ« verwiesen werden, von dem der Soziologe Berger spricht, um die Situation einer erzwungenen religiösen Wahl für jeden Einzelnen in der Gesellschaft zu charakterisieren. Vgl. ebd.; vgl. auch P.L. Berger, Der Zwang zur Häresie. 90 Vgl. F. Schweitzer/A. Biesinger et al., Dialogischer Religionsunterricht, 21.

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der deutlichen Tendenzen zum eigenen, individuellen Glauben, der auf ganz persönlichen Schlussfolgerungen beruht, werden Aussagen über ein Gefühl der Bestärkung gemacht, welches auftritt, wenn man seinen Glauben mit Personen derselben bzw. ähnlicher Überzeugung teilen kann.91 Es scheint hier also ein Gemisch von Einstellungen vorzuliegen, das mit Fowlers Terminologie der »Stufen des Glaubens« wohl als eine Kombination aus der dritten (synthetischkonventioneller Glaube) und der vierten Stufe (individuierend-reflektierender Glaube), also etwa als konventioneller Individualismus beschrieben werden könnte92, für die Jugendlichen jedoch keinen Widerspruch in sich selbst darzustellen scheint. Betrachtet man das geschilderte Phänomen der religiösen Pluralisierung, so kann man sich nicht des Eindrucks erwehren, dass der Relativismus als theoretisches Rahmenmodell für die sich verbreitende religiöse Individualisierung fungiert und die theoretische Grundlage, auf der sie fußt, bildet. Für die Religionspädagogik besonders aufschlussreiche Ausführungen finden sich dazu bei Berger93. Im Folgenden werden die Grundzüge des Relativismus und des augenscheinlich in direktem Widerspruch dazu stehenden Fundamentalismus skizziert werden. Beide bieten ihren Anhängern ein gewisses Maß an Sicherheit, um der Notwendigkeit, Auswahlentscheidungen zu treffen, und somit den »unbehaglichen Seiten der Relativität«94 zu entgehen. Der Relativismus, so Berger, mache sich die Relativität zu eigen, indem die Notwendigkeit in gewisser Weise in eine Tugend umgewandelt wird. Die Grundannahme lautet hierbei, dass moralische und religiöse Wahrheit ohnehin unerreichbar ist und es damit aussichtslos und vermutlich wenig erstrebenswert erscheint, Zeit und Mühe auf diese Art von Wahrheitssuche zu verwenden. Trifft diese Annahme erst einmal auf Zustimmung, bietet sie ein Gefühl der Befreiung. Der Einzelne begreift sich selbst als freien Akteur und sieht die Welt gleichsam als ein großes Spielfeld, auf dem er frei handeln kann. Wie Berger betont, findet sich eine solche Weltanschauung tendenziell bei eher ungebildeten Menschen. Charakteristisch hierfür ist eine Grundhaltung, der zufolge man sich einzig seinen idiosynkratischen Werten verpflichtet fühlt, alle angeblichen Gewissheiten in Frage stellt und sich selbst als überaus tolerant erachtet. Schwierig wird es jedoch, wenn Leute mit diesem allumfassend toleranten Standpunkt auf Glaubensüberzeugungen und Verhaltensweisen treffen, die absolut nicht toleriert werden können. Die Krise des sogenannten Multikulturalismus in Europa, so Berger, sei ein einschlägiges Beispiel dafür. Er fährt fort, indem er betont, dass 91 Vgl. F. Schweitzer, Religious individualization, 92. 92 Vgl. ebd.; vgl. auch J.W. Fowler, Stufen des Glaubens, 167 ff. bzw. 192 ff. 93 Vgl. P.L. Berger, Dialog zwischen religiösen Traditionen in einem Zeitalter der Relativität, 31 ff. 94 A. a. O., 31.

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Relativismus allerdings auch auf intellektuell sehr anspruchsvolle Weise ausgedrückt werden kann und Marx, Nietzsche und Freud mit Recht als die Väter der bedeutendsten relativistischen Theorien des 20. Jahrhunderts betrachtet werden. Durch eine »Kunst des Misstrauens«, die damals als Weg zur Freiheit galt, wurden die verschiedenen Formen des Existentialismus nach dem Zweiten Weltkrieg gekennzeichnet. Und in jüngerer Zeit besagt die sogenannte postmoderne Theorie, dass die Suche nach Wahrheit müßig sei. Demnach gebe es keine objektiven Fakten, lediglich »Erzählungen«; keine verbindlichen moralischen Urteile, nur Ausdrücke von heimlichen Interessen, die aufgedeckt werden müssten. Jedoch teilen laut Berger alle Formen des Relativismus ein gemeinsames Problem: »Wie kann die eigene relativistische Theorie davon ausgenommen werden, selbst der Dekonstruktion anheim zu fallen, die jeder anderen Theorie auferlegt wird?«95 Die Antwort auf diese Frage liegt in, so Berger, »oftmals amüsanten Bemühungen, eine Art erkenntnistheoretische Elite zu finden, die gegen alle Widerlegungsversuche immun ist«96. Als das wohl interessanteste Beispiel für den religiösen Relativismus kann das umfassende Werk des britischen Theologen John Hick herangezogen werden, in welchem er eine »Kopernikanische Wende« in der Theologie fordert. Die meisten religiösen Traditionen sehen sich ihm zufolge auf einem Fels der absoluten Wahrheit und als alleinigen Ort, von dem aus die Begegnung mit der letztgültigen Realität möglich ist. Diese Vorstellung entspricht dem vor-kopernikanischen Weltbild mit der Erde als vermeintlichem Mittelpunkt der himmlischen Ordnung. Hick97 schlägt nun vor, jede Tradition mit einem Planeten zu vergleichen, der die Sonne der letztgültigen Realität umrundet. Kein Planet kann diese Wirklichkeit als Ganzes sehen, sondern immer nur Teile davon. Als Theologe muss man den Versuch unternehmen, sich immer näher an die Wahrheit heran zu tasten, indem die verschiedenen Teilperspektiven sorgfältig verglichen und zusammengefügt werden. Der Haken an dieser Metapher des religiösen Sonnensystems liegt darin, dass die Möglichkeit, die letztgültige Realität von manchen Planeten aus überhaupt nicht erkennen zu können – weil sie vielleicht in die andere Richtung schauen – komplett ausgeklammert wird. Es ist also mit anderen Worten auch denkbar, »dass manche Perspektiven nicht nur bruchstückhaft, sondern schlichtweg falsch sind.«98 Dieser Problematik ist sich Hick bewusst, liefert nach Bergers Ansicht jedoch eine nicht zufriedenstellende Antwort. Demzufolge müssen bestimmte Perspektiven als unzutreffend beurteilt werden, wenn sie zu moralisch inakzeptablem Verhalten führen. 95 96 97 98

P.L. Berger, Dialog zwischen religiösen Traditionen in einem Zeitalter der Relativität, 35. A. a. O., 35 f. Vgl. J. Hick (Hg.), Gott und seine vielen Namen. A. a. O., 39.

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Als das andere Extrem und sozusagen als den ungleichen Zwillingsbruder des Relativismus als Reaktion auf die Relativität führt Berger den Fundamentalismus99 an. Oftmals in abschätziger Weise gebraucht, könne man den Begriff des Fundamentalismus als Versuch definieren, eine absolut gewisse Weltanschauung entweder neu zu schaffen oder zu reparieren, so dass sie wieder selbstverständlich werden kann. Für gewöhnlich richtet sich die Aufmerksamkeit eher auf die zahlreichen religiösen Formen des Fundamentalismus als auf seine säkularen Ausprägungen100. Doch jede fundamentalistische Bewegung, ob nun religiös oder säkular, lockt ihre potentiellen Anhänger mit demselben Versprechen: »Schließ dich uns an, und du wirst die Gewissheit entdecken, die dir seither gefehlt hat.« In der Tat erfahre man nach der Aneignung des angeblich so sicheren Weltbildes eine Art Gewissheit, was dann wiederum ein bestimmtes Maß an innerer Ruhe bewirke. In gleicher Weise könnten sich säkulare und religiöse Fundamentalisten in zwei Richtungen orientieren. Zum einen könnten sie das Ziel verfolgen, ihr Weltbild einer ganzen Gesellschaft aufzuzwingen. Dies geschehe normalerweise durch den Einsatz von Gewalt und kann im Falle eines Erfolgs ausschließlich durch die Errichtung eines totalitären Regimes aufrecht erhalten werden101. Doch glücklicherweise ließen sich totalitäre Experimente unter modernen Bedingungen nur schwerlich aufrecht erhalten. Im Falle der zweiten Richtung, welche gemäß Berger zwar bescheidener ist, aber bessere Erfolgsaussichten erwarten lässt, soll eine Weltanschauung nicht einer ganzen Gesellschaft, sondern nur der Subkultur oder Sekte aufoktroyiert werden, die unter der Kontrolle der Fundamentalisten steht. Wie Berger feststellt, sind sich Fundamentalisten und Relativisten ähnlicher als sie denken. »Beide versuchen, der unbequemen Ungewissheit und der Last, Entscheidungen treffen zu müssen, zu entfliehen. Beide flüchten sozusagen vor der Moderne (wobei sich die Relativisten allerdings für ausgesprochen modern halten).«102 Und beide Standpunkte sollten, so fährt er fort, aus philosophischer und soziologischer Sicht abgelehnt werden. Aus philosophischer Sicht verkörperten beide die Ablehnung der Vernunft, denn das Streben nach Vernunft beinhalte sowohl die Möglichkeit von Wahrheit als auch die Berechtigung von Zweifel. Aus soziologischer Sicht gefährdeten beide die Stabilität der gesellschaftlichen Ordnung, da die Fundamentalisten entweder Gewaltherrschaft oder 99 Vgl. dazu auch das umfassende Forschungsprojekt zum Fundamentalismus aus Chicago: M.E. Marty/R.S. Appleby (Hg.), The Fundamentalism Project. 100 Als Beispiele für säkulare Ausprägungen führt Berger das Verhalten extremer Umweltaktivisten sowie Abtreibungsbefürworter bzw. –gegner in Amerika an, vgl. a. a. O., 41. 101 Als letztes offenkundig christliches Unterfangen dieser Art nennt Berger den Versuch der Nationalisten im Spanischen Bürgerkrieg, erneut eine »integral« katholische Gesellschaft durchzusetzen, vgl. a. a. O., 43. 102 A. a. O., 43.

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endlose Konflikte hervorriefen und die Relativisten den moralischen Konsens (Emile Durkheims »kollektives Gewissen«) unmöglich machten, ohne den eine Gesellschaft nicht bestehen kann. Die Ablehnung dieser beiden extremen Reaktionen führt für Berger nun unweigerlich zu der Suche eines Mittelweges, der im religiösen Bereich zum Dialog zwischen religiösen Traditionen oder, anders ausgedrückt, zur Auseinandersetzung mit verschiedenen religiösen Angeboten führt. Darauf wird an späterer Stelle103 detailliert einzugehen sein.

2.3.2 Religiöse Individualisierung und Toleranzfähigkeit Auf institutioneller Ebene bedeutet Pluralität, »dass verschiedene Überzeugungsgemeinschaften (sowohl religiöse als auch nicht-religiöse) Wege des Zusammenlebens finden müssen, wenn sie die Gesellschaft nicht in andauernde, möglicherweise sogar gewalttätige Konflikte stürzen wollen.«104 In Anbetracht dieser Tatsache, dass eine zunehmend multireligiöse Situation, wie sie auch in Deutschland vorzufinden ist, leicht zu religiösen Spannungen und Konflikten in unterschiedlichem Ausmaß führen kann, stellt sich nun die Frage, ob religiöse Individualisierung, wie sie zuvor als gegebener Ausgangspunkt beschrieben wurde, Vorurteile und Intoleranz verhindern bzw. ihnen entgegenwirken kann. In der Tat scheint religiöse Individualisierung auf den ersten Blick eine gute Voraussetzung für Toleranzfähigkeit darzustellen. Wenn jedem Einzelnen ausdrücklich das Recht auf einen individuellen Glauben zugestanden wird, scheint Intoleranz weit entfernt und Toleranz in greifbare Nähe gerückt zu sein. Zugegebenermaßen würde es sich bei einer solchen Toleranz nicht gerade um eine besonders gut informierte Position handeln, da sie auf keiner konkreten Auseinandersetzung mit den jeweils anderen Religionen – oder auch der eigenen – beruht. Dennoch scheinen einige Verallgemeinerungen, die eventuell zu Vorurteilen führen könnten, keineswegs akut zu sein. Im Gegensatz zu früheren Generationen bestehe beispielsweise kaum die Gefahr ernster interkonfessioneller Konflikte, da die befragten Jugendlichen »die beiden christlichen Konfessionen als ›ziemlich gleich‹ oder ›ähnlich‹ ansehen.«105 Die Grenze, ab der Unterschiede für sie wichtig werden, markiert jedoch vielfach der Islam. Hier gewinnen die Unterschiede für die Jugendlichen eine deutlich trennende Bedeutung, und ein Übertritt zum Islam erscheint ihnen vollkommen ausgeschlossen.106 Offenkundige Distanziertheit, die emotional fest 103 104 105 106

Vgl. 3.1.2.4. P.L. Berger, Dialog zwischen religiösen Traditionen in einem Zeitalter der Relativität, 15. F. Schweitzer/A. Biesinger et al., Dialogischer Religionsunterricht, 17. Vgl. F. Schweitzer, Religious individualization, 93 ff.

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verankert zu sein scheint, bringt häufig eine negative Sicht auf den Islam und auf Muslime im Allgemeinen zum Ausdruck. Die festgestellten scharfen Abgrenzungen gegenüber dem Islam lassen die tatsächliche Gefahr bestehender Vorurteile erkennbar werden. Darüber hinaus machen Zeichen klarer Uninformiertheit, wie beispielsweise der inkorrekte Gebrauch der Konzepte »Konfession« bzw. »Religion«, deutlich, dass keine reflektierten Urteile bezüglich anderer Religionen zu erwarten sind. Tatsächlich scheint sich hier ein möglicher Nährboden für religiöse Vorurteile aufzutun. Ohne eine tragfähigere Grundlage für Toleranz, die aus definierten Werten anstelle von bloßem Beharren auf dem abstrakten Recht der individuellen Religionsfreiheit besteht, bietet sich den Jugendlichen lediglich ein »dünnes« Motiv für gegenseitige Achtung und Toleranz.107 Schon die Shell-Studie 2000108 wies auf neue Grenzen zwischen muslimischen und christlichen Jugendlichen hin. So kamen grundlegend verschiedene Einstellungen und Lebensstile, jeweils mitgeprägt durch die religiöse Herkunft, zum Vorschein. An derartigen Unterschieden, die zur Bildung von Stereotypen führen können, kann die Notwendigkeit einer Toleranzerziehung abgelesen werden. Dies wird umso deutlicher, wenn man darüber hinaus die Ergebnisse der aktuellen Shell Jugendstudie hinzuzieht. Unter der Überschrift »Weniger Toleranz?« wird die »deutliche Abnahme der Bereitschaft Jugendlicher, ›Meinungen zu tolerieren, denen man eigentlich nicht zustimmen kann‹«109, geschildert. Zur Erklärung dieses Phänomens erfolgt die Vermutung, dass sich hinter der zunehmend mäßigen Bewertung der Toleranz in der Jugend eine »kulturelle Abwehrhaltung«110 verbergen könnte, mit anderen Worten ein indirektes Gefühl einer von Überfremdung bedrohten kulturellen Identität. Dies wiederum legt einen direkten Zusammenhang zu den Ergebnissen einer Studie im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung nahe, die 2010 einen Anstieg von rechtsextremen und dezidiert islamfeindlichen Einstellungen feststellen musste111. Um derartigen Entwicklungen entgegenzuwirken, empfiehlt die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung unter anderem, den Weg der Bildung einzuschlagen. Da insbesondere Ziebertz und Ritzer auf den »engen Zusammenhang« aufmerksam machen, in dem Ausländerfeindlichkeit demnach mit religiöser To-

107 108 109 110 111

Vgl. a. a. O., 95. Vgl. Deutsche Shell (Hg.), Jugend 2000. Deutsche Shell (Hg.), Jugend 2010, 202 f. A. a. O., 202. Vgl. Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.), Die Mitte in der Krise. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland.

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leranz steht112, muss dieser Weg eine Erziehung zu mehr Toleranzfähigkeit, gerade auch in interreligiöser Hinsicht, zweifelsohne mit einschließen.

2.4

Der Evangelische Religionsunterricht in der kritischen Diskussion

Die beschriebene religiöse Pluralität und mit ihr das Phänomen der religiösen Individualisierung stellen sozio-kulturelle Voraussetzungen dar, denen religionspädagogische Arbeit Rechnung tragen muss. Es steht außer Frage, dass der Evangelische Religionsunterricht die vorfindlichen Veränderungen der Gegenwart wahrnehmen und in angemessener Weise auf die neuen Herausforderungen reagieren muss. Die Frage ist nun, wie und in welcher Weise die Religionspädagogik pluralitätsfähig werden kann. In der folgenden Problemanzeige soll auf Anfragen an den Evangelischen Religionsunterricht hingewiesen werden, denen er sich in Anbetracht der Veränderungen in der Gesellschaft stellen muss. Zunächst soll jedoch zum besseren Verständnis ein knapper Überblick über die historische Entwicklung des Evangelischen Religionsunterrichts gegeben werden.

2.4.1 Historische Perspektive Der Religionsunterricht kann als geschichtlich gewachsene Größe bezeichnet werden und auf eine weit reichende Vorgeschichte zurückblicken. Bereits im Alten und im Neuen Testament tritt ein deutliches Interesse an Unterweisung im Glauben in Erscheinung. Hingewiesen sei an dieser Stelle besonders auf Dtn 6,20 ff. als eine klassische Situation der Unterweisung sowie auf die in 1Kor 12,10 und Eph 4,11 ff. zum Ausdruck kommende neutestamentliche Bedeutung von Lehre und Unterweisung, deren Ziel in der Mündigkeit, Urteilsfähigkeit und Standhaftigkeit im Glauben zu verorten ist. In der Alten Kirche sind sodann Bemühungen um katechetischen Unterricht festzustellen.113 So markiert im dritten und vierten Jahrhundert das vor der Etablierung der Kindertaufe übliche Katechumenat, also die Einführung der Taufbewerber in den christlichen Glauben, als Unterweisung in der Gemeinde deutlich den Beginn des kirchlichen Unterrichts. Ab dem vierten Jahrhundert wurde den so genannten Klosterschulen als Orten der religiösen Bildung wachsende Bedeutung zuteil, welche sie 112 Vgl. G. Ritzer, Interesse-Wissen-Toleranz-Sinn. Ausgewählte Kompetenzbereiche und deren Vermittlung im Religionsunterricht, 315; H.-G. Ziebertz, Religion im Plural, 409. 113 Vgl. E. Paul, Geschichte der christlichen Erziehung.

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gänzlich bis zur Reformation beibehielten. In den Zeiten der Reformation und der mit ihr einhergehenden Bildungsbewegung nahm auch die Geschichte des Religionsunterrichts als Schulfach ihren Anfang. Da Luther der festen Überzeugung war, eine Reform der Kirche brauche urteilsfähige Menschen und somit zusätzlich eine Bildungsreform114, legte er großen Wert auf den Ausbau des Schulwesens. Nachdrücklich bringt er in einigen Schriften115 sein Anliegen zum Ausdruck, die Heilige Schrift als höchste Lektion in den hohen und niederen Schulen zu lehren und sowohl Jungen als auch Mädchen (!) mit dem Evangelium vertraut zu machen.116 So wurde das Lesen fortan nicht nur anhand profaner Texte geübt, sondern u. a. am Vaterunser und dem Glaubensbekenntnis. Doch Religionsunterricht konnte kein rein evangelisches Anliegen sein. Im Zuge der Gegenreformation im 16./17. Jahrhundert erkannte die katholische Kirche, dass religiöse Unterweisung nicht zuletzt als Mittel zur Bindung an den katholischen Glauben zu begrüßen war. Einen Meilenstein der Bildungsgeschichte stellte die Einführung der Schulpflicht in Preußen im 18. Jahrhundert dar, die jedoch erst Ende des 19. Jahrhunderts flächendeckend zur Durchsetzung kam. Jeglicher Unterricht war kirchlicher Unterricht und diente kirchlichen Zwecken. Dies führte allerdings unweigerlich zu Problemen, als 1918/19 mit der Errichtung der Weimarer Republik die Trennung von Staat und Kirche vollzogen wurde. Der Versuch, schulischen Religionsunterricht abzuschaffen, scheiterte am Widerstand der Kirche und der Eltern. Als Kompromiss wurde die Unabhängigkeit der staatlichen Schulen von den Kirchen beschlossen, gleichzeitig allerdings die Mitwirkung der Religionsgemeinschaften garantiert. So wurde der Religionsunterricht gemäß Art. 149 der Weimarer Reichsverfassung ordentliches Lehrfach, das in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der betreffenden Religionsgemeinschaften zu erteilen war, jedoch von nun an unter die staatliche Schulaufsicht fiel. Nachdem die Kirchen als Reaktion auf die starken Behinderungen des Religionsunterrichts während des Nationalsozialismus alternative Angebote wie beispielsweise die sogenannte Christenlehre innerhalb der Gemeinden durchgeführt hatten, erhielt der Religionsunterricht nach dem Zweiten Weltkrieg mit Art. 7 Abs. 3 des Bonner Grundgesetzes erneut eine starke Stellung als ordentliches Lehrfach. Er ist somit der staatlichen Schulaufsicht unterstellt und wird im Einvernehmen mit den betreffenden Religionsgemeinschaften erteilt. Während also im Westen alle Schulen an die christlichen Kulturwerte gebunden waren und

114 Vgl. F. Schweitzer, Religionspädagogik, 26 ff. 115 So z. B. in der Adelsschrift von 1520, in der Ratsherrenschrift von 1524 und in der Schulpredigt von 1530; vgl. dazu K.E. Nipkow/F. Schweitzer (Hg.), Religionspädagogik. Texte zur evangelischen Erziehungs- und Bildungsverantwortung seit der Reformation. 116 Vgl. F. Schweitzer, Religionspädagogik, 28.

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es bis heute sind, wurde der schulische Religionsunterricht in Ostdeutschland erst ab 1990 wieder eingeführt.117

2.4.2 Die kritische Diskussion der Gegenwart Jahrhundertelang hatten religiöse Erziehungs- und Bildungsprozesse also ein durch und durch christliches, seit der Reformation und der Gegenreformation sogar ein dezidiert konfessionelles Gesicht. Es ist nun zu prüfen, ob die veränderten gesellschaftlichen und christentumsgeschichtlichen Bedingungen der Gegenwart ein kreatives Fortführen dieser Tradition zulassen oder ihre allmähliche Überwindung »um überkonfessioneller und interreligiöser Verständigungserfordernisse willen«118 erforderlich machen. Nachdem der Glaube Mitte des 20. Jahrhunderts zunächst vom Ausgangspunkt zum Zielpunkt religionspädagogischer Arbeit wurde, diese Perspektive jedoch aufgrund der zunehmenden religiösen Desozialisation der Schülerschaft ebenfalls immer fraglicher wurde, stellt sich heute speziell im Blick auf den Religionsunterricht die Frage, welchen Sinn konfessionsgebundene Formen öffentlichen Lernens unter den veränderten Voraussetzungen noch haben können und an welchen Zielperspektiven sie sich orientieren lassen. Um dieses Problem in einem ersten Versuch zu entschärfen, reagierte die Religionspädagogik zwar mit dem Anlegen religiöser Lernprozesse in stärker problematisierender und weniger voraussetzungsreicher Art und Weise.119 Dies soll den Religionsunterricht auch für diejenigen öffnen, die sich die christliche Weltsicht nicht zu eigen machen können. Außerdem findet eine Entlastung des Religionsunterrichts als einer Form öffentlichen Lernens mit entsprechend heterogener Teilnehmerschaft von katechetischen und kirchlichen Aufgaben statt, Familie und Gemeinde dagegen werden als religiöse Lernorte aufgewertet. Weiter liegt ein Schwerpunkt des Religionsunterrichts nun weniger darin, eine bestimmte Botschaft zu vermitteln, als vielmehr darin, »die Suchprozesse der Schüler und Schülerinnen im Raum religiöser Pluralität hilfreich zu begleiten.«120 Doch diese Umakzentuierung der in christlich-kirchlicher Verantwortung geleisteten religiösen Erziehungs- und Bildungsarbeit führt zu noch keiner hinreichenden Bewältigung der sich stellenden Herausforderungen. Vor allem zur Frage der heute angemessensten Organisationsform des Religionsunterrichts finden seit Jahren kontroverse Diskussionen statt. Ist die 117 Eine Ausnahme bildet LER (Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde) in Brandenburg, dazu mehr unter 6.2. 118 R. Englert, Dimensionen religiöser Pluralität, 17. 119 Vgl. a. a. O., 33. 120 Ebd.

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Evangelischer Religionsunterricht inmitten einer multireligiösen Gesellschaft

konfessionelle Ausrichtung eines Religionsunterrichts noch zu legitimieren, wenn sich die konfessionelle Mehrheit einer Schulklasse mehr oder weniger dem Zufall verdankt? So stellt Leuenberger beispielsweise fest, dass die Kinder katholischer und evangelischer Herkunft miteinander in einer natürlichen Lernund Schicksalsgemeinschaft leben, bei welcher die Konfession in der Regel nicht die geringste wahrnehmbare Rolle mehr spiele – »abgesehen von dem Augenblick am Rande der normalen Unterrichtszeit, da man in die getrennt geführten Religionsstunden auseinandergeht.«121 Der konfessionelle Religionsunterricht, sei er katholisch oder evangelisch, muss sich also in Anbetracht der Tatsache, dass die Kinder nicht mehr in der Sprach- und Symbolwelt ihrer Konfession verwurzelt sind, die kritische Anfrage gefallen lassen, ob und inwiefern eine Organisationsform weiterhin ihre Berechtigung behält, die ein Auseinanderreißen der Kinder und eine zeitweise Trennung des Klassenverbandes mit sich bringt. Die Aufteilung in konfessionelle Gruppen scheint dem Auftrag der Schule zur Integration der Kinder nicht zu entsprechen. Ein weiterer zentraler Punkt, der auf die Problematik eines Evangelischen Religionsunterrichts hindeutet, betrifft die Ebenen und Wege des Dialogs. Adam weist darauf hin, dass sich heute nicht mehr die Frage stellt, ob wir uns den nichtchristlichen Religionen zuwenden wollen oder nicht. Hier gebe es keine Wahlmöglichkeit mehr, da diese Frage durch unsere gesellschaftliche Wirklichkeit bereits entschieden sei.122 Als alternative Position neben denen der Exklusivität und der Gleich-Wertigkeit der Religionen werden große Hoffnungen darauf gesetzt, dass Formen des Dialogs die Polarität zwischen Exklusivität und Indifferenz bzw. Relativismus aufzubrechen vermögen.123 Somit scheint die Anfrage, wie es sich mit der Dialogfähigkeit des Evangelischen Religionsunterrichts verhält, äußerst berechtigt und notwendig zu sein. Der konfessionelle Religionsunterricht steht im Verdacht, religiöse Pluralität aus einer monoreligiösen Perspektive heraus zu behandeln, d. h. abweichende Meinungen zwar anzusprechen, sie jedoch ausschließlich auf der Grundlage eigener Überzeugungen zu bewerten. So wird angemerkt, dass im konfessionellen Religionsunterricht nur über andere Religionen und Konfessionen gelernt werden kann, nicht mit ihnen.124 Damit schließt der konfessionelle Religionsunterricht zentrale Lernmöglichkeiten ökumenischen und interreligiösen Lernens aus. Doch gerade im Religionsunterricht sollten fruchtbare Begegnungen sowohl mit der eigenen als auch mit anderen Religionen und Kulturen ihren Platz finden. Gerade dort sollte Orientierungshilfe für das Leben im Pluralismus als Folge 121 122 123 124

R. Leuenberger, Glaubensfreiheit und religiöse Erziehung, 43. Vgl. G. Adam, Toleranz als Problem des Religionsunterrichts, 154. Vgl. H.-G. Ziebertz/B. Kalbheim/U. Riegel, Religiöse Signaturen heute, 93. Vgl. F. Schweitzer, Schule und Religionsunterricht, 164.

Der Evangelische Religionsunterricht in der kritischen Diskussion

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der Globalisierung erwartet werden können. Viele Jugendliche scheinen den Anforderungen, die eine plurale Lebenssituation an sie stellt, mental nicht gewachsen zu sein, da sie der – von Fowler so benannten – dritten Stufe des konventionellen Denkens125 noch zu sehr verhaftet sind. Osmer und Schweitzer126 zufolge resultiert daraus eine unreflektierte, zu Naivität neigende, ideologische Sichtweise der Globalisierung. Auf ähnliche Weise kann auch die religiös plurale Situation der Gegenwart nicht kritisch analysiert und die Problematik, die in einem für die religiöse Individualisierung charakteristischen Konsumdenken voller Wahlmöglichkeiten hinsichtlich der »Ware Religion« liegt, nur unzureichend erkannt werden.127 Somit besteht eine weitere gegenwartsbedingte Herausforderung für den Religionsunterricht darin, die Entwicklung der Schülerinnen und Schüler über den konventionellen Glauben der fowlerschen Stufe drei hinaus zu fördern. Ob er dies jedoch unter Beibehaltung der traditionellen Formen leisten kann, dürfte fraglich erscheinen. Gesellschaftlich wird der konfessionelle Religionsunterricht zunehmend hinterfragt. Zum einen lassen die gesellschaftlichen Veränderungen die Plausibilität eines konfessionell organisierten Religionsunterrichts immer stärker schwinden. Sowohl der hohe Anteil an konfessionslosen Schülerinnen und Schülern in Ostdeutschland als auch das abnehmende konfessionelle Bewusstsein unter den getauften Jugendlichen in Westdeutschland128 sprechen eher für ein überkonfessionelles weltanschauliches Bildungsangebot. Ferner stellt auch die zunehmende Bereitschaft, sich vom Religionsunterricht abzumelden129, das Konzept eines konfessionellen Religionsunterrichts in Frage. Auch die weltanschauliche Offenheit und Neutralität der Schule, welche in einem konfessionell verorteten Religionsunterricht nicht zum Tragen kommt, könnte darüber hinaus angemahnt werden. Die Problematik eines Evangelischen Religionsunterrichts angesichts der gesellschaftlichen Situation ist also deutlich erkennbar. Die in der durchgeführten Problemanzeige genannten Argumente treffen sich scheinbar in der Anfrage, inwieweit der konfessionelle Religionsunterricht den Anforderungen einer religiös pluralen Gesellschaft noch gerecht wird. Doch trotz aller Kontroversen, die er auslöst, und trotz aller Kritik, mit der sich der konfessionelle Religionsunterricht heutzutage konfrontiert sieht, dürfen Untersuchungen nicht außer Acht gelassen werden, denen zufolge der Religionsunterricht besonders in der Grundschule und in der Sekundarstufe II auf125 Vgl. J.W. Fowler, Stufen des Glaubens, 167 ff. 126 Vgl. R.R. Osmer/F. Schweitzer, Globalization, global reflexivity, and faith development theory, 151. 127 Vgl. F. Schweitzer, Religious individualization, 95. 128 Vgl. W. Fuchs-Heinritz, Religion, 161 f. 129 Vgl. F. Zimbrich, Sachstand »Ersatzfach Ethik«.

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Evangelischer Religionsunterricht inmitten einer multireligiösen Gesellschaft

grund der Betrachtung lebensrelevanter Themen mit einer durchaus hohen Zustimmung und Akzeptanz von Seiten der Schülerschaft rechnen kann.130 Somit scheint nicht die Existenz des Religionsunterrichts an sich auf dem Spiel zu stehen. Wie bereits erwähnt zeichnet sich vielmehr eine Krise seiner konfessionellen Ausrichtung ab, die in Zeiten der gesellschaftlichen Pluralität und der lauter werdenden Forderung nach Toleranz nicht mehr ohne Weiteres als plausibel gelten kann.

130 Vgl. P. Kliemann/H. Rupp (Hg.), 1000 Stunden Religion. Wie junge Erwachsene den Religionsunterricht erleben.

III. Analyse verschiedener Rezeptionen des Toleranzbegriffs in der wissenschaftlichen Diskussion, im Bildungsplan und aus Lehrersicht

3. Toleranz in der evangelischen systematischen Theologie, in der Religionspädagogik und in der Erziehungswissenschaft

Im Folgenden soll der Frage, wie Pluralität und Toleranz gerade aus evangelischer Sicht zu bewerten und zu deuten sind und zu welchem Umgang mit ihnen die reformatorische Theologie auffordert, nachgegangen werden. Es wird zu prüfen sein, inwiefern speziell die protestantische Perspektive zu fruchtbarer Handlungs- und Toleranzfähigkeit in unserer pluralistischen Gesellschaft beitragen und anleiten kann, möchte und muss. Die Begriffe »Pluralismus« und »Toleranz« sollen dabei zunächst einer begrifflichen Klärung unterzogen werden, bevor sich der Fokus auf das jeweilige evangelische Verständnis der Konzepte richten kann. Eine Analyse der Rezeptionen der Toleranzthematik in der Religionspädagogik sowie in der Erziehungswissenschaft wird sich daran anschließen.

3.1

Pluralismus und Toleranz in der evangelischen systematischen Theologie

3.1.1 Pluralismus Aus der vorangegangenen Situationsanalyse wird ersichtlich, dass zur Beschreibung der gegenwärtigen Gesellschaftslage unterschiedliche Begriffe – darunter Pluralität, Individualisierung, Postmoderne, Globalisierung etc. – herangezogen werden. Diese Bestimmungen schließen einander nicht aus, sondern hängen in komplexer Weise miteinander zusammen. Mit Blick auf den Titel dieser Untersuchung soll nun die Aufmerksamkeit auf die Frage des Pluralismus und der Pluralität gelenkt werden. In ihnen scheint eine besondere religionspädagogische Herausforderung zu liegen. Im Folgenden sollen zunächst die Bedeutung von »Pluralismus« und damit zusammenhängender Erscheinungen begrifflich geklärt und differenziert betrachtet werden. Dazu wird auch hier zur möglichst präzisen begrifflichen und

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Toleranz in der Syst. Theologie, Religionspädagogik und Erziehungswissenschaft

inhaltlichen Annäherung an diesen sowie an ähnlich komplexe Schlüsselbegriffe vermehrt auf betreffende Lexikonartikel als hilfreiche und ergiebige Quellen zur Begriffsklärung zurückzugreifen sein131, bevor der Frage nach der Deutung und dem Umgang mit der Pluralität aus spezifisch evangelischer Sicht nachgegangen werden kann.

3.1.1.1 Zum Begriff Im Zusammenhang mit dem Begriff des »Pluralismus« tritt häufig auch der Begriff der »Pluralität« in Erscheinung. Es sollte allerdings nicht fälschlicherweise angenommen werden, dass diese Begriffe einheitlich zu verwenden wären. Der Begriff der Pluralität meint verschiedenste Phänomene der Vielfalt und ist für ihre schlichte Deskription hinreichend. Er beschreibt die bloße Gegebenheit gesellschaftlicher, kultureller, religiöser oder weltanschaulicher Vielfalt. Pluralismus hingegen bezeichnet ein reflektiertes Verhältnis zu dieser Situation. Er ist »spezifischer als Begriff für das Programm der grundsätzlichen Anerkennung und Förderung dieser Vielfalt«132 zu bestimmen und als »sich selbst zum Programm gewordene Pluralität«133 zu verstehen. Durch den Begriff des Pluralismus wird Pluralität als »zeittypische Gesamterscheinung«134 beschrieben, und als umfassender Deutungsbegriff der Situation der Gegenwart erfährt er in den Diskussionen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts besondere Zuspitzung. Er thematisiert die Beziehung vieler verschiedener Bereiche, wie Gesellschaft, Kirche und Wissenschaft, in ihrem Verhältnis zueinander.135 Aufgrund des Fehlens eines übergeordneten Einheitsprinzips stellt sich dieses Verhältnis als nicht unproblematisch heraus. Die Beziehung vieler Elemente zueinander bedarf der Klärung und der Gestaltung. Sie darf in keiner Weise als gegeben angenommen werden, sondern muss vielmehr als Aufgabe der Interpretation und Organisation erscheinen. Doch da zur Erfüllung dieser Aufgabe nicht auf allseits akzeptierte und universal gültige Kriterien zurückgegriffen werden kann, liegt ein Merkmal der Situation des Pluralismus darin, dass die Vorschläge zur In131 Vgl. im Folgenden aber auch T. Rendtorff (Hg.), Glaube und Toleranz: Das theologische Erbe der Aufklärung; G. Ebeling, Die Toleranz Gottes und die Toleranz der Vernunft; Chr. Augustin (Hg.), Religiöser Pluralismus und Toleranz in Europa; E. Herms, Pluralismus aus Prinzip; Chr. Schwöbel, Christlicher Glaube im Pluralismus u. a. 132 P. Haigis, Art. Pluralismus II, 1402. 133 Chr. Schwöbel, Art. Pluralismus II, 724. 134 K.E. Nipkow, Art. Pluralismus III, 1405. 135 »In diesem Sinne kann u. a. von einem Pluralismus der Kulturen, einem Pluralismus der Religionen und Weltanschauungen, einem ethischen Pluralismus und einem MethodenPluralismus in den Wissenschaften gesprochen werden.« Chr. Schwöbel, Art. Pluralismus II, 724.

Pluralismus und Toleranz in der evangelischen systematischen Theologie

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terpretation und Gestaltung der pluralistischen Situation selbst einen pluralistischen Charakter annehmen. Die Entstehung der gegenwärtigen pluralistischen Situation kann auf das Zusammenwirken verschiedener Pluralisierungstendenzen im Laufe der Geschichte zurückgeführt werden. Als besonders signifikant treten für diesen Zusammenhang die Strömungen der Reformation und der Aufklärung hervor sowie der Wandel von Gesellschaft, Kirche und Wissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts tragen besonders äußere Faktoren, wie z. B. Migrationsbewegungen, zu einer kulturellen Pluralisierung der westeuropäischen Gesellschaft bei. Durch seine Verwendung als Leitbegriff zur Analyse und Deutung der Situation ersetzt der Begriff des Pluralismus in der Theologie der Gegenwart laut Schwöbel zunehmend den Begriff der »Säkularisierung«, der in der Mitte des 20. Jahrhunderts als Zentralbegriff theologischer Gegenwartsreflexion verwendet wurde. Bereits aus der vorangegangenen Situationsanalyse wird ersichtlich, dass die Auffassung eines heraufziehenden »religionslosen« Zeitalters zum Teil als empirisch widerlegt gelten kann. Zum anderen Teil ist »die Säkularisierungstendenz ein Teilaspekt der Situation des religiös-weltanschaulichen Pluralismus bzw. eine ihrer Voraussetzungen.«136 3.1.1.2 Das evangelische Verständnis des Pluralismus Unter Berücksichtigung der übergeordneten Themenstellung dieser Untersuchung, die speziell nach einem Zusammenhang zwischen dem Evangelischen Religionsunterricht und Toleranzfähigkeit im Pluralismus fragt, soll nun dieser nächste Arbeitsschritt durchgeführt werden, der sich mit dem evangelischen Verständnis des Pluralismus auseinandersetzt. Seinem Zweck werden systematisch-theologische Überlegungen dienlich sein, da die systematische Theologie als eine Bezugsdisziplin der Religionspädagogik gerade in Bezug auf Fragen des religiös-weltanschaulichen Pluralismus die Rolle eines wichtigen Gesprächspartners einnimmt. Den Ausgangspunkt des Versuches, die spezifisch evangelische Sichtweise auf das Phänomen des religiösen und weltanschaulichen Pluralismus zu beleuchten, bildet die Feststellung Schwöbels über den »inneren Zusammenhang zwischen Protestantismus und Pluralismus«137, den es transparent zu machen gilt. Zunächst ist aber festzustellen, dass dieser Zusammenhang nicht nur in der Erscheinung des Protestantismus, sondern auch in der Geschichte und im Wesen des gesamten Christentums aufgewiesen werden kann. Schon eine oberflächli136 Chr. Schwöbel, Art. Pluralismus II, 731. 137 Chr. Schwöbel, Pluralismus und Toleranz aus der Sicht des Christentums, 102.

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che Betrachtung lässt die pluralistische Verfassung des Christentums deutlich werden. Das Prinzip einer Spannung zwischen der »Einheit der Wahrheit« und der gleichzeitigen »Vielfalt ihrer Bezeugungen«138 kommt bereits bei einer Betrachtung der Ursprünge des Christentums zum Vorschein. So finden sich im Neuen Testament vier Evangelien, die das eine Heilsgeschehen in Jesus von Nazareth in jeweils eigenständiger Weise vor unterschiedlichen theologischen und kulturellen Hintergründen bezeugen. Außerhalb der Evangelien wird die christliche Gemeinschaft durch das Bild vom Leib Christi als Einheit in der Vielfalt treffend beschrieben, und auch das Pfingstgeschehen, bei welchem die eine Heilsbotschaft für Hörende unterschiedlichster Herkunft verständlich wird, ist ein Beispiel für Gemeinschaft bei aller Verschiedenheit. In dem gemeinsamen Bezug auf den einen Herrn wachsen auch judenchristliche und heidenchristliche Gemeinden zu einer Gemeinschaft zusammen. Diese Gemeinschaft schafft der eine Geist, aus dem sie leben, »indem er das Verschiedene in Beziehung setzt.«139 Davon abgesehen lässt auch das trinitarische Bekenntnis erkennen, dass für das Christentum das Modell der Vermittlung von Einheit und Vielfalt seit je her charakteristisch ist und sich Vielfalt nicht als grundsätzlich unvereinbar mit der Einheit erweist. Einen ganz entscheidenden Pluralisierungsschub erfuhr das Christentum und mit ihm das ganze Religionssystem durch die Reformation in Europa. Durch die reformatorische, in der Augsburgischen Konfession in Artikel VII formulierte Auffassung, dass Kirche überall dort sei, wo das Evangelium rein verkündigt und die Sakramente evangeliumsgemäß gereicht werden, entstand eine polyzentrisch verfasste Kirche ohne Beziehung zum römischen Organisationszentrum, die sich als Kommunikationsgemeinschaft des Evangeliums in Form von vielfältigen Glaubensgemeinschaften verstand. Einen wichtigen Beitrag zu dieser Art von Gemeinschaftsbildung leistete die Einsicht in den Grundsatz der reformatorischen Theologie, dass »persönliche Glaubensgewissheiten auch in ihrer Vielfalt gerade wegen ihrer Beziehung auf die gemeinsame, aber unverfügbare Wahrheit die Grundlage von Glaubensgemeinschaften werden können.«140 Die Entstehung einer solchen Vielfalt an Glaubensüberzeugungen ist zurückzuführen auf die reformatorische Überzeugung von der prinzipiellen Unverfügbarkeit nicht nur der eigenen Glaubensgewissheit, sondern »überhaupt jeder Gewissheit über Ursprung, Verfassung und Bestimmung des Daseins.«141 Aus der reformatorischen Pneumatologie, die das für den Menschen unverfügbare und Glaubensgewissheit schenkende Wirken des Geistes beschreibt, 138 139 140 141

A. a. O., 111. Ebd. A. a. O., 104 f. E. Herms, Pluralismus aus Prinzip, 484.

Pluralismus und Toleranz in der evangelischen systematischen Theologie

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lässt sich also die praktische Anerkennung der religiösen und weltanschaulichen Pluralität als ein begründeter, zu bejahender Sachverhalt ableiten. Die protestantische Perspektive macht es möglich, von einem »Pluralismus aus Glauben«142 zu sprechen. Es gehört zum Wesen des christlichen Glaubens, stets personal und insofern plural verfasst zu sein143 – der Pluralismus nimmt für ihn somit nicht die Gestalt eines von außen an ihn herangetragenen Problems an, sondern gehört »zur Grundverfassung des christlichen Glaubens« und begleitet darum die »Christentumsgeschichte in unterschiedlichen Ausprägungen.«144 Sowohl die historischen als auch die theologischen Entwicklungen des Christentums, und dort mit inbegriffen die Einsichten der reformatorischen Theologie im speziellen, stellen also einen wichtigen Faktor in der Genese des religiösen und weltanschaulichen Pluralismus dar. Dieser präsentiert sich für die europäischen Gesellschaften gegenwärtig jedoch als eine Situation der labilen Koexistenz der Religionen und Weltanschauungen, in der die Tendenzen hin zu einer aggressiven Konkurrenz im Blick auf die Einflussmöglichkeiten in der Gesellschaft einerseits und zu religiösen Separatkulturen andererseits mehr als nur ansatzweise wahrzunehmen sind. Da die Lebenssituation des religiösen Pluralismus nun aber nicht gegen das Christentum zur Durchsetzung gekommen, sondern vielmehr durch dessen Wesensmerkmale entscheidend geprägt ist, sieht Schwöbel in der Stabilisierung und Mitgestaltung der Situation des religiösen Pluralismus eine »nicht abweisbare Verantwortung« der christlichen Kirchen.145 Ein spezifisch protestantischer Beitrag kann darin bestehen, die Legitimität der Vielfalt religiös begründet zu sehen. Diese Auffassung erwächst aus den Grundüberzeugungen der reformatorischen Theologie, die in der Unterscheidung zwischen dem Werk Gottes und den Werken der Menschen, zwischen göttlichem Wort und menschlichen Institutionen sowie zwischen der von Gott geschenkten und somit unverfügbaren Gewissheit und der menschlichen Bezeugung derselben zum Ausdruck kommen. Auf diese, durch die reformatorischen Einsichten gebaute und gefestigte Grundlage stellt Herms seine These, der zufolge die reformatorische Theologie den christlichen Glauben als den exemplarischen Fall eines so genannten »Pluralismus aus Prinzip«146 begreift. Ein solcher Pluralismus aus Prinzip, der, 142 Chr. Schwöbel, Art. Pluralismus II, 732. 143 Grözinger weist darüber hinaus darauf hin, dass die Kirchen in ihrer organisatorischen Gestalt ebenso plural verfasst seien: Neben bischöflich verfassten Kirchen gebe es in Deutschland synodal-presbyterial orientierte Kirchen, wobei gegenwärtig viele Kirchenglieder eine weitere Pluralisierung und Demokratisierung der Strukturen fordern. Vgl. A. Grözinger, Art. Pluralismus III, 741. 144 Chr. Schwöbel, Art. Pluralismus II, 732. 145 Chr. Schwöbel, Pluralismus und Toleranz aus der Sicht des Christentums, 110. 146 E. Herms, Pluralismus aus Prinzip, 467 ff.

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wie später zu erläutern sein wird, in großen Gesellschaften einen bzw. den einzigen Weg zum Schutz gegen totalitäre Tendenzen darstellt, habe sein Fundament in einer weltanschaulich-religiösen Gewissheit, in deren Inhalt zweierlei zugleich durchschaut sei: »die Unverfügbarkeit jeder weltanschaulich-religiösen Gewissheit und ihre Öffentlichkeitsrelevanz.«147 Genau diese beiden, für eine zum Pluralismus aus Prinzip fähige und verpflichtete Position unabdingbaren inhaltlichen Bedingungen sieht Herms in der »ethisch-orientierende[n] Gewißheit«148 des christlichen Glaubens erfüllt. Denn neben der bereits angesprochenen Überzeugung von der prinzipiellen Unverfügbarkeit sowohl der eigenen wie auch jeder anderen Glaubensgewissheit schließt sie darüber hinaus auch »die Überzeugung von der wesentlichen Nichtprivatheit, sondern Öffentlichkeitsrelevanz der eigenen und überhaupt jeder ethisch-orientierenden Gewißheit über Ursprung, Verfassung und Bestimmung des Daseins«149 mit ein. Während die erste Überzeugung in der reformatorischen Auslegung des Dritten Glaubensartikels, also in der reformatorischen Pneumatologie, verankert ist, hat die zweite Überzeugung einen ebenso klassischen theologischen Ausdruck in Luthers und Calvins Auslegung der Zehn Gebote gefunden. Dort sei unmissverständlich die Einsicht ausgesprochen, dass die Gewissheit des Glaubens ihre ethisch orientierende Kraft »über die Interaktion der Christen untereinander hinaus auch auf ihre Interaktion mit Nichtglaubenden in Politik und Wirtschaft erstreckt und darin ihren gestaltenden Einfluß auf die Gesamtgesellschaft unter Beweis stellt.«150 In dem Insistieren auf dem Grundsatz der Privatheit von Religionen und Weltanschauungen liege hingegen, so Herms, die Gefahr, dass der Pluralismus den Charakter der Beliebigkeit annehme. In einem solchen Falle seien die in der Lebensüberzeugung verankerten ethischen Motive und Gründe für alle einzelnen Entscheidungen im öffentlichen Leben, also in Politik, Wirtschaft, Technik, Wissenschaft etc., dem öffentlichen Diskurs entzogen und folglich auch nicht mehr rechenschaftspflichtig. Dies ändere jedoch nichts an der Tatsache, dass alle öffentlichen Entscheidungen nach wie vor durch weltanschaulich begründete Präferenzen gesteuert und somit systematisch Privatmotiven ausgeliefert seien. Die Gefährlichkeit eines solchen Pluralismus der Beliebigkeit im Zusammenhang des Gesellschaftssystems liegt also auf der Hand. Denn religiös-pluralistische Gesellschaften sind in ihrem Bestand und in ihrer Zukunftsfähigkeit gefährdet, wenn der Zusammenhang zwischen dem gesellschaftlichen Handeln und den handlungsleitenden Überzeugungen für die Mitglieder der Gesellschaft undurchsichtig bleibt. Um Transparenz zu schaffen, 147 148 149 150

A. a. O., 481. A. a. O., 484. Ebd. A. a. O., 485.

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ist deshalb ein Dialog der unterschiedlichen Basisüberzeugungen erforderlich. Ihm zugrunde liegen muss ein Zielkonsens in Bezug auf die Gestaltung des Zusammenlebens. Der Pluralismus aus Prinzip fordert nun in der Praxis dazu auf, in diesen Dialog einzutreten und die Gestaltungsaufgabe, die speziell auch der christliche Glaube mit sich bringt, in der Öffentlichkeit wahrzunehmen. Der seit der Aufklärung vorherrschenden Kultur des Ethos bloßer Vernunft kann und muss entgegengewirkt werden, indem eine evangelische Position entschieden für den Pluralismus eintritt. So appelliert Herms an die evangelischen Christen und Kirchen, »das Erbe der Reformation nicht zu verspielen«151, sondern die darin steckende Chance einer Anleitung zur Praxis eines Pluralismus aus Prinzip entschlossen zu ergreifen und dadurch gesellschaftlichen Fehlentwicklungen entgegenzuwirken. Das evangelische Verständnis des Pluralismus, das sich wie beschrieben auf die Einsichten der reformatorischen Theologie bezieht, fordert also nicht eine Relativierung der pluralistischen Vielfalt, sondern ruft zum gestaltenden Umgang mit ihr auf. Beim religiösen Pluralismus geht es nicht – wie etwa im Synkretismus – um den Verlust der eigenen religiösen Identität, sondern um die Erfahrung »einer neuen Form der religiösen Einheit, in der jede Religion ihre eigene Identität beibehält, aber gleichzeitig von neuem in und mit anderen Religionen entdeckt.«152 Unausweichlich stellt sich in diesem Zusammenhang nun die Frage der Toleranz, die sich an die Untersuchung des evangelischen Verständnisses von Pluralismus unmittelbar anschließen soll. Wie aus dem einer Begriffsklärung folgenden zweiten Teil des nächsten Abschnitts ersichtlich werden wird, hängen die Auffassung des Pluralismus und das Motiv für die »unmögliche Tugend«153 der Toleranz aus protestantischer Perspektive eng miteinander zusammen.

3.1.2 Toleranz 3.1.2.1 Zum Begriff »Toleranz« sei, so Forst154, einer jener Begriffe, die im Alltag nahezu selbstverständlich gebraucht werden, deren Bedeutung aber umso diffuser werde, je mehr man sich um eine Klärung bemühe. So zeige sich bei genauerer Betrachtung nämlich, dass den anzutreffenden unterschiedlichen Bewertungen der Toleranz, von ihrer Wertschätzung als moralische bzw. demokratische Tugend bis zu ihrer 151 152 153 154

Ebd. P. Gerlitz, Art. Pluralismus I, 718. Chr. Schwöbel, Pluralismus und Toleranz aus der Sicht des Christentums, 118. Vgl. R. Forst, Toleranz, Gerechtigkeit und Vernunft, 119.

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Verurteilung als repressive Praxis oder permissive Selbstaufgabe, unterschiedliche Verständnisse des Begriffs entsprechen. »Für die einen besteht Toleranz etwa in einer Haltung des wechselseitigen Respekts, für die anderen in einer pragmatisch oder strategisch motivierten Duldung von Überzeugungen oder Praktiken, die man zugleich für falsch und für beherrschbar hält.«155 Darüber hinaus bedeutet der Begriff der Toleranz, der sich ursprünglich von dem lateinischen Verb tolerare (dulden, erdulden) herleitet, für einige eine Haltung des Skeptizismus oder der Indifferenz, für andere hingegen eine Form der Solidarität mit dem Anderen oder Fremden. In diesem letzteren Sinne darf Toleranz nach Bischur »nicht mit Indifferenz und Gleichgültigkeit verwechselt werden.« Toleranz bedeute demnach nicht, »dass ich die Position oder Lebensweise, die toleriert wird, als solche gut oder richtig finde, sondern dass ich ihren Wert für den Anderen anerkenne, auch wenn er für mich nicht dieselbe Wertigkeit besitzt.«156 Für den politischen Kontext nimmt Forst eine skizzenartige Differenzierung von Toleranz anhand der Erlaubnis-, Koexistenz-, Respekt- und Wertschätzungskonzeption vor157. In diesem Zusammenhang geht es innerhalb eines Staates um die Toleranz zwischen Gruppen, die »normativ bedeutungsvolle und tiefgreifende Differenzen kultureller oder religiöser Art«158 aufweisen. Im politischen Kontext einer multikulturellen, demokratischen Gesellschaft ist die Angemessenheit der Respekt-Konzeption in der Form qualitativer Gleichheit vor dem Gesetz unbestritten. Diese Toleranz lässt sich als eine »Tugend der Gerechtigkeit« und eine »Forderung der Vernunft«159 verstehen und führt zu einem angemessenen Respekt gegenüber ethischen Identitäten. Was jedoch den Umgang mit ethischen Werten betrifft, so würde dieses Konzept in den weltanschaulichen Relativismus führen. Somit sind weitere Überlegungen zu Toleranz in den Blick zu nehmen. An anderer Stelle wird der Versuch unternommen, Toleranz als einen »Konfliktbegriff«160 zu umreißen. In doppelter Hinsicht erscheint dies zutreffend zu sein. Zum einen kann die Geschichte der Toleranz abhängig von der jeweiligen Zugangsweise verschieden gedeutet werden. Sie kann als Begriffsgeschichte »den Veränderungen in der Verwendung des Begriffs nachspüren«, als Ideengeschichte diese Veränderungen »in den geistigen Horizont der jeweiligen Zeit einpassen« oder als Gesellschaftsgeschichte »die sozialen und politischen

155 156 157 158 159 160

Ebd. D. Bischur, Toleranz. Im Wechselspiel von Identität und Integration, 77. Vgl. dazu ausführlich 3.1.2.2. R. Forst, Toleranz, Gerechtigkeit und Vernunft, 123. A. a. O., 136. E. Stöve, Art. Toleranz I, 646.

Pluralismus und Toleranz in der evangelischen systematischen Theologie

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Konflikte darstellen, die mit der Toleranzforderung verknüpft sind.«161 Im Zusammenhang mit der Frage nach Toleranzerziehung unter den gegenwärtigen schulischen Voraussetzungen scheint vor allem der gesellschaftliche Aspekt von Bedeutung zu sein, da die gesellschaftlichen Entwicklungen des weltanschaulichen und religiösen Pluralismus mit der Forderung nach Toleranz einhergehen. Von hier aus lässt sich nun direkt an die andere Seite von Toleranz als Konfliktbegriff anknüpfen: Denn Toleranz ist eben dort gefragt, wo es zu Konflikten und Spannungen gekommen ist und kommt. Gerade dort wird das »Versprechen der Toleranz« laut, dass ein »Miteinander im Dissens«162 möglich ist. Somit ist Toleranz im Spannungsfeld von Miteinander und Dissens, Spannung und Entspannung gefordert. Setzt sich die Toleranz ein »Miteinander im Dissens« zum Ziel, so kann sie mit Mayer zunächst umschrieben werden als »das Aushalten der Spannung, die durch das Anderssein anderer Menschen in Denken, Wollen, Empfinden und Handeln entsteht.«163 Der Mensch bzw. das Anderssein des je anderen Menschen rückt in das Zentrum des Blickfeldes. In der Beziehung zu dem je Anderen hat sich Toleranz zu bewähren. Daher ist Toleranz als Konfliktbegriff in einer etwas positiver erscheinenden Ausdrucksweise auch zugleich als Beziehungsbegriff zu verstehen. Im Bewusstsein der Kirchenväter und der frühmittelalterlichen Theologen erschien Toleranz als »soziale Tugend, als ein Leitbegriff zwischenmenschlichen Verhaltens und christlicher Gemeinschaftsbildung.«164 Von diesen Wurzeln ausgehend ist der Begriff der Toleranz sodann als Beziehungsbegriff oder, wie Schreiner es formuliert, als »Relationsbegriff« verstanden worden, denn »seine Entstehung, Geschichte und Wirkung verdankt er dem Bemühen, Beziehungen unter Menschen normativ zu gestalten.«165 In der Gegenwart stellt sich nun die Frage nach der Toleranz als das Aushalten der Spannungen, die durch das Anderssein des Anderen erzeugt werden, in radikalisierter Form. So haben sich im gesellschaftlichen, weltanschaulichen und religiösen Pluralismus die Beziehungsgeflechte, die es normativ zu gestalten gilt, vervielfacht. Toleranz ist damit gegenwärtig »ebenso notwendige wie schwer einzulösende Bedingung«166 eines friedlichen Zusammenlebens. Von maßgeblicher Bedeutung ist die religionsgeschichtliche Bestimmung Menschings, in welcher er zwischen zwei verschiedenen Arten der Toleranz sowie ihres Gegenteils unterscheidet. Hierbei handelt es sich jeweils um eine formale und eine inhaltliche Stellungnahme. Die originäre Bedeutung des Be161 162 163 164 165 166

R. Forst, Toleranz im Konflikt, 27. A. a. O., 12. R. Mayer, Art. Toleranz, 2132. K. Schreiner, Art. Toleranz, 448. A. a. O., 446. H. Rosenau, Art. Toleranz II, 664.

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griffes »Toleranz« weist nur auf die erste Form der Toleranz hin, da man unter formaler Toleranz das bloße Unangetastetlassen fremder Religion und Praxis zu verstehen hat. »Vom tolerierten Objekt aus spricht man dann von Glaubensfreiheit.«167 Diese formale Toleranz lässt verschiedene Glaubensformen oder Religionen nebeneinander bestehen, ohne sie anzutasten. Die entsprechende negative Haltung hingegen, formale Intoleranz, lässt fremden Glauben nicht unangetastet, sondern zwingt seine Vertreter »zur Unterwerfung unter eine sakrale Institution des Staates oder einer Kirche, deren formale Einheit durch abweichende Glaubens- und Kultformen gestört werden würde.«168 Über die bloße Duldung und das reine Unangetastetlassen hinaus bedeutet inhaltliche Toleranz hingegen die positive Anerkennung fremder Religion als echter und berechtigter religiöser Möglichkeit der Begegnung mit dem Heiligen. Diese Art der Anerkennung fremder Religion wird jedoch im Gegensatz zum Indifferentismus nicht aus Gleichgültigkeit vollzogen, sondern drückt vielmehr eine Haltung höchster Anteilnahme aus, die ausschließlich auf Auseinandersetzung und Kenntnis beruhen kann. Die entsprechende negative Haltung der inhaltlichen Intoleranz findet sich zumeist in den prophetischen Religionen und ist auf deren durchweg vorhandenen exklusiven Absolutheitsanspruch zurückzuführen. Mensching weist darauf hin, dass die beiden Haltungen der Toleranz und der Intoleranz sowohl in Richtung der formalen als auch der inhaltlichen Seite im Laufe der Religionsgeschichte in verschiedenen Kombinationen in Erscheinung getreten sind.169 Stöve hingegen schlägt die Unterscheidung von drei Typen der Toleranz vor : zum einen die pragmatische Toleranz, die um eines »momentan höher eingestuften Gutes willen«170 darauf verzichtet, eigene Werte- und Wahrheitsansprüche durchzusetzen. Zum zweiten die Konsensus-Toleranz, die nach Übereinstimmungen im Kern sucht, um äußerliche Unterschiede und Divergenzen zu überwinden; zum dritten die dialogische Toleranz, die in der Auseinandersetzung mit Andersdenkenden und –gläubigen den Dialog statt die Konfrontation sucht.171 Aus praktisch-theologischer Perspektive ist mit Nipkow zwischen einer schwachen, passiven Toleranz, die als »bloße Duldung die Nullstufe auf einer Skala zwischen Feindschaft und Anerkennung«172 ist, und einer starken, aktiven Toleranz zu unterscheiden. Letztere ist seiner Meinung nach der ersteren vor167 G. Mensching, Toleranz und Wahrheit in der Religion, 18 bzw. ders., Art. Toleranz I, 932. 168 G. Mensching, Toleranz und Wahrheit in der Religion, 18. 169 Im Wesentlichen werden drei Kombinationen angetroffen: formale Intoleranz mit inhaltlicher Intoleranz verbunden, formale Toleranz mit inhaltlicher Intoleranz sowie formale Intoleranz mit inhaltlicher Toleranz verbunden; vgl. a. a. O., 19. 170 E. Stöve, Art. Toleranz I, 647. 171 Vgl. ebd. 172 K.E. Nipkow, Bildung in einer pluralen Welt, 469.

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zuziehen, denn »Konsens kann nicht intolerant erzwungen werden«. Vielmehr habe sich der Dialog, der Aktivität voraussetzt, im »Dissens zu bewähren.«173 In Anlehnung an diese Überlegungen muss nun im Zusammenhang mit der religionspädagogischen Fragestellung ein Toleranzbegriff zugrunde gelegt werden, der eine inhaltliche bzw. starke, aktive Toleranz meint, für die der Dialog die leitende Kommunikationsform ist. In einem solchen Dialog kann das Modell des »Miteinander im Dissens« erprobt werden und in der Praxis zum Tragen kommen. Somit zeigen sich die Fähigkeit sowie die Willigkeit und die Bereitschaft zum Dialog als unverzichtbare Voraussetzungen der Toleranz. Toleranzfähigkeit stellt sich dann also im Kern als Konflikt- und Beziehungsfähigkeit heraus. Wie kann nun ein derartiges Toleranzverständnis im Bereich des Dialogs verschiedener Weltanschauungen konkretisiert werden? Ist es möglich, dass Toleranz in ihrer Funktion als Beziehungsbegriff über das reine Aushalten eines Konfliktes mit dem je Anderen hinaus weiter und gegebenenfalls sogar zur Anerkennung führen kann? Um diese inhaltliche Konkretisierung vorzunehmen, werden erneut systematisch-theologische Überlegungen miteinbezogen werden, die sich mit den evangelischen Implikationen des Toleranzbegriffes beschäftigen. Zunächst erfolgt jedoch eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Toleranzthematik aus der philosophischen Sicht Rainer Forsts.

3.1.2.2 Toleranz im Konflikt: philosophische Überlegungen (R. Forst) Auf dem Gebiet der Toleranzforschung verdient gemacht hat sich der Philosoph Rainer Forst, der als einer der einflussreichsten Wissenschaftler für Toleranz bezeichnet werden kann. In der Nachfolge von Jürgen Habermas steht er als einer der Vertreter der jüngsten Generation der Frankfurter Schule für ein diskurstheoretisches Verständnis, das im Folgenden dargelegt werden soll. Forsts Einschätzung zufolge ist kein zweiter Begriff angesichts der vielfältigen Konflikte in pluralistischen Gesellschaften so wichtig und zugleich so umstritten wie derjenige der Toleranz. Der Titel seines Buches »Toleranz im Konflikt« hat laut Forst eine mehrfache Bedeutung. Zuerst ist Toleranz demnach schon alleine dadurch als Konfliktbegriff aufzufassen, als es sich hierbei um eine Haltung bzw. Praxis handelt, die nur in einem Konflikt erforderlich wird: Die im Konflikt stehenden Parteien kommen zu einer Haltung der Toleranz, weil sie sehen, dass den Gründen gegenseitiger Ablehnung Gründe gegenseitiger Akzeptanz gegenüberstehen, die erstere nicht aufheben, aber gleichwohl für Toleranz spre173 Ebd.

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chen bzw. sie sogar fordern. Das Versprechen der Toleranz lautet, dass, wie bereits erwähnt, ein Miteinander im Dissens möglich ist. Angesichts der Verschiedenheit der Kulturen ist Toleranz, so Forst weiter, ein Menschheitsthema und nicht auf eine bestimmte Epoche oder Kultur beschränkt. So lange es etwa Religion gibt, so lange gibt es schon das Problem von Andersgläubigen, das Problem von Häretikern und von Ungläubigen. Allgemein gilt: Wo immer sich unter Menschen Wertüberzeugungen herausgebildet haben, stellt die Konfrontation mit anderen, diesen widerstreitenden Überzeugungen eine Herausforderung dar, die nicht ohne Weiteres auf dem Boden der in Frage stehenden Werte zu beantworten sein mag. Dass diese Herausforderung zur Ausbildung einer toleranten Haltung führt, setzt somit eine komplexe Arbeit an den eigenen Überzeugungen voraus. Diese »komplexe Arbeit« bedeutet wiederum nichts anderes als einen Kampf gegen Intoleranz. Diese scheint das ursprünglichere Phänomen zu sein, das nach einer befriedenden, ausgleichenden bzw. moralischen Reaktion verlangt. Toleranz ist nicht jenseits der Auseinandersetzungen in einer Gesellschaft angesiedelt, sondern entsteht in ihnen, so dass ihre konkrete Gestalt stets situationsgebunden ist. In sozialen Auseinandersetzungen stellt Toleranz eine spezifische Forderung streitender Parteien dar, z. B. als Versuch, bestehende Machtverhältnisse durch Freiheitsgewährung aufrechtzuerhalten. Geschichte und Gegenwart der Toleranz ist darum stets eine Geschichte und Gegenwart sozialer Kämpfe. Darüber hinaus kann Toleranz auch selbst Gegenstand von Konflikten sein: Forst bezeichnet es sogar als durchaus umstritten, ob Toleranz überhaupt etwas Gutes ist. Während Toleranz für die einen eine von Gott, der Moral, der Vernunft oder Klugheit geforderte Tugend ist, ist sie für andere eine herablassende, potenziell repressive Geste. Einerseits bedeutet Toleranz u. U. Charakterstärke und Selbstsicherheit, ist Zeichen des Respekts oder gar der Wertschätzung des Fremden, andererseits eine Haltung der Unsicherheit, Permissivität und Schwäche, eine Gesinnung von Indifferenz, Ignoranz und Abschottung.174 Differenzen über die Verwendung und Bewertung des Toleranzbegriffs rühren daher, dass es verschiedene Konzeptionen der Toleranz gibt, die sich laut Forst historisch ausgebildet haben und miteinander im Streit liegen. Es zeigt sich auch eine umfangreiche Reihe ganz unterschiedlicher Toleranzbegründungen, von religiösen über politisch-pragmatische, von primär erkenntnistheoretischen über besondere ethische Begründungen bis zu moralisch-deontologischen. Auch diese stehen miteinander im Konflikt. 174 Forst verweist an dieser Stelle auf Voltaires und Lessings Lob der Toleranz als Zeichen wahrer Menschlichkeit und höchster Kultur auf der einen, auf Kants und Goethes Kritik der Toleranz hingegen auf der anderen Seite; vgl. R. Forst, Toleranz im Konflikt, 14.

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Der Begriff der Toleranz und seine Paradoxien Trotz der vielfältigen und gegensätzlichen Verständnisse und Verwendungen des Begriffs der Toleranz weist Forst die Vermutung, es existiere nicht einer, sondern viele, miteinander konkurrierende Begriffe der Toleranz, als »eine irreführende Annahme«175 zurück. Vielmehr unterscheiden sich die verschiedenen Verwendungsweisen in der weiteren Ausgestaltung des allen gemeinsamen Bedeutungskerns, nämlich des Begriffs der Toleranz, und bilden somit verschiedene Toleranz-Konzeptionen bzw. verschiedene Vorstellungen oder Auffassungen der Toleranz. Im Gegensatz zum Konzept, welches den zentralen Bedeutungsgehalt eines Begriffes umfasst, sind Konzeptionen spezifische Interpretationen der darin enthaltenen Bestandteile.176 Für den Begriff der Toleranz werden von Forst sechs derartige Bestandteile ausgeführt. (1) Die nähere Bestimmung des Kontextes der Toleranz, also insbesondere der Beziehung zwischen den Tolerierenden und den Tolerierten, steht dabei an erster Stelle. Dazu gehört die Frage nach den Subjekten der Toleranz auf der einen und den Objekten der Toleranz auf der anderen Seite. Sowohl in der Geschichte der Toleranz als auch in den gegenwärtigen Diskussionen spielt der Kontext einer religiös und kulturell pluralistischen Gesellschaft bzw. politischen Gemeinschaft die zentrale Rolle. In diesem Rahmen kann in Bezug auf die Frage nach den Subjekten der Toleranz folglich sowohl an den Staat bzw. die Regierung, als auch an die Bürger selbst gedacht werden. Hinsichtlich der Frage der Objekte der Toleranz spricht Forst zunächst allgemein von »Überzeugungen« und »Praktiken«. (2) Maßgeblich für den Begriff der Toleranz ist es, dass die tolerierten Überzeugungen oder Praktiken in einem normativ gehaltvollen Sinne als falsch angesehen bzw. als schlecht verurteilt werden. Zugleich müssen sie jedoch als hinreichend wichtig erachtet werden, um sich überhaupt ein negatives Urteil darüber zu bilden. Im Anschluss an Preston King177 ist dies als AblehnungsKomponente zu bezeichnen. Ohne diese Komponente wäre nicht zu Recht von Toleranz zu sprechen, sondern entweder von Indifferenz (dem Fehlen einer negativen oder positiven Bewertung) oder von Bejahung (dem Vorliegen einer allein positiven Bewertung) bzw. von Relativismus. Zwar werden diese Einstellungen häufig mit Toleranz verwechselt, doch sind sie laut Forst mit Toleranz tatsächlich unverträglich. Seines Erachtens verwendet Walzer demnach einen zu

175 A. a. O., 30. 176 Mit dieser Unterscheidung folgt Forst dem von John Rawls in Bezug auf den Begriff der Gerechtigkeit gemachten Vorschlag, zwischen concept und conception zu unterscheiden; vgl. J. Rawls, A Theory of Justice, 5. 177 Forst verweist hier auf P. King, Toleration, 44 – 51, der dies als »objection component« bezeichnet.

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weiten Begriff von Toleranz, da er beide Haltungen hinzuzählt178. Ein bestehendes Ablehnungsurteil ist demzufolge als Vorbedingung für Toleranz aufzufassen. Ist nun von einer »normativ gehaltvollen Ablehnung« die Rede, so verweist diese Formulierung auf die Problematik, die der möglichen Ablehnungs-Komponente innewohnt, wenn Toleranz als individuelle Tugend angesehen wird. Um nämlich zu verhindern, dass bloße Vor-Urteile wie beispielsweise die Minderwertigkeit bestimmter »Rassen« als begründete Negativurteile auf Akzeptanz stoßen und somit die Paradoxie des »toleranten Rassisten« entstehen würde, sind gewisse Kriterien für eine »vernünftige« Ablehnung unverzichtbar. Wenngleich auch schwerlich von »objektiven« oder »allgemein teilbaren« Gründen die Rede sein kann, so müssen die Ablehnungsgründe doch insoweit vertretbar sein, »dass nachvollziehbar bleibt, inwiefern Überzeugungen und Praktiken anderer verurteilt werden – der bloße Verweis auf ein ›anderes Aussehen‹ oder eine ›andere Herkunft‹ kann zu einer gehaltvollen Kritik nicht dienen.«179 Zwar werden Ablehnungsgründe partikularen ethischen Überzeugungssystemen entstammen, doch müssen sie auch dort als Gründe erkennbar und verständlich sein, wo ihre Gründe nicht geteilt werden. Von zentraler Bedeutung ist dabei, dass eine bestimmte moralische Schwelle nicht unterschritten wird, unterhalb derer von Toleranz als Tugend gar nicht gesprochen werden kann. Für Forst ist die Auflösung dieser Paradoxie ein erster Hinweis darauf, dass die Tugend der Toleranz einer moralischen Begründung bedarf, durch die diese Schwelle bestimmt werden kann. (3) Um wirklich von Toleranz reden zu können, kommt nun notwendigerweise neben der beschriebenen Ablehnungs-Komponente eine sogenannte Akzeptanz-Komponente180 ins Spiel. Zwar werden die tolerierten Überzeugungen oder Praktiken nach wie vor als falsch oder schlecht verurteilt, jedoch nicht in solch einem Maße, dass nicht andere, positive Gründe für ihre Tolerierung sprechen würden. Konstitutiv für das dadurch entstehende Spannungsverhältnis von Ablehnung auf der einen und Akzeptanz auf der anderen Seite, das mit dem Begriff der Toleranz schließlich auf den Punkt gebracht wird, ist nun die Tatsache, dass die positiven, für Akzeptanz sprechenden Gründe die negativen Gründe, auf denen das Ablehnungsurteil basiert, nicht aufheben dürfen, sondern ihnen gegenüber gestellt werden. Zwar übertrumpfen sie die negativen Gründe und sind in diesem Sinne gewichtiger, lassen die Ablehnung dabei aber bestehen. In eben diesem Austarieren von Gründen besteht laut Forst die praktische Reflexion des Tolerierenden. Demzufolge unterscheiden sich die 178 Vgl. M. Walzer, On Toleration, 10 f. 179 R. Forst, Toleranz im Konflikt, 34. 180 King spricht von »acceptance component«, vgl. P. King, Toleration, 51 – 54.

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verschiedenen Toleranzbegründungen hauptsächlich darin, wie sie die Art dieser Gründe und die entsprechende Reflexion rekonstruieren. An diesem Punkt führt Forst seine Überlegungen weiter, indem er auf direkt ins Zentrum der Toleranzproblematik führende Paradoxien aufmerksam macht. In dem Fall nämlich, in dem sowohl die Ablehnungs- als auch die AkzeptanzKomponente aus Gründen der gleichen Art bestehen, ergibt sich die Problematik, dass solche Gründe sowohl eine Ablehnung als auch eine Akzeptanz zu fordern scheinen. Wenn beispielsweise die Gründe für die Ablehnung wie auch für die Akzeptanz als moralisch bezeichnet werden, steigert sich die Paradoxie zu der Frage, wie es moralisch richtig oder gar geboten sein kann, das moralisch Falsche oder Schlechte zu tolerieren. Anhand zahlreicher Vorschläge in der neueren Toleranzliteratur wird deutlich, dass die Auflösung der von Forst sogenannten Paradoxie moralischer Toleranz davon abhängt, genauer zu klären, welcher Natur die Ablehnungsgründe sein müssen, um eine moralisch begründete, höherstufige Akzeptanzkomponente ohne Widerspruch zuzulassen. Forst vertritt die Ansicht, dass hierfür der Rückgriff auf die Unterscheidung zwischen ethischen und moralischen Gründen von Nöten sein wird. Eine entsprechende Paradoxie ergibt sich derweil auch auf einer epistemologischen Ebene. Versteht man nämlich die Ablehnung »falscher« Überzeugungen vor dem Hintergrund eines Überzeugtseins von der Wahrheit der eigenen Wertvorstellungen, so ergibt sich die Paradoxie der Wahrheitsrelativierung: Die Toleranz übende Person scheint demnach gezwungen zu sein, einerseits ihre Überzeugungen für wahr zu halten, um zu einem Negativurteil zu kommen, andererseits aber anzunehmen, auch die anderen, abgelehnten Überzeugungen könnten wahr sein, um zu einem Akzeptanzurteil zu kommen. Forst verweist auf Julius Ebbinghaus, der diese dem Toleranzbegriff zutiefst innewohnende Problematik deutlich formuliert: »Wie kann […] der, der von der Notwendigkeit, gewisse Behauptungen für wahr zu halten, überzeugt ist, tolerant sein? Heißt das nicht, ihm ansinnen, er solle gleichzeitig zugestehen, daß man eben diese Behauptung auch für falsch halten könne? Und noch dazu Behauptungen über Bedingungen seines ewigen Wohlergehens, die ja jeden Wert für den Menschen verlieren, wenn er nicht sicher sein kann, daß alle entgegenstehenden Aussagen falsch sind. Kann es eine größere Paradoxie geben?«181

Augenscheinlich erhebt diese Paradoxie »die Forderung nach einer Art der Relativierung und Begrenzung der eigenen Überzeugungen, die das Überzeugtsein von ihrer Wahrheit nicht grundsätzlich in Frage stellt – einer Relativierung ohne Relativismus«182, wie Forst treffend feststellt. Es soll an diesem 181 J. Ebbinghaus, Über die Idee der Toleranz, 1 f., vgl. R. Forst, Toleranz im Konflikt, 37, dort Anm. 20. 182 R. Forst, Toleranz im Konflikt, 37.

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Punkt bereits vorweg genommen werden, dass die an späterer Stelle folgende Darlegung einer Toleranzbegründung aus spezifisch protestantischer Sicht auf diese dem Toleranzbegriff eigene Paradoxie eingeht und eine Auflösung des unüberwindbar scheinenden Hindernisses, das sich dem Begriff der Toleranz in Form jener Paradoxie der Wahrheitsrelativierung in den Weg stellen möchte, in Aussicht stellt.183 (4) Da es widersprüchlich wäre, schlichtweg »alles« tolerieren zu wollen und dies letzten Endes zur Selbstabschaffung der Toleranz führen würde, ist es notwendig, gewisse Grenzen der Toleranz zu markieren. Neben den Gründen der Ablehnung und denen der Akzeptanz muss es daher eine dritte Kategorie von Gründen geben: solche der Zurückweisung von Überzeugungen und Praktiken – einer Zurückweisung, die anders als die Gründe der Ablehnung nicht mehr durch Akzeptanzgründe aufgefangen werden kann. Wiederum in Anlehnung an King184 nennt Forst dies eine Zurückweisungs-Komponente. Da die Toleranz an sich, wie ersichtlich wurde, aus einem prekären Gleichgewicht von negativen und positiven Gründen besteht, impliziert der Begriff der Toleranz die Notwendigkeit, die Grenzen der Toleranz, also die Grenzen zum Nicht-Tolerierbaren zu bestimmen. Aus begrifflichen Gründen wird daher die Bereitschaft vorausgesetzt, die Toleranz in dem Fall aufzuheben, in dem die tolerierten Überzeugungen und Praktiken derart negativ bewertet werden, dass die positiven Gründe nicht mehr ausreichend sind. In diesem Sinne ist es zutreffend, den Raum der Toleranz als einen prinzipiell begrenzten Raum zu bezeichnen.185 Aufgrund des Gesagten hält Forst folgerichtig fest, dass hinsichtlich der Toleranz drei normative Bereiche zu unterscheiden sind, die sinnvollerweise durch zwei Grenzen markiert werden: Der Bereich (a) des »Eigenen«, d. h. der normative Bereich dessen, in dem keinerlei Ablehnung, sondern durchweg Übereinstimmung und Affirmation besteht, grenzt an den Bereich (b) des Tolerierbaren, in dem normative Ablehnung und zugleich doch auch Akzeptanz besteht, die zur Toleranz führt. Die eigentliche Grenze der Toleranz verläuft nun zwischen diesem letztgenannten Bereich und dem Bereich (c) des Nicht-Tolerierbaren, das strikt abgelehnt und zurückgewiesen wird. Damit Toleranz nun allerdings nicht unweigerlich in ihr Gegenteil, die Intoleranz, umschlägt, wenn der Begriff der Toleranz die Notwendigkeit einer derartigen Grenzziehung zum Bereich des Nicht-Tolerierbaren bereits impliziert, muss mit einer Möglichkeit gerechnet werden, die Grenzen der Toleranz nicht willkürlich, sondern unparteiisch, laut Forst »im Lichte einer übergeordneten Moral« zu ziehen. Er geht des Weiteren davon aus, dass die Möglichkeit einer nicht willkürlichen, sondern 183 Vgl. »Das evangelische Verständnis von Toleranz« nach Schwöbel unter 3.1.2.3. 184 Vgl. P. King, Toleration, 55. 185 Vgl. R. Forst, Toleranz im Konflikt, 37.

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wechselseitigen Form der Rechtfertigung der Grenzen der Toleranz besteht, »so dass die Identifizierung und Kritik der Intoleranz nicht selbst einfachhin als ›Intoleranz‹ bezeichnet werden kann. Nicht jede Zurückweisung wäre dann als Intoleranz zu kritisieren, sondern allein eine Zurückweisung ohne gute Gründe.«186 Entsprechend wäre ein Vorurteil somit als eine Ablehnung ohne gute Gründe zu klassifizieren, während falsche Toleranz in einer unbegründeten Akzeptanz bestünde187. (5) Weiterhin ist der Begriff der Toleranz dadurch gekennzeichnet, dass Toleranz nicht etwa in einem Maße erzwungen sein darf, dass auf Seiten der tolerierenden Partei keinerlei Möglichkeit besteht, ihre Ablehnung zu äußern bzw. entsprechend zu handeln. Wird Toleranz nicht aus freien Stücken geübt, so ist stattdessen vielmehr die Rede vom »Erdulden« oder »Ertragen« von Praktiken, denen man machtlos gegenüber steht, angebracht. Dies kann im Umkehrschluss jedoch ebenfalls nicht bedeuten, dass sich die tolerierende Partei zwangsläufig in einer gewissen Machtposition befinden muss und sich somit in der Lage sehen würde, die betreffenden Praktiken effektiv zu unterbinden. Denn eine Haltung der Toleranz kann auch von einer Minderheit ohne entsprechende Machtmittel eingenommen werden. (6) Schließlich weist Forst darauf hin, dass mit dem Begriff der Toleranz sowohl eine Praxis als auch eine individuelle Haltung oder (bei entsprechender Begründung) Tugend bezeichnet werden kann: einerseits z. B. die rechtlichpolitische Praxis innerhalb eines Staates, in dem Minderheiten bestimmte Freiheiten gewährt werden, und andererseits die persönliche Haltung, die darin besteht, Praktiken, mit denen man nicht übereinstimmt, zu tolerieren. Dabei kann Toleranz als Praxis durchaus ohne Toleranz als individuelle Haltung vorkommen, da es innerhalb eines Staates denkbar ist, eine »Politik der Toleranz« und somit bestimmte Rechte für Minderheiten zu garantieren, obwohl dies bei den Bürgern unter Umständen mehrheitlich auf Ablehnung stoßen mag und anstelle einer toleranten Haltung der Regierung ein ganz anderes machtpolitisches Kalkül die Triebfeder der politischen Praxis der Toleranz sein könnte. Vier Konzeptionen der Toleranz Vor dem Hintergrund dieser Charakterisierung der zentralen Bestandteile des Begriffs der Toleranz skizziert Forst im Folgenden vier Konzeptionen, die diese Bestandteile auf spezifische Weise interpretieren. Diese Konzeptionen, die sich 186 A. a. O., 40. 187 Als ein derartiges Phänomen der »falschen Toleranz« muss somit die offensichtlich »schlecht informierte Toleranz«, die im Zuge der Untersuchungen zu religiöser Individualisierung unter 2.3 konstatiert wurde, verstanden werden. Die Jugendlichen waren nicht in der Lage, ihre »tolerante« Haltung gegenüber fremden Weltanschauungen und Religionen zu begründen.

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alle auf den politischen Kontext eines Staates beziehen, in dem die Bürger als Mitglieder partikularer Gemeinschaften tiefgreifende Differenzen aufweisen, seien in gegenwärtigen Gesellschaften gleichzeitig präsent. Darüber hinaus lassen sich Forst zufolge viele der kontroversen Diskussionen darüber, was Toleranz konkret heißt, als Konflikte zwischen diesen Konzeptionen verstehen. Sie sollen im Folgenden in knapper Form wiedergegeben werden. (1) In der von Forst sogenannten Erlaubnis-Konzeption bezeichnet Toleranz die Beziehung zwischen einer Autorität oder einer Mehrheit und einer (oder mehreren) von deren Wertvorstellungen abweichenden Minderheit(en). Toleranz besteht darin, dass der Minderheit von Seiten der Autorität bzw. der Mehrheit die Erlaubnis gegeben wird, ihren Überzeugungen gemäß zu leben. Als entscheidende Bedingung hierfür gilt jedoch, dass die Vorherrschaft der Autorität bzw. der Mehrheit nicht in Frage gestellt werden darf. Diese Form der Toleranz wird häufig als Minimalforderung von unterdrückten Minderheiten erhoben. Dieser Konzeption zufolge wird eine Minderheit oftmals aus rein pragmatischen Gründen toleriert und Toleranz als geeignetes Mittel zur Konfliktvermeidung aufgefasst. Von Seiten der Autorität bzw. der Mehrheit wird Differenz also »geduldet« und auf eine Intervention verzichtet, während die Minderheit gezwungen ist, die Machtposition der Autorität hinzunehmen. Eine derartige Toleranzsituation ist somit »nicht-reziprok«, wie Forst es ausdrückt. »Toleranz wird hierbei als permissio mali verstanden, als das Dulden einer weder als wertvoll noch als gleichberechtigt angesehenen Überzeugung oder Praxis, die jedoch nicht die ›Grenzen des Erträglichen‹ überschreitet.«188 Demnach sei es diese Auffassung, die Goethe mit seinem Diktum von der Toleranz als Beleidigung vor Augen hatte189. (2) Die zweite Konzeption der Toleranz, die Koexistenz-Konzeption, unterscheidet sich von der Erlaubnis-Konzeption durch eine veränderte Konstellation zwischen den Toleranzsubjekten bzw. –objekten. Nicht Autorität bzw. Mehrheit und Minderheit(en) stehen sich nun gegenüber, sondern ungefähr gleich starke Gruppen, die um des sozialen Friedens und eigener Interessen willen Toleranz üben. Die friedliche Koexistenz wird aus pragmatischen Gründen dem Konflikt vorgezogen, und die Regeln eines Modus vivendi werden in Form eines wechselseitigen Kompromisses akzeptiert. Die Toleranzrelation ist in dem Sinne nicht länger als vertikal, sondern als horizontal zu bezeichnen, als die Tolerierenden zugleich auch Tolerierte sind. Es kann allerdings nicht die Rede von einer Form der wechselseitigen Anerkennung sein, die über das Dulden der Anderen hinausgeht und auf 188 R. Forst, Toleranz im Konflikt, 44. 189 Vgl. J.W.v. Goethe, Maximen und Reflexionen, 507.

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weitergehenden moralischen oder ethischen Überlegungen beruht. Genauso wenig kann es sich hierbei um einen stabilen sozialen Zustand handeln. Denn sollte sich das gesellschaftliche Machtverhältnis zugunsten der einen oder anderen Gruppe verändern, fällt für diese der wesentliche Grund für Toleranz weg. (3) Die Respekt-Konzeption der Toleranz geht im Unterschied dazu von einer moralisch begründeten Form der wechselseitigen Achtung der sich tolerierenden Individuen bzw. gesellschaftlichen Gruppen aus. Obwohl sich ihre ethischen Überzeugungen des guten und wertvollen Lebens und ihre kulturellen Praktiken gegebenenfalls deutlich voneinander unterscheiden, respektieren die Toleranzparteien einander als autonome Personen bzw. als gleichberechtigte Mitglieder einer rechtsstaatlich verfassten politischen Gemeinschaft. Es herrscht eine gegenseitige Anerkennung als ethisch autonome Autoren ihres eigenen Lebens oder als moralisch und rechtlich Gleiche in dem Sinne, dass in ihren Augen die allen gemeinsame Grundstruktur des politisch-sozialen Lebens von Normen geleitet werden sollte, die alle Bürger gleichermaßen akzeptieren können, da in ihrem Rahmen keiner bestimmten »ethischen Gemeinschaft« Vorteile eingeräumt werden. Die Respekt-Konzeption fordert nicht, dass die tolerierenden Parteien die Konzeptionen des Guten der anderen als ebenfalls oder zumindest teilweise wahr und ethisch gut ansehen, sondern dass sie diese als autonom gewählt bzw. als nicht unmoralisch oder ungerecht betrachten können. Respektiert wird, so Forst, die Person des Anderen, toleriert werden hingegen seine Überzeugungen und Handlungen. (4) Eine anspruchsvollere Form wechselseitiger Anerkennung als die RespektKonzeption enthält schließlich die vierte Konzeption, die Forst als Wertschätzungs-Konzeption bezeichnet. Ihr zufolge bedeutet Toleranz nicht nur, die Mitglieder anderer kultureller oder religiöser Gemeinschaften als rechtlich-politisch Gleiche zu respektieren, sondern auch, ihre Überzeugungen und Praktiken als ethisch wertvoll zu schätzen. Damit es sich dabei jedoch noch um eine Konzeption der Toleranz handeln kann, muss bei aller Wertschätzung dennoch die Ablehnungs-Komponente weiterhin erhalten bleiben. Insofern muss die Wertschätzung in gewissem Sinne beschränkt oder »reserviert« sein, da die zu tolerierende andere Lebensform folglich nicht als gleichwertige Alternative oder gar als die vorzugswürdigere erscheinen darf. Während bestimmte Seiten geschätzt werden, werden andere dennoch abgelehnt. Der Bereich des Tolerierbaren wird durch die Werte bestimmt, die man in einem ethischen Sinne bejaht. In liberaler Perspektive, so Forst, entspricht dieser Toleranzkonzeption eine Version des Wertepluralismus, der zufolge es innerhalb einer Gesellschaft eine Rivalität zwischen an sich wertvollen, doch inkompatiblen Lebensformen gibt.

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Nach der hier komprimiert wiedergegebenen Darstellung dieser vier Toleranzkonzeptionen drängt sich auch für Forst unweigerlich die Frage auf, welche von ihnen in einem bestimmten Kontext wie dem einer ethisch-pluralistischen Gesellschaft die geeignete und bestbegründete Konzeption ist. Nach welchen Kriterien wäre hier zu entscheiden? Sollte, wenn man den Begriff der Anerkennung heranzieht, diejenige Konzeption bevorzugt werden, »die die ›dünnste‹, oder vielmehr die, welche die anspruchsvollste Form wechselseitiger Anerkennung impliziert, von der hierarchischen bzw. strategisch-reziproken in der Erlaubnisbzw. der Koexistenz-Konzeption über die egalitäre in der Respekt-Konzeption bis zu der ethisch ›dichten‹ in der Wertschätzungs-Konzeption? Es scheint, dass der zunächst deskriptiv eingeführte Begriff der Anerkennung ohne weitere Zusatzannahmen nicht hinreichend ist, um hier zu entscheiden.«190 Doch auch der Begriff der Toleranz selbst ist auf der Basis des bisher Gesagten nicht in der Lage, die Frage nach der besten Konzeption zu beantworten, »da ja alle diese Konzeptionen mit Recht beanspruchen können, Interpretationen des Begriffs darzustellen.« Da der Toleranzbegriff darüber hinaus in Bezug auf die Frage offen bleibt, welche der unterschiedlichen Begründungen der Toleranz, die in den verschiedenen Konzeptionen angesprochen wurden, die richtige ist, kommt Forst zu dem Schluss, dass es der Füllung durch andere Prinzipien und Werte bedarf, um einen normativen Gehalt zu erlangen und zu einer begründeten Konzeption zu führen. Zwar setzen die oben genannten sechs Charakteristika des Konzepts dem Grenzen, was an Füllung in Frage kommt. Dennoch bleibt für Forst der Begriff der Toleranz selbst »ein normativ abhängiger Begriff: Ohne andere normative Grundlagen ist er unbestimmt und leer.«191 Geht man tatsächlich von der normativen Abhängigkeit des Toleranzbegriffs aus, so liege in dieser Annahme die Implikation, dass es sich entgegen einer weit verbreiteten Meinung bei Toleranz an sich nicht um einen Wert handeln könne. Forsts Argumentation folgend werde Toleranz erst dadurch zu einer Tugend und zu etwas Wertvollem, dass die entsprechenden Komponenten gut begründet werden. So kann es demzufolge auch »falsche Toleranz« geben, wie es beispielsweise bei der Duldung nicht hinzunehmender moralischer Vergehen der Fall wäre. Toleranz kann demnach zum Verbrechen werden, so auch Thomas Manns Settembrini, »wenn sie dem Bösen gilt.«192 Eine positive Haltung oder Praxis ist die Toleranz hingegen, »wenn sie zu etwas Gutem dient, d. h. wenn sie um willen der Realisierung höherstufiger Prinzipien oder Werte gefordert und dadurch gerechtfertigt ist.«193 190 191 192 193

R. Forst, Toleranz im Konflikt, 49. Ebd. Th. Mann, Der Zauberberg, 713. R. Forst, Toleranz im Konflikt, 50.

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Was nun die Bestimmung von Kriterien für die gesuchten normativen Begründungen und Grundlagen betrifft, so folgen diese laut Forst aus dem Begriff der Toleranz selbst. Das Konzept (bestehend aus Ablehnungs-, Akzeptanz- und Zurückweisungskomponente) nämlich sei – ganz im Gegensatz zu dem Begriff der Toleranz (der eben immer ein gefülltes Konzept meint, also eine bestimmte Definition der Grenzen von Toleranz voraussetzt194) – durchaus normativ, nicht begrifflich abhängig oder gar amorph. Diese Grundlagen (Prinzipien und Werte) müssen selbst normativ eigenständig sein. Wären sie wiederum von anderen Grundlagen abhängig, hätte dies begriffliche Unschärfen sowie die Gefahr eines unendlichen Regresses zur Folge. Darüber hinaus müssen diese Grundlagen gemäß Forsts Herangehensweise »einen höherstufigen Charakter haben, so dass sie in der Lage sind, in einem praktischen Konflikt zu vermitteln und insbesondere die Toleranz wechselseitig verbindlich zu machen und die Grenzen der Toleranz unparteiisch zu ziehen.«195 Es liege in der Logik des Begriffs der Toleranz, so Forst weiter, dass er auf solche Begründungen höherer Ordnung angewiesen sei, denn anders könnten die Akzeptanz- und die Zurückweisungskomponenten nicht die normative Kraft entfalten, derer sie bedürften, um Personen mit verschiedenen Wertvorstellungen zu binden und gegenseitige Toleranz zu ermöglichen. An eben dieser Stelle ist nun besondere Aufmerksamkeit geboten. Forst fährt fort, indem er darauf hinweist, dass diese Forderung letztlich das erlaube, worauf es ihm in seiner Untersuchung ankomme: »nicht nur eine der Konzeptionen der Toleranz als im Kontext einer pluralistischen Gesellschaft zu bevorzugende auszuzeichnen, sondern auch eine spezifische Begründung für sie zu liefern, die den Kriterien normativer Eigenständigkeit, moralischer Verbindlichkeit und Unparteilichkeit am besten entspricht und allen anderen Begründungen überlegen ist.«196 Die Geschichte der Toleranz, die Forst in einem historischen Diskurs ausführlich nachzeichnet, lässt sich demnach auch als Geschichte der Begründungen verstehen, die verwendet wurden, um die drei Komponenten der Ablehnung, der Akzeptanz und der Zurückweisung mit Inhalt zu füllen. Diese reichen von religiösen Begründungen über liberale bis zu utilitaristischen oder kommunitären. Hierbei handelt es sich nicht primär um eine umfassende Geschichte der Toleranz, sondern um die Rekonstruktion einer Argumentationsgeschichte. Vor diesem Hintergrund hält Forst fest, dass der Diskurs der Toleranz mit Marx’ und 194 Nur stellt sich hier die Frage, welche Definition gemeint und von welcher Toleranz jeweils die Rede ist. Normative Begründungen werden als allgemeingültige Grenzziehungen gesucht. 195 R. Forst, Toleranz im Konflikt, 50. 196 Ebd. (Hervorhebung durch Vf.); die spezifische Problematik eines solchen Vorhabens wird im Folgenden erläutert werden.

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Nietzsches Kritik zu einem vorläufigen Abschluss gekommen sei, als nun »die Palette der klassischen Toleranzbegründungen (und Kritiken) in differenzierter Form vorliegt.«197 Er fährt fort, indem er einen kurzen Blick auf die wichtigsten Entwicklungen im zwanzigsten Jahrhundert in geschichtlicher Perspektive wirft. Unter anderem nennt er hier die Kodifizierung von Grundfreiheiten auf nationaler (i. e. die Grundrechte in der Weimarer Reichsverfassung von 1919, das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik von 1949) sowie auf internationaler Ebene (insbesondere die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948) als wichtige Dimensionen der rechtlichen Toleranz. Im Anschluss an die darauf folgenden knappen Erläuterungen zu den Aspekten der politischen und der kulturellen Toleranz steht interessanterweise die Feststellung, dass »in all den bisher genannten Kontexten die Religion eine wichtige, wenn nicht zentrale Rolle«198 spielt. Ob ein Staat nämlich vollkommen auf eine majoritär-religiöse, sittliche Grundlage verzichten kann, sei weiterhin strittig. In zahlreichen politischen Konflikten, in denen religiöse Ablehnungen bestimmter Gruppen und deren Praktiken von großer Bedeutung sind, sei »sogar ein Wiedererwachen religiöser Identitäten inmitten ›säkularer‹ Gesellschaften festzustellen, seien es kollektive oder individuelle Identitäten.199 Die Frage der religiösen Toleranz scheint damit aktueller denn je, auch wenn zu sehen ist, dass sehr viele der genannten Auseinandersetzungen eine komplexe Mischung aus sozio-politischen, kulturellen und religiösen Momenten aufweisen.«200 Als bedeutenden Einschnitt in der Geschichte der religiösen Toleranz ist die erst 1965 erlassene Erklärung De libertate religiosa des Zweiten Vatikanischen Konzils zu verstehen. Darin würdigt die katholische Kirche das Recht auf Religionsfreiheit als Recht, das »auf die Würde der menschlichen Person selbst gegründet ist, wie sie durch das geoffenbarte Wort Gottes und die Vernunft erkannt wird«, und das daher auch denen erhalten bleibt, »die ihrer Pflicht, die Wahrheit zu suchen und festzuhalten, nicht nachkommen.«201 Von einem unaufhaltsamen Siegeszug, den die Respekt-Konzeption der Toleranz mit Beginn der Moderne angetreten habe, so eine weitverbreitete Auffassung, kann also nicht die Rede sein. Den Weg hin zu einer Religionsauffassung, der es gelingt, die eigene Wahrheit an dem Respekt für den Anderen, nicht aber an dessen Wahrheit, zu relativieren, bezeichnet Forst als nach wie vor lang. 197 A. a. O., 514. 198 A. a. O., 522. 199 Forst verweist an dieser Stelle auf O. Kallscheuer (Hg.), Das Europa der Religionen. Ein Kontinent zwischen Säkularisierung und Fundamentalismus. 200 R. Forst, Toleranz im Konflikt, 522 (Hervorhebung durch Vf.). 201 Declaratio de libertate religiosa, zit. in E.-W. Böckenförde, Toleranz – Leidensgeschichte der christlichen Kirchen, 52.

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Im Sinne einer wahrhaft universalen Toleranzanalyse gälte es, die Toleranzpotenziale sämtlicher Religionen daraufhin zu überprüfen, welcher Art sie sind und welche Formen der Selbstrelativierung sie ermöglichen. Angesichts der Komplexität dieser Aufgabe nimmt Forst davon jedoch Abstand. Es soll an dieser Stelle darauf hingewiesen sein, dass sich die vorliegende Untersuchung als ein partieller Beitrag zu diesem umfassenden, aber unbedingt erstrebenswerten Unterfangen aus evangelisch-christlicher Sicht versteht, als ein Schritt auf dem Weg der Weiterentwicklung des Toleranzdiskurses. Denn die Frage globaler Toleranz, die eben immer auch eine Frage der interreligiösen Toleranz bedeutet, wird letztlich nicht nur vor dem Hintergrund eines angeblich drohenden clash of civilizations202 immer drängender. Die Staatengemeinschaft, die sich zunehmend als eine Gemeinschaft versteht, sieht sich vor die Aufgabe gestellt, gemeinsame Normen des Handelns zu entwickeln. Hinsichtlich der Toleranzsituation stellt sich konkret die Frage: Welches sind die gemeinsamen Prinzipien, auf deren Basis eine begründete Toleranz möglich wird, und wo liegen ihren Grenzen? Forst weist in diesem Zusammenhang auf die Menschenrechte hin, die vielfach als eine solche Basis angesehen werden. Dabei sehen sie sich jedoch dem Verdacht ausgesetzt, selbst intolerant zu sein und eine umfassende gesellschaftliche Neuerung und »Modernisierung« nach westlichem Vorbild mit sich zu bringen, auch wenn sich solche Befürchtungen laut Forst aus sehr unterschiedlichen Quellen speisen.203 Einer Weiterentwicklung des Toleranzdiskurses fehlt es daher augenscheinlich nicht an weiten Feldern von Konflikten und Argumenten, und so scheint Forsts Äußerung zuzutreffen, dass »dieser Diskurs kein Ende hat.«204 Forsts weiteres Vorgehen verfolgt das Ziel, zu einer übergeordneten Theorie der Toleranz zu gelangen. Er kommt letztlich zu der Auffassung, dass keine anderen Werte oder Normen die Grundlage dieser übergeordneten, allgemein gerechtfertigten und selbst toleranten Theorie der Toleranz liefern können »als das Prinzip der Rechtfertigung selbst.«205 Dieses Metaprinzip, so Forsts Argumentation, setzt alle Begründungen für Intoleranz bzw. Toleranz einer reziprokallgemeinen Rechtfertigungspflicht aus. Als substanzielles normatives Prinzip bilde es die Basis der Toleranz und übertrumpfe die alternativen Ansätze, die ja sämtlich Versuche der Rechtfertigung bestimmter Toleranzverhältnisse seien. Die Suche nach einer Rechtfertigung der Toleranz, die nicht wechselseitig zurückweisbar ist und keiner der von Forst genannten Dialektiken verfällt, d. h. kein umstrittenes »Heilsversprechen« verabsolutiert, wie Nietzsche es kritisiert, 202 203 204 205

Vgl. S.P. Huntington, The Clash of Civilizations. Vgl. R. Forst, Toleranz im Konflikt, 526. Ebd. A. a. O., 528.

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führt Forst am Ende seiner Überlegungen zu derjenigen Rechtfertigung, »die auf nichts anderem beruht als auf dem Prinzip der Rechtfertigung selbst.«206 Um zu verhindern, dass eine partikulare (d. h. reziprok zurückweisbare) Begründung der Toleranz an der Stelle in ihr Gegenteil umzuschlagen droht, an der sie auf (vernünftigerweise legitimierbaren) Widerspruch stößt, sei eine übergeordnete Reflexion auf die Rechtfertigbarkeit der vorgenommenen Grenzziehungen von Nöten. Und diese wiederum müsse sich von solchen Teilbegründungen insofern frei machen, als sie das Prinzip der reziprok-allgemeinen Rechtfertigung, das sowohl in historisch konkreten, gesellschaftlichen Toleranzkonflikten als auch auf einer philosophischen Ebene im Diskurs der Toleranzbegründungen als Grundsatz höchster Stufe stets impliziert gewesen sei, selbst zur Grundlage (a) der Forderung der Toleranz und (b) der Grenzziehung mache. Forst zufolge handle es sich bei dieser den anderen überlegenen Toleranzbegründung um eine Form des Respekts, die nicht gleichsam als historische Wahrheit von der Geschichte hervorgebracht wird, sondern in erster Linie – in Anlehnung an Kants Moralphilosophie – eine Wahrheit der praktischen Vernunft bleibt. Die von Forst vertretene Theorie der Toleranz sieht das Prinzip der Rechtfertigung in einem deontologischen Sinne als verpflichtend an und richtet die Bestimmung der Grenzen der Toleranz reflexiv-kritisch an eben diesem aus. Als Kriterium für eine minimal begründbare Ablehnung wird die Nichtinfragestellung des grundlegenden Respekts für andere angesehen, wodurch die »Paradoxie des toleranten Rassisten« aufgelöst werden soll. Die anfangs ebenfalls erläuterte »Paradoxie moralischer Toleranz« wird nun gemäß der deontologischen Begründungsdifferenz aufgelöst, »d. h. dass das moralische Recht auf Rechtfertigung strikt verbindlich ist (und die Akzeptanz begründet) und nur solche Normen allgemeine Geltung beanspruchen dürfen, die die Grenzen von Reziprozität und Allgemeinheit überwinden, während die ethischen Wertüberzeugungen, die dies nicht können, weiterhin vertretbar (und tolerierbar) bleiben.«207 Die »Paradoxie der Grenzziehung« schließlich wird so aufgelöst, dass jede Zurückweisung einer Überzeugung oder Praxis wechselseitig zu rechtfertigen sein muss, um Willkür und Parteilichkeit bestmöglich auszuschließen. Daher sei dies mit einer Theorie politischer Rechtfertigung zu verbinden. Forsts Überlegungen zielen letztlich auf die Rekonstruktion einer den gesellschaftlichen und theoretischen Toleranzkonflikten immanenten Toleranzgrundlage, die sich keinen externen Normen oder Werten verdanke, »sondern einem moralischen Verständnis des Rechtfertigungsprinzips selbst, dem eine unbedingte Pflicht zur bzw. ein fundamentales Recht auf Rechtfertigung entspricht, das allen Menschen als Menschen – als rechtfertigenden, endlichen Vernunftwesen – 206 A. a. O., 581. 207 A. a. O., 583.

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zukommt, unabhängig von ihren spezifischen Eigenschaften, Überzeugungen und Identitäten.«208 Am Ende aller Ausführungen bleibt Forst jedoch die Antwort darauf schuldig, woher genau dieses moralische Verständnis des Rechtfertigungsprinzips, das die ersehnte Lösung der von Forst aufgezeigten Aporien und Paradoxien darstellt, rühren sollte. Mit den Kriterien »reziprok« und »allgemein« beantwortet Forst allein die Frage nach dem Wie einer solchen Rechtfertigung: Demnach seien Bürger dann tolerant, wenn sie »den Bereich des wechselseitig Forderbaren und Verbindlichen auf das reziprok und allgemein zu Rechtfertigende beschränken.«209 Während »reziprok« für Forst bedeutet, niemand dürfe bestimmte Ansprüche auf die Geltung von Normen oder auf Rechte erheben, die er anderen verweigert, genauso wenig wie man den Anderen die eigene Perspektive, die eigenen Wertsetzungen, Überzeugungen oder Interessen schlicht unterstellen dürfe, indem man beansprucht, im »eigentlichen« Interesse der Anderen zu sprechen, bedeutet das zweite Kriterium »allgemein« für Forst, »dass eine normative Lösung die Ansprüche einer jeden Person bedenken muss und nicht zwischen zwei gesellschaftlich dominanten Parteien – etwa zwei Konfessionen – allein ausgehandelt werden kann. Eine jede Person hat demnach ein moralisches Vetorecht reziprok-allgemeiner Einwände.«210 An dieser Stelle muss die überraschend »rigide Formulierung dieses Kriteriums«211 auf Kritik stoßen. Denn – wie Häberle es formuliert – »[w]enn ›jede Person‹ ein ›moralisches Vetorecht‹ haben soll, stellt sich schon die Frage, wie in großen Gesellschaften jemals die Hürde dieses Kriteriums übersprungen werden könnte – oder ob es sich nicht letztlich um ein unerreichbares Ideal handelt.«212 Auf weitere Unschärfen seiner Konzeption weist Forst mitunter selbst hin: Folglich könne kein Zweifel daran bestehen, dass auf der Ebene der allgemeinen Normen »Dissense darüber zu erwarten sind, wie die Kriterien von Reziprozität und Allgemeinheit im Einzelnen anzuwenden sind.«213 Entscheidend sei allein, dass sich »die Beteiligten ihrer Fehlbarkeit in diesen Fragen bewusst sind« und eine »bestmöglich vertretbare Lösung suchen – die auch wieder revidiert werden kann.« Gerade weil Menschen keine »Moralanwendungsmaschinen« seien, bedürfe es dieser gegenseitigen Toleranz. Darüber hinaus scheine auch dort »die Unterscheidung zwischen reziprok-allgemein geltenden Normen und ethischen Werten eindeutig an eine Grenze zu stoßen, wo die ethischen Hintergrundannahmen selbst den Kern der Moral, die Definition der moralischen Person, 208 209 210 211 212 213

A. a. O., 590. Vgl. hier und zum Folgenden a. a. O., 591 f. A. a. O., 595. L. Häberle, Toleranz-Relativismus-Political Correctness, 25. Ebd. R. Forst, Toleranz im Konflikt, 611.

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bestimmen und in den Konflikt hineinziehen.«214 So lägen in den Diskussionen über Abtreibung, den legitimen Umgang mit Embryonen und um die Frage der Sterbehilfe augenscheinlich Probleme dieser Art vor. In einer möglichen »Einigung auf eine Nichteinigung bleibt das Prinzip der Rechtfertigung als normatives leitend, und die Toleranz ergibt sich diesmal in der Tat nicht aus einer klaren Trennlinie zwischen Ethik und Moral, sondern aus dem Bewusstsein, dass diese Trennung selbst an ihre Grenze stoßen kann.«215 So theoretisch elaboriert und eindrücklich die Konzeption von Forst insgesamt zu würdigen ist, muss dennoch, wie auch Häberle216 feststellt, neben den erwähnten Unschärfen und immanenten Grenzen auf die mitunter sehr weite Dehnung der Toleranzgrenzen hingewiesen werden. Allzu oft zeigt sich diese bei Forsts Anwendung seiner Konzeption auf Toleranzkonflikte wie beispielsweise das »Kruzifix-Urteil«, die verschiedenen Kopftuch-Fälle, die Teilnahme von Muslima an koedukativem Sportunterricht oder der rechtlichen Gleichbehandlung homosexueller Paare.217 Darüber hinaus ist der Anmerkung Häberles zuzustimmen, dass dabei »auch das Argument einer gewachsenen (christlichabendländischen) Kultur (fast) durchgängig ausgeblendet«218 bleibt. Die Formel vom »Recht auf Rechtfertigung« scheint die kantische Intuition grundlegender moralischer Anerkennung auf einen diskurstheoretischen Nenner bringen zu wollen, kann aber aus evangelischer Sicht nicht hinreichend überzeugen. So einleuchtend es zunächst klingen mag, sich für eine rein formal philosophische Grundlage für Toleranz auszusprechen, die im kantischen Sinne in universalistischen Normen gesucht wird, so offenkundig ist es, dass die bekannten Schwächen des universalistischen Ansatzes der kantischen Ethik ebenso auf eine derart abstrakte Grundlage für Toleranz zutreffen. Dabei kann das Fehlen eines eindeutigen Motivs bzw. einer Motivation zur Befolgung eben dieser abstrakten Normen, die keinerlei Bezug zu persönlicher Glaubensauffassung, Tradition oder Lebenswelt aufweisen, als die größte Schwäche identifiziert werden. Eine über die bloße Kenntnis derselben hinausreichende motivationsgenerierende und handlungsbindende Kraft ist nicht erkennbar. Bei aller Anerkennung der in vielerlei Hinsicht überaus aufschlussreichen Darlegungen Forsts zur Toleranzthematik muss daher festgehalten werden, dass eine derart freitragende Antwort auf das Toleranzprinzip aus protestantischer Perspektive letztendlich nicht zufriedenstellend erscheint. Forsts philosophische, aus der von Jürgen Habermas u. a. entwickelten Diskursethik hervorgehende Sicht empfiehlt eine betont von allen religiösen Begründungen absehende 214 215 216 217 218

Ebd. A. a. O., 614. L. Häberle, Toleranz-Relativismus-Political Correctness, 27. Vgl. ebd. sowie R. Forst, Toleranz im Konflikt , 708 – 745. L. Häberle, Toleranz-Relativismus-Political Correctness, 27.

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Auffassung von Toleranz und unterstützt somit entsprechende Tendenzen einer Privatisierung von Religion. Hingegen muss aus evangelischer Perspektive nachdrücklich am Öffentlichkeitsanspruch des christlichen Glaubens festgehalten werden, da nicht zuletzt eine Verständigung der Religionen selbst als Weg zu Frieden und Toleranz zu gelten hat. Demzufolge besteht die Aufgabe darin, »die Quellen der Toleranz in den religiösen Traditionen selbst zu suchen.«219 Vor diesem Hintergrund werden sich nun weitere Überlegungen anschließen müssen, die ein dezidiert evangelisches Verständnis von Toleranz erörtern. 3.1.2.3 Das evangelische Verständnis von Toleranz (Chr. Schwöbel) 3.1.2.3.1 Toleranz und Identität Christoph Schwöbel hat in seinem Beitrag »Toleranz aus Glauben« Toleranz und Identität eng miteinander verknüpft. Der religiös weltanschauliche Pluralismus konfrontiere die Mitglieder der Gesellschaft radikal mit der Frage nach der eigenen Identität: »Die Begegnung mit dem fremden Anderen, sei es die andere Person, sei es die andere Gruppe, wirft die Frage nach der eigenen Identität auf.«220 Diese Identität sei vielfach auch in religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen begründet. Einerseits würden Religion und Weltanschauung nämlich im gesellschaftlichen Leben als Grund und Ziel menschlichen Daseins in Anspruch genommen. Andererseits würden religiöse und weltanschauliche Überzeugungen die Frage der Identität »im Horizont von Basisüberzeugungen über Grund, Sinn und Ziel des menschlichen Daseins« beantworten und in Form von »religiösen Traditionen, im Mythos, im Kultus und im Ritus, Institutionen oder Identitätsvergewisserung anbieten.«221 Religion und Weltanschauung begründet, formt und sichert demnach die Identität des Einzelnen oder einer Gruppe. Die Frage der Toleranz des Anderen stellt sich laut Schwöbel daher immer im Zusammenhang mit der Frage nach der eigenen Identität. Die eigene Identität werde nämlich durch die Konfrontation mit fremden Glaubensüberzeugungen, die zugleich eng mit der fremden Religion verwoben seien, radikal in Frage gestellt. Damit wird die Infragestellung der eigenen (Glaubens-)Identität zu einem Zentralmoment des Konfliktes. Zugleich zeige sich im Zusammenhang von Toleranz und Identität eine »Dialektik«. So sei Intoleranz in der Regel Symptom einer Identitätskrise und nicht das Zeichen einer gefestigten sozialen und persönlichen Identität. Die Tugend der Toleranz setze hingegen eine Identität voraus, »die sich ihrer selbst so gewiss ist, dass sie die Identität des Anderen 219 Chr. Schwöbel, Christlicher Glaube im Pluralismus, 227. 220 Chr. Schwöbel, Toleranz aus Glauben, 13. 221 A. a. O., 14.

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respektiert und ihre Entfaltung toleriert.«222 Schwöbel sieht daher angesichts des religiös-weltanschaulichen Pluralismus zwei Herausforderungen: Zum einen seien pluralistische Gesellschaften darauf angewiesen, dass in ihnen Toleranz dem Anderen gegenüber eingeübt werden könne. Zum anderen müsse Raum für Identitätsbildung geschaffen werden. Einübung der Toleranz sei nämlich nur möglich, »wenn es in pluralistischen Gesellschaften Möglichkeiten der Identitätsgewinnung gibt, die zur Ausbildung von stabilen, toleranzfähigen Identitäten beitragen.«223 Identitätsbildung und Bildung zur Toleranz bedingen sich daher gegenseitig. In welchem Rahmen und auf welche Weise kann nun ein Beitrag zu diesem Bildungsprozess geleistet werden? Schwöbel unterstreicht, dass die Kommunikationsform des Dialogs einen ganz entscheidenden Beitrag zur Toleranzbildung und -einübung leiste. In religiös-weltanschaulich pluralistischen Gesellschaften gelte ein Imperativ des Dialogs der Religionen und Weltanschauungen. Dieser sei nicht optional oder gar verzichtbar, sondern »Bedingung des Überlebens einer pluralistischen Gesellschaft.«224 Er sei der Ort, an dem die »handlungsleitenden Gewissheiten und Überzeugungen der einzelnen Gesellschaftsglieder und der gesellschaftlichen Gruppen in der Gesellschaft transparent gemacht«225 würden. Der Dialog wird damit zur Vorbedingung der Toleranz und zu ihrer Vollzugsform. Denn »[t]oleriert werden kann nur das bekannte Fremde, das unbekannte Fremde bleibt bedrohlich und kann nicht toleriert werden.«226 Leistet der Dialog einen Beitrag dazu, dass das unbekannte Fremde zum bekannten Fremden wird, so ist dieser Dialog auch Weg zur »Einsicht in die Wechselseitigkeit der Toleranz, die wechselseitige Anerkennung ermöglicht.«227 3.1.2.3.2 Toleranz aus Glauben Religiöse Hindernisse der Toleranz liegen jedoch oftmals darin, dass die Forderung der Toleranz gleichzeitig eine Relativierung des religiösen Wahrheitsbewusstseins darzustellen scheint und somit eine Schwächung religiöser Identität nach sich zieht. Wenn in der neuzeitlichen Auffassung die säkulare Vernunft zum Maßstab der Plausibilität religiöser Überzeugungen sowie zum Maßstab der Toleranz wird, wenn also nur solche Überzeugungen und Handlungen zu tolerieren sind, die sich nach Maßgabe der bloßen Vernunft rechtfertigen lassen, führt dies zu einer Gefährdung derjenigen religiösen Identitäten, »die sich nicht aus der säkularen Vernunft begründen, sondern auf der Basis einer religiösen 222 223 224 225 226 227

Ebd. Ebd. A. a. O., 15. Ebd. Ebd. A. a. O., 16.

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Tradition und der sie begründenden Offenbarung.«228 Gerade aus dieser erfahrenen Schwächung religiöser Identitäten heraus können fundamentalistische und intolerante Verhaltensweisen erwachsen, womit die Forderung der Toleranz offensichtlich in ihr Gegenteil mündet. So bemerkt auch Ebeling zu diesem Zusammenhang: »Der in der Toleranz der Vernunft angelegte, wenn auch zunächst nicht gewollte Trend zur Formalisierung untergräbt zumindest potentiell das Sittliche wie das Religiöse durch eine Vergleichgültigung, die der Nährboden neuer Intoleranzen ist. Man kann nicht der Toleranz der Vernunft, wie sie es verdient, zustimmen, ohne diesen hohen Preis einzukalkulieren.«229 Die Möglichkeit eines Auswegs aus dieser Situation scheint allein in der Bekämpfung der Intoleranz von innen zu liegen, d. h. in der Besinnung auf religiöse Wurzeln der Toleranz – Begründungen der Toleranz also, die in der religiösen Identität wurzeln und darum nicht als ihre Infragestellung erscheinen. Um das evangelische Verständnis von Toleranz nun zu verdeutlichen, kann aus reformatorischer Perspektive dargestellt werden, »dass Toleranz nicht gegen den Glauben einzuklagen ist, sondern aus dem Glauben gewonnen werden kann.«230 So versteht die reformatorische Theologie den Glauben als Resultat eines Kommunikationsgeschehens, in dem die Botschaft vom heilsschaffenden Handeln Gottes in der Verkündigung und im Hören weitergegeben wird. Diese Kommunikationspraxis wird als Interpretation der Schrift vollzogen, welche im Sinne des Priestertums aller Gläubigen alle Christinnen und Christen zum Urteil über die christliche Glaubenslehre sowohl befähigt als auch befugt. Wenn nun die Konstitution des Glaubens an die Kommunikation des Evangeliums gebunden ist, die auf der Interpretation der Schrift beruht, so kann nur die christliche Kommunikationsgemeinschaft den Rahmen bieten, in dem Toleranz aus Glauben eingeübt werden kann, die in der Interpretation der Schrift ihre Grundlage findet. Somit gilt aus reformatorischer Sicht das konkrete Leben einer Gemeinschaft, die sich an der Interpretation der Schrift und an der fortwährenden Kommunikation über die in ihr bezeugte Botschaft orientiert, als Voraussetzung sowohl für den Glauben als auch für die Toleranz aus Glauben. Entscheidend für unser Anliegen ist nun auch die Tatsache, dass dieses verbum externum nach reformatorischem Verständnis erst durch das testimonium internum des Heiligen Geistes gewiss gemacht wird. Wolf betont die »Erkenntnis von der Nichterzwingbarkeit des Glaubens, die auf die Freiheit Gottes zurückzuführen ist, auf das ubi et quando visum est Deo der Heilswirksamkeit des

228 A. a. O., 22. 229 G. Ebeling, Die Toleranz Gottes und die Toleranz der Vernunft, 69. 230 Chr. Schwöbel, Toleranz aus Glauben, 22. Vgl. zum Folgenden a. a. O., 22 ff.

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göttlichen Geistes im verkündeten Gotteswort.«231 Die Konstitution der Wahrheitsgewissheit des Glaubens stellt sich für die reformatorische Theologie daher als ein souveräner Schöpfungsakt Gottes dar, der »die Botschaft der Verkündigung, die im Zeugnis der Schrift begründet ist, für den Glaubenden bewahrheitet.«232 Die Einsicht in das Zustandekommen der eigenen Glaubensgewissheit allein durch das vollkommen unverfügbare Handeln Gottes, welches die Christusbotschaft als Wahrheit erkennen lässt, bildet nun aus der Perspektive des christlichen Glaubens die Grundlage der Toleranz gegenüber anderen religiösen Glaubensüberzeugungen. Denn andere Glaubensüberzeugungen sind darum zu tolerieren, »weil sie nach dem Zeugnis der Angehörigen anderer Religionen ebenso nicht das Produkt menschlicher Erkenntnisbemühung, sondern einer transzendenten Erschließungserfahrung sind.«233 In der Anerkennung des Rechtes des Anderen auf Vertretung seiner Wahrheitsgewissheit zeigt sich eine aktive Toleranz des Erduldens eines anderen Wahrheitsanspruches. Eine derartige Toleranz ist jedoch nur dort denkbar, wo sie in der eigenen Wahrheitsgewissheit begründet ist.234 Somit ist das Tolerieren des anderen Glaubens nur möglich in Form von Toleranz aus Glauben. Wird Toleranz für den Anderen also nicht erzwungen sondern gewährt, so enthält sie darüber hinaus die Einladung an das Gegenüber, auch selbst Toleranz zu gewähren. Eine Grenze des Tolerierbaren ist Schwöbel zufolge allerdings mit jedem Versuch erreicht, in die Gewissensfreiheit beispielsweise durch ihre Bestreitung oder durch eine aktive Inszenierung der Gewissensbildung einzugreifen. Nach reformatorischem Verständnis nämlich ist in allen Formen der Vertretung der eigenen Überzeugungen unbedingt zu respektieren, dass die Bildung von Gewissheit kein menschenmögliches Werk darstellt, sondern vielmehr unverfügbar und frei geschehen muss.235 Nur aus dieser Einsicht kann die Grundlage einer Toleranz aus Glauben erwachsen.236 Abgesehen von dieser Begründung einer in der christlichen religiösen Identität verwurzelten Toleranz aus Glauben, die sich allein auf die Konstitution der E. Wolf, Toleranz nach Evangelischem Verständnis, 151. Chr. Schwöbel, Toleranz aus Glauben, 24. Ebd. Vgl. W. Härle, Wahrheitsgewissheit als Bedingung von Toleranz. Demgegenüber lassen wissenschaftliche Weltanschauungen in ihrem Anspruch, auch die Gewissheit in Bezug auf die Wahrheit der Lehre aktiv bewirken zu können, also handlungsleitende Gewissheiten durch Lehre produzierbar zu machen, durchaus totalitäre Tendenzen offenbar werden; vgl. Chr. Schwöbel, Toleranz aus Glauben, 27, dort Anm. 13. 236 Als ein scheinbarer Weg zur Toleranz erweist sich hingegen der Relativismus. Indem er nämlich allen religiösen Wahrheitsansprüchen lediglich eine mangelhafte Einsicht in die Wahrheit attestiert, macht er die Unvollkommenheit und Schwäche ihrer Erkenntnis zur Basis der Toleranz. Charakteristisch für eine klassische Haltung der Intoleranz beansprucht er jedoch zugleich für die eigene Position exklusive Gültigkeit.

231 232 233 234 235

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Wahrheitsgewissheit des Glaubens konzentriert, kann Toleranz jedoch auch aus dem Inhalt des christlichen Glaubens begründet werden. Ebeling verweist beispielsweise auf Luthers Erklärung für Gottes wohlwollendes Verhalten den impii gegenüber, welches nicht im Blick auf die ausgeführten Werke, sondern nur im Blick auf die unfassbare Weisheit und Toleranz Gottes zu verstehen ist.237 Doch nicht nur die impii, sondern »alle, die sich um Christi willen an die Rechtfertigung vor Gott allein aus Glauben halten – die Kirche also, die im urchristlichen Sinne Heiligen -, sind ebenfalls und nicht minder weiterhin auf Gottes Toleranz angewiesen.«238 Denn einem zentralen Punkt der reformatorischen Theologie folgend haftet auch dem Gerechtfertigten als simul iustus et peccator immer noch die Sünde an. Alle Menschen, Gerechtfertigte wie Gottlose, sind somit Sünder und leben aus der Toleranz Gottes, welche den Unglauben, den Ungehorsam und die selbstzerstörerische Tendenz menschlichen Handelns kennt.239 Das Ziel, menschliche Toleranz aus der Einsicht des Glaubens in die Toleranz Gottes zu üben, wird nun weniger durch Gottes »Vorbildfunktion« für den Glaubenden erreicht, sondern durch dessen Selbstrelativierung aufgrund der Einsicht und des Bewusstwerdens darüber, dass Glaubende wie Nicht-Glaubende Sünder und somit auf Gottes Toleranz angewiesen sind. Christen wie Nicht-Christen leben von derselben Toleranz Gottes, »die die Unterschiede zwischen ihnen nicht aufhebt, aber im Blick auf das – gemeinsame – Gewährtsein des Lebens radikal relativiert.«240 Kein menschliches Urteilen könnte je an die Stelle des letztgültigen Urteils Gottes, des Richters aller Menschen, treten. Hinzu kommt, dass sich Gottes Gericht und seine Toleranz nach reformatorischem Verständnis an der Unterscheidung zwischen Personsein und Werken der Glaubenden orientieren. Darum gilt für eine im Horizont der Toleranz Gottes geübte Toleranz aus Glauben »die Toleranz gegenüber dem Personsein von Menschen auch dort, wo ihre Überzeugungen und Handlungen abzulehnen sind.«241 Demnach hat auch der intolerante Mensch als Person »Anspruch auf Toleranz«242, während gleichzeitig seine intoleranten Taten und Meinungen nicht zu tolerieren, also nicht zu dulden sind. Härle weist an dieser Stelle darauf hin, dass diese für die reformatorische Theologie wesentliche Unterscheidung zwischen Person und Werk eines Menschen trotz der vielfach erfahrenen Kritik eine Errungenschaft bildet, ohne die beispielsweise strafrechtliche und andere 237 Vgl. WA 39/1, 82, 29 – 31: »Igitur non est respiciendum neque ad personam impii qui iustitiam operatur, neque ad pulchritudinem talis operis, sed ad incomprehensibilem tolerantiam et sapientiam Dei […].« 238 G. Ebeling, Die Toleranz Gottes und die Toleranz der Vernunft, 63. 239 Vgl. W. Härle, Wahrheitsgewissheit als Bedingung von Toleranz, 82. 240 A. a. O., 83. 241 Chr. Schwöbel, Toleranz aus Glauben, 29. 242 W. Härle, Wahrheitsgewissheit als Bedingung von Toleranz, 80.

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Sanktionen schwerlich mit der Respektierung der Menschenwürde vereinbar sein dürften.243 Die Weiterführung dieses Gedankens gipfelt im christlichen Glauben nun in das Gebot der Feindesliebe. Toleranz ist hier einzig aufgrund der Überzeugung möglich, dass Gott auch den Glaubenden bereits seine Liebe erwiesen hat, als diese noch Gottes Feinde waren (vgl. Röm 5,10). Allein diese Einsicht lässt die Feinde für den Glaubenden als alter ego erscheinen. Zwar kann die neutestamentliche244 Feindesliebe vorerst als einseitige Vorleistung in Erscheinung treten, die sich nicht von einem entsprechenden Entgegenkommen der Gegenseite abhängig macht. Dennoch ist es für dauerhaft gelingende soziale Beziehungen unerlässlich, »dass (auch hinsichtlich der Toleranz) ein Verhältnis der Wechselseitigkeit besteht oder entsteht.«245 Darüber hinaus sind nach Luther, der das Wort Toleranz in die deutsche Sprache eingeführt hat246, in der Umsetzung des Gedankens der Toleranz Gottes in die gesellschaftliche Wirklichkeit durchaus auch pragmatische Argumente erlaubt. So stellt das gemeinschaftliche Gute einer Gesellschaft ein legitimes Argument für die Ausübung von Toleranz dar. Die Orientierung an der Toleranz Gottes übersetze sich gerade nicht in die Praxis einer rigoristischen Theokratie, in der die theologisch begründete Intoleranz regiere, sondern in eine Praxis gesellschaftlichen Zusammenlebens, in dem die theologischen Prinzipien der Toleranz in eine am öffentlichen Frieden und damit am Gemeinwohl orientierte Politik übersetzt werden dürfen. Die Grenzen der Toleranz sind jedoch mit solchen Überzeugungen und Handlungen beschrieben, die die personale Würde des Menschen zu zerstören drohen und damit darauf abzielen, das Ebenbild Gottes im Menschen auszulöschen. Die Ächtung menschenfeindlicher Gewalt ist somit ein ethisches Implikat der Toleranz aus Glauben.247 3.1.2.3.3 Zusammenfassung Es bleibt also im Kern festzuhalten, dass sich das evangelische Verständnis sowohl des Pluralismus als auch der Toleranz letztendlich an der reformatorischen Auffassung von der passiven Konstitution von Gewissheit für den Menschen festmacht und aus ihr erwächst. Alle Gewissheit verdankt sich einem dem Menschen nicht verfügbaren Erschließungsprozess. Dies gilt darum nicht nur für Protestanten und nicht nur für Christen, sondern für alle Menschen und ihre Gewissheiten. In letzter Konsequenz, so Schwöbel, verpflichtet insofern die 243 Vgl. ebd. 244 Zum alttestamentlichen Gebot der Nächstenliebe als Auslegung des unaussprechlichen Namen Gottes vgl. D. von Tippelskirch, Von Göttlicher Geduld und gebotener Toleranz, 234 ff. 245 W. Härle, Wahrheitsgewissheit als Bedingung von Toleranz, 91. 246 Vgl. Chr. Schwöbel, Pluralismus und Toleranz aus der Sicht des Christentums, 118. 247 Vgl. Chr. Schwöbel, Toleranz aus Glauben, 30.

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Wahrheitsgewissheit des eigenen Glaubens zu der »unmöglichen Tugend«248 der Toleranz, auch das zu ertragen, was der eigenen Gewissheit widerspricht, weil es von anderen ebenfalls als Gewissheit erfahren und vertreten wird. Anders als die Aufklärung, welche die Toleranz anderer Überzeugungen in der Relativierung der Wahrheitsansprüche aller Überzeugungen begründete, lehrt die reformatorische Einsicht den Respekt vor der Unverfügbarkeit des Werkes Gottes. Die Begründung der Toleranz in der eigenen, von Gott unverfügbar geschenkten Glaubensgewissheit eröffnet Wege zu einem anderen Verständnis der Toleranz, das die Toleranz nicht in der Relativierung des Glaubens begründet, sondern in der Vertiefung des Glaubens verankert sieht. Während nun die Konstitution aller Gewissheit als unverfügbar respektiert werden muss, ist die Vertretung dieser Gewissheit hingegen in rationaler Argumentation, ihre Darstellung in sozialem Handeln und institutioneller Organisation sehr wohl in die menschliche Verantwortung gestellt.249

3.1.2.4 Toleranz und Dialog: religionssoziologische Überlegungen (P.L. Berger) 3.1.2.4.1 Formen und Bedingungen des Dialogs Die zuvor entfaltete These, dass nur das bekannte Fremde toleriert werden kann, das unbekannte Fremde jedoch bedrohlich bleibt, nicht toleriert werden kann und der Dialog somit zur Vorbedingung der Toleranz und zu ihrer Vollzugsform wird, soll im Folgenden noch weiter ausgeführt werden. Auch wenn es Überlegungen verschiedener Autoren zu dieser Thematik gibt, erscheinen die religionssoziologischen Ausführungen in Bergers Dialog zwischen religiösen Traditionen aus religionspädagogischer Sicht besonders ergiebig zu sein. Zwar handelt es sich bei dieser Veröffentlichung lediglich um eine Preisrede, doch ist es der Versuch des Autors, sich aufgrund seiner Erfahrungen darin zusammenfassend mit der Thematik auseinanderzusetzen. So wird im weiteren Verlauf vermehrt auf diesen Beitrag verwiesen, da Berger sich in eben diesem Text mit den für den interreligiösen Dialog relevanten Fragen befasst. Wie bereits ersichtlich wurde250 stellt auch für Berger der Dialog zwischen religiösen Traditionen und somit die Auseinandersetzung mit verschiedenen religiösen Angeboten die Gestalt desjenigen Mittelweges dar, der nach der Ablehnung der beiden extremen Positionen des Relativismus und des Fundamentalismus unweigerlich beschritten werden muss. 248 Chr. Schwöbel, Pluralismus und Toleranz aus der Sicht des Christentums, 118. 249 Vgl. a. a. O., 120. 250 Vgl. die Ausführungen zu Relativismus und Fundamentalismus unter 2.3.1.

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Zunächst ist festzuhalten, dass ein solcher Dialog nicht vollkommen neu ist251. So zeichnete sich das apostolische Zeitalter innerhalb der Geschichte des Christentums zu großen Teilen durch den nicht immer friedlichen Dialog zwischen dem neuen Glauben und dem Judentum aus. Die patristische Epoche bestand aus einem ausgedehnten Dialog zwischen Jerusalem und Athen. Darüber hinaus habe es aufgeschlossene Dialoge zwischen Traditionen im muslimischen Andalusien – laut Berger die theoretische Ausprägung der viel gepriesenen convivienca zwischen Muslimen, Juden und Christen – ›im hohenstauferischen Sizilien und am Hof des Großmoguls Akbar gegeben. Das Zeitalter der Moderne bewirkte nun eine enorme Steigerung der Dialogmöglichkeiten und habe convivienca zugleich zu einer Herausforderung und einer gesellschaftlichen Notwendigkeit gemacht. Mit dem Weltparlament der Religionen, das sich 1893 in Chicago versammelte, setzte die gegenwärtige Intensivierung des interreligiösen Dialogs ein. Durch die immer schneller werdende Globalisierung und Modernisierung nach dem Zweiten Weltkrieg gewannen Dialogversuche große Verbreitung, darunter auch offizielle Versuche, wie sie vom Vatikan und dem Weltkirchenrat unternommen wurden. Dabei habe es verschiedene Gesprächspartner gegeben. Der christlich-jüdische Dialog sei aus ersichtlichen Gründen nachdrücklich darauf bedacht gewesen, das Christentum von jeder Form des Antisemitismus zu distanzieren. Aus ähnlichen Gründen habe es eine Welle von Dialoginitiativen mit dem Islam gegeben. Weniger politisch motiviert, aber von großem philosophischem Interesse sei der Dialog zwischen den abrahamitischen Traditionen und den Religionen des indischen Subkontinents gewesen, insbesondere dem Hinduismus und dem Buddhismus. Weiter geht Berger davon aus, dass die demographische Verlagerung des Christentums in den globalen Süden unausweichlich zu einem Dialog zwischen dem beständigen Supranaturalismus des Christentums im Süden (vor allem in Afrika) und der um einiges gesetzteren Ausprägung des christlichen Glaubens im Norden führen werde. Berger unterscheidet zwischen verschiedenen Arten des Dialogs. An erster Stelle nennt er den missionarischen Dialog – »man redet mit ›den Anderen‹ um sie zu bekehren.«252 Diese Art stoße inzwischen zu recht auf Ablehnung. Darüber hinaus führt er drei weitere Formen des Dialogs an, deren Anliegen er als vollkommen legitim bezeichnet: den gelehrten Dialog, der rein mit dem Ziel eines intellektuellen Verstehens geführt wird; den empathischen Dialog, der eine positive Einstellung »den Anderen« gegenüber hervorbringen möchte, sowie den politisch motivierten Dialog, dessen Anliegen es ist, im Dienste moralisch 251 Vgl. im Folgenden P.L. Berger, Dialog zwischen religiösen Traditionen in einem Zeitalter der Relativität, 45 ff. 252 A. a. O., 47.

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erstrebenswerter Ziele (wie beispielsweise Friede, soziale Gerechtigkeit oder Menschenrechte) eine gemeinsame Grundlage zwischen religiösen Menschen zu schaffen. Abgesehen davon lenkt Berger nun die Aufmerksamkeit auf eine weitere und seltenere Form des Dialogs: ein Dialog mit dem Ziel, das eigene Begreifen der Wahrheit zu erweitern. Er nennt diese Form »dialogische Auseinandersetzung«. Um diesen Mittelweg zwischen Relativismus und Fundamentalismus fruchtbar zu begehen, schlägt Berger eine Vorbedingung und sechs Bedingungen vor. Als Vorbedingung nennt er die Akzeptanz der Ungewissheit, welche die Relativierung mit sich bringt.253 So ist davon auszugehen, dass man gar nicht erst bereit ist, sich auf eine solche dialogische Auseinandersetzung überhaupt einzulassen, insofern diese Ungewissheit nicht akzeptiert werden kann. Dies führt zu dem Schluss, dass sich Fundamentalisten per definitionem gar nicht erst darum bemühen brauchen. Nach Bergers Überzeugung kann diese Vorbedingung von jeder der drei abrahamitischen Traditionen aus ausgedrückt werden, wie beispielsweise die Ergebnisse eines Forschungsprojektes belegen, in dessen Verlauf dargelegt wurde, wie der genannte Mittelweg aus christlichem, jüdischem und muslimischem Denken heraus erreicht werden könnte.254 Er geht davon aus, dass es Protestanten und insbesondere Lutheranern leicht fallen dürfte, die eben genannte Vorbedingung für eine gelingende dialogische Auseinandersetzung zu erfüllen. Nach seiner Auffassung wurde im Zuge der Reformation die vom offiziellen Katholizismus beanspruchte absolute Gewissheit durch einen zerbrechlichen Glauben ersetzt. Die Formel »sola fide« sollte soteriologisch verstanden werden: Heil allein aus Glauben. Doch Berger weist darüber hinaus auf eine epistemologische Verstehensweise hin: Glaube im Gegensatz zu Wissen. Es brauche keinen Glauben, um sich dessen zu vergewissern, was man weiß – »daher nimmt mein religiöser Standpunkt, der sich auf Glaube und nicht auf Wissen gründet, ipso facto Ungewissheit und Zweifel in Kauf.«255 Lässt man sich auf eine echte dialogische Auseinandersetzung ein, so muss man als erste Bedingung die Wahrscheinlichkeit akzeptieren, dass sich die eigenen Sichtweisen zumindest in gewissem Maß verändern.256 Man wird also den Dialog anders verlassen, als man ihn begonnen hat. Zwar lassen es zahlreiche soziale und psychologische Gründe als äußerst unwahrscheinlich erscheinen, dass man sich zu der Weltanschauung seines jeweiligen Gesprächspartners bekehrt. Dennoch sagt Berger einige Veränderungen als sicher voraus und bezieht

253 Vgl. a. a. O., 51 ff. 254 Vgl. P.L. Berger (Hg.), Between Relativism and Fundamentalism: Religious Resources for a Middle Position; vgl. auch P.L. Berger/A. Zijderveld, Lob des Zweifels. 255 P.L. Berger, Dialog zwischen religiösen Traditionen in einem Zeitalter der Relativität, 53. 256 Vgl. a. a. O., 55 ff.

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sich dabei auf John Hick257 als instruktives Beispiel. Dieser berichtet, wie sein Interesse am Verhältnis des Christentums zu anderen religiösen Traditionen zu Stande kam. Als protestantischer Pfarrer in einer britischen Stadt, in der viele religiöse Minderheitsgruppierungen lebten, betrachtete er »diese Anderen« als Menschen, welchen die Wahrheit, der er selbst anhing, fehlte. In zahlreichen Begegnungen setzte er sich näher mit ihnen auseinander – mit der Folge, dass es ihm zunehmend unmöglich war, weiterhin derart über sie zu denken. Er gelangte langsam zu der Auffassung, dass er in religiöser Hinsicht etwas von ihnen lernen könnte. Diese Schilderung entspricht zahlreichen Forschungsergebnissen der Sozialpsychologie, die besagen, wie sich durch Gespräche miteinander die Ansichten von Personen verändern – für Berger ein Beleg für die Tatsache, dass wir soziale Wesen sind. Durch ernsthafte und intensive Gespräche wird der Prozess der von Berger so bezeichneten kognitiven Kontaminierung in Gang gesetzt. Für Berger stellt diese grundlegende sozial-psychologische Tatsache jedoch keinen Grund zur Beunruhigung dar. Denn: Sei man auch nur einigermaßen davon überzeugt, einige Fäden aus dem Gewebe der Wahrheit ergriffen zu haben, sollte man mit der Vorstellung zurecht kommen, dass andere Fäden die eigene Wahrheit ergänzen oder sogar das eigene Wahrheitsverständnis verändern könnten. In einem solchen Fall werde ein Teil der Welt einer anderen Person zu einem Teil der eigenen. Als zweite Bedingung muss man dazu in der Lage sein, die Kernstücke der eigenen Glaubenstradition von den eher unwichtigen Zusätzen zu unterscheiden.258 Soziologische Termini verdeutlichen dies folgendermaßen: Kognitive Kontaminierung führt zu kognitivem Aushandeln, welches wiederum zu kognitiven Kompromissen führt. Seit ungefähr zweihundert Jahren setzten sich religiöse Denker in der westlichen Welt in intensiven Verhandlungen mit der modernen Säkularität auseinander. So mussten sie darüber entscheiden, was an ihrem Glauben verhandelbar war und was nicht. Christliche Denker erklärten sich damit einverstanden, die meisten Wundertaten Jesu aufzugeben, aber die Auferstehung – wie sie auch immer interpretiert wurde – war nicht verhandelbar. In ähnlicher Weise waren jüdische Gelehrte beispielsweise dazu bereit, einige Strafgerichte in Leviticus zu übergehen, wohingegen der zentrale Glaube an die Tora, welche Gottes Gebote für Israel enthält, auf keinen Fall preisgegeben werden konnte. Darüber hinaus befassten sich katholische, protestantische und orthodoxe Theologen in langwierigen Dialogen mit der westlichen Einfügung des filioque in das Nizänische Glaubensbekenntnis, und katholische und lutherische Theologen setzten sich mit der Rechtfertigungslehre auseinander. Es 257 Vgl. J. Hick (Hg.), Gott und seine vielen Namen, bes. 20 ff.; vgl. dazu auch R. Bernhardt, Pluralistische Theologie der Religionen. 258 Vgl. a. a. O., 59 ff.

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ist laut Berger davon auszugehen, dass beide Unternehmungen in kompromisshaften Formulierungen resultierten, die für alle Mitglieder der relevanten Gremien akzeptabel waren. Die Notwendigkeit, das Prinzip der Freiwilligkeit in religiösen Angelegenheiten zu akzeptieren, begründet die dritte Bedingung für eine gelingende dialogische Auseinandersetzung.259 Diesen Grundsatz führt Berger auf die empirischen Befunde zurück, die die Pluralisierung hervorgebracht hat: unter modernen Bedingungen sei es kaum mehr möglich, religiöse Monopole zu errichten, selbst wenn Staaten dies versuchten. Die Menschen hätten Wahlmöglichkeiten, und wenn sie nicht gezwungen werden könnten, so müsse man sie überzeugen. In der gesetzlich garantierten Religionsfreiheit sieht Berger die normative Legitimation der empirischen Tatsachen. Anhand der Geschichte der römisch-katholischen Kirche seit der Französischen Revolution kann dieser Punkt anschaulich gemacht werden. Berger beschreibt das Prinzip der Freiwilligkeit als »dem traditionellen katholischen Gedankengut zutiefst zuwider«260. Über weite Strecken des 19. Jahrhunderts hat die Kirche immer wieder dagegen angekämpft. Durch den Westfälischen Frieden und daran anschließende Kompromisse mit dem Protestantismus wurde die Kirche zwar dazu gezwungen, von einigen monopolistischen Praktiken abzurücken. Allerdings waren diese Kompromisse eher von politischer Notwendigkeit diktiert als von theologischen Prinzipien. Dennoch wurden Zugeständnisse an Staaten oder an andere kirchliche Einrichtungen gemacht, wie beispielsweise im Edikt von Nantes. Auch wenn die Vorstellung, dass der Einzelne seine Religion frei wählen sollte, unverändert abstoßend bleib, ließ sich die Realität religiöser Wahlfreiheit nicht mehr verleugnen. Den Anfang machten Länder, in denen die Katholiken in der Minderzahl waren (beispielsweise in den Vereinigten Staaten) oder in denen die Kirche von säkularistischen Regierungen aus der Öffentlichkeit hinausgedrängt wurde (siehe Frankreich). Doch dieser Prozess vollzog sich durch unumkehrbare gesellschaftliche Entwicklungen auch weltweit. Schließlich bestätigte das Zweite Vatikanische Konzil aus theologischer Sicht, was pragmatisch schon längst unvermeidbar geworden war. Als vierte Bedingung formuliert Berger, dass die Gültigkeit moderner historischer Wissenschaft in ihrer Anwendung auf die Tradition akzeptiert sein muss.261 Nach seiner Einschätzung dürfte diese Bedingung wohl die schwierigste sein, »da sie eine naive Herangehensweise an die Schriften und Institutionen der Tradition ernsthaft in Frage stellt.«262 Eine Entscheidung darüber, was zu den 259 260 261 262

Vgl. a. a. O., 65 f. A. a. O., 65. Vgl. a. a. O., 67 ff. A. a. O., 69.

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Kern- und was zu den Randstücken des eigenen Glaubens gehört, wird an dieser Stelle unbedingt erforderlich. Auf der Seite von Hindus und Buddhisten rechnet Berger dabei nicht mit ernsten Schwierigkeiten. Den abrahamitischen Traditionen hingegen dürfte dies schwer fallen, da es sich bei ihren Schriften ihrem Selbstverständnis nach um Offenbarungen handelt. Im Zuge der Bibelforschung im 19. Jahrhundert wurde die moderne historische Wissenschaft hauptsächlich an evangelisch-theologischen Fakultäten in Deutschland angewendet. Diese historische Herangehensweise an Religion breitete sich weit über den Protestantismus hinaus aus, so dass auch Katholiken und Juden diesem Beispiel gefolgt sind. Doch aufgrund des besonderen Verständnisses des Koran bereitet diese Herausforderung selbst liberalen Muslimen enorme Schwierigkeiten. Dennoch ist Berger davon überzeugt, »dass eine aufrichtige dialogische Auseinandersetzung nicht möglich ist, wenn die Teilnehmenden nicht dazu bereit sind, diese Feuerprobe über sich ergehen zu lassen.«263 Als recht offensichtlich erscheint die fünfte Bedingung: Dass »der Andere« nicht als Feind betrachtet wird, sondern als ein Gefährte auf der Suche nach Sinn in einem chaotischen Universum.264 Menschliche Gemeinschaften definieren sich zwangsweise als ein »wir« in Abgrenzung zu »denen«. Eine laut Berger ideale Form von dialogischer Auseinandersetzung wäre nun, »den Anderen« neu als einen von »uns« zu definieren. Einleitend zur sechsten und letzten Bedingung konstatiert Berger eine im religiösen Dialog häufig anzutreffende Tendenz, in erster Linie Punkte der Übereinstimmung finden zu wollen.265 Insbesondere wenn es dem Zweck diene, sich auf gemeinsame Menschlichkeit zu besinnen oder eine gemeinsame Grundlage für die eine oder andere moralisch erstrebenswerte Handlung zu finden, sei dies ein völlig akzeptables Anliegen. Allerdings sollte es nach Bergers Auffassung nicht das Hauptanliegen eines Dialogs sein, der Bestandteil einer Suche nach Wahrheit ist. In einem solchen Falle hält Berger Widerspruch für genauso wichtig wie Zustimmung.

3.1.2.5 Der Versuch einer systematischen Toleranzbegründung: reflektierte und abstrakte Toleranz Im Anschluss an die vorangegangenen Ausführungen der evangelischen systematischen Theologie und der Religionssoziologie zur Thematik der Toleranz und des Dialogs stellt sich nun die Frage, wie die verschiedenen Fäden – die Ausführungen zum evangelischen Verständnis der Toleranz schließen mit einer 263 A. a. O., 71. 264 Vgl. a. a. O., 77. 265 Vgl. a. a. O., 77 f.

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Aufforderung an evangelische Christen, in den Dialog einzutreten; die religionssoziologischen Überlegungen spezifizieren verschiedene Formen des Dialogs mitsamt deren (Vor-) Bedingungen – miteinander verknüpft werden können. Daher soll der folgende Arbeitsschritt der Zusammenführung der referierten und bislang noch gänzlich isoliert stehenden Positionen dienen. Zu diesem Zweck wird der Versuch unternommen, eine systematische Toleranzbegründung zu formulieren. Eine solche Toleranzbegründung muss aufgrund der geleisteten Vorarbeit und der daraus hervorgegangenen Erkenntnisse gewissen Anforderungen entsprechen: Es muss sowohl das dargelegte evangelische Verständnis von Toleranz in ihr enthalten und eindeutig aus ihr abzuleiten sein, dessen Kernaussage zusammengefasst als »Toleranz aus Glauben« auf den Punkt zu bringen ist. Darüber hinaus zeichnen Bergers Überlegungen aus dem Forschungsfeld der Religionssoziologie ein deutliches Bild davon, welche Art von Dialog einzig anzustreben ist und welche Voraussetzungen für sein Gelingen erfüllt sein müssen: durch den Dialog in Form einer, Bergers Klassifizierung folgend, »dialogischen Auseinandersetzung« gewinnt ein anzustrebender Mittelweg zwischen Relativismus und Fundamentalismus an Gestalt, dessen Ziel ein Zugewinn an Toleranz durch eine Erweiterung des eigenen Begreifens der Wahrheit ist. Die nun folgende systematische Toleranzbegründung greift diese gewonnenen Erkenntnisse auf. Sie besteht aus drei Schritten, die allesamt miteinander verknüpft sind, indem sie jeweils die Voraussetzung für den folgenden Schritt enthalten und daher systematisch aufeinander aufbauen. Erstens: Das Zustandekommen der eigenen Glaubensgewissheit beruht allein auf dem vollkommen unverfügbaren Handeln Gottes, welches die Christusbotschaft als Wahrheit einleuchten lässt.266 Aus dieser Einsicht und dem Gedanken der Unverfügbarkeit267 folgt: Zweitens: Andere, auch der eigenen zuwiderlaufende Glaubensüberzeugungen sind darum zu tolerieren, weil sie nach dem Zeugnis der Angehörigen anderer Religionen ebenso nicht das Produkt menschlicher Erkenntnisbemühung, sondern einer transzendenten Erschließungserfahrung sind.268 Aus der Erkenntnis von erstens und zweitens folgt: Drittens: Die unter zweitens begründete Toleranz äußert sich in Form einer 266 Vgl. E. Wolf, Toleranz nach Evangelischem Verständnis, 151, sowie Chr. Schwöbel, Toleranz aus Glauben, 24. 267 Eben dieser Gedanke ist es, der die in den philosophischen Überlegungen zum Toleranzbegriff aufgeworfene Paradoxie der Wahrheitsrelativierung aufzulösen vermag und die von Forst zu deren Überwindung geforderte Relativierung ohne Relativismus ermöglicht – eine »Art der Relativierung und Begrenzung der eigenen Überzeugungen, die das Überzeugtsein von ihrer Wahrheit nicht grundsätzlich in Frage stellt.« R. Forst, Toleranz im Konflikt, 37. 268 Vgl. Chr. Schwöbel, Toleranz aus Glauben, 24.

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grundlegenden Bereitschaft, mit Anhängern anderer Glaubensüberzeugungen in eine dialogische Auseinandersetzung einzutreten, in deren Vollzug der Wahrheitsanspruch sowie die Kernstücke der eigenen Glaubenstradition nicht preisgegeben werden269, aber die theoretische Möglichkeit einer Erweiterung des eigenen Begreifens der Wahrheit durch den intensiven Austausch und die Auseinandersetzung mit den Wahrheitsansprüchen des Gegenübers akzeptiert wird270. Diese Bereitschaft, den Dialog gegebenenfalls anders zu verlassen, als man ihn begonnen hat, muss zu jeder Zeit auch vom jeweils Anderen zu erwarten sein. Der Dialog wird somit zur Vorbedingung der Toleranz und zu ihrer Vollzugsform271. Welche Art von Toleranzverständnis liegt nun einem solchen Dreischritt zugrunde und stellt zugleich das Ziel dar, das damit erreicht werden soll? In die Reihe der Begriffs- und Gegensatzpaare272, die sich dem Kerngedanken der Toleranz semantisch anzunähern versuchen, möchte ich zwei weitere Adjektive hinzufügen, welche die in der obengenannten systematischen Toleranzbegründung enthaltene Toleranzkonzeption sowohl positiv als auch negativ zuspitzen: a) reflektierte Toleranz im Gegensatz zu b) abstrakter Toleranz. ad a): reflektierte Toleranz Zum Reflexionsprozess gehört zum einen das Erlangen eines eigenen Standpunktes und das Bewusstmachen desselben (Phase 1); zum anderen die grundlegende Bereitschaft, in eine dialogische Auseinandersetzung mit weltanschaulich Anderspositionierten einzutreten und damit zu akzeptieren, den eigenen Standpunkt gegebenenfalls zu modifizieren und weiterzuentwickeln (Phase 2). Ein derartiges Toleranzkonzept macht es möglich, alle drei in der systematischen Toleranzbegründung enthaltenen Schritte zu durchlaufen, da reflektierte Toleranz per definitionem die Bereitschaft beinhaltet, in den Dialog mit Andersdenkenden zu treten.

269 Vgl. Bergers zweite Bedingung in P.L. Berger, Dialog zwischen religiösen Traditionen in einem Zeitalter der Relativität, 59. 270 Vgl. Bergers erstgenannte Bedingung, a. a. O., 55. 271 Vgl. Chr. Schwöbel, Toleranz aus Glauben, 5. 272 Vgl. beispielsweise inhaltliche und formale Toleranz nach Mensching (G. Mensching, Toleranz und Wahrheit in der Religion, 18 ff.), starke bzw. aktive und schwache bzw. passive Toleranz nach Nipkow (K.E. Nipkow, Bildung in einer pluralen Welt, 469 ff.), dichte und dünne Toleranz nach Schweitzer (F. Schweitzer, Religious individualization, 90 ff.).

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ad b): abstrakte Toleranz Bleibt der für a) charakteristische Reflexionsprozess samt der dazugehörigen Phasen aus, so mag es zunächst naheliegen, in direkter Abgrenzung zu reflektierter Toleranz von unreflektierter Toleranz zu reden. Diese Bezeichnung bleibt jedoch zu pauschal und auf nicht wünschenswerte Weise abwertend. Daher scheint es angebracht, stattdessen den Begriff der abstrakten Toleranz einzuführen. Dieses Konzept erweist sich als geeignet, alle Formen vermeintlicher und hinter allen theologischen Ansprüchen zurückbleibender Toleranz zu charakterisieren, wie sie beispielsweise beim gesellschaftlich weit verbreiteten Phänomen der religiösen Individualisierung und des Relativismus, dessen Anhänger sich selbst unter dem Deckmantel der Toleranz273 für ausgesprochen modern und aufgeschlossen halten, aufgedeckt wurden. Doch Toleranz bleibt hier oberflächlich und beliebig, im Konfliktfall nicht tragfähig. Sie bleibt somit abstrakt, insofern kein weiterführender Reflexionsprozess in Gang gesetzt wird. Für die allgemeine Religionspädagogik liegen der Auftrag und die Herausforderung nun darin, eben diesen Denk- und Reflexionsprozess anzustoßen und einzuleiten. Der dafür notwendige Ausgangspunkt ist mit erneutem Verweis auf die in der evangelischen systematischen Theologie gewonnenen Erkenntnisse derjenige, »die Quellen der Toleranz in den religiösen Traditionen selbst zu suchen«274. Inwieweit dies im Rahmen religionspädagogischer Veröffentlichungen bereits bzw. noch nicht geschehen ist, möchte der sich nun anschließende Abschnitt zu Toleranz in der Religionspädagogik aufzeigen.

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Der nun folgende Arbeitsschritt hat es sich zum Ziel gesetzt, die Rezeption des Toleranzgedankens innerhalb religionspädagogischer Veröffentlichungen der vergangenen Jahrzehnte in den Blick zu nehmen. Einschlägige religionspädagogische Fachliteratur wird zu diesem Zweck den Gegenstand der vorliegenden Untersuchung bilden275. Die Veröffentlichungen innerhalb der Zeitschrift »Der 273 Vgl. dazu auch R. Forst, Toleranz im Konflikt, 32. 274 Chr. Schwöbel, Toleranz aus Glauben, 21; vgl. auch ders., Christlicher Glaube im Pluralismus, 227. 275 Bei der Recherche nach geeigneten Texten, die sich aus religionspädagogischer Perspektive mit Toleranz auseinandersetzen, wurde der 1992 vom Comenius-Institut herausgegebene Registerband zum 1. bis 42. Jahrgang (1949 – 90) der renommierten religionspädagogischen Fachzeitschrift »Der Evangelische Erzieher« sowie die Bibliographie zu dessen Fortsetzung »Zeitschrift für Pädagogik und Theologie« (ZPTh) zu Rate gezogen; vgl. Comenius Institut

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Evangelische Erzieher« sowie innerhalb der »Zeitschrift für Pädagogik und Theologie« (ZPTh) scheinen als Gegenstand dieser Untersuchung besonders geeignet zu sein, da sie auf einmalige Weise einen Überblick über die Auseinandersetzung mit dem Thema Toleranz in der religionspädagogisch-wissenschaftlichen Diskussion über einen Zeitraum von 59 Jahren hinweg bieten. Als namhafte Vertreter der zeitgenössischen Religionspädagogik werden im Anschluss daran auch Gottfried Adams, Rudolf Englerts276 und Karl Ernst Nipkows Auseinandersetzungen mit der Toleranzthematik beleuchtet.

3.2.1 Toleranz im religionspädagogischen Zeitschriftendiskurs Im Folgenden werden all diejenigen Beiträge der Zeitschrift »Der Evangelische Erzieher« bzw. »Zeitschrift für Pädagogik und Theologie« zu betrachten sein, die im Zeitraum zwischen 1949 und 2008 erschienen sind und auf die im Schlagwortregister der Bibliographie des Comenius Instituts277 unter »Toleranz« verwiesen wird. Sie sollen auf die Art und Weise ihrer jeweiligen Auseinandersetzung mit der Toleranzthematik hin befragt und untersucht werden. Durch diese Vorgehensweise ist mehr Klarheit darüber zu erhoffen, in welchem Rahmen das Phänomen der Toleranz in der religionspädagogischen Fachdiskussion der zurückliegenden Jahrzehnte Beachtung erfahren und inwiefern eine intensive fachspezifische Auseinandersetzung mit diesem Thema stattgefunden hat. Es liegt allerdings in der Natur der Sache, dass auf diese Weise lediglich ein Ausschnitt der religionspädagogischen Literatur, die im fraglichen Zeitraum erschienen ist, beleuchtet wird. Dennoch ist aufgrund der zentralen Bedeutung der Zeitschrift davon auszugehen, dass es sich bei den Veröffentlichungen im »Evangelischen Erzieher« bzw. in der »Zeitschrift für Pädagogik und Theologie« um qualifizierte und auch durchaus repräsentative Beiträge zu den jeweils drängenden Themen des religionspädagogischen Diskurses handelt, die somit den aktuellen Forschungsstand hinsichtlich Toleranz in der Religionspädagogik wiederzugeben vermögen. Vorneweg ist nun zu bemerken, dass die Trefferquote für »Toleranz« im Schlagwortregister des »Evangelischen Erziehers« und der »Zeitschrift für Pädagogik und Theologie« bei gerade einmal zehn Beiträgen liegt, die seit 1949 zu dieser Thematik der sorgfältigen Verschlagwortung zufolge erschienen sind. (Hg.), Die Bibliographie zum Evangelischen Erzieher. Ein Gesamtregister aller 42 Jahrgänge von 1949 – 1990, mit einer Einleitung von Klaus Wegenast, Münster 1992, sowie die OnlineDatenbank des Comenius-Instituts unter www.comenius.de. 276 Bei Rudolf Englert handelt es sich um einen katholischen Religionspädagogen, dessen Ausführungen eine wertvolle Ergänzung zu den wenigen Auseinandersetzungen mit der Toleranzthematik auf evangelischer Seite darstellen. 277 Comenius Institut (Hg.), Die Bibliographie zum Evangelischen Erzieher.

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Dass allein schon dieser doch erstaunlich magere Befund als aussagekräftig zu gelten hat und ein bestehendes Defizit an religionspädagogischen Veröffentlichungen zum Thema Toleranz markiert, kann bereits an dieser Stelle konstatiert werden. In chronologischer Reihenfolge werden die genannten zehn Beiträge nun näher in den Blick genommen, indem sich an eine zunächst inhaltliche Darstellung derselben zumeist eine Bewertung in Form einer knappen Analyse der darin zum Tragen kommenden Toleranzkonzeption anschließt. Zusammenfassend wird sodann insbesondere die Frage nach Veränderungen und Entwicklungen von Interesse sein, die sich mit Blick auf die diversen Texte und deren jeweilige gesellschaftliche und kulturelle Hintergründe beobachten lassen.

3.2.1.1 Veröffentlichungen zu Toleranz zwischen 1953 und 2004 1. Heinrich Vogel, Ist die Wahrheit tolerant?, in: Der Evangelische Erzieher 5 (1953), 270 – 272. Im Jahre 1953 erschien im 5. Jahrgang des »Evangelischen Erziehers« ein Beitrag des evangelischen Theologen Heinrich Vogel, Professor für Systematische Theologie, der zu diesem Zeitpunkt zugleich an der Kirchlichen Hochschule Berlin (West) sowie an der Humboldt-Universität in Berlin (Ost) lehrte. Seinen Artikel überschreibt er mit der zum Thema dieser Untersuchung passenden Frage: »Ist die Wahrheit tolerant?« Direkt voran geht unter der Gesamtüberschrift »Toleranz« ein Verweis auf Artikel 1 und 3 des Grundgesetzes: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.« Und weiter : »Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.«278 Vogel nimmt zu Beginn seines Aufsatzes einen seltsam tiefen Widerspruch wahr. Einerseits handele es sich zum Zeitpunkt der Abfassung seines Textes (1953) wohl um ein Zeitalter, »in dem sich jeder gebildete Mensch geradezu selbstverständlich zum Toleranzprinzip bekennt«. Andererseits beschreibt er es wiederum als ein Zeitalter, »in dem die Intoleranz Orgien feiert, die alles in den Schatten stellen, was uns die übersehbare Geschichte überliefert.« Es bleibt für Vogel die Frage nach der Toleranz, ihrem Recht und ihrer Grenze, sowie eine tiefe Verwirrung in der Art und Weise, wie die Frage nach der Toleranz bzw. der Intoleranz gestellt wird. Er verweist auf das Diktum des Berliner Dogmatikers Julius W. M. Kaftan (1848 – 1926) »Jede redliche Wahrheit ist intolerant!« und wendet sich gegen die 278 Zitiert nach H. Vogel, Ist die Wahrheit tolerant?, 270.

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Ansicht, man müsse in dem Sinne tolerant sein, dass man alle menschlichen Wahrheitsaussagen nebeneinander gelten lässt – denn die Wahrheit schlechthin habe niemand und könne niemand haben. Zur Toleranz müsse man sich diesem Standpunkt zufolge eben darum bekennen, weil die Wahrheit ein unendlich hohes und unerreichbar fernes Ziel bezeichnet, dem wir in allen unseren Bemühungen letztlich doch nur nachjagen können. Das eigentliche Motiv und der eigentliche Grund für das Toleranzprinzip liegen hier also darin begründet, dass niemand die eine, ganze Wahrheit für sich beanspruchen kann. Keiner hat den einen, echten Ring, sondern nur jene seltsamen Nachbildungen, von denen Lessings berühmte Parabel spricht. Vogel fährt fort, indem er dieser Position einen »Kurzschluß und Trugschluß« zuschreibt. Dem Verfechter dieses Prinzips wird es schwer, ja letztlich unmöglich sein, so Vogel, dem totalen Relativismus zu entgehen, den sein Prinzip heraufbeschwört, wenn man es bis zur letzten Konsequenz anwendet. Auf der anderen Seite gilt jedoch das Gesetz der Logik – wer einen Satz, etwa mit Lessings Nathan das Liebesgebot, wirklich anerkennt, ihn wirklich wahr sein lässt, muss ja sein Gegenteil ausschließen. Wäre in diesem Falle dann nicht eine gewisse, wie auch immer geartete Abwehr der zuwiderlaufenden, als »verderblich« eingestuften Aussage geboten? Intoleranz könnte hier dann unter Umständen in der Weise in Erscheinung treten, dass »der Zweck die Mittel heiligt«279. Für Vogel wird die Entscheidung darüber, wie sich die Frage von der Wahrheit selbst darstellt, darin fallen, »ob wir die Wahrheit verstehen als eine Idee und ein Ideal unseres Geistes, seiner Schau und seiner Sehnsucht, oder ob wir ihr da standhalten, wo sie uns unverwechselbar mit dem Denken und Dichten unseres Herzens begegnet. Die eigentliche Entscheidung fällt da, wo uns die Wahrheit personhaft, ja leibhaft mit ihrem unvergleichlichen Ich so begegnet wie ein Mensch dem Mensch, und doch in einem damit so, wie nur Gott dem Menschen begegnet.«280 Diese letztere Wahrheit trage den Namen Jesus Christus und sei nicht ableitbar, nicht im Sinne menschlicher Ideen und Ideale aufweisbar oder gar beweisbar. An der entscheidenden Stelle werde man es darauf ankommen lassen, dass sie sich selber da beweise, wo sie ihre lebendige Stimme hörbar macht und spricht: »Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben« (Joh 14,6). Vogel spricht hier also von jenem Ereignis, das in der systematischen Theologie als unverfügbares, geistgewirktes und gewissheitsstiftendes Evidenzerlebnis im Sinne von CA 5 und 2Kor 4,6 bezeichnet wird (i. e. es wird evident, dass das Gehörte die Realität, die den Augenblick überdauernde Ver-

279 H. Vogel, Ist die Wahrheit tolerant?, 271. 280 Ebd.

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fassung des Daseins des Einzelnen beschreibt) und die hinreichende Bedingung für das Zustandekommen der christlichen Daseinsgewissheit darstellt.281 Vogel berichtet weiter von der Erfahrung, dass »es mit der Bereitschaft zur Toleranz in demselben Augenblick aus ist, wo einer sich zu Jesus als zu der Wahrheit bekennt […] – da wird die Toleranz plötzlich sehr intolerant.« Die gekreuzigte Wahrheit, die in dem Namen Jesus Christus begegnet, führe auf eine sehr seltsame, gänzlich andere Weise vor die Frage nach der Toleranz und Intoleranz. In ihm begegne uns nämlich die Wahrheit, die tolerat, »das heißt trägt und hinwegträgt den Fluch unseres Widerspruchs gegen die Wahrheit, und zwar da, wo sie an die Stelle der Widersprecher trat.« Diese Wahrheit könne man nicht gegen den anderen geltend machen und ihr nicht mit den Mitteln menschlicher Gewalt zum Sieg verhelfen. So sei sie die Wahrheit nicht nur für uns – und zwar nicht um unserer moralischen oder religiösen Qualität willen, sondern in ihrem Erbarmen über unserer Wahrheitsfremdheit, Wahrheitsfeindschaft und Gottlosigkeit -, sondern auch für die anderen. Die Toleranz nun, zu der wir laut Vogel im Glauben an die Wahrheit in Jesus Christus gerufen werden, ist die Toleranz der Liebe. Diese Art der Toleranz kann nicht vergessen, dass wir als die von Gott Gerichteten alle miteinander auf seine unbegreiflich freie Gnade geworfen sind. Allerdings ist der Glaube an die Wahrheit mit dem Namen Jesus Christus in gewissem Sinne zugleich intolerant, und zwar gegen den Glaubenden selbst, dem es ebenso verboten wie unmöglich ist, gleichzeitig an zwei oder mehrere Herren bzw. Götter zu glauben. Doch »die Liebe zu und aus und in der Wahrheit, die Jesus Christus heißt,« ist wiederum tolerant – »nämlich gegenüber dem Bruder, für den diese Wahrheit auch gekreuzigt und auferstanden ist. Diese Liebe erträgt, glaubt, hofft, duldet alles für den andern.«282 Was uns, wie eben dargestellt, in diesem Beitrag von Heinrich Vogel aus dem Jahre 1953 begegnet, ist nun nichts anderes als bereits die Entfaltung eines Toleranzprinzips, dessen Grund und Wurzel von Vogel im christlichen Glauben selbst gesehen wird. An zentraler Stelle steht für ihn der Zusammenhang von Wahrheit und Toleranz. Dieser besteht darin, dass die Wahrheit in Jesus Christus, »wenn sie in ihrer Gnade uns haben und besitzen will«283, dergestalt ist, dass sie das Verhältnis zum andersgläubigen Mitmenschen verändert. Sie tut dies, indem sie die Einsicht mit sich bringt, eben auch genauso für den Bruder gekreuzigt und auferstanden zu sein. Die Liebe zu, aus und in dieser Wahrheit ist

281 Vgl. E. Herms, Art. Ethik V. Als theologische Disziplin, 1616; mehr dazu auch im Rahmen des Beitrags von Antes an späterer Stelle in diesem Kapitel. 282 H. Vogel, Ist die Wahrheit tolerant?, 272. 283 Ebd.

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es laut Vogels Ansatz schließlich, die zu Toleranz gegenüber dem Mitmenschen führt. So aufschlussreich die Ausführung zu diesem religiös begründeten Toleranzgedanken ist, der sich bereits im 5. Jahrgang des »Evangelischen Erziehers« findet, so wenig kann das von Vogel beschriebene Toleranzprinzip ausreichen, um ein friedliches Zusammenleben innerhalb einer multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft profiliert, aktiv und engagiert mit zu gestalten. Für die Begegnungen und den Umgang mit fremden Religionen und Weltanschauungen im Pluralismus unserer Zeit wird es kein zukunftsweisender Weg und keine ausreichende Toleranzpraxis sein können, in Anlehnung an 1Kor 13,7 aus Liebe alles für den anderen zu ertragen, zu glauben, zu hoffen und zu erdulden. Somit muss nach einer pluralismustauglichen Fortführung von Vogels Ansatz, das Motiv für Toleranz im Glauben selbst zu finden, gefragt werden. 2. Julius Richter, Ein Hoheslied der Toleranz in deutscher Dichtung des Mittelalters, in: Der Evangelische Erzieher 12 (1960), 212 – 215. Der Missionswissenschaftler Julius Richter leitet seinen im Jahre 1960 im »Evangelischen Erzieher« erschienenen Beitrag mit der rhetorischen Frage ein: »Wer möchte bestreiten, daß heute eine recht gegründete und deswegen unter allen Umständen zu übende Toleranz eine große und notwendige Losung ist!«284 Insbesondere mit Blick auf die »ungeheuren Wandlungen«285 der vorangegangenen 50 Jahre wird diese Forderung der Toleranz von Richter als »so wichtig und notwendig […] wie nie zuvor«286 erachtet, sei es gegenüber anderen Rassen, anderen Völkern oder anderen Glaubensweisen. Doch wer, fragt Richter, wisse davon, dass solche Toleranz bereits vor siebenhundert Jahren in deutscher Dichtung aufs eindrücklichste vertreten und gefordert worden ist? Er verweist auf eine der tiefsten Dichtungen des deutschen Mittelalters, das Epos »Willehalm« des großen deutschen Dichters Wolfram von Eschenbach (ca. 1160/80 – 1220), welchem der Beiname »Hoheslied der Toleranz« zuteil wurde. Geschichtlich liegt der in altfranzösischen Sagen und Liedern verherrlichte Kampf des Markgrafen Wilhelm von Aquitanien gegen die im Jahre 793 in Südfrankreich eingedrungenen Sarazenen zugrunde. »Wolfram erzählt davon, dass sein Held eine sarazenische Fürstin entführt und sie unter dem Namen Gyburc der christlichen Taufe zugeführt habe. Ihr Vater, der Anführer der ›Heiden‹ – denn zwischen Islamgläubigen und Heiden machte man noch keinen Unterschied – und ihr früherer Gemahl sind nun mit Heeresmacht in das Gebiet 284 J. Richter, Ein Hoheslied der Toleranz in deutscher Dichtung des Mittelalters, 212. 285 Es ist stark anzunehmen, dass sich Richters unpräzise Formulierung hier in erster Linie auf den Holocaust bezieht. 286 J. Richter, Ein Hoheslied der Toleranz in deutscher Dichtung des Mittelalters, 212.

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des Markgrafen eingedrungen, um die Entführte wiederzugewinnen, damit aber auch die Ehre ihrer Götter wiederherzustellen und zugleich ihre Herrschaft über die Völker des Westens und das ganze ›Römische Reich‹ aufzurichten. Der Kampf gehört also in jene weltgeschichtliche Bewegung des Arabertums nach der Begründung der neuen Religion des Islam, jene Bewegung, die durch Jahrhunderte hindurch eine so gewaltige Bedrohung der christlichen Kultur Europas vom Orient her bedeutet hat. So mußte dieser Kampf in Wolframs Dichtung notwendig auch zu einem Glaubenskampf werden, den auch die Christen für die Herrschaft ihres Gottes führen, dessen Hoheit und Erhabenheit über alle Heidengötter daher immer wieder vom Dichter hervorgehoben wird.«287 Die Schilderung der Kämpfe und Schlachten in Wolframs Epos erfolgt laut Richter im Stile einer breiten Ausmalung. Die Art, wie der Dichter über solchen Kampf und Krieg urteilt, nennt Richter einzigartig: Wolfram scheut sich nicht, derartige Ritterschaft als »Mord« zu bezeichnen. Und so kann er die Frage aufwerfen: »War es nicht Sünde, daß man die, welche niemals Kunde von der christlichen Taufe empfingen, wie Vieh erschlug?« Die Antwort darauf gibt er sogleich selbst: »Große Sünde ich es nenne«, denn es war »gotes hantgetat«288, also von Gott geschaffenes Leben, das hier zerstört wurde. Eben darin sieht Richter bereits das Kern- und Grundmotiv von Wolframs Toleranzidee. Aus ihr spricht nicht nur die hohe humane Gesinnung des Rittertums, »sondern sie war in erster Linie im Glauben begründet: es geht gegen Gottes Schöpferwillen, wenn man von ihm geschaffenes Leben vernichtet.«289 In der »großen ›Toleranzrede‹« der Gyburc, Willehalms Gemahlin, findet diese Gesinnung ihren höchsten Ausdruck. Sie, die liebende Frau, bei der der Ritter erschöpft vom Kampf Ruhe und Frieden findet, fühlt sich als Sippenverwandte auch immer noch eng verbunden mit den Feinden und empfindet es als schweres Leid und große Schuld, dass ihretwegen so viele Christen und Heiden ihr Leben lassen müssen. Sie bittet nun die versammelten Ritter aus bewegtem Herzen um Schonung der Feinde im Kampf: »Schonet der gotes hantgetat.« Wieder begegnet hier dieser Ausdruck des Dichters, nun aber auch mit ausführlicher Begründung. Die Heiden seien nicht dazu von Gott geschaffen, dass sie verloren gehen sollen – wie könnte der »Vater« seine »Kinder« dazu bestimmt haben! Deutlich werden hier auch die Heiden zu Gottes Kindern gezählt. Alle, auch die Christen, seien schließlich als Heiden geboren. Die Rede der Gyburc scheint sogar Züge christlicher Verkündigung anzunehmen: »Der Vater der Barmherzigkeit möge sich der Heiden erbarmen, er hat ja selbst, Mensch ge-

287 A. a. O., 213. 288 Ebd. 289 Ebd.

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worden, sein Leben für sie in den Tod gegeben.«290 Wie Richter feststellt, könnte die Schonung der Feinde wohl kaum tiefer begründet werden. Im Grunde gehe die Mahnung sogar über die bloße Duldung, also ein rein passives Verhalten, hinaus zum christlichen Gebot der Feindesliebe. Dass der Kampf gegen den heidnischen Glauben gar nicht mit dem Schwert geführt werden kann, sondern dazu vielmehr nur geistige Waffen dienen können, macht der Dichter weiter in dem »großen Religionsgespräch« deutlich, welches Gyburc mit ihrem heidnischen Vater führt. Durch ihr Zeugnis und ihre freundliche Überredung möchte sie ihn für ihren neu gefundenen christlichen Glauben gewinnen. Dazu führt sie die fundamentalen Grundsätze und Inhalte des christlichen Glaubens an: die Schöpfermacht Gottes in der Natur, die dann weiterführt zu dem Glauben auch an das Heil und die Rettung der Seele, der mit der biblischen Heilsgeschichte näher begründet wird. Überaus bezeichnend für seine Denkweise berichtet Wolfram am Schluss seiner Dichtung davon, dass Willehalm dem gefangenen Heidenkönig Matribleiz nicht nur die Freiheit schenkt, sondern ihm auch die Rückführung der gefallenen Heidenfürsten zusichert, damit diese in ihrer Heimat und nach ihrem Brauch (!) bestattet werden können. Außerdem befiehlt er den Heiden dem Schutz dessen an, der Mond und Sterne am Himmel lenkt, und somit unterstellt er auch ihn der Güte und Macht seines Christengottes. Auch in diesem Verhalten ist weit mehr als eine passive Duldung zu erkennen. Die Liebe zum Mitmenschen, zum Bruder und auch zum Feind, der doch auch ein Kind Gottes ist, tritt in den Vordergrund. Es wird jedoch deutlich, dass die von Wolfram vertretene Toleranz nichts mit einer Gleichbewertung der »heidnischen« und der christlichen Religion zu tun hat. Dennoch führt die »Torheit« des heidnischen Glaubens keineswegs zur Verachtung seiner Anhänger. Scheinbar hat das sonst gültige kirchliche Dogma von der Verdammnis der Heiden für Wolfram kaum noch eine durchschlagende Geltung, wie Richter aufgrund dessen Äußerungen folgert, »daß sie keine Kunde empfingen von der christlichen Taufe, daß sie von ihren Göttern irregeführt werden und daß sie in Wahrheit doch auch Kinder des höchsten Gottes sind, der sich ihrer erbarmen möchte«291. Richter verweist schließlich auf das literarische Umfeld sowie auf die charakteristischen Unterschiede Wolframs zu seinen französischen Quellen, in denen die Heiden für gewöhnlich »als Hunde und Teufel nichts als den Tod verdienen.« Wenn man diese Hintergründe, diese damals doch weithin über-

290 A. a. O., 214. 291 Ebd.

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wiegende Intoleranz beachte, werde man die Denkweise Wolfram von Eschenbachs in ihrer Reinheit und Hoheit erst richtig würdigen können.292 In der Tat ist es mehr als bemerkenswert, dass in dem von Julius Richter beschriebenen Werk Wolfram von Eschenbachs aus dem – wohlgemerkt – 13. Jahrhundert bereits eindeutig ein religiös begründeter Toleranzgedanke an zentraler Stelle zum Tragen kommt. Der hier verfolgte Ansatz kam bereits in den systematisch-theologischen Überlegungen ausführlich zur Sprache. So sei an dieser Stelle an die Begründung von Toleranz aus dem Inhalt des christlichen Glaubens heraus erinnert. Ebeling verweist hierzu auf Luthers Erklärung für Gottes wohlwollendes Verhalten den impii gegenüber, welches nicht im Blick auf die ausgeführten Werke, sondern nur aufgrund der unfassbaren Weisheit und Toleranz Gottes (tolerantia dei) zu verstehen ist. Auf diese Toleranz Gottes sind sowohl Christen wie Nicht-Christen gleichermaßen angewiesen.293 In Wolframs Epos »Willehalm« wird darüber hinaus in gewissem Sinne sogar bereits der für die reformatorische Theologie wesentlichen Unterscheidung zwischen Person und Werk eines Menschen vorgegriffen, was sich in der insbesondere von Gyburc vertretenen Wahrnehmung der heidnischen Feinde als »gotes handgetat«, also als Geschöpfe Gottes zeigt. Für eine im Horizont der Toleranz Gottes geübte Toleranz aus Glauben gilt die Toleranz gegenüber dem Personsein von Menschen auch dort, wo ihre Überzeugungen und Handlungen abzulehnen sind.294 Im christlichen Glauben gipfelt die Weiterführung dieses Gedankens sodann im Gebot der Feindesliebe – genau dies ist Richters Auslegung zufolge ebenfalls bereits aus Wolfram von Eschenbachs Epos »Willehalm« herauszulesen. Somit zeichnet sich durch die Analyse von Richters Beitrag im »Evangelischen Erzieher« aus dem Jahre 1960 also der überaus bemerkenswerte Befund ab, dass bereits in deutscher Dichtung des Mittelalters Toleranz in Form des rein passiven Verhaltens einer bloßen Duldung als unzureichend erachtet wurde. Um eine tiefere Begründung und ein sehr viel weiterreichendes und tragfähiges Fundament für Toleranz bemüht, finden sich also tatsächlich schon in Eschenbachs Epos aus dem 13. Jahrhundert die herausgearbeiteten Ansätze für eine Toleranz aus Glauben, die es mit Nachdruck und in aller Deutlichkeit zu würdigen gilt. 3. Friedrich Bartels, Freiheit und Bekenntnis in evangelischer Sicht, in: Der Evangelische Erzieher 18 (1966), 289 – 299. Obwohl Friedrich Bartels, Theologe und Geistlicher Vizepräsident des Landeskirchenamtes Hannover, nicht direkt über Toleranz schreibt, wird auch auf 292 Vgl. ebd. 293 Vgl. G. Ebeling, Die Toleranz Gottes und die Toleranz der Vernunft, 63. 294 Vgl. Chr. Schwöbel, Toleranz aus Glauben, 29.

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seinen Beitrag im »Evangelischen Erzieher« aus dem Jahr 1966 im Schlagwortregister unter »Toleranz« verwiesen. Bartels setzt sich darin mit der Frage auseinander, wie das Verhältnis von Freiheit und Bekenntnis unter dem Evangelium zu bestimmen ist. Obwohl die Toleranzthematik dabei lediglich gestreift und nur am Rande erwähnt wird, soll dieser Text dennoch nicht unterschlagen werden. Die folgende Auseinandersetzung mit Bartels Beitrag kann sich jedoch auf das Wichtigste beschränken und somit etwas knapper ausfallen. Dem Thema »Freiheit und Bekenntnis in evangelischer Sicht« geht Bartels in drei Gedankenkreisen nach. Den Anfang bildet die zentrale Aussage, dass sich Freiheit im Glauben begründet bzw. sich im Bekenntnis erschließt. In einem zweiten Teil ist davon die Rede, dass von diesem Bekenntnis her Freiheit in der Welt gefordert wird. Im abschließenden dritten Teil überlegt der Autor, welchen Platz das Bekenntnis in diesem Freiheitsraum der Welt hat und haben sollte. Zum ersten Punkt schreibt Bartels, dass sich Freiheit im Glauben erschließe und verweist dazu auf Joh 8,36 und Gal 5,1. Freiheit werde eröffnet durch das Bekenntnis. Das Bekenntnis des Glaubens ist jedoch »nicht die Zustimmung zu einer Summe von Lehren, die offenbart sind, zu denen man nun ja sagen muß, sondern es ist ein persönliches Ja-Sagen zu einem Wort, das zu mir ja sagt und mich anredet.«295 Die Freiheit wird hier also erschlossen im Glauben, der sich zu Christus bekennt und dadurch Anteil gewinnt an dem Leben, das laut Bartels allein Leben sei, das nicht die Bestätigung brauche, sondern vielmehr von Gott geschenkt und von Gott selbst bestätigt sei. Diese Befreiung ist Befreiung zur Liebe und zur Welt und kann nur die Hinwendung zum Menschen als Bruder sein, ungeachtet seiner Ansichten und Qualitäten. Dies ist deshalb der Fall, weil die Freiheit hineingenommen sei in die Bewegung, die Jesus Christus begonnen hat, und Anteil an dem Leben voller Hingabe im Dienst an die Menschen bedeutet, das in ihm erschienen ist. Der im Glauben befreite Mensch werde dadurch in den sachlichen Dienst um des Gewissens willen in diese Welt gestellt, was nicht zuletzt auch für den Staat von großer und entscheidender Bedeutung sein dürfte, wie Bartels feststellt. Allerdings bestehe die Freiheit nur, aber eben wirklich, im Hören auf den Ruf des Wortes Christi, in der Nachfolge dessen, der den Weg in die Freiheit gebrochen hat, im Bekenntnis zu dem, in dem das Leben erschienen ist. Sie kann daher niemals ein fester Besitz sein, über den wir verfügen. Die Freiheit ist und bleibt immer geschenkte Freiheit. Der zweite von Bartels angeführte Punkt besagt nun, dass das christliche Bekenntnis Freiheit in der Welt fordert. Weil der Christ von der Würde des Menschen weiß, die sich in der Gotteskindschaft, d. h. in der Freiheit erfüllt, tritt er für den Raum der Freiheit ein, in dem sich die personale Entscheidung vollziehen kann. Erziehung kann demnach nur in weltlicher Freiheit geschehen, 295 F. Bartels, Freiheit und Bekenntnis in evangelischer Sicht, 291.

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die Spielraum für Denken und Handeln gibt – Spielraum, der gesichert werden muss, wenn der Mensch zu seiner Bestimmung kommen soll. Mit Blick auf ein christliches Schulprogramm betont Bartels allerdings nachdrücklich, dass die wirkliche Freiheit der Kinder Gottes nicht mit einer christlichen Weltanschauung verwechselt werden dürfe. Dadurch würde der große Auftrag, den das Evangelium stellt, verfehlt werden. Die Freiheit der Welt, so Bartels dritter Gedankenschritt, gibt nun dem Bekenntnis Raum. Die Schule als Modell des ganzen weltlichen Raums ist darin frei, dass sie dem Bekenntnis – und zwar jedem Bekenntnis – Raum gibt. Wenn Schule wirklich Lebenshilfe sein will, könne sie das Bekenntnis gar nicht ausschließen, da sie damit ganz wesentliche Seiten des Menschseins ausschlösse: »Es kann also nicht darum gehen, der Indifferenz das Wort zu reden, von allen konkreten Inhalten zu abstrahieren, oder auf dem Wege der Subtraktion einen Rest von Gemeinsamkeit zu suchen, der uns schließlich alle verbindet. Die menschliche Würde kommt gerade in der Entscheidung zum Ausdruck, oder wie wir sagen können, im Bekenntnis, das Freiheit wünscht.«296 Für die Gesellschaft bedeute dies wiederum, dass ein Staat, der vom lebendigen Bekenntnis seiner Bürger getragen wird, mit deren Verantwortungsbereitschaft rechnen dürfe und hier gegen den auch für ihn tödlichen Indifferentismus eine ganz wesentliche und wirksame Hilfe finde. Eben darum vertritt Bartels die Ansicht, dass in der Schule Raum für das Bekenntnis sein sollte. Auf das Thema der Toleranz geht Bartels im Zusammenhang seines wiedergegebenen Beitrags ein, indem er »noch ein kurzes Wort«297 zu der Frage verlieren möchte, in welchem Verhältnis die hier geforderte weltliche Freiheit und Toleranz zueinander stehen und ob sie gegebenenfalls identisch seien. Deutlich wendet er sich hierbei gegen eine Relativierung des Evangeliums und seiner Wahrheit und damit gegen den Standpunkt, man müsse Rücksicht nehmen auf Andersdenkende, die schließlich auch einen Teil der Wahrheit hätten und mit denen man sich eben über diese Wahrheit verständigen müsse. Da im Gegenteil im Evangelium in Jesus Christus die Wahrheit erschienen ist, »die wir bekennen, […] können wir die Wahrheit nicht so unterbewerten, daß wir sie auf eine Stufe mit anderen Wahrheiten stellen.«298 Freiheit und Toleranz, welche Bartels mit »Ertragen des wirklich anderen« gleichsetzt, seien aber deshalb unerlässlich, da das Evangelium keinen Zwang dulde. Das Evangelium bleibe nur dann Evangelium, wenn es ganz frei und nur durch sich selbst überzeuge: »›Non vi, sed verbo‹, nicht mit irgendeinem Druck, nicht mit irgendeinem Zwang geht es, sondern nur durch das Wort Gottes. Dem trauen wir allerdings alles zu und 296 A. a. O., 295. 297 A. a. O., 293. 298 Ebd.

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deshalb können wir es wagen, auf Sicherungen dieses Wortes zu verzichten. Das meint evangelische Toleranz.«299 Hinsichtlich der Lehrerbildung hält Bartels darüber hinaus fest, dass diese nicht in Indifferenz verfallen dürfe und Bekenntnis, religiöse und andere Grundüberzeugungen nicht ausgeschlossen werden dürften. Sie solle »in der Achtung vor der Gewissensentscheidung des Nächsten gründen« und Menschen, die sich zu verschiedenen Religionen und Grundüberzeugungen bekennen, »nicht geistig gegeneinander abschließen.«300 Vielfach werde versucht, diesen Gegensätzen im öffentlichen Leben auszuweichen, indem man eine formale Parität herstellt oder jede tiefere Überzeugung in die private Sphäre des einzelnen verweist. Dies stellt für Bartels sowie für das von ihm zitierte Gutachten über die Lehrerbildung des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen vom 5. September 1955 jedoch keinen Ausweg dar. Zwar möge hinter solchen Bestrebungen der Wunsch stehen, die Atmosphäre zu entgiften. Tatsächlich hätten sie aber mit dazu beigetragen, dass viele gleichgültig, unsicher oder skeptisch geworden seien und die Frage nach Sinn und Aufgabe des eigenen Lebens nicht mehr stellten. Für Bartels steht also fest, dass christliche Toleranz im Evangelium begründet und »fern von jedem Indifferentismus«301 zu bestimmen ist. Damit stimmt er mit einigen Kernaussagen zu einer Toleranz aus Glauben überein, deren Prinzip im Rahmen der systematisch-theologischen Untersuchungen dieser Arbeit beleuchtet wurden. 4. Conrad Müller, Zur »Entideologisierung« der Gemeinschaftsschule, in: Der Evangelische Erzieher 18 (1966), 310 – 313. Bei diesem Beitrag mit dem Titel »Zur ›Entideologisierung‹ der Gemeinschaftsschule« handelt es sich um einige Ausschnitte aus einem Referat des Staatssekretärs im Niedersächsischen Kultusministerium, Conrad Müller, welches in vollständiger Fassung im April 1966 in »Die evangelische Elternschaft« veröffentlicht wurde. Die Toleranzthematik wird hier ebenfalls lediglich am Rande innerhalb eines bildungspolitischen Kontextes erwähnt. Dennoch soll, nicht zuletzt der Vollständigkeit halber, auch dieser Beitrag nicht unbeachtet bleiben. In seinem Vortrag nimmt Müller Bezug auf die Auseinandersetzung zwischen den Verfechtern der Gemeinschaftsschule und jenen der Konfessions- bzw. Bekenntnisschule. Müller steht ein für den Vorrang der Gemeinschaftsschule und sieht sich vor die schwierige Aufgabe gestellt, den Anspruch auf diesen 299 F. Bartels, Freiheit und Bekenntnis in evangelischer Sicht, 294. 300 Ebd. 301 Ebd.

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Vorrang gegen den katholischen Anspruch auf Gleichberechtigung aller Schularten so plausibel zu machen, dass ein Konsens in dieser Frage erreicht werden kann. Sein Anliegen ist es, als Staatssekretär im Niedersächsischen Kultusministerium die Konzeption des niedersächsischen Schulrechts zu vertreten und sich als persönlicher Anhänger der Gemeinschaftsschule zugleich nachdrücklich gegen eine ideologische Begründung und Verabsolutierung der Gemeinschaftsschule auszusprechen. Diese stelle nach Müllers Ansicht die Begründung ihres Vorrangs eher in Frage als dass sie sie bekräftigen würde und wirke daher weitestgehend kontraproduktiv. Würden nämlich nur »gesellschaftliche Interessen und Affekte des Betrachtenden«302 in der Befürwortung und Begründung der Gemeinschaftsschule zur Legitimierung derselben herangezogen werden, so wäre es laut Müllers Ausführungen schwer, für sie gegenüber anderen schulpolitischen Ideen einen Vorrang zu beanspruchen. Aus eben diesem Grunde ist ihm daran gelegen, die Begründung der Gemeinschaftsschule, wie es der Titel seines Beitrags bereits vorwegnimmt, zu entideologisieren. Als großes Vorbild der niedersächsischen Regelung verweist Müller auf die schulpolitische Konzeption der Weimarer Reichsverfassung. Diese biete den ersten und besten Ansatz für die gewünschte Entideologisierung: »Indem hier die Errichtung von Bekenntnisschulen davon abhängig gemacht wird, daß dadurch ein ›geordneter Schulbetrieb nicht beeinträchtigt‹ wird, stellt sie es auf etwas ab, was die Leistungsfähigkeit der Schule bestimmt.«303 Müller erläutert den in der Verfassung berücksichtigten Zusammenhang zwischen der Gliederung der Schulen und der Qualität der Bildung sowie das Interesse an einer den Erziehungserfolg der Schule fördernden optimalen Gliederung. Werde die optimale Gliederung zum Organisationsprinzip im damaligen Schulwesen, so ergebe sich bei der Entstehung von Schulen für gesellschaftliche Gruppen unvermeidlich die Pflicht des Staates, der Benachteiligung derjenigen, die der Gruppe nicht angehören, in den ihnen verbleibenden Schulen vorzubeugen. Dies könne er an den Orten, an denen wegen ihrer Größe nicht für alle Schulen eine volle Gliederung gesichert sei, nur tun, indem er eine Schule dadurch privilegiere, dass er sie gegen eine Verkürzung ihrer Gliederung schütze. So könnten jedoch nicht Bekenntnisschulen privilegiert werden, »weil dann eine mit den Grundrechten nicht zu vereinbarende Lage für diejenigen Erziehungsberechtigten, die die Bekenntnisschule ablehnen, entsteht. Sie müßten entweder auf den Eintritt ihrer Kinder in die die besten Bildungschancen bietende Schule verzichten […]. Oder sie müssen für den Eintritt ihrer Kinder in die Vorrangschule die Erziehungsprinzipien einer Gruppe in Kauf nehmen, der sie nicht

302 N. Birnbaum, Art. Ideologie, 567. 303 C. Müller, Zur »Entideologisierung« der Gemeinschaftsschule, 311.

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angehören oder sie trotz Zugehörigkeit zu dieser Gruppe ablehnen.«304 Dieser Preis für Gleichheit der Bildungschancen sei unzumutbar, da der Bürger jeder Konfession und Weltanschauung Anspruch darauf habe, dass sein Kind in der bestgegliederten Schule mit den anderen Kindern gleichberechtigt sei. Diese Gleichberechtigung könne nach Müllers Argumentationsgang nur eine Schule geben, die mit ihren Zielen nicht einer Gruppe im Staat verpflichtet sei. Das sei der wesentliche Sinn der Gemeinschaftsschule als Vorrangschule. Der »geordnete Schulbetrieb« als Maxime für die Errichtung von Bekenntnisschulen, also die Einführung eines Maßstabs der Leistungsfähigkeit, setze in konfessionell nicht völlig homogenen Verhältnissen eine gruppenfreie Schule als Vorrangschule voraus. Wie Müller feststellt habe damit bereits die Weimarer Verfassung die Gemeinschaftsschule entideologisiert. Für das Thema der Toleranz von Belang sind nun Müllers fortführende Äußerungen darüber, dass eine nur noch objektive und mit der Leistung der Schule nüchterne Begründung des Vorrangs der Gemeinschaftsschule nun allerdings keineswegs freie Bahn für die Ablehnung von Bekenntnisschulen gewinnt. Vielmehr müsse ein Weg gefunden werden »zwischen den Geboten der Toleranz und der Rücksicht auf die Leistungsfähigkeit der Schule.«305 Bezüglich der Frage der Toleranz macht Müller auf das Toleranzargument aufmerksam, das für die Gemeinschaftsschule und gegen die Bekenntnisschule plädiert. Jedoch bewertet Müller die dafür charakteristischen Aussagen, das Zusammenleben in einer Schule erziehe zur Toleranz, die Separation in der Bekenntnisschule hingegen zur Intoleranz, als »pure Ideologie«. Denn keinen Menschen dürfe man von seinem Weg dadurch abbringen, dass man ihm im Zeichen der Freiheit verbiete, seiner eigenen sittlichen Entscheidung zu folgen. Darüber hinaus sei das Toleranzargument für die Gemeinschaftsschule und gegen die Bekenntnisschule auch »blasse Theorie. Es kommt hier ganz und gar auf die Lehrerpersönlichkeit an. Die Toleranz wird ebenso gefährdet durch die Militanz des Antikonfessionalismus wie durch die des Konfessionalismus. Eine dogmatisch fundierte Schule und Toleranz schließen sich nicht aus, sie können füreinander förderlich sein.«306 Aus dem Gesagten geht also Müllers eindeutige Überzeugung hervor, dass es sich bei Toleranz und Bekenntnisschulen nicht um miteinander unvereinbare Gegensätze handeln kann. Vielmehr werde die Toleranz auf der Seite der Gesellschaft bei der Frage der Zulassung von Bekenntnisschulen auf die Probe gestellt. Der zentrale Punkt innerhalb dieser Diskussion um Gemeinschaftsbzw. Bekenntnisschulen in den 60er Jahren war also das Anliegen, sich in dieser 304 A. a. O., 312. 305 A. a. O., 313. 306 Ebd.

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Frage von Ideologie freihalten zu wollen und nur von Gesichtspunkten der Leistungsfähigkeit leiten zu lassen. Dann muss als Ergebnis dem Sonderanspruch einer Gruppe auf Bekenntnisschulen das Interesse der Allgemeinheit an leistungsfähigen Schulen für die Kinder der Bürgerinnen und Bürger, die keinen Sonderanspruch erheben, sowie für die Kinder der Gruppe selbst entgegengehalten werden. »Wo dieses Interesse gewahrt ist,« so der Staatssekretär des Niedersächsischen Kultusministeriums im Jahre 1966, »müssen wir der Gruppe die Erziehung konzedieren, die sie aus Gründen ihres Gewissens fordert.«307 Darin seien beide Schulordnungen – sowohl die Weimarer Reichsverfassung wie das niedersächsische Schulrecht – in gleichem Maße folgerichtig, liberal und tolerant. 5. Gerhard Ringshausen, Aus der Diskussion der 3. Herausgebertagung, in: Der Evangelische Erzieher 18 (1966), 453 – 454. Ebenfalls im Jahr 1966 gibt Gerhard Ringshausen, Professor für Religionspädagogik, in seinem kurzen Beitrag einige Punkte aus der Diskussion der dritten Herausgebertagung wieder. Auf verschiedene Referate dieser Tagung folgte jeweils eine ausführliche Debatte, in deren Verlauf vielfach neue Gesichtspunkte erarbeitet wurden, welche die Referate im Nachhinein ergänzen sollten. Hierbei wird die Toleranzthematik im Rahmen einer kommentierenden Response von Ringshausen aufgegriffen, die sich auf ein pädagogisches Referat von Prof. Dr. Heydorn bezieht. Ringshausen überschreibt diesen Punkt folgendermaßen: »Zum Problemfeld: Demokratische Gesellschaft – Toleranz – ›demokratische Schule‹«308. Da die Schule in einer demokratischen Gesellschaft aus einem Kompromiss entstehe, sei sie durch Indifferenz, Toleranz und Neutralität bestimmt, so dass sich ernsthafte Folgen für die Behandlung aller derjenigen Gegenstände ergeben, die mit einer Wertung zu tun haben. Als Ausgleich für diese Beschränkung durch die Neutralität könnte es Aufgabe bestimmter, sich auf der Basis der Freiwilligkeit Normen setzender Schulen sein, gegen den Zeitgeist das Wissen um diese Bildungsaufgaben wach zu halten. Zur Zeit der Abfassung dieses Textes im Jahre 1966 sei der Toleranzbegriff nach Ringshausens Einschätzung besonders durch das Moment der Indifferenz bestimmt, was ursprünglich nur ein Teilaspekt gewesen sei. Beim Auftreten der Toleranzidee sei zunächst ausschlaggebend, dass der bzw. die Einzelne in der Frage nach der Wahrheit nicht mehr durch die Institution voll gedeckt sei, sondern (wie der junge Luther) auf sich selbst zurückgeworfen sei. Unter dieser Voraussetzung, dass der bzw. die Einzelne eine individuelle Beziehung zur Wahrheit haben könne, musste eine neue Form des 307 Ebd. 308 G. Ringshausen, Aus der Diskussion der 3. Herausgebertagung, 453.

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Zusammenlebens gefunden werden, die dem Selbsterhaltungstrieb Genüge tue, damit nicht die verschiedenen Wahrheitsbezüge sich absolut setzend das Zusammenleben der Menschen unmöglich machten. Dieses relativistische Element sei mittlerweile ganz in den Vordergrund getreten, während der Aspekt der unsäglichen Belastung des Einzelnen durch die Wahrheitsfrage fast völlig verloren wurde. »Toleranz ist daher fast zu einem Synonym für ungestörten Funktionsablauf der Gesellschaft geworden«309, wie Ringshausen feststellt. Die Gemeinschaftsschule ist seiner Ansicht nach »nicht ein Spannungsverhältnis verschiedenartiger Wahrheitsfragen, sondern Kaschierung eines absoluten Vakuums.«310 Diese Problematik könne auch nicht durch die Forderung einer »demokratischen« Schule gelöst werden, da Demokratie, die das Verhältnis von Mündigen zueinander voraussetze, eben nicht der tatsächlichen Schulsituation entspreche. Ringshausen fordert stattdessen die Einübung des geistigen und kritischen Instrumentariums, sich in einer Demokratie orientieren zu können. Ringshausens Äußerungen sind also in die konkrete Situation der bereits bei Müller thematisierten Debatte um die Gemeinschaftsschule einzuordnen. Er kritisiert nachdrücklich die Tatsache, dass sich unter dem Deckmantel der Toleranz in Wahrheit Indifferenz und relativistische Elemente ausgebreitet hätten. Es ist hier somit der Vorwurf einer Funktionalisierung von Toleranz auszumachen, die nach Ringshausens Auffassung lediglich nunmehr dazu dienen soll, den »ungestörten Funktionsablauf der Gesellschaft« zu garantieren. Eine angemessene und entlastende Auseinandersetzung mit der Wahrheitsfrage sei nicht gegeben. Darüber hinaus seien ernste Folgen für die Wertebildung zu erwarten. Aus Ringshausens knappen Äußerungen kann herausgelesen werden, dass er eine durchaus bestimmte Vorstellung davon hat, was rechte Toleranz in seinen Augen ausmacht. Diese Vorstellung leitet ihn darin, zu einem Urteil über die Gemeinschaftsschule zu gelangen, die sich seinen Schlussfolgerungen zufolge auf ein problematisches, funktionalisiertes Toleranzverständnis stützt. Welches Verständnis von Toleranz liegt also seinem Text zugrunde? Ganz offensichtlich eines, das Toleranz gerade nicht mit Indifferenz bzw. Relativismus gleichsetzen, sondern vielmehr eindeutig davon unterscheiden möchte. Ringshausens Toleranzverständnis ist insofern ausdifferenziert, als er die Auseinandersetzung mit der Wahrheitsfrage implizit als konstitutiv für wahre Toleranz versteht.

309 Ebd. 310 A. a. O., 453 f.

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6. Walter Neidhart, Der Schüler als Mitmensch des Religionslehrers in einer pluralistischen Gesellschaft, in: Der Evangelische Erzieher 21 (1969), 9 – 21. Zusammengefasst kann Walter Neidharts Beitrag »Der Schüler als Mitmensch des Religionslehrers in einer pluralistischen Gesellschaft« im »Evangelischen Erzieher« aus dem Jahre 1969 als ein Plädoyer verstanden werden, den Blickwinkel und den Fokus der religionspädagogischen Betrachtungsweise in Richtung derjenigen Kinder und Jugendlichen zu verschieben und neu auszurichten, die dem Religionsunterricht weitestgehend distanziert und desinteressiert gegenüber stehen. Neidhart, zur damaligen Zeit Dozent für Praktische Theologie an der Universität Basel, geht davon aus, dass es sich hierbei um die Mehrheit der Schuljugend handelt. Er ergreift Partei für diesen großen Schüleranteil, für den der Religionsunterricht nichts anderes sei »als ein Kurs über ein Stoffgebiet, das für sie keinerlei Sinn bekommt. Es ist, wie wenn Wagenladungen von Backsteinen abgeladen würden auf einen Bauplatz, auf welchem sie, bis sie die Schule verlassen, keine Arbeitskräfte haben, um einen Bau zu beginnen.«311 Zu diesem Ergebnis kommen umfassende empirische Studien des Oxforder Dozenten Loukes in England und Wales, die Neidhart so oder zumindest ähnlich auch mit Blick auf den deutschen Religionsunterricht bestätigt sieht. Demzufolge sei der Lernerfolg des obligatorischen Religionsunterrichts erschreckend gering. Die Kenntnisse aus Bibel und Glaubenslehre seien ebenso dürftig wie das Verständnis für die Bedeutung christlicher Glaubensaussagen. Die Bemühungen des Religionsunterrichts, der Jugend einen Zugang zur Bibel zu öffnen, seien schlicht als gescheitert zu betrachten. Lediglich ein kleiner Prozentsatz der Heranwachsenden – in der Regel handele es sich dabei um Jugendliche aus kirchlich aktiven Elternhäusern – sei bereit, sich weiterhin mit der Bibel zu beschäftigen. Neidhart gelangt daher zu der Arbeitshypothese, für die Mehrheit der Schüler sei der Religionsunterricht ein Kurs in »knowledge-without-meaning«. Er konstatiert hier eine aufbrechende Aporie und stellt »die Frage nach der Mitmenschlichkeit des Schülers«312 sowie damit zusammenhängend nach dem Recht, mit dem »so viel Zeit und Kraft seines Lebens für unsere Zwecke« beansprucht werden könne. Stelle man sich der Erkenntnis, dass der Schüler unser Mitmensch ist, und wende man daher die goldene Regel der Bergpredigt auf ihn an, so müsse man sich fragen: »Hätten wir Erwachsene denn Lust dazu, während 8 – 12 Jahren einen Kurs mit zwei Wochenstunden über ein Thema zu besuchen, 311 »For the majority of our schoolchildren, the whole of their religious instruction is nothing but a course of instruction in knowledge without meaning: it is the delivery of loads of bricks to a site on which, until they are about to leave, they have no equipment for building.« H. Loukes, New Ground in Christian Education, zitiert nach W. Neidhart, Der Schüler als Mitmensch des Religionslehrers in einer pluralistischen Gesellschaft, 9. 312 A. a. O., 11.

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von dem wir den Eindruck haben, daß es eigentlich Zeitverlust sei, sich mit ihm zu beschäftigen?«313 Manche Lehrer definierten das Ziel nach wie vor in der Art, wie es die Väter der theologischen Erneuerungsbewegung und die Führer der Bekennenden Kirche gelehrt haben: Religionsunterricht sei Verkündigung von Gottes Wort und müsse darum in der Hauptsache Bibelunterricht sein. Auf die bereits aufgeworfene Frage nach dem Recht, für das Fach Religion so viel Zeit der Jugendlichen zu beanspruchen, antworte diese Gruppe von Theologen und Religionslehrkräften entweder mit dem Rückgriff auf die Taufe, die die Schüler und Schülerinnen empfangen haben, oder mit dem Hinweis auf den Missionsauftrag. Doch Neidhart wendet ein, dass sich der Verkündigungsauftrag nicht ohne weiteres auf den Religionsunterricht übertragen lasse, wenn es gelte, dass der Schüler unser Mitmensch sei: »Verkündigung setzt den Hörer voraus, der so frei ist, daß er sich auch abwenden und dem an ihn gerichteten Wort entziehen kann.« Doch die Möglichkeit einer Dispensation vom Religionsunterricht, so Neidharts Argument, sei den Schülerinnen und Schülern aufgrund der »Angst ihrer Eltern vor dem Prestigeverlust«314 vielfach nicht gegeben. Wenn nunmehr auch die »neutralen, distanzierten und desinteressierten Schüler« als unsere Mitmenschen anzusehen seien, so »muß uns daran gelegen sein, einen RU zu gestalten, der auch für sie sinnvoll ist. Das aber ist nicht möglich, wenn wir ihn in strengem Sinn als Verkündigung von Gottes Wort oder als lehrende Einführung in die Predigt verstehen.«315 Im Folgenden untersucht Neidhart den Versuch des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen, das Fach pädagogisch zu verantworten und aus dem Bildungsauftrag der Schule abzuleiten. Aufgabe des Religionsunterrichts nach seinem Gutachten316 sei es, »den Schülern in Offenheit und Toleranz gegenüber den Andersdenkenden die Bedeutung und den Sinn des eigenen Glaubens zu erschließen und sie dahin zu führen, daß sie die gemeinsamen geistigen Bestände, die auch unsere Gesellschaft zusammenhalten, erfassen und daß sie zu verantwortlichem Handeln erzogen werden.«317 Das Gutachten will den Pluralismus ernsthaft berücksichtigen. Großes Gewicht wird auf die Erziehung zur Toleranz und zum Verständnis für den Andersdenkenden gelegt. Darum sei es nicht das Ziel des Religionsunterrichts, die Schüler zu indoktri-

313 314 315 316

Ebd. A. a. O., 18. A. a. O., 14. Deutscher Ausschuß für das Erziehungs- und Bildungswesen (Hg.), Empfehlungen und Gutachten. 317 W. Neidhart, Der Schüler als Mitmensch des Religionslehrers in einer pluralistischen Gesellschaft, 15.

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nieren. Der Religionsunterricht habe vielmehr die Aufgabe, die Schüler für ein Leben in der pluralistischen Gesellschaft auszurüsten. Dennoch bewertet Neidhart das genannte Gutachten und die darin enthaltenen Empfehlungen als »in verschiedener Hinsicht fragwürdig […]. Zunächst fällt daran auf, wie plerophor und beschwörend von der Wichtigkeit der religiösen Erziehung geredet wird. Die Bibel sei so kostbar und geschichtlich so bedeutsam, daß alle Kinder sie kennen sollten. Die einzigartige Bedeutung der vertrauenden Bindung an ein Nicht-Verfügbares erfordere die religiöse Erziehung jedes Kindes und jedes Heranwachsenden vom Kindergarten bis zur Hochschule. Man fragt sich, welche Wirklichkeit im schulischen Alltag solchen beteuernden Sätzen entspricht.«318 Neidharts anschließendes »kleines Gedankenexperiment« schließlich erscheint weit hergeholt und schwerlich nachvollziehbar. Er scheint Äpfel mit Birnen zu vergleichen, wenn er die Vorstellung einer Verordnung der Fußballverbände unserer Gesellschaft, in allen Schulklassen zusätzlich zwei Stunden Fußballtraining einzuführen, als fiktive Parallele zur institutionellen Gegebenheit des Religionsunterrichts heranzieht. Den betroffenen Personen würde bei obligatorischem Fußballtraining ein Verhalten aufgezwungen werden, das ihre Persönlichkeitsrechte verletze. So verhalte es sich auch mit dem Religionsunterricht. Neidhart scheint bei diesem abstrusen Vergleich zum einen die bereits zu seiner Zeit bestehende Möglichkeit einer Abmeldung vom Religionsunterricht außer acht zu lassen. Sein bereits erwähnter Hinweis auf die Furcht vor einem eventuellen Prestigeverlust, sollte man am Religionsunterricht nicht länger teilnehmen, kann dabei nicht ernsthaft in Erwägung gezogen werden. Zum anderen scheint er sich nicht darüber im Klaren zu sein, dass es sich bei Religion um eine zielwahlorientierende Daseinsgewissheit handelt. Jeder Mensch ist de facto nun einmal ein Mensch und von daher von Fragen über Verfassung, Ursprung und Ziel des menschlichen Daseins unmittelbar betroffen. Hingegen ist längst nicht jeder Mensch ein Fußballspieler, allein schon aufgrund der individuell variierenden physischen Voraussetzungen. Nach diesen zum Teil fragwürdigen Ausführungen schließt Neidhart seinen Beitrag ab, indem er auf die notwendigen Konsequenzen bezüglich des Verständnisses und der Durchführung eines Religionsunterrichts hinweist, in dem restlos alle Schülerinnen und Schüler, »nicht nur die zukünftigen Theologiestudenten und die kirchlich Aktiven«319, als »unsere Mitmenschen« akzeptiert werden. Hier finden sich durchaus wertvolle und zukunftsweisende Anregungen, die in der Entwicklung des Religionsunterrichts seither auch Umsetzung fanden. So fordert Neidhart die Lehrkräfte beispielsweise dazu auf, in der 318 A. a. O., 16. 319 A. a. O., 18.

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Stoffauswahl und der Gestaltung des Unterrichts die Mehrheit zu berücksichtigen. Weil der Religionslehrer ihnen allen Mitmensch sein wolle, nicht nur den bereits religiös Interessierten, müsse er bestrebt sein, »für alles, was er unterrichtlich zu bieten hat, zunächst einmal das Interesse der Mehrheit der Klasse zu wecken. […] Bei der Auswahl und der Gestaltung eines Stoffes muß darum das Problem, wie die Klasse für den Stoff zu interessieren und welche Relevanz er für ihren Erfahrungsbereich hat, von vorneherein in die Überlegung einbezogen werden.«320 Hier bringt Neidhart also Ansätze für eine religionspädagogische Denkweise vom Schüler her zur Sprache, wie sie auch in der weiteren Entwicklung des Religionsunterrichts von zentraler Bedeutung waren bzw. immer noch sind und insbesondere im Kern des Elementarisierungsmodells ihren angemessenen Ausdruck finden. Als Hilfe für die moralische Erziehung der Jugend und deren durchaus bestehendes Interesse an Themen der Ethik müssten nach Neidharts Vorstellungen die Lebensfragen im Religionsunterricht ausführlich und in ihrem Zusammenhang mit dem Menschenverständnis des christlichen Glaubens thematisiert werden. Wenn er nach den echten Interessen des Schülers und der Schülerin frage, helfe er mit, dass sie ethische Entscheidungen mit besserer Einsicht fällen und ihre Verantwortung mit mehr Sachkenntnis und im Wissen um andere Entscheidungsmöglichkeiten wahrnehmen. Wenn die Religionslehrkraft also bemüht sei, Mitmensch aller Schülerinnen und Schüler zu werden, sehe sie »sich selber im Dienste des Gottes, der alle Menschen liebt, nicht nur die kirchlichen.«321 Sie benütze das ihr durch die Institution gegebene Zusammensein mit jungen Menschen, um ihnen bei der Bewältigung der an sie herantretenden Lebensprobleme als Berater zu dienen. Im Rahmen eines derart verstandenen Unterrichts und um die Jugendlichen auf ein Leben in der pluralistischen Gesellschaft vorzubereiten, verzichte die Lehrperson darüber hinaus darauf, ihr Credo »wie eine objektive, für alle einsichtige Wahrheit zu behandeln.« Zustimmen wird man Neidhart und seiner Vorstellung eines den Pluralismus bejahenden Religionsunterrichts vom heutigen Standpunkt aus sicherlich auch, wenn er schreibt: »Indem man dem Schüler zu eigener Auseinandersetzung mit dem Glauben Mut macht, rüstet man ihn für ein Leben in dieser Welt aus. So bringt man nicht den zukünftigen aktiven Christen bei, daß sie mit allen ihren Ansichten recht hätten, sondern sie lernen, daß Glaubensaussagen sich im Lebensvollzug zu bewähren haben und daß aktive Christen mit Nichtchristen und mit temperierten Christen zusammenleben müssen. Loukes meint zu diesem Punkt: ›Learning to value an opponent in an

320 A. a. O., 20. 321 A. a. O., 21.

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argument is the beginning of loving one’s enemies, and it is a more creative, a more Christian experience than being right.‹« Dieses Zitat lässt die von Berger postulierte dialogische Auseinandersetzung zwischen Anhängern unterschiedlicher Weltanschauungen erneut in Erinnerung rufen, die im Rahmen der systematischen Toleranzbegründung als gewichtiger Schritt auf dem Weg zur Ausbildung einer reflektierten im Gegensatz zu einer abstrakt und beliebig bleibenden Toleranz herausgestellt wurde. Ohne Zweifel sind dabei Respekt und Wertschätzung für Andersdenkende und Anhänger fremder Weltanschauungen und Religionen grundlegende Voraussetzungen dafür, ihnen gegenüber aufrichtig tolerant sein zu können. In dieser Hinsicht sind Neidharts Ausführungen – zumindest größtenteils – also durchaus im Sinne einer Forderung nach starker, tragfähiger und reflektierter Toleranz sowohl im Religionsunterricht als auch im größeren Zusammenhang innerhalb der pluralistischen Gesellschaft zu verstehen. 7. Will Cremer, Schule und Religion. Überlegungen eines Religionswissenschaftlers, in: Der Evangelische Erzieher 22 (1970), 375 – 388. Überaus bemerkenswerte Ausführungen zum »Kernprinzip echter religiöser Toleranz«322 legt der Religionswissenschaftler Will Cremer in seinen Überlegungen zu »Schule und Religion« vor, die 1970 im »Evangelischen Erzieher« veröffentlicht wurden. Zu Beginn seines Beitrags weist er auf die immer energischer geforderte und zum Teil bereits begonnene Diskussion über das Fach Religion in der öffentlichen Schule hin. Diese sei nur ein Teil des umfassenderen Phänomens der konsequenten Religions- und Ideologiekritik, von der bereits zur damaligen Zeit alle großen Religionen und Kulturbereiche betroffen waren. Cremer konstatiert eine Krise aller großen Religionen und führt dies darauf zurück, dass die kritische Vernunft im Begriff sei, »das Maß aller Dinge zu werden, auch das Maß für die Religion.«323 Gerade junge Menschen sehen sich laut Cremer dazu veranlasst, der tradierten Religion und ihren Erziehungsansprüchen skeptisch gegenüber zu stehen. In dieser Situation sei der kirchliche Bereich in zwei Fronten aufgespalten. Einerseits wolle man den konfessionsgebundenen Religionsunterricht als eine staatlich privilegierte und institutionalisierte Glaubensverkündigung – wenn auch in modifizierter und modernisierter Form – nicht aufgeben. Andererseits existiere die Meinung, das Privileg eines bekenntnisgebundenen Religionsunterrichts in der öffentlichen Schule sei überholt. Cremer selbst schließt sich der Ansicht an, die Ausnahmebestimmungen über einen solchen Religionsunterricht (Art. 7 Abs. 1 – 5 GG) sowie die Erhebung von Kirchensteuern 322 W. Cremer, Schule und Religion, 385. 323 A. a. O., 376.

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durch den Staat würden das Trennungsprinzip von Staat und Kirche durchbrechen und gegen die Verpflichtung des Staates zu weltanschaulicher Neutralität verstoßen. Darüber hinaus möchte Cremer als Religionswissenschaftler die Forderung auf Änderung des konfessionsgebundenen Religionsunterrichts »auch von der veränderten Weltsituation und von den Ergebnissen der Pädagogik, der vergleichenden Religionsforschung und der Philosophie her begründet wissen.«324 So hätte die Anwendung kritisch-wissenschaftlicher Methoden auf den durch viele Jahrhunderte hindurch immunen Bereich theologischer Wahrheiten in die Krise der traditionellen Religionen geführt. Auch die fortschreitende Globalisierung, in deren Zuge uns wissenschaftliche und politische Vorgänge unaufhörlich dazu zwingen, die Welt als Einheit zu behandeln, habe ihren Teil dazu beigetragen: »Die Tatsache, daß die moderne Welt immer kleiner wird, führt die paradoxe Begleiterscheinung mit sich, daß, trotz der wachsenden Einheit im Räumlichen, die Einheit im Geistigen immer problematischer wird.« Gerade darin liege eine Hauptschwierigkeit für den suchenden Menschen dieser Tage. Was früher in einem begrenzten Kulturbereich mit dem Signum und Anspruch letzter und absoluter Offenbarung aufgetreten sei, erweise sich derzeit im großen Dialog der Religionen nicht unwidersprochen und verliere durch wissenschaftlichen Vergleich seine Einmaligkeit und totale Andersartigkeit. Eben damit sei die ursprüngliche Autorität gebrochen und relativiert. Doch Cremer zufolge wäre es nun ein großes Verhängnis zu glauben, dass damit die Religion qua Religion ihren Sinn verloren hätte. Die Religionsgeschichte gebe ein eindrucksvolles Zeugnis dafür, dass »Religion ein universales, komplexes und elementares Phänomen ist, das zu den Grundwirklichkeiten des menschlichen Daseins gehört.«325 Aus der »Dimension der Tiefe im Menschen«, d. h. seiner »religiösen Dimension« heraus, wie Cremer in Anlehnung an Paul Tillichs Definition von Religion schreibt, habe der Mensch immer wieder die wesentlichen Fragen und Antworten seiner Existenzbewältigung formuliert. Das Fragenkönnen, ja Fragenmüssen mache den Menschen zum Menschen und weise ihn wesenhaft als animal religiosum aus, also als ein Wesen, das von Natur aus dazu begabt ist, sich und seinen Erfahrungsbereich ständig zu transzendieren. Somit geht Cremer mit guten Gründen von der Annahme aus, »daß es zum Wesen des Menschen gehört, mit Hilfe seiner kritischen Vernunft immer wieder neu die uralten Fragen nach dem Woher, Wohin und dem Sinn des Daseins zu stellen, und daß wir der Jugend keinen größeren Dienst erweisen können, als wenn wir ihr in der Schule, in einem bestimmten Fach, den Raum eines systematischen und kritischen Nachdenkens bieten, den sie braucht, um 324 A. a. O., 378. 325 A. a. O., 380.

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zu einem reflektierenden Bewußtsein zu kommen, das zu einer tieferen Selbstund Welterkenntnis und damit zu einer größeren Verantwortung führt.«326 Dennoch stelle sich angesichts der beschriebenen Faktoren die wichtige Frage nach der Neuordnung des Religionsunterrichts. Folgerichtig stellt Cremer fest, dass der Dialog zwischen den großen Religionen und Konfessionen kommen müsse, »denn er ist ein wesentlicher Beitrag für den Frieden und für die Einigung unserer durch ideologische Gräben und Vorurteilsschranken zersplitterten Welt.«327 Der Absolutheitsanspruch des Christentums erfahre durch den faktischen Pluralismus der verschiedenen Heilsangebote der großen Religionen eine immer größere Anfechtung. Evangelische und katholische Theologen kommen im Umgang mit der Problematik der Pluralität zu recht unterschiedlichen Ergebnissen. Während der protestantische Religionsphilosoph Ernst Troeltsch im Christentum als historische Größe eine durchaus »relative Erscheinung«328 sah, beschritt die dialektische Theologie Karl Barths den negativen Weg der Exklusivität. Das Dekret des II. Vatikanischen Konzils über die nichtchristlichen Religionen betont ausdrücklich die Anerkennung der Wahrheitsmomente und die Heilsmöglichkeit in den nichtchristlichen Religionen, doch aus jedem Menschen bereits einen »anonymen Christen«329 zu machen bleibe laut Cremer hingegen typisch für die modifizierte Argumentation eines alten Absolutheitsanspruches. Um die totale Andersartigkeit des Christlichen zu erweisen, stellte Tillich die These auf, dass das Christentum gar keine »Religion« (im Sinne von Mythos und Kultus) sei und dass man gegen alles ankämpfen müsse, wodurch es eine »Religion« würde.330 Dem widerspricht Cremer nachdrücklich und weist darauf hin, dass das Christentum eine Religion geworden sei und sich bis heute als eine solche verstehe. Nach Ansicht der vergleichenden Religionsforschung besitze jede Religion ihre geschichtliche Entwicklung und sei denselben Gesetzen unterworfen wie andere soziale Institutionen. Für die Toleranzthematik von großem Interesse ist nun die für einen fruchtbaren Dialog mit Andersglaubenden wichtige Differenzierung, die Cremer vornimmt: Er betont den Unterschied zwischen der existentialen inneren Wirklichkeit der Religion, die unbedingt sei, und der geschichtlichen Wirklichkeit der Religion, die bedingt sei. So sei es schwer, die grundsätzliche Möglichkeit und Echtheit religiöser Erfahrungen in Frage zu stellen, ohne den Menschen selber in seinen tiefsten und letzten Aussagen nicht ernst zu nehmen. Die geschichtliche Wirklichkeit jeder Religion sei jedoch bedingt und relativ, ihr 326 A. a. O., 381. 327 A. a. O., 381 f. 328 E. Troeltsch, Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte, 49; vgl. a. a. O., 382. 329 Vgl. K. Rahner, Das Christentum und die nichtchristlichen Religionen, 143; vgl. a. a. O., 383. 330 Vgl. P. Tillich, Das Christentum und die Begegnung der Weltreligionen, 53; vgl. ebd.

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Absolutheit zuzusprechen eine Verkürzung der Wahrheit. Es wäre somit Aufgabe der Religion als geistige Erfahrung, überall dort, wo sie auf relative und geschichtlich bedingte Ausformungen von Religion treffe, nicht nur Wesen und Ursachen des Relativen zu erforschen, sondern auch immer den Versuch zu machen, das Gültige und Wirkliche, das Existentiale, das sich in ihm berge, zu erfassen. Mit eben dieser Haltung, so Cremers Schlussfolgerung, wäre »das Zentrum der religiösen Intoleranz überwunden.«331 Mit der Unterscheidung von existentieller und ontologischer Gültigkeit der religiösen Aussage, so fährt er fort, sei das Kernprinzip echter religiöser Toleranz erreicht. Es scheint lohnenswert, folgendes Zitat von Hauer ebenfalls in voller Länge wiederzugeben: »Während der Andersgläubige die existentielle Gültigkeit einer Aussage über die zentrale Heilserfahrung nicht in Frage stellt, ist ihm ihre Erlebnisform und gedankliche Gestaltung nur analog gültig, als sinnbildliche Form, die ihn verstehen läßt, welche besondere Art das Heilserleben beim Andersgläubigen annimmt. Seine Art zu erleben und seine Anschauung vom Letzthin-Wirklichen und seinem Wirken im Menschen oder auf den Menschen wird ihn aber zwingen, die logisch-ontologische Gültigkeit der beigegebenen weiteren Aussagen in Frage zu stellen oder gar als Irrtum zu verneinen. Unter existentieller Gültigkeit einer religiösen Aussage ist also gemeint, daß jedem religiösen Menschen in seinen ihm eigenen Erlebnis- und Gestaltungsformen radikal dasselbe Heilsgeschehen zuteil werden kann. Die damit gekennzeichnete Sicht und Erkenntnis erwirkt Toleranz und Verstehen vom Zentrum des Religiösen her mit Notwendigkeit. Denn sie schafft die Möglichkeit, die religiöse Existenz des Andersgläubigen voll und ganz zu bejahen, trotz aller Unterschiede im religiösen Erleben und Gestalten.«332

Da die Tugend der Toleranz für den Aufbau der Welt von morgen so eminent wichtig sei, dürfe sie als Bildungsziel im Konzept einer emanzipatorischen Pädagogik nicht fehlen. Die Verwirklichung der Idee der Toleranz sollte Cremers Ansicht nach nicht dem Zufall überlassen werden, sondern von den verantwortlichen Pädagogen den jungen Menschen als hohes und notwendiges Ideal immer wieder bewusst gemacht werden. Toleranz sei diejenige Geisteshaltung, die eine global-pluralistische Gesellschaft (ethnisch, kulturell, rassisch, weltanschaulich) von morgen dazu befähige, auf der Basis von Gerechtigkeit, vernünftiger Selbstbestimmung und Solidarität gut und sinnvoll zu funktionieren. Auch im Folgenden ist Cremer nur zuzustimmen, wenn er davon ausgeht, dass Toleranz im Parlament religiöser Daseinsdeutungen eben nicht »Zähmung« des persönlichen Engagements, nicht Aufgabe der eigenen Überzeugung und schließlich auch nicht ein unkritisches Einebnen von gegensätzlichen Positionen 331 W. Cremer, Schule und Religion, 385 (Hervorh. durch Vf.). 332 J.W. Hauer, Wesen, Wurzeln und Reichweite echter religiöser Toleranz, 131 f.; vgl. a. a. O., 385 (Hervorh. durch Vf.).

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bedeute. Echte und inhaltliche Toleranz sei vielmehr äußerste Schärfung des Verantwortungsbewusstseins für das, was hic et nunc Not tue. Es sei die durch ernsthaftes Studium errungene Fähigkeit des tieferen Verstehens des Andersund Fremdreligiösen, gerade weil sie aus der Tiefendimension heraus nach dem Unbedingten und Wesentlichen frage. Nach diesen auf bemerkenswerte Weise differenzierten, eindrücklichen und eindringlichen Ausführungen zu seinem Verständnis von Toleranz schließt Cremer nun mit der Feststellung, dass eine tolerante Erziehung im weltanschaulichen Bereich jedoch nur möglich sei, wenn einige Grundforderungen der kritischen und emanzipatorischen Pädagogik erfüllt werden. Dazu gehören für Cremer eine präzise und umfassende wissenschaftliche Information für den gesamten Bereich der Schule, die vergleichende Untersuchung kultur-immanenter Prinzipien und Strukturen auf ihre Tragfähigkeit und die Entwicklung von Verständnis für das Anders- und Fremdartige, sowie die Entwicklung eines ethischen Wertesystems. Hierfür sollte von der Tatsache des Pluralismus vernünftiger Daseinsdeutungen ausgegangen und auf dem Hintergrund der Geistes- und Religionsgeschichte die wichtigsten existentiellen Fragen und Antworten herausgearbeitet werden. Bildungsziel eines solchen Unterrichts wäre die reflektierte Mündigkeit, die Möglichkeit einer fundierten religiösen oder weltanschaulichen Entscheidung, einsichtig-ethisches Handeln auf der Basis der Grundwerte von Gerechtigkeit, vernünftiger Selbstbestimmung und Solidarität sowie schließlich die Verpflichtung zu unvoreingenommener Wahrheitssuche. Cremer spricht sich somit für die Konzeption eines religionswissenschaftlichphilosophisch-ethischen Unterrichts aus, wobei allerdings »die religiöse Frage – als Frage aus der Tiefendimension des Menschen, als Frage aus Bewußtheit und Erfahrung, als Frage, die den Menschen immer und mit Notwendigkeit über den Bereich des Intelligiblen hinausführt und ihn wesenhaft als ein sich transzendierendes Wesen ausweist, – aus der Schule nicht eliminiert werden« sollte. Cremers Ausführungen zu »Schule und Religion« sowie zu Toleranz im Speziellen scheinen nichts an Aktualität verloren zu haben und sind auch nach mehr als 40 Jahren noch von großer Relevanz. Das hier zugrunde gelegte Toleranzverständnis verdient nachhaltige Beachtung und scheint eindeutig in die richtige Richtung für die Praxis einer interreligiösen Toleranz zu weisen: So deutet Cremer in seinen Erläuterungen bereits den systematisch-theologisch dafür absolut zentralen Gedanken der Unverfügbarkeit nicht nur der eigenen, sondern vielmehr einer jeden Glaubensgewissheit an333. Darüber hinaus findet sich die von Cremer vorgenommene Unterscheidung zwischen der existentialen inneren Wirklichkeit der Religion, die unbedingt ist, und der geschichtlichen Wirklichkeit der Religion, die bedingt ist, in ganz ähnlicher Weise sowohl an 333 Vgl. 3.1.2.3.

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zweiter Stelle von Bergers Ausführungen zu den Formen und Bedingungen des Dialogs334 als auch in Nipkows Unterscheidung der theologischen Ebenen einer ereignisförmigen Konstitution von Religion sowie einer lehrmäßigen Auslegung bzw. Deutung, die im nächsten Abschnitt335 ausführlicher zur Sprache kommen. Allerdings lässt Cremers Beitrag die Frage nach der Ausbildung religiöser Identitäten außen vor bzw. setzt diese in dem von ihm befürworteten philosophisch-religionswissenschaftlichen Unterricht augenscheinlich stillschweigend voraus. Gerade dieser Faktor muss jedoch als eminent wichtig für reflektierte Toleranzfähigkeit erachtet werden.336 8. Peter Antes, Der Beitrag der Religionswissenschaft zum Alternativ-Unterricht, in: Der Evangelische Erzieher 30 (1978), 152 – 163. Für Schüler, die sich vom Religionsunterricht abmelden, wird je nach Gesetzeslage in einigen Bundesländern ein Ersatzunterricht über Sinn- und Wertfragen verpflichtend angeboten. Dahinter steht das Interesse, dass jeder Schüler sich mit derartigen Fragen auseinandersetzen soll. Nach unserer Verfassungslage geschieht dies vorrangig im Religionsunterricht. Nimmt der Schüler bzw. die Schülerin daran nicht teil, so tritt, wenn dies im jeweiligen Bundesland rechtlich möglich ist, das Ersatz- bzw. Alternativfach (z. B. Ethikunterricht, Philosophischer Unterricht) ein. Hierbei ist die Beantwortung der Frage wichtig, auf welche Maßstäbe sich der Ersatzunterricht beziehen soll. Wert- und Sinnfragen ließen sich bekanntlich nicht ohne wertende Stellungnahme und nicht ohne persönliche Anteilnahme lehren und lernen, so wird Karl Dienst in der Einleitung zum Beitrag des Religionswissenschaftlers Peter Antes im »Evangelischen Erzieher« aus dem Jahr 1978 zitiert337. Die Vielfalt philosophischer und ethischer Richtungen erfordere Maßstäbe zur Entscheidung – Relativierungen der einzelnen Positionen genügen nicht. Solche Maßstäbe müssten in Begründung und Curricula für das Ersatzfach offengelegt werden. Nur dann sei ein solches verpflichtendes Angebot für den Schüler neben dem konfessionellen, theologisch und pädagogisch verantworteten Religionsunterricht sinnvoll und auch aus der Sicht des Religionsunterrichts vertretbar. Antes fährt nach diesen einführenden Überlegungen fort mit Erläuterungen zur Religionswissenschaft und deren Gegenstand: dem Phänomen »Religion«. Die Beschäftigung mit diesem sowie mit seinen historischen Ausprägungen, den sogenannten Religionen in Geschichte und Gegenwart, erfolgt mit Hilfe philologischer, historischer und sozio-empirischer Methoden. Anhand des Drei334 335 336 337

Vgl. 3.1.2.4. Vgl. 3.2.2. Vgl. 3.1.2.3. Vgl. P. Antes, Der Beitrag der Religionswissenschaft zum Alternativ-Unterricht, 152.

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schrittes Relativität unserer Prioritäten, Relativität unserer Beurteilungen und Relativität unserer Vorstellungen und Ausdrucksweisen möchte er den Beitrag der Religionswissenschaft zum Alternativ-Unterricht beleuchten. Gegen Ende seiner Ausführungen hält Antes auch mit Blick über Europa hinaus fest, dass Religion sehr wohl noch ein Thema unserer Zeit und wohl auch unserer Zukunft ist. Manches scheine sogar darauf hinzudeuten, dass infolge der sogenannten neuen Religionen die Religionsgeschichte vor einem neuen Aufbruch stehe und jedenfalls nicht stagniere, sondern weitergehe. So gehe die »eigenartige Nachfrage nach Meditation und neuartiger religiöser Praxis«338 einher mit jener Suche des modernen Menschen, die man kurz die Sinnfrage nennt. Man könnte laut Antes geneigt sein zu denken, dass diese Sinnfrage erst durch die Konfrontation mit dem pluralen Antwortenangebot entstehe, wie es durch die Weltreligionen vorliegt. Und in der Tat sei das große Ziel, der Beitrag der Religionswissenschaft, eben der »Abbau von Eurozentrismus und damit gekoppelt Relativierung, Einübung und Erfahrung dieser Relativierung, was ja praktisch so etwas wie zugleich Verunsicherung im eigentlichen Sinn des Wortes bedeutet.« Somit könnte die gegenwärtige Suche nach dem Sinn ein mögliches Ergebnis aus dieser Konfrontation mit religionswissenschaftlichen Fragestellungen sein. Tatsächlich sei es jedoch vielmehr so, dass die Sinnfrage kein Produkt der Verunsicherung durch Verlust des Eurozentrismus ist und auch »gerade im Eurozentrismus Erzogene« nach Orientierung suchen. Zahlreiche Jugendliche leiden laut Antes heute weniger an der verfestigten Position eines für absolut gehaltenen Bezugssystems, sondern vielmehr an der Erfahrung, dass sie überhaupt kein solches haben. Die Inhalte, die traditionell den Hauptgegenstand der Vermittlung an Jugendliche darstellten, seien Erklärungen von Funktionsmechanismen gewichen. Nach Antes Ansicht ist der Alternativunterricht im Fächerkanon der Schule aufgerufen, diese Leere wenigstens teilweise durch ein fakultatives Sinnangebot zu füllen, und dabei komme vieles von dem zum Tragen, was die Religionswissenschaft erforscht. Die Kinder und Jugendlichen würden dort normalerweise zum ersten Mal in ihrem Leben mit einem bzw. sogar mit mehreren Bezugssystemen bewusst konfrontiert. So werde die Frage nach dem Eigenen und nach dem in Europa bislang Üblichen laut. Die Begegnung mit dem Fremden führe unweigerlich auch in diesem Fall zur Beschäftigung mit dem Eigenen. Im Mittelpunkt steht die Erfahrung, dass jeder Mensch, ob er es weiß und wahrhaben will oder nicht, ein Bezugssystem braucht und in einem gewissen Sinne auch stets eines hat. Aus diesem heraus urteilt und handelt er, ob es sich im Detail mit einem der typisierten deckt oder nicht. »Nur wer

338 A. a. O., 161.

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Grund unter den Füßen hat, kann stehen und handeln.«339 Die Analyse zeigt für Antes jedoch deutlich, dass die Schüler und Schülerinnen dieses Grundes entbehren und festen Boden erst noch gewinnen müssen und dies auch wollen. Niemand werde sie zwingen, diese Verankerungen in der abendländischen Tradition allein zu suchen. Um aber wählen zu können, so sein Argument, bedarf es der Kenntnis der Alternativen und der Kenntnis der Tradition angesichts der Alternativen. Wer angesichts echter Alternativen dann bewusst seinen eigenen Standpunkt wähle, werde sich dazu offen und ohne ängstliche Verkrampfung bekennen und – so die Hoffnung – »jedem anderen, der in gleicher Situation eine andere Wahl traf, sachlich und mit Verständnis begegnen, kurz: Er wird tolerant und bescheiden sein. Dies sind die notwendigen Voraussetzungen zum Zusammenleben aller in einer menschlichen Welt.«340 Seine Überlegungen zusammenfassend besteht für Antes der Beitrag der Religionswissenschaft zum Alternativunterricht darin, kontrastive Vergleiche zwischen den Bezugssystemen zu ermöglichen, die in unserer gegenwärtigen und zukünftigen Welt wirksam sind. Kinder und Jugendliche müssten lernen, dass kein Mensch in Sprache, Denken und Wertvorstellungen ohne ein Bezugssystem auskommt. Erst durch das Bezugssystem werde menschliches Handeln sinnvoll; erst dadurch habe der Mensch eine Mitte, die ihm Halt sei. Weiterhin betont Antes, müsse in der Schule vermittelt werden, dass »kein Bezugssystem absolute Gültigkeit beanspruchen kann und darf […]. Der Schüler muß schließlich lernen, daß nur das freudige Ja zur parallelen Existenz vieler Bezugssysteme ein friedliches Zusammenleben aller in dieser Welt ermöglicht.«341 Was von Antes in seinem Beitrag als »Bezugssystem« bezeichnet wird, welches menschliches Handeln allererst sinnvoll mache und welches der freien Wahl einer Person im Anschluss an die Sichtung verschiedener Alternativen unterliegt, wird in der systematischen Theologie mit dem »Ethos«-Begriff erfasst. Unter Ethos versteht man die Interaktionsordnung, deren Regeln die Interaktanten aufgrund einer Gewissheit über Ursprung, Verfassung und Ziel (finis ultimus) des menschlichen Daseins befolgen.342 Jedes Ethos hat ein weltanschauliches Fundament, weil es in einer zielwahlorientierenden Gewissheit gründet. Diese Daseinsgewissheit bestimmt den Affekt und orientiert somit die freie Zielwahl. Antes Feststellung, dass menschliches Handeln erst durch das Bezugssystem sinnvoll werde, muss aus systematisch-theologischer Perspektive 339 340 341 342

A. a. O., 162. A. a. O., 162 f. A. a. O., 163. Vgl. auch im Folgenden E. Herms, Art. Ethos, 1640.

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in diesem Sinne nachdrücklich zugestimmt werden, da die Gewissheit über das Letztziel sowie über Wesen und Bestimmung des Menschen (i. e. die Weltanschauung bzw. Religion) die notwendige Bedingung für rationales Handeln darstellt. Es kann daher keine Handlungsrationalität ohne Religion geben, da sich jegliches rationale Handeln neben Kriterien des sozial und individuell Vorzüglichen sowie neben Kriterien der Vorzüglichkeit von Wegen (Effizienz) auch an den Kriterien der Vorzüglichkeit von wählbaren Zielen orientieren muss. Diese Vorzüglichkeit von wählbaren Zielen besteht wiederum in deren jeweiligem, möglichst großem Beitrag zur Erreichung des Letztziels, welches als orientierende Instanz eben direkt von der Daseinsgewissheit, dem Ethos, dem »Bezugssystem« gesetzt wird. Das Ethos, also Kriterien des richtigen Handelns bzw. richtiges Handeln an sich, ist der Gegenstand der Ethik. Nach Herms sei dem Ethiker sein Gegenstand nur gegeben auf dem Boden eigener Teilhabe an einem Ethos für deren reflexive Wahrnehmung – Ethik ist also stets Teil ihres Ethos. Daraus folgt, bedeutsam für unsere Überlegungen, die Perspektivität all ihrer Aussagen, und zwar »unbeschadet des Anspruchs aller in ihr als gültig vertretenen Normen, in Wahrheit für alle Menschen zu gelten.«343 Ein zweiter wichtiger Punkt betrifft die Aussagen zum Zustandekommen der Daseinsgewissheit (Terminologie nach Herms) bzw. des Bezugssystems (Terminologie nach Antes). Übereinstimmung besteht darin, dass es sich um das Resultat einer Bildungsgeschichte handelt. In der systematischen Theologie wird das Hören von Aussagen über Ursprung, Verfassung und Ziel des menschlichen Daseins als notwendige Bedingung, ein im Sinne von CA 5344 unverfügbares, geistgewirktes und gewissheitsstiftendes Evidenzerlebnis345 als hinreichende Bedingung für das Zustandekommen der christlichen Daseinsgewissheit festgehalten. Bei Antes hingegen erfolgt die bewusste Wahl eines eigenen Standpunktes angesichts echter Alternativen. Es handelt sich also um eine begründete Wahl von rein rationalem Charakter, in der nach Abwägung von Alternativen dasjenige Bezugssystem gewählt wird, das als vorzugswürdig und somit den alternativen Möglichkeiten als überlegen erscheint. Ein unverfügbares Element, wie es vergleichsweise in der systematischen Theologie in Form eines Evidenzerlebnisses gegeben ist, bleibt nach Antes Ausführungen aus. Dies hat zur Folge, dass der eigene Standpunkt allein aufgrund rein rationaler Überlegungen als der vorzugswürdige betrachtet wird – sonst hätte man ja keinen Grund gehabt, eben 343 E. Herms, Art. Ethik I. Begriff und Problemfeld, 1598 (Hervorhebung durch Vf.). 344 Vgl. ders., Art. Ethik V. Als theologische Disziplin, 1616. 345 D.h. es wird evident, dass das Gehörte die Realität, die den Augenblick überdauernde Verfassung des Daseins des Einzelnen beschreibt; vgl. den Beitrag von Vogel.

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diesen zu wählen, und die Entscheidung hätte ebenso gut zugunsten einer der Alternativen ausfallen können, mit denen Antes im Unterricht vertraut machen möchte. Um schließlich zum Thema Toleranz zurückzufinden: Von der Richtigkeit und Vorzugswürdigkeit der eigenen Wahl eines Standpunktes aufgrund rationaler Ab- und Erwägungen überzeugt, wird das Anliegen nicht ausbleiben, auch Andersdenkende rein argumentativ vom eigenen Standpunkt überzeugen zu wollen. Denn trotz einer Perspektivität des eigenen Bezugssystems besteht dennoch, wie auch bereits in den ethischen Überlegungen zuvor erläutert, der Anspruch aller darin als gültig vertretenen Normen, in Wahrheit für alle Menschen zu gelten. Das von Antes formulierte Ziel, den Kindern und Jugendlichen beizubringen, dass »kein Bezugssystem absolute Gültigkeit beanspruchen kann und darf«, scheint daher illusorisch. Wie erläutert liegt es in der Natur der Sache, Andersdenkende vom eignen Standpunkt, sofern er auf rein rationale Weise erworben und im Vergleich mit anderen als eindeutig vorzugswürdig erachtet wurde, argumentativ überzeugen zu wollen. Wird nicht weiter nach Wurzeln der Toleranz innerhalb des eigenen, selbst-bewusst und frei gewählten Standpunktes gesucht und gefragt, ist schwerlich davon auszugehen, dass sich die von Antes erhoffte tolerante und bescheidene Haltung einstellen wird. Herrscht hingegen, wie dies in der christlichen Ethik der Fall ist, ein Bewusstsein über die Unverfügbarkeit der eigenen Gewissheit, die eben gerade nicht durch eigene rationale Leistung, sondern im Zuge eines geistgewirkten, gewissheitsstiftenden Evidenzerlebnisses (vgl. CA 5; 2Kor 4,6) erfahren wurde, so liegt darin ein unüberbietbar starkes Motiv für die von Antes beschriebene tolerante und bescheidene Haltung gegenüber Andersdenkenden. Die eigene Gewissheit erhält dann den Charakter einer Gabe, die gewährt wurde, und gerade nicht durch rationales Argumentieren erlangt werden kann.346 Für Antes Beitrag gilt somit, dass im Hinblick auf Toleranzbildung seiner Feststellung zur absoluten Notwendigkeit eines eigenen Standpunktes, der im Rahmen einer Verwurzelung innerhalb eines »Bezugssystems« eingenommen wird, unbedingt zuzustimmen ist. Denn eine verantwortliche individuelle Stellungnahme in der Konfrontation mit dem Pluralismus religiöser und weltanschaulicher Strömungen in der Gesellschaft setzt einen konkreten Standpunkt voraus, von dem her die eigene Orientierung und letzten Endes die Fähigkeit zu reflektierter Toleranz erfolgt. Allerdings ist ebenso deutlich festzuhalten, dass das von Antes beschriebene Bewusstsein über die Möglichkeit einer freien, jedoch rein rationalen Wahl des eigenen Standpunktes als Motiv für Toleranz zu kurz gegriffen scheint und kaum 346 Vgl. dazu erneut die Überlegungen der evangelischen systematischen Theologie zu Toleranz unter 3.1.2.3.

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als Fundament für die erforderlichen Leistungen der reflektierten Toleranzbildung ausreichen kann. 9. N. Kermani/B. Dressler/D. Zilleßen, Die islamische Welt und der Westen. Interview mit Navid Kermani, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 55 (2003), 195 – 209. Nach der Fortführung der Zeitschriftenreihe »Der Evangelische Erzieher« unter dem Titel »Zeitschrift für Pädagogik und Theologie« (ZPTh) sind hier im Register unter dem Schlagwort »Toleranz« seit 1990 bis 2007 zwei Beiträge vermerkt. Der erste von beiden, erschienen im Jahr 2003, wurde in Form eines Interviews veröffentlicht, welches Bernhard Dressler und Dietrich Zilleßen mit dem deutsch-iranischen Autor Navid Kermani führten. Kermani ist Islamwissenschaftler und schrieb u. a. für die ZEIT-Serie »Der Islam und der Westen«. Im Verlauf des Interviews werden Fragen aufgeworfen, die sich beispielsweise mit dem Verhältnis der arabischen Welt zum Westen seit dem 19. Jahrhundert beschäftigen. Führende arabische und muslimische Intellektuelle hätten zur Beschreibung dieses Verhältnisses, das sich insbesondere durch den westlichen Kolonialismus radikal umgekehrt habe, Begriffe der Zurückgebliebenheit bzw. Rückständigkeit im Vergleich zum westlichen Fortschritt angewandt. Die einstigen muslimischen Eliten habe die neue Überlegenheit Europas wie ein Schock getroffen. Heutzutage würden die arabischen, persischen und türkischen Mittelund Oberschichten mit der westlichen Kultur aufwachsen und gleichsam in sie eingesogen. Im Vergleich zu den Lebensverhältnissen vor hundert Jahren, so Kermani, seien diese Gesellschaften im Kern sogar schon vollkommen verwestlicht. Dies gelte durchaus und gerade auch für die Fundamentalisten. Der Ursprung des Fundamentalismus in der arabischen Welt sei ein Phänomen der gebildeten Mittelschichten und der Ingenieurberufe im Besonderen. Er sei also insbesondere in Kreisen entstanden, die gerade aufgrund ihrer Berufe und ihrer Lebensart »westlich« lebten. Auf vielen Ebenen – Kermani denkt dabei an die moderne arabische klassische Musik oder an die moderne arabische Poesie – hätten Versuche einer Verbindung der Kulturen und »die Übersetzung der Moderne« funktioniert. Allerdings gelte dies nicht für die politische und die religiöse Ebene. Kermani bezeichnet es als großes Manko speziell in der arabischen Welt, »dass quasi die Theologie, die Orthodoxie, stehen geblieben ist; und in das Vakuum, das sie gelassen hat, weil sie qua Verknöcherung keine Antworten auf die Fragen der Zeit zu geben imstande war, sind andere Strömungen eingedrungen, seien es fundamentalistische, seien es modernistische, seien es vollkommen atheistische.«347 347 N. Kermani et al., Die islamische Welt und der Westen, 197.

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An anderer Stelle weist Kermani auf die Gefahr hin, die seiner Ansicht nach in der Selbstkritik liegt, wie sie hier im Westen unter dem Stichwort »Kritik am Eurozentrismus« geübt werde. Diese Kritik werde sehr stark von muslimischen Intellektuellen aufgegriffen, die fundamentalistischen Strömungen angehören – »ihre Kritik am Westen formuliert sich in westlichen Terminologien. Es wird argumentiert mit westlicher Kritik am Westen. […] Dadurch sehen sie sich von der eigentlichen Verantwortlichkeit für sich selbst, nämlich zunächst einmal sich selbst, die eigene Tradition, zu kritisieren, entlastet. Man macht es sich bequem. Die Anderen liefern einem quasi die Argumente dafür, dass der Westen schuld ist, mit seiner rationalistischen, seiner instrumentellen Logik, seinem ökonomischen Druck, seinem politischen Imperialismus usw. Aber das löst noch gar nichts.«348 Hinsichtlich der Säkularisierung schließt sich Kermani der von Habermas aufgeworfenen Frage an, wie weit die säkularisierte Welt- und Selbstdeutung sich über ihre religiösen Wurzeln klar werden müsse. So würde auch die Säkularisierung hohl und substanzlos werden, wenn sie sich selber von diesen Wurzeln abschneide. Es seien ja religiöse Werte, so Kermani, die sich säkularisiert hätten. Diese Werte seien also nicht abgeschafft, sondern innerweltlich und somit nicht mehr ausschließlich unter Bezugnahme auf Gott begründet worden. Man sei beispielsweise barmherzig, gerecht oder beachte die Menschenrechte, weil man es selbst aufgrund der eigenen Rationalität für sinnvoll halte. Doch das bedeute keineswegs, dass bestimmte Werte ihren religiösen Nimbus vollkommen verloren hätten. Im Besonderen macht Kermani auf die Gefahr aufmerksam, die Menschenrechte von ihren religiösen Wurzeln zu kappen. Wenn man sie gänzlich von ihrer außerweltlichen Begründung löse, so könnten sie leicht ihren Grund und ihre Festigkeit verlieren. Auf die Toleranzthematik schließlich kommt Kermani im Zusammenhang mit der Frage nach der Einheit des Glaubens, nach der Einheit der Religionen – also der so genannten »Eine-Welt«-Thematik – zu sprechen, die gerade in dem Bereich der Lernkultur, der Bildung und der Religionspädagogik einen hohen Stellenwert hat. Sehr häufig würden Verstehen und Verständigung sofort gleichgesetzt werden, statt anzuerkennen, dass Verständigung ohne vollständiges Verstehen durchaus möglich sein könne. Darin bestehe seines Erachtens »das Problem der Toleranz. Wenn man den anderen gut findet, dann muss man ja nicht tolerant sein.« Toleranz wäre demnach nicht nötig, wenn es keine Differenzen gäbe. Toleranz sei gerade, so Kermani wörtlich, »dass man den anderen – auch wenn man nicht alles teilt – dennoch leben lässt, das ist der Kernpunkt der

348 A. a. O., 198.

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Toleranz.« Und er fährt fort: »Was auch seine Grenzen hat. Ich gehöre keineswegs zu den Kulturrelativisten, die Folter als islamisch rechtfertigen […]«349 Darüber hinaus interessiere ihn am Dialog auch vielmehr, dass man die Gewalttätigkeiten der Religionen thematisiere. Zwar sei die Gewalt, die aus Religion hervorgeht, nicht gleichzusetzen mit der Religion, allerdings sei sie davon auch nicht völlig zu trennen. So sei beispielsweise die Gewalt, die von Christen ausgegangen ist, nicht ohne weiteres losgelöst »von dem einzigartigen missionarischen Anspruch des Christentums«350 zu verstehen. Genauso wenig könne die Gewalt, die von Muslimen ausgeht, ohne das Verhältnis des Islam und des Korans zu Gewalt begriffen werden. Die Antwort, es handle sich bei religiös motivierten Gewalttaten jeweils schlicht um einen Missbrauch der Religion, mache es sich sehr leicht. Im restlichen Verlauf des Interviews wird die Toleranzthematik nicht noch einmal aufgegriffen. Aus den wenigen Äußerungen, die sich im Gespräch zwischen Kermani, Dressler und Zilleßen dazu finden lassen, kann kein elaboriertes Toleranzverständnis herausgefiltert werden. Die zum Ausdruck gebrachte Vorstellung, der Kernpunkt der Toleranz sei, »dass man den anderen – auch wenn man nicht alles teilt – dennoch leben lässt«351, scheint einer starken, inhaltlichen und reflektierten Toleranz nicht Genüge zu tun. Eine solche Toleranz, wie sie für ein friedliches und konstruktives Zusammenleben in der pluralistischen Gesellschaft erforderlich ist, basiert vielmehr auf einer gewissen Anerkennung und Auseinandersetzung mit dem Andersartigen und Fremden. Hingegen tendiert Kermanis Formulierung eher in Richtung einer rein formal duldenden Haltung, die lediglich bei der Verletzung der Menschenrechte an ihre Grenzen stößt. Es ist davon auszugehen, dass ein solcher Standpunkt unter Umständen die problematische Entwicklung von Separatkulturen und Indifferenz innerhalb der Gesellschaft mit sich bringen oder zumindest begünstigen könnte. Dies wäre sicherlich keine wünschens- und erstrebenswerte Form eines »toleranten« Zusammenlebens. 10. Klaus Wegenast, Synkretismus, Inkulturation, Toleranz, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 56 (2004), 132 – 144. Mit seinem Beitrag »Synkretismus, Inkulturation, Toleranz« in der ZPTh aus dem Jahr 2004 unternimmt der Religionspädagoge Klaus Wegenast einen »Versuch zur Klärung des Verhältnisses der christlichen Religion zu Anderen am

349 A. a. O., 206. 350 Ebd. 351 Ebd. (Hervorh. durch Vf.).

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Beispiel des Apostels Paulus und aktuellen Stimmen zu einer sog. ›interreligiösen Bildung und Erziehung‹«.352 Einleitend bekräftigt er Schwöbels Urteil, demzufolge die Christentumsgeschichte schon immer von einem Pluralisierungsprozess in durchaus unterschiedlichen Ausprägungen begleitet worden sei und Pluralität demnach zur Grundverfassung des christlichen Glaubens gehöre.353 Dennoch gebe es beispielsweise im Unterschied zu den binnenkirchlichen Dissonanzen und Disharmonien der Reformationszeit zumindest seit der Aufklärung und den diese bestimmenden Auseinandersetzungen um die gesellschaftliche Bedeutung der Religion und dann der Entdeckung der Individualität im Zusammenhang von Romantik und Pietismus Signale für eine von den bisherigen Erscheinungsformen eines religiösen Pluralismus zu unterscheidende plurale Religionskultur. Darüber hinaus verweist Wegenast auf die seit der Mitte des 20. Jahrhunderts in Europa und den Vereinigten Staaten entstehenden multireligiösen und multikulturellen Gesellschaften, in denen die Autorität religiöser Tradition überhaupt in Frage gestellt werde. Religion, so scheint es, werde endgültig zu einer Privatsache des Einzelnen im Zusammenhang einer fast totalen Liberalisierung religiöser Glaubensinhalte. Unter Verweis auf Andreas Feige konstatiert Wegenast die damit zusammenhängende Entwicklung einer bemerkenswerten Synkretisierung religiöser Lebenseinstellungen und Weltsichten mit einem gewöhnlich kurzen Zeitwert. In diesem gesellschaftlichen Kontext widmet Wegenast sich daraufhin der Begrifflichkeit der Thematik seines Beitrags, indem er die Begriffe Synkretismus, Inkulturation und Toleranz »wenigstens andeutungsweise«354 zu bestimmen versucht. Als Bezeichnung einer Vermischung oder Verschmelzung von Religionen oder auch Lehren gilt der Begriff Synkretismus im Duden. Häufig werde speziell in theologischen Lexika zwischen einem negativ besetzten Begriffsgebrauch im Sinne einer unerlaubten Vermischung heterogener Elemente und einem eher positiven »als Kennzeichnung der inneren Dynamik einer Religion« differenziert, »der es gelingt, wichtige Elemente einer anderen Religion zu inkorporieren.«355 Wegenast erläutert weiter die von Theo Sundermeier im Evangelischen Kirchenlexikon356 vorgenommene Unterscheidung zwischen einem »symbiotischen Modell« des Synkretismus einerseits (i. e. ein Prozess, in dem eine Kultur und ihre Religion im Zuge einer Eroberung oder auch einer Missionierung eine andere Gesellschaft und ihre Religion überlagern, sie kolonialisieren, bisher gültige Riten und Vorstellungen dabei aber zum Teil integrieren und neu in352 353 354 355 356

K. Wegenast, Synkretismus, Inkulturation, Toleranz, 132. Vgl. Chr. Schwöbel, Art. Pluralismus II, 732. K. Wegenast, Synkretismus, Inkulturation, Toleranz, 132. A. a. O., 133. T. Sundermeier, Art. Synkretismus, 603 f.

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terpretieren) und einem »synthetischen Modell« andererseits. Dieses beschreibt horizontale Begegnungen zwischen verschiedenen Religionssystemen, wie beispielsweise der klassische Synkretismus der antiken Welt – »mit dem Kennzeichen der Parallelisierung von Göttern oder der Göttermischung aus merkantilen oder auch machtpolitischen Motiven« – sowie Formen eines lebensgeschichtlichen Synkretismus, »wie er uns im Zusammenhang des Aufbaus von eigenen Lebensgeschichten bei nicht wenigen Jugendlichen unserer Gegenwart begegnet.«357 Mit dem Begriff der »Inkulturation« wird im Zusammenhang mit dem Evangelium von Jesus Christus dessen Beziehung zur Kultur bezeichnet. Der Prozess sowie das Resultat der Begegnung der christlichen Botschaft mit der Vielfalt der Kulturen als jeweils umfassender Sprach- und Sinnhorizont einer Gesellschaft sei darin mit inbegriffen. Laut Wegenast meint Inkulturation »also nicht wechselseitige Beeinflussung von Religion und nur eines bestimmten Teilsystems einer Gesellschaft neben Wirtschaft, Politik, Gesundheitswesen etc., sondern betrifft immer schon die Gesamtheit der Lebensformen einer Gesellschaft.«358 An späterer Stelle ist auch von einer »Verwachsenheit der ›Religion‹ mit der Gesamtgesellschaft« die Rede. Mit Blick auf die zunehmend multikulturelle und multireligiöse Situation unserer westlichen Gesellschaft, in der die zu treffende Wahl zwischen einem reichen Angebot religiöser und auch nichtreligiöser Sinn- und Weltdeutungen mit einer wachsenden Traditionskrise im Kontext eines allgegenwärtig scheinenden Plausibilitätsverlustes kirchlicher Angebote einher gehe, äußert Wegenast die Meinung, »dass es uns in allen religionspädagogisch verantworteten Arbeitsbereichen in Kirche und Gesellschaft darum zu tun sein wird, zusammen mit unseren Adressaten eine Fähigkeit zu erwerben, die mannigfachen Beeinflussungen verschiedenster Herkunft zu durchschauen und zu prüfen.« Bezüglich der Fülle unterschiedlicher Heilslehren aus religiösen, politischen oder medizinischen Quellen gelte es hier nicht in erster Linie, überlieferte christliche Lebensstile zu retten oder kirchliches Brauchtum neu zu beleben, sondern eine lebbare, die Sprache und Vorstellungswelt des jeweils Anderen beachtende Alternative inmitten einer Fülle verschiedenster religiöser und kultureller Sinnangebote zu entwickeln. Für unsere Belange von besonderem Interesse sind nun Wegenasts an Härle orientierte Ausführungen zum Begriff der Toleranz. Diese sei in Sachen Religion in der Geschichte des christlichen Abendlandes eine eher junge Erscheinung. Man bedenke die im 17. Jahrhundert an den Tag gelegte Friedensunfähigkeit unter Christenleuten verschiedener Konfession – eine Duldung des je Anderen oder gar nicht-christlicher Religionen sei nicht abzusehen gewesen. 357 K. Wegenast, Synkretismus, Inkulturation, Toleranz, 133. 358 A. a. O., 134.

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Allerdings mache Wilfried Härle359 auf den Einschnitt aufmerksam, der von Lessings 1779 veröffentlichtem Drama »Nathan der Weise« mit seiner Ringparabel markiert werde. Nicht der Streit unter Christen werde hier problematisiert, sondern der Gedanke einer einzigen wahren Religion. Das gestellte Problem werde nicht dogmatisch entschieden, sondern durch das Tun des Guten um seiner selbst willen, das durch die Anhänger verschiedener Religionen vollbracht werde. Somit kommentiere Härle die Botschaft der Ringparabel als Wurzel eines ganz neuen Verständnisses von Toleranz: Toleranz als Bereitschaft, die andere (nicht wahre) Religion und ihre Anhänger in herzlicher Verträglichkeit zu dulden. Von da sei der Schritt nicht weit, Toleranz nicht mehr als bloße Duldung von Anderen zu begreifen bzw. solche Duldung sogar als sublime Form von Beleidigung zu verstehen. Von nun an bedeute eigentliche Toleranz nicht mehr Duldung, sondern Anerkennung der anderen Religion als gleichberechtigte und damit die Akzeptanz einer Pluralität von Religion. »Der Toleranzgedanke geht nun nicht mehr zusammen mit eigener Wahrheitsgewissheit und dem daraus resultierenden Widerspruch gegen andere Auffassungen, die freilich als solche ertragen werden, sondern Toleranz lässt sich nur noch zusammen denken mit einer Anerkennung, die jedenfalls keine Widersprüche mehr artikuliert und darum auch das Erdulden hinter sich lässt.«360

Diese sich der Aufklärung verdankende Position bestimme heute in weiten Kreisen auch die theologische und kirchliche Diskussion: das Unterscheidende und Trennende im Verhältnis der Religionen beginne durch eine Betonung des Verbindenden und Gemeinsamen dominiert zu werden. Im Zuge dieser Entwicklung drängten die neuen Leitbegriffe »Pluralismus«, »Toleranz« und »Dialog« Begriffe wie »Wahrheitsgewissheit«, »Grunddifferenz« oder gar »Mission« in den Hintergrund. Nach diesen Begriffsklärungen wendet sich Wegenast im Mittelteil seines Beitrags nun dem Urchristentum im Rahmen antiker Religion zu. Das Verhältnis paulinischer Theologie zur Kultur der hellenistischen Umwelt ist Gegenstand der Betrachtungen, die Aufschluss darüber geben sollen, welchen Standpunkt die christliche Religion gegenüber Anderen einnimmt. Wegenast hält mit Blick auf die Ethik des Paulus fest, »dass die Anweisungen des Apostels an seine Gemeinden für ihr Leben im Kontext einer hellenistischen Umwelt zumindest auch aus popularphilosophischen Quellen schöpfen.«361 Paulus setze das Evangelium mit der Kultur und Religion der hellenistischen Umwelt in Beziehung und mache es erst damit in seiner Bedeutung für konkretes Leben verständlich. Somit inkulturiere er das Evangelium Jesu Christi im Kontext der die jungen 359 Vgl. dazu W. Härle, Der Toleranzgedanke im Verhältnis der Religionen. 360 A. a. O., 326; vgl. K. Wegenast, Synkretismus, Inkulturation, Toleranz, 135. 361 K. Wegenast, Synkretismus, Inkulturation, Toleranz, 137.

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Gemeinden umgebenden Gesellschaft neu. Dabei verliere er allerdings nicht die Fähigkeit, »eine grundlegende Differenz zu den ›Anderen‹ im Blick zu behalten und übernommenes Fremdes konstruktiv zu verändern. […] Kurzum, Anpassung und Widerstand kennzeichnen das Verhältnis von Kultur und Glaube bei Paulus.«362 Allerdings lasse sich daraus nicht einfach schlussfolgern, dass das Corpus Paulinum bzw. das Neue Testament als Ganzes auch Phänomene von Synkretismus seien. Zwar seien jüdische und hellenistische Einflüsse auf das Neue Testament nicht zu leugnen. Dennoch habe das Urchristentum die überkommene nichtchristliche Tradition nicht nur übernommen, sondern auch neu interpretiert. Somit stellt sich für die Forschung die Aufgabe, das jeweilige Ineinander von Rekonstruktion und Interpretation sorgfältig herauszuarbeiten. Zur Gewährung von Toleranz im Imperium Romanum merkt Wegenast ergänzend an, dass diese sich sogar in Form einer Befreiung Israels vom Kaiserkult äußern konnte. Dennoch standen die Religionen und Kulturen untereinander, insbesondere das Judentum, das frühe Christentum sowie hellenistische Kulte, in einem Verhältnis der Konkurrenz. Unter diesen Voraussetzungen eignete sich die paulinische Mission eine Strategie an, »sich in das Denken der Anderen einzudenken und in den Kategorien der Anderen das Eigene darzubieten, das Eigene je neu zu inkulturieren.«363 In einem dritten Abschnitt setzt sich Wegenasts Beitrag schließlich mit dem seit Ende der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts in der Religionspädagogik zentralen Konzept des sog. »interreligiösen Lernens« auseinander, welches als Alternative zum herkömmlichen konfessionellen Religionsunterricht mit seinen hermeneutischen und problemorientierten Ansätzen zunehmende Beachtung erfahre. Als wichtigen Beweggrund für den sich hier zeitigenden Wandel nennt Wegenast die anhaltende Pluralisierung vornehmlich westlicher Industriegesellschaften und die damit einhergehende Vielfalt von religiösen Gruppierungen. Wirkliches interreligiöses Lernen setze in Anlehnung an Folkert Rickers jedoch zunächst einmal einen Ort voraus, »wo sich Mitglieder verschiedener Religionen tatsächlich in der täglichen Lebenspraxis begegnen«364. Nur eine derartige Ausgangssituation könne wirklichen Dialog ermöglichen und lasse die Frage virulent werden, was denn Toleranz im Miteinander mit »Anderen« bedeuten könne und welches Verständnis von Wahrheit und Wahrhaftigkeit hinter der in diesem Zusammenhang geforderten Toleranz stehe. Im Folgenden lässt Wegenast verschiedene theologische Denkmodelle Revue passieren und versucht, deren Mehr oder Weniger an Bedeutung für interreli362 A. a. O., 138. 363 Ebd. 364 F. Rickers, Art. Interreligiöses Lernen, 875; vgl. K. Wegenast, Synkretismus, Inkulturation, Toleranz, 139.

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giöses Lernen herauszuarbeiten. An erster Stelle der Aufzählung stehe dabei der Exklusivismus, der nicht nur für die christlichen Konfessionen, sondern auch für fast alle Weltreligionen charakteristisch sei. Ihm entspreche ein exklusiver Wahrheitsanspruch, der einen Dialog mit einer Bereitschaft, die »Anderen« zur Kenntnis zu nehmen und sich selbst sogar in Frage stellen zu lassen, ausschließe. Nur dann sei für den Exklusivismus ein Gespräch mit Anderen denkbar, wenn Chancen auf eine Bekehrung des Gesprächspartners ausgerechnet werden könnten. Für das Toleranzverständnis im Exklusivismus kann also festgehalten werden: »Toleranz als Anerkennung der ›Botschaft‹ von Anderen als für möglich gehaltene Alternative zur eigenen Wahrheit ist da ausgeschlossen.«365 Anders verhält es sich hingegen mit dem Relativismus, der zwar in der Theologie keinen Anklang findet, jedoch im Streit um die Gestaltung von Religionsunterricht in den Schulen durchaus energisch vertreten werde. Er verstehe die den Religionen eigentümlichen Ansprüche auf Wahrheit und Erkenntnis und die entsprechenden Heilsangebote nicht als sich gegenseitig ausschließende Konkurrenzangebote, sondern vielmehr als zur Wahl stehende Möglichkeiten, die auch kombiniert werden könnten. Solcher Relativismus verstehe interreligiöses Lernen als Kenntnisnahme »neutraler« Informationen »über« verschiedene Religionen, die Schülern und Schülerinnen die Freiheit einräumen, das ihnen Einleuchtende als Möglichkeit zu wählen. Als absehbare Folgen sind Relativierung und Individualisierung von Religion zu erwarten. Laut Wegenast »sind da Toleranz und u. U. auch Dialog gewährleistet, das besonders dann, wenn sich die Lehrkraft jegliches Urteil verbietet. Ob es da aber zu einem wirklichen Dialog zwischen den Religionen, der ja Positionen bei den Gesprächspartnern voraussetzt, kommen kann, ist eher fraglich. Interreligiöses Lernen fällt damit aus. Ebenso die Chance zur Bildung einer Gemeinschaft.«366 Der sog. Inklusivismus, der sich der Arbeit des katholischen Theologen Karl Rahner verdankt367, bedeute hier eine Wendung zu Neuem. Aus christlicher Sicht eröffne er einen ersten Zugang zu einem interreligiösen Lernen, das diesen Namen verdiene, wobei allerdings die konfessionelle Gebundenheit z. B. des Religionsunterrichts nicht aufgegeben werden könne. Andere Traditionen verdienen es diesem Denkmodell zufolge, mit Respekt zur Kenntnis genommen zu werden. Dabei könnten nicht nur Gegensätze entdeckt werden, sondern auch Übereinstimmendes und sogar wirklich Gemeinsames. Dennoch gilt für den Inklusivismus: »Neues, das über das Eigene hinausweist, wird nicht erwartet von den ›Anderen‹«.368 365 366 367 368

K. Wegenast, Synkretismus, Inkulturation, Toleranz, 139. A. a. O., 140. Vgl. K. Rahner, Das Christentum und die nichtchristlichen Religionen. K. Wegenast, Synkretismus, Inkulturation, Toleranz, 140.

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Dagegen wird beim sog. Theozentrischen Pluralismus, wie ihn beispielsweise der Anglikaner John Hick vertritt, anderen Religionen gegenüber eingeräumt, dass es Heil tatsächlich nicht nur in der christlichen, sondern auch in anderen religiösen Traditionen gebe. Gottes Wirksamkeit wird hier also nicht allein für die Christen reklamiert. Im Horizont dieses »Pluralismus« meine interreligiöses Lernen allerdings nicht Positionslosigkeit auf dem Hintergrund möglichst neutraler religionswissenschaftlicher Informationen oder einzig die Suche nach etwaigen Gemeinsamkeiten, »sondern einen Dialog, in dem jeder Gesprächspartner einen Standpunkt einbringt, der allerdings im Rahmen eines echten Suchprozesses nach letzten Wahrheiten auf dem Spiel steht. Hinter diesem Verständnis von Dialog steht die Einsicht, dass im je Eigenen nicht immer schon die ganze Wahrheit und Erkenntnis anwesend sein müssen.«369 Im Horizont dieses Ansatzes bewahre interreligiöses Lernen sein christliches Profil, bleibe aber lernbereit und offen für Andere, ohne die eigene Identität bedroht zu sehen. Dennoch sei laut Wegenast auch damit keine plausible Lösung der mit interreligiösem Lernen im Rahmen eines christlichen Unterrichtsunternehmens sich stellenden Probleme gegeben. Zwar würden die verschiedenen Religionen jeweils als unterschiedliche Weisen letzter Antworten auf letzte Fragen ernst genommen erscheinen. Doch müsse man sich vor Augen halten, dass ein interreligiöser Dialog nur in solchen Schulklassen sinnvoll erscheine, in denen Schüler und Schülerinnen verschiedener Religionszugehörigkeit unterrichtet würden. Darüber hinaus könne die für erfolgreiches interreligiöses Lernen notwendige Fähigkeit einer doppelten Eigen- und Fremdinterpretation370 nicht vorausgesetzt bzw. erwartet werden. Gleichzeitig wäre jedoch ein aus diesen problematischen Voraussetzungen resultierender Verzicht auf interreligiöses Lernen in unseren Schulen nach Wegenasts Auffassung ein nicht zu verantwortender Schluss. Angesichts einer mit Vorurteilen kämpfenden multireligiösen Gesellschaft gewinne der Begriff »Erziehung zur Pluralitätsfähigkeit« zunehmend an Bedeutung. Im Gegensatz zur Interpretation desselben von Seiten der »Relativisten« meine Pluralitätsfähigkeit für christliche Theologen das »Ziel eines Prozesses, an dessen Beginn die Herausbildung von Identität steht, m.a.W. die Beheimatung in der angestammten Religion, z. B. des evangelischen oder katholischen Christentums.« Deshalb sei der erste Schritt auf dem Weg zur Pluralitätsfähigkeit die Ermöglichung von Identitätsfähigkeit im Rahmen unterrichtlicher Lernprozesse, fami369 Ebd. 370 Gemeint ist hier die Fähigkeit, »die mächtigsten Sinngehalte der eigenen Gruppe zu sehen und in ihnen zu leben« und gleichzeitig zu erkennen, dass diese wie andere relativ sind und so die transzendente Realität nur mit einer unvermeidlichen Verzerrung begreifen lassen, vgl. J.W. Fowler, Stufen des Glaubens, 200; vgl. K. Wegenast, Synkretismus, Inkulturation, Toleranz, 141.

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lialer religiöser Erziehung und Teilhabe am Leben einer Gemeinde mitten im Kontext einer pluralen Gesellschaft, in der auch andere Identitäten anschaubar sind. Vor dem eigentlichen interreligiösen Lernen stehe zunächst eine respektvolle Einführung in andere Weltreligionen, Begegnungen mit Anderen, Formen des Miterlebens ihres Alltags, ihrer Feste und Riten, ihrer Vorstellungen von Gott, Mensch und Welt. Zweifellos, so Wegenast, stellten sich dabei auch Fragen an die eigene, oft schwer erarbeitete Identität als »Ergebnis eines dynamischen Gewebes […], das aus einem fortlaufenden interpretativen Bezug auf den pluralen Kontext entsteht«371. Wegenast weist auf Ansätze für die Gestaltung des skizzierten Weges zu eigener Identität und zu ersten Begegnungen mit Anderen bis hin zum Versuch eines wirklichen Dialogs hin, wie sie im evangelischen Bereich beispielsweise bei Johannes Lähnemann, Karl Ernst Nipkow, Friedrich Schweitzer u. a. zu finden sind. Von deren Anliegen eines offenen, respektvollen und pluralitätsbereiten Kennenlernens der Anderen sei der Weg nicht weit zu einem fruchtbaren Dialog, in dessen Zusammenhang auch die Möglichkeit bestehe, die eigene bisherige Identität auf den Prüfstand zu stellen. Auf die zu Beginn seines Beitrags erläuterten Begriffe zurückkommend hält Wegenast hinsichtlich der Diskussion um ein interreligiöses Lernen im Zusammenhang des Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen fest, dass Synkretismus weder im Sinne einer Vermischung heterogener Elemente noch im Sinne einer Inkorporation von fremdreligiösen Vorstellungen, Riten und Gebräuchen eine Rolle spiele. Ähnliches gelte auch für denkbare Versuche, die Anderen gleichsam zu inkulturieren bzw. zu »christianisieren«. Was die Toleranz im Zusammenhang interreligiösen Lernens betreffe, so werde Härles für die Moderne diagnostizierte Begriffsbedeutung »Anerkennung der anderen Religionen als gleichberechtigte und Akzeptanz einer Pluralität von Religionen« von nicht wenigen Religionspädagogen beider christlicher Konfessionen repräsentiert. Allein im Blick auf die Bemühungen um die Gewinnung christlicher Identität vor einem interreligiösen Lernen im Religionsunterricht äußerten sich Unterschiede. Wegenast betont die Wichtigkeit interreligiösen Lernens als einen Bereich des Religionsunterrichts unter vielen anderen innerhalb unserer pluralistischen Gesellschaft. Von einer einheitlichen Konzeption interreligiösen Lernens im Religionsunterricht könne allerdings mit Blick auf die vorliegenden Stimmen zum Problem und die Existenz zu vieler verschiedener Ansätze noch nicht geredet werden. Trotz solcher Unstimmigkeiten gelte jedoch für jede Religion, dass sich zunächst Ansprüche auf Einzigartigkeit einer endgültig erkannten Wahrheit 371 H.-G. Ziebertz, Religiöse Identitätsfindung durch interreligiöse Lernprozesse, 94; vgl. K. Wegenast, Synkretismus, Inkulturation, Toleranz, 141.

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ergeben, bevor dann auch Zugeständnisse gegenüber anderen, denen eine wenigstens fragmentarische Erkenntnis und Repräsentation des Wahren zugebilligt wird, möglich seien. An dieser Stelle könne sich ein Dialog entwickeln, der diesen Namen verdiene. Die reformatorische Theologie verweise in diesem Rahmen auf die versöhnende Annahme aller Menschen ohne heilsrelevante Vorleistungen allein aus Gnade und erinnere daran, dass auch die eigene Glaubenstradition im Gegenüber zu verschiedenen Kulturen bemerkenswerte Wandlungen erfahren habe und auch heute bereit dazu sei, in je spezifischer Weise sich gegenüber den verschiedenen Dialogpartnern zu erschließen und sich dem Gespräch auszusetzen. In solchen Zusammenhängen verweise Nipkow auf die Notwendigkeit einer »plurale(n) Hermeneutik und Didaktik einer wechselseitigen Anerkennung in Wahrhaftigkeit«372, die unter dem Motto »Wahrheit und Dialog« zu organisieren sei. Härle spreche davon, dass »zwischen Wahrheitsgewissheit und Toleranz kein Gegensatz […] besteht«, da »Wahrheitsgewissheit als Resultat eines dem Menschen unverfügbaren Erschließungsgeschehens verstanden werden muss«373. Deshalb sei ein Dialog zwischen den Religionen nur sinnvoll, »wenn in ihm die Gesprächspartner je zu ihrer Wahrheitsgewissheit stehen und von daher auch einander den respektvollen Widerspruch nicht schuldig bleiben.«374 Wo es keine Wahrheit mehr gebe, so heißt es weiter, sei ein Streit um die Wahrheit ebenso gegenstandslos wie ein Bestehen auf Wahrheitsgewissheiten. Resum¦eartig fasst Wegenast gegen Ende seines Beitrags zusammen, dass interreligiöses Lernen also keinesfalls von der Relativierung verschiedener Wahrheitsansprüche lebe, »sondern davon, dass im Rahmen eines christlichen RU sowohl die Möglichkeit besteht, die angestammte Religion in ihrer Praxis und in ihrem sich der Bibel und den Bekenntnissen verdankenden Glauben kennen zu lernen, als auch die Möglichkeit, ›Andere‹ in ihrer Praxis und ihrem Denken zu verstehen, Unterschiede und Übereinstimmendes zur Kenntnis zu nehmen und im Horizont der allen Menschen geltenden Liebe Gottes bereit zu sein, den Anderen Freund zu sein.«375 Zusammenfassend spricht sich Wegenast in seinem Beitrag also nachdrücklich dafür aus, den christlichen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen als einen Ort interreligiösen Lehrens und Lernens zu begreifen – als Ort der Aufklärung über Andere und des Wissens über Fremdes, zugleich aber auch als Ort des Dialogs gleichberechtigter Partner mit dem Ziel, gegenseitiges Ver372 K.E. Nipkow, Bildung in einer pluralen Welt, 306; vgl. K. Wegenast, Synkretismus, Inkulturation, Toleranz, 143. 373 W. Härle, Der Toleranzgedanke im Verhältnis der Religionen, 337; vgl. K. Wegenast, Synkretismus, Inkulturation, Toleranz, 143. 374 Ebd. 375 K. Wegenast, Synkretismus, Inkulturation, Toleranz, 144.

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ständnis, profilierte Identitätsbildung sowie schließlich – um meiner eigenen Terminologie zu folgen – reflektierte Toleranz als Folge einer intensiven dialogischen Auseinandersetzung zu gewährleisten. Seines Erachtens muss dabei der Wahrheitsfrage angemessene Aufmerksamkeit gewidmet werden, damit recht verstandene Toleranz nicht zu Gunsten eines gleich machenden Pluralismus unmöglich zu werden drohe. 3.2.1.2 Zusammenfassung Wegenasts nachgezeichnete Ausführungen zu interreligiösem Lernen bilden den vorläufigen Abschluss der religionspädagogischen Auseinandersetzung mit der Toleranzthematik im Evangelischen Erzieher und der ZPTh zwischen 1949 und 2008. Im Rückblick auf die dazu wiedergegebenen Beiträge sind äußerst aufschlussreiche Entwicklungen in der religionspädagogischen Toleranzdebatte während des untersuchten Zeitraums festzuhalten. Plädiert Vogel im Jahre 1953 noch für eine Toleranz aus Liebe, erachtet Richter sieben Jahre später Toleranz als passives Erdulden bereits als unzureichend und begründet unter Bezugnahme auf mittelalterliche deutsche Dichtung die Liebe zu Gottes Geschöpfen mit der reformatorischen Unterscheidung zwischen Person und Werk. In ihren Beiträgen aus dem Jahr 1966 muss Toleranz für Bartels und Ringshausen sodann fern von Indifferenz und Relativismus verortet werden. Stattdessen bezeichnet Ringshausen die Auseinandersetzung mit der Wahrheitsfrage vielmehr als konstitutives Element der Toleranz. In Neidharts Plädoyer von 1969 für ein Umdenken im Religionsunterricht »vom Schüler her« tritt der Gedanke einer inhaltlichen Wertschätzung Andersdenkender zentral in Erscheinung. Cremer würdigt im Folgenden den Religionsunterricht als bedeutsames Fach für die Auseinandersetzung mit den jedem Menschen immanenten Sinnfragen des Lebens. Als äußerst bemerkenswert stellte sich heraus, dass sein Beitrag neben einem eindringlichen Aufruf zum Dialog zwischen Anhängern unterschiedlicher Glaubensrichtungen bereits 1970 eine Forderung nach Toleranz als Bildungsziel enthält. Die von Cremer allerdings noch außer Acht gelassene Identitätsbildung wird acht Jahre später von Antes aufgenommen, der für den Religionsunterricht insbesondere die Notwendigkeit einer Orientierungshilfe und einer Unterstützung bei der Ausbildung von Identitäten sieht, um angesichts der wachsenden Vielfalt an alternativen Bezugssystemen innerhalb einer pluralen Gesellschaft Urteilsfähigkeit zu erlangen. Die sich somit allmählich entwickelnde Rezeption der Toleranzthematik in der Religionspädagogik wird im Beitrag Wegenasts von 2004 schließlich wie gesehen gebündelt und zugespitzt. Für das von Wegenast vertretene interreligiöse Lehren und Lernen im Religionsunterricht skizziert er ausgehend von einer eigenen religiösen Identität den Weg, ersten Begegnungen mit Anderen den Versuch eines wirklichen Dialogs

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folgen zu lassen, in dessen Zusammenhang auch die Möglichkeit bestehe, die eigene bisherige Identität auf den Prüfstand zu stellen. Damit entsprechen seine Ausführungen weitestgehend dem zuvor erarbeiteten Ansatz Bergers zu Formen und Bedingungen des Dialogs aus religionssoziologischer Sicht.376 Nach diesem Durchgang wird deutlich, dass der Toleranzthematik von Seiten aller genannten Autoren vor dem Hintergrund ihrer – je nach Zeitpunkt der Veröffentlichung recht unterschiedlichen – gesellschaftlichen und kulturellen Hintergründe ein hoher Stellenwert und eine herausragende Bedeutung eingeräumt werden. Während die erstgenannten Beiträge aus den 50er und frühen 60er Jahren sich dem Gegenstand noch recht zaghaft annähern, wird im Laufe der Zeit die Betonung von Toleranz im Zusammenhang mit religiöser Erziehung und Bildung erkennbar, bevor mit Wegenast Toleranzerziehung und interreligiöses Lehren und Lernen schließlich bereits zusammen gedacht werden müssen. Eine fortschreitende Entwicklung in der religionspädagogischen Rezeption der Toleranzthematik ist somit einerseits festzuhalten. Andererseits aber scheinen sich etwa Überlegungen in Richtung einer Didaktik der Toleranzerziehung noch nicht abzuzeichnen.

3.2.2 Die Diskussion der Gegenwart Nach diesem Überblick über die religionspädagogische Rezeption der Toleranzthematik im »Evangelischen Erzieher« und in der ZPTh in den Jahren zwischen 1953 und 2004 wird nun die Betrachtung dreier weiterer Beiträge folgen, in denen sich aufgrund ihrer Funktionen zentrale Vertreter der Religionspädagogik mit Toleranz auseinandersetzen und somit die religionspädagogische Diskussion der Gegenwart bestimmen. 3.2.2.1 Toleranz bei G. Adam: Toleranz als Problem des Religionsunterrichts in religionspädagogischer Sicht Im Zuge der Absicht, einen Einblick in den religionspädagogischen Diskurs zur Toleranzthematik der zurückliegenden Jahrzehnte zu geben, wird im Folgenden eine Veröffentlichung des evangelischen Religionspädagogen Gottfried Adam aus dem Jahre 1982 in den Blick genommen. Im Herbst 1981 veranstaltete die Wissenschaftliche Gesellschaft für Theologie, eine freie Vereinigung europäischer Universitätstheologen, in Verbindung mit der Wiener Evangelisch-Theologischen Fakultät einen »Europäischen Theologenkongress« unter dem Thema »Glaube und Toleranz: Das theologische 376 Vgl. 3.1.2.4.

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Erbe der Aufklärung«. Wie Trutz Rendtorff im Vorwort des im Anschluss an den Kongress von ihm herausgegebenen Bandes erläutert, wurde in selbigem Jahr in Wien die 200-Jahr-Feier des Toleranzpatents begangen, mit dem im Jahre 1781 unter Josef II. den Lutheranern, Reformierten und anderen Kirchen die bürgerliche Gleichberechtigung mit den Katholiken und das Recht der freien Religionsausübung zugestanden wurde.377 Unter den interdisziplinären Beiträgen dieses Kongressbandes findet sich der Beitrag von Adam, in welchem die Frage nach »Toleranz als Problem des Religionsunterrichts in religionspädagogischer Sicht«378 im Mittelpunkt steht. Einführend weist Adam darauf hin, dass er bereits Anfang der 70er Jahre in Marburg ein religionspädagogisches Seminar mit dem Thema »Religionskunde oder Religionsunterricht?« durchführte, in dem die Frage der Toleranz zur Debatte stand. Er stellt fest, dass trotz der in den 80er Jahren erfolgten Zuwendung der Religionspädagogik zu den Aufgaben der Moralerziehung die Frage der Behandlung nichtchristlicher Religionen im Schulunterricht aktuell bleibt. Bereits zu diesem, mittlerweile 30 Jahre zurückliegenden Zeitpunkt sieht sich Adam zu der Aussage veranlasst, dass die Ausarbeitung einer entsprechenden Didaktik sowie die Klärung der Toleranzproblematik weiterhin anstehen. In seinem Beitrag erörtert er das Thema Toleranz hinsichtlich der Frage nach dem Umgang mit den Weltreligionen im Religionsunterricht. Zunächst wirft er einen Blick in die Geschichte der Problemstellung, um dadurch eine von ihm konstatierte Veränderung der Situation zu verdeutlichen. Die Behandlung der nichtchristlichen Religionen war gemäß den Lehrplänen für den evangelischen Religionsunterricht in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg lediglich »sporadisch vorgesehen«379 und durchgängig in die Behandlung des Themas »Mission« integriert. Drei von Adam an dieser Stelle genannte Handbücher zur Vorbereitung des evangelischen Religionsunterrichts machen diesen Sachverhalt exemplarisch deutlich. So enthält die von S. Gauger und H. Lutze in den 50er Jahren herausgegebene »Arbeitshilfe für die evang. Unterweisung«380 in ihren insgesamt 8 Bänden keinerlei Information und Reflexion zur Behandlung nichtchristlicher Religionen. Zwar wird im letzten Band eine Missionskunde geboten, doch werden nichtchristliche Religionen nicht eigens erörtert. Vielmehr »figurieren [Nichtchristen] lediglich als Heiden, die im Zusammenhang mit der Missionsarbeit auftauchen.«381 Entsprechend verhält es sich mit der von L. Gengnagel herausgegebenen »Unterrichtshilfe für den 377 378 379 380 381

Vgl. T. Rendtorff, Vorwort, 7. G. Adam, Toleranz als Problem des Religionsunterrichts in religionspädagogischer Sicht. A. a. O., 145. S. Gauger/H. Lutze, Arbeitshilfe für die evang. Unterweisung. G. Adam, Toleranz als Problem des Religionsunterrichts in religionspädagogischer Sicht, 146.

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kirchlichen Unterricht«382. Anstelle einer expliziten Thematisierung der Weltreligionen enthält diese lediglich kurze Hinweise im Zusammenhang der Erörterung der Weltmission. Auch in dem von K. Frör herausgegebenen Werk »Der kirchliche Unterricht in der Volksschule«383 wird Adam nicht fündig. Er verweist allerdings auf eine Sonderrolle der Oberstufe des Gymnasiums, da im Zusammenhang des Humboldtschen Bildungsverständnisses der Bereich der Weltreligionen nicht fehlen durfte. Dabei war die Zielvorstellung für den Unterricht im Wesentlichen »von der Konzeption einer neutral-vergleichenden Religionskunde her bestimmt.«384 Doch aufgrund der religionspolitischen Lage, des Schülerinteresses, veränderter theologischer Perspektiven und Weiterentwicklungen des geistigen Klimas wurde ein neuer Stellenwert der nichtchristlichen Religionen sowie eine neue Zuwendung zu ihnen erreicht. Mit der Aussage, dass die moderne Gesellschaft mitten in der zweiten Aufklärung stehe385, wird nach Adams Ansicht ein wesentlicher Zusammenhang angesprochen, der für eine veränderte Einstellung zu den nichtchristlichen Religionen namhaft zu machen sei. Bei den nachfolgenden Ausführungen zu der zunehmend selbstverständlichen religiösen Pluralität lasse sich nicht ohne Weiteres erkennen, dass diese bereits die Situation vor 30 Jahren und somit die erst beginnende Globalisierung beschreiben. Von christlicher oder gar konfessioneller Exklusivität könne keine Rede mehr sein, gesellschaftliche Entwicklungen und soziokulturelle Weltbedingungen führen vor Augen, »daß andere Menschen auch andere Religionen haben. Berufliche Gründe führen viele Europäer nach Afrika, Asien und Südamerika. Reisen in ferne Länder werden zunehmend möglich. So wird man mit der Welt der Religionen konfrontiert, ja auf diese förmlich hingestoßen.«386 Die Verfügbarkeit von weltweiten Informationen – damals noch vorwiegend durch Informationsquellen wie Bücher und das Fernsehen anstelle des Internets – führe dazu, dass unser Bewusstsein zunehmend »entprovinzialisiert« und Weltreligionen zu Nachbarn werden. Ebenso sei auf Seiten der Schülerschaft ein verändertes Interesse festzustellen. Die Tatsache, dass nur wenige Unternehmen im Religionsunterricht ein so lebhaftes Interesse und die ungeteilte Aufmerksamkeit gefunden haben wie der Versuch, sie in die Welt der nichtchristlichen Religionen einzuführen, ist damals wie heute zutreffend. Adam benennt schließlich den theologischen Vorgang, der in einer veränderten Wertung und 382 L. Gengnagel, Unterrichtshilfe für den kirchlichen Unterricht. 383 K. Frör, Der kirchliche Unterricht in der Volksschule. 384 G. Adam, Toleranz als Problem des Religionsunterrichts in religionspädagogischer Sicht, 146. 385 Vgl. G. Klages/N. Heutger, Weltreligionen und Christentum im Gespräch, 41. 386 G. Adam, Toleranz als Problem des Religionsunterrichts in religionspädagogischer Sicht, 146.

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Fassung der Sache wie des Begriffs der Religion besteht und mit einer Aufarbeitung des Verdikts durch Karl Barth einhergegangen ist. Von daher ergeben sich in seinen Augen neue Möglichkeiten des Gesprächs zwischen dem Christentum und den Weltreligionen. Vor diesem Hintergrund zeigt Adam im Folgenden an ausgewählten Beispielen auf, wie sich die Religionspädagogik bemüht hat, das Problem der Toleranz anzugehen. Dabei bezieht er sich bewusst auf frühe Versuche, da hier die Problematik für ihn deutlich zu erkennen ist. Toleranz und Religionsunterricht: Motive zur Behandlung der nichtchristlichen Religionen An erster Stelle der Motive zur Behandlung der nichtchristlichen Religionen führt Adam »Das religionspolitisch-gesellschaftliche Motiv« an, er nennt es »bürgerliche Toleranz«387. Im Jahre 1972 wurde ein Modell zum Thema »Islam. Vorschläge und Überlegungen für die Behandlung des Islam an der Grundschule«388 veröffentlicht, das zu seiner Zeit viel Beachtung fand und nach Adams Einschätzung viele hervorragende Materialien und Anstöße enthält. Für ihn ist dieser Entwurf »primär, wenn nicht ausschließlich« als Beispiel für ein Interesse anzusehen, das von der religionspolitisch-gesellschaftlichen Situation her motiviert ist. Er fährt fort: »Ein Blick in die Geschichte des Toleranzverständnisses zeigt, dass in der Tat erst in dem Moment, da die Einheitlichkeit in religiöser Hinsicht nicht mehr zu garantieren war, das Toleranzmotiv seine besondere Ausprägung gefunden hat. Toleranz taucht so nicht als These des christlichen Glaubens auf, sondern als Hypothese aufgrund der gesellschaftlichen Situation.«389 Auch der Verfasser des erwähnten Entwurfs beschreibt die damalige gesellschaftliche Situation als nicht länger religiös eindeutig geprägt390. Noch deutlicher wird die Ausrichtung auf die sozio-politische Herausforderung für Adam, wenn darauf verwiesen wird, dass die Zukunft Berlins davon abhänge, in wieweit es gelinge, mit Anders-Glaubenden solidarisch zu werden. Man werde sich auf ein Zusammenleben mit den (zur damaligen Zeit) ungefähr 100 000 Türken vorbereiten müssen. Der für heutige Ohren vor Aktualität brennende Begriff der gesellschaftlichen Integration wird bereits Anfang der 70er Jahre als unerlässlich angesprochen. Was bereits vor 40 Jahren aktuell war, ist es heute mehr denn je. Dies gilt mit Blick auf die revolutionären Entwicklungen Anfang 2011 in Nahost 387 A. a. O., 147. 388 U. Kelch, Islam. Vorschläge und Überlegungen für die Behandlung des Islam an der Grundschule. 389 G. Adam, Toleranz als Problem des Religionsunterrichts in religionspädagogischer Sicht, 147. 390 Vgl. U. Kelch, Islam. Vorschläge und Überlegungen für die Behandlung des Islam an der Grundschule, 36.

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insbesondere auch für das folgende Zitat, das Adam dem Unterrichtsmodell zum Thema »Islam« entnimmt: »Die Weltpolitik ist aber ohne Kenntnis der Weltreligionen nicht mehr zu durchschauen. So sind z. B. die Vorgänge im Nahen Osten ohne ein bestimmtes Wissen über den Islam nicht zu verstehen. In Berlin sind wir auf die Integration der türkischen Gastarbeiter angewiesen, wenn unsere Stadt lebensfähig bleiben soll.«391 Als Ziel des Entwurfs wird das bessere Verständnis andersgläubiger Menschen durch Kennenlernen der wichtigsten Äußerungen einer Religion bezeichnet. Durch frühzeitige Information sollen Vorurteile abgebaut bzw. verhindert werden. Auf diese Weise erhofft man sich zugleich ein gutes Stück Vorarbeit für ein sachliches und systematisches Erarbeiten des Themas in der Oberstufe. Der durchaus bemerkenswerte Versuch einer theologischen Orientierung durch die Herausarbeitung einer Begegnungsstrategie aus der Aussendungsrede des lukanischen Reiseberichts (Lk 10,1 – 22) erscheint Adam »angesichts des bisherigen Begründungszusammenhanges weniger überzeugend, eher aufgesetzt.«392 Wesentlich erscheint ihm an diesem Entwurf jedoch noch die Einsicht, dass die Grenzen schulischer Aktivitäten ansatzweise angesprochen werden, wenn auf Beispiele von Begegnungen in Berliner Gemeinden mit türkischen Gastarbeiterfamilien hingewiesen wird. Hieran scheint es Adam wichtig, dass bedacht wird, was Schule leisten kann und wo christliche Gemeinden herausgefordert sind. Auch dieser Gedanke hat im Laufe der Jahrzehnte nichts an Aktualität eingebüßt – es erscheint im Gegenteil beinahe erschreckend, wie die gesellschaftliche Entwicklung den Weg in Richtung wenig wünschenswerter Parallelgesellschaften, wie sie insbesondere innerhalb vereinzelter Großstadtwohnviertel erlebt werden, zu weisen scheint. Der Wunsch nach interreligiösen Begegnungen unter Initiative der jeweiligen Ortsgemeinden erscheint gerade im einundzwanzigsten Jahrhundert nachvollziehbarer und dringlicher denn je. Dem scheint auch Adam zuzustimmen, wenn er auf die Grenze des Religionsunterrichts generell verweist und dessen Fähigkeit, eine derart beschriebene Integrationsleistung zu vollbringen, mit begründeten Zweifeln versieht. So stellt er die Frage, ob an dieser Stelle nicht gesamtpolitische und gesamtgesellschaftliche Aufgaben auftauchen, »die eine völlige Überforderung darstellen würden, wenn man sie dem Religionsunterricht zuschieben wollte«393. Adams Auffassung zufolge sind die Möglichkeiten im Rahmen der Schule viel begrenzter zu sehen. 391 Ebd.; vgl. G. Adam, Toleranz als Problem des Religionsunterrichts in religionspädagogischer Sicht, 147 f. 392 A. a. O., 148. 393 Ebd.

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Als zweites Motiv zur Behandlung nichtchristlicher Religionen nennt Adam sodann das »erzieherisch-schultheoretische Motiv«. Er bezieht sich bei dessen Ausführung auf einen von Becker u. a. bearbeiteten Band mit dem Titel »Orientierung Religion. Schülerbuch für das 5./6. Schuljahr«394 aus dem Jahr 1973. Unter der Überschrift »Andere Religionen« wird darin eine Einheit über »Die Juden – die Moslems – die Hindus – die Buddhisten« vorgelegt, anhand derer ein erstes Grundwissen über die nichtchristlichen Religionen in der Form von Erzählungen zu vermitteln versucht wird. Während andere Einheiten dieses Buches in Gestalt eines durchstrukturierten Lehrganges präsentiert werden, handelt es sich hierbei eher »um eine Materialsammlung in lockerer Form«395. Darüber hinaus finden sich in diesem Kapitel im Unterschied zu den restlichen Einheiten des Buches keinerlei Arbeitsanweisungen und Diskussionsfragen. Diese Tatsache deutet Adam als ein Indiz für die Neuheit der Fragestellung und die Suche nach den didaktisch angemessenen Strukturen. Weiteren Aufschluss gibt das entsprechende »Lehrerhandbuch – Orientierung Religion«396, das dreierlei Gründe für die Behandlung der anderen Religionen anführt. Erstens besagt das religionspolitische Argument, dass die unmittelbare Begegnung mit Angehörigen anderer Religionen nach einer Klärung verlangt, wie man sich ihnen gegenüber zu verhalten habe. Zweitens verweist das kulturelle Motiv auf die Tatsache, dass die Information aus den Massenmedien früh zu Kenntnissen und Fragen führt, die eine Aufarbeitung verlangen, um die Zusammenhänge zwischen religiösen Vorstellungen und Kultur/Politik erkennen zu können. Schließlich lässt das Schülerinteresse an eigener Orientierung nach Ähnlichkeiten und Unterschieden in den Religionen fragen und hilft daher auch, die eigene Religion deutlicher verstehen zu lernen.397 Adam hält fest, dass die Lernintentionen zunächst auf einen phänomenologischen Zugang zielen: Wichtige Einrichtungen, Gebräuche und Lehren sollen unterschieden werden; grundlegende Begriffe und Kenntnisse über Verbreitung und Entwicklung der Religionen sollen gelernt werden; Einsichten in die Auswirkungen von Religion auf das Leben der Menschen sowie in das Verhältnis der Religionen zueinander sollen verfügbar sein.398 In den anschließend formulierten übergreifenden, nicht kontrollierbaren Intentionen ist mit Adam explizit das Toleranzprinzip zu erkennen: »Es sollen nämlich Einsichten dahingehend vermittelt werden, daß es auch andere zu achtende Möglichkeiten menschlichen Selbst- und Weltverständnisses aufgrund religiöser Ergriffenheit gebe. Es gehe 394 U. Becker et al., Orientierung Religion. Schülerbuch für das 5./6. Schuljahr. 395 G. Adam, Toleranz als Problem des Religionsunterrichts in religionspädagogischer Sicht, 148. 396 U. Becker et al., Lehrerhandbuch – Orientierung Religion. 397 Vgl. a. a. O., 138. 398 Vgl. a. a. O., 142.

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darum, Aufgeschlossenheit, Achtung und Toleranz (und zwar formale wie auch inhaltliche Toleranz399) zu entwickeln. Es gehe um die Befähigung, die eigene Glaubensweise darzustellen und zu vertreten.«400 Zwar sind bei den Materialien im Schülerbuch dazu keine unmittelbaren unterrichtlichen Handhaben zu finden. Dennoch zeigen die genannten Zielformulierungen, dass es in dieser Einheit durchaus darum gehen soll, die Frage nach dem Verhältnis der Religionen zueinander zu thematisieren. Die entscheidende Begründung dafür wird von der Aufgabe der Schule her gegeben. Führt man sich erneut vor Augen, dass die Veröffentlichung von Adams Beitrag bereits dreißig Jahre zurück liegt, so muss folgendes Zitat aus erwähntem Lehrerhandbuch heutzutage umso nachdrücklicher unterstrichen werden: »Wenn Erziehung zu Toleranz und Friedenserziehung Aufgabe der Schule heute überhaupt sind, kann sich der RU nicht auf eine eingegrenzte Information beschränken und auf eine Auseinandersetzung mit anderen Glaubens-, Vorstellungs- und Denkweisen verzichten.«401 Da dies schon sehr früh einsetzen soll, ist es nachvollziehbar, dass Adam die Methode, die anderen Religionen über den Weg der Erzählung von Lebenssituationen einzubringen, dafür geeignet hält, zu einer ersten Begegnung zu führen und zum Nachdenken anzuregen. Dabei erscheint es ihm wesentlich, dass hier der schulische Zusammenhang und die damit gegebenen Möglichkeiten reflektiert werden. »Als weiter zu bearbeitendes Problem« bleibt für Adam »die Spannung bestehen, die sich aus der Forderung nach inhaltlicher Toleranz und dem Bleiben beim eigenen Glaubensstandpunkt ergibt.«402 An dritter Stelle der Motive zur Behandlung nichtchristlicher Religionen sieht Adam das »religionskundlich-theologische Interesse«403. Das Unterrichtsmodell »Weltreligionen«, das für das 8./9. Schuljahr konzipiert ist und sich als zweite Einheit in Koeps »Die Heiden und wir. Weltreligionen«404 findet, zieht Adam zur Veranschaulichung hinzu. In 14 Unterrichtsstunden sollen Grundkenntnisse vermittelt und ein Überblick über die großen Weltreligionen gegeben werden: Hinduismus, Buddhismus, Islam und Judentum. Dabei liegt die Intention auf 399 Vgl. zu dieser Unterscheidung G. Mensching, Art. Toleranz, bzw. in dieser Untersuchung 3.1.2.1. 400 G. Adam, Toleranz als Problem des Religionsunterrichts in religionspädagogischer Sicht, 149. 401 U. Becker et al., Lehrerhandbuch – Orientierung Religion, 142 f. 402 G. Adam, Toleranz als Problem des Religionsunterrichts in religionspädagogischer Sicht, 149; eben diese zurecht konstatierte Spannung hofft die aus den Ergebnissen der systematischen Theologie nach Schwöbel sowie aus den Formen und Bedingungen des Dialogs nach Berger an vorheriger Stelle dieser Untersuchung entwickelte systematische Toleranzbegründung auflösen oder zumindest schmälern zu können, vgl. 3.1.2.5. 403 G. Adam, Toleranz als Problem des Religionsunterrichts in religionspädagogischer Sicht, 149. 404 W. Koep et al., Die Heiden und wir. Weltreligionen; Unterrichtsmodelle Fach Religion.

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Information mit dem weitergehenden Ziel des Verständnisses füreinander. Demgemäß wird als Projektziel formuliert: »Der Schüler soll einige Vorstellungen und Verhaltensweisen großer Weltreligionen kennenlernen und das diesen Religionen gemeinsame Fragen nach dem Sinn des Lebens und nach einem höchsten Wesen entdecken.«405 Unter Verweis auf die zur damaligen Zeit neue Einstellung zu den nichtchristlichen Religionen in direkter Folge des II. Vatikanischen Konzils ist es erklärte Absicht, zu »einer universalen Offenheit«406 zu führen. Dies wird von Adam zwar als interessanter Ansatz gewertet, doch stellt er sogleich fest, dass sich das Modell in der Durchführung ausschließlich als »ein gut geplanter religionskundlicher Grundkurs« erweist, »der erste Grundkenntnisse und Information zu bieten vermag.«407 Für Adam ist dieser Kurs zum Thema Weltreligionen theologisch motiviert und vermag nach seiner Einschätzung auf dem Hintergrund einer katholischtheologischen Theologie der Religionen Möglichkeiten eines Gesprächs zu eröffnen. Die Tatsache, dass der Abbau von Vorurteilen und die Anleitung zur Toleranz das Kennenlernen anderer Religionen implizieren, ist unbestritten. In diesem Sinne habe das Modell eine sinnvolle propädeutische Funktion. Mit Adam muss aber kritisch gefragt werden, ob hier nicht der Versuch unternommen wird, »in kurzer Zeit zuviel zu erreichen, so daß am Ende weniger erreicht wird, als möglich wäre«. Er nennt dies »ein Verfahren eines ›massierten Informationsschubes‹« und verweist in diesem Zusammenhang auf zwei mögliche Probleme: »Könnte sich beim Schüler nicht ein Eindruck festsetzen, der sich auf die Formel bringen ließe: Was es nicht alles gibt!? Es könnte sich eine Art Jet-Set-Effekt in Sachen Religion einstellen. Die didaktischen Möglichkeiten, welche die Begegnung mit dem Fremden zu eröffnen vermag, wären dann nicht voll genutzt. Zudem könnte ein solches Verfahren einem Skeptizismus Vorschub leisten, der sich beim Schüler als Eindruck totaler Relativierung und Beliebigkeit niederschlagen würde.«408 Gewiss sind die von Adam vorgebrachten Einwände an dieser Stelle nachvollziehbar und erscheinen gerechtfertigt. Somit ergibt sich folgerichtig die Überlegung, ob nicht ein themenorientiertes Einbringen einzelner Aspekte oder die Beschäftigung mit einer einzelnen nichtchristlichen Religion der Toleranzabsicht förderlicher sei. Dieser Gedanke führt Adam zum vierten Motiv zur Behandlung nichtchristlicher Religionen, da auf diese Weise an die Stelle einer arbeitsteiligen Beschäftigung eher eine dialogische Zuwendung treten könnte. 405 A. a. O., 18. 406 A. a. O., 19. 407 G. Adam, Toleranz als Problem des Religionsunterrichts in religionspädagogischer Sicht, 150. 408 Ebd.

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Den Weg des Dialogs als Motiv beschreitet etwa das »Kursbuch Religion. Arbeitsbuch für den Religionsunterricht im 7./8. Schuljahr«409. Der Einstieg in das Gespräch mit dem ausgewählten Beispiel »Islam« wird demnach über die Bedeutung Jesu in Islam und Christentum gewählt. Dieselbe Vorgehensweise verfolgt das von Brill, Kemler und Ulonska bearbeitete Unterrichtswerk »Religion: Modelle für Klasse 7 bis 10«410, das die »Fremdreligion: Hinduismus« zum Thema macht. Im Zusammenhang der Grundlegungsfragen wird darauf verwiesen, dass Schüler und Schülerinnen der Sekundarstufe I ein erstaunliches Interesse an den Weltreligionen zeigen. In dieser Altersphase suchten junge Menschen die qualifizierte religiöse Alternative zu der vertrauten christlichen Religion. Als Zielbestimmung wird herausgestellt, dass es nicht um christliche Missions-Arroganz gehe, sondern um einen Dialog »auf der Ebene der dialogischen Gleichberechtigung heutiger Religionsund Gottesvorstellungen«411. Der Schüler werde, so die Ausführungen im Lehrerhandbuch, erkennen müssen, dass sein vordergründiges Interesse an den Religionen des Fernen Ostens ihn mit sehr fremden Sinn- und Daseinsformen konfrontiere. Wolle er sie verstehen und nicht nur vorschnell konsumieren, müsse er sein vertrautes Traditionsgehäuse verlassen und sich in die Vor- und Darstellungswelt einer fremden Kultur eindenken müssen. Der Aufbau der Einheit folge einer inneren Logik. In einem ersten Teil soll »Der Reiz des Exotischen« das vorhandene Wissen und das Interesse der Schüler und Schülerinnen aktivieren. Die Vermittlung von Grundwissen durch eine Einführung in die hinduistische Götterlehre steht im zweiten Teil »Vor Gott sind nicht alle Menschen gleich« im Fokus. Im dritten Teil wird dann unter der Überschrift »Der Dialog hat begonnen« das eingangs benannte dialogische Verhältnis von Christentum und Hinduismus zum Thema. Er behandelt konkret die Bemühungen des Ökumenischen Rates der Kirchen um einen Dialog der Religionen und hebt darauf ab, welchen Beitrag der Hinduismus für das Christentum leisten könne, wenn man ihm auf der dialogischen Ebene begegne. Adam beschreibt den gewählten Weg als interessant, bei dem der Versuch unternommen wird, sich der rücklaufenden Mission des Hinduismus zu stellen und die Rezeption christlicher Ideen im Hinduismus darzulegen. Nach der persönlichen Seite der Religion, wie sie sich in der Verbindung von ChristusIdee und Krishna-Idee bei S. Vivekananda als Beispiel für die Suche nach Identität zeige, werden die Avatara-Lehre von Radhakrishnan und schließlich Gandhis Ansatz des gewaltlosen Widerstandes erörtert. Dabei leiten Fragen das 409 Kursbuch Religion. Arbeitsbuch für den Religionsunterricht im 7./8. Schuljahr. 410 S. Brill/H. Kemler/U. Ulonska, Religion: Modelle für Klasse 7 bis 10. 411 A. a. O., 121.

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gegenseitige Sich-Befragen ein. Wie auch Adam betont liegt hier zweifellos ein Entwurf vor, »in dem der Weg einer dialogischen Gleichberechtigung nicht nur im Lehrerhandbuch gefordert wird, sondern auch der Versuch unternommen wird, ihn im Schülerbuch umzusetzen. In dieser Einheit werden sowohl die Frage nach den sozialen Konsequenzen wie den identitätsstiftenden Elementen von Religion bearbeitet und zur Diskussion gestellt. Damit wird eines der zentralen Themen des Dialogs die Frage nach der Sachgemäßheit einer reinen sozialen Interpretation von Religion und deren kritische Reflexion.«412 Für Adam bleibt am Ende jedoch die berechtigte Frage offen, wieweit man legitimerweise im didaktischen Assimilierungsprozess gehen darf, ohne dabei verfälschend zu wirken. Konkret wirft er die Frage auf, ob die Führung des Dialogs auf dem Wege über neohinduistische Positionen, die selbst im Gespräch mit dem Christentum sind und Elemente des Christentums aufgenommen haben, nicht die Gefahr eines einseitigen Verständnisses berge. In diesem inneren Dilemma spiegelt sich zugleich das Problem, »wieweit eigentlich jemand, der einer Religion nicht selbst ›zugehört‹, diese letztlich voll verstehen kann.«413 Damit möchte Adam nach eigener Aussage nicht einer völligen Skepsis das Wort reden, sondern auf die in der Sache liegenden Schwierigkeiten aufmerksam machen. So geht es bei der Behandlung nichtchristlicher Religionen darum, Gemeinsamkeiten aufzuspüren und Unterschiede herauszuarbeiten, gemeinsame Aufgaben zu sehen und die Fremdartigkeit anderer Überzeugungen und Lebensstile aufzuspüren. Auch die Verflochtenheit der Religionen mit dem sozialen und wirtschaftlichen Leben, den Einfluss auf die individuelle Existenz zu bearbeiten führt Adam als wesentliche Elemente einer dialogischen Zuwendung an. Er verweist abschließend auf den von Freimark erarbeiteten Schülerband »Große Fremde Religion«414 der im Untertitel die »Grundlagen für einen Dialog« zu bieten verspricht. Nach Adams Einschätzung macht diese Veröffentlichung deutlich, dass und wie das geschilderte Vorhaben für den Gesamtbereich der großen Weltreligionen sowohl in religionswissenschaftlich fundierter Weise als auch in religionspädagogischer Verantwortung geschehen kann. Zwischenbilanzierend betont er daraufhin, dass keineswegs die Absicht verfolgt wurde, alle vorhandenen Unterrichtsmodelle und –ansätze zur Behandlung der nichtchristlichen Religionen zu analysieren. Vielmehr sollten an vier exemplarischen Beispielen die Bemühungen um eine Bewältigung des Problems unter verschiedenen Schwerpunktsetzungen in einer gewissen idealtypischen

412 G. Adam, Toleranz als Problem des Religionsunterrichts in religionspädagogischer Sicht, 151. 413 Ebd. 414 P. Freimark et al., Große Fremde Religion. Grundlagen für einen Dialog.

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Darstellung vorgeführt werden. Für Adam sind die verschiedenen Aspekte in der konkreten Praxis in aller Regel miteinander verbunden. Die von ihm gewählte Reihenfolge vom religionspolitisch-gesellschaftlichen Motiv über den erzieherisch-schultheoretischen Ansatz zum theologisch motivierten Dialog (als religionskundlicher Grundkurs im Zusammenhang einer Theologie der Religionen wie als Versuch eines Dialogs auf der Basis von Gleichberechtigung) ist andererseits sicher nicht zufällig. Vielmehr entspricht sie der inneren Entwicklung der Religionsdidaktik, die vor der Veröffentlichung von Adams Beitrag vor eine neue Aufgabe gestellt war, für die ihr das theologische und didaktische Rüstzeug zunächst weitgehend fehlte. Adam macht deutlich, dass in den 70er Jahren eine Reihe von Antworten erarbeitet wurden. Als innere Leitlinie hält er fest, dass es um einen Weg von der Toleranz zum Dialog geht: »Von der bürgerlichen Toleranz über den schultheoretischen Auftrag zur Toleranzerziehung hin zur theologisch motivierten Religionskunde und zur dialogischen Kommunikation.«415 Toleranz als Aufgabe evangelischer Religionspädagogik: Problemanzeigen und Aspekte Diesen Abschnitt seines Beitrags eröffnet Adam mit einer Feststellung, die einer dieser Arbeit zu Grunde liegenden These vollständig entspricht: »Der Versuch, Toleranz als Neutralismus zu fassen, würde in die Unverbindlichkeit führen und Indifferenz bewirken.«416 Als letzte Konsequenz benennt Adam eine Skepsis, die mit dem Verzicht, Position zu beziehen, einhergehen würde. Wenn die Aufgabe der Erziehung nun aber darin besteht, Schülern und Schülerinnen »zu helfen, einen Sinn des Lebens zu finden«417, würde dies Erziehung ad absurdum führen und einen Verzicht auf Erziehung überhaupt bedeuten. In drei Schritten, die er mit »Christentum und Religionen«, »Toleranz im evangelischen Verständnis« sowie »Ebenen und Wege des Dialogs« überschreibt, nähert er sich Problemanzeigen und verschiedenen Aspekten zu Toleranz als Aufgabe evangelischer Religionspädagogik an. Am Anfang seiner Überlegungen zu »Christentum und Religionen« steht die Feststellung, dass es einer pädagogisch-theologischen Didaktik der nichtchristlichen Religionen nicht allein darum gehen kann, unter dem Gesichtspunkt formaler Toleranz die Weltreligionen in den Unterricht einzubringen. Die Frage der inhaltlichen Toleranz kann nicht ausgeklammert werden. Adam schlägt als einen möglichen Weg vor, die verschiedenen Religionen als den je415 G. Adam, Toleranz als Problem des Religionsunterrichts in religionspädagogischer Sicht, 152. 416 A. a. O., 152. 417 Ebd.

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weils spezifischen Ausdruck eines größeren Gesamtphänomens, beispielsweise der monotheistischen Religion, zu deuten. Demzufolge könnte man »das Judentum als Religion der Hoffnung, den Islam als Religion des Glaubens und das Christentum als Religion der Liebe charakterisieren.«418 Doch Adam geht weiter davon aus, dass sich bei einem solchen Weg vorschnell Komplementaritäten herausstellen würden, die im Einzelnen nicht immer als sachgemäß angesehen werden könnten. Auch das Ziehen einer Art Quersumme aus den vorhandenen Religionen bezeichnet Adam ebenso wie den Versuch, durch die Zuordnung zu einem abstrakt-theoretischen Religionsbegriff die Basis eines Unterrichts über die Weltreligionen legen zu wollen, als zu »kurzschlüssig«419. Da Religion immer nur als konkrete erscheint, lässt sie sich nicht spekulativ konstruieren, sondern ist eine Lebenswirklichkeit. Darum könne man nicht von Wesensdefinitionen ausgehen, sondern müsse sich an die geschichtlichen Erscheinungsformen halten. Adam stellt treffend fest, dass daher Gegenstand des Unterrichts nicht die Religion sein kann, sondern die Religionen. Sogleich erheben sich damit aber das Problem der Bewertung sowie die Frage nach einer Theologie der Religionen. Zwei große Ansätze aus der katholischen Theologie erlauben es, »in Anknüpfung und Widerspruch die Toleranz und die Wahrung der eigenen Position miteinander zu verbinden.«420 Kennzeichnend für die erste Position ist die Sicht auf das Christentum als die höchste Verwirklichung aller Religionen. Wie Adam erläutert wird diese Position von dem Konzept der Absolutheit des Christentums her begründet, wobei das Christentum als die endgültige, unüberbietbare Selbsterschließung Gottes für alle Menschen begriffen wird. Die Begründung von einer Erfüllungstheologie her ist eine andere Variante dieses Ansatzes. Hierbei wird die vom Verhältnis AT – NT her bekannte Figur »Verheißung – Erfüllung« für die Auslegung des Absolutheitsgedanken fruchtbar gemacht, so dass in Analogie zum Verhältnis von jüdischem AT und christlichem NT auch das Verhältnis anderer Religionen zum Christentum gedacht wird. Die zweite Position katholischer Theologie geht davon aus, dass das von Christus gestiftete Heil sich auch außerhalb des Christentums verwirklichen kann. Die bekannteste Variante hierzu ist Karl Rahners Konzeption des anonymen Christen. Doch wie Adam richtig anmerkt liegt die Schwierigkeit dieser Position darin, »daß durch die Hypothese auch all jene Menschen als Christen vereinnahmt werden, die in ihrem Selbstverständnis durchaus nicht Christen sind und auch nicht sein wollen.« Als erkenntnistheoretischer Ausgangspunkt für eine Begegnung des Christentums mit nicht418 A. a. O., 153. 419 Ebd. 420 Ebd.

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christlichen Religionen ist diese vereinnahmende Position daher weder damals noch heute vertretbar. Ende der 70er-Jahre brachte Zilleßen auf evangelischer Seite die »Unerschöpflichkeit Gottes« bzw. die »Unerschöpflichkeit gemeinsamen Lebens« als Formel für die Ermöglichung eines Gesprächs und als Kriterium einer dialogischen Kommunikation zwischen Christentum und nichtchristlichen Religionen ins Gespräch421. Nach Adams Einschätzung wird das Problem gleichwohl nur verschoben, wenn es heißt: Solcher RU ist »offen, obwohl in unserem Kulturkreis das Christentum die Chance hat, den RU zu verantworten, seine Vorstellung vom unerschöpflichen Leben in die Diskussion einzubringen und die Orientierung an Jesus von Nazareth als Kriterium anzubieten.«422 In den nun folgenden Ausführungen zu »Toleranz im evangelischen Verständnis« nimmt Adam eine Unterscheidung vor, die an Nipkows später zu referierende Unterscheidung zwischen den zwei theologischen Ebenen der ereignisförmigen Konstitution von Religion einerseits sowie die der lehrmäßigen Auslegung bzw. Deutung auf der anderen Seite erinnert.423 Adam führt eine Dialektik ein, bei der gilt: »Das Christentum ist das Ende aller Religionen, sofern Religion im Sinne von Selbstrechtfertigung verstanden wird.« Nach Adam liegt hier das Recht der Barthschen Kritik. Allerdings hält er andererseits fest: »Das Christentum ist ein beobachtbares, menschliches Phänomen, eine Religion, die sich im Leben der Menschen und in der sozialen Wirklichkeit manifestiert und in ihren positiven Aspekten zu würdigen und zu reflektieren ist.«424 Hinsichtlich der Toleranzfrage bedeutet dies für Adam, dass auch hier eine Dialektik in der Weise anzusetzen ist, dass der Unterschied zwischen Rechtfertigung und Heiligung bedacht wird. Ihm zufolge könnte von daher auch ein genuin evangelisches Verständnis von Toleranz Kontur gewinnen. »Die Rechtfertigung ist unablösbar von der Intoleranz, von der den Menschen coram Deo richtenden und darin rettenden Intoleranz der Offenbarung. Die Heiligung umschreibt nach evangelischer Auffassung das Leben des Gerechtfertigten als Zeugen und Mitarbeiter Gottes in dieser Welt.« In der Heiligung gehe es um die Verwirklichung der christlichen Freiheit als eines freien Dienstes in der Mitmenschlichkeit, im Gegenüber von Mensch zu Mensch. »Hier ist gerade von der Intoleranz der Offenbarung her Toleranz gefordert, Anerkennung des Mitmenschen und seiner Freiheit als eines von Gott Geschaffenen, für den Christus gekreuzigt wurde.«425 Für Adam ist damit deutlich dass im Blick auf den Inhalt Vgl. D. Zilleßen, Zum Verhältnis von Theologie und Religionswissenschaft. A. a. O., 14. Vgl. dazu 3.2.2.3. G. Adam, Toleranz als Problem des Religionsunterrichts in religionspädagogischer Sicht, 154. 425 Adam zitiert hier E. Wolf, Peregrinatio, 296. 421 422 423 424

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der Offenbarung – er nennt dies »die Sache Jesu Christi« – die Endgültigkeit und Unüberholbarkeit festzuhalten sei, dass aber Menschen gegeneinander nur tolerant sein könnten. Dieses Toleranzverständnis nach Adam bietet vielschichtige Ansätze. Wie bereits erwähnt erscheint hier die Unterscheidung zweier Ebenen hilfreich, um eine Theorie der Toleranz zu entfalten. Zwar weist seine zweite Ebene durchaus in eine ähnliche Richtung wie Nipkows Ebene der Auslegung bzw. Deutung, die an späterer Stelle erläutert wird, oder auch Schwöbels Rede von den »Inhalten« des Glaubens426. Doch Adams Position der »Endgültigkeit und Unüberholbarkeit« der Offenbarung dürfte sowohl die für eine dialogische Kommunikation mit nichtchristlichen Religionen zentrale Wahrheitsfrage als auch die Frage der Glaubensgewissheit anderer Menschen vor schwerlich zu überwindende Herausforderungen stellen. Abschließend befasst sich Adam mit Ebenen und Wegen des Dialogs. Durch unsere gesellschaftliche Wirklichkeit – und das gilt dreißig Jahre nach der Veröffentlichung seines Beitrags umso mehr – stellt sich bei der Frage, ob wir uns den nichtchristlichen Religionen zuwenden wollen oder nicht, keinerlei Wahlmöglichkeit. Adam zieht die mittlerweile verbreitete These in Betracht, dass evangelischer Religionsunterricht und christliche Erziehung nur noch möglich sind, wenn sie sich dem Dialog und der Begegnung mit dem Fremden wirklich aussetzen. Nach Adam sollen die Schüler und Schülerinnen »die nichtchristlichen Religionen im Zusammenhang fremder Gesellschaften und einer andersartigen Umwelt in ihrer ganzen Fremdheit und Andersartigkeit kennenlernen«, aus heutiger Sicht ist sicherlich das Bewusstwerden über Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten als eine weitere zentrale Intention zu nennen. Dabei gilt nach wie vor zugleich als Beobachtung und Erwartung, dass dort, wo es zu einer Begegnung mit dem Fremden kommt, die Einsicht in die eigene Religion und Tradition wächst. Darum erachtet Adam es für wichtig, nicht nur die Erzählungen über Religionsstifter und die zentralen dogmatischen Texte anderer Religionen zu behandeln, sondern eine ganzheitliche Sicht anzustreben und zu zeigen, wie die Religion die Gestalt einer lebendigen Realität im Leben der Menschen innehat. Noch verhalten und zögernd formuliert liegt für Adam daher »etwa eine unmittelbare Begegnung mit den Anhängern einer anderen Religion als ein methodischer Weg des Verstehens und des Hinführens zum Dialog nahe.«427 Geht Adam hinsichtlich eines solchen Kennenlernens, Verstehens und Bemühens um die Religion des anderen noch davon aus, dass die Schülerinnen und 426 Vgl. Chr. Schwöbel, Toleranz – eine unmögliche Tugend für religiöse Gemeinschaften?, 30. 427 G. Adam, Toleranz als Problem des Religionsunterrichts in religionspädagogischer Sicht, 155.

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Schüler »selbst immer schon von einer Tradition, dem Kontakt mit dem Christentum und der Kenntnis des christlichen Glaubens, christlicher Lebensformen und christlicher Wirkungsgeschichte herkommen«428, so kann dies aufgrund der fortschreitenden gesellschaftlichen Entwicklungen heutzutage keineswegs mehr uneingeschränkt vorausgesetzt werden. Dennoch kann die Beschäftigung mit anderen Religionen auf vergessene oder vernachlässigte Elemente der eigenen Religion aufmerksam machen (hier nennt Adam beispielsweise Meditation oder die Einsicht, dass Religion nicht nur aus sozialen Aktionen bestehe). Eine sozio-historische Perspektive könne vermittelt werden, von der sich Adam »etwa Einsichten in die Entwicklungsverläufe von religiösen Institutionen sowie ein besseres und vertieftes Verständnis von Phänomenen innerhalb der eigenen Religion […] (z. B. Gebet)«429 erhofft. Unter der Voraussetzung, dass ein wirklicher Dialog nur dann sinnvoll ist, wenn ein eigener Standpunkt vorhanden ist, stellt Adam sodann eine innere Abfolge von Ebenen des Dialogs heraus. Er nennt zunächst den menschlichen, den humanen Dialog. Dieser stellt jene Basis dar, die für den Religionsunterricht den Einstieg ermöglicht, und verfolgt das Ziel, auf der Basis der Funktion von Religion sowie ihres Ortes im Leben, also in der Alltagserfahrung der Menschen, in ein Gespräch einzutreten. Fragen praktischer Humanität stehen dabei im Zentrum. Eine Vertiefung kann dieser Ansatz sodann im Blick auf bestimmte thematische Aspekte erfahren, wobei anstelle der Differenzen vorrangig die gemeinsamen Aufgaben und die zu bewältigenden Probleme wie Krieg und Frieden, Hunger und Krankheit, Ungerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit etc. betont werden. Um die kognitive Beschäftigung und Auseinandersetzung mit anderen Religionen geht es in der weiteren Form des diskursiven Dialogs. Wie Adam klarstellt wird dabei die Achtung anderer Religionen und der Ansichten Andersglaubender vorausgesetzt und die genaue Kenntnis einer Religion, die sachgemäße Präsentation des eigenen Standpunktes sowie die Bereitschaft, aufeinander zu hören, als wichtig erachtet. Adam ist sich sicher, dass man im Religionsunterricht der Schule bis zu dieser Ebene des Dialogs voranschreiten kann, auf der die ethischen und sozialen Implikationen einer Religion im Gesamtzusammenhang entfaltet werden. »Eine letzte Tiefe wird im religiösen Dialog erreicht, wenn es um eine tiefe innere Begegnung in gegenseitiger Achtung und letzter Verbundenheit geht. Dies dürfte aber als Ziel des Dialogs im Religionsunterricht einer öffentlichen Schule schwerlich zu realisieren sein.«430 428 Ebd. 429 Ebd. 430 Ebd.

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Den letzten Abschnitt seiner Ausführungen leitet Adam mit dem Hinweis auf die gewiss bestehenden Gemeinsamkeiten und auf die ebenso gewiss bestehenden Unterschiede – »und zwar fundamentaler Art«431 – ein. Es sei zweifelsohne wichtig, Brücken des Verstehens und der gegenseitigen Achtung zwischen Menschen mit verschiedenen religiösen Überzeugungen zu bauen. Brücken seien auf Dauer aber nur dann tragfähig, wenn sie auf soliden Fundamenten erbaut sind, »auf Fundamenten, die – im Bild gesprochen – auf beiden Seiten des Flußufers aufruhen. Darum ist es ein erster und wesentlicher Schritt des Dialogs, daß ein jeder Partner sich selbst besser verstehen und seine eigene Herkunft angemessen zu reflektieren lernt.«432 Im Verlauf des Aufeinander-Zugehens liegt für Adam die Chance, die Vorstellung eines mit letztem Sinn erfüllten und gelingenden Lebens, wie sie in Jesu Botschaft enthalten ist, einzubringen. Dabei gehe es inhaltlich um die Freiheit, die das Evangelium meint – »jene Freiheit des Glaubens, die eine an Jesus Christus orientierte evangelische Religionspädagogik als Kriterium für jede echte Religion anzubieten hat, wenn denn gilt, daß Erziehung vom Evangelium her um der Freiheit des Menschen willen geschieht.«433 3.2.2.2 Toleranz bei R. Englert: Religiöse Erziehung als Erziehung zur Toleranz In dem von Konrad Hilpert und Jürgen Werbick im Jahre 1995 herausgegebenen Band »Mit den Anderen leben: Wege zur Toleranz«434 widmen sich Autoren aus unterschiedlichsten Forschungsbereichen verschiedenen Konfliktfeldern zur genannten Thematik. Toleranz als das »Erbe der Geschichte« wird dabei genauso berücksichtigt wie die Problematik einer »Anerkennung der Anderen« im Horizont systematisch-theologischer Fragestellungen und schließlich die Frage nach »Toleranz im Horizont der einen Welt«. Der katholische Religionspädagoge Rudolf Englert fragt in seinem Beitrag speziell danach, wie »[r]eligiöse Erziehung als Erziehung zur Toleranz« gestaltet werden kann435 und liefert somit eine wertvolle Ergänzung der ohnehin wenigen evangelischen Positionen zu dieser Thematik. Seine Überlegungen werden im Folgenden ausführlich dargelegt und nachvollzogen. Unter der einleitenden Überschrift »Toleranz und Pluralität – Die Toleranz als moderne Tugend« beschreibt Englert Toleranz als einen verbreiteten Begriff für eine herausragende kulturelle Leistung. Sie stehe »für einen beträchtlichen 431 Ebd. 432 G. Adam, Toleranz als Problem des Religionsunterrichts in religionspädagogischer Sicht, 156. 433 Ebd. 434 K. Hilpert/J. Werbick (Hg.), Mit den Anderen leben: Wege zur Toleranz. 435 R. Englert, Religiöse Erziehung als Erziehung zur Toleranz.

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Fortschritt sowohl in der Hermeneutik des Daseins als auch in der Kultivierung der Affekte; sie erscheint uns als die Erhebung über die Beschränktheit eines sich absolut setzenden Standpunktes, als Triumph über die destruktiven Neigungen, die uns in Anbetracht des Fremden und Andersartigen überkommen.«436 Die Bewegung der europäischen Aufklärung trug geistesgeschichtlich betrachtet maßgeblich zur Etablierung der Toleranz als bürgerlicher Tugend bei. In individualgeschichtlicher Hinsicht hält Englert fest, dass die Fähigkeit zur Toleranz an bestimmte kognitive und affektive Voraussetzungen gebunden ist, die im Prozess der Sozialisation von jeder heranwachsenden Generation und von jedem Kind neu ausgebildet werden müssen. Diese Perspektive beinhaltet, dass Toleranz als konkretes Bildungs- und Erziehungsziel einzuordnen und Toleranzfähigkeit durchaus durch gezielte Lernprozesse zu fördern ist. Somit stellt sich die weiterführende Frage, auf welche Weise heute zur Toleranz erzogen werden kann. Geht es um den Begriff der »Erziehung« muss man dabei stets die enorme Komplexität des Erziehungsauftrages, den Erwachsene gegenüber Heranwachsenden zu übernehmen haben, im Auge behalten. Auch Englert betont die vielfach ineinandergreifenden verschiedenen Komponenten. Demnach besagt die Enkulturationsfunktion, dass Erziehung die Kinder zu einem besonnenen Umgang mit ihrer »Natur« und ihren Bedürfnissen befähigen soll. Darüber hinaus soll die Begabungsfunktion der Erziehung das individuelle Potential an Entwicklungsmöglichkeiten allseitig entfalten helfen, während sie in ihrer Sozialisationsfunktion mit den Deutungsmustern und Verhaltenserwartungen der Gesellschaft vertraut machen soll. Dies soll – gemäß der Emanzipationsfunktion – in einer Weise geschehen, dass schließlich auch eine kritische Eigenständigkeit gegenüber dieser Gesellschaft behauptet werden kann. Die verschiedenen Funktionen der erzieherischen Aufgabe lassen sich nach Englert keineswegs immer konfliktfrei aufeinander abstimmen. Er bezeichnet Erziehung als eine ständige Gratwanderung zwischen den Bedürfnissen des Kindes und den Erfordernissen sozialen Lebens. Gleichzeitig sei sie die Einübung in die Kunst, das sich als Begleiterscheinung dieses Vermittlungsprozesses einstellende »Unbehagen in der Kultur« auszuhalten und die durch soziale Anforderungen auferlegten Versagungen produktiv zu kompensieren. »Die Toleranz ist ein besonders hoch entwickeltes Produkt dieser Kunst: das Befremdende auszuhalten und den Anderen nicht als störend zu beseitigen, sondern am Ende sogar von ihm zu lernen.«437 Die übergreifende Aufgabe von Erziehung ist es, die Ausbildung der personalen Kompetenzen zu unterstützen, die im Rahmen der gesellschaftlichen Le436 A. a. O., 161. 437 A. a. O., 162.

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bensformen, in die Kinder und Jugendliche hineinwachsen sollen, erforderlich sind. Für Englert steht außer Frage, dass es sich bei Toleranz um eine ebensolche personale Kompetenz handelt, ohne die sich die Lebensform in unserer Situation als Mitteleuropäer in der heutigen Zeit nicht aufrechterhalten ließe. Er geht so weit, sie sogar als »die essentielle Tugend der Moderne«438 zu bezeichnen. Jedoch ist ihm bewusst, dass Tugenden in ihrer Bedeutung vom jeweiligen historischen und gesellschaftlichen Kontext abhängig sind, innerhalb dessen bestimmte Haltungen als in besonderer Weise erwünscht gelten. »Der Tugendkodex eines staufischen Ritters sieht anders aus als der einer viktorianischen Ehefrau oder der eines preußischen Gardeoffiziers.«439 Aus diesem Grund müsse man sich ins Bewusstsein führen, dass Toleranz gegenüber Abweichungen von einem als orthodox geltenden Standpunkt in manchen Gesellschaften gerade nicht als Tugend, sondern als Schwäche angesehen wird. Im Gegensatz dazu ist Toleranz in einer durch den Pluralismus der Interessen und Überzeugungen geprägten Gesellschaft wie der unseren »eine soziale und politische Grundtugend. Sie ist die Tugend des Interessensausgleichs.«440 Selbst wenn mittlerweile eine Ernüchterung über die Wirkungsgeschichte der Aufklärung als programmatischer Kern der europäischen Moderne eingetreten sei, scheine die Wertschätzung der Toleranz durch die Zweifel an dieser Moderne und ihren Orientierungsleitbildern kaum berührt. Vielmehr lassen die sich verschärfenden Herausforderungen multikulturellen Zusammenlebens in unserer Gesellschaft die Tugend der Toleranz mehr denn je unentbehrlich erscheinen. So stellt auch Englert eindeutig fest: »Je pluralistischer das Erscheinungsbild einer Gesellschaft, desto stärker, so scheint es, sind deren Bürger zur Toleranz sowohl angehalten als auch auf sie angewiesen.« Von daher könne es keinen Zweifel daran geben, dass etwa die Schulen in der Erziehung zur Toleranz eine wichtige Aufgabe zu sehen haben. Nach Englerts Auffassung ist die Frage nach den politischen, sozialen und eben auch pädagogischen Voraussetzungen für einen achtungsvollen Umgang zwischen Menschen unterschiedlicher ethnischer, sozialer, kultureller und religiöser Prägung zu einem gesellschaftlichen Schlüsselproblem geworden, durch das sich auch Erziehung und Bildung herausfordern lassen müssen. Dabei stellt sich für ihn die Frage, inwiefern auch religiöse Erziehung und Bildung zur Bearbeitung dieses Schlüsselproblems beitragen kann und worin das Besondere dieses Beitrags liegen könnte. Im nun folgenden zweiten Abschnitt »Toleranz und Wahrheit – Die Toleranz in der Christentumsgeschichte« legt Englert zunächst dar, dass wohl die wenigsten Menschen aus der älteren und mittleren Generation »Toleranz« mit ihrer 438 Ebd. 439 Ebd. 440 Ebd.

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erfahrenen religiösen Erziehung assoziieren. Bevor deshalb bedacht wird, inwiefern religiöse Erziehung eine Erziehung zur Toleranz sein kann, sei der Frage nachzugehen, weshalb sie das so lange nicht war. Trotz des vom Christentum ausgehenden Impulses zur Universalisierung der Nächstenliebe taten sich die vom Christentum geprägten Gesellschaften Europas bis in die heutige Zeit hinein schwer mit der Toleranzforderung nach Achtung des Anderen: des anderen Menschen, der anderen Meinung, des anderen Verhaltens, der anderen Religion etc. Wie Englert betont war und ist diese Achtung nirgendwo einfach selbstverständlich, doch erhielt die Frage nach der Angemessenheit von Toleranz hier eine besondere Brisanz: »Darf man, wenn das Christentum als ›vera religio‹ und die Kirche als von Gott selbst erwähltes Instrument seiner Gnade den exklusiven Heilsweg darstellen, einen Menschen, der sich von diesem Heilsweg entfernt hat, sich selbst und seinem Verhängnis überlassen? Muß man ihn nicht ›retten‹ – und sei es gegen seinen erklärten eigenen Willen? Darf man, wo man Menschen von Mächten beherrscht sieht und den von der kirchlichen Lehre Abirrenden vom Teufel instrumentalisiert, solche Werkzeuge des Bösen frei reden und handeln lassen?«441 Eine solche Auffassung kenne nur eine Wahrheit und einen Weg, für sie ist Wahrheit eine Sache von Leben und Tod. Da darüber hinaus Wahrheit und Irrtum für einwandfrei beweisbar gehalten werden, kann es nach Englerts Einschätzung keine wirkliche Toleranz geben. Unter der Voraussetzung solcher Wahrheitsgewissheit könne der individuellen Freiheit kein größerer Raum zugestanden werden. Die Freiheit werde der Wahrheit geopfert. In der Geschichte musste einem »von einem solchen Wahrheitsmonopolismus beseelten Christentum […] die Toleranz abgerungen werden.«442 Entscheidend trugen dazu während der Aufklärungsbewegung die entsprechenden Traktate von Spinoza, Locke, Voltaire, Lessing u. a. bei. Da das Bild der »vera religio« hier auf den ihr vermeintlich innewohnenden Kern einer »natürlichen Religion« zurecht gerückt wird, verlieren die konfessionellen Ausdrucksgestalten die ihnen bis dahin zukommende Bedeutsamkeit, und der Spielraum vor allem für religiöse Toleranz wird somit größer. Im Zuge eines solchen Sinneswandels gelte auch die Freiheit nicht mehr als Rivalin, sondern geradezu als die Mutter der Wahrheit. Dazu zitiert Englert aus dem 1670 erschienenen »Tractatus Theologico-Politicus« von Spinoza: »Ich habe gezeigt, daß diese Freiheit [sc. die Freiheit zu denken, was man will, und zu sagen, was man denkt] nicht nur ohne Schaden für den Frieden des Staates, die Frömmigkeit und das Recht der höchsten Gewalten zugestanden werden kann, sondern daß sie vielmehr zuge-

441 A. a. O., 163. 442 A. a. O., 164.

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standen werden muß, um all dies zu erhalten.«443 Englert folgert daher, dass auch wahre Frömmigkeit Gedankenfreiheit voraussetzt. Doch die eben geschilderte Entwicklung wird durch die im 19. Jahrhundert in Deutschland entstehenden konfessionellen Milieus, insbesondere innerhalb des Katholizismus, in die entgegengesetzte Richtung umgekehrt. Englert nennt den »Syllabus errorum« von 1864 und den »Antimodernisteneid« von 1910 als deutlichsten Ausdruck für die »sondergesellschaftliche Einkapselung, in die sich der Katholizismus nun begibt.«444 Ein äußerst geringer Toleranzspielraum zeige sich durch die im Infallibilitätsdogma zum Ausdruck kommende Wahrheitsgewissheit und die im kirchlichen Antimodernismus durchschlagenden Berührungsängste: »Massive Sozialkontrolle durch das katholische Milieu, Bespitzelung, Denunziation, Exkommunikation innerhalb der Theologenschaft erzeugen eine Atmosphäre der Enge und Intoleranz.«445 Andere Lebensbereiche hingegen zeigen sich zunehmend von modernen Rationalitätsstilen und Lebensformen geprägt. Für Englert zeigt sich in dieser Phase der Christentumsgeschichte exemplarisch, was sich auch auf individualgeschichtlicher Ebene beobachten lässt: Wo verdrängte Realitäten rigide Strukturen der Abwehr erzwingen, sei es institutioneller oder psychischer Art, lässt sich Stabilität nur noch durch beständige Ausgrenzungen aufrechterhalten, und für Toleranz bleibt entsprechend wenig Raum. Noch mehr als durch ein überhöhtes Wahrheitsbewusstsein werde Toleranz da eingeschränkt, wo an »Wahrheiten« festgehalten werde, deren Plausibilität durch Erfahrung und Einsicht nicht mehr gedeckt sei.446 Die Entwicklungen in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts legen schließlich an den Tag, was Hans Urs von Balthasar mit der »Schleifung der Bastionen« umschreibt. Es wird deutlich, dass das Ertragen der »weltlichen Wahrheit« und »das Erdulden des Fremdseins dieser Wahrheit« zum christlichen Leben in der Welt gehört; die Toleranz der Kirche gegenüber den ihr fremden »Gestalten menschlicher Welterfahrung« ist »ein Teil ihres Kreuzes«447. Englert beschreibt die Problematik, die die verspätet begonnene und durch das Zweite Vatikanische Konzil sanktionierte Auseinandersetzung mit der Moderne mit sich bringt: Das der Kirche vermeintlich Fremde scheint sich in dieser selbst heimisch zu machen. »Es entwickelt sich eine Fülle neuer Interpretationen von Glaube, Kirche und Gesellschaft, die in ihrem Spannungsreichtum viele Gläubige 443 B. de Spinoza, Theologisch-politischer Traktat, 308; vgl. R. Englert, Religiöse Erziehung als Erziehung zu Toleranz, 164. 444 R. Englert, Religiöse Erziehung als Erziehung zu Toleranz, 164. 445 Ebd. 446 Vgl. a. a. O., 165. 447 H.U. v. Balthasar, Schleifung der Bastionen, 67 f.; vgl. R. Englert, Religiöse Erziehung als Erziehung zu Toleranz, 165.

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irritieren und sie die alten Formen und Gewissheiten einer ›auf dem festen Fels‹ in ihrer Einheitlichkeit gegründeten Kirche zurückwünschen lassen.«448 Auch die Kirche wird zunehmend vom Pluralismus der Formen und Meinungen ergriffen, was Polarisierungen insbesondere hinsichtlich der Frage nach der rechten Repräsentation der kirchlichen Communio (etwa bei der Einsetzung von Bischöfen oder bei der De-Missionierung von Theologen/innen) zur Folge hat. Wie Englert ausführt gehen die Auffassungen darüber, wie viel Dissens eine religiöse Gemeinschaft wie die Kirche aushalten könne, ohne dass es zu einer Diffusion ihrer kollektiven Identität kommt, wie viel Freiheit etwa Theologen/ innen bei ihren Versuchen der Glaubensinterpretation zugestanden werden könne, ohne dass die Gemeinsamkeit des Bekenntnisses gefährdet wird, stark auseinander. Somit wird der Umgang mit Pluralität zur entscheidenden Streitfrage. »Das Problem der Toleranz stellt sich am schärfsten nun in der innerkirchlichen Kommunikation.«449 Schließlich, so fährt Englert fort, führt die für die sogenannte Post-Moderne charakteristische Radikalisierung zu einer solchen Zunahme und Varianzbreite von Positionen, Ansichten, Stilen und Formen in allen Bereichen des Lebens, dass schon allein dadurch alles Definitive doktrinär, alles Absolute anachronistisch erscheine. Der katholische Gläubige traditioneller Prägung verband mit »Glauben« jedoch »die Einhausung in einen definitive Sicherheit bietenden, konsistent gefügten Kosmos unumstößlicher Wahrheiten«. Daher stelle sich die Frage, ob ein mehr als oberflächlicher Glaube heute nur noch in Gemeinschaften entschiedenen Christentums möglich sei – eines Christentums, das sich als Kontrast-Modell zu den zeitgenössischen Relativismen verstehe und in der Einheit des gemeinsamen Bekenntnisses den unüberbietbaren Ausdruck letzter Wahrheit sehe. »Oder ist es auch möglich, einen Stil des Glaubens auszubilden, der die Pluralität der Deutungen als Reichtum, die Individualisierung des Glaubens als Chance zu mystischer Vertiefung, den neu bewußt gewordenen konjekturalen Charakter religiöser Aussagen als Wiedergewinn der Transzendenz zu würdigen lernt? Der einen bisher in der Kirche nicht gekannten Toleranzspielraum auszuhalten vermag, ohne in religiöser Beliebigkeit zu enden?«450 Englert ist sicherlich uneingeschränkt zuzustimmen, wenn seiner Auffassung gemäß nur der zweite Weg in ein zukunftsfähiges Christentum führt. Jedoch impliziert dieser Weg, wie er weiter feststellt, eine höchst anspruchsvolle religiöse Bildungsaufgabe. Dieser gegebene Überblick über Toleranz in der Christentumsgeschichte zeigt für Englert, dass die verschiedenen Abschnitte der Christentumsgeschichte 448 R. Englert, Religiöse Erziehung als Erziehung zu Toleranz, 165. 449 Ebd. 450 A. a. O., 166.

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im Zusammenhang mit den von ihnen ausgebildeten Sozialformen unterschiedliche Wahrheitskonzepte hervorbringen, denen sehr unterschiedliche Toleranzspielräume korrespondieren. Er sieht die jeweiligen Konzepte religiöser Erziehung in enger Abhängigkeit davon – was sich sowohl für die einzelnen Abschnitte der Christentumsgeschichte als auch für den Stellenwert von Toleranz im Rahmen religiöser Erziehungsbemühungen sehr plastisch und detailreich ausführen ließe. Für Englert liegt es in dieser Konsequenz, dass religiöse Erziehung »über weite Strecken ihrer Geschichte auch Erziehung zur Unduldsamkeit gegenüber dem ›Irrtum‹ war.«451 Darüber hinaus folgt seines Erachtens daraus ebenfalls, dass religiöse Erziehung heute ein Ort der Ausbildung religiöser Toleranz sein kann und sein muss. Die Entgrenzung der Toleranz in der Post-Moderne ist Gegenstand des dritten Abschnitts »Toleranz und Normalität«. Hinsichtlich der gesellschaftlichen Entwicklung seit Mitte der 60er Jahre lässt sich feststellen, dass die traditionellen Sozialmilieus und mit ihnen ihre Konformitätsansprüche im Zerfallen begriffen sind und immer offener zurückgewiesen werden können. Damit einher geht eine Verschiebung des Wertebewusstseins »gerade der trendsetzenden Bevölkerungsschichten«452 und eine inner- und außerhalb der Kirche feststellbare (Wieder-) Aufwertung der Toleranz. An die Stelle überkommener Formen der Sozialkontrolle und der Restriktion individueller Lebenspläne tritt die individuelle Selbstverwirklichung, die selbst Toleranz beansprucht und zugleich auch großzügig gewährt – als das Recht eines jeden Individuums, »sein Leben zu leben«. »Mit der Pluralisierung der Lebensstile wird die Abweichung von der Normalität immer gefahrloser, die ›Normalität‹ selbst dissoziiert sich, schließlich wird die Abweichung von der bereits im Zerfall begriffenen ›Normalität‹ in bestimmten Milieus regelrecht zur neuen Norm. Individualisierungstendenzen verstärken sich, und es hat den Anschein, als werde jeder zum Sonderfall.«453 In einzelnen Fällen hat die Pluralisierung der Lebensformen auch eine Veränderung der inneren Stabilität personaler Identitäten zufolge. Englert beschreibt, dass eine grundlegende Neuorganisation der persönlichen bzw. familiären und beruflichen Situation bei vielen Menschen im Erwachsenenalter immer häufiger auftritt. Die Zahl von abrupten Übergängen zwischen verschiedenen biographischen Sequenzen in den Lebensläufen steigt, was die Ausbildung »tentativer« Identitäten und eine beständige »Identitätsarbeit« erforderlich macht. Englert spricht von verschiedenen Identitätskonfigurationen, die einander ablösen und daher Toleranz auch zu einem Gebot der Selbstachtung 451 Ebd. 452 A. a. O., 167. 453 Ebd.; vgl. auch A. Dubach/R.J. Campiche (Hg.), Jede(r) ein Sonderfall? Religion in der Schweiz; vgl. auch die Befunde unter 2.1 – 2.3.

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machen. Man müsse sie all jenen Ausprägungen eigener Lebensgestalten gegenüber zeigen, durch die man hindurchgegangen ist. Auf einer dritten Ebene entspricht der Pluralisierung der Lebensformen und der Fragmentarisierung der Biographien schließlich der Zusammenbruch verbindlicher Weltbilder und absoluter Maßstäbe. Ein multiperspektivisches Denken und das relativierende Hinterfragen aller möglichen Bedingtheiten müssen als charakteristische Kennzeichen unserer laut Englert eben deshalb auch als »Post-Moderne« bezeichneten Zeit gelten. Er beobachtet eine neue Konjunktur des Historismus und konstatiert eine »kontextuelle« Bescheidenheit der Theologien. Auch der relativismuskritische Jürgen Habermas räume ein, man könne nicht den »extramundanen Standpunkt eines entweltlichten Subjekts einnehmen […], um infallible und erschöpfende, also definite Aussagen zu machen.«454 Englert bewertet eine solche »De-Emphatisierung« des Wahrheitsproblems als außerordentlich förderlich für eine Einstellung der Toleranz. Wo von einem archimedischen Punkt aus konstruierte integrale Systeme nicht mehr möglich erscheinen, müsse man sich mit Geltungsansprüchen von mittlerer Reichweite und mit pragmatischen Rechtfertigungen zufriedengeben; wo einheitsstiftende Weltbilder ausgedient haben, müsse man auf die Komplementarität unterschiedlicher Verstehensansätze hoffen. Und wo man nach diesem Erkenntnismodell die Vielfalt der Perspektiven als Reichtum zu schätzen vermag, falle Toleranz nicht schwer. Demnach wird Toleranz gewissermaßen zur »zweiten Natur«455, wo Leben und Erkennen als ein Experiment mit wechselnden Arrangements begriffen werden. Für Englert vollendet sie sich im Bemühen um das Verständnis und die Anverwandlung des Fremden und wird durch den damit verbundenen Zugewinn an Erfahrung und Erkenntnis belohnt. Dies gelte für die Aufnahme von Döner Kebab in den Speiseplan genauso wie für die Organisation interreligiöser Symposien. Das in der Christentumsgeschichte bis vor wenigen Jahrzehnten noch dominierende Wahrheitsverständnis ließ in der Sache wenig erhoffen, wenn man sich dem fremden Wahrheitsanspruch stellte und Toleranz vor allem durch die Achtung vor der Person des Anderen geboten war. Doch Englert gibt sich davon überzeugt, dass der Ausgriff auf immer wieder neue Möglichkeiten für Menschen mit »tentativer Identität« und fluktuierenden Deutungsmustern zur Heuristik ihres experimentellen Ansatzes wesentlich dazu gehöre. »Solange die Begegnung mit dem Fremden nach eigenen Wünschen kontrolliert werden

454 J. Habermas, Die Einheit der Vernunft in der Vielheit ihrer Stimmen, 12; vgl. R. Englert, Religiöse Erziehung als Erziehung zu Toleranz, 168. 455 R. Englert, Religiöse Erziehung als Erziehung zu Toleranz, 168.

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kann, wird das Anderssein des Anderen hier nicht nur geduldet und in diesem Sinne eben als Kreuz erfahren, sondern als originelle Bereicherung goutiert.«456 Der Abschnitt »Toleranz und Begrenztheit – Gegenbewegungen zu einem radikalisierten Pluralismus« beschreibt allerdings im Folgenden andere Seiten der geschilderten Entwicklung. So stehen dumpfe Exzesse von Ausländerhass und Gruppenegoismus der hohen Kultur inter-nationaler, inter-kultureller und inter-religiöser Verständigung gegenüber. »Der und das Fremde« tritt innerhalb der gewohnten Lebenswelt als immer gegenwärtiger in Erscheinung, und es falle vielen Menschen zunehmend schwer, »das akademische Modell des Multiperspektivismus in den Niederungen alltäglichen Zusammenlebens«457 mitzuvollziehen. Oftmals werden die unverständliche Sprache, die abweichende Überzeugung, das andere Empfinden, der provozierende Habitus und die grelle Originalität, insbesondere in den großen Städten, weniger bereichernd als viel mehr bedrohlich erachtet, selbst wenn »Toleranz« als Wert im Grunde hoch geschätzt wird. Englert folgert daraus, dass der Mensch ganz offensichtlich keine grenzenlose Offenheit erträgt und verweist auf Durkheims Studie über den Selbstmord. Diese belegt, wie Entgrenzungsprozesse den Menschen gerade wegen des Reichtums der dadurch freigesetzten Möglichkeiten verunsichern und wie die diesen Vorgang häufig begleitenden anomischen Tendenzen den Lebenswillen des Menschen schwächen können.458 Nicht von ungefähr seien daher zur Zeit auf allen Ebenen »konzentrative Gegenbewegungen« zu den beschriebenen Öffnungstendenzen zu beobachten. Englert nennt beispielhaft die »Heiligung« der Familie als eines verlässlichen Basislagers für »Out-door«Abenteuer als Antwort auf die Pluralisierung der Lebensformen sowie – als Entgegnung zur Fragmentarisierung der Biographie – die vielgestaltige Suche nach im weitesten Sinne spirituellen Ankern, die von innen zusammenhalten sollen, was von außen betrachtet disparat ist. Dem Multiperspektivismus intellektueller Diskurse entspreche die Flucht in prä-moderne Gewissheitsstrukturen; am deutlichsten und zugleich am problematischsten sieht Englert die Fluchtbewegungen im gesellschaftlichen Bereich, »wo sich immer mehr Menschen dem politischen und ökonomischen Internationalismus durch die Unterstützung neuer Nationalismen und Regionalismen widersetzen.«459 So kann mit Englert gefragt werden, ob sich hier das Ende der Toleranz abzeichnet und mit ihr das Ende einer weiteren aufklärerischen Leitperspektive. Jedenfalls wird

456 Ebd. 457 A. a. O., 169. 458 Vgl. ebd.; Englert verweist dazu auf E. Durkheim, Le Suicide, Bd. 2, 272 – 288 und Bd. 3, 343 – 406. 459 R. Englert, Religiöse Erziehung als Erziehung zu Toleranz, 169.

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deutlich, dass eine Vielzahl von Menschen »mit der für Toleranz nötigen IchLeistung unter den gegenwärtigen Umständen überfordert«460 erscheinen. Dies wird auf zwei Ebenen erkennbar, die Englert im Folgenden darlegt. Dabei nennt er zuerst die der Hermeneutik des Daseins, insofern Toleranz impliziere, die eigene Wahrheit, die eigene Sinn-Sicht, das eigene Lebens-Konzept durch die fremde Wahrheit und die andere Lebensform anfragen zu lassen. Somit führt Toleranz zu einer Entgrenzung der Wahrheitsfrage und damit gleichzeitig zu ihrer immerwährenden Fortdauer. Denn wo immer wieder neue Wahrheiten zur Disposition stehen, ist die Wahrheitssuche prinzipiell unabschließbar. Als zweite Ebene, auf der sich die Überforderung manifestiert, beschreibt Englert die der Affektkultur, insofern Toleranz gebiete, heimatliche, regionale und nationale »Besitztümer« mit Fremden teilen zu lernen. Als Folge der Toleranz werden die Schwächung partikularer Identifikationen sowie eine Aufhebung exklusiver Verfügungsmöglichkeiten in Betracht gezogen. Damit dies ohne größere Konflikte vonstatten geht, scheint die Fähigkeit unabdingbar, eine sogenannte »post-konventionelle« Identität zu entwickeln – i. e. die Fähigkeit, »sich über die mit ihrer konkreten kontextuellen Eingebundenheit immer auch verbundenen Horizontverengungen ein Stück weit hinwegzusetzen.« Für Englert zeigt sich hier einmal mehr die große Abhängigkeit, die zwischen einer Bereitschaft zur Toleranz und Bildungs-Arbeit im umfassendsten Sinne des Wortes besteht. Er zieht sodann ein erstes Fazit, an dem sich die weiteren Überlegungen, wie heute zu Toleranz erzogen werden soll, orientieren können: »– Erziehung ist auf die Anforderungen bestimmter Lebensformen hin abzustimmen; in einer pluralistischen Gesellschaft wie der unseren stellt sich von daher die Aufgabe, zur Toleranz zu erziehen – als einer bürgerlichen Tugend, ohne die pluralistische Gesellschaften nicht funktionieren können. […] – Die Möglichkeit der Ausbildung von Toleranz war und ist in hohem Maße abhängig von den Wahrheitskonzepten, die von bestimmten epochalen wie gesellschaftlichen Lebensformen ausgeprägt wurden bzw. werden. Im Christentum herrschte lange Zeit ein Wahrheitsverständnis, unter dessen Einfluß Erziehung eher defensiv als offensiv angelegt wurde, das heißt in erster Linie als (unduldsame) Abwehr alles bedrohlich empfundenen Bösen und Fremden, nicht so sehr als Entfaltung aller humanen Möglichkeiten – in der (toleranten) Einstellung, daß nichts wahrhaft Menschliches einfach fremd bleiben dürfe. […] – Die Radikalisierung des Pluralismus in der Post-Moderne führt zu einer Dissoziierung der Normalität, in deren Folge nicht nur leichter tolerabel erscheint, was ›anders‹ ist, sondern – viel grundsätzlicher – ganz unklar wird, wer oder was gegenüber wem 460 A. a. O., 170.

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oder was überhaupt als ›anders‹ zu begreifen ist. […] Die Entgrenzung der Toleranz basiert hier auf einer Relativierung der Maßstäbe; die im Zusammenhang damit sich ergebenden massiven Orientierungsprobleme scheinen viele Menschen zu überfordern und führen zu machtvollen (›fundamentalistischen‹) Gegenbewegungen, die Pluralismus und Toleranz gefährden.«461

Im fünften und letzten Abschnitt seiner Ausführungen widmet sich Englert nun unter der Überschrift »Toleranz und Erziehung« dem Verhältnis von Toleranz und Streitbarkeit. Was bedeuten die wiedergegebenen Überlegungen nun für die Ausgangsfrage, wie Erziehung zur Toleranz heute zu leisten wäre und was religiöse Erziehung dazu beisteuern könnte? Als besonders wichtigen Punkt wirft Englert eine veränderte Perspektive auf Seiten der für Erziehung Verantwortlichen auf. Eltern, Lehrer/innen und professionelle Pädagogen/innen müssten heute nicht nur fragen, wie sie dazu beitragen können, die für eine pluralistische Gesellschaft lebenswichtige Tugend der Toleranz auszubilden, sondern auch, wie auf die mit der Ausweitung der Toleranz offensichtlich für viele verbundenen Überforderungen reagiert werden soll. Erzieherische Leitperspektiven müssten der Erfahrung Rechnung tragen, dass die mit »Toleranz« sich heute verbindende Universalisierung der Achtung vor dem Anderen viele Menschen offenbar überfordert und in eine regressive Gegenbewegung umzuschlagen droht, in der, so Englert, partikulare Wahrheiten und begrenzte Verfügungsrechte eine neue Konjunktur erleben. Von daher konstatiert Englert zwei Richtungen, in welche die pädagogischen und auch religionspädagogischen Überlegungen zu gehen hätten: Die erste Aufgabe besteht demnach darin, Kinder und Jugendliche zu befähigen, dem Anderen in Offenheit zu begegnen. Hierzu benennt Englert zwei Aspekte, einen hermeneutischen und einen personalen. Die Fähigkeit, mit der Vorläufigkeit von Wahrheiten und Lebensformen auskommen zu lernen, also mit deren Relativität zu rechnen, ohne deswegen ihre Verbindlichkeit für das eigene Leben preiszugeben, steht im Zentrum des ersten, hermeneutischen Aspekts. Nicht nur eine Annäherung zwischen den Kulturen, sondern auch eine Annäherung zwischen den Religionen muss wesentlich werden, da multikulturelles Zusammenleben auch inter-religiöses Verständnis voraussetzt. Als neue, wichtige Aufgabe für die religiöse Erziehung streicht Englert heraus, dass inter-religiöse Verständigung zu einem »integrierten Moment religiöser Erziehung und Bildung«462 werden muss. In den bisherigen Dialogbemühungen wurde hierbei deutlich, dass »das Modell dieser Verständigung nicht die synkretistische Verschmelzung oder die Beschränkung auf 461 R. Englert, Religiöse Erziehung als Erziehung zu Toleranz, 170 f.; vgl. dazu auch die Befunde unter 2.1 – 2.3. 462 A. a. O., 172.

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elementare Gemeinsamkeiten sein kann, sondern die Entdeckung der (oft überlagerten) Einheit in der (je eigene Dignität beanspruchenden) Vielheit.« Schon Ernst Troeltsch bearbeitete in seiner Schrift über die »Absolutheit des Christentums« eben diese Frage, wie persönliche Glaubensgewissheit angesichts unseres historischen Kontingenzbewusstseins noch möglich sei.463 Religionspädagogisch, so bringt es Englert auf den Punkt, gehe es darum, dass sich Kinder und Jugendliche in einer bestimmten religiösen Tradition beheimaten können, ohne damit gleichzeitig andere Traditionen und religiöse Ausdrucksformen abwerten zu müssen. Von besonderem Interesse für diese Untersuchung sind auch Englerts Erläuterungen zum zweiten, personalen Aspekt, bei dem es um die Ausbildung von Ich-Stärke geht. Dabei verweist er auf Alexander Mitscherlichs Aussagen, dass die für die Haltung der Toleranz erforderliche Ich-Stärke an Lernprozesse gebunden sei.464 Das Ausmaß an Toleranz, das ein Mensch aufzubringen in der Lage ist, sei also nicht durch invariable Gegebenheiten seiner Natur festgelegt, sondern es sei abhängig von kulturellen und besonders eben auch von erzieherischen Voraussetzungen. So kann religiöse Erziehung wesentlich zur Ausbildung jener Ich-Stärke beitragen, die als »personale Möglichkeitsbedingung von Toleranz«465 gelten muss. Für Englert trifft dies vor allem insofern zu, als Religion dem Menschen ermögliche, sich zu seiner Unsicherheit zu verhalten und mit jenen sozusagen »metaphysischen« Ängsten umgehen zu lernen, die sein Selbst-Vertrauen am tiefsten gefährdeten. »Religiöse Erziehung ist im Kern der Versuch, das menschliche Leben auf Gott zu beziehen, deutlich zu machen, dass die Sinnbeziehungen des einzelnen den Bezug suchen müssen auf ein sie Umgreifendes. Gerade diese zentrifugale Bewegung der Existenz erweist sich auch psychologisch als heilsame Befreiung von ängstlicher Selbstfixierung.«466 Nach Englerts Auffassung eröffnet die Einladung des Glaubens, aus dem Vertrauen auf den Gott Abrahams, Isaaks und Jesu Stand zu gewinnen und sich aus der Beziehung zu Gott als jemand zu verstehen, der »immer schon« und auch im Tode noch gehalten ist, so auch einen Weg zum Umgang mit Ängsten. Zwar ist der christliche Glaube in vielen biografischen Zeugnissen selbst als eine Quelle der Ängstigung dokumentiert, doch kann er sehr wohl auch eine große existentielle Ermutigung darstellen. »Mut zum Sein« hält Englert für eine ganz wesentliche Bedingung, damit ein Mensch die zur Toleranz anderer notwendige Ich-Stärke aufzubringen vermag. Dies begründet er erneut mit einem Verweis 463 Englert verweist auf E. Troeltsch, Die Absolutheit des Christentums; vgl. R. Englert, Religiöse Erziehung als Erziehung zu Toleranz, 172. 464 Englert verweist auf A. Mitscherlich, Toleranz – Überprüfung eines Begriffs, 7 – 34; vgl. R. Englert, Religiöse Erziehung als Erziehung zu Toleranz, 172. 465 A. a. O., 172 f. 466 A. a. O., 173.

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auf Mitscherlich, demzufolge die Unfähigkeit zur Toleranz immer auch mit unbewältigten Ängsten zu tun habe.467 Da Erziehung zur Toleranz allerdings noch in eine andere, in gewisser Weise gegenläufige Richtung zu gehen habe, sieht Englert die zweite Aufgabe in der Befähigung von Kindern und Jugendlichen, Partei zu ergreifen. Dabei erscheint es ihm zentral, das, was heute unter »Toleranz« faktisch verstanden und praktisch demonstriert wird, auch zu problematisieren und vor allem eine als Toleranz ausgegebene »Wurstigkeit«468 zu demaskieren. »Toleranz« kann vielfach als ein Euphemismus für den Verlust kritischen Bewusstseins und bürgerlicher Courage entlarvt werden. In einem solchen Falle handelt es sich bei »Toleranz« weniger um eine vitale Tugend als viel eher um eine Frucht tiefer Ratlosigkeit. Demgegenüber schließt echte Toleranz jedoch Unterscheidungsfähigkeit und eigene Optionen ein. Wie Englert betont gehört zur Ausbildung solcher Unterscheidungsfähigkeit wesentlich auch, dass man sich im erzieherischen Verhältnis nicht in die Haltung einer letztlich doch nicht konsequent realisierbaren totalen Offenheit begibt, sondern Identifikationen anbietet und Formen bewusster Lebensgestaltung zu vermitteln versucht. Anstatt sich hinter dem Habitus des »Laissez-faire« zu verstecken, muss die Herstellung von Verbindlichkeiten im Vordergrund stehen. Denn, so Englert weiter, wo erzieherisch verantwortliche Erwachsene aus Bequemlichkeit oder aus der Befürchtung heraus, Kinder dadurch einzuschränken, auf verbindliche Maßgaben weitgehend verzichten, entstehe offensichtlich gerade nicht befriedigend nutzbarer Freiheitsgewinn, sondern Orientierungsschwäche. Dies belege auch die häufige Verwendung des Schlagworts der »Orientierungswaisen« in der pädagogischen Diskussion über die »veränderte Kindheit«. »Kinder brauchen Vorgaben, so zeigt sich hier ; sie brauchen Erwachsene, an deren Standpunkten sie sich ›abarbeiten‹ können.«469 Wie durch viele Beispiele von Mitgliedern fundamentalistischer Vereinigungen deutlich wird, kann Orientierungsschwäche nicht als Wegbereiter von Toleranz gelten, sondern führt oftmals in die Zuflucht zu »dezisionistisch ergriffenen Gewißheiten.«470 Daher wird von Englert nicht nur die bornierte Intoleranz als Feind der Toleranz identifiziert, sondern auch die vermeintlich liberale Beliebigkeit. Standpunktlosigkeit und Desinteresse sind nicht mit Toleranz in Einklang zu bringen, sondern vielmehr als Indizien für ein Erschlaffen der praktischen Vernunft zu werten. Englert legt nach, indem er eine »Toleranz«, die keine Grenzen, weder Entschiedenheit noch Verweigerung und Tabus kennt, 467 Vgl. A. Mitscherlich, Toleranz – Überprüfung eines Begriffs, 15; vgl. R. Englert, Religiöse Erziehung als Erziehung zu Toleranz, 173. 468 R. Englert, Religiöse Erziehung als Erziehung zu Toleranz, 173. 469 A. a. O., 174. 470 Ebd.

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als »kaschierte[n] Indifferentismus« bezeichnet. »Im anspruchsvollen Sinne tolerant kann nur sein, wer auch zur präzisen Verweigerung von Einverständnis in der Lage ist; in diesem Sinne tolerant kann nur sein, wer auch über die Fähigkeit verfügt, ins Angesicht zu widerstehen.«471 Da sich nach Englerts Auffassung in unserer Gesellschaft die Anzahl derer, die sich darin gefallen und geradezu darin überbieten, nicht Anstoß zu nehmen, mit denjenigen, die unbelehrbar und unduldsam an ihren Vorurteilen kleben, die Waage halten dürfte, hält er begründetes Widerstehen für wesentlich risikoreicher und gegenwärtig wohl geforderter als die Verteidigung des »anything goes«. Ebenso wie Streitbarkeit ohne Toleranz zu Unfrieden führe, so führe Toleranz ohne Streitbarkeit zu Gleichgültigkeit. Zwar bezeichnet Englert seine Schlussfolgerungen als zunächst vielleicht paradox, doch ist ihre inhaltliche Parallelführung zu Schwöbels Thesen aus der systematischen Theologie, denen zufolge eine gefestigte Identität am Beginn jeder Toleranzfähigkeit steht, bemerkenswert. So habe Erziehung zur Toleranz auch etwas mit genauem Hin-Sehen (und eben nicht mit unbetroffenem Weg-Sehen) zu tun, mit Parteinahme (und eben nicht mit unengagierter Neutralität), sogar mit Streitbarkeit – und eben nicht mit ängstlicher Irenik. Englert macht deutlich: »Toleranz ist nicht einfach die billige ›Tugend‹ derer, die sich nicht involviert fühlen.«472 Um diese Überlegungen mit der zuvor eingeführten Terminologie zu vertiefen: Auch Englert bringt hier klar zum Ausdruck, dass abstrakte im Sinne von beliebiger und undifferenzierter Toleranz in einer Gesellschaft wie der unseren als ungenügend gelten muss und an ihrer statt Erziehungs- und Lernprozesse (wie die eben von Englert benannten) hin zu einer reflektierten Form von Toleranz anzustreben sind. Es bleibt an dieser Stelle hinzuzufügen, dass auch Bergers Forderung nach einem für die interreligiöse Auseinandersetzung wesentlichen Bewusstsein darüber, was zu den Kern- und Randstücken des eigenen Glaubens gehöre, einen elaborierten Standpunkt voraussetzt, der, mit Englerts Worten, weder »Hin-Sehen« noch »Parteinahme« und »Streitbarkeit« scheut. Englert sieht abschließend eine dreifache Aufgabe für die religiöse Erziehung. Zunächst wolle sie die Frage nach Gott offenhalten, die zugleich aber auch die Frage nach den letztverbindlichen Maßstäben des eigenen Lebens ist. Luthers Großer Katechismus macht deutlich, dass es sich dabei um die Frage handelt, woran ein Mensch sein Herz hängen will. In diesem Sinne unterstreicht Englert, dass religiöse Bildung, zum Beispiel als Religionsunterricht am Lernort »Schule«, ein Forum schafft, an dem die individuellen Maßstäbe von Menschlichkeit und gelingendem Leben zur Diskussion gestellt werden. »Religiöse Bildung hat gewissermaßen die Aufgabe, eine Streitkultur bezüglich ›letzter‹ 471 Ebd. 472 A. a. O., 175.

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Fragen zu entwickeln. Das heißt durchaus auch, die ›agonale‹ Komponente des Ringens um diese Fragen hervortreten zu lassen.«473 Darüber hinaus will religiöse Erziehung einen Gott entdecken helfen, dem Kinder und Jugendliche vertrauen können. Mit Gott soll ihnen eine Möglichkeit eröffnet werden, sich zum Grund ihres Daseins zu verhalten und aus dieser – wie Englert sagt unter dem Einfluss religiöser Traditionen gestalteten – Beziehung als der eigentlichen Quelle ihres »Ansehens« und ihrer Ich-Identität zu schöpfen. So könne der Gott der jüdisch-christlichen Tradition zur letzten Appellationsinstanz des Menschen werden, die es ihm ermögliche, das, was in einer bestimmten Gruppe oder Gesellschaft als richtig und gerecht gilt, aus der Aura seiner selbstverständlichen Geltung zu nehmen und auf Distanz zu bringen. Englert zeigt sich davon überzeugt, dass daraus ein gefühlter Aufruf folgen kann, sich gegenüber manchem, was um einen herum geschieht, auch dann kritisch oder sogar streitbar zu verhalten, wenn andere »kein Problem« sehen oder »aus Toleranzgründen« keinen Widerspruch anmelden. Des Weiteren will religiöse Erziehung verdeutlichen, dass die Beziehung zu Gott den Menschen in die Pflicht nimmt. »Soweit sie an der jüdisch-christlichen Tradition orientiert ist, will sie zeigen, daß ›sich für Gott verfügbar machen‹ heißt, sich tendenziell universal involviert zu fühlen; seine Empathie und seine Solidarität nicht auf eine partikulare Gruppe wie auch immer verwandter Menschen zu beschränken, sondern allen zukommen zu lassen, die einem, wo und wie auch immer, zu ›Nächsten‹ werden.«474 Toleranz jenen gegenüber, die für solche »Nächsten-Opfer« verantwortlich sind, werde durch eben diese Parteilichkeit gerade für den in seiner Menschlichkeit irgendwie gefährdeten Nächsten unmöglich. Englert argumentiert, dass der Christ – gerade weil er im Vertrauen auf einen barmherzigen Gott vergeben können sollte – Toleranz auch einmal versagen kann, ohne dass er damit einen anderen Menschen gleich verfehlen müsste. Englert warnt allerdings sogleich nachdrücklich davor, in religiöser Erziehung ein Patentrezept für die Ausbildung einer bürgerlichen Tugend wie der Toleranz zu sehen. In seinen Augen ist das, was hier als Wirkung religiöser Erziehung erhofft wird, »eigentlich bloß das Nebenprodukt eines von ganz anderen Intentionen angetriebenen Bemühens.« Unbedingte Beachtung verdient seine Annahme, wer den vermeintlich direkteren Weg beschreiten wolle und religiöse Erziehung unmittelbar für ethische oder therapeutische Ziele zu beanspruchen versuche, werde mit dem religiösen Gehalt solcher Erziehung schließlich auch die von ihr erwünschten Wirkungen zunichte machen. Dieser

473 Ebd. 474 A. a. O., 175 f.

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Aspekt darf bei aller Bemühung um eine Erziehung zur Toleranzfähigkeit nicht aus den Augen verloren werden. Englert beschließt seinen Beitrag, indem er in Erinnerung ruft, dass Toleranz nicht lediglich rhetorisch beschworen werden und sich Erziehung zur Toleranz nicht mit dem abstrakten Lob einer hohen Tugend begnügen darf. Mit der Feststellung, sie müsse, wenn sie Wirkung zeitigen soll, vielmehr in eine Lebensform eingebettet sein, wird nun die Bedeutsamkeit des sogenannten Lernens am Modell bzw. am Erfolg475 in den Vordergrund gerückt: Nur wenn Erwachsene selbst Toleranz beispielhaft vorleben (i. e. Lernen am Modell) und tolerantes Verhalten immer wieder positiv verstärkt und sozial »belohnt« wird (i. e. Lernen am Erfolg), führt das Postulat, Heranwachsende sollten Toleranz zeigen, nicht zu einem Gefühl der Überforderung. Englert spricht von einem »Milieu ethischer Aufmerksamkeit«, das es zu schaffen gelte, »in dem etwa alltägliche Beispiele tatsächlicher und sogenannter Toleranz des Bedenkens für wert befunden werden.«476 Er zeigt sich davon überzeugt, dass »[a]uch für die Erziehung zur Toleranz gilt: Nichts ist so überzeugend wie das gelebte Beispiel. Kein theoretisches Argument gibt so sehr zu denken wie ein praktisches Modell wirklicher Toleranz, das am vielleicht ganz unspektakulären, aber plastischen Einzelfall zeigt, was es heißt, dem Anderen in Offenheit zu begegnen.«477 Sollen nun Schlüsse aus Englerts wiedergegebenen Überlegungen hinsichtlich religiöser Erziehung als Erziehung zur Toleranz gezogen werden, so bleibt zusammenfassend festzuhalten: Eine Erziehung zur Toleranz ist in einer Gesellschaft wie der unseren so wichtig wie kaum zuvor. Damit diese angesichts der Vielfalt und Vorläufigkeit von Wahrheiten und Lebensformen nicht als Überforderung empfunden wird, muss es religionspädagogisch darum gehen, dass sich Kinder und Jugendliche in einer bestimmten religiösen Tradition beheimaten können, ohne damit gleichzeitig andere Traditionen und religiöse Ausdrucksformen abwerten zu müssen. Durch eben diese Beheimatung soll einer Orientierungsschwäche vorgebeugt und Kinder und Jugendliche dazu befähigt werden, Partei zu ergreifen. Bei allen Umsetzungsbemühungen darf religiöse Erziehung allerdings nicht nur rhetorisch agieren, sondern muss sich über die schwerlich zu überschätzende Vorbildfunktion der Lehrkräfte im Klaren sein. Als religionspädagogische Arbeitsfelder für eine Erziehung zur Toleranz werden hier also in erster Linie die Beheimatung der Kinder und Jugendlichen in einer religiösen Tradition und die Vorbildfunktion der Lehrkräfte deutlich 475 Vgl. dazu aus der (Lern-) Psychologie die Veröffentlichungen von Albert Bandura, wie etwa A. Bandura (Hg.), Lernen am Modell: Ansätze zu einer sozial-kognitiven Lerntheorie. 476 R. Englert, Religiöse Erziehung als Erziehung zu Toleranz, 176. 477 Ebd.

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markiert. Anstelle vermeintlich aufgeklärter, weltanschaulich relativierender »anything goes«-Ansätze scheinen demnach Mut zu Konfessionalität sowie neue Schwerpunkte in der Lehrer- Aus- und –Fortbildung den Weg einer religiösen Erziehung als Erziehung zur Toleranz zu weisen. 3.2.2.3 Toleranz bei K.E. Nipkow: Wahrheit und Toleranz – theologische Präzisierungen zum Kern des Glaubensdialogs und interreligiösen Lernens In seinem 2010 erschienenen Werk »Gott in Bedrängnis? Zur Zukunftsfähigkeit von Religionsunterricht, Schule und Kirche« zieht Karl Ernst Nipkow unter dem Titel »Wahrheit und Toleranz – theologische Präzisierungen zum Kern des Glaubensdialogs und interreligiösen Lernens«478 die Summe seiner Beschäftigung mit nichtchristlichen Religionen im Religionsunterricht. Die Vergegenwärtigung der verschiedenen Stationen seiner ein halbes Jahrhundert umfassenden Arbeit soll im Folgenden nachgezeichnet werden. Den Anfang markiert Nipkows erster religionspädagogischer Aufsatz aus dem Jahr 1961. Sowohl durch neue Richtlinien in Nordrhein-Westfalen, bei denen für Nipkow der didaktische Zusammenhang von Weltreligionen, Mission und Ökumene zu kurz kam, als auch durch das große Interesse von Seiten der Schülerschaft sah sich der damals noch als Lehrer tätige Religionspädagoge dazu veranlasst, sich mit den »Weltreligionen im Religionsunterricht der Oberstufe« auseinanderzusetzen. So schildert er mit Blick auf die Schüler folgende Beobachtung: »[D]er nachdenkende Teil spürt, dass in den nichtchristlichen Religionen nicht irgendwelche reizvollen, letztlich unverbindlichen Gedankensysteme dem christlichen Glauben gegenübertreten, sondern lebendige Glaubens- und Lebenshaltungen und damit Herausforderungen der eigenen Glaubensexistenz.«479

Schon damals formulierte Nipkow das Interesse der Schüler in einer Richtung, die nach seinen eigenen Aussagen bereits die bleibend wichtigste Antwort für die Wahrheitsfrage enthielt. Mit einem neueren EKD-Text fasst er seine Sicht in Worte, wenn er schreibt: »Die Wahrheit einer Religion ist ›nicht zuerst eine in Sätzen formulierte Richtigkeit‹480 […]«. Sie bestehe nicht primär in den Lehrsätzen kirchlicher Lehre (doctrina) und theologischer »Gedankensysteme«, sondern existiere vielmehr in der »Glaubensexistenz« von Menschen. Daher nennt Nipkow in seinem frühen Aufsatz folgendes Bildungsziel: 478 K.E. Nipkow, Wahrheit und Toleranz – theologische Präzisierungen zum Kern des Glaubensdialogs und interreligiösen Lernens. 479 K.E. Nipkow, Weltreligionen im Religionsunterricht der Oberstufe, 151. 480 Vgl. dazu Kirchenamt der EKD, Christlicher Glaube und nichtchristliche Religionen, 14.

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Es sei »immer darauf zu sehen, wo die fremde Religion echte Fragen an die eigene hat und wo allerdings auch umgekehrt im Namen Christi zurückgefragt werden muss; denn so, als ein gegenseitiges offenes Befragen und als ein Hören auf die Kritik, die vom Evangelium gegen jede Religion, auch gegen die eigene ergeht, und nicht als ein Vergleichen von überlegener Warte soll ja die Besprechung im Unterricht durchgeführt werden.«481 In diesem Sinne, so sei hier bereits angemerkt, kann die für den dritten Punkt der systematischen Toleranzbegründung zentrale dialogische Auseinandersetzung (dialogical engagement nach Berger) als Konkretisierung und Weiterführung von Nipkows »gegenseitige[m] offene[n] Befragen« verstanden werden. Entsprechendes gilt ferner für das »Hören auf die Kritik«, die vom Evangelium gegen jede Religion, auch gegen die eigene ergeht. – Es ist der erste Schritt auf dem Weg zu dem bei allen am Dialog Beteiligten angemahnten Bewusstwerden über die Kern- und Randstücke der eigenen Glaubenstradition. In Nipkows Formulierung fällt weiter die Gegenseitigkeit im Verhältnis zwischen der eigenen und den anderen Religionen auf, darüber hinaus die Ablehnung eines wertenden Vergleichs von einem überlegenen Standpunkt aus. Eben diese Gegenseitigkeit, die sich terminologisch in Nipkows späterer Formel von einer Hermeneutik und Didaktik der »wechselseitigen Anerkennung in Wahrhaftigkeit«482 wiederfindet, »öffnet einen Raum für faire ›Kritik‹, die einen Grund angeben kann, das ›Evangelium‹ und den ›Namen Christi‹«483. Dieser Grund, so Nipkow, sei jedoch kein Besitz. Der Abschnitt »Die Religionen und die Wahrheit« der Verlautbarung der Kammer der EKD für Theologie 2003 wird von Nipkow im Zuge der Bilanz seiner Beschäftigung mit nichtchristlichen Religionen im Religionsunterricht als nächstes genannt. Eine Wahrheit als christlicher oder kirchlicher Besitz wäre »ein Anspruch, über den die glaubenden Menschen in ihrer subjektiven Aneignung der Wahrheit verfügen und den sie mit dem Aufgebot weltlicher Mittel gegen andere Religionen und Menschen, die ihnen anhängen, wenden. […] Die Wahrheit als Ereignis aber wird niemals ein menschlicher Besitz.«484 Dabei nehmen das Substantiv »Ereignis« und das Verbum »sich ereignen«, die mehrfach kursiviert wiederkehren, nach Nipkows Einschätzung die Rolle von Schlüsselkategorien im EKD-Text ein. Er bezeichnet das damit Gemeinte auch als »Widerfahrnis«, womit noch deutlicher auf eine offenbar werdende Wahrheitserfahrung von außen verwiesen werden könne. Diese sei »nicht machbar, planbar, experimentell wiederholbar, erzwingbar. Verglichen mit dem Wahr481 K.E. Nipkow, Weltreligionen im Religionsunterricht der Oberstufe, 160. 482 Vgl. K.E. Nipkow, Bildung in einer pluralen Welt. 483 K.E. Nipkow, Wahrheit und Toleranz – theologische Präzisierungen zum Kern des Glaubensdialogs und interreligiösen Lernens, 254. 484 Kirchenamt der EKD, Christlicher Glaube und nichtchristliche Religionen, 14 f.

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heitsbegriff in der Methodologie der Naturwissenschaften gibt es offensichtlich mehrere berechtigte Weisen, von ›wahr‹ zu sprechen.«485 Nipkows Rede von einem Ereignis bzw. Widerfahrnis der Wahrheit steht augenscheinlich in einem engen theologischen Zusammenhang mit dem zweiten Schritt der zuvor entwickelten systematischen Toleranzbegründung, insbesondere mit der darin enthaltenen Rede vom Zeugnis der Angehörigen anderer Religionen, deren Glaubensüberzeugungen ebenso nicht das Produkt menschlicher Erkenntnisbemühung, sondern einer transzendenten Erschließungserfahrung sind.486 Es stellt sich für Nipkow nun die Frage, was für ein Verständnis von Toleranz aus dem theologischen Ausgangspunkt erwächst, der im EKD-Text zuvor durch die getroffene Leitdifferenz »zwischen dem, was Gott tut, und dem, was Menschen tun«, gegeben ist, der folglich »allen Versuchen des Menschen, ›wie Gott zu sein‹, entgegen steht«, die Kirchen von einem »Absolutheitsanspruch« entlastet und »in der freien Selbstvergegenwärtigung Gottes« seinen Grund hat. Nipkow nennt sie die fundamental-theologisch begründete prinzipielle evangelische Toleranz. Es sind erneut Parallelen zum ersten und davon abhängigen zweiten Schritt der systematischen Toleranzbegründung festzustellen, wenn Nipkow weiter folgert, dass Christen aus der Wurzel ihres Glaubens, mit anderen Worten prinzipiell tolerant sein müssen – mit der Konsequenz, »dass sie Andersgläubigen formal dieselbe Letztbegründung ihres Glaubens zuerkennen, wie sie für den eigenen Glauben oben beschrieben und beansprucht wird.«487 Auch wenn diese Erkenntnis im EKD-Text nicht so klar gefolgert wird, erscheint es für Nipkow folgerichtig als unausweichlich. Als Crux des EKD-Textes lässt sich seine durchgehende Denkweise von dem Ereignis der Wahrheit auf christlicher Seite aus identifizieren. Nipkow bemängelt das Fehlen der positiven Einräumung derselben ereignisbezogenen Glaubensentstehung auf der anderen Seite. So heißt es, »dass andere Religionen aufgrund anderer religiöser Erfahrungen Jesus Christus nicht als Ereignis der Wahrheit anzuerkennen vermögen, in dem sich die Rettung der ganzen Welt vollzogen hat und vollzieht«.488 Nipkow stellt treffend fest, dass auch diese Aussage von der eigenen Gewissheit her gedacht ist. Allerdings ist in der Wendung »aufgrund anderer religiöser Erfahrungen« aber eine in der Logik eines Glaubens-»Ereignisses« liegende Analogie eingeschlossen. Es handelt sich dabei sicherlich nur um eine formale, strukturelle Analogie, welche jedoch darum nicht weniger gewichtig ist. Nipkow fügt hinzu, dass auch 485 K.E. Nipkow, Wahrheit und Toleranz – theologische Präzisierungen zum Kern des Glaubensdialogs und interreligiösen Lernens, 255. 486 Vgl. dazu in dieser Untersuchung 3.1.2.5: Der Versuch einer systematischen Toleranzbegründung. 487 K.E. Nipkow, Wahrheit und Toleranz – theologische Präzisierungen zum Kern des Glaubensdialogs und interreligiösen Lernens, 255. 488 Kirchenamt der EKD, Christlicher Glaube und nichtchristliche Religionen, 14.

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der Gottesglaube im Judentum und Islam auf erfahrene Wahrheits-»Ereignisse« zurückgehe. Mit der angesichts der wiedergegebenen Inhalte an dieser Stelle sehr begründeten Frage, weshalb diese fundamentale Analogie weder klar zugegeben noch erörtert wird, führt Nipkow seine Überlegungen fort. »Sollte es von vornherein von Gott her nur das Ereignis gegeben haben, das zum Christentum geführt hat?«489 Dies entlarvt Nipkow argumentativ scharfsinnig und theologisch konsequent weiterdenkend als Zirkelschluss: »Weil wir Christen dieses einmaligen Ereignisses teilhaftig geworden sind und es als ein solches einzigartiges glauben, kann es daneben keinerlei andere ereignisförmige Selbstmitteilungen Gottes geben. Ist aber dann die Unterscheidung zwischen Gottes freiem Handeln und dem der Menschen (siehe die obige Leitdifferenz) strikt beibehalten? In den Begriff ›Ereignis‹ wäre vielmehr jene besondere inhaltliche Erfahrung eingetragen, die jenes Offenbarungsereignis in Jesus gedeutet bzw. interpretiert hat, und diese Deutung wäre dann der Grund für die Verweigerung eines an sich formal vergleichbaren Vorgangs in anderen Religionen wie den genannten.«490

In der Tat scheint es so zu sein, wenn es im EKD-Text von den anderen Religionen heißt, dass es fraglich sei, »ob ihre besonderen religiösen Erfahrungen sie tatsächlich zur Offenheit für das Ereignis der Wahrheit, die mit Recht Gottes Wahrheit zu heißen verdient, befähigen.«491 Soll damit zum Ausdruck gebracht werden, dass nur die christliche Wahrheit »mit Recht Gottes Wahrheit zu heißen verdient«, dass Andersgläubigen eine eigene, ihnen als wahre Gewissheit zuteil werdende Wahrheitserfahrung ihres Glaubens abgesprochen wird? Sofern jene anderen sich ähnlich voll Glaubensgewissheit von Gott gemeint und beschenkt wissen, kann Nipkow nur in aller Deutlichkeit zugestimmt werden, wenn er dies als empirisch schwerlich möglich bezeichnet. Es ist also die Auslegung bzw. Deutung der eigenen Gotteserfahrung, die den EKD-Text dazu veranlasst, der Auslegung bzw. Deutung der anderen zu widersprechen, dass Gott es ist, der von sich aus eine Beziehung zu ihnen gestiftet hat. Gegensatz und Abgrenzung betreffen somit den von Nipkow nachdrücklich als legitim eingestuften Streit der Deutungen. Der EKD-Text spricht zunächst den durch den Streit von Deutungen entstehenden inhaltlichen Gegensatz gegenüber dem Judentum an. »Die bleibend schmerzende Urform dieses Gegensatzes ist die Ablehnung Jesu Christi als entscheidendes, Menschen errettendes Ereignis der Wahrheit im Judentum.«492 489 K.E. Nipkow, Wahrheit und Toleranz – theologische Präzisierungen zum Kern des Glaubensdialogs und interreligiösen Lernens, 255. 490 A. a. O., 255 f. 491 Kirchenamt der EKD, Christlicher Glaube und nichtchristliche Religionen, 15. 492 A. a. O., 14.

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Mit Nipkow ist jedoch davon auszugehen, dass sicherlich auch den Verfassern bewusst ist, was schwerlich übersehen werden kann: dass das alte Gottesvolk Offenbarungen desselben Gottes empfangen hat, aber eben nicht die Offenbarung, die für Christen als »entscheidendes« Ereignis gilt. Der Rede vom »Ereignis der Wahrheit« werden nach und nach nähere inhaltliche Bestimmungen auf der Ebene von Deutungen hinzugefügt, wenn es um das »errettende« Ereignis geht. Ob diese Wendung im Umkehrschluss einschließt, dass die Juden vom rettenden Heil ausgeschlossen sind, bleibt offen. Auch wird kein Zugeständnis an andere Religionen gemacht, auf die dann ohne Nennung einer besonderen (etwa des Islam) lediglich allgemein Bezug genommen wird, dass sie einen Teil von Wahrheit als Heil empfangen haben. Es gehe nicht an, dass man »die Wahrheit des Christusgeschehens zu einer Teilwahrheit ermäßigt. Ein bisschen Wahrheit ist gar keine Wahrheit.«493 Nach Nipkows Einschätzung kann als Zwischenergebnis festgehalten werden, dass der Abschnitt »Die Religionen und die Wahrheit« der EKD-Verlautbarung seine eindrucksvolle Stärke darin hat, dass mit dem Blick auf den Ereignischarakter der Wahrheit Gottes die radikale Unverfügbarkeit von Gottes Handeln geltend gemacht wird, wie dies auch der erste Absatz der genannten systematischen Toleranzbegründung als Grundeinsicht und -voraussetzung für alles weitere Handeln betont. Hinsichtlich des Judentums findet dies eine Entsprechung im ersten Gebot des Dekalogs in der Hebräischen Bibel und ähnelt dem uneingeschränkten Glauben an Gottes Unverfügbarkeit im Islam. Allerdings ist der auf den Ereignischarakter gelegte Nachdruck nicht dazu in der Lage, die Kontroversen in den menschlichen Auslegungen bzw. Deutungen der jeweiligen Erfahrungen im Judentum, Christentum und Islam und damit auch ihrer lehrmäßigen Gestaltgebung aufzuheben. Nipkow folgert daher, dass man für das Toleranzproblem zwischen zwei theologischen Ebenen unterscheiden muss: »Sie betreffen a) die der ereignisförmigen Konstitution von Religion und b) die der lehrmäßigen Auslegung bzw. Deutung.«494 Auf der ersten Ebene zum selben Ergebnis kommt Christoph Schwöbel495, auf dessen aufschlussreiche Erkenntnisse im Verlauf dieser Untersuchung schon mehrfach verwiesen wurde und die Nipkow in einer ausgedehnten Anmerkung aufnimmt. Als Grundlage für die entwickelte systematische Toleranzbegründung dient die von Schwöbel formulierte These, dass Christen aus Einsicht in die Konstitution des eigenen Glaubens annehmen müssen, »dass auch die Glau493 A. a. O., 14. 494 K.E. Nipkow, Wahrheit und Toleranz – theologische Präzisierungen zum Kern des Glaubensdialogs und interreligiösen Lernens, 256. 495 Vgl. Chr. Schwöbel, Toleranz – eine unmögliche Tugend für religiöse Gemeinschaften?

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bensgewissheit anderer Menschen in derselben Weise für sie konstituiert ist. […] Daraus folgt, dass die Glaubensgewissheiten anderer Menschen unbedingt zu tolerieren sind, auch wenn sie dem Inhalt der eigenen Gewissheit, so wie er von mir verstanden und kommuniziert werden kann, ganz und gar widersprechen.«496 Während Nipkow von »prinzipieller« Toleranz spricht, gründet für Schwöbel die von ihm »unbedingt« genannte Toleranz »in der Unverfügbarkeit des transzendenten Gottes gegenüber allen immanenten Verfügungsversuchen gegenüber der einzelnen Person und Gemeinschaft.«497 Nipkow stellt hinsichtlich der zweiten Ebene fest, dass Schwöbel diese zwar nicht so pointiert abhebt, jedoch vom »Inhalt« oder den »Inhalten« des Glaubens spricht498, um von ihnen her die verlangte unbedingte Toleranz zu stützen und zu entfalten. Schwöbel und Nipkow sehen die »Bedrohung der Religion durch sich selbst, die immer dann auftritt, wenn die bedingten religiösen Vollzüge und Gegenstände – sei es als heilige Schriften, als Dogmen, als kultischer Vollzug, als ethische Forderung oder als religiöse Erfahrung – an die Stelle ihres unbedingten und unverfügbaren Grundes treten.«499 Nipkow macht deutlich, dass für ihn allerdings auch alle Lehrstücke der Kirche, auch die christologischen Dogmen, zu den »bedingten« »Gegenständen« gehören, »nämlich als ›lehrmäßige Auslegungen bzw. Deutungen‹ von Gottes Selbstoffenbarungen und damit als ›Werk‹ von uns Menschen, um deren Wahrheitsansprüche auf der zweiten Ebene der Streit gehen darf und muss.«500 Erinnern wir uns an Bergers Ausführungen zu den Formen und Bedingungen des Dialogs, so ist davon auszugehen, dass insbesondere mit Blick auf Bergers zweitgenannte Bedingung hinsichtlich der unbedingten Kern- und der bedingten Randstücke des Glaubens bzw. der Glaubenstraditionen eine deutliche inhaltliche Übereinstimmung an dieser Stelle festzuhalten ist. Nach seinem Verweis auf die Ergebnisse von Schwöbels Studie vertieft Nipkow die Unterscheidung zwischen den zwei theologischen Ebenen, die der ereignisförmigen Konstitution von Religion auf der einen und die der lehrmäßigen Auslegung bzw. Deutung auf der anderen. Hinsichtlich der ersteren führt Nipkow das Judentum, das Christentum und den Islam an, welche unbestritten als Religionen gelten, die – anders als die asiatischen Religionen – an einen in der Geschichte als Heilsgeschichte handelnden Gott glauben. Israel erfuhr ihn und sein sich ereignendes Handeln zuerst. In der späteren Geschichte Israels ereignete sich sodann die Christusoffenbarung in dem Juden Jesus von Nazareth. 496 497 498 499 500

A. a. O., 27. A. a. O., 24. Vgl. a. a. O., 30. A. a. O., 25. K.E. Nipkow, Wahrheit und Toleranz – theologische Präzisierungen zum Kern des Glaubensdialogs und interreligiösen Lernens, 257.

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Wegen der (nach seiner Selbstauslegung) abschließenden Offenbarung Gottes an Mohammed im Koran sah sich der Islam ebenfalls in dieser geschichtlichen Tradition. »Wenn dieser Gott handelt und spricht, so sind das Ereignisse mit – für die jeweils Gläubigen – offenbarendem Wahrheitsgehalt.«501 Diese erste, konstitutive Ebene wurde von Nipkow zuvor die fundamentaltheologische genannt. Er wendet sich dem EKD-Text zu, dessen Rede vom Ereignischarakter der Wahrheit neben der Christusoffenbarung schon für Israel mit der Exoduserfahrung, der Sinaioffenbarung und dem Sprechen Gottes durch den Mund der biblischen Propheten zutrifft. Ob Mohammed eine Offenbarung empfing und unter die Propheten gezählt werden kann, ist umstritten. Da sie jedoch Züge mit der Berufung biblischer Propheten teilt, gibt bereits die überlieferte Geschichte von der ersten ihn überwältigenden Berufungsoffenbarung zu denken. Verneint man ihren Charakter als Offenbarung, ist der Islam Nipkows Erläuterungen zufolge »bereits auf der fundamentaltheologischen Ebene eine religiöse Selbstanmaßung.«502 Ist dies der Fall, greift auch Nipkows obige Folgerung nicht, gegenüber dem Islam wegen des Ereignischarakters der »Offenbarung« des Korans tolerant sein zu müssen: »Dann braucht man den Islam schon hinsichtlich seiner Konstitution nicht ernst zu nehmen. Wenn man dagegen den Islam auf dieser ersten, konstituierenden Ebene einschlösse und das Konstitutionsgeschehen so anerkennen würde, wie man es für sich selbst beansprucht, wäre für die Toleranzfrage eine andere Basis gegeben, ohne dass dies die Anerkennung aller Selbstauslegungen und Deutungen auf muslimischer Seite einschließen würde.«503 Die zweite Ebene der Auslegungen und Interpretationen ist es, die laut Nipkow bei allen drei Religionen geschichtsmächtig geworden ist. Beabsichtigt man mit den EKD-Leitlinien, die Konflikte zu überwinden, müssen Kriterien auf dieser von Nipkow herausgearbeiteten zweiten Ebene aus dem Raum der theologischen Selbstauslegung hinzutreten, was dann auch der Fall ist. Allerdings sind diese Auslegungen stets geschichtlich bedingte menschliche Deutungen, also ein Werk von Menschen, die an die einzuhaltende Leitdifferenz mahnen. Für Nipkow steht fest, dass die an sich richtige Aussage, die »Lehre« der Kirche und andere Auslegungstraditionen seien »nicht die wahre Religion«, dann aber nicht vor der zur Kernlehre der Kirche gewordenen Deutung des historischen Jesus von Nazareth als des »Messias«, »Christus«, Gottes »Sohn«, Verkörperung der »Menschwerdung« Gottes halt machen könne. Daher könne auch der betont »christologisch« geführte Argumentationsgang die Kirche nicht von dem Ver501 Ebd. 502 A. a. O., 258. Nipkow fügt anmerkend hinzu, dass genau dies der Tenor der Reaktionen auf den Islam seit der Alten Kirche sei. 503 Ebd.

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dacht eines Absolutheitsanspruchs entlasten. Nach Nipkows Ansicht zeigt sich, dass eine formale, existenztheologisch getönte theologisch-philosophische Rede von Wahrheit als »Ereignis« einerseits um der analogen Anerkennung der Gewissheitserfahrung bei den anderen Religionen willen (Nipkows prinzipielle Toleranz) richtig ist, andererseits aber für einen historisch bestimmten, d. h. in einer historisch gegebenen Lage zu führenden inhaltlichen Glaubensdialog nicht ausreicht. Nipkow führt sodann die Tatsache, dass im EKD-Text wegen der auf der zweiten Ebene der Auslegungen bzw. Deutungen erzeugten und vorzufindenden Gegensätze der Ereignischarakter von Wahrheit auf der ersten Ebene nicht analog auch den anderen Religionen zuerkannt wird, nachträglich auf die Vermengung der Ebenen zurück. Es wird deutlich, dass die zunächst so emphatisch betonte freie »Selbstvergegenwärtigung Gottes« hinsichtlich der Konstitution von religiöser Gewissheit an die christliche Deutung angebunden wird. Dem Zwischenfazit, welches Nipkow zieht, kann daher nur nachdrücklich zugestimmt werden – nicht zuletzt, da es die bisher gewonnenen Erkenntnisse dieser Untersuchung bekräftigt: »Es wäre […] klarer und vor allem widerspruchsfrei, auf der im EKD-Text zu Recht beschriebenen konstitutiven ›Ereignis‹-Ebene der Wahrheit in gleicher Weise allen drei genannten Religionen analoge fundamentale Gewissheitserfahrungen anzuerkennen, woraus sich die prinzipielle fundamentaltheologische Toleranzforderung ergeben würde. Gleichzeitig wäre auf der zweiten, geschichtlich wirkmächtig gewordenen ›Auslegungs‹-Ebene – auch hinsichtlich der christlichen Religion einschließlich ihres christologischen Grundcharakters – einzugestehen, dass sie an Deutungen hängt und darum nicht dem Streit der Deutungen an einer Stelle plötzlich enthoben ist.«504

Der christliche Glaube soll auf dieser Ebene heute so ausgelegt werden, dass auf ihr in Kontinuität zum »Ereignis« in Christus ein möglichst hohes Maß an Annäherung erreicht wird. Dies soll gleichzeitig für heute verständlich und für Andersgläubige zugänglich geschehen. Nipkow bezeichnet den Beitrag des EKD-Textes dazu als sachgemäß und zukunftsfähig. Dabei wird bezeichnenderweise auf die »Geschichte Jesu Christi«505 zurückgegriffen, während von Jesus als »Gottes Sohn« keine Rede mehr ist. Angesichts der Geschichte der »schrecklichen Auseinandersetzungen und Kriegen zwischen den Religionen« müsse die Kirche »heute neu lernen«, mit den Gegensätzen »in einem Geiste umzugehen, welcher der geschichtlichen Besonderheit Jesu Christi entspricht. Jesus Christus ist mit anderen Worten von ihr so geltend zu machen, dass er unter keinen Umständen zu Feindschaft und tödlichem Streit treibt. Er ist derjenige Mensch, der die gnädige, unverfügbare Nähe Gottes zu allen Menschen 504 A. a. O., 259. 505 Kirchenamt der EKD, Christlicher Glaube und nichtchristliche Religionen, 16.

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trotz ihrer Entzweiung geschichtlich wirksam werden lässt.«506 Für Nipkow besteht an dieser Stelle kein Zweifel, dass mit dem Namen »Jesus Christus« der »Mensch« Jesus in seiner »geschichtlichen Besonderheit« gemeint ist. Die schweren Verständigungsbarrieren, i. e. die späteren dogmatischen Lehrbildungen, gerade auch die in der Christologie, die im Koran als unannehmbar abgelehnt werden, treten zurück. Wie Nipkow beobachtet deutet der EKD-Text die eigene Glaubensposition wohlbedacht im Spiegel der vorösterlichen geschichtlichen Jesuserscheinung, und zwar in ethischen Kategorien. Dem historischen Jesus zufolge ist heute in seiner Nachfolge eine dezidierte Friedenstheologie mitsamt einer theologisch begründeten Friedenspolitik und laut Nipkow sträflich vernachlässigten Friedenspädagogik geboten.507 Nipkow beeilt sich zu betonen, dass diese Aussage nicht mit derjenigen Epoche der liberalen Theologie zu verwechseln sei, da in ihr von den führenden deutschen protestantischen Theologen und breitesten bürgerlichen christlichen Bevölkerungsschichten 1914 der Krieg begrüßt wurde. In gleicher Weise war auch zuvor im 19. Jahrhundert selbst der liberale Protestantismus nicht dazu in der Lage, den Antisemitismus des national-konservativen Flügels zu überwinden. Hingegen kommen die EKD-Leitlinien von anderen, neuen historischen Erfahrungen der Kirche her, die in der Tat andere Auslegungen erfordern und neue »Deutungen« hervorbringen. So soll es zum »interreligiösen Dialog« kommen, in welchem »um die Vertretbarkeit der eigenen Glaubenseinsicht und der anderen religiösen Meinung in Freiheit zu streiten«508 sein werde. An dieser Stelle erscheint Nipkows Frage, weshalb auf der Seite der Andersgläubigen nur eine religiöse »Meinung« gesehen und nicht auch von einer »Glaubenseinsicht« gesprochen wird, mehr als berechtigt. Davon unabhängig solle dabei jedoch nicht unrealistischer Weise angenommen werden, es liege »in der Hand der Christenheit, den Gegensatz der Religionen mit dem so verstandenen Bezeugen der Wahrheit aus der Welt zu schaffen.«509 Es gehe vielmehr um dreierlei, nämlich »um den Abbau falscher Vorstellungen von der anderen Religion, um den Versuch des Verstehens des besonderen Profils ihrer Grundlagen und ihrer Praxis und vielleicht um die Entdeckung von Dimensionen der Gemeinsamkeit.«510 Der folgende Schlusssatz des Abschnitts über das Wahrheitsproblem denkt nochmals von Gott in Jesus Christus her, genauer von dem Menschen Jesus von Nazareth, der die »Nähe Gottes […] wirksam werden lässt.« So wird erneut ausgeführt: »Weil Jesus Christus nicht aufhört, mitten in der sündig entzweiten Welt solche Gegensätze 506 507 508 509 510

Ebd. Vgl. dazu auch K.E. Nipkow, Der schwere Weg zum Frieden. Kirchenamt der EKD, Christlicher Glaube und nichtchristliche Religionen, 16. Ebd. Ebd.

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und Grenzen mit der die Sünde vergebenden Nähe Gottes zu jedem Menschen zu überbieten, geht von ihm die bleibende Ermutigung aus, das Menschenmögliche zu tun, damit sie sich nicht zu tödlich entzweienden Gegensätzen und Grenzen auswachsen.«511 Nipkow bilanziert im Folgenden, dass sich Juden und Muslime auf eine solche den Dialog fördernde Argumentation einlassen können, welche auf die in den Evangelien geschichtlich greifbare Gestalt Jesu von Nazareth am Anfang des Christentums zeigt. Hierbei wird unpolemisch zum geschichtlichen Vergleich eingeladen, wenn es heißt, er höre nicht auf, die vergebende Nähe Gottes zu jedem Menschen »zu überbieten«. Somit ist Nipkows Feststellung zutreffend, dass es die sich so präsentierende zweite Ebene der konkreten gegenwärtigen Auslegung bzw. Deutung der Gestalt und Relevanz Jesu Christi ermöglicht, »die Wahrheitsfrage mit geschichtlichen Argumenten zu führen.«512 In einem nächsten Schritt bezieht sich Nipkow erneut auf eine Dialogsituation mit dem Islam. In direktem Anschluss an die bisher geschilderten Annahmen, dass es nämlich bei der »Wahrheit« um den Streit zwischen grundsätzlich strittig bleibenden »Auslegungen / Deutungen« ohne Raum für einen Absolutheitsanspruch geht und es zugleich um das Verstehen des besonderen Profils der Grundlagen des Islam gehen soll, gibt Nipkow zu bedenken, ob es nicht nahe läge, auch die auf der ersten Ebene anzutreffende Selbstinterpretation der Muslime hinsichtlich der konstitutiven, »ereignisförmigen« Grundlage ihrer Religion verstehend zu respektieren. Demnach ist Gott für sie im Koran »Ereignis der Wahrheit« geworden. Wird den Muslimen auf dieser Ebene das Recht auf Selbstauslegung abgesprochen, stellt dies nicht nur den eigenen Ernst des Willens zum Dialog, wie er einladend auf der zweiten Ebene entfaltet wird, in Zweifel. Vielmehr wird auch mit der Unterstellung, der Koran sei nur ein Produkt menschlicher Religiosität und habe religiöse »Meinungen« erzeugt, die Kränkung der Muslime an dieser für sie heiligsten Stelle nicht berücksichtigt. Für Muslime bedeutet genau dies jedoch eine »Blasphemie sondergleichen.«513 So argumentiert Nipkow weiter, dass das christliche Glaubensbekenntnis die glaubwürdige Beteuerung auf der zweiten, geschichtlich konkreten Ebene, man wolle »tödlich entzweiende« Konflikte um Jesu Christi willen unbedingt vermeiden, auf der ersten Ebene nicht untergraben darf: »Theologische Begründungen der Toleranz sollten nicht lediglich eine schwache Toleranz der widerwilligen oder hier widersprüchlichen Duldung zu erkennen geben, sondern eine

511 A. a. O., 17. 512 K.E. Nipkow, Wahrheit und Toleranz – theologische Präzisierungen zum Kern des Glaubensdialogs und interreligiösen Lernens, 261. 513 Ebd.

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starke Toleranz514 der wechselseitigen Achtung voreinander gerade in den für Gläubige heiligsten Überzeugungen, dieselbe Toleranz, die man auch für die eigene Wahrheitserfahrung erwartet.«515 Abschließend ergänzt er zu der vom EKD-Text vorangestellten »theologische[n] Grunddifferenzierung zwischen Gott und Mensch bzw. zwischen Gott und seiner Schöpfung, die allen Versuchen des Menschen, ›wie Gott zu sein‹ entgegensteht«516, dass sie gerade für gläubige Juden und Muslime höchste Bedeutung hat. Die Gemeinsamkeit, dass für sie »wie Gott zu sein« die größte Sünde ist, erachtet Nipkow für äußerst wichtig. Schließlich ist es richtig, sich über die gegenseitigen Grundlagen bewusst zu werden und wechselseitig die Ursprungsurkunden genau zu kennen – die Hebräische Bibel (das Alte Testament), das Neue Testament und den Koran. Auch der EKD-Text geht mit dem Blick auf den Ursprung im Auftreten des »Menschen« Jesus von Nazareth auf sie zurück. Nipkow ist davon überzeugt, dass ohne diese gegenseitige Prüfung Urteile »nebulös«517 werden und verweist in diesem Zusammenhang auf die Untersuchung von Karl-Josef Kuschel518. Der katholische Religionstheologe konzentriert sich in seinen Interpretationen und gegenwartsbezogenen Erörterungen auf die Texte selbst und setzt der herkömmlichen Konfrontation ein »Beziehungsdenken, vernetztes Denken« entgegen. Diese trialogische Denkweise verfolge eine Theologie vom Anderen her : »Welchen Ort hat der je Andere für mich? Welchen Raum hat das je andere Glaubenszeugnis neben mir?«519 Abschließend betont Nipkow mit den Worten des britischen Oberrabiners Jonathan Sacks, dass die »Würde der Differenz« zu respektieren sei, »um gerade so das Gemeinsame sichtbar zu machen.«520 Somit spricht er sich dezidiert für einen differenztheoretischen Ansatz aus. Es wird deutlich, dass seine Überlegungen in dieselbe Richtung weisen wie die sich vorwiegend auf Schwöbel und Berger beziehende systematische Toleranzbegründung. Andere Herangehensweisen wie die »universale Theologie der Religion(en)« als Konstruktion einer »Superstruktur«, mit anderen Worten die Einordnung der Anderen unter gemeinsame Abstraktionen bezeichnet Nipkow ebenso wie einen Exklusivismus (Ausgrenzung der Anderen) oder Inklusivismus (Vereinnahmung der Anderen) 514 Zur Unterscheidung zwischen einer »schwachen« und einer »starken Toleranz« siehe K.E. Nipkow, Bildung in einer pluralen Welt, 478. 515 K.E. Nipkow, Wahrheit und Toleranz – theologische Präzisierungen zum Kern des Glaubensdialogs und interreligiösen Lernens, 261. 516 Kirchenamt der EKD, Christlicher Glaube und nichtchristliche Religionen, 11. 517 K.E. Nipkow, Wahrheit und Toleranz – theologische Präzisierungen zum Kern des Glaubensdialogs und interreligiösen Lernens, 262. 518 K.-J. Kuschel, Juden – Christen – Muslime. Herkunft und Zukunft. 519 A. a. O., 23. 520 K.E. Nipkow, Wahrheit und Toleranz – theologische Präzisierungen zum Kern des Glaubensdialogs und interreligiösen Lernens, 262.

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als »Holzwege«521. Darüber hinaus sieht er in einer Verwässerung oder Verabschiedung von Theologie erst recht den »Ruin eines Glaubensdialogs«522. Allerdings beurteilt er die Frage skeptisch, ob Theologie allein die politischen Religionskonflikte überwinden wird, da politische, ökonomische und militärstrategische Konfliktursachen überwiegen. Daher ist sie Nipkows kompetenter Einschätzung zufolge »eine notwendige, keine hinreichende Bedingung.«523 3.2.2.4 Zusammenfassung Nipkows theologische Präzisierungen zum Kern des Glaubensdialogs und interreligiösen Lernens spiegeln den derzeitigen Stand der religionspädagogischen Auseinandersetzung mit der Toleranzthematik wider. Zwar spricht Adam wie aufgezeigt bereits von einer Erziehung zu Toleranz als Aufgabe der Schule und stellt nachdrücklich fest, dass Religionsunterricht nicht auf eine Auseinandersetzung mit anderen Glaubens-, Vorstellungs- und Denkweisen verzichten kann. Er betont die Entwicklung der Religionsdidaktik von der bürgerlichen Toleranz über den schultheoretischen Auftrag zur Toleranzerziehung hin zur theologisch motivierten Religionskunde und zur dialogischen Kommunikation gleichberechtigter Gesprächspartner. Allerdings stellt sich für Adam als weiter zu bearbeitendes Problem die Spannung, die sich aus der Forderung nach inhaltlicher Toleranz und dem Bleiben beim eigenen Glaubensstandpunkt ergibt. So vermag er noch keinen befriedigenden Ansatz zur Verbindung von Toleranz und Wahrung der eigenen Position miteinander aufzuzeigen. Zwar steht für ihn fest, dass jeglicher Versuch, Toleranz als Neutralismus zu fassen, in die Unverbindlichkeit führen und Indifferenz bewirken würde. Doch spricht er andererseits ebenso deutlich von der Intoleranz der Offenbarung, da hinsichtlich deren Inhalt von einer Endgültigkeit und Unüberholbarkeit auszugehen sei. Adams Argumentation führt an dieser Stelle also in ein Dilemma, welches die Verbindung von Toleranz und Beibehaltung des eigenen Glaubensstandpunktes unmöglich erscheinen lässt. Die Ursache für dieses Dilemma liegt meines Erachtens bereits in einer fälschlichen Annahme zu Beginn von Adams Ausführungen begründet, bei deren Aufhebung sich in theologischer Hinsicht neue Horizonte sowie eine mögliche Lösung für das angesprochene Problemfeld eröffnen. So bezeichnet Adam Toleranz »nicht als These des christlichen Glaubens […], sondern als Hypothese aufgrund der gesellschaftlichen Situation.«524 Demzufolge wird Toleranz hier also nicht als dem christlichen Glauben immanent 521 522 523 524

Ebd. Ebd. Ebd. G. Adam, Toleranz als Problem des Religionsunterrichts in religionspädagogischer Sicht, 147 (Hervorh. durch Vf.).

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betrachtet; vielmehr müsse sie nachträglich, mit Blick auf die pluralistischen Entwicklungen innerhalb der Gesellschaft mehr oder minder notgedrungen mit ihm zusammengedacht werden. Eben diese potentielle Aufgabe stellt Adam vor ein schwerlich zu überwindendes Hindernis. Einen anderen Ansatz bezüglich des Stellenwertes von Toleranz aus christlicher Sicht verfolgt unterdessen bereits Ebeling in seinem Beitrag im selben Band.525 Ihm zufolge kann Toleranz gerade aus dem Inhalt des christlichen Glaubens begründet werden. Ebeling verweist beispielsweise auf Luthers Erklärung für Gottes wohlwollendes Verhalten den impii gegenüber, welches nicht im Blick auf die ausgeführten Werke, sondern nur im Blick auf die unfassbare Weisheit und Toleranz Gottes zu verstehen ist.526 Das Ziel, menschliche Toleranz aus der Einsicht des Glaubens in die Toleranz Gottes zu üben, wird nun weniger durch Gottes »Vorbildfunktion« für den Glaubenden erreicht als durch dessen Selbstrelativierung aufgrund der Einsicht und des Bewusstwerdens darüber, dass Glaubende wie Nicht-Glaubende Sünder und somit auf Gottes Toleranz angewiesen sind und von der derselben Toleranz Gottes leben. An dieser Stelle scheinen sich also anhand der dargestellten Spannungen zwischen dem Toleranzverständnis in Adams und in Ebelings Beitrag innerhalb desselben Bandes bemerkenswerte theologische Veränderungen ausmachen zu lassen. Es scheint, dass hier der theologische Grundstein für eine Begründung der Toleranz aus Glauben, also aus dem Innern der Religion heraus, gelegt wurde.527 Englert spricht sich indes mit noch größerer Deutlichkeit als Adam für Toleranz als konkretes Bildungs- und Erziehungsziel aus und stellt bereits fest, dass Toleranzfähigkeit durch gezielte Lernprozesse zu fördern sei. Seinen Ausführungen aus katholischer Sicht528 zufolge kann und muss religiöse Erziehung der Gegenwart ein Ort der Ausbildung religiöser Toleranz sein. Dabei weist er eindringlich auf die Notwendigkeit zur Unterstützung der Identitätsbildung hin, um Überforderung und Orientierungsschwäche vorzubeugen und Urteilsfähigkeit zu fördern. Nipkow scheint es schließlich zu gelingen, das für Adam schwerlich lösbare Problem, Toleranz und Wahrung der eigenen Position miteinander zu verbin525 Vgl. G. Ebeling, Die Toleranz Gottes und die Toleranz der Vernunft, wie Adams Beitrag ebenfalls erschienen in: T. Rendtorff (Hg.), Glaube und Toleranz. Das theologische Erbe der Aufklärung; vgl. auch die Ausführungen zum evangelischen Verständnis von Toleranz unter 3.1.2.3.2. 526 Vgl. G. Ebeling, Die Toleranz Gottes und die Toleranz der Vernunft, 62 ff. 527 Vgl. dazu die Ausführungen zum evangelischen Verständnis von Toleranz aus Glauben, insbesondere nach Schwöbel, unter 3.1.2.3.2. 528 Insbesondere mit Blick auf das II. Vaticanum stehen für Englert als Katholik sicherlich auch andere theologische Voraussetzungen im Hintergrund. Für seine Ausführungen zu Toleranz als konkretem Bildungs- und Erziehungsziel scheinen diese jedoch keine erkennbare Rolle zu spielen.

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den, theologisch zu beantworten. Mit seiner Unterscheidung zweier theologischer Ebenen, die Ebene der ereignisförmigen Konstitution von Religion einerseits und die Ebene der Auslegung und Deutung von Religion auf der anderen Seite, sind wichtige Grundlagen für den interreligiösen Dialog gegeben, der auf einem differenztheoretischen Ansatz basiert. Es wurde deutlich, dass seine Überlegungen aus religionspädagogischer Sicht in dieselbe Richtung weisen wie die sich vorwiegend auf Erkenntnisse der evangelischen systematischen Theologie nach Schwöbel und der Religionssoziologie nach Berger beziehende systematische Toleranzbegründung, die sich ebenfalls diesem Ansatz zugeordnet wissen möchte. Zusammenfassend ist zu betonen, dass der Toleranzdiskurs innerhalb der religionspädagogischen Diskussion bereits nennenswerte Erkenntnisse bezüglich der Bedeutung von Toleranz als Erziehungs- und Bildungsziel geschärft hat, die es durchaus zu würdigen gilt. Als besonders zukunftsweisend ist dabei Nipkows Unterscheidung der beiden genannten theologischen Ebenen zu bezeichnen, die wertvolle Grundlagen für den interreligiösen Dialog bieten. Genauso deutlich muss nun jedoch die Aufforderung folgen, nicht an diesem Punkt stehen zu bleiben, sondern im Dienste einer Toleranzerziehung in der Pluralität den Blick in die Zukunft des Evangelischen Religionsunterrichts zu wagen. Dazu wird meines Erachtens der Entwurf einer Didaktik zur Toleranzerziehung unerlässlich sein, der auf den bisherigen Erkenntnissen aufbaut und von der Unterscheidung der Ebene der ereignisförmigen Konstitution von Religion einerseits und der Ebene der Auslegung und Deutung von Religion auf der anderen Seite seinen Ausgang nimmt. In Verbindung mit der zuvor erarbeiteten systematischen Toleranzbegründung und der darin enthaltenen Unterscheidung zwischen reflektierter und abstrakter Toleranz scheint aus religionspädagogischer Sicht die theologische Grundlage gegeben, auf der sich die Problematik der Vereinbarkeit von Toleranz und Wahrung der eigenen Position lösen lässt. Demgegenüber bleiben Fragen der didaktischen Umsetzung weiterhin ungelöst. Hier werden weitere, grundlegende Bearbeitungen von Nöten sein. Nach diesem Überblick über die Rezeption der Toleranzthematik in der Religionspädagogik wird sich der anschließende Abschnitt nun der Frage widmen, inwiefern der Toleranzdiskurs Zugang in die Erziehungswissenschaft gefunden hat.

3.3

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Als eine wichtige Bezugsdisziplin der Religionspädagogik gilt die Erziehungswissenschaft, deren Erkenntnisse über die eigenen Grenzen und den eigenen Gegenstandsbereich hinaus auch für die religionspädagogische Arbeit fruchtbar

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gemacht werden können. Die Analyse der erziehungswissenschaftlichen Rezeption des Toleranzdiskurses wird daher im Zentrum des folgenden Arbeitsschrittes stehen.

3.3.1 Der Toleranzdiskurs im erziehungswissenschaftlichen Kontext Gleich zu Beginn dieses Unterfangens steht nach eingehender Prüfung der erziehungswissenschaftlichen Literatur die Feststellung, dass sich die Suche nach einer erziehungswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema Toleranz als kaum ergiebig erweist. Die Erziehungswissenschaft hat sich erstaunlich wenig damit befasst, »obwohl dies angesichts der sich in fast allen Bereichen von Erziehung und Bildung aufdrängenden Aufgabe des Umgangs mit Multikulturalität mehr als nahe liegen würde.«529 Im Folgenden stütze ich mich daher auf eine aktuelle Analyse aus dem religionspädagogischen Fachbereich von Friedrich Schweitzer530, welche die wenigen bislang vorhandenen Veröffentlichungen zum Thema Toleranz in der Erziehungswissenschaft systematisch in den Blick nimmt. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass in den letzten Jahren wiederholt und mit wachsender Eindringlichkeit auch auf Wahrnehmungsprobleme oder –defizite der Erziehungswissenschaft hinsichtlich Religion hingewiesen worden ist. Allerdings sind die Folgen, die aus einer entsprechend selektiven Wahrnehmung für die Erziehungswissenschaft resultieren, noch wenig geklärt. In seinem Beitrag »Toleranz und Religion – Interdependente Wahrnehmungsprobleme säkularer Erziehungswissenschaft?« nimmt Schweitzer diese Frage auf, indem er das Wahrnehmungsdefizit hinsichtlich der Auseinandersetzung mit Religion in der Erziehungswissenschaft mit dem bereits erwähnten, ebenfalls zunehmend manifesten und mit guten Gründen beklagten Wahrnehmungsproblem hinsichtlich Toleranz in der Erziehungswissenschaft verknüpft. Für die fehlende erziehungswissenschaftliche Rezeption des gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Toleranzdiskurses sind in der Diskussion verschiedene Gründe erwogen worden, auf die Schweitzer im Verlauf seiner Ausführungen genauer eingeht. Die für seine Argumentation zentrale Hypothese, dass zwischen den beiden genannten Wahrnehmungsproblemen im Blick auf Religion einerseits und im Blick auf Toleranz andererseits eine sachliche Interdependenz bestehen könnte, wurde bislang allerdings noch nicht erörtert. Mit anderen Worten könne sich eine Erziehungswissenschaft, die 529 F. Schweitzer, Toleranz und Religion – Interdependente Wahrnehmungsprobleme säkularer Erziehungswissenschaft?, 335. 530 Vgl. ebd.

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sich in dem Sinne als säkular versteht, dass sie bereits auf die Thematisierung von Religion verzichtet, laut Schweitzer kaum auf das Thema Toleranz einlassen. Zugleich gilt umgekehrt: »Sobald sich die Erziehungswissenschaft auf die Herausforderungen der Toleranz einlässt, wird sie ihre religiöse Abstinenz aufgeben müssen.«531 Inzwischen weisen mehrere Veröffentlichungen kritisch darauf hin, dass eine weiterreichende Auseinandersetzung mit dem Thema Toleranz in der Erziehungswissenschaft bisher ausgeblieben ist. Röhr532 stellt fest, dass diese Beobachtung sogar die gesamte moderne Erziehungswissenschaft betrifft, und dies bereits seit dem 18. Jahrhundert: »Das sich in dieser Zeit langsam ausdifferenzierende Erziehungssystem hat den Begriff der Toleranz, so weit ich sehe, trotz des beträchtlichen Einflusses aufklärerischer Ideen auf die diesen Ausdifferenzierungsprozess begleitenden Diskurse nicht in sein Vokabular aufgenommen.«533 Noch heute stehe diese Erschließung, insbesondere was die Allgemeine Pädagogik angeht, aus.534 Schweitzer ist der Ansicht, dass dieses Urteil auch auf die interkulturelle Pädagogik auszudehnen sein dürfte.535 Denn wie Diehm weiter berichtet, ist ihr »keine migrationspädagogische Abhandlung bekannt, die ihren Toleranzbegriff expliziert und begriffstheoretisch analysiert hätte.«536 Lediglich bei Nieke finden sich entsprechende Ausführungen, die jedoch äußerst knapp gehalten sind.537 Meine eigenen Nachforschungen decken sich mit Schweitzers Recherchen, denen zufolge es in jüngerer Vergangenheit und in der Gegenwart lediglich zwei größere Projekte gibt, die sich mit dem Zusammenhang von Erziehung, Bildung und Toleranz eingehend auseinandergesetzt haben. In beiden Fällen handelt es sich jedoch nicht um erziehungswissenschaftliche Projekte, sondern um jeweils ein Projekt der interkulturellen Germanistik und der Politikwissenschaft. Das erste Forschungsvorhaben untersuchte den »pädagogische(n) Toleranzdiskurs in Deutschland zwischen 1949 und 1989« als »hermeneutische Voraussetzung zur Grundlegung einer interdisziplinären, xenologisch orientierten interkulturellen Toleranzforschung in Deutschland« sowie als »Teil einer kulturwissenschaftlichen Fremdheitsforschung, wie sie durch die interkulturelle Germanistik initiiert wurde.«538 Das zweite Projekt trägt den Titel »Tolerance Matters« und 531 532 533 534 535

A. a. O., 335. H. Röhr, Pädagogik und Toleranz. A. a. O., 257. Vgl. a. a. O., 258. Vgl. F. Schweitzer, Toleranz und Religion – Interdependente Wahrnehmungsprobleme säkularer Erziehungswissenschaft?, 337. 536 I. Diehm, Erziehung und Toleranz. Handlungstheoretische Implikationen Interkultureller Pädagogik, 263. 537 Vgl. W. Nieke, Interkulturelle Erziehung und Bildung. Wertorientierungen im Alltag, 213 ff. 538 W.D. Otto, Toleranzkultur und Pädagogik, 566.

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wurde gemeinsam von der Bertelsmann-Stiftung und dem Zentrum für angewandte Politikwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität in München in Kooperation mit einem internationalen Netzwerk durchgeführt. Beide Forschungsprojekte sind als »erziehungswissenschaftlich einschlägig«539 einzustufen, weshalb sie an dieser Stelle genauer betrachtet werden müssen. Wie Otto erläutert war der Ausgangspunkt für das Bayreuther Projekt zum pädagogischen Toleranzdiskurs in Deutschland die Feststellung, die Pädagogik habe sich mit xenologischen Fragen noch kaum beschäftigt.540 Erklärend wird auf die »Dependenz des pädagogischen Diskurses vom nationalen, auf den eigenkulturellen Bezirk konzentrierten Diskurs«541 verwiesen. In erster Linie werden Veröffentlichungen vor allem aus Pädagogik und (Bildungs-)Politik für die Untersuchungen herangezogen. Den Ergebnissen derselben folgend bezieht sich der Bericht schwerpunktmäßig auf die Zeit nach 1945, die 1950er Jahre, die 1968er Zeit sowie die gewisse Neuaufnahme der Toleranzdiskussion in den 1980er Jahren. Darüber hinaus werden »Aspekte des Toleranzdiskurses in der DDR«542 exkursartig dargestellt. Die zusammenfassende Auswertung ergibt, dass die »Begriffe Toleranz und Toleranzerziehung ein wesentliches Element des aliierten Konzepts der politischen und kulturellen Umerziehung (Re-education) und Entnazifizierung der Deutschen nachfaschistischen Gesellschaft« waren, insbesondere in der britischen und amerikanischen Zone.543 Interessant erscheint die übergreifend kritische Feststellung: »Der pädagogisch-didaktische Toleranzdiskurs erhält die wesentlichen Impulse nicht aus einem der Pädagogik selbst entspringenden Erkenntnisinteresse, sondern vorwiegend aus einem politisch-kulturellen Problemdruck oder als Folge von Krisenerfahrungen.«544 Das zweit genannte Projekt, »Tolerance Matters«, beinhaltet verschiedene Dimensionen. Die vergleichende Untersuchung von Modellen der Toleranzerziehung in verschiedenen Ländern (Deutschland, Israel, Philippinen, Nordirland, Polen, Brasilien, Chile, Südafrika, USA etc.545) bildet einen wichtigen Schwerpunkt. Darüber hinaus war die Entwicklung von pädagogischen Modellen von zentralem Interesse, wie etwa das Toleranz-Seminar »Achtung (+) Toleranz. Wege demokratischer Konfliktregelung«546 belegt. Die darin vorgestellten zahlreichen praktischen Übungen dienen der Toleranzerziehung und 539 F. Schweitzer, Toleranz und Religion – Interdependente Wahrnehmungsprobleme säkularer Erziehungswissenschaft?, 338. 540 Vgl. W.D. Otto, Toleranzkultur und Pädagogik, 566. 541 Ebd. 542 A. a. O., 573. 543 A. a. O., 623 ff. 544 A. a. O., 627. 545 Vgl. International Network »Education for Democracy, Human Rights and Tolerance«. 546 S. Ulrich, Achtung (+) Toleranz. Wege demokratischer Konfliktregelung.

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sollen einen Abbau von Vorurteilen bewirken sowie partnerschaftliche Kommunikation einüben. Dabei sind die Übungen im Wesentlichen sozialpsychologisch ausgerichtet.547 Allerdings kommt weiterreichenden erziehungswissenschaftlichen oder bildungstheoretischen Analysen dabei keinerlei erwähnenswerte Bedeutung zu.548 Demgegenüber haben sich die wenigen neueren Veröffentlichungen aus dem Bereich der Erziehungswissenschaft selbst eine Rekonstruktion des Toleranzbegriffs mit Hilfe von Kategorien zum Ziel gesetzt, die, so Schweitzer, eine erziehungswissenschaftliche Anschlussfähigkeit gewährleisten sollen. Handlungstheoretische Rekonstruktionen von Diehm549 sowie gestalttheoretische Konzepte nach Röhr550 weisen in diese Richtung. Dabei spielt die Auseinandersetzung mit dem Problem der Intoleranz ebenfalls eine wichtige Rolle, aber auch sogenannte »Zero Tolerance«-Ansätze aus den USA, mit denen sich beispielsweise Amos551 beschäftigt. Hingegen finden sich bei Brumlik552 in Ansätzen ansonsten selten gebliebene tugendtheoretische Rekonstruktionen. Schweitzers Einschätzung ist somit zuzustimmen, wenn er den Befund zur Diskussionslage in der Erziehungswissenschaft angesichts der enormen Herausforderungen einer multikulturellen Gesellschaft als »mehr als erstaunlich«553 bezeichnet. Er verweist darauf, dass die politische Forderung nach Toleranz und Toleranzerziehung besonders seit den tragischen Ereignissen vom 11. September 2001 ebenso Teil des öffentlichen politischen Diskurses sei wie die Warnung vor »falscher Toleranz«. Sogar von »tödlicher Toleranz« spricht Lachmann554 im Blick auf den Islam. Wie zu Beginn dieser Untersuchung bereits erwähnt, erhebt Kelek555 von islamischer Seite eine ähnliche Kritik gegenüber »den Deutschen«. Für Schweitzer verlangt das Fehlen eines weiterreichenden pädagogischen Toleranzdiskurses nicht nur nach neuen Initiativen, die diesem Defizit abhelfen könnten, sondern zuallererst nach einer Erklärung. 547 Vgl. auch V. Georgi/S. Ulrich/F.M. Wenzel, Education for Democracy and Tolerance in Germany. 548 Vgl. dazu auch F. Schweitzer, Toleranz und Religion – Interdependente Wahrnehmungsprobleme säkularer Erziehungswissenschaft?, 339. 549 I. Diehm, Erziehung und Toleranz. Handlungstheoretische Implikationen Interkultureller Pädagogik; dies., Intoleranz als Problem der Pädagogik. 550 H. Röhr, Pädagogik und Toleranz; ders., Reflektierte Intoleranz. 551 S.K. Amos, Zero Tolerance an öffentlichen Schulen in den USA – amerikanisches Syndrom oder Symptom für eine Neubestimmung gesellschaftlicher Mitgliedschafts- und Erziehungsverhältnisse? 552 M. Brumlik, Bildung und Glück. Versuch einer Theorie der Tugenden. 553 F. Schweitzer, Toleranz und Religion – Interdependente Wahrnehmungsprobleme säkularer Erziehungswissenschaft?, 339. 554 G. Lachmann, Tödliche Toleranz. Die Muslime und unsere offene Gesellschaft. 555 N. Kelek, Die fremde Braut. Ein Bericht aus dem Inneren des türkischen Lebens in Deutschland, 245 ff.

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Verschiedene Erklärungsmöglichkeiten wurden dafür bislang in Betracht gezogen: Röhr legt das ambivalente Bild dar, das erziehungswissenschaftlichsystematische Überlegungen hinsichtlich der Tragfähigkeit des Toleranzbegriffs ergeben. Aus heutiger erziehungswissenschaftlicher Sicht könnte Schweitzer zufolge das Argument auf breite Zustimmung treffen, dass der frühneuzeitliche Toleranzbegriff eine spezifische »Asymmetrie bzw. Hierarchie des paternalistischen Einräumens von Handlungsfreiheiten« mit sich geführt habe, der mit dem »Selbstbestimmungsverständnis der anbrechenden Moderne«556 kaum zu vereinbaren gewesen wäre. Stärker kritisch zu sehen sei eine mögliche Rolle des »Rationalismus der Aufklärung«, dessen Einfluss auf die Pädagogik keinen »Platz mehr für das sich nicht fügende und mit einer gewissen Berechtigung auf seiner Eigenständigkeit bestehende Besondere, Andersartige und Fremde«557 gelassen habe. Die »Nationalbildung«558 habe dann ein Übriges in dieser Richtung bewirkt. Der »ausbleibende Rückgriff auf den Begriff der Toleranz« bleibt jedoch auch bei derartigen Überlegungen »bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass im pädagogischen Diskurs des Neuhumanismus […] das Konzept einer eingreifenden Erziehung zunehmend von dem der Bildung, die vorrangig als Selbstbildung verstanden wurde (Humboldt), abgelöst und entwertet zu werden drohte.«559 Für Schweitzer führt diese Erklärung dann konsequenterweise auch zu dem Versuch, »den Toleranzbegriff erziehungswissenschaftlich zu rehabilitieren, ihn zu integrieren und fruchtbar zu machen.«560 Darüber hinaus ergebe sich eine weitere Erklärungsmöglichkeit aus einem xenologischen Defizit der Erziehungswissenschaft, die, so Otto, besonders im Strom der deutschen Bildungspolitik den »eigenkulturellen Bezirk«561 als maßgebliche Orientierungsgröße genutzt habe. Angesichts der durch die PISAStudien ausgelösten neuen Integrationsdiskussion erscheint diese Diagnose zunehmend plausibel. Vor allem in der schulischen Praxis, aber entsprechend auch in der Theorie habe die deutsche Pädagogik mit Defiziten im Bereich der Interkulturalität zu kämpfen.562 Auch die populäre Toleranz-Kritik könnte eine gewisse Erklärung enthalten, die den Deutschen deshalb keinen ernsthaften Toleranzdiskurs zutraut, da sie aus zeitgeschichtlichen Gründen und aufgrund von Traumatisierungen durch H. Röhr, Pädagogik und Toleranz, 259. A. a. O., 261. A. a. O., 263. A. a. O., 257. F. Schweitzer, Toleranz und Religion – Interdependente Wahrnehmungsprobleme säkularer Erziehungswissenschaft?, 340. 561 W.D. Otto, Toleranzkultur und Pädagogik, 566. 562 F. Schweitzer, Toleranz und Religion – Interdependente Wahrnehmungsprobleme säkularer Erziehungswissenschaft?, 340. 556 557 558 559 560

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den Nationalsozialismus dazu nicht in der Lage seien. Wiederum stellt Kelek fest: »Die guten Deutschen und nicht wenige Christen verzeihen den Muslimen alles, nur um ihre eigene vermeintliche Schuld abzutragen. Die Argumentationskette ist schlicht. Ausländer sind arm (weil sie von uns ausgebeutet werden) und gut (weil sie nicht so sind wie wir). Also muss die deutsche Gesellschaft ihre Schuld abtragen – und ihnen helfen. Durch politische Rücksichtnahme und durch finanzielle Zuwendungen.«563 Im Zuge der weiteren Ausführungen spielen Aspekte dieser Erklärungen für Schweitzer durchaus eine Rolle. Allerdings konzentriert er sich auf die These, dass das erziehungswissenschaftliche Wahrnehmungsproblem im Blick auf Toleranz »in einem interdependenten Verhältnis«564 zu einem ebenfalls auszumachenden Wahrnehmungsproblem im Blick auf Religion in der Erziehungswissenschaft steht. Daher wird im Folgenden die Analyse der Auseinandersetzung mit dem Thema Religion innerhalb der Erziehungswissenschaft von Interesse sein.

3.3.2 Pädagogik und Religion – ein grundlegendes Wahrnehmungsproblem Inzwischen ist die Diagnose eines religionsbezogenen Wahrnehmungsproblems in der Erziehungswissenschaft wohl bekannt.565 Ein für die Erziehungswissenschaft der Gegenwart bezeichneter Säkularisierungsglaube wird dafür besonders verantwortlich gemacht – die in den Sozialwissenschaften vollzogene Abwendung von den früher so weitreichenden Säkularisierungserwartungen im Sinne eines Verschwindens von Religion und der Hinweis zu kritisch-differenzierenden Auffassungen von Säkularisierung566 stießen verbreitet auf Nichtbeachtung. Wie auch die Befunde der durchgeführten Situationsanalyse belegen, wird inzwischen weltweit von einem wachsenden Einfluss der Religionen oder einer »Rückkehr der Religionen«567 gesprochen, und so kommt Schweitzer zu dem Schluss, dass es zumindest in wissenschaftlicher Hinsicht kaum mehr gute Gründe für die Erziehungswissenschaft gibt, die Ausblendung religiöser Zu-

563 N. Kelek, Die fremde Braut. Ein Bericht aus dem Inneren des türkischen Lebens in Deutschland, 257. 564 F. Schweitzer, Toleranz und Religion – Interdependente Wahrnehmungsprobleme säkularer Erziehungswissenschaft?, 340. 565 Vgl. dazu zusammenfassend F. Schweitzer, Pädagogik und Religion. 566 Vgl. dazu u. a. P.L. Berger (Hg.), The Desecularization of the World; N. Luhmann, Die Religion der Gesellschaft; D. Pollack, Säkularisierung – ein moderner Mythos? 567 Schweitzer verweist dazu auf N. Riesebrodt, Die Rückkehr der Religionen; vgl. auch die Befunde unter 2.1 – 2.3.

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sammenhänge und Dimensionen im eigenen Gegenstandsbereich beizubehalten. Die Entwicklung von Erziehungswissenschaft zumindest im deutschsprachigen Raum ohne konstitutive Berücksichtigung religiöser Zusammenhänge lässt sich alleine in geschichtlicher Hinsicht schwerlich begreifen. Nicht zuletzt durch die Beiträge des Erziehungswissenschaftlers Fritz Osterwalder für die Disziplin der Pädagogik wurde deutlich, dass das Konzept von Erziehung und Bildung aus dem Geiste des Protestantismus entstanden ist, dessen großer Einfluss auch auf die neuzeitliche Pädagogik bekannt ist. Osterwalder verweist in diesem Zusammenhang auf die »Geburt der deutschsprachigen Pädagogik aus dem Geist des evangelischen Dogmas«568 sowie auf Religion und Theologie als das »verdrängte Erbe«569 der Pädagogik. Nach Hofmann, Jacottet und Osterwalder vollziehe sich die Geschichte der »pädagogischen Modernisierung« im Wechselspiel von Säkularisierung und Sakralisierung.570 Gerner betont, dass sich auch eine pädagogische Anthropologie ohne Berücksichtigung der religiösen Dimension nicht angemessen konstruieren lässt.571 Aus diesem Grund wird auch in pädagogisch-anthropologischer Hinsicht heute wieder an die »Formen des Religiösen« erinnert.572 Darüber hinaus dokumentiert die Diskussion bei Ziebertz und Schmidt, dass bildungstheoretische Konzeptionen religiöse Bildung sowie religiöse Bestimmungsgründe von Bildung einschließen müssen.573 Umgekehrt bleibt die Perspektive der Erziehungswissenschaft dort unverzichtbar, wo religiöse Bildung speziell im Bereich von Kirche oder Religionspädagogik theoretisch erfasst werden soll.574 Die genannten neueren Veröffentlichungen belegen, dass die Diskussion über das religiöse Wahrnehmungsproblem in der Erziehungswissenschaft nachdrücklich angestoßen wurde. Die damit verbundenen, noch immer unerledigten Fragen wurden von Schweitzer an anderer Stelle ausführlich dargestellt.575 Die Frage nach Toleranz und nach deren Zusammenhang mit dem religiösen Wahrnehmungsproblem wurde dabei jedoch noch nicht erörtert. In zwei Hin568 F. Osterwalder, Die Geburt der deutschsprachigen Pädagogik aus dem Geist des evangelischen Dogmas. 569 J. Oelkers/F. Osterwalder/H.-E. Tenorth (Hg.), Das verdrängte Erbe. Pädagogik im Kontext von Religion und Theologie. 570 M. Hofmann/D. Jacottet/F. Osterwalder (Hg.), Pädagogische Modernisierung. Säkularität und Sakralität in der modernen Pädagogik. 571 B. Gerner, Einführung in die Pädagogische Anthropologie, 37. 572 C. Wulf/H. Macha/E. Liebau (Hg.), Formen des Religiösen. Pädagogisch-anthropologische Annäherungen. 573 H.-G. Ziebertz/G.R. Schmidt (Hg.), Religion in der Allgemeinen Pädagogik; vgl. auch D. Brenner, Allgemeine Pädagogik. 574 E. Gross (Hg.), Erziehungswissenschaft, Religion und Religionspädagogik. 575 F. Schweitzer, Pädagogik und Religion.

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sichten macht Schweitzer die These von der Interdependenz beider Wahrnehmungsprobleme, im Blick auf Toleranz und im Blick auf Religion, vorab plausibel: Zum einen bestehe geschichtlich gesehen ein überaus enger Zusammenhang zwischen Religion und Toleranz, da sich die Geschichte der Toleranz weithin als Geschichte des Umgangs mit Religion verstehen lasse. Wie insbesondere Forst und Schmidinger belegen, war und ist es immer wieder die Herausforderung der Religionsfreiheit, welche den Toleranzdiskurs motivierte und vorantrieb.576 Somit lässt sich Schweitzers These, dass zwischen den beiden Wahrnehmungsproblemen eine enge Verbindung besteht, leicht nachvollziehen: »Wer die Geschichte von Religion und Religionsfreiheit thematisieren will, kommt am Thema Toleranz nicht vorbei. Und wer sich mit der Entwicklung des Toleranzverständnisses auseinandersetzt, stösst unweigerlich auf religiöse Fragen.«577 Zum anderen zeigt sich in der Gegenwart der enge Zusammenhang zwischen Religion und Toleranz bei allen Fragen einer interkulturellen Pädagogik, die zugleich immer auch als interreligiöse Pädagogik aufgefasst werden muss. Religiöse Einflüsse prägen die Kultur in Geschichte und Gegenwart. Unter anderem am Beispiel der Kopftuch-Problematik wird deutlich, dass aktuelle Herausforderungen und Konflikte in einer multikulturellen Gesellschaft in großer Regelmäßigkeit die religiöse Dimension berühren. Als inzwischen allgemein bekannt bezeichnet Schweitzer zwar die in verengender oder gar reifizierender Weise unangebrachte Zurückführung interkultureller Fragen, Spannungen und Konflikte auf kulturelle, ethnische oder religiöse Faktoren.578 Jedoch gelte es demnach auch umgekehrt: So müsse auch jeder Versuch unangemessen bleiben, kulturelle, ethnische und religiöse Aspekte schlichtweg zu übergehen. Daraus kann geschlossen werden, dass sich deshalb nicht nur für die Vergangenheit, sondern auch für die Gegenwart ein negativer oder positiver Zusammenhang zwischen der Wahrnehmung von Religion und Toleranz in der Erziehungswissenschaft ergibt.

576 R. Forst, Toleranz im Konflikt; H. Schmidinger (Hg.), Wege zur Toleranz. Geschichte einer europäischen Idee in Quellen. 577 F. Schweitzer, Toleranz und Religion – Interdependente Wahrnehmungsprobleme säkularer Erziehungswissenschaft?, 337. 578 Vgl. ebd.

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3.3.3 Toleranz und Religion: Parallele oder interdependente Wahrnehmungsprobleme?579 Die vorausgegangenen Ausführungen legen die konstatierten Wahrnehmungsprobleme im Verhältnis zwischen Pädagogik und Toleranz einerseits sowie zwischen Pädagogik und Religion andererseits weitgehend unabhängig voneinander dar. Nun soll nach einem möglichen Zusammenhang zwischen beiden Wahrnehmungsproblemen gefragt werden. Dazu hält es Schweitzer zunächst für nützlich, die Stationen des »pädagogischen Toleranzdiskurses« in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einer Relecture zu unterziehen und dabei besonders auf den Umgang mit Religion zu achten. Daran schließt sich in einem zweiten Schritt die Erläuterung von Aporien einer nicht auf Religion eingestellten Bildung zur Toleranz an, bevor schließlich noch einige Perspektiven für die weitere Theorieentwicklung im Blick auf eine auf Religion eingestellte Bildung zur Toleranz umrissen werden. Stationen des »pädagogischen Toleranzdiskurses« – eine Relecture Im Rahmen des bereits erwähnten Bayreuther Toleranzprojektes bietet Otto eine Rekonstruktion des »pädagogischen Toleranzdiskurses in Deutschland zwischen 1949 und 1989«580. Er führt dabei, wie ebenfalls schon dargestellt, den pädagogischen Toleranzdiskurs auf einen »politisch-kulturellen Problemdruck« zurück und versteht ihn als »Folge von Krisenerfahrungen«581. Betrachtet man diese von Otto allgemein als »Krisenerfahrungen« angesprochenen Zusammenhänge, so wird deutlich, dass Religion dabei mehrfach eine wichtige Rolle spielte. Dies ist besonders bei zwei von Otto als zentral herausgestellten pädagogischen Autoren der Fall – bei Friedrich Oetingers Schrift über »Wendepunkte der politischen Erziehung. Partnerschaft als pädagogische Aufgabe« von 1951 und parallel bei Carl Joseph Hering, dessen Darstellung »Über Toleranz und die Notwendigkeit der Erziehung zur Toleranz« von 1952 in den Zusammenhang der Auseinandersetzungen um das Konfessionsschulwesen einzuordnen ist. Werden beide Veröffentlichungen untersucht und einer Relecture insbesondere aus heutiger Sicht unterzogen, so zeigt sich in beiden Fällen die Verfehlung einer weiterführenden, für die Zukunft tragfähigen Verbindung von Toleranz und Religion.582

579 580 581 582

Diese Frage stellt Schweitzer a. a. O., 341. W.D. Otto, Toleranzkultur und Pädagogik. A. a. O., 627. Zumindest zeitlich fallen an dieser Stelle Parallelen zur oben dargestellten religionspädagogischen Toleranzdiskussion auf. Im Gegensatz zu den genannten pädagogischen Autoren bemühen sich jedoch etwa Vogel im Jahr 1953 und Richter im Jahr 1960 sehr wohl um

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Im Rahmen eigener Ausführungen zur »religiösen Toleranz« stellt Oetinger in seinem Buch dieses Thema in den Horizont der »Spielregeln der Partnerschaft«583, also in engen Zusammenhang mit der Frage nach den Formen, wie ein Zusammenleben in Freiheit gelingen kann. Nähert man sich damaligen Ausführungen zur religiösen Toleranz aus heutiger Sicht, so wird man angesichts des erst wenige Jahre zurückliegenden Holocausts unweigerlich eine Thematisierung des Verhältnisses zum Judentum erwarten. Schließlich diskutiert Oetinger von Anfang an das Problem von »reeducation als ›Umerziehung‹ durch die Sieger«584. Doch gleich zu Beginn ist dort zu lesen: »Wir verbrennen heute niemanden mehr wegen Abweichung von der Trinitätslehre«585. Sicherlich geht es an dieser Stelle nicht darum, den Holocaust zu leugnen, »aber ohne Zweifel wird doch so gesprochen, als hätte es ihn nie gegeben.«586 Nach Schweitzers Einschätzung denkt Oetinger bei »verbrennen« allerdings wohl an die Ketzerhinrichtungen des Mittelalters, nicht an das »Verbrennen« in der Shoa. Dennoch, so Schweitzer weiter, bleiben seine Ausführungen entschieden hinter den tatsächlichen Herausforderungen zurück, sodass zumindest eine Relecture seinen Spitzensatz bei aller darin enthaltenen Wahrheit recht banal erscheinen lässt: »Wirkliche Toleranz findet vielmehr nur dort statt, wo die Dissonanz der verschiedenen Glaubensgründe empfunden und durchgestanden wird.«587 Allerdings stellt sich sogleich die Frage, für wen das (nicht) gelten solle. Auch die von Oetinger vom Religionsunterricht erwartete Erziehung zur »Mitmenschlichkeit« als Beitrag zur »Partnerschaftlichkeit« kann schwerlich überzeugen588. So klingt es für Schweitzers Ohren »freundlich«589, wenn Oetinger schreibt: »So verwandelt sich gerade die gläubigste, ›innerlichste‹ Haltung in lauter ›äusseres‹ Verhalten in den konkreten Einzelsituationen, in denen wir uns anrufen lassen. Nicht die Frage: Wie innerlich glaubst du? wird zum entscheidenden Barometer der wahrhaft religiösen Lebensführung, sondern die Frage: Wie beantwortest du in jedem einzelnen Falle den Anruf, der von Mitmenschen an dich ergeht?«590 Die Härte der Konflikte und Spannungen, an denen die

583 584 585 586 587 588 589 590

eine weiterführende, für die Zukunft tragfähige Verbindung von Toleranz und Religion, wie unter 3.2.1 ersichtlich wurde. F. Oetinger, Partnerschaft. Die Aufgabe der Politischen Erziehung, 141 ff. A. a. O., 150 ff. A. a. O., 150. F. Schweitzer, Toleranz und Religion – Interdependente Wahrnehmungsprobleme säkularer Erziehungswissenschaft?, 342. F. Oetinger, Partnerschaft, 151. Vgl. a. a. O., 215. F. Schweitzer, Toleranz und Religion – Interdependente Wahrnehmungsprobleme säkularer Erziehungswissenschaft?, 342. F. Oetinger, Partnerschaft, 220.

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Toleranzforderung aufbricht und die eine wahrhaftige Toleranzfähigkeit erst erforderlich machen, komme damit nicht zur Sprache. Bedenkt man die religiöse bzw. kirchliche Dimension der Auseinandersetzungen um das Konfessionsschulwesen in der Nachkriegszeit, so ist der religiöse Bezug der Toleranzdiskussion in den 1950er Jahren nicht überraschend. Auch Hering eröffnet seine zuerst 1955 publizierte Darstellung mit der These, »dass der Friede zwischen den Konfessionen und das ersprießliche Zusammenarbeiten der Parteien und Weltanschauungsgruppen in einem demokratischen Staatswesen mit der Toleranz stehen und fallen.«591 Neben ausführlichen Überlegungen zur religiösen Toleranz thematisiert Hering vor allem die Frage: »Wie lässt sich Toleranz für den Christen und hier besonders für den Katholiken rechtfertigen?«592 Um diese Frage zu beantworten, zieht Hering durchaus auch religiöse bzw. theologische Begründungsmöglichkeiten für Toleranz heran. Er tut dies nicht nur in katholischer Sicht, sondern ausdrücklich in »Bezug auf den Christen im Allgemeinen«593. Der »Gedanke der Gottesebenbildlichkeit des Menschen« sowie der damit verbundenen »Würde der menschlichen Person« sind neben dem Hinweis auf eine »Uroffenbarung« als »ein ›Gemeinsames‹ aller« dabei zentral. Hingegen werden theologische bzw. »heilstheoretische« Fragen im engeren Sinne bewusst ausgeklammert.594 Der Blick richtet sich im Weiteren auf die Frage nach einer spezifisch katholischen Begründung für Toleranz. So lasse sich mit Papst Pius XII. die Frage, »ob Gott tolerant sei«, durchaus bejahen. Beachtlich ist hierbei die Tatsache, dass sich dieses Argument – wie an vorausgegangener Stelle in dieser Untersuchung bereits dargelegt595 – in anderer Form später auch in der evangelischen Theologie findet.596 Hering leitet daraus gleichwohl eine nur schwache Formel der Toleranzbegründung ab: »1. Was nicht der Wahrheit und dem Sittengesetz entspricht, hat objektiv kein Recht auf Dasein, Propaganda und Aktion. 2. Nicht durch staatliche Gesetze und Zwangsmaßnahmen einzugreifen, kann trotzdem im Interesse eines höheren und umfassenderen Gutes gerechtfertigt sein.«597 Mit Hilfe seiner Argumentation lässt sich allerdings kaum eine Toleranz gegenüber Wahrheitsansprüchen, die den eigenen zuwiderlaufen, erreichen. Im Weiteren nimmt Schweitzer neuere Entwicklungen seit Beginn der 1990er Jahre auf. Wie die Beispiele von Oetinger und Hering zeigen, lässt sich die Bedeutung der religiösen Dimension für den pädagogischen Toleranzdiskurs 591 592 593 594 595 596 597

C.J. Hering, Über Toleranz und die Notwendigkeit der Erziehung zur Toleranz. A. a. O., 153. A. a. O., 153 ff. A. a. O., 154. Vgl. 3.1.2. Vgl. G. Ebeling, Die Toleranz Gottes und die Toleranz der Vernunft. C.J. Hering, Über Toleranz und die Notwendigkeit der Erziehung zur Toleranz, 164.

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der jüngeren Vergangenheit leicht nachweisen. Dabei stellt sich zudem heraus, »dass die Herausforderungen einer auf religiöse Toleranz bezogenen Erziehung und Bildung weithin unbefriedigend oder auch gar nicht gelöst wurden. Wie aber steht es im Blick auf unsere Gegenwart?«598 Schweitzer sieht in den Herausforderungen einer multikulturellen Gesellschaft den Horizont der neuen, noch kaum als ausgeführten Toleranzdiskurs zu bezeichnenden Ansätze. Die Anerkennung des Fremden steht hier im Mittelpunkt, wobei es sich bei diesen »Fremden« in Deutschland weithin um Immigranten handelt. Rein zahlenmäßig sind die meisten Migranten in Deutschland Muslime, vorwiegend türkischer Herkunft. Die neueren erziehungswissenschaftlichen Veröffentlichungen, namentlich von Diehm599 und Röhr, setzen sich mit dieser Tatsache höchstens insofern auseinander, als sie das Thema »Kopftuch« aufgreifen. Das bereits beschriebene Projekt »Tolerance Matters«, welches als das »größte ToleranzProjekt der Gegenwart«600 bezeichnet werden kann, verzichtet gänzlich auf religiöse Bezüge jeder Art. Darin tendiert es stärker zu sozialpsychologischen Ansätzen der Auseinandersetzung mit Intoleranz, die sich ganz auf kommunikations-, interaktions- und gruppenpsychologische Aspekte beschränkt.601 Schweitzer folgert daher, dass die zeitgenössische Toleranzdiskussion in der Erziehungswissenschaft in der Gefahr steht, »mit dem Verzicht auf eine Berücksichtigung der religiösen Dimension die tatsächlichen Herausforderungen zu verfehlen.«602 Dabei könnte sie sich seiner Ansicht nach in Aporien verfangen, wie er sie im Weiteren als Konsequenz einer nicht auf Religion eingestellten Bildung zur Toleranz darstellt. Aporien einer nicht auf Religion eingestellten Bildung zur Toleranz Unter dieser Überschrift wird die Frage nach dem möglichen Zusammenhang zwischen den beiden Wahrnehmungsproblemen von Erziehungswissenschaft im Blick auf Religion und Toleranz unter dem Aspekt von Aporien erörtert, in die eine nicht auf Religion eingestellte Bildung zur Toleranz führt. Schweitzer spricht dabei deshalb von Aporien, »weil sich in allen im Folgenden genannten Hinsichten zeigt, dass eine Bildung zur Toleranz kaum gelingen kann, wo man 598 F. Schweitzer, Toleranz und Religion – Interdependente Wahrnehmungsprobleme säkularer Erziehungswissenschaft?, 343. 599 Vgl. I. Diehm, Intoleranz als Problem der Pädagogik, 692 ff.; H. Röhr, Reflektierte Intoleranz, 709 ff. 600 F. Schweitzer, Toleranz und Religion – Interdependente Wahrnehmungsprobleme säkularer Erziehungswissenschaft?, 343. 601 Vgl. M. Sader, Toleranz und Fremdsein. 16 Stichworte zum Umgang mit Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit. 602 F. Schweitzer, Toleranz und Religion – Interdependente Wahrnehmungsprobleme säkularer Erziehungswissenschaft?, 343.

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sich nicht auf Religion einzulassen bereit ist.«603 Insofern belege jede einzelne dieser Aporien die Interdependenz zwischen den beiden erziehungswissenschaftlichen Wahrnehmungsproblemen. Bereits am Anfang seiner Ausführungen zur genannten Problematik stand die These, dass niemand am Thema Toleranz vorbei kommt, der die Geschichte von Religion und Religionsfreiheit thematisieren möchte. Darüber hinaus führe eine Auseinandersetzung mit der Entwicklung des Toleranzverständnisses unweigerlich zu religiösen Fragen. Ein Ausblenden der religiösen Zusammenhänge bedeutet für eine Bildung zur Toleranz demnach, dass historische Voraussetzungen der Bildung zur Toleranz weder vergewissert noch geprüft werden können. Diese somit auf einen unhistorisch-abstrakten Ansatz verkürzte Bildung schließt nicht zuletzt eine Auseinandersetzung mit den geschichtlich vielfach durchgespielten problematischen Formen des Toleranzverständnisses aus. Schweitzer bezeichnet dies als »die geschichtliche Aporie einer nicht auf Religion eingestellten Bildung zur Toleranz.«604 Ähnliches gilt darüber hinaus für die zuvor im Blick auf die Gegenwart formulierte These, dass interkulturelle Fragen, Spannungen und Konflikte niemals in verengender oder gar reifizierender Weise auf kulturelle, ethnische oder religiöse Faktoren zurückgeführt werden dürfen. Während dies inzwischen hinlänglich bekannt sei, gelte gleichwohl auch umgekehrt: Auch jeder Versuch, kulturelle, ethnische und religiöse Aspekte schlicht zu übergehen, sei unangemessen. Schweitzer folgert daher, dass in einer gesellschaftlichen und weltpolitischen Situation, in der religiöse Spannungen und Konflikte eine zunehmend wahrgenommene Rolle spielen, eine nicht auf Religion eingestellte Bildung zur Toleranz für die Erziehungswissenschaft unweigerlich zu einem Verlust an öffentlicher Relevanz führt. Es bleibt fortan unklar, welchen Beitrag Erziehung oder Bildung zur Lösung oder zumindest zur Bearbeitung aktueller Konflikte zu leisten vermag. Dies nennt Schweitzer »die Aporie der Relevanz bzw. Irrelevanz einer nicht auf Religion eingestellten Bildung zur Toleranz.«605 Eine weitere Zuspitzung erfährt dieses Argument durch den Hinweis, dass das erziehungswissenschaftliche Streben nach Autonomie im Verhältnis zu Religion und vor allem zur Kirche ursprünglich vom Anspruch auf Freiheit und Selbständigkeit von Erziehung und Bildung motiviert war. Zumindest in der Sache folgte es dem Einsatz für tolerante Verhältnisse, die nicht länger durch machtförmige Vorgaben bestimmt sein sollten. Die Klassiker der Pädagogik von Rousseau über Diesterweg bis hin zu Nohl lassen deutlich erkennen, dass Religion und Kirche angesichts des Bündnisses von Thron und Altar gleicherma603 A. a. O., 344. 604 Ebd. 605 Ebd.

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ßen als Hindernis für eine freiheitliche Pädagogik aufgefasst wurden. Ist die Ursache für die »religiöse Abstinenz«606 der Erziehungswissenschaft also in einem freiheitlichen Motiv zu verorten, so läuft sie in der Gegenwart Gefahr, sich in ihr Gegenteil zu verkehren. In einer multireligiösen Gesellschaft stellen sich viele religiöse Fragen gerade im Zusammenhang mit solchen Minderheiten, deren Anerkennung in der Gesellschaft ohnehin umstritten ist. Für Schweitzer kann sich die Nichtbeachtung religiöser Dimensionen im Falle von Judentum oder Islam kaum auf freiheitliche Motive berufen. »Eher könnte ihr zum Vorwurf gemacht werden, dass sie selbst zu einem Bestandteil intoleranter Verhältnisse geworden sei.« Dies spitzt er zu »mit der Formulierung einer Aporie der Intoleranz, in die eine nicht auf Religion eingestellte Bildung zur Toleranz in einer multikulturellen Gesellschaft in geradezu paradoxer Weise zu geraten scheint.«607 Zwar könnte dieser Vorwurf als überzogen wahrgenommen werden, da sich die erziehungswissenschaftliche Diskussion der Gegenwart doch ausdrücklich an einer »Pädagogik der Anerkennung« orientiert und darüber hinaus doch gerade der Einsatz für Menschenrechte für die Erziehungswissenschaft bezeichnend ist. Allerdings führt eine genauere Betrachtung der »Pädagogik der Anerkennung«608 für Schweitzer zu einem ähnlichen Befund wie bereits die Analyse des pädagogischen Toleranzdiskurses. Das Verständnis von Anerkennung wird dabei durch formal-kommunikationstheoretische Formulierungen begründet, während ein Bezug auf die materialen Herausforderungen von Kultur und Religion ausbleibt. Schweitzer verweist auf die berühmt gewordene Unterscheidung von Taylor609, der zufolge es die »Politik des Universalismus« ist, von der sich die Pädagogik der Anerkennung leiten lässt, nicht hingegen die »Politik der Differenz«. Bei ersterer gehe es um die Würde als etwas, »das allen Bürgern in gleichem Maße zukommt, und die ihrem Inhalt nach auf die Angleichung und den Ausgleich von Rechten und Ansprüchen zielt.« Dagegen ziele die »Politik der Differenz« darauf, dass »jeder Mensch um seiner unverwechselbaren Identität willen anerkannt werden«610 soll. Ohne dass dies an dieser Stelle im Einzelnen nachgewiesen und erörtert werden könnte, formuliert Schweitzer als These, »dass eine nicht auf Religion eingestellte Bildung zur Toleranz notwendig hinter einer im vollen Sinne differenzorientierten Anerkennung zurückbleibt, solange die Anerkennung nicht auch religiöse Unterschiede

606 A. a. O., 345. 607 Ebd. 608 Schweitzer verweist an dieser Stelle auf den Sammelband B. Hafeneger/P. Henkenborg/A. Scherr (Hg.), Pädagogik der Anerkennung. 609 C. Taylor, Die Politik der Anerkennung. 610 A. a. O., 28.

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einschließt und deshalb ebenso sorgfältig wahrnimmt wie kulturelle oder soziale Differenzen.«611 Er fährt fort mit dem Verweis, dass sich die »Politik des Universalismus« u. a. auf die Menschenrechte beruft. Tatsächlich verbrieft die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 in Art. 26 nicht nur das »Recht auf Bildung«, sondern verlangt vielmehr auch, dass Bildung »zu Verständnis, Toleranz und Freundschaft zwischen allen Nationen und allen rassischen oder religiösen Gruppen beitragen« muss. Eine sich auf die Menschenrechte berufende, sich in diesem Sinne als universalistisch verstehende Bildung zur Toleranz besitzt hier also in der Tat einen starken Anhalt. Allerdings führt die Berufung auf Menschenrechte pädagogisch gesehen zu »Folgefragen, in deren Zentrum die nach der motivationsgenerierenden und handlungsbindenden Kraft von Menschenrechten steht. Die bloße Kenntnis des Textes der Menschenrechtserklärung reicht jedenfalls moralpädagogisch nicht aus.«612 Wird die Menschenrechtserklärung von Jugendlichen als Text aufgenommen, wirkt sich dies noch nicht auf ihr Verhalten aus. Deshalb kann eine Pädagogik der Menschenrechte versuchen, diese Rechte als Gesetz stark zu machen: Unter Androhung von Sanktionen müssen sie ebenso wie alle anderen Gesetze befolgt werden. Pädagogisch weiß diese Strategie allerdings kaum zu überzeugen, da sie eben nicht zu autonomen Handlungsentscheidungen führt. Lenhart613 entscheidet sich für eine solche »rechtspositivistische Begründung«: »Menschenrechte gelten, weil es sie faktisch gibt. Sie sind positives Recht«. Er vertritt diese Auffassung, obwohl ihm bewusst ist, dass »moral- und ethiktheoretische Legitimationsstärkung weiterhin wichtig« bleibt, »insbesondere in menschenrechtsdidaktischen Zusammenhängen«. Allerdings könne die »faktische Geltung und Universalität der Menschenrechte« von solchen Begründungen keinesfalls abhängig gemacht werden. Eben dies bewegt ihn zu der genannten »rechtspositivistischen« Auffassung. Schweitzers Einschätzung folgend unterstreicht diese Sichtweise weiter die aporetische Situation einer nicht auf Religion eingestellten Bildung zur Toleranz, in diesem Fall »im Sinne einer motivationalen Aporie. Von allein rechtlichen Argumenten geht bekanntlich keine handlungsbindende Motivation aus.«614 Von der Frage nach den motivationalen Grundlagen einer Bildung zur Toleranz schlägt Schweitzer weiter den Bogen zu der letzten von ihm benannten Aporie, die sich nun auf den Umgang mit Religion selbst bezieht. Allzu häufig 611 F. Schweitzer, Toleranz und Religion – Interdependente Wahrnehmungsprobleme säkularer Erziehungswissenschaft?, 345. 612 A. a. O., 346. 613 V. Lenhart, Pädagogik der Menschenrechte. 614 F. Schweitzer, Toleranz und Religion – Interdependente Wahrnehmungsprobleme säkularer Erziehungswissenschaft?, 346.

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wird Religion lediglich als mögliches Objekt von Toleranz erachtet – als Toleranz gegenüber religiösen Wahrheitsansprüchen, die den eigenen Überzeugungen zuwider laufen. Darüber hinaus kommt Religion zunehmend als Hindernis für Toleranz in den Blick.615 Innerhalb extremer, insbesondere fundamentalistischer Überzeugungen wird Toleranz als unmöglich eingestuft. In vorausgegangenen Abschnitten dieser Untersuchung wurde bereits darauf hingewiesen, dass noch eher selten umgekehrt auf Religion als eine Wurzel von Toleranz verwiesen und damit auch Religion als ein mögliches Motiv für Toleranz in Betracht gezogen wird.616 Im Horizont der Globalisierung und der durch diese bedrohten Identitäten ist die Notwendigkeit, nach den religiösen Wurzeln der Toleranz zu fragen, besonders einleuchtend: »Betrachten wir die Globalisierung unter der Fragestellung nach dem Verhältnis von Toleranz und Identität, erscheint es aus der Perspektive der nicht-westlichen Kulturen so, als werde von ihnen Toleranz gegenüber dem wirtschaftlichen Vordrängen des Westens gefordert, das zugleich die Symbole westlicher Kultur zur kulturellen Leitwährung der nichtwestlichen Kulturen macht. Die erzwungene Toleranz führt zum Gefühl einer massiven Identitätsbedrohung, die sich im Protest gegen die Globalisierung äußert.« Daraus ist dann zu folgern: »Radikale Intoleranz – von dem Versuch der vollständigen Selbstabschließung bis zur terroristischen Gewalt – kann so zur Folge der erzwungenen Toleranz werden.«617 Die einzige Alternative dazu besteht in der »Aufgabe, die Quellen der Toleranz in den religiösen Traditionen selbst zu suchen.«618 Diese globalisierungs- und religionstheoretische These lässt sich vor dem Hintergrund bisheriger Ergebnisse dieser Untersuchung auch bildungstheoretisch sowie empirisch untermauern: Jugendliche bekennen sich vielfach zu religiöser Toleranz, die jedoch im Sinne der religiösen Individualisierung verstanden wird und im Blick auf die Spannungen und Konflikte zwischen den religiösen Traditionen und Religionsgemeinschaften abstrakt bleibt.619 Wie bereits an anderer Stelle erwähnt, bezeichnet Schweitzer dies als eine »dünne« Form der Toleranz, von der dann eine »dichte« Form als einzig plausibles Bildungsziel zu unterscheiden bleibt.620 Meiner eigenen Terminologie folgend entspricht dem eine »reflektierte« Form der Toleranz, die es – in Abgrenzung zu einer beliebig und »abstrakt« bleibenden Toleranz – als Bildungsziel anzustreben gilt.

615 616 617 618 619 620

Schweitzer verweist auf W. Heitmeyer/R. Dollase (Hg.), Die bedrängte Toleranz. Vgl. dazu Chr. Schwöbel/D. von Tippelskirch (Hg.), Die religiösen Wurzeln der Toleranz. Chr. Schwöbel, Toleranz aus Glauben, 17 f. A. a. O., 21. Vgl. dazu die entsprechenden Abschnitte dieser Untersuchung, 2.1 – 2.3. Vgl. 2.3 bzw. F. Schweitzer, Religious Individualization: New Challenges to Education for Tolerance.

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Toleranz in der Syst. Theologie, Religionspädagogik und Erziehungswissenschaft

3.3.4 Ausblick und Perspektiven Die angesichts der gegenwärtigen Situation von Multikulturalität und Globalisierung überraschende Beobachtung, wie wenig sich die Erziehungswissenschaft auf die Herausforderungen der Toleranz eingelassen hat, bildete den Ausgangspunkt für die dargestellten Überlegungen. Es wurde aufgezeigt, wie eng die Schwierigkeit, sich auf Toleranz zu beziehen, mit dem säkularen Selbstverständnis der Erziehungswissenschaft in der Gegenwart zusammenhängt – insbesondere dann, wenn dieses säkulare Selbstverständnis bereits eine Auseinandersetzung mit dem Thema Religion ausschließt. Schweitzer zieht daraus den Umkehrschluss, dass sich der Toleranzbegriff nur in dem Maß erziehungswissenschaftlich integrieren und fruchtbar machen lässt, in dem sich die Erziehungswissenschaft zugleich für auf Religion bezogene Fragestellungen öffnet: »Beide Wahrnehmungsprobleme, im Blick auf Religion und im Blick auf Toleranz, lassen sich nur im wechselseitigen Zusammenhang lösen. Wo von Toleranz die Rede ist, muss auch Religion in den Blick kommen – wo von Religion die Rede ist, wird auch von Religionsfreiheit und Toleranz zu sprechen sein.«621 Zwar wurden die Aporien, in die eine nicht auf Religion eingestellte Bildung zur Toleranz zu geraten droht, im wiedergegebenen Beitrag nur thetisch entfaltet. Dennoch lassen sie deutlich vor Augen treten, »wie wichtig und wünschenswert eine Überwindung der Wahrnehmungsprobleme säkularer Erziehungswissenschaft für diese selbst, aber auch für Kultur und Gesellschaft wäre.«622 Es bleibt jedenfalls festzuhalten, dass sich eine erziehungswissenschaftliche Abstinenz bezüglich der Themen Religion und Toleranz mit Blick auf gegenwärtige soziologische und gesellschaftliche Entwicklungen nicht länger rechtfertigen lässt und auf Unverständnis stoßen muss. Hinsichtlich der Herausforderungen einer zunehmend multikulturellen und somit auch multireligiösen Gesellschaft, mit denen sich Jugendliche konfrontiert sehen, schließt dieser Abschnitt mit dem drängenden Hinweis, den erziehungswissenschaftlichen Diskurs für Fragen einer Erziehung und Bildung zu reflektierter Toleranz zu öffnen.

621 F. Schweitzer, Toleranz und Religion – Interdependente Wahrnehmungsprobleme säkularer Erziehungswissenschaft?, 347. 622 Ebd.

4. Toleranz im baden-württembergischen Bildungsplan – eine exemplarische Analyse

Um die unbedingte Verankerung des Toleranzprinzips im Zusammenhang mit Bildung und Erziehung zu betonen, sei erneut an Artikel 26 Abs. 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte erinnert: Bildung muss demzufolge »zu Verständnis, Toleranz und Freundschaft zwischen allen Nationen und allen rassischen oder religiösen Gruppen beitragen […]«623 Bildung und Erziehung kann nicht getrennt von einer Erziehung zu Toleranz gedacht werden, sondern muss diese stets implizieren. Auch die eingangs bereits erwähnte Studie »Tolerance and Curriculum« des norwegischen Religionspädagogen Geir Afdal lässt erkennen, dass es sich bei »Toleranz« um eine der Tugenden handelt, denen sowohl von Lehrer- als auch von Schülerseite eine wachsende Bedeutung und eine zunehmend prominente Rolle im Kontext von Erziehung und Bildung zugeschrieben wird. Die große Mehrheit der in einer empirischen Studie interviewten norwegischen Lehrkräfte, die nach den ihrer Ansicht nach wichtigsten Inhalten einer Erziehung zu einer ethischen und moralischen Lebensführung befragt wurden, bezog sich auf die Werte Toleranz und Respekt, Empathie und Einfühlungsvermögen, Solidarität und Verantwortungsbewusstsein. Einige dieser Werte gelten implizit als Bildungsziele in den Bildungsplänen der Bundesländer für allgemein bildende Schulen in Deutschland. Die mit den Schulgesetzen vorgegebenen Bildungsziele werden durch Lehrpläne oder Bildungspläne, für die das Kultusministerium des jeweiligen Landes zuständig ist, konkretisiert.624 Im Folgenden soll der allgemeine Bildungsplan 2004 aus BadenWürttemberg exemplarisch für die föderalistisch-autonom gestalteten Bildungspläne der jeweiligen deutschen Bundesländer in den Blick genommen werden. Auch hier finden sich einige der oben genannten Werte und Tugenden in Form von in der schulischen Erziehungs- und Bildungsarbeit anzustrebenden 623 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Art. 26,2 (http://www.amnesty.de/alle-30-artikel-der-allgemeinen-erklaerung-der-menschenrechte; gesehen am 02. 06. 2011). 624 Für weitere Informationen vgl. Deutscher Bildungsserver unter http://www.bildungsserver.de.

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Toleranz im baden-württembergischen Bildungsplan

Kompetenzen auf Seiten der Schülerinnen und Schüler wieder. Wie sieht es nun konkret mit »Toleranz« im Bildungsplan aus?625 Dem katholischen Religionspädagogen Rudolf Englert zufolge kann es – wie bereits an vorausgegangener Stelle in dieser Untersuchung erläutert626 – »keinen Zweifel daran geben, daß etwa die Schulen in der Erziehung zur Toleranz eine wichtige Aufgabe zu sehen haben.« Er benennt die Fähigkeit zur Toleranz nachdrücklich als konkretes Erziehungsziel, da sie an bestimmte kognitive und affektive Voraussetzungen gebunden sei, die im Prozess der Sozialisation von jeder heranwachsenden Generation und von jedem Kind neu ausgebildet werden müssen.627 Ist nun aus dem Bildungsplan 2004 eine Erziehung zur Toleranz im Zuge der Kompetenzorientierung und der Einführung von Bildungsstandards implizit oder explizit als Bildungsziel abzuleiten? Im Zuge der Beantwortung dieser Frage werden sämtliche Textstellen innerhalb des Bildungsplans 2004, in denen von Toleranz die Rede ist, einer kontextualen Analyse unterzogen und hinsichtlich der darin jeweils zum Tragen kommenden Toleranzkonzeptionen geprüft.

4.1

Der Auftrag der Schule

Aufschlussreich für die Beantwortung der Frage nach einer Erziehung zur Toleranz als Bildungsziel ist ein Ansetzen beim Auftrag der Schule, wie er in der Einführung zum Bildungsplan 2004 für alle Schularten des Landes – Grundschule, Hauptschule, Realschule und Gymnasium – von Hartmut von Hentig im Auftrag des Bildungsrates Baden-Württemberg erläutert wird628. Ein Blick auf die dem eigentlichen Bildungsplan vorangestellten Ausführungen Hartmut von Hentigs dürfte sich allein vor dem Hintergrund als lohnend erweisen, als von Hentig vor nicht allzu langer Zeit Zweifel an der Lehr- und Lernbarkeit von Religion und Glaube ausdrückte und Kritik an den zentralen Anliegen der Religionspädagogik äußerte. Nach Englerts Auffassung schreibt von Hentig in seinem 1992 erschienenen Werk Glaube. Fluchten aus der Aufklärung die Tradition Kierkegaards fort, welcher einst höhnisch bemerkte: »Solange in Dänemark 1000 königliche Broterwerbe für Lehrer in Christentum vorhanden sind, 625 Während sich die vorliegende Untersuchung eine fächerübergreifende Bildungsplananalyse zu »Toleranz« zur Aufgabe macht, sei an dieser Stelle auf Dieterichs umfassende Analyse des Religionslehrplans in Deutschland zwischen 1870 und 2000 hingewiesen, vgl. V.-J. Dieterich, Religionslehrplan in Deutschland (1870 – 2000). Gegenstand und Konstruktion des evangelischen Religionsunterrichts im religionspädagogischen Diskurs und in den amtlichen Vorgaben. 626 Vgl. 3.2.2.2. 627 R. Englert, Religiöse Erziehung als Erziehung zur Toleranz, 161 f. 628 Vgl. H. von Hentig, Einführung in den Bildungsplan 2004.

Der Auftrag der Schule

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ist das Bestmögliche dafür getan, Christentum zu verhindern.«629 In einem Ton »mitleidigen Spotts« versuche von Hentig, »die Aussichtslosigkeit auch und gerade moderner Religions-Pädagogik vor Augen zu führen.«630 Seiner Überzeugung nach wären »all unsere um intellektuelle Tüchtigkeit, psychische Gesundheit und soziale Angepasstheit bemühten Religions-Pädagogen«631 von Schleiermacher zu den »verständigen und praktischen Menschen« gezählt worden, die, mehr als »Zweifler und Spötter«, das Streben der Heranwachsenden »nach dem Höheren« unterdrücken und so verhindern, dass sich deren religiöse Anlage entwickeln kann.632 Vor dem Hintergrund der vormals geäußerten kritischen Haltung von Hentigs gegenüber religiöser Erziehung erscheint nun ein ausführlicher Blick auf seine einleitenden Erläuterungen zum Auftrag der Schule im baden-württembergischen Bildungsplan umso interessanter. Die Ausführungen beginnen mit der Feststellung, dass die neuzeitliche Pflichtschule der Reformation und dem Merkantilismus zu verdanken ist: alle Menschen sollten in der Bibel lesen können und alle sollten einem für das Gemeinwesen nützlichen Gewerbe nachgehen können. Bei Hofe, bei eigens dazu berufenen Hofmeistern und später auf den ökonomischeren Ritterakademien lernte man die Adelskultur, in der sich praktische und politische, gelehrte und gesellige, zeremonielle und schöne Künste vereinten. Das nachdrängende Bürgertum, so Hentig, begnügte sich mit Schreibschulen und Gelehrtenschulen, die den gesellschaftlichen Aufstieg ermöglichten und deren Ergebnis, die Schulbildung, bezeugte, dass man »dazugehörte«. Der Nationalstaat sorgte dafür, dass auf allen Schulstufen und in allen Schularten die gewünschte patriotische Gesinnung gelehrt wurde. Ein Bewusstsein von »politischer Bildung«, die die öffentliche Schule dem Staatswesen und den jungen Bürgerinnen und Bürgern schuldet, bildete sich laut von Hentig erst im 20., im republikanischen Jahrhundert. In neuester Zeit ist die Rede von der human resource als Zukunftspotenzial, von der die Standortsicherheit der jeweiligen Gesellschaft abhängt. Von Hentig fährt fort indem er erläutert, dass die Bildungsplanung aus diesem Gemenge von Absichten und Aufträgen eine Auswahl treffen und diese in eine begründete Ordnung bringen muss, die allgemeine Zustimmung findet. Im Bildungsplan 2004 werden im Folgenden mehrere Punkte genannt, von denen in unserem Zusammenhang insbesondere dem letzten gesteigerte Aufmerksamkeit zuteil werden muss. Zum ersten sei die von der Schule zu erbringende Leistung »Bildung« in dreifacher Bestimmung. Sie sei das, was der sich bildende Mensch aus sich zu 629 630 631 632

S. Kierkegaard, Der Augenblick, 65. R. Englert, Religionspädagogische Grundfragen: Anstöße zur Urteilsbildung, 275. H. von Hentig, Glaube. Fluchten aus der Aufklärung, 69. Vgl. F.D.E. Schleiermacher, Über die Religion, 96 ff.

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Toleranz im baden-württembergischen Bildungsplan

machen sucht, mehr ein Vorgang als ein Besitz. Auch unabhängig von der Gesellschaft folgt er diesem Streben, wie es sich am Beispiel Robinsons veranschaulichen lässt: selbst er gibt sich Rechenschaft über die vergehende Zeit und bildet sich seinen Lebensumständen entsprechend fort. Dies nennt von Hentig die »persönliche Bildung, die, wie man sieht, stark von der Kultur bestimmt wird, in der einer aufgewachsen ist, die aber auch ohne sie Geltung hat.«633 Zweitens sei die praktische Bildung das, was den Menschen befähigt, in seiner geschichtlichen Welt, im ¦tat civil, zu überleben: Das Wissen und die Fertigkeiten, die Einstellungen und Verhaltensweisen, die es ihm ermöglichen, sich in der von seinesgleichen ausgefüllten Welt zu orientieren und in der arbeitsteiligen Gesellschaft zu überleben. Bildung sei schließlich das, was der Gemeinschaft erlaubt, gesittet und friedlich, in Freiheit und mit einem Anspruch auf Glück zu bestehen: Sie richte den Blick des Einzelnen auf das Gemeinwohl, auf die Existenz, Kenntnis und Einhaltung von Rechten und Pflichten, auf die Verteidigung der Freiheit und die Achtung für Ordnung und Anstand. Sie ist für die richtige Balance in der Gesellschaft zuständig und hält zur Prüfung der Ziele, der Mittel und ihrer beider Verhältnisse an. Darüber hinaus befähigt sie zur Entscheidung angesichts von Macht und begrenzten Ressourcen in begrenzter Zeit. Laut von Hentig ist dies die politische Bildung. Alle drei Bildungsaufgaben wurden der Schule übertragen, wobei keine der anderen aufgeopfert werden darf. Selbst wenn es angesichts der Entwicklungen in der Weltwirtschaft, auf dem Arbeitsmarkt und in der Technologie nahe liegt, die unmittelbar verwertbaren Ergebnisse von Bildung (die marketable skills) besonders zu fördern, muss der Bildungsplan 2004 der Landesregierung darauf bestehen, alle drei Aufträge gleich zu gewichten – die Ausbildung der Gesamtpersönlichkeit der Schülerinnen und Schüler, die Überlebensfähigkeit der Gesellschaft sowie die Übung der jungen Menschen in der Rolle des Bürgers unserer Republik, des entstehenden Europas, der zukünftigen Weltwirtschaft. Ein Gleichgewicht zu halten fällt der Schule nicht leicht, da meist aufgrund äußerer Umstände und Entwicklungen mal die eine, mal die andere Aufgabe überwiegen mag. Ist dies der Fall, müssen die Verantwortlichen korrigierend eingreifen und die Ausgeglichenheit wiederherstellen. In der Verfassung des Landes Baden-Württemberg und im Schulgesetz des Landes finden die Verantwortlichen dazu den Maßstab für ihr Handeln. Verfassung und Schulgesetz beruhen auf der freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik. Das sensible Verhältnis von »Erziehungsanspruch« der Eltern und »Bildungsanspruch« der öffentlichen Schule ist darin geregelt. Beide sind – nicht 633 H. von Hentig, Einführung in den Bildungsplan 2004, 11.

Der Auftrag der Schule

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immer problemlos – eng miteinander verknüpft: Die Schule fungiert als Lernfeld für die Beziehungen der jungen Menschen untereinander und zwischen ihnen und Personen aus anderen Kulturen, mit anderen Biographien, Wertvorstellungen, Lern- und Denkgewohnheiten, mit anderen Stärken und Schwächen, Erwartungen und Erschwernissen. Darum hat die Schule immer auch einen Erziehungsauftrag. Genauso wenig hört das Elternhaus auf, an der Bildung der Schülerinnen und Schüler mitzuwirken. »Der Auftrag der öffentlichen Schule verpflichtet diese zu enger und einvernehmlicher Zusammenarbeit mit den Eltern und legt eine sachliche Kooperation mit außerschulischen Partnern (Kommunen, Kirchen, Betrieben, Vereinen, Kultureinrichtungen) nahe.«634 Über die drei genannten Formen der Bildung hinaus haben die Schule und die sie anleitenden Pläne psychische, soziale und wirtschaftliche Wirkungen. Jedes Kind kommt mit einer individuellen Prägung in die Schule, betrachtet man allein die Fragen nach dem Geschlecht, der familiären Situation, der wirtschaftlichen Lage und dem sozialen Umfeld. Von derlei Faktoren unabhängig hat jeder junge Mensch ein Recht auf Erziehung und Bildung, zu dessen Erfüllung ihm die öffentliche Schule unter ausdrücklicher Berücksichtigung seiner besonderen Begabung jede Unterstützung schuldet. Wenigstens die »Ausbildungsfähigkeit« sollte beim Verlassen der Schule von jedem Schüler und jeder Schülerin erreicht worden sein. Die Durchlässigkeit der Schularten füreinander macht es möglich, andere Wege für den Einzelnen zu erproben, die gegebene Vielfalt pädagogisch zu nutzen sowie verfehlte Entscheidungen zu korrigieren. Die Schule ist dabei zu angemessener Förderung und Motivation auf allen Stufen und in allen Schularten verpflichtet. Schließlich nennt von Hentig einen weiteren Punkt, indem er den durch die Landesverfassung und das Schulgesetz erteilten Auftrag an die Schulen zitiert, welcher lautet: »[…] die Kinder auf der Grundlage christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte« zu erziehen. Er betont, dass diese wiederum »christliche Toleranz und die Achtung der Würde und Überzeugung anderer«635 gebieten. Die Schulen seien offen für Schülerinnen und Schüler anderer Kulturen und bemühten sich, die Einwanderer in unser Land zu integrieren. Nahezu unvermittelt und – angesichts der zuvor wiedergegebenen kritischen Äußerungen von Hentigs bezüglich religiöser Erziehung – durchaus überraschend ist in der gemeinsamen Einführung zu allen Bildungsplänen BadenWürttembergs also von christlicher Toleranz die Rede. Als Ausführung und Erläuterung, was konkret darunter zu verstehen sei, müssen wohl die beiden nachfolgenden Sätze genügen: Die Achtung der Würde und Überzeugung an634 A. a. O., 12. 635 H. von Hentig, Einführung in den Bildungsplan 2004, 12 (Hervorhebung d. Vf.).

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Toleranz im baden-württembergischen Bildungsplan

derer, das Offensein für andere Kulturen sowie die Bemühungen um die Integration von Einwanderern bestimmen – vermutlich als Synonyme verstanden – die Toleranzkonzeption, die dem baden-württembergischen Bildungswesen zugrunde liegt. Ein vorangestelltes Adjektiv dient darüber hinaus ihrer Charakterisierung: christlich. Allerdings bleiben weitere Ausführungen sowie eine eventuelle Begründung der Toleranz an dieser Stelle aus. Die sich aufdrängende Frage, ob in den der allgemeinen Einführung folgenden schulartspezifischen Einzelplänen Präzisierungen und Darlegungen einer christlichen Toleranzkonzeption – deren Vermittlung ja wie gesehen ein Auftrag der Schule ist – zu erwarten sind, werden die nachstehenden Einzelplananalysen zu beantworten versuchen. Hierbei wird zuerst der Bildungsplan des allgemein bildenden Gymnasiums in den Blick genommen und auf die darin vorkommenden Verwendungsarten des Toleranzbegriffes untersucht werden, bevor die Bildungspläne für Grund-, Haupt- und Realschule vergleichend und ergänzend herangezogen werden.

4.2

Toleranz im Bildungsplan 2004 für das Gymnasium

Auf den rund 530 Seiten des Bildungsplans für das allgemein bildende Gymnasium in Baden-Württemberg wird der Begriff »Toleranz« – unter Absehung der bereits vorgestellten Textstelle in der Einführung zum Bildungsplan – 20 Mal gebraucht, davon jedoch 12 Mal im selben Zusammenhang innerhalb der Leitgedanken zum Kompetenzerwerb für moderne Fremdsprachen. Das Verb »tolerieren« ist an lediglich zwei Stellen zu finden. Diese Tatsache ist vorab als auffällig zu bezeichnen und erstaunt umso mehr, als im allgemeinen Sprachgebrauch durchaus von einem häufigen Auftreten des vorliegenden Verbums ausgegangen werden kann. Ebenso findet das Adjektiv »tolerant« im gymnasialen Bildungsplan Baden-Württembergs eine zweifache Verwendung und wird darüber hinaus auch in den Bildungsplänen für Real- und Hauptschule genannt. Da es sich hierbei jedoch stets um eine Aneinanderreihung verschiedener Adjektive handelt, die allgemeinhin gleichsam synonym verwendet zu werden scheinen, wird über den Gebrauch des Adjektivs »tolerant« in den Bildungsplänen Baden-Württembergs an späterer Stelle im Zusammenhang mit den synonym verwendeten Konzepten zu Toleranz zu berichten sein. Des Weiteren ist in den gymnasialen Bildungsstandards für Französisch mehrere Male von »Fehlertoleranz« die Rede636, in den Bildungsstandards für Biologie und Naturwissenschaft und Technik wird jeweils »Frustrationstole636 Vgl. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (Hg.), Bildungsplan 2004, Allgemein bildendes Gymnasium, 129, 131, 333, 462.

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ranz« genannt: Die Schülerinnen und Schüler »werden sich bewusst, dass Neugier, Gruppenzwang, mangelnde Ich-Stärke oder geringe Frustrationstoleranz zu Missbrauch und Abhängigkeit von Suchtmitteln führen können« (Bildungsstandards Biologie Klasse 8) bzw. verfügen über Frustrationstoleranz in Zusammenhang mit »Durchhaltevermögen […] bei der Lösung komplexer Aufgaben«637. Die übrigen Textstellen, in denen von »Toleranz« die Rede ist, sollen nachstehend betrachtet werden. Die Untersuchung der Textstellen, die das Verb »tolerieren« enthalten, wird im Anschluss daran erfolgen. Auch wenn die Befunde zu Substantiv und Verbum inhaltlich nicht zu trennen sind, möchte diese an der Wortart orientierte Vorgehensweise für mehr Übersichtlichkeit in der Darstellung der Befunde garantieren.

4.2.1 »Toleranz« als Substantiv Die Bildungsstandards für Ethik am Gymnasium sind in lebensweltlichen und didaktischen Bezügen angeordnet und beinhalten: die allgemeinen menschlichen Lebensbedingungen und die Erfahrungswelt der Schüler (Anthropologie), die prinzipielle Auseinandersetzung mit Begriff, Aufgabe und Geltung von Moral (Moralphilosophie), die Auseinandersetzung mit gesellschaftlich relevanten und für die Entwicklung von Jugendlichen folgenreichen Herausforderungen (Problemfelder der Moral), das Kennenlernen von und die Auseinandersetzung mit religiösen Weltsichten (Religion) sowie die Förderung ethischer Urteilsbildung (moralisch-ethisches Argumentieren). Für Klasse 8 ist der Bereich Anthropologie wiederum aufgeteilt in die Bereiche Individualität, Sozialität und Konflikte. Als dritter Punkt ist unter dem Oberbegriff der Sozialität folgende Kompetenz zu lesen: »Die Schülerinnen und Schüler können […] altruistische Grundhaltungen wie Achtung vor dem anderen, Rücksichtnahme, Höflichkeit, Geduld und Toleranz einüben.«638 Eingereiht und aufgelistet als eine von mehreren »altruistischen Grundhaltungen« ist an dieser Stelle nicht erkennbar, welches Toleranzverständnis bzw. welche Toleranzkonzeption der hier gewählten Formulierung zugrunde liegt. Auf klärende Weiterführungen wird verzichtet. Mit Blick auf den Kontext erweckt die Verwendung des Toleranzbegriffes hier den Eindruck einer recht unreflektierten und beinahe formelhaften Wendung. In den Leitgedanken zum Kompetenzerwerb für Deutsch wird man erneut fündig. Sprachkompetenz, kulturelle Kompetenz, ganzheitliche Persönlichkeitsbildung, Methodenkompetenz, kommunikative Kompetenz, Schreibkom637 Vgl. a. a. O., 207 und 398. 638 A. a. O., 65 (Hervorhebung d. Vf.).

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Toleranz im baden-württembergischen Bildungsplan

petenz, Lesekompetenz, Medienkompetenz sowie Sprachreflexion sollen im Fach Deutsch erworben werden. Im Rahmen des Kompetenzerwerbs einer ganzheitlichen Persönlichkeitsbildung ist nun auch von Toleranz die Rede. Dort heißt es, dass die Beschäftigung mit Texten und Medien ganz besonders zur ganzheitlichen Persönlichkeitsbildung beitrage. »Die Schülerinnen und Schüler erweitern ihre Wahrnehmungsfähigkeit, entwickeln die Fähigkeit zur Empathie, bilden Erkenntniskategorien aus und erweitern ihr Wissen. Sie entfalten ihre Fantasie und lernen Probleme kreativ zu lösen. Indem sie sich mit den in Texten und Medien vorhandenen geschlechtsspezifischen und anderen Rollenmustern auseinander setzen, erkennen und hinterfragen sie Einstellungen, Verhaltensweisen und Werthaltungen.« Und weiter : »Dabei entwickeln sie Verständnis und Toleranz. Gleichzeitig gewinnen sie Orientierungsmöglichkeiten für ihre Persönlichkeitsentwicklung.«639 Die Beschäftigung mit Texten und Medien im Deutschunterricht soll also zu einer Auseinandersetzung mit den darin erkennbaren Rollenmustern und den daraus abzuleitenden Einstellungen, Verhaltensweisen und Werthaltungen führen. Verständnis und Toleranz sowie Orientierungsmöglichkeiten für ihre Persönlichkeitsentwicklung sind die durch diese Arbeitsweise zu erwerbenden Kompetenzen auf Schülerseite. In diesem Zusammenhang scheint der Gebrauch des Toleranzbegriffes bewusster gewählt worden zu sein. Ebenso ist eine reflektiertere Toleranzkonzeption an dieser Stelle erkennbar : Ihr zufolge besitzt Toleranz als zu erwerbende Kompetenz einen prozesshaften Charakter und soll durch intensive und kritische Auseinandersetzung mit andersartigen »Einstellungen, Verhaltensweisen und Werthaltungen« erlangt werden. In ähnlicher Weise ist auch in den Leitgedanken zum Kompetenzerwerb für moderne Fremdsprachen die Konzeption einer reflektierten Toleranz zu finden, welche darüber hinaus die interkulturelle Komponente mit einbezieht. Vorab werden die neuen Herausforderungen auf sozialem, wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet betont, die das Zusammenwachsen Europas und der Welt, die Zuwanderung von Menschen aus anderen Sprach- und Kulturkreisen, das Medienangebot und die modernen Technologien mit sich bringen. Da Fremdsprachenkenntnisse in hohem Maße zum gegenseitigen Verständnis und friedlichen Zusammenleben beitragen und die Voraussetzung für Mobilität und Zusammenarbeit sind, kommt dem Erlernen von Fremdsprachen in diesem Umfeld eine große Bedeutung zu. Im Fremdsprachenunterricht sollen die Schülerinnen und Schüler eine positive Haltung gegenüber dem Sprachenlernen aufbauen, Sprach- und Sprachlernkompetenzen – bereits von Beginn der Grundschule an – entwickeln und erweitern sowie lernen, sich über Sprache in der Welt zurechtzufinden und sich neue Lebenswirklichkeiten erschließen zu 639 A. a. O., 76 (Hervorhebung d. Vf.).

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können. Dabei regt die Begegnung mit kultureller Vielfalt zur Aufgeschlossenheit gegenüber anderen Kulturen an und ermutigt zugleich zur Reflexion über eigene Erfahrungen und soziokulturelle Bedingungen. Weiter heißt es, dass auf diese Weise »eine interkulturelle Kompetenz aufgebaut [werde], die Identitätsfindung und Persönlichkeitsbildung unterstützt, Empathie, Achtung und Toleranz fördert sowie einen Perspektivenwechsel ermöglicht.«640 Diesen Zielen diene, ähnlich wie im Deutschunterricht, auch die Begegnung mit den literarischen Ausdrucksformen und Texten in den verschiedenen Sprachen. Erneut im Zusammenhang mit dem Stichwort der »interkulturellen Kompetenz« taucht der Toleranzbegriff das nächste Mal in den Leitgedanken zum Kompetenzerwerb für Russisch auf.641 Als eine der Amtssprachen der UNO und Arbeitssprache des Europarats, als Brückensprache zu der nach Zahl der Sprecherinnen und Sprecher größten europäischen Sprachfamilie, der der slawischen Sprachen, deren Bedeutung im zusammenwachsenden Europa ständig zunimmt, möchte das Russische einen wichtigen Beitrag zur angestrebten gesamteuropäischen Mehrsprachigkeit leisten. Es eröffne nicht nur den Zugang zu Russland und der neu entstandenen russischen Kultur in Deutschland, sondern auch zum gesamten eurasischen Sprachraum. Durch die Beschäftigung mit landeskundlichen und literarischen Themen, die sich auf die Lebenswirklichkeit Russlands beziehen, wird interkulturelles Lernen gefördert. Die Leitgedanken zum Kompetenzerwerb für Russisch lauten weiter : »Die Jugendlichen erweitern ihre Allgemeinbildung und werden sensibilisiert für fremde Lebensweisen und Wertvorstellungen. Sie gewinnen einen vertieften Einblick in die soziokulturelle Realität und die Probleme des gesamten ost- und außereuropäischen Raums und werden dadurch zu Offenheit, dem Abbau von Vorurteilen und mehr Toleranz hingeführt.«642 Von einem »Geist der Toleranz« ist darüber hinaus in den Leitgedanken zum Kompetenzerwerb für das Fach Geschichte zu lesen. Zuvor heißt es, dass der Geschichtsunterricht den Schülerinnen und Schülern ermöglichen möchte, sich mit den politischen, wirtschaftlichen, rechtlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnissen, die das Leben der Menschen in der Vergangenheit bestimmt haben, zu beschäftigen. So könnten die Heranwachsenden sich darüber klar werden, dass der Mensch und die ihn umgebende Welt nur aus der Geschichte heraus zu erklären und zu begreifen seien. Durch die historische Bildung werde die Kompetenz erworben, die geschichtliche Begründung der menschlichen Existenz zu erkennen. Die Beschäftigung mit Geschichte bedeute, vergangene Zeiten zu rekonstruieren und die bestehenden Zustände auf die Bedingungen 640 A. a. O., 104 (Hervorhebung d. Vf.). 641 A. a. O., 146. 642 Ebd. (Hervorhebung d. Vf.).

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Toleranz im baden-württembergischen Bildungsplan

ihres Werdens zurückzuführen. Weiter wird ausgeführt, dass die Schülerinnen und Schüler »sich die Standort- und Zeitgebundenheit des Lebens und Denkens bewusst machen [sollen], sich mit alternativen Handlungsmöglichkeiten in der Geschichte auseinander setzen, Perspektiven gewinnen, ihre Urteilsfähigkeit schulen und ihre Zukunft gestalten lernen. Dies soll den Geist der Toleranz und Offenheit sowie die Einsicht in den Wert einer pluralistischen und demokratischen Gesellschaftsordnung fördern.«643 Hohe Bedeutung komme hierbei der Herausbildung der europäischen Identität zu, ihr soll bei der Behandlung aller historischen Epochen besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Auch in den Leitgedanken zum Kompetenzerwerb für Geographie wird Toleranz als ein Bildungsziel genannt. Im weiteren Kontext werden zunächst Grundkenntnisse von soziökonomischen Systemen wie Landwirtschaft, Industrie, Dienstleistungswirtschaft, Energiewirtschaft, Kommunikationswirtschaft, Freizeit und Tourismus, Wasserwirtschaft und Verkehrssystem als einige der Ziele des Geographieunterrichts aufgelistet. Um ein Grundverständnis für die Wirtschaft zu fördern, werden ökonomische Fragestellungen und Problemkreise einbezogen. Schülerinnen und Schüler sollen zudem grundlegende Wirtschaftsstrukturen und -prozesse und die sich daraus ergebenden Raumstrukturen und raumwirksamen Prozesse unter Berücksichtigung von Interessenkonflikten und ungleicher Entwicklung kennen und reflektieren. Erneut fällt nun das Stichwort »interkulturell«, dem wie bereits gesehen auch in den Leitgedanken zum Kompetenzerwerb für moderne Fremdsprachen große Bedeutung zukommt und auch an dieser Stelle im Bildungsplan in direktem Zusammenhang mit der Verwendung des Toleranzbegriffes zu stehen scheint, wenn es heißt: »Im Sinne einer interkulturellen Erziehung lernen sie [die Schülerinnen und Schüler] Lebens- und Wirtschaftsweisen von Völkern sowie den kulturellen Reichtum auf der Erde kennen und schätzen, erkennen die Gleichwertigkeit von Völkern an und üben sich in Toleranz und Verantwortung. Die Schülerinnen und Schüler erfahren die Erde als eine nicht vermehrbare Lebensgrundlage und zeigen Verantwortung für deren Zukunftssicherung. Hierzu bedarf es entsprechender Verhaltensweisen, um an einer nachhaltigen Entwicklung in der Einen Welt mitwirken zu können.«644 Ebenfalls in den Leitgedanken zum Kompetenzerwerb, diesmal allerdings für das Fach Gemeinschaftskunde stößt man erneut auf die Verwendung des Toleranzbegriffes. Zuvor werden Ziele des Fachunterrichtes beschrieben, in dessen Verlauf die Schülerinnen und Schüler fähig zum Perspektivwechsel werden und bereit sein sollen, die eigene Meinung der kritischen Prüfung anderer auszusetzen. Auf dieser Grundlage, so weiter, sollen die Schülerinnen und Schüler bis 643 A. a. O., 216 (Hervorhebung d. Vf.). 644 A. a. O., 238 (Einfügung und Hervorhebung d. Vf.).

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zum Ende der Oberstufe sozial-kommunikative Kompetenzen entwickeln, die ihre Kooperationsfähigkeit fördern und zum zivilgesellschaftlichen Diskurs befähigen. Der nächste, für unsere Zwecke relevante Abschnitt lautet sodann: »Personale Kompetenzen fördern einerseits die Teilhabe am politischen Prozess, andererseits demokratische Grund- und Werthaltungen. Die Schülerinnen und Schüler können zwischen eigenen Interessen und sozialer Verantwortung abwägen. Sie haben Grundwerte und Verhaltensdispositionen wie Achtung der Menschenwürde und Menschenrechte, Toleranz gegenüber anderen Lebensformen, Religionen, Weltanschauungen, Völkern und politischen Meinungen sowie Gewaltfreiheit und Zivilcourage verinnerlicht. Sie erkennen Möglichkeiten zur politischen Teilhabe und Mitbestimmung.«645 Über die gesellschaftspolitischen Fächer hinaus findet sich Toleranz als zu erwerbende Kompetenz außerdem in den beiden künstlerischen Fächern Musik und Bildende Kunst. Die Kompetenzen und Inhalte für Klasse 6 im Fach Musik sind unterteilt in drei Kompetenzbereiche: Musik gestalten, Musik hören und verstehen sowie Musik reflektieren. Im letztgenannten Kompetenzbereich wird beschrieben, dass die Schülerinnen und Schüler unterschiedliche musikalische Erscheinungsformen kennenlernen und über die Begegnung mit Komponisten und musikalischen Werken erfahren, »dass Musik immer auch in einem geschichtlich und gesellschaftlich bedingten Kontext steht. Die Schülerinnen und Schüler bringen ihre eigenen Musikerfahrungen in den Unterricht ein und lernen Musik in verschiedenen Kontexten kennen; durch die Reflexion des eigenen Umgangs mit Musik entwickeln sie Toleranz für die Hörgewohnheiten anderer und sind schließlich in der Lage, mit dem vielfältigen musikalischen Angebot angemessen umzugehen.«646 Bezüglich des Faches Bildende Kunst sind wiederum die den klassenstufenspezifischen Kompetenzen und Inhalten vorangestellten Leitgedanken zum Kompetenzerwerb von Interesse. Hier wird dargelegt, dass die Schülerinnen und Schüler im Kunstunterricht Werken aus Tradition und Gegenwart, von der Antike bis zur aktuellen Kunst, aus verschiedenen Epochen und Kulturkreisen begegnen. Sie lernen unterschiedliche bildnerische Aussageformen kennen und gewinnen Einblicke in deren kulturelle und individuelle Hintergründe. Dies soll an exemplarischen Werken geschehen, auch im Kontext zu praktischer Arbeit und der aktuellen Lebensumwelt. »So eröffnen sich den Schülerinnen und Schülern neue Perspektiven der Wirklichkeit, und sie differenzieren ihr Weltund Selbstverständnis. Die gestalterische und gedankliche Auseinandersetzung mit Kunst, Gestaltetem und der Umwelt auf der Basis von Toleranz und kon-

645 A. a. O., 259 (Hervorhebung d. Vf.). 646 A. a. O., 274 (Hervorhebung d. Vf.).

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Toleranz im baden-württembergischen Bildungsplan

struktiver Kommunikation fördert wesentlich eine Bildung, die freie, handlungsfähige und gesellschaftsfähige Menschen zum Ziel hat.«647 Im Kanon des Bildungsplans 2004 folgen den Fächern des eben untersuchten Pflichtbereichs nun die Bildungsstandards des sprachlichen und des naturwissenschaftlichen Profils sowie der Profilfächer Musik, Bildende Kunst und Sport. Daran schließen sich die Bildungsstandards für die Fächer des Wahlbereichs an. In diesen Abschnitten wird Toleranz in den Leitgedanken zum Kompetenzerwerb für Englisch, Italienisch, Spanisch, Portugiesisch und Russisch (jeweils dritte bzw. spät beginnende Fremdsprache) genannt, zum Teil in exakt denselben Kontext eingeordnet, wie er bereits im Zusammenhang der Fächer des Pflichtbereichs erläutert wurde. Dies gilt auch für den Gebrauch des Toleranzbegriffes in den Leitgedanken zum Kompetenzerwerb bzw. in den Bildungsstandards der Profilfächer Naturwissenschaft und Technik, Musik und Bildende Kunst. Ganz am Ende des Bildungsplans 2004 für allgemein bildende Gymnasien in Baden-Württemberg, unmittelbar vor den Bildungsstandards für Türkisch, findet sich in den Leitgedanken zum Kompetenzerwerb für Japanisch als spät beginnende Fremdsprache ein letztes Mal der Begriff »Toleranz«. In den weiteren Gesamtzusammenhang eingeordnet heißt es dort: »Japanisch als spät beginnende Fremdsprache hat die zentrale Aufgabe, die Schülerinnen und Schüler zur aktiven Kommunikationsfähigkeit mit Japanerinnen und Japanern zu befähigen. Dies beinhaltet interkulturelles Verständnis und Wissen um adressaten- und situationsgerechtes Verhalten. Die Beschäftigung mit der andersartigen Lebenswirklichkeit in Japan trägt im Sinne der allgemeinen Entwicklung der Persönlichkeit dazu bei, für Neues offen und bereit zu sein, Toleranz für andere Denk- und Lebensweisen zu entwickeln und sich kritisch mit dem eigenen Standpunkt auseinander zu setzen.«648 Aus dieser Textstelle kann herausgelesen werden, dass eine »Beschäftigung mit der andersartigen Lebenswirklichkeit« als Vorbedingung, eine kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Standpunkt als eine Vollzugsform und gleichzeitig als eine Konsequenz der Toleranz verstanden wird. Der Gebrauch des Toleranzbegriffes scheint an dieser Stelle sehr bewusst und reflektiert gewählt worden zu sein.

4.2.2 Das Verb »tolerieren« Insgesamt zwei Mal wird das Verb »tolerieren« im Bildungsplan 2004 für das allgemein bildende Gymnasium verwendet. Nachdem die vorausgegangene 647 A. a. O., 293 (Hervorhebung d. Vf.). 648 A. a. O., 516 (Hervorhebung d. Vf.).

Toleranz im Bildungsplan 2004 für das Gymnasium

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Analyse zur Verwendung des Begriffes »Toleranz« weder Befunde für evangelische noch für katholische Religionslehre ergab, wird man nun fündig. Die Leitgedanken zum Kompetenzerwerb für evangelische Religionslehre bringen zum Ausdruck, dass der evangelische Religionsunterricht religiöse Bildung fördert und damit einen eigenständigen und unverzichtbaren Beitrag zum allgemeinen Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule leistet. Die Aufgaben und Ziele des evangelischen Religionsunterrichts werden in drei Bereiche unterteilt und ausgeführt: »Wahrnehmen und Begleiten«, »Wissen, Verstehen und Kommunizieren« sowie »Gestalten und verantwortlich Handeln«. Unter letzterem Punkt wird beschrieben, dass der evangelische Religionsunterricht »in Dialog und Auseinandersetzung mit anderen Sinn- und Wertangeboten« dem kulturellen Verstehen und der Gestaltung des gesellschaftlichen Miteinanders dient. Außerdem befähigt der evangelische Religionsunterricht, am »Streit um die Wirklichkeit« teilzunehmen, indem Schülerinnen und Schüler angeleitet werden, eigene Positionen zu entwickeln und zu vertreten. Schließlich heißt es: »Er ermöglicht Begegnungen und fördert die Bereitschaft, andere Auffassungen zu tolerieren und von anderen zu lernen (Was ist wahr?).«649 In den Leitgedanken zum Kompetenzerwerb für katholische Religionslehre begegnet das Verb »tolerieren« in den Ausführungen zur religiösen Kompetenz, die neben der Fach- und Methodenkompetenz sowie der personalen und der sozialen Kompetenz konstitutiv ist für den Erziehungs- und Bildungsauftrag des katholischen Religionsunterrichts. Schülerinnen und Schüler werden darin unterstützt, die Frage nach Gott, nach der Deutung der Welt, nach dem Sinn des Lebens und nach den Normen für das Handeln des Menschen wach zu halten und zu reflektieren, um eine Antwort aus der Offenbarung und aus dem Glauben der Kirche zu ermöglichen. Der katholische Religionsunterricht unterstützt die Schülerinnen und Schüler, mit der Wirklichkeit des Glaubens und der Botschaft, die ihm zugrunde liegt, vertraut zu werden und den Glauben denkerisch zu verantworten. Und weiter : »Sie werden befähigt zu persönlicher Entscheidung in Auseinandersetzung mit Konfessionen und Religionen, mit Weltanschauungen und Ideologien und werden gefördert, Entscheidungen anderer zu verstehen und zu tolerieren. Schülerinnen und Schüler werden zu religiösem Leben und verantwortlichem Handeln in Kirche und Gesellschaft motiviert.«650 Insbesondere der Gebrauch des Verbs »tolerieren« in den Bildungsstandards für evangelische Religionslehre und seine Einordnung in den erklärenden Kontext belegen eine reflektierte Entscheidung für die gewählte Formulierung. Das Bekenntnis zu »Dialog und Auseinandersetzung mit anderen Sinn- und Wertangeboten« als Teil eines Grundprogramms des evangelischen Religions649 A. a. O., 24 (Hervorhebung d. Vf.). 650 A. a. O., 38 (Hervorhebung d. Vf.).

208

Toleranz im baden-württembergischen Bildungsplan

unterrichts sowie darüber hinaus der Gedanke zur Bereitschaft, »von anderen zu lernen«, stellt einen Sinnzusammenhang mit einer reflektierten Form von Toleranz her. Hier wurde versucht, die Konzeption, die hinter dem Verb »tolerieren« bzw. dem Begriff der »Toleranz« steht, mit zu berücksichtigen und in ihrer komplexen Bedeutung in die Bildungsstandards mit einzubeziehen. Diese Textstelle kann daher am ehesten als eine Konkretisierung der unvermittelt und abstrakt erscheinenden Rede von einer christlichen Toleranz gewertet werden, wie sie in der schulartübergreifenden Einführung in den Bildungsplan 2004 aufgefallen war.

4.3

Toleranz im Bildungsplan 2004 für GS, HS und RS

Auch in den Bildungsplänen für Grund-, Haupt- und Realschulen wird Toleranz als Bildungsziel genannt. Im Folgenden sollen jedoch nur Textstellen herangezogen werden, die sich durch ihren Kontext deutlich von den bereits für das Gymnasium referierten Belegen unterscheiden. Die Bildungsstandards für evangelische Religionslehre in der Grundschule enthalten »Toleranz« sowohl als Substantiv als auch als Verb. In den Leitgedanken zum Kompetenzerwerb wird zunächst ausgeführt, dass der evangelische Religionsunterricht in der Grundschule die Kinder in der für sie neuen schulischen Lebenswelt begleitet und wesentlich zur Verwirklichung des ganzheitlichen Lernens beiträgt. Dabei nimmt er auch die Vielfalt der außerschulischen Lebenswelten auf. Die familiären und sozialen Erfahrungshintergründe der Kinder sowie die erzieherischen, kulturellen und religiösen Prägungen werden als sehr unterschiedlich gewertet. Bereits Grundschülerinnen und Grundschüler seien beeinflusst von schnell sich verändernden Erlebnis- und Medienwelten und den jeweils aktuellen Trends. Vielfalt enthalte scheinbar grenzenlose Möglichkeiten, habe aber auch Verunsicherungen zur Folge. Durch gemeinsames Nachdenken über menschliche Grund- und Welterfahrungen am Beispiel eigener und fremder Erlebnisse und durch die Begegnung mit Geschichten aus der jüdisch-christlichen Tradition verfolgt der Religionsunterricht in der Grundschule das Ziel, die Frage nach Gott ins Gespräch zu bringen und so den Kindern eine christliche Lebensorientierung anzubieten: »Er möchte einem verantwortungsvollen, von der Nächstenliebe geleiteten Handeln den Weg bahnen, in welchem Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung, Toleranz und Überwindung von Gewalt bestimmende Werte sind.«651 Zwei Seiten zuvor erscheint das Verb »tolerieren« in exakt demselben Textzusammenhang, wie er 651 Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (Hg.), Bildungsplan 2004, Grundschule, 24 (Hervorhebung d. Vf.).

Toleranz im Bildungsplan 2004 für GS, HS und RS

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bereits bei der Analyse der Leitgedanken zum Kompetenzerwerb für evangelische Religionslehre am Gymnasium wiedergegeben wurde. Die katholische Religionslehre an der Grundschule spricht in ihren Leitgedanken zum Kompetenzerwerb ebenfalls von Toleranz. Es werden sieben Dimensionen aufgezählt, die den Religionsunterricht als hermeneutisches Prinzip und somit als didaktische Hilfe profilieren sollen: »Mensch sein – Mensch werden«, »Welt und Verantwortung«, »Bibel und Tradition«, »Gott«, »Jesus Christus«, »Kirche, die Kirchen und das Werk des Geistes Gottes« sowie »Religionen«. Diese siebte Dimension lautet nun: »Der katholische Religionsunterricht will Schülerinnen und Schüler für Achtung und Toleranz gegenüber Menschen anderer Religionen und Kulturen sowie für ein respektvolles Zusammenleben mit ihnen gewinnen.«652 Bei den folgenden drei Textstellen, in denen von Toleranz die Rede ist, handelt es sich erneut um die Leitgedanken zum Kompetenzerwerb für moderne Fremdsprachen – im Bildungsplan der Grundschule sind dies Englisch und Französisch. Sie sind mit den entsprechenden Textbelegen für das Gymnasium identisch und werden daher nicht näher ausgeführt. Schließlich wurde der Toleranzbegriff auch in die Bildungsstandards des grundschuleigenen Fächerverbunds »Mensch, Natur und Kultur« aufgenommen. Für Klasse 4 lautet ein Bildungsziel unter der Zwischenüberschrift »Ich-Du-Wir : Zusammen leben, miteinander gestalten, voneinander lernen«: »Die Schülerinnen und Schüler können […] gegenüber anderen Menschen in ihrer Verschiedenartigkeit Verständnis und Toleranz entwickeln.«653 Unmittelbar zuvor heißt es, dass die Schülerinnen und Schüler bewusst Unterschiede und Gemeinsamkeiten bei ihren Mitmenschen wahrnehmen, die Merkmale des Gegenübers mitteilen sowie einander zuhören, Erfahrungen und Meinungen anderer abwägen und ihre eigene Meinung begründen können. Betrachtet man die oben formulierte Kompetenz, nämlich gegenüber anderen Menschen in ihrer Verschiedenartigkeit Verständnis und Toleranz entwickeln zu können, nun als Resultat dieser beschriebenen Auseinandersetzung mit Unterschieden und Gemeinsamkeiten der Mitmenschen, so kann an dieser Stelle ein hergestellter Zusammenhang zwischen einer Form von Dialog und der Fähigkeit zu Toleranz konstatiert werden. In den Bildungsplänen für die Haupt- und Realschulen in Baden-Württemberg findet sich Toleranz ebenfalls in verschiedenen Kontexten. Sehr häufig tritt die Forderung nach Toleranz als eine zu erwerbende Kompetenz auf Seiten der Schülerinnen und Schüler in Zusammenhang mit »Verständnis und Achtung«, meist mit dem Zusatz »gegenüber Andersgläubigen« bzw. »anderen Religionen« auf. Insbesondere in den Bildungsstandards für evangelische Religionslehre an 652 A. a. O., 34 (Hervorhebung d. Vf.). 653 A. a. O., 104 (Hervorhebung d. Vf.).

210

Toleranz im baden-württembergischen Bildungsplan

der Haupt- und Werkrealschule soll darüber hinaus zu »kritischer Distanz gegenüber fundamentalistischen Strömungen« angeleitet werden.654 Hinsichtlich der zu tolerierenden Objekte fordern die Bildungsstandards beispielsweise Toleranz »gegenüber dem anderen Geschlecht, der anderen ethnischen Herkunft, dem anderen Glauben, der Homosexualität sowie gegenüber Behinderten, Alten und Kranken« (Ethik Klasse 9 Hauptschule)655 oder auch »gegenüber dem anderen Geschlecht, anderen Kulturen und Gesellschaften« (Leitgedanken zu Erdkunde – Wirtschaftskunde – Gemeinschaftskunde Realschule)656. Die »Möglichkeiten« und die »Bedeutung der Toleranz« kennen die Schülerinnen und Schüler gemäß der Bildungsstandards für Ethik an der Haupt- bzw. Realschule, wobei allerdings auch mit Blick auf den weiteren Kontext unklar bleibt, worin diese bestehen. Dieselbe Unklarheit herrscht bei der Rede von einem »Toleranzgebot in der Religion«, mit dem sich die Schülerinnen und Schüler »auseinander setzen und es anwenden« sollen.657 Im Rahmen des Themenfeldes »Religionen außerhalb Kirche und Christentum« stößt man bei den Bildungsstandards für evangelische Religionslehre an der Realschule auf den Unterpunkt »Die ›abrahamitischen‹ Religionen: Absolutheitsanspruch und Toleranz«658. Im Zuge einer solchen Themeneinheit scheint es gut vorstellbar, dass der in den vorherigen Untersuchungen aufgeworfenen Frage nach den Wurzeln der Toleranz im Innern der Religionen ein angemessener Raum gewährt wird. An gerade einmal zwei Stellen stößt man auf Ergänzungen im Text, die den Gebrauch des Toleranzbegriffes und der dahinter stehenden Konzeption augenscheinlich spezifizieren und erläutern wollen. Zum einen wird Toleranz als einer der »zentrale(n) Aspekte der Humanität« aufgefasst und in einer Aufzählung neben »Gerechtigkeit, Nächstenliebe, Personalität« und »Menschenwürde« eingereiht.659 An anderer Stelle wird Toleranz mit Hilfe eines Relativsatzes näher definiert. In den Leitgedanken zum Kompetenzerwerb für Ethik an der Realschule heißt es: »Die Schülerinnen und Schüler begreifen, dass die gemeinsame Basis des Zusammenlebens die Toleranz ist, die eine Beeinträchtigung der Freiheit des 654 Vgl. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (Hg.), Bildungsplan 2004, Hauptschule, 30 und 32. 655 Vgl. a. a. O., 48. 656 Vgl. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (Hg.), Bildungsplan 2004, Realschule, 117. 657 Vgl. a. a. O., 45. 658 A. a. O., 30 (Hervorhebung d. Vf.). 659 Vgl. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (Hg.), Bildungsplan 2004, Hauptschule, 48.

Synonym verwendete Konzepte

211

Mitmenschen verbietet und ihre Grundlage in der Wahrung der Würde des einzelnen Menschen hat.«660 Weiter heißt es, dass der Ethikunterricht auf Grundlage dieses Grundsatzes dazu beitragen möchte, begründete und verantwortliche Entscheidungen treffen zu können. Bemerkenswerterweise wird hier mit dem Verweis auf die Würde jedes einzelnen Menschen der Versuch unternommen, eine Begründung für die Praxis der Toleranz zu liefern. Die davorstehende Aussage, die Toleranz in erster Linie als ein Verbot der »Beeinträchtigung der Freiheit des Mitmenschen« definiert, erscheint mit Blick auf die Komplexität des Toleranzbegriffes allerdings zu kurz gedacht. Toleranz wird hier in die Nähe des Relativismus gerückt, der sich, wie an anderer Stelle bereits erläutert, eben diese Freiheit des Individuums als Grundannahme zu eigen macht.661 In diesem Sinne von einer »Basis des Zusammenlebens« zu sprechen, muss somit an dieser Stelle als verfehlt bezeichnet werden.

4.4

Synonym verwendete Konzepte

Es fällt auf, dass im Bildungsplan 2004 häufig von Konzepten die Rede ist, die demjenigen der Toleranz sehr nahe kommen, auch wenn diese nicht explizit genannt wird. An anderen Stellen taucht Toleranz sowohl als Substantiv als auch in Adjektivform als ein Glied in einer Reihe von aufgezählten Begriffen auf, die scheinbar bedeutungsgleich gebraucht werden. Daher sollen nun noch synonym verwendete Konzepte in den Blick kommen, die zur Klärung des Toleranzverständnisses im Bildungsplan beitragen können. Insbesondere beim Gebrauch des Adjektivs »tolerant« in den Bildungsplänen Baden-Württembergs fällt auf, dass stets von »tolerant und …« die Rede ist. So beschreiben die Leitgedanken zum Kompetenzerwerb für Geographie – Wirtschaft – Gemeinschaftskunde der Klassen 6, 8 und 10 am Gymnasium und in ähnlicher Weise auch an der Realschule die »Bereitschaft zu einem demokratischen, toleranten und ethisch verantwortlichen Handeln«662 als Bestandteil der Entwicklung bzw. Festigung einer übergreifenden sozialen und personalen Kompetenz. Im Zusammenhang mit interkultureller Kompetenz ist in den Kompetenzen und Inhalten für Chinesisch in der gymnasialen Oberstufe zu lesen, die Schülerinnen und Schüler seien »tolerant und respektvoll« gegenüber 660 Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (Hg.), Bildungsplan 2004, Realschule, 44 (Hervorhebung d. Vf.). 661 Vgl. P.L. Berger, Dialog zwischen religiösen Traditionen in einem Zeitalter der Relativität, 31. 662 Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (Hg.), Bildungsplan 2004, Allgemein bildendes Gymnasium, 235; vgl. ders., Bildungsplan 2004, Realschule, 116; an anderer Stelle auf derselben Seite auch mit dem Zusatz »solidarisch«.

212

Toleranz im baden-württembergischen Bildungsplan

anderen moralischen, gesellschaftlichen und politischen Wertsetzungen.663 Mehrere Textstellen belegen die Aneinanderreihung von »tolerant« mit weiteren Adjektiven wie beispielsweise »mündig«664, »offen«665, »solidarisch«666, »achtungsvoll«667 und »partnerschaftlich«668. Allein in Kombination mit dem Adjektiv »kritisch« scheint der Gebrauch von »tolerant« eher antonym als synonym zu verstehen zu sein669. »Akzeptanz« anderer Positionen führt gemäß den Leitgedanken zum Kompetenzerwerb für Geschichte dazu, den eigenen Standpunkt zu relativieren, »Neues wahrzunehmen und zu tolerieren.«670 Akzeptanz wird hier also im Sinne von Wertschätzung des Anderspositionierten und Neuen gebraucht. Die Bereitschaft, dadurch die eigene Sicht der Dinge verändern zu lassen, schwingt ebenfalls mit. »Respekt« und »Verständnis« treten in ähnlicher Weise als Synonyme für Toleranz an verschiedenen Stellen in Erscheinung671, ebenso wie »Verständigung in der Pluralität«, zu welcher der evangelische Religionsunterricht durch seine Öffnung für Schülerinnen und Schüler unterschiedlicher Überzeugungen beitragen möchte.672 Mehrmals wird Toleranz in unmittelbar engem Zusammenhang mit einem »Abbau von Vorurteilen« und dem wenig präzisen Begriff der »Offenheit« genannt, wie die beiden folgenden Textstellen beispielhaft belegen: 1. »Durch spezifische Inhalte erzieht der [Italienisch-]Unterricht zu Toleranz und zum Abbau von Vorurteilen, sensibilisiert die Jugendlichen für fremde Lebensweisen und Wertvorstellungen und fördert somit die Offenheit gegenüber den Menschen und der Lebenswirklichkeit in Italien.«673 2. »Die Jugendlichen erweitern ihre Allgemeinbildung und werden sensibilisiert für fremde Lebensweisen und Wertvorstellungen. Indem sie auch über den eigenen kulturspezifischen Hintergrund reflektieren, gewinnen sie einen vertieften Einblick in die soziokulturelle Realität und die Probleme außer663 Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (Hg.), Bildungsplan 2004, Allgemein bildendes Gymnasium, 513. 664 Vgl. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (Hg.), Bildungsplan 2004, Realschule, 72, 84 u. a. 665 Ebd. 666 A. a. O., 116. 667 Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (Hg.), Bildungsplan 2004, Hauptschule, 44. 668 A. a. O., 50. 669 Vgl. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (Hg.), Bildungsplan 2004, Realschule, 72, 84 u. a. 670 A. a. O., 104. 671 Vgl. dazu beispielsweise Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (Hg.), Bildungsplan 2004, Allgemein bildendes Gymnasium, 6 und 63 bzw. 63 und 76. 672 Vgl. a. a. O., 24. 673 A. a. O., 344 (Ergänzung d. Vf.).

Zusammenfassung

213

europäischer Länder und schärfen ihren Blick für die kulturelle Vielfalt im eigenen Land. Dadurch werden sie zu Offenheit, dem Abbau von Vorurteilen und mehr Toleranz hingeführt.«674 Die direkte Aneinanderreihung von Toleranz mit »Empathie«, »Achtung«, und »Perspektivenwechsel« begegnet ebenfalls wiederholt.675 Besondere Aufmerksamkeit verdient des Weiteren die Rede von der »interkulturellen Kompetenz«, deren Erwerb im Fremdsprachenunterricht eine tragende Rolle spielt. Sie beinhaltet neben der sprachlichen Bewältigung von Alltagssituationen im Ausland darüber hinaus die Fähigkeit der Schülerinnen und Schüler, »Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Wertesystemen [zu] erkennen; Klischees und Vorurteile, Stereotype und Autostereotype [zu] erkennen und ihr eigenes kulturspezifisches Wertesystem im Vergleich mit anderen [zu] relativieren«676. Hinter dem Begriff der interkulturellen Kompetenz steckt also eine Konzeption, die derjenigen von Toleranz in reflektiertem Sinne sehr nahe kommt. Sie wird außerdem als »Voraussetzung für den interkulturellen Dialog« und als »entscheidendes Zukunftspotential in und für Europa sowie weltweit« bezeichnet.677 Der Fremdsprachenunterricht und die in ihm zu erwerbende interkulturelle Bildung kann somit als ein Beitrag einer Erziehung zu Toleranzfähigkeit in der Pluralität festgehalten werden.

4.5

Zusammenfassung

Im Zuge der Beantwortung der Frage, ob eine Erziehung zu Toleranz aus dem baden-württembergischen Bildungsplan 2004 implizit oder explizit als mögliches Bildungsziel abgeleitet werden kann, wurden verschiedene analytische Schritte vollzogen. Beginnend bei von Hentigs schulartübergreifender Einführung in den Bildungsplan, in deren Verlauf christliche Toleranz unter Verweis auf die Landesverfassung und das Schulgesetz explizit dem Auftrag der Schule zugeordnet wird, weisen die Befunde der kontextualen Analyse der fächerbezogenen Bildungsstandards eine häufige Nennung von Toleranz auf. Die ge674 A. a. O., 354 oder auch 146, 364, 374, 476, 482 bzw 488. 675 Vgl. dazu jeweils die »Leitgedanken zum Kompetenzerwerb für moderne Fremdsprachen«, Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (Hg.), Bildungsplan 2004, Allgemein bildendes Gymnasium, 104 und 316; entsprechend für die Haupt- und Realschule. 676 Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (Hg.), Bildungsplan 2004, Allgemein bildendes Gymnasium, 125. 677 Vgl. u. a. a.a.O., 104.

214

Toleranz im baden-württembergischen Bildungsplan

wählte Zugangsweise, zunächst nach den Befunden für »Toleranz« als Substantiv zu fragen, bevor anschließend auch das Verb »tolerieren« in den Blick genommen wurde, ließ inhaltlich keinen Unterschied in der semantischen Verwendung oder bezüglich der jeweils zugrundeliegenden Toleranzkonzeption erkennen, führte jedoch zu mehr Übersichtlichkeit in der Darstellung der Ergebnisse. Der Blick in die allgemeinen Bildungspläne der Grund-, Haupt- und Realschule Baden-Württembergs ergänzt die Analyse des gymnasialen Bildungsplanes. Bezüglich des Gebrauchs des Toleranzbegriffes sowie der jeweils zugrundeliegenden Toleranzkonzeptionen weisen die dortigen Textstellen keine nennenswerten Unterschiede zu den Belegen aus dem Bildungsplan für das allgemein bildende Gymnasium auf. Lediglich erwähnt sei an dieser Stelle erneut die Nennung von Toleranz als ein Bildungsziel in den Bildungsstandards des grundschuleigenen Fächerverbunds »Mensch, Natur und Kultur«, in denen von einem positiven Zusammenhang zwischen einer Form von Dialog und der Fähigkeit zu Toleranz ausgegangen wird. Innerhalb der Bildungspläne für Haupt- und Realschule scheinen indessen vermehrt die zu tolerierenden Objekte betont zu werden – dies belegen zahlreiche Aufzählungen hinsichtlich der Frage, wer bzw. welche gesellschaftlichen Minderheitsgruppierungen und Haltungen toleriert werden sollen. Auf Aussagen, wie die gewünschten toleranten Sicht- und Verhaltensweisen auf Seiten der Schülerinnen und Schüler erreicht werden können, wird allerdings gänzlich verzichtet. An den wenigsten Stellen, in denen im Bildungsplan 2004 von Toleranz die Rede ist, wird näher ausgeführt, was darunter im jeweiligen Kontext zu verstehen sei. Vielmehr wird Toleranz als gegebenes Bildungsziel betrachtet – als eine Kompetenz, zu der »hingeführt«678, die »eingeübt«679 und »entwickelt«680 werden kann. Auch die Entfaltung und Konkretisierung einer christlichen Toleranz, wie sie explizit in der schulartübergreifenden Einführung in den Bildungsplan 2004 im Rahmen des Auftrags der Schule genannt wird, bleibt in den schulart- und fächerspezifischen Einzelplänen mit Ausnahme der genannten Textstelle in den Leitgedanken für evangelische Religionslehre681 aus. In den schulart- und fächerspezifischen Einzelplänen erscheint die Verwendung des Toleranzbegriffes mitunter undifferenziert und abstrakt, teilweise 678 679 680 681

Vgl. beispielsweise a. a. O., 146. Vgl. beispielsweise a. a. O., 65. Vgl. beispielsweise a. a. O., 274. »Er [der Evangelische Religionsunterricht, Vf.] ermöglicht Begegnungen und fördert die Bereitschaft, andere Auffassungen zu tolerieren und von anderen zu lernen (Was ist wahr?)«; Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (Hg.), Bildungsplan 2004, Allgemein bildendes Gymnasium, 24.

Zusammenfassung

215

beinahe formelhaft. Die dahinterstehende komplexe Konzeption wird in solchen Fällen vernachlässigt oder auch gar nicht mit berücksichtigt, was zur Folge hat, dass der Begriff der Toleranz nicht seiner eigentlichen Tiefe und Bedeutung gemäß gebraucht wird und dadurch im Textzusammenhang an semantischem Gewicht zu verlieren scheint. Dennoch wird durch die Verwendung an anderer Stelle deutlich, dass Toleranz treffenderweise immer in einem Sinnzusammenhang zur Sprache kommt, in dem es um die Auseinandersetzung sowohl mit Andersartigem – seien es widersprüchliche politische Gesinnungen wie in Gemeinschaftskunde, Hörgewohnheiten anderer wie im Fach Musik oder unterschiedliche bildnerische Aussageformen in Bildender Kunst -, als auch mit den entsprechenden eigenen Gewohnheiten, Vorlieben und Ansichten geht. Als Toleranz sehr nahe kommende Konzeption bleibt die interkulturelle Kompetenz festzuhalten, die im (modernen) Fremdsprachenunterricht eine bedeutende Rolle spielt. Das Erlernen einer neuen Sprache und damit unweigerlich einhergehend das Kennenlernen einer anderen Kultur führen dazu, dass Unverständliches nachvollziehbar wird, Vorurteile abgebaut und Berührungsängste gegenüber Unbekanntem überwunden werden, dass aber auch gewohnte Lebensweisen und -verhältnisse des eigenen Erfahrungsbereiches hinterfragt und kritisch reflektiert werden. Es ginge wohl zu weit, in Anlehnung an das Erlernen einer anderen Sprache im Fremdsprachenunterricht entsprechend vom »Erlernen« einer anderen Religion im Religionsunterricht zu reden. Dennoch stellt sich die Frage, ob nicht analog zur interkulturellen Kompetenz im modernen Fremdsprachenunterricht eine interreligiöse Kompetenz im Religionsunterricht konkreter und nachdrücklicher als bisher anzustreben und zu verfolgen wäre, wobei die eigene religiöse Beheimatung – um dem Vergleich mit dem Fremdsprachenunterricht treu zu bleiben – die »Muttersprache« darstellt, die im Zuge einer intensiven dialogischen Auseinandersetzung mit anderen Religionen zur Überwindung einer religiösen Sprachlosigkeit und letztendlich einer Erweiterung des eigenen Begreifens der Wahrheit beitragen kann. Dieser Gedanke kann insbesondere auch aus den Äußerungen Englerts abgeleitet werden, der eine »inter-religiöse Verständigung« als »neue, wichtige Aufgabe« religiöser Erziehung klassifiziert und sie mit deutlichen Worten als ein »integrierte[s] Moment religiöser Erziehung und Bildung« einfordert. Zugleich betont er, dass das Modell dieser Verständigung nicht die synkretistische Verschmelzung oder die Beschränkung auf elementare Gemeinsamkeiten sein könne, »sondern die Entdeckung der (oft überlagerten) Einheit in der (je eigene Dignität beanspruchenden) Vielheit.«682 Für die hiermit geäußerte Forderung einer im Religionsunterricht zu verfol682 R. Englert, Religiöse Erziehung als Erziehung zur Toleranz, 172.

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Toleranz im baden-württembergischen Bildungsplan

genden interreligiösen Kompetenz im Dienste der Toleranzerziehung sind diese Feststellungen von grundlegendem Charakter. Es bleibt festzuhalten, dass die vorliegende Analyse eine generelle und breite Verankerung des Toleranzbegriffes innerhalb der Fächerstruktur der badenwürttembergischen Bildungspläne aufzeigt. Von einer derart fächerübergreifenden Integration in die Ausführungen zu den Leitgedanken, Kompetenzen und Inhalten der verschiedensten Fachbereiche kann für einen anderen, im weitesten Sinne vergleichbaren Begriff (wie beispielsweise »Frieden«) nicht die Rede sein. Der Toleranzbegriff scheint in diesem Sinne über einen besonderen Status zu verfügen, da tolerantes Handeln sowie tolerante Gesinnungen und Verhaltensweisen in fächerübergreifenden Zusammenhängen als erstrebenswerte Bildungs- und Erziehungsziele erachtet werden. Angesichts dieser breiten Verankerung in der Fächerstruktur der baden-württembergischen Bildungspläne muss es doch umso erstaunlicher und geradezu defizitär erscheinen, dass eine theoretische Grundlage der Toleranzerziehung ausbleibt und die Verwendung des Toleranzbegriffes nahezu durchweg auf einer abstrakten Ebene stehen bleibt. Um also eine christliche Toleranz zu fördern, wie von Hentig sie in seinen dem Bildungsplan vorangestellten Ausführungen zum Auftrag der Schule anmahnt, liegt es nahe, im (christlichen) Religionsunterricht anzusetzen. Die Einführung einer interreligiösen Kompetenz im Dienste einer reflektierten Toleranzerziehung kann der entscheidende Schritt in die richtige Richtung sein. Eine solche Erziehung zu Toleranz würde somit einen der zentralen Aufgabenbereiche der Religionslehrkräfte markieren. Deren Sicht auf Toleranz, die anhand einer exemplarischen Umfrage erhoben wurde, möchte das folgende Kapitel darlegen.

5. Toleranz aus Sicht von Religionslehrkräften

Der Fokus dieser Untersuchung wird sich nun verstärkt auf den empirischen Bereich richten. Es sollen die Ansichten und Einschätzungen von Religionslehrkräften gehört werden, denen bei der Umsetzung des Bildungsplans in die Praxis, aber auch bei der Gestaltung des Schulalltags allgemein eine Schlüsselrolle zukommt. Sinn und Zweck dieses Arbeitsschrittes ist es, neben Textanalysen auf theoretischer Ebene auch Stimmen aus der Praxis zu Wort kommen zu lassen und einen kleinen Einblick in das Verständnis von Toleranz aus Lehrersicht zu bieten. Was verstehen Religionslehrkräfte an allgemein bildenden Gymnasien unter »Toleranz«? Welchen Stellenwert nimmt Toleranz aus ihrer Sicht als Erziehungs- und Bildungsziel ein? Und wie äußert sich ihrer Einschätzung zufolge tolerantes Verhalten konkret im (Schul-)Alltag? Um sich den Antworten auf diese und ähnliche Fragen anzunähern, wird das vorliegende Kapitel die von Religionslehrkräften diesbezüglich vertretenen Ansichten und Konzeptionen analysieren. Dabei orientiert sich dieser Arbeitsschritt an der Vorgehensweise des bereits erwähnten norwegischen Religionspädagogen Afdal683, der eine Umfrage unter norwegischen Lehrkräften durchführte. Die von ihm erhobenen Daten gehen auf Interviews zurück, in denen 15 Lehrkräfte mit verschiedensten Fächerkombinationen – darunter jedoch kaum Religionslehrer – zum Thema Toleranz befragt wurden. Zu einem großen Teil dienten die von ihm dabei gestellten Fragen in umformulierter und zugespitzter Form als Grundlage für die Erstellung des Fragebogens. Im zusammenfassenden Abschnitt des Kapitels wird nach der Auswertung der Umfrageergebnisse genauer darauf einzugehen sein, inwiefern sich die Äußerungen norwegischer Lehrkräfte mit den Ansichten deutscher Religionslehrerinnen und –lehrer zur Toleranzthematik vergleichen lassen.

683 Vgl. G. Afdal, Tolerance and Curriculum, 134 – 241.

218

5.1

Toleranz aus Sicht von Religionslehrkräften

Erläuterungen zur Durchführung der Umfrage

5.1.1 Ort, Umfang und Vorgehensweise Mitte Februar 2011 wurden elektronische Fragebögen an alle allgemein bildenden Gymnasien des Landkreises Tübingen versandt, mit der Bitte um Weiterleitung an die jeweiligen Fachschaften für evangelische und katholische Religionslehre. Der Landkreis Tübingen umfasst elf Gymnasien, wobei sich eines davon in kirchlich-evangelischer Trägerschaft befindet. Die Auswahl des Landkreises erfolgte in erster Linie unter dem Gesichtspunkt, eine geeignete Anzahl an allgemein bildenden Gymnasien innerhalb eines überschaubaren und zugleich genau definierten Umkreises zu finden, um somit einen angebrachten Datenumfang zu garantieren. Nach einem Zeitraum von zwei Wochen belief sich der Rücklauf auf eine Anzahl von 19 ausgefüllten Fragebögen. Diese begrenzte Anzahl an Datenmaterial kann keinerlei Anspruch auf eine umfassend repräsentative Funktion erheben, es soll sich also bewusst nicht um eine empirische Erhebung von allgemeiner Gültigkeit handeln. Dennoch sollten durch die Auswahl eines beliebigen Landkreises und der darin vertretenen Gymnasien möglichst »typische« Schulen und Lehrkräfte befragt werden, deren Erfahrungen im Schulalltag und deren Auffassungen hinsichtlich Toleranz so oder ähnlich vermutlich auch an anderen Schulen in anderen Gegenden geteilt werden könnten.

5.1.2 Der Fragebogen Aus praktischen Gründen wurde für die Durchführung der Umfrage ein Fragebogen in elektronischer Form gewählt. Dies hatte – im Gegensatz etwa zum Interviewverfahren oder zu einer persönlichen Umfrage an der jeweiligen Schule – zum Vorteil, dass die Befragten individuell über Ort und Zeitpunkt zur Beantwortung der Fragen entscheiden und den ausgefüllten Fragebogen ohne weitere Umstände zurücksenden konnten. Wie bereits erwähnt dienten die von Afdal in den Interviews mit norwegischen Lehrkräften gestellten Fragen684 in umformulierter und zugespitzter Form als Grundlage für die Erstellung des vorliegenden Fragebogens. Insbesondere die Frage nach den Werten, die den Schülerinnen und Schülern nahe gebracht werden sollen (Frage 3), die Frage nach Beispielen für eigenes und von anderen erfahrenes (in-)tolerantes Verhalten (Fragen 4 und 5) sowie nach der Art und Weise, auf die eine Lehrkraft oder eine Schule als ganzes tolerant sein können (Fragen 6 und 7), gehen auf Afdal 684 Vgl. G. Afdal, Tolerance and Curriculum, 364 f.

Fragebogen zum Thema »Toleranz«

219

zurück. Im Unterschied zu Afdal wurden darüber hinaus Fragen aufgenommen, zu deren Beantwortung eine persönliche Einschätzung auf einer Skala von 1 bis 5 abgegeben werden sollte (Fragen 1, 2a und 9a). Während Frage 8 gezielt wissen wollte, wie Toleranz nach Ansicht der befragten Religionslehrkräfte gelernt werden kann, fragten 9a und 9b nach einem möglichen Zusammenhang zwischen Religion und Toleranz sowie nach eventuellen Grenzen der religiösen Toleranz angesichts unserer zunehmend multikulturellen Gesellschaft, bevor Frage 10 klären sollte, welche Rolle dem konfessionellen Religionsunterricht nach Einschätzung der Lehrkräfte zukommt, wenn es um Toleranzfähigkeit im Schulalltag geht. Abschließend hatten die befragten Lehrkräfte darüber hinaus die Möglichkeit, weitere Anmerkungen zum Thema »Toleranzfähigkeit und Religionsunterricht« in freier Form anzubringen. Da Afdal die in den Fragen 8 bis 10 aufgeworfenen Aspekte in seinen Interviews unbeachtet lässt, zeichnet sich bereits bei der Auswahl der Fragen – trotz der erwähnten Ähnlichkeiten – eine unterschiedliche Ausrichtung der Umfragen ab. Folgender Fragebogen wurde in elektronischer Form an die allgemein bildenden Gymnasien des Landkreises Tübingen versandt:

Fragebogen zum Thema »Toleranz« Bitte beantworten Sie möglichst viele der nachfolgenden Fragen, entweder durch Anklicken der entsprechenden Antwort oder durch Einfügen eines Antworttextes. Anschließend ganz unten einfach auf »Senden« bzw. »Submit« klicken. Vielen Dank für Ihre Unterstützung! 1. Wie hoch schätzen Sie den Stellenwert von Toleranz als Bildungs- und Erziehungsziel ein? 1 2 3 4 5 Sehr wichtig Völlig unwichtig u u u u u 2a. Ist dieser Stellenwert in den letzten Jahr(zehnt)en Ihrer Ansicht nach eher gestiegen oder gesunken? 1 2 3 4 5 Eindeutig Eindeutig u u u u u gestiegen gesunken

220

Toleranz aus Sicht von Religionslehrkräften

2b. Worin liegen Ihrer Meinung nach die Gründe für Ihre jeweilige Antwort in Frage 2a?

3. Welche Werte wollen Sie Ihren Schülerinnen und Schülern besonders nahe bringen?

4. Können Sie ein Beispiel für besonders tolerantes Verhalten eines Lehrers / einer Lehrerin aus Ihrer eigenen Schulzeit bzw. eines Kollegen / einer Kollegin nennen?

5. Welches Verhalten von Schülern, Kollegen oder Eltern könnten Sie nicht tolerieren?

221

Fragebogen zum Thema »Toleranz«

6. Wie können Sie als Religionslehrer/in an Ihrer Schule Toleranz praktizieren?

7. Auf welche Weise kann eine Schule tolerant sein? Welche speziellen Herausforderungen gibt es an Ihrer Schule, die tolerantes Verhalten erforderlich machen?

8. Wie können Schülerinnen und Schüler Toleranz lernen?

9a. Sind Sie der Meinung, dass ein Zusammenhang zwischen Religion und Toleranz besteht? Ja, ein großer

1 u

2 u

3 u

4 u

5 u

Nein, gar keiner

9b. Gibt es für Sie angesichts unserer zunehmend multikulturellen Gesellschaft Grenzen der religiösen Toleranz? Inwiefern?

222

Toleranz aus Sicht von Religionslehrkräften

10. Welche Rolle kommt dem konfessionellen Religionsunterricht Ihrer Ansicht nach zu, wenn es um Toleranzfähigkeit im Schulalltag geht?

11. Weitere Anmerkungen zum Thema »Toleranzfähigkeit und Religionsunterricht«?

12a. Persönliche Angaben: Geschlecht u weiblich u männlich

12b. Persönliche Angaben: Alter

12c. Persönliche Angaben: Konfession u evangelisch u katholisch

Fragebogen zum Thema »Toleranz«

223

5.1.3 Die an der Umfrage beteiligten Lehrkräfte Bei den an der Umfrage beteiligten Lehrerinnen und Lehrern (für die Chiffrierung der Auswertung künftig: L) handelt es sich um 19 evangelische und katholische Religionslehrkräfte an allgemein bildenden Gymnasien des Landkreises Tübingen. Die Altersspanne der Befragten liegt zwischen 28 und 62 Jahren, wobei sich eine der weiblichen evangelischen Befragten der Altersangabe enthielt. Die Geschlechterverteilung befindet sich annähernd im Gleichgewicht: 10 (und somit 53 %) der befragten Religionslehrkräfte sind weiblichen Geschlechts, 9 (und somit 47 %) sind männlich. Hinsichtlich der Konfessionszugehörigkeit der Befragten ergibt sich eine Anzahl von 11 evangelischen (58 %) und 8 katholischen (42 %) Religionslehrkräften.

5.1.4 Beschreibung der Daten Eine Anzahl von 19 Fragebögen wurde ausgefüllt zurückgesendet. Zwar variiert der Umfang der jeweiligen Antworten naturgemäß (sowohl je nach Person als auch je nach Frage), dennoch kann allgemeinhin eine geradezu überraschende Ausführlichkeit festgehalten werden, mit der die offen gestellten Fragen685 beantwortet wurden. Vereinzelt finden sich zwar Antworten in stichwortartiger Manier, die Mehrzahl der Befragten beantwortet die Fragen aber mit durchschnittlich 3 bis 4 ausformulierten, mitunter recht langen Sätzen. Mit teilweise bis zu einer halben Seite besonders umfangreich fallen die Antworten auf die Fragen aus, welche Werte die befragten Religionslehrkräfte ihren Schülerinnen und Schülern nahe bringen wollen (Frage 3), welches Verhalten von Seiten der Schüler- und Elternschaft nicht toleriert werden kann (Frage 5) und auf welche Weise eine Schule tolerant sein kann (Frage 7). Hingegen wird die Frage nach Beispielen für besonders tolerantes Verhalten einer Lehrkraft aus der eigenen Schulzeit oder eines Kollegen bzw. einer Kollegin (Frage 4) lediglich von 6 der Befragten überhaupt beantwortet. Zum Teil werden hier sehr persönliche Erfahrungen mit erstaunlicher Offenheit mitgeteilt. 6 der insgesamt 19 befragten Religionslehrkräfte nehmen darüber hinaus die Möglichkeit wahr, unter Frage 11 weitere, mitunter sehr ausführliche Anmerkungen zum Thema »Toleranzfähigkeit und Religionsunterricht« zu machen. Hierbei handelt es sich zumeist um Personen, deren Antworten auf die restlichen 685 Wie gesehen handelte es sich bis auf die Fragen 1, 2a und 9a um offen gestellte Fragen.

224

Toleranz aus Sicht von Religionslehrkräften

Fragen hinsichtlich ihres jeweiligen Umfangs ebenfalls über dem Durchschnitt lagen.

5.2

Die Auswertung

Zunächst sollen Leitfragen zur Analyse und Auswertung der Umfrage formuliert werden, die bei der inhaltlichen Auswertung und Systematisierung der Antworten als Bezugsgröße im Hintergrund dienen. Schließlich wird die inhaltliche Auswertung die auf die jeweiligen Fragen gegebenen Antworten zusammentragen und den Versuch einer systematisierenden Bündelung derselben unternehmen. Dabei werden bei der Präsentation der Ergebnisse an ausgewählten Stellen sogenannte Säulendiagramme zur Anschauung gestellt, die der besseren Visualisierung dienen sollen. Auch wenn nicht außer acht gelassen werden darf, dass es sich mit 19 befragten Personen um ein relatives kleines Daten-Sample handelt, erscheint die Auswertung geeigneter Fragen in Form von visuellen Säulendiagrammen besonders eindrücklich.

5.2.1 Leitfragen zur Analyse und Auswertung Als Orientierungshilfe für die Analyse und die Auswertung der Umfrage dienen die folgenden Leitfragen: 1) Auf Situationen, Interaktionen und zwischenmenschliche Verhaltensweisen welcher Art beziehen sich Lehrkräfte, wenn sie über Toleranz und Intoleranz reden? Was bzw. welche Verhaltensphänomene assoziieren sie also mit Toleranz und Intoleranz im (Schul-)Alltag? 2) Was meinen Lehrkräfte konkret mit Toleranz und Intoleranz? Wie werden diese Begriffe verwendet? 3) Welche Toleranzkonzepte und –theorien lassen sich daraus erkennen bzw. ableiten? 4) Wie wird der Zusammenhang zwischen Religion(-sunterricht) und Toleranz bzw. Intoleranz aus Lehrersicht bewertet? 5.2.2 Inhaltliche Auswertung 1. Wie hoch schätzen Sie den Stellenwert von Toleranz als Bildungs- und Erziehungsziel ein? Die einleitende Frage der Untersuchung zielte auf die allgemeine Einschätzung des Stellenwerts von Toleranz als Bildungs- und Erziehungsziel. Dazu wurden die Religionslehrkräfte gebeten, Stellung zu beziehen und sich auf einer Skala

225

Die Auswertung

von 1 (sehr wichtig) bis 5 (völlig unwichtig) einzuordnen. 14 Personen (74 %) erachten demnach den Stellenwert von Toleranz als Bildungs- und Erziehungsziel als sehr wichtig, 4 Personen (21 %) als wichtig, 1 Person (5 %) als eher unwichtig, wie Abbildung 1 verdeutlicht.

1 - Sehr wichtig 2 3 4 5 - Völlig unwichtig Sehr wichtig

14 4 0 1 0

74% 21% 0% 5% 0%

Völlig unwichtig

Abbildung 1: Der Stellenwert von Toleranz als Bildungs- und Erziehungsziel

Keine der befragten Lehrkräfte bewertet den Stellenwert als neutral oder als völlig unwichtig. Somit ist unter den Befragten eine eindeutige Tendenz zu einer hohen bis sehr hohen Bewertung von Toleranz als Erziehungs- und Bildungsziel zu erkennen. 2a. Ist dieser Stellenwert in den letzten Jahr(zehnt)en Ihrer Ansicht nach eher gestiegen oder gesunken? Die zweite Frage nach der persönlichen Einschätzung der Lehrkräfte, ob dieser Stellenwert in den letzten Jahrzehnten eher gestiegen oder gesunken sei, schließt inhaltlich direkt an die einleitende Frage an, und auch hier war erneut eine Einordnung auf einer Skala von 1 (eindeutig gestiegen) bis 5 (eindeutig gesunken) gefragt. Die Antworten lagen hier etwas weiter auseinander. Während 3 der befragten Lehrkräfte (16 %) der Ansicht waren, der Stellenwert sei eindeutig gestiegen, vertraten 6 Personen (32 %) die Meinung, der Stellenwert sei eher gestiegen, jeweils 5 Personen (je 26 %) bewerten ihn als gleich geblieben bzw. eher gesunken. Wiederum war niemand der Ansicht, dass der Stellenwert von Toleranz als Bildungs- und Erziehungsziel in den letzten Jahrzehnten eindeutig gesunken sei. 2b. Worin liegen Ihrer Meinung nach die Gründe für Ihre jeweilige Antwort in Frage 2a? Frage 2b nach den Gründen für die jeweils gegebene Antwort unter 2a verlangte nun erstmals keine Einordnung auf einer Skala, sondern ein individuelles, in-

226

Toleranz aus Sicht von Religionslehrkräften

1 - Eindeutig gestiegen 3 2 6 3 5 4 5 5 - Eindeutig gesunken 0 Eindeutig gestiegen

16% 32% 26% 26% 0%

Eindeutig gesunken

Abbildung 2: Stellenwert gestiegen oder gesunken

haltliches Statement. Bei der Analyse der Antworten kristallisierten sich bestimmte, immer wiederkehrende Motive heraus, die durch die Zuordnung zu den drei übergeordneten Kategorien interkulturelle und interreligiöse Motive, diffuses Toleranzverständnis als Motiv sowie Globalisierung und neue Medien als Motive systematisiert werden. Interkulturelle und interreligiöse Motive Als Begründung für die Auffassung, der Stellenwert von Toleranz als Erziehungsund Bildungsziel sei in den letzten Jahrzehnten eindeutig bzw. eher gestiegen, führten die Befragten, die sich bei Stufe 1 oder 2 nach der Skala unter 2a einordneten, beinahe einhellig interkulturelle bzw. interreligiöse Motive an: L10 (w/ev) [Z]unehmendes Miteinander von Muslimen und Christen in Deutschland, größeres Angebot an spirituellen Möglichkeiten und Öffnung der Religionen. L11 (m/rk) [Z]usätzliche Kenntnis von Lebenssituationen uns fremder Menschen. L17 (w/ev) MitschülerInnen mit Migrationshintergrund.

Auch auf negative Aspekte wurde mit Äußerungen wie beispielsweise dem Hinweis auf »Probleme bei der Integration« (L10 [w/ev]) verwiesen. Noch deutlicher drückt es eine andere Lehrkraft aus: L15 (m/rk) Muslime und die islamische Kultur werden von SuS zunehmend als Bedrohung erlebt. Sie haben Angst, die eigene [Kultur] zu verlieren (Stichwort islam. Reliunterricht). Die Situation am Arbeitsmarkt verschärft sich: Ausländer werden als Konkurrenten gesehen.

Bemerkenswert ist schließlich noch die Auffassung einer katholischen Religionslehrerin, die ihre Einschätzung von Toleranz als sehr wichtigem Erziehungsund Bildungsziel sowie den ihrer Ansicht nach eindeutig gestiegenen Stellenwert derselben folgendermaßen begründet:

Die Auswertung

227

L8 (w/rk) Es ist vielen Menschen klarer geworden, dass interreligiöser Dialog nicht von Theologen gemacht wird, sondern jederzeit von jedem an jedem Ort.

Insgesamt fällt auf, dass interkulturelle und interreligiöse Motive von den Befragten stets zur Begründung eines hohen bis sehr hohen Stellenwerts von Toleranz angeführt werden und sich somit bereits an dieser Stelle ein Zusammenhang zwischen Religion und Toleranz abzeichnet686. Diffuses Toleranzverständnis als Motiv Hingegen werden Unklarheiten bzw. ein »falsches Verständnis« bezüglich des Toleranzbegriffes überwiegend von denjenigen Befragten genannt, die den Stellenwert von Toleranz als Erziehungs- und Bildungsziel auf Stufe 3 oder 4 der Skala einordnen. So äußern sich folgende Lehrkräfte: L2 (m/ev) [Der Stellenwert von Toleranz als Erziehungs- und Bildungsziel] ist eher gleich geblieben – wobei faktisch nach meiner Beobachtung im Schulalltag Toleranz mit Gleichgültigkeit verwechselt wird: die Gleichgültigkeit hat eher zugenommen. L13 (w/ev) Ein falsch verstandener Toleranzbegriff führt zu einer gleichgültigen, individualistischen Haltung, die Zivilcourage und das Ringen um die Wahrheit nicht fördert. Dieser Individualismus ist bei den Schülern bereits erkennbar, so dass mir die Positionierung in der Pluralität als Bildungsziel wichtiger geworden ist. L9 (m/ev) Der Stellenwert der Toleranz ist insofern m. E. gesunken: 1.) hin zu einer Art Indifferentismus nach dem Motto: Ich interessiere mich für Dinge, die mir etwas nützen, die Dinge der »Anderen« sind mir gleichgültig. Außer sie berühren meine Interessen, so dass ich diese durchsetzen muss. 2.) hin zu einem Missbrauch des Toleranzgedankens nach dem Motto: Ich nehme alles hin, alles ist zulässig, ohne eine echte Auseinandersetzung mit dem zu Tolerierenden zu führen. L8 (w/rk)

Gleichzeitig wird Toleranz oft verwechselt mit »alles ist gleich«. Identität wird gerade abgeschliffen ob eines falschen Toleranzbegriffs.

Aus diesen Antworten sowie aus der Tatsache, dass sie zu einer geringeren Einstufung des Stellenwerts von Toleranz geführt haben (nicht so bei L8 – wobei auch die Antwort von L9 andeutet, dass hier eher aus Schülersicht gesprochen wird), kann die These abgeleitet werden, dass die Verbreitung eines falsch verstandenen Toleranzbegriffes, also seine Gleichsetzung mit weltanschaulichem Relativismus und einer Haltung der Gleichgültigkeit, eine positive Einstellung 686 Näheres dazu s. u. unter Frage 9a.

228

Toleranz aus Sicht von Religionslehrkräften

gegenüber Toleranz im Allgemeinen erheblich behindert. Ein verstärktes Eintreten für einen reflektierten im Gegensatz zu einem abstrakten Toleranzverständnis scheint somit zunehmend an Relevanz zu gewinnen. Globalisierung und neue Medien als Motive Darüber hinaus finden Pluralisierungs- und Globalisierungstendenzen sowie die neuen Medien (insbesondere das Internet) in nahezu allen Äußerungen zur Begründung des jeweils gewählten Stellenwerts von Toleranz als Erziehungsund Bildungsziel Erwähnung und werden dabei oftmals in einen direkten Zusammenhang miteinander gestellt. Zeitgeistlich bedingte global-gesellschaftliche Entwicklungen lassen den Stellenwert von Toleranz insgesamt steigen: L19 (m/rk) Es hat eine Pluralisierung von Lebensstilen gegeben (Patchworkfamilien, Akzeptanz von Homosexualität usw.); die Erziehung wurde liberaler ; abweichende Haltungen sind häufiger geworden. Im Vergleich dazu sind die 59er und 60er Jahre kulturell äußerst homogen gewesen.

Vereinzelt wird auch die Wirtschaftskrise als Grund für einen in den Augen der betreffenden Lehrkraft (so L4 [m/ev]) eher sinkenden Stellenwert der Toleranz in der Gesellschaft angeführt, wobei der unmittelbar folgende Verweis auf eine mangelhafte gesellschaftliche Moral darauf schließen lässt, dass erwähnte Lehrkraft diese Entwicklung alles andere als begrüßt. Der Einfluss der Globalisierung, der die Jugendlichen mehrheitlich über das Internet erreicht, wird insgesamt sehr kritisch gewertet. Als mögliche Folge wird u. a. persönliche Verunsicherung bis hin zur Identitätsverwirrung genannt: L12 (m/rk) Schülerinnen und Schüler werden durch (moderne) Medien (Communities etc.) mit vielen Meinungen konfrontiert. Im Austausch machen sie die Erfahrung, dass es nicht »die eine, richtige« Meinung gibt. L14 (w/ev) Es kommt zur Verunsicherung durch viel zu viele Möglichkeiten in einer völlig entgrenzten Welt – die Schattenseiten der Globalisierung in jeder Hinsicht (Wirtschaft, Internet, Religion). L10 (w/ev) Die SuS sind konfrontiert mit der Globalisierung, […] einem größeren Angebot an spirituellen Möglichkeiten und der Öffnung der Religionen, der Krise der katholischen Kirche als Anfrage an das Christentum, mangelnder Verwurzelung im eigenen Glauben, einer Relativität der Überzeugungen, zunehmender Identitätsverwirrung und der Suche nach eigenem Glauben.

Darüber hinaus wird im Zusammenhang mit den neuen Medien auch wiederholt auf das Problem des Mobbing hingewiesen. Bemerkenswerterweise sehen dabei einige der Befragten einen Zusammenhang zwischen dem Aufwärtstrend sozialer Netzwerke (sogenannter Internet-Communities und Online-Plattformen,

Die Auswertung

229

in denen Freundschaften virtuell geschlossen und gepflegt werden) und einer wachsenden Tendenz hin zu Mobbing, zu vermeintliche Sicherheit bietenden, extremen Sichtweisen und intolerantem Verhalten: L17 (w/ev) Zum Thema neue Medien und Netzwerke: Isolation aber auch Mobbing sind verstärkt möglich. L14 (w/ev) Es kommt zur Verunsicherung durch viel zu viele Möglichkeiten in einer völlig entgrenzten Welt – die Schattenseiten der Globalisierung in jeder Hinsicht (Wirtschaft, Internet, Religion). [s.o.] Die SuS suchen mehr »Sicherheit« durch Meinungen u. ä., die man nicht in Frage stellen (lassen) möchte. L5 (m/rk) Junge Menschen suchen mehr als in den vorher gehenden Jahren nach Halt und Orientierung, weil sie dies in den sozialen Gefügen und Netzwerken weniger erleben. Teilweise geht das mit einer tendenziell konservativen Haltung einher, die häufig gepaart ist mit einer Tendenz zu Intoleranz.

Der Trend von neuen Medien wie dem Internet und den sozialen Netzwerken hat unbestritten zur Folge, dass Freundschaften, soziale Kontakte und die Suche nach einem Zugehörigkeitsgefühl zunehmend in die virtuelle Welt verlagert und vorwiegend dort erfahrbar werden. Im alltäglichen, realen Leben außerhalb der virtuellen Welt hingegen nimmt die Anzahl sozialer Kontakte und Begegnungen ab. Dies zieht einen Verlust an »Halt und Orientierung« (vgl. L5 [m/rk]) mit sich, was wiederum durch die Hinwendung zu tendenziell konservativen Haltungen gepaart mit Intoleranz zu kompensieren versucht wird. Mehrmals wird in diesem Zusammenhang auf das wachsende Problem des (Cyber-) Mobbing verwiesen, das ebenfalls als Zeichen zunehmender Intoleranz unter Schülern sowie als Versuch, durch Ausgrenzung anderer die eigene Identität zu stärken, gewertet wird. Neben den bislang weitgehend offenkundigen gesellschaftlichen Faktoren, die Toleranz erforderlich machen, wie beispielsweise zunehmende Multikulturalität und die Auswirkungen der Globalisierung, tritt mit dem Verweis auf neue Medien und insbesondere auf soziale Netzwerke also ein neuer, bisher wohl kaum beachteter Aspekt in Erscheinung, der bei künftigen Untersuchungen zu den Ursachen (in-) toleranten Verhaltens unter Jugendlichen sicherlich nicht außer Acht gelassen werden darf. 3. Welche Werte wollen Sie Ihren Schülerinnen und Schülern besonders nahe bringen? Die Antworten auf die Frage, welche Werte die befragten Lehrkräfte den Schülerinnen und Schülern besonders nahe bringen wollen, wurden in den meisten Fällen in Form einer Aufzählung und Aneinanderreihung verschiedener tugendhafter Begriffe gegeben. Beim Erstellen eines Rankings stellte sich heraus,

230

Toleranz aus Sicht von Religionslehrkräften

dass der am häufigsten genannte Wert tatsächlich »Toleranz« war.687 Neun Lehrkräfte nannten ausdrücklich diesen Begriff, z. T. mit zusätzlichen Erläuterungen, wem die Toleranz gelten solle. In anderen Fällen lassen Umschreibungen dennoch den Schluss zu, dass durchaus Toleranz angestrebt werden soll: L3 (w/rk) Toleranz (Andersdenkender, Schwacher, Ausländer…). L15 (m/rk) Wohlwollende und freundliche Grundhaltung dem Nächsten gegenüber. Unvoreingenommen sein. Den Menschen wahrnehmen und ernst nehmen. L17 (w/ev) Wahrnehmung und Schätzen der eigenen Gaben und Grenzen; Wertschätzung anderer; Bedürfnisse anderer erkennen; gemeinsam ein Ziel verfolgen.

Hinsichtlich der Häufigkeit des Auftretens rangiert mit sieben Nennungen an zweiter Stelle »Respekt«, mehrfach mit dem Zusatz »vor Anderem/Anderen« (L5 [m/rk]) bzw. »vor einer anderen Meinung« (L6 [w/ev]). Darüber hinaus geben fünf der Befragten »Zivilcourage« als einen Wert an, der Schülern vermittelt werden sollte. Weiter treten »Offenheit«, »Ehrlichkeit«, »Verantwortlichkeit« bzw. »die Fähigkeit und Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme«, »Urteilsvermögen«, »die Entwicklung eines Standpunkts« sowie »Gerechtigkeit« jeweils mehrfach auf. Als dezidiert religiöse bzw. christliche Werte werden außerdem »religiöse Kompetenz«, »Nächstenliebe«, »Achtung der Schöpfung« und »Spiritualität« angeführt. Hierbei handelt es sich allerdings jeweils um Ein- bis Zweifachnennungen. 4. Können Sie ein Beispiel für besonders tolerantes Verhalten eines Lehrers / einer Lehrerin aus Ihrer eigenen Schulzeit bzw. eines Kollegen / einer Kollegin nennen? Zu dieser Frage nach einem besonders toleranten Verhalten eines Lehrers / einer Lehrerin aus der eigenen Schulzeit bzw. eines Kollegen / einer Kollegin äußerten sich 6 der 19 befragten Religionslehrkräfte. Durch die Analyse wiederkehrender Motive innerhalb dieser Antworten können folgende drei Kategorien festgehalten werden, die zusammengefasst etwa als praktische Formen der Toleranz im Schulalltag bezeichnet werden können: Erstens Toleranz gegenüber anderen Meinungen, zweitens Toleranz als Rücksichtnahme und Hilfsbereitschaft und schließlich Toleranz als Nachsicht. Toleranz gegenüber anderen Meinungen Als tolerant werden Lehrkräfte aufgefasst, die im Unterrichtsgespräch die Fähigkeit an den Tag legen, anderen, der eigenen unter Umständen zuwiderlaufenden Meinungen Wertschätzung, Respekt und Verständnis entgegenzubrin687 Wobei an dieser Stelle hinzugefügt werden muss, dass durch die vorangegangenen Fragen, die sich dezidiert auf »Toleranz« bezogen, an dieser Stelle der Umfrage sicherlich bereits eine gewisse Sensibilisierung für diesen Begriff stattgefunden hatte.

Die Auswertung

231

gen, ohne dabei allerdings den eigenen Standpunkt leichtfertig aufzugeben. Hingegen werden Versuche, die Lehrermeinung entgegen der Mehrheit der Schüleransichten durchzusetzen, als intolerant gewertet. Dies wird an folgendem Beispiel besonders deutlich: L2 (m/ev) Wenn Toleranz heißt, den Anderen in seinem Anderssein achten – dann denke ich zurück an meinen Relilehrer während meiner Schulzeit im Seminar : wir waren sehr kritische Zeitgenossen mit kritischen Fragen bezüglich Bibel und Gott. Ich spürte seinen Respekt unserer Meinung gegenüber, trotzdem hat er mit uns darüber gestritten, andere Positionen dagegengestellt. Dabei habe ich viel gelernt. Er war im guten Sinne tolerant.

Toleranz als Rücksichtnahme und Hilfsbereitschaft Mehrfach werden Fälle geschildert, in denen spezielle Umstände eine Ausnahmeregelung erforderlich machen, beispielsweise bei Alleinerziehenden oder in Krankheitsfällen. Diese Art der Rücksichtnahme wird durchweg als tolerantes Verhalten aufgefasst. In diesem Zusammenhang ist häufig auch von Hilfsbereitschaft die Rede, wie folgende Antwort zeigt: L17 (w/ev) Unsere Tochter leidet an Magersucht und hat während eines Klinikaufenthaltes und der damit verbundenen Sonderregelungen viel Ermutigung und Zuwendung seitens der Klassenlehrerin, der Klasse bzw. der Schule erfahren.

Überdurchschnittlich weit reicht die Hilfsbereitschaft wohl gemäß dieser Fallschilderung: L12 (m/rk) Ein Lehrer wurde von einem Schüler handgreiflich attackiert. Nach diesem Vorfall hat der Lehrer gemeinsam mit den Eltern des Schülers und dem Schüler selbst nach einer Lösung gesucht, wie dem Schüler geholfen werden kann (Psychologische Beratungsstelle, …).

Toleranz als Nachsicht Einige der Beispiele, die die befragten Religionslehrkräfte schildern, lassen sich schließlich mit Hilfe des Oberbegriffs »Nachsicht« kategorisieren. Beharrt jemand nicht strikt auf den gesetzten Regeln und Vorschriften, sondern drückt im Zweifelsfall ein Auge zu und lässt Gnade vor Recht ergehen, so wird dieses Verhalten als tolerant empfunden. Dies gilt sowohl was das Verhältnis zwischen Lehrkräften und Schülern betrifft, als auch für den Umgang des Schulleiters mit dem Kollegium:

232

Toleranz aus Sicht von Religionslehrkräften

L16 (w/ev) Ich hatte in Chemie (Oberstufe) einmal im Zeugnis aus Versehen eine wesentlich zu gute Note (3 NP zu viel). Ich bin zum Lehrer und habe ihn darauf hingewiesen. Er hat vor der ganzen Klasse gefragt, ob jemand etwas dagegen habe, wenn er es aufgrund meiner Ehrlichkeit bei dieser viel besseren Note belasse. Keiner hatte etwas dagegen, so hatte ich eine super Chemie-Note. L14 (w/ev) Meine Englischlehrerin hat einen auf dem Tisch stehenden Spickzettel noch vor dem Test entdeckt und mich trotzdem ohne Konsequenzen mitschreiben lassen. Es war mir so peinlich, dass das der letzte Spicker war… :-). L14 (w/ev) Unserem Chef kann man auch nach dem Klingeln noch auf dem Flur begegnen ohne Angst zu haben, auf eine »rote Liste« (o. ä. ;-)) zu kommen.

5. Welches Verhalten von Schülern, Kollegen oder Eltern könnten Sie nicht tolerieren? Die fünfte Frage nach Verhaltensbeispielen von Seiten der Schüler, der Kollegen oder Eltern, die nicht toleriert werden können, zielt darauf ab, die Grenzen der allgemeinen Toleranz im (Schul-)Alltag aufzudecken. Die Antworten fallen hier teilweise sehr ausführlich aus. Mitunter wird recht emotional von einzelnen Begebenheiten berichtet, die in den Augen der jeweiligen Lehrkraft die Grenzen der Toleranz erreicht bzw. bereits überschritten haben. Die Schüler Geht es um nicht tolerierbares Verhalten, scheint das alles bestimmende Thema gegenseitiges Schlechtreden bis hin zu Mobbing zu sein – längst nicht nur bei den Schülern untereinander, sondern ebenso was die Interaktion zwischen Schülern und Lehrern, Eltern und Lehrern sowie Lehrern untereinander betrifft. Dies ist aus nahezu allen gegebenen Antworten abzuleiten. Besonders deutlich wird diese Tatsache von L11 (m/rk) benannt: L11 (m/rk) Auf keinen Fall toleriere ich mobben in jeder Richtung. Das fängt bei wiederholt ungerechter Beurteilung (vor allem verbal) eines Kollegen gegenüber Schülern an, geht weiter mit systematischem Ausgrenzen eines Schülers durch seine Mitschüler, mit systematischem Schlechtreden eines Lehrers durch Schüler, mit systematischem Schlechtreden eines Lehrers durch Eltern (vor allem dann, wenn nie ein direktes Gespräch gesucht wurde), mit systematisch abschätzigem Reden über Schule allgemein […].

Abgesehen von systematischem Mobbing sind für die befragten Lehrkräfte die Grenzen der Toleranz bei jedweder Form von physischer und psychischer Gewalt, sei sie gegen Mitschüler oder gar gegen Lehrkräfte gerichtet, erreicht. Mit Blick auf das Schülerverhalten werden darüber hinaus häufig wiederholte Unterrichtsstörungen und respektloses Verhalten als nicht hinnehmbar aufgeführt,

Die Auswertung

233

so zum Beispiel »wenn ein Schüler seine Meinung vertritt und andere schwätzen nebenher« (L2 [m/ev]). Darüber hinaus können Verhaltensweisen wie Egoismus, Ignoranz gegenüber Glaube und Religion, Sachbeschädigung, Petzen, Uneinsichtigkeit und Unehrlichkeit auf Seiten der Schülerschaft von der Mehrzahl der befragten Religionslehrkräfte nicht toleriert werden. Die Eltern Was das Verhalten von Eltern betrifft, so wird als ein gewichtiger, von Lehrerseite nicht zu tolerierender Punkt eine ungerechtfertigte Parteinahme zugunsten des eigenen Kindes genannt – selbst wenn, wie zum Teil nachdrücklich betont wird, ein massives Fehlverhalten des Schülers vorliegt: L13 (w/ev) Wenn Eltern ihre Kinder in Schutz nehmen, wenn sie grob gegen Regeln des Schullebens verstoßen haben, kann ich nicht tolerant sein.

Darüber hinaus wird mehrfach mangelnde Loyalität der Eltern gegenüber der Schule als ein nicht zu tolerierender Zustand erachtet, der sich durch ein negatives Stimmungsbild innerhalb der Familien gegenüber einzelnen Lehrkräften und Schule im Allgemeinen äußert. Auch eine überambitionierte Haltung der Eltern bezüglich der Schulnoten ihrer Kinder kann von Lehrerseite unter Umständen nur noch schwerlich zu tolerieren sein: L16 (w/ev) Bei Eltern [kann ich nicht tolerieren], wenn sie stellvertretend für ihr Kind »ehrgeizig« sind, und das dann oft auf sehr militante Art. Im Fach Religion ist es mir schon persönlich bei der Beurteilung von Klassenarbeiten (meine Korrektur sei angeblich viel zu streng gewesen) passiert, dass ein Anwalt eingeschaltet wurde.

Das Kollegium Unter Kollegen und Kolleginnen »ist es am häufigsten Unzuverlässigkeit, über die ich mich ärgere«, besagt L16 (w/ev) und bleibt damit kein Einzelfall. Auch »fehlende Loyalität« (L15 [m/rk]) der Lehrkräfte untereinander, Uneinsichtigkeit sowie eine negative Arbeitshaltung sind nach weitläufiger Meinung nicht zu tolerieren: L13 (w/ev) Bezüglich Kollegen: Auch hier finde ich ärgerlich, wenn zu Fehlern oder Versehen nicht gestanden wird und so mitunter ein reibungsloser Ablauf in der Schule verhindert wird. Nicht tolerant bin ich gegenüber einer Arbeitseinstellung, die ein negatives Bild auf die Lehrerschaft wirft.

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Toleranz aus Sicht von Religionslehrkräften

Hinsichtlich des Sprachgebrauchs fällt auf, dass »etwas nicht tolerieren zu können« im semantischen Zusammenhang der Fragestellung wiederholt mit »sich über etwas ärgern« gleichgesetzt oder doch zumindest umschrieben wird (vgl. die eben aufgeführten Beispiele von L16 und L13). Hier scheint tendenziell außer Acht zu geraten, dass Toleranz per definitionem eben gerade da gefordert ist, wo Anstoß genommen wird. 6. Wie können Sie als Religionslehrer/in an Ihrer Schule Toleranz praktizieren? Insgesamt überraschend einheitlich fallen die Antworten der befragten Religionslehrerinnen und –lehrer auf die Frage aus, wie sie persönlich an ihrer jeweiligen Schule Toleranz praktizieren können. Hier ist an erster Stelle das Bemühen um ein »Klima der Offenheit für unterschiedliche religiöse Positionen« (L1 [m/ev]) bzw. »Offenheit für Andersgläubige im Religionsunterricht« (L10 [w/ev]) zu nennen. Den »Glauben eines Anderen nicht herab[zu]würdigen« (L2 [m/ev]), stattdessen »Verständnis wecken für Fremdes« (L6 [w/ev]) und den »interreligiösen und interkonfessionellen Dialog fördern« (L5 [m/rk] u. a.) betrachten nahezu alle der befragten Lehrkräfte als Möglichkeiten, Toleranz in der Schule in die Tat umzusetzen und praktisch werden zu lassen. Dabei wird auf interkonfessionelle, teilweise auch interreligiöse Zusammenarbeit bei Schulgottesdiensten genauso verwiesen wie auf wertschätzenden Umgang mit Anhängern anderer Religionen: L19 (m/rk) Durch Zusammenarbeit mit Religionslehrern der anderen Konfession, mit den Ethikkollegen; durch Aufgreifen entsprechender Themen in Schulgottesdiensten kann Toleranz praktisch werden. L13 (w/ev) Bezüglich interreligiöser Toleranz kann ich als Religionslehrerin auch im Klassenkontext Interesse an den Glaubensvollzügen von Muslimen u. a. zeigen. Auch in Schülergottesdiensten ist eine Zusammenarbeit und Dialog möglich.

Einigen Lehrkräften ist jedoch wichtig zu betonen, dass es dabei nicht um das Vorantreiben einer Unterschiede und Gegensätze nivellierenden, relativistischen Haltung gehen kann. Vielmehr muss die Identitätsbildung durch eine eigene Positionierung inmitten der Vielzahl an Standpunkten deutlich im Vordergrund stehen: L10 (w/ev) Aufdecken von Gemeinsamkeiten, ohne die eigene Identität zu verleugnen. L12 (m/rk) Eine Haltung einüben, in der die SchülerInnen ermutigt werden, zu ihrer eigenen (begründeten) Meinung zu stehen und gleichzeitig andere Meinungen zu akzeptieren.

Die Auswertung

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Ein weiterer, auffallend häufig wiederkehrender Aspekt betrifft die Vorbildfunktion der Lehrkräfte. »Als Lehrer mit gutem Beispiel im Unterricht voran gehen« (L12 [m/rk]), »versuchen, seinen Schülern ein Modell zu sein und die [eingeforderten] Werte […] authentisch zu leben« (L9 [m/ev]) und ein »Vorbild geben« (L3 [w/rk]) lauten nur einige der abgegebenen Statements. Wieder andere versuchen, durch die Auswahl an Unterrichtsstoff den Jugendlichen die Möglichkeit zur Identifikation mit Vorbildern einzuräumen, beispielsweise indem »Jugendbücher zum Thema« (L7 [w/rk]) behandelt werden. 7. Auf welche Weise kann eine Schule tolerant sein? Welche speziellen Herausforderungen gibt es an Ihrer Schule, die tolerantes Verhalten erforderlich machen? Die Antworten auf die Frage nach speziellen schulischen Herausforderungen, die tolerantes Verhalten erforderlich machen, zeigen in einer allgemeinen Linie auf, dass gerade der Lernort Schule ein wichtiges Praxisfeld für Toleranz darstellt, und zwar aufgrund der Tatsache, dass Schule an sich immer ein konfrontiert Sein mit einer Vielzahl an unterschiedlichen Personen und Positionen bedeutet. Dabei erstrecken sich diese Unterschiede sowohl auf die im schulischen Umfeld vorfindbaren »professionellen« Gruppierungen (Schülerschaft, Lehrerkollegium, Schulleitung, Eltern) als auch auf die heterogene Zusammensetzung derselben. L14 (w/ev) Großes Kollegium, viele Schüler – sehr viele unterschiedliche Menschen, mit denen man konfrontiert ist!

Dabei sind es Faktoren wie Migrationshintergründe, soziale Herkunft sowie individuelle und familiäre Situationen, welche insbesondere die Gruppe der Schüler äußerst uneinheitlich erscheinen lassen. Im schulischen Zusammenleben macht diese ausgeprägte Diversität in den Augen der befragten Lehrkräfte Toleranz täglich neu erforderlich. Immer wiederkehrende Fälle von Rassismus und Mobbing betrachten sie dabei als Anzeichen dafür, dass die Toleranzforderung hier individuell (d. h. jeweils von Seiten der »Täter«) verfehlt wurde. Vereinzelt wird auf den Doppeljahrgang688 als eine den momentanen Umständen der schulpolitischen Lage geschuldete Herausforderung verwiesen: L14 (w/ev) Im Moment erfordert der Doppeljahrgang in der Oberstufe, dass man im Alltag einige Unwägbarkeiten in Kauf nimmt. 688 Im Frühjahr 2012 fand in Baden-Württemberg die Abiturprüfung für den letzten Jahrgang von G9 und für den ersten Jahrgang von G8 zeitgleich statt. Dies brachte ein gemeinsames Unterrichten beider Jahrgänge in der Oberstufe und eine doppelte Anzahl an Abiturienten mit sich.

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Toleranz aus Sicht von Religionslehrkräften

Die Antworten auf den zweiten Teil der Frage, auf welche Weise Schule tolerant sein kann, bezogen sich nun vielfach auf Lösungsansätze bzw. auf Vorschläge, wie mit dem eben geschilderten Phänomen umgegangen werden kann. So ergab die Analyse der verschiedenen Statements, dass alleine schon das Konzept von Schule an sich, nämlich eine enorme Vielfalt an Personen – seien es, wie gesagt, Schüler mit Migrationshintergrund, verschiedener sozialer und familiärer Herkunft oder schlicht Unterschiede hinsichtlich der Leistungsstärke – unter einem (Schul-)Dach zu vereinen, als nicht zu unterschätzender Ausdruck von Toleranz gewertet werden muss. Exemplarisch belegen dies die folgenden Äußerungen: L13 (w/ev) Eine Schule kann und muss schon tolerant sein bei der Aufnahme von Schülern. Durch die inhomogene Zusammensetzung zeigt sie Toleranz. Spezielle Herausforderungen gibt es – neben der Multikulturalität – bei Schülern mit schwierigem sozialem Hintergrund, denen trotz Leistungsorientierung eine Chance gegeben werden muss und die gefördert werden müssen. L16 (w/ev) Ich bin an einem ev. Gymnasium, das die Toleranz als wesentliches Merkmal christlichen Denkens und Handelns […] im Schulkonzept mit vorgesehen hat. Das bringt z. B. an der Stelle, dass wir versuchen, auch »hoffnungslose Fälle« von Schülern in unsere Klassen zu integrieren, die Herausforderung an Schüler und Lehrer mit sich, mit diesen Schülern dann auch tatsächlich geduldiger etc. zu sein.

Als ein weiterer, mit den eben genannten Faktoren eng zusammenhängender Ausdruck von schulischer Toleranz wird mehrfach die Öffnung eines Raums für unterschiedliche weltanschauliche Positionen benannt. Dies kann den befragten Lehrkräften zufolge durch die Thematisierung »verschiedene[r] Positionen im Religionsunterricht (Schöpfung / Evolution)« (L2 [m/ev]) genauso praktische Gestalt annehmen wie durch das »Zulassen von Bekenntnissen (Gottesdienste, Morgenandachten)« (L7 [w/rk]) und »kooperative[m] Unterricht zwischen den Konfessionen (auch Muslime im Reliunterricht, SuS lernen voneinander, Muslime erklären ihre Traditionen, Respektieren von Ramadan und Zuckerfest)« (L10 [w/ev]). In der Tat zeichnet sich in derartigen Antworten ein überaus reflektiertes und vielschichtiges Toleranzverständnis ab, wie es diese Untersuchung fördern möchte. Ein anderer Aspekt, der abschließend miteinbezogen werden soll, betont darüber hinaus den Zusammenhang zwischen Demokratie und Toleranz. Befragt nach der Art und Weise, auf die eine Schule tolerant sein kann, antwortet eine evangelische Religionslehrerin u. a.:

Die Auswertung

237

L10 (w/ev) Demokratische Strukturen: Schülermitverwaltung, Mitbestimmung durch SMV und Klassensprecher, Einüben von Demokratie und Toleranz in schulübergreifenden Projekten.

Geht man davon aus, dass die Etablierung demokratischer Strukturen innerhalb der Schule eine intensive Auseinandersetzung mit verschiedenen Interessen und Positionen fordert, die berücksichtigt werden wollen, und dass dabei nach einem für die gesamte Schulgemeinschaft gangbaren Weg trotz aller fundamentaler Unterschiede gesucht wird (vgl. bspw. die Positionen der Schülerschaft vs. die der Schulleitung), so können demokratische Strukturen die Toleranz im Schulalltag zweifelsohne erheblich fördern. Allerdings ist hier zu beachten, dass Toleranz nicht mit Kompromissfähigkeit gleichgesetzt werden darf. 8. Wie können Schülerinnen und Schüler Toleranz lernen? Erstaunlich viele strukturelle Ähnlichkeiten lassen auch die Antworten auf die Frage erkennen, wie Schülerinnen und Schüler nach Auffassung der Lehrkräfte Toleranz lernen können. Es herrscht Einigkeit darüber, dass Toleranzfähigkeit »[n]icht von allein« (L15 [m/rk]) erlernt und auch »nicht als Unterrichtsstoff« (L2 [m/ev]) vermittelt werden kann. Stattdessen können die von den befragten Religionslehrkräften genannten Strategien anhand folgender Kategorien systematisiert werden: Toleranz kann demnach am Vorbild, durch soziale Aktivitäten, durch Kenntnis des Andersartigen sowie durch Perspektivenwechsel gelernt werden. Toleranz lernen am Vorbild Die von Albert Bandura entwickelte und in der Lernpsychologie allgemein anerkannte Theorie, dass gewünschtes Verhalten am effektivsten und nachhaltigsten am Modell und am Erfolg gelernt wird689, trifft in den Augen der Befragten auch auf Toleranzfähigkeit zu. Bereits in Frage sechs, die in Erfahrung bringen wollte, wie Religionslehrkräfte selbst im Schulalltag Toleranz praktizieren können, fand dieser Aspekt mehrfach Erwähnung. Einige Antworten verweisen daher auch direkt auf entsprechende, zuvor unter 6. abgegebene Statements; andere formulieren erneut, dass Toleranz auf Schülerseite in erster Linie »am Vorbild« (L5 [m/rk]) bzw. »durch persönliches Vorbild« (L14 [w/ev]) und »an guten Beispielen« (L7 [w/rk]) zu lernen ist. Das Bewusstsein darüber, dass diese Vorbildfunktion insbesondere den Lehrkräften zukommt, wird ebenfalls deutlich ausgedrückt:

689 Vgl. A. Bandura, Lernen am Modell: Ansätze zu einer sozial-kognitiven Lerntheorie.

238

Toleranz aus Sicht von Religionslehrkräften

L2 (m/ev) L8 (w/rk)

Sie (die SuS) erfahren diese Toleranz durch uns oder eben nicht. Wenn sie LuL in toleranten Haltungen ihnen gegenüber erleben und merken, dass das nichts mit Beliebigkeit zu tun hat. L19 (m/rk) Als Lehrer kann man zeigen, dass man auch schwächere Schüler genauso achtet wie andere.

Auch was die Auswahl von Toleranz förderlichen Unterrichtsgegenständen betrifft, trägt die Lehrkraft Verantwortung und sollte im Unterricht einen »Blick über den Tellerrand durch Texte« (L13 [w/ev]) garantieren. L7 (w/rk) [M]an darf wohl die Wirkung von guter Theorie (Nathan im Deutschunterricht, 30jähriger Krieg im Geschichtsunterricht, Weltreligionen im Reliunterricht) nicht unterschätzen – zumindest können diese unterstützen, denn wenn Schüler Ideale formulieren, können sie sich selbst auch eher daran messen.

Auch »durch die Betroffenheit über historische Beispiele gelungener oder misslungener Toleranz« (L13 [w/ev]) wird somit ein Lernerfolg hin zu tolerantem Verhalten angestrebt. Toleranz lernen durch soziale Aktivitäten Ebenfalls werden eigene Erfahrungen in Form von sozialen Projekten und Praktika sehr häufig als Wege zum Erlernen eines toleranten Verhaltens geschildert. Auch »aktive Zusammenarbeit in Teams in allen Lagen des Schullebens« (L13 [w/ev]) sowie »jegliche Formen des sozialen Lernens […], z. B. kooperatives Lernen« (L9 [m/ev]) spielen nach Ansicht der Befragten eine gewichtige Rolle. Verwiesen wird dabei auf schulspezifische (Sozial-)Curricula, in denen beispielsweise »Fair-Play-Aktionen zur speziellen Förderung von Toleranz«, das gezielte »Einbinden der SchülerInnen in Streitschlichterprogramme und im Klassenrat« sowie ein »Sozialpraktikum« und die »Einbindung behinderter SchülerInnen in den Alltag« verankert sein sollten. Wiederholt erfolgt darüber hinaus eine Empfehlung der Methoden von Lions-Quest »Erwachsen werden«. Dabei handelt es sich um ein Jugendförderprogramm für 10- bis 14Jährige, das vorrangig im Unterricht der Sekundarstufe I vermittelt wird und »die planvolle Förderung der sozialen Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern« als Unterrichtsmittelpunkt benennt.690 690 Nach eigenen Angaben werden die Schülerinnen und Schüler durch Lions-Quest »Erwachsen werden« »nachhaltig dabei unterstützt, ihr Selbstvertrauen und ihre kommunikativen Fähigkeiten zu stärken, Kontakte und positive Beziehungen aufzubauen und zu pflegen, Konflikt- und Risikosituationen in ihrem Alltag angemessen zu begegnen und konstruktive Lösungen für Probleme, die gerade die Pubertät gehäuft mit sich bringt, zu finden. Gleichzeitig möchte der Unterricht mit diesem Programm jungen Menschen Orientierung beim Aufbau eines eigenen, sozial eingebundenen Wertesystems anbieten. Damit

Die Auswertung

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Toleranz lernen durch Kenntnis des Andersartigen Darüber hinaus bewerten die befragten Religionslehrkräfte auch eine Kenntnis des Andersartigen als unabdingbaren Schritt auf dem Weg zu Toleranz. Damit die Schülerinnen und Schüler der Frage entsprechend Toleranz erlernen können, müssen sie demzufolge »andere Kulturen kennen lernen – andere Länder erleben« (L1 [m/ev]), die »Weltreligionen im Reliunterricht« (L7 [w/rk]) behandeln und sich auf diese Weise ein »Wissen über Menschen, die anders sind, sei es aufgrund ihrer Herkunft, Religion, Behinderung/Krankheit oder ihres Charakters« (L14 [w/ev]) aneignen. Verliert »das Fremde« seinen bedrohlichen Charakter, so kann ein »Abbau von Vorurteilen und Ängsten« (L6 [w/ev]) erhofft werden – zweifelsohne eine notwendige Bedingung für das Erlernen von Toleranz. Toleranz lernen durch Perspektivenwechsel Schließlich trägt nach Auffassung mehrerer Religionslehrkräfte auch ein Perspektivenwechsel der Schülerinnen und Schüler dazu bei, Toleranz zu lernen. Die Fähigkeit, »sich in andere hinein[zu]versetzen« (L11 [m/rk]), soll dabei methodisch durch die in diesem Zusammenhang mehrfach erwähnten »Rollenspiele im Unterricht« (L14 [w/ev]) gefördert werden, also durch die »spielerische Einnahme des Standpunktes des anderen in fiktiven Dialogen und Monologen« (L19 [m/rk]). Außerdem zeigt sich eine Lehrkraft von der Wichtigkeit überzeugt, die »Fähigkeit zur Distanz zu sich selbst, zum sich über sich selber lustig machen [zu] üben.« Und er fügt – ganz im Sinne des Lernens am Modell – hinzu: L19 (m/rk) Mit aller Vorsicht beginne ich das als Lehrer bei mir selbst – es sollte allerdings schon ein Vertrauensverhältnis zu den Schülern bestehen.

Schritte zur interreligiösen Toleranz Völlig unabhängig voneinander sprechen sich zwei der befragten Religionslehrkräfte als Antwort auf die Frage, wie Schülerinnen und Schüler Toleranz lernen können, für ein systematisch-schrittweises Vorgehen aus. Dabei ist die Abfolge der genannten Schritte zur Toleranz (hier speziell zu interreligiöser Toleranz) nahezu identisch: ordnet sich das Konzept von Lions-Quest ›Erwachsen werden‹ in den Ansatz der Life-SkillsErziehung (Lebenskompetenz-Erziehung) ein, dem von der aktuellen Forschung die größten Erfolgsaussichten bei der Prävention (selbst-) zerstörerischer Verhaltensweisen (Sucht- und Drogenabhängigkeit, Gewaltbereitschaft, Suizidgefährdung) zugesprochen werden. Die Eltern werden in vielfältiger Weise in die Arbeit ihrer Kinder mit dem Programm aktiv einbezogen.« Vgl. http://www.lions-quest.de/lions-quest-im-ueberblick/wasist-lions-quest.html (gesehen am 16. 03. 2011).

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Toleranz aus Sicht von Religionslehrkräften

L10 (w/ev) 1.) Festigen der eigenen religiösen Identität 2.) Wurzeln für Toleranz in der eigenen Religion erkennen 3.) Kennenlernen der anderen Religionen 4.) Einüben der Toleranz an Beispielfällen und im konkreten Handeln (Besuche von anderen Glaubenseinrichtungen, Umgang mit Muslimen/Juden …). L18 (w/ev) 1.) Identitäts- und sinnstiftender Unterricht (besonders Religionsunterricht) 2.) Eigene Religion kennen(lernen), um in Dialog treten zu können 3.) Dialog mit anderen Religionen, Weltanschauungen etc. theoretisch und praktisch einüben.

Beide Fälle spiegeln ein äußerst reflektiertes Toleranzverständnis wieder und bewegen sich vorwiegend auf idealtypisch wissenschaftlich-theoretischer Ebene.691 In Kombination mit den übrigen, mehrheitlich unterrichts-praktisch orientierten Antworten ergibt sich ein überaus aufschlussreiches Bild davon, wie Schülerinnen und Schüler nach Auffassung von Religionslehrkräften Toleranz erlernen können. 9a. Sind Sie der Meinung, dass ein Zusammenhang zwischen Religion und Toleranz besteht? Nachdem der Fokus der bisherigen Fragen eher auf Toleranz im Allgemeinen gerichtet war, erfolgt durch die nun folgende Frage nach einem eventuellen Zusammenhang zwischen Religion und Toleranz eine Zuspitzung der Thematik. Erneut sollten die Lehrkräfte ihre persönliche Einschätzung auf einer Skala von 1 bis 5 zum Ausdruck bringen. Die Ergebnisse lassen eine eindeutige Tendenz erkennen. Zwar vertritt eine Lehrkraft die Meinung, dass keinerlei Zusammenhang zwischen Religion und Toleranz besteht692, während sich eine weitere Person durch die Einordnung bei Stufe 3 der inhaltlichen Wertung enthält. Sieben der übrigen 17 Befragten (37 %) sind hingegen der Ansicht, dass durchaus ein Zusammenhang zwischen Religion und Toleranz besteht, weitere zehn (53 %) bewerten diesen Zusammenhang darüber hinaus sogar als erheblich. Somit lässt sich festhalten, dass die große Mehrheit der befragten Religionslehrkräfte von einem bestehenden Zusammenhang zwischen Religion und Toleranz überzeugt ist. Diese Erkenntnis kann durch Abbildung 3 eindeutig visualisiert werden. 691 Wobei in beiden Fällen eine Bezugnahme auf Schwöbels Thesen zur Toleranz wahrscheinlich erscheint. 692 Hierbei handelt es sich um L13 (w/ev), die auch die Frage nach dem Stellenwert der Toleranz als Erziehungs- und Bildungsziel sowie dessen Entwicklung in den letzten Jahrzehnten (vgl. Fragen 1 und 2a) jeweils mit 4 bewertet. In den restlichen Fragen zeigt sich jedoch eine inhaltlich versierte, engagierte und reflektierte Auseinandersetzung mit der Toleranzthematik, so dass sich bei dieser Lehrkraft insgesamt ein eher uneinheitliches Bild ergibt. In einer direkten Interviewsituation hätte dies durch gezieltes Nachfragen näher analysiert werden müssen.

241

Die Auswertung

1 - Ja, ein großer 10 53% 2 7 37% 3 1 5% 4 0 0% 5 - Nein, gar keiner 1 5% Ja, ein großer

Nein, gar keiner

Abbildung 3: Zusammenhang zwischen Religion und Toleranz

9b. Gibt es für Sie angesichts unserer zunehmend multikulturellen Gesellschaft Grenzen der religiösen Toleranz? Inwiefern? Im direkten Anschluss an die Einschätzung des Zusammenhangs zwischen Religion und Toleranz sollen nun die Grenzen der religiösen Toleranz in den Augen der befragten Religionslehrkräfte beleuchtet werden. Wiederum sind an dieser Stelle inhaltliche Statements gefragt. Dabei wird der erste Teil dieser Doppelfrage lediglich von vier der Befragten negativ beantwortet. Die Begründungen dafür, weshalb ihrer Ansicht nach keine Grenzen der religiösen Toleranz bestehen, reichen von einer Haltung der Gleichgültigkeit (»Jeder soll nach seiner Facon glücklich werden«, L4 [m/ev]) bis hin zu einem Ausdruck von Gottvertrauen: » [W]eil die Wahrheit sich auf der Grundlage der Vernunft selbst ihren dann auch gottgewollten Weg bahnen wird« (L5 [m/rk]). Obwohl sie gemäß ihrer unter 9a abgegebenen Einschätzung keinerlei Zusammenhang zwischen Religion und Toleranz erkennen kann, antwortet eine Religionslehrerin nun: L13 (w/ev) Eine Schwierigkeit besteht darin, dass es in der multikulturellen Gesellschaft Tendenzen von Intoleranz gegenüber den bereits vorhandenen Religionen geben kann. Ich halte es jedoch für falsch zu sagen, hier höre die Toleranz auf. Letztendlich wird nur ein angstfreier Dialog zu einem gelingenden Miteinander führen.

242

Toleranz aus Sicht von Religionslehrkräften

Grenzen der Toleranz: Intolerantes Verhalten anderer Diese Ansicht wird von einem Großteil der Lehrkräfte jedoch nicht geteilt, wenn sie als Begründung für die Ihrer Auffassung nach durchaus existierenden Grenzen der Toleranz auf problematische Verhaltensweisen verschiedener Art zu sprechen kommen, die unter Umständen von Andersgläubigen an den Tag gelegt werden. So beziehen sich manche der Befragten in ihren Antworten konkret auf den Islam: L1 (m/ev) Toleranz ist immer dann in einer Zwickmühle, wenn es um die Toleranz gegenüber intoleranten Positionen geht. Es gibt manche muslimische Position, die zum Teil auch im Koran vertreten wird, vor allem aber in vielen muslimischen Gemeinden, die zu Grenzziehungen auffordert.

Allgemeiner drücken es hingegen folgende Standpunkte aus: L12 (m/rk) Die Grenze ist überschritten bei offensivem, aggressivem Exklusivitätsanspruch einer Religion gegenüber anderen Religionen. L14 (w/ev) Religiöser Fundamentalismus und Ausschließlichkeitsanspruch – egal von welcher Religion oder Nichtreligion – fördern die Intoleranz.

Doch längst nicht nur exklusive Glaubenspositionen, sondern auch ethische Grundfragen lassen die Toleranz der Befragten an ihre Grenzen stoßen: L3 (w/rk)

Wenn die Menschenrechte nicht mehr eingehalten werden, z. B. bei bestimmten fundamentalistischen Gruppierungen jedweder Religion, sollte die Toleranz unbedingt aufhören. L10 (w/ev) Man muss die Wahrung der Menschenwürde und Humanität beachten – nicht jede religiöse Praxis/Überzeugung muss toleriert werden!

Neben Verstößen gegen die Menschenwürde und die Menschenrechte sind es hauptsächlich Vergehen gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung, die beim Aufzeigen der Grenzen der Toleranz Erwähnung finden. Grenzen der Toleranz: Aufgabe des eigenen Standpunktes Auch die Verleugnung der eigenen Überzeugung als Reaktion auf äußerlichen Druck oder aufgrund übertriebener Rücksichtnahme kann nach Meinung zahlreicher Lehrkräfte nicht toleriert werden. Dies zeigt sich akut, wenn es um Feierlichkeiten anlässlich religiöser Feste geht: L2 (m/ev) Grenzen der religiösen Toleranz liegen darin, wenn (wie ich das gehört habe) in einer Schule kein Weihnachtsgottesdienst mehr stattfindet mit der Begründung, das sei für islamische Schüler schwierig.

Die Auswertung

243

In diesem Zusammenhang fallen Begriffe wie »Selbstverleugnung« (L6 [w/ev]) und »Selbstaufgabe« (L10 [w/ev]), die nichts mehr mit Toleranz zu tun hätten. Vielmehr bestehe die Herausforderung echter Toleranz im »Wahren der Identität ohne Missachtung der anderen« (L10 [w/ev]). Grenzen der Toleranz: Indifferenz und Beliebigkeit Schließlich markieren auch von Gleichgültigkeit geprägte Verhaltensmuster sowie unbedachtes, synkretistisches Vermengen verschiedenster Positionen die Grenzen von Toleranz. »Indifferenz« (L6 [w/ev]), »Gleichgültigkeit« (L18 [w/ ev]) und »Beliebigkeit« (L8 [w/rk]) in religiösen Angelegenheiten können von vielen Religionslehrkräften nicht toleriert werden: L2 (m/ev) Grenzen der religiösen Toleranz liegen darin, […] wenn Inhalte des christlichen Glaubens einfach vermischt werden mit buddhistischen Inhalten: dann achte ich die Person, die sich äußert, aber ich will ihr schon sagen, dass das mit christlichem Glauben nichts zu tun hat. Tolerant sein heißt nicht schweigen. L14 (w/ev) Grenzen sind für mich, wenn alles ins Beliebige rutscht.

Unbedingte Erwähnung verdient auch noch folgende Äußerung einer evangelischen Religionslehrerin, die sich zuvor nachdrücklich für das Bestehen eines Zusammenhangs von Religion und Toleranz sowie für Grenzen der religiösen Toleranz ausspricht: L16 (w/ev) Wenn es um die Gretchen- also Bekenntnisfrage geht, darf niemand von jemand anderem zu etwas gezwungen werden. Wenn es um ethische Themen und das Zusammenleben geht, muss möglichst viel Toleranz geübt werden.

Dieser Standpunkt entspricht Nipkows an vorangegangener Stelle bereits erläuterter Unterscheidung zwischen zwei theologischen Ebenen, die angesichts der Toleranzproblematik beachtet werden müssen: die Ebene der ereignisförmigen Konstitution von Religion und die der lehrmäßigen Auslegung bzw. Deutung.693

693 Vgl. erneut K.E. Nipkow, Wahrheit und Toleranz – Theologische Präzisierungen zum Kern des Glaubensdialogs und interreligiösen Lernens, 257 ff.

244

Toleranz aus Sicht von Religionslehrkräften

10. Welche Rolle kommt dem konfessionellen Religionsunterricht Ihrer Ansicht nach zu, wenn es um Toleranzfähigkeit im Schulalltag geht? Die abschließende Frage zielt nun direkt darauf ab, die Meinungen der Lehrkräfte zur konkreten Stellung des konfessionellen Religionsunterrichts im Zusammenhang mit Toleranzfähigkeit im Schulalltag zu explorieren. Vereinzelt sind hier kritische Stimmen zu hören, die dem konfessionellen Religionsunterricht keine nennenswerte Rolle zuschreiben oder ihn in seiner konfessionellen Ausrichtung energisch in Frage stellen. L11 (m/rk) Wenn es nur um die Verwaltung alter Pfründen geht, [sollte man den konfessionellen Religionsunterricht] abschaffen. Wenn es aber um die Kompetenz im eigenen Bereich geht, um selber und in Gemeinschaft anderen besser begegnen zu können, kann konfessioneller Religionsunterricht weiterhin hilfreich sein.

Die Auswertung der übrigen Antworten lässt eine auffallend deutliche Dominanz der Schlüsselbegriffe Identität und Kooperation erkennen. Identität Die große Mehrheit der befragten Religionslehrkräfte sieht eine maßgebliche Aufgabe des konfessionellen Religionsunterrichts in der Hilfe zur Identitätsbildung der Kinder und Jugendlichen. Dies gilt laut Umfrage ebenso bzw. gerade dann, wenn es um Toleranzfähigkeit im Schulalltag geht. Die eigene Positionierung in der Pluralität und der eigene Glaubensstandpunkt werden nahezu einstimmig als Voraussetzung dafür genannt, in den Austausch und in den Dialog mit anderen Positionen eintreten zu können und dadurch Toleranz praktisch werden zu lassen. Auch das Ringen um die Wahrheitsfrage darf dabei nach Auffassung einiger Lehrkräfte nicht vernachlässigt werden. Darüber hinaus wird auf die Wurzeln ethischen Handelns (zu dem auch tolerante Verhaltensweisen gezählt werden) verwiesen, die im konfessionellen Religionsunterricht ausführlich zur Sprache kommen. Die Frage nach der Rolle des konfessionellen Religionsunterrichts im Zusammenhang mit Toleranzfähigkeit im Schulalltag stellt den Abschluss und zugleich den inhaltlichen Höhepunkt der durchgeführten Umfrage dar. Die große Ausführlichkeit und sachliche Reflektiertheit der Antworten – insbesondere auf diese Frage – lassen darauf schließen, dass unter den befragten Religionslehrkräften ein ausgeprägtes Bewusstsein über die Relevanz der Toleranzthematik im allgemeinen sowie konkret im Zusammenhang mit dem konfessionellen Religionsunterricht verbreitet ist. Dieser Eindruck soll dem Leser nicht vorenthalten werden:

Die Auswertung

245

L1 (m/ev) Der konfessionelle RU hat gerade darin seine Aufgabe, sich seiner eigenen Position zu vergewissern und in der Vergewisserung des eigenen Glaubens auch die Fähigkeit zu verstehen und zu akzeptieren, dass es andere Positionen gibt, die genauso den Anspruch auf Wahrheit haben. Deshalb aber ist es auch wichtig, dass man versteht, dass der christliche Glaube einen universellen Anspruch auf Wahrheit erhebt – und dass zur Toleranz der Streit um die Wahrheit und damit auch der Streit um die Deutung der Wirklichkeit dazu gehört. L6 (w/ev) Nur wer die eigene Identität kennt, kann auch Fremdes verstehen und respektieren. L8 (w/rk) Es geht darum, eine eigene Identität zu entwickeln, von der aus SuS tolerant sein können, einen eigenen Standpunkt. L10 (w/ev) Im RU werden auch andere Religionen behandelt und zunächst die eigene Herkunft geklärt. Dies führt zu einer Stärkung der eigenen Identität für einen offenen und respektvollen Dialog. Man sollte Argumente für Toleranz im eigenen Glauben offenlegen und sich damit an andere Überzeugungen rantasten (ohne Vorurteile, Abbau von Vorurteilen). L13 (w/ev) Ich verstehe die Frage mit Betonung auf »konfessionell«: Durch die Positionierung im protestantischen oder katholischen Christentum erhalten Schüler zunächst die Möglichkeit, etwas Vorgegebenes als ihr Eigenes anzunehmen. Erst von hier aus ist eine Auseinandersetzung möglich, die in einer verstehenden Toleranz statt einer Gleichgültigkeit mündet. Auch was einen verantwortlichen, fürsorglichen Umgang miteinander angeht sehe ich im konfessionellen Religionsunterricht den Vorteil, dass hier klare Wurzeln für die christliche Motivation ethischen Handelns deutlich werden. Für meine Begriffe ist hier wichtig, dass eine solche Toleranz im Sinne von Verständnis und Hilfsbereitschaft anderen Menschen gegenüber nicht in einem ethischen Gebot »Du sollst« wurzelt, sondern sich von innen aus der gefestigten Situation eines sich erlöst fühlenden Menschen in seiner Beziehung zu Gott ergibt. L16 (w/ev) Konfessioneller RU ist sich bewusst, auf welchem Standpunkt er steht und behauptet nicht gleichsam »neutral« zu sein, was es m. E. in diesem Fall nicht gibt. Man steht immer irgendwo, ob man will oder nicht, ob man sich dessen bewusst ist oder nicht. Konfessioneller RU kann an dieser Stelle viel klarer sein. Er darf natürlich im o.g. Sinn nicht versuchen, sein Bekenntnis den Schülern überzustülpen.

Kooperation Ein weiterer Aspekt neben dem beschriebenen Beitrag zur Identitätsbildung wird durch das ebenfalls sehr häufig angeführte Stichwort der Kooperation aufgeworfen. Dabei ist von »Toleranzeinübung« (L17 [w/ev]) sowohl durch interkonfessionelle als auch – darauf aufbauend – durch interreligiöse Kooperation (ggf. in Projektform) die Rede.

246

Toleranz aus Sicht von Religionslehrkräften

Der konfessionelle RU kann schon dadurch ein Stück Toleranzfähigkeit zeigen, indem er sich auf gemeinsame Projekte mit dem kath. RU einlässt: gemeinsame Gottesdienste an der Schule, gemeinsame Unterrichtsprojekte zwischen evangelisch / katholisch und gemeinsamer Unterricht z. B. in Kl.9 (gemeinsame Stunden). L17 (w/ev) Toleranzeinübung durch Kennenlernen der jeweils anderen Konfession in Kooperation. L19 (m/rk) Es sollten mehr Projekte konfessioneller und u. U. interreligiöser Kooperation durchgeführt werden. L2 (w/ev)

Wenn es um Toleranzfähigkeit im Schulalltag geht, sehen die befragten Religionslehrkräfte die besondere Rolle des konfessionellen Religionsunterrichts also überwiegend in der Identitätsbildung und im kooperativen Dialog mit der jeweils anderen Konfession bzw. mit anderen Religionen. Dabei zeigen sie sich gegenüber Veränderungen am Konzept des konfessionellen Religionsunterrichts mehrheitlich aufgeschlossen, ja fordern diese teilweise sogar ein: L8 (w/rk) Ich glaube, dass es mehr konfessions- und religionsverbindende Elemente im RU geben sollte – als Pflicht-Teil im Lehrplan.

Religiöse Bildung und Kompetenz wird als äußerst relevant erachtet, um angesichts des weltanschaulichen Pluralismus unserer zunehmend multikulturellen Gesellschaft nicht in Indifferenz und Beliebigkeit abzugleiten, wie dies die Sorge der befragten Religionslehrkräfte zum Ausdruck bringt. Hinsichtlich einer Erziehung zu Toleranzfähigkeit liegt sicherlich eine weitere Aufgabe des Religionsunterrichts darin, die »Bibelauslegung nicht der einseitigen Darstellung fundamentalistischer Kreise [zu] überlassen«, wie es L3 (w/rk) formuliert. Stellvertretend für die mehrheitliche Ansicht der befragten Religionslehrkräfte scheint schließlich auch das Anliegen von L14 (w/ev) zu sprechen, »in Diskussionen, Gesprächen und bei der Vermittlung von Wissen klar[zu]machen, dass es u. U. auch andere Wege gibt, ich den meinen aber bewusst gehe.«

5.3

Zusammenfassung

Die Umfrage unter 19 Religionslehrkräften beider Konfessionen zur Toleranzthematik bringt ein reges Interesse zum Vorschein, was sich in den teilweise sehr ausführlichen Antworten spiegelt. Die Fragen decken ein weites Feld ab und berühren zunächst allgemeine, später konkret auf den konfessionellen Religionsunterricht ausgerichtete Aspekte von Toleranz im Schulalltag. Generell wird der Stellenwert von Toleranz als Erziehungs- und Bildungsziel für wichtig bis sehr wichtig erachtet, auch wenn Uneinigkeit darüber herrscht,

Zusammenfassung

247

ob dieser in den vergangenen Jahrzehnten eher gestiegen oder gesunken sei. Um ihre jeweilige Einschätzung zu begründen, führen die befragten Lehrkräfte interkulturelle und interreligiöse Motive, ein diffuses Toleranzverständnis sowie Globalisierung und neue Medien als Motive an. Hinsichtlich der Werte, die den Schülerinnen und Schülern vermittelt werden sollen, sieht die Mehrheit der Befragten tatsächlich Toleranz an erster Stelle, gefolgt von Respekt, Zivilcourage, Offenheit, Ehrlichkeit, Verantwortlichkeit, Urteilsvermögen und Gerechtigkeit. Anhand von einigen Praxisbeispielen für besonders tolerantes Verhalten von Kollegen bzw. ehemaligen Lehrern wird Toleranz nach Auffassung der befragten Personen als Offenheit gegenüber anderen Meinungen, als Rücksichtnahme und Hilfsbereitschaft sowie in Form von Nachsicht greifbar. Des Öfteren wird Toleranz darüber hinaus auch mit sozialer Kompetenz und, dezidiert christlich motiviert, mit Nächstenliebe gleichgesetzt. An ihre Grenzen stößt die Toleranz gegenüber Schülern und Schülerinnen im Schulalltag bei jeglicher Anwendung physischer und psychischer Gewalt (insbesondere bei Mobbing) sowie bei respektlosem, egoistischem und unaufrichtigem Verhalten. Wird ein Kind bei Regelverstößen ungerechtfertigterweise von den Eltern in Schutz genommen, so stößt dies auf Seiten der Lehrkräfte genauso wenig auf Verständnis wie deren überambitionierte Haltung bezüglich der Zensuren ihrer Kinder oder Unzuverlässigkeit innerhalb des Kollegiums. Das Bemühen um ein Klima der Offenheit für unterschiedliche religiöse und weltanschauliche Positionen zeigt ebenso wie das Bewusstsein über die eigene Vorbildfunktion, wie Religionslehrkräfte Toleranz im Schulalltag zu praktizieren versuchen. Bei der weiterführenden Frage, welche speziellen Herausforderungen tolerantes Verhalten an der Schule erforderlich machen, wurde deutlich, dass alleine schon das Konzept von Schule an sich, nämlich eine enorme Vielfalt an Personen – seien es Schüler mit Migrationshintergrund, verschiedener sozialer und familiärer Herkunft oder schlicht Unterschiede hinsichtlich der Leistungsstärke – unter einem (Schul-)Dach zu vereinen, als nicht zu unterschätzender Ausdruck von Toleranz gewertet werden muss. Innerhalb dieses Praxisfeldes kann Toleranz nach Auffassung der befragten Religionslehrkräfte am ehesten am Vorbild, durch soziale Aktivitäten, durch Kenntnis des Andersartigen sowie durch Perspektivenwechsel gelernt werden. Bei der Fokussierung der letzten Fragen auf Toleranz im Hinblick auf Religion und Religionsunterricht zeigt sich die große Mehrheit von einem großen bis sehr großen Zusammenhang zwischen Toleranz und Religion überzeugt. Für die meisten der befragten Personen liegen die Grenzen religiöser Toleranz angesichts unserer zunehmend multikulturellen Gesellschaft im intoleranten Verhalten anderer, bei der Aufgabe des eigenen Standpunktes sowie in der zunehmenden Tendenz hin zu Indifferenz und Beliebigkeit bezüglich religiöser Angelegenheiten.

248

Toleranz aus Sicht von Religionslehrkräften

Ganz konkret nach der Rolle des konfessionellen Religionsunterrichts hinsichtlich Toleranzfähigkeit im Schulalltag befragt, betonen die an der Umfrage beteiligten Religionslehrkräfte nachdrücklich die Relevanz von Identitätsbildung im konfessionellen Religionsunterricht und von interkonfessionell- bzw. interreligiös-kooperativen Unterrichtsformen. Dabei zeigen sie sich gegenüber Neuerungen am Konzept des konfessionellen Religionsunterrichts mehrheitlich aufgeschlossen – wohl wissend, dass im Dienste einer Erziehung zu Toleranz künftig auch einschneidende Veränderungen in der Aus- und Fortbildung von Religionslehrkräften von Nöten sein werden. Ausgehend von dieser Zusammenfassung der Umfrageergebnisse stellt sich nun die Frage nach eventuellen Parallelen zu den Ergebnissen der norwegischen Studie von Afdal. An erster Stelle steht sogleich die Tatsache, dass Toleranz als Erziehungs- und Bildungsziel in den Augen sowohl der norwegischen als auch der deutschen befragten Lehrkräfte einen herausragenden Stellenwert einnimmt.694 Darüber hinaus schlagen die von Afdal dargelegten Ansichten der norwegischen Lehrkräfte allerdings eine etwas andere Richtung ein. Demnach gilt eine Lehrkraft dann als tolerant, wenn sie sich als kompetent, gerecht, professionell und verständnisvoll erweist und stets auf eine angemessene und faire Behandlung der Schülerinnen und Schüler bedacht ist.695 Die Interviewten beziehen sich dabei auf eine Vielzahl an verschiedenen Toleranz-Konzeptionen und betrachten Toleranz als plastisches Konzept: Ganz allgemein sei darunter zwar eine Akzeptanz der Verschiedenheit zu verstehen, je nach Kontext wird die Toleranz-Konzeption jedoch mit einer Vielzahl an präziseren Bedeutungen gefüllt. So fasst Afdal zusammen: »Totally the informants – and every single informant – use a variety of different conceptions of tolerance. Tolerance is a plastic concept: It means broadly accepting difference, but gets a variety of more precise meanings in different contexts.«696 Theoretisch wird Toleranz von den norwegischen Lehrkräften als Gerechtigkeit, Fürsorge, Solidarität und gegenseitiger Wahrnehmung697 verstanden und als moderne und postmoderne Toleranz kategorisiert, wobei erstere Pluralität als Vielfalt im Gegensatz zu Einheit, letztere Pluralität als alternativlose Vielfalt wertet. Es zeigt sich also, dass sich die (hier stark verkürzt wiedergegebenen) Ergebnisse von Afdals Lehrerbefragung in einem recht allgemeinen Rahmen bewegen, während die skizzierten Antworten der in dieser Untersuchung befragten Religionslehrkräfte mitunter deutlich in Richtung einer auf interreligiöse Zusammenhänge zielenden Toleranz tendieren. Es liegt auf der Hand, dass die Erklärung für dieses Phänomen in 694 695 696 697

Vgl. dazu G. Afdal, Tolerance and Curriculum, 13 u. a. Vgl. a. a. O., 188. A. a. O., 219. »recognition«, hier evtl. im Sinne von »gegenseitiger Wertschätzung« zu verstehen; vgl. a. a. O., 242.

Zusammenfassung

249

der jeweiligen Fächerkombination der befragten Lehrkräfte liegen dürfte. Da sich diese Untersuchung jedoch schwerpunktmäßig für Toleranz in interreligiösen Zusammenhängen interessiert, liegt die gezielte Befragung von Religionslehrkräften und die Zuspitzung der Fragen auf den Zusammenhang von Toleranz und Religionsunterricht nahe. Ein ausführlicherer Vergleich mit Afdals Ergebnissen erscheint aufgrund dessen nicht weiter ergiebig. Darüber hinaus lohnt es sich jedoch der Frage nachzugehen, wie sich die Befunde der durchgeführten Lehrerbefragung zu den Ergebnissen der vorausgegangenen Arbeitsschritte verhalten. So fällt auf, dass in nahezu keiner Antwort der befragten Religionslehrkräfte ein dezidierter Bezug zum allgemeinen Bildungsplan und dessen eventuellen Ausführungen zur Toleranzthematik zu finden ist. Die im entsprechenden Kapitel dieser Untersuchung festgestellte Tatsache, dass solche Ausführungen im Bildungsplan de facto auch gar nicht existieren, muss allerdings vor dem Hintergrund, dass der Stellenwert von Toleranz als Erziehungs- und Bildungsziel von den befragten Lehrpersonen besonders hoch gehandelt wird, erneut als äußerst bedenklich kritisiert werden. Der mehrheitlich postulierte Zusammenhang zwischen Toleranz und Religion lässt darüber hinaus die bereits geäußerte Forderung, eine im Dienste der Toleranzerziehung im Religionsunterricht zu verfolgende interreligiöse Kompetenz explizit in den Bildungsplan zu integrieren, umso bedeutsamer erscheinen. Dies belegen auch die Antworten auf die Frage nach den Grenzen der Toleranz, die sich teilweise konkret auf den Islam beziehen und manche muslimische Position als nicht tolerierbar werten. Eine sachlich-distanzierte Behandlung der Weltreligionen (insbesondere des Islam) auf kognitiver Ebene, wie sie der Bildungsplan für die verschiedenen Klassenstufen vorsieht, ist zwar im Sinne des Wissenserwerbs über fremde Religionen notwendig und erstrebenswert, kann aber ohne authentische Begegnungen und dialogische Auseinandersetzungen für eine Erziehung zur Toleranz nicht ausreichen. Weiter machen die Lehrerantworten vielfach deutlich, dass ein diffuses Toleranzverständnis die Klärung der Thematik erheblich erschwert. Zahlreiche Statements lehnen Toleranz ab, wenn sie mit Indifferenz und Beliebigkeit gleichgesetzt wird. Versteht man darunter die respektvolle und reflektierte Auseinandersetzungen mit anderen Standpunkten, so erfährt Toleranz als Wert durchweg hohe Zustimmung. Hier zeigt sich eindrücklich die Notwendigkeit einer Theorie der Toleranz, wie es die zuvor aufgestellte systematische Toleranzbegründung leisten möchte: Die eindeutige Unterscheidung zwischen einer abstrakten und einer reflektierten Toleranz sowie der Einsatz zur Förderung letzterer. Die Äußerungen der Religionslehrkräfte entsprechen darüber hinaus größtenteils den Ergebnissen der systematischen Theologie, was auf das hohe Reflexionsniveau der Lehrerantworten schließen lässt. Dies zeigt sich beispielhaft

250

Toleranz aus Sicht von Religionslehrkräften

an den Aussagen, dass Gleichgültigkeit und Indifferenz genauso wie Beliebigkeit und Relativismus durchweg abgelehnt und als hinderlich für Toleranz angesehen werden. Die einhellige Betonung einer Haltung der Offenheit gegenüber anderen Religionen in Verbindung mit dem erläuterten systematisch-schrittweisen Vorgehen beim »Erlernen« von interreligiöser Toleranz kommen den Kernaussagen von Schwöbels Thesen zur Toleranz insgesamt sehr nahe. Insbesondere die Antworten auf die Frage, welche Rolle dem konfessionellen Religionsunterricht zukommt, wenn es um Toleranzfähigkeit geht, bestätigen dies. Die unter dem ersten Stichwort Identität gebündelten Äußerungen betonen wie Schwöbel die Wichtigkeit einer religiösen Beheimatung im Sinne einer eigenen religiösen Identität als Voraussetzung für einen gelingenden Dialog mit anderen Überzeugungen. Das zweite Stichwort der Kooperation scheint hingegen bereits den Weg in Richtung der Zukunftsperspektiven zu weisen, die es an späterer Stelle abschließend darzulegen gilt. Zunächst soll das Augenmerk jedoch noch auf alternative Modelle zum konfessionellen Religionsunterricht gelenkt sowie deren Anspruch auf eine Erziehung zu mehr Toleranzfähigkeit kritisch geprüft werden.

IV. Modelldiskussion

6. Alternative Modelle zum konfessionellen Religionsunterricht und deren Anspruch auf Toleranzerziehung

6.1

Erläuterungen zur Vorgehensweise

In einem weiteren Arbeitsschritt soll nun die Betrachtung von alternativen Modellen zum konfessionellen Religionsunterricht erfolgen. So sollen drei Ansätze in den Blick genommen werden, die es sich erklärtermaßen zur Aufgabe gemacht haben, auf die gesellschaftlichen Veränderungen der Postmoderne einzugehen, sich ihnen in mancherlei Hinsicht anzupassen und auf diese Weise pluralitäts- und zukunftsfähig zu sein. Hierbei handelt es sich zunächst, als innerdeutsche Alternative, um das Schulfach LER (Lebensgestaltung-EthikReligionskunde). Aufgrund der höchst kontroversen Diskussionen um diesen Sonderweg des Landes Brandenburg wird LER den Schwerpunkt der folgenden Ausführungen und Analysen darstellen. Im Anschluss daran wird das Hamburger Modell des Religionsunterricht(s) für alle kritisch untersucht, bevor ein Blick über die Grenzen Deutschlands hinaus geworfen werden soll. Aufgrund der Migrationen im Commonwealth ist die Erfahrung religiöser Pluralität in England und Wales bereits seit den 1950er Jahren deutlich zu spüren. Es wird zu prüfen sein, wie diese Länder mit langer Migrationsgeschichte, in denen das Phänomen des Pluralismus daher um einiges präsenter zu sein scheint als in Deutschland, die religiöse Erziehung ihrer Jugendlichen handhaben. Um die jeweiligen Modelle zu erfassen, kommen verschiedene Methoden und Vorgehensweisen, wie beispielsweise eine Lehrbuchstudie oder empirische Erhebungen, in Betracht. Für diese Untersuchung wurde der Zugang einer Modelldiskussion gewählt. Eine Annäherung an die Frage nach der Vorgehensweise der verschiedenen Modelle bezüglich einer Toleranzerziehung soll im Folgenden zunächst durch die Betrachtung der zum jeweiligen Modell gehörenden historischen Fakten unternommen werden, bevor die den Modellen eigenen Konzeptionen und Inhalte in den Blick kommen. Daran anschließen wird sich jeweils eine Analyse der Modelle, die deren Anspruch auf eine Erziehung zu Toleranz kritisch zu prüfen hat.

254

6.2

Alternative Modelle zum konfessionellen Religionsunterricht

LER in Brandenburg

Im Februar 1992 begann unter der Leitung einer Projektgruppe des Ministeriums für Bildung, Jugend und Sport in allen Kreisen des Landes Brandenburg an je einer Schule der Modellversuch zu einem neuen Lernbereich und Unterrichtsfach »Lebensgestaltung-Ethik-Religion« (LER)698. Zu diesem Zeitpunkt war wohl nur schwerlich abzusehen, welche Flut an kontrovers geführten Diskussionen und Auseinandersetzungen dieses Projekt nach sich ziehen sollte. Seine Brisanz reicht bis in die religionspädagogische Debatte von heute hinein. Der Streit um LER, mittlerweile die Kurzform für »Lebensgestaltung-EthikReligionskunde«, »mit seinen rechtlichen, politischen, pädagogischen, religionspädagogischen und theologischen Dimensionen« muss, so Schweitzer, »zu den Meilensteinen auf dem Weg der Entwicklung der Schule in ihrem Verhältnis zu den Religionsgemeinschaften und zu Religion als Bildungsinhalt gezählt werden«699. Ein direkter Sachzusammenhang mit dem Streit um die Abschaffung des Religionsunterrichts nach der Trennung von Staat und Kirche im Jahre 1918/ 19 sowie mit den Auseinandersetzungen um den schulischen Religionsunterricht in den ersten Jahren nach der Gründung der DDR ist demnach nicht von der Hand zu weisen. Der Streit um LER reiht sich außerdem ein in die immer wieder neu aufbrechenden politischen und pädagogischen Proteste gegen einen unter Beteiligung der Religionsgemeinschaften erteilten Religionsunterricht in der Schule, für die der Bremer Schulstreit zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Symbol gelten kann. Der besondere Weg Brandenburgs soll im Folgenden zuerst unter historischen Gesichtspunkten betrachtet werden. Die geschichtlichen Hintergründe zu der Entstehung und den Entwicklungen von LER sind ausgesprochen aufschlussreich und für ein angemessenes Verständnis des brandenburgischen Unterrichtsfaches unerlässlich. Eine Beschreibung der Konzeptionen und Inhalte von LER wird sich an die historische Perspektive anschließen. Auch für die Untersuchung von LER als einem möglichen Alternativmodell zum konfessionellen Religionsunterricht muss die Frage nach dessen Beitrag zur Ausbildung von Toleranzfähigkeit leitend sein. Dieser Punkt wird daher im Fokus der abschließenden Analyse stehen.

698 Vgl. Ministerium für Bildung, Jugend und Sport, Gemeinsam leben lernen, 25. 699 F. Schweitzer, LER in Brandenburg – am Ende des Streits?, 1139.

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6.2.1 Historische Perspektive700 Zur Entstehung und Entwicklung von LER Neben dem kirchlichen Unterricht an den Getauften, der ursprünglichen und ungeteilten Form der Bildungsverantwortung der Kirche, »nimmt die Kirche im Religionsunterricht an staatlichen Schulen eine abgeleitete und mit anderen geteilte Bildungsmitverantwortung wahr.«701 Neben Predigt und Seelsorge wird Theologie auch im gesellschaftlichen wie im innerkirchlichen Unterricht praktisch. Die Tatsache, dass die Teilnehmerzahlen für den Konfirmanden- und Religionsunterricht über den Besucherzahlen von Gottesdiensten liegen, lässt Rückschlüsse auf die große Breitenwirkung des kirchlichen Unterrichts zu. Die Tradition des schulischen Religionsunterrichts besteht – wenn auch zur damaligen Zeit kaum flächendeckend – seit Martin Luthers Schulschriften und den Bestimmungen über die Schule in Philipp Melanchthons »Unterricht der Visitatoren« (1528)702. Auf dem Gebiet der DDR brach diese Tradition allerdings ab. Einen christlichen Religionsunterricht oder ein anderes Fach, das Religion behandelt, konnte es für den staatlich verfochtenen Atheismus eines vom Marxismus-Leninismus geprägten Gesellschaftsverständnisses nicht geben. Religion wurde nur im Privatbereich geduldet. Dies hatte zur Folge, dass religiöse Unterweisung nur in innerkirchlichem Rahmen stattfinden konnte und dass sich weitere gemeindepädagogische Angebote entwickelten, wie insbesondere eine Abwandlung der bereits in der zweiten Hälfte der NS-Zeit eingerichteten innergemeindlichen Christenlehre. Auf diese Weise war es möglich, trotz allem mit der jungen Generation über Glaubensfragen ins Gespräch zu kommen.703 Mit der Deutschen Wiedervereinigung 1990, die in rechtlicher Hinsicht den Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes bedeutete, traten für die Neuen Bundesländer auch die grundgesetzlichen Regelungen hinsichtlich des Religionsunterrichts in Kraft704 : nach Art. 7 Abs. 3 GG handelt es sich beim Religi700 Vgl. im Folgenden insbesondere K.E. Nipkow, Die Herausforderung aus Brandenburg, 124 – 148; F. Schweitzer, LER in Brandenburg – am Ende des Streits?, 1139 – 1146; W. Huber/S.-R. Schultz, Wird endlich gut, was lange währt?, 2 – 28; Ministerium für Bildung, Jugend und Sport, Gemeinsam leben lernen, 25 – 29; W. Edelstein (Hg.), Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde. Zur Grundlegung eines neuen Schulfachs; A. Leschinsky, Vorleben oder Nachdenken? Bericht der wissenschaftlichen Begleitung über den Modellversuch zum Lernbereich »Lebensgestaltung-Ethik-Religion«. 701 K.E. Nipkow, Die Herausforderung aus Brandenburg, 124. 702 Vgl. P. Melanchthon, Unterricht der Visitatoren an die Pfarrherrn im Kurfürstentum zu Sachsen (1528). 703 Vgl. K.E. Nipkow, Die Herausforderung aus Brandenburg, 124; vgl. dazu auch E. Schwerin (Hg.), Gemeindepädagogik. Lernwege der Kirche in einer sozialistischen Gesellschaft; D. Reiher (Hg.), Kirchlicher Unterricht in der DDR von 1949 bis 1990; H. Aldebert, Christenlehre in der DDR. 704 Vgl. F. Schweitzer, LER in Brandenburg – am Ende des Streits?, 1140.

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onsunterricht um ein ordentliches Lehrfach, das in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften zu erteilen ist. Doch für die ostdeutschen Kirchen bedeutete eine Wiederangleichung an die westdeutschen Gepflogenheiten – neben dem Religionsunterricht betraf dies insbesondere den Kirchensteuereinzug sowie die Militärseelsorge – »eine Preisgabe ihrer eigenen inzwischen beschrittenen Wege und der hierbei gewonnenen Einsichten.«705 Mittlerweile sehen alle ostdeutschen Bundesländer den Religionsunterricht in ihren Schulgesetzen vor und ermöglichen somit den Kirchen die evangelischerseits reformatorisch begründete öffentliche Mitverantwortung. Neben dem Sonderfall Berlin bildet Brandenburg dabei jedoch die einzige Ausnahme. Als Antwort auf 40 Jahre staatlich verordnete Erziehung und sozialistisch ideologisierte Einheitspädagogik, die Fragen der individuellen Lebensführung systematisch ausblendete, entschloss sich das Land Brandenburg nicht zu einem konfessionellen, nach Konfessionen oder Religionen getrennten Religionsunterricht, sondern zu einem Lernbereich »Lebensgestaltung-Ethik-Religion«. Im Grundsatzpapier für die öffentliche Diskussion äußert das Bildungsministerium die Auffassung, dass »die weltanschauliche Trennung der Schülerinnen und Schüler, insbesondere in einem Lernbereich, in dem es um wesentliche Fragen des Lebens und menschlichen Zusammenlebens geht, den Herausforderungen der Gegenwart nicht mehr gerecht wird.«706 Gemeinsames Lernen aller Schülerinnen und Schüler, so heißt es weiter, solle die Möglichkeit bieten, Verständnis, Toleranz für Fremdes und Dialogfähigkeit zu fördern. Verfassungsrechtlich beruft sich die brandenburgische Landesregierung auf Art. 141 des Grundgesetzes. Nach diesem Artikel, der sogenannten »Bremer Klausel«, findet Artikel 7 Absatz 3 Satz 1 des Grundgesetzes »keine Anwendung in einem Land, in dem am 1. Januar 1949 eine andere landesrechtliche Regelung bestand«. Unter Federführung der damaligen Bildungsministerin Marianne Birthler erprobten 44 brandenburgische Schulen zwischen 1992 bis 1995 in einem durch den Berliner Erziehungswissenschaftler Achim Leschinsky wissenschaftlich begleiteten707 Modellversuch das Schulfach »LebensgestaltungEthik-Religion«. Maßgebliche Unterstützung erfuhr LER dabei auch von den beiden westdeutschen Religionspädagogen Jürgen Lott und Gert Otto. Als Vorsitzender des den Versuch begleitenden Gesellschaftlichen Beirats kam Otto die Funktion eines LER-Hauptberaters zu.708 Da der evangelischen Kirche daran gelegen war, den Jugendlichen in dem Vakuum, das die Schulen in der DDR 705 K.E. Nipkow, Die Herausforderung aus Brandenburg, 125. 706 Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg, Gemeinsam leben lernen, 26. 707 Vgl. A. Leschinsky, Vorleben oder Nachdenken? Bericht der wissenschaftlichen Begleitung über den Modellversuch zum Lernbereich »Lebensgestaltung-Ethik-Religion«. 708 Vgl. K.E. Nipkow, Die Herausforderung aus Brandenburg, 132.

LER in Brandenburg

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geschaffen hatten, Orientierung in Lebensfragen zu geben, wirkte sie, anders als die katholische Kirche, zunächst an dem Modellversuch mit. Als gleichberechtigter Partner sollte die evangelische Kirche Mitverantwortung tragen. Dazu wurde der Unterricht gemäß den Regelungen des Kabinettbeschlusses vom 2. Juni 1992709 aufgeteilt in eine »Integrationsphase«, in der die Schüler und Schülerinnen gemeinsam den LER-Unterricht besuchten, und eine »Differenzierungsphase«, in der als ordentliche Lehrfächer Religion sowie Lebensgestaltung/Ethik angeboten wurden. Die unterschiedslose Bezeichnung beider Fachbereiche als »ordentliche Lehrfächer« setzte deren Gleichrangigkeit und Gleichwertigkeit im Lernbereich voraus. Diese Phasen wechselten einander ab, dennoch relativierte dieser Kompromiss aus Sicht der Verantwortlichen in der Politik die Vorstellung von LER als einem integrativen Fach, in dem Unterrichtsthemen aus der Lebensgestaltungs-, der Ethik- und der Religionsperspektive mit allen Schülern und Schülerinnen im Klassenverband besprochen werden sollten. Die Struktur einer Integrations- und Differenzierungsphase war also gescheitert. Als von politischer Seite die Absicht laut wurde, zur ursprünglichen Idee von LER als einem Fach ohne Differenzierungsphase zurückzukehren, »war die evangelische Kirche nicht mehr bereit, die Zusammenarbeit fortzusetzen.«710 Gleichwohl sollte das Fach LER nach dem Willen der Landesregierung Brandenburgs landesweit eingeführt werden, allerdings mit einer geringen, aber bedeutsamen Namensänderung: Im Gesetz über die Schulen im Land Brandenburg vom 12. April 1996 wurde die Einführung des Faches »Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde« festgelegt. Während in der Zeit des Schulversuchs zum Teil auch von »Religionen« gesprochen worden war, betonte der Zusatz »-kunde« nun den Unterschied zum konfessionellen Religionsunterricht und hob den Status eines bekenntnisfreien Pflichtfaches hervor711. Dadurch wurden die in §11 Absatz 3 des brandenburgischen Schulgesetzes formulierten Eigenschaften des Faches deutlich zum Ausdruck gebracht, denen zufolge LER »bekenntnisfrei, religiös und weltanschaulich neutral« zu unterrichten sei. Mit §141 räumte das Schulgesetz gleichwohl eine Befreiungsmöglichkeit von LER ein, unter der Voraussetzung, dass ein »hinreichender Unterricht« gewährleistet sei, wozu aus Sicht des Ministeriums der kirchliche Unterricht zu zählen war.712 Zudem ist bemerkenswert, dass in §9 Abs. 2 den Kirchen und Religionsgemeinschaften das Recht eingeräumt wurde, »in den Räumen der Schule nach ihrem Bekenntnis zu unterrichten (Religionsunterricht)«, d. h. einen von der 709 710 711 712

Vgl. a. a. O., 133. A. a. O., 134. Vgl. F. Schweitzer, LER in Brandenburg – am Ende des Streits?, 1141. Vgl. Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg, Das brandenburgische Schulgesetz, 28.

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Kirche verantworteten Religionsunterricht zwar in den Räumen der Schule, aber eben außerhalb der Stundentafel und damit nicht als Teil der Schule zu erteilen. Somit ergaben sich für die Schülerinnen und Schüler in Brandenburg drei Möglichkeiten: 1) nur den LER-Unterricht zu besuchen, 2) zusätzlich zum LER-Unterricht das Angebot des Religionsunterrichts wahrzunehmen, 3) nur in den Religionsunterricht zu gehen, der allerdings außerhalb des normalen Stundenplans stattzufinden hatte (s. o.). Gegen diese Festlegungen des brandenburgischen Schulgesetzes von 1996 richteten sich Verfassungsbeschwerden von verschiedenen Seiten, u. a. von katholischen Bistümern und der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, sowie ein Normenkontrollantrag, der von 279 Abgeordneten des Deutschen Bundestags getragen wurde.713 Die Beschwerdeführer klagten dagegen, dass der konfessionelle Religionsunterricht im Land Brandenburg nicht den Status eines ordentlichen Schulfaches erhalten habe. Das Land wiederum berief sich wie bereits erwähnt auf Art. 141 des Grundgesetzes, die sog. »Bremer Klausel«, wonach Art. 7 Abs. 3 in einem Land, das am 1. Januar 1949 eine andere landesrechtliche Regelung besaß, keine Anwendung findet. Das Bundesverfassungsgericht sollte nun prüfen, ob das Land Brandenburg zu Recht Art. 141 in Anspruch nehmen dürfe. Mehr als fünf Jahre später fand im Juni 2001 die Anhörung der Parteien in Karlsruhe statt. Im Dezember 2001 legte das Bundesverfassungsgericht einen Vergleichsvorschlag vor, einen sogenannten Vorschlag zu einer einvernehmlichen Verständigung, dem die Streitparteien zustimmten. Durch seinen von den Beteiligten akzeptierten Kompromissvorschlag für eine entsprechende Vereinbarung, der »die verfassungsrechtliche ›Gretchenfrage‹ ausklammerte und stattdessen auf einen praktischen ›Modus vivendi‹ zielte«714, konnte das BVerfG einen endgültigen Urteilsspruch in dieser brisanten bildungs- und religionspolitischen Auseinandersetzung umgehen. Damit blieben und bleiben jedoch wichtige Punkte ungeklärt. Ungeklärte Sachverhalte nach dem Vergleichsvorschlag des BVerfG An erster Stelle steht die Frage, ob das Land Brandenburg zu Recht Artikel 141 des Grundgesetzes für sich und seinen Sonderweg in Anspruch nehmen kann. Dies erscheint mit Blick auf die fehlende Kontinuität in der Existenz des Landes fraglich. Kästner bemerkt dazu aus juristischer Sicht: »Ungeachtet der Tatsache, dass sich die neuen Bundesländer politisch als Nachfolger der ursprünglich in 713 Vgl. F. Schweitzer, LER in Brandenburg – am Ende des Streits?, 1141. 714 W. Huber/S.-R. Schultz, Wird endlich gut, was lange währt?, 3.

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der DDR vorhandenen Länder verstehen, handelt es sich bei ihnen rechtlich um Neugründungen. Insofern kommt es für die Anwendbarkeit des Art. 141 GG auf das jetzige Land Brandenburg nicht darauf an, dass die Verfassung des früheren Landes Mark Brandenburg vom 6. Februar 1947 tatsächlich am 1. Januar 1949 keinen staatlichen Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach vorsah.«715 Darüber hinaus bleibt unklar, ob LER in seiner jetzigen Gestalt tatsächlich mit der Verpflichtung des Staates zur weltanschaulichen Neutralität und Wahrung der Religionsfreiheit zu vereinbaren ist. Diese Frage stellt sich auch mit Blick auf das Verhältnis zwischen Religion und Öffentlichkeit: Der allein kirchliche Religionsunterricht in Brandenburg, der nicht Teil der staatlichen Schule ist, folgt »tendenziell einem Verständnis von Religion als reiner Privatangelegenheit.«716 Demnach werde Religion bzw. dem Religionsunterricht in der Öffentlichkeit bestenfalls Raum zur freien Äußerung gegeben, aber stets unter Hervorhebung der zu wahrenden Grenzen zwischen dem öffentlich-staatlichen und dem privatreligiösen Bereich. Insofern unterstütze der Ausgang des Streits um LER eine weitere Privatisierung von Religion und Kirche, weil dieser Ausgang eine allgemeine, die Öffentlichkeit insgesamt betreffende (nicht: verpflichtende) Bedeutung von Religion in Frage stelle oder sogar ausschließe. »Ein solches Verständnis entspricht nicht der deutschen Tradition, wohl aber der rigiden Trennung zwischen Staat und Kirche in den USA oder in Frankreich, wo die Religionsfreiheit717 rein negativ ausgelegt wird«718. Eine Betonung der positiven Religionsfreiheit ergibt sich jedoch, wenn Art. 7 Abs. 3 im Lichte von Art. 4 des Grundgesetzes interpretiert wird. Aus den dort festgeschriebenen Grundrechten der Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit kann schwerlich nur die Neutralität bzw. Nicht-Diskriminierung von staatlicher Seite gefolgert werden, wie es der sog. negativen Religionsfreiheit entsprechen würde. Vielmehr ergeben sich daraus Ansprüche an staatliches Handeln, die Verwirklichung von Glaubens- und Bekenntnisfreiheit zu unterstützen (sog. positive Religionsfreiheit). Ein Religionsunterricht der »in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt«719 wird, kann als ein nachhaltig in den Freiheitsgarantien des Grundgesetzes verankerter, durchaus deutlicher Ausdruck 715 K.-H. Kästner, Juristische Bemerkungen zum Vergleichsvorschlag des Bundesverfassungsgerichts in der Auseinandersetzung über den Religionsunterricht in Brandenburg, 26 f. 716 F. Schweitzer, LER in Brandenburg, 1144. 717 »Religionsfreiheit« bezeichnet die staatliche Gewährleistung umfassender religiöser Freiheit in ihren unterschiedlichen Facetten; positiv ist die Freiheit des Individuums, einen religiösen Glauben zu haben, zu bekennen und in sonstiger Weise auszuüben sowie die Lebensführung an religiösen Geboten auszurichten und von staatlichem Zwang zu Glauben bzw. Glaubensbetätigung verschont zu sein (negativ). 718 F. Schweitzer, LER in Brandenburg, 1144. 719 Art. 7 Abs. 3 GG.

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einer solchen positiven Religionsfreiheit gewertet werden. Ob er allerdings eine mehrheitliche Kirchenmitgliedschaft in der Bevölkerung voraussetzt, wie Verfechter von LER häufig argumentieren720, und somit seine Berechtigung von soziologischen Erwägungen abhängig gemacht werden kann, ist ebenfalls ein weiterhin ungeklärter Sachverhalt. Schließlich muss auch die drängende Frage, ob das BVerfG die Existenz eines individuellen »Grundrecht(s) auf Religionsunterricht«721 grundsätzlich bestätigt, durch den Vorschlag zur einvernehmlichen Verständigung gezwungenermaßen offen bleiben. Angesichts der fortdauernd herrschenden Unklarheit über obengenannte Punkte, die wichtige Zukunftsperspektiven für Religionsunterricht und Schule, aber auch für Kinder sowie für die Kirche betreffen, erscheint es bedauerlich, dass es innerhalb der Auseinandersetzung um LER nicht zu einem rechtsgültigen Urteil des BVerfG kam. Eine Urteilsbegründung hätte nach Schweitzers Überzeugung zukunftsweisende oder zumindest klärende Impulse erwarten lassen.722 Gleichwohl stimmten die Kirchen dem vom BVerfG vorgelegten Vorschlag zu. Ausschlaggebend waren hierfür vermutlich politische Erwägungen sowie die Unsicherheit darüber, ob von einem Rechtsentscheid des BVerfG mehr zu erwarten gewesen wäre als von einer außergerichtlichen Einigung. Der Vorschlag des BVerfG enthält immerhin bereits Bedingungen für den kirchlichen Religionsunterricht in Brandenburg, durch die er zumindest in seiner Praxis gestärkt und aufgewertet werden kann und soll. Wie die vom Gericht vorgeschlagene »einvernehmliche Verständigung« zwischen den Beteiligten inhaltlich konkret aussieht und welcher Status sich daraus für LER bzw. für den Religionsunterricht in Brandenburg heute ergibt, soll im Folgenden an einigen Punkten gezeigt werden. Die Regelungen des BVerfG-Vorschlags Im August 2002 traten entsprechende Änderungen des brandenburgischen Schulgesetzes in Kraft, durch welche die Vorschläge des BVerfG im Wesentlichen übernommen wurden. Daraus geht grundsätzlich hervor, dass LER als Pflichtfach in Brandenburg bestehen bleibt. Die Befreiungsmöglichkeit von LER wird jedoch ausdrücklich bestätigt. Zugleich gibt es kirchlichen Religionsunterricht, dessen Stellung durch die vorgenommenen Änderungen gestärkt werden sollte. Eine Teilnehmerzahl von mindestens 12 Schülerinnen und Schüler wurde fest720 Vgl. W. Edelstein (Hg.), Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde. Zur Grundlegung eines neuen Schulfachs, 19 ff. 721 Schweitzer verweist auf U. Hildebrandt, Das Grundrecht auf Religionsunterricht. Eine Untersuchung zum subjektiven Rechtsgehalt des Art. 7, Abs. 3 GG; vgl. auch F. Schweitzer, Das Recht des Kindes auf Religion; vgl. F. Schweitzer, LER in Brandenburg, 1141. 722 Vgl. a. a. O., 1144.

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gelegt. Um eine Situation der erzwungenen Wahl zu vermeiden, wie sie in der frühen Zeit der DDR zwischen Konfirmation und Jugendweihe bestand, wurde die Regelung getroffen, den Religionsunterricht zwar in die regelmäßige Unterrichtszeit zu integrieren, ihn allerdings so zu legen, dass eine Teilnahme an LER die zusätzliche Teilnahme am Religionsunterricht nicht ausschließt. So soll es den Schülerinnen und Schülern möglich sein, auch dann am Religionsunterricht teilnehmen zu können, wenn sie sich nicht ausdrücklich gegen LER entscheiden. LER und Religionsunterricht finden also nicht zum selben Zeitpunkt statt, was eine Kooperation der beiden Fächer jedoch erheblich erschwert. Um die Bereitstellung von Lehrkräften für den Religionsunterricht zu erleichtern, können sich staatliche Lehrkräfte bis zu acht Unterrichtsstunden auf ihr Deputat anrechnen lassen und an der religionspädagogischen Fort- und Weiterbildung teilnehmen. Darüber hinaus wird die Stellung des Religionsunterrichts dadurch unterstützt, dass kirchlichen Religionslehrkräften das Recht eingeräumt wurde, an den Beratungen der schulischen Mitwirkungsgremien teilzunehmen. Die Grenze zwischen einem schulischen und einem lediglich in der Schule stattfindenden Religionsunterricht wird allerdings mit Blick auf die Bedeutung der Religionsnote deutlich, die der Vorschlag des BVerfG vorsieht bzw. eben nicht vorsieht. So sollen Leistungen im Religionsunterricht zwar benotet werden. Ob diese Noten aber auch versetzungsrelevant und erheblich für den Erwerb von Abschlüssen und Berechtigungen sein sollen, lässt das BVerfG genauso offen wie das geänderte brandenburgische Schulgesetz vom August 2002723. Hinsichtlich der finanziellen Ressourcen wird der Religionsunterricht durch den Vergleichsvorschlag des BVerfG schließlich dadurch gestärkt, dass dieser eine festzulegende Beteiligung des Staates an den Kosten für den Religionsunterricht vorsieht. Es bleibt aber dennoch festzuhalten, dass dem kirchlichen Religionsunterricht in Brandenburg trotz aller Aufwertungen de facto nicht der Status eines »ordentlichen Lehrfaches«724 zukommt, wie es in anderen Ländern der Bundesrepublik der Fall ist. Was die Ausbildung der LER-Lehrkräfte betrifft, so hat die Universität Potsdam LER vom Sommersemester 2000 bis Sommersemester 2005 berufsbegleitend als Aufbaustudiengang angeboten. Ab dem Wintersemester 2003/04 wurde LER als grundständiger Studiengang eingeführt mit dem Ziel, das gleichnamige Fach in der Schule zu unterrichten. Fünfzig Studienplätze stehen

723 Vgl. Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg, Das brandenburgische Schulgesetz, §9,6. 724 Vgl. Art. 7,3 GG.

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pro Jahr zur Verfügung, wobei der Bedarf an LER-Lehrkräften nach Auskunft der Universität Potsdam steigend ist.725 Das Fach LER kann im Studiengang für das Lehramt für die Bildungsgänge der Sekundarstufe I und der Primarstufe an allgemein bildenden Schulen (berechtigt zum Unterricht in den Klassen 1 bis 10) und für das Lehramt an Gymnasien (berechtigt zum Unterricht in den Klassen 7 bzw. 5 bis 13) studiert werden. Das Lehramtsstudium an der Universität Potsdam erfolgt konsekutiv. An das 6-semestrige Bachelorstudium, welches mit dem Bachelor (BA) als dem ersten berufsqualifizierenden Abschluss für Tätigkeiten außerhalb des Lehramtes beendet wird, schließt sich ein 3- bzw. 4-semestriges Masterstudium an. Der auf das jeweilige Lehramt ausgerichtete Master wird als Erste Staatsprüfung anerkannt und stellt die Voraussetzung für die Aufnahme des Vorbereitungsdienstes bzw. Referendariats dar. Laut der Ausschreibung der Potsdamer Universität erwerben die Studierenden im Rahmen des Studiums Kenntnisse in den Fächern Religionswissenschaft, Philosophie, Psychologie, Soziologie und Fachdidaktik, teilweise in fachübergreifenden Lehrveranstaltungen. Um der Frage nachzugehen, ob es sich bei LER hinsichtlich der Erziehung zu Toleranz um eine bundesweit empfehlenswerte Alternative zu einem kirchlichen Religionsunterricht handeln könnte, wird sich nun eine nähere Betrachtung der Konzeptionen und Inhalte von LER anschließen.

6.2.2 Motive, Inhalte, Konzeptionen Laut §11 Absatz 3 des brandenburgischen Schulgesetzes handelt es sich bei »Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde« um ein allgemeinbildendes Schulfach, welches »bekenntnisfrei, religiös und weltanschaulich neutral« zu unterrichten sei. Die alleinige Zuständigkeit für seine Ziele und Inhalte wird vom Staat beansprucht. Zusammenfassend ist mit Blick auf die historischen Umstände vorneweg zu sagen, dass die wohl grundlegendste Eigenschaft von LER aus der Bildungsreformbewegung gegen Ende der DDR (1989/90) erwachsen ist. Als »›Kind‹ der Wendezeit und Ergebnis des Engagements für eine grundlegende Schulreform am Ende der DDR« wird LER auf der über den neu eingeführten Studiengang informierenden Internetseite der Universität Potsdam vorgestellt.726 Zunächst sollte als Antwort auf eine sozialistisch ideologisierte Einheitspädagogik der Schule, die Fragen der individuellen Lebensführung systematisch ausblendete, »Lebensgestaltung« nun in das Zentrum der Allgemein725 Vgl. http://www.uni-potsdam.de/studienmglk1/l/la_ler.html (gesehen am 08. 10. 2011). 726 Ebd.

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bildung rücken.727 Anstelle von fachsystematischen Begründungen sind die Lebensgestaltungen und Lebenswelten der Schülerinnen und Schüler primäres Kriterium für das Unterrichtscurriculum. Weiter sind zusammengehörende Lerngegenstände verschiedener Fachbereiche integrativ zu unterrichten. Dies gilt bei LER auch für Religionskunde, welche mit LER erstmals nicht primär vergleichend-informierend, sondern existentialinterpretierend und wertorientierend ausgerichtet ist. In der Balance verschiedener Existential- und Wertoptionen wird die weltanschauliche Neutralität des Staates und des Unterrichts gesucht, wohingegen die inhaltliche Verantwortung für weltanschaulich und bekenntnishaft bedeutsamen Unterricht vom demokratischen Staat herkömmlicherweise an die Kirchen delegiert wird. Gemäß LER soll das Prinzip der Ausbalancierung im weitgehend säkularen bzw. pluralistischen Staat dieses Delegationsprinzip ergänzen. Somit zeigt sich, dass sich der Staat mit LER »ein Mandat für eine eigene Religionspolitik«728 zuspricht.

6.2.2.1 Motive für LER (aus dem Grundsatzpapier des Ministeriums) Seit seinen Anfängen wurde dem Modellversuch LER die Formel »Gemeinsam leben lernen« mit auf den Weg gegeben.729 In dem vom Ministerium für Bildung, Jugend und Sport im Oktober 1991 herausgegebenen »Grundsatzpapier für die öffentliche Diskussion« wird unter dieser Überschrift der erste Schwerpunkt bei der Vorstellung der Konzeptionen und Inhalte des neuen Schulfaches auf »Ganzheitliches Lernen als Hilfe zu selbstverantwortlichem Leben« gesetzt. Als Abkehr von der seither dominierenden Praxis des rein rationalen Lernens sowie von der Vorstellung, verantwortliches Handeln könne durch bloße Wissensvermittlung und verbale Appelle in Kinder und Jugendliche hineingetragen werden, setzt die Konzeption von LER Anfang der 90er Jahre auf »(g)anzheitliches Lernen, zu dem auch das Wahrnehmen und Aussprechen eigener Befindlichkeiten und Gefühle der Lernenden und Lehrenden gehört«730. Anstelle einer Lehr- und Belehrungsanstalt sollte Schule nun auch als Raum für soziale und emotionale Erfahrungen begriffen werden. Die vier Jahrzehnte lang erfahrene systematische Ausgrenzung der Fragen des Lebens, der Ethik, verschiedener Weltanschauungen und der Religion aus der Schule musste nach Ansicht 727 Vgl. D. Fauth, Art. LER (Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde), 276. 728 Ebd. 729 Nipkow verweist auf die frappierende Nähe zu der unter dem Einfluss der EKD-Synode 1978 in Bethel entstandenen Reformulierung christlicher Erziehung unter der Formel »Gemeinsam leben und glauben lernen«, vgl. K.E. Nipkow, Die Herausforderung aus Brandenburg, 136. 730 Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg, Gemeinsam leben lernen, 26.

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der Eltern, Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer nach der Wende überwunden werden. Somit formuliert das Ministerium als ersten, LER bestimmenden Grundsatz: »Wir wollen auf die Chancen und Herausforderungen reagieren, die mit den gesellschaftlichen Veränderungen verbunden sind, auf die dringenden sozialen Probleme der Gegenwart, auf das Nebeneinander verschiedenster Kulturen, Lebensauffassungen und Lebensweisen, Weltanschauungen und Religionen in einer sich verändernden Welt.«731

Innerhalb der Schule soll LER den dafür notwendigen Raum bieten, in dem das persönliche Leben, die Erfahrungen und Bedürfnisse, die Befindlichkeiten und Gefühle der Schülerinnen und Schüler im Mittelpunkt stehen, »wo« – so wörtlich – »Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach Werten und Kulturen Gegenstand der Auseinandersetzung und des Gesprächs sind.«732 LER richte die Aufmerksamkeit auf die Aufgabe der Schule, den Heranwachsenden Hilfen zu selbstverantwortetem Leben zu geben und sich mit unterschiedlichen Deutungen des Lebens und der Welt vertraut zu machen. Die damit verbundene Öffnung der Schule sei, so heißt es weiter, »eine große Chance für die Entwicklung einer demokratischen Kultur in unserem Land.«733 Die Regelung eines konfessionellen Religionsunterrichts mit dem Ersatzfach Ethik wird mit dem Verweis auf die konfessionslose Mehrheit der Schülerschaft abgelehnt. Darüber hinaus ist das Bildungsministerium der Auffassung, dass die weltanschauliche Trennung der Schülerinnen und Schüler, insbesondere in einem Lernbereich, in dem es um wesentliche Fragen des Lebens und menschlichen Zusammenlebens geht, den Herausforderungen der Gegenwart nicht mehr gerecht werde. Grundlegende Unterrichtsziele von LER, Inhalte wie beispielsweise »[a]kzeptiert werden und akzeptieren, verstanden werden und verstehen, der tolerante Umgang mit Andersdenkenden und Anderslebenden, Dialogfähigkeit, Toleranz und die Fähigkeit zu gewaltfreier Konfliktlösung«734 können demnach nur gemeinsam gelernt werden. Durch das gemeinsame Lernen aller Schülerinnen und Schüler möchte LER »die Möglichkeit bieten, Verständnis und Toleranz für Fremdes und Dialogfähigkeit zu fördern.« Auf die wachsende Bedeutung dieser genannten, durch LER zu fördernden Werte wird mit Blick auf den »erschreckenden Anstieg von Intoleranz, Ausländerhaß und Gewalttätigkeit in unserem Land«735 verwiesen. So lautet eine weitere These, auf der die Konzeption von LER basiert: 731 732 733 734 735

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. A. a. O., 27.

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»Aus der Erfahrung, selbst angenommen und respektiert zu werden, wächst die Fähigkeit und Bereitschaft, auch Fremdes und Andersartiges ernst zu nehmen, zu respektieren und die Vielfalt menschlichen Lebens nicht als bedrohlich, sondern als bereichernd zu erleben. In einer solchen Haltung liegt der beste Schutz gegen Drogen, Sekten und Gewalt.«736

6.2.2.2 Unterrichtsinhalte Den Gegenstand des Faches »Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde« bilden Fragen, Themen, Inhalte und Probleme der Lebensgestaltung und –bewältigung und ihre Erschließung mit Hilfe der drei Dimensionen L, E und R und ihrer jeweiligen Basisstrukturen737. Dabei richtet die L – Dimension den Blick auf anthropologische, soziale und psychologische Gegebenheiten, Aspekte sowie Zusammenhänge. Die E-Dimension entwickelt ethisch-moralisches Denken, Argumentieren sowie Urteilen und fragt nach Kriterien und Maßstäben dafür. Die R-Dimension schließlich untersucht religionskundliche Aspekte, die inhaltlich von verschiedenen Religionen bzw. Weltanschauungen bestimmt werden und fragt nach sinnstiftenden Grundlagen. Die Gesamtthematik des Faches ist in sechs Themenfeldern und in darin jeweils enthaltenen Exkursen zu unterschiedlichen Religionen bzw. Weltanschauungen zusammengefasst und zugleich untergliedert (Themenfelder 1 – 6: Soziale Beziehungen; Existenzielle Erfahrungen; Individuelle Entwicklungsaufgaben; Welt, Natur und Mensch; Weltbilder, Kulturen, Interkulturalität; Frieden und Gerechtigkeit – Hoffnungen für die Welt)738. Die Struktur des Faches LER bringt es zwangsläufig mit sich, dass Religionen oder Weltanschauungen, aber auch ethische Systeme in sich zusammenhängend nicht thematisiert werden können. Für Religionen und Weltanschauungen bietet der Rahmenlehrplan deshalb in Form von verschiedenen Exkursen die Möglichkeit, die einzelnen Aspekte, die in den jeweiligen thematischen Schwerpunkten bereits zur Sprache gekommen sind, in Zusammenhänge zu bringen und zu vertiefen. Die Exkurse haben die Funktion, den inneren Zusammenhang einzelner Vorstellungen, Aussagen und Praktiken von Religionen bzw. Weltanschauungen, die in Verbindung mit verschiedenen Themen schon erarbeitet wurden, aufzuzeigen, Lücken zu schließen und so zum Verstehen von Religionen 736 Ebd. 737 Vgl. dazu den Rahmenlehrplan LER: Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg (Hg.), Rahmenlehrplan Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde, 21 ff. sowie die Veröffentlichung des wissenschaftlichen Beirats LER: W. Edelstein (Hg.), Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde. Zur Grundlegung eines neuen Schulfachs, 74 ff. 738 Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg (Hg.), Rahmenlehrplan Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde, 37.

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bzw. Weltanschauungen beizutragen. Verbindlich zu erarbeiten sind dabei das Christentum und drei weitere Exkurse, die die Lehrkräfte auswählen können. In all den Themen und Problemfeldern, an denen sich das Lernen in LER orientieren kann739, sind gemäß einem weiteren Grundsatz für LER »die unterschiedlichen Zugänge der Weltanschauungen und Religion deutlich zu machen.«740 Dabei sollen entsprechend den regionalen Gegebenheiten und Möglichkeiten »aus Gründen der Authentizität Vertreterinnen und Vertreter der Kirchen, der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften bzw. Medien (Literatur, Filme etc.) hinzugezogen werden.«741

6.2.2.3 Fachdidaktisches Konzept: Die Dimensionen L, E und R Zum fachdidaktischen Konzept von LER gehören folgende zentrale Komponenten: die Ziele des Faches, die Inhalte des Faches, die drei spezifischen Dimensionen L, E und R, mit deren Hilfe diese Inhalte erschlossen werden; weiter die an den Zielen und Inhalten ausgerichteten Lehr- und Lernverfahren, die Berücksichtigung der Erfahrungen und Kenntnisse der Schülerinnen und Schüler sowie schließlich die Rolle der Lehrkräfte. Gemäß dem Rahmenlehrplan stehen die einzelnen Komponenten dieses fachdidaktischen Konzepts in einer dialektischen Beziehung zueinander und bestimmen sich deshalb auch gegenseitig. Weder kann auf eine der angeführten Komponenten verzichtet noch darf ihre Bedeutung gegeneinander ausgespielt werden. Bei der Unterrichtsgestaltung sind möglichst alle Komponenten gleichermaßen zu berücksichtigen. Den Dimensionen L, E und R soll im Folgenden besondere Aufmerksamkeit zuteil werden, da sie – weit über die bloße Namensgebung hinaus – als Spezifikum und konstituierendes Element eine zentrale Rolle in der Konzeption des Brandenburger Schulfachs einnehmen. a) Zu den Dimensionen L, E und R Die drei Dimensionen L, E und R sind grundlegende und im Verhältnis zueinander gleichberechtigte Bestandteile des Faches.742 In Verbindung mit den Inhalten konstituieren sie das Fach. Als Dimensionen sind sie zum einen eigen739 Exemplarisch werden u. a. genannt: Identitätssuche zwischen Kindheit und Erwachsenwerden, Sinnfindung, Bewältigung von Lebenskrisen, Konsum, Familie, Gleichberechtigung, soziale Beziehungen, Suchtproblematik, Menschenwürde, Natur, Weltreligionen, Medien u.v.m. 740 Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg, Gemeinsam leben lernen, 28. 741 Ebd. 742 Vgl. W. Edelstein (Hg.), Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde. Zur Grundlegung eines neuen Schulfachs, 77.

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ständige und jeweils spezifische Inhaltsbereiche, die gegenseitig nicht auswechselbar sind, zum anderen zugleich charakteristische Erschließungsweisen, unter denen das jeweilige Thema im Unterricht bearbeitet wird. b) Die Dimensionen als Inhaltsbereiche Bei jeder einzelnen Dimension ist zwischen der Struktur, mithilfe derer ein Bereich (L, E oder R) gegliedert wird, und den vielfältigen Inhalten (Wissensbeständen), die ihn ausmachen, zu unterscheiden. Die Struktur mit ihrem Mittelpunkt und den verschiedenen Elementen bildet im Groben die Architektur eines Bereichs ab und ermöglicht so die Ordnung eines ansonsten unüberschaubaren Inhalts. Der Wissenschaftliche Beirat LER visualisiert die drei Basisstrukturen743 L, E und R jeweils als Netze von Handlungskernen und Relationen, die durch inhaltliche Differenzierungen gewonnen werden. Dabei kreist die L – Dimension (Lebensgestaltung) um das Spannungsfeld »Konstruktion und Verfolgung eines Lebensziels versus Flucht, Scheitern, Sinnlosigkeit, Ekel«. Inhaltlich wird der Bereich von anthropologischen, soziologischen und psychologischen Erkenntnissen bestimmt, die in Auswahl und themenbestimmt im Unterricht vermittelt werden.744 Das innere Spannungsfeld der zweiten Dimension E (Ethik) lautet »Moralität als inneres oder äußeres Regelsystem versus Un-Moralität als innere oder gesellschaftliche Anomie«. Inhaltlich ist der Bereich der Moralpsychologie und der Ethik verpflichtet. Im Unterricht sollen sowohl ethische Grundlagen (z. B. Werte, Normen), Zusammenhänge und Argumentationen als auch themenorientiert spezifisch ethische Gesichtspunkte und Reflexionen vermittelt werden.745 Schließlich werden mit der dritten Dimension R (Religionskunde) sowohl Religionen als auch Weltanschauungen erfasst. Dabei ist zwischen einer allen gemeinsamen Struktur und den zum Teil grundverschiedenen Inhalten und Aussagen zu unterscheiden. Das innere Spannungsfeld ergibt sich aus »Aufgeschlossenheit / Interesse für Religionen und Religiosität versus Gleichgültigkeit gegenüber allem Religiösen«. Inhaltlich werden dazu gehörende Elemente von den einzelnen Vorstellungen, Aussagen und Praktiken verschiedener Religionen und Weltanschauungen bestimmt. Der Unterricht soll auf religionskundlicher Basis solche Vorstellungen, Aussagen und Praktiken einzelner ausgewählter Religionen und Weltanschauungen vermitteln, sowohl im Überblick als auch themenspezifisch.746

743 Zum Begriff »Basisstrukturen« siehe ebd.: »Basisstrukturen sind plausible Netze von grundlegenden Inhalten bzw. Handlungsweisen, die einen Wissensbereich bestimmen.« 744 Vgl. die Abbildung »Basisstruktur Lebensgestaltung«, a. a. O., 93. 745 Vgl. die Abbildung »Basisstruktur Ethik«, a. a. O., 86. 746 Vgl. die Abbildung »Basisstruktur Religionskunde«, a. a. O., 90.

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c) Die Dimensionen als Erschließungsweisen Wenn die Dimensionen als Perspektiven der Erschließung fungieren, gibt es drei Modelle, das jeweilige Thema und die verschiedenen Dimensionen miteinander in Beziehung zu setzen. Das erste Modell ist »ein zentrales Thema und drei Sichtweisen«: Zu einem Thema werden drei Zugangsweisen gewählt, es wird also von den drei Dimensionen in je exklusiver Weise erschlossen. Dabei geht es um unabhängig voneinander vorgenommene Arbeitsschritte mit jeweils eigenem Profil und eigener Sprache bzw. Terminologie. Das zweite Modell wird von Edelstein u. a. als »bereichsspezifischer Schwerpunkt ohne Überschneidung der Basisstrukturen« bezeichnet. Diese Art des Zusammenhangs von L, E und R »zeigt, dass jede der Basisstrukturen ihr Eigenleben führt und jeweils einem anderen Thema Pate steht.«747 Eine spezifische Dimension und ein Thema werden miteinander in Beziehung gebracht und erarbeitet. Nach diesem Modell wird ein thematischer Schwerpunkt also jeweils nur durch eine Dimension erschlossen, und eine Überschneidung der Basisstrukturen ist somit nicht erforderlich. Gerade durch ihre Unterschiedlichkeit liefern sie das Denk- und Repräsentationsinstrumentarium der jeweiligen Auseinandersetzung. Als drittes und zugleich dynamischstes Modell von allen dient die »Überschneidung thematischer Bereiche«. Hier soll der Zugang unterschiedlicher Aspekte gleichzeitig inszeniert werden. Ein geeignetes Thema wird unter religionskundlichen, ethischen sowie sozialwissenschaftlich-anthropologischen Aspekten erarbeit. Somit kommt es zu Überschneidungen und zur Gleichzeitigkeit der Konzepte und Zugänge, sie stoßen sich gegenseitig ab, ergänzen sich und greifen ineinander.748 d) Bezugswissenschaften Von den drei Dimensionen L, E und R kann Ethik auf die wohl längste wissenschaftliche Tradition zurückblicken, während die Vorläufer der Religionswissenschaft in den theologischen Wissenschaften zu finden sind. Für Lebensgestaltung hingegen ist kein fester Sitz in der historischen Tradition auszumachen. Dieser Bereich musste zur Konzeption des Faches am stärksten neu definiert und umschrieben werden. Im Folgenden soll ein kurzer Blick auf die besondere Stellung von LER im Kanon der Fächer und auf die Relation von LER zu möglichen Bezugsdisziplinen geworfen werden. Lebensgestaltung – Der diesem Element des Fachs korrespondierende Erkenntnishorizont ist laut den Beschreibungen des wissenschaftlichen Beirats 747 A. a. O., 96. 748 Vgl. die Abbildungen »Modelle des Zusammenhangs von L, E und R«, a. a. O., 97.

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LER zunächst sozialwissenschaftlich strukturiert.749 Er umfasst dabei jedoch Gegenstände und Strukturen, die verschiedenen Sozialwissenschaften zugeordnet sind, insbesondere der Soziologie und Sozialpsychologie der Jugend, der Entwicklungspsychologie des Jugendalters sowie der soziologischen und der psychologischen Sozialisationstheorie. Wie bereits die Basisstrukturen zeigen, bilden Fragen der Gestaltung sozialer Beziehungen, der Identitätsfindung und der Lebensziele den primären Gegenstand dieses Teilbereichs. Für das zweite Element Ethik scheint Philosophie bzw. philosophische Ethik auf den ersten Blick als Bezugsdisziplin nahe zu liegen. Allerdings wird betont, dass »Ethik« als Element von LER nicht einfach philosophische Ethik meint, sondern vielmehr den Bereich ethischer Fragen, die in der Lebenswelt Jugendlicher und somit im Alltagsleben der Individuen relevant sind. Es ist also kein System philosophischer Wertbegriffe gemeint, sondern vor allem der Wertaspekt der sozialen und persönlichen Probleme, die im Bereich L behandelt werden. Anstelle der philosophischen Ethik ergibt sich somit die Entwicklungspsychologie der Moral als primäre Bezugswissenschaft für das ethische Element von LER.750 Schließlich kommt für das in LER integrierte Element Religionskunde der sich jenseits von Philosophie und Theologie wissenschaftlich mit dem Erlernen der »Sprache Religion« befassenden Religionswissenschaft die Rolle der grundlegenden Bezugsdisziplin zu. Als Unterschied der theologischen und der religionswissenschaftlichen Beschäftigung mit Religion führt der wissenschaftliche Beirat LER die Feststellung an, dass Theologie ein Bekenntnis formuliere, während Religionswissenschaft sich mit einer Pluralität von Bekenntnissen auseinandersetze.751 Strukturen und Bedingungen religiösen Handelns (historisch wie gegenwärtig) sollen in ihrer geschichtlichen Vermitteltheit erfasst und auf deskriptive und komparative Weise erschlossen werden. In der religionskundlichen Dimension von LER soll die Relation von Religion und Ethik im Kontext lebensweltlicher Fragen herausgearbeitet und der Zusammenhang von religiöser Weltdeutung und Grundoptionen und –motivationen moralischen Handelns sichtbar gemacht werden. Eine »gewisse […] Distanz zum Gegenstand« sei die Voraussetzung für die Möglichkeit, »andere Lebensentwürfe ohne Vorbehalte anzuhören […], dialogisch zu konfrontieren und Folgen wie Risiken unterschiedlicher Positionen bewusst zu machen und so entscheidungsmündig zu werden.« Darin liege die Grundeinstellung religionskundlichen Fragens und Denkens in LER. Religionen und religiöse Bezüge spielen für die Religionskunde unter allgemeinbildenden Aspekten eine Rolle. Religionen werden als Sinnge749 A. a. O., 105. 750 Vgl. a. a. O., 107. 751 Vgl. a. a. O., 109.

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bungs- und Normensysteme aufgefasst, die neben oder vor der Philosophie Kulturen und Gesellschaften prägten und noch prägen. Dieses »Welterbe« gelte es bewusst zu machen und als vielfach gelebte Option in die Debatte einzubringen. Somit sollen die Religionen in der religionskundlichen Dimension von LER »folglich nicht als mehr oder weniger exotische Denk- oder Ritualsysteme eingeführt werden, deren ethischer Effekt allenfalls die Erziehung zur Toleranz gegenüber dem Fremden ist – obgleich dieses Ziel gleichfalls angestrebt wird.«752 Nach dieser Darlegung der Motive, Inhalte und Konzeptionen des brandenburgischen Schulfachs LER, die für ein angemessenes Verständnis sowie für eine fundierte Meinungsbildung und Beurteilung desselben unverzichtbar ist, führt der nächste Arbeitsschritt nun vor die Frage, inwiefern LER seinem mehrfach genannten Ziel der Erziehung zu Toleranz gegenüber dem Fremden nahe kommt. Die nun folgende Analyse wird sich vorrangig damit auseinandersetzen müssen, ob LER dem Beitrag zur Ausbildung von Toleranzfähigkeit, den das Schulfach zu leisten beansprucht, gerecht werden kann.

6.2.3 Analyse: LER und Toleranz Bei jeder Art von Auseinandersetzung mit dem brandenburgischen Schulfach LER muss mit berücksichtigt werden, dass es sich dabei um einen Versuch handelt, auf aktuelle bildungspolitische, historische und kontextuelle Herausforderungen mit der Einführung eines allgemeinbildenden Schulfachs zu reagieren. Auch wenn man die fortschreitende Säkularisierung als eine allgemeine Begleiterscheinung der gesellschaftlichen Modernisierung betrachtet, die sich weltweit vollzieht, wies das (Un-)Verständnis für religiöse Traditionen und Lehren in der ehemaligen DDR einige besondere Züge auf, die sich aus dem »antagonistischen Verhältnis«753 des politischen Systems der sozialistischen DDR zur Religion ergaben. Aus den Folgelasten der religionskritischen Tradition des Sozialismus in der DDR-Vergangenheit sowie aus der Feststellung, die Säkularisierung habe »große Teile der Bevölkerung gegen die Kirchen gleichgültig gemacht und, trotz ihrer Präsenz in den Schulen, gegen die christliche Botschaft – vielleicht gegen explizit religiöse Weltauffassungen überhaupt – immunisiert«754, wurde von Seiten der LER-Initiatoren die Notwendigkeit solch eines allgemeinbildenden, bekenntnisfreien, religiös und weltanschaulich neutralen Schulfaches für das neue Bundesland Brandenburg abgeleitet. Gestützt auf 752 A. a. O., 111. 753 A. Leschinsky, Vorleben oder Nachdenken? Bericht der wissenschaftlichen Begleitung über den Modellversuch zum Lernbereich »Lebensgestaltung-Ethik-Religion«, 41. 754 W. Edelstein (Hg.), Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde. Zur Grundlegung eines neuen Schulfachs, 23.

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Argumente wie »[d]ie Kirchen besitzen nicht mehr die kulturelle Hegemonie transzendentaler Sinnauslegung« und »[v]iele Schüler sind aus dem Religionsunterricht ausgewandert«755 fiel die Entscheidung zugunsten von LER und somit gegen einen konfessionellen Religionsunterricht an den brandenburgischen Schulen. Ein Mehrheits-Minderheits-Argument im Verhältnis zu konfessionslosen Kindern und Jugendlichen war also ausschlaggebend. Allerdings führte somit ein quantitatives Verhältnis zu einem qualitativen Schluss, der die christliche Minderheit, immerhin ein Fünftel bis ein Viertel der Kinder und Jugendlichen, nicht voll gleichberechtigt respektiert756. Zwar beinhaltete der Kabinettsbeschluss vom 2. Juni 1992 bekanntlich die Festlegung, dass der Unterricht im Modellversuch in Integrationsphasen und Differenzierungsphasen von etwa jeweils gleichem zeitlichem Umfang zu gliedern war. Auch im Abschlussbericht der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg wird die ursprünglich zu Beginn des Modellversuchs LER beabsichtigte Gleichrangigkeit und Gleichwertigkeit der Fächer Religion und Lebensgestaltung/Ethik im Lernbereich nochmals in Erinnerung gerufen.757 Zugleich wird jedoch nachdrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass diese gleichberechtigte Kooperation nicht gelungen sei. So zieht die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg das Resum¦e: Eine »Verzahnung der verschiedenen Elemente des Modellversuchs (Integrations- und Differenzierungsfragen; L/E in Bezug auf RU; Funktionsbestimmung der Authent. Vertreter) wurde weder inhaltlich noch rechtlich, noch strukturell, noch pädagogisch geregelt […]. ›R‹ im Lernbereich wurde nicht definiert; dementsprechend wurden Vorurteile gegenüber Religion tradiert; diffuse Religions- und Wert-Vorstellungen bestimmten die Diskussion.«758 Im Rahmen einer Analyse, die den von LER erhobenen Anspruch auf eine Erziehung zu Toleranzfähigkeit in der Pluralität der Weltanschauungen kritisch zu prüfen hat, muss Aussagen wie diesen besondere Beachtung zuteil werden. Der Vorwurf einer Tradierung von Vorurteilen gegenüber Religion wiegt im Blick auf eine Erziehung zu Toleranz schwer und läuft dem angestrebten Ziel einer Förderung von reflektierter Toleranzfähigkeit auf Seiten der Schülerschaft ganz offensichtlich zuwider. Die zitierte Einschätzung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg bleibt indes nicht singulär. Die Ergebnisse empirischer Untersuchungen zu LER aus dem Bericht der wissenschaftlichen Begleitung759 sowie die Auswertung des Kapitels »Das Unterrichtsfach LER im Spiegel einer 755 Ebd. 756 Vgl. K.E. Nipkow, Die Herausforderung aus Brandenburg, 131 f. 757 Vgl. Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg, Abschlußbericht zum Modellversuch »Lernbereich Lebensgestaltung/Ethik/Religion«, 2. 758 A. a. O., 18. 759 A. Leschinsky, Vorleben oder Nachdenken? Bericht der wissenschaftlichen Begleitung über den Modellversuch zum Lernbereich »Lebensgestaltung-Ethik-Religion«.

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empirischen Untersuchung«760 aus den Analysen und Empfehlungen des Wissenschaftlichen Beirats LER scheinen in eine ähnliche Richtung zu weisen. Ergebnisse empirischer Untersuchungen zu LER In letzterem macht Gruehn auf ernsthafte Konzeptualisierungsmängel von LER aufmerksam. Die im empirischen Abschnitt der Veröffentlichung des Wissenschaftlichen Beirats LER auf der Basis der Schulleiter- und Lehrerangaben diagnostizierte Schwäche bestehe augenscheinlich in dem besonderen Problem, »dass die angestrebte integrative Behandlung von Unterrichtsthemen unter L-, E- und R-Aspekten in der Regel nicht zu gelingen scheint.«761 Die größte Schwierigkeit liege einerseits in einer angemessenen Einbeziehung der RKomponente, andererseits in einer eigenständigen Konzeption von E. Beide Probleme führen gravierende Konzeptualisierungsmängel von LER vor Augen, während doch gerade in der für das Fach konstitutiven Integration der drei Aspekte L, E und R die zentrale Legitimation desselben liegt. Darüber hinaus wird im Urteil der wissenschaftlichen Begleitkommission unter dem Vorsitz des Berliner Erziehungswissenschaftlers Leschinsky trotz einer überwiegend positiven Bilanz der Eindruck geäußert, die Bekenntnisneutralität von LER räume – möglicherweise zurückgehend auf die Tradition der sozialistischen Religionskritik bzw. auf die Tradition einer atheistischen Weltanschauung oder auf die herkömmliche und persönliche Kirchendistanz weiter Kreise der Lehrerschaft – »dem Phänomen Religion samt seinen Erscheinungsformen einen unzureichenden Platz« ein. Auch der R-Bereich sei auf diese Weise in Konzeption und vor allem Praxis von LER nur unzureichend ausgelegt. Wie Leschinsky bemerkt mögen dafür nicht zuletzt die aus der Vergangenheit wirkenden Voreinstellungen der gesamten außerschulischen Umwelt mitverantwortlich sein. Dennoch führen die Ergebnisse der empirischen Untersuchungen die wissenschaftliche Begleitkommission dazu, die Konzeption von LER gerade vor diesem Hintergrund kritisch daraufhin zu befragen, »ob sie nicht die Vorstellung nährt, durch Religionskunde das Problem der Religion – zumindest langfristig – erledigen zu können.«762 In diesen Analysen werden die konzeptionellen Schwächen von LER sowie manche der Folgen des eben nur scheinbar überlegenen religionskundlichen Ansatzes deutlich erkennbar. So birgt die bewusst nicht-theologische, sondern rein religionskundliche Grundlegung des Faches offensichtlich die Problematik, den Religionen samt ihren Erscheinungsformen nicht gerecht zu werden und sie 760 S. Gruehn, Das Unterrichtsfach LER im Spiegel einer empirischen Untersuchung, 255 ff. 761 A. a. O.,, 291. 762 A. Leschinsky, Vorleben oder Nachdenken? Bericht der wissenschaftlichen Begleitung über den Modellversuch zum Lernbereich »Lebensgestaltung-Ethik-Religion«, 191.

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gleichsam zu übergehen, indem von der Überlegenheit einer distanzierten und neutralen Religionskunde ausgegangen wird und religiöse Bekenntnisse gegenüber einer nichtreligiösen Weltsicht diskriminiert und als Befangenheit gewertet werden. Dies impliziert die Grundeinstellung, der religionswissenschaftliche Zugang und das religionskundliche Fragen und Denken könne anderen Lebensentwürfen »ohne Vorbehalte«763 und »ohne Vor-Urteil«764 begegnen. Während an der Überlegenheit des religionskundlichen Ansatzes festgehalten wird, diagnostizieren die empirischen Untersuchungen indessen wiederholt, dass LER die selbst gesetzten Ziele besonders wenig im Blick auf Religion erreicht. Es scheint weder zu gelingen, die Jugendlichen für religiöse Themen zu interessieren, noch weist der entsprechende Anteil des Unterrichts eine ausreichende Qualität auf765. Ob diese Schwäche jedoch tatsächlich durch eine optimierte didaktische Aufbereitung religiöser Themen behoben werden kann und somit schlicht ein pragmatisches Problem darstellt oder nicht viel eher doch aus dem eben nur scheinbar überlegenen religionskundlichen Ansatz erwächst, bleibt weiterhin zu klären. Es erscheint allerdings mehr als fraglich, ob Religion überhaupt lebendig, interessant und bildungsrelevant unterrichtet werden kann, »wenn sie in religionswissenschaftliche Schemata gepresst und nicht aus persönlicher Überzeugung heraus zur Darstellung gebracht wird«766. Die Quintessenz der genannten empirisch fundierten Schlussfolgerungen weist jedenfalls auf ernste Konzeptualisierungsmängel sowie auf die Problematik der religionskundlichen Grundlegung des Faches hin, auf welche an späterer Stelle unter theoretischen und theologischen Gesichtspunkten nochmals näher einzugehen ist. Sie lässt Bedenken hinsichtlich der tatsächlichen Leistung von LER für die Ausbildung von interreligiöser Toleranz begründet erscheinen. Weiter wird dem Modellversuch in der Auswertung der empirischen Untersuchungen von Seiten der wissenschaftlichen Begleitkommission bescheinigt, dass er sich in mehrfacher Hinsicht übernommen habe und bei der Behandlung von Lebensfragen eine solide fachwissenschaftliche und fachdidaktische Fundierung vermissen lasse. Ein »eigentümlich antikognitiver Zug im Verständnis von LER« führe zu einer Distanzierung von rationalen Instruktions- und Argumentationsformen, die mit der Konzeption von LER vollzogen wurde. Dies trage maßgeblich dazu bei, dass »thematisch und im Verständnis der Lehrer der Ethikbereich im Grunde genommen hinter den ›L‹-Bereich nahezu ganz zu-

763 W. Edelstein (Hg.), Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde. Zur Grundlegung eines neuen Schulfachs, 111. 764 A. a. O., 116. 765 Vgl. S. Gruehn, Das Unterrichtsfach LER im Spiegel einer empirischen Untersuchung, 291. 766 F. Schweitzer, LER in Brandenburg – am Ende des Streits?, 1146.

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rücktritt.«767 Ein weiterer Kritikpunkt hängt damit zusammen, dass die Ziele von LER schwergewichtig in sozial-kommunikativen Umgangsformen platziert sind. Dabei kommen, so Leschinsky, sowohl bestimmte schulreformerische, besser : schulkritische Motive zum Tragen als auch die klinisch-therapeutische Orientierung. In ihrer Folge wolle man offenbar bei den Kindern und Jugendlichen ein positives Lebensgefühl kräftigen, »ohne indessen die Stärkung des individuellen Selbstbewusstseins argumentativ zu verankern, d. h. unter den Anspruch von Kritik und Reflexion zu stellen.«768 Leschinsky macht deutlich, dass eine solche Zielvorstellung nach wie vor bestimmte psychologische Auffassungen »undiskutiert und unabhängig von der wissenschaftlichen Auseinandersetzung über die Geltungsansprüche dieser Auffassungen«769 privilegiert. Er betont, dass das Verhältnis der Psychologie zum Bereich Lebensgestaltung sowie zur Fortbildung der Lehrkräfte der Diskussion und Abwägung bedarf. Derartige Ergebnisse der empirischen Untersuchungen zu LER müssen nachdenklich stimmen. Unverkennbar wird auf eine einseitig tiefenpsychologische Ausrichtung des Faches hingewiesen. Darüber hinaus stellt sich die Frage, welche Art von Fundament der Kräftigung des positiven Lebensgefühls und des Selbstbewusstseins der Kinder und Jugendlichen zugrunde liegen soll und wie tragfähig und lebenstauglich es letztlich sein kann, sofern es nicht durch Selbstreflexion und –kritik gestärkt und profiliert wird. Fest steht, dass eine verantwortliche individuelle Stellungnahme in der Konfrontation mit dem Pluralismus religiöser und weltanschaulicher Strömungen einen reflektierten, konkreten Standpunkt voraussetzt, von dem her die eigene Orientierung erfolgt. Bei der Suche nach Antworten ist es für das Leben der Kinder und Jugendlichen von entscheidender Bedeutung, dass die Schule sie nicht nur mit Verfügungswissen ausstattet, sondern ihnen auch Orientierungswissen anvertraut.770 Ein Ansatz, der »ein positives Lebensgefühl kräftigen« und das individuelle Selbstbewusstsein stärken möchte, ohne dabei jedoch die Oberfläche, d. h. die rein äußerliche Betrachtungsweise zu durchbrechen und in existentiellen Auseinandersetzungen nach einer tragfähigen Basis und einem konkreten Standpunkt zu fragen, ist einer reflektierten Toleranz, die – im Gegensatz zu einer abstrakt und beliebig bleibenden Toleranz – nur auf dem Fundament einer profilierten und dadurch gestärkten Identität aufbauen kann, alles andere als zuträglich.

767 A. Leschinsky, Vorleben oder Nachdenken? Bericht der wissenschaftlichen Begleitung über den Modellversuch zum Lernbereich »Lebensgestaltung-Ethik-Religion«, 191 f. 768 A. a. O.,, 192. 769 Ebd. 770 Vgl. dazu W. Huber/S.-R. Schultz, Wird endlich gut, was lange währt? Zum Religionsunterricht in Brandenburg, 17.

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Dialogverständnis Betrachtet man das Dialogverständnis, auf das LER sich beruft, so wird erneut die Problematik einer rein religionskundlichen Grundlegung des Faches deutlich. Nach Ansicht des Wissenschaftlichen Beirats ist »für den in der Gegenwart so häufig geforderten Dialog der Religionen« eine »moderierende, aus religionswissenschaftlicher Einsicht gewonnene Hermeneutik vonnöten«771. Dem mit LER verbundenen Verständnis zufolge sollen Dialog und Verständigung in der Pluralität nicht aus entsprechenden Bemühungen der Religionsgemeinschaften oder weltanschaulicher Gruppen erwachsen, sondern werden, wie Schweitzer zusammenfasst772, von einer konsequenten Ausweitung des weltanschaulich neutralen Bereichs erwartet. Die Religionskunde, die sich laut des Wissenschaftlichen Beirats aus der »Distanz« des Abstrahierens von Wahrheitsansprüchen mit Religion beschäftigen soll, wird daher im Kontext des Dialogverständnisses erneut als alleinige Bezugswissenschaft ausgewiesen. Der Theologie oder unterschiedlichen Theologien wird diese Rolle hingegen nicht zuteil. Ganz explizit wird betont, dass einzig eine solche religionswissenschaftliche Hermeneutik den Dialog erst ermögliche: »Allein die vorübergehend von sich selbst abstrahierende, Glaubensaussagen auf eine vergleichbare Begrifflichkeit bringende Darstellung der je eigenen und der fremden Religion ermöglicht einen verstehenden Dialog und ein werteklärendes Gespräch zwischen unterschiedlichen religiösen Positionen.«773 Soll diese Sichtweise aufgrund der vom Wissenschaftlichen Beirat vorgelegten Darstellung beurteilt werden, so wird man sich Schweitzers Schlussfolgerung nur anschließen können: »Offenbar enthebt dieses Verständnis von Dialog und Verständigung auf der Grundlage von Distanz und Abstraktion die daran Teilnehmenden schon der Pflicht einer sorgfältigen Auseinandersetzung mit theologischen oder religionspädagogischen Auffassungen.«774 Diese Darstellung lässt jedenfalls jeden Ansatz dazu vermissen. Ein weiteres Mal zeigt sich, dass konfessionelle oder religiöse Bindungen von vornherein gleichsam als Befangenheit gewertet und behandelt werden. Für einen dialogischen Umgang mit oder zwischen den Religionen wird diese durch LER verkörperte religionswissenschaftliche Hermeneutik wohl kaum als Vorbild dienen können. Dagegen spricht sich u. a. Nipkow für eine ganz andere Art des Dialogkonzepts aus. Soll auch in der Zukunft der dringend notwendige interreligiöse Dialog durch den Religionsunterricht gefördert werden, dann sind zwei Erzie771 W. Edelstein (Hg.), Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde. Zur Grundlegung eines neuen Schulfachs, 114. 772 Vgl. F. Schweitzer, LER in Brandenburg – Am Ende des Streits?, 1144. 773 W. Edelstein (Hg.), Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde. Zur Grundlegung eines neuen Schulfachs, 114. 774 F. Schweitzer, LER in Brandenburg – Am Ende des Streits?, 1145.

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hungs- und Bildungsziele zugleich zu verfolgen: »die verdichtete Einführung in eine Religion, um mit ihr vertraut zu werden, und die Öffnung für die religiöse Eigenart anderer Religionen, um zu lernen, sich mit Gläubigen anderer Religionen zu verständigen und gemeinsam zu handeln.«775 Diese die religionspädagogische Aufgabe des interreligiösen Dialogs betreffende Auffassung deckt sich mit den vorliegenden Ergebnissen der systematisch-theologischen Untersuchung zur interreligiösen Toleranzbildung, denen zufolge erst von einem eigenen konkreten, reflektierten Standpunkt sowie von einer gewachsenen und gestärkten Identität aus eine fruchtbare, dialogische Öffnung in Toleranz und Respekt gegenüber fremden Weltanschauungen gelingen kann.776 Durch eine andauernde Ein- bzw. Ausklammerung aller konkreten individuellen Bekenntnisse würde die pädagogische Aufgabe gänzlich verfehlt. Bemerkenswerterweise gibt auch der Bericht der wissenschaftlichen Begleitkommission in seinen Empfehlungen deutlich zu erkennen, dass weder eine strikte Trennung zwischen konfessionellem und säkularem Unterricht noch ein Einheitsmodell als empfehlenswert anzusehen seien. Vielmehr wird auch an dieser Stelle eine »Verbindung, wechselseitige Durchdringung und gegenseitige Ergänzung ethischer, philosophischer und konfessionell-religiöser Perspektiven« befürwortet – interessanterweise mit der folgenden Reihenfolge, zunächst von einem differenzierenden Modell auszugehen und erst in einem zweiten Schritt zu verbinden und zu integrieren.777 Allerdings wurde von Seiten der LERBefürworter und -Verantwortlichen nicht auf diese Empfehlung der wissenschaftlichen Begleitkommission gehört. Authentische Vertreter Die Methode eines in LER gegebenen Fakten-Lernens über Religionen im Sinne einer rein kognitiven Wissensaneignung über verschiedene religiöse Überzeugungen, Traditionen und Bekenntnisse und einer kritischen Betrachtung derselben von einem religionswissenschaftlichen Standpunkt aus nimmt augenscheinlich an, das Ziel einer Toleranzerziehung durch die Mittel der Distanz, Objektivität und Abstraktion erreichen zu können. Dieser Ansatz geht auch aus dem LER zugrunde liegenden Dialogverständnis (s. o.) deutlich hervor. Doch Distanz und Abstraktion können unter Bezug auf die erarbeiteten systematischtheologischen Erkenntnisse nicht als Wegbereiter für eine starke, aktive und tragfähige Toleranz in reflektierter Form dienen, welche sich im Alltag, inmitten des Pluralismus der Weltanschauungen und umgeben von relativistischen An775 K.E. Nipkow, Die Herausforderung aus Brandenburg, 146. 776 Vgl. Chr. Schwöbel, Nach dem Ende der Konsenskultur, 11 bzw. 3.1.2.3 dieser Untersuchung. 777 A. Leschinsky, Vorleben oder Nachdenken? Bericht der wissenschaftlichen Begleitung über den Modellversuch zum Lernbereich »Lebensgestaltung-Ethik-Religion«, 196.

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sichten und fundamentalistischen Strömungen, zu bewähren hat. Anstelle eines Lernens über die Religionen ist vielmehr ein Lernen von und mit den Religionen zu befürworten. Auch und gerade die (punktuelle) Einladung sogenannter authentischer Vertreter der im Unterricht behandelten Religionen kann LER nicht vor dem Vorwurf bewahren, mit eben diesen Religionen »im Stile einer toleranten Trivialisierung«778 umzugehen. Ihre Einbeziehung in den Unterricht nennt Nipkow eher eine »Vorführung«779, und so gerät die »Neutralität«, »Objektivität« und »Toleranz« von LER in den Verdacht einer toleranten Vergleichgültigung der lebenden Religionen. Da bei einem bekenntnisfrei zu erteilenden Religionsunterricht jede konfessionelle Beeinflussung vermieden werden muss, wird den Religionen das Recht auf eine gründliche, authentische Selbstdarstellung und Selbstinterpretation verweigert. Die Gefahr einer Verkürzung, einer Tradierung unangemessener und verfälschter Sichtweisen auf die Religionen liegt auf der Hand. Dies kann ganz offensichtlich kein Umgang mit den Religionen sein, der reflektierter Toleranz in Abgrenzung zu abstrakter Toleranz in der erforderlichen Form Vorschub leisten würde. Auch die wissenschaftliche Begleitkommission erkennt in diesem Punkt eine entscheidende Schwierigkeit von LER. Durch die Anforderungen des bekenntnisfrei und weltanschaulich neutral zu unterrichtenden Faches können die Lehrkräfte in ein Dilemma geraten, über das die authentischen Vertreter in gewisser Weise hinweghelfen sollen. So lautet die kaum lösbare Aufgabenstellung der Lehrkräfte, »einerseits wertneutral und ausgewogen über Religionen und Weltanschauungen zu informieren, andererseits aber zugleich ›Identität‹ und ›Sinnstiftung‹ pädagogisch-didaktisch bewirken zu sollen. Es hat den Anschein, als ob mit der Figur der ›authentischen‹ Vertreter eine didaktisch überhöhte, wenngleich wenig reflektierte Zielsetzung erreicht werden soll. Letzten Endes mag man in all diesen Konstruktionen die strukturellen Aporien eines staatlichen ›Orientierungsfaches‹ erblicken.«780 Wahrheitsfrage Das Konzept von LER vernachlässigt ferner die pädagogisch unbestrittene Einsicht, dass Jugendliche eine Auseinandersetzung suchen und brauchen, die für sie persönlich etwas bedeutet.781 Doch jegliches Ringen um die Wahrheitsfrage muss aufgrund des erläuterten Selbstverständnisses von LER bereits im Ansatz abgebrochen werden. Wird die Wahrheitsfrage bei der Auseinanderset778 K.E. Nipkow, Die Herausforderung aus Brandenburg, 143. 779 Ebd. 780 A. Leschinsky, Vorleben oder Nachdenken? Bericht der wissenschaftlichen Begleitung über den Modellversuch zum Lernbereich »Lebensgestaltung-Ethik-Religion«, 81. 781 Nipkow erinnert hierfür an die Formel vom »bildenden Lernen«; vgl. K.E. Nipkow, Die Herausforderung aus Brandenburg, 147.

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zung mit Religionen und Weltanschauungen ausgeklammert und auf die Erörterung von Absolutheitsansprüchen gänzlich verzichtet, so stellt sich durchaus die Frage, ob sich in einem derartig verstandenen (Religions-) Unterricht nicht die Gefahr eines nivellierenden Relativismus verbirgt. Dass nach evangelischem Verständnis Wahrheit im Glauben als von Gott gewährte Gabe zum zentralen Merkmal einer Toleranz aus Glauben wird, kann ebenfalls aus den zugrunde liegenden, in der systematisch-theologischen Untersuchung gewonnenen Einsichten zur Toleranzbildung ersichtlich werden. Einzig eine solche Toleranz kann in Abgrenzung zu beliebig und abstrakt bleibender Toleranz als aktive, starke und tragfähige, als reflektierte Toleranz den subtilen Strömungen der Intoleranz, die sich inmitten des Pluralismus in Form von relativistischen Sichtweisen einerseits782 und fundamentalistischen Tendenzen andererseits bemerkbar machen, standhalten und entgegenwirken. Aus einer intensiven Auseinandersetzung mit dem je eigenen Glauben und einer darauf folgenden Öffnung für den des je Anderen kann wechselseitige Toleranz entstehen. Einem derartigen Toleranzverständnis zufolge kann und darf Wahrheit aus protestantischer Sicht daher nicht oberhalb oder jenseits des Glaubens gesucht werden, wie dies bei LER offensichtlich der Fall zu sein scheint. Identität Nicht oberhalb, sondern innerhalb der Religionen und religiösen Traditionen ist nach den Wurzeln der Toleranz zu suchen. Tolerante Haltungen, wie sie inmitten des weltanschaulichen Pluralismus erforderlich sind, können niemals von außen an die Person herangetragen werden. Jeder Versuch, jemanden tolerant zu machen muss scheitern, da er in einer Bedrohung und somit Verunsicherung der Identität der betroffenen Person resultiert.783 Die absehbaren Folgen davon wären wiederum ein Nährboden und zumindest günstige Bedingungen für die Entwicklung fundamentalistischer Tendenzen, die als Reaktionen zum Selbstschutz, zur Selbstbehauptung und zur Sicherung der eigenen Identität in Abgrenzung gegenüber Fremdeinfluss und anderen Basisorientierungen zu deuten sind.784 Gut zu heißen ist zwar die Ansicht des aufklärerisch-rationalistischen Ansatzes von LER, der wohlgemerkt oberhalb der historischen Religionen ansetzt, dass es zwischen den Religionen um des gemeinsamen Ganzen willen Verstän782 Erinnert sei an dieser Stelle an Schwöbels Feststellung, dass sich der Relativismus nur scheinbar als Weg zur Toleranz erweist, »insofern er allen religiösen Wahrheitsansprüchen bestenfalls eine partielle Einsicht in die Wahrheit zugesteht und somit die Schwächung ihrer Einsicht, die Unvollkommenheit ihrer Wahrheitserkenntnis, als Basis der Toleranz erklärt.« Chr. Schwöbel, Toleranz aus Glauben, 25. 783 Vgl. ebd. 784 Vgl. Chr. Schwöbel, Nach dem Ende der Konsenskultur, 10.

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digung geben muss. Die Denkschrift der EKD zum Religionsunterricht betont dies ebenfalls nachdrücklich. Allerdings legt sie als »kulturelle Verständigungsund pädagogische Bildungsaufgabe in Schule und Gesellschaft überhaupt« dagegen den Weg nahe, »das Gemeinsame inmitten des Differenten zu stärken, in einer Bewegung durch die Differenzen hindurch, nicht oberhalb von ihnen.«785 Identitätsängste werden sich steigern, so die Prognose, wenn die vorhandene Pluralität einer schematisierenden Vereinheitlichung unterworfen werden soll. Es braucht vielmehr »das fruchtbare Wechselspiel von gewachsener Identität und anzustrebender Verständigungsfähigkeit.«786 Gebildete, ihrer selbst gewisse Identität ist zu mehr Toleranz in individueller und sozialer Hinsicht fähig als ungebildete, sich als bedroht und unsicher erfahrende Identität. Bildung zu interreligiöser Toleranz ist somit nur auf dem Weg der Bildung religiöser Identität zu erreichen787. Da der religionskundliche Ansatz von LER mit seinem auf Distanz und Abstraktion beruhenden Dialogverständnis die Ausbildung religiöser Identitäten in diesem Sinne nicht unterstützen kann, kann es nur als sehr zweifelhaft gelten, dass LER die erforderlichen Leistungen im Blick auf eine Erziehung zu reflektierter Toleranzfähigkeit tatsächlich erbringt.

6.2.4 Zusammenfassung Die Diskussion um das Brandenburger Schulfach LER ist einzuordnen in die Debatte über die religionspädagogische Frage nach der Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts. Sie hängt eng zusammen mit der Überlegung, ob ein religionskundlicher Ansatz oder ein konfessioneller Religionsunterricht den Anforderungen einer pluralen und multireligiösen Gesellschaft eher gerecht wird. LER steht hierbei für den Anspruch, dass die möglichst objektive, weltanschaulich neutrale und distanzierte Behandlung von Religion (Lernen über Religion) die einzige der Schule angemessene und im Klassenverband für alle verpflichtend zu erteilende Unterrichtsform sein soll. Toleranz als Erziehungsziel wird als Ergebnis einer Haltung der weltanschaulichen Neutralität der Öffentlichkeit, der Distanz und der Abstraktion im Umgang mit den Religionen erwartet. Hierbei werden die Religionen allerdings nur aus der Außenperspektive thematisiert, so wie es der allein staatlichen Verantwortung für diesen Unterricht entspricht. Auch ein gelegentlicher Einbezug authentischer Vertreter hat 785 EKD (Hg.), Identität und Verständigung. Standort und Perspektiven des Religionsunterrichts in der Pluralität, 65. 786 Ebd. 787 Vgl. Chr. Schwöbel, Nach dem Ende der Konsenskultur, 11.

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lediglich punktuellen Charakter und kann somit über das Dilemma eines angemessenen Umgangs mit den Religionen in LER, der ihrem Selbstverständnis und ihrer Selbstinterpretation gerecht wird, nicht hinweg täuschen. Auch die für die Identitätsbildung bei Kindern und Jugendlichen notwendigen Zugehörigkeitsverhältnisse und –erfahrungen können auf diese Weise in LER nicht aufgebaut werden. Darüber hinaus weisen die in der Analyse dargelegten Erkenntnisse empirischer Untersuchungen zu LER auf gravierende Konzeptualisierungsmängel des Faches hin. Deren Konsequenzen für die Praxis lassen bedenkliche Ergebnisse im Hinblick auf die Frage nach dem Beitrag von LER zur Ausbildung von Toleranzfähigkeit erwarten. Dies ist umso mehr der Fall, wenn das auf dem Prinzip der Distanz und Abstraktion basierende Dialogverständnis des Faches, die Ausklammerung der Wahrheitsfrage sowie die in LER ausbleibende Unterstützung der Ausbildung religiöser Identitäten ebenfalls mit in Betracht gezogen werden. Alles in allem ist auf der Grundlage der vorhergehenden Analyse zu LER und Toleranz der Eindruck festzuhalten, dass von LER kein verstärktes Potenzial im Hinblick auf einen Beitrag zur Ausbildung von reflektierter Toleranzfähigkeit zu erwarten ist. »In der Situation des religiös-weltanschaulichen Pluralismus erscheint religiöse Identitätsbildung als notwendige Bedingung interreligiöser Toleranz.«788 Da jedoch insbesondere die Möglichkeit zur Ausbildung religiöser Identitäten in LER nicht gegeben ist, erweist sich der mit diesem Fach beschrittene brandenburgische Sonderweg hinsichtlich einer angestrebten Erziehung zu reflektierter im Gegensatz zu abstrakter Toleranz nicht als empfehlenswert. Die in der Analyse zu LER und Toleranz erläuterten Schlussfolgerungen aus den Ergebnissen empirischer Untersuchungen (Leschinsky, Edelstein, Gruehn u. a.) und theoretischer Analysen (Nipkow, Schweitzer u. a.) machen dies deutlich.

6.3

Das Hamburger Modell: Religionsunterricht für alle

Das Selbstverständnis des Religionsunterrichts »für alle« (Rfa) ist geprägt durch den besonderen Kontext und die besondere Ausgangslage, durch die das Hamburger Modell grundlegend beeinflusst ist. Der Hamburger Rfa versteht sich als ein religionspädagogischer Sonderweg, dessen formuliertes Ziel es ist, dass »[a]lle Schülerinnen und Schüler an öffentlichen Schulen – gleichgültig welche religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen sie haben, ob sie sich selbst als religiöse oder atheistische 788 Ebd.

Das Hamburger Modell: Religionsunterricht für alle

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Menschen verstehen, ob sie Mitglieder einer Religionsgemeinschaft sind oder nicht – gemeinsam im Evangelischen Religionsunterricht [lernen].«789 Dabei möchte er den besonderen gesellschaftlichen und kulturellen Umständen in Hamburg und den lebensweltlichen Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler gerecht werden.790 Ein Überblick über die Entstehung und die Konzeption des Rfa soll dazu beitragen, ihn näher zu beleuchten.

6.3.1 Historische Perspektive Der religionspädagogische Sonderweg Hamburgs liegt vor allem in der speziellen (Schul-) Geschichte des Religionsunterrichts in Hamburg begründet, die sowohl für die unterrichtliche Praxis als auch für das konzeptionelle Selbstverständnis des Faches prägend ist.791 Kennzeichnend war in der Geschichte vor allem der Konflikt zwischen den Ansprüchen und Erwartungen der Kirche an das Fach und dem Streben nach einer »jeweils zeitgemäßen schulpädagogischen Verantwortung.«792 Nachdem bereits 1848 versucht worden war, den Religionsunterricht abzuschaffen, weigerte sich 1919 die Freie und Hansestadt Hamburg, ihn als ordentliches Lehrfach in den öffentlichen Schulen anzubieten. Erst durch ein Urteil des Reichsgerichtshofes in Leipzig konnte dies wieder erzwungen werden. Bald wurde die kirchlich-konfessionelle durch die kulturpädagogische Begründung des Religionsunterrichts in Hamburg als Element allgemeiner Bildung ersetzt. Dies führte dazu, dass der Religionsunterricht unter dieser kulturpädagogischen Begründung sodann als obligatorischer Unterricht für alle durchgeführt wurde. Auch nach 1945 konnte sich in Hamburg das in anderen Bundesländern übliche Nebeneinander von evangelischem und katholischem Religionsunterricht lange Zeit nicht durchsetzen. Da sich die katholische Kirche nach dem Zweiten Weltkrieg auf den Ausbau eines katholischen Privatschulwesens konzentrierte, zeigte sie kein gesteigertes Interesse an der Erteilung eines eigenen katholischen Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen. Dies änderte sich erst mit dem Staatskirchenvertrag vom 29. November 2005, in dem die Freie und Hansestadt Hamburg erstmals die Erteilung von katholischem Religionsunterricht als ordentlichem Lehrfach an den öffentlichen Schulen in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der katholischen Kirche gewährleistete. Auf dieser Grundlage wird in Hamburg seit dem Schuljahr 2007/08 auch katholischer Re789 790 791 792

F. Doedens/W. Weiße, Religionsunterricht für alle, 58. Vgl. a. a. O., 63. Vgl. a. a. O., 61. Ebd.

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Alternative Modelle zum konfessionellen Religionsunterricht

ligionsunterricht erteilt.793 Zuvor gab es dort allein den sogenannten »Religionsunterricht für alle« in evangelischer Verantwortung – de jure ein konfessioneller evangelischer Religionsunterricht, de facto hatte er stets die Gestalt eines Religionsunterrichts für alle.794 Obwohl er einen Sonderweg darstellt, steht die Verfassungskonformität des Rfa außer Frage. Gegenwärtig wird er unter rechtlichen Gesichtspunkten in evangelischer Verantwortung erteilt, i. e. die Grundsätze werden im Sinne des Art. 7 Abs. 3 Satz 2 GG von der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche (NEK) bestimmt.795 Prägend für die inhaltliche Entwicklung des Rfa, bis hin zu einer Öffnung für andere Religionen, war die den Hamburger Lehrplänen im Jahre 1973 vorangestellte, heute noch gültige Präambel: »Der Religionsunterricht nimmt im Erfahrungs- und Verstehenshorizont der Schüler die Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach Wahrheit, nach Gerechtigkeit, nach Werten und Normen für verantwortliches Handeln auf. Die Klärung dieser Fragen führt mit zunehmendem Alter der Schüler zur Auseinandersetzung mit den verschiedenen religiösen, weltanschaulichen und politischen Überzeugungen, die unser heutiges Leben beeinflussen. In dieser Auseinandersetzung geht der Religionsunterricht von der Voraussetzung aus, daß in religiösen Traditionen und lebendigen Glaubensüberzeugungen Möglichkeiten der Selbst- und Weltdeutungen sowie Aufforderungen zu verantwortlichem Handeln angelegt sind, die die Selbstfindung und die Handlungsfähigkeit des Menschen zu fördern vermögen.«796

Demnach gilt die erste Aufmerksamkeit des Hamburger Religionsunterrichts also zunächst dem »Erfahrungs- und Verstehenshorizont der Schüler«. Darauf aufbauend ereignen sich Auseinandersetzungen mit verschiedenen religiösen, weltanschaulichen und politischen Überzeugungen, die »Möglichkeiten der Selbst- und Weltdeutung« bieten sowie eine »Aufforderung zu verantwortlichem Handeln« formulieren. Betrachtet man die religionssoziologische Situation Hamburgs, so zeigt sich, dass gegenwärtig lediglich etwa 50 % der Gesamtbevölkerung Hamburgs Mitglieder in einer der christlichen Kirchen sind. Dieser Anteil verteilt sich wiederum auf 79 unterschiedliche christliche Gemeinschaften und Konfessionen. Die Lutherische Kirche bildet mit 39 % die größte Gemeinschaft, gefolgt von den Katholiken mit 10 %. In der Gesamtbevölkerung nimmt die Lutherische Kirche jedoch eine Minderheitsposition ein, da etwa 40 % der Bevölkerung keiner 793 Vgl. das religionspädagogische Portal der katholischen Kirche unter http://www.rpp-katholisch.de/NachrichtenundIdeen/tabid/73/ctrlToLoad/Details/nid/6112/Default.aspx (gesehen am 23. 08. 2011). 794 Vgl. ebd. 795 Vgl. Chr. Link, Konfessioneller Religionsunterricht, 259. 796 Freie und Hansestadt Hamburg 1973, zitiert nach F. Doedens/W. Weiße, Religionsunterricht für alle, 62.

Das Hamburger Modell: Religionsunterricht für alle

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Religionsgemeinschaft angehören. Nicht-christliche Religionsgemeinschaften, an erster Stelle unter ihnen die Muslime, stellen den noch übrigen Teil dar. Auch wenn das kulturelle und gesellschaftliche Leben Hamburgs zwar stets von Menschen unterschiedlicher religiöser Herkunft geprägt war, so hat sich der Pluralisierungsprozess während der letzten Jahrzehnte jedoch zunehmend beschleunigt. Dies führte dazu, dass alle großen Religionen der Welt in ihrer religiösen sowie ethnischen Vielfalt in Hamburg ansässig sind und das öffentliche Leben mitgestalten: »Synagoge, Tempel, Moscheen und andere religiöse Versammlungsorte prägen das Stadtbild.«797 Die lutherische Tradition hat stark an Einfluss verloren, während sich gleichzeitig eine große Zahl anderer Religionsgemeinschaften in Hamburg etabliert hat und gesellschaftliche Akzeptanz sowie Präsenz in der Schule fordert. Das Konzept des Hamburger Rfa ist zwar nach den oben skizzierten Voraussetzungen in erster Linie der Versuch, der spezifischen regionalen Situation gerecht zu werden. Dennoch sehen seine Vertreter/innen in dem Modell zugleich »etliche pädagogische sowie allgemein- und fachdidaktische Grundlegungen und Intentionen, die über die Region hinaus für die religionspädagogische Theoriebildung«798 bedeutsam sein können. Das Schulwesen in der Bundesrepublik stehe nämlich überall vor der Aufgabe, Kinder und Jugendliche auf ein Leben in der multikulturellen Gesellschaft vorzubereiten. Damit beansprucht das dem Rfa zugrunde liegende religionspädagogische Theoriemodell nicht nur regionale Gültigkeit, sondern will als zukunftsfähiges Modell über die Region hinaus wahrgenommen werden. So erscheint an dieser Stelle eine Darstellung dieser Grundlagen sinnvoll.

6.3.2 Konzeptionen und Inhalte Als wissenschaftliche Disziplin mit einem »starken Gegenwartsbezug«799 ist die Religionspädagogik stets interdisziplinär ausgerichtet und auf das Gespräch mit anderen wissenschaftlichen Bezugsdisziplinen, wie beispielsweise die Kulturtheorie, Anthropologie, Biographieforschung, Pädagogik, Lerntheorie, Soziologie und die Psychologie, angewiesen. Auf dem Weg zu einer religionspädagogischen Theoriebildung hat sie deren Erkenntnisse mit einzubeziehen. Auch für den Rfa, dem ein Verständnis dialogischer Religionspädagogik zugrunde 797 A. a. O.,, 60; zur religionssoziologischen Situation Hamburgs vgl. auch Chr. Link, Konfessioneller Religionsunterricht, 258. 798 F. Doedens/W. Weiße, Religionsunterricht für alle, 63. 799 J. Kunstmann, Religionspädagogik, 2.

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liegt800, ist dies unabdingbar. Im Sinne seines Selbstverständnisses verlangt er an erster Stelle eine analytische Bestandsaufnahme der religiösen und weltanschaulichen Ausgangssituation der Jugendlichen. Zweitens legt er Wert auf die »Aufarbeitung und Klärung von Dialogkonzepten« unter Einbeziehung der Religionsphilosophie, Religionswissenschaft, Theologie und der Erziehungswissenschaft sowie drittens auf ein didaktisches Konzept, »das der pädagogischen und bildungstheoretischen Bedeutsamkeit von religiösen Lernprozessen«801 gerecht wird. Angesichts der religiösen und weltanschaulichen Situation der Jugendlichen, wie sie in vorangegangenen Abschnitten802 bereits ausführlich analysiert wurde, habe die Religionspädagogik die Aufgabe, religiöse Praxis kritisch zu reflektieren und danach zu fragen, welche Bedeutung der Religion für die »Klärung und Verarbeitung lebensweltlicher Widersprüche, für Identitätsfindungsprozesse«803 zukomme. Pluralismustheoretisch gesehen ist relevant, wie religionspädagogisch mit den multireligiösen Schülergruppen umgegangen wird. Hier hat sich der Rfa interreligiöses Lernen zum Grundprinzip gemacht, das im Kern als dialogisches Lernen bezeichnet werden kann. Dialogisches Lernen wiederum setzt ein bestimmtes Dialogverständnis voraus. Um dieses zu klären, sind die philosophische und die theologische Dimension zu bedenken.

6.3.2.1 Theoretische Grundlagen einer dialogischen Religionspädagogik804 (a) Zur philosophischen Dimension Einer dialogischen Religionspädagogik dient die Religionsphilosophie Martin Bubers als Bezugsrahmen. Leitend ist dabei der anthropologische Grundsatz der Ich-Du-Philosophie Bubers805 : »Der Mensch wird am Du zum Ich.« Tritt ein Mensch in Beziehung zu einem anderen Menschen, so kann er den Anderen nicht mehr nur als »Etwas« sehen. Im Dialog wird der Andere vielmehr als einmalige Person erkannt. Die Ich-Du-Beziehung wird dabei radikal als Gegenseitigkeit gedacht, für die ein dialektisches Verhältnis von Autonomie und Beziehungsfähigkeit vorausgesetzt ist: »Dieses elementare wechselseitige Angewiesensein von Ich und Du ist die Grundstruktur menschlicher Gemein800 Vgl. T. Knauth, Religionsunterricht und Dialog sowie F. Doedens/W. Weiße, Religionsunterricht für alle, 106. 801 A. a. O.,, 107. 802 Vgl. 2.2 und 2.3. 803 Vgl. F. Doedens/W. Weiße, Religionsunterricht für alle, 112. 804 Vgl. besonders T. Knauth, Religionsunterricht und Dialog. 805 Vgl. M. Buber, Ich und Du.

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schaft.«806 Der Mensch ist für Buber von seiner anthropologischen Grundverfassung »konstitutiv auf Beziehung, auf den Anderen angelegt« und gewinnt seine »personale Identität im Dialog stets neu.«807 Darum wird der Dialog zum Kern jeder Beziehung und, nach Knauth, zur leitenden Kategorie des Religionsunterrichts.808 (b) Zur theologischen Dimension Der anthropologische Ansatz Martin Bubers wird im Theoriemodell des Rfa durch eine »Theologie des interreligiösen Dialogs«809 ergänzt. Diese bezieht sich ihrerseits wiederum auf Konzeptionen und Erfahrungen der Theologie der Religionen und der ökumenischen Theologie, deren Anliegen es ist, im Dialog der Religionen andere religiöse Geltungsansprüche wahrzunehmen und anzuerkennen. Vor allem Knauth und Weiße beziehen sich in ihren Beiträgen in der Hamburger Programmschrift auf die Theologie der Religionen und die ökumenische Theologie, wobei Knauth an den US-amerikanischen Theologen Paul Knitter810 anknüpft und für Weiße die Schriften des ökumenischen Missionstheologen Hans-Jochen Margull811 bezüglich einer dialogischen Religionspädagogik leitend sind. Für Knitter werden die gemeinsame Ethik und das gemeinsame Handeln zum Merkmal einer pluralistischen Theologie der Religionen. Währenddessen geht Margull von der Unvollständigkeit und Unfertigkeit aller Religionen aus. Absolutheitsansprüche jeder Art betrachtet er aufgrund der konkurrierenden Situation als nicht mehr haltbar und betont deshalb die Partikularität der Religionen, die christliche mit eingeschlossen.812 Bezüglich der hier übergeordneten Frage der Toleranz sieht Weiße bei Margull eben diese in der »Anbahnung von Dialog und Dialoggeschehen.« Sie ist dabei bestimmt als ein »Aufeinander-Zugehen mit Fragen und Rückfragen an die eigene Person und Tradition aus der Perspektive anderer Religionen und vice versa.«813 In Ergänzung zu Menschings Definition einer Toleranz, die, wie erläutert wurde814, formale wie inhaltliche Dimensionen in den Blick nimmt, konkretisiert Weiße mit Margull Toleranz als ein »grundlegendes Verwiesensein auf andere«: »Das 806 807 808 809 810 811 812 813 814

Vgl. F. Doedens/W. Weiße, Religionsunterricht für alle, 114. Ebd. Vgl. T. Knauth, Religionsunterricht und Dialog. F. Doedens/W. Weiße, Religionsunterricht für alle, 115. Vgl. P.F. Knitter, No other Name? A Critical Survey of Christian Attitudes Toward the World Religions; P.F. Knitter/B. Jaspert (Hg.), Horizonte der Befreiung. Auf dem Weg zu einer pluralistischen Theologie der Religionen. Vgl. H.J. Margull, Dialog mit anderen Religionen. Material aus der ökumenischen Bewegung. Vgl. W. Weiße, Ökumenische Theologie, 181 – 202. A. a. O.,, 192. Vgl. 3.1.2.

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Dulden ist nicht eine von Überlegenheits- oder Absolutheitsbewußtsein gegenüber anderen getragene Haltung, sondern besteht im Angesicht der allen Menschen geltenden Zusagen Gottes im Aufeinanderangewiesensein, in Achtung, in Anerkennung von und dem Hinarbeiten auf Gleichberechtigung, im Schmerz, in der Kränkung und Verwundbarkeit.«815 Toleranz in der Form des grundlegenden Verwiesenseins auf andere wird damit zu einem erklärten Ziel einer dialogischen Religionspädagogik. Bubers, Knitters und Margulls Konzeptionen machen freilich nur einen Teil der Theorie aus, die die Praxis auf dem Weg zu diesem Ziel prägt. Vor dem Hintergrund des oben Dargestellten soll nun versucht werden, den Weg zu einer Praxis interreligiösen bzw. dialogischen Lernens nachzuzeichnen.

6.3.2.2 Thesen zu einer Didaktik des interreligiösen Lernens Weiße weist darauf hin, dass es für die Praxis von Begegnung und Dialog im Religionsunterricht unbefriedigend sei, eine Einengung auf die interreligiöse Dimension vorzunehmen.816 Vielmehr wolle ein dialogischer Unterricht einerseits der religiösen Pluralität in Schule und Gesellschaft Rechnung tragen und sich ihr öffnen, andererseits wolle er aber darüber hinaus die »umfassendere Notwendigkeit von Dialog im Religionsunterricht der Schule«817 unterstreichen. Dialog sei daher auch nicht das Ziel des Religionsunterrichts, sondern dessen Strukturprinzip sowohl in religiös homogenen wie in heterogen zusammengesetzten Klassen. In einem solchen Dialog gehe es dabei um gelebte Religion, die die konfessionellen und kulturellen Unterschiede nicht nivelliere. Deshalb würden Gemeinsamkeiten zwischen den Religionen ebenso berücksichtigt wie vorhandene Unüberbrückbarkeiten. Es solle zudem ebenfalls Platz sein für Atheisten und Schüler mit einer individuell zusammengesetzten Religiosität. Der Dialog müsse Schülern die Möglichkeit geben, »sich ›ihrer Religion‹ zu vergewissern, sich aber auch zu öffnen und sich selbständig zu orientieren.«818 Grundlegend für die Praxis des Hamburger Religionsunterrichts sind sieben allgemeine Thesen zu einer Didaktik des interreligiösen Lernens im Rfa819, von denen stellvertretend fünf genannt werden sollen.820 Laut der ersten These soll interreligiöses Lernen im Rfa dazu beitragen, die Dimension Religion(en) als ein 815 816 817 818 819 820

W. Weiße, Ökumenische Theologie, 192. F. Doedens/W. Weiße, Religionsunterricht für alle, 136. A. a. O.,, 137; Hervorhebung durch Vf. Ebd. Vgl. F. Doedens/W. Weiße, Religionsunterricht für alle, 59 ff. Hierbei handelt es sich um die Thesen 1 – 3 sowie 5 – 6, da sie zentrale Aspekte des interreligiösen Lernens aufgreifen und das Miteinander von Religionen bzw. von Schülern unterschiedlicher religiöser Überzeugungen thematisieren.

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grundlegendes Element von Allgemeinbildung in der Schule der multikulturellen Gesellschaft zu verankern. Die zweite These nimmt die didaktische Struktur eines interreligiösen Lernens in den Blick und formuliert Lernziele bezüglich des Wahrnehmens des je Anderen. Sie besagt, dass interreligiöses Lernen im Sinne einer Didaktik der Nachbarschaftsreligionen als Erfahrungsund Beziehungslernen zu verstehen sei. Die neue Wahrnehmung der Weltreligionen ist hierfür leitend. Diese werden nun nicht mehr als Fremdreligionen wahrgenommen und bezeichnet, sondern treten als »Nachbarschaftsreligionen« ins Bewusstsein. Dabei ist bereits semantisch eine Änderung angezeigt: Das Fremde soll seine Fremdartigkeit verlieren und, angesichts der gegebenen gesellschaftlichen Situation, die ehemals Fernes und Fremdes in unmittelbare Nähe rücken lässt, die Gestalt eines Nachbarn annehmen. Damit die semantische Änderung jedoch nicht lediglich eine rein äußerliche Annäherung beschreibt, sondern auch eine innerliche und inhaltliche Veränderung nach sich zieht, ist interreligiöses Lernen als Erfahrungs- und Beziehungslernen zu bestimmen. Durch Erfahrungen mit und Beziehungen zu Angehörigen anderer Religionen sollen diese zu Nachbarn werden anstatt Fremde zu bleiben. Deshalb sind gerade nicht »Belehrung und Distanz« Kennzeichen des interreligiösen Religionsunterrichts, sondern »Dialog und kommunikatives Handeln.«821 In derartig gestalteten Lernprozessen erhalten Religionen ihre »lebensweltliche Bedeutung«822 zurück. Mit der dritten These rücken die Schülerinnen und Schüler ins Zentrum des Blickfeldes. Demnach fördert der interreligiöse Religionsunterricht in der multikulturellen Schule durch die Begegnung mit dem Anderen die Identitätsentwicklung der Kinder und Jugendlichen, da sich in der Begegnung mit dem Fremden Eigenes entwickeln kann.823 Doch nicht nur Schülerinnen und Schüler sind gefordert, sondern auch die Lehrerinnen und Lehrer. So sind sie im Rfa nicht mehr als Repräsentanten von Kirchen oder Religionsgemeinschaften gefragt, sondern vielmehr »als Menschen mit eigenen Positionen, Überzeugungen, Fragen und Zweifeln.« Dabei sind sie »Partner des Kommunikations- und Lernzusammenhangs im interreligiösen Religionsunterricht.« Doedens spitzt die Lehr- und Lernsituation inhaltlich zu, wenn er betont: »Nicht positionelle Konturlosigkeit und eine alles einebnende Toleranz, sondern weltanschauliche bzw. religiöse Kenntlichkeit sowie Dialogfähigkeit ist verlangt, die gegen vorschnelle Harmonisierung und Verkleisterung von Differenz die Bereitschaft zum

821 F. Doedens/W. Weiße, Religionsunterricht für alle, 67. 822 Ebd. 823 Vgl. a. a. O., 68.

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Streiten einschließt. Dieser Unterricht braucht Bekenntnis, aber nicht Bekenntnisgebundenheit.«824 Damit wird die innerhalb des Rfa zu leistende Toleranz auch inhaltlich gefüllt. Es ist eine Toleranz, die dem Einzelnen, sei es dem Lernenden oder dem Lehrenden, bestimmte Kompetenzen abverlangt. Der fünften These zufolge geschieht interreligiöses Lernen im Rfa angesichts von »Entsprechung« und nicht von »Gleichheit« der Religionen. Im Sinne Knitters soll davon ausgegangen werden, dass »die Religionen bei aller Differenz und bei aller Eigenart in dem gemeinsamen Bemühen eine Entsprechung (nicht Gleichheit) finden.« Dabei hätten sie die Aufgabe, »menschliches Wohlergehen herzustellen oder zu fördern.«825 Die Entsprechungen zwischen unterschiedlichen Religionen wird demnach in dem gesucht, was dem Wohlergehen dienlich ist – u. a. also auch im ethischen Handeln. In der sechsten These schließlich ist die Verantwortlichkeit für einen Religionsunterricht »für alle« festgeschrieben: Der interreligiöse Rfa muss in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften unter »Beteiligung von allen« gestaltet (mittelfristig) und verantwortet (langfristig) werden. Es sind somit also ausdrücklich alle Religionsgemeinschaften aktiv miteinbezogen. Sie sollen beispielsweise auf den Ebenen der Lehrplanentwicklung, der Lehrer/innen- Aus- und Fortbildung und der Materialerstellung tätig werden. 6.3.2.3 Zusammenfassung Zusammenfassend ist also zu sagen, dass der Hamburger »Religionsunterricht für alle« zunächst als Reaktion auf die religionssoziologische und demographische Situation in Hamburg zu deuten ist. Auch wenn es sich rechtlich um konfessionellen (evangelischen) Religionsunterricht handelt, gehört interreligiöses Lernen zu den erklärten Zielen dieses Ansatzes. Der evangelische Religionsunterricht als Angebot an staatlichen Schulen in Hamburg öffnet sich also bewusst programmatisch für Kinder und Jugendliche mit unterschiedlicher (oder auch keiner) Religionszugehörigkeit. Lehrpläne und Unterrichtsprozesse sollen unter Mitwirkung der verschiedenen Religionsgemeinschaften so gestaltet sein, dass ein dialogischer Religionsunterricht möglich wird, der im Dienste einer Erziehung zur Toleranz zu verorten ist. In Anlehnung an Margull wird Toleranz dabei als ein grundlegendes Verwiesensein auf den jeweils Anderen verstanden. Toleranz soll möglich werden, weil im Sinne Knitters alle Religionen gemeinsame ethische Grundannahmen teilen. Von den verschiede824 A. a. O., 69. 825 A. a. O., 72.

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nen Religionsgemeinschaften wird somit erwartet, dass sie inhaltliche Kohärenz anstreben und sich auf einen gemeinsamen religiösen Kern einigen, den sie in unterschiedlicher Weise darstellen.

6.3.3 Analyse: Der Hamburger »Religionsunterricht für alle« und Toleranz Im direkten Anschluss an das unmittelbar Vorhergehende ist zu Beginn einer Analyse, die den Anspruch des Rfa auf Toleranzfähigkeit kritisch prüfen soll, festzuhalten, dass dieses Modell auf die Suche einer gemeinsamen Schnittmenge zwischen den Weltreligionen ausgerichtet ist. Diese Schnittmenge wird im ethischen Bereich angenommen, »im Umkreis des menschlichen ›Wohls‹, des Leitbegriffs einer ehrwürdigen utilitaristischen philosophisch-ethischen Denktradition.«826 Es wird somit deutlich, dass die letztlich unterlegte, tragende Plattform des Hamburger Modells eine nichttheologische ist, zu der die Religionsgemeinschaften im Namen ihrer theologischen Ethiken beitragen können und sollen. Die eigentlichen Glaubensgrundlagen der jeweiligen Religionsgemeinschaften, die sich von denen der anderen Religionen zum Teil tiefgreifend unterscheiden, bleiben somit praktisch unberührt. Unmissverständlich werden die Religionen damit nicht primär auf ihre Erfahrung von Glauben hin betrachtet, sondern mit einem »kritischen Interesse«, das laut Nipkow deutlich »ein ethisch-politisches Interesse«827 ist. Die Religionen sind »religionenkritisch« daran zu messen, ob sie den »Prinzipien aufgeklärter Humanität«828 gerecht werden. Es drängen sich nun allerdings im Gegenzug begründete Zweifel daran auf, ob diese Betrachtungsweise dem eigentlichen Wesen und dem Selbstverständnis der Religionen gerecht wird. So erscheint die Einstufung als »interreligiös orientierter Ethikunterricht«829 eher angebracht, während die Bezeichnung »Religionsunterricht für alle« irreführend wirkt. Dies ist auch hinsichtlich der Tatsache der Fall, dass prinzipiell jeder Evangelische Religionsunterricht in der Bundesrepublik in Bezug auf seine Zusammensetzung als »Religionsunterricht für alle« zu bezeichnen ist. Denn »Evangelischer Religionsunterricht macht die Zugehörigkeit der Schülerinnen und Schüler zur evangelischen Kirche nicht zur Teilnahmebedingung.«830 Es wird betont, dass auch konfessionslose bzw. Schüler anderer Konfessionen in den Evangelischen Religionsunterricht eingeladen sind.831 826 827 828 829 830 831

K.E. Nipkow, Bildung in einer pluralen Welt, 483. A. a. O., 484. F. Doedens/W. Weiße, Religionsunterricht für alle, 90 f. K.E. Nipkow, Bildung in einer pluralen Welt, 485. EKD, Religiöse Bildung in der Schule, Punkt 4. Vgl. dazu auch EKD, Identität und Verständigung.

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Wie bereits erwähnt möchte der Hamburger Rfa ein Ort der interkulturellen Begegnung und des interreligiösen Lernens sein. Angesichts des religiösen und kulturellen Klimas der Pluralität ist dies grundsätzlich als ein Ansatz zu begrüßen, der den Herausforderungen der Gegenwart Rechnung tragen möchte. Als dialogisches Lernen zielt das interreligiöse Lernen von seinem Selbstverständnis her auf den authentischen Dialog zwischen Angehörigen der einzelnen Religionen.832 Als Merkmale religiöser Authentizität seien Bekenntnis, Glaube und Wahrheitsgewissheit genannt, wobei das Bekenntnis dem Glauben entspringt, der sich seinerseits auf gewiss gewordener, unverfügbarer Wahrheit gründet. Um den Jugendlichen die Möglichkeit und den Raum zu geben, eine religiöse Identität in diesem Sinne entwickeln zu können, scheint eine jeweils religionsspezifische Einführung sinnvoll, welche die Jugendlichen zunächst mit ihrer eigenen Religion vertraut machen sollte. Im Gegensatz dazu sieht jedoch der Hamburger Rfa von einer religionsspezifischen Einführung mit anschließender Öffnung ab. Vielmehr möchte er von vorneherein einen Ort für alle Schülerinnen und Schüler zugleich schaffen, unabhängig von individuellen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen. Konzeptionell scheint sich hier ein Dilemma aufzutun. Zum einen wird bei den Schülerinnen und Schülern die Ausbildung religiöser Identitäten bereits mehr oder weniger vorausgesetzt, wie Asbrand in ihrer empirischen Studie zur Konzeption eines interreligiösen Religionsunterricht im Klassenverband der Grundschule mit Blick auf Hamburg feststellt: »SchülerInnen sollen etwas im Dialog entwickeln, was zugleich als Voraussetzung für die Teilnahme am Dialog vorhanden sein muss. Im Dialog sollen Kinder eine religiöse Identität entwickeln und gleichzeitig wird das Beziehen eines religiösen Standpunkts als Voraussetzung angesehen. Aber wie sollen Kinder eine eigene Position in den interreligiösen Religionsunterricht einbringen, wenn sie doch eine eigene religiöse Identität erst entwickeln?«833 Zum anderen stellt sich im Anschluss daran die Frage, was den Religionsunterricht eint, wenn von Anfang an völlig unterschiedliche Bekenntnisse, Glaubensüberzeugungen und Wahrheitsansprüche in Form von unterschiedlichen Religionen aufeinander treffen. Wie bereits erwähnt formuliert Doedens hierzu: »Nicht positionelle Konturlosigkeit und eine alles einebnende Toleranz, sondern weltanschauliche bzw. religiöse Kenntlichkeit sowie Dialogfähigkeit ist verlangt, die gegen vorschnelle Harmonisierung und Verkleisterung von Differenz die Bereitschaft zum Streiten einschließt. Dieser Unterricht braucht Bekenntnis, aber nicht Bekenntnisgebundenheit.«834 832 Vgl. F. Rickers, Art. Interreligiöses Lernen, 874 – 881. 833 B. Asbrand, Zusammen Leben und Lernen im Religionsunterricht, 195. 834 F. Doedens/W. Weiße, Religionsunterricht für alle, 69.

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Es gilt anzufragen, ob und inwiefern Bekenntnis mit gleichzeitiger Absage an Bekenntnisgebundenheit zusammengedacht und praktiziert werden kann. Soll eine vorschnelle »Harmonisierung und Verkleisterung von Differenz« vermieden werden, so muss doch zumindest von Seiten der Lehrenden deutlich sein, aus welcher Perspektive Differenz wahrgenommen wird. Hier muss zudem berücksichtigt werden, was für Schülerinnen und Schüler entwicklungspsychologisch angemessen ist. So haben entsprechende Untersuchungen ergeben, dass es besonders im Grundschulalter keineswegs allein um eine kognitive Klärung der Bedeutung konfessioneller oder religiöser Zugehörigkeiten geht, sondern für die Kinder vielmehr die persönlichen Beziehungen zu Erwachsenen und die damit für sie verbundenen Zugehörigkeitsverhältnisse und -erfahrungen im Vordergrund stehen. Dabei definieren die Kinder ihre eigene Zugehörigkeit nicht allein über die Gruppe der Gleichaltrigen, sondern in erster Linie über die Zusammengehörigkeit mit einer erwachsenen Lehrperson.835 Da solche Beziehungen durch einen lediglich punktuellen Einbezug so genannter authentischer Vertreterinnen und Vertreter nicht gewährleistet werden, ergibt sich aus dem Fehlen kompetenter Vertreterinnen und Vertreter anderer Konfessionen und Religionen auch ein Problem für den Hamburger Rfa – seiner evangelischen Trägerschaft und seinen rechtlichen Voraussetzungen folgend836 liegt dieser nämlich in der Hand evangelischer bzw. christlicher Lehrkräfte. Wie grundlegend wichtig jedoch gerade Identitätsgewinnung und -bildung für Toleranzfähigkeit in der Pluralität sind, wurde aus den systematisch-theologischen Untersuchungen zu Toleranz und Identität837 ersichtlich. Diese kritischen Anfragen erscheinen angesichts der Befunde weiterer empirischer Erhebungen umso gewichtiger. Eine qualitative838 und eine darauf aufbauende quantitative Studie839 im Rahmen des internationalen REDCoProjekts840 lassen auf Seiten der Schülerinnen und Schüler des Hamburger Religionsunterrichts zunächst ein reges Interesse an Religion im Allgemeinen sowie Offenheit und Akzeptanz gegenüber den pluralen religiösen Verhältnissen erkennen, in denen sie leben. Der schulische Religionsunterricht wird als zentraler und oftmals einziger Ort der Begegnung mit und des Lernens über Religion bzw. Religionen begrüßt. Die Befunde beider Studien weisen jedoch weiter 835 Vgl. F. Schweitzer/A. Biesinger et al., Gemeinsamkeiten stärken – Unterschieden gerecht werden, 75 ff. und 84 ff. 836 Vgl. Chr. Link, Rechtsgutachten, 221 f. 837 Vgl. 3.1.2.3.1. 838 Vgl. T. Knauth, »Better together than apart«: Religion in School and Lifeworld of Students in Hamburg. 839 Vgl. T. Knauth/W. Weiße/D.-P. Jozsa, Religion in School – a Comparative Study of Hamburg and North Rhine-Westphalia. 840 REDCo steht dabei für »Religion in Education. A contribution to Dialogue or a factor of Conflict in transforming societies of European countries«.

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darauf hin, dass interreligiöse Kontakte außerhalb der Schule kaum festzustellen sind und Begegnungen mit religiös Anderspositionierten im Freundeskreis weitgehend vermieden werden: »Despite their proclaimed experiences with heterogeneity inside and outside school, students prefer to socialise with friends who have same views about religion. This phenomenon also could be found in the qualitative analysis: even though they are used to heterogeneous settings students tend to prefer commonly shared views and attitudes. Is this an indication that there is a kind of avoidance of difference when it comes to closer relations between students, as we concluded in our qualitative studies?«841 Knauth redet in diesem Zusammenhang sogar von »invisible barrier[s] between the adolescents of different religions«842. Darüber hinaus kennzeichnen – trotz des gemeinsamen Religionsunterrichts – Unwissenheit, Vorurteile und Negativurteile das Verhältnis der befragten Jugendlichen insbesondere zum Islam: »They have marginal or little knowledge and experience of other religions, which in their case means the religions of their classmates.«843 Diese Befunde lassen darauf schließen, dass die Art und Weise der interreligiösen Begegnung und somit der Umgang mit Differenz innerhalb der Schule und des Religionsunterrichts die Schülerinnen und Schüler in Hamburg trotz des von ihnen eindeutig zum Ausdruck gebrachten Interesses an anderen Religionen also kaum dazu anhält, auch außerhalb des Klassenzimmers interreligiöse Kontakte zu pflegen. Die prinzipielle Bejahung religiöser Pluralität sowie die sich darin vermeintlich spiegelnde Toleranz gegenüber anderen Religionen bleiben offenkundig abstrakt und finden keine reflektierte Umsetzung im außerschulischen Alltag der befragten Jugendlichen: »Pupils are well acquainted with religious plurality and they want to live together in peace and to avoid conflicts. […] [T]he young people are more positive towards this plurality in attitudes than they seem to be in daily life, meaning that they prefer to be together with peers like themselves.«844 Auffällig ist darüber hinaus ein Vergleich zwischen der Zustimmungsrate zu der Aussage »At school I get knowledge about different religions« und der erheblich niedrigeren Zustimmung zu der Aussage »At school we have opportunities to discuss religious issues from different perspectives«. Avest und Bakker bemerken dazu: »Students seem to perceive RE classes as places where

841 T. Knauth/W. Weiße/D.-P. Jozsa, Religion in School – a Comparative Study of Hamburg and North Rhine-Westphalia, 202 f. 842 T. Knauth, »Better together than apart«: Religion in School and Lifeworld of Students in Hamburg, 232. 843 A. a. O., 239; vgl. auch a. a. O., 232. 844 G. Skeie, Religion in School – a Comparative Study of Hamburg and North Rhine-Westphalia. Commenting Chapter from a Norwegian Perspective, 212.

Das Hamburger Modell: Religionsunterricht für alle

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they gain objective knowledge without actually discussing the topic.«845 Ein solch objektives Lernen über Religionen bei verstärkter Betonung ihrer Gemeinsamkeiten scheint nicht zuletzt ausschlaggebend für vereinzelte Schüleräußerungen zu sein, die sich gegen einen Religionsunterricht für alle aussprechen846 : »They fear that joint religious education would strengthen tendencies towards conflict and prejudices between religions. Those students put a strong emphasis on the differences and incompatibility of religions rather than on their common ground. The Muslim students further manifest their interest in providing more Islamic content in religious education in their vote for separate religious education.«847 Aus Sicht dieser Schülerinnen und Schüler läuft der Religionsunterricht für alle Gefahr, Konflikte und Vorurteile zwischen den Religionen zu verstärken. Ihrem religiösen Empfinden nach erfolgt dabei einerseits der Umgang mit Differenzen in nicht angemessener Weise, während andererseits Inhalte der je eigenen Religion zu kurz zu kommen scheinen. Infolgedessen bringen insbesondere muslimische Schülerinnen und Schüler den Wunsch nach religiös differenziertem Religionsunterricht zum Ausdruck. Im selben Zusammenhang des Umgangs mit Differenzen stellt Asbrand speziell im Hinblick auf muslimische Schülerinnen und Schüler in Hamburgs Grundschulen in ihrer bereits genannten Studie eine für das interreligiöse Lernen im Religionsunterricht hinderliche »fremdbestimmte Festlegung der Kinder auf eine Gruppenidentität«848 fest. Dabei bezieht sie sich auf das von Diehm beschriebene Dilemma der interkulturellen Erziehung: die Absicht, kulturelle Differenzen durch Hervorhebung und Thematisierung anzuerkennen, münde unbeabsichtigt in kulturalistische Zuschreibungen und Stereotypenbildung und habe damit umgekehrte diskriminierende Effekte.849 Eben dieses Phänomen lassen Asbrands durch Unterrichtsbeobachtung gewonnene Daten erkennen. So geht aus den empirischen Befunden hervor, dass die gute Absicht der (christlichen) Lehrperson, die Religiosität muslimischer Kinder anzuerkennen und deren Kenntnisse der islamischen Glaubenspraxis zu honorieren, diese in eine von den anderen Kindern nicht akzeptierte Sonderrolle bringt. Ausgerechnet die aktive Beteiligung am Religionsunterricht, die von Seiten der Lehrkraft als Form 845 I. ter Avest/C. Bakker, Response to the German National Report on the REDCo Questionnaire, 217. 846 Insgesamt spricht sich in Hamburg eine deutliche Mehrheit der Jugendlichen für einen Religionsunterricht für alle aus. Da sich die ebenfalls befragten Jugendlichen in Nordrhein Westfalen jedoch mehrheitlich für den dortigen konfessionellen Religionsunterricht aussprechen, ist davon auszugehen, dass generell diejenige Form von Religionsunterricht präferiert wird, die den Jugendlichen bekannt und vertraut ist. 847 T. Knauth, »Better together than apart«: Religion in School and Lifeworld of Students in Hamburg, 240 f. 848 B. Asbrand, Zusammen Leben und Lernen im Religionsunterricht, 166. 849 Vgl. I. Diehm, Erziehung in der Einwanderungsgesellschaft, 11 und 52 ff.

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der Anerkennung intendiert war, führt augenscheinlich dazu, dass muslimische Kinder wegen ihrer Religiosität von den Mitschülerinnen und Mitschülern geringgeschätzt werden.850 Asbrand bewertet die aktive Rolle der muslimischen Schülerinnen und Schüler zugleich als Benachteiligung der nicht-muslimischen Kinder, die je nach Unterrichtsinhalt keine Kenntnisse in den Unterricht einbringen können. Deren Reaktion beschreibt sie als »destruktive Langeweile«, die sich auch als »Ablehnung von Religion« äußert.851 Währenddessen wird auf Seiten der muslimischen Kinder im Zusammenhang mit der ihnen zugeschriebenen Sonderrolle als Experten ihrer Religion eine Situation der Überforderung erkennbar. Zwar können die betreffenden Kinder aus ihrer religiösen Sozialisation im Unterricht berichten, beziehen sich dabei jedoch nahezu ausschließlich auf religiöse Praxis. »Mit den weitergehenden Fragen nach theologischen Erklärungen für diese Praxis sind sie überfordert«852. Dies trifft in ähnlicher Weise ebenso auf die in der Regel eindeutig christlich positionierte Lehrkraft853 zu. Damit läuft das in der Theorie zwar dialogisch konzipierte854 interreligiöse Lernen an Hamburgs (Grund-)Schulen zum Einen eindeutig Gefahr, beim Lernen über Religionen stehen zu bleiben. Zum Anderen wird die Kategorie der Religionszugehörigkeit zum Unterscheidungsmerkmal, was wiederum zur Desintegration der nicht religiös sozialisierten Kinder innerhalb des Religionsunterrichts für alle führen kann.855 Gleichzeitig wird für muslimische Schülerinnen und Schüler eine Gruppenidentität und eine Abgrenzung von den anderen Kindern der Klasse konstituiert, wie Asbrand deutlich macht: »Die muslimischen Kinder werden als ›fremd‹ kategorisiert und diskriminiert«856 – und wollen doch, wie aus ihren Äußerungen hervorgeht, gerade nicht fremd und anders sein.857 Diese empirischen Befunde bringen Sachverhalte in der Praxis des Hamburger Religionsunterrichts für alle zum Vorschein, die im Hinblick auf das übergeordnete Ziel einer Erziehung zu Toleranzfähigkeit als äußerst bedenklich einzustufen sind. Es scheint sogar ein Zusammenhang nahezuliegen zwischen 850 851 852 853 854

B. Asbrand, Zusammen Leben und Lernen im Religionsunterricht, 173 ff. A. a. O., 96 bzw. 174. Ebd.; vgl. auch 96 ff. Vgl. a. a. O., 99 ff. A. a. O., 165, bemerkt Asbrand allerdings dazu: »In dem gesamten empirischen Material gibt es keine Situation, die als interreligiöser Dialog interpretiert werden kann, als Austausch zwischen religiösen Menschen, RepräsentantInnen unterschiedlicher Religionen. […] Gleichwohl wurden Unterrichtssituationen beobachtet, in denen interreligiöse Lernprozesse stattgefunden haben. Allerdings folgen diese nicht dem Dialogparadigma bzw. können mit den Kategorien des Dialogparadigmas nicht hinreichend erklärt werden.« 855 Vgl. a. a. O., 176. 856 A. a. O., 182. 857 Vgl. a. a. O., 185.

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den geschilderten Phänomenen der kategorisierenden Identitätszuschreibung im Religionsunterricht der Grundschule, wobei nach Asbrand die Kategorie der Religionszugehörigkeit – soweit vorhanden – zum Unterscheidungsmerkmal wird, und der in den REDCo-Studien festgestellten Gewohnheit im Jugendalter, interreligiöse Kontakte außerhalb der Schule regelrecht zu meiden. Der im Hamburger Religionsunterricht für alle praktizierte Umgang mit Differenz ist somit nicht in der Lage, dem faktisch vorherrschenden Denken in stereotypen Unterscheidungskategorien und der Entstehung von religiös-separaten Lebenswelten unter Jugendlichen vorzubeugen. Den empirischen Befunden zufolge scheint er diesen Tendenzen vielmehr Vorschub zu leisten. Die Toleranzfähigkeit auf Seiten der Schülerinnen und Schüler bleibt damit allenfalls auf einer abstrakten Ebene stehen und lässt eine reflektierte Ausrichtung und Umsetzung im außerschulischen Alltag der befragten Jugendlichen vermissen. Ferner kann angefragt werden, wie der Religionsunterricht theologisch zu füllen ist, wenn sich der Religionsunterricht für alle weiterhin de jure in evangelischer Verantwortung befindet, er jedoch gleichzeitig nicht an Bekenntnis gebunden ist. Das theologische Profil lässt sich hier nur schwerlich bestimmen. Eine präzise Bestimmung desselben erscheint allerdings gerade angesichts des Pluralismus unabdingbar, insbesondere, wenn es darum gehen soll, diesem standzuhalten und Differenz weder überzubetonen noch vorschnell zu harmonisieren. Wenn darüber hinaus die Vorstellung geäußert wird, im Religionsunterricht könne auf Absolutheitsansprüche und die Wahrheitsfrage deshalb verzichtet werden, da die Religionen lediglich einen »Zipfel« der in ihrer Gänze verborgenen Wahrheit beanspruchen könnten858, muss diese Aussage in ihrer ganzen Tragweite in den Blick genommen und ihr eine grundlegende Anfrage entgegengestellt werden. Der tatsächlichen Überzeugung des Glaubenden wird hier eine übergeordnete Wahrheit gegenüber gestellt. Jegliche Glaubensgewissheit wäre somit also partikulär. Entspricht dies dem Selbstverständnis und der Selbstinterpretation der jeweiligen Religionen? Wird die Wahrheitsfrage aus dem Religionsunterricht ausgeklammert und auf das Reden über Absolutheitsansprüche gänzlich verzichtet, so stellt sich durchaus die Frage, ob in einem derartig verstandenen Religionsunterricht nicht die Gefahr eines nivellierenden Relativismus besteht. Ein solcher ist auch in den Äußerungen Margulls deutlich auszumachen, wenn er, wie beschrieben, von der Unvollständigkeit und Unfertigkeit aller Religionen ausgeht859. Hinsichtlich des dem Rfa zugrunde liegenden Toleranzverständnisses bedeutet dies, dass sich der 858 Vgl. F. Doedens/W. Weiße, Religionsunterricht für alle, 92. 859 Vgl. H.J. Margull, Dialog mit anderen Religionen. Material aus der ökumenischen Bewegung.

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Grundsatz von Toleranz als ein »Aufeinanderangewiesensein«860 eben aus der auf Margull zurückgehenden Überzeugung ergibt, dass jede Religion lediglich einen – mehr oder weniger geringen – Anteil an der Wahrheit innehabe. Dies verstärkt den Eindruck eines subtilen Relativismus innerhalb des Theoriekonzepts des Hamburger Modells. Wie wenig tragfähig allerdings eine Toleranz zu sein scheint, die sich im Kern auf eine relativistische Sicht beruft, wird ebenfalls aus den zugrunde liegenden Ergebnissen der systematisch-theologischen Voruntersuchung ersichtlich. So sei an Schwöbels Feststellung erinnert, dass sich der Relativismus nur scheinbar als Weg zur Toleranz erweist, »insofern er allen religiösen Wahrheitsansprüchen bestenfalls eine partielle Einsicht in die Wahrheit zugesteht und somit die Schwächung ihrer Einsicht, die Unvollkommenheit ihrer Wahrheitserkenntnis, als Basis der Toleranz erklärt.«861 Aus christlicher Perspektive setzt er dieser Sicht ein Toleranzverständnis entgegen, das Toleranz in ihrer Beziehung zum Glauben zu definieren sucht. Toleranz, wie sie die eingangs geschilderte gesellschaftliche Situation der religiösen Pluralität fordert, nämlich als aktive Toleranz des Erduldens eines anderen Wahrheitsanspruches, als Anerkennung des Rechtes des Anderen auf Vertretung seiner Wahrheitsgewissheit, wird demnach nur dort möglich, wo sie in der eigenen Wahrheitsgewissheit begründet ist. »Das Tolerieren des anderen Glaubens ist nur möglich als Toleranz aus Glauben«862 ; als reflektierte Toleranz also, die aus dem eigenen Glauben heraus erwächst und die Bereitschaft zum Dialog mit einschließt. Dabei bleibt die Wahrheitsgewissheit des Glaubens, um dies erneut zu verdeutlichen, stets an die dem Menschen unverfügbare Erschließung der Wahrheit, die Gott selbst ist, zurückgebunden. Sie ist darum auch durchweg als »Wahrheit in Beziehung, d. h. die dem Menschen im Glauben gewährte Teilhabe an der Wahrheit, die Gott in seiner Selbsterschließung mitteilt«863, zu verstehen. Wird also in der christlichen Tradition Wahrheit streng theologisch gedeutet und allein Gottes Wesen als Wahrheit bestimmt, darf die »Einheit der Wahrheit« nicht in einem »System von Glaubensaussagen lokalisiert werden«, sondern vielmehr in Gott selbst: »Gott selbst [ist] die Einheit der Wahrheit, an der alle Wahrheiten, wo auch immer und wie auch immer sie erschlossen werden, partizipieren.«864 Darum wird Wahrheit auch im Glauben kein menschlicher Besitz, sondern bleibt die von Gott unverfügbar gewährte Gabe. Wahrheit im Glauben als von Gott gewährte Gabe wird somit nach evangelischem Verständnis zum zentralen Merkmal einer Toleranz aus Glauben. Als 860 861 862 863 864

Vgl. F. Doedens/W. Weiße, Religionsunterricht für alle, 192. Chr. Schwöbel, Toleranz aus Glauben, 25. Ebd. Ebd. A. a. O., 26.

Religionspädagogische Ansätze aus England und Wales

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aktive bzw. starke und somit tragfähige Toleranz kann sie allein den subtilen Strömungen der Intoleranz, die sich inmitten des Pluralismus u. a. in Form von fundamentalistischen Tendenzen bemerkbar machen, standhalten und entgegenwirken. Sie nimmt reflektierte im Gegensatz zu abstrakten und beliebigen Formen an. Da aus protestantischer Sicht dem Christen der Glaube von Gott unverfügbar gewährt worden ist, kann dem je Anderen in reflektierter Toleranz begegnet werden. Diesem Toleranzverständnis entsprechend kann und darf Wahrheit aus christlicher Perspektive nicht oberhalb oder jenseits des Glaubens gesucht werden, wie dies im Hamburger Religionsunterricht für alle suggeriert wird. Eine wechselseitig reflektierte Toleranz entspringt vielmehr einer intensiven Auseinandersetzung mit dem je eigenen Glauben und einer dialogischen Öffnung für den des je Anderen. Das Hamburger Modell mit seinem Anliegen des interreligiösen Lernens im Dienste der Toleranzerziehung ist prinzipiell als Reaktion auf die Herausforderungen eines weltanschaulich-religiösen Pluralismus zu begrüßen und durchaus zu würdigen. Die situative Beschreibung der religionssoziologischen Sondersituation Hamburgs und deren Konsequenzen für die Religiosität der Jugendlichen lassen einen deskriptiven Charakter erkennen. Dennoch kommt in seinen theologisch zweifelhaften Konzeptionen und Einsichten eine eher präskriptive Natur deutlich zum Vorschein. So werden Normen gesetzt, die von Glaubenden in dieser Form sicherlich nicht geteilt werden können. Dem Selbstverständnis der Religionen scheint dies nicht gerecht zu werden.

6.4

Religionspädagogische Ansätze aus England und Wales

Dass unser Zeitalter als multireligiös bezeichnet werden kann, ist für die Religionspädagogen in England und Wales noch weniger umstritten als hierzulande. Als Beispiel für England sei auf »römisch-katholische Grundschulen mit 30 Prozent getauften katholischen und 63 Prozent muslimischen Kindern«865 hingewiesen. Im Folgenden sollen Ansätze aus England und Wales866 in den Blick genommen werden. Es stellt sich die Frage, wie diese durch die Migrationen im Commonwealth867 bereits seit den 1950er Jahren von Pluralität geprägten Länder den Herausforderungen ihrer multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft begegnen. Die Pluralität des gesellschaftlichen Zusammenlebens findet sich im 865 K.E. Nipkow, Bildung in einer pluralen Welt, 448. 866 Es muss an dieser Stelle erklärt werden, dass die Bildungspolitik nicht gleichermaßen für alle vier Länder Großbritanniens gilt. Schottland und Nordirland haben eigene Erziehungsgesetze, England und Wales hingegen teilen die gleiche Politik. 867 Vgl. ausführlich dazu M. Havinden/D. Meredith, Colonialism and Development: Britain and its tropical colonies.

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Kleinformat auch an den Schulen wieder und wirkte sich folglich auch in der Vergangenheit zunehmend auf das Gesicht des Religionsunterrichts in England und Wales aus. Nach einem Überblick über die historische Entwicklung des Religionsunterrichts in England und Wales werden die pluralitätstheoretische Begründung des englischen »multi-faith approach« nach Jackson und die säkularisierungstheoretische Begründung nach Hull dargestellt und diskutiert – zwei Ansätze also, die für die Diskussion im United Kingdom von zentraler Bedeutung sind und die auch international große Beachtung erfahren.868 Im Zuge der Ausführungen zu den Konzeptionen und Inhalten der religionspädagogischen Ansätze aus England und Wales nach Jackson und Hull soll es dabei jedoch nicht um die Darstellung ihres jeweiligen Gesamtwerkes, sondern um die Darstellung der von ihnen vertretenen Begründungsfiguren gehen.

6.4.1 Historische Perspektive869 Der Religionsunterricht in England und Wales (religious education) war im Laufe der Zeit einem dramatischen Wandel unterzogen. Zurückzuführen ist dies u. a. auf das Ergebnis des Säkularisierungsprozesses sowie auf den größer werdenden Einfluss der neu aufstrebenden Religionswissenschaften in den späten 60er und 70er Jahren. Ebenso konnte auch die Anerkennung der wachsenden Vielfalt von Glaubensrichtungen und Kulturen in England und Wales unmöglich ohne Auswirkungen auf den schulischen Religionsunterricht bleiben.870 Seit dem Elementary Education Act von 1870, der die ersten vollständig vom Staat unterstützten Board Schools einrichtete, ist das Unterrichtsfach religious education (religiöse Erziehung), das damals jedoch noch religious instruction (religiöse Unterweisung) genannt wurde, ein fester Bestandteil der staatlichen Bildung in England und Wales. Aufgrund einer im Gesetz verankerten Gewissensklausel waren die Eltern dazu befugt, ihre Kinder von der religiösen Unterweisung abzumelden, und auch Lehrer und Lehrerinnen konnten später davon Gebrauch machen. Der Education Act von 1944 erläuterte das bereits zuvor etablierte duale System näher. Neben den staatlichen Schulen, den vollständig mit öffentlichen Geldern unterhaltenen County Schools (ab 1999 Community Schools), wurden die Voluntary Schools zum Teil noch von kirchlichen Körperschaften unterstützt und lediglich zu 85 % vom Staat finanziert. Das 868 Zur Darstellung weiterer religionspädagogischer Entwicklungen und Ansätze in England und Wales vgl. Chr. Knoblauch, Interreligiöser Dialog beginnt an den Wurzeln, 36 – 48. 869 Vgl. ausführlich dazu T. Copley, Teaching Religion – Fifty Years of Religious Education in England and Wales sowie W.K. Kay, Factors Bearing on Changes in Religious Education in Britain since 1944. 870 Vgl. R. Jackson, Art. England und Wales, 406 ff.

Religionspädagogische Ansätze aus England und Wales

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Gesetz von 1944 legte fest, dass sich alle County Schools nach einem allgemeinen Lehrplan (Agreed Syllabus) für religious instruction zu richten hatten. Eine aus vier Komitees bestehende Syllabus Conference musste durch die Local Education Authorities (LEAs) einberufen werden. Zu diesen Komitees gehörten neben den örtlichen Behörden und den Lehrerverbänden außerdem die Church of England und andere christliche Denominationen, da zu diesem Zeitpunkt der Gedanke an andere Religionen noch weit entfernt gewesen zu sein scheint. Eine entscheidende Änderung erlebte das Fach durch den Education Reform Act von 1988. Die Umbenennung in religious education (religiöse Bildung/Erziehung) wurde beschlossen und mit ihr das Ziel, ganz bewusst unterschiedliche religiöse Glaubenslehren zu vermitteln. Mit einer vollständig pädagogischen Ausrichtung sollte religious education nicht lediglich die Behandlung von Religionen beinhalten, sondern durch Bezugnahme auf die Erfahrungen der Schüler und Schülerinnen einen Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung leisten. Um einen Leitfaden für die Local Syllabus Conferences zu schaffen, wurden 1994 zwei nationale Modelllehrpläne veröffentlicht, die Unterrichtsstoff über sechs in Großbritannien vertretene Religionen enthielten (Christentum, Judentum, Islam, Hinduismus, Buddhismus sowie die Religion der Sikhs). Indoktrinierendes Lehren wurde gesetzlich ausdrücklich untersagt, und nicht-christlichen Glaubensvertretern wurde ein offizieller Platz in den Agreed Syllabus Conferences eingeräumt. Seit jeher stellt jedoch die chronische Knappheit an Ressourcen in Bezug auf Mitarbeiter/innen, Ausbildung und Unterrichtsmaterialien ein Hauptproblem des Religionsunterrichts in England und Wales dar. Besonders auf den Mangel an Fachlehrkräften hat eine von englischen Religionspädagogen871 initiierte Kampagne aufmerksam gemacht. So wird der Religionsunterricht seit September 2006 durch die Regierung offiziell als »Mangelfach« anerkannt, »was den Religionslehrkräften in Ausbildung eine ›goldene Begrüßung‹ beschert […].«872

6.4.2 Konzeptionen und Inhalte 6.4.2.1 Eine pluralitätstheoretische Begründung (R. Jackson) In seinem Buch »Rethinking Religious Education and Plurality«873 beschäftigt sich der englische Religionspädagoge Robert Jackson neben anderem ausführlich mit citizenship education, was im Deutschen wohl am ehesten durch den Term »Staatsbürgerkunde« wiedergegeben werden könnte, aber kaum übersetzt 871 Vor allem der TeachRE-Gruppe (www.teachre.com). 872 T. Copley, Lehrerausbildung für den Religionsunterricht, 157. 873 R. Jackson, Rethinking Religious Education and Plurality : Issues in Diversity and Pedagogy.

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werden kann. Insbesondere seine Auseinandersetzung mit dem citizenship education befürwortenden Erziehungswissenschaftler David Hargreaves lässt die zentralen Elemente von Jacksons religionspädagogischem Ansatz sowie eine pluralitätstheoretische Begründung des englischen multi-faith approach deutlich werden. (a) Citizenship Education Im September 2002 wurde citizenship education in den nationalen Lehrplan für den Sekundarbereich aufgenommen. »[O]ne of the motivating factors for including it was to promote social cohesion.«874 Des Weiteren ist zu den Gründen der Einführung von citizenship education sowie zu den Zielsetzungen des Faches für die so genannten key stages 3 und 4 (11 – 16 Jahre) zu lesen: »Pupils have to study the origins and implications of the diverse national, regional, religious and ethnic identities in the United Kingdom and the need for mutual respect and understanding […]«.875

Für die key stages 1 und 2 (5 – 11 Jahre) wird bereits empfohlen, die Kinder zu einer positiven Wahrnehmung der im United Kingdom lebenden nationalen, regionalen, religiösen sowie ethnischen Vielfalt zu ermutigen.876 Citizenship education soll also die bewusste Auseinandersetzung der Schüler mit der multireligiösen und multi-ethnischen britischen Gesellschaft und deren eingehende Betrachtung in staatlichen und konfessionellen Schulen obligatorisch machen und garantieren. Dabei wird citizenship education jedoch nicht als eigenständiges Unterrichtsfach erteilt, sondern muss vielmehr als ein Themengebiet gedacht werden, in welchem Themen, Anliegen und Fragen interkultureller Art ihren Platz finden. Einige Elemente können dabei durch spezielle andere Fächer vermittelt werden, wie beispielsweise durch den Geschichts- oder Religionsunterricht. An dieses Konzept schließt sich jedoch sogleich ein Einwand von Seiten der englischen religious education-Lehrkräfte an, die befürchten, dass ihr eigentliches Fach durch die verstärkte Behandlung und Miteinbeziehung von citizenship-spezifischen Anliegen an Substanz verliere und allmählich zu Gunsten von citizenship education weichen müsse.877 Um die Auswirkungen von citizenship education in Bezug auf den allgemeinen Umgang mit der religiösen Vielfalt in England und Wales auszuwerten und um der Frage nachzugehen, ob es die erhoffte Effizienz mit sich bringe, sei es laut Jackson jedoch noch zu früh. 874 R. Jackson, How School Education in Religion Can Facilitate the Promotion of Tolerance and Non-discrimination with regard to Freedom of Religion or Belief, 18. 875 A. a. O., 20. 876 Vgl. a. a. O., 18. 877 Vgl. ebd.

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(b) Citizenship Education an Stelle von Religious Education (D. Hargreaves) Mitte der 90er Jahre beteiligte sich David Hargreaves, Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität in Cambridge, an der Debatte um das Verhältnis zwischen citizenship, Religion und Erziehung. Er vertritt die Meinung, dass Religion in einer säkularen und pluralistischen Gesellschaft kein Fundament mehr für eine einheitliche Erziehung bilden kann. Aufgrund der Tatsache, dass Religion heutzutage nicht länger als zusammenschweißendes, allen gemeinsames Element für die britische Gesellschaft fungieren könne, drohe diese den Zusammenhalt zu verlieren – so fern nicht ein anderes gesellschaftliches Bindemittel die ehemalige Rolle der Religion übernimmt: »The problem of Britain as a pluralistic society is how to find some social cement to ensure that people with different moral, religious, and ethical values as well as social, cultural and linguistic traditions can live together with a degree of harmony. «878

Es muss also zum Wohle der Gesellschaft und um ein friedliches Zusammenleben zu garantieren etwas gefunden werden, das die Menschen mit verschiedener Tradition, Religion, Herkunft und Kultur in Großbritannien verbindet. Hierfür schlägt Hargreaves ein dreiteiliges Lösungskonzept vor879 : Ein erster Schritt wäre aus seiner Sicht eine zahlenmäßige Ausbreitung von religiösen bzw. konfessionellen Schulen innerhalb des Staates. Diese sollten sich durch ihr spezielles »Ethos« von den übrigen Schulen abheben und den Zusammenhang von Glaube und Ethik betonen. Die Eltern sollten dabei intensiv in die Schulpolitik miteinbezogen werden und die Schule samt deren Weltanschauung und Wertvorstellungen bei demokratischen Prozessen, beispielsweise in der Kommunalpolitik, repräsentieren. Dadurch soll nach Hargreaves’ Vorstellung durch die intensive Außenwirkung der konfessionellen Schulen für Religiosität geworben werden. Von vorneherein scheint er dabei mehr oder weniger von der Geschlossenheit und Homogenität der religiösen Gemeinschaften auszugehen, die mit staatlicher Unterstützung für »faith-based education« sorgen sollen. In einem zweiten Schritt sollte religious education als Unterrichtsfach in allen übrigen, von Hargreaves so genannten säkularen Schulen abgeschafft werden. Dieses Vorgehen rechtfertigt Hargreaves mit dem Argument, dass religious education zwar einen ethischen Zweck verfolge, dass heutzutage jedoch an den die säkulare und multireligiöse Gesellschaft spiegelnden Schulen keinerlei Konsens mehr über einen Zusammenhang zwischen Religion und Ethik herrsche. Ferner verliere das Konzept eines nicht-konfessionellen Kern-Religions878 D. Hargreaves, The Mosaic of Learning: Schools and Teachers for the Next Century, 31. 879 Vgl. a. a. O., 31 f.

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unterrichts, der an allen Schulen im Dienste von ethischer und moralischer Erziehung erteilt werde, immer mehr an Gültigkeit. Damit spricht Hargreaves sich deutlich gegen den Anfang der 70er Jahre entwickelten multi-faith approach (multireligiösen Ansatz) aus, in dem Kinder aus Familien von Juden, Muslimen, Hindus, Sikhs, Buddhisten u. a. in den Morgenandachten in Gestalt eines collective worship beieinander sind und gemeinsamen Religionsunterricht mit den Kindern aus christlichen oder konfessionslosen Elternhäusern erhalten.880 Er spricht diesbezüglich von einer »multi-faith pick’n’mix tour«881 an Religionen, welche die spezifischen Wahrheitsansprüche einer jeden Religion trivialisiere. Da citizenship-spezifische Werte mittlerweile Religion als »first language« in der britischen Gesellschaft weitestgehend abgelöst haben, solle – als dritte und letzte Maßnahme – religious education an säkularen Schulen durch citizenship education ersetzt werden. Während nämlich früher der christliche Glaube die gemeinsame moralische Grundlage für das bürgerliche Zusammenleben gebildet habe, garantiere nun die »public language of citizenship« den nötigen sozialen Zusammenhalt: Das, was allen Bürgern gemeinsam ist, was alle verbindet und zusammenhält, sei die Tatsache, dass sie trotz aller individueller Unterschiede in ein und demselben Land leben. Es gehe daher anstelle von religiösen Werten um Werte um des gemeinsamen Lebens willen, wie beispielsweise sozialer Zusammenhalt, ein Zusammenleben in Frieden und Harmonie, getragen von Demokratie. Dies alles an die Schülerinnen und Schüler an englischen Schulen zu vermitteln, könne laut Hargreaves nur die Aufgabe von citizenship education sein. Der englische Religionspädagoge Robert Jackson hingegen ist der Ansicht, dass religious education, anstatt durch citizenship education gänzlich ersetzt zu werden, einen gewichtigen Beitrag zu verschiedenen Aspekten von citizenshipspezifischen Erziehungszielen an allgemeinen Schulen zu leisten habe. (c) Religious Education im Dienste von Citizenship Education – Gegen Hargreaves’ Konzept zur Einschränkung von Religious Education Vehement widerspricht Robert Jackson882 dem von David Hargreaves geäußerten Verständnis der pluralen britischen Gesellschaft. Dieses sei beschränkt auf die offensichtliche religiöse Vielfalt und Säkularität und hätte eine zu scharfe Trennung zwischen »religiös« und »säkular« zur Folge. Insbesondere Schulen sollten gerade nicht, wie von Hargreaves ohne Einschränkung angenommen, »säkular« im direkten Gegensatz zu »religiös« sein, sondern vielmehr verschiedenen Religionen in unvoreingenommener Art und Weise begegnen. 880 Vgl. K.E. Nipkow, Bildung in einer pluralen Welt, 448. 881 D. Hargreaves, The Mosaic of Learning: Schools and Teachers for the Next Century, 34. 882 Vgl. R. Jackson, Rethinking Religious Education and Plurality, 133 ff.

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Darüber hinaus sollten sie ein Forum für Dialog und Austausch bieten. Es dürfe nicht außer Acht gelassen werden, dass es selbst an den von Hargreaves so genannten »säkularen« Schulen religiös interessierte Schülerinnen und Schüler gebe. Darüber hinaus könnten außerdem auch so genannte »nicht-religiöse« Schülerinnen und Schüler durchaus ein Interesse an religiösen Fragen sowie an den verschiedenen Religionen an den Tag legen und entwickeln. Indem die Erteilung von Unterricht in religious education, wie in Hargreaves’ Konzept vorgesehen, allein auf konfessionelle Schulen beschränkt wäre, würde die Möglichkeit zum Dialog und zum Austausch der Jugendlichen unterschiedlicher Herkunft untereinander an den allgemeinen Schulen stark eingeschränkt werden. Die Entwicklung von Dialogfähigkeit, der Fähigkeit zu interpretieren und sich in andere Weltanschauungen hineinzuversetzen, könne im Religionsunterricht an den staatlichen Schulen neben der Vermittlung von Wissen und Verständnis für andere Religionen und verschiedene Weltanschauungen erreicht werden. Hargreaves’ Behauptung, religious education habe für die Mehrzahl der britischen Gesellschaftsmitglieder keine Relevanz mehr für moralische und ethische Fragen und entbehre deshalb jeglicher Legitimation, beruhe außerdem auf der fälschlichen Annahme, dass religious education lediglich einen moralischen Zweck verfolge, den es durch die Verbreitung einer religiösen Sicht der Dinge erreichen wolle. Damit übergehe und ignoriere er jedoch schlichtweg mehr als 30 Jahre an empirischer Forschungsarbeit über religiöse Erziehung. In dieser Zeit seien alternative Modelle des Faches entworfen und stetig weiterentwickelt worden, welche die Auswirkungen der Säkularisierung sowie der religiösen Pluralität sowohl in globaler als auch in lokaler Hinsicht berücksichtigen und ihnen Rechnung tragen. Jackson möchte also betonen, dass religious education einen durchaus gewichtigen Beitrag zur Erlangung der Ziele leisten kann, die auch durch die Erteilung von citizenship education verfolgt werden sollen. Er bezieht sich dabei auf eine Stellungnahme der ehemaligen Ministerin für Bildung und Erziehung, Estelle Morris, die deutlich machte, dass citizenship education den Religionsunterricht auf komplementäre Weise ergänzen, nicht ersetzen solle.883 Anstatt einander zu verdrängen, sollten citizenship- und religious education gemeinsam ihre zum Teil identischen Ziele verfolgen und zu diesem Zweck miteinander kombiniert werden. Dabei stellt Jackson die durchaus vorhandenen religiösen Aspekte von citizenship education in den Vordergrund: So zeigen interreligiöse Spannungen in Großbritannien beispielsweise, dass es sich bei Religion nicht um eine Privatsache, sondern um eine öffentliche Angelegenheit handelt. Die 883 »Citizenship education complements RE; it does not replace it.« E. Morris in R. Jackson, Rethinking Religious Education and Plurality, 139.

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gesamte Gesellschaft kann also nur davon profitieren, wenn ihre Schülerinnen und Schüler mit der »Sprache« der Religionen vertraut gemacht werden, wie dies im Religionsunterricht angestrebt wird. Zusätzlich fördert religious education aufgrund der unterschiedlichen Ansichten der verschiedenen Religionen laut Jackson den Dialog, die Fähigkeit nachzudenken und bietet darüber hinaus Raum zur Diskussion. Vorurteilen wird aktiv entgegengewirkt und das intellektuelle und moralische Bewusstsein der Schüler und Schülerinnen somit erweitert. All diese Punkte können ohne Zweifel ebenfalls als zentrale Elemente des citizenship-Gedankens bezeichnet werden. Jackson kommt also zu dem Schluss, dass religious education keinesfalls ausgeklammert werden darf, sondern selbst von Kritikern wie Hargreaves in ihre Überlegungen miteinbezogen werden muss. (d) Religious Education in neuer Gestalt Trotz seiner strikten Argumentation zu Gunsten des Religionsunterrichts erkennt Jackson allerdings auch, dass religious education zumindest teilweise eine neue Gestalt annehmen und sich Neuerungen unterwerfen muss, um gegenwartsrelevant und zukunftsfähig zu bleiben.884 In Anbetracht der pluralen britischen Gesellschaft und der Auswirkungen der Globalisierung sei es, so Jackson, nicht möglich, dass religious education aus christlicher Perspektive erteilt und der christliche Glaube als »die« Wahrheit vermittelt werde. Die Betrachtung des Christentums könne und dürfe nicht der einzige Gegenstand eines Religionsunterrichts in der heutigen Gesellschaft sein, der dadurch eine unverhältnismäßig beschränkte und nicht zu legitimierende Form annehmen würde. »The traditionalist Christian approach to religious education was seen as a nostalgic attempt to insulate young people in the common school from the inevitable influences of plurality, rather than helping pupils to engage with them, and as over-emphasizing the influence of schools and teachers on the formation of pupils’ identities.«885

Der herkömmliche christliche Ansatz ist nach Jacksons Aussage also ein nostalgischer und somit überholter Versuch, Jugendliche gegen den unvermeidbaren Einfluss des Pluralismus abzuschirmen, anstatt ihnen Hilfe dabei zu leisten, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Vielmehr soll sich ein moderner Religionsunterricht durch neue Maßnahmen wie zum Beispiel durch maximale Schülerselbstbeteiligung auszeichnen. Für ein größeres Selbstvertrauen, mehr Lernengagement und eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Lehrkraft und Klasse kann auch der Religionsunterricht auf 884 Vgl. R. Jackson, Rethinking Religious Education and Plurality, 161 ff. 885 A. a. O., 161.

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das Miteinbeziehen von Schülerinnen und Schülern beim Planen sowie beim Bewerten von Lehr- und Lernprozessen nicht verzichten. Darüber hinaus sollen mit dem interpretativen und dem dialogischen Ansatz neue pädagogische Konzepte angewandt werden. Bei Ersterem wird der Schwerpunkt auf die Beziehung von Einzelpersonen zu ihrer jeweiligen religiös-kulturellen Gemeinschaft gesetzt. Die persönlichen Elemente von Religionen werden betont und Religion als gelebte menschliche Erfahrung betrachtet. Das im interpretativen Ansatz angewandte Repräsentationsmodell pendelt und bewegt sich dabei zwischen Fallstudien über Einzelpersonen und deren repräsentativen individuellen Erfahrungen im Kontext ihrer Gemeinschaft auf der einen und Aspekten der jeweils breiteren religiösen Tradition auf der anderen Seite hin und her, um gegenseitige Erläuterungen sowie das Austauschen von Informationen möglich zu machen. Außerdem ist es für diese Methode erforderlich, dass die Konzepte der Lernenden mit den Konzepten und Erfahrungen der jeweiligen Gemeinschaftsmitglieder verglichen und einander kontrastierend gegenübergestellt werden.886 Dagegen liegt beim dialogischen Ansatz der Schwerpunkt auf einem interreligiösen und interkulturellen Dialog innerhalb des Klassenzimmers, bei welchem die Schüler als Angehörige jeweils verschiedener religiöser Gemeinschaften selbst den Ausgangspunkt, den Gegenstand und die Hauptinformationsquelle des Unterrichts darstellen. Dieses Konzept der Interaktion und Kommunikation der Schüler und Schülerinnen untereinander mit ihrem jeweiligen sozialen, religiösen und kulturellen Hintergrund stellt eine Alternative zu Hargreaves’ Modell dar, in welchem erwachsene Schlüsselpersonen die Rolle der Repräsentanten von religiösen Gemeinschaften in Interaktion und Dialog miteinander einnehmen. Unter anderem auch durch das Knüpfen von EmailKontakten zu anderen Schulen liegt in diesem Ansatz ein Potential für wachsendes Verständnis über die Grenzen verschiedener Weltanschauungen hinaus sowie für die Minimierung der negativen Effekte einer separaten religiösen Erziehung. Beispiele aus der Praxis für diese Art des multireligiösen Ansatzes, wie eine Grundschule in Leicester mit einer muslimischen Mehrheit von 85 %, belegen dies offenkundig.887 Bei diesen Konzepten sollen Jugendliche von den Ansichten und über die Ansichten anderer lernen und zugleich Klarheit über ihren eigenen Standpunkt gewinnen, indem sie gegenüberstellen und vergleichen. Nicht die Förderung bestimmter Glaubensrichtungen ist das Ziel, sondern die Schaffung der Möglichkeit, über verschiedene religiöse und philosophische Ansichten zu lernen, zu reflektieren, sie zu interpretieren und zu hinterfragen. Den Einzelpersonen 886 Vgl. R. Jackson, How School Education in Religion Can Facilitate the Promotion of Tolerance and Non-discrimination with regard to Freedom of Religion or Belief, 23. 887 Vgl. a. a. O., 23 f.

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werden dabei unterschiedliche religiöse und säkulare Glaubensansichten zugestanden, und die religiöse und ideologische Vielfalt wird befürwortet. Die durch diese Ansätze vermittelte Einstellung zur Pluralität führt zu der Ansicht, dass Wahrheitsfragen nicht öffentlich geklärt werden können. Für Meinungsverschiedenheiten sollen im Sinne eines »respectful disagreement(s)«888 friedliche Lösungen gefunden werden, und neben der Fähigkeit, die eigene Glaubensposition zu begründen, soll außerdem die Bereitschaft gefördert werden, die gegebenenfalls besseren Argumente anderer anzuerkennen. Die Betrachtung religiöser Praktiken und Aussagen soll mit Respekt sowie mit intellektueller Gründlichkeit und Fairness geschehen. Auf diese Weise wird an Stelle des negativen Pluralismus, i. e. getrennte religiöse Erziehung, eine Form des so genannten positiven Pluralismus unterstützt. Dieser kann mit Cush wie folgt charakterisiert werden: »Positive pluralism actually welcomes plurality as an opportunity rather than a problem. […] Positive pluralism does not teach that all faiths are equally valid like the relativist, or all paths to the same goal like the universalist. It takes the differences and incommensurability of world views seriously, but approaches them from a viewpoint of ›epistemological humility‹ or ›methodological agnosticism‹.«889

Religious education soll auf diese Weise also zur Entwicklung von Toleranz beitragen, deren Ziel es ist, Unterschiede zu erkennen und herauszuarbeiten, sie auszuhalten und mit ihnen leben zu können. So darf Schule Religion keinesfalls ausklammern bzw. in den privaten Bereich verlagern, sondern muss – idealer und nahe liegender Weise im Religionsunterricht – ein Forum für Dialog und Austausch bieten, um die Jugendlichen zu einer gesunden Auseinandersetzung mit den Einflüssen der Pluralität zu befähigen und um deren eigenes »SelbstBewusstsein« und ihre eigene Identität durch Begegnungen mit neuen Ideen und Erfahrungen zu vertiefen und zu festigen. Hierbei gelten Verständnis und Kenntnis als notwendige, jedoch, wie gegebenenfalls Beispiele von gut informierten Rassisten zeigen können, keineswegs hinreichende Bedingungen für Toleranz und den Abbau von Vorurteilen. Die hier geschilderte Art von Religionsunterricht an allgemeinen Schulen kann sicherlich auch auf Lehrer, Schüler und Eltern mit verschiedensten Standpunkten in Bezug auf religiöse Fragen ansprechend wirken. Als ein allumfassendes Unterrichtsziel des Faches, welches mit einer derartigen Ausrichtung und einem derartigen Profil auf breite gesellschaftliche Zustimmung hoffen kann und in welchem durchaus auch die Absichten einer citizenship education

888 R. Jackson, Rethinking Religious Education and Plurality, 142. 889 D. Cush, Models of Religious Education in a Plural Society, 384.

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aufleuchten, kann mit dem Religionspädagogen Trevor Cooling formuliert werden: »[Religious education should] encourage debate between people of very different, and often fundamentally opposed views, and […] assist in the development of strategies which enable people to work together for the common good despite their deeply held differences.«890

(e) Ausblick: Internationale Projekte Nicht zuletzt als Folge des Terrorismus und zur Förderung der Menschenrechtserziehung besteht starkes internationales Interesse daran, den Aspekt der religiösen Vielfalt in Schule und Erziehung einzubringen. Zu diesem Zweck ist eine Zusammenarbeit zwischen Experten auf dem Gebiet der religiösen, der interkulturellen sowie der Menschenrechtserziehung notwendig. Im Folgenden soll ein kurzer Blick auf zwei Projekte geworfen werden, die auf einer solchen Kooperation basieren.891 Im europäischen Kontext wurde als direkte Reaktion auf die Ereignisse des 11. Septembers 2001 ein Projekt mit dem Titel »Interkulturelle Erziehung und die Herausforderung der religiösen Vielfalt und des Dialogs« ins Leben gerufen. Mit der Unterstützung des Europarats verfolgte es das Ziel, bis Ende 2004 in mindestens 40 Mitgliedsstaaten Lernmaterialien für Politik und Praxis herzustellen. Als obligatorische Lehrplanelemente wurden dabei neben der Förderung von Toleranz gegenüber religiösen und säkularen Standpunkten, Menschenrechtserziehung sowie citizenship- und Konfliktmanagement auch Konzepte gegen Rassismus und Diskriminierung in einer Welt voller religiöser Pluralität eingeführt. Ein zweites Projekt mit einer globaleren Ausrichtung nahm durch die internationale Konferenz der Vereinten Nationen gegen religiöse Diskriminierung und Intoleranz in Madrid im November 2001 seinen Anfang. Es sollten hierbei Strategien zur Förderung von Religions- und Glaubensfreiheit durch Bildung und Erziehung entwickelt werden. Darüber hinaus war die Vertiefung von Kenntnis und Verständnis der Schülerinnen und Schüler gegenüber andersartigen Weltbildern und Glaubensansichten eine der Hauptzielsetzungen dieser Initiative. Um die in Madrid artikulierten Absichten weiter zu verfolgen, lud die »Oslo Coalition on Freedom of Religion or Belief« im Dezember 2002 Experten aus den Gebieten der Menschenrechts-, der religiösen Erziehung und des interreligiösen Dialogs zu einem Seminar in Oslo ein.892 Durch die Etablierung 890 T. Cooling, Unpublished Letter to the British Humanist Association, 2002; zitiert nach R. Jackson, Rethinking Religious Education and Plurality, 166 (Hervorhebungen durch Vf.). 891 Vgl. R. Jackson, Rethinking Religious Education and Plurality, 170 ff. 892 Die Ergebnisse dieses Seminars wurden festgehalten in: L. Larsen/I.T. Plesner (Hg.), Teaching for Tolerance and Freedom of Religion or Belief.

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eines interdisziplinären und globalen Netzwerkes sollte dabei die Umsetzung der in Madrid gefassten Ziele verfolgt werden. 6.4.2.2 Eine säkularisierungstheoretische Begründung (J.M. Hull) Im folgenden Abschnitt soll ein Beitrag von John M. Hull in den Blick genommen werden, in dem er sich unter dem Titel »Der Segen der Säkularität« wie in keiner anderen Veröffentlichung innerhalb seines umfassenden Werkes zur Säkularität der Religionspädagogik in England und Wales, zu deren Konsequenzen für die Religionspädagogik sowie zu den Chancen einer säkularen Religionspädagogik äußert.893 John M. Hull ist Professor für Religionspädagogik und Erziehungswissenschaften an der Universität Birmingham und gilt als einer der führenden englischen Religionspädagogen. Im deutschsprachigen Raum ist er bisher vor allem durch sein Buch »Im Dunkeln sehen«894 bekannt geworden, in dem er den Prozess seiner eigenen Erblindung beschreibt. (a) Die Säkularität der Religionspädagogik in England und Wales Die Säkularität der Religionspädagogik in England und Wales lässt sich nach Hull unter verschiedenen Aspekten betrachten. Neben der Säkularität des religionspädagogischen Lehrkörpers und dem Verhältnis zu religiösen Gemeinschaften kann sie außerdem an der Säkularität sowohl des Lehrplans als auch der Zielsetzungen der Religionspädagogik festgemacht werden. – Die Säkularität des religionspädagogischen Lehrkörpers Bis zum Jahre 1870 handelte es sich bei so gut wie allen Schulen in England und Wales um kirchliche Schulen, deren Lehrer durch den Ortspfarrer angestellt wurden. Ab 1944 wurde die Überprüfung der Religionserziehung in die Hände des Schulüberprüfungsdienstes der Regierung gelegt. Die kirchliche Überwachung der Religionslehrer war somit beendet. In den weiterführenden Schulen wird der Religionsunterricht heute – mit einigen Ausnahmen – durch Spezialisten mit akademischem Grad in Theologie oder Religionswissenschaften erteilt.895 Dabei stellt die Frage nach dem Vorhandensein einer persönlichen religiösen Überzeugung kein entscheidendes Kriterium für eine Anstellung dar. Es wird vielmehr als Kompliment für die jeweilige Lehrkraft gewertet, wenn keinerlei Spuren einer persönlichen Glaubenseinstellung im Unterrichtsgeschehen erkennbar sind.896 Hull stellt eine erhebliche Zunahme der Säkularität unter den Religionslehrern in den 893 Vgl. J.M. Hull, Der Segen der Säkularität, in: W. Weiße (Hg.), Wahrheit und Dialog, 167 – 179. 894 Vgl. J.M. Hull, Im Dunkeln sehen: Erfahrungen eines Blinden. 895 Zur Ausbildung der Lehrkräfte für den Religionsunterricht in Großbritannien vgl. T. Copley, Lehrerausbildung für den Religionsunterricht, 156 ff. 896 Vgl. J.M. Hull, Der Segen der Säkularität, 169.

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letzten Jahrzehnten bei gleichzeitiger Stärkung des Vertrauens der Schüler in die Objektivität und Integrität ihrer Lehrkräfte fest. Dies ist auf die Einsicht der Schüler zurückzuführen, dass ihre Religionslehrer rein dabei Hilfe leisten wollen, über Religion und deren Werte und Normen zu reflektieren, ohne damit die Vermittlung ihres jeweiligen persönlichen Glaubens zu bezwecken. Dadurch ist eine faire Behandlung aller Schüler, ob Atheisten oder Gläubige, gewährleistet. Hull betrachtet somit die Säkularität des Berufs als Eckstein für die Begründung der Existenz eines vorgeschriebenen Religionsunterrichts an den staatlichen Schulen einer multikulturellen Demokratie. – Das Verhältnis zu religiösen Gemeinschaften Der zweite von Hull beschriebene Segen der Säkularität liegt seiner Ansicht nach in dem Verhältnis zwischen Religionspädagogik und den religiösen Gemeinschaften. Während diese »früher die Stifter der Religionserziehung waren, sind sie nun zum Objekt religiöser Studien geworden.«897 Aufgrund der Tendenz der Regierung, den Lehrplan als Summe verschiedener Lehreinheiten zu unterschiedlichen Religionen zu betrachten, soll jedoch durch die Agreed Syllabus Konferenz einem Konkurrenzdenken der religiösen Gemeinschaften untereinander entgegengewirkt werden. Die Mitglieder dieser Konferenz werden entsprechend ihrer Stärke im lokalen Gefüge ausgewählt. Nach Möglichkeit arbeiten die religiösen Gemeinschaften an der Erstellung ihrer jeweiligen Lehrplaneinheit mit, um zu einer möglichst akkuraten Darstellung der Religionen als Zweck des Religionsunterrichts zu gelangen. – Die Säkularität des Lehrplans In Bezug auf die Säkularität des Lehrplans erinnert Hull an eine Zeit der Religionspädagogik in England und Wales, als die Religionen auf religiöse Weise studiert wurden. Aufgrund des wachsenden Pluralismus der Schulen und des Lehrplans sollen die Religionen jedoch nicht mehr auf religiöse, sondern auf säkulare Weise in den Blick genommen werden. Nach dem Versuch, in der Zeit zwischen den frühen 1920er und den 60er Jahren Schule und Kinder zu christianisieren, vollzog sich im darauf folgenden Jahrzehnt der Wandel von einem christlichen Lehrplan zu einem Lehrplan der Weltreligionen. Der Unterricht erfolgte weniger zur Vertiefung des Glaubens als vielmehr zur Vertiefung des Verständnisses. Dies wiederum brachte methodologische Probleme mit sich. Da die christliche Religion zuvor als Teil der praktischen Theologie bzw. als »eine Art Gebrauchsanweisung«898 ohne größere methodologische Probleme – bis auf die Frage nach der Schülermotivation – unterrichtet wurde, stellte nun die Frage nach der angemessenen Art und Weise, Weltreligionen zu unterrichten, eine neue Herausforderung 897 A. a. O., 169 f. 898 A. a. O., 172.

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dar. Sowohl mit diesen methodologischen Entwicklungen als auch mit denen der Lehrpläne befasst sich nun der von Hull so bezeichnete säkulare Zweig der Erziehungswissenschaften, da die laufenden Prozesse nicht unter der Kontrolle der Kirche oder irgendeiner religiösen Gemeinschaft stehen. – Die Säkularität der Ziele und Zielsetzungen der Religionspädagogik Die Ablösung des religiositäts- und glaubensfördernden Ansatzes durch den säkularen brachte als Konsequenz den Wandel des Zwecks des Religionsunterrichts mit sich. Fortan ist also nicht die Glaubensförderung, sondern die allgemeine menschliche Förderung und Bildungsförderung des Kindes auch die Zielsetzung des Religionsunterrichts. Im Allgemeinen kann von einer Einigung darüber gesprochen werden, dass die Ziele des Religionsunterrichts an den staatlichen Schulen einen Beitrag zu der spirituellen, moralischen, persönlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung des Kindes zu leisten haben. Die Religionserziehung nimmt also in dieser Hinsicht keinerlei Sonderstellung ein, da sich diese Forderung auch an die übrigen Schulfächer richtet. (b) Konsequenzen der Säkularität für die Religionspädagogik Die beschriebenen Prozesse, welche die Religionspädagogik in England und Wales während der vergangenen Jahrzehnte durchlaufen hat, blieben nicht ohne Konsequenzen. Die Entwicklung der Religionspädagogik hin zu einer säkularen Disziplin scheint für Hull unbestreitbar. Als Folge davon ist eine deutliche Entfernung von der Theologie zu erkennen. Nicht zuletzt die Tatsache, dass sie mit anderen Erziehungswissenschaftlern und Pädagogen zusammenarbeitet, setzt die englische Religionspädagogik dem Vorwurf der theologischen Oberflächlichkeit aus. Als eine weitere Konsequenz, mit der sie sich aufgrund ihrer Entwicklung konfrontiert sieht, ist der Verlust des Interesses von Seiten der Theologen sowie der römisch-katholischen bzw. anglikanischen Kirche spürbar. Diese sehen ihren Zuständigkeitsbereich offensichtlich verstärkt in konfessionsgebundenen sowie privat geförderten Schulen. Die englische Religionspädagogik, »die um ihre Unabhängigkeit gekämpft hat«899, muss nun also politisch und erzieherisch auf eigenen Füßen stehen. (c) Chancen der säkularen Religionspädagogik Zu den Chancen der säkularen Religionspädagogik zählt Hull die Tatsache, dass sie sich nicht allein mit der bloßen Betrachtung der Religionen befasst, sondern dass Religion und Religionen vielmehr als eine kritische Alternative zu sozialen und persönlichen Werten präsentiert werden. Durch die Kombination der 899 A. a. O., 177.

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»Kritik an der Religion mit der Religion als Kritik«900 kann laut Hull der Anspruch der Religionspädagogik, als Erbe der »europäischen Erweckung«901 betrachtet zu werden, legitimiert werden. Des Weiteren leistet der Religionsunterricht in England und Wales einen Beitrag zu dem im modernen Europa verstärkt angestrebten tieferen Verständnis zwischen den Weltreligionen. Dies geschieht aufgrund der Tatsache, dass in seiner Gestalt eine Partnerschaft zwischen den Weltreligionen zum Ausdruck kommt, welche zu gegenseitigem Verständnis führt. Hull stellt abschließend fest, dass es für die Schülerinnen und Schüler nur wenige und seltene Gelegenheiten dazu gibt, frei vom Druck materieller Werte zu sein. Eine dieser Gelegenheiten finde sich im Klassenraum mit einer säkularen Religionspädagogik.

6.4.3 Analyse: Der englische »multi-faith approach« und Toleranz Die vorangegangenen Erläuterungen zu Ausschnitten von Robert Jacksons »Rethinking Religious Education and Plurality« sowie zu John Hulls »Der Segen der Säkularität« gewähren sicherlich nur einen fragmentarischen, aber dennoch durchaus beispielhaften Einblick in die Debatten und Entwicklungen der englischen Religionspädagogik. Einigen kritischen Rückfragen, vor allem bezüglich des postulierten Anspruchs auf Toleranzfähigkeit, soll nun in dieser Analyse Raum gegeben werden. Hinsichtlich Hulls betrachtetem Beitrag muss es dem Leser zunächst gestattet sein, eine grundlegende Frage zu stellen. Diese richtet sich auf Hulls Konzept und Verwendung des Begriffes der Säkularität. Was bedeutet »Säkularität«? Mit welcher exakten Konnotation ist der Gebrauch dieses Wortes hier belegt? Ob es sich bei Hulls Konzept der Säkularität um ein gesetzliches, politisches, empirisches oder theoretisches handelt, wird durch die Art seiner Verwendung nicht präzisiert. Auch Schweitzer verweist in seiner Response auf Hulls Artikel »Religious Education in Germany and England«902 kritisch darauf, dass Hull dort ebenso jeglicher Präzisierung entbehrt, die der Gebrauch dieses schwierigen Terms erforderlich machen würde.903 Schweitzer macht dabei auf die internationale Diskussion über Säkularität und deren große Komplexität aufmerksam. So scheint das Konzept der Säkularität mittlerweile derart umstritten, dass So900 901 902 903

Ebd. Ebd. Vgl. J.M. Hull, Religious Education in Germany and England. Vgl. F. Schweitzer, Let the captives speak for themselves! More dialogue between religious education in England and Germany, dort bes. 147.

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ziologen wie Niklas Luhmann von dessen Gebrauch abraten und es für akademische Zwecke nicht länger als geeignet bewerten.904 Geht man nun davon aus, dass »säkular« bei Hull allgemein im Sinne von »religiös entfremdet« zu verstehen ist, so muss sich daran sogleich die Überlegung anschließen, ob und wie Religionsunterricht auf »säkulare« Weise überhaupt funktionieren kann. Die Oberflächlichkeit einer religionskundlichen Wissensvermittlung mit absoluter Verpflichtung zu Objektivität kann an die Tiefe subjektiver religiöser Erfahrung keineswegs heranreichen, und die Vermittlung von reinem Faktenwissen über die Religionen wird diesen nicht gerecht. Bei der Behandlung der verschiedenen Religionen auf der bloßen Sachebene kommen diese zwar dem Inhalt nach vor, die Religionsgemeinschaften selbst spielen jedoch keine aktive Rolle. Die Betrachtung der sichtbaren Außenseite der religiösen Phänomene greift, so insbesondere Nipkow, religionspädagogisch zu kurz und ist menschlich »bedeutungslos«905. Das Modell einer säkularen Disziplin mit durchaus heiligem Inhalt ist also höchst fragwürdig. So ist es den Religionen doch wesenseigen, auf die Ganzheitlichkeit des Menschen abzuzielen, was einen neutralen und völlig objektiven Religionsunterricht unmöglich macht. Die an die Religionslehrer herangetragene Forderung, den eigenen Glauben nach Möglichkeit zu verbergen, kann auch aus diesem Grund in der Tat als nicht zu unterschätzende Zumutung empfunden werden. Abgesehen davon könnte bereits die unterschiedlich gestaltete Länge und Ausführlichkeit der verschiedenen Lehrplaneinheiten zu den jeweiligen religiösen Gemeinschaften als Verstoß gegen das Neutralitätsgebot gewertet werden. Bekanntlich hat der englische multireligiöse Ansatz keine bestimmte Religionsgemeinschaft und Theologie zur Grundlage. Da nach dem Verständnis des multireligiösen Religionsunterrichts alle Religionen gleichwertig behandelt werden müssen, wurde die Religionswissenschaft den historischen Religionen gleichermaßen als fundierende Bezugsdisziplin und neutrale Basis unterlegt.906 Was zunächst den Anschein eines unserer Zeit angemessenen, fairen und aufgeschlossenen Modells für Religionsunterricht in der pluralen Gesellschaft erweckt, weist jedoch neben den oben genannten noch weitere Schattenseiten auf. Interessanterweise finden sich nach Jahren dieser Art von multireligiöser Praxis Selbstkorrekturen in der englischen Religionspädagogik, in denen von einer fundamentalen Selbsttäuschung die Rede ist. Den Analysen von Hughes und Thatcher907 zufolge wirkt sich das englische multireligiöse Paradigma, welches unter dieser Bezeichnung ausdrücklich plural ansetzen will, faktisch verein904 905 906 907

Vgl. ebd. K.E. Nipkow, Bildung in einer pluralen Welt, 451. Vgl. a. a. O., 449. Vgl. E. Hughes, Religious Education in the Primary School: Managing Diversity und A. Thatcher, A Critique of Inwardness in Religious Education.

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heitlichend aus, da es zu gefährlichen Allgemeinheiten Zuflucht nimmt. Somit scheint hier eher einer abstrakten und beliebigen als einer reflektierten Toleranz Vorschub geleistet zu werden, wie auch aus Nipkows Urteil hervorgeht: »Sie nivellieren die wahrheitsrelevanten existentiellen Erfahrungen in den Glaubensgemeinschaften und schwächen darüber hinaus die politische Urteilsbildung. […] Eine vorgeblich pluralistische Religionspädagogik wirkt tendenziell antipluralistisch.«908 Wichtige Unterschiede zwischen den Religionen werden unter vereinheitlichende neue dritte Größen zusammengefasst, wie beispielsweise »Spiritualität«, »Heiliges«, »universale Suche« u. ä. Was bequem universalisiert werden kann, wird von den spezifischen Traditionen der Religionsgemeinschaften abgeschöpft. Sie werden filetiert in dem Sinne, dass ihnen diejenigen Elemente, die in der menschlichen Natur allgemein verwurzelt zu sein scheinen und deren religionspädagogische Entwicklung ein harmonisches gesellschaftliches Zusammenleben garantieren soll, entnommen werden. Ob derartige Beschneidungen und Vereinheitlichungen den richtigen Weg zur Bekämpfung von Intoleranz und zur Förderung des gegenseitigen Verständnisses darstellen, erscheint fraglich. Der multireligiöse Religionsunterricht sieht sich mitunter mit dem Verdacht eines entstehenden »mishmash« konfrontiert909, der sich laut Knoblauch910 in erster Linie auf eine fehlgeleitete Interpretation des phänomenologischen Ansatzes nach Ninian Smart911 bezieht. Dabei entsteht auf Schülerseite Verwirrung (»confusion«), sowohl bezogen auf unklares Wissen als auch in Bezug auf die eigene Identität. Die Glaubensinhalte der Religionen, insbesondere des Christentums, sind der Gefahr der Verwässerung (»dilution«) sowie der Verfälschung (»corruption«), d. h. der Verbiegung der Lehre als Folge relativierender Vergleiche, ausgesetzt. Darüber hinaus vollzieht sich eine Trivialisierung (»trivialization«) und Enteignung (»deprivation«) des eigenen nationalen christlichen kulturellen Erbes. Die Ergebnisse mehrerer Felduntersuchungen bestätigten zumindest den ersten Aspekt des »mishmash«-Vorwurfs. So wurde die Vermutung bekräftigt, dass Verwirrung und Verwechslung anstelle von differenzierter und toleranzfähiger Kenntnis das Ergebnis eines Unterrichts über andere Religionen sein kann.912 Kritischen Betrachtungen der Unterrichtspraxis zufolge913 geht durch die Nebeneinanderstellung und den Vergleich von Phänomenen einzelner Dimensionen aus verschiedenen Religionen im Unterricht häufig der Gesamtzusammenhang verloren. Bruchstückhafte und 908 A. a. O., 450. 909 Vgl. R. Homan/L. King, Mishmash and its Effects upon Learning in the Primary School; J.M. Hull, Mishmash: Religious Education in Multi-Cultural Britain. 910 Vgl. Chr. Knoblauch, Interreligiöser Dialog beginnt an den Wurzeln, 38. 911 Vgl. N. Smart, Secular Education and the Logic of Religion; ders., What is Religion? 912 Vgl. K.E. Nipkow, Bildung in einer pluralen Welt, 489. 913 Vgl. Chr. Knoblauch, Interreligiöser Dialog beginnt an den Wurzeln, 38.

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isolierte Darstellungen der verschiedenen Religionen lassen die innere Logik und den Sinngehalt der Themen oftmals vermissen. Dies hat zur Folge, dass den Schülerinnen und Schülern Bezugspunkte zu ihren lebensweltlichen Erfahrungen und Zusammenhängen innerhalb der gelehrten Religionen fehlen. In einer aktuellen empirisch-explorativen Vergleichsstudie fragt Knoblauch nach Spuren interreligiöser Verständigung im englischen und im deutschen Religionsunterricht.914 Die komprimierte Darstellung seiner durch Schüler- und Lehrerinterviews sowie durch Unterrichtsanalysen erlangten Forschungsergebnisse915 lässt hinsichtlich unserer Frage, inwieweit der englische multi-faith approach der Toleranzfähigkeit auf Seiten der Schülerinnen und Schüler förderlich ist, aufhorchen. Dass zwar der ausdrückliche Anspruch besteht, eine Erziehung zu Toleranz voran zu treiben, wird erneut deutlich, wenn als »elementares Prinzip der Religious Studies […] die konsequente und nachhaltige Vermittlung einer toleranten und respektvollen Grundhaltung gegenüber anderen Überzeugungen und Religionen«916 sowie eine »auf Toleranz und Respekt«917 basierende Konzeption derselben benannt wird. Allerdings weist die anschließende Analyse der empirischen Erhebungen in eine ganz andere Richtung. So wird den Schülerinnen und Schülern eine »tendenziell unkritische Grundhaltung gegenüber Andersdenkenden« attestiert, die dazu führen kann, dass Unterschieden zwischen den Religionen »eine untergeordnete Bedeutung zugemessen wird.« Besondere Beachtung verdient weiter die Feststellung, dass widersprüchliche Überzeugungen »teilweise unangenehme Störfaktoren« darzustellen scheinen und daher »häufig nur am Rande wahrgenommen oder völlig übergangen«918 werden. Auch die von Knoblauch befragten Religionslehrkräfte »betonen überwiegend die Suche nach Gemeinsamkeiten zwischen den Religionen und stufen die Entwicklung von Toleranz höher ein als die oft schwierige Auseinandersetzung mit Unterschieden.«919 In keinster Weise entsprechen diese Tendenzen einem differenztheoretischen Ansatz, wie er als wünschenswert für die Förderung einer Erziehung zu reflektierter in Abgrenzung zu der hier offenkundig erkennbar werdenden abstrakten Toleranz erarbeitet wurde. Vielmehr besteht die Gefahr, einem religiösen Relativismus anheim zu fallen, wenn auf der »intensiven Suche nach Toleranz und Gemeinsamkeit […] Unterschiede und spezifische Charakteristika der Reli-

914 Vgl. Chr. Knoblauch, Interreligiöser Dialog beginnt an den Wurzeln. 915 Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass sich Knoblauchs Untersuchungen offenbar auf je eine englische und eine deutsche Schule beschränken, vgl. a. a. O., 72 ff. 916 A. a. O., 197 (Hervorh. d.Vf.). 917 A. a. O., 198 (Hervorh. d. Vf.). 918 A. a. O., 197. 919 Ebd.

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gionen […] unzureichend wahrgenommen«920 werden. Demgegenüber ergab Knoblauchs Befragung von deutschen Schülerinnen und Schülern, die am konfessionellen Religionsunterricht teilnehmen, »einen höheren Grad an Sensibilisierung bezüglich der spezifischen und unveräußerlichen Eigenschaften ihrer eigenen und anderer Religionen. Die intensive Beschäftigung mit der christlichen Religion und ihren konfessionellen Ausprägungen kann den SchülerInnen die Einzigartigkeit jeder Religion verständlicher machen.«921 Demnach kann ein konfessioneller Religionsunterricht »ein differenziertes Bild von Gemeinsamkeiten und Unterschieden der verschiedenen Religionen entwerfen«922, wenn auch fehlende Begegnungen mit authentischen Glaubenszeugnissen und Dialogpartnern anderer Religionen durchaus zu bemängeln sind. Die Befunde der qualitativen923 und der darauf aufbauenden quantitativen Studie924 zu Religious Education in England, die im Rahmen des bereits erwähnten internationalen REDCo-Projekts durchgeführt wurden, lassen darüber hinaus eindeutig erkennen, dass diejenigen Schülerinnen und Schüler, die sich selbst als »religiös« bezeichnen, ein höheres Maß an Zustimmung bei Fragen hinsichtlich Toleranz gegenüber anderen Religionen und deren Anhänger an den Tag legen.925 Die Relevanz einer eigenen religiösen Identität für Toleranzfähigkeit wird weiterhin durch die Feststellung betont, dass ein Bewusstsein über die eigene Position den empirischen Erkenntnissen zufolge als bessere Voraussetzung für Offenheit gegenüber anderen Standpunkten zu gelten hat: »[F]irm religious commitment of their own appears to have positive impact on the students learning about and respecting others’ faith […]. [T]hose more secure in their own positions are more able to appreciate better the views and commitments of others.«926 Doch für eben diese religiös-sozialisierten und -interessierten Schülerinnen und Schüler scheint sich Englands multi-faith approach im Blick auf die große religiöse und weltanschauliche Heterogenität seiner Lerngruppen als problematisch zu erweisen. So besagt die Studie von Ipgrave und McKenna, dass aufgrund einer unter Englands Jugendlichen weit 920 921 922 923

A. a. O., 198. A. a. O., 197 f. A. a. O., 198. Vgl. J. Ipgrave/U. McKenna, Diverse Experiences and Common Vision: English Students’ Perspectives on Religion and Religious Education. 924 Vgl. U. McKenna/S. Neill/R. Jackson, Personal Worldviews, Dialogue and Tolerance – Students’ Views on Religious Education in England. 925 »[S]ome of the most interesting findings have been the greater degree of agreement with tolerance towards those of other beliefs demonstrated by this group […].« U. McKenna/S. Neill/R. Jackson, Personal Worldviews, Dialogue and Tolerance – Students’ Views on Religious Education in England, 66. 926 A. a. O.,, 68.

316

Alternative Modelle zum konfessionellen Religionsunterricht

verbreiteten negativen und desinteressierten Haltung in Bezug auf religiöse Angelegenheiten theologische und existentielle Fragen innerhalb des Religionsunterrichts nur unzureichend thematisiert und diskutiert werden können. »Both Christian and non-religious students who have an interest in exploring religious issues are at a disadvantage in such an environment. They face a conflict not between religion and religion or between belief and non-belief but between interest and lack of interest.«927 Selbstverständlich finden sich auch in deutschen Klassenzimmern neben religiös-interessierten auch weniger interessierte Schülerinnen und Schüler, jedoch ist hier in der Regel die Möglichkeit zur Abmeldung aus dem Religionsunterricht und zum Besuch des Ethikunterrichts gegeben. Das Lehren und Lernen in religiös und weltanschaulich durchweg heterogenen Gruppen scheint sich darüber hinaus als hinderlich für das individuelle religiöse Lernen zu erweisen, wenn aus Angst vor Konflikten auf die Thematisierung von religiösen Fragen und insbesondere von Unterschieden zwischen den Religionen verzichtet wird. So konstatieren die Studien einen unter den befragten Jugendlichen verbreiteten »sense of a real danger that conflict could arise between different groups at school«. Den Autoren der Studie zufolge ergibt sich für den Religionsunterricht daraus die Konsequenz, vermehrt als »form of therapy« aufgefasst zu werden. Hinsichtlich der Religionsstunden ist sogar die Rede von »conflict resolution sessions where religious differences, as the causes of disagreement, are aired and neutralised.«928 Keine Konfliktlösung kann jedoch von Dauer sein, wenn die den Konflikt entfachenden religiösen Unterschiede – wie es hier heißt – schlichtweg bereinigt und neutralisiert werden. Darüber hinaus entspricht die Reduktion auf die schwerlich zu bewältigende Rolle von interreligiösen Konfliktmanagern sicherlich nicht dem professionellen Selbstverständnis der englischen Religionslehrkräfte. Ein solcher Umgang mit Differenz, der die auch von Knoblauch festgestellte, eindeutige Tendenz zur Vermeidung von Auseinandersetzungen mit Unterschieden aufweist, kann einer auf einem differenztheoretischen Ansatz aufbauenden, reflektierten und pluralismustauglichen Toleranz kaum zuträglich sein. Zwar sind sich die britische und die deutsche Gesellschaft in ihrer Gestalt in mancherlei Hinsicht ähnlich und sehen sich mit denselben Herausforderungen des Pluralismus konfrontiert. Der englische Ansatz möchte eben diesen Herausforderungen jedoch durch einen interreligiösen Religionsunterricht bei multireligiöser Klassenkonstellation begegnen, in dessen Verlauf die verschiedenen religiösen Überzeugungen der Schülerinnen und Schüler »vorurteilsfrei

927 J. Ipgrave/U. McKenna, Diverse Experiences and Common Vision: English Students’ Perspectives on Religion and Religious Education, 143. 928 A. a. O., 145 (Hervorh. d. Vf.).

Religionspädagogische Ansätze aus England und Wales

317

und neutral erörtert«929 werden sollen. In Anbetracht der gewonnenen Erkenntnisse über die mangelhaften Ergebnisse eines weltanschaulich neutralen Unterrichts über (andere) Religionen sowie über die Problematik einer multireligiösen Lernsituation erscheint der in England entwickelte multi-faith approach für eine Erziehung zu reflektierter Toleranzfähigkeit in Deutschland jedoch nicht erstrebenswert zu sein. Welche Schlüsse und Anregungen hinsichtlich einer Erziehung zu Toleranz dennoch aus den vorgestellten Modellen für den Evangelischen Religionsunterricht gezogen werden können, wird das abschließende Kapitel dieser Untersuchung aufzeigen. Zunächst folgt jedoch eine Bündelung und Bilanz der bisherigen Arbeitsschritte.

929 Chr. Knoblauch, Interreligiöser Dialog beginnt an den Wurzeln, 197.

V. Zusammenfassung und Handlungsstrategien für die Praxis

7. Bündelung und Bilanz

7.1

Rückblick auf die Untersuchung

Mit diesem letzten Teil der Untersuchung schließt sich der Kreis des durchlaufenen Gedankenganges. Im ersten Teil bildete eine Analyse der multireligiösen Verfasstheit unserer gegenwärtigen Gesellschaft den Ausgangspunkt für die Feststellung, dass der von weltanschaulichem Pluralismus geprägte gesellschaftliche Wandel und die damit einhergehende, immer lauter werdende Forderung nach Toleranz die Notwendigkeit für grundlegende Veränderungen und Neuorientierungen eines konfessionellen Religionsunterrichts mit sich bringen. Unter den gegebenen Umständen – erinnert sei beispielsweise an das für die Postmoderne charakteristische Phänomen der religiösen Individualisierung unter Jugendlichen – sieht sich der konfessionelle Religionsunterricht mit kritischen Anfragen an seine Daseinsberechtigung konfrontiert, und es wird deutlich, dass Pluralitäts- und Zukunftsfähigkeit für den konfessionellen Religionsunterricht unter Beibehaltung seiner herkömmlichen Form nur schwerlich zu erreichen sind. Zugleich stellte sich die unter Jugendlichen verbreitete individualisierte Religiosität, die jedem Einzelnen ausdrücklich das Recht auf einen individuellen Glauben zugesteht, lediglich als scheinbar günstige Voraussetzung für Toleranz heraus. Uninformiertheit und Beliebigkeit kennzeichnen indessen die tendenziell relativistischen Sichtweisen. Mit Blick auf den Islam werden scharfe Abgrenzungen auf Seiten der Jugendlichen sowie eine abnehmende Bereitschaft, andere (Glaubens-)Standpunkte zu tolerieren, festgestellt.930 Zur Erklärung dieses Phänomens erfolgt die Vermutung, dass sich hinter der zunehmend mäßigen Bewertung der Toleranz in der Jugend eine »kulturelle Abwehrhaltung«931 verbergen könnte, also ein indirektes Gefühl einer von Überfremdung bedrohten kulturellen Identität. Dies wiederum zieht einen Anstieg

930 Vgl. Deutsche Shell (Hg.), Jugend 2010, 202 f. 931 A. a. O., 202.

322

Bündelung und Bilanz

von rechtsextremen und dezidiert islamfeindlichen Einstellungen nach sich.932 Um derartigen Entwicklungen entgegenzuwirken, wird empfohlen, den Weg der Bildung einzuschlagen. Da Ausländerfeindlichkeit in engem Zusammenhang mit religiöser Toleranz zu sehen ist933, muss dieser Weg eine Erziehung zu mehr Toleranzfähigkeit, gerade auch in interreligiöser Hinsicht, zweifelsohne mit einschließen. Die evangelischen systematisch-theologischen Untersuchungen dienten sodann dem Zweck, das spezifisch evangelische Verständnis des Pluralismus und die protestantische Sicht auf Toleranz herauszuarbeiten und zu beleuchten. Hierbei stellte sich das von Herms so genannte »Erbe der Reformation«934 als tragfähiges Fundament heraus, auf welchem aufbauend starke Toleranz gedeihen kann. Religiöse Hindernisse der Toleranz liegen oftmals darin, dass die Forderung der Toleranz gleichzeitig eine Relativierung des religiösen Wahrheitsbewusstseins darzustellen scheint und somit eine Schwächung religiöser Identität zur Folge hat. Die Möglichkeit eines Auswegs aus dieser Situation scheint allein in der Bekämpfung der Intoleranz von innen zu liegen, d. h. in der Besinnung auf religiöse Wurzeln der Toleranz – Begründungen der Toleranz also, die in der religiösen Identität wurzeln und darum nicht als ihre Infragestellung erscheinen. Nach Schwöbel935 eröffnet die Begründung der Toleranz in der eigenen, von Gott unverfügbar geschenkten Glaubensgewissheit nun Wege zu einem anderen Verständnis der Toleranz, das die Toleranz nicht in der Relativierung des Glaubens begründet, sondern in der Vertiefung des Glaubens verankert sieht. Schwöbels Ausführungen zu einer Toleranz aus Glauben, die auf einer gefestigten religiösen Identität beruht, ergaben sodann kombiniert mit Bergers Erkenntnissen über Formen und Bedingungen des Dialogs die Grundlage für den Versuch, eine systematische Toleranzbegründung in drei Schritten zu formulieren: Toleranz gegenüber Andersgläubigen darf demnach nicht abstrakt im Sinne von gleichgültig und beliebig bleiben, sondern muss durch authentische Begegnungen und dialogische Auseinandersetzungen reflektierte Formen annehmen. Dabei nimmt das Bewusstsein über die eigene religiöse Identität und den darauf basierenden Standpunkt eine zentrale Stellung ein, ebenso wie die grundlegende Bereitschaft, in eine dialogische Auseinandersetzung mit weltanschaulich Anderspositionierten einzutreten und damit zu akzeptieren, den 932 Vgl. Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.), Die Mitte in der Krise. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland. 933 Vgl. G. Ritzer, Interesse-Wissen-Toleranz-Sinn. Ausgewählte Kompetenzbereiche und deren Vermittlung im Religionsunterricht, 315; H.-G. Ziebertz, Religion im Plural, 409. 934 E. Herms, Pluralismus aus Prinzip, 485. 935 Vgl. Chr. Schwöbel, Toleranz aus Glauben.

Rückblick auf die Untersuchung

323

eigenen Standpunkt gegebenenfalls zu modifizieren und weiterzuentwickeln. Daher liegen für die Religionspädagogik die Herausforderung und der Auftrag darin, eben diesen Denk- und Reflexionsprozess anzustoßen und einzuleiten. Inwieweit dies im Rahmen religionspädagogischer Veröffentlichungen bereits bzw. noch nicht geschehen ist, zeigt die Analyse des religionspädagogischen Zeitschriftendiskurses zwischen 1953 und 2004 sowie der gegenwärtigen Diskussion zur Toleranzthematik, die anhand der Beiträge von Adam, Englert und Nipkow exemplarisch wiedergegeben wurde. Während sich die aufgenommenen Beiträge aus den 50er und frühen 60er Jahren bei aller prinzipieller Hochschätzung von Toleranz dem Gegenstand noch recht zaghaft und in wenig konkreter Weise annähern, wird im Laufe der Zeit die Betonung von Toleranz im Zusammenhang mit religiöser Erziehung und Bildung erkennbar, bevor schließlich konkret von einer Toleranzerziehung die Rede ist, die mit interreligiösem Lehren und Lernen zusammen gedacht werden muss. Als zukunftsweisend hat dabei Nipkows Unterscheidung zweier theologischer Ebenen936 zu gelten, die wertvolle Grundlagen für den interreligiösen Dialog bietet. In Anbetracht des skizzierten und noch keinesfalls als ausgereift zu bezeichnenden religionspädagogischen Toleranzdiskurses muss die Aufforderung erfolgen, im Dienste einer Erziehung zu reflektierter Toleranz in der Pluralität den Blick in die Zukunft des Evangelischen Religionsunterrichts zu wagen. Dazu wird meines Erachtens der Entwurf einer Didaktik zur Toleranzerziehung unerlässlich sein, der auf den bisherigen Erkenntnissen aufbaut und von der genannten Unterscheidung der Ebene der ereignisförmigen Konstitution von Religion einerseits und der Ebene der Auslegung und Deutung von Religion auf der anderen Seite seinen Ausgang nimmt. In Verbindung mit der zuvor erarbeiteten systematischen Toleranzbegründung und der darin enthaltenen Unterscheidung zwischen reflektierter und abstrakter Toleranz scheint aus religionspädagogischer Sicht die theologische Grundlage gegeben, auf der sich die Problematik der Vereinbarkeit von Toleranz und Wahrung der eigenen Position lösen lässt. Demgegenüber bleiben Fragen der didaktischen Umsetzung weiterhin ungelöst. Hier werden weitere, grundlegende Bearbeitungen von Nöten sein. Während die religionspädagogische Toleranzdiskussion allmählich in Gang zu kommen scheint, bietet sich bezüglich der Frage nach Toleranz in der Erziehungswissenschaft ein anderes Bild. So hat die Toleranzthematik, ähnlich wie Fragen der Religion, bislang kaum einen Zugang in den pädagogischen Diskurs gefunden, was Anlass für die Vermutung interdependenter Wahrnehmungs-

936 Erinnert sei an die Ebene der ereignisförmigen Konstitution von Religion und die Ebene der Auslegung und Deutung von Religion, vgl. 3.2.2.3.

324

Bündelung und Bilanz

probleme der Erziehungswissenschaft im Blick auf Religion und Toleranz gibt.937 Hinsichtlich der gegenwärtigen soziologischen und gesellschaftlichen Entwicklungen ist eine erziehungswissenschaftliche Abstinenz bezüglich der Themen Religion und Toleranz allerdings nicht länger zu rechtfertigen. Angesichts der Herausforderungen einer zunehmend multikulturellen und somit auch multireligiösen Gesellschaft, mit denen sich Jugendliche konfrontiert sehen, muss sich der erziehungswissenschaftliche Diskurs für Fragen einer Erziehung und Bildung zu reflektierter Toleranz öffnen. Die exemplarische Analyse des Bildungsplans 2004 zeigt sodann eine generelle und auffallend breite Verankerung des Toleranzbegriffes innerhalb der Fächerstruktur der baden-württembergischen Bildungspläne auf. Da tolerantes Handeln sowie tolerante Gesinnungen und Verhaltensweisen in fächerübergreifenden Zusammenhängen als erstrebenswerte Bildungs- und Erziehungsziele erachtet werden, scheint der Toleranzbegriff über einen besonderen Status und einen allgemeinhin als hoch eingestuften Stellenwert zu verfügen. Angesichts dieser breiten Verankerung in der Fächerstruktur der baden-württembergischen Bildungspläne erscheint es umso erstaunlicher und geradezu defizitär, dass eine theoretische Grundlage der Toleranzerziehung ausbleibt und die Verwendung des Toleranzbegriffes nahezu durchweg auf einer abstrakten Ebene stehen bleibt. So lässt sich keine durchdachte Konzeption, geschweige denn eine Didaktik der Toleranzerziehung erkennen. Um also eine christliche Toleranz zu fördern, wie sie die dem Bildungsplan vorangestellten Ausführungen zum Auftrag der Schule anmahnen, liegt es nahe, im (christlichen) Religionsunterricht anzusetzen. Dies führt zu der Forderung, im Dienste der Toleranzerziehung eine im Religionsunterricht zu fördernde interreligiöse Kompetenz in den allgemeinen Bildungsplan zu integrieren. Eine solche Erziehung zu Toleranz würde somit einen der zentralen Aufgabenbereiche der Religionslehrkräfte markieren. Deren Sicht auf Toleranz wurde exemplarisch anhand einer Umfrage an allgemein bildenden Gymnasien im Landkreis Tübingen erhoben. Gefragt nach den Werten, die die Religionslehrkräfte ihren Schülerinnen und Schülern vermitteln wollen, wird Toleranz tatsächlich an erster Stelle genannt. Ihre Grenzen liegen hingegen für die meisten der befragten Personen angesichts unserer zunehmend multikulturellen Gesellschaft im intoleranten Verhalten anderer, bei der Aufgabe des eigenen Standpunktes sowie in der zunehmenden Tendenz hin zu Indifferenz und Beliebigkeit bezüglich religiöser Angelegenheiten. Bei der Fokussierung der Fragen auf Toleranz im Hinblick auf Religion und Religionsunterricht zeigt sich die große Mehrheit von einem großen bis sehr 937 Vgl. dazu F. Schweitzer, Toleranz und Religion – Interdependente Wahrnehmungsprobleme säkularer Erziehungswissenschaft?

Rückblick auf die Untersuchung

325

großen Zusammenhang zwischen Toleranz und Religion überzeugt. Dieser mehrheitlich postulierte Zusammenhang zwischen Toleranz und Religion lässt die bereits geäußerte Forderung, eine im Dienste der Toleranzerziehung im Religionsunterricht zu verfolgende interreligiöse Kompetenz explizit in den Bildungsplan zu integrieren, umso bedeutsamer erscheinen. Dies belegen auch die weiteren Antworten auf die Frage nach den Grenzen der Toleranz, die sich teilweise konkret auf den Islam beziehen und manche muslimische Position als nicht tolerierbar werten. Eine sachlich-distanzierte Behandlung der Weltreligionen (insbesondere des Islam) auf kognitiver Ebene, wie sie der Bildungsplan für die verschiedenen Klassenstufen vorsieht, ist zwar im Sinne des Wissenserwerbs über fremde Religionen notwendig und erstrebenswert, kann aber ohne authentische Begegnungen und dialogische Auseinandersetzungen für eine Erziehung zur Toleranz nicht ausreichen. Weiter machen die Lehrerantworten vielfach deutlich, dass ein diffuses Toleranzverständnis die Klärung der Thematik erheblich erschwert. Zahlreiche Statements der an der Umfrage beteiligten Religionslehrkräfte lehnen Toleranz ab, wenn sie mit Indifferenz und Beliebigkeit gleichgesetzt wird. Versteht man darunter die respektvolle und reflektierte Auseinandersetzung mit anderen Standpunkten, so erfährt Toleranz als Wert von Seiten der befragten Lehrerinnen und Lehrer durchweg hohe Zustimmung. Hier zeigt sich eindrücklich die Notwendigkeit einer Theorie der Toleranz, wie es die zuvor aufgestellte systematische Toleranzbegründung leisten möchte: Die eindeutige Unterscheidung zwischen einer abstrakten und einer reflektierten Toleranz sowie der Einsatz zur Förderung letzterer. Auch besteht eine offenkundige Konvergenz zwischen den Ergebnissen der systematischen Theologie und den Äußerungen der Religionslehrkräfte. Dies zeigt sich beispielhaft an den Aussagen, dass Gleichgültigkeit und Indifferenz genauso wie Beliebigkeit und Relativismus durchweg abgelehnt und als hinderlich für Toleranz angesehen werden. Die einhellige Betonung einer Haltung der Offenheit gegenüber anderen Religionen in Verbindung mit einem systematisch-schrittweisen Vorgehen beim »Erlernen« von interreligiöser Toleranz kommen den Kernaussagen von Schwöbels Thesen zur Toleranz insgesamt sehr nahe. Insbesondere die Antworten auf die Frage, welche Rolle dem konfessionellen Religionsunterricht zukommt, wenn es um Toleranzfähigkeit geht, bestätigen dies. Die unter dem ersten Stichwort Identität gebündelten Äußerungen betonen die Wichtigkeit einer religiösen Beheimatung im Sinne einer eigenen religiösen Identität als Voraussetzung für einen gelingenden Dialog mit anderen Überzeugungen. Das zweite Stichwort der Kooperation scheint den Wünschen der befragten Religionslehrkräfte hinsichtlich einer Weiterentwicklung des konfessionellen Religionsunterrichts Ausdruck zu verleihen. Die Ergebnisse der Umfrage zu Toleranz aus Sicht von Religionslehrkräften

326

Bündelung und Bilanz

lassen somit in aufschlussreicher Weise erkennen, welcher hervorgehobene Stellenwert der Toleranzerziehung von Seiten der Religionslehrkräfte zugeschrieben wird und wie eng sie selbst den Zusammenhang ihres Faches mit einer solchen Erziehung zu Toleranzfähigkeit beurteilen. Die zuvor aufgestellten Thesen, dass eine eigene religiöse Beheimatung und Identität die Voraussetzung dafür sind, dass Toleranz nicht beliebig und abstrakt bleibt, sondern sich durch Wissenserwerb, Begegnung und Auseinandersetzung mit dem Fremden zu einer reflektierten Toleranz entwickeln kann, werden durch die Aussagen der befragten Religionslehrkräfte eindeutig bestätigt. Aufgrund dieser Ergebnisse ist davon auszugehen, dass die Erarbeitung einer Didaktik zur Toleranzerziehung in Verbindung mit der Integration einer im Religionsunterricht zu fördernden interreligiösen Kompetenz in den Bildungsplan von Seiten der befragten Religionslehrkräfte positiv aufgenommen werden würde. Gerade vor dem Hintergrund der bemängelten, oftmals diffusen Toleranzkonzeptionen könnte für die Religionslehrkräfte darin eine richtungsweisende und Orientierung bietende Hilfestellung für die ihnen zuteil werdende Aufgabe, Schülerinnen und Schüler zu reflektierter Toleranzfähigkeit zu erziehen, liegen. Im Rahmen einer Modelldiskussion wurden anschließend alternative Modelle zum Evangelischen Religionsunterricht in den Blick genommen. Sowohl das Brandenburger Schulfach LER wie auch der Hamburger »Religionsunterricht für alle« und der »multi-faith approach« aus England und Wales sind als unmittelbare Reaktionen auf die eingangs geschilderte gesellschaftliche Situation des weltanschaulichen Pluralismus zu verstehen. Laut ihres jeweiligen Selbstverständnisses nehmen die genannten Ansätze für sich in Anspruch, durch eine weitgehende Verpflichtung zu Neutralität und Objektivität einer Erziehung zu Toleranz in besonderer Weise zuträglich zu sein. Dennoch fördern die durchgeführten Untersuchungen nicht zu vernachlässigende Schwachstellen des ihnen jeweils zugrunde liegenden Toleranzverständnisses zu Tage. Die Analysen der jeweiligen Modelle lassen erkennen, dass mehrheitlich nicht einer pluralismusfähigen Toleranz in reflektierter Form, sondern vielmehr relativistischen Sichtweisen und einem abstrakten Toleranzverständnis Vorschub geleistet wird.

Zur Notwendigkeit religionsunterrichtlicher Reformen

7.2

327

Zur Notwendigkeit religionsunterrichtlicher Reformen

Bereits zu Beginn dieser Untersuchung wurde die kritische Diskussion skizziert, in der sich der konfessionelle Religionsunterricht gegenwärtig befindet.938 So sieht er sich angesichts unserer zunehmend multikulturell und multireligiös geprägten gesellschaftlichen Wirklichkeit mit ernsten Anfragen an seine Daseinsberechtigung konfrontiert. Wie kann ein nach Konfessionen getrennter Unterricht noch legitimiert werden, wenn die konfessionellen Bindungskräfte immer mehr an Alltagsbedeutung zu verlieren scheinen und religiöse Pluralität als Kennzeichen der postmodernen Gesellschaft zu verstehen ist? Das Behandeln religiöser Pluralität aus rein monoreligiöser Perspektive, mit anderen Worten ein Lernen über fremde Religionen und andere Weltanschauungen anstatt mit ihnen kann nicht mehr als zeitgemäß gelten. Der konfessionelle Religionsunterricht in seiner herkömmlichen Form wird den Anforderungen einer religiös pluralen Gesellschaft nicht länger gerecht und bereitet die Kinder und Jugendlichen lediglich unzureichend auf eben diese vor. Der von weltanschaulichem Pluralismus geprägte gesellschaftliche Wandel und die damit einhergehende, immer lauter werdende Forderung nach Toleranz bringen die Notwendigkeit für grundlegende Veränderungen und Neuorientierungen eines konfessionellen Religionsunterrichts mit sich. Der konfessionelle Religionsunterricht muss sich mehr als dies bislang der Fall war auf die Herausforderungen der gegenwärtigen und zukünftigen gesellschaftlichen Entwicklungen einstellen. Er muss sich dazu in erster Linie die Erziehung zu reflektierter Toleranzfähigkeit zur Aufgabe machen. Alternative religionsunterrichtliche Modelle, die sich ihrem Selbstverständnis zufolge als zeitgemäß, pluralitäts- und zukunftsfähig verstanden wissen möchten, erweisen sich nicht als derart plausibel, dass sie den konfessionellen Religionsunterricht ersetzen könnten. Gerade im Blick auf Toleranzerziehung können die untersuchten Alternativmodelle wie gesehen nicht überzeugen. Dennoch kann der konfessionelle Religionsunterricht hinsichtlich seiner eigenen Modifikation und Weiterentwicklung einiges von ihnen lernen. So werden mitunter interessante Aspekte und vielversprechende Ansätze aufgeworfen, die es durchaus zu würdigen und für religionsunterrichtliche Reformen fruchtbar zu machen gilt. Insbesondere das Ziel von Dialog- und Pluralitätsfähigkeit muss deutlich bejaht werden. Während die beschriebenen Alternativmodelle dieses Ziel jedoch durch eine weitgehende Verpflichtung zu weltanschaulicher Neutralität und Objektivität zu erreichen suchen, erweist sich meines Erachtens ein anderer Weg für eine Erziehung zu reflektierter Toleranz als angemessener. Der abschließende Arbeitsschritt soll nun der Frage nachgehen, welche 938 Vgl. 2.4.2.

328

Bündelung und Bilanz

Veränderungen und Neugestaltungen innerhalb des Evangelischen Religionsunterrichts dessen Beitrag zu reflektierter Toleranzfähigkeit in der Pluralität zu steigern vermögen. Es gilt also zu fragen, welche Erkenntnisse der durchgeführten Analysen und welche Elemente der betrachteten alternativen Modelle gewinnbringend in die Praxis übernommen werden sollten, um das Profil des Evangelischen Religionsunterrichts mit Blick auf die Schülerinnen und Schüler lebens- und gegenwartsrelevant, pluralitäts- und somit zukunftsfähig zu gestalten.

8. Evangelischer Religionsunterricht und Toleranzfähigkeit – Zukunftsperspektiven

8.1

Evangelischer Religionsunterricht in weiterentwickelter Gestalt: Organisationsformen und Zielsetzungen einer Toleranzerziehung

Um erneut auf Adam zu verweisen939, kann es aus protestantischer Perspektive heute nicht mehr darum gehen, ob wir uns den nichtchristlichen Religionen zuwenden wollen oder nicht. Unsere gesellschaftliche Wirklichkeit stellt uns vor keinerlei Wahlmöglichkeit und hat diese Frage bereits positiv entschieden. Sowohl in England und Wales als auch in Brandenburg und Hamburg wurden als Reaktionen auf die gesellschaftlichen Gegebenheiten bereits Modelle realisiert, deren Anliegen es ist, der Toleranzerziehung dienlich und somit zukunftsund pluralitätsfähig zu sein. Allerdings wurde bei genauerer Analyse dieser in der Modelldiskussion vorgestellten Ansätze ersichtlich, dass Bedenken hinsichtlich ihres jeweils erhobenen Anspruches durchaus berechtigt sind. Während die brandenburgische und die britische Herangehensweise in Form einer religionskundlichen Wissensvermittlung mit absoluter Verpflichtung zu Objektivität aus den zuvor genannten Gründen als äußerst fraglich gelten muss, stößt man mit Blick auf das Hamburger Modell auf das ungelöste Problem, wie ein Evangelischer Religionsunterricht »für alle«, also für Kinder und Jugendliche mit unterschiedlicher (oder auch keiner) Religionszugehörigkeit, noch evangelisch verantwortet werden kann. Der Preis für einen solchen Unterricht liegt, bildlich gesprochen, im Abschleifen und Abfeilen der evangelischen Position. Einem so genannten weichen Pluralismusverständnis entsprechend werden Unterschiede und Gegensätze hier vernachlässigt. Aus evangelischer Sicht greifen die vorgestellten Modelle somit zu kurz und sind daher als solche nicht zufriedenstellend. Da sich jedoch aus den Ergebnissen der systematisch-theologischen sowie 939 Vgl. G. Adam, Toleranz als Problem des Religionsunterrichts, 154; vgl. 3.2.2.1.

330

Evangelischer Religionsunterricht und Toleranzfähigkeit – Zukunftsperspektiven

der religionspädagogischen Untersuchungen ein spezifisch protestantischer Auftrag zur Erziehung zu Pluralismus- und Toleranzfähigkeit ableiten lässt, muss ein Ansatz verfolgt werden, der aus evangelischer Perspektive verantwortbar ist und dem tiefgreifenden evangelischen Pluralismus- und Toleranzverständnis entspricht. Begibt sich der Evangelische Religionsunterricht auf den Weg, teilweise eine neue Gestalt anzunehmen und sich Neuerungen zu unterziehen, um gegenwartsrelevant und zukunftsfähig zu bleiben, so scheint der dialogische Ansatz, der in unterschiedlicher Weise auch von den betrachteten alternativen Modellen verfolgt wird, in die einzig gangbare Richtung zu weisen.

8.1.1 Dialogischer Religionsunterricht In Anlehnung an Schwöbel und die gewonnenen systematisch-theologischen Einsichten scheint es nicht zu weit gegriffen zu sein, die Kommunikationsform des interreligiösen Dialogs als zentrales evangelisches Anliegen zu betrachten, da sie einen ganz entscheidenden Beitrag zu Toleranzbildung und -einübung leistet. Zu Toleranz wiederum verpflichtet nach reformatorischem Verständnis die eigene, von Gott unverfügbar geschenkte Glaubensgewissheit. Aus religionspädagogischer Sicht ist auf eine Erziehung zu Toleranz als wichtige Aufgabe der Schulen nachdrücklich hinzuweisen940. Insbesondere religiöse Erziehung kann und muss ein Ort der Ausbildung religiöser Toleranz sein. Der Evangelische Religionsunterricht in Deutschland kann zu einem Ort werden, an dem der von Schwöbel und Berger postulierte Imperativ des Dialogs der Religionen und Weltanschauungen, der in religiös-weltanschaulich pluralistischen Gesellschaften als » Bedingung des Überlebens«941 gelte und gänzlich im Dienste der Toleranzerziehung steht, praktische Gestaltung erfährt. Schon jetzt wird der Evangelische Religionsunterricht häufig in ökumenischer Kooperation und zum Teil im Dialog mit dem Ethikunterricht erteilt. Noch etwas verhalten und vorsichtig formulierte vor nicht allzu langer Zeit der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, dass »[i]n Zukunft […] auch Formen der Zusammenarbeit mit nichtchristlichem Religionsunterricht erprobt werden«942 könnten. So wird in der achten der insgesamt zehn im Jahre 2006 veröffentlichten Thesen zum Evangelischen Religionsunterricht darauf hingewiesen, dass der von der EKD bereits 1994 in der Denkschrift »Identität und Verständigung« empfohlene konfessionell-kooperative Religionsunterricht eine besondere Form der Öff940 Vgl. dazu auch aus katholischer Perspektive R. Englert, Religiöse Erziehung als Erziehung zur Toleranz, 162. 941 Chr. Schwöbel, Toleranz aus Glauben, 15. 942 EKD, Religionsunterricht. 10 Thesen, 5.

Evangelischer Religionsunterricht in weiterentwickelter Gestalt

331

nung des konfessionellen Religionsunterrichts darstellt, in welcher der evangelische und der römisch-katholische Religionsunterricht kooperieren, »ohne dass der Unterricht dabei seine konfessionelle Ausrichtung verliert.«943 Vielmehr kämen die Gemeinsamkeiten zwischen den Konfessionen hier genauso in den Blick wie Unterschiede und konfessionelle Identitäten.944 Darüber hinaus ist vom Ethikunterricht als begrüßenswertem Dialogpartner die Rede. Entgegen der bereits erörterten Kritik von außen kann sich der Evangelische Religionsunterricht nun ferner tatsächlich als »pluralitätsfähiges Fach« erweisen, »das selbst auf plurale Verhältnisse in der Gesellschaft eingestellt ist und das dem Bildungsziel der Pluralitätsfähigkeit dient«945, wenn im Folgenden eine Zusammenarbeit mit dem jüdischen oder dem islamischen Religionsunterricht in Betracht gezogen wird. So ist die Rede von einer denkbaren und auch wünschenswerten Kooperation bei gemeinsamen Projekten oder in bestimmten Phasen des Unterrichts – jedoch unter der Bedingung, dabei »die unterschiedlichen theologischen Grundlagen sowie die spezifischen Möglichkeiten und Grenzen interreligiösen Lernens«946 zu berücksichtigen. In dieser einschränkenden Klausel ist nun eine deutliche Abgrenzung zu den diskutierten Alternativmodellen, eben dadurch aber zugleich die große Chance eines derartig gestalteten Evangelischen Religionsunterrichts zu verorten. Während nämlich sowohl im Brandenburger und im Hamburger Dialogverständnis als auch in Englands dialogischem Ansatz Unterschiede und Gegensätze niedrig gehalten und Diskussionen über die Wahrheitsfrage nach Möglichkeit ausgeklammert werden, liegt die Betonung hier eindeutig auf der Berücksichtigung der unterschiedlichen theologischen Grundlagen. Während ferner interreligiöses Lernen in Hamburg durch einen lediglich punktuellen Einbezug so genannter authentischer Vertreterinnen und Vertreter anderer Konfessionen und Religionen nur suboptimal gestaltet werden kann und auch die unbedingte Neutralitätsverpflichtung der Lehrkörper in Brandenburg, England und Wales höchst problematisch erscheint, ist im dialogisch-geöffneten Evangelischen Religionsunterricht die schulische Präsenz von Lehrpersonen der eigenen Konfessions- und Religionszugehörigkeit (bzw. der entsprechenden Zugehörigkeit von Eltern) sowie die den Orientierungsbedürfnissen im Kindesalter entsprechende Möglichkeit der Entwicklung von Zugehörigkeitsverhältnissen und -erfahrungen durchaus gegeben.

943 Ebd. 944 Vgl. dazu die empirischen Befunde bei F. Schweitzer/A. Biesinger et al., Gemeinsamkeiten stärken – Unterschieden gerecht werden. 945 EKD, Religionsunterricht. 10 Thesen, 5. 946 Ebd. (Hervorhebung durch Vf.).

332

Evangelischer Religionsunterricht und Toleranzfähigkeit – Zukunftsperspektiven

8.1.2 Konfessionell-kooperativer Religionsunterricht (KRU) Unter Verweis auf die durchgeführte Umfrage unter Religionslehrkräften sei an dieser Stelle an die auffallend deutliche Dominanz der Schlüsselbegriffe Identität und Kooperation erinnert. Ganz konkret nach der Rolle des konfessionellen Religionsunterrichts hinsichtlich Toleranzfähigkeit im Schulalltag befragt, betonen die an der Umfrage beteiligten Religionslehrkräfte nachdrücklich die Relevanz von Identitätsbildung im konfessionellen Religionsunterricht und von interkonfessionell- bzw. interreligiös-kooperativen Unterrichtsformen. Dieser Befund lässt darauf schließen, dass verbreitet bereits Erfahrungen mit dem Modell des konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts (KRU) gemacht und diese von den betreffenden Lehrkräften als positiv bewertet werden – gerade auch mit Blick auf eine Erziehung zu Toleranzfähigkeit, wie die Umfrageergebnisse diesbezüglich belegen. Eine Vereinbarung zur »Konfessionellen Kooperation im Religionsunterricht an allgemein bildenden Schulen« in Baden-Württemberg wurde am 1. März 2005 durch die evangelischen Landesbischöfe in Baden und Württemberg, Landesbischof Fischer und Landesbischof Maier, den katholischen Bischof der Diözese Rottenburg-Stuttgart Fürst und den katholischen Erzbischof der Erzdiözese Freiburg Zollitsch unterzeichnet.947 Wie es in dieser Vereinbarung zum KRU heißt, ist sie vor dem Hintergrund des Bestrebens und mit der Zielsetzung entstanden, »ein vertieftes Bewusstsein der eigenen Konfession zu schaffen, die ökumenische Offenheit der Kirchen erfahrbar zu machen und den Schülerinnen und Schülern beider Konfessionen die authentische Begegnung mit der anderen Konfession zu ermöglichen.«948 Um diese Zielsetzung zu erreichen, »werden gemischt-konfessionelle Lerngruppen gebildet, die im Wechsel von einer Lehrkraft des Unterrichtsfaches Evangelische Religionslehre und Katholische Religionslehre unterrichtet werden. Dabei wird in qualifizierter Zusammenarbeit das konfessionelle Profil beider Kirchen in den Religionsunterricht eingebracht. Die Kirchen erteilen für diesen Unterricht auf der Basis der geltenden Bildungspläne jeweils einen schulartspezifisch verbindlichen Rahmen, dessen Verbindlichkeit durch übereinstimmende Erklärung der Schulverantwortlichen der Kirchen festgestellt wird.«949 Neben verschiedenen Erfordernissen, um die Qualität des konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts zu sichern, ist in der Vereinbarung schließlich auch festgehalten, dass zur Evaluation des KRU 947 Vgl. L. Kuld/F. Schweitzer/W. Tzscheetzsch/J. Weinhardt (Hg.), Im Religionsunterricht zusammenarbeiten, 15 f. Zur ausführlichen Entwicklung des konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts bis zu diesem ersten und vorläufigen Abschluss vgl. a. a. O., 9 – 15. 948 Evangelische Landeskirche in Baden/Evangelische Landeskirche in Württemberg/Erzdiözese Freiburg/Diözese Rottenburg-Stuttgart, Vereinbarung vom 1. März 2005, 15. 949 Ebd.

Evangelischer Religionsunterricht in weiterentwickelter Gestalt

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eine wissenschaftliche Untersuchung950 durchgeführt wird. Die für das zentrale Anliegen einer Erziehung zu Toleranzfähigkeit wesentlichen Punkte dieser Evaluation sollen nun ausgeführt werden. Im Zuge der Evaluation des konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts in Baden-Württemberg wurden u. a. in Tests, die sich an den baden-württembergischen Bildungsstandards orientierten, die Wissensbestände der Schülerinnen und Schüler zu Konfession und Konfessionen abgefragt. Dabei wurden in Vergleichstests die Unterschiede zwischen Modell- und Vergleichsschulen im Bereich der Grund- und Hauptschulen, der Realschulen sowie der Gymnasien eruiert. Demzufolge »liegt etwa das Wissen um die andere Konfession bei den evangelischen Kindern in den Modell-Grundschulen über dem der Kinder an Vergleichsschulen. In der Realschule bringt annähernd die Hälfte der Schülerinnen und Schüler an den Modellschulen Ökumene mit Erfahrungen in der Schule in Verbindung, an Vergleichsschulen macht das so gut wie niemand. Im Gymnasium ist die Zahl der theologischen Begründungen für konfessionelle Präferenzen unter evangelischen Schülerinnen und Schülern an Modellschulen doppelt so hoch wie an Vergleichsschulen.«951 Diese Befunde legen dar, dass Schülerinnen und Schüler, die am KRU in den Modellschulen teilnehmen, über ausführlicheres und mit fortschreitendem Alter und höherer Schulbildung auch differenzierteres Wissen über die Konfessionen verfügen. Eben darin ist nun aber auch der Ausgangspunkt für religiöse Reflexion zu verorten, die zu einem begründeten Standpunkt und im Zuge einer dialogischen Auseinandersetzung mit Andersglaubenden schließlich zu reflektierter Toleranz führen kann. Die am KRU beteiligten Lehrkräfte schildern darüber hinaus, dass die Einführung des konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts die Stellung ihres Faches in der Schulgemeinschaft stärkt. Sie beobachten, wie durch KRU die Relevanz von Religion im Schulalltag zunimmt, da sich religiöse Themen leichter mit den übrigen Fächern und dem Alltag einer Klasse oder einer ganzen Schule verbinden lassen und Religion somit zu einem integrativen Bestandteil des Schullebens wird. Auch berichten sie, dass der kirchliche Mut zur konfessionellen Kooperation im Religionsunterricht als wichtige pädagogische Innovation wertgeschätzt wird. Nach Ansicht vieler Religionslehrkräfte bleiben die christlichen Kirchen dadurch augenscheinlich religionspädagogisch handlungsfähig. Sie zeigen entgegen vieler kritischer Stimmen »die Kraft, den Religionsunterricht in die neuen Herausforderungen einer postmodernen Gesellschaft zu transferieren, in denen die konfessionellen Bindungskräfte immer

950 Zu den Untersuchungsmethoden der Studie vgl. L. Kuld/F. Schweitzer/W. Tzscheetzsch/J. Weinhardt (Hg.), Im Religionsunterricht zusammenarbeiten, 17 – 22. 951 A. a. O., 133.

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mehr an Alltagsbedeutung zu verlieren scheinen.«952 Den Anmerkungen zur religiösen Sozialisation der Schülerinnen und Schüler zufolge zeigen sich KRULehrkräfte davon überzeugt, dass Kinder heutzutage im Elternhaus nur noch selten eine religiöse Erziehung erfahren. Für diese sei der KRU nun von besonderer Bedeutung, da sie über die jeweils andere Konfession Erkenntnisse erlangen und Toleranz erlernen. Dadurch erweise sich der KRU als moderner und zeitgemäßer Unterricht in einer plural-multikulturellen Gesellschaft.953 Auch aus Sicht der Eltern besteht ein Vorteil des KRU im »Gewinn von Toleranz und Offenheit gegenüber anderen Religionen/Konfessionen.«954 Im Unterschied zu anderen religionsunterrichtlichen Ansätzen – wie beispielsweise den im vorhergegangenen Kapitel vorgestellten, die bekanntlich ebenfalls einen solchen Anspruch auf eine Erziehung zu Toleranz erheben, – spielt der Aspekt der Konfessionalität des Unterrichts für den KRU dabei jedoch eine hervorgehobene Rolle. Wie sich aus den Befunden der Evaluation ergibt, »können die derzeit in den Schulen in Baden-Württemberg praktizierten Formen der Kooperation im Religionsunterricht insofern als grundsätzlich konfessionell im Sinne der vom Grundgesetz Art. 7 Abs. 3 vorausgesetzten ›Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften‹ bezeichnet werden, als sie schon von der gesamten Anlage bei der Konfessionszugehörigkeit der Schülerinnen und Schüler sowie der Lehrerinnen und Lehrer anknüpfen.«955 Die Gesamtintention des Modells ist es demnach, sowohl evangelischen als auch katholischen Schülerinnen und Schülern ein Angebot in Entsprechung zu ihrer eigenen Konfessionszugehörigkeit zu machen. Darüber hinaus sollen sie die Möglichkeit haben, auch die jeweils andere konfessionelle Tradition kennenzulernen und zu verstehen. In dieser Zielsetzung, so Schweitzer, »drückt sich eine den beiden Konfessionen inzwischen eigene – ökumenische – Ausrichtung aus.«956 Die Konfessionalität des kooperativen Religionsunterrichts komme weiterhin darin zum Ausdruck, dass die Bildungsstandards, die für den konfessionellen Religionsunterricht gelten, auch im kooperativen Unterricht erreicht werden sollen. Dies setze voraus, dass der Unterricht eine katholische und evangelische Ausrichtung besitzt, die freilich zu unterschiedlichen Zeitpunkten bzw. in unterschiedlichen Phasen, einmal als evangelisch und einmal als katholisch, hervortritt. Die jeweils andere Konfession werde – das sei wesentlich für das Verständnis der Kooperation – nicht im Sinne einer bloßen Konfessions- oder Re952 953 954 955

A. a. O., 169. A. a. O., 179 ff. A. a. O., 199. F. Schweitzer, Konfessionalität – Ökumene – Pluralitätsverarbeitung. Zur rechtlichen, theologischen und religionspädagogischen Einschätzung des KRU, 202. 956 Ebd.

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ligionskunde unterrichtet, sondern unter konstitutiver Berücksichtigung der jeweiligen Selbstinterpretation und der damit verbundenen Geltungs- oder Wahrheitsansprüche.957 Es wird betont, dass diese Ansprüche nicht im Sinne einer »Kunde« lediglich referiert werden, indem in der dritten Person darüber berichtet wird, sondern dass sie vielmehr in der Gestalt personaler Repräsentanz im Unterricht zur Geltung kommen. Dafür sorge die für die Schülerinnen und Schüler transparente Konfessionszugehörigkeit der Lehrpersonen. In der Tat realisiert das Modell damit in vorbildlicher Weise das Prinzip von Kooperation im Unterschied zu Fusionen, die konsequent vermieden werden. Den einschlägigen kirchlichen Stellungnahmen958 gemäß könne Kooperation und Dialog erst dadurch möglich werden, dass eine konfessionelle Ausrichtung des evangelischen und katholischen Religionsunterrichts vorauszusetzen ist. »Fusionen hingegen machen Dialoge überflüssig oder sogar unmöglich.«959 Allerdings setze sinnvolle Kooperation voraus, »dass sie für alle Beteiligten transparent ist und nicht mit anderen Modellen etwa eines differenzlosen ›Religionsunterrichts im Klassenverband‹ verwechselt werden kann. Konfessionell-kooperativer Religionsunterricht besitzt seine Grundlage in einer bewussten Wahrnehmung von Aufgaben des Dialogs und der Verständigung, nicht aber in einer Vergleichgültigung aller Unterschiede.«960 Neben der Tatsache, dass der kooperative Religionsunterricht darüber hinaus »der Forderung nach ökumenischer Verantwortung und verantwortlicher Ökumene gerecht«961 wird, weder hinter den erreichten Formen der Verständigung zwischen den Konfessionen zurück bleibt noch eine Art von SchulÖkumene verwirklichen will, für die es laut Schweitzer außerhalb der Schule – vor allem in den Kirchen, aber auch im Leben der Kinder und Jugendlichen – keinen Anhalt gebe, ist für das Anliegen einer Toleranzerziehung insbesondere die darauf folgende religionspädagogische Einschätzung des KRU von großem Interesse. Demnach fügt sich der kooperative Religionsunterricht in religionspädagogischer Hinsicht gut mit der für die gegenwärtige Religionspädagogik weithin bestimmenden Diagnose der Pluralität als entscheidender Herausforderung. »In dieser Situation wird Pluralitätsfähigkeit, insbesondere religiöse 957 Vgl. ebd. 958 Vgl. EKD (Hg.), Identität und Verständigung. Standort und Perspektiven des Religionsunterrichts in der Pluralität sowie Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Die bildende Kraft des Religionsunterrichts. Zur Konfessionalität des katholischen Religionsunterrichts. Über die genannten Stellungnahmen hinaus verweist Schweitzer noch auf die gemeinsame Äußerung beider Kirchen zum Thema, die ebenfalls dem beschriebenen Verständnis von Konfessionalität und Kooperation folgt: DBK/EKD (Hg.), Zurück zur Kooperation von Evangelischem und Katholischem Religionsunterricht. 959 F. Schweitzer, Konfessionalität – Ökumene – Pluralitätsverarbeitung, 203. 960 A. a. O., 204. 961 A. a. O.,, 208.

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Pluralitätsfähigkeit, zu einem wesentlichen Bildungsziel.«962 Diese entsteht jedoch erst »durch den Übergang von Pluralität als ungeordneter Vielfalt zu einem Pluralismus, der eine geregelte und reflektierte Form des Umgangs mit Pluralität bezeichnet.« Exakt dieses Pluralismusverständnis entspricht nun auch der erarbeiteten Forderung nach reflektierter Toleranz im Gegensatz zu einem abstrakt bleibenden Toleranzverständnis. Die in diesem Sinne im KRU angestrebte religiöse Pluralitätsfähigkeit sowie die Fähigkeit zur Pluralitätsverarbeitung sind somit von einer Erziehung zu reflektierter Toleranz nicht zu trennen. Insofern kann der konfessionell-kooperative Religionsunterricht auch im Hinblick auf eine Toleranzerziehung als ein zukunftsfähiges Modell für die Religionspädagogik ebenso wie für die Schule im Ganzen bezeichnet werden. Dies wird darüber hinaus hinsichtlich der Notwendigkeit eines differenzierten Angebots deutlich. Für Kinder und Jugendliche ist beides von zentraler Bedeutung: »die Möglichkeit zur Identitätsbildung auch in religiöser und konfessioneller Hinsicht wie die Fähigkeit zu Dialog und Verständigung über die Grenzen von Kulturen, Konfessionen und Religionen hinweg.«963 Mit Blick auf die Umsetzung in der Praxis heißt es weiter : »Im Rahmen des kooperativen Religionsunterrichts entspricht dem der Wechsel zwischen Religionsunterricht ›im Klassenverband‹ und einem Unterricht in konfessionell (weitgehend) homogenen Gruppen. Auf diese Weise werden Erfahrungen der Zugehörigkeit ermöglicht und Identifikationsmöglichkeiten eröffnet, die besonders im Kindesalter auf erwachsene Bezugspersonen – im vorliegenden Falle: auf eine Lehrerin oder einen Lehrer mit derselben Konfessionszugehörigkeit wie der Schüler oder die Schülerin – gerichtet sind. Sprachlich äußert sich dies in der Rede von ›wir‹. Zugleich werden Möglichkeiten des Dialogs und des Umgangs mit Differenz eingeübt.«964 Als ein Schlüsselwort des vorangehenden Zitats ist für eine Erziehung zu reflektierter Toleranz nun der genannte Umgang mit Differenz hervorzuheben, der neben Möglichkeiten des Dialogs im KRU eingeübt werden soll. Bleibende Differenzen werden demnach miteinbezogen und führen somit »vor die Aufgabe des Dialogs in einer Pluralität, die sich nicht einfach philosophisch oder pädagogisch aufheben oder übersteigen lässt.« Erneut ganz im Dienste einer Erziehung zu reflektierter anstelle von abstrakter Toleranz wird Pluralitätsfähigkeit eben gerade nicht durch Ausblendung von Unterschieden erreicht, »sondern durch deren bewusste Wahrnehmung im Sinne von Toleranz, Respekt und wechselseitiger Anerkennung.«965 Mit diesem differenztheoretischen Ansatz entspricht der konfessionell-ko962 963 964 965

A. a. O., 206. A. a. O., 207. Ebd. A. a. O., 208.

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operative Religionsunterricht in seiner dialogischen Ausrichtung somit auch den mit Referenz auf Berger dargelegten Formen und Bedingungen des Dialogs, die als Vorbedingung für die Fähigkeit zu reflektierter Toleranz herausgearbeitet wurden. Es wird deutlich, dass der konfessionell-kooperative Religionsunterricht ganz bewusst nicht der im Rahmen der Modelldiskussion erörterten weit verbreiteten Annahme folgt, Dialog- und Toleranzfähigkeit könnten dann am besten ausgebildet werden, wenn der Unterricht auf einer rein religionswissenschaftlichen oder religionskundlichen Grundlage aus objektiv-distanzierter Perspektive erteilt wird, wie dies exemplarisch u. a. am Brandenburger Schulfach LER aufgezeigt wurde. Vielmehr erweist sich die ihm eigene Konzeption, die Phasen der Identitätsbildung und der dialogischen Öffnung in der geschilderten Weise miteinander vereint, offenkundig als dasjenige Modell, das die erarbeiteten theoretischen Grundlagen einer Erziehung zu reflektierter Toleranz im Schulalltag praktisch werden lassen kann. Angesichts der Tatsache, dass in deutschen Schulen neben evangelischem und katholischem Religionsunterricht zudem auch jüdischer und islamischer Religionsunterricht erteilt wird, stellt sich im Blick auf den Umgang mit anderen Religionen unausweichlich die Frage, ob auch mit diesen Formen von Religionsunterricht Kooperationsverhältnisse eingegangen werden können. Die EKDDenkschrift Identität und Verständigung zieht eine derartige Zusammenarbeit prinzipiell in Betracht966. Für eine Erziehung zu reflektierter Toleranz in interreligiösen Zusammenhängen ist diese Thematik zweifelsohne von großer Bedeutung. Daher sollen Möglichkeiten einer solchen weiterreichenden dialogischen Kooperation im Folgenden mit dem Schwerpunkt auf islamischem Religionsunterricht angedacht werden.

8.1.3 Dialogische Kooperation mit islamischem Religionsunterricht Zukunftsweisend beschreiben einige Lehrkräfte den KRU als »große Chance, die christlichen Religionen als gegenüber einer sehr starken und intensiven muslimischen Religion zu stärken.« Die »christliche Einheit« sei ein »wichtiges Ziel der Zukunft […]. Gemeinsam können wir ein gutes Miteinander dann auch mit den vielen Muslimen an unserer Schule pflegen.«967 Diese Äußerungen weisen direkt auf die Frage nach geeigneten Formen von Religionsunterricht, um Kooperationsverhältnisse mit islamischem Religionsunterricht einzugehen. Angesichts der zu Beginn dieser Untersuchung referierten Integrationsdebatte 966 EKD, Identität und Verständigung, 80. 967 L. Kuld/F. Schweitzer/W. Tzscheetzsch/J. Weinhardt (Hg.), Im Religionsunterricht zusammenarbeiten, 182 f.

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sowie der Befunde der durchgeführten Situationsanalyse, die umfassenden Studien zur sozio-kulturellen Entwicklung der Jugend in Deutschland zufolge auf nicht zu vernachlässigende Vorbehalte und Vorurteile gerade gegenüber dem Islam schließen lassen, erscheinen zunächst einige prinzipielle Ausführungen zu der Praxis eines islamischen Religionsunterrichts an deutschen Schulen im Allgemeinen sinnvoll. Im Zusammenhang mit den Orientierungsbedürfnissen im Kindesalter, denen gemäß Zugehörigkeiten nicht bloß abstrakt zu konstruieren sind, sondern in der Praxis zu einem »dynamische[n] Beziehungsgeschehen«968 führen sollen, muss entwicklungspsychologisch auf das Recht eines jeden Kindes auf Religion verwiesen werden.969 Genauer betrachtet gehört religiöse Erziehung und Bildung und somit »religiöse Orientierungskompetenz aber auch zu den Erfordernissen einer sich globalisierenden Welt«970 und bietet »lebensbegleitende Identitätshilfe«971. Da dies für alle Kinder gleichermaßen gilt, liegt darin »ein wichtiger pädagogischer Grund für die Unterstützung der Forderung nach islamischem Religionsunterricht als ein Recht von Kindern.«972 Da die in Deutschland traditionelle Erteilung eines christlich-konfessionellen Religionsunterrichts jedoch keine religiösen Bildungsmöglichkeiten eröffnet, die dem muslimischen Bekenntnis entsprechen, sollte auch den in Deutschland lebenden zahlreichen jungen Muslimen das Angebot und die Chance zur Ausbildung ihrer religiösen Identität eingeräumt werden. Ferner könnte islamischer Religionsunterricht dadurch indirekt zur Eindämmung der Gefahr des Fundamentalismus beitragen, indem er einer vermeintlichen Bedrohung der muslimischen Identität in Deutschland entgegenwirkt. Dabei ist mit Blick auf die Regelung in Art. 7 Abs. 3 des Grundgesetzes festzuhalten, dass nicht nur die Kirchen, sondern alle Religionsgemeinschaften, die einem Religionsunterricht unter den Voraussetzungen des Grundgesetzes sowie einer entsprechenden Kooperation mit dem Staat zustimmen, zur Erteilung von Religionsunterricht berechtigt sind. Auf dieser Grundlage existiert daher bereits seit einiger Zeit neben dem christlichen auch das Angebot eines jüdischen Religionsunterrichts an staatlichen Schulen. Hinsichtlich der Einrichtung eines islamischen Religionsunterrichts als »ordentliches Lehrfach« besteht bislang allerdings die Schwierigkeit darin, eine islamische Religionsgemeinschaft zu finden, die juristisch als Vertretung der Muslime fungieren und mit dem Staat kooperieren könnte. Wo jedoch Wege gefunden werden, wie solche Religionsgemeinschaften auf Seiten des Islam gebildet werden können und ein islamischer Religionsunter968 969 970 971 972

F. Schweitzer/A. Biesinger et al., Dialogischer Religionsunterricht, 183. Vgl. F. Schweitzer, Das Recht des Kindes auf Religion. A. Biesinger/F. Schweitzer et al., Brauchen Kinder Religion?, 9. A. a. O., 24. F. Schweitzer/A. Biesinger et al., Dialogischer Religionsunterricht, 183.

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richt in Deutschland eingeführt wird, sollte dieser nicht isoliert erteilt, sondern in das Modell eines dialogischen Religionsunterrichts nach dem Prinzip der Kooperation umfassend eingebunden werden – »schon um eine vielfach befürchtete ›Versäulung‹ – ein unverbundenes Nebeneinander der religionsunterrichtlichen Angebote – von vornherein zu vermeiden.«973 Weitere denkbare Richtlinien müssen darin bestehen, dass der islamische Religionsunterricht durch unsere staatlichen Rahmenbedingungen abgesteckt und unter schulischer Aufsicht in deutscher Sprache von qualifizierten Lehrkräften mit theologischer Ausbildung erteilt wird. Diesbezüglich verfügt gerade Baden-Württemberg über besonders geeignete Möglichkeiten, insofern Tübingen jüngst als Standort für das erste Islam-Zentrum in Deutschland ausgewählt wurde, dessen Eröffnung mit Beginn des Wintersemesters 2011/2012 erfolgte974. Bundesweit ist derzeit die Einrichtung dreier weiterer muslimisch-theologischer Zentren in Planung, die ausdrücklich Orte der Wissenschaft sein sollen. Während bislang die große Mehrheit der Imame in Deutschland aus der Türkei oder anderen arabischsprachigen Herkunftsländern kommt und daher nicht vorausgesetzt werden kann, dass sie mit Kultur, Sprache und Alltagsleben in Deutschland vertraut sind, sollen die islamisch-theologischen Zentren die Ausbildung von Imamen und Religionslehrkräften für den Schulunterricht in Deutschland sicherstellen. Die Mitwirkung islamischer Verbände975, die sich auch im wissenschaftlichen Beirat des Islamzentrums vertreten fühlen sollen, gilt dabei als ein Leitprinzip – nicht zuletzt um die Akzeptanz des Zentrums in den Gemeinden zu befördern. Hinsichtlich der Gestaltung der Fächer und des Studiengangs orientiert sich Tübingen augenscheinlich an renommierten Fakultäten der arabischen Welt, zu denen insbesondere Kairo und Istanbul zu zählen sind. Demnach besteht der Fächerkanon aus Koran und Koranlesung, Islamische Glaubenslehre, HadithWissenschaft, Islamisches Recht sowie Islamische Geschichte bzw. Geschichte islamischer Länder. Darüber hinaus wird es in Tübingen zusätzlich einen Lehrstuhl für Religionspädagogik geben, der an den arabischen Vorbild-Institutionen nicht existiert. Da die Zukunftsfähigkeit des kooperativ-dialogischen Religionsunterrichts 973 A. a. O., 182. 974 Vgl. auch im Folgenden A. Bachmann, Art. »Das Islamzentrum sucht Professoren«, im Internet unter http://www.tagblatt.de/Home/nachrichten_artikel,-Das-Islamzentrumsucht-Professoren-_arid,132245_print,1.html (gesehen am 27. 04. 2011). Siehe auch »Zentrum für islamische Theologie (im Aufbau)« auf der Internetseite der Eberhard Karls Universität Tübingen unter www.uni-tuebingen.de/einrichtungen/verwaltung-dezernate/iforschung-strategie-und-recht/zentrum-fuer-islamische-theologie-im-aufbau.html (gesehen am 02. 05. 2011). 975 Es sind dies in erster Linie: der Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ), die Türkisch-Islamische Union (Dipib), die Islamische Glaubensgemeinschaft Baden-Württemberg (IGBW) und der Bosnisch-Islamische Verein Baden-Württemberg.

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und mit ihm die Erziehung zu reflektierter Toleranz in interreligiösen Zusammenhängen auch davon abhängig sein wird, »ob es gelingt, den Dialog und die Kooperation in geeigneter Form über das Christentum hinaus auszudehnen, so dass in Zukunft der jüdische und der islamische Religionsunterricht ebenfalls in die Zusammenarbeit einbezogen werden können«976, sind die geschilderten Entwicklungen im Bereich einer voranschreitenden islamischen Religionspädagogik in Deutschland äußerst begrüßenswert. Nicht nur während der Arbeit in den gemischten Unterrichtsphasen müsste größter Wert auf eine enge Zusammenarbeit zwischen christlichen, muslimischen und ggf. jüdischen Kollegen gelegt werden. Keine islamische Exklave soll entstehen, sondern vielmehr das Recht auf Religion in einer religiös hoch pluralisierten und individualisierten Gesellschaft möglichst umfassend realisiert werden. Der kooperativ-dialogische Religionsunterricht kann sich somit im Dienste der Toleranzerziehung die Präsenz verschiedener Religionen im Schulalltag zu Nutzen machen, indem es nicht bei interreligiösem Lernen über »die Anderen« in konfessionell oder nach Religionszugehörigkeit getrennten Gruppen bleiben soll, sondern trotz aller bestehenden Unterschiede977 ein Lernen von und mit Anderen gemäß der von Berger geforderten dialogischen Auseinandersetzungen ermöglicht wird. Dies scheint pädagogisch und didaktisch sinnvoll zu sein und zu Pluralitätsfähigkeit im Sinne religiöser und weltanschaulicher Urteilsfähigkeit als einem konstitutiven Ziel pluralitätsfähiger Religionsdidaktik beizutragen. Zu diesem Zweck muss die Kooperation so angelegt sein, dass sie persönliche Begegnungen mit anderen Religionen und Weltanschauungen – auch im Klassenverband – mit sich bringt, zugleich jedoch auch eine Verwurzelung und Beheimatung in einer bestimmten Konfession oder Religion noch zulässt und bestärkt. Von diesen Überlegungen ausgehend kann nun, gewissermaßen in Anlehnung und Fortführung an die EKD-Denkschrift »Identität und Verständigung«, in knapper Form der Weg für eine interreligiöse Didaktik vorgezeichnet werden. Als maßgeblicher Bestandteil für ein Leitbild des Religionsunterrichts im 21. Jahrhundert, welches den im Laufe dieser Untersuchung gewonnenen Erkenntnissen bezüglich einer Erziehung zu reflektierter Toleranzfähigkeit Rechnung trägt, müssen dabei zwei Bewegungen gelten: a) die Konzentration nach innen sowie b) die Öffnung nach außen. ad a): Vor dem Hintergrund der erläuterten systematisch-theologischen Erkenntnisse scheint es aus evangelisch-religionspädagogischer Sicht notwendig, im Religionsunterricht ein Bewusstsein für die evangelische Tradition und das Erbe der Reformation zu schärfen. Dies kann durchaus auch unter Zusam976 F. Schweitzer, Konfessionalität – Ökumene – Pluralitätsverarbeitung, 209. 977 Vgl. dazu F. Schweitzer/A. Biesinger et al., Gemeinsamkeiten stärken – Unterschieden gerecht werden.

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menarbeit mit den örtlichen Kirchengemeinden geschehen, um den hervorgehobenen Stellenwert authentischer Begegnungen zu betonen. Durch religiöse Bildung soll die Entwicklung einer religiösen Identität der Schülerinnen und Schüler unterstützt werden. Für alle an der Kooperation beteiligten Partner gilt indes, in diesen Phasen der Konzentration nach innen einen inhaltlichen Schwerpunkt des Religionsunterrichts auf die Wurzeln der Toleranz in der jeweils eigenen Glaubenstradition zu legen. Diese müssen im Zuge der Integration einer interreligiösen Kompetenz in den Bildungsplan theologisch ausführlich erarbeitet und auf didaktisch angemessene Weise im jeweiligen Religionsunterricht vermittelt werden. ad b): Die zweite Bewegung der Öffnung nach außen zielt auf das Eintreten in den Dialog bzw. – um Bergers Terminologie zu folgen – in eine dialogische Auseinandersetzung mit anderen Konfessionen (wie es bereits im Rahmen des KRU praktiziert wird) sowie mit anderen Religionen. Die geschilderte Einrichtung islamischer Zentren an deutschen Universitäten wird über kurz oder lang eine flächendeckende Einführung des islamischen Religionsunterrichts an deutschen Schulen ermöglichen. Eine Zusammenarbeit könnte hier zunächst projektbezogen und themenorientiert978 erfolgen. So wäre denkbar, die jeweiligen Curricula derart aufeinander abzustimmen, dass zu einem beliebigen Zeitpunkt im Laufe eines Schuljahres ein bestimmtes, zuvor als Kooperationsprojekt festgelegtes Thema jeweils aus Sicht der eigenen Religion in getrennten Religionsgruppen ausgiebig beleuchtet wird. Gegen Ende des Schuljahres erfolgt dann ein Unterricht in gleichmäßig gemischt-religiösen Gruppen, in dessen Rahmen die Schülerinnen und Schüler sich gegenseitig, beispielsweise in Form von Referaten, über bestimmte Aspekte der jeweiligen Thematik aus Sicht der je eigenen religiösen Tradition informieren. Während sich dieser Ansatz dabei in der Unterstufe gewiss eher auf phänomenologischer Ebene bewegen würde (beispielsweise religiöse Feste und Ausdrucksformen, religionseigene Gebäude und Gegenstände, Geschichte der je eigenen Religion etc.), wären mit aufsteigender Alters- und Klassenstufe durchaus auch theologische Inhalte in Betracht zu ziehen (wie etwa Gottes- und Menschenbilder, Jenseitsvorstellungen, ethische Fragen etc.). Als Kerngedanke ist jedoch über alle Altersstufen hinweg festzuhalten, dass der Zuwachs an interreligiösem Wissen dabei stets mit konkreten und authentischen Begegnungen einhergeht, die den Ausgangspunkt für dialogische Auseinandersetzungen und die Ausbildung einer reflektierten Toleranz bieten. In Gestalt von Mitschülerinnen und Mitschülern der jeweils anderen Religionsgruppe kann der anderen Religion ein Gesicht verliehen und »dem 978 Schon Adam zieht ein »themenorientiertes Einbringen einzelner Aspekte« zur Förderung der »Toleranzabsicht« in Betracht, vgl. G. Adam, Toleranz als Problem des Religionsunterrichts in religionspädagogischer Sicht, 150.

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Fremden« dadurch sein vormals unter Umständen bedrohlicher Charakter genommen werden. Das Kennenlernen anderer Religionen auf diese Weise lässt einen Abbau von Vorurteilen und die Entwicklung zu reflektierter Toleranzfähigkeit erhoffen. Dabei findet sich der Gedanke, Schüler als Experten979 einzusetzen, indem sie sich gegenseitig über je Eigenes informieren, bereits im konfessionell-kooperativen Religionsunterricht980 und trägt dazu bei, religiöse Sprachlosigkeit auf Seiten der Schülerinnen und Schüler zu überwinden. Eine durch diesen Ansatz zu fördernde, zuallererst jedoch in den Bildungsplan zu integrierende interreligiöse Kompetenz der Schülerinnen und Schüler wurde bereits angesprochen. Darüber hinaus sei darauf hingewiesen, dass ein derartiger Religionsunterricht auch in umfassenderer Hinsicht der Forderung nach Kompetenzorientierung im Bildungsplan 2004 entsprechen kann, indem er die soziale Kompetenz (Arbeit im Team; sich auf »Fremde[s]« einlassen), die sachliche Kompetenz (Wissen über andere Religionen), die methodische Kompetenz (eigene Inhalte ggf. präsentieren), die personale Kompetenz (einen eigenen Standpunkt einnehmen) sowie die kommunikative Kompetenz (dialogische Auseinandersetzungen führen) fördert. Gewiss verlangt ein derartiges Modell des Religionsunterrichts die Schaffung einiger schulorganisatorischer Rahmenbedingungen, die an dieser Stelle auch nicht unterschätzt werden dürfen. In erster Linie wäre für die praktische Umsetzung eine intensive Zusammenarbeit der jeweiligen Religionslehrkräfte erforderlich, um durch detaillierte Planung und vorherige Absprachen einen möglichst reibungslosen Verlauf der Öffnungsphasen sicherzustellen. Die in der Evaluation des KRU gänzlich positiven Rückmeldungen von Seiten der Lehrerschaft bezüglich der Kooperation unter evangelischen und katholischen Kollegen lassen darauf hoffen, dass auch eine Zusammenarbeit im interreligiösen Team trotz des anfänglichen Mehraufwandes letzten Endes als »persönliche Bereicherung« und »Entlastung«981 erlebt werden kann.

979 Wie bei der Betrachtung des Hamburger Modells unter 6.3.3 erwähnt kann sich diese Vorgehensweise mitunter als problematisch erweisen, vgl. B. Asbrand, Zusammen Leben und Lernen im Religionsunterricht, 173 ff. Allerdings wären bei der hier beschriebenen Möglichkeit auch Lehrkräfte beider Religionen als Experten anwesend. 980 Vgl. etwa L. Kuld/F. Schweitzer/W. Tzscheetzsch/J. Weinhardt (Hg.), Im Religionsunterricht zusammenarbeiten, 75. 981 A. a. O., 175.

Der Beitrag zu Toleranzfähigkeit

8.2

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Der Beitrag zu Toleranzfähigkeit

Zweifelsohne hätte der konfessionelle Religionsunterricht in der eben skizzierten, kooperativ-dialogischen Gestalt die Möglichkeit, ein äußerst dynamisches Fach zu werden, das den interreligiösen Dialog fördert, be- und vorantreibt, dadurch dem Fremden das vermeintlich Bedrohliche nimmt und vollkommen im Dienste einer Erziehung zu reflektierter Toleranz steht, die einen eigenen Standpunkt beziehen und sich mit anderen Glaubensansichten im fruchtbaren und bereichernden Dialog auseinandersetzen kann. Für die Erziehung zu Toleranzfähigkeit bedeutet dies wie gesagt, dass in denjenigen Phasen des Unterrichts, in denen konfessioneller Religionsunterricht bzw. Unterricht in der je eigenen Religion und Weltanschauung erteilt wird, jeweils eine gewichtige Vorarbeit für die darauf folgenden kooperativen Phasen der Begegnung mit den je Anderen geleistet werden muss. Diese »Vorarbeit« muss darin bestehen, den Wurzeln der Toleranz von innen, also innerhalb der je eigenen Konfession bzw. Religion nachzuspüren. Denn nur so kann, laut Schwöbel982, ein tragfähiges Fundament für eine aktive, starke, für eine reflektierte Toleranz im Gegensatz zu einer beliebig und abstrakt bleibenden Toleranz erreicht werden. Eine intensive Beschäftigung im Sinne einer existentiellen Auseinandersetzung mit den in der je eigenen Konfession bzw. Religion verwurzelten Motiven und Quellen für Toleranz müsste also die Lehrpläne während der getrennten unterrichtlichen Phasen dominieren. In diesen Phasen muss darüber hinaus die Unterstützung der Suche nach einer persönlichen religiösen Identität im Mittelpunkt stehen, da in der Identitätsbildung, wie sowohl aus den Erkenntnissen der Wissenschaft als auch aus den Ansichten der im Zuge dieser Untersuchung befragten Religionslehrkräfte ersichtlich wurde, eine wichtige Vorbedingung für reflektierte Toleranzfähigkeit liegt. Wird ein Evangelischer Religionsunterricht als ein kooperativer Religionsunterricht in interreligiöser Perspektive gestaltet, so unterrichtet er seinem Selbstverständnis nach aus der Mitte des Glaubens heraus. Er will Kinder und Jugendliche religionsspezifisch einführen und sich anderen Religionen kooperierend öffnen. Dabei will er die Selbstinterpretation der einzelnen Religionen ernst nehmen und je eigene Gesprächsformen mit der jeweiligen Religion suchen.983 Öffnung und Identitätswahrung sind hier also wechselseitig aufeinander bezogen. Da das Verstehen des je Eigenen eine Voraussetzung für ein Verstehen 982 Vgl. 3.1.2.3. 983 Angesichts dieser Tatsache wäre daher bezüglich der Lehrer/-innenausbildung eine obligatorische Vertiefung der religionspädagogischen und religionswissenschaftlichen Kompetenzen während des Studiums wünschenswert, um die angehenden Lehrkräfte auf die Anforderungen, die das Erteilen eines kooperativen Religionsunterrichts mit sich bringt, vorzubereiten.

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des je Anderen darstellt, ist zunächst eine religionsspezifische Einführung in homogenen Lerngruppen zu befürworten, an die sich kooperative Phasen anschließen. Dieses Konzept einer Konzentration nach innen und einer Öffnung nach außen könnte also mit den Schlagworten identifizieren – informieren – profilieren umschrieben werden: an erster Stelle steht das Angebot, die Ausbildung von Identitäten zu unterstützen und pädagogisch zu begleiten. Es folgen Phasen der Kooperation mit anderen Konfessionen, Religionen bzw. Weltanschauungen, in denen durch Begegnung und Dialog von- und miteinander gelernt wird. Dies soll schließlich dazu beitragen, zu einem durch religiöse und weltanschauliche Urteilsfähigkeit profilierten Standpunkt zu gelangen, der – idealerweise – zu reflektierter Toleranz befähigt und, um mit Herms zu reden, zur Praxis eines »Pluralismus aus Prinzip«984 anleitet. In eine solche Form der Kooperation eingebunden kann darin speziell für den Evangelischen Religionsunterricht eine große Chance liegen, zu reflektierter Toleranzfähigkeit in der Pluralität beizutragen. Für alle an einer solchen Kooperation beteiligten Konfessionen und Religionen kommt es in den getrennten Unterrichtsphasen, wie bereits mehrfach betont, darauf an, »in den religiösen Traditionen die religiösen Wurzeln der Toleranz neu zu entdecken und sie als Ressourcen für die Bildung zur Toleranz fruchtbar zu machen.«985 Zu erwähnen ist an dieser Stelle der Ansatz von Lähnemann986, der als ein Beispiel für den Versuch gelten kann, die religiösen Wurzeln der Toleranz innerhalb der christlichen Tradition zu erschließen. Sein Modell bezieht sich dabei auf Jesus als ein Vorbild an Toleranz und Offenheit gegenüber anderen Religionen, was beispielsweise im Gleichnis des barmherzigen Samariters (Lk 10, 25 – 37) deutlich zum Vorschein kommt. Nicht durch das Lehren einer von der Religion losgelösten philosophischen Ethik, sondern vielmehr durch das Herausarbeiten derjenigen Motive für Toleranz, die der christlichen Tradition selbst innewohnen, soll Toleranzfähigkeit hier gefördert werden. Speziell auf evangelischer Seite bietet die reformatorische Tradition mit ihrer Einsicht in die Begründung der Toleranz in der eigenen, unverfügbaren Glaubensgewissheit darüber hinaus einen sehr viel versprechenden Ausgangspunkt. Da jedoch freilich keine dogmatischen Lehrsätze unterrichtet werden können und sollen, liegt eine religionsdidaktische Aufgabe im Dienste der Toleranzerziehung also darin, die komplexen Einsichten und Inhalte der reformatorischen Theologie lehrplantauglich zu gestalten, um sie in jeweils entwicklungspsychologisch angemessener Weise den Schülerinnen und Schülern zu vermitteln. Darüber hinaus wäre es vorab erforderlich, der Vermutung, analoge Begründungen der Toleranz aus 984 E. Herms, Pluralismus aus Prinzip; vgl. 3.1.1.2. 985 Chr. Schwöbel, Pluralismus und Toleranz aus der Sicht des Christentums, 119. 986 Vgl. J. Lähnemann, Evangelische Religionspädagogik in interreligiöser Perspektive.

Zusammenfassung

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anderen religiösen Traditionen entwickeln zu können, gemeinsam mit diesen nachzugehen und diese gesammelten Inhalte im Zuge einer auf Seiten der Schülerschaft zu fördernden interreligiösen Kompetenz im Bildungsplan anschaulich zu machen. Die geschilderten erfreulichen Entwicklungen im Bereich der islamischen Theologie und somit auch der islamischen Religionspädagogik in Deutschland lassen dabei auf kooperative Ansprechpartner hoffen. In der Eröffnung von Zugängen zu einer dichten Ethik liegt der zentrale Beitrag, den religiöse Bildung zu Toleranzfähigkeit in der Pluralität leisten kann. Während aus christlicher Perspektive u. a. die Nächstenliebe, in deren Geiste die Jugend nach Art. 12 der Landesverfassung Baden-Württemberg ausdrücklich zu erziehen ist987, als eine wichtige Quelle der Toleranz in den Vordergrund tritt, muss im Hinblick auf nichtchristliche Religionen nach den Wurzeln für Werte wie Toleranz, Frieden und Verständigung innerhalb ihrer Tradition gesucht werden, um ein gemeinsames Erziehungsziel im Sinne des genannten Art. 12 zu verfolgen. Anders als bei einem durch unpädagogischen Objektivismus geprägten religionskundlichen Unterricht, dessen postulierte Neutralität zur Privatisierung religiöser Konflikte und unter Umständen zu einer Radikalisierung führen kann, soll im Rahmen eines kooperativ-dialogisch gestalteten Religionsunterrichts Verständigung, wechselseitiger Respekt und reflektierte Toleranz nicht oberhalb der bestehenden Spannungen und Unterschiede, sondern durch sie hindurch und gerade im Aushalten derselben gefördert und realisiert werden – also auf der Ebene der Religionen selbst. Über allem darf jedoch nicht vergessen werden, dass Toleranzfähigkeit und die Ergebnisse einer Toleranzerziehung schwer messbar sein werden. Nicht in Form von schulischer Leistungsmessung, sondern durch empirische Untersuchungen werden Entwicklungen hinsichtlich der Fähigkeit zu reflektierter Toleranz auf Schülerseite feststellbar sein. Genauso wie Identitätsbildung darf auch die Bildung zu reflektierter Toleranz somit nicht zu einem unterrichtlichen Projekt mit konkret überprüfbarem Ziel werden. Der Religionsunterricht kann und muss Bildung zu reflektierter Toleranz zwar pädagogisch begleiten, darf aber nicht darüber verfügen.

8.3

Zusammenfassung

Es steht außer Frage, dass religiöse Erziehung und Bildung in einer multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft angesichts der damit einhergehenden 987 Vgl. Art. 12, Erziehungsziel / Träger der Erziehung, in: G. Dürig, Gesetze des Landes BadenWürttemberg. »Christliche Nächstenliebe« ist hier wohl im Sinne eines allgemeinen Kulturguts zu verstehen.

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Evangelischer Religionsunterricht und Toleranzfähigkeit – Zukunftsperspektiven

Herausforderungen auf interreligiöses Lernen und auf eine Erziehung zu reflektierter Toleranzfähigkeit nicht verzichten kann. Mit Blick auf den Wandel von Gesellschaft und Kultur muss sich der Religionsunterricht stärker auf die pluralen Verhältnisse einstellen, als dies bislang der Fall war. Durch konfessionellen Religionsunterricht kann eine elementare religiöse Verwurzelung erreicht und eine erste religiöse Identität gebildet werden, die von den Religionslehrerinnen und Religionslehrern weiterhin zu festigen und zu unterstützen ist. Es ist sinnvoll, jede Förderung der Identität des Kindes bereits im Dienste einer Erziehung zu reflektierter Toleranz988 zu betrachten, da zu reflektierter – im Gegensatz zu abstrakter – Toleranz und zu gegenseitigem Lernen von- und miteinander nur derjenige fähig ist, der sich seiner eigenen Identität besinnen kann.989 Eine zeitweise Öffnung des Religionsunterrichts in Form von kooperativ-dialogischen Phasen scheint der richtige Weg zu sein, um die Kinder und Jugendlichen in jeweils alters- und entwicklungspsychologisch angemessener Art und Weise auf die Herausforderungen der (religiösen) Pluralität vorzubereiten und ihnen durch die Unterstützung ihrer Urteilsfähigkeit Alternativen zu der häufig von Orientierungslosigkeit geprägten religiösen Individualisierung990 aufzuweisen. Wie die Evangelische Kirche in Deutschland betont, liegen große Chancen für die Pluralitäts- und Toleranzfähigkeit von Kindern und Jugendlichen in einem christlichen Religionsunterricht mit interreligiöser Perspektive, der seinen Konstitutionsprinzipien gemäß verfassungsrechtlich durchaus »Mut zu einem konfessorisch grundierten Diskurs«991 zeigen darf und muss – denn konfessionelle Bindungen und Pluralismusfähigkeit widersprechen sich nicht, sondern setzen einander voraus. Beruht eine Erziehung zu Toleranz nämlich allein auf den Prinzipien von Distanz und Objektivität, so nimmt sie allenthalben abstrakte und beliebige Formen an.992 Demgegenüber machen die Ergebnisse dieser Untersuchung deutlich, dass religiöse Bildung, die auf eine Erziehung zu reflektierter Toleranz zielt, nur unter Besinnung auf die Leitlinien von Identitätsbildung und dialogischer Auseinandersetzung mit anderen (Glaubens-)Standpunkten erfolgreich sein kann. Zur konkreten didaktischen Umsetzung bietet das Modell des kooperativ-dialogischen Religionsunterrichts die erforderlichen Voraussetzungen. So kann an konfessionellen und religiösen Bindungen festgehalten und doch zugleich eine konsequente dialogische Öffnung erreicht werden. Im Dienste einer Erziehung zu reflektierter Toleranz müssen die inhaltlichen Schwerpunkte der jeweiligen 988 989 990 991 992

Vgl. 3.1.2.5. Vgl. 3.1.2.3. Vgl. 2.3. K.E. Nipkow, Bildung in einer pluralen Welt, 476. Vgl. 6.2 – 6.4.

Zusammenfassung

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Unterrichtsphasen auf der Betonung der Wurzeln der Toleranz im Innern der eigenen Glaubenstradition993 einerseits sowie andererseits auf der Förderung einer interreligiösen Kompetenz durch dialogische Auseinandersetzungen liegen. Zusammenfassend bleibt festzuhalten: Speziell im Evangelischen Religionsunterricht unter Rückbesinnung auf die reformatorische Tradition und in weiterentwickelter, kooperativ-dialogischer Gestalt liegt das Potential, einen weit über das schulische Klassenzimmer hinaus und in die Realität unserer pluralen Gesellschaft hinein reichenden Beitrag zu reflektierter Toleranzfähigkeit und somit zu einem gelingenden Pluralismus zu leisten. In religionspädagogischer Hinsicht liegen die Herausforderungen der Zukunft weiter darin, eine Didaktik der reflektierten Toleranzerziehung zu erarbeiten, die den im Zuge dieser Untersuchung gewonnenen Erkenntnissen Rechnung trägt.

993 Vgl. 3.1.2.3.2.

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