Europäisierung des Strafrechts in Polen und Deutschland - rechtsstaatliche Grundlagen [1 ed.] 9783428523771, 9783428123773

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Europäisierung des Strafrechts in Polen und Deutschland - rechtsstaatliche Grundlagen [1 ed.]
 9783428523771, 9783428123773

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Schriften zum Strafrecht Heft 185

Europäisierung des Strafrechts in Polen und Deutschland – rechtsstaatliche Grundlagen Herausgegeben von

Jan C. Joerden und Andrzej J. Szwarc

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

JAN C. JOERDEN und ANDRZEJ J. SZWARC (Hg.)

Europäisierung des Strafrechts in Polen und Deutschland – rechtsstaatliche Grundlagen

Schriften zum Strafrecht Heft 185

Europäisierung des Strafrechts in Polen und Deutschland – rechtsstaatliche Grundlagen

Herausgegeben von

Jan C. Joerden und Andrzej J. Szwarc

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2007 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 978-3-428-12377-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Dieser Band fasst die Vorträge zusammen, die im Rahmen der Tagung „Europäisierung des Strafrechts in Polen und Deutschland – rechtsstaatliche Grundlagen“ in der Zeit vom 6. bis zum 9. April 2006 in Poznan´ (Polen) gehalten wurden. Darüber hinaus konnten weitere namhafte Kollegen, die aus terminlichen Gründen nicht an der Tagung hatten teilnehmen können, für einen Beitrag gewonnen werden. Die Herausgeber danken allen Autoren dieses Bandes herzlich für ihre engagierte Mitarbeit. Außerdem danken wir dem Internationalen Büro des BMBF, das die Finanzierung der Tagung und der Drucklegung dieses Bandes aus dem Etat „Deutsch-Polnisches Jahr/Rok Polsko-Niemiecki 2005/2006“ ermöglicht hat. Dank gebührt auch der Adam-Mickiewicz-Uniwersytet Poznan´ und der EuropaUniversität Viadrina Frankfurt (Oder) für die Erbringung erheblicher Eigenmittel für die Zwecke der Tagung und der Drucklegung. Weiterhin danken wir für ihre Unterstützung bei der Vorbereitung der Tagung und der Durchführung der Drucklegung den Mitarbeiterinnen des Lehrstuhls für Strafrecht in Frankfurt (Oder), Frau Dr. Joanna Długosz, Frau Camilla Klich, Frau Manuela Klose und Frau Judith Weisgerber. Für die umsichtige Betreuung des Bandes im Verlag Duncker & Humblot sind wir Herrn Lars Hartmann (Berlin) zu Dank verpflichtet. Frankfurt (Oder)/Poznan´

Jan C. Joerden Andrzej J. Szwarc

Inhaltsverzeichnis A. Zu den Grundlagen einer Europäisierung des Strafrechts Stefan Braum Das Haager-Programm der Europäischen Union – falsche und richtige Schwerpunkte europäischer Strafrechtsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Adam Górski/Andrzej Sakowicz Strafrecht zwischen Widersprüchen: Rechtsprechung, „europäische Gesetzgebung“ und demokratische Legitimation im Entstehungsprozess des europäischen Strafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Roland Hefendehl Der EuGH stellt die strafrechtliche Kompetenzordnung auf den Kopf – und wundert sich über Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Elz˙ bieta Hryniewicz Europäische Delikte, Europäische Rechtsgüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Lech K. Paprzycki Europäische Strafsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Justyn Piskorski Kriminalpolitik im Rahmen der Europäischen Sicherheitsstrategie und der Nationalen Sicherheitsstrategie der Republik Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Uwe Scheffler Die Mindeststandards des Europarates vs. die Mindeststandards des Rates der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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B. Spezielle Probleme der Europäisierung des Strafrechts mit materiell-rechtlichem Ausgangspunkt Joanna Długosz Europäisierung des Strafrechts im Bereich der Geldwäsche. Rechtsstaatliche Anfragen an die Geldwäscheregelungen in Polen und Deutschland . . . . . . . . . . 117 Ryszarda Formuszewicz Perspektiven der Entwicklung des strafrechtlichen Schutzes der finanziellen Interessen der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135

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Inhaltsverzeichnis

Bernd Hecker Das Zusammenwirken von europäischem Abfallwirtschaftsrecht und deutschem Strafrecht am Beispiel der illegalen Abfallverbringung von Deutschland nach Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Eric Hilgendorf Sterbehilfe in Europa: Vom Schutz des Lebens zur Pflicht zum Leiden? Skeptische Anmerkungen zum Fall Diane Pretty . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Maciej Małolepszy Europäisierung der polnischen Strafpolitik – Stand und Perspektiven . . . . . . . . 191 Roland Schmitz Über die Auflösung des (deutschen) nationalen Wirtschaftsstrafrechts durch das europäische Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199

C. Spezielle Probleme der Europäisierung des Strafrechts mit prozessrechtlichem Ausgangspunkt Anna Demenko Vorschläge zur Kooperation im Bereich der Verteidigung und Rechtsbewahrung in einem international geführten Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Robert Esser Europäische Initiativen zur Begrenzung der Untersuchungshaft . . . . . . . . . . . . . 233 Ewa M. Guzik-Makaruk Die Implementation des Europäischen Haftbefehls in Polen und Deutschland im Vergleich – Eine kritische Skizze aus polnischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Bernd Schünemann Die Implementation des europäischen Haftbefehls in Polen und Deutschland im Vergleich – Eine kritische Skizze aus deutscher Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Jan C. Joerden Der Trend zum Kronzeugen in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Paweł Nalewajko Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung in Strafsachen . . . . . . . . . . . . . . 297 Joachim Renzikowski Habeas Corpus – Probleme der Umsetzung von Art. 5 EMRK in Polen und in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Andrzej J. Szwarc Ein Entwurf von Rechtsvorschriften zur Anwendung des Verbots der mehrfachen Einleitung und Führung von Strafverfahren in den Mitgliedstaaten der EU gegen einen einer strafbaren Tat Verdächtigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Autorenverzeichnis

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A. Zu den Grundlagen einer Europäisierung des Strafrechts

Das Haager-Programm der Europäischen Union – falsche und richtige Schwerpunkte europäischer Strafrechtsentwicklung Stefan Braum Einführung Es ist nicht allzu gewagt, die Diskussion um rechtsstaatliche Grundlagen europäischen Strafrechts und um ihre kriminalpolitische Umsetzung mit einem Satz Brechts einzuleiten. Brecht schreibt: „Ein Mann, der K. lange nicht gesehen hatte, begrüßte ihn mit den Worten: Sie haben sich gar nicht verändert. Oh, sagte K. und erbleichte“. Diese Stelle könnte die Wiederkehr des immer Gleichen in der abstrakten, kalten Welt von Systemen und Bürokratien beschreiben. Man selbst glaubt nur an reale Veränderung. Von außen betrachtet ist jeder Wandel nur Schein, von vornherein vernichtet durch die Routinen der Macht. Am 5. November 2004 hat der Europäische Rat das Haager-Programm zur Stärkung von Freiheit, Sicherheit und Recht in der Europäischen Union1 gebilligt. Der Text löst das Tampere-Programm ab, das auf den Ausbau der innenund rechtspolitischen Zusammenarbeit – vor allem durch den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung – ausgerichtet war. Im Folgenden geht es darum, ob mit dem Haager-Programm Veränderungen gegenüber dem in Tampere begonnenen Prozess europäischer Strafrechtsentwicklung verknüpft sind – und wenn ja, welche? Jedenfalls geht es darum, sich um Perspektiven europäischen Strafrechts zu bemühen. Das geschieht in vier Schritten: Zunächst gilt es sich zu vergewissen, was der politische Entwurf des Haager Programms enthält und was im Moment mit ihm geschieht (A). Was daraus folgen kann, beschreibt der zweite Schritt anhand zweier praktischer Beispiele: des Vorschlags zu einem europäischen Strafregister2 und des Grünbuchs zu Kompetenzkonflikten sowie dem „ne bis in idem-Grundatz“3 (B). Welchen poli1 Rat der Europäischen Union, Haager Programm zur Stärkung von Freiheit, Sicherheit und Recht in der Europäischen Union, 16054/04; vgl. auch Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament – Das Haager Programm: Zehn Prioritäten für die nächsten fünf Jahre (. . .). KOM(2005), 184 endg. 2 Vorschlag für einen Rahmenbeschluß des Rates über die Durchführung und den Inhalt des Austauschs von Informationen aus dem Strafregister zwischen den Mitgliedstaaten, KOM(2005), 690 endg.

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Stefan Braum

tischen und theoretischen Bedingungen das Haager-Programm unterliegt, will der dritte Schritt darlegen (C). Was geschehen müsste, ist der Gegenstand von Schritt vier (D). I. Politische Entwürfe – Was im Moment geschieht Dient das Haager-Programm der Veränderung europäischer Kriminalpolitik? Hat sich K. verändert? Oder bleibt die Europäische Union die Europäische Union? Es scheint so. Am Beginn steht ein fragwürdiges Selbstbild: Reflexionen hinsichtlich potentieller Defizite des Programms von Tampere sucht man vergebens. Das Haager-Programm steht auf den ersten Blick in der Kontinuität des Tampere-Prozesses. Auf die europäische Bilanz fällt das warme Licht öffentlicher Meinung – und sei sie auch selbst konstruiert. Die europäische Öffentlichkeit, so heißt es, stehe den EU-Realisierungen im Bereich Justiz und Inneres aufgeschlossen gegenüber.4 An diesem selbstbewussten Selbstbild lassen sich auch kaum Zweifel anmelden, schließlich wird – empirisch verlässlich – eine Meinungsumfrage des renommierten und weltweit bekannten Meinungsforschungsinstituts „Eurobarometer-Flash“ als Beleg angeführt.5 Auf die Frage, was die Bürger Europas als größtes Problem der EU ansehen, werden vier Antworten vorgesehen: Korruption, Drogen, organisierte Kriminalität und Geldwäsche. In der Auswertung verweist die EU darauf, dass die Bürger Europas Antworten auf vier große Problembereiche verlangen. Überraschenderweise geht es um Korruption, Drogen, organisierte Kriminalität und Geldwäsche.6 So inhaltlich bestätigt, findet sich Kritik bestenfalls dort, wo die zögerliche Umsetzung europäischer Rechtsakte beklagt und die Widerstände gegen die Implementation rechtspolitischer Vorschläge der Europäsichen Union verständnislos zur Kenntnis genommen werden.7 Erörtert man, was geschieht, lassen sich drei wesentliche Punkte ausmachen: die Kriminalpolitik steht im Prozess europäischer Verfassungsgenese (I), wird durch administrativen Aktivismus geprägt (II) und durch Konflikte zwischen Freiheit und Sicherheit gekennzeichnet (III).

3 Grünbuch über Kompetenzkonflikte und den Grundsatz ne bis in idem in Strafverfahren, KOM(2005), 696 endg. 4 Vgl. Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament. Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts: Bilanz des Tampere-Programms und Perspektiven, KOM(2004), 401 endg., S. 3 f. 5 Vgl. KOM(2004), 401 endg., S. 4 (Fußnoten 3 und 4). 6 Vgl. a. a. O. 7 Vgl. a. a. O., S. 5.

Das Haager-Programm der Europäischen Union

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1. Kriminalpolitik im Prozess europäischer Verfassungsgebung Zwei Aspekte lassen sich als legitimatorische Substanz des Programms ausmachen. Zum einen die Idee der Sicherheit. Offenbar ganz um die Führerschaft in Meinungsumfragen bemüht, will man populistisch punkten. Dies gelingt, indem Lösungen für Bedrohungsszenarien – Terrorismus und organisierte Kriminalität – öffentlich vermittelt werden. Zum anderen die Idee eines europäischen Verfassungsvertrages: Prognostizierte künftige Verfassungsentwicklung und die Implementation des Haager Programms gehörten eng zusammen.8 Dieser Zusammenhang betraf zum einen die Legitimität der Ziele, die europäische Verfassung und Haager-Programm miteinander verbinden sollten. Sie betraf zum anderen die Mittel, die Kriminalpolitik des Programms auch effektiv mit Hilfe europäischer Rechtsakte durchzusetzen. Aus diesem Zusammenhang folgt nun aber auch, dass die gescheiterte Verfassungspolitik der Europäischen Union sowohl die kriminalpolitischen Mittel als auch deren Ziele massiv in Frage stellt. Damit entsteht das Problem, welche Konsequenzen die Europäische Union nun aus dem vorläufigen Ende des Verfassungsprozesses für die Entwicklung des Strafrechts in Europa zieht und welche sie ziehen müßte. Überzeugt von der Richtigkeit ihrer Kriminalpolitik verfolgt die EU einen pragmatischen verfassungspolitischen Kurs. Lassen sich neue Kompetenzen noch nicht nutzen, gilt es eben alte auszuschöpfen. So könnte die schon in den bestehenden Verträgen sichtbare Strafrechtskompetenzbegründung auf Abruf zur Anwendung gelangen. Danach kann der Rat gemäß Art. 67 Abs. 2 EG beschließen, Bereiche der Dritten Säule zu vergemeinschaften und sie unter das Regime des Mitentscheidungsverfahrens zu stellen.9 Statt transparenter Kompetenzbegründung und der Respektierung des Demokratieprinzips würde der sensible Bereich des Strafrechts wie die Bananenmarktordnung und die Beihilfen für Milchkühe den eher exekutivischen Gesetzgebungsmechanismen des Gemeinschaftsrechts unterworfen. Unter dem – zumal falschen Eindruck – durch den EuGH in der Ausübung strafrechtlicher Anweisungskompetenzen bestärkt zu sein10, wäre ein noch massiverer Zugriff des Gemeinschaftsrechts auf das Strafrecht die Folge – das läge fern von jeder demokratischen Grundlegung europäischen Strafrechts.

8 Vgl. a. a. O., S. 7 f.; vgl. darüber hinaus Rat der Europäischen Union, 16054/04, S. 3. 9 Ausdrücklicher Bezug in KOM(2004), endg., S. 5. 10 Gemeint ist das Urteil des Europäischen Gerichtshofs zu den Kompetenzen der Europäischen Union, das Umweltstrafrecht zu harmonisieren. EuGH vom 13. September 2005, Rs. C-176/03 (Europäische Kommission vs. Europäischer Rat), Leitsätze abgedruckt in wistra 2005, 455. Vgl. dazu den Beitrag von Roland Hefendehl in diesem Band. Vgl. auch Verf., wistra 2006, 121 ff.

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2. Administrativer Aktivismus Dieser pragmatische verfassungspolitische Ansatz ist zugleich Auslöser breit angelegter, teils unfassbar pauschaler, teils punktueller Gesetzgebungsprogrammatik. So erfasst das Haager-Programm für die nächsten Jahre zehn politische Prioritäten – neben Freiheit, innerer Sicherheit und Recht geht es unter anderem auch um Migration und äußere Sicherheit. Es unterbreitet dabei nicht weniger als 345 Vorschläge, die durch europäischen Rechtsakt in den nächsten Jahren bis 2009 umgesetzt werden sollen.11 Dabei finden sich zunächst Vorschläge, die durchaus unterstützenswert sind. Die Europäische Union will sich um verbesserten Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof bemühen, verspricht die uneingeschränkte Anwendung des Subsidiaritätsprinzips, ist bereit, rationale Gesetzgebungsstandards zu akzeptieren und will über die Einhaltung der Grundrechte in der Europäischen Union wachen.12 Alles richtige Schwerpunkte – allein, was bleibt von der Botschaft dieses Wahren, Schönen und Guten übrig? Kohärenz zählt nicht zu den Stärken des Programms – jedenfalls dann, wenn es um die Gewähr von Justizförmigkeit geht. Erst soll die Europäische Beweisanordnung umgesetzt werden, gilt es den Transfer personenbezogener Daten zu erleichtern, will man Mindeststandards von Straftatbeständen einführen. Erst dann, wenn im Zuge des Prinzips gegenseitiger Anerkennung die staatenübergreifende Strafverfolgung erleichtert wurde, sollen Grünbücher zur Unschuldsvermutung, auch zum Problem der Abwesenheitsurteile folgen. Erst nach der Einführung staatenübergreifenden Beweismitteltransfers ist für das Jahr 2007 die Einführung von Mindestnormen der Beweiserhebung vorgesehen. Erst nach dem Ausbau von Europol und Eurojust bis hin zu einer nachrichtendienstlich gestützten Strafverfolgung auf EU-Ebene findet sich – auf Platz 326 des Programms – das Ziel, ein neues Grünbuch für prozessuale Mindeststandards zu unterbreiten – immerhin geplant für das Jahr 2008.13 Überspitzt formuliert, könnten jedoch nach vorangegangener Rechtsvernichtung dieses Grünbuch und ein sich anschließender Rahmenbeschluß eher schmal ausfallen. Damit wird ein grundlegendes Defizit des Programms deutlich. Es beschreibt die Betriebsanleitung eines administrativen Aktivismus, der den Konflikt zwischen Freiheit und Sicherheit, zwischen Justizförmigkeit und Effizienz stets zum Nachteil des Rechts und zum Vorteil politischer Funktionalität löst.

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Vgl. KOM(2005), 184 endg., Anhang, S. 9 ff. Vgl. KOM(2005), 184 endg., S. 3–5. Vgl. a. a. O., Anhang, S. 21, Punkt 326.

Das Haager-Programm der Europäischen Union

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3. Konflikte Zwei Programmpunkte illustrieren diesen Konflikt. Zum einen der Schwerpunkt der Datenerhebung und -verwertung, zum anderen das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, das nach dem Haager-Programm kräftig ausgebaut werden soll. a) Konflikte um Daten Die Europäische Union strebt im Haager-Programm die europaweite Verwendung biometrischer Identifikatoren in Reise- und Ausweispapieren an. Sie will das Schengener Informationssystem der zweiten Generation ausbauen und die Datenverarbeitung bei Europol noch effektiver gestalten.14 Sicherheitsinteressen leiten den erhöhten politischen Bedarf nach umfassenderer Datenerhebung, -übermittlung und -verwertung. Dabei sollen sämtliche EU-Informationssysteme untereinander kompatibel sein. Für den politischen Willen umfassender Datengewinnung statuiert die Europäische Union gar ein eigenes politisches Prinzip, das dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung entgegengesetzt wird. Formelle Verfahren des Informationsaustausches, die als aufwändig betrachtet werden, will man durch den Grundsatz der Verfügbarkeit von Informationen ersetzen.15 In der Abwägung von Funktionalität polizeilicher Gefahrenabwehr und Strafverfolgung einerseits und individuellen Rechten andererseits weist die Waagschale der Funktionalität stets das höhere politische Gewicht auf.16 Demgegenüber erscheint dann die Aussage, das richtige Verhältnis zwischen Datenschutz und Sicherheit finden zu wollen, als Lippenbekenntnis. b) Konflikte um das Prinzip gegenseitiger Anerkennung Gleiches gilt für das Prinzip gegenseitiger Anerkennung. Aller Kritik am Rahmenbeschluss des Europäischen Haftbefehls und seiner staatlichen Umsetzung zum Trotz, beabsichtigt die Europäische Union, im Haager-Programm die Politik gegenseitiger Anerkennung – unreflektiert und losgelöst von ihren Folgen – fortzusetzen. Im Vordergrund stehen Effizienzüberlegungen europäischer Strafverfolgung, dann erst entfalten sich prozedurale Garantien.17 14

Vgl. die Punkte 120, 124, 125 sowie 149–163. Vgl. Rat der Europäischen Union, 16054/04, S. 18; ebenso KOM(2005), 184 endg., S. 7. 16 Der Ausgangspunkt bleibt die bestmögliche Verfügbarkeit persönlicher Daten, die durch die vollumfängliche Nutzung neuer Datenverarbeitungstechnologien sichergestellt werden soll. Erst dann findet der Datenschutz Berücksichtigung. Vgl. etwa Rat der Europäischen Union, 16054/04, S. 18 f. 17 Vgl. vor allem Rat der Europäischen Union, 16054/04, S. 28 f.; auch KOM (2005), endg. S. 7 f. 15

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Rechtspolitische Debatten auf Ministerebene belegen dieses Verhältnis. So hatte sich unter der Ratpräsidentschaft Luxemburgs eine Präzisierung, Erweiterung, gar auch Verbesserung des Rahmenbeschlusses zu den Verfahrensgarantien abgezeichnet. Ein paar Justizminister beharrten darauf, dass dem Prinzip gegenseitiger Anerkennung auch ein gemeinsamer Inhalt vorausgehen müsse. Schon unter britischer Präsidentschaft, vor allem aber unter der Präsidentschaft Österreichs ging das Bemühen um einen hohen Standard gemeinsamer Verfahrensrechte in exekutivischen Grabenkämpfen unter. Das europäische Strafrecht richtet sich an sicherheitspolitischen Interessen aus. Die Instanzen der Exekutive haben dabei einen Vorsprung, der uneinholbar erscheint. Innere Sicherheit ist institutionell verfestigt. Von einer Institutionalisierung europäischer Strafverteidigung liest man nur in visionären Papieren deutscher Strafrechtswissenschaftler.18 Eine Chance auf Realisierung haben diese Papiere derzeit kaum. II. Potentielle Folgen – Was daraus werden könnte Anhand zweier Beispiele nimmt das Haager-Programm bereits konkrete Gestalt an. Das erste Beispiel betrifft den Vorschlag für ein europäisches Strafregister,19 das zweite Beispiel die Absicht, Kompetenzkonflikte bei der grenzüberschreitenden Strafverfolgung zu lösen.20 1. Europäisches Strafregister – Berücksichtigung der in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen Verurteilungen Bislang wurden die in einem anderen Staat ergangenen Verurteilungen in Deutschland nach §§ 54 BZRG und Art. 13 Europarat-Rechtshilfeübereinkommen gehandhabt. Zwei wesentliche Merkmale bestimmen diese Regelungen: der Grundsatz beiderseitiger Strafbarkeit und die Gewährleistung bestehender datenschutzrechtlicher Standards. Der Vorschlag eines europäischen Strafregisters will den Informationsaustausch bei strafrechtlichen Verurteilungen verbessern. Dabei wird als Mangel angesehen, daß die einzelstaatlichen Gerichte Strafen allein unter Berücksichtigung der in ihrem einzelstaatlichen Strafregister erfaßten Vorstrafen verhängen und keine Kenntnis von Verurteilungen haben, die unter Umständen in anderen 18 So etwa das im Rahmen einer von Bernd Schünemann geleiteten internationalen Arbeitsgruppe von Strafrechtlern entstandene „Gesamtkonzept für europäische Strafrechtspflege“, das am 26. und 27. Mai 2006 in Thessaloniki vorgestellt und diskutiert wurde. Vgl. schon Schünemann (Hrsg.), Alternativentwurf europäische Strafverfolgung, 2004. 19 Siehe KOM(2005) 690 endg. 20 Siehe Grünbuch über Kompetenzkonflikte und den Grundsatz ne bis in idem in Strafverfahren, KOM(2005) 696 endg.

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Mitgliedstaaten ergangen sind.21 Ziel ist der Aufbau eines elektronischen Systems zum Austausch von Informationen über strafrechtliche Verurteilungen.22 Das hat zwei schwerwiegende Folgen. Es bedeutet zum einen eine Abkehr vom bilateralen Datenaustausch und die Begründung einer multilateralen Sammlung und Verwertung von Informationen, die zum anderen – mangels gemeinsamer Datenschutzstandards – das bestehende Datenschutzniveau gefährdet. Im Detail wird sichtbar, dass die Datenerfassung viel umfassender werden könnte. So sollen explizit auch Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung, seien sie straf- oder nur ordnungsrechtlich relevant, im System des Informationsaustauschs registrierbar sein.23 Vor allem droht die Vorschrift des § 54 Abs. 1 Nr. 2 BZRG gegenstandslos zu werden, der für die Berücksichtigung einer in einem anderen Staat ergangenen Verurteilung die beiderseitige Strafbarkeit voraussetzte. Wie beim Europäischen Haftbefehl kann diese nun auch bei der Registrierung und Auswertung von Strafregistern entfallen. Die Strafe sei so einzutragen, wie sie im Urteilsmitgliedstaat verhängt wurde, auch wenn das Strafmaß nicht dem innerstaatlichen Recht des Eintragungsstaates entspricht.24 Vom Ermittlungsverfahren bis zur elektronischen Registrierung von Straftaten: überall droht dem Strafrecht ein Verlust prinzipieller Grenzen und ein Übermaß an Strafschärfe. Die Umsetzung des Rahmenbeschluss-Vorschlags ist für den 31. Dezember 2006 vorgesehen. 2. Kompetenzkonflikte und das Prinzip „Ne bis in idem“ Das Grünbuch, das sich der Lösung von Kompetenzkonflikten verschreibt, bringt uns zurück zu Kafka: Ziel ist die Etablierung eines Verweisungsverfahrens innerhalb der Europäischen Union, das die Mehrfachverfolgung derselben Straftat in der Europäischen Union vermeiden soll, indem das Verfahren dem Gericht eines Mitgliedstaates zur weiteren Verfolgung zugewiesen wird.25 Akribisch werden die geplanten Schritte dieses Verweisungsverfahrens beschrieben. So ist im ersten Schritt etwa vorgesehen, dass die Behörden eines Mitgliedstaats, die ein Ermittlungsverfahren eingeleitet haben, in einem Fall, der enge Verbindungen zu einem anderen Mitgliedstaat aufweist, diesen – obligatorisch – informieren.26 Innerhalb einer bestimmten Frist kann der informierte 21

KOM(2005) 690 endg., S. 2. Vgl. auch Vorschlag für einen Rahmenbeschluss des Rates zur Berücksichtigung der in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ergangenen Verurteilungen in einem neuen Strafverfahren, KOM(2005), 091 endg., S. 2. 23 Vgl. KOM(2005) 091 endg., S. 4 (Artikel 2). 24 Vgl. KOM(2005) 091 endg., S. 6 (Artikel 6). 25 Vgl. KOM(2005) 696 endg., S. 3 f. 26 A. a. O., S. 5. 22

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Mitgliedstaat dann Interessen an einer eigenen Strafverfolgung bekunden.27 Sind gar mehr als zwei Mitgliedstaaten potentiell an der Ermittlung des Sachverhalts interessiert, soll eine gemeinsame Prüfung der geeigneten sachlichen Zuständigkeit eines Gerichts erfolgen.28 Etwaig auftretende Streitfragen könnten – so die Vorstellung – durch ein auf EU-Ebene tätiges Gremium mit mediatorischen Aufgaben gelöst werden.29 Auch an die Rechtsstellung der von möglichen Kompetenzkonflikten Betroffenen ist gedacht: Verteidigung des Beschuldigten – auch die Opfer – will die Europäische Union von der „Festlegung des am besten geeigneten Gerichts“ in Kenntnis setzen, ja sogar die Gründe der Entscheidung mitteilen. Schließlich soll – als Krönung europäischer Legislaturkunst – auch die gerichtliche Überprüfung der Kompetenzentscheidung grundsätzlich möglich sein.30 Freilich will man sich nicht mit einer „umfassenden Nachprüfung aller Aspekte, die möglicherweise eine Rolle bei der Zuweisung des Falles gespielt haben“,31 aufhalten. Es genügt, dass die Zuweisung angemessen erscheint und keine Zweifel an der Einhaltung des fair-trial-Grundsatzes aufkommen.32 Kafkaesk erscheint dieses Kompetenzkonflikt-Grünbuch in der Tat, was sich an einem zentralen Prinzip des Strafrechts festmachen läßt: dem gesetzlichen Richter.33 Im deutschen Recht ist der Grundsatz verfassungsrechtlich in Art. 101 Abs. 1 Satz GG verankert. Für das Strafrecht bedeutet er, daß man sich das Gericht, das über die Tat verhandelt, nicht aussuchen kann – weder der Beschuldigte kann das, schon gar nicht der Staat. Sachliche, örtliche und funktionelle Zuständigkeit müssen von Gesetzes wegen bereits feststehen. Ebenso muß die Besetzung des Gerichts vorab vorhersehbar sein. Damit soll verhindert werden, daß sachfremde – politisch willkürliche – Erwägungen die Wahl des Richters bestimmen. Das Prinzip des gesetzlichen Richters will vermeiden, daß Dritte in die Rechtspflege eingreifen. Unparteilichkeit und Sachbezogenheit der Dritten Gewalt befinden sich in höchster Gefahr, wenn der Gerichtsstand auf europäischer Beamtenebene wirklich ausgehandelt werden soll. Aber auch hier wird klar: K. hat sich wahrhaft nicht verändert. Schon in dem im Zuge des Tampere-Programms unterbreiteten Vorschlag eines europäischen Staatsanwalts empfahlen europäische Ministerialbeamte, dieser solle in dem Mitgliedstaat anklagen dürfen, wo eine Verurteilung am leichtesten zu erreichen sei.34 Das 27

A. a. O. A. a. O., S. 5 f. 29 A. a. O., S. 6. 30 A. a. O., S. 6 f. 31 A. a. O., S. 7. 32 A. a. O. 33 Vgl. dazu P.-A. Albrecht, Die vergessene Freiheit, 2003, S. 143 ff. 34 Vgl. Brüner/Spitzer, NStZ 2002, 393 (S. 397); dazu Verf., ZRP 2002, 508 ff. (S. 513). 28

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Gebäude europäischen Strafrechts mag wachsen: zur erweiterten Auslieferung soll nun ein europäisches Rechtsregime der Zuständigkeitsbegründung treten. Freilich entfernt sich die EU mit jedem Baustein von den Fundamenten des rechtsstaatlichen europäischen Strafrechts. Ein solches Gebäude ist schon in seiner Entstehung zum Einsturz und Abbruch verdammt. III. Politische Prämissen Die Defizite, die das Haager-Programm aufweist, sind auch Ausdruck einer gesellschaftstheoretischen Situation. Das Programm versteht sich vor dem Hintergrund – Eines brüchigen verfassungs- und integrationstheoretischen Rahmens – Einer flüchtigen Politik der inneren Sicherheit – Eines – daraus resultierenden – dramatischen Funktionswandels des Strafrechts Zwischen dem europäischen Strafrecht und seiner verfassungspolitischen Verankerung in Europa klafft eine Begründungslücke. Ungeschützt unterliegt das Strafrecht einer europarechtlichen Theoriebildung der funktionalen Integration, die zu einem Teil an die Integrationstheorie Rudolf Smends angeschlossen ist. Nach Smend ist eine verfassungsrechtliche Ordnung nicht notwendig an den Staat gebunden. Vielmehr wird eine Verfassung durch den Prozeß politischer Integration erst hervorgebracht.35 Politische Einheiten definieren sich durch die Leistungen, die sie erbringen. Ihr Wert folgt aus ihrer Fähigkeit zur funktionalen und sachlichen Integration einer Gesellschaft.36 Das europäische Strafrecht ist auf Steuerungsleistungen fixiert, die zugleich die Europäische Union als wertvolle politische Einheit rechtfertigen sollen. So entstehen gleich mehrere Begründungsmuster europäischen Strafrechts: Es kann als Systemschutz gerechtfertigt werden, etwa, wenn es um finanzielle Interessen Europas geht. Vor allem dient es als Versprechen, die Gesellschaften Europas vor Großrisiken bewahren zu können. An dieser Stelle verschränken sich verfassungspolitische Brüchigkeit und sicherheitspolitische Flüchtigkeit europäischer Kriminalpolitik, wie sie sich auch im Haager-Programm ausdrückt. Das Programm speist sich aus Bedrohungsszenarien. Dabei lassen Terrorismus und Organisierte Kriminalität das Szenario des „EU-Betruges“ in den Hintergrund treten. Bedrohungen, auch Risiken sind vielfältig und vor allem nicht territorial begrenzt. So beteiligt sich die Europäische Union auch an der Suche nach einer politischen Konzeption globaler Sozialkontrolle, die dem Unionsbür35 Vgl. etwa Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, in: Staatsrechtliche Abhandlungen, 3. Auflage, S. 119 ff. (S. 190). 36 Smend, a. a. O., S. 142–170.

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ger Sicherheit vermittelt – Schutz vor Bin Laden, der Mafia, aber auch H5N1 oder Migrationsproblemen. Ein Zauberwort dieser Konzeption lautet „Governance“. Dabei geht es um einen gemeinsamen hoheitlichen Willen, staatenübergreifende Probleme gemeinsam und wirksam zu lösen.37 So entsteht ein neuer Typus von Recht, der im Europarecht als „gubernativ“ bezeichnet wurde. Beschrieben ist damit eine neue Form der Gesetzgebung, die als zwangsläufige Folge globaler Sozialkontrolle begriffen wird. Aktuelle Krisen bescheren den Regierungen auf transstaatlicher Ebene die politische Dominanz im Rechtsetzungsprozess. Rechtsetzung muss reaktionsschnell und auf den Punkt erfolgen, um Krisen meistern zu können. Entsprechend rückt das Recht von verallgemeinerbaren Konditionalprogrammen ab und orientiert sich reflexhaft an den gerade erforderlichen Maßnahmen der Risikobewältigung.38 Demokratie als Prinzip passt sich diesen Merkmalen gubernativer Rechtsetzung an. GovernanceKonzeptionen bilden auch den Hintergrund des Haager-Programms, was zugleich die Erosion individueller Rechtspositionen zur Folge hat. Aus diesen Bedingungen integrativer und gubernativer Rechtsetzung folgt für das Strafrecht ein wichtiger Wandel seiner Funktionen. Musste das Präventionsstrafrecht noch ein Rechtsgut benennen, seinen Inhalt beschreiben und die Mittel des Rechtsgüterschutzes begründen können, wirbt das europäische Strafrecht fast ausschließlich mit politischer Funktionalität. Was sich als Angebot globaler Sozialkontrolle darstellen und europäisch vermarkten lässt, erscheint auch legitim. Das Strafrecht ist europäisches Kommunikationsmedium, das den Aktivitäts- und Leistungsnachweis gubernativer Politik erbringen soll.39 Für eine rechtsstaatliche Grundlegung dieses Strafrechts sind das denkbar schlechte Voraussetzungen. IV. Prinzipien des Rechts – Was geschehen müßte Trotzdem lässt das Haager-Programm Raum für das Prinzip Hoffnung – vielleicht gar mehr Raum als die alte Tampere-Programmatik. Diese Hoffnung besteht nicht im Verzicht auf jegliche Europäisierung des Strafrechts. Im Gegenteil hält Europa für das staatliche Strafrecht ein Programm bereit, an dem es sich messen lassen muss. Inhalt des Programms sind die Prinzipien der politischen Aufklärungsphilosophie als Schutz von individueller Freiheit und Menschenrechten nicht durch, sondern auch gegen staatliche Macht. Der Prinzipien37 Vgl. dazu Wolfgang Graf Vitzthum, Der Staat der Staatengemeinschaft, 2006; präzise zum Governance-Begriff Hofmann, „Introduction to EU Administrative Governance“, in: Hofmann/Türk, EU Administrative Governance, 2006. 38 Vgl. auch Verf., Europäische Strafgesetzlichkeit, S. 467 ff. 39 Vgl. zu diesem Funktionswandel des Strafrechts P.-A. Albrecht, Kriminologie, 3. Auflage, 2005, S. 58 ff.; Naucke, „Konturen eines nach-präventiven Strafrechts“, KritV 1999, 336 ff.

Das Haager-Programm der Europäischen Union

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katalog ist alteuropäisch – und soll es auch sein. Ansätze davon finden sich im Haager-Programm wieder, wenn es das faire Verfahren, die Unschuldsvermutung, auch Verteidigungsrechte in Bezug nimmt.40 Natürlich lässt sich dieser Katalog erweitern: um Gesetzlichkeit, nemo-tenetur, Waffengleichheit, Öffentlichkeit, Unmittelbarkeit und Mündlichkeit, um den schon erwähnten gesetzlichen Richter. Ganz praktisch lässt das Haager-Programm hoffen, diese Prinzipien europaweit wirksam zu implementieren. Zum einen sieht die Europäische Union ein durchaus selbstreflexives Verfahren ihrer Gesetzgebung vor – die Evaluation.41 Grundsätzlich könnte dies die Kontrolle von Folgewirkungen europäischer Rechtsakte und ihre normative Verträglichkeit ermöglichen. Versteht man diese Evaluation in weiterem Sinne, lassen sich vielleicht auch Distanzen ermessen zwischen europäischen Strafrechtsprinzipien – kodifiziert in Grundrechtecharta, Menschenrechtskonvention und staatlichen Verfassungsordnungen – und den Realitäten der Kriminaljustizsysteme in Europa. So verstanden enthält der Evaluationsgedanke des Haager-Programms auch den strafrechtswissenschaftlichen Anspruch über bestehende Strafrechtsdefizite in ganz Europa aufzuklären, also unbestimmte und unwirksame Straftatbestände zu skandalisieren, unverhältnismäßige Sanktionen zu kritisieren, Grundsätze fairen Verfahrens einzuklagen und nicht zuletzt inhumanen Strafvollzug in das Licht der europäischen Öffentlichkeit zu rücken. Letztlich kann europäisches Strafrecht nicht exekutivisch verordnet werden, es muß „von unten“ wachsen. Für die Definition des „von unten“ enthält Den Haag eine versteckte, aber wichtige Perspektive bereit – das Ziel einer europäischen Juristenausbildung.42 Gerade im Strafrecht werden sich daher Schwerpunkte verlagern müssen. Angehende Juristen müssen nicht nur dogmatische Probleme lösen können, sondern ein methodisches Rüstzeug besitzen, das Europas Recht grenzübergreifend verständlich und anwendbar werden lässt. Europäische Juristen müssen sich über Grenzen hinweg bewegen können. Sie werden gerade als Strafjuristen daher das ein oder andere dogmatische Detail weniger wissen müssen, dafür aber um so vertrauter mit der Wichtigkeit europäischer Rechtsprinzipien sein. Dazu muss die Ausbildung europäischer (Straf-)Juristen drei wichtige Kriterien erfüllen: grundlagenorientiert, rechtsvergleichend und interdisziplinär. Europäisch so ausgebildete Juristen sind kritische Juristen. Nur wer die Bedeutung rechtsstaatlicher Prinzipien kennt, wird sie im Ernstfall verteidigen.

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Vgl. KOM(2005) 184 endg., S. 8. A. a. O., S. 8 f. Vgl. a. a. O., Anhang, Punkte 261–264 (S. 19).

Strafrecht zwischen Widersprüchen: Rechtsprechung, „europäische Gesetzgebung“ und demokratische Legitimation im Entstehungsprozess des europäischen Strafrechts Adam Górski1 und Andrzej Sakowicz2 I. Zahlreiche Kommentare, Artikel, Gutachten, Glossen, didaktische Bearbeitungen und einschlägige wissenschaftliche Diskussion berühren so viele Aspekte, dass es angebracht scheint, einzelne Probleme zu isolieren, sie zu beschreiben und wissenschaftlich zu diagnostizieren. Der richtige Zeitpunkt hierfür kam vor allem mit der Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichtshofes über die Vereinbarkeit des Gesetzes über die Umsetzung des europäischen Haftbefehls mit der Verfassung3 sowie mit der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes vom 16.06.2005.4 Wie unschwer zu sehen, ist im Zusammenhang mit den oben erwähnten Entscheidungen eine weitere Polarisierung der Meinungen hinsichtlich jener Frage zu erwarten, die als eine Art Maßstab der Entwicklung und der Grenzen der europäischen Integration in Strafsachen gilt. Schon Kommentare5, Artikel6, Gutachten7, Glossen8 und didaktische Bearbeitungen9 als auch die Begründung zur 1

Adiunkt, Jagiellonen Universität, Krakau. Adiunkt, Universität zu Białystok, Białystok. 3 Entscheidung des VerfGH vom 27.04.2005 (P 1/05) über die Vereinbarkeit von Art. 607t § 1 StPO mit Art. 55 Abs. 1 der polnischen Verfassung. 4 Entscheidung des EuGH vom 16.06.2005 in der Rechtssache Maria Pupino (C105/03). 5 Siehe P. Hofman ´ ski/E. Sadzik/K. Zgryzek, Kodeks poste˛powania karnego. Suplement (Strafprozessordnung. Suplement), Warszawa 2004, S. 37 ff.; T. Grzegorczyk, Kodeks poste˛powania karnego. Komentarz (Strafprozessordnung. Kommentar), S. 1146; A. Górski/A. Sakowicz, Komentarz do decyzji ramowej Rady Unii Europejskiej w sprawie europejskiego nakazu aresztowania i procedury wydawania osób mie˛dzy pan´stwami członkowskim (Kommentar zum Rahmenbeschluss des Rates über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten), in: Prawo Wspólnot Europejskich a prawo karne. Dokumenty karne. Cze˛s´c´ II (Das Recht der Europäischen Gemeinschaften und das Strafrecht. Strafdokumente), E. Zielin´ska (Hrsg.), Warszawa 2005, S. 266–314; A. Górski/A. Sakowicz, Komentarz do Rozdziału 65a i 65b (Kommentar zu Kapitel 65a und 65b), in: K. T. Boratyn´ska/ 2

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Entscheidung des VerfGH lassen eine Gruppe von Problemen formulieren, die im Falle Polens als Meilensteine der europäischen Integration in Strafsachen anzusehen sind. A. Górski/A. Sakowicz/A. Waz˙ ny, Kodeks poste˛powania karnego. Komentarz (Strafprozessordnung. Kommentar), Warszawa 2005, S. 1093–1128. 6 F. Jasin´ski, „Europejski nakaz aresztowania“ (Der Europäische Haftbefehl), Stosunki Mie˛dzynarodowe 2003/3–4, S. 41; A. Górski/A. Sakowicz, „The European Arrest Warrant: a substantial step towards ,European prosecution‘?“, Studia Prawno-Europejskie 2004/7, S. 111–125; A. Górski/A. Sakowicz, „Europejski nakaz aresztowania – miedzy efektywnos´cia˛ s´cigania a gwarancyjna˛ funkcja˛ praw człowieka“ (Der Europäische Haftbefehl – zwischen der Effizienz der Verfolgung und der Garantiefunktion der Menschenrechte), Przegla˛d Policyjny 2002/3–4, S. 50–70; A. Górski/A. Sakowicz, „Bariery prawne integracji europejskiej w sprawach karnych“ (Rechtliche Barrieren der europäischen Integration in Strafsachen), Centrum Europejskie Natolin Materiały Robocze 2005/3, S. 12–24; P. Kruszyn´ski, „O niektórych propozycjach rza˛dowego projektu ustawy o zmianie ustawy – kodeks karny, ustawy – kodeks poste˛powania karnego oraz ustawy – kodeks wykroczen´ (w redakcji z dnia 19 sierpnia 2003 r.)“ (Zu einigen Vorschlägen des Regierungsentwurfs des Gesetzes über die Änderung des Gesetzes – Strafgesetzbuch, des Gesetzes – Strafprozessordnung und des Gesetzes – Übertretungsgesetzbuch (in der Fassung vom 19. August 2003)), Prokuratura i Prawo 2004/2, S. 91–93; T. Grzegorczyk, „Procedowanie w sprawie europejskiego nakazu aresztowania“ (Verfahren in der Sache des Europäischen Haftbefehls), Prokuratura i Prawo 2005/4, S. 9; O. Ke˛dzierska, „Europejski nakaz aresztowania jako alternatywa dla ekstradycji w pan´stwach Unii Europejskiej“ (Der Europäische Haftbefehl als eine Alternative für die Auslieferung in den Mitgliedstaaten der EU) in: Unia Europejska – wyzwania dla polskiej Policji (EU – Herausforderungen für die polnische Polizei), W. Pływaczewski, G. Ke˛dzierska, P. Bogdalski (Hrsg.), Szczytno 2003, S. 328–338; P. Bogdanowicz, „Niekonstytucyjnos´c´ europejskiego nakazu aresztowania“ (Verfassungswidrigkeit des Europäischen Haftbefehls), Palestra 2005/3–4, S. 63–72; E. Piontek, „Europejski nakaz aresztowania“ (Der Europäische Haftbefehl), Pan´stwo i Prawo 2004/4, S. 39–42; E. Weigend/A. Górski, „Die Implementierung des Europäischen Haftbefehls in das polnische Strafrecht“, Zeitschrift für die Gesamte Strafrechtswissenschaft 2005/1, S. 193–207. S. Steinborn, „Europejski Nakaz Aresztowania – Kilka uwag o implementacji zasad ogólnych w polskim kodeksie poste˛powania karnego“ (Der Europäische Haftbefehl – einige Bemerkungen zur Implementierung der allgemeinen Grundsätze in der polnischen Strafprozessordnung), Gdan´skie Studia Prawnicze Band XIV, 2005, S. 1145–1161. 7 Im Laufe der Legislativarbeiten legten entsprechende Legislativgutachten vor: E. Piontek/M. Płachta und P. Sarnecki, Sieje Sejmdruck Nr. 2031 – www.sejm.gov.pl; W. Czaplin´ski/S. Gebethner, in: Z. Siwik/W. Czaplin´ski/S. Gebethner, „O projekcie ustawy o zmianie ustawy – Kodeks karny oraz ustawy – Kodeks poste˛powania karnego (europejski nakaz aresztowania)“ (Zum Entwurf des Gesetzes über die Änderung des Gesetzes – Strafgesetzbuch und des Gesetzes – Strafprozessordnung (der Europäische Haftbefehl)), Przegla˛d Legislacyjny 2004/2, S. 153–158. 8 Siehe P. Hofman´ski, „Glosa do wyroku TK z 27.04.2005 r.“ (Glosse zur Entscheidung des VerfGH vom 27.04.2005 (P 1/05), Pan´stwo i Prawo 2005, Nr. 9, S. 113–117; P. Kruszyn´ski, „Glosa do wyroku TK z 27.04.2005 r. (P 1/05)“ (Glosse zur Entscheidung des VerfGH vom 27.04.2005 (P 1/05)), Palestra 2005, Nr. 7–8, S. 289–294. 9 Siehe P. Kruszyn´ski (Hrsg.), Wykład prawa karnego procesowego (Vorlesung des Strafverfahrensrechts), Białystok 2004, S. 500; T. Grzegorczyk in: T. Grzegorczyk/J. Tylman, Polskie poste˛powanie karne (Das polnische Strafverfahren), Warszawa 2005, S. 927.

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Die ersten Eindrücke hinsichtlich der erwähnten Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichtshofes10 lassen unwillkürlich Assoziationen zu dem „Verfassungspräzedenzfall Solange I“ entstehen, was wohl darauf zurückzuführen ist, dass die Argumentation der deutschen Entscheidung zum großen Teil in der EHB-Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichtshofes in gewisser Weise ihren Niederschlag gefunden hat. Nun gilt es, den mit der deutschen Verfassungsrechtslehre weniger vertrauten Lesern die Entscheidungen Solange I, Solange II und Maastricht in ihrem Wesensgehalt näher darzustellen. Im Fall Solange I11 (das Urteil erging übrigens gegen drei Sondervoten) hat das Bundesverfassungsgericht (entgegen der früheren Anerkennung der Hauptgrundsätze des Gemeinschaftsrechts, bei gleichzeitiger Anerkennung des eigenständigen Charakters des Gemeinschaftsrechts und der begründeten Feststellung, dieses sei weder das internationale Recht im herkömmlichen Sinne noch das nationale Recht) festgestellt, dass das Verfassungsrecht zu einem bestimmten Teil nicht durch das Gemeinschaftsrecht relativiert werden darf. Das BVerfG vertrat die Meinung, die Eigenständigkeit der Verfassungsordnung dürfe nicht in Frage gestellt und die grundlegenden „Konstruktionen“ dürften nicht verletzt werden. In seinen Ausführungen bezog sich das BVerfG auf den Schutz der Grundrechte und ging davon aus, dass diese auf der Gemeinschaftsebene nicht hinreichend geschützt werden, weil in den Gemeinschaftsregelungen ein einheitlicher, mit dem Grundrechtskatalog des deutschen Grundgesetzes vergleichbarer Katalog der Grundrechte fehlt. Dies verleitete das BVerfG zum folgenden Schluss – solange das Gemeinschaftsrecht einen solchen Katalog nicht enthält, kommt den dem Schutz von Grundrechten dienenden Rechtsnormen der bundesdeutschen Gesetzgebung eine Schutzfunktion vor den Rechtsakten des Gemeinschaftsrechts zu. 12 Jahre später stand das BVerfG vor dem gleichen Problem im Falle Solange II12. Diesmal aber stellte das BVerfG fest, dass der Grundrechtsschutz, auch wenn ein geschriebener Grundrechtskatalog immer noch fehlt, in der ungeschriebenen Form so weit fortgeschritten ist, dass eine Übertragung des Grundrechtsschutzes auf die Gemeinschaftsebene zulässig ist, weil jene ungeschriebenen Regelungen den Maßstäben der nationalen Regelungen genügen. Zugleich aber behielt sich das BVerfG das Recht auf die Prüfung vor, ob die Grundrechte hinreichend geschützt sind. Auch in einem anderen Fall (Maastricht)13 stellte das BVerfG fest, dass die Bundesrepublik Deutschland (wie auch andere Mitgliedstaaten) „Herren der Verträge“ bleiben, und zwar als Mitbegründer und 10 Wenn im Text vom Verfassungsgerichtshof (VerfGH) die Rede ist, so ist damit das polnische Verfassungsgericht gemeint. BVerfG – Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. 11 Entscheidung des BVerfG vom 29.05.1974, Solange I, BVerfGE 37, S. 271. 12 Entscheidung des BVerfG vom 22.10.1986, Solange II, BVerfGE 73, S. 339. 13 Entscheidung des BVerfG vom 12.10.1993, BVerfGE 89, S. 155.

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im Hinblick auf die unbefristete Mitgliedschaft. Gleichzeitig nahm das BVerfG an, dass die Gültigkeit und die Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts vom innerstaatlichen Recht Deutschlands abhängig sind. Aus der Solange I-Entscheidung und der Entscheidung des polnischen VerfGH zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des EHB lassen sich freilich keine identischen Schlüsse ziehen. Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts gilt nämlich für die Instrumente der 3. Säule nicht. Und die Rolle des EuGH in der 3. Säule wird wohl nicht in einer einfachen Übertragung und Ausdehnung der Rechtsprechung auf die 3. Säule bestehen können. Der Auslegungsprozess, vom Verfassungsgericht im Bereich der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen auf der einen Seite und vom EuGH im Bereich der Auslegung von Rahmenbeschlüssen auf der anderen Seite vollzogen, ist Tatsache geworden, und es kann ohne allzu großes Übertreibungsrisiko gesagt werden, dass jede neue Vorabentscheidung des EuGH neue Möglichkeiten hinsichtlich dessen eröffnet, wie die gemeinschaftlichen Verpflichtungen eines Staates im Bereich der 3. Säule zu verstehen sind. II. Es lohnte sich, die mit der Verfassungsmäßigkeit des Europäischen Haftbefehls verbundenen, von der polnischen Rechtslehre diskutierten und in der einschlägigen Entscheidung des VerfGH kumulierten Probleme näher zu spezifizieren. Nach deren Selektion wäre dann eine Diagnose hinsichtlich dessen möglich, ob die kreative Rechtsprechungstätigkeit des EuGH im Bereich der Antworten auf präjudizielle Fragen ein Remedium gegen all die damit verbundenen Zweifel bieten kann. Die aufgetauchten Probleme lassen sich wie folgt darstellen (die vorgeschlagene Einteilung ist keineswegs disjunktiv, es ist vielmehr eine enumerative Darstellung von sich im Grunde durchdringenden Problemen): – Stellung des Rahmenbeschlusses in der innerstaatlichen Rechtsordnung: Rahmenbeschluss als Verpflichtung oder Rahmenbeschluss als „Rechtsquelle“; – Auslegung der auf Gemeinschaftsverpflichtungen zurückgehenden Gesetze (Umsetzungsgesetze) und die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung im 3. Pfeiler – eine Korrelation dieser beiden Probleme; – Unterschied zwischen dem europäischen Haftbefehl und der Auslieferung (dieses Problem ist freilich auch Gegenstand der Interpretation von gemeinschaftlichen Verpflichtungen). Beginnen wir mit dem letztgenannten Problem. Das Problem der Identität der Begriffe „Europäischer Haftbefehl“ und „Auslieferung“ entschied der VerfGH, indem er auch die Unvereinbarkeit des einschlägigen Gesetzes mit Art. 55 der

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polnischen Verfassung feststellte. Auf dieses Problem wurde früher mehrmals im Sinne dieses Präjudikats in der Fachliteratur hingewiesen14, in erster Linie mit dem Argument, dass ein Rechtsinstitut in seinem Wesensgehalt nicht durch eine bloße Namensänderung geändert werden kann, und die Definitionen der Auslieferung und der Übergabe im Rahmen des EHB übereinstimmend sind, mit dem Vorbehalt allerdings, dass die betroffenen Staaten Mitgliedstaaten der EU sein müssen. Dieser Unterschied wie auch die Tatsache, dass die Entscheidung über die Übergabe von politischen Motiven frei ist, bilden nach Meinung der Anhänger dieser These keine differentia specifica zwischen dem EHB und der Auslieferung. Dieser Argumentation tut auch die Tatsache keinen Abbruch, dass die EU diese Probleme schon früher mit „Konventionsmethoden“ anzugehen versuchte, denn es sei hier angemerkt, dass der Rahmenbeschluss in einem Teil dieser Publikationen, falls expressis verbis zur Sprache gebracht, als ein völkerrechtliches Instrument15 angesehen wird. Auf der anderen Seite wird, wenn auch immer seltener, in den Diskussionen auf eine „Vergemeinschaftlichung“ dieses Instruments der europäischen Integration16 und – unseres Erachtens zu Recht – auf die Konsequenzen dieser Stellungnahme hingewiesen. Es sei aber auch angemerkt, dass das Institut der Auslieferung selbst einem weitgehenden, von Definitionsschwierigkeiten17 begleiteten Wandel unterlag. Es gilt nun Meinungen anzuführen, nach denen die neuzeitliche und die antike 14 M. Płachta, „Europejski nakaz aresztowania (wydania): Kłopotliwa ,rewolucja‘ w ekstradycji“ (Der Europäische Haftbefehl (Übergabebefehl): Eine problematische „Revolution“ in der Auslieferung), Studia Europejskie 2002/3, S. 51; M. Płachta, „Europejski nakaz aresztowania a ekstradycja“ (Der Europäische Haftbefehl und die Auslieferung), Jurysta 2002/12, S. 13–14; M. Płachta, „European Arrest Warrant: Revolution in Extradition?“, European Journal of Crime, Criminal Law and Criminal Justice 2003/2, S. 178–194; M. Płachta/S. Wesołowski, „Europejski nakaz aresztowania (wydania). Podstawowe rozwia˛zania“ (Der Europäische Haftbefehl (Übergabe). Hauptlösungen), M. Seweryn´ski und Z. Hajna (Hrsg.), Studia Prawno-Europejskie, Band VI, S. 195; P. Winczorek, „Europejskie aresztowanie a polska konstytucja“ (Die Europäische Haft und die polnische Verfassung), Rzeczpospolita vom 17.11.2003, S. C 3; T. Grzegorczyk in: T. Grzegorczyk/J. Tylman, Polskie poste˛powanie karne . . . (Das polnische Strafverfahren . . .), S. 927. 15 M. Płachta, Europejski nakaz aresztowania (wydania) . . . (Der Europäische Haftbefehl (Übergabe) . . .), S. 57–58. Zu einem ähnlichen Schluss können auch die Erwägungen von M. Muszyn´ski führen, „Europejski nakaz aresztowania, czyli ekstradycja“ (Der Europäische Haftbefehl, d.h. die Auslieferung), Rzeczpospolita vom 6.10.2003, S. C 3. So über die Rechtsinstrumente der dritten Säule, in abstracto, z. B. auch G. Conway, „Judicial Interpretation and the Third Pillar“, European Journal of Crime, Criminal Law and Criminal Justice 2005/2, S. 255–283. 16 E. Piontek, Europejski nakaz aresztowania . . . (Der Europäische Haftbefehl), S. 40–41; R. Ostrihansky, „Nakazac´ zakazane (Das Verbotene gebieten)“, Rzeczpospolita vom 10.11.2003, S. C 3. 17 Diese Schwierigkeiten stellt B. Wierzbicki dar, „O azylach i ekstradycji przeste˛pców“ (Über das Asyl und die Auslieferung von Straftätern), Warszawa 1982, S. 33.

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Auslieferung eine „Kluft trennt“, so dass wir es mit zwei verschiedenen Instituten zu tun haben18. Liegt zwischen der Auslieferung als Instrument der Feindlichkeits- und Revolutionsordnung und dem europäischen Haftbefehl nicht etwa eine ähnliche Kluft? Am Rande: das Problem der Bedeutungsidentität beider Begriffe – Auslieferung und Übergabe nach Maßgabe des europäischen Haftbefehls – scheint um so komplexer zu sein, als berücksichtigt wird, dass ein Teil der Mitgliedstaaten die Vorschriften des Rahmenbeschlusses in die Auslieferungsvorschriften implementiert, und ein anderer Teil – darunter Polen – autonome Vorschriften beschlossen hat, und es ist wohl anzunehmen, dass hierbei nicht allein technische Unterschiede ins Spiel kommen19. Es lohnte sich auch, die Frage nach den Ergebnissen zu stellen, wollte man auf diesen Rahmenbeschluss dieselben Auslegungsgrundsätze anwenden, die für das Vertragsrecht gelten. Gemäß Art. 31 des Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23.05.196920 ist ein Vertrag nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen. Für die Auslegung eines Vertrages bedeutet der Zusammenhang außer dem Vertragswortlaut samt Präambel und Anlagen jede sich auf den Vertrag beziehende Übereinkunft, die zwischen allen Vertragsparteien anlässlich des Vertragsabschlusses getroffen wurde, jede Urkunde, die von einer oder mehreren Vertragsparteien anlässlich des Vertragsabschlusses abgefasst und von den anderen Vertragsparteien als eine sich auf den Vertrag beziehende Urkunde angenommen wurde. Eine besondere Bedeutung ist einem Ausdruck beizulegen, wenn feststeht, dass die Vertragsparteien dies beabsichtigt haben21. Abgesehen davon, dass ein solches völkerrechtliches Abkommen nach seiner Ratifizierung keines Implementierungsgesetzes zu Umsetzungszwecken bedürfen würde (was bei einer Rahmenentscheidung der Fall ist) und self-executing wäre (dies ist der Hauptunterschied zwischen einem völkerrechtlichen Vertrag und einem Rahmenbeschluss), so würden die vertragsbezogenen Auslegungsgrundsätze ohnehin die Feststellung der eventuellen Verfassungswidrigkeit sei18 M. Płachta, „Kidnaping mie˛dzynarodowy w słuz ˙ bie prawa“ (Der internationale Kidnaping im Dienst des Rechts), Warszawa 2005, S. 25. 19 Eine Zusammenstellung des technischen Verfahrens bei der Implementierung des Rahmenbeschlusses (als eigenständigen Rechtsinstruments sui generis oder als Auslieferung ist unter www.eurowarrant.net zu finden. In dem griechischen Bericht dagegen (Police and Judicial Cooperation in the European Union. FIDE 2004 National Reports, A. Moore (Hrsg.), Cambridge 2004, S. 129) differenziert S. Koutoulakou klarer zwischen der Übergabe und der Auslieferung in der Stellungnahme dieses Landes zu den Vorschriften des Rahmenbeschlusses. 20 Amtsblatt von 1990 r. Nr. 74, Pos. 439. 21 Siehe auch die Bemerkungen zur Auslegung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl von E. Piontek, Europejski nakaz aresztowania . . . (Der Europäische Haftbefehl . . .), S. 34–35.

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ner Normierungen wesentlich „erschweren“22. Unter der Annahme, wir hätten es mit einer „Art internationaler Vertrag“ zu tun, also unter Hervorhebung der „Intergouvernementalität“ dieses Instruments, kämen wir sehr wahrscheinlich zu ähnlichen Schlüssen wie die Anhänger der „Verfassungsmäßigkeit des EHB“, und zwar weil Polen bis jetzt kein internationales Abkommen geschlossen hat, das obligatorisch, ausdrücklich oder konkludent das Auslieferungshindernis der Staatsbürgerschaft derogiert hätte. Kommen wir aber noch einmal kurz auf die These über den Mangel an wesentlichen Unterschieden, differentia specifica, zwischen dem EHB und der Auslieferung zurück. Wer das Vorliegen eines solchen Unterschiedes bejaht, ist auch trotz des „Arguments gemeinschaftlicher Verpflichtungen“23 bemüht, diesen Unterschied mit Verweis darauf zu beweisen, dass die Übergabe (surrender) im „Raum der Freiheit, Sicherheit und des Rechts“ zu erfolgen hat24. Auf den ersten Blick scheint diese Argumentation ein völlig unbegründeter, sophistischer Wunsch zu sein, im Wege der Auslegung das erwünschte Ziel erreichen zu können. Die EU ist kein Staat – und höchstwahrscheinlich wird sie es nie sein –, der Europäische Haftbefehl wird folglich nicht im Bereich einer Staatlichkeit ausgeführt. Der Raum der Freiheit, Sicherheit und des Rechts, auch wenn er ein „relativ einheitliches Rechtsniveau“ hat, bildet dennoch keine europäische Territorialstruktur („Europäischer Universalismus“), und es sind eben jene Unterschiede in den Strafrechtsordnungen der Mitgliedstaaten, aus denen sich der – unmittelbare oder mittelbare – Schutz des Einzelnen durch völkerrechtliche Übereinkommen und Verfassungen ergibt. Ohne die Unterschiede in den jeweiligen Rechtsordnungen gäbe es kein internationales Strafrecht25, und diese Unterschiede begründen die Verfassungsgarantien des Einzelnen. Der Europäische Haftbefehl reduziert erheblich die Hindernisse des internationalen Strafrechts, schafft allerdings keine Verfassungsalternative – keinen Verfassungsrahmen – 22 Dies geht auch aus den Erwägungen von E. Piontek hervor: Europejski nakaz aresztowania . . . (Der Europäische Haftbefehl . . .), S. 40, der dieses Problem auf den Beitrittsvertrag bezieht und begründet, dass Polen lediglich argumentieren könnte, den Beitrittsvertrag nicht ratifizieren zu können, weil dieser mit der Verfassung unvereinbar war. Freilich bezieht sich unser Problem nicht auf den Beitrittsvertrag selbst und ist viel komplizierter. In seinem Wesensgehalt bleibt es dennoch gleich. 23 Das, was als Folge des gemeinschaftlichen Besitzstandes gilt, kann a priori nicht mit der Verfassung unvereinbar sein, denn dies würde eine tief greifende Verletzung der Kohärenz des Rechtssystems bedeuten. 24 E. Piontek, Europejski nakaz aresztowania . . . (Der Europäische Haftbefehl . . .), S. 40; W. Czaplin´ski/S. Gebethner in: Z. Siwik/W. Czaplin´ski/S. Gebethner, O projekcie ustawy . . . (Zum Entwurf . . .), S. 153–158; A. Grzelak/F. Jasin´ski, „Przekazanie zamiast ekstradycji“ (Übergabe statt Auslieferung), Rzeczpospolita vom 4.11.2003, S. C 3; F. Jasin´ski, Europejski nakaz . . . (Der Europäische Haftbefehl . . .), S. 41; A. Górski/ A. Sakowicz, „Blaski i cienie wzajemnego uznawania“ (Licht- und Schattenseiten der gegenseitigen Anerkennung), Rzeczpospolita vom 7.01.2004 r., S. C 3. 25 Siehe allgemein D. Rohlff, Der Europäische Haftbefehl, Frankfurt am Main 2003, S. 83.

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für ein europäisches Strafrecht. In diesem Sinne geht es grundlegenden und ganzheitlichen Änderungen26 voraus. Eine Art „Kleine Verfassung“ für das europäische Strafrecht bilden freilich die Verträge – wenn auch bei weitem nicht in ausreichendem Maße. Die Vorschriften des Entwurfs der europäischen Verfassung sind umstritten und vermögen zumindest einen Teil von Problemen kaum zu lösen27. Ist also der Raum der Freiheit, Sicherheit und des Rechts eher ein politisches Projekt als ein Verfassungsrahmen für den europäischen Haftbefehl? Er scheint viel mehr zu sein als nur ein politisches Projekt. Wir wollen damit beginnen, dass im Raum der Freiheit, Sicherheit und des Rechts eine in das Strafverfahren verwickelte Person anders geschützt wird als außerhalb dieses Raumes. Und es geht hier nicht ausschließlich um den Rahmenbeschluss zur Stellung der Opfer im Strafverfahren, vor dessen Hintergrund das ebenso umstrittene wie wichtige Pupino-Urteil ergangen ist. Es geht freilich unmittelbar um den in der Skala zwischenstaatlicher Zusammenarbeit sowohl im Hinblick auf den Umfang als auch auf die Methode präzedenzlosen „europäischen Grundsatz ne bis in idem“28 und die Konzeptionen einer Hierarchie der Jurisdiktion im Bereich der EU, die grundsätzlich das Recht auf nur ein Verfahren in der EU garantieren sollten29. Nur am Rande sei noch auf andere Rechts26 Bildlich stellen dies S. Alegre/M. Leaf dar, European Arrest Warrant: A Solution ahead of its Time?, London 2003. 27 E. Weigend, „Europeizacja prawa karnego w s´wietle Konstytucji dla Europy“ (Die Europäisierung des Strafrechts im Lichte der Verfassung für Europa), Pan´stwo i Prawo 2005/6, S. 11–29; E. Guild, „Crime and the EU’s Constitutional Future in an Area of Freedom“, Security and Justice, European Law Journal 2004/2, S. 218–234. 28 Siehe mehr dazu bei M. Böse, „Der Grundsatz ,ne bis in idem‘ in der Europäischen Union (Art. 54 SDÜ)“, Goltdammers Archiv für Strafrecht 2003/10, S. 748; W. Schomburg, „Concurrent national and international criminal jurisdiction and the principle ,ne bis in idem‘“, Revue International de Droit Pénal 2002/3–4, S. 940; W. Schomburg/O. Lagodny, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, München 1998, S. 967; H. Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts, Köln, Berlin, München 2001, S. 691; S. Stein, „Ein Meilenstein für das europäische ,ne bis in idem‘“, Neue Juristische Wochenschrift 2003/16, S. 1163. In der polnischen Fachliteratur siehe A. Sakowicz, „Zasada ne bis in idem na gruncie art. 114 kodeksu karnego“ (Der Grundsatz ne bis in idem auf dem Boden des Art. 114 StGB), Przegla˛d Sa˛dowy 2003/10, S. 112– 126; A. Górski/A. Sakowicz, Bariery prawne integracji . . . (Rechtliche Barrieren der Integration . . .), S. 24–34; dieselben, „Zasada wzajemnego uznawania orzeczen´ organów wymiaru sprawiedliwos´ci w ramach Unii Europejskiej“ (Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen der Justizorgane im Rahmen der EU) in: Współpraca policyjna i sa˛dowa w sprawach karnych w Unii Europejskiej (Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen in der Europäischen Union), Warszawa 2006 (im Druck); B. Nita, „Zasada ne bis in idem w mie˛dzynarodowym obrocie karnym“ (Der Grundsatz ne bis in idem im internationalen Strafrechtsverkehr), Pan´stwo i Prawo 2005/3, S. 18–34. 29 Zur Konzeption des Rechts auf ein Strafverfahren in der EU vgl. z. B. O. Lagodny, Empfiehlt es sich, eine europäische Gerichtskompetenz für Strafgewaltskonflikte vorzusehen?, www.sbg.ac.at/ssk/lago.pdf; O. Lagodny, „Viele Strafgewalten und

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instrumente hingewiesen, die eine Domäne der europäischen Integration im engen Sinne dieses Wortes sind, wie die Einfrierung von Beweisen30 oder das künftige europäische Beweisgebot31. Auch wenn der Raum der Freiheit, Sicherheit und des Rechts in der Fachliteratur nicht selten als eine Art Propagandaparole verschrien ist32, so lässt sich eine solche Einstellung im Lichte der Rechtsprechung des EuGH hinsichtlich nur ein transnationales ne-bis-in-idem?“ in: Festschrift für Stefan Trechsel zum 65. Geburtstag, Andreas Donatsch, Marc Forster, Christian Schwarzenegger (Hrsg.), Zürich Schulthess 2002, S. 253–267; T. Vander Beken/G. Vermeulen/O. Lagodny, „Kriterien für die jeweils ,beste‘ Strafgewalt in Europa. Zur Lösung von Strafgewaltskonflikten jenseits eines transnationalen ,Ne-bis-in-idem‘“, Neue Zeitschrift für Strafrecht 2002/12, S. 626–627. 30 Siehe insb. A. Lach, „Zabezpieczenie dowodów i mienia na terytorium UE“ (Sicherung von Beweisen und Vermögen auf dem Gebiet der EU), in: Zwalczanie przeste˛pczos´ci w Unii Europejskiej. Współpraca i sa˛dowa policyjna w sprawach karnych w Unii Europejskiej (Kriminalitätsbekämpfung in der EU. Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen in der EU), Warszawa 2006. Vgl. auch równiez ˙ G. Stressens, „Joint initiative of France, Sweden and Belgium for the Adoption of a Council framework decision on the Execution in the European Union of orders of Freezing assets or Evidence“, in: La reconnaissance mutuelle des décisions judiciaires pénales dans l’Union européenne, Gilles de Kerchove, Anne Weyembergh (Hrsg.), Bruxelles, 2001, S. 91–100 sowie ebenda Chris Jones, „Mutual Recognition of Pre trial Orders for Cybercrime Investigations“, S. 107–113. 31 P. Cullen, „Dealing with European Evidence: national Practice and European Union Policy“, ERA Forum Special Issue 2005, S. 4–8; K. Macdonald, „The Reform of Procedures for Dealing with Foreign Evidence“, ERA Forum Special Issue 2005, S. 9–16; Ch. Williams, „The European Evidence Warrant: the proposal of the European Commission“, ERA Forum Special Issue 2005, S. 17–27; J. Spencer, „An Academic Critique of the EU Aquis in relation to transborder Evidence-Gathering“, ERA Forum Special Issue 2005, S. 28–40; S. Gless, „Eine akademische Kritik des ,EUAquis‘ zur grenzüberschreitenden Beweissammlung“, ERA Forum Special Issue 2005, S. 41–52; J. Hamilton, „Mutual Assistance in Criminal Matters in Ireland and the Proposed European Evidence Warrant“, ERA Forum Special Issue 2005, S. 53–68; E. Denza, „The 2000 Convention on Mutual Assistance in Criminal Matters“, Common Market Law Review 2003, Band 40, S. 1047–1074; W. Hetzer, „National Criminal Prosecution and European Tendering of Evidence. Perspectives of European Antifraud Office“, European Journal of Crime, Criminal Law and Criminal Justice 2004/2, S. 166–183; B. Wheeldon, „Relationship Between EU Policy and National Practice: Four Practical Recommendations from a CPS Perspective“, ERA Forum Special Issue 2005, S. 86–91. 32 Auch wenn diese Bezeichnung in den Veröffentlichungen von B. Schünemann nicht expressis verbis auftaucht, so wird ein Verweis auf einige seiner Arbeiten an dieser Stelle wohl keine Übertreibung sein: B. Schünemann, „Fortschritte und Fehltritte in der Europäisierung der Strafrechtspflege“, Goltdammer’s Archiv für Strafrecht 2004/4, S. 193–209; ders., „Europeizacja prawa karnego zagroz ˙ eniem dla demokratycznego pan´stwa prawnego?“ (Die Europäisierung des Strafrechts – eine Bedrohung für den demokratischen Rechtsstaat?) Jurysta 2004/7–8, S. 5–11; ders., „Europäischer Haftbefehl und EU-Verfassungsentwurf auf schiefer Ebene“, Zeitschrift für Rechtspolitik 2003/6, S. 185–189, in denen der Rahmenbeschluss in abstracto als „trojanisches Pferd Brüssels“ und der bundesdeutsche Gesetzgeber als „der Lakai Brüssels“ bezeichnet werden.

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der Vorabentscheidungsfragen in der 3. Säule kaum mehr verteidigen. Die einschlägige Rechtsprechung des EuGH weicht erheblich von der buchstabengetreuen Auslegung zugunsten der funktionalen Auslegung ab, der – wie bereits oben erwähnt – jene Grundsätze zugrunde liegen, die der EuGH in seiner Rechtsprechung im Bereich der ersten Säule herausgearbeitet bzw. bestätigt hat. An dieser Stelle gilt es, den europäischen Grundsatz ne bis in idem näher anzusehen. Unumstritten ist, dass dieser Grundsatz ein subjektives Recht des Einzelnen ist. Futuristisch denkend muss festgestellt werden, dass der europäische Grundsatz ne bis in idem zum Hauptpfeiler des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Gerichtsentscheidungen in Strafsachen werden sollte. Zurzeit aber bleibt dieser Grundsatz nur teilweise mit der europäischen Strafprozedur verbunden. Dies geht weder auf ein Übersehen noch auf die Nachlässigkeit des europäischen Gesetzgebers, sondern auf die Annahme zurück, dass eine vollständige Verwirklichung dieses Grundsatzes noch nicht möglich sei, und zwar im Hinblick auf die Unterschiedlichkeit von Rechtssystemen sowie das hartnäckige Festhalten an einem archaischen Attribut der Souveränität, wie es das sog. „Recht auf Strafen“ ist. Trotz dieser Hindernisse ist aber ein baldiger Wandel der Situation zu erwarten, umso mehr, als der EuGH bereits den ersten Schritt gemacht hat. Angebracht scheint vor diesem Hintergrund ein genauerer Blick auf die Entscheidungen dieses Gerichts im Bereich des Grundsatzes ne bis in idem. In der ersten Entscheidung (Hüsein Gözütok vom 11.02.2003, C-187/01 und Klaus Brügge – C-385/0) hinsichtlich der Auslegung der in Art. 54 des Durchführungsübereinkommens verwendeten Ausdrücke stellte der EuGH fest, dass der Grundsatz ne bis in idem nicht nur für das Gerichtsverfahren gilt, sondern im Hinblick auf unterschiedliche Rechtssysteme in der EU auch für zum Strafklageverbrauch führende Verfahren. Nach Meinung des EuGH bedeutet es, dass das Verfahren als rechtskräftig abgeschlossen gilt und die Vollstreckung der Sanktion der rechtskräftigen „Aburteilung“ im Sinne dieser Vorschrift gleich kommt. Dies bedeutet also, dass die rechtskräftige Aburteilung das aus Art. 54 hervorgehende Verbot der Doppelbestrafung wegen derselben Tat aktualisiert, unabhängig davon, wie die Beendigung des Verfahrens in der Sache geregelt ist und wer – das Gericht oder das Anklageorgan – für eine solche Entscheidung zuständig ist. Denselben Weg verfolgte der EuGH in seiner zweiten Entscheidung auf dem Boden des Art. 54 des Durchführungsübereinkommens. In der Rechtssache Miraglia vom 10. März 2005 kam er zum Schluss, dass der Grundsatz ne bis in idem keine Anwendung auf eine Entscheidung der Gerichte eines Mitgliedstaates findet, mit der ein Verfahren für beendet erklärt worden ist, nachdem die Staatsanwaltschaft beschlossen hat, die Strafverfolgung nur deshalb nicht fortzusetzen, weil in einem anderen Mitgliedstaat Strafverfolgungsmaßnahmen ge-

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gen denselben Beschuldigten wegen derselben Tat eingeleitet worden sind. Der Tenor der Entscheidung in der Rechtssache Miraglia ist, dass der Grundsatz ne bis in idem nur dann greift, wenn in der Sache eine Prüfung erfolgt ist33, und dass die Beendigung des Verfahrens im Hinblick auf das Vorliegen einer formalen Voraussetzung nicht zulässig ist. In seiner dritten und vorläufig letzten diesbezüglichen Entscheidung vom 9.03.2006 in der Rechtssache van Esbroeck (C-436/04) stellte der EuGH fest, dass das maßgebende Kriterium für die Anwendung dieses Artikels das der Identität der materiellen Tat, verstanden als das Vorhandensein eines Komplexes unlösbar miteinander verbundener Tatsachen, ist, unabhängig von der rechtlichen Qualifizierung dieser Tatsachen oder von dem geschützten rechtlichen Interesse. Die strafbaren Handlungen, die in der Ausfuhr und der Einfuhr derselben Betäubungsmittel bestehen und in verschiedenen Vertragsstaaten des genannten Übereinkommens strafrechtlich verfolgt sind, sind grundsätzlich als „dieselbe Tat“ im Sinne des genannten Art. 54 anzusehen, wobei die endgültige Beurteilung insoweit Sache der zuständigen nationalen Gerichte ist. Zusammenfassend lässt sich in diesem Teil der Ausführungen sagen, dass der Grundsatz ne bis in idem nicht je nachdem differenziert werden kann, ob in unterschiedlichen Rechtssystemen die Mitwirkung des Gerichts auf einer bestimmte Etappe des Verfahrens vorgesehen ist oder nicht. Wäre dies der Fall, so würde der Grundsatz ne bis in idem nur auf Täter schwerster Straftaten Anwendung finden, die gewöhnlich im Gerichtswege abgeurteilt werden, während die Täter von minder schweren Straftaten vom Geltungsbereich dieses Grundsatzes nur deshalb ausgeschlossen blieben, weil das Verfahren durch ein anderes Organ als das Gericht abgeschlossen worden wäre. Es sei noch hinzugefügt, dass der EuGH unter Berücksichtigung des Garantiecharakters des Grundsatzes ne bis in idem feststellte, dass er nur dann verwirklicht werden kann, wenn sich der Grundsatz auf alle verfahrensabschließenden Entscheidungen erstreckt, ungeachtet dessen, ob das Gericht mitgewirkt hat oder nicht. Der EuGH vertritt den Standpunkt, dass die Mitgliedstaaten selbst dann auf ihre Justizsysteme gegenseitig vertrauen müssen, wenn das Resultat 33 In Pkt. 30 des Miraglia-Urteils stellte der EuGH fest, dass die Entscheidung eines Gerichtsorgans, die erging, nachdem die Staatsanwaltschaft beschlossen hatte, die Strafverfolgung nur deshalb nicht fortzusetzen, weil in einem anderen Mitgliedstaat Strafverfolgungsmaßnahmen gegen denselben Beschuldigten wegen derselben Tat eingeleitet worden sind und ohne dass eine Prüfung in der Sache erfolgt ist, keine Entscheidung ist, mit der der Betreffende im Sinne von Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens rechtskräftig abgeurteilt wird. Die gleiche These formulierte das Landgericht in Saarbrücken im Urteil vom 10. Juni 1999 (BGH 4 StR 87/98), indem es feststellte, dass die Einstellung des Verfahrens durch ein französisches Gericht im Hinblick auf das Vorliegen einer formalen Voraussetzung im Lichte des Art. 54 des Durchführungsübereinkommens kein Hindernis für das Verfahren in Deutschland ist.

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des Verfahrens anders ist als auf Grund der jeweiligen nationalen Rechtsvorschriften. Es ist unzulässig, die Anerkennung von Entscheidungen der Justizorgane eines Mitgliedstaates durch die Justizorgane eines anderen Mitgliedstaates daran anzuknüpfen, dass in dem einen Mitgliedstaat die Entscheidung auf der Etappe des Staatsanwaltsverfahrens, und in dem anderen auf der Etappe des Gerichtsverfahrens ergeht. Im Hinblick auf die Unterschiedlichkeit von Rechtssystemen der EU-Mitgliedstaaten, muss der Grundsatz ne bis in idem an den Gegenstand der Sache und die Person des Täters gebunden sein, und nicht an das Entscheidungsorgan. Damit wäre eine effiziente Verwirklichung dieses Grundsatzes bei gleichzeitiger Achtung des durch diesen Grundsatz ausgedrückten subjektiven Rechts gesichert. Zum Zweiten – die Verfahrensvorschriften im Bereich der „rechtskräftigen Aburteilung“ (engl. finally disposed of) sollten im Bereich des Gegenstands und des Zweckes dieser Vorschrift sowie dahingehend ausgelegt werden, dass dem Grundsatz ne bis in idem eine effiziente Verwirklichung gesichert wird, und nicht etwa zwecks Interpretierung formaler Verfahrensvorschriften, die ja nicht homogen sind, wenn man Unterschiede in einzelnen Rechtssystemen bedenkt. Bei Rechtshilfe sind „große Toleranz und Akzeptanz“ angesagt, wenn es um die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem geht. Eine solche Einstellung würde zweifelsfrei den Integrationsprozess, und insbesondere die Schaffung des Raums der Freiheit, Sicherheit und des Rechts, auf den die EU ja ausgerichtet ist, beschleunigen können. III. Noch bis vor kurzer Zeit war die Bereitschaft der Mitgliedstaaten, an Vorabentscheidungen im Bereich der dritten Säule gebunden zu sein, nicht sonderlich hoch.34 Doch schon in der Rechtssache Pupino gab die Generalanwältin J. Kokott ihrer Verwunderung darüber Ausdruck, dass die an dieser Rechtssache beteiligten Mitgliedstaaten den Vorabentscheidungen des EuGH in ihren Meinungen so wenig Gewicht beilegen.35 Freilich sind die nationalen Gerichte auf Grund von Art. 35 des EU-Vertrags an die Vorabentscheidungen gebunden, und die Voraussetzung für die Möglichkeit, eine Vorabentscheidungsfrage zu stellen und mutatis mutandis an die Vorabentscheidung gebunden zu sein, ist die optionale Erklärung für die Anerkennung der präjudiziellen Jurisdiktion in der dritten 34 Dies geht zumindest aus den in Police and Judicial Cooperation . . . op. cit. enthaltenen Berichten hervor. Aber bereits damals schienen manche Vertreter der Mitgliedstaaten die Rolle dieser Rechtsprechung in der, wie es sich bald zeigen sollte, nicht allzu entfernten Zukunft zu antizipieren. Vgl. den deutschen Bericht von M. Böse, S. 96. 35 Der Standpunkt von J. Kokott zitiert nach J. Verveale, „European Criminal Law and General Principles of Union Law“, European Legal Studies z 2005, S. 31.

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Säule. Im Zeitpunkt der Veröffentlichung des vorliegenden Textes werden die Handlungen zu deren Annahme in den meisten Mitgliedstaaten wahrscheinlich sehr weit fortgeschritten36, wenn nicht bereits abgeschlossen sein. Die erwähnte Rechtssache Pupino verdient in diesem Zusammenhang eine genauere Analyse, ohne allerdings Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Sie verdient es deshalb, weil sie sich auf einen Rahmenbeschluss bezog, der noch nicht in das italienische Recht in Form einer Novellierung des Gesetzes – Strafprozessordnung – umgesetzt wurde, und die Rechtsfrage der Misshandlung von Kleinkindern und der Möglichkeit der Vernehmung von minderjährigen Zeugen – Opfern von Misshandlungen – außerhalb der öffentlichen Gerichtsverhandlung zum Schutz ihrer Würde und psychischen Integrität noch nicht galt37, wovon zwar der Rahmenbeschluss über die Stellung des Opfers im Strafverfahren sprach, nicht aber die italienische Gesetzgebung zum Zeitpunkt der Entscheidung. Die am Verfahren beteiligten Vertreter der Mitgliedstaaten vertraten grundsätzlich abweichende Meinungen. Die französische Regierung trug vor, das vorlegende Gericht wolle bestimmte Vorschriften des Rahmenbeschlusses anstelle der nationalen Rechtsvorschriften anwenden, obwohl Rahmenbeschlüsse schon nach dem Wortlaut von Art. 34 Absatz 2 Buchstabe b EU nicht unmittelbar wirksam seien (These 24 des Urteils). Und die italienische Regierung machte hauptsächlich geltend, ein Rahmenbeschluss und eine Richtlinie der Gemeinschaft stellten Rechtsquellen dar, die sich grundlegend voneinander unterschieden, so dass der Rahmenbeschluss keine Verpflichtung des nationalen Gerichts zu ihm konformer Auslegung schaffen könne, wie sie der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung zu Richtlinien der Gemeinschaft herausgearbeitet habe (These 25 des Urteils). Das Anliegen des EuGH war somit zu prüfen, ob – wie das vorlegende Gericht annimmt und die griechische, die französische und die portugiesische Regierung sowie die Kommission geltend machen – die Verpflichtung der nationalen Behörden, ihr innerstaatliches Recht so weit wie möglich im Licht von Wortlaut und Zweck der Richtlinien der Gemeinschaft auszulegen, mit den gleichen Wirkungen und Grenzen gilt, wenn es sich bei dem betreffenden Rechtsakt um einen aufgrund von Titel VI des Vertrages über die Europäische Union ergangenen Rahmenbeschluss handelt (These 31 des Urteils). 36 In Polen in Form eines Gesetzesentwurfs. Auch wenn dies aus einem formalen Standpunkt heraus nicht notwendig ist, so verstärkt eine solche Lösung potentiell die Legitimation Polens für die Bindung an die Vorabentscheidungen in der dritten Säule. 37 Insbesondere Art. 8 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses – Recht auf Schutz: „Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass Opfern, insbesondere den am meisten gefährdeten, die vor den Folgen ihrer Zeugenaussage in der öffentlichen Gerichtsverhandlung geschützt werden müssen, im Wege gerichtlicher Entscheidungen gestattet werden kann, unter Einsatz geeigneter Mittel, die mit den Grundprinzipien ihrer jeweiligen Rechtsordnung vereinbar sind, unter Bedingungen auszusagen, unter denen dieses Ziel erreicht werden kann.“

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In seiner Entscheidung stellte der EuGH unter anderem fest, dass diese Zuständigkeit (für die Beantwortung von präjudiziellen Fragen aufgrund von Art. 35) unwirksam wäre, wenn der Einzelne nicht das Recht hätte, sich auf Rahmenbeschlüsse zwecks Erreichung einer konformen Auslegung des innerstaatlichen Rechts vor nationalen Gerichten zu berufen, und verwies des weiteren auf den Grundsatz der Solidarität und der loyalen Zusammenarbeit (Thesen 41, 42 des Urteils). Der EuGH stellte fest, der Grundsatz konformer Auslegung dürfe nicht zu einer Auslegung contra legem des nationalen Rechts führen, fügte jedoch hinzu, es sei Sache des vorlegenden Gerichts zu prüfen, ob sein nationales Recht in einer rahmenbeschlusskonformen Weise ausgelegt werden kann (Thesen 47, 48 des Urteils).38 Der EuGH stellte schließlich fest, das nationale Gericht habe gegebenenfalls das gesamte nationale Recht zu berücksichtigen, um zu beurteilen, inwieweit es so angewendet werden kann, dass kein dem Rahmenbeschluss widersprechendes Ergebnis erzielt wird. Wie sind diese Erwägungen über die Rechtssache Pupino auf das Problem der Verfassungsmäßigkeit des Europäischen Haftbefehls zu übertragen? Ist ein solcher Bezug überhaupt gerechtfertigt? Das Wesentliche der Entscheidung des EuGH liegt unseres Erachtens darin, dass den nationalen Gerichten die Pflicht auferlegt wird, das nationale Recht „so weit wie möglich“ gemeinschaftskonform auszulegen. Die Formulierung „so weit wie möglich“ schließt die These aus, nach der das Pupino-Urteil die unmittelbare Anwendbarkeit von Rahmenbeschlüssen begründen würde. Dennoch führt die Argumentation des EuGH zu ähnlichen Ergebnissen. In Bezug auf die bereits umgesetzten Rahmenbeschlüsse (wie es bei dem Rahmenbeschluss über den europäischen Haftbefehl der Fall ist) knüpft diese Entscheidung den Rahmenbeschluss sehr eng an das Umsetzungsgesetz, indem sie die Konformität des Gesetzes mit dem Rahmenbeschluss nicht nur durch Gesetzesänderungen, sondern auch in einem gewissen Umfang im Wege der Auslegung erreichen lässt. Die Entscheidung darüber, ob und inwieweit im Zusammenhang damit die vom EuGH in dem Bereich, in dem sie sich auf die spezifische Zusammenarbeit im Rahmen der 3. Säule beziehen können, herausinterpretierten bzw. bestätigten Grundsätze des Gemeinschaftsrechts, bei Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des Umsetzungsgesetzes zu berücksichtigen sind, steht freilich dem VerfGH zu. Unsere Aufgabe ist es dagegen, in abstracto zu erwägen, ob die Auslegung so weit wie möglich auch die Verfassungen der Mitgliedstaaten betrifft, oder eventuell in concreto, ob dies in diesem Fall (EHB) möglich wäre. Was die erste Frage anbelangt, so spricht das Pupino-Urteil lege non distinguente von der nationalen Rechtsordnung, ohne den Grundsatz der konformen Auslegung auf einfache Gesetze zu beschränken. Dennoch verbietet es das Pu38 Nota bene – in der These 62 seiner Entscheidung scheint der EuGH dennoch festzustellen, dass eine solche Auslegung möglich ist, und zieht sie beinahe vor.

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pino-Urteil selbst, wie bereits erwähnt, die Vorschriften des nationalen Rechts contra legem, gegen ihren Wortlaut auszulegen. Wenn angenommen wird, die Übergabe im Rahmen des europäischen Haftbefehls sei eine Auslieferung, so wird der „soweit wie möglich“ rahmenbeschlusskonformen Auslegung der Weg versperrt. Das letztere, umstrittene, im ersten Teil dieser Ausführungen skizzierte Problem sollte so schnell wie möglich, d.h. mit dem Inkrafttreten des Gesetzes über die Bindung an Vorabentscheidungen in der 3. Säule Gegenstand einer Vorabentscheidungsfrage39 werden. Zusammenfassung In dem vorliegenden Aufsatz stützen sich die Verfasser auf einige Entscheidungen der Verfassungsgerichte und des Europäischen Gerichtshofes – Rechtsprechungsorgane, die verschiedene Funktionen ausüben und unterschiedliche Werte verteidigen. Eigentlich kommt jeder Entscheidung eine fundamentale Bedeutung zu. Im Falle des Europäischen Haftbefehls scheinen die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in der Rechtssache Solange I und die Entscheidung des VerfGH über die Unvereinbarkeit des Gesetzes über den Europäischen Haftbefehl mit der Verfassung einer in ihrem Wesensgehalt gemeinsamen Argumentation zu entspringen. Nach Meinung des BVerfG relativiert das Gesetz über den Europäischen Haftbefehl die verfassungsrechtliche Ordnung infolge mangelnder demokratischer Legitimation. Eine Aufoktroyierung verfassungsrechtlich wesentlicher Werte und deren Aufnahme in eine souveräne innerstaatliche Rechtsordnung durch eine einfache Transponierung des Rahmenbeschlusses wurde vom BVerfG für unzulässig befunden. Die Eigenständigkeit der verfassungsrechtlichen Ordnung wird auch mit dem demokratischen Gesetzgebungsgrundsatz geschützt. Gleich zu Beginn unserer Ausführungen machten wir eine Zusammenstellung, die möglicherweise sehr umstritten sein kann: die Solange I-Entscheidung und die polnische Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit des Europäischen Haftbefehls. In beiden Entscheidungen wird, wenn auch auf verschiedenen Ebenen, ein Diskurs mit dem Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts geführt. In der dritten Säule gilt das Vorrangprinzip nicht, während es in den meisten Fällen unumstritten ist, dass es in den übrigen Rechtsbereichen der europäischen Integration funktioniert. 39 Siehe P. Hofman´ski „Glosa do wyroku TK z 27.04.2005 r. (P 1/05)“ (Glosse zur Entscheidung des VerfGH vom 27.04.2005 (P 1/05), Pan´stwo i Prawo Nr. 9/2005), in der er feststellt, dass sich der VerfGH in seiner Entscheidung nicht auf die richtige Vorschrift berief und somit die Prozessgarantien des zu übergebenden Bürgers schwächte sowie dass nach Ablauf der in der Entscheidung vorgesehenen „Übergangsfrist“ von 18 Monaten der Übergabe von polnischen Bürgern nichts mehr im Wege steht, die letzteren allerdings die „für sie günstige“ Vorschrift (wenn auch ohne Garantiecharakter) werden nicht in Anspruch nehmen können, weil sie aufgehoben wurde.

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Zu dieser Vergleichsebene kommt noch eins: die Rolle der Rechtsprechung des EuGH hinsichtlich der Auslegung in der dritten Säule. Der EuGH entscheidet über die Gültigkeit von Rahmenbeschlüssen oder nimmt deren Auslegung vor. In der Rechtssache Pupino leitete der EuGH die Pflicht einer rahmenbeschlusskonformen Auslegung des innerstaatlichen Rechts durch nationale Organe in einem zwar beschränkten, nichtsdestotrotz erheblichen Umfang ab.40 Diese Verpflichtung kann als mit dem Grundsatz der demokratischen Gesetzgebung unvereinbar angesehen werden, da sie als „Rechtssetzung“ in einer Sphäre verstanden werden kann, in der unabhängig und demokratisch der Souverän entscheiden soll. In eben diesem Zusammenhang wird der Ausdruck „governance by judges“ oder der verwandte Ausdruck „legitimacy through jurisprudence“ verwendet.41 Es lohnte sich, diese Konzeptionen anders als kritisch zu betrachten und zu sehen, dass mit der fortschreitenden Rezeption des Falls Pupino durch die „europäische Jurisprudenz“ die progemeinschaftliche Auslegung auch in die Rechtsprechung der Verfassungsgerichte Eingang findet. Selbst unter Berücksichtigung eines anderen Rechtsprechungszusammenhangs ist hier auf eine Entscheidung des Verfassungsgerichts der Tschechischen Republik zu verweisen, in der es sich bei Prüfung der Verfassungsmäßigkeit bestimmter Normierungen des tschechischen Gesetzes über den europäischen Haftbefehl auf den Grundsatz der konformen Auslegung beruft. Zum Schluss sei noch auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts verwiesen, das in einem völlig anderen Zusammenhang die Unvereinbarkeit des EHB-Umsetzungsgesetzes (Gesetz über die Änderung des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen) feststellte: zum ersten im Hinblick auf den Mangel an wirksamen Rechtsmitteln, und zum zweiten wegen Verletzung des Demokratieprinzips, und konkret wegen mangelnder demokratischer Legitimation bei der Verabschiedung des Umsetzungsgesetzes.42

40 Mehr dazu bei A. Lach, „Glosa do orzeczenia Europejskiego Trybunału Sprawiedliwos´ci w sprawie Marii Pupino z 16 czerwca 2005 r.“ (Glosse zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache Maria Pupino vom 16. Juni 2005), Kwartalnik Apelacji Gdan´skiej Nr. 1, 2006. 41 Christian Jetzlsperger, „Legitimacy through Jurisprudence? The Impact of the European Court of Justice on the Legitimacy of the European Union“, EUI Working Paper Law nr 12/2003. 42 Die Schlussfolgerungen zur Entscheidung des BVerfG sind angeführt aufgrund der englischen Kurzübersetzung der Entscheidung auf der Webseite www.wsisw. natolin.edu.pl. Es würde auch den Rahmen unserer Ausführungen sprengen, wollten wir die in der Entscheidung enthaltenen Argumente ausführlich kommentieren, weil sie nicht direkt auf das verfassungsrechtliche Verbot der Auslieferung von Bürgern bezogen waren. Dieses Verbot ist nämlich nicht absolut, und Art. 16 Absatz 2 des Grundgesetzes wurde im Hinblick auf die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof und die EU-Mitgliedschaft der Bundesrepublik Deutschland abgeändert.

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Diese Entscheidung des BVerfG erging schon nach der Entscheidung in der Rechtssache Pupino. Nach abweichender Meinung des Richters Gerhardt wäre die Verfassungsbeschwerde u. a. zurückzuweisen gewesen, weil die Nichtigerklärung des Haftbefehlsgesetzes mit dem verfassungs- und unionsrechtlichen Gebot, Verletzungen des Vertrags über die Europäische Union möglichst zu vermeiden, nicht im Einklang stehe. Außerdem wies Richter Gerhardt unter Verweis auf das Pupino-Urteil darauf hin, dass sich der Senat in Widerspruch zur Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften setze.43 Allem Anschein nach können wir es jetzt mit einer präzedenzlosen „dualistischen Auslegung“ von Rahmenbeschlüssen auf der einen und von Umsetzungsgesetzen auf der anderen Seite zu tun haben, die weit über den Bereich der „Verfassungsmäßigkeit des Europäischen Haftbefehls“ hinauszugehen scheint und andere Probleme betrifft, wie zum Beispiel das weit verstandene Beweisrecht, sowie den europäischen Grundsatz ne bis in idem im Lichte des verfassungsrechtlichen Anspruchs auf rechtliches Gehör.

43 Die Motive für das Sondervotum sind angeführt auf Grund der englischen Kurzübersetzung der Entscheidung – www.wsisw.natolin.edu.pl.

Der EuGH stellt die strafrechtliche Kompetenzordnung auf den Kopf – und wundert sich über Kritik Roland Hefendehl Seit der Entscheidung des EuGH aus dem September 2005 gilt: Liegt eine Kompetenz des Gemeinschaftsgesetzgebers auf dem Gebiet der gemeinsamen Politiken sowie der Grundfreiheiten vor, so kann er den Einsatz des Strafrechts verlangen, wenn nur dieses die volle Wirksamkeit verspricht. Zwei Monate später hat die Kommission einen Katalog erstellt, was in der Logik der Entscheidung zum Umweltschutz noch alles auf den Prüfstand der Harmonisierung zu stellen sei. Während Brüssel die demokratische Kontrolle durch das Parlament sowie die im EuGH aufgestellten Bedingungen für einen Einsatz des Strafrechts betont, legt der folgende Beitrag* das Schwergewicht auf eine kritische Analyse der Folgen für einen gebotenen defensiven Umgang mit dem Strafrecht (auch) in Europa sowie das Kompetenzgefüge in diesem Bereich. I. Annäherung an das Thema 1. Am 13. September letzten Jahres schlug sich der EuGH auf die Seite von Kommission und Parlament und wies der Gemeinschaft die Kompetenz zu, strafrechtlich unerlässliche Maßnahmen zu ergreifen, um die volle Wirksamkeit des EG-Umweltrechts zu gewährleisten. Wegener und Greenawalt reagierten schnell und titelten ihren Beitrag in ZUR 2005, 585 aus dem Dezember: „(Umwelt-)Strafrecht in europäischer Kompetenz“. Sie mussten über keine seherischen Kräfte verfügen, um die Prognose zu wagen: „Die Entscheidung dürfte für erhebliches Aufsehen in der deutschen Strafrechtswissenschaft und für Empörung bei denen sorgen, die dem Kompetenzzuwachs der Gemeinschaft schon bislang ablehnend gegenüberstanden und die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofes für nicht hinreichend restriktiv erachteten.“

* Der Aufsatz beruht auf einem Referat, das der Verf. auf Einladung von Prof. Dr. Joerden (Frankfurt/O.) und Prof. Dr. Szwarc (Poznan´) auf der Tagung „Europäisierung des Strafrechts in Polen und Deutschland – rechtsstaatliche Grundlagen“ in Poznan´ (April 2006) hielt. Für diese Einladung danke ich den Veranstaltern herzlich.

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Auch Wegener/Greenawalt zeigen sich über diesen Staatsstreich1 durchaus erschrocken, scheinen aber auf der anderen Seite eine gewisse Genugtuung darüber zu verspüren, dass die verqueren Fehlvorstellungen der Strafrechtswissenschaft zurechtgerückt worden seien, die sich bereichsweise offensichtlich für etwas Besonderes halte.2 Was sie freilich (für mich nachvollziehbar) nicht zu prognostizieren vermochten, war die Empörung seitens des EuGH hinsichtlich einer „absolut überzogenen“ und neben der Sache liegenden Kritik ihres Urteils3 – so als sei alles aus Luxemburg Verkündete sakrosankt und einer wissenschaftlichen Kritik entzogen; ein eigenartiges Verständnis der Bedeutung von Wissenschaft und Zeichen übertriebenen Selbstbewusstseins bzw. äußerster Dünnhäutigkeit. 2. Ich möchte im Folgenden den Streit im Vorfeld des EuGH-Urteils rekapitulieren, diese Entscheidung darstellen und kritisieren, bevor ich auf ihre enormen und leider sicher vorhersehbaren Auswirkungen eingehen werde. Auch in dem erwähnten Beitrag wird die Umwelt in Klammern gesetzt, so dass man die Überschrift auch so lesen kann: „Strafrecht in europäischer Kompetenz“. 3. Die kritische Analyse wird dabei – als bewusster Kontrapunkt zur Einschätzung von Wegener und Greenawalt sowie des EuGH-Präsidenten Skouris – auf der Einschätzung beruhen, dass das Strafrecht tatsächlich etwas Besonderes ist. Das scheinen viele oder sogar die meisten nicht zu verstehen, weil sie in einer derartigen Argumentation fälschlicherweise Relikte eines überkommenen nationalstaatlichen Rechtsdenkens vermuten. Fast kurios mutet es jedenfalls an, dass gerade das Umweltstrafrecht als Steigbügelhalter für Kommission wie EuGH fungierte, eine Materie, die zumindest in Deutschland seit Jahrzehnten wegen ihres nachgewiesen weitgehend symbolischen Charakters einem besonderen Begründungsdruck ausgesetzt ist.4

1 Vgl. auch die Einschätzung Anm. Wuermeling, BayVBl. 2006, 368 (369), wonach sich der EuGH weit aus dem Fenster lehne. 2 Wegener/Greenawalt, „(Umwelt-)Strafrecht in europäischer Kompetenz“, ZUR 2005, 585 (587). 3 Diese Zurückweisung der Kritik erfolgte mündlich (womit Nuancen hier unscharf wiedergegeben sein können) seitens des EuGH-Präsidenten auf einer Tagung in Thessaloniki am 26./27.5.2006, auf der ein „Gesamtkonzept für europäische Strafrechtspflege“ eines Arbeitskreises um Bernd Schünemann, zu dem auch der Verfasser dieses Beitrags zählt, vorgestellt wurde; zu dem Projekt vgl. http://www.eu-strafrechtae.jura.lmu.de [1.11.2006]. 4 Vgl. die Nachweise bei Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, Köln u. a., 2002, S. 310 ff.

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II. Das Besondere des Strafrechts 1. Etwas Besonderes für sich zu reklamieren, erweckt Argwohn. Und so ist es auch, wenn das Strafrecht im Europäisierungsprozess auf einen besonderen Status verweist. Auf der Thessaloniki-Tagung5 hat EuGH-Präsident Skouris diesen Argwohn noch einmal mit Verve wie folgt zum Ausdruck gebracht:6 Der gemeinsame Binnenmarkt gewähre Grundfreiheiten und mache eine Mindestharmonisierung erforderlich. Die Gewährung und Sicherung dieser Grundfreiheiten habe Auswirkungen auf alle Rechtsgebiete, auf das Steuerrecht, auf das Sozialrecht und eben auch auf das Strafrecht. Im 21. Jahrhundert sei ein Verfassungspatriotismus nicht mehr angebracht. Er appelliere deswegen nochmals an alle, auch keinen Strafrechtspatriotismus zu betreiben. 2. Die Vertreter der Wissenschaft haben in der Diskussion der ThessalonikiTagung diese Vorwürfe überwiegend zurückgewiesen. So verwies Lüderssen darauf, dass das Strafrecht Eingriffsrechte wie kein anderes Recht gewähre. Daher gelte für diese Materie der Grundsatz „nullum crimen sine lege parlamentaria“. Er bestehe darauf, dass dieser Grundsatz kein Ausfluss eines Verfassungsoder Strafrechtspatriotismus sei, sondern einer der alteuropäischen Grundsätze, so dass er vor den jüngsten Entwicklungen in der EU nur eindringlich warnen könne. Auch Fuchs hielt am Besonderen des Strafrechts fest. Dies erkenne man bereits daran, dass dafür die dritte Säule geschaffen worden sei. Seine Besonderheit liege in seinen Rechtsfolgen sowie in der Tatsache, dass es keine Werte schaffe, sondern an bestehende Werte anknüpfe. Schünemann schließlich schlug emphatisch in dieselbe Kerbe:7 Das Strafrecht betreffe in seiner gravierendsten Auswirkung die Freiheit der Menschen. Deswegen sei auch eine maximale demokratische Legitimation erforderlich. Zwar habe Skouris im Grundsatz Recht, dass ein Binnenmarkt Grundfreiheiten brauche. Es bedeute aber eine verkehrte Welt, wenn die Grundfreiheiten des Binnenmarktes dazu herangezogen würden, um Kompetenzen im Strafrecht zu begründen. Damit würden sich die Grundfreiheiten gegen sich selbst kehren. 3. Die wesentlichen Einwände gegen eine Gleichschaltung des Strafrechts mit anderen Rechtsmaterien sind hiermit genannt. Ich möchte sie um die folgenden Erwägungen anreichern, die dem Streit vielleicht ein wenig die Spitze nehmend zeigen sollen, dass das Strafrecht nicht deshalb etwas Besonderes ausmacht, weil es so wichtig ist, sondern umgekehrt: Das Strafrecht ist deshalb etwas Besonderes, weil es in meinen Augen legitimatorisch zumindest in Bereichen auf 5 Hierzu die Informationen auf http://www.jura.uni-muenchen.de/einrichtungen/ls/ schuenemann [1.11.2006]. 6 Vgl. bereits Vogel, zitiert bei Kreß, „Strafrecht auf der Schwelle zum europäischen Verfassungsvertrag“, ZStW 116 (2004), 445 (450). 7 Vgl. bereits Schünemann, „Grundzüge eines Alternativ-Entwurfs zur europäischen Strafverfolgung“, ZStW 116 (2004), 376 (396).

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der Kippe steht bzw. eine besondere Begründungslast trägt und daher besonders unwichtig sein sollte. Das Strafrecht wird aber im krassen Widerspruch hierzu permanent als rein funktionales Steuerungsinstrument missbraucht. Und dies trotz des erwähnten unstreitigen Befundes, dass es sich beim Strafrecht um die schärfste Eingriffsmöglichkeit des Staates in die Freiheitsrechte seiner Bürgerinnen und Bürger handelt, die ihm zur Verfügung steht.8 Wenn angesichts einer solchen bereits innerstaatlichen strafrechtlichen Ausnahmekonstellation Bedenken gegen ein Strafrecht in europäischer Kompetenz geäußert werden, so kann man dies als arrogant abtun oder fundiert skrupulös bezeichnen. Dabei sei nur am Rande erwähnt, dass trotz aller Bemühungen um übergeordnete Legitimationsprinzipien wie das Harm Principle9 oder das Denken in Rechtsgütern10 das Strafrecht in einigen Bereichen je nach Staat von ganz unterschiedlichen Kulturüberzeugungen getragen wird. III. Wie es zur Entscheidung des EuGH kam 1. Manchmal sucht man einen Anlass, um einen schon lange schwelenden Streit auszutragen. Eine solche Grundsatzdifferenz bestand und besteht hinsichtlich der Reichweite der Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft zwischen der Kommission und dem Parlament auf der einen und dem Rat der EU auf der anderen Seite. Während Erstere die Europäische Gemeinschaft für ermächtigt sehen, die ihr eingeräumten Befugnisse zur Regelung einzelner Politikbereiche auch zum Erlass entsprechender Strafvorschriften zu nutzen,11 lehnt die ganz überwiegende Mehrheit der im Rat vertretenen Mitgliedstaaten jede Strafrechtskompetenz der Gemeinschaft ab.12 Sie allein hätten das Recht, über die Setzung und Ausgestaltung strafrechtlicher Normen souverän zu bestimmen. Strafvorschriften zum Schutz von Gemeinschaftsinteressen wären in dieser Lesart somit keine sekundärrechtlich begründete Umsetzungsverpflichtung, sondern Ausdruck einer souverän getroffenen einzelstaatlichen Entscheidung. Hieraus rührt der beständige Widerstand der Mitgliedstaaten gegenüber Versuchen der Kom8

Vgl. etwa BVerfGE 88, 203 (258). von Hirsch, „Der Rechtsgutsbegriff und das Harm Principle“, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, Baden-Baden, 2003, S. 13 ff. 10 Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, Köln u. a., 2002; Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, Baden-Baden, 2003. 11 Vgl. Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen v. 7.2.2001, SEK (2001) 227, S. 4 f.; Entschließung des EP zum Verhältnis zwischen Gemeinschaftsrecht und Strafrecht, ABl. 1977, Nr. C 57, S. 55 f.; Entschließung des EP zu Verordnung betreffend das Statut der Europäischen Aktiengesellschaft, Abl. 1974, Nr. C 93, S. 22 (24); Entschließung zur Alltagskriminalität in Ballungszentren und ihrer Verbindung zur organisierten Kriminalität, ABl. 1994 Nr. C 20, S. 188 (190). 12 Wegener/Greenawalt (Fn. 2), ZUR 2005, 585 f.; vgl. auch die Entscheidungen BGHSt 41, 127 (131); 25, 190 (193 f.). 9

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mission, spezifisch kriminalstrafrechtliche sowie detaillierte Anweisungen in Richtlinien oder Verordnungen festzuschreiben.13 2. Und genau dies geschah im März 2001, als die Europäische Kommission unter Verweis auf Artikel 175 Abs. 1 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft einen Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt vorlegte.14 Wegen bestehender Kompetenzvorbehalte der Mitgliedstaaten lehnte der Rat diesen denn auch mit großer Mehrheit ab. Stattdessen wurde nach langen Verhandlungen das Instrumentarium der Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen aktiviert.15 Nach Auffassung der Mitgliedstaaten stellt die Bekämpfung der Umweltkriminalität eine staatenübergreifende Angelegenheit dar, die somit auch abgestimmte strafrechtliche Maßnahmen erfordere.16 Der Rat erließ im Januar 2003 einen sog. Rahmenbeschluss nach Art. 34 EUV i.V. m. Art. 29, 31 Buchstabe e) EUV. Die Kommission hingegen hält einen gemeinschaftsrechtlichen Besitzstand bei der Umweltkriminalität für nur durch das Gemeinschaftsrecht selbst festlegbar. Es bestehe also kein Raum für eine aus Art. 29, 47 EUV abzuleitende Befugnis der Mitgliedstaaten, Maßnahmen im Rahmen der dritten Säule zu treffen.17 Diese würden in die Rechtsetzungskompetenz der EG in Form einer strafrechtlichen Anweisungskompetenz eingreifen.18 3. Diese unterschiedlichen Kompetenzgrundlagen haben erhebliche Konsequenzen für die Durchsetzungsmöglichkeit: Eine Richtlinie kann unter maßgeblicher Beteiligung der Kommission von Rat und Parlament mit Mehrheit beschlossen werden. Bei einem Vorgehen über den Rahmenbeschluss hingegen 13 Krit. zu detaillierten Vorgaben zum Inhalt der Sanktionsnormen auch Dannecker, „Das materielle Strafrecht im Spannungsfeld des Rechts der Europäischen Union (Teil I)“, Jura 2006, 95 (98); Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, BadenBaden, 2005, § 8 Rn. 38. 14 Zum Gang des Verfahrens im Einzelnen vgl. KOM (2001) 139 bei PreLex, http://ec.europa.eu/prelex/apcnet.cfm?CL=de [1.11.2006]. 15 Hecker, Europäisches Strafrecht, Berlin u. a., 2005, § 11 Rn. 114. 16 Hecker (Fn. 15), § 11 Rn. 116. 17 Krit. gegenüber einer derartigen Sperrwirkung Pohl, „Verfassungsvertrag durch Richterspruch“, ZIS 2006, 213 (217); Anm. Heger, JZ 2006, 310 (312); vgl. demgegenüber Böse, „Die Zuständigkeit der Europäischen Gemeinschaft für das Strafrecht“, GA 2006, 211 (216), wonach die gemeinschaftsrechtlichen Kompetenzen unabhängig von den Art. 29 ff. EUV auszulegen seien, das Strafrecht also nicht ausschließlich der Zusammenarbeit nach den Art. 29 ff. EUV zugewiesen sei. 18 Vgl. hierzu Hecker (Fn. 15), § 8 Rn. 25; Hugger, Strafrechtliche Anweisungen der Europäischen Gemeinschaft, Baden-Baden, 2000, S. 92 f.; Wasmeier/Jour-Schröder, in: v. d. Groeben/Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum Vertrag über die Europäische Union und zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, Bd. 1, Baden-Baden, 6. Aufl. 2003, Vorbem. zu den Art. 29 bis 42 EUV Rn. 49 ff., Art. 29 EUV Rn. 52 ff.

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entscheiden die Mitgliedstaaten weitgehend autark und behalten dabei ein Vetorecht. IV. Inhalt von Kommissionsvorschlag und Rahmenbeschluss zum strafrechtlichen Schutz der Umwelt Der Sache nach liegen Kommissionsvorschlag und Rahmenbeschluss gar nicht weit auseinander, was zeigt, dass es um etwas ganz anderes als die Umwelt geht. 1. Gem. Art. 1 des Richtlinienvorschlags der Kommission19 soll ein gemeinschaftsweiter Mindestkatalog von Straftaten festgelegt werden, der in Art. 3 des Vorschlags konkretisiert wird. Hierbei sind im Einzelnen aufgeführte Tätigkeiten als Straftaten vorgesehen, sofern sie vorsätzlich oder grob fahrlässig begangen werden und die Umweltschutzvorschriften der Gemeinschaft und/oder der Mitgliedstaaten verletzen. Genannt werden etwa die Ableitung von Kohlenwasserstoffen, Altölen oder Klärschlamm in Gewässer, die Beseitigung von Abfällen auf dem oder im Boden oder in Gewässern einschließlich des Betriebes einer Abfalldeponie oder die erhebliche Schädigung geschützter Lebensräume. Art. 4 des Richtlinienvorschlags verlangt für Täterschaft und Teilnahme wirksame, angemessene und abschreckende Sanktionen. Gegenüber juristischen Personen sollen der Ausschluss von öffentlichen Zuwendungen oder Hilfen, vorübergehende oder ständige Verbote von Handelstätigkeiten oder die richterliche Aufsicht bzw. eine richterlich angeordnete Auflösung, gegenüber natürlichen Personen zusätzlich strafrechtliche Sanktionen incl. des Freiheitsentzuges in schwerwiegenden Fällen verhängt werden können. 2. Der Katalog der nach Art. 2–4 des Rahmenbeschlusses20 strafbaren Handlungen entspricht im Wesentlichen demjenigen des Richtlinienvorschlages. Hinzugekommen ist die Variante „das rechtswidrige Einleiten, Abgeben oder Einbringen einer Menge von Stoffen oder ionisierender Strahlung in die Luft, den Boden oder das Wasser, welches deren anhaltende oder erhebliche Verschlechterung oder den Tod oder eine schwere Körperverletzung einer Person oder erhebliche Schäden an geschützten Denkmälern, sonstigen geschützten Gegenständen, Vermögensgegenständen, Tieren oder Pflanzen verursacht oder zu verursachen geeignet ist“, der „Schutz der Lebensräume“ findet sich nicht mehr. Anders als im Richtlinienvorschlag erfasst der Rahmenbeschluss in Art. 3 auch schlicht fahrlässige Handlungen als strafbares Verhalten. Bei den Sanktionen 19 Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt, KOM (2001) 139 endg., ABl. C 180E v. 26.6.2001, S. 238 ff. 20 Rahmenbeschluss 2003/80/JI des Rates v. 27.1.2003 über den Schutz der Umwelt durch das Strafrecht, ABl. L 29 v. 5.2.2003, S. 55 ff.; hierzu Mansdörfer, „Einführung in das Europäische Umweltstrafrecht“, Jura 2004, 297 ff.

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werden in Art. 5 wieder angemessene und abschreckende Strafen verlangt, die zumindest in schwerwiegenden Fällen auch Freiheitsstrafen umfassen sollen. Wie beim Richtlinienvorschlag werden weitere Sanktionen oder Maßnahmen gegenüber natürlichen Personen aufgeführt. Die Verantwortlichkeit von juristischen Personen ist nach Art. 6 sicherzustellen und detailliert in Art. 7 geregelt. Dabei werden auch strafrechtliche Geldsanktionen, allerdings nur als eine Alternative, aufgeführt. 3. Diese Vorschläge lassen erahnen, dass in zahlreichen Mitgliedstaaten, übrigens auch in Deutschland mit seinem bereits ausgefeilten Umweltstrafrechtssystem, erhebliche Nachbesserungen fällig wären.21 V. Bisherige Ansätze zur Begründung einer strafrechtlichen Anweisungskompetenz Bevor die Entscheidung des EuGH zu analysieren ist, sind die bisherigen Begründungsansätze darzustellen, aus denen eine strafrechtliche Anweisungskompetenz der EG abgeleitet wurde: Sie rekurrieren auf Art. 10 EGV, spezielle und allgemeine Harmonisierungsbefugnisse des EGV sowie Annexkompetenzen. Unumstrittene Ausgangspunkte sind dabei das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung,22 wonach jeder Rechtsetzungsakt der Gemeinschaft eine ausdrückliche oder aber zumindest im Wege der Auslegung hinreichend sicher zu gewinnende Ermächtigungsgrundlage in den Gründungsverträgen erfordert,23 und das Fehlen einer originären Strafrechtsetzungskompetenz.24 1. Von einem derartigen Ausgangspunkt erscheint es aber durchaus nicht ausgemacht, dass wenn auch keine originäre Strafsetzungskompetenz, so doch zumindest eine Anweisungskompetenz der Gemeinschaft25 zu bejahen ist, auf das Strafrecht der Mitgliedstaaten im Wege einer solchen Anweisung harmonisie21

So auch Anm. Heger, JZ 2006, 310 (311). Dieses sieht Anm. Wuermeling, BayVBl. 2006, 368 (369) weiter aufgeweicht. 23 Ambos, Internationales Strafrecht, München, 2006, § 11 Rn. 1; Braum, „Europäische Strafgesetzgebung: Demokratische Strafgesetzlichkeit oder administrative Opportunität?“, wistra 2006, 121 (123); Dannecker (Fn. 13), Jura 2006, 95 (96); Ambos, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar, StGB, Bd. 1, München, 2003, Vor §§ 3–7 Rn. 9; Schröder, Europäische Richtlinien und deutsches Strafrecht, Berlin, 2002, S. 118; Wasmeier/Jour-Schröder (Fn. 18), Art. 29 EUV Rn. 54. 24 P.-A. Albrecht, Die vergessene Freiheit, Berlin, 2003, S. 166; Ambos, Internationales Strafrecht (Fn. 23), § 11 Rn. 4, 10; Dannecker (Fn. 13), Jura 2006, 95 (96); Deutscher, Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften zur originären Strafgesetzgebung, Frankfurt/M. u. a., 2000, S. 350; Hecker (Fn. 15), Rn. 101; Ambos, in: Münchener Kommentar (Fn. 23), Vor §§ 3–7 Rn. 9; Satzger (Fn. 13), § 7 Rn. 25 ff.; ders., Die Europäisierung des Strafrechts, Köln u. a., 2001, S. 134 ff.; Schröder (Fn. 23), S. 161. 25 Zur Unterscheidung von Anweisungs- und Rechtsetzungskompetenz vgl. Hecker (Fn. 15), § 8 Rn. 2; Satzger (Fn. 13), § 7 Rn. 22. 22

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rend einzuwirken.26 So vertreten Wegener/Greenawalt, dass sich bei einer fehlenden Gemeinschaftskompetenz auch keine Richtlinienkompetenz bejahen lasse. Die Kompetenzfrage sei der Frage nach der Wahl der richtigen Rechtsform vorgeordnet.27 Wer einen solchen Schritt nicht in dieser Radikalität gehen möchte, sollte sich bei allen Konstruktionen einer Anweisungskompetenz zumindest für eine möglichst restriktive Auslegung entscheiden. 2. a) Teilweise wird allein aus dem allgemeinen Solidaritätsgebot des Art. 10 EGV die Kompetenz entnommen, strafrechtsrelevante Sekundärrechtsanweisungen zu geben.28 Diese Norm ermächtigt aber lediglich dazu, in einem Sekundärrechtsakt deklaratorisch auf die aus Gleichstellungserfordernis und dem Effektivitätsgebot folgenden Sanktionierungspflichten hinzuweisen.29 b) Daneben wird aus speziellen und allgemeinen Ermächtigungsgrundlagen des EGV die Befugnis abgeleitet, bestimmte Regelungsbereiche zu harmonisieren.30 Dabei sollen die Spezialermächtigungen den allgemeinen Befugnisnormen der Art. 95 und 308 EGV vorgehen. Auf unseren Gegenstand bezogen, wäre an Art. 175 Abs. 1 EGV zu denken, wonach eine gemeinsame Umweltpolitik ein Tätigwerden der Gemeinschaft erfordere.31 So verweist Hecker darauf, dass der Umweltschutz ein eigenständiges Vertragsziel darstelle, nicht lediglich ein bloßes Mittel zur Verwirklichung des Binnenmarktes.32 – Ob diese primärrechtlichen Harmonisierungsgrundlagen aber strafrechtliche Anweisungskompetenzen zu begründen vermögen, erscheint nicht evident.33 Auf die Notwendig-

26 Konsequent lediglich Braum, Europäische Strafgesetzlichkeit, Frankfurt/M., 2003, S. 405 ff., der Anweisungskompetenzen nur für den Bereich der „dritten Säule“ anerkennt; Böse dreht den Spieß in der Weise um, dass er auch eine originäre Strafsetzungskompetenz annimmt; hierzu u. VIII. 5. 27 Wegener/Greenawalt (Fn. 2), ZUR 2005, 585 (586). 28 Böse, Strafen und Sanktionen im Europäischen Gemeinschaftsrecht, Köln u. a., 1996, S. 414; Tiedemann, „Europäisches Gemeinschaftsrecht und Strafrecht“, NJW 1993, 23 (25 f.); Winkler, Die Rechtsnatur der Geldbuße im Wettbewerbsrecht der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Tübingen, 1971, S. 11 f.; abl. Deutscher (Fn. 24), S. 367; Dieblich, Schutz der Rechtsgüter der Europäischen Gemeinschaften, Köln, 1985, S. 274 f.; Hugger (Fn. 18), S. 54 ff.; wohl auch Bruns, Der strafrechtliche Schutz der europäischen Marktordnungen für die Landwirtschaft, Berlin, 1980, S. 92. 29 Deutscher (Fn. 24), S. 184; Hecker (Fn. 15), § 8 Rn. 36; Satzger (Fn. 13), § 8 Rn. 36. 30 Hecker (Fn. 15), § 8 Rn. 38 ff.; Ambos, in: Münchener Kommentar (Fn. 23), Vor §§ 3–7 Rn. 11; Satzger (Fn. 13), § 8 Rn. 33; Tiedemann (Fn. 28), NJW 1993, 23 (26). 31 In diesem Sinne ausdrücklich Hecker (Fn. 15), § 8 Rn. 46; Wasmeier/Jour-Schröder (Fn. 18), Art. 29 EUV Rn. 72 f.; abl. Brechmann, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EU-Vertrag und EG-Vertrag, Neuwied/Kriftel, 2. Aufl. 2002, Art. 31 EUV Rn. 10. 32 Hecker (Fn. 15), § 8 Rn. 45. 33 So aber Böse (Fn. 28), S. 78; Hecker (Fn. 15), § 8 Rn. 40; Hugger (Fn. 18), S. 62 ff.; Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts (Fn. 24), S. 470.

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keit der strengen Unterscheidung von administrativem Sanktionenrecht und Strafrecht hat erst jüngst wieder Braum zutreffend hingewiesen.34 c) Schließlich wird aus den Spezialermächtigungen des EGV eine Annexkompetenz gefolgert. Ausgangspunkt ist dabei die Lehre von den sog. „implied powers“.35 Mit jeder Kompetenznorm sei auch die uneingeschränkte normative Zuständigkeit auf die Gemeinschaft übergegangen. Diese schließe die Befugnis der EG ein, (kriminal-)strafrechtliche Anweisungen zu erteilen, soweit dies zur Erreichung des jeweiligen Harmonisierungsziels erforderlich sei.36 Nach Hecker vermögen diese Annexkompetenzen keine strafrechtlichen Sekundäranweisungen zu legitimieren, die nicht bereits in speziellen Ermächtigungsgrundlagen des EGV angelegt sind.37 Der Gedanke der inhärenten Kompetenzen weiche den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung auf.38 VI. Die Entscheidung des EuGH 1. Die Entscheidung des EuGH über die oben dargelegte Grundsatzfrage ist vielfach vielleicht nicht herbeigesehnt, so aber doch erwartet worden. Sie enttäuscht nicht nur vom Ergebnis, sondern auch von der Begründung her auf ganzer Linie. Die Kritiker eines Strafrechts in europäischer Kompetenz hätten es verdient gehabt, angemessen gewürdigt zu werden. Dies insbesondere deshalb, als auch der EuGH – zumindest auf dem Papier – den Grundsatz nicht antastet, dass das Strafrecht nicht in die Zuständigkeit der Gemeinschaft falle.39 Warum dieser Grundsatz vorliegend nicht greifen soll, wird mit vagen Floskeln in be34 Braum (Fn. 23), wistra 2006, 121 (122); Pohl (Fn. 17), ZIS 2006, 213 (217), der mich in Fn. 44 zu meiner Überraschung den Gegnern dieser Ansicht zuordnet. 35 Zu dieser Ambos, Internationales Strafrecht (Fn. 23), § 11 Rn. 30; Bleckmann, Europarecht, Köln u. a., 6. Aufl. 1997, Rn. 797 ff.; Deutscher (Fn. 24), S. 206 f.; Gröblinghoff, Die Verpflichtung des deutschen Strafgesetzgebers zum Schutz der Interessen der Europäischen Gemeinschaften, Heidelberg, 1996, S. 94 ff.; Hecker (Fn. 15), § 8 Rn. 41; Ambos, in: Münchener Kommentar (Fn. 23), Vor §§ 3–7 Rn. 11; Schmalenberg, Ein europäisches Umweltstrafrecht, Berlin, 2004, S. 28 f.; krit. Dieblich (Fn. 28), S. 272 f.; Hugger (Fn. 18), S. 56 ff. 36 Bleckmann, „Die Überlagerung des nationalen Strafrechts durch das Europäische Gemeinschaftsrecht“, in: Küper/Welp (Hrsg.), Festschrift für Walter Stree und Johannes Wessels zum 70. Geburtstag, Heidelberg, 1993, S. 107 (111); Heitzer, Punitive Sanktionen im Europäischen Gemeinschaftsrecht, Heidelberg, 1996, S. 142 ff.; Johannes, „Das Strafrecht im Bereich der Europäischen Gemeinschaften“, EuR 1968, 63 (107 f.); Schmalenberg (Fn. 35), S. 29; Vogel, „Stand und Tendenzen der Harmonisierung des materiellen Strafrechts in der Europäischen Union“, in: Zieschang/Hilgendorf/Laubenthal (Hrsg.), Strafrecht und Kriminalität in Europa, Baden-Baden, 2003, S. 29 (37); Wasmeier/Jour-Schröder (Fn. 18), Art. 29 EUV Rn. 59; Winkler (Fn. 28), S. 11 f. 37 Hecker (Fn. 15), § 8 Rn. 41; Dieblich (Fn. 28), S. 274 f.; Hugger (Fn. 18), S. 56 ff. 38 Ambos, Internationales Strafrecht (Fn. 23), § 11 Rn. 1.

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eindruckender Knappheit dargetan, die für die Zukunft Schlimmstes befürchten lassen. Der Umweltschutz sei ein wesentliches Ziel der Gemeinschaft,40 es handele sich um eine Querschnittsmaterie.41 Die Artikel 174–176 EGV stellten grundsätzlich den Rahmen dar, innerhalb dessen die gemeinschaftliche Umweltpolitik durchzuführen sei.42 Sicherlich bedeute der Beschluss eine Teilharmonisierung der Strafrechtsvorschriften der Mitgliedstaaten, insbesondere in Bezug auf die Tatbestandsmerkmale verschiedener Umweltstraftaten.43 Trotz des oben genannten Grundsatzes, dass das Strafrecht nicht in die Zuständigkeit der Gemeinschaft falle, sei der Gemeinschaftsgesetzgeber nicht daran gehindert, Maßnahmen in Bezug auf das Strafrecht der Mitgliedstaaten zu ergreifen, die seiner Meinung nach erforderlich seien, um die volle Wirksamkeit der von ihm zum Schutz der Umwelt erlassenen Rechtsnormen zu gewährleisten, wenn die Anwendung wirksamer, verhältnismäßiger und abschreckender Sanktionen durch die zuständigen nationalen Behörden eine zur Bekämpfung schwerer Beeinträchtigungen der Umwelt unerlässliche Maßnahme darstelle.44 So sei den Mitgliedstaaten auch die Wahl der anwendbaren strafrechtlichen Sanktionen überlassen, die freilich nach Artikel 5 Abs. 1 des Beschlusses wirksam, angemessen und abschreckend sein müssten.45 Artikel 135 EGV und 280 Abs. 4 EGV lasse sich nicht entnehmen, dass im Rahmen der Durchführung der Umweltpolitik jede strafrechtliche Harmonisierung, und sei sie auch so begrenzt wie die des Rahmenbeschlusses, unzulässig wäre, selbst wenn sie zur Sicherstellung der Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts erforderlich sei.46

39 EuGH v. 13.9.2005, C-176/03, Rn. 47, EWS 2005 454 (457); so auch der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen v. 26.5.2005 zur Rs. C-176/03, Rn. 27 f., abrufbar unter http://curia.europa.eu bei „Rechtsprechung“ [1.11.2006]; EuGH (Calfa) C-348/ 96, Slg. 1999, I-11 (I-29), Rn. 17; EuGH (Lemmens) C-226/97, Slg. 1998, I-3711 (I3731 f.), Rn. 19 m. im Erg. zust. Anm. Gless; EuGH (Cowan/Trésor public) 186/87, Slg. 1989, 195 (221 f.), Rn. 19; EuGH (Casati) 203/80, Slg. 1981, 2595 (2618), Rn. 27; Weiß („EC Competence for Environmental Criminal Law – An Analysis of the Judgement of the ECJ of 13.9.2005 in Case C-176/03, Commission v. Council“, ZEuS 2006, 381 [409 ff.]) sieht eine Strafrechtskompetenz, die aber einzuschränken sei. 40 EuGH v. 13.9.2005, C-176/03, Rn. 41, EWS 2005, 454 (457). 41 EuGH v. 13.9.2005, C-176/03, Rn. 42, EWS 2005, 454 (457). 42 EuGH v. 13.9.2005, C-176/03, Rn. 43, EWS 2005, 454 (457). 43 EuGH v. 13.9.2005, C-176/03, Rn. 47, EWS 2005, 454 (457). 44 EuGH v. 13.9.2005, C-176/03, Rn. 48 f., EWS 2005, 454 (457); so wohl auch Eisele, „Einflussnahme auf nationales Strafrecht durch Richtliniengebung der Europäischen Gemeinschaft“, JZ 2001, 1157 (1160). 45 EuGH v. 13.9.2005, C-176/03, Rn. 49, EWS 2005, 454 (457). 46 EuGH v. 13.9.2005, C-176/03, Rn. 52, EWS 2005, 454 (457); so auch der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen v. 26.5.2005 zur Rs. C-176/03, Rn. 78, abrufbar unter http://curia.europa.eu bei „Rechtsprechung“ [1.11.2006], sowie Böse (Fn. 17), GA 2006, 211 (214 f.); krit. hierzu Wegener/Greenawalt (Fn. 2), ZUR 2005, 585 (587); Anm. Heger, JZ 2006, 310 (312); Pohl (Fn. 17), ZIS 2006, 213 (218 f.).

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2. Ist das alles? Ja, mehr ist in der Entscheidung des EuGH nicht enthalten, und die Begründung lässt sich noch weiter reduzieren: Wenn sich eine strafrechtliche Maßnahme als notwendig erweise, für die ein gemeinschaftsrechtliches Mandat bestehe, dann sei sie auch durchsetzbar. Über eine solche (Schein-) Voraussetzung ist die Kompetenzfolge auf den Kopf gestellt, wie Satzger zutreffend zum Ausdruck bringt.47 Es klingt fast zynisch, wenn betont wird, den Mitgliedstaaten stehe ja die Art der strafrechtlichen Sanktion frei, wenn sie nur bestimmte weitere Kautelen erfülle. Wegener/Greenawalt äußern sich in ihrer Kritik ähnlich:48 „[. . .] überrascht die Selbstverständlichkeit, mit der der EuGH eine sich aus der Sachkompetenz der Gemeinschaft ableitende Befugnis zur Harmonisierung des Strafrechts ableitet.“ 3. Wenn Braum in den Kriterien der Eignung und Erforderlichkeit „substantielle Prämissen“ erblickt und den EuGH so interpretiert, er würde als wichtigen „Standard der Strafgesetzgebung“ die „Notwendigkeit empirischer Begründung eines Rechtsakts“ verlangen, so scheint er mir diese Formeln deutlich überoder fehlzuinterpretieren. Denn die Eignung und Erforderlichkeit sind ja im Hinblick auf die „volle Wirksamkeit“ (hier) des Umweltschutzes zu interpretieren, womit es gerade an einem konkreten Beurteilungsgegenstand mangelt. Offensichtlich soll es überdies verschiedene Grade der Wirksamkeit geben (auch eine halbe?). Solche (Schein-)Prämissen entziehen sich jeder empirischen Überprüfbarkeit. 4. Der EuGH treibt somit eine vage Allianz von Spezialermächtigung und implied-powers-Lehre bis zum Äußersten, indem sich aus der Sachkompetenz auch eine strafrechtliche Sanktionskompetenz ableiten soll.49 Bereits beim Siegeszug des Prinzips der sog. gegenseitigen Anerkennung hat sich gezeigt, wie sich eine (sinnvolle) Regelung aus einem Kontext, nämlich dem Warenverkehr, plötzlich in einer Materie wie der Strafverfolgung wiederfindet, wo sie nur als sachwidrig einzustufen ist.50 Überdies spricht bereits eine intrasystematische Auslegung des Art. 175 EGV dagegen, hieraus eine strafrechtliche Kompetenz abzuleiten: Wenn sich die Mitgliedstaaten in Art. 175 Abs. 2 Unterabs. 1 EGV das Einstimmigkeitserfordernis für die Steuer-, die Energie- und die Raumordnungspolitik ausbedingen, nicht aber für das Strafrecht, so kann bei aller nüchternen Einschätzung seiner Bedeutung und Rolle51 hieraus in keinem Falle ab47 Satzger, „The Future of European Criminal Law between Harmonization, Mutual Recognition and Alternative Solutions“, Journal for European Criminal Law 2006, 27 (32). 48 Wegener/Greenawalt (Fn. 2), ZUR 2005, 585 (587); vgl. auch die Einschätzung von Pohl (Fn. 17), ZIS 2006, 213 (216). 49 Wegener/Greenawalt (Fn. 2), ZUR 2005, 585 (587 f.). 50 Vgl. Schünemann, „Europäischer Haftbefehl und EU-Verfassungsentwurf auf schiefer Ebene – Die Schranken des Grundgesetzes“, ZRP 2003, 185 (186). 51 Anders der hier vertretene Standpunkt; vgl. o. II.

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geleitet werden, dass in dieser Norm die strafrechtlichen Kompetenzen mit angelegt sind.52 VII. Geplante Regelung in der Verfassung Fast hat es den Anschein, als habe der EuGH in seinem Unmut darüber, dass der Verfassungsentwurf noch nicht Realität geworden ist, diesen für das Strafrecht schon einmal vorweggenommen.53 So sollen nach Artikel III-271 durch Europäisches Rahmengesetz Mindestvorschriften zur Festlegung von Straftaten und Strafen in Bereichen besonders schwerer Kriminalität mit grenzüberschreitender Dimension festgelegt werden können. Hierzu zählt der Verfassungsentwurf solche Delinquenzungeheuer wie den Terrorismus oder die sog. Organisierte Kriminalität, nicht aber die Umweltdelinquenz. Wichtiger noch erscheint Absatz 2: „Erweist sich die Angleichung der strafrechtlichen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten als unerlässlich für die wirksame Durchführung der Politik der Union auf einem Gebiet, auf dem Harmonisierungsmaßnahmen erfolgt sind, so können durch Europäisches Rahmengesetz Mindestvorschriften für die Festlegung von Straftaten und Strafen auf dem betreffenden Gebiet festgelegt werden. Es wird unbeschadet des Artikels III-264 nach dem gleichen Verfahren wie die betreffenden Harmonisierungsmaßnahmen erlassen.“ Damit wäre die Gleichschaltung des Strafrechts mit jeder anderen Materie erreicht.54 Das Inkrafttreten der Verfassung ist nicht wegen dieser Regelung aufgeschoben worden. Dafür war dieser Sprengsatz viel zu sehr versteckt und nicht öffentlichkeitswirksam genug. Das aber legitimiert niemanden, und schon gar nicht den EuGH, durch Auslegungsakrobatik den Zustand des Verfassungsentwurfs vorwegzunehmen. VIII. Folgerungen aus der Entscheidung des EuGH 1. Über die Folgerungen aus der Entscheidung des EuGH braucht man gerade wegen ihrer Schlichtheit nicht lange zu rätseln. Die Kommission hat überdies 52

So Pohl (Fn. 17), ZIS 2006, 213 (219). So auch Schriever, „Auf dem Weg zum Europäischen Strafgesetzbuch“, AnwBl 3/2006, VI; Satzger (Fn. 47), Journal for European Criminal Law, 2006, 27 (31); Pohl (Fn. 17), ZIS 2006, 213 (220). 54 Zudem legt Art. III-415 EV die Interpretation nahe, dass auf seiner Grundlage echte supranationale Kriminalstraftatbestände erlassen werden können; vgl. Satzger (Fn. 13), § 7 Rn. 40, 41; so auch Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht AT, Köln/Berlin/ München, 2004, Rn. 85 a; Dannecker (Fn. 13), Jura 2006, 173 (176 f.); Weigend, „Der Entwurf einer Europäischen Verfassung und das Strafrecht“, ZStW 116 (2004), 275 (288). 53

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zwei Monate nach dem Urteil eine kleine Interpretationshilfe gegeben, wohin die Reise gehen soll:55 Alle Zweifel in einer seit langem streitigen Frage seien beseitigt. Die Argumentation könne vom Bereich des Umweltschutzes problemlos auf die übrigen gemeinsamen Politiken und die vier Grundfreiheiten (Freizügigkeit sowie freier Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr) übertragen werden.56 Die Bedingungen für den Gemeinschaftsgesetzgeber, um auf das Strafrecht zurückgreifen zu können, seien (lediglich) Notwendigkeit und Kohärenz. Unter dem Topos der Notwendigkeit wird dabei von der Kommission auch erörtert, dass den Mitgliedstaaten mitunter sog. Orientierungspunkte für Art und Umfang des zu etablierenden Strafrechts zu geben seien. Auch dieser Begriff des Orientierungspunktes spielt die Dimension der Vorgabe herunter. Das Beispiel und der Anlass des Umweltstrafrechts zeigen dies eindrucksvoll: Die Vorgaben für den nationalen Umsetzungsgesetzgeber sind alles andere als grobmaschige Orientierungspunkte.57 2. Bei der Frage, wie die rechtliche Situation im Anschluss an das Urteil zu bereinigen sei, schlägt die Kommission einen Weg vor,58 der in Deutschland gemeinhin unter den Tatbestand der Nötigung subsumiert wird: Eine Möglichkeit sei es, bei der Überprüfung der Rechtsakte allein darauf zu achten, dass sie mit der Verteilung der Zuständigkeiten zwischen erstem und drittem Pfeiler in Einklang stünden. In diesem Fall würde die Kommission in ihren Vorschlägen auf inhaltliche Änderungen völlig verzichten, selbst wenn ihr die erlassenen Rechtsakte nicht befriedigend erschienen. Hierin liege eine einfache und schnelle Lösung. Sie setze jedoch voraus, dass sich Parlament und Rat darin einig seien, bei dieser Gelegenheit nicht in erneute Grundsatzdebatten einzutreten. Komme ein solches Einvernehmen nicht zustande, würde die Kommission von ihrem Vorschlagsrecht Gebrauch machen und dabei nicht nur die Rechtsgrundlagen richtigstellen, sondern auch inhaltlichen Lösungen den Vorzug geben, die ihrem Verständnis des Gemeinschaftsinteresses entsprächen. – Letzteres ist schlicht als Drohung zu interpretieren und wirft ein bezeichnendes Licht auf die Handlungsweise der Kommission und die gestörte Balance der Machtverhältnisse in Europa. 3. Um welche Rechtsakte es nach Auffassung der Kommission geht, die im Lichte des EuGH-Urteils neu zu interpretieren seien, ist in einem Anhang aufgeführt worden. Danach sind beispielsweise die folgenden Rahmenbeschlüsse 55 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über die Folgen des Urteils des Gerichtshofs vom 13. September 2005 (Rs. C-176/03, Kommission gegen Rat), KOM (2005) 583 endg./2; zu den Konsequenzen vgl. auch Anm. Douma, „Praxishinweis“, EurUP 2005, 250 (251); ferner Anm. Wuermeling, BayVBl. 2006, 368 (369). 56 KOM (2005) 583 endg./2, Rn. 6. 57 Wegener/Greenawalt (Fn. 2), ZUR 2005, 585 (588). 58 KOM (2005) 583 endg./2, Rn. 16 f.

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auf eine neue Rechtsgrundlage zu stellen: die Rahmenbeschlüsse zur Geldfälschung,59 der Rahmenbeschluss zum Betrug mit unbaren Zahlungsmitteln,60 der Rahmenbeschluss zur Geldwäsche,61 der Rahmenbeschluss zur Bestechungsbekämpfung,62 der Rahmenbeschluss über Angriffe auf Informationssysteme,63 der Rahmenbeschluss über Meeresverschmutzungen,64 der Vorschlag für einen Rahmenbeschluss über die strafrechtliche Ahndung der Verletzung geistigen Eigentums.65 Jüngst wurde bereits ein zunächst vorgesehener Rahmenbeschluss zur Verstärkung des strafrechtlichen Rahmens zur Ahndung der Verletzung geistigen Eigentums66 neu als Richtlinie vorgeschlagen.67 4. Was nunmehr droht, liegt auf der Hand: Angesichts umfassender Einzelkompetenzen des Gemeinschaftsgesetzgebers ist der Weg für eine Totalharmonisierung des Strafrechts durch den EuGH geebnet.68 Die Liste der Kommission demonstriert dies eindrucksvoll. Und wenn diese Kompetenzen als Ausgangspunkt für die Harmonisierung des Strafrechts nicht ausreichen sollten, so werden sie eben geschaffen. Art. 175 Abs. 1 EGV entsprechende Vorschriften können mit qualifizierter Mehrheit im Rat verabschiedet werden. Eine Übertragung des Einstimmigkeitserfordernisses wie in Art. 175 Abs. 2 EGV hat der EuGH ausdrücklich ausgeschlossen.69 59 Rahmenbeschluss 2000/383/JI des Rates vom 29.5.2000 über die Verstärkung des mit strafrechtlichen und anderen Sanktionen bewehrten Schutzes gegen Geldfälschung im Hinblick auf die Einführung des Euro, ABl. L 140 v. 14.6.2000, S. 1 ff.; Rahmenbeschluss des Rates vom 6.12.2001 zur Änderung des Rahmenbeschlusses 2000/383/JI über die Verstärkung des mit strafrechtlichen und anderen Sanktionen bewehrten Schutzes gegen Geldfälschung im Hinblick auf die Einführung des Euro, ABl. L 329 v. 14.12.2001, S. 3. 60 Rahmenbeschluss 2001/413/JI des Rates vom 28.5.2001 zur Bekämpfung von Betrug und Fälschung im Zusammenhang mit unbaren Zahlungsmitteln, ABl. L 149 v. 2.6.2001, S. 1 ff. 61 Rahmenbeschluss 2001/500/JI des Rates vom 26.6.2001 über Geldwäsche sowie Ermittlung, Einfrieren, Beschlagnahme und Einziehung von Tatwerkzeugen und Erträgen aus Straftaten, ABl. L 182 v. 5.7.2001, S. 1 f. 62 Rahmenbeschluss 2003/568/JI des Rates vom 22.7.2003 zur Bekämpfung der Bestechung im privaten Sektor, ABl. L 192 v. 31.7.2003, S. 54. 63 Rahmenbeschluss 2005/222/JI des Rates v. 24.2.2005 über Angriffe auf Informationssysteme, ABl. L 69 v. 16.3.2005, S. 67 ff. 64 Rahmenbeschluss 2005/667/JI des Rates v. 13.7.2005 zur Verstärkung des strafrechtlichen Rahmens zur Bekämpfung der Verschmutzung durch Schiffe, ABl. L 255 v. 30.9.2005, S. 164 ff. 65 Vgl. den Vorschlag für einen Rahmenbeschluss v. 12.7.2005 des Rates zur Verstärkung des strafrechtlichen Rahmens zur Ahndung der Verletzung geistigen Eigentums, KOM (2005) 0276-2. 66 Vgl. o. Fn. 65. 67 Geänderter Vorschlag v. 26.4.2006 für eine Richtlinie des europäischen Parlaments und des Rates über strafrechtliche Maßnahmen zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums; KOM 2006/168 endgültig. 68 Wegener/Greenawalt (Fn. 2), ZUR 2005, 585 (588).

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5. Satzger befürchtet gar, dass die Entscheidung des EuGH so interpretiert werden könne, dass nunmehr supranationales Strafrecht im strikten Sinne möglich sei.70 Wenigstens diese Sorge scheint indes unbegründet. Für eine Umweltstrafrechts-Verordnung mit unmittelbarer Wirkung in allen EU-Staaten fehlt der EG auch nach der Entscheidung des EuGH die Kompetenz.71 IX. Wie geht es mit dem Umweltstrafrecht weiter? Der EuGH hat den Rahmenbeschluss für nichtig erklärt.72 Als einziges Mittel der Harmonisierung bleibt somit der Erlass einer Richtlinie aufgrund von Art. 174 f. EGV.73 Da sich eine große Mehrzahl der EU-Mitglieder gegen die vom EuGH nunmehr ausdrücklich gebilligte Position der Kommission gestellt hatte, erscheint die hierfür erforderliche qualifizierte Mehrheit der im Rat vertretenen Regierungen in weite Ferne gerückt.74 Für den strafrechtlich flankierten Umweltschutz könnte man daher durchaus von einem Pyrrhussieg sprechen,75 weil der Rahmenbeschluss – wie oben ausgeführt – einen vergleichbaren Präzisionsgrad hatte und auch die Umsetzung selbst nicht wesentlich vager als über eine Richtlinie verlaufen wäre.76 Nur würde die Kommission natürlich nie von einem Pyrrhussieg sprechen und die Entscheidung des EuGH auch nicht so interpretieren, weil es ihr ja um ganz andere Ziele hinter den Zielen ging, der Umweltschutz für sie also nur ein trojanisches Pferd77 war, das danach sogleich vergessen wurde, nachdem es seine Pflicht und Schuldigkeit getan hatte. Ein schwacher Trost: Selbst wenn man nicht diese Brille der Kommission aufhätte, kann man indes – was die „vergessene“ Umwelt anbelangt – gelassen sein. Denn das Strafrecht hat es in diesem Bereich der Verwaltungsakzessorietät ohnehin noch nie geschafft, substanzielle Verbesserungen für den Stand der 69

EuGH v. 13.9.2005, C-176/03, Rn. 43 f., EWS 2005, 454 (457). Satzger (Fn. 47), Journal for European Criminal Law, 2006, 27 (32); so propagiert Böse (Fn. 17), GA 2006, 211 (220 f.) nunmehr tatsächlich, dass nicht lediglich eine Annexkompetenz bestehe, sondern eine (originäre) strafrechtliche Kompetenz der Gemeinschaft zum Erlass von unmittelbar geltenden Strafbestimmungen. Auch Skouris wies in der Diskussion auf der Thessaloniki-Tagung den Begriff der (bloßen) Annexkompetenz zurück. Es handele sich um eine „richtige“ Kompetenz. 71 Anm. Heger, JZ 2006, 310 (311). 72 EuGH v. 13.9.2005, C-176/03, Rn. 55, EWS 2005, 454 (458). 73 Anm. Heger, JZ 2006, 310 (311). 74 Anm. Heger, JZ 2006, 310 (311). 75 Vgl. Vorspann JZ vor der Entscheidung des EuGH, JZ 2006, 307; so auch Pohl (Fn. 17), ZIS 2006, 213 (216). 76 Vgl. Anm. Heger, JZ 2006, 310 (311 f.). 77 Das europäische Strafrecht scheint voll solcher trojanischer Pferde zu sein, was kein gutes Zeichen ist; vgl. jüngst Braum (Fn. 23), wistra 2006, 121 (122), der die Generalklauseln des Europarechts als solche bezeichnet. 70

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Umwelt zu bewirken. Dafür müsste eben diese Akzessorietät zum Umweltstrafrecht bereichsweise aufgebrochen werden.78 X. Demokratiespritze oder Brüssel-Luxemburgischer Putsch? 1. War der von der Kommission initiierte und vom EuGH vollbrachte Weg nun eine Demokratiespritze oder ein Brüsseler Putsch? An eine Demokratiespritze könnte man bei vordergründiger und durch die Brüsseler Lesart beförderter Sichtweise denken, weil der nunmehr allein mögliche Weg über die Richtlinie eine Beteiligung durch das Europäische Parlament voraussetzt.79 So teilte Kommissionspräsident Barroso mit: „Dieses wegweisende EuGH-Urteil stärkt die Demokratie und die Effizienz in der Europäischen Union. Es stellt klar, dass strafrechtliche Sanktionen, wo immer sie das Gemeinschaftsrecht vorsieht, nicht ohne eine umfassende demokratische Kontrolle durch das Europäische Parlament beschlossen werden können.“80 Nur: Der Preis hierfür ist unvertretbar hoch.81 Würde ein Staat eine Änderung seines Strafrechts nicht für akzeptabel halten, so hätte er bei dem Weg über die Richtlinie keine Möglichkeit mehr, sich sicher dagegen zu sperren. Und damit wird das Schreckgespenst Schünemanns endgültig zur Realität, wonach der nationale parlamentarische Gesetzgeber zum „Brüsseler Lakaien“82 degeneriert. 2. Dies ist nicht emotionslos in dem Sinne zur Kenntnis zu nehmen, dass eben auch das Strafrecht zu harmonisieren sei und das nationale Recht seinen Preis zu zahlen habe. Die Sorge rührt aus mehreren Gründen, die noch einmal zusammengefasst seien: Erstens bliebe vom Grundsatz, wonach das Strafrecht nicht in die Zuständigkeit der Gemeinschaft falle, nicht mehr als eine leere Hülse zurück. Zweitens ist auf die einleitend hervorgehobene „Besonderheit“ des Strafrechts zurückzukommen. Dabei möchte ich nicht einmal die etwa von 78

Vgl. hierzu etwa Schünemann, „Zur Dogmatik und Kriminalpolitik des Umweltstrafrechts“, in: Schmoller (Hrsg.), Festschrift für Otto Triffterer zum 65. Geburtstag, Wien/New York, 1996, S. 437 (441 ff.); ders., „Die Strafbarkeit von Amtsträgern im Gewässerstrafrecht“, wistra 1986, 235 (239); übertrieben optimistisch zur Rolle des Strafrechts im „Kampf“ gegen die Umweltzerstörung Weiß (Fn. 39), ZEuS 2006, 381 (413 ff.). 79 Vgl. auch Anm. Douma (Fn. 55), EurUP 2005, 250 f. 80 http://www.rhombos.de/shop/a/show/story/?570 [1.11.2006]; vgl. auch in ähnlichem Sinne Böse (Fn. 17), GA 2006, 211 (218). 81 Dabei sei an dieser Stelle nicht auf das diskutierte (und kritisierte) Problem eingegangen, ob die Europäische Gemeinschaft überhaupt demokratisch legitimiert ist und ob ihr im negativen Fall die Rechtsetzungsbefugnis abgesprochen werden kann; vgl. zu diesem Komplex Wegener/Greenawalt (Fn. 2), ZUR 2005, 585 (586 f.) sowie – keinen Verstoß gegen das Demokratieprinzip annehmend – Böse (Fn. 17), GA 2006, 211 (216 ff.). 82 Schünemann, „Die parlamentarische Gesetzgebung als Lakai von Brüssel? Zum Entwurf des Europäischen Haftbefehlsgesetzes“, StV 2003, 531.

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Satzger und anderen erwähnten sozial-ethischen Wertvorstellungen der Rechtsgemeinschaft in den Vordergrund schieben, die für ein nationales Strafrecht sprechen sollen.83 Denn das Denken in Rechtsgütern etwa84 hat durchaus eine übernationale Komponente, wenn man von terminologischen Feinheiten absieht.85 Aber es gibt eben auch – und hier nähere ich mich wieder Satzger an – sog. Verhaltensdelikte,86 die auf homogenen Verhaltensüberzeugungen beruhen, die allenfalls national zu bestimmen sind. Zudem ist das Gesamtsystem der Kriminalisierung, der Sanktionierung auf andere Weise und (selten) der Entpönalisierung derart diffizil und auch fragil, dass man den Holzhammer aus Brüssel auf alle Fälle fernhalten muss. Noch einmal: Nicht, weil das Strafrecht so etwas Besonderes ist, sondern weil es eine dramatische Eingriffstiefe für den einzelnen Bürger aufweist. Kriminalpolitisch schließlich sei drittens darauf hingewiesen, dass jede barrierefreie Harmonisierung stets auf eine Strafrechtsverschärfung hinausläuft. Was davon zu halten ist, wird kontrovers diskutiert und kann hier nicht einmal angerissen werden. Zu beobachten ist jedenfalls die vielfach hemmungslose Bereitschaft von Nichtstrafrechtlern, eine Verschärfung des Strafrechts als angeblich funktionales Instrument zu fordern. Sie vergessen oder wissen nicht, dass die Kriminologie schon längst die angeblich präventiven Wirkungen des Strafrechts entzaubert hat,87 was sie verdrängen, ist der hohe Preis, den das Strafrecht den Betroffenen abverlangt. Oder sie sehen diesen als angemessen an, weil es ja um einen Verbrecher gehe. XI. Resümee Ob es sich nun um einen Brüsseler oder Luxemburger Putsch handelt, ist nicht entscheidend. Wenn wir in den Termini von Täterschaft und Teilnahme denken, liegt das Bild der Mittäterschaft nahe, bei dem der Kommission ein überragender Beitrag im Vorbereitungsstadium zukam. Nicht auszuschließen ist indes, dass dem EuGH die Dimension seiner Entscheidung nicht bewusst war und er sie im Folgenden zumindest abzuschwächen versuchen wird. In diesem Fall wäre das Bild einer mittelbaren Täterschaft treffender. Auch dieses ist aber wieder in Frage zu stellen, denkt man an den EuGH-Präsidenten Skouris bei seinem „Diskussionsbeitrag“. Von typischen Werkzeugeigenschaften konnte 83

Satzger (Fn. 13), § 8 Rn. 7. Hierzu die Nachweise in Fn. 10. 85 Vgl. im Einzelnen Hefendehl, „Europäisches Strafrecht: bis wohin und nicht weiter?“, ZIS 2006, 229 ff. 86 Hefendehl (Fn. 4), S. 52 ff. 87 Vgl. die ernüchternden Feststellungen zur Generalprävention bei Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Stuttgart, 2. Aufl. 2002, Rn. 53 ff.; Kunz, Kriminologie, Bern/ Stuttgart/Wien, 4. Aufl. 2004, § 33 Rn. 24; Albrecht, Kriminologie, München, 3. Aufl. 2005, S. 54 ff. und zur Spezialprävention bei Streng (a. a. O.), Rn. 61 ff.; Kunz (a. a. O.), § 34 Rn. 4 ff.; Albrecht (a. a. O.), S. 48 ff. 84

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nicht die Rede sein, er zeichnete sich vielmehr – wie dargestellt – durch großes Selbstbewusstsein sowie Selbstverständlichkeit aus. Wenn Wuermeling nachvollziehbar ausführt,88 dass der EuGH mit seinem Urteil „ein wenig glückliches Signal“ in Zeiten aussende, in denen die Zustimmung in der Bevölkerung zu europäischem Handeln auch aus Angst vor Zentralisierung sinke, wäre vielleicht auch eine nachdenklichere Reaktion in Betracht gekommen. Seit dem September des letzten Jahres beginnt sich die Brüsseler Krake nunmehr das Strafrecht endgültig einzuverleiben. Brüssel würde vermutlich eher das Bild der Amme heranziehen wollen. Scheinbar wird das Strafrecht ja auch gestärkt. Die Nebenwirkungen werden aber dramatisch sein. Jede ernsthaft prüfende Zulassungsstelle hätte das Medikament daher nicht zugelassen.

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Anm. Wuermeling, BayVBl. 2006, 368 (370).

Europäische Delikte, Europäische Rechtsgüter Elz˙ bieta Hryniewicz I. Allgemeine Vorbemerkungen Gemäß Art. 29 des Vertrages über die Europäische Union (EUV) verfolgt die Europäische Union das Ziel, den Bürgern in einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ein hohes Maß an Sicherheit zu bieten. Dieses Ziel soll durch die Verhütung und die Bekämpfung der organisierten oder nichtorganisierten Kriminalität, insbesondere des Terrorismus, des Menschenhandels, der Straftaten gegenüber Kindern, des illegalen Drogen- und Waffenhandels, der Bestechung und der Bestechlichkeit sowie des Betrugs erreicht werden. Eine der Methoden, die die Bekämpfung der Kriminalität erleichtern sollen (mit einer besonderen Betonung der Straftaten in folgenden Bereichen: organisierte Kriminalität, Terrorismus und illegaler Drogenhandel), bildet, neben der engen polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit, eine schrittweise Annäherung der rechtlichen Regelungen in den einzelnen Mitgliedstaaten (Art. 31 (1)(e) EUV). Das Streben nach einer engeren Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten bezüglich der Strafsachen im Rahmen der sog. dritten Säule sowie die Schaffung des Vertrages über eine Verfassung für Europa, die den Unionsorganen gewisse Gesetzgebungskompetenzen auch im Bereich des Strafrechts zuweist, haben die Notwendigkeit einer Diskussion über das Ausmaß dieser Kompetenzen im Hinblick auf den Rechtsgüterschutz deutlich gemacht. Obwohl die Europäische Union von 25 Mitgliedstaaten gebildet ist, die viele kulturelle Ähnlichkeiten aufweisen sowie ähnliche Werte und fundamentale Sitten- und Rechtsprinzipien pflegen – was unter anderem zu ihrem Beitritt zu verschiedenen, die Grundfreiheiten und Grundprinzipien der Menschen und Bürger schützenden Konventionen geführt hat –, sind ihre Strafvorschriften unterschiedlich gefasst. Entsprechend der Auffassung der Europäischen Kommission entstehen diese Unterschiede hauptsächlich infolge einer teilweise anderen Behandlung fundamentaler Fragen des Strafrechts, was historisch, kulturell und rechtlich bedingt ist. Das Strafrechtssystem in jedem einzelnen Mitgliedstaat weist eine gewisse innere Kohärenz auf und die Einführung einzelner abstrakter europäischer Regelungen, ohne die Besonderheiten jedes einzelnen Strafrechtssystems vorher in Betracht zu ziehen, kann zu unerwünschten Folgen in Form

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von Widersprüchen innerhalb einzelner Rechtsgebiete in den nationalen Rechtsordnungen führen1. Da sich die zwischenstaatliche Zusammenarbeit in Strafsachen derzeit ausschließlich auf der intergouvernmentalen Ebene abspielt2, und der Verfassungsvertrag, der der Europäischen Union die Kompetenz zur Schaffung supranationalen Strafrechts einräumen sollte, bisher nicht ratifiziert wurde (über die Anwendung des supranationalen Strafrechts sollte eine noch nicht existierende Europäische Staatsanwaltschaft die Aufsicht haben3), ist – entsprechend der offiziellen Auffassung der Europäischen Kommission – die Schaffung einer allgemeinen europäischen Kodifikation des Strafrechts für eine effektive Verhinderung und Bekämpfung der Straftaten, die gegen die europäischen Rechtsgüter gerichtet sind, nicht zwingend erforderlich4. Dabei sind unter diesen Rechtsgütern zumeist die Finanzinteressen der EU bzw. redliches und effektives Funktionieren der Unionsorgane zu verstehen5. In Bezug auf den aus der Initiative des Europäischen Parlaments entstandenen Vorschlag einer weitgehenden Kodifikation – sog. Corpus Juris –, der von einer Expertengruppe unter Leitung von M. Delmas-Marty vorbereitet wurde, und in dem nicht nur die Begriffsbestimmung einer Reihe „europäischer Straftaten“, sondern auch die Normierung eines Allgemeinen Teils des europäischen Strafrechts vorgesehen wurde, bleibt die Europäische Kommission eher zurückhaltend. Es wird darauf hingewiesen, dass bei der Vorbereitung zur Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft in erster Linie die Definitionen der Straftaten harmonisiert werden müssen. Erst danach können die weiteren Harmonisierungsmaßnahmen eingeleitet werden. Sie sollen jedoch stufenweise erfolgen, und zwar mit Berücksichtigung des festgestellten praktischen Bedarfs, ohne dabei jedoch auf bisherige Formen der internationalen polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit zu verzichten6. 1

Green Paper on the approximation, mutual recognition and enforcement of criminal sanctions in the European Union, Brussels, 30.04.2004, COM (2004) 334 final, S. 8; europa.eu.int/eur-lex. 2 Gemeint ist hier die Zusammenarbeit im Rahmen der sog. dritten Säule. 3 Kritisch bezüglich der Möglichkeit der Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft siehe Kaïafa-Gbandi, The Commission’s proposal for the establishment of a European Prosecutor and for the definition of crimes which are prejudicial to the Community’s financial interests in the framework of the third pillar; the Green Paper debate, OLAF/05375/02-EN, S. 4–5 (abrufbar unter: europa.eu.int/comm/anti_fraud/ green_paper/contributions). Siehe auch Schünemann (Hrsg.), Europejskie s´ciganie karne. Projekt alternatywny, 2005, S. 39–41. 4 Green Paper on criminal-law protection of the financial interests of the Community and the establishment of a European Prosecutor, Brussels, 11.12.2001, COM (2001) 715 final, S. 33. 5 In diesem Zusammenhang kommt auch das Vertrauen der Bürger auf die richtige und effektive Arbeit der europäischen Institutionen in Betracht, vgl. u. a. Schünemann (Hrsg.), Europejskie s´ciganie karne. Projekt alternatywny, 2005, S. 71.

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Der Bereich, auf den die Harmonisierungsmaßnahmen in erster Linie angewendet werden sollen, wird allerdings nicht einheitlich – auch nicht durch die Europäische Kommission – bezeichnet. Als Straftaten, deren Bekämpfung eine besondere Bedeutung für die Schaffung und die Aufrechterhaltung des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts aufweist, wurden durch die Europäische Kommission in Tampere im Jahre 1999 folgende Straftaten eingestuft: Finanzstraftaten (Geldwäsche, Korruption, Fälschung von Euro), illegaler Drogenhandel, sexueller Missbrauch von Frauen und Kindern, Straftaten, die mit der Verwendung einer fortgeschrittenen Technologie verbunden sind (high tech crime) sowie Umweltstraftaten7. Bevor jedoch auf einen konkreten Lösungsvorschlag eingegangen wird, sollen zunächst einige Grundfragen erörtert werden. II. Unionsstraftaten versus Nationalstraftaten Die Zuweisung der Befugnisse zur Schaffung strafrechtlicher Regelungen an die Organe der Europäischen Union bedeutet allerdings keine Erhebung der nationalen Straftaten in den Rang der europäischen Straftaten, sondern stellt eine der Methoden zur Schaffung eines vereinheitlichten Schutzes der europäischen Rechtsgüter dar. Die Bekämpfung europäischer Straftaten soll daher dem Schutz der Rechtsgüter der Union dienen und nicht nationale – seien es individuelle oder allgemeine – Rechtsgüter auf der supranationalen Ebene schützen. Es muss daher zwischen dem Angriff auf europäische Rechtsgüter und dem Angriff auf nationale Rechtsgüter, deren Schutz – infolge der Kriminalisierung dieser Angriffe und somit der Vorbeugung und der Bekämpfung der Straftaten – auf der Unionsebene lediglich effektiver ist, unterschieden werden. Durch die Normierung von Unionsstraftaten werden nämlich nur die europäischen Rechtsgüter geschützt. Der Schutz anderer Rechtsgüter kommt demgegenüber nicht in Betracht. Die nationalen Straftaten sollen dagegen einerseits durch die Mitgliedstaaten und andererseits auf der supranationalen Ebene durch die internationale Zusammenarbeit bekämpft werden. Diese Unterscheidung folgt u. a. daraus, dass die Europäische Union weder einen national und kulturell differenzierten Staat noch eine ,klassische‘ Form der internationalen Zusammenarbeit darstellt. Ihre gemeinsame Politik, darunter auch die Strafrechtspolitik, soll zwar auf der Grundlage eines Konsenses geführt werden. Es darf jedoch nicht außer Betracht bleiben, dass die Durchführung einer Ratifizierung oder eines Referendums in jedem einzelnen Fall in jedem Mitgliedstaat dazu führen könnte, dass die Lösung bedeutsamer Probleme von der politischen Kultur einzelner Mitglied6

Green Paper on criminal-law protection . . ., S. 38. Siehe § 48 of The Tampere European Council conclusions – September 1999; Green Paper on the approximation . . ., S. 14. 7

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staaten abhängig, sowie ein Objekt der politischen Verhandlungen und der Demagogie würde. Deswegen ist eine möglichst klare Trennung zwischen den europäischen Straftaten einerseits und anderen Straftaten andererseits in Bezug auf das geschützte Rechtsgut durchaus erforderlich. Jeder Staat ist berechtigt, über die Strafrechtspolitik auf seinem Gebiet selbst zu entscheiden. Den Organen der EU sollen daher lediglich einige Kontrollbefugnisse zugewiesen werden, und zwar nur dann, wenn die Kriminalpolitik eines Mitgliedstaates in einer offensichtlich widersprüchlichen Richtung im Vergleich mit der Kriminalpolitik anderer Mitgliedstaaten geführt wird. Dies soll jedoch nur dann der Fall sein, wenn die Sicherheit der Europäischen Union gefährdet wird; beispielsweise bei einer sehr milden nationalen Asylpolitik. Aus alledem folgt daher, dass je mehr die Kriminalpolitik eines Mitgliedstaates die europäischen Rechtsgüter gefährdet, desto mehr Befugnisse sollen der Europäischen Union zugewiesen werden, um in diese Politik eingreifen zu können. Anders liegt es jedoch dann, wenn es um die Politik der einzelnen Mitgliedstaaten bezüglich der Unionsstraftaten geht; beispielsweise bei der Korruption von Unionsbeamten oder der Fälschung von Euro. Bei derartigen Straftaten dürfen die Mitgliedstaaten aus offensichtlichen Gründen den Rahmen für den Rechtsgüterschutz nicht beliebig festlegen. Unbestreitbar ist, dass die oben dargestellte Trennung sich mit dem bereits bestehenden Kompetenzbereich der europäischen Institutionen im Rahmen der ersten und dritten Säule deckt. Einer solchen Lage kann vorgeworfen werden, dass – obwohl sie dogmatisch durchaus begründet ist – keineswegs den Bedürfnissen der Praxis im Hinblick auf eine möglichst effektive Bekämpfung der Kriminalität gerecht wird. Für die Behauptung, die Bekämpfung der Straftaten auf dem Gebiet der Europäischen Union lediglich aufgrund der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Strafverfolgungsbehörden in den einzelnen Mitgliedstaaten sei ineffektiv, sind zwar bislang keine überzeugenden Gründe ersichtlich. Wenn man jedoch schon die Effektivität der operativen Zusammenarbeit (wie zum Beispiel bei der Beweissicherung und Beweisübergabe bzw. bei der Zeugenvernehmung) in Frage stellt, dann muss man konsequenterweise annehmen, dass diese Zusammenarbeit bei der Verfolgung von gleich definierten Straftaten ebenso ineffektiv würde.

III. Das Subsidiaritätsprinzip Die Unionsstraftaten sind in Bezug auf ihr Wesen und ihre Tatbestandsmerkmale mit den nationalen Straftaten vergleichbar. Die Schaffung einer einheitlichen europäischen Regelung ist natürlich in weiterer Perspektive nicht ausgeschlossen, scheint aber mit der Idee einer multikulturellen Europäischen Union – und das Recht, darunter auch das Strafrecht, ist doch ein wesentliches Ele-

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ment der Kultur – unvereinbar zu sein. Das Subsidiaritätsprinzip im Hinblick auf die Gemeinschaftsnormgebung8, die sich ebenfalls auf das Strafrecht bezieht, bedeutet daher, dass es nicht erforderlich ist, eine „Unionskanone gegen die Straftaten auffahren zu lassen“, die in den einzelnen Mitgliedstaaten bzw. durch deren Zusammenarbeit effektiv bekämpft werden können. Das Subsidiaritätsprinzip im strafrechtlichen Sinne bezieht sich daher nicht nur auf die Bekämpfung des Verbrechens in einem Staat, sondern auch auf die Verbrechensbekämpfung auf dem Gebiet mehrerer Mitgliedstaaten, solange eine Vereinheitlichung der strafrechtlichen Vorschriften in der Europäischen Union nicht erforderlich ist. Eine solche Notwendigkeit besteht aber immer erst dann, wenn die Interessen der Europäischen Union – insbesondere die finanziellen Interessen bzw. das Vertrauen in die europäischen Institutionen – verletzt oder gefährdet werden können. In einigen Fällen können jedoch die Interessen der Union schon bereits aufgrund der nationalen Rechtsvorschriften geschützt werden. Ein Beispiel dafür kann Art. 30 der Satzung des EuGH bilden, wonach jeder Mitgliedstaat verpflichtet ist, den Meineid von Zeugen oder Sachverständigen in einem Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof als eine vor einem inländischen Zivilgericht begangene Straftat zu betrachten und auf Auftrag des EuGH ein entsprechendes Gerichtsverfahren einzuleiten. Dabei soll jedoch berücksichtigt werden, dass aufgrund dieser Vorschrift dieselbe Straftat in jedem Mitgliedstaat einerseits unterschiedlich definiert und andererseits auf verschiedene Weise verfolgt werden kann9. IV. Straftaten sensu stricto und sensu largo Die Unionsstraftaten, also solche Straftaten, an deren Verfolgung die Europäische Union Interesse hat, können anhand der oben genannten Überlegungen folgendermaßen klassifiziert werden: – Unionsstraftaten sensu stricto – also diejenigen Straftaten, die unmittelbar die europäischen Rechtsgüter, d. h. finanzielle Interessen, sowie das richtige Funktionieren der europäischen Institutionen, beeinträchtigen. Unerlässlich in diesem Bereich ist eine kohärente, supranationale Regelung, zu deren Umsetzung die Mitgliedstaaten verpflichtet werden müssen. Es darf jedoch nicht außer Betracht bleiben, dass eine Harmonisierung solcher Regelungen – sogar unter Berücksichtigung der Unterschiede, die aus der systematischen Auslegung 8 Im Rahmen der ersten Säule wurde das Subsidiaritätsprinzip ausdrücklich in Art. 5 EGV geregelt. Bezüglich ihrer Geltung auch im Rahmen der dritten Säule vgl. Satzger, „Realisierung der Tatbestandsvorschläge“, in: Tiedemann (Hrsg.), Wirtschaftsrecht in der Europäischen Union, Freiburg-Symposium, 2000, S. 83–84. 9 Vgl. Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 2005, § 7, Rn. 17–20.

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der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates folgen, sowie der sich bei der Übersetzung ergebenden sprachlichen Unterschiede – noch keine Vereinheitlichung der Vollstreckung bedeutet. – Unionsstraftaten sensu largo – also diejenigen Straftaten, deren Verfolgung nur im Falle einer engeren Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten effektiv sein kann, wie zum Beispiel bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität, des illegalen Drogenhandels, der Umweltstraftaten, des Menschenhandels oder der Kinderpornographie. Eine für alle Mitgliedstaaten einheitliche, durch die Organe der EU geschaffene Regelung scheint allerdings in diesem Bereich nicht notwendig zu sein. Dagegen ist eine Harmonisierung der strafprozessualen Vorschriften, insbesondere zum Zwecke der Gewährleistung einer engen Zusammenarbeit bei der Verfolgung sowie bei der Übergabe der Täter und der Beweise, in erster Linie erforderlich. Während die Zusammenarbeit in den genannten strafprozessualen Bereichen von erheblicher Bedeutung ist, erscheint die Vereinheitlichung der entsprechenden materiellen Vorschriften demgegenüber für die Europäische Union zur Zeit keine prioritäre Sache zu sein, und zwar weil die genannten Straftaten die Grundprinzipien der EU in keiner Weise unmittelbar gefährden. V. Kritische Bemerkungen zu Vorschlägen für eine Begriffsbestimmung der Unionsstraftaten In dem bereits erwähnten Corpus Juris wurde eine Reihe von Straftaten definiert, die zum Nachteil der finanziellen Interessen der EU sowie der Zuverlässigkeit der Unionsorgane begangen werden können. Diese Definitionen können, ebenso wie auch die im Grünbuch enthaltenen Vorschläge, einen ausgewogenen Ausgangspunkt für die Bestimmung der charakteristischen Merkmale der Straftaten gegen die europäischen Rechtsgüter darstellen. Bei den ersten beiden Definitionen der im Corpus Juris vorgeschlagenen Straftaten, d. h. beim Subventionsbetrug10 sowie bei Ausschreibungsmanipulationen11, ist die Möglichkeit der tätigen Reue vorgesehen, was – angesichts dessen, dass durch das Gemeinschaftsstrafrecht entweder die finanziellen Interessen der EU oder das Vertrauen auf redliches und effektives Funktionieren der euro10 Der sog. Subventionsbetrug ist durch unrichtige oder unvollständige Angaben (bzw. durch das Unterlassen der erforderlichen Angaben) gekennzeichnet, um dadurch das über die finanziellen Mittel verfügende Organ irrezuführen und auf diese Weise eine Finanzierung zu erlangen, bzw. zum Zwecke einer Ausnutzung der zugeteilten Finanzmittel entgegen dem vorher deklarierten Ziel. Im Corpus Juris ist auch eine Möglichkeit der fahrlässigen Begehung dieser Straftat vorgesehen. 11 Neben den Ausschreibungsmanipulationen erfasst das Grünbuch auch eine vergleichbare Straftat, und zwar das Manipulieren von Aktienkursen (sog. market-rigging).

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päischen Institutionen geschützt werden soll – eher kritisch bewertet werden muss. Die Klausel zur tätigen Reue, die eine Möglichkeit der Bestrafung des Täters ausschließt, soll nur dann angewendet werden, wenn für die Rechtsgutsverletzung auf irgendeine Weise Schadensersatz geleistet werden kann. Während der entstandene Schaden bei Straftaten, die Rechtsgüter, wie das Eigentum oder das Vermögen gefährden oder verletzen, ausgeglichen und somit das von der Gesellschaft erlittene Unrecht vermindert werden kann, so erscheint dies beispielsweise bei der Untreue gegenüber öffentlichen Institutionen nicht möglich. Die Verletzung des subjektiven Vertrauens auf das redliche Funktionieren eines Unionsorgans lässt sich nämlich wesentlich schwieriger wieder gut machen, als ein objektiver Schaden beim Eigentum oder dem Vermögen. Überdies ist anzumerken, dass der potentielle Täterkreis in der im Corpus Juris vorgeschlagenen Regelung zur Korruption erheblich über das erforderliche Schutzgebiet der Unionsinteressen hinauszugehen scheint. Dadurch werden nämlich auch die inländischen Beamten der Mitgliedstaaten erfasst, die auf unterschiedliche Weise bei der Strafverfolgung tätig sind. Die Strafverfolgung einer von inländischen Beamten begangenen Straftat der Korruption kann allerdings auch durch innerstaatliche Vorschriften der einzelnen Mitgliedstaaten genügend normiert werden. Bezüglich der im Corpus Juris geregelten Straftat der Korruption werden deswegen auch kritische Ansichten vertreten, wonach die Strafbarkeit eines Bürgers wegen Bestechung eingeschränkt werden soll, und zwar weil er – im Gegensatz zu einem Beamten – sich in keinerlei Garantenstellung bezüglich der europäischen Rechtsgüter befindet12. Das Verhalten eines Bürgers kann jedoch in einem solchen Fall eine Anstiftung zur Begehung einer der Korruptionsformen (Bestechlichkeit) darstellen, was die Zuverlässigkeit der europäischen Institutionen erheblich gefährden kann und deshalb auf dem Gebiet der Europäischen Union einer Vereinheitlichung unterliegen sollte. In Bezug auf die Straftaten der Untreue bzw. des Stellungsmissbrauchs wird eine teilweise Verschiebung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit in den Rahmen der Disziplinarverantwortlichkeit vorgeschlagen. Im deutschen Recht wurde dieses Problem dadurch gelöst, dass lediglich ein solches Handeln unter Strafe gestellt wurde, das zum Entstehen eines Schadens im Vermögen des Opfers führt. Zu erwähnen ist allerdings, dass im polnischen Recht in einem solchen Fall das Entstehen eines Schadens erheblichen Wertes vorausgesetzt wird. Die Einführung einer solchen Regelung in das supranationale Strafrecht wäre jedoch mit der Formulierung sonstiger strafrechtlichen Definitionen aus folgenden Gründen unvereinbar:

12 So Schünemann (Hrsg.), Europejskie s´ciganie karne. Projekt alternatywny, 2005, S. 67 m.w. N. Vgl. auch kritische Anmerkungen zu dem aus der Sicht des Verfassers zu engen Rahmen der subjektiven Seite, op. cit., S. 66–67.

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Am Beispiel des Corpus Juris wird eine Tendenz zur Kriminalisierung des sog. Vorfelds der Rechtsgutsverletzung deutlich. In den meisten Regelungsvorschlägen erstreckt sich nämlich die Strafbarkeit nicht nur auf die Verletzung der europäischen Rechtsgüter, sondern auch auf ein solches Verhalten, das lediglich eine Gefährdung für die genannten Rechtsgüter darstellt. Dies kann auch nicht überraschen. Die Folgen der Beeinträchtigungen der europäischen Rechtsgüter in einem so großen Staatenverbund wie der Europäischen Union könnten den Endruck der Ineffektivität der Union hervorrufen und das Vertrauen auf ihr Funktionieren in Frage stellen. Die Straftaten gegen die finanziellen Interessen sowie gegen die Zuverlässigkeit der Unionsbeamten und der Union selbst gefährden nämlich die Grundsätze, auf welche sich die Europäische Union stützt. Deswegen sind sie für ihre Existenz besonders gefährlich, sogar viel gefährlicher als Totschlag oder Betrug. Der Grund dafür liegt auch darin, dass sie im Gegensatz zu allgemeinen Straftaten, zum Rückschritt in der Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten und zu einem Zusammenbruch der Europäischen Union führen können. Am Rande der Überlegungen bezüglich der gemeinschaftlichen Regelung der Gefährdungsdelikte soll noch kurz darauf hingewiesen werden, dass, obwohl die Begehung einer Straftat nach Verabredung mit anderen Personen als eine qualifizierte Form der Mittäterschaft betrachtet werden kann, sich der polnische und der deutsche Gesetzgeber entschieden haben, schon das Bestehen einer kriminellen Vereinigung an sich als für die nationale Rechtsordnung gefährlich einzustufen und somit strafrechtlich zu ahnden. Eine solche Auffassung verdient Zustimmung insofern, als dem europäischen Normgeber entsprechende Kompetenzen zur Kriminalisierung derartiger Handlungen zugewiesen werden sollen. Diese Kompetenz soll sich jedoch nur auf die Kriminalisierung derjenigen durch die kriminellen Vereinigungen ausgeübten Tätigkeiten erstrecken, die die Grundprinzipien der Europäischen Union beeinträchtigen. Bezüglich sonstiger Straftaten scheint dies nicht notwendig zu sein. Eine Europäische Staatsanwaltschaft, die sich mit der Verfolgung der erstgenannten Straftaten beschäftigen soll, ist nämlich – wie schon oben erwähnt wurde – ein Organ, das die Interessen der Union als einer Institution und nicht als einer Vereinigung der einzelnen, nach einer effektiveren Bekämpfung der Kriminalität auf ihren Gebieten strebenden Staaten vertritt. Bemerkenswert ist weiterhin auch der gegenüber der im Corpus Juris enthaltenen Regelung des Offenbarens eines Dienstgeheimnisses kritische Vorschlag der Nichtbeachtung des Aspekts des Schutzes der finanziellen Interessen der Union. Dieser Vorschlag stützt sich auf die Annahme, dass den Schutzgegenstand dieser Delikte das Vertrauen des Bürgers auf die Zuverlässigkeit der Unionsinstitutionen und auf die Redlichkeit ihrer Beamten bilden soll13. Einer 13 Vgl. Schünemann (Hrsg.), Europejskie s´ciganie karne. Projekt alternatywny, 2005, S. 71.

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Präzisierung bedarf es jedoch, ob dieses Vertrauen des Bürgers auf das effektive und richtige Funktionieren der Institutionen der Union als ein durch die Strafvorschriften geschütztes selbstständiges Rechtsgut gelten kann, oder ob es nur eine Konsequenz des effektiven Schutzes eines anderen Rechtsguts, d.h. der finanziellen Interessen der Union, ist. Durchaus positiv soll dagegen das Streben nach der Gesamtregelung des Strafrechts in Bezug auf alle definierten Straftaten bewertet werden, einschließlich der Regelung des Allgemeinen Teils. Nämlich erst dann, wenn die Probleme aus dem Allgemeinen Teil, u. a. die Strafbarkeit des Versuchs und der Teilnahme, einheitlich geregelt werden, wird der strafrechtliche Schutz der europäischen Rechtsgüter vollständig. VI. Zusammenfassung Der allgemeinen Ansicht entsprechend gelten als die durch die sog. europäischen Straftaten geschützten Rechtsgüter die finanziellen Interessen der EU. Gemeint ist dabei sowohl der Vermögensaspekt als auch der Aspekt ihrer Einwirkung auf das gesellschaftliche Vertrauen. Dabei ist es nicht notwendig, dass diese Rechtsgüter tatsächlich verletzt werden; es reicht vielmehr aus, wenn das Verhalten des Täters für sie eine Gefahr darstellt. Bei der Anerkennung dieser Rechtsgüter als übergeordnet für das Bestehen der Europäischen Union als einer Institution, kann die globale Hinsicht nicht verloren gehen. Die Europäische Union ist nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine gesellschaftliche Organisation. Die Möglichkeiten ihrer Einwirkung auf die Mitgliedstaaten und deren Bürger gehen über die rein wirtschaftlichen Aspekte der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten erheblich hinaus. Am Beispiel des Vertrages über eine Verfassung für Europa wird deutlich, dass der Rahmen ständig erweitert wird. Die Mitgliedstaaten sind bereit, auf die Europäische Union die Kompetenzen zur Schaffung einer gemeinsamen Strafrechtspolitik zu übertragen, welche bisher den Gegenstand der intergouvernmentalen Zusammenarbeit im Rahmen der dritten Säule bildeten. Die Erweiterung der Kompetenzen der Union über die Verfolgung der die Grundprinzipien der Union beeinträchtigenden Straftaten hinaus, stellt einen Ausdruck des Strebens nach einer Vereinheitlichung der europäischen Strafverfolgung dar. Es darf jedoch nicht unberücksichtigt bleiben, dass dies auch durch die Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten genauso erreicht werden kann. Von erheblicher Bedeutung ist daher eine möglichst enge Zusammenarbeit im strafprozessualen Bereich. Die Effektivität der materiellen Vorschriften hängt in erheblichem Maße von ihrer praktischen Wirkung aufgrund der prozessualen Regelungen ab. Bei dem Versuch einer Bestimmung der Rechtsgüter, an deren Schutz die Europäische Union ein besonderes Interesse haben kann, können einige Grund-

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sätze angenommen werden, mit deren Hilfe die Brauchbarkeit einer strafrechtlichen Regelung zum Zwecke der Kriminalisierung eines konkreten Verhaltens geprüft werden kann. Auf der Unionsebene sollten, mit Rücksicht auf das ultima-ratio-Prinzip, nur solche Straftaten geahndet werden, die unmittelbar der Europäischen Union als einer Institution und nicht direkt ihren Bürgern Schaden zufügen können. Denkbar sind daher die Straftaten gegen allgemeine Güter, es sei denn, der Europäischen Union wird die Fähigkeit zum Besitz eigener Rechtsgüter zugeschrieben. Angesichts der Erheblichkeit dieser Güter für die Existenz der Europäischen Union können bestimmte Straftaten auch schon im Vorfeld kriminalisiert werden; d. h. als Gefährdungsdelikte. Falls zur Verfolgung solcher Unionsstraftaten eine besondere Institution (eine Europäische Staatsanwaltschaft) gegründet wird, sollte ihre sachliche Zuständigkeit möglichst eng formuliert werden und sich nur auf die Verfolgung derjenigen Straftaten beziehen, die gegen die Rechtsgüter sensu stricto gerichtet sind. In Betracht kommen also die Straftaten gegen die Grundsätze des Bestehens der Gemeinschaften und der EU und damit diejenigen Straftaten, die zumindest die finanziellen Interessen und das allgemeine Vertrauen in das effektive und rechtmäßige Funktionieren der europäischen Institutionen gefährden.

Europäische Strafsachen Lech K. Paprzycki I. Die folgenden Überlegungen zur Problematik der Europäisierung des Strafrechts auf dem Gebiet der Europäischen Union sollen sich nicht nur auf die theoretische Richtigkeit des vorgeschlagenen Modells, sondern auch auf den praktischen Nutzen der bereits vorgeschlagenen Lösungen beziehen. Gerade dieser letzte Aspekt steht im Vordergrund dieses Beitrages. Sein Titel scheint darauf hinzuweisen, dass es schon heute eine Kategorie von Strafsachen gibt, die als „europäisch“ bezeichnet werden können, und dass sich das Strafverfahren in solchen Sachen – gerade deshalb, weil es die „europäischen“ Sachen und somit die „europäischen“ Straftaten betrifft – durch besondere Eigenschaften auszeichnet. Bisher existieren jedoch keine Strafsachen solcher Art, ebenso wie es noch keine das materielle und prozessuale Recht betreffenden europäischen Gesetze gibt, keine europäischen Staatsanwälte, keine europäische Staatsanwaltschaft und keine europäischen Gerichte, die über die strafrechtliche Verantwortlichkeit für solche Straftaten entscheiden könnten. Vielmehr scheint die Zukunft solcher „europäischen“ Institutionen eher ungewiss zu sein. Denn neben vielen Enthusiasten der „Europäisierung“ des Strafrechts fehlt es doch nicht an Skeptikern und sogar an erklärten Gegnern des Europäisierungsprozesses. Nicht nur vereinzelt wird die Ansicht vertreten, dass der Stand der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit in Strafsachen sowie die Gewährleistung der Effizienz der nationalen Ermittlungs- und Hauptverfahren zur Sicherung einer im Rahmen der die europäischen Standards erfüllenden nationalen Rechtsordnungen wirksamen Bestrafung aller derjenigen Straftaten, die auf eine Verletzung der im weitesten Sinne verstandenen gemeinsamen Interessen der EU-Mitgliedstaaten abzielen, als vollkommen ausreichend erscheinen. Die Gegner einer solchen Lösung berufen sich demgegenüber auf die in einzelnen EU-Mitgliedstaaten existierenden Unterschiede und sehen sogar die Notwendigkeit des Erlasses eines gemeinsamen Unionsstrafgesetzbuches und einer Unionsstrafprozessordnung bzw. zumindest von gemeinsamen Grundzügen der gemeinsamen Vorschriften in den Bereichen des materiellen Strafrechts, des Strafverfahrensrechts und des Strafvollzugsrechts. Im äußersten Fall plädieren sie sogar für eine weitgehende Vereinheitlichung der Rechtsordnungen oder zumindest für eine Harmonisierung mit der gleichzeitigen Errichtung europäischer Institutionen: einer

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europäischen Staatsanwaltschaft und europäischen Strafgerichten und sogar einer Institution der „europäischen Verteidigung“. Den Ansichten sowohl von Euroenthusiasten als auch von Euroskeptikern liegt allerdings derselbe Gedanke zugrunde: die Europäische Union hat „die Freiheit für die Verbrecher“ geschaffen und hat dabei jedoch vergessen, den Justizorganen hinreichend effiziente Kompetenzen zur Verhinderung der Kriminalität zuzuweisen. Die derzeit bestehende Lage kann und muss geändert werden, und zwar insbesondere deshalb, weil allgemein Einigkeit darüber besteht, dass eine effektive Bekämpfung der gefährlichen, die Interessen aller EU-Bürger beeinträchtigenden Kriminalität ohne eine enge internationale Zusammenarbeit neuer Qualität nicht möglich ist.

II. Offensichtlich ist die eigenständige Entwicklung des Unionsstrafrechts im Vergleich zu den Regelungen des Unionsrechts auf anderen Rechtsgebieten ungenügend; aber ebenso offensichtlich ist die Ursache dieses Rechtszustandes. Andererseits darf man nicht außer Acht lassen, dass die ersten Projekte zur Vereinheitlichung des europäischen Strafrechts schon in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts entwickelt wurden. Dieser Prozess währt also schon seit etwa achtzig Jahren und das gegenwärtige europäische Strafrecht erfasst bereits eine Reihe der im Rahmen der dritten Säule erlassenen Rechtsakte, die allerdings noch kein System des materiellen und prozessualen Unionsstrafrechts bilden. Diese Rechtsakte beziehen sich auf die gegenseitige Anerkennung der Entscheidungen in Strafsachen, den Europäischen Haftbefehl, die Rechtshilfe, die Maßstäbe der Gewährleistung der Prozessrechte der Verdächtigen und Angeklagten, die Vollstreckung der Entscheidungen über die Sicherstellung von Beweismitteln, die gemeinsamen Ermittlungs- und Vollzugsbehörden, die Maßstäbe der Stellung des Geschädigten im Prozess sowie auf die für einen Gerichtsbereich gemeinsamen Behörden. Überdies mag auch noch auf die in allen EU-Mitgliedstaaten geltenden Übereinkommen, Beschlüsse und Empfehlungen des Europarates hingewiesen werden. Die Langsamkeit der Entwicklung des europäischen Rechts in diesem Bereich ist Ausdruck der Einstellung der Mitgliedstaaten, die nur unter größtem Widerstand auf ihre diesbezügliche Souveränität verzichten. Die Integration auf diesem Gebiet ist jedoch früher oder später unvermeidlich. In diesem Zusammenhang sind insbesondere die folgenden Initiativen zu erwähnen: die Tätigkeit der schon im Jahre 1975 entstandenen TREVI-Gruppe, das Schengener Abkommen von 1985, das auf den Ausgleich der negativen Folgen der Abschaffung der Grenzkontrollen zwischen den EU-Mitgliedstaaten gerichtete Schengener Übereinkommen von 1990 sowie der Vertrag von Maastricht über die Europäi-

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sche Union von 1992, der dazu geführt hat, dass die Errungenschaften der TREVI-Gruppe und das Schengener Abkommen in den acquis communautaire aufgenommen wurden. Der Vertrag selbst bildete die III. Säule der intergouvernmentalen Zusammenarbeit im Bereich der Justiz und des Inneren. Ferner bestimmte der Vertrag von Amsterdam im Jahre 1997 die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Schaffung eines „Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“, in dessen Rahmen es zu einer engeren Zusammenarbeit der Polizeiund Zollbehörden, auch im Hinblick auf Europol, sowie zu einer engeren Zusammenarbeit zwischen den Gerichten und einer Harmonisierung des Strafrechts der Mitgliedstaaten kommen sollte. Den nächsten Schritt der Entwicklung der Europäisierung des EU-Strafrechts bildete die Konferenz des Europäischen Rates in Tampere im Jahre 1999, die folgende Aspekte behandelte: die Problematik der Annäherung der Strafrechtssysteme der Mitgliedstaaten durch die Abschaffung der Unterschiede bezüglich der Straftatendefinitionen (im Hinblick auf die Tatbestandsmerkmale) und der Strafen, sowie im Bereich der strafprozessualen Grundlagen, bei der Akzeptanz der Koordinierungsmaßnahmen in Strafverfahren (Eurojust), der Vereinfachung des Auslieferungsverfahrens und der Einführung von Prozessstandards. Eine wesentliche Rolle wurde dabei der Institution der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen sowie der Notwendigkeit einer Schaffung des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zuerkannt. Das Tampere-Programm sollte durch das die Maßnahmen im Bereich der Zusammenarbeit in Strafsachen für die nächsten Jahre bestimmende Haager-Programm von 2004 in die Praxis umgesetzt werden. Dabei handelte es sich um das Ergreifen von Maßnahmen, welche den Terrorismus aufgrund der bereits bestehenden Institutionen wirksam bekämpfen sollten, und zwar durch die Intensivierung der Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten im Rahmen von Eurojust, Europol, im Europäischen Justiziellen Netz und im Europäischen Netz für Justizielle Ausbildung. Aufgrund des Vertrages von Nizza (2001) wurden zwar neue Bestimmungen bezüglich Europol, nicht jedoch im Hinblick auf die damals diskutierte Institution der Europäischen Staatsanwaltschaft, in den Titel VI des EU-Vertrages eingeführt. Zugleich wurde die Charta der Grundrechte der Europäischen Union proklamiert. Aus alledem folgte daher eine Ausrichtung derjenigen Lösungen, die dann im Vertrag über eine Verfassung für Europa vorgeschlagen werden sollten. III. Der Entwurf des Vertrages über eine Verfassung für Europa von 2004 (VV) schlägt die Trennung von Kompetenzen der Mitgliedstaaten und der Union auch im Bereich der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts vor. Die entscheidende Bedeutung kommt allerdings dem Grundsatz des Vorrangs und der Subsidiarität des Unionsrechts sowie der Zuständigkeit der Union zur Schaffung

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unmittelbar geltenden Rechts auf dem Gebiet der EU zu, darunter auch im Bereich eines im weitesten Sinne verstandenen Strafrechts. Art. I-42 des Entwurfs des Verfassungsvertrags sieht vor, dass die Europäische Union einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts bildet. In diesem Bereich wäre der Erlass von in den Mitgliedstaaten unmittelbar geltenden Europäischen Gesetzen sowie von Rahmengesetzen möglich, die den Charakter der bisherigen Rahmenbeschlüsse aufweisen. Auf diese Weise soll es zur Annäherung der mitgliedstaatlichen Strafrechtssysteme durch ihre Harmonisierung – nicht jedoch durch ihre Vereinheitlichung – kommen. Der Grundstein dieser Annäherung liegt dabei im gegenseitigen Vertrauen der Mitgliedstaaten, dass auf dem ganzen Territorium der EU nicht nur vergleichbare Regelungen erlassen, sondern in ähnlichen Strafsachen auch vergleichbare gerichtliche Entscheidungen getroffen werden. Die Gewähr dafür soll eine enge und tatsächliche Zusammenarbeit der gerichtlichen, staatsanwaltlichen Behörden bilden; einschließlich der Polizei, der Zollbehörden sowie anderer Einrichtungen, deren Tätigkeit in der Vorbeugung und der Aufdeckung von Straftaten besteht. Zu den wichtigsten Maßnahmen sollen dabei – gemäß Art. III-257 des Verfassungsvertrags – die Folgenden zählen: die Maßnahmen zur Verhütung von Kriminalität, die Maßnahmen zur Koordinierung und Zusammenarbeit von mitgliedstaatlichen Behörden, die gegenseitige Anerkennung der Entscheidungen und die Angleichung der rechtlichen Bestimmungen, allerdings mit einem charakteristischen Vorbehalt: falls erforderlich. Obwohl der Verfassungsvertragsentwurf die Bildung einer Europäischen Strafprozessordnung nicht vorsieht, setzt er jedoch so hohe Maßstäbe für die Zusammenarbeit und die Harmonisierung des Strafrechts sowie für die dazu führenden Instrumente, dass die Entstehung der Grundzüge eines einheitlichen Strafrechts und Strafverfahrens im Bereich des Funktionierens einer gemeinschaftlichen Zusammenarbeit unvermeidlich erscheint. Man kann daher durchaus von dem teilweisen Entwurf „eines einheitlichen Raumes des Strafverfahrens“ sprechen. Ein solches einheitliches Gebiet entsteht aber auch hinsichtlich „des materiellen Strafrechts“, und zwar durch die Einführung von in diesem Bereich in allen Mitgliedstaaten geltenden Minimalvorschriften. Gemäß Art. III-273 VV wird Eurojust zu einer Behörde, die Strafverfahren führt, ihre Führung in den Mitgliedstaaten koordiniert und die gerichtliche Zusammenarbeit unter Mitwirkung des Europäischen Justiziellen Netzes unterstützt. Es fehlt allerdings an einer ausdrücklichen Stellungnahme bezüglich der Europäischen Staatsanwaltschaft. Vorgesehen ist lediglich die Möglichkeit ihrer Errichtung aufgrund eines Europäischen Gesetzes „ausgehend von Eurojust“ (Art. III-274 VV). Danach wäre die Europäische Staatsanwaltschaft für die Führung des Ermittlungsverfahrens, für das Auftreten vor Gericht, auch im Vollstreckungsverfahren, zuständig, und zwar in Strafsachen bezüglich der Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union sowie in anderen

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Sachen, falls dies in einem Europäischen Gesetz geregelt wird (Art. 274 Abs. 4 VV). IV. Das Corpus Juris (CJ) – auch in der Florenz-Fassung aus dem Jahre 1999 – stellt keinen Entwurf eines europäischen materiellen Straf-, Strafverfahrens- und Strafvollzugsrechts dar. Dies ist zweifellos (sogar!) nur ein Modell der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für Straftaten gegen die finanziellen Interessen der Europäischen Union sowie ein Modell des Strafverfahrens in diesen Sachen. Der Grundgedanke ist offensichtlich: es handelt sich um einen Vorschlag von Vorschriften im Bereich des materiellen, des prozessualen Rechts sowie des Vollzugsrechts, deren Einführung durch entsprechende gemeinschaftsrechtliche und nationale Rechtsakte eine effektive Bestrafung solcher Straftäter (natürlicher Personen und Kollektivsubjekte) ermöglicht, die verbotene, bestimmte materielle Schäden zu Lasten der Union verursachende Taten begehen. Das Corpus Juris sieht die Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft vor, die aus einem Europäischen Generalstaatsanwalt mit Sitz in Brüssel und aus abgeordneten europäischen Staatsanwälten mit Sitz in den Mitgliedstaaten besteht. Die abgeordneten Staatsanwälte arbeiten mit den nationalen Staatsanwälten zusammen und verfügen über die Befugnisse zur Ausübung von amtlichen Tätigkeiten in allen EU-Mitgliedstaaten, die einen einheitlichen Rechtsraum bilden (Art. 18 CJ). Diese Europäische Staatsanwaltschaft soll durch ihre Selbstständigkeit und Unabhängigkeit sowie Unteilbarkeit und Mitverantwortlichkeit gekennzeichnet sein, was ihre Effektivität gewährleisten soll. Dies soll durch die Verpflichtung der nationalen Staatsanwaltschaften zur Unterstützung der Staatsanwälte der Europäischen Staatsanwaltschaft verstärkt werden, und zwar auch in dem Bereich, der nach den nationalen Regelungen der Polizei obliegt. Das Ermittlungsverfahren soll mit der Einstellung oder mit der Erhebung der Anklage (Art. 21 CJ) an das zuständige, durch den Mitgliedstaat gemäß Art. 26 CJ bestimmte Gericht enden. Und sofern nationale Interessen betroffen sind, kann eine nationale Strafverfolgungsbehörde die öffentliche Anklage gemeinsam mit einem abgeordneten europäischen Staatsanwalt vertreten (Art. 22 CJ). Die Entscheidung in derartigen Angelegenheiten obliegt ausschließlich nationalen Gerichten; grundsätzlich einem Gericht in dem Staat, auf dessen Gebiet das Ermittlungsverfahren geführt wurde. Das Corpus Juris schreibt weiterhin die Zuständigkeit zur Urteilsfindung in solchen Sachen ausschließlich den im Bereich der europäischen Strafsachen spezialisierten Berufsrichtern zu, und zwar in einem Gericht mit Sitz am Ort des abgeordneten europäischen Staatsanwalts. Für Entscheidungen über Kompetenzkonflikte ist der Europäische Gerichtshof in Luxemburg zuständig (Art. 26 CJ). Das Berufungsverfahren zeich-

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net sich grundsätzlich nicht durch besondere Originalität aus, wobei der Staatsanwalt nur einen Freispruch und der Angeklagte, selbstverständlich, nur eine Verurteilung anfechten kann (Art. 27 CJ). Der Europäische Gerichtshof ist dagegen berechtigt, die Vorschriften des Corpus Juris auf Antrag der Parteien und in manchen Fällen auch auf Antrag der Europäischen Kommission, auszulegen und in einem konkreten Fall anzuwenden (Art. 28 CJ). Im Berufungs- oder Revisionsverfahren kann eine solche Auslegung auch auf Antrag eines nationalen Gerichts durch den Europäischen Gerichtshof vorgenommen werden (Art. 28 Abs. 3 CJ). V. Als Ausdruck einer kritischen Würdigung der bisherigen Errungenschaften der Europäischen Union im Bereich der materiellen und prozessualen Strafgesetzgebung – auch im Hinblick auf das Corpus Juris – gilt ein von Professor Bernd Schünemann und einer Gruppe europäischer Juristen vorgeschlagener „Alternativentwurf“. Dieses Werk stellt nicht nur eine „Alternative“ gegenüber der Verfassung für Europa und dem Corpus Juris dar, sondern eine Gegenposition zur Art und Weise der Schaffung von europäischen Rechtsvorschriften, insbesondere im strafrechtlichen Bereich (eine Kritik der gubernativen Unionsgesetzgebung, die nicht durch das Parlament, sondern durch die Organe der Exekutive stattfindet). Nach der Auffassung dieser Juristengruppe soll sich die Rechtsordnung des sich vereinigenden Europas ausgehend von den Ideen der Aufklärung auf die Rechtsakte des Europäischen Parlaments stützen. Ein Maximum an Hoheitsgewalt im Bereich des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts soll allerdings den mitgliedstaatlichen Behörden überlassen werden. Die Verfasser des Alternativentwurfs gehen davon aus, dass die Regelungen des europäischen Strafrechts an drei Ideen anknüpfen sollen: a) das europäische Strafrecht als ultima ratio beim Schutz der Rechtsgüter auf dem Gebiet der Europäischen Union, b) die Notwendigkeit des Schutzes der prozessualen Interessen des Verdächtigen und des Angeklagten, c) die gesetzlich-parlamentarische Gesetzgebung im Bereich des Strafrechts als Ausdruck der Beachtung des Prinzips nullum crimen sine lege. Deshalb wird in dem Alternativentwurf vorgeschlagen, auf den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen zugunsten der Anwendung des nationalen, materiellen und prozessualen, „sachlich nächsten“ Strafrechts mit gleichzeitiger Unterstützung von Eurojust, zu verzichten. Nur falls eine nationale Staatsanwaltschaft mit einem bestimmten Verfahren nicht zurecht kommen könnte, wäre die Übernahme dieses Verfahrens durch die Europäische Staatsanwaltschaft zulässig. Die im Vordergrund stehende Aufgabe der Europäischen

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Staatsanwaltschaft bestehe nämlich hauptsächlich in der Verfolgung der von Unionsbeamten begangenen Straftaten, für welche die Beamten nicht vor nationalen, sondern vor europäischen Gerichten verantwortlich sein sollten. Für diese Art des Verfahrens – allerdings durch europäische Gesetze geregelt – solle zum Schutz der prozessualen Befugnisse der angeklagten Unionsbeamten das Amt eines „Europäischen Verteidigers“ (Eurodefensor) errichtet werden. Die dargestellten Vorschläge verlangen zweifellos eine sorgfältige Erwägung. Zunächst sollen diejenigen besprochen werden, die die Verfassung für Europa betreffen. In dem Verfassungsvertrag sind folgende Ideen verankert: a) die Annäherung (Harmonisierung) der nationalen Strafrechtssysteme im Bereich der grenzüberschreitenden Kriminalität, der Koordinierung und der Zusammenarbeit der zuständigen Behörden, darunter der Gerichte und der Polizei (Art. III-257 VV); b) die Zusammenarbeit der Gerichte und anderer nationaler Behörden der Mitgliedstaaten der Union bei den Strafsachen, die auf Grund des innerstaatlichen Rechts funktionieren, und zwar nach dem Prinzip der unmittelbaren Kommunikation und der Vorführung des Verhafteten erst für die Zeit der Hauptverhandlung (Art. III-270 VV); c) die Erweiterung der Kompetenzen von Eurojust, und zwar hinsichtlich der Einleitung des durch nationale Staatsanwaltschaften geführten Strafverfahrens, der Erlangung von erforderlichen Informationen aus den nationalen Staatsanwaltschaften, des Rechts, als Beobachter an dem durch nationale Staatsanwaltschaften geführten Verfahren teilzunehmen, der Übertragung des durch nationale Staatsanwaltschaften ineffizient geführten Verfahrens auf die Europäische Staatsanwaltschaft (Art. III-273 VV); d) die Errichtung eines Amtes eines Europäischen Verteidigers (Eurodefensor) zur Unterstützung der Verteidigung in den Verfahren in diesen europäischen Strafsachen (Art. III273a VV), falls für den Angeklagten sonst keine ausreichende Verteidigung gewährleistet ist; e) die Einsetzung einer Europäischen Staatsanwaltschaft zur Verfolgung der Amtsdelikte der europäischen Beamten und der grenzüberschreitenden Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union (Art. III274 VV); f) die Errichtung eines Gerichts erster Instanz – einer Europäischen Strafkammer als Teil des Europäischen Gerichthofes im Bereich des Strafverfahrens, aber nur bezüglich der europäischen Amtsdelikte (Art. III-359a VV); und schließlich g) die gesetzliche Normierung der Vorschriften des materiellen Rechts betreffend die europäischen Straftaten, Amtsdelikte und Straftaten zum Nachteil anderer Interessen der Union durch das Europäische Parlament unter Mitwirkung des Rates und der Kommission (Art. III-396 und 415 VV). VI. Für welches Modell der Europäisierung des materiellen Straf-, des Strafverfahrens- und des Strafvollzugsrechts sollte man sich nun entscheiden? Die Beantwortung dieser Frage ist nicht einfach. Ein Verharren lediglich auf den bishe-

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rigen Errungenschaften der Entwürfe des Corpus Juris, des Verfassungsvertrags sowie des Alternativentwurfs wäre allerdings nur als ein Ausweichmanöver zu betrachten. Die soeben gestellte Frage kann auch schon deshalb nicht unbeantwortet bleiben, weil es an Euroskeptikern gegenüber der Erforderlichkeit der Bildung eines europäischen Strafrechts nicht fehlt. Euroenthusiasmus scheint nicht sehr verbreitet zu sein. Ein entsprechender Vorschlag muss daher einen Kompromiss zwischen einer Vereinheitlichung und einer weitgehenden Harmonisierung des auf dem Gebiet der Union geltenden materiellen Straf-, Strafverfahrens- und Strafvollzugsrechts darstellen. Den Ausgangspunkt muss dabei die Feststellung bilden, dass die Union nicht nur einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (Art. I-42 VV), sondern auch einen Raum des Vertrauens entwickeln muss, ohne das keine enge internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Strafrechts möglich ist. Es sollte daher m. E. davon ausgegangen werden, dass jede einzelne Strafsache und jeder einzelne Straftäter in jedem Mitgliedstaat der Union durch die Prozessbehörden grundsätzlich auf dieselbe Art und Weise behandelt werden; wobei die Vorgehensweise allerdings nicht unbedingt identisch sein muss. Ausgehend vom materiellen Recht muss betont werden, dass es nicht auf allzu große Vorsichtigkeit ankommen kann. Vielmehr sollte der Harmonisierungsprozess – praktisch gesehen – mit der Europäisierung der Verantwortlichkeit für die Straftaten gegen die finanziellen Interessen der Europäischen Union begonnen werden. Gerade dies könnte im Verfassungsvertrag zum Ausdruck gebracht werden, und zwar zugleich mit einer Bemerkung, dass eine künftige Ausdehnung des Bereichs des materiellen Unionsstrafrechts möglicherweise gerade infolge der Annahme von europäischen Rahmengesetzen durch das Parlament unter Mitwirkung der Kommission erfolgen wird. Ist eine Europäische Staatsanwaltschaft notwendig, und wenn ja, wie soll sie dann im europäischen Strafverfahren funktionieren? Mit dieser Frage ist die Möglichkeit des Funktionierens eines europäischen Gerichts und sogar mehrerer europäischer Gerichte bei der Urteilsfindung nur in „europäischen“ Angelegenheiten eng verbunden. Die Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft erscheint in jeder Hinsicht begründet zu sein, und zwar entsprechend dem im Corpus Juris vorgeschlagenen Modell. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Kompetenzen von Eurojust nicht erweitert und verstärkt werden sollen. Wiederum aus praktischer Sicht gesehen, erscheint eine wirksame Ausgestaltung des Amtes eines abgeordneten europäischen Staatsanwalts von wesentlicherer Bedeutung zu sein als das Amt eines die Tätigkeit der abgeordneten Staatsanwälte koordinierenden Europäischen Staatsanwalts. Der Erfolg dieser Initiative wird nämlich von dem richtigen Tätigwerden der abgeordneten Staatsanwälte und ihrer Ausstattung mit prozessualen Befugnissen abhängen. Begründet wird die Errichtung eines solchen Amtes mit dem Bedürfnis einer weitgehenden Spezialisierung des abgeordneten Staatsanwalts. Ein solcher Staatsanwalt muss über

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ein Sonderwissen bezüglich der verschiedenen Erscheinungsformen der Kriminalität verfügen. Ihm muss auch die Möglichkeit einer effektiven Zusammenarbeit mit anderen abgeordneten Staatsanwälten, mit Eurojust und möglicherweise mit dem umstrukturierten OLAF eingeräumt werden. Ich bin immer mehr davon überzeugt, dass gerade OLAF diejenige Behörde werden sollte, die in Zusammenarbeit mit Eurojust und der Europäischen Staatsanwaltschaft zumindest einige Tätigkeiten im Rahmen des Ermittlungsverfahrens wegen Straftaten gegen die finanziellen Interessen der Europäischen Union durchführt. Allerdings ist OLAF – auch mit breiteren Kompetenzen ausgestattet – keine Polizeibehörde; es handelt durch nationale Abteilungen. Das neue OLAF und der abgeordnete europäische Staatsanwalt sollten daher von einem (im Corpus Juris vorgeschlagenen) Richter, als Garanten der Rechte und Freiheiten, beaufsichtigt werden. Dabei ist klar, dass bestimmte prozessuale Tätigkeiten im Rahmen der Zusammenarbeit mit Polizeibehörden, nationalen Staatsanwälten, OLAF und dem abgeordneten europäischen Staatsanwalt gerade durch die nationalen Institutionen ausgeübt werden könnten. Dies setzt jedoch die Einrichtung effektiver Koordinierungsinstrumente voraus. Ich sehe ferner keinen Bedarf für weitergehende Normierungen im Bereich des Beweisrechts, abgesehen von denjenigen, die bereits im EU-Recht sowie in den „Grünbüchern“ der EU vorgesehen sind. Vielmehr halte ich solche Beweise für genügend, die in jedem nationalen Strafverfahren genutzt werden können und somit die Kriterien eines redlichen Prozesses erfüllen, so wie es im Art. 6 der Europäischen Konvention von 1950 und in der Rechtsprechung des Gerichtshofes für Menschenrechte in Straßburg verankert ist. Ferner gehe ich davon aus, dass der gesunde Menschenverstand gewinnen wird und der Europäische Haftbefehl in richtiger Weise zu funktionieren beginnt. Nicht in allen Sachen bezüglich europäischer Straftaten dürfte es notwendig sein, das Verfahren durch das neue OLAF und die Europäische Staatsanwaltschaft zu führen. In den durch die Polizei und die nationale Staatsanwaltschaft geführten Verfahren wird in diesen Sachen eine allgemeine Aufsicht des abgeordneten Staatsanwalts mit der Möglichkeit der Übertragung eines ineffizient geführten Verfahrens auf die Europäische Staatsanwaltschaft genügen. Ich sehe auch keine Begründung für die Errichtung eines separaten Gerichts für die europäischen Angelegenheiten. Im Falle einer weitgehenden Harmonisierung des materiellen und prozessualen Strafrechts in den EU-Mitgliedstaaten genügen spezialisierte nationale Gerichte (Instanz- und Revisionsgerichte), vor welchen die Anklage von dem abgeordneten europäischen Staatsanwalt – bzw. gemeinsam mit einem nationalen Staatsanwalt – vertreten wird. Auf der europäischen Ebene reicht die Befugnis des Europäischen Gerichthofes in Luxemburg zur Auslegung des Unionsrechts bzw. zur Kontrolle der Verwirklichung des Prinzips ne bis in idem völlig aus. Die Vollstreckung der Entscheidungen

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sollte den zuständigen nationalen Behörden überlassen werden; allerdings mit einer Möglichkeit der Übertragung dieser Vollstreckung – insbesondere der Freiheitsstrafe – auf Antrag des Verurteilten in sein Herkunftsland. Wird dies ausreichen? Diese Frage ist heute schwer zu beantworten. Betrachtet man jedoch den gegenwärtigen Stand der Europäisierung des Strafrechts und der Regelungen des polnischen Strafverfahrensgesetzbuches von 1997, so scheint dies ausreichend zu sein. Von der Existenz von Hindernissen bezüglich einer Änderung des bereits dargestellten Modells des Strafverfahrens in den europäischen Sachen darf natürlich dann keine Rede mehr sein, wenn sich das bisherige Modell als ungenügend erweist. VII. In den letzten Jahren habe ich mehrmals an Konferenzen teilgenommen, die der Europäisierung des Strafrechts auf dem Gebiet der Europäischen Union gewidmet waren, und ich habe niemals an deren Notwendigkeit gezweifelt oder sie skeptisch bewertet. Im Gegenteil, ich bin fest davon überzeugt, dass die Europäisierung in diesem Bereich nicht nur unentbehrlich, sondern auch möglich ist. „Dem gemeinsamen Europa der Straftäter“ soll „das gemeinsame Europa der die Kriminalität verhindernden Institutionen“ gegenübergestellt werden. Dieses Europa sollte man nicht nur ohne Furcht vor einem Souveränitätsverlust gestalten, sondern in der berechtigten Überzeugung, dass kein Prozessinteresse durch den Europäisierungsprozess beeinträchtigt wird, sondern im Gegenteil: er kann den EU-Bürgern nur zugute kommen. VIII. Auch die im März 2006 in Sopot unter Mitwirkung von OLAF organisierte und dem Prozess der Strafrechtsharmonisierung und der Institution der Europäischen Staatsanwaltschaft gewidmete Konferenz der Forschungsgesellschaft für Europäisches Recht gibt Anlass zu vorsichtigem Optimismus. Im Rahmen dieser Tagung wurden fast alle Aspekte diskutiert, welche für die Zukunft der Europäisierung des materiellen und prozessualen Strafrechts, also für die Entstehung eines europäischen Raumes des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts, wesentlich sind. Die behandelten Fragen erweisen sich allerdings als schwierig und kontrovers, und zwar weil bisher nicht hinreichend genau festgelegt wurde: – wer tatsächlich die neue Verfassung für Europa will und wie sie sein soll, – welche Richtung der Europäisierung des Strafrechts in der Verfassung festgelegt werden soll,

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– wie die Zukunft von Eurojust sein soll, – wie die Zukunft von Europol sein soll, – wie die Zukunft von OLAF sein soll, – wie die Zukunft der Europäischen Staatsanwaltschaft sein soll, – auf welche Weise das Strafrecht der Europäischen Union europäisiert werden soll und wie die Grenzen dieser Europäisierung gezogen werden sollen. Soll eventuell (sogar!) nur der Schutz der finanziellen Interessen der Union (so OLAF) und die Straftaten der Unionsbeamten (so der Alternativentwurf) in Betracht gezogen werden oder kommt auch die gefährliche (vor allem organisierte) grenzüberschreitende oder internationale Kriminalität hinzu? Die Problemlösung ist sogar für die hervorragendsten Kenner des Strafrechts und des Strafprozesses nicht einfach. Aber ein Aspekt sollte schon heute sicherlich keine großen Bedenken hervorrufen. Gemeint ist hier der Schutz der finanziellen Interessen der Union. In diesem Bereich sind allerdings noch erforderlich: – Die Festlegung der Maßstäbe der gesetzlichen Tatbestandsmerkmale, – die Festlegung der Maßstäbe der Sanktionen, – ein neues OLAF bzw. ein neues Eurojust, als Organ des europäischen Strafverfahrens, – trotz des bisher Gesagten: eine Europäische Staatsanwaltschaft mit dem Amt der abgeordneten europäischen Staatsanwälte, in Zusammenarbeit mit nationalen Staatsanwaltschaften und Polizeibehörden, – eine nationale Urteilsfindung in europäischen Angelegenheiten, mit einem europäischen Ankläger unter Mitwirkung des nationalen Staatsanwalts sowie die nationale Vollstreckung der Freiheitsstrafe, und überdies: – die Einbeziehung weiterer europäischer Straftaten: der Terrorismus, die organisierte, internationale grenzüberschreitende Kriminalität, der illegale Drogenverkehr, der Menschenhandel, sowie auch: – die Verbesserung der Zusammenarbeit im Rahmen der III. Säule des EURechts, auch im Rahmen von Eurojust, Europol und OLAF. Alles das wird möglich sein, soweit nicht nur ein europäischer Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, sondern auch ein Raum des Vertrauens entsteht. Andernfalls kommen wir keinen Schritt weiter. Abschließend sollte man allerdings den überzeugten Euroskeptikern und Gegnern einer Europäisierung des Strafrechts zugeben, dass eine ideale Zusammen-

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arbeit der EU-Mitgliedstaaten im Rahmen der III. Säule und ein ungetrübtes Funktionieren der Polizei, der Staatsanwaltschaft und der nationalen Gerichte, denen beispielsweise anstelle des europäischen Haftbefehls ein noch einfacheres Auslieferungsverfahren zur Verfügung gestellt wird, für den Schutz der gemeinsamen Interessen der Bürger des vereinten Europas an sich ausreichend wäre. Da aber diese Zusammenarbeit noch weit von diesem idealen Zustand entfernt ist, ist nicht nur die Bildung gemeinsamer Elemente des europäischen materiellen, des prozessualen Strafrechts und des Strafvollzugsrechts erforderlich, sondern auch die Entwicklung einer Europäischen Staatsanwaltschaft, was wiederum mit dem Treffen von Entscheidungen in europäischen Strafsachen und der Vollstreckung diesbezüglicher Strafen durch nationale Organe verbunden wäre. Literatur Amin, Współpraca w zakresie wymiaru sprawiedliwos´ci i spraw wewne˛trznych w Unii Europejskiej, Torun´ 2002. Arnold, „Karta Praw Zasadniczych Unii Europejskiej“, PiP 2002. Bałabanow, „The EU Penal Code?“, Przegla˛d Prawniczy Uniwersytetu Warszawskiego 3/2003. Banach, Trzeci filar Unii Europejskiej – współpraca policyjna i sa˛dowa w sprawach karnych, in: Bogunia (Hrsg.), Nowa kodyfikacja prawa karnego, Wrocław 1999. Barcz, „Europejski nakaz aresztowania – konsekwencja braku transpozycji lub wadliwej transpozycji decyzji ramowej w pan´stwie członkowskim UE“, Europejski Przegla˛d Sa˛dowy 1/2005. – Traktat z Nicei. Zagadnienia prawne i instytucjonalne, Warszawa 2003. Barcz/Kolin´ski, Jednolity Akt Europejski. Zagadnienia prawne i instytucjonalne, Warszawa 1990. Beczoła (Hrsg.), Układ z Schengen. Współpraca policji i organów wymiaru sprawiedliwos´ci po Maastricht, Łódz´ 1998. Biernat, Prawo Unii Europejskiej a prawa pan´stw członkowskich, in: Barcz (Hrsg.), Prawo Unii Europejskiej. Zagadnienia systemowe, Warszawa 2002. Biernat (Hrsg.), Studia z prawa Unii Europejskiej, Kraków 2000. Bultrini, „System Europejskiej Konwencji Praw Człowieka a system wspólnotowy“, Biuletyn Centrum Europejskiego Uniwersytetu Warszawskiego 3–4/1998. Conway, „Judicial Interpretation and the Third Pillar“, European Journal of Crime, Criminal Law and Criminal Justice 2/2005. Corstens, „Criminal Law in the First Pillar?“, European Journal of Crime, Criminal Law and Criminal Justice, 11/2001. Corstens/Pradel, European Criminal Law, The Hague/London/New York 2003.

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Kriminalpolitik im Rahmen der Europäischen Sicherheitsstrategie und der Nationalen Sicherheitsstrategie der Republik Polen Justyn Piskorski I. Einleitung, Vorstellung der Dokumente Im Rahmen der Außen- und Innenpolitik liberal-demokratischer Staaten gilt es, gewisse Richtlinien für bestimmte Zielsetzungen zu formulieren. Sie werden im Geiste der ehemaligen Militärsprache „Strategien“ genannt. Der Begriff Strategie verlor seinen ursprünglichen Kontext infolge von Wandlungen, die sich in modernen Staaten vollziehen. Die Strategie bedeutete ursprünglich die Kunst der Kriegsführung, gegenwärtig wird sie als Methode der Regierung eines Staates und der Führung einer langfristigen Politik definiert. Der Grund für die Ausarbeitung dieser Strategie-Dokumente ist der Mechanismus der Demokratie, in der die politischen Wandel dermaßen oft vorkommen, dass die Stabilität des Staates in einer Perspektive, die über 4–5 Jahre hinausgeht, auf eine andere Art und Weise zu gewährleisten ist. Der Grundgedanke der Strategie ist demnach die Sicherung eines überparteilichen Konsenses zwischen den parlamentarischen Gruppierungen oder Vertretern der einzelnen EU-Mitgliedstaaten. Im Bereich der Sicherheit scheint die Formulierung von strategischen Plänen leicht zu begründen und politisch akzeptabel zu sein. Es handelt sich ja dabei um die Schaffung von Sicherheit für den demokratischen Status quo1, der nur von extremistischen Gruppen in Frage gestellt wird. Bisher wurden diese Strategien von einzelnen Staaten formuliert. Zurzeit scheinen demgegenüber die Sicherheitsstrategien der Europäischen Union immer mehr an Bedeutung zu gewinnen. Dies hängt mit der wesentlichen Evolution der EU als überstaatliches System zusammen, das mit zahlreichen Kompetenzen, die bisher nur souveränen Staaten zustanden, ausgestattet ist. Diese föderative Beschaffenheit der EU bewirkt, dass sie in wesentlichem Maße an der Aufstellung von Sicherheitsregeln interessiert ist2. 1 Dokumente dieser Art wurden im Bereich Kriminalpolitik in der EU bereits früher angenommen – siehe z. B. „Prevention and Control of Organised Crime: A European Union Strategy for the Beginning of New Millenium“ vom 27. März 2000 (OJC 124, 3.5.2000, S. 1).

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Zu nahezu derselben Zeit, d.h. im Jahre 2003, stellten die EU und Polen Dokumente vor, die entsprechende Sicherheitsstrategien festlegten. Die Europäische Sicherheitsstrategie „Ein sicheres Europa in einer besseren Welt“ (European Security Strategy, im Folgenden: ESS) wurde in Brüssel nach Annahme durch den Europäischen Rat und Unterzeichnung durch den Hohen Vertreter, Javier Solana, am 12. Dezember 2003 veröffentlicht3. Die Nationale Sicherheitsstrategie der Republik Polen (im Folgenden: NSS RP) wurde nach vorheriger Bearbeitung im Ministerium des Äußeren ein wenig früher als die ESS bekannt gegeben. Am 22. Juli 2003 wurde sie vom Ministerrat und am 8. September 2003 vom Präsidenten der RP4 angenommen. Die direkte Ursache der Verpflichtung von J. Solana, einen Entwurf der ESS auszuarbeiten, waren die Terroranschläge in den USA5. Die ESS sollte auch eine Antwort auf die Nationale Sicherheitsstrategie (National Security Strategy) der Vereinigten Staaten sein6. Der Grund für die Erstellung des polnischen Dokuments war Polens EU-Beitritt und das damit zusammenhängende Bedürfnis Polens, seinen Platz im neuen geopolitischen System zu bestimmen. Dabei ist hervorzuheben, dass dieses Dokument nicht nur die Festlegung der Pflichten des polnischen Staates zum Ziel hatte, sondern es sollte auch in einem gewissen Maße die Befürchtungen der Vertreter der „alten“ EU-Mitgliedstaaten in Bezug auf die Bedrohungen bei der EU-Erweiterung beruhigen7. Die Strategie sollte ein Signal sein, dass Polen bereit ist, ein aktives Mitglied der europäischen Sicherheitsprogramme zu werden. 2 Diese Annahme wird mitunter grundlegend in Zweifel gezogen. Siehe z. B. M. E. Sangiovanni, „Why a Common Security and Defence Policy is Bad for Europe“, Survival 2003, Bd. 45, Nr. 4, S. 193 ff.; A. Toje, „The 2003 European Union Security Strategy: A Critical Appraisal“, European Foreign Affairs Review 2005, Bd. 10 Nr. 1, S. 117 ff. 3 European Security Strategy „A secure Europe in a better world“, Institute for Security Studies, Paris 2003. 4 Hierzu kann ergänzt werden, dass die NSS RP frühere Dokumente diesen Charakters von 1992 und 2000 ersetzte. Der Grund der Verabschiedung des neuen Dokumentes waren „neue Herausforderungen und Bedrohungen, deren Ausmaß die tragischen Ereignisse in den USA vom September 2001 bewusst machten.“ In der Begründung berief man sich auf die sich verändernden Sicherheitsbedingungen Polens im Kontext von Polens EU-Beitritt. 5 J. Stevenson, „How Europe and America Defend Themselves“, Foreign Affairs 2003, Bd. 82 Nr. 2, S. 75 ff. 6 S. Duke, „The European Security Strategy in a Comparative Framework: Does it Make for Secure Alliances in a Better World?“, European Foreign Affairs Review 2004, Bd. 9 Nr. 4, S. 459 ff. 7 Siehe z. B. W. Hetzer, „Corruption and Integration – Does the Expansion of the European Union Represent a Risk Factor?“, European Journal of Crime, Criminal Law & Criminal Justice 2004, Bd. 12 Nr. 4, S. 301 ff.; V. Mitsilegas, „The implementation of the EU acquis on illegal immigration by the candidate countries of Central and Eastern Europe: challenges and contradictions“, Journal of Ethnic & Migration Studies 2002, Bd. 28 Nr. 4, S. 66 ff.

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Diese Dokumente wurden von unterschiedlichen Institutionen auf unterschiedliche Art und Weise bekannt gegeben und vorgestellt. Sie wurden über diplomatische Kanäle in Umlauf gebracht, von entsprechenden PR-Techniken begleitet. Sie stießen auf unterschiedliche Reaktionen. Dieser politische Kontext der Vorstellung dieser Dokumente liegt aber außerhalb des Interesses der vorliegenden Studie. Es ist hingegen darauf hinzuweisen, dass die polnische Strategie der ESS nicht vorausging, sondern eher ihre Anpassung an die lokalen Bedingungen war. Dies ergibt sich daraus, dass Vertreter des polnischen Außenministeriums an den Arbeiten bei der Vorbereitung des EU-Dokumentes teilnahmen8. In den beiden Dokumenten ist deshalb auch eine weitgehend ähnliche Ausdrucks- und Argumentationsweise vorzufinden. Diese Dokumente bestehen aus zwei Elementen. Das erste ist ein Diagnoseund Prognoseelement. Es umfasst die Bewertung von Erscheinungen, die als Bedrohung für das politische System eingestuft werden, und die Bewertung der künftigen Bedrohung, die von diesen Quellen ausgeht. In dem anderen Element werden Ziele und Maßnahmen zur Beseitigung oder Minimierung der vorher angeführten Bedrohungen benannt. Es ist interessant, dass die beiden Dokumente nicht nur die Fragen der von außen kommenden Bedrohungen umfassen, sondern auch auf die Rolle der kriminellen Bedrohungen hinweisen, die das demokratische System destabilisieren können. Die Sicherheitspolitik umfasst ganz gewiss viele Aktivitätsbereiche des Staates (Verteidigungsbereitschaft, internationale Beziehungen, innere Politik, Entwicklung, Wirtschaft usw.)9. Im vorliegenden Referat wird nur auf diejenigen Fragen eingegangen, die sich auf die Kriminalität, sowohl in der diagnostischen als auch kriminalpolitischen Etappe, beziehen. Mit dem gezogenen Vergleich soll auf die Bedeutung der beiden besprochenen Dokumente für das Strafrecht hingewiesen werden. Es handelt sich dabei um die Frage, ob diese Dokumente als Grundlage für gewisse Schlussfolgerungen im Bereich der sog. gesetzlichen Kriminalpolitik direkt herangezogen werden können. Dabei ist im Auge zu behalten, dass die Strategien nicht die einzigen Quellen sind, die Schlussfolgerungen im Bereich der Kriminalpolitik erlauben. In zahlreichen Dokumenten werden die in diesen Akten enthaltenen Forderungen nachgebildet, andere wiederum wurden bereits früher formuliert. Für die Zwecke dieser Analyse wurden gerade diese Akte herangezogen, weil sie einen besonderen Ausdruck des politischen Willens der EU und Polens darstellen und als Reaktion auf bestimmte Ereignisse verabschiedet wurden. Ihr ähnlicher Umfang ist darüber hinaus für einen Vergleich besonders günstig. 8 Polens Vertreter nahmen an der Konferenz in Thessaloniki am 20. Juni 2003 teil, wo J. Solana die vorläufige Fassung der ESS präsentierte. Dies hatte dann einen Einfluss auf die späteren Arbeiten am Dokument des polnischen Außenministeriums. 9 F. Charillon, „The EU as a Security Regime“, European Foreign Affairs Review 2005, Bd. 10 Nr. 4, S. 517 ff.

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II. Diagnose der Bedrohungen für die innere Sicherheit Für die strafrechtlichen Fragen erscheint es von Bedeutung zu sein, ob diese Dokumente überhaupt für das Strafrecht relevante Schlussfolgerungen, Bewertungen oder Lösungen beinhalten. Feststellungen hierzu können bereits in den Diagnose- und Prognoseteilen der beiden Dokumente gefunden werden. Als Hauptbedrohungen für die „nachhaltige Entwicklung Europas“ sieht die ESS Ereignisse mit einem wesentlichen Grad der Differenzierung, geringer Wahrnehmbarkeit und geringer Vorhersehbarkeit an (für unwahrscheinlich gilt eine groß angelegte militärische Aggression, gerichtet gegen einen der EU-Mitgliedstaaten). Zu diesen Ereignissen werden nicht nur Terrorismus, Verbreitung von Massenvernichtungswaffen oder regionale Konflikte, sondern auch Korruption, Amtsmissbrauch, fehlende Kontrolle gezählt, die zum Versagen der staatlichen Institutionen führen können10. Als ähnliche Bedrohung gilt die organisierte Kriminalität, die im grenzüberschreitenden Rauschgift-, Menschen- und Waffenschmuggel besonders zur Entfaltung kommt. Als Ausdrucksform der organisierten Kriminalität, die künftig „eine größere Beachtung verdient“, wird auch die Entwicklung der Seeräuberei angesehen. In der NSS RP wird an zahlreichen Stellen eine analoge Diagnose aufgestellt. Als Bedrohung wird hier (natürlich neben anderen Quellen) der Terrorismus genannt, jedoch in einem höheren Maße wird die Verwendung von modernen Kommunikationstechniken durch Terroristen sowie die Bewegungsfreiheit und Leichtigkeit in der Durchführung von Finanzoperationen akzentuiert. Es wird hervorgehoben, dass die internationale organisierte Kriminalität aufgrund sowohl des Charakters ihrer Aktivitäten (Schmuggel mit Waffen, Gefahrgütern und Menschen, Drogenhandel) als auch der eingesetzten Methoden (Korruption, Geldwäsche, Destabilisierung des Finanzsystems) eine Bedrohung für die Sicherheit unseres Landes darstellt. Es wird auch festgestellt, dass das Gebiet Polens u. a. aufgrund seiner Lage als Transitland ein immer größeres Interesse der internationalen Gruppen der organisierten Kriminalität erweckt. Darüber hinaus wird darauf hingewiesen, dass fremde Nachrichtendienste sowie terroristische, extremistische und kriminelle Vereinigungen Versuche unternehmen könnten, unbefugt Zugang zu nicht öffentlichen Informationen zu erlangen, darunter solchen, die im Rahmen der Zusammenarbeit von Verbündeten ausgetauscht werden. In dem Dokument werden zudem die Bedrohungen im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnik mehrfach unterstrichen. Die beiden Strategien bedienen sich also desselben Begriffsapparats im Bereich von Diagnose und Vorhersehen von potentiellen Bedrohungen. Sowohl die EU als auch Polen sehen die Quellen der Bedrohungen in denselben Erschei10 Vgl. D. Hobbs, „Going Down the Glocal: The Local Context of Organised Crime“, Howard Journal of Criminal Justice 1998, Bd. 37 Nr. 4, S. 407 ff.

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nungen kriminellen Charakters. Die Strategie Polens behandelt ein wenig ausführlicher die Bedrohungen, die sich aus der besonderen Lage Polens als Pufferstaat, der an die Länder außerhalb der EU grenzt, ergeben. Im polnischen Dokument wird auch ein größeres Gewicht auf die Probleme der elektronischen Datenverarbeitung gelegt. III. Bekämpfung der Bedrohungen Im Teil der ESS, der der Bekämpfung der Bedrohungen gewidmet ist, werden diverse Mittel genannt, mit welchen die Bedrohungen beschränkt und kontrolliert werden können. So wird im Bereich Terrorismusbekämpfung auf die Notwendigkeit hingewiesen, eine breite Palette von Maßnahmen, darunter auch rechtlichen, einzusetzen. Im Dokument wird festgestellt, dass es „eine Bedingung für eine geregelte Weltordnung ist, dass das Recht mit Entwicklungen u. a. des Terrorismus Schritt hält“. Das Mittel zur Verbesserung der Sicherheit soll auch „eine bessere Abstimmung zwischen dem außenpolitischen Handeln und der Justiz- und Innenpolitik“ sein. Es wird zudem ihre entscheidende Bedeutung bei der Bekämpfung des Terrorismus und der organisierten Kriminalität unterstrichen. In der NSS RP wird die Hoffnung ausgedrückt, dass „der Beitritt zu der Europäischen Union unsere Fähigkeiten zur Wahrnehmung der Aufgaben im Bereich der inneren Sicherheit, die vor allem mit den Mechanismen der Zusammenarbeit zwischen der Innen- und Justizpolitik, der Bekämpfung der organisierten Kriminalität, des Terrorismus, des Drogenhandels und anderer neuer Bedrohungen zusammenhängen, stärken wird“. Es wird dort auch erklärt, dass „im Zusammenhang mit dem Beitritt zu der Europäischen Union Maßnahmen getroffen werden, die die rechtlichen und institutionellen Fähigkeiten des Staates zur effizienten Wahrnehmung der Pflichten Polens als eines EU-Mitgliedstaates in allen Bereichen der Integration stärken werden.“ In dem Teil, der den Aspekten der inneren Sicherheit gewidmet ist, wird u. a. das Ergreifen von gesetzgeberischen Maßnahmen angekündigt, die der Schaffung von präzisen Rechtsregelungen zur effizienten Tätigkeit sämtlicher Institutionen und Dienste, die zur Bekämpfung und Vorbeugung der Kriminalität berufen sind, dienen sollen. In dem Teil, der den wirtschaftlichen Grundlagen der Sicherheit des Staates gewidmet ist, werden Vorbeugungsmaßnahmen im Bereich der finanziellen Sicherheit angekündigt, die durch eine kontinuierliche Verbesserung der Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der Haushaltsdisziplin und der Vorbeugung von Wirtschaftsstraftaten und Straftaten gegen den Fiskus erreicht werden sollen. Ein wesentliches Element der Sicherheitspolitik des Staates soll die nachhaltige Verbesserung des rechtlichen und organisatorischen Systems zur Vorbeugung des Inverkehrbringens von Geldern illegaler Herkunft (Geldwäsche) und zur Bekämpfung der Terrorismusfinanzierung sein.

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Schon auf den ersten Blick erkennt man, dass das polnische Dokument bei der Formulierung von gesetzgeberischen Zielen breite Möglichkeiten eines Einsatzes gegen den Prozess der Kriminalisierung zur Verfügung stellt. Es verweist nicht nur auf die Notwendigkeit der gesetzgeberischen Änderungen, sondern nennt auch weitere Bedrohungen und die Methoden ihrer Bekämpfung, die in der ESS nicht benannt werden. Dem EU-Dokument kann darüber hinaus zum Vorwurf gemacht werden, dass es nach einer umfassenden Diagnose von Bedrohungen keine ebenfalls präzise Beschreibung der Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung liefert. IV. Vergleich und Bewertung der Dokumente und der in der EU und Polen verfügbaren rechtlichen Werkzeuge, die der Umsetzung der Ziele beider Strategien dienen können Möchte man die Bedeutung der beiden Dokumente bewerten, so sollte auf die Möglichkeit ihrer breiten Verwendung im Bereich der Kriminalpolitik hingewiesen werden. Zwar werden wie üblich einige Bereiche der Politik der Kriminalitätsbekämpfung genannt. Dies umfasst sowohl präventive Maßnahmen auf verschiedenen Stufen, die durch zentrale und kommunale Institutionen (vor allem die Polizei und Sonderdienste) ergriffen werden, die Politik der Aufdeckung von Straftaten, Verhängung von Strafen als auch die Gesetzgebungspolitik, die auf die Verabschiedung von neuen effektiveren strafrechtlichen Vorschriften abzielt. Das letzte Element scheint nur der einzige (nicht einmal der wichtigste) Bestandteil der Maßnahmen der Staaten und internationalen Organisationen zu sein, die zur Kriminalitätsbekämpfung ergriffen werden. In den Strategien kommt das Bewusstsein der Autoren über die Rolle der Gesetzgebungspolitik deutlich zum Ausdruck. Die Gestaltung der Strafrechtsvorschriften kann als Ergänzung zu anderen Präventionsmethoden angesehen werden. In der vorliegenden Studie kann nicht auf alle in den Strategien genannten Methoden der Bedrohungsminimierung eingegangen werden. Aus diesem Grund werden nur ausgewählte Details der Politik der Strafrechtsgestaltung angesprochen. Um auf die Bedeutung dieser Fragen hinweisen zu können, muss zunächst festgestellt werden, ob die Adressaten der Strategien Schritte einleiten können, die eine Modifikation der Strafrechtsvorschriften erlauben würden. Der Adressatenkreis der beiden Strategien ist sehr umfangreich, und zwar sind sie an alle Verantwortlichen für die Innen- und Außensicherheit gerichtet. Da die Sicherheit eine der Kernaufgaben des Staates und der einzelnen Formen der Staatenbünde (insbesondere der Föderation) ist, kann man – wie es scheint – ohne Vorbehalte annehmen, dass die Gesetzgebungsorgane der EU und Polens ebenfalls hierzu gehören. Darauf deuten die besonderen (direkten und vermutlichen) Hinweise der beiden Strategien auf die Notwendigkeit der gesetzgeberischen Maß-

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nahmen („Weiterentwicklung des Rechts“, „Ergreifen von gesetzgeberischen Maßnahmen“) hin. Es ist jedoch zu ergänzen, dass der Umfang der gesetzgeberischen Tätigkeiten im Rahmen der EU einen anderen Charakter hat als die Rechtssetzung in den einzelnen Mitgliedstaaten. Dieses Anderssein umfasst sowohl die Mechanismen der Einflussausübung auf das Recht (z. B. durch Verabschiedung von unmittelbar geltenden Vorschriften, Annäherung der Gesetzgebung der einzelnen Mitgliedstaaten, Vereinheitlichung der Methoden der Zusammenarbeit auf der europäischen Ebene) als auch die rechtlichen Werkzeuge, die von der EU hierzu eingesetzt werden können (z. B. gemeinsame Stellungnahmen, Rahmenbeschlüsse, Übereinkommen, Entscheidungen). Die am meisten umstrittene Frage im Hinblick auf das Instrumentarium zur Gestaltung des Strafrechts durch die EU ist ihre Berechtigung zur Setzung unmittelbar geltender strafrechtlicher Vorschriften. Trotz einer geringfügigen Zulässigkeit dieser Möglichkeit im Bereich der verwaltungsstrafrechtlichen Vorschriften erweckt dies nach wie vor Bedenken bei der Auslegung, die auf der Grundlage des Vertrags über die Europäische Union (Maastrichter Vertrag) vorgebracht werden. Die ESS gewährt keine unmittelbaren Grundlagen zur Kompetenzerweiterung der EU im Bereich der Setzung von unmittelbar geltenden Rechtsakten. Die Formulierung über die Notwendigkeit der Weiterentwicklung des internationalen Rechts könnte aber wegen ihrer Mehrdeutigkeit durchaus die Grundlage für weitgehende Schlussfolgerungen hierzu sein. Ein Mechanismus, der zweifellos zur Gestaltung der strafrechtlichen Institutionen eingesetzt werden kann, sind Übereinkommen (internationale Abkommen). Eine besondere Kompetenz bei der Vorbereitung der Entwürfe von Übereinkommen wurde dem Europarat gewährt, der den Mitgliedstaaten die Annahme eines Übereinkommens empfiehlt. Da im Vertrag über die Europäische Union ein Sonderverfahren zur Bestimmung des Termins des In-Kraft-Tretens eines Übereinkommens vorgesehen ist, wurde die Eignung dieses Mittels für Zwecke des Strafrechts problematisch. Es sollte jedoch auf diese Methode der Vereinbarung von Stellungnahmen der einzelnen Mitgliedstaaten nicht verzichtet werden, weil man auf diese Weise trotz der scheinbaren Wirkungslosigkeit eine größere Internalisierung der Grundsätze, die in den Übereinkommen formuliert werden, erreichen kann. Die EU-Mittel, die auf die Annäherung der Gesetzgebung der Mitgliedstaaten abzielen, haben den größten Einfluss auf die Gestaltung des Strafrechts auf dem EU-Gebiet11. Mit großer Sicherheit kann man feststellen, dass eben mit ihrer Hilfe die Zielsetzungen der ESS erreicht werden. 11 Vgl. K. Lenaerts/M. Desomer, „Towards a Hierarchy of Legal Acts in the European Union? Simplification of Legal Instruments and Procedures“, European Law Journal 2005, Bd. 11 Nr. 6, S. 744 ff.

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Im Rahmen der NSS RP scheint die Lage viel einfacher zu sein, weil die einzige zulässige Quelle für die Setzung von strafrechtlichen Vorschriften das Gesetz ist (diese Beschränkung ergibt sich aus der Garantiefunktion des Strafrechts – Art. 42 der Verfassung der Republik Polen). Eine besondere politische Ebene kann die Aktivität Polens auf dem Gebiet des internationalen Rechts sein, insbesondere mit der Ausarbeitung und dem Vorschlagen entsprechender internationaler Verträge. Diese werden jedoch nach ihrer Annahme auch zum Teil der inneren Rechtsordnung. Hier muss aber an die Kriminalpolitik nicht nur unter dem Gesichtspunkt der gesetzlichen Vorschriften, sondern auch in der Perspektive des internationalen Engagements und des internationalen Rechts gedacht werden. Für die Entwicklung der Institutionen des Strafrechts, die der Terrorismusbekämpfung dienen sollen, hatten die Terroranschläge in den Vereinigten Staaten vom 11. September 2001 eine fundamentale Bedeutung. An dieser Stelle muss daran erinnert werden, dass viele europäische Staaten den Terrorismus früher nicht für eine gesonderte Institution des Strafrechts (Straftat besonderer Art) hielten. Die Reaktion der EU auf die Ereignisse in den USA kam sofort. Die Politiker (EU-Justiz- und Innenminister) formulierten viele Postulate bezüglich der Notwendigkeit, den Schutz vor dem Terrorismus zu erweitern. Darunter fanden sich, neben den Postulaten, die für die Prävention dieser Art von Kriminalität sowie ihre Aufdeckung und Bekämpfung von Bedeutung waren, auch solche, die das materielle Strafrecht und vor allem die Annahme einer einheitlichen Definition des Terrorismus betrafen12. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die meisten EU-Rechtsakte zum Terrorismus in der Zeit vor der Annahme der ESS verabschiedet wurden. Für ihre Gestaltung hatte die ESS demnach keine entscheidende Bedeutung, sie bekräftigte lediglich den bereits früher ausgedrückten Willen zum Kampf gegen den Terrorismus13. Ähnliche Vorbehalte können auch in sonstigen Bereichen der Sicherheit formuliert werden. Die Bekämpfung der grenzüberschreitenden oder organisierten Kriminalität ist ja auch nichts Neues auf dem EU-Gebiet14. Schon seit langer Zeit wurden auch Maßnahmen ergriffen, die eine Vereinheitlichung der Methoden der Bekämpfung von Menschenschmuggel15 und Amtsdelikten16 zum Ziel 12

L. S. Lebl, „Security Beyond Borders“, Policy Review 2005, Nr. 130, S. 23 ff. Siehe auch L. Thieux, „European Security and Global Terrorism: the Strategic Aftermath of the Madrid Bombings“, Perspectives: Central European Review of International Affairs 2004, Bd. 22 S. 59 ff. 14 M. Levi, „Perspectives on ,Organised Crime‘: An Overview“, Howard Journal of Criminal Justice 1998, Bd. 37 Nr. 4, S. 335 ff. 15 Es genügt, einige der zahlreichen Rechtsakte, die auf die Bekämpfung des Menschenhandels gerichtet sind, zu nennen: Internationales Übereinkommen vom 18. Mai 1904, Internationales Übereinkommen vom 4. Mai 1910 zur Bekämpfung des Mädchenhandels, unterzeichnet in Paris, Internationales Übereinkommen vom 30. September 1921 zur Unterdrückung des Frauen- und Kinderhandels, unterzeichnet in Genf, 13

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hatten. Auf diesem Gebiet formulierte die ESS keine Schlüsse bezüglich des detaillierten Umfangs der Kriminalpolitik. Die ESS begründet lediglich die weitere Verbesserung der Zusammenarbeit auf diesem Gebiet. Ein wesentliches Problem ist der Konflikt von zwei Werten. Die Verbesserung der Sicherheit kann mit der Verletzung oder Einschränkung des Garantiecharakters des Strafrechts verbunden sein. In dieser Hinsicht setzt die ESS klare Grenzen für präventive Maßnahmen – diese Grenzen bilden die Menschenrechte17. Bezüglich der Regelungen des materiellen Strafrechts im Bereich Menschenschmuggel ist in der Zukunft eine wesentliche Diskussion zu erwarten. Der Grundgedanke der ESS ist unter anderem der Wille zur Sicherung und Gewährleistung einer komfortablen Entwicklung dieses Teils der Welt. Bei der Betrachtung des Menschenschmuggels fragt sich in erster Linie, ob die Geschmuggelten als Opfer einer Straftat anzusehen sind, ob ihnen als Opfern derselbe Schutz zusteht wie den EU-Bürgern und sogar ob der Schutz von Opfern dieser Taten zu den Aufgaben der EU gehört. In dieser Hinsicht werden die Rechte der Bürger der EU-Mitgliedstaaten von denen der Bürger anderer Staaten wesentlich abweichen18. Diese Lage bedarf besonderer Vorsicht bei Schlussfolgerungen bezüglich der Methoden der Kriminalpolitik19. Das Verlangen nach Bekämpfung der in der ESS genannten Straftaten weist auch auf die wesentliche Notwendigkeit einer Koordination der Politik hin. Die Resultate dieser weitgehenden Annäherung können unerwartet sein. Es scheint sogar, dass in der weiteren Perspektive die Konvergenz der einzelnen Säulen der EU möglich sein wird. Die NSS RP scheint dem polnischen Gesetzgeber ein weiteres Tätigkeitsfeld zu eröffnen. Die innerstaatliche Gesetzgebung scheint im Bereich Kriminalität gegenüber dem EU-Recht weniger gebunden zu sein. Aus Gründen der Zweckmäßigkeit wird der polnische Gesetzgeber zu einer übermäßig breit angelegten gesetzgeberischen Initiative bezüglich der Straftaten, an deren Verfolgung die internationale Gemeinschaft interessiert ist, nicht bereit sein. Es ist daher zu erwarten, dass die Initiative Polens (und wahrscheinlich auch anderer Staaten)

Übereinkommen zur Bekämpfung des Menschenhandels und der Ausnutzung der Prostitution vom 21. März 1950, unterzeichnet in Lake Success. 16 E. Velkova/S. Georgievski, „Fighting transborder organized crime in Southeast Europe through fighting corruption in customs agencies“, Journal of Southeast European & Black Sea Studies 2004, Bd. 4 Nr. 2, S. 280 ff. 17 Vgl. E. Guild, „Crime and the EU’s Constitutional Future in an Area of Freedom, Security, and Justice“, European Law Journal 2004, Bd. 10 Nr. 2, S. 218 ff. 18 N. Reich, „The Constitutional Relevance of Citizenship and Free Movement in an Enlarged Union“, European Law Journal 2005, Bd. 11 Nr. 6, S. 675 ff. 19 Vgl. auch R. D. Crelinsten, „The Discourse and Practice of Counter-Terrorism in Liberal Democracies“, Australian Journal of Politics & History 1998, Bd. 44 Nr. 3, S. 389 ff.

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sich auf die Lösung von lokalen, spezifischen Problemen beschränken und sich das Hauptgewicht der Suche nach Methoden der Bekämpfung der globalen Kriminalität auf die überstaatlichen Institutionen verlagern wird. V. Schlussfolgerungen Die größten Kontroversen können diejenigen Abschnitte der Strategien auslösen, welche der Beschreibung von Bedrohungen gewidmet sind.20 Dass die dort genannten Formen der Kriminalität (Terrorismus21, organisierte Kriminalität, Menschen-22 und Rauschgifthandel oder Korruption23) als besonders gefährliche Erscheinungen angesehen werden, scheint zwar durchaus aktuell zu sein, aber genau dieselben Bedrohungen wurden schon in den Beschreibungen der Tendenzen der Kriminalitätsentwicklung vor über 30 Jahren für wichtig gehalten24. Auch schon früher wurde die internationale Zusammenarbeit, welche die Beseitigung oder Einschränkung dieser Erscheinungen zum Ziel hatte, initiiert.25 Die ESS diagnostiziert die modernen Bedrohungen und bestätigt die Richtigkeit der ergriffenen Maßnahmen, aber gibt eigentlich damit zu, dass die bisherige Kriminalpolitik gescheitert ist. Wird die Strategie in diesem Kontext betrachtet, so sollte man erwarten, dass nun nach neuen Methoden der Überwindung der gefährlichsten Kriminalität, auch unter Einsatz der Kriminalpolitik, gesucht wird. Es ist jedoch zu befürchten, dass diese neuen Methoden der Bekämpfung der

20 G. Quille, „The European Security Strategy: a framework for EU security interests?“, International Peacekeeping (Frank Cass) 2004, Bd. 11 Nr. 3, S. 422 ff. 21 N. Alexandrova-Narbatova, „European security and international terrorism: the Balkan connection“, Journal of Southeast European & Black Sea Studies 2004, Bd. 4 Nr. 3, S. 361 ff. 22 Vgl. U. Smartt, „Human Trafficking: Simply a European Problem?“, European Journal of Crime, Criminal Law & Criminal Justice 2003, Bd. 11 Nr. 2, S. 164 ff.; B. Hebenton/T. Thomas, „Capacity Building Against Transnational Crime: European Measures to Combat Sexual Offenders“, European Journal of Crime, Criminal Law & Criminal Justice 1999, Bd. 7 Nr. 2, S. 150 ff.; P. Magnette, „In the Name of Simplification: Coping with Constitutional Conflicts in the Convention on the Future of Europe“, European Law Journal 2005, Bd. 11 Nr. 4, S. 432 ff. 23 J. A. E. Vervaele, „Towards an Independent European Agency to Fight Fraud and Corruption in the EU?“, European Journal of Crime, Criminal Law & Criminal Justice 1999, Bd. 7 Nr. 3, S. 331 ff. 24 Vgl. z. B. B. Hołyst, „Przeste˛pczos´c´ drugiej połowy XX wieku“ (Kriminalität der zweiten Hälfte des 20. Jhs.), Warszawa 1975, passim; siehe auch M. Welch, „Ironies of social control and the criminalization of immigrants“, Crime, Law & Social Change 2003, Nr. 39, S. 319 ff. 25 Entweder auf der zwischenstaatlichen oder internen Ebene in den einzelnen Staaten. Siehe z. B. P. Norman, „The Terrorist Finance Unit and the Joint Action Group on Organised Crime: New Organisational Models and Investigative Strategies to Counter ,Organised Crime‘ in the UK“, Howard Journal of Criminal Justice 1998, Bd. 37 Nr. 4, S. 375 ff.

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im Grunde genommen üblichen Kriminalität vielmehr nur weitere Mittel bürokratischen Charakters einsetzen werden26. Die Analyse der beiden Dokumente lässt keinen Zweifel daran, dass das Strafrecht eine wichtige Rolle im Instrumentarium der Sicherheitspolitik der EU und Polens spielt. Man sollte jedoch keinesfalls die Rolle der Gesetzgebungspolitik auf diesem Gebiet überschätzen. Man kann vermuten, dass wegen der Schwierigkeiten bei der Gestaltung des gemeinsamen EU-Strafrechts andere kriminalpolitische Mittel, die sich insbesondere auf die Idee der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit stützen, eine größere Rolle in der Kriminalitätsprävention spielen werden27. Dies wird wahrscheinlich in erster Linie eine Änderung der Regelungen des Verfahrensrechts zur Folge haben28. Die Verweise auf die Rolle und die Form der Rechtsinstitutionen sind eher beschränkt und basieren auf den bisherigen rechtlichen Lösungen. Sie haben keinen visionären oder innovativen Charakter. Sie beschäftigen sich eher mit der technischen Beschreibung von Bedrohungen, indem sie auf das Recht als Mittel ihrer Beschränkung verweisen. Sie zeigen auch keine konkreten gesetzgeberischen Methoden auf, die man einsetzen könnte, um diese Zielsetzungen zu erreichen. Für das Strafrecht können die Dokumente nicht nur eine Willenserklärung, sondern auch ein wesentliches teleologisches Element werden, das die gesetzgeberischen Aktivitäten sowohl auf der EU-Ebene als auch auf der Ebene der nationalen Gesetzgebungen rechtfertigt. Diese Willenserklärung über den Kampf gegen die organisierte Kriminalität und den Terrorismus hat einen wesentlichen Aspekt für das Strafrecht. Die EU will sich für die Bekämpfung dieser Straftaten weltweit engagieren29. Alle EU-Mitgliedstaaten müssen auf jeden Fall die Grundsätze der Geltung des Strafrechts genau bedenken, falls es außerhalb der Staatsgrenzen (auf dem Gebiet anderer Staaten) eingesetzt werden sollte. Einer besonderen Überprüfung hierzu bedarf der in den meisten Strafsystemen bekannte Grundsatz des Verbots der doppelten (mehrfachen) Strafbarkeit30. 26 Siehe A. Edwards/P. Gill, „The Politics of ,Transnational Organized Crime‘: Discourse, Reflexivity and the Narration of ,threat‘“, British Journal of Politics & International Relations 2002, Bd. 4 Nr. 2, S. 245 ff. 27 S. Betti, „New prospects for inter-state co-operation in criminal matters: The Palermo Convention“, International Criminal Law Review 2003, Bd. 3 Nr. 2, S. 151 ff. 28 T. Schalken/M. Pronk, „On Joint Investigation Teams, Europol and Supervision of Their Joint Actions“, European Journal of Crime, Criminal Law & Criminal Justice 2002, Bd. 10 Nr. 1, S. 75. 29 J. Solana, „Thoughts on the reception of the European Security Strategy“, Oxford Journal on Good Governance 2004, Bd. 1, Nr. 1, S. 17–19. 30 Diese Frage wird immer stärker als klärungsbedürftiges Problem dargestellt, siehe S. Stein, „Combating Crime in the European Union: The Development of EU Policy after the Convention“, European Journal of Crime, Criminal Law & Criminal Justice 2004, Bd. 12 Nr. 4, S. 337 ff.

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Im Bereich der Kriminalisierung (Definierung neuer Typen von Straftaten) und der Definierung von neuen strafrechtlichen Mitteln wirken die beiden Strategien eher bescheiden. Es finden sich dort keine unmittelbaren Vorschläge zur Kriminalisierung neuer Straftaten oder zu ihrer Entkriminalisierung. Die Strategien berufen sich eher auf die im System des internationalen Rechts, in der EU und Polen bereits verwendeten Begriffe. Diese sparsame Formulierungsweise kann jedoch den Missbrauch im Rahmen des Gesetzgebungsprozesses fördern. Man kann sich leicht Politiker vorstellen, die für eine Regelung neuer Institutionen unter Berufung auf die Forderungen der verabschiedeten Sicherheitsstrategien plädieren werden. Hier ist zu unterstreichen, dass die NSS RP als ein sekundäres Dokument anzusehen ist, das im strafrechtlichen Gesetzgebungsprozess sicherlich für die Begründung von Gesetzen, die neue Straftaten kriminalisieren oder neue Strafen einführen, oder als Begründung der Einführung von Rechtsinstitutionen der EU eingesetzt werden wird. Das Strafrecht wird im Kampf gegen die schwere Kriminalität sicherlich nicht die allererste, aber dennoch eine wichtige Waffe sein. Es ist aber auch wichtig, dass seine Verwendung im öffentlichen Bewusstsein mit Gerechtigkeit assoziiert wird.

Die Mindeststandards des Europarates vs. die Mindeststandards des Rates der Europäischen Union Uwe Scheffler Die folgende Skizze soll schlaglichtartig beleuchten, dass die beiden großen politischen Zusammenschlüsse in Europa, der Europarat und die Europäische Union, das Strafrecht mit völlig diametraler Blickrichtung zu harmonisieren versuchen, was dazu führt, dass die Bundesrepublik – und auf die will ich mich als deutscher Strafrechtler beschränken – ihrerseits Anpassungsfragen im Rahmen der Europäisierung in nicht weniger gegensätzlicher Richtung zu beantworten hat. I. Europarat: Art. 6 EMRK Mir wurde in meiner Studienzeit – mit gelegentlich leicht überheblichem Unterton1 – gelehrt, dass die Garantien der EMRK, namentlich die des Art. 6, für das deutsche Strafrecht keine eigentliche Bedeutung hätten, weil sie einen bloßen Mindeststandard beschrieben, den das vorbildliche deutsche Recht ohnehin weit überträfe2. „In der BRep mit ihrem Grundrechtskatalog in Art. 1 ff. GG und dem durch die Verfassungsbeschwerde gesicherten Rechtsschutzverfahren ist die MRK nur von subsidiärer und verhältnismäßig geringer Bedeutung“, kann man heute etwa noch mit diversen weiteren Nachweisen im „Meyer-Goßner“3 lesen. Nun ist dieser Befund schon deshalb schnell zu hinterfragen4, weil der EGMR, wie Eisele5 es kürzlich nochmal deutlich in Erinnerung rief, „immer wieder ein konventionswidriges Verhalten deutscher Strafverfolgungsorgane feststellen“ muss. Sieht man genauer hin, fällt auf, dass die Gewährung so mancher der Mindestgarantien im deutschen Strafrecht nicht so selbstverständlich 1 Siehe dazu auch Simon, Die Beschuldigtenrechte nach Art. 6 Abs. 3 EMRK, Diss. Tübingen 1998, S. 2. 2 Siehe dazu Weigend, „Die Europäische Menschenrechtskonvention als deutsches Recht – Kollisionen und ihre Lösung“, StV 2000, 385 m.w. N. in Fn. 15. 3 StPO, 48. Aufl. 2005, Art. 1 MRK Rn. 1. 4 Weigend, StV 2000, 385: „glatte Fehldiagnose“. 5 Eisele, „Die Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention für das deutsche Strafverfahren“, JA 2005, 390.

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ist. Schauen wir uns ein Potpourri von bekannten und weniger bekannten, vielleicht vor allem mich beschäftigenden Bruchstellen in der von Art. 6 EMRK vorgegebenen Reihenfolge an, ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit: 1. Art. 6 Abs. 1 EMRK a) Faires Verfahren Beginnen wir allgemein mit dem Grundsatz des Fairen Verfahrens in Art. 6 Abs. 1 EMRK, im Recht der Bundesrepublik ansonsten nur als unausgesprochener Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips enthalten. Der BGH nimmt auch bei schweren Rechtsstaatswidrigkeiten bekanntlich kein Verfahrenshindernis (mehr) an, sondern bevorzugt die sog. Rechtsfolgenlösung. Dies wird etwa von Eisele so kommentiert: „Ob dies . . . mit den Grundsätzen des EGMR im Einklang steht, ist zweifelhaft.“6 Denn der EGMR billigte etwa im Fall Teixera de Castro7 bei rechtsstaatswidriger Tatprovokation durch einen polizeilichen Lockspitzel dem Beschwerdeführer eine Entschädigung in Geld für die gesamte Haftzeit zu, was die deutsche Rechtsfolgenlösung deutlich übertrifft: „. . . die Annahme einer bloßen Strafmilderung dürfte genau genommen nur zu einer Entschädigung desjenigen Teiles der Haft führen, der über die zu mildernde Strafe hinausgeht.“8 b) Verhandlung innerhalb einer angemessenen Frist Weiter: Was den vieldiskutierten Anspruch auf Verhandlung innerhalb einer angemessenen Frist angeht, so enthält die deutsche StPO nicht einmal ein ausdrückliches Beschleunigungsgebot, das nur immer wortreich aus den verschiedensten Vorschriften abgeleitet wird9. Gollwitzer formulierte einmal, dass das Gebot erst dank der EMRK „zitierfähig“ geworden war10. Dennoch wurde die Bundesrepublik 198211 und 200112 vom EGMR wegen Verletzung des Beschleunigungsprinzips in Art. 6 Abs. 1 EMRK verurteilt. 6 Eisele, JA 2005, 393; ähnlich Ambos, Internationales Strafrecht, 2006, § 10 Rn. 17. 7 EGMR NStZ 1999, 47. 8 Eisele, JA 2005, 393. 9 Näher Scheffler, „Legitimation und Funktion des Beschleunigungsprinzips im Jugendstrafrecht“, RdJB 1981, 451 m. Fn. 1–3; ders., Die überlange Dauer von Strafverfahren, 1991, S. 49 f.; Waßmer, „Rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen im Strafverfahren als Verfahrenshindernis von Verfassungs wegen“, ZStW 118 (2006), 161 ff. – jeweils m.w. N. 10 Gollwitzer, „Gerechtigkeit und Prozeßwirtschaftlichkeit – Einige Gedanken zum knappen Gut der Rechtsgewährung“, Festschrift für Kleinknecht, 1985, S. 157. 11 Fall Eckle, EuGRZ 1983, 371. 12 Fall Metzger, StV 2001, 489.

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Und trotz aller Lippenbekenntnisse ist kaum zu erkennen, dass der deutsche Gesetzgeber mit diesem Prinzip vollständig ernst machen will: Die durch das 1. Justizmodernisierungsgesetz 2004 verlängerten Unterbrechungsfristen der Hauptverhandlung in § 229 StPO haben etwa dazu geführt, dass eine nun nach der deutschen Strafprozessordnung zulässige Unterbrechung der Hauptverhandlung gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK verstoßen kann13. c) Nichtöffentlichkeit, Art. 6 Abs. 1 Satz 2 EMRK Vor der Einfügung des Ausschließungsgrundes des Schutzes des persönlichen Lebensbereiches 197514, der sich an Art. 6 Abs. 1 Satz 2 EMRK „anlehnt“15, war diskutiert worden, ob der Angeklagte einen Anspruch auf (zeitweisen) Ausschluss der Öffentlichkeit zum Schutz seines Privatlebens, also ein Recht auf Nichtöffentlichkeit haben könnte; Art. 6 Abs. 1 Satz 2 EMRK erweitere auch als Kannvorschrift die Ausschlussgründe der §§ 169 ff. GVG16. Tot muss dieser Gedanke noch nicht sein: Erfordert nicht vielleicht Art. 6 EMRK, der nur den Beschuldigten (scil.: „Prozessparteien“) schützt, dass die Öffentlichkeit auf dessen Wunsch in umfangreicherem Maße ausgeschlossen werden muss als zugunsten anderer Strafverfahrensbeteiligter? 2. Unschuldsvermutung, Art. 6 Abs. 2 EMRK Auch die in Art. 6 Abs. 2 EMRK „präzis ausformulierte“17 Unschuldsvermutung ist im deutschen Recht nicht ausdrücklich erwähnt; sie wird ebenfalls nur 13 Knauer/Wolf, „Zivilprozessuale und strafprozessuale Änderungen durch das Justizmodernisierungsgesetz – Teil 2: Änderungen der StPO“, NJW 2004, 2934; Sommer, „Moderne Strafverteidigung – Strafprozessuale Änderungen des Justizmodernisierungsgesetzes“, StraFo 2004, 297; Neuhaus, „Die Änderung der StPO durch das Erste Justizmodernisierungsgesetz vom 24.8.2004“, StV 2005, 51; Keller/Meyer-Mewes, „Anforderungen an das Beschleunigungsgebot in Haftsachen während der Hauptverhandlung und nach dem Urteil“, StraFo 2005, 356; so auch der Beschluss des OLG Hamm StV 2006, 191 (allerdings unter Bezug auf Art. 6 Abs. 3 Buchst. a EMRK [?]), wo ein Landgericht in fünf Monaten in den nun möglichen 3-Wochen-Sprüngen nur noch achtmal verhandelt hatte. Siehe auch BGH StV 2006, 296. 14 § 172 Nr. 2 GVG i. d. F. des EGStGB; § 171b GVG i. d. F. des OpferSchG 1986. 15 Schöch, „Die Reform der Hauptverhandlung“, in: Strafprozeß und Reform, hrsg. v. Schreiber, 1979, S. 73. 16 Humborg, „Der Ausschluß der Öffentlichkeit bei der Vorstrafenerörterung“, NJW 1966, 1016 f.; Vogler, „Die Spruchpraxis der Europäischen Kommission und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und ihre Bedeutung für das deutsche Strafund Strafverfahrensrecht“, ZStW 82 (1970), 771 f. 17 Kühl, „Der Einfluß der Europäischen Menschenrechtskonvention auf das Strafrecht und Strafverfahrensrecht der Bundesrepublik Deutschland (Teil I)“, ZStW 100 (1988), 415.

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aus dem vagen Rechtsstaatsprinzip abgeleitet18 – was dann auch nicht verhindern konnte, dass die Bundesrepublik hier schon mehrfach ins Stolpern gekommen ist: So sah sich 1987 das BVerfG19 unter dem Eindruck der Minelli-Entscheidung des EGMR20 veranlasst, die Möglichkeiten einzuschränken, bei Nichtverurteilung des Angeklagten Folgeentscheidungen (Kosten, Auslagen, Entschädigung) an eine Schuldvermutung zu knüpfen21. Und vor kurzem musste der EGMR im Fall Böhmer die Bundesrepublik erst verurteilen, um die deutschen Gerichte zu belehren, dass ein Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung nach § 56f StGB ohne vorherige rechtskräftige Verurteilung wegen einer neuen Tat nur unter sehr eingeschränkten Umständen in Betracht kommen kann22. In Deutschland war man überwiegend der – verfassungsgerichtlich bestätigten23 – Auffassung, dass ein Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung auch aufgrund eigener Ermittlungen des Vollstreckungsgerichts erfolgen kann, solange dieses nur von der Begehung der neuen Tat überzeugt ist, ohne dass die neue Tat bereits abgeurteilt sein muss24. Das BVerfG hatte die Verfassungsbeschwerde Böhmers übrigens nicht einmal zur Entscheidung angenommen. Schließlich wurden vor allem in den neunziger Jahren (OrgKG 1992) verschiedene Vorschriften in die StPO eingefügt, die „skandalös“, wie Schroeder scharf gerügt hat25, vom „Täter“ statt vom „Beschuldigten“ sprechen (§§ 98a Abs. 1 Satz 2; 100c Abs. 1 Nrn. 1–3, Abs. 2 Satz 2; 163d Abs. 1 Satz 2; 163e Abs. 1 Satz 2, 3; 163f Abs. 1 Satz 2, 3 StPO)26.

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Vgl. Meyer-Goßner, StPO, Art. 6 MRK Rn. 12. BVerfGE 74, 358; vgl. S. 370: „. . . bei der Auslegung des Grundgesetzes sind auch Inhalt und Entwicklungsstand der Europäischen Menschenrechtskonvention in Betracht zu ziehen“. 20 EGMR EuGRZ 1983, 475. 21 Näher Kieschke, Die Praxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und ihre Auswirkungen auf das deutsche Strafverfahrensrecht, 2003, S. 211 ff.; Kühl, „Der Einfluß der Europäischen Menschenrechtskonvention auf das Strafrecht und Strafverfahrensrecht der Bundesrepublik Deutschland (Teil II)“, ZStW 100 (1988), 613 ff. 22 EGMR NJW 2004, 43. 23 Siehe BVerfG NStZ 1987, 118; 1991, 30; NJW 1994, 377. 24 Näher Peglau, „Bewährungswiderruf und Unschuldsvermutung“, NStZ 2004, 248 ff.; Seher, „Bewährungswiderruf wegen Begehung einer Straftat“, ZStW 118 (2006), 101 ff. 25 F.-C. Schroeder, Strafprozeßrecht, 3. Aufl. 2001, Rn. 368. 26 Näher F.-C. Schroeder, „Darf die StPO von ,Tätern‘ sprechen?“, NJW 2000, 2483 m.w. N. in Fn. 3. 19

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3. Einzelne Mindestrechte, Art. 6 Abs. 3 EMRK Schaut man sich weiter die in Abs. 3 des Art. 6 EMRK hervorgehobenen Mindestrechte näher an, so kann man zu jedem der dort unter den Buchstaben a bis e aufgezählten wenigstens eines finden, zu dem die StPO zumindest in Spannung steht bzw. stand: a) Bekanntgabe der Beschuldigung, Art. 6 Abs. 3 Buchst. a EMRK (1) Innerhalb möglichst kurzer Frist In deutlicher Abhebung der Formulierung in Art. 6 Abs. 3 Buchst. a EMRK, der von der Bekanntgabe der erhobenen Beschuldigungen „innerhalb möglichst kurzer Frist“ spricht, redet § 163a Abs. 1 Satz 1 StPO davon, der Beschuldigte sei „spätestens vor dem Abschluss der Ermittlungen zu vernehmen“27. (2) In einer dem Beschuldigten verständlichen Sprache Art. 6 Abs. 3 Buchst. a EMRK gibt dem Beschuldigten weiter das Recht, über die Beschuldigungen in einer ihm verständlichen Sprache unterrichtet zu werden. Weigend hat dazu formuliert28: „. . . aus Art. 6 Abs. 3 lit. a EMRK [folgt] für den nicht Sprachkundigen ein klarer Rechtsanspruch auf Übersetzung der Beschuldigung – ein Anspruch, der sich für das deutsche Recht sonst allenfalls unverbindlich aus Nr. 181 RiStBV entnehmen läßt.“29 b) Vorbereitung der Verteidigung, Art. 6 Abs. 3 Buchst. b EMRK Das Beschleunigte Verfahren der StPO (§§ 417 ff.) ermöglicht eine Hauptverhandlung selbst gegen den Willen des Beschuldigten sogar schon wenige Stunden nach der Tat („Vom Tatort direkt zum Gericht“30), was durchaus auch mit 27 Näher Frister, „Der Anspruch des Beschuldigten auf Mitteilung der Beschuldigung aus Art. 6 Abs. 3 lit. a EMRK“, StV 1998, 159 ff.; s. auch E. Müller, „Einige Bemerkungen zur Bedeutung der Europäischen Menschenrechtkonvention für das Ermittlungsverfahren in der Bundesrepublik Deutschland“, Festgabe für Koch, 1989, S. 196 f.; Weigend, StV 2000, 385. 28 Weigend, StV 2000, 385 – Hervorhebung von dort. 29 Nr. 181 RiStBV: „(1) Bei der ersten verantwortlichen Vernehmung eines Ausländers ist aktenkundig zu machen, ob der Beschuldigte die deutsche Sprache soweit beherrscht, daß ein Dolmetscher nicht hinzugezogen zu werden braucht. (2) Ladungen, Haftbefehle, Strafbefehle, Anklageschriften und sonstige gerichtliche Sachentscheidungen sind dem Ausländer, der die deutsche Sprache nicht hinreichend beherrscht, mit einer Übersetzung in eine ihm verständliche Sprache bekanntzugeben.“ 30 Berliner Morgenpost vom 2.4.1998.

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manchmal großem Eifer in die Praxis umgesetzt wird31 – das von mir so bezeichnete „besonders beschleunigte Beschleunigte Verfahren“. Dünnebier betonte dagegen schon vor fast 50 Jahren, die „ausreichende Zeit“ des Art. 6 Abs. 3 Buchst. b EMRK bedeute eine Minimalvorbereitungszeit von drei Tagen32. c) Verteidigung, Art. 6 Abs. 3 Buchst. c EMRK (1) Selbstverteidigung Erst die Foucher-Entscheidung des EGMR33 führte 1999 zur Anfügung von Abs. 7 an § 147 StPO, weil das Recht auf Selbstverteidigung in Art. 6 Abs. 3 Buchst. c EMRK ohne Aktenkenntnis nicht gewährleistet sei; ob das nun bestehende Auskunftsrecht den Vorgaben des EGMR genügt, kann mit Fug und Recht bezweifelt werden34 (vgl. auch Art. 6 Abs. 3 Buchst. a EMRK: „. . . in allen Einzelheiten . . . unterrichtet zu werden“). (2) Wahlverteidigung Nicht unproblematisch in Bezug auf das Recht auf freie Verteidigerwahl in Art. 6 Abs. 3 Buchst. c EMRK ist die deutsche Rechtsprechung, wonach der (Wahl-)Verteidiger keinen Anspruch auf Terminabsprache der Hauptversammlung und der Angeklagte kein Recht auf Aussetzung hat35, wenn der Verteidiger – auf den nur 15 Min. gewartet werden muss36! – nicht (rechtzeitig) erscheint37. (3) Pflichtverteidigung Im „Meyer-Goßner“ kann man zum Recht auf Pflichtverteidigung lapidar lesen: „Dass ein mittelloser Angeklagter [in der Revisionshauptverhandlung] ohne

31 Näher Scheffler, „Das ,Beschleunigte Verfahren‘ in Brandenburg aus rechtsstaatlicher Sicht“, NJ 1999, 113 ff.; ders., „Das beschleunigte Verfahren als ein Akt angewandter Kriminalpolitik“, Gedächtnisschrift für Meurer, 2002, S. 437 ff. 32 Dünnebier, „Das beschleunigte Verfahren“, GA 1959, 273; s. auch Vogler, ZStW 82 (1970), 776 f.; Weigend, StV 2000, 386; w. Nachw. bei Scheffler, NJ 1999, 115 Fn. 40. 33 EGMR NStZ 1998, 429. 34 Näher Eisele, JA 2005, 392; vgl. Deumeland, „Schadenersatzanspruch bei Verweigerung des persönlichen Akteneinsichtsrechts des Beschuldigten in Strafverfahren“, r+s 2005, 365: „unvereinbar mit Art. 6 EMRK“. 35 Vgl. Meyer-Goßner, StPO, § 265 Rn. 43 m.w. N. 36 Tolksdorf in Karlsruher Kommentar StPO, 5. Aufl. 2003, § 243 Rn. 16. 37 Näher Gollwitzer in Löwe-Rosenberg, StPO, 25. Aufl. 2004, Art. 6 MRK Rn. 199 m.w. N.

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Verteidiger ist, wenn nicht ausnahmsweise ein Pflichtverteidiger bestellt werden muss, verstößt nicht gegen verfassungsrechtliche Grundsätze (BVerfG NJW 65, 117 . . .), nach Ansicht des EGMR (NStZ 83, 373 [Pakelli] . . .) aber gegen Art. 6 III Buchst. c MRK.“38 Kühl mahnte demzufolge eine Änderung des § 350 StPO an39. d) Zeugen, Art. 6 Abs. 3 Buchst. d EMRK (1) Befragung von Belastungszeugen Das Recht des Angeklagten, Fragen an die Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen, findet man so klar wie in Art. 6 Abs. 3 Buchst. d EMRK nirgends in der StPO ausgesprochen40. Dieses Konfrontationsrecht wird so, wie der EGMR es versteht, von der BGH-Rechtsprechung insbesondere bei gesperrten Zeugen nicht gewährt, wobei hier Einzelheiten im Rahmen der sog. Gesamtbetrachtungslehre (Verfahren muss als Ganzes unfair sein) noch nicht vollständig geklärt sind: Nur dann, wenn die – und sei es indirekte – Befragung von Belastungszeugen nicht staatlich zurechenbar unterblieben ist, darf auf andere Beweismittel – Vernehmungsprotokolle, Zeugen vom Hörensagen – ausgewichen werden41. Die neueste Entwicklung, die Renaissance des verfremdeten Zeugen42 in Abkehr von einem Beschluss des Großen Senates43, ist durch die EGMR-Rechtsprechung vor allem seit dem van Mechelen-Urteil44 zumindest initiiert, wenn nicht erzwungen worden45. (2) Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen Nach Art. 6 Abs. 3 Buchst. d EMRK muss dem Angeklagten weiter die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen „unter denselben Bedingungen“ 38

Meyer-Goßner, StPO, § 350 Rn. 7. Kühl, ZStW 100 (1988), 636. 40 Kühl, ZStW 100 (1988), 415. 41 Näher Esser, Anmerkung zu BGH, Urteil vom 03.12.2004, JR 2005, 248 ff.; Eisele, „Die einzelnen Beschuldigtenrechte der Europäischen Menschenrechtskonvention“, JA 2005, 905 f.; Safferling, „Verdeckte Ermittler im Strafverfahren – deutsche und europäische Rechtsprechung im Konflikt?“, NStZ 2006, 75 ff. 42 BGH NJW 2003, 74; StV 2004, 577. 43 BGHSt 32, 115. 44 EGMR StV 1997, 617. 45 Vgl. BGH StV 2004, 577: „. . . dass eine audiovisuelle Vernehmung besonders gefährdeter Zeugen unter optischer und akustischer Abschirmung nicht nur keinen rechtlichen Bedenken begegnet, sondern sogar – insbesondere im Hinblick auf das Fragerecht des Angeklagten gem. Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRK – rechtlich geboten sein kann.“ 39

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möglich sein wie der Staatsanwaltschaft die Präsentation „ihrer“ Beweispersonen. Inwieweit es mit dieser besonderen Ausprägung des Grundsatzes der Waffengleichheit vereinbar ist, dass der Angeklagte, will er Zeugen gem. § 245 Abs. 2 StPO in der Hauptverhandlung präsentieren, diese mühsam und kostenpflichtig über den Gerichtsvollzieher laden muss (§§ 220 Abs. 2, 38 StPO), ist schwer zu begründen46. Guradze meint denn auch, dass § 220 Abs. 2 StPO gegen Art. 6 Abs. 3 Buchst. d EMRK verstößt47. e) Dolmetscher, Art. 6 Abs. 3 Buchst. e EMRK (1) Unentgeltlichkeit Dass dem Verurteilten wegen Art. 6 Abs. 3 Buchst. e EMRK weder im Strafnoch im Bußgeldverfahren nachträglich die Erstattung der Dolmetscherkosten auferlegt werden darf, musste nach den Urteilen Luedicke u. a.48 sowie Öztürk49 des EGMR erst durch Änderungen des Kostenverzeichnisses zum GKG „klargestellt“50 werden51. (2) „Unterstützung“ Abschließend zu dieser kleinen tour d’horizon: Es ist schon häufiger hinterfragt worden, ob die Regelung des § 259 StPO, wonach dem sprachunkundigen Angeklagten aus den Schlussvorträgen lediglich „die Anträge des Staatsanwalts und des Verteidigers durch den Dolmetscher bekanntgemacht“ werden müssen, dem Recht auf Dolmetscher-„Unterstützung“ in Art. 6 Abs. 3 Buchst. e EMRK genügt52. II. Rahmenbeschlüsse des Rates der Europäischen Union Nun haben nicht nur alle Mitgliedstaaten der EU die EMRK unterzeichnet, sondern diese wird zudem in Art. 6 Abs. 2 EUV ausdrücklich erwähnt53. Auch 46

Vgl. Schlüchter in Systematischer Kommentar StPO, § 245 Rn. 28. Guradze, EMRK, 1968, Art. 6 Anm. 36. 48 EGMR NJW 1979, 1091. 49 EGMR NJW 1985, 1273. 50 Meyer-Goßner, StPO, Art. 6 MRK Rn. 24. 51 Siehe näher Kühl, ZStW 100 (1988), 602 ff. 52 Siehe Julius in Heidelberger Kommentar StPO, 3. Aufl. 2001, § 259 Rn. 1; Dästner in Alternativ-Kommentar StPO, 1993, § 259 Rn. 2; Katholnigg, Strafgerichtsverfassungsrecht, 3. Aufl. 1999, § 185 GVG Rn. 3. 53 „Die Union achtet die Grundrechte, wie sie in der . . . Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind . . .“ 47

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werden die Mindeststandards des Art. 6 EMRK in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union54, so wird jedenfalls betont55, weitgehend aufgegriffen56. Und zur Zeit liegt dem Rat der Vorschlag der Kommission für einen Rahmenbeschluss über bestimmte Verfahrensrechte im Strafverfahren innerhalb der Europäischen Union vor57, durch den, so die Begründung58, „die Übereinstimmung mit der EMRK auf einem einheitlichen Stand erhöht werden“ soll59. Insofern mag man sich zunächst fragen, wie denn die Eingangsthese von der diametralen Blickrichtung zu halten sein könnte. Es soll hier aber um einen anderen Aspekt gehen: Im Rahmen der Dritten Säule der EU, der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen, sind Maßnahmen der Rechtsharmonisierung möglich. Und seit dem Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages 1999 macht Europa, genauer gesagt: der Rat auf Vorschlag der Kommission, den Mitgliedstaaten zunehmend mit dem neuen Instrument des Rahmenbeschlusses konkrete Vorgaben auch hinsichtlich der Formulierung von strafrechtlichen Tatbeständen in Form sog. Mindeststandards. 1. Bestrafung Es fällt zunächst einmal gleich auf, dass die dort regelmäßig aufgenommene Verpflichtung zur Unterstrafestellung nur schwer mit der in Art. 34 Abs. 2 Buchst. b EUV garantierten Freiheit bei der „Wahl der Form und der Mittel“60

54 ABl. C 364/1 vom 18.12.2000 (Art. 47 und 48 EU-Charta); ABl. C 310/52 vom 16.12.2004 (Art. II-107 und II-108 EU-VerfV). 55 Siehe zuletzt T. Walter, „Inwieweit erlaubt die Europäische Verfassung ein europäisches Strafgesetz?“, ZStW 117 (2005), 921. 56 Anders aber Klip, „Strafrecht in der Europäischen Union“, ZStW 117 (2005), 911: „Die EMRK . . . gewährt . . . weit besseren Schutz als die merkwürdige und relativ begrenzte Auswahl an strafrechtlichen Garantien, die in der Charta der EU und im Verfassungsvertrag enthalten sind.“ Vgl. auch Tettinger, „Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union“, NJW 2001, 1011 f. 57 KOM(2004) 328 endg. vom 28. April 2004. 58 Unter 9. 59 Der Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres sah sich in seinem Bericht an das Europäische Parlament (A6-0064/2005 endg., S. 44) allerdings veranlasst, in einem Änderungsantrag die ausdrückliche Aufnahme der Erwägung zu fordern, dass die „in der EMRK verankerten Rechte . . . als Mindestnormen zu betrachten [sind], die die Mitgliedstaaten in jedem Fall genauso achten müssen wie die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte“, offenbar „um zu gewährleisten, dass diese Normen [des Vorschlages für einen Rahmenbeschluss] nicht . . . das durch die EMRK garantierte Schutzniveau der Rechte aushöhlen“ (Begründung, A6-0064/2005 endg., S. 30). Siehe auch die Stellungnahme des Rechtsausschusses (A6-0064/2005 endg., S. 32): „Trotz der unternommenen Anstrengungen, ein faires Verfahren anzuerkennen und zu gewährleisten, ist festzuhalten, dass der von der Kommission formulierte Katalog von Mindestschutzgarantien augenscheinlich unzureichend ist.“

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in Einklang zu bringen ist. Das schärfste Schwert des Staates, das Strafrecht als ultima ratio wird – genaugenommen ohne Rechtsgrundlage – den Mitgliedstaaten oktroyiert. 2. Bekämpfen und Ausmerzen Und es fällt sofort noch etwas auf: Oft wird schon gleich im Titel in „martialischer“61 Ausdrucksweise deutlich gemacht, dass die Lisztsche Vorstellung vom Strafrecht als der Magna Charta des Verbrechers, der noch die EMRK beherrscht, in den Rahmenbeschlüssen des Rates offenbar keine Rolle mehr spielt: Es wurden vielmehr in den letzten Jahren nacheinander Betrüger und Fälscher62, Terroristen63, Menschenhändler64, Schleuser65, Bestecher und Bestechliche66, sexuelle Ausbeuter und Kinderpornographen67 sowie schließlich Meeresverschmutzer68 „bekämpft“69 und der Geldwäsche gar gleich ihre „Ausmerzung“70 angekündigt, „wo auch immer sie vorkommt“. Ich habe an anderer 60 Art. 34 Abs. 2 Buchst. b EUV: „. . . Rahmenbeschlüsse sind für die Mitgliedstaaten hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlassen jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel. Sie sind nicht unmittelbar wirksam . . .“ 61 Hefendehl, „Organisierte Kriminalität als Begründung für ein Feind- oder Täterstrafrecht?“, StV 2005, 156; 158; T. Walter, ZStW 117 (2005), 919; Kühl, „Die strafrechtliche Erfassung von ,Graffiti‘“, Festschrift für Weber, 2004, S. 419. 62 Rahmenbeschluss 2001/413/JI des Rates vom 28. Mai 2001 zur Bekämpfung von Betrug und Fälschung im Zusammenhang mit unbaren Zahlungsmitteln (ABl. L 149/1 vom 2.6.2001). 63 Rahmenbeschluss 2002/475/JI des Rates vom 13. Juni 2002 zur Terrorismusbekämpfung (ABl. L 164/3 vom 22.6.2002). 64 Rahmenbeschluss 2002/629/JI des Rates vom 19. Juli 2002 zur Bekämpfung des Menschenhandels (ABl. L 203/1 vom 1.8.2002). 65 Rahmenbeschluss 2002/946/JI des Rates vom 28. November 2002 betreffend die Verstärkung des strafrechtlichen Rahmens für die Bekämpfung der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt (ABl. L 328/1 vom 5.12.2002). 66 Rahmenbeschluss 2003/568/JI des Rates vom 22. Juli 2003 zur Bekämpfung der Bestechung im privaten Sektor (ABl. L 192/54 vom 31.7.2003). 67 Rahmenbeschluss 2004/68/JI des Rates vom 22. Dezember 2003 zur Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung von Kindern und der Kinderpornographie (ABl. L 13/ 44 vom 20.1.2004). 68 Rahmenbeschluss 2005/667/JI des Rates vom 12. Juli 2005 zur Verstärkung des strafrechtlichen Rahmens zur Bekämpfung der Verschmutzung durch Schiffe (ABl. L 255/164 vom 30.9.2005). 69 Vgl. dazu Jakobs, „Terroristen als Personen im Recht?“, ZStW 117 (2005), 839 – Hervorhebung von dort: „Wenn die Gesetze nicht die Terroristen, sondern den Terrorismus nennen, . . . so verschlägt das nichts: Es handelt sich um Strafgesetze, und Strafe gilt nun einmal nicht dem Terrorismus, sondern den Terroristen.“ Sinngemäß Gleiches ist für die Rahmenbeschlüsse zu sagen, die von der „Bekämpfung“ anderer Phänomene sprechen.

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Stelle die Nähe der dieser Sprachwelt zugrundeliegenden Vorstellungen zum Feindstrafrecht Jakobsscher Interpretation dargelegt71. Um Bürgerrecht und Bürgerrechte geht es hier wie dort nicht. 3. Mindesthöchststrafen Aber es geht noch weiter: Zahlreiche dieser Rahmenbeschlüsse kreieren auch gleich sog. Mindesthöchststrafen, fordern also nicht nur die Mitgliedstaaten auf, durch Strafrecht zu bekämpfen, sondern geben auch gleich vor, wieviel Strafe denn wenigstens angedroht werden muss72. Nun wäre eine Harmonisierung der Strafandrohungen eigentlich in umgekehrter Weise zu erwarten gewesen. Weil der Gegenstandsbereich der bisherigen Rahmenbeschlüsse zu Straftatbeständen 70 Rahmenbeschluss 2001/500/JI des Rates vom 26. Juni 2001 über Geldwäsche sowie Ermittlung, Einfrieren, Beschlagnahme und Einziehung von Tatwerkzeugen und Erträgen aus Straftaten (ABl. L 182/1 vom 5.7.2001); Rahmenbeschluss 2005/212/JI des Rates vom 24. Februar 2005 über die Einziehung von Erträgen, Tatwerkzeugen und Vermögensgegenständen aus Straftaten (ABl. L 68/49 vom 15.3.2005). 71 Scheffler, „Freund- und Feindstrafrecht“, Festschrift für Schwind, 2006, S. 123 ff.; s. auch Sinn, „Moderne Verbrechensverfolgung – auf dem Weg zu einem Feindstrafrecht?“, ZIS 2006, 112 zum „Bekämpfungsvokabular“: „Nun soll . . . nicht behauptet werden, dass sich die Europäische Union im Zustand eines Feindstrafrechts befindet, allerdings kann auch nicht geleugnet werden, dass sich unionsweit Feindbilder entwickelt haben.“ 72 Siehe Art. 2 des Rahmenbeschlusses 2001/500/JI des Rates vom 26. Juni 2001 über Geldwäsche sowie Ermittlung, Einfrieren, Beschlagnahme und Einziehung von Tatwerkzeugen und Erträgen aus Straftaten (ABl. L 182/1 vom 5.7.2001); Art. 5 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/475/JI des Rates vom 13. Juni 2002 zur Terrorismusbekämpfung (ABl. L 164/3 vom 22.6.2002); Art. 3 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/629/JI des Rates vom 19. Juli 2002 zur Bekämpfung des Menschenhandels (ABl. L 203/1 vom 1.8.2002); Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/946/JI des Rates vom 28. November 2002 betreffend die Verstärkung des strafrechtlichen Rahmens für die Bekämpfung der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt (ABl. L 328/1 vom 5.12.2002); Art. 4 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2003/568/JI des Rates vom 22. Juli 2003 zur Bekämpfung der Bestechung im privaten Sektor (ABl. L 192/54 vom 31.7.2003); Art. 5 Abs. 1, Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2004/68/JI des Rates vom 22. Dezember 2003 zur Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung von Kindern und der Kinderpornographie (ABl. L 13/44 vom 20.1.2004); Art. 4 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3, Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2004/757/JI des Rates vom 25. Oktober 2004 zur Festlegung von Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen im Bereich des illegalen Drogenhandels (ABl. L 335/8 vom 11.11.2004); Art. 3 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2005/212/JI des Rates vom 24. Februar 2005 über die Einziehung von Erträgen, Tatwerkzeugen und Vermögensgegenständen aus Straftaten (ABl. L 68/49 vom 15.3.2005); Art. 6 Abs. 2, Art. 7 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2005/222/JI des Rates vom 24. Februar 2005 über Angriffe auf Informationssysteme (ABl. L 69/67 vom 16.3.2005); Art. 4 Abs. 1, Abs. 4, Abs. 5, Abs. 6, Abs. 7, Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2005/667/JI des Rates vom 12. Juli 2005 zur Verstärkung des strafrechtlichen Rahmens zur Bekämpfung der Verschmutzung durch Schiffe (ABl. L 255/164 vom 30.9. 2005).

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weitgehend identisch ist mit dem Anwendungsbereich zu den Katalogtaten in Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses zum Europäischen Haftbefehl73 (und auch denen in Art. 3 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses zum sog. Arrestbefehl74, in Art. 5 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses zur gegenseitigen Vollstreckung75 sowie in Art. 16 Abs. 2 des Rahmenbeschluss-Entwurfs für die Europäische Beweisordnung76) wäre es eigentlich naheliegend erschienen, sich eher Gedanken um Höchstmindeststrafen oder Höchsthöchststrafen zu machen77, um das von Schünemann mal so genannte „Prinzip der maximalen Punitivität“ einzudämmen78. 4. Mindesttrias Und schließlich: In den Rahmenbeschlüssen wird regelmäßig gefordert79, die anzudrohenden Strafen müssten abschreckend, wirksam (bzw. effektiv) und angemessen (bzw. verhältnismäßig) sein. 73 Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. L 190/1 vom 18.7.2002). 74 Rahmenbeschluss 2003/577/JI des Rates vom 22. Juli 2003 über die Vollstreckung von Entscheidungen über die Sicherstellung von Vermögensgegenständen oder Beweismitteln (ABl. L 196/45 vom 2.8.2003). 75 Rahmenbeschluss 2005/214/JI des Rates vom 24. Februar 2005 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen (ABl. L 76/16 vom 22.3.2005). 76 Vorschlag der Kommission für einen Rahmenbeschluss des Rates für die Europäische Beweisordnung zur Erlangung von Sachen, Schriftstücken und Daten zur Verwendung in Strafverfahren (KOM(2003) 688 endg. vom 14.11.2003); s. näher Gazeas, „Die Europäische Beweisanordnung – Ein weiterer Schritt in die falsche Richtung?“, ZRP 2005, 18 ff.; Ahlbrecht, „Der Rahmenbeschluss-Entwurf der Europäischen Beweisanordnung – eine kritische Bestandsaufnahme“, NStZ 2006, 70 ff. 77 Vgl. Vogel, „Harmonisierung des Strafrechts in der Europäischen Union“, GA 2003, 316. 78 Schünemann, „Europäischer Haftbefehl und EU-Verfassungsentwurf auf schiefer Ebene“, ZRP 2003, 187. 79 Siehe Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2000/383/JI des Rates vom 29. Mai 2000 zur Geldfälschung (ABl. L 140/1 vom 14.6.2000); Art. 6 des Rahmenbeschlusses 2001/413/JI des Rates vom 28. Mai 2001 zur Bekämpfung von Betrug und Fälschung im Zusammenhang mit unbaren Zahlungsmitteln (ABl. L 149/1 vom 2.6. 2001); Art. 5 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/475/JI des Rates vom 13. Juni 2002 zur Terrorismusbekämpfung (ABl. L 164/3 vom 22.6.2002); Art. 3 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/629/JI des Rates vom 19. Juli 2002 zur Bekämpfung des Menschenhandels (ABl. L 203/1 vom 1.8.2002); Art. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/ 946/JI des Rates vom 28. November 2002 betreffend die Verstärkung des strafrechtlichen Rahmens für die Bekämpfung der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt (ABl. L 328/1 vom 5.12.2002); Art. 5 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2003/80/JI des Rates vom 27. Januar 2003 über den Schutz der Umwelt durch das Strafrecht (ABl. L 29/55 vom 5.2.2003); Art. 4 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2003/568/JI des Rates vom 22. Juli 2003 zur Bekämpfung der Bestechung im privaten Sektor (ABl. L 192/54 vom 31.7.2003); Art. 6 Abs. 1 des Rahmen-

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Diese „Mindesttrias“ ist allerdings keine Erfindung des Rates, der sie zwar auch schon in Gemeinsamen Maßnahmen, den Vorläufern der Rahmenbeschlüsse nach dem Vertrag von Maastricht von 1992, verwendete80, sondern stammt aus der Rechtsprechung des EuGH und taucht dort das erste Mal81 1989 im sog. Mais-Urteil82 und seitdem immer wieder83 auf. Auch in Art. 2 Abs. 1 des Übereinkommens vom 26. Juli 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der EG84 findet sich die Mindesttrias schon85. Nun klingt diese Mindesttrias gerade durch den Terminus „angemessen“ eigentlich recht harmlos. Der scheint nämlich auf das Übermaßverbot hinzuweisen und könnte somit gar als Ausfluss der Menschenrechte und Grundfreiheiten interpretiert werden. Doch dies täuscht. „Im Verständnis des EuGH lassen sich die drei Voraussetzungen ,wirksam, verhältnismäßig und abschreckend‘ inhaltlich kaum voneinander unterscheiden“, meint Weigend 86. Gröblinghoff, der sich in seiner Dissertation näher mit dem Dreiklang beschäftigte, versuchte dennoch eine Abgrenzung87: Unter „Abschreckung“ sei das Abhalten potentieller Täter beschlusses 2005/222/JI des Rates vom 24. Februar 2005 über Angriffe auf Informationssysteme (ABl. L 69/67 vom 16.3.2005); Art. 4 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1, Abs. 5 des Rahmenbeschlusses 2005/667/JI des Rates vom 12. Juli 2005 zur Verstärkung des strafrechtlichen Rahmens zur Bekämpfung der Verschmutzung durch Schiffe (ABl. L 255/164 vom 30.9.2005). 80 Siehe Titel II Abschnitt B Buchst. b der Gemeinsamen Maßnahme 97/154/JI vom 24. Februar 1997 betreffend die Bekämpfung des Menschenhandels und die sexuelle Ausbeutung von Kindern (ABl. L 63/2 vom 4.3.1997); Art. 2 Abs. 1 und Art. 3 der Gemeinsamen Maßnahme 98/733/JI vom 21. Dezember 1998 betreffend die Strafbarkeit der Beteiligten an einer kriminellen Vereinigung in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (ABl. L 351/1 vom 29.12.1998). 81 Vgl. Weigend, „Mindestanforderungen an ein europaweit geltendes harmonisiertes Strafrecht“, in: Strafrecht und Kriminalität in Europa, hrsg. von Zieschang/Hilgendorf/Laubenthal, 2003, S. 59; Tiedemann, „Gegenwart und Zukunft des Europäischen Strafrechts“, ZStW 116 (2004), 953. 82 Urteil vom 21. September 1989 in der Rechtssache 68/88, Kommission/Griechenland, Slg. 1989, 2965, Rn. 24. 83 Siehe etwa Urteil vom 10. Juli 1990 in der Rechtssache C-326/88, Hansen, Slg. 1990, I-2911, Rn. 17; Urteil vom 26. Oktober 1995 in der Rechtssache C-36/94, Siesse, Slg. 1995, I-3573, Rn. 20; Urteil vom 27. Februar 1997 in der Rechtssache C177/95, Ebony Maritime und Loten Navigation, Slg. 1997, I-1111, Rn. 35; Urteil vom 30. September 2003 in der Rechtssache C-167/01, Inspire Art, Slg. 2003, I-10155, Rn. 62. 84 ABl. C 316/49 vom 27.11.1995. 85 „Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen um sicherzustellen, dass die . . . genannten Handlungen durch wirksame, angemessene und abschreckende Strafen geahndet werden können . . .“ 86 Weigend in: Strafrecht und Kriminalität in Europa, S. 79 Fn. 109; vgl. auch Gröblinghoff, Die Verpflichtungen des deutschen Strafgesetzgebers zum Schutze der Interessen der Europäischen Gemeinschaften, 1996, S. 37: „Jedes der Merkmale ist unbestimmt“. 87 A. a. O., S. 25 f.

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vom Verstoß durch Furcht vor Strafe (negative Generalprävention) zu verstehen; Wirksamkeit bedeute in Abgrenzung zur Abschreckung, „daß die Sanktion geeignet sein muß, den einzelnen von weiteren Verstößen abzuhalten (Spezialprävention) und die Allgemeinheit durch angemessene Sanktionsnormen und deren gleichmäßige Übung zur freiwilligen Einhaltung dieser Normen zu bringen (positive Generalprävention)“. Die Angemessenheit schließlich, und die interessiert hier vor allem, beziehe sich auf die Schwere des Verstoßes. Ähnlich betont auch Satzger, der Wirksamkeit und Abschreckung als ein zusammengehöriges Kriterium behandelt88, dass die Angemessenheit die in „Beziehung zur Zuwiderhandlung . . . mindestens erforderliche Strafdrohung“ betrifft89. Es geht danach also nicht darum, mit „angemessen“ eine Obergrenze der nationalen Sanktion festzulegen, sondern es soll eine Bagatellisierung europarechtlicher Verstöße durch die Androhung unangemessen niedriger Sanktionen untersagt werden90, es ist mithin der Ausschluss von unwirksamen, nicht abschreckenden Strafen beabsichtigt. „[Der EuGH] versteht . . . die [Angemessenheit] als Mindesterfordernis (Untergrenze der Sanktionierungspflicht)“, fasst auch Hecker zusammen91. Gemeint ist folglich nicht das Übermaß-, sondern das Untermaßverbot, also die Mindestmindeststrafe! 5. Ausweitungen Das deutsche Strafrecht ist jedenfalls infolge der Rahmenbeschlüsse in diesem noch jungen Jahrtausend schon einige Male geändert worden; besser gesagt wurde das StGB durch Ausweitungen der strafbaren Handlungen, insbesondere tatbestandliche Vorverlagerungen, sowie Erhöhungen der Strafandrohungen verändert – zur Eindämmung der Strafbarkeit oder Verfolgbarkeit gaben die Rahmenbeschlüsse des Rates – anders als die EMRK des Europarates – bislang keinen Anlass. Ohne hier auf Einzelheiten einzugehen92, sei nur an das Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. Juni 2002 zur Terrorismusbekämpfung vom 22. Dezember 200393, das Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses des Rates der EU vom 28. Mai 2001 zur Bekämpfung von Betrug und Fälschung im Zusammenhang mit unbaren Zahlungsmitteln (35. StÄndG) vom gleichen Tag94 sowie das 37. StrÄndG – §§ 180b, 181 StGB –95 88

Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts, 2001, S. 368. Satzger, a. a. O., S. 372. 90 Weigend in: Strafrecht und Kriminalität in Europa, S. 79. 91 Hecker, Europäisches Strafrecht, 2005, § 7 Rn. 68. 92 Näher Hecker, a. a. O., § 11; Scheffler, Gesetzgebungstechnik in Deutschland und Europa, 2006, S. 98 ff.; ders. in: Festschrift für Schwind, 2006, S. 127 ff. 93 BGBl. I, S. 2836. 94 BGBl. I, S. 2838. 95 BGBl. 2005 I, S. 240. 89

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vom 11. Februar 2005, das den Rahmenbeschluss zur Bekämpfung des Menschenhandels umgesetzt hat, erinnert. Kurz etwas genauer erwähnen möchte ich einen gerade brandaktuellen, Ihnen bestimmt nicht allen schon bekannten deutschen Referentenentwurf eines Gesetzes zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses zur Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung von Kindern und der Kinderpornographie96, der offenbar die Liberalisierung des Sexualstrafrechts durch das 4. Strafrechtsreformgesetz von 1974 im Jugendbereich zurücknehmen will – oder besser gesagt: zurücknehmen muss! Sollte dieser Entwurf Gesetz werden, so würde – bei angedrohter Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren! – auch der 18-Jährige „bekämpft“, der eine 17-Jährige mit „Hintergedanken“ zu einer Cola einlädt97, oder der 17-Jährige, der seine gleichaltrige Freundin in „eindeutiger“ Pose nur für sich fotografiert98 – das kommt einer Harmonisierung auch gleich noch mit dem Sexualstrafrecht mancher islamischer Staaten nahe! Schlussbetrachtung Wie weit sich EG/EU von der Pflege der Grundfreiheiten gedanklich entfernt haben, sei abschließend kurz mit den Empfehlungen der Kommission – also zur Abwechselung mal von dem Organ, das die erwähnten Rahmenbeschlüsse des Rates vorbereitet hat – zu „Durchsetzungsmaßnahmen im Bereich der Straßenverkehrssicherheit“99 illustriert: Dort heißt es in Empfehlung 8, es sei „. . . sicherzustellen, dass die Sanktionen für Geschwindigkeitsüberschreitungen, Alkohol am Steuer und Nichtbeachtung der Gurtpflicht effektiv, angemessen und abschreckend sind“. Unmissverständlich wird den Mitgliedstaaten „empfohlen“, selbst die Bagatelle Nichtanschnallen „durch effektive, angemessene und ab96

BMJ Referat II A 2 – Stand: März 2006. „A. Problem und Ziel: Der Rahmenbeschluss 2004/68/JI des Rates der Europäischen Union vom 22. Dezember 2003 zur Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung von Kindern und der Kinderpornographie (ABl. EU L 13 vom 20. Januar 2004, Seite 44) ist nach dessen Artikel 12 Abs. 1 bis zum 20. Januar 2006 umzusetzen. Dazu wird es erforderlich sein, den strafrechtlichen Schutz des § 182 Abs. 1 Nr. 1 StGB (sexuelle Handlungen mit Personen unter sechzehn Jahren unter Ausnutzung einer Zwangslage oder gegen Entgelt) auf die Altersgruppe der Sechzehn- und Siebzehnjährigen zu erstrecken und den Versuch des Sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen in diesen Fällen unter Strafe zu stellen.“ 98 Es heißt weiter unter „Problem und Ziel“: „Die Umsetzung des Rahmenbeschlusses erfordert außerdem die Erweiterung des Anwendungsbereichs der Strafvorschriften gegen Verbreitung, Erwerb und Besitz kinderpornographischer Schriften auf pornographische Schriften, die sexuelle Handlungen von Jugendlichen (Personen zwischen vierzehn und achtzehn Jahren) zum Gegenstand haben.“ 99 Empfehlung der Kommission vom 21. Oktober 2003 zu Durchsetzungsmaßnahmen im Bereich der Straßenverkehrssicherheit (2004/345/EG) (ABl. L 111/75; teilweise abgedruckt in BA 42 [2005], 146 f.). 97

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schreckende Sanktionen zu ahnden“, anstatt „nur eine Verwarnung auszusprechen“100, und dafür Sorge zu tragen, dass auch hier „bei schweren Verstößen . . . die Möglichkeit besteht, die Fahrerlaubnis vorübergehend oder definitiv einzuziehen oder das betreffende Fahrzeug stillzulegen“101. Das in verschiedenen Mitgliedstaaten existente Opportunitätsprinzip kümmert nicht. Und kein Wort auch dazu, ob die eine oder andere von der Kommission „empfohlene“ Maßnahme – Alkoholüberprüfungen Unverdächtiger, Sanktionierung Nichtüberführter bei einem Tempoverstoß, Bestrafung des eigentlich keine Rechtsgüter Dritter gefährdenden102 Gurtmuffels – vielleicht die in der EMRK genannten Mindeststandards, etwa die Unschuldsvermutung, oder auch nur den in dem einen oder anderen Mitgliedstaat darüber hinausgehenden Bestand an Bürgerrechten und Grundfreiheiten tangieren könnte103. Und: Eine – dann verbindliche – Richtlinie wird den Mitgliedstaaten schon für den Misserfolgsfall angekündigt104. Mit anderen Worten betreibt die Europäische Union die, wie Vogel es formuliert hat, „extensive“ Mindestharmonisierung des mitgliedstaatlichen Strafrechts und nicht, wie aber der Europarat mit der EMRK, die „limitative“ Mindestharmonisierung105; es geht, mit Ambos gesprochen106, „in bemerkenswerter terminologischer Umkehrung dessen, was sonst üblicherweise mit Mindestvorschriften – nämlich ein rechststaatlicher Mindeststandard – gemeint ist“, um Mindestbestrafung: Die Mindeststandards des Europarates beschränken die Strafverfolgung – die Mindeststandards (insbesondere) des Rates der Europäischen Union beschränken dagegen die Grenzen der Strafverfolgung! Was die eingangs angesprochenen Anpassungsfragen des nationalen Rechts angeht, meint nun Ambos, die Mindeststandards der EMRK müssten „in praktische Konkordanz mit Art. 29 ff. EUV gebracht werden“107. Das ist zwar sicher richtig. Das Rekurrieren auf das von Hesse in das deutsche Verfassungsrecht eingeführte Prinzip der Praktischen Konkordanz bedeutet letzlich jedoch nichts anderes, als dass im Kollisionsfall auch die menschenrechtlichen Mindestgarantien der EMRK den Mindestbekämpfungs- und Mindestausmerzungsobsessionen

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Grund 9. Empfehlung 8. 102 Siehe aber BVerfGE 59, 275 (279). 103 Näher dazu Scheffler, „Gedanken anläßlich der Beschlüsse des AK VI ,Verkehrsüberwachung in Deutschland und Europa‘ des 43. VGT“, BA 42 (2005), 116 ff. 104 „Die Kommission verpflichtet sich hiermit: . . . 5. einen Vorschlag für eine Richtlinie auszuarbeiten, die darauf abzielt, das Ziel einer Verringerung um 50% zu erreichen, falls die im vorausgehenden Absatz genannten Verbesserungen nicht erreicht werden.“ 105 Vogel, GA 2003, 316. 106 Ambos, Internationales Strafrecht, § 12 Rn. 7. 107 Ambos, a. a. O. 101

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der EU weichen müssen108. Für die deutsche Strafrechtswissenschaft in ihrer liberal-rechtsstaatlichen Tradition und für die polnische in ihrem eher noch jungen Selbstverständnis, die beide ohnehin schon in ihren Heimatrechtsordnungen heftige Abwehrkämpfe gegen restaurative kriminalpolitische Bestrebungen zu bestreiten haben, kann es deshalb nur heißen: Beziehen wir nachdrücklich Position gegen den oktroyierten Harmonisierungswahn der Europäischen Union im Bereich unserer (nationalen) Strafrechtsordnungen, für die wir uns verantwortlich fühlen müsssen!

108 Vgl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 72 – Hervorhebung von dort: „. . . beiden Gütern müssen Grenzen gezogen werden . . .“

B. Spezielle Probleme der Europäisierung des Strafrechts mit materiell-rechtlichem Ausgangspunkt

Europäisierung des Strafrechts im Bereich der Geldwäsche Rechtsstaatliche Anfragen an die Geldwäscheregelungen in Polen und Deutschland Joanna Długosz Im Rahmen dieses Beitrags1 wird untersucht, wie die Fassung der polnischen und der deutschen Geldwäschevorschrift aus rechtsstaatlicher Perspektive zu beurteilen ist. Abgestellt wird zunächst auf die Darstellung der diesbezüglich problematischen Aspekte des objektiven und subjektiven Geldwäschetatbestands. Der Schwerpunkt dieses Vortrags liegt aber in der Bewertung der schrankenlosen Einbeziehung der Strafverteidiger in den Geltungsbereich der Geldwäschevorschriften. I. Einleitung Das Verbot eines Verhaltens mit Mitteln des Strafrechts bedeutet grundsätzlich immer einen Eingriff in einen verfassungsrechtlich geschützten Bereich. Das staatliche Verbot einer Handlung stellt nämlich zugleich eine Einschränkung der Freiheit des Einzelnen dar und greift in die verfassungsrechtlich geschützte Lebensgestaltung ein. Die Anordnung von Strafbarkeit muss daher im Hinblick auf das Bestimmtheitsgebot und das Rechtsstaatsprinzip an bereits festgelegten gesetzlichen Vorgaben, insbesondere an den Grundrechten, gemessen werden und darf den verfassungsrechtlichen Regelungen nicht entgegenstehen. Aus diesem Grunde erscheint es erforderlich, die verfassungsrechtlich bedenklichen Aspekte der polnischen und der deutschen Geldwäschenorm unter dem Gesichtspunkt ihrer Übereinstimmung mit rechtsstaatlichen Grundsätzen zu überprüfen.

1 Der Aufsatz stützt sich im Wesentlichen auf Thesen, die von der Verfasserin im Rahmen ihrer an der Juristischen Fakultät der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) im Sommersemester 2006 vorgelegten Dissertation „Europäisierung des polnischen Strafrechts im Bereich der Geldwäsche; unter vergleichender Berücksichtigung der deutschen Rechtslage“ entwickelt wurden.

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II. Rechtsstaatliche Anfragen an die Fassung der Geldwäschetatbestände (Art. 299 KK2 /§ 261 StGB3) Vergleicht man die beiden Geldwäschenormen, so werden zugleich erhebliche Unterschiede im Hinblick auf die Fassung der Tatbestände deutlich. Rechtsstaatlich problematische Aspekte ergeben sich in diesem Zusammenhang sowohl in Bezug auf den objektiven als auch auf den subjektiven Tatbestand. In objektiver Hinsicht können rechtsstaatliche Bedenken insbesondere bezüglich der Fassung der polnischen Norm auftauchen. Gemeint sind an dieser Stelle primär die schrankenlose Erfassung der geldwäschetauglichen Vortaten, der eingeschränkte Katalog der geldwäschetauglichen Tatobjekte (jedoch mit der Voraussetzung der Herkunft der Tatobjekte aus den in Verbindung mit der Begehung einer verbotenen Tat erlangten Vorteilen), sowie die Unbestimmtheit des Tatbestandsmerkmals des „Herrührens“. Bezüglich der bereits genannten problematischen Aspekte des objektiven Tatbestandes lassen sich m. E. folgende Thesen aufstellen. Zum einen erscheint die schrankenlose Erfassung der möglichen Vortaten einer Geldwäsche völlig sachgerecht und weist einen ausreichenden rechtsstaatlichen Hintergrund auf, indem sie eine umfassende Bekämpfung aller einer Geldwäsche dienenden verbrecherischen Tätigkeiten gewährleistet4. Ferner ist eine restriktive Aufzählung der geldwäschetauglichen Tatobjekte in Art. 299 KK durchaus als unbefriedigend zu bewerten. Art. 299 KK enthält einen geschlossenen Katalog, in dem alle geldwäschetauglichen vermögenswerten Gegenstände enumerativ genannt werden. Es ist jedoch festzuhalten, dass sogar bei einem abstrakt normierten Katalog in der Praxis immer wieder Einzelfälle auftreten werden, die sich nicht subsumieren lassen, so dass eine ständige Anpassung an die aktuelle kriminologische Entwicklung unabdingbar wird. M. E. lässt sich daher die im Rahmen der polnischen Geldwäschenorm vorgenommene Einschränkung der geldwäscherelevanten Tatobjekte aus rechtsstaat2 Ustawa Kodeks Karny (Gesetz: Das polnische Strafgesetzbuch) vom 06.06.1997, Dz. U. (Gesetzblatt) 1997, Nr. 88, Pos. 553 mit späteren Änderungen. 3 Strafgesetzbuch vom 15.05.1871, RGBl. S. 127 ff. in der Fassung der Bekanntmachung vom 10.03.1987, BGBl. I 1987, S. 954 ff. mit späteren Änderungen. 4 Für die uneingeschränkte Ausrichtung des Anwendungsbereichs des Art. 299 KK auf alle verbotenen Taten spricht ferner, dass bei jedem aus einer verbrecherischen Tätigkeit stammenden Gegenstand die Notwendigkeit für den Täter besteht, den kriminellen Ursprung des Gegenstandes zu verheimlichen. Aus diesem Grunde wäre es nicht angezeigt, nur eine bestimmte Gruppe von Deliktsformen gegenüber anderen Straftaten als geldwäschetauglich zu behandeln. Überdies ist die kriminelle Herkunft eines Gegenstandes unteilbar, so dass die Unterscheidung zwischen dem Vermögen „verschiedener Qualität“, d.h. geldwäschetauglich und geldwäscheuntauglich, sich schwerlich begründen lässt. Eine solche Erfassung steht auch mit den Vorgaben der dritten Geldwäscherichtlinie der EU im Einklang.

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licher Perspektive keineswegs begründen. Der Katalog der Tatobjekte des Art. 299 KK ist deshalb – entsprechend der korrespondierenden deutschen Regelung – auf sämtliche vermögenswerten Gegenstände auszudehnen, die einen kriminellen Ursprung aufweisen, sowie – entsprechend den Vorgaben der Geldwäscherichtlinie von 20055 – im Falle eines Verdachts der Terrorismusfinanzierung auf diejenigen, die auf legale Weise erlangt wurden, wobei die Tatobjekte mit einem direkten kriminellen Ursprung durch die polnische Geldwäschevorschrift ebenfalls – sogar in erster Linie – erfasst werden sollen6. Darüber hinaus ist noch kurz auf die Auslegungsschwierigkeiten des sowohl in der deutschen als auch in der polnischen Geldwäschenorm enthaltenen, nur schwer bestimmbaren Tatbestandsmerkmals des „Herrührens“ hinzuweisen7. M. E. soll die Auslegung dieses Merkmals einer wirtschaftlichen Bewertung im Einzelfall vorbehalten bleiben, wobei die Annahme einer Kontaminierung erst dann begründet ist, wenn der inkriminierte Anteil aus wirtschaftlicher Sicht nicht völlig unerheblich erscheint8. Eine solche Auslegungsmethode eignet sich nämlich dazu, einen vernünftigen Auslegungsmaßstab zu entwickeln sowie dem weit gefassten Tatbestandsmerkmal des „Herrührens“ schärfere Konturen zu verleihen9. Ferner kann damit dem Vorwurf der mangelnden gesetzlichen Be-

5 Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.10.2005 zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung (2005/60/EG), EABl. L. 309 vom 25.11.2005, S. 15 ff. (sog. dritte Geldwäscherichtlinie). 6 In diesem Zusammenhang ist auf die Meinung von Wojciechowski hinzuweisen, wonach die polnische Geldwäschevorschrift überhaupt nur dann Anwendung findet, wenn die dort genannten Tatobjekte indirekt aus den mit einer verbotenen Tat – d. h. aus den mit ihr verbundenen Vorteilen – herrühren, da deren direkte verbrecherische Herkunft eher zu der Annahme einer Hehlerei (Art. 291 KK) führen müsse, vgl. Wojciechowski, Kodeks karny. Komentarz (Strafgesetzbuch. Kommentar), Warszawa 2000, S. 564. Dieser Meinung ist jedoch nicht zu folgen. Zum einen erscheint der Hehlereitatbestand für eine effektive Bekämpfung des Phänomens der Geldwäsche nicht ausreichend. Überdies besteht keine sachliche Rechtfertigung für eine unterschiedliche Behandlung von Ursprungsgegenständen einerseits und Surrogaten bzw. vermischten Vermögenswerten andererseits. Schließlich eröffnet die Mindermeinung eine Möglichkeit, manche geldwäschetauglichen Verhaltensweisen für straflos zu erklären, und zwar nur aus dem Grunde, dass deren Tatobjekte direkt aus einer verbotenen Tat stammen. Dies widerspricht gänzlich dem Sinn und Zweck der Geldwäschevorschrift, der darin liegt, an alle Vermögensgegenstände anknüpfen zu können, die wirtschaftlich gesehen mittels eines Umwandlungsprozesses die gewaschenen Werte ersetzen sollen. 7 Kurz zu erwähnen ist allerdings, dass auch der europäische Normgeber diesen unscharfen Begriff in die sog. dritte Geldwäscherichtlinie eingeführt hat, ohne ihn näher zu präzisieren. 8 In diesem Sinne auch die neueste Rechtsprechung in Deutschland, vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 20.01.2005 – 3 Ws. 108/04, wistra 2005, S. 189 ff. 9 Kritisch dazu allerdings im deutschen Schrifttum Dionyssopoulou, die die Tauglichkeit der wirtschaftlichen Betrachtungsweise als eines geeigneten Kriteriums im Hinblick auf die weite Fassung der Geldwäschevorschrift im Vergleich zu anderen An-

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stimmtheit entgegengetreten werden. Zwar wird eine solche Vorgehensweise in jedem Einzelfall zu einem unterschiedlichen Ergebnis führen; damit soll aber auch dem gesetzgeberischen Willen Rechnung getragen werden, durch den Begriff des „Herrührens“ eine möglichst umfangreiche Anzahl von Fallkonstellationen zu erfassen. Eine im Voraus festgelegte anteilsmäßige Aufteilung würde nämlich der ratio legis der Geldwäschenorm zuwiderlaufen und wäre deswegen verfehlt10. Schließlich ist noch auf die im Rahmen des subjektiven Tatbestands entstehenden Schwierigkeiten einzugehen. Im Falle des § 261 StGB taucht nämlich die Problematik der Bestrafung wegen Leichtfertigkeit11 im Hinblick auf die schlussdelikten bestreitet, vgl. Dionyssopoulou, Der Tatbestand der Geldwäsche, Frankfurt am Main 1999, S. 88 ff. 10 Eine andere Meinung wird teilweise in der deutschen Lehre vertreten, wonach die Vermischung der aus bemakelten und unbemakelten Werten bestehenden Geldbeträge auf einem Bankkonto nur dann zu einer Gesamtkontamination führt, wenn die Überweisungen bzw. andere Transaktionen von diesem Konto den Anteil des legalen Kontostandes übersteigen. Diese Auffassung ist jedoch abzulehnen, und zwar deshalb, weil sie die Möglichkeit eröffnet, die inkriminierten Vermögensgegenstände durch die Vermischung mit legalem Vermögen und nachfolgender sukzessiver Aufteilung bzw. Umwandlung dem Bemakelungszusammenhang zu entziehen. Zu der Mindermeinung siehe Burr, Geldwäsche, eine Untersuchung zu § 261 StGB, Bonn 1994, S. 76; Maiwald, „Auslegungsprobleme im Tatbestand der Geldwäsche“, in: Hirsch-FS, Weigend/ Küpper (Hrsg.), Berlin 1999, S. 640 ff.; Schönke/Schröder/Stree, StGB-Kommentar, 27. Auflage, München 2006, § 261, Rn. 9. Siehe ferner Leip, Der Straftatbestand der Geldwäsche. Zur Auslegung des § 261 StGB, Berlin 1995, S. 110 ff. 11 Der Begriff der Leichtfertigkeit wird nicht einhellig interpretiert. Der h. M. zufolge entspricht er inhaltlich dem Begriff der groben Fahrlässigkeit aus dem bürgerlichen Recht, wobei hinsichtlich der Vorhersehbarkeit des Taterfolgs auf subjektive Kriterien abgestellt wird. Leichtfertig handelt daher derjenige, der infolge grober Achtlosigkeit die sich ihm aufdrängende Möglichkeit des Erfolgseintritts außer Acht lässt, oder derjenige, der eine besonders bedeutsame Schutzpflicht in ungewöhnlich hohem Maße verletzt. Somit ist darunter ein besonderer Leichtsinn oder eine besondere Gleichgültigkeit zu verstehen. Vgl. auch BGHSt 33, 67; 20, 323; BT-Drucksache 12/ 3533, S. 14. Siehe auch Dionyssopoulou, Der Tatbestand, S. 142 ff.; Flatten, Zur Strafbarkeit von Bankangestellten bei der Geldwäsche, Frankfurt am Main 1996, S. 111; Hoyer-SK, 2. Auflage, Frankfurt am Main 1994, § 261, Rn. 27; Höreth, Die Bekämpfung der Geldwäsche unter Berücksichtigung einschlägiger ausländischer Vorschriften und Erfahrungen, Tübingen 1996, S. 156 ff.; Kern, Geldwäsche und organisierte Kriminalität, Regensburg 1993, S. 176; Körner/Dach, Geldwäsche. Leitfaden zum geltenden Recht, München 1994, S. 36; Lang/Schwarz/Kipp, Regelungen zur Bekämpfung der Geldwäsche, Stuttgart 1999, S. 150 ff.; Leip, Der Straftatbestand, S. 228; Oswald, Die Implementation gesetzlicher Maßnahmen zur Bekämpfung der Geldwäsche in der Bundesrepublik Deutschland, Freiburg 1997, S. 73; Spiske, Pecunia olet? Der neue Geldwäschetatbestand § 261 StGB im Verhältnis zu den §§ 257, 258, 259 StGB, insbesondere zur straflosen Ersatzhehlerei, Frankfurt am Main 1998, S. 150 f.; Suendorf, Geldwäsche. Eine kriminologische Untersuchung, Neuwied 2001, S. 265; Tröndle/Fischer, Kommentar zum StGB, 51. Auflage, München 2003, § 261 Rn. 42; Werner, Bekämpfung der Geldwäsche in der Kreditwirtschaft, Freiburg im Breisgau 1996, S. 245 ff.; Winkler, Die Strafbarkeit des Strafverteidigers jenseits der Strafvereitelung, Hamburg 2005, S. 211.

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kriminelle Herkunft der geldwäschetauglichen Gegenstände auf. Von manchen Autoren wird hervorgehoben, dass die Eingrenzungsfunktion, die dem subjektiven Tatbestand im Rahmen der weit gefassten Geldwäschenorm zukommt, durch die extensive Fassung des Begriffs einer Leichtfertigkeit bei der Geldwäsche beeinträchtigt wird12. Dem kann jedoch nicht zugestimmt werden. Gerade im Hinblick auf die Gefahr einer zu weitgehenden Auslegung des § 261 StGB hat der deutsche Gesetzgeber auf die Bestrafung wegen einfacher Fahrlässigkeit verzichtet und nur die leichtfertige Unkenntnis der kriminellen Herkunft von Tatobjekten einer Geldwäsche unter Strafe gestellt. Zudem besteht immer noch das Vorsatzerfordernis im Hinblick auf die Geldwäschehandlung. Die Kriminalisierung der Leichtfertigkeit bei der Geldwäsche erscheint daher zumindest als rechtsstaatlich vertretbar. Damit wird auch der ursprünglichen Intention des Gesetzgebers, mit der Geldwäschevorschrift zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität beizutragen, angemessen Rechnung getragen, ohne den legalen Wirtschaftsverkehr über Gebühr zu beeinträchtigen und die daran beteiligten Personen einem ungerechtfertigt erhöhten Strafbarkeitsrisiko auszusetzen. III. Rechtsstaatliche Anfragen an die uneingeschränkte Einbeziehung der Strafverteidiger in den Geltungsbereich der Geldwäschevorschriften in Deutschland und Polen Die Problematik der Einbeziehung der Strafverteidiger in den Geltungsbereich der Geldwäschevorschriften ist im Gesetzgebungsverfahren nicht explizit behandelt worden. Sie taucht jedoch insbesondere im Zusammenhang mit der Problematik der Annahme von Verteidigerhonoraren auf und ist insofern von Bedeutung, als bei der Geldwäsche zunehmend auf Unternehmen außerhalb des Finanzsektors zurückgegriffen wird, wobei auch Rechtsanwälte und Notare der Gefahr ausgesetzt sind, von ihren Mandanten zu Geldwäschezwecken missbraucht zu werden13. Auf die Angehörigen der rechtsberatenden Berufe – darunter insbesondere auf die Strafverteidiger – bezogen muss in erster Linie betont werden, dass ihre verfassungsrechtliche Aufgabe im Schutz von Beschuldigteninteressen besteht14. 12

Vgl. etwa Lang/Schwarz/Kipp, Regelungen, S. 226 f. Das Ausmaß und der Inhalt der Gefährdung, die für Rechtsanwälte, Steuerberater, Notare und Wirtschaftsprüfer von der Geldwäsche ausgeht, wurde im Rahmen einer Untersuchung des Max Planck Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht, die vom Justizministerium in Auftrag gegeben worden war, im Detail aufgearbeitet. Der Bericht ist abrufbar unter: http://www.bmj.bund.de/media/archive/878.pdf. Siehe auch Financial Action Task Force on Money Laundering, Report on Money Laundering Typologies 2000–2001, FATF-XII vom 01.02.2001, S. 12 ff. 14 Zu den Aufgaben des Strafverteidigers siehe näher Wolf, Das System des Rechts der Strafverteidigung. Die Struktur der gesetzlichen Regelung und ihre Bedeutung für die Praxis, Frankfurt/Oder 2000, S. 13 ff. 13

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Schwierigkeiten in diesem Bereich ergeben sich jedoch insofern, als bei wörtlicher Anwendung der Geldwäschevorschrift der Strafverteidiger bei der Aufnahme einer Wahlverteidigung15 dem Risiko unterliegt, selbst unter Geldwäscheverdacht zu geraten, wenn er das ihm vertragsgemäß zustehende Honorar entgegennimmt. Noch komplizierter wird die Situation des Geheimnisverrats, wenn der Verteidiger einen Geldwäscheverdacht im Hinblick auf sich oder seinen Mandanten melden müsste, um für sich selbst Straflosigkeit oder zumindest eine Strafmilderung zu erreichen. Es liegt auf der Hand, dass in den bereits genannten Fallkonstellationen von dem Verteidiger und von dem Mandanten entgegengesetzte Interessen verfolgt werden16. Aus diesem Grunde ist die Inanspruchnahme von Strafverteidigern zur Überwachung ihrer eigenen Mandanten verfassungspolitisch und verfassungsrechtlich durchaus bedenklich. In Bezug auf die Geldwäschestrafbarkeit ist nach dem deutschen Strafrecht für den Strafverteidiger vor allem der Tatbestand des § 261 Abs. 2 StGB problematisch. Er ermöglicht die Bestrafung der Annahme des vertraglich vereinbarten Honorars wegen Geldwäsche, falls diese Geldmittel in einem Zusammenhang mit einer Geldwäschevortat stehen. Die Annahme von inkriminiertem Geld auf eigene Rechnung als Honorar (Sich-Verschaffen) bzw. auf fremde Rechnung als Treuhandverwahrung (Verwahren) begründet eine Strafbarkeit des Verteidigers gem. § 261 Abs. 2 StGB, wenn er den illegalen Ursprung des Geldes gekannt oder ihn zumindest für möglich gehalten und gebilligt hat. Noch komplizierter wird es jedoch im Hinblick auf die Bestrafung der Leichtfertigkeit i. S. v. Absatz 5 des § 261 StGB. Aus dieser Regelung können sich nämlich schwerwiegende Konsequenzen für den professionellen Strafverteidiger ergeben, die in einer erheblichen Ausweitung des Strafbarkeitsrisikos für ihn zu resultieren drohen17, weil der Strafverteidiger im Gegensatz zu anderen möglichen Geschäftspartnern der Straftäter in den meisten Fällen über die Einnahmequellen seines Mandanten informiert ist und somit grundsätzlich als eine Vertrauensperson seines Mandanten fungiert. Dieses Sonderwissen kann also leicht zu seinen Lasten gehen, indem einerseits durch die Einleitung von Ermittlungen gegen ihn sein Ruf erheblich geschädigt und andererseits das Entstehen eines Vertrauensverhältnisses mit dem Mandanten verhindert werden kann. 15

Näher zu der Wahlverteidigung siehe etwa Wolf, Das System, S. 210 ff. Vgl. Balzer, Die berufstypische Strafbarkeit des Verteidigers unter besonderer Beachtung des Problems der Begehung von Geldwäsche (§ 261 StGB) durch Honorarannahme, Aachen 2004, S. 445 ff.; Winkler, Strafbarkeit des Strafverteidigers, S. 168. 17 Vgl. Balzer, Die berufstypische Strafbarkeit, S. 248; Burmeister/Uwer, „Auswirkungen des Geldwäschebekämpfungsgesetzes auf die wirtschaftsanwaltliche Beratung“, AnwBl 2004, S. 205; Bussenius, Geldwäsche und Strafverteidigerhonorar, Baden-Baden 2004, S. 23; Müther, „Verteidigerhonorar und Geldwäsche“, Jura 2001, S. 320; Otto, „Das Strafbarkeitsrisiko berufstypischen, geschäftsmäßigen Verhaltens“, JZ 2001, S. 439; Winkler, Strafbarkeit des Strafverteidigers, S. 170; Wohlers, „Entscheidungen-Strafrecht. Anmerkung“, JZ 2004, S. 678. 16

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Die Geldwäschestrafbarkeit des Strafverteidigers aufgrund des polnischen Rechts folgt in erster Linie aus dem Tatbestand des Art. 299 § 1 KK. Weitere Tatbestände dieser Vorschrift sind auf die Angehörigen der rechtsberatenden Berufe regelmäßig nicht anwendbar, weil sie als Amtsdelikte konstruiert wurden und ausschließlich Mitarbeiter eines Finanz- oder Kreditinstituts bzw. einer anderen zur Transaktionsregistrierung verpflichteten Institution erfassen. Art. 299 § 1 KK ermöglicht dagegen die Bestrafung der Annahme von geldwäschetauglichen Gegenständen. Als weitere geldwäscherelevante Tathandlungen kommen die Unterstützung bei der Übertragung des Eigentums oder des Besitzes an Tatobjekten einer Geldwäsche sowie die Vornahme bestimmter Handlungen, die eine der in Art. 299 § 1 KK aufgeführten Tätigkeiten, insbesondere die Feststellung der Aufdeckung der geldwäscherelevanten Tatobjekte, negativ beeinflussen bzw. beeinflussen können, in Betracht. Hervorzuheben ist jedoch, dass nach den Vorschriften des polnischen Rechts die Ausführung der Tathandlungen aus Art. 299 § 1 KK durch den Verteidiger – wie durch jeden anderen Täter – vorsätzlich erfolgen muss. Die Strafbarkeit des Verteidigers ist mithin nur dann begründet, wenn er die illegale Herkunftsquelle seines Honorars gekannt oder sie zumindest billigend für möglich gehalten hat. Die Einnahmequellen des Mandanten müssen also dem Verteidiger in diesem Sinne bekannt sein. Fahrlässigkeit (bzw. die nach dem deutschen Recht strafbare Leichtfertigkeit) bezüglich dieser Tatsache gehen mithin nicht zu Lasten des Verteidigers18. Vor diesem Hintergrund wäre somit festzuhalten, dass im Gegensatz zu der deutschen Rechtslage das Strafbarkeitsrisiko für den Strafverteidiger nach polnischem Recht nicht erheblich ausgedehnt wurde. Die Schaffung einer Sonderstellung für den Strafverteidiger durch die Herausnahme der Honorarannahme aus der Geldwäschestrafbarkeit ist somit in Polen nicht zwingend erforderlich. Als problematisch könnten sich jedoch solche Fälle erweisen, in denen der Strafverteidiger durch die Preisgabe der ihm von seinem Mandanten anvertrauten Informationen selbst in den Geldwäscheverdacht gerät. Zu prüfen ist daher, ob die Offenbarung der Mandantengeheimnisse eine Rechtsgrundlage im geltenden Recht findet, die den Verteidiger von den negativen Folgen dieser Aufdeckung befreien könnte.

18 Es muss jedoch hervorgehoben werden, dass sogar das Bewusstsein der illegalen Herkunft der Vermögensgegenstände selbst keine obligatorische, sondern lediglich eine gesellschaftliche Pflicht zur Benachrichtigung der für die Strafverfolgung zuständigen Organe begründet, vgl. Art. 304 § 1 der polnischen Strafprozessordnung (KPK). Siehe auch Filipkowski/Prokop, „Wolne zawody prawnicze a przeciwdziałania praniu pienie˛dzy“ (Juristische Freiberufe und die Verhinderung der Geldwäsche), Pan´stwo i Prawo 2/2006, S. 81 f.

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1. Polnische Rechtslage In Bezug auf die Lösung des oben dargelegten Problems kommen in erster Linie die Regelungen des polnischen Rechtsanwaltschaftsgesetzes19 in Betracht. In diesem Regelungswerk ist nämlich die anwaltliche Geheimhaltungspflicht verankert, wonach der Rechtsanwalt grundsätzlich zur Geheimhaltung aller im Zusammenhang mit der Rechtsberatung erlangten Informationen verpflichtet ist (Art. 6 Abs. 1)20. Die Verschwiegenheitspflicht wird also in dieser Vorschrift als Bestandteil der anwaltlichen Berufspflichten anerkannt21. Die Zulässigkeit der Geheimnisverletzung könnte sich jedoch aus der letzten Novellierung des Rechtsanwaltschaftsgesetzes22 ergeben, indem zu Art. 6 des Gesetzes ein Absatz 4 hinzugefügt wurde, wonach die Geheimhaltungspflicht für Rechtsanwälte in bestimmten, im Gesetz von 200023 normierten Fällen aufgehoben wurde24. Analysiert man jedoch die Bestimmungen des Gesetzes von 2000, so wird deutlich, dass diese in das Rechtsanwaltschaftsgesetz neu eingefügte Regelung für die Fälle der Erlangung der Kenntnis über die illegale Honorarherkunft eher 19 Ustawa Prawo o adwokaturze (Rechtsanwaltschaftsgesetz) vom 26.05.1982, Dz. U. (Gesetzblatt) 2002, Nr. 123, Pos. 1058 mit späteren Änderungen. 20 In Art. 6 des Rechtsanwaltschaftsgesetzes wird diese Verpflichtung wörtlich als die sog. anwaltliche Geheimhaltung genannt. 21 Ergänzend ist noch auf § 51 des Gesetzbuchs der Anwaltsethik hinzuweisen, wonach das Verhältnis zwischen dem Rechtsanwalt und dem Mandanten sich auf das Vertrauen stützt. Dabei wird in der polnischen Rechtsprechung die Ansicht vertreten, dass als Konsequenz des Vertrauensverlusts die Kündigung der Vollmacht seitens des Rechtsanwalts gelten soll, vgl. dazu Beschluss der polnischen Hauptanwaltskammer vom 10.10.1998, Nr. 2/XVIII/98. 22 Vgl. Art. 2 des vorstehend erwähnten Änderungsgesetzes zum Gesetz von 2000. Siehe ferner Filipkowski/Prokop, Pan´stwo i Prawo 2/2006, S. 80; Kalwas, „Ograniczenie tajemnicy zawodowej wolnych zawodów prawniczych w ustawie o przeciwdziałaniu praniu pienie˛dzy“ (Die Einschränkung der beruflichen Geheimhaltung der juristischen Freiberufe im Gesetz über die Verhinderung der Geldwäsche), Glosa 6/2004, S. 4 f. 23 Ustawa o przeciwdziałaniu wprowadzaniu do obrotu finansowego wartos´ci maja˛tkowych pochodza˛cych z nielegalnych lub nieujawnionych z´ródeł oraz o przeciwdziałniu terroryzmu (Gesetz über die Verhinderung der Einführung der aus illegalen oder nicht ermittelbaren Quellen stammenden Vermögenswerte in den Finanzverkehr und der Finanzierung des Terrorismus) vom 16.11.2000, Dz. U. (Gesetzblatt) 2000, Nr. 116, Pos. 1216 mit späteren Änderungen, insbesondere der Novellierung vom 05.03.2004, Dz. U. (Gesetzblatt) 2004, Nr. 62, Pos. 577 (sog. Gesetz von 2000). 24 Art. 6 Abs. 4 des Rechtanwaltschaftsgesetzes lautet: „Von der anwaltlichen Geheimhaltungspflicht werden nicht die Informationen erfasst, die aufgrund der Vorschriften des Gesetzes vom 16.11.2000 über die Verhinderung der Einführung der aus illegalen oder nicht ermittelbaren Quellen stammenden Vermögenswerte in den Finanzverkehr und der Finanzierung des Terrorismus (Dz. U. 2003, Nr. 153, Pos. 1505 und 2004, Nr. 62, Pos. 577) in dem von diesen Vorschriften bestimmten Rahmen angezeigt werden“. Kritisch zu dieser Norm siehe Kunicka-Michalska, in: Wa˛sek (Hrsg.), Kodeks karny. Cze˛s´c´ szczególna. Komentarz. Tom II (Strafgesetzbuch. Besonderer Teil. Kommentar. Band II), Warszawa 2005, S. 546.

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eine geringe praktische Bedeutung aufweist. Ein solches Bewusstsein gehört nämlich in den meisten Fällen zu solchen Informationen, die im Rahmen der Vertretung des Mandanten in einem Verfahren erworben wurden, und begründet daher gemäß Art. 11 Abs. 5 des Gesetzes von 2000 25 keine Anzeigepflicht. Die Offenbarung der im Rahmen des Mandatsverhältnisses erworbenen Kenntnisse ist mithin aufgrund des Rechtsanwaltschaftsgesetzes nicht zulässig26. Hervorzuheben ist zudem, dass der Geheimnisverrat eine Straftat im Sinne von Art. 266 KK darstellt, wonach die Offenbarung und Verwertung von Dienst- und Berufsgeheimnissen unter Strafe gestellt wird. Mithin wird dem Strafverteidiger nach den Vorschriften des geltenden polnischen Rechts der Geheimnisverrat verboten. 25 Laut Art. 11 Abs. 5 des Gesetzes von 2000 sind Rechtsanwälte, Rechtsberater, ausländische Juristen, Wirtschaftsprüfer und Steuerberater von der Anzeigepflicht bezüglich der durch die Vorschriften dieses Gesetzes erfassten Informationen ausgenommen, soweit sie ihren Mandanten aufgrund einer Prozessvollmacht in Verbindung mit dem Verfahrensablauf vertreten oder einen dem Zwecke des Verfahrens dienenden Rat erteilen. 26 An dieser Stelle ist noch das im polnischen Schrifttum umstrittene Verhältnis der Vorschriften der polnischen Strafprozessordnung (KPK) im Bereich der Vernehmung von Zeugen zur anwaltlichen Geheimhaltungspflicht zu erörtern. Laut Art. 178 Pkt. 1 KPK darf ein Verteidiger über Tatsachen, die er bei der Erteilung von Rechtsrat oder bei der Führung der Sache erfahren hat, nicht als Zeuge vernommen werden. Die Offenbarung der Mandantengeheimnisse wird jedoch in Art. 180 § 2 KPK zugelassen, indem Personen, die zur Wahrung eines Notar-, Anwalts-, Rechtsberater-, Arzt- oder Journalistengeheimnisses verpflichtet sind, über Tatsachen, auf die sich die Geheimhaltungspflicht erstreckt, nur dann vernommen werden dürfen, wenn dies im Interesse der Rechtspflege unerlässlich ist und der betreffende Umstand anhand eines anderen Beweismittels nicht ermittelt werden kann. Es besteht daher ein Spannungsverhältnis zwischen den Regelungen der beiden Vorschriften und denen des Rechtsanwaltschaftsgesetzes, das keine Befreiung von der anwaltlichen Geheimhaltungspflicht vorsieht. In der Literatur wird vorwiegend die Ansicht vertreten, dass die Regelungen des Rechtsanwaltschaftsgesetzes eine lex specialis gegenüber den allgemeinen Vorschriften des KPK (ius commune) sind und somit den Rechtsanwalt ausnahmslos zur Geheimhaltung verpflichten. Diese Problematik wurde auch zum Gegenstand eines Beschlusses des Polnischen Obersten Gerichts (Sa˛d Najwyz˙ szy), siehe Beschluss des Obersten Gerichts vom 16.06.1994, I KZP 5/94, OSNK 1994, Pos. 41. In dieser Entscheidung wurde zwar zugestanden, dass der Strafverteidiger im Rahmen der Verteidigung über Tatsachen, die durch die Geheimhaltungspflicht erfasst werden, nicht vernommen werden darf. Zugelassen wurde jedoch die Vernehmung von dem Rechtsanwalt, der nicht im Rahmen der Verteidigung, sondern lediglich als Bevollmächtigter handelt. Aus dieser Entscheidung ergibt sich daher, dass die anwaltliche Geheimhaltungspflicht keinen absoluten Charakter aufweist. Zu diesem Problem vgl. näher Brocławik, „Prawnokarne aspekty ochrony tajemnicy osób s´wiadcza˛cych pomoc prawna˛“ (Strafrechtliche Aspekte der anwaltlichen Geheimhaltung), Czasopismo Prawa Karnego i Nauk Penalnych 1/2000, S. 201 ff.; Kunicka-Michalska, in: Wa˛sek (Hrsg.), S. 546 f.; Krzemin´ski, Prawo o adwokaturze. Komentarz (Rechtsanwaltschaftsgesetz. Kommentar), Warszawa 1998, S. 31 ff. m.w. N. Zur Problematik des Art. 180 § 2 KPK in diesem Zusammenhang siehe Urteil des polnischen Verfassungsgerichtshofs (TK) vom 22.11.2004, SK 64/03, Dz. U. (Gesetzblatt) 2004, Nr. 255, Pos. 2568. Vgl. ferner Kalwas, Glosa 6/ 2004, S. 5.

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Es stellt sich aber zugleich die Frage nach der Möglichkeit einer Rechtfertigung der Offenbarungshandlungen des Verteidigers. In diesem Zusammenhang könnte die Regelung des Art. 299 § 8 KK anwendbar sein, der einen persönlichen Strafaufhebungsgrund normiert. Fraglich ist daher, ob diese Regelung dem Strafverteidiger zugute kommen kann. Um sich jedoch auf diese Vorschrift berufen zu können, müsste der einer Straftat aus Art. 299 § 1 KK verdächtige Strafverteidiger entsprechende Informationen über seinen an der Begehung derselben Straftat beteiligten Mandanten sowie über die Umstände der Begehung dieser Straftat offenbaren und auf diese Art und Weise die Begehung einer anderen Straftat27 verhindern. Wie jedoch bereits festgestellt, kann eine solche Offenbarung von Informationen sowohl zu berufsrechtlichen als auch zu strafrechtlichen Konsequenzen führen. Aus dem bisher Gesagten folgt daher, dass die Umstände des Geheimnisverrats durch den Strafverteidiger die Anwendung des Art. 299 § 8 KK nicht zulassen. Eine Rechtsgrundlage für die Aufdeckung der im Rahmen einer Verteidigung oder sonstigen Vertretung erworbenen Informationen über den Mandanten kann sich aber möglicherweise aus den Regelungen des bereits erwähnten Gesetzes von 2000 ergeben. Das Gesetz enthält nämlich eine Reihe von Verpflichtungen, die den sog. verpflichteten Institutionen, zu denen auch die Angehörigen der rechtsberatenden Berufe gehören, im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeiten auferlegt wurden (Art. 2 Pkt. 1)28. 27 Gemeint ist hier sowohl die Geldwäschestraftat als auch jede andere Straftat, ohne Rücksicht darauf, ob sie in einem Zusammenhang mit der Geldwäschehandlung steht, vgl. Góral, Kodeks karny. Praktyczny komentarz z orzecznictwem (Das Strafgesetzbuch. Praktischer Kommentar mit Rechtsprechung), Warszawa 2005, S. 500; Górniok u. a., Kodeks karny. Komentarz karny. Komentarz (Das Strafgesetzbuch. Kommentar), Gdan´sk 2005, S. 460; Zawłocki, in: Wa˛sek (Hrsg.), Kodeks karny. Cze˛s´c´ szczególna. Komentarz. Tom II (Strafgesetzbuch. Besonderer Teil. Kommentar. Band II), Warszawa 2005, S. 1229 f. Eine abweichende Meinung vertritt Marek, der unter einer anderen Straftat, eine Geldwäschevortat subsumiert, aus welcher die illegalen Vermögenswerte herrühren, vgl. Marek, Komentarz do Kodeksu Karnego. Cze˛s´c´ szczególna (Kommentar zum Strafgesetzbuch. Besonderer Teil), Warszawa 2004, Art. 299, S. 347. Dieser Meinung ist jedoch nicht zu folgen, insbesondere weil Art. 299 Abs. 8 KK keine Anwendung findet, wenn die zu verhindernde Straftat (also die andere Straftat) bereits vollendet wurde. Unbestreitbar ist, dass die Geldwäschevortat zum Zeitpunkt der Ausführung der Geldwäschehandlung bereits begangen ist. Siehe ferner Wróbel, in: Zoll (Hrsg.), Kodeks Karny. Cze˛s´c´ szczególna (Das Strafgesetzbuch. Besonderer Teil), Kraków 1999, S. 361 ff. 28 Die Angehörigen der rechtsberatenden Berufe (Rechtsanwälte, Rechtsberater, ausländische Juristen, Wirtschaftsprüfer und Steuerberater) wurden in den Personenkreis des Gesetzes von 2000 als die sog. verpflichteten Institutionen durch die Novellierung vom 05.03.2004 (Dz. U. (Gesetzblatt) 2004, Nr. 62, Pos. 577) einbezogen. Kritisch zu einer solchen Ausdehnung Kalwas, Glosa 6/2004, S. 4 ff. Nicht erfasst wurden dagegen andere Juristen, die keine Angehörige der in dem Gesetz genannten juristischen Berufszweige sind, jedoch im Rahmen ihrer Geschäftstätigkeit einen rechtlichen Rat erteilen. Bedenken dazu bei Golonka, „Koniecznos´c´ czy przejaw konformizmu? Rozwaz˙ ania na tle obowia˛zku rejestracji transakcji podejrzanych“ (Eine Not-

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Gemäß Art. 8 Abs. 3 des Gesetzes von 2000 wurde allen sog. verpflichteten Institutionen die Verpflichtung zur Registrierung aller Transaktionen auferlegt, deren Umstände darauf hinweisen, dass die Vermögenswerte aus illegalen oder nicht ermittelbaren Quellen stammen, ohne Rücksicht auf den Wert dieser Transaktionen und ihren Charakter29. Zum Zwecke der Erfüllung der Registrierungspflicht werden ferner die Pflicht zur Identifizierung der Kunden (Art. 9) sowie die Anzeigepflicht (Art. 11 i.V. m. Art. 12 Abs. 2) normiert30. Art. 11 Abs. 5 des Gesetzes von 2000 normiert allerdings einen Ausnahmefall von der Anzeigepflicht. Danach sind die selbstständigen Angehörigen der rechtsberatenden Berufe31 durch die Anzeigepflicht nicht erfasst, soweit sie die geldwäscheanfälligen Informationen im Rahmen der Vertretung ihres Mandanten aufgrund einer Prozessvollmacht in Verbindung mit dem Verfahrensablauf oder im Rahmen der dem Zwecke des Verfahrens dienenden Rechtsberatung erlangt haben. Indem die Einnahmequellen des Mandanten üblicherweise zu den Informationen gehören, die im Rahmen der Verteidigung, also im Rahmen der Vertretung des Mandanten in einem Verfahren, erlangt wurden, sind die Offenbarungspflichten des Strafverteidigers bezüglich der Mandantengeheimnisse, darunter auch bezüglich der Informationen über seine Vermögensquellen, nicht erkennbar. Daraus folgt, dass der Strafverteidiger laut der zuvor erwähnten Vorschrift zur Anzeige der erlangten Informationen gegenüber dem Generalinspekteur grundsätzlich nicht verpflichtet ist. Die Aufdeckung der erlangten Kenntnisse über den Mandanten lässt sich somit über die Regelungen des Gesetzes von 2000 nicht wendigkeit oder ein Konformismus? Überlegungen zur Registrierungspflicht der verdächtigen Transaktionen), Palestra 11–12/2005, S. 42. 29 Es muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass das Gesetz von 2000 keine näheren Angaben bezüglich der Präzisierung des Begriffes der verdächtigen Transaktionen enthält, vgl. dazu Golonka, Palestra 11–12/2005, S. 43. Denkbar sind jedoch in erster Linie die Fälle, in denen die Transaktion nicht eindeutig bzw. für die Berufstätigkeit des Kunden untypisch ist, siehe näher Jasin´ski, „Nowe rozwia˛zania prawne w zakresie przeciwdziałania praniu pienie˛dzy“ (Neue Rechtsaspekte im Bereich der Verhinderung der Geldwäsche), Przegla˛d Ustawodawstwa Gospodarczego 4/2002, S. 5; Wójcik, Rozpoznawanie transakcji podejrzanych w praniu pienie˛dzy (Das Erkennen von verdächtigen Transaktionen in der Geldwäsche), in: Adamski (Hrsg.), Przeste˛pczos´c´ gospodarcza z perspektywy Polski i Unii Europejskiej (Wirtschaftskriminalität aus der Sicht Polens und der Europäischen Union), S. 380 ff.; ders., „Weryfikacja podejrzenia popełnienia przeste˛pstwa prania pienie˛dzy“ (Die Überprüfung des Geldwäscheverdachts), Prokuratura i Prawo 9/2005, S. 51 ff. Siehe ferner Filipkowski/Prokop, Pan´stwo i Prawo 2/2006, S. 77; Usowicz, „Prawnicy nie chca˛ donosic´“ (Juristen wollen nicht melden), Gazeta Prawna, 24/2004, S. 18. 30 Kurz zu erwähnen ist dabei, dass die Notare, Rechtsanwälte, Rechtsberater und ausländischen Juristen die aufgrund des Art. 8 Abs. 3 erlangten Informationen von Geldwäscheverdachtsfällen dem sog. Generalinspekteur der Finanzinformation durch die Einschaltung der zuständigen Berufskammer übermitteln können, vgl. Art. 11 Abs. 4 des Gesetzes von 2000. 31 Gemeint sind hier Rechtsanwälte, Rechtsberater, ausländische Juristen, Wirtschaftsprüfer und Steuerberater. Auffallend ist jedoch, dass Notare in diese Ausnahmeregelung nicht einbezogen wurden.

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rechtfertigen. Einzuräumen ist jedoch, dass trotz des Fehlens einer ausdrücklichen Regelung im geltenden Recht die Anwendung des Art. 11 Abs. 5 des Gesetzes von 2000 dann scheitert, wenn der Strafverteidiger mit seinem Mandanten vorsätzlich zum Zwecke der Geldwäsche zusammenarbeitet. In solchen Fällen ist die Geldwäschestrafbarkeit des Verteidigers stets begründet. Aus alledem folgt, dass die Strafverteidiger nach den Vorschriften des geltenden Rechts in Polen der Gefahr ausgesetzt sind, wegen der Begehung einer Straftat durch einen anderen (d.h. ihren Mandanten) in das Strafbarkeitsrisiko wegen Geldwäsche zu geraten32. 2. Deutsche Rechtslage Als eine mögliche Rechtsgrundlage für die Offenbarung der Mandantengeheimnisse sind nach dem deutschen Recht in erster Linie die Regelungen des § 261 Abs. 9 oder 10 StGB denkbar. Schon auf den ersten Blick wird jedoch deutlich, dass sie nur in solchen Fällen anwendbar sind, in denen die Tat noch nicht entdeckt ist. Der Strafverteidiger kommt jedoch üblicherweise erst dann in eine bedrohliche Zwangslage, wenn über einen Anfangsverdacht hinaus gegen ihn ermittelt und die Geldwäsche bereits entdeckt wird, bzw. zu dem Zeitpunkt, in welchem sein wegen einer geldwäschetauglichen Vortat angeklagter Mandant verurteilt wird33. Überdies darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass beide Strafaufhebungsmöglichkeiten ausschließlich durch die Preisgabe von vertraulichen Informationen über den Mandanten zu erreichen sind. Die Offenbarung der im Rahmen des Mandatsverhältnisses erworbenen Kenntnisse durch den Strafverteidiger ist aber grundsätzlich als unbefugt34 im Sinne des § 203 Abs. 1 Nr. 3 32 In der polnischen Literatur werden auch Stimmen erhoben, dass die den selbstständigen Angehörigen von Rechtsberufen auferlegten Pflichten restriktiv zu interpretieren sind, indem ihr Vorhandensein nur in dem Falle bejaht werden soll, in welchem der Rechtsanwalt sich aktiv an den Verhandlungen seines Mandanten beteiligt oder als sein Bevollmächtigter beim Vertragsabschluß handelt. Demnach wären diese Pflichten nur in einem begrenzten Ausmaß verbindlich, d. h. nur dann, wenn die Angehörigen der rechtsberatenden Berufe auf Antrag ihres Mandanten und in seinem Namen handeln. Folgt man der restriktiven Auslegung, so wäre die uneingeschränkte Anwendung der Vorschriften des Gesetzes von 2000 als ein Verstoß gegen das nullum crimen sine lege-Prinzip anzusehen. Die bereits dargelegte Ansicht ist jedoch zu kritisieren. Zunächst ist eine solche einschränkende Auslegung dem Gesetzeswortlaut keineswegs zu entnehmen. Zudem sind in der letzten Novellierung des Gesetzes von 2000, die sowohl die Pflichten der Angehörigen der Rechtsberufe als die der sog. verpflichteten Institutionen normiert, gerade gegenteilige Tendenzen ersichtlich. Überdies erscheint die Einbeziehung der Strafverteidiger in den Rahmen dieser Interpretation durchaus problematisch. 33 Vgl. Gotzens/Schneider, „Geldwäsche durch Annahme von Strafverteidigerhonoraren?“, wistra 2002, S. 129; Winkler, Strafbarkeit des Strafverteidigers, S. 223. 34 Zur Definition der Unbefugtheit siehe z. B. Lackner/Kühl, StGB-Kommentar, 25. Auflage, München 2004, § 203, Rn. 18 ff.; Tröndle/Fischer, Kommentar zum StGB,

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StGB einzustufen und somit strafbar. Will der Verteidiger daher von den persönlichen Strafaufhebungsgründen Gebrauch machen, so macht er sich wegen Geheimnisverrats gemäß § 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB strafbar. Zudem verstößt er gegen Art. 43a Abs. 2 BRAO35. Dementsprechend riskiert er in einem solchen Falle entweder die Anzeige wegen Geldwäsche oder wegen Geheimnisverrats. Ferner ist zu prüfen, ob die durch das Geldwäschegesetz normierte Anzeigepflicht von Verdachtsfällen einer Geldwäsche (§ 11 Abs. 1 GwG) nicht die Offenbarung der Mandantengeheimnisse rechtfertigen kann. Im Geldwäschegesetz wurde den Rechtsanwälten, darunter auch den Strafverteidigern große Beachtung geschenkt sowie ihnen bisher nicht gekannte Pflichten zur Identifizierung und zur geheimen Anzeige auferlegt36. Gemäß § 6 GwG trifft die Rechtsanwälte eine Identifizierungspflicht in Verdachtsfällen einer Geldwäsche oder der Finanzierung einer terroristischen Vereinigung (§ 129 a StGB), selbst wenn bei unbaren Transaktionen der Schwellenbetrag von 15.000 A nicht überschritten wird37. Neben der Identifizierungspflicht besteht für die Anwälte eine Anzeigepflicht von Geldwäscheverdachtsfällen an eine zuständige Bundesberufskammer (§ 11 Abs. 4 GwG). Eine Ausnahme von dieser Pflicht besteht jedoch dann, wenn der Geldwäscheverdacht auf Informationen beruht, die dem Rechtsanwalt im Rahmen der Rechtsberatung oder der Prozessvertretung seines Mandanten bekannt geworden sind, solange der Mandant und der Rechtsanwalt das Mandantenverhältnis nicht einverständlich zum Zwecke der Geldwäsche missbrauchen bzw. der Rechtsanwalt weiß, dass sein Mandant seine Rechtsberatung bewusst zu Geldwäschezwecken in Anspruch nimmt (§ 11 Abs. 3 GwG)38. Diese Vorschrift § 203, Rn. 31 ff. Zu der Frage, ob der Strafverteidiger über eine Befugnis zum Geheimnisverrat verfügt, siehe Bussenius, Geldwäsche, S. 79 ff. Vgl. auch Balzer, Die berufstypische Strafbarkeit, S. 354 f. 35 Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) vom 01.08.1959, BGBl. I 1959, S. 565 ff. mit späteren Änderungen. Nach Art. 43a Abs. 2 BRAO ist der Rechtsanwalt zur Verschwiegenheit verpflichtet. Diese Pflicht bezieht sich auf alles, was ihm in Ausübung seines Berufes bekannt geworden ist. Dies gilt nicht für Tatsachen, die offenkundig sind oder ihrer Bedeutung nach keiner Geheimhaltung bedürfen. 36 Rechtsanwälte sind gemäß § 3 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 GwG als „andere Personen“ vom Anwendungsbereich dieses Regelungswerks voll erfasst, wenn sie in ihrer beruflichen Funktion an dort genannten Tätigkeiten mitwirken. Auffallend ist dabei, dass die typischen Tätigkeiten des Strafverteidigers von diesem Regelungswerk nicht erfasst werden. Erfolgt insbesondere eine Bargeldeinnahme für eigene Zwecke (Honorare, Gebühren, Auslagen), so ist keine Identifizierungspflicht vorgesehen. Dies könnte darauf hinweisen, dass die Honorarannahme im Geldwäschegesetz nicht als Fall einer möglichen Geldwäsche angesehen wurde. 37 Kritisch zu den sich aus dem GwG ergebenden Pflichten, einschließlich ihrer fraglichen Vereinbarkeit mit dem Verfassungsrecht siehe Gräfin von Galen, „Bekämpfung der Geldwäsche – Ende der Freiheit der Advokatur?“, NJW 2003, S. 117; Wittig, „Die staatliche Inanspruchnahme des Rechtsanwalts durch das neue Geldwäschegesetz“, AnwBl 2004, S. 195 ff.

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dient daher dem Schutz des Vertrauensverhältnisses zwischen dem Verteidiger und dem Mandanten. Sie stellt zugleich eine Implementierung des Art. 23 Abs. 2 der dritten Geldwäscherichtlinie der EU dar. Abgesehen von der Situation, in der der Verteidiger zusammen mit seinem Mandanten willentlich zum Zwecke der Geldwäsche handelt, ist davon auszugehen, dass die Erlangung entsprechender Kenntnisse über den Mandanten sowie über die von ihm begangene Vortat üblicherweise im Rahmen der Verteidigung geschieht und sich unter § 11 Abs. 3 GwG subsumieren lässt. Mithin bleibt nichts anderes übrig, als die Anzeigepflicht des Verteidigers für diese Fälle auszuschließen. Die Offenbarung von Mandantengeheimnissen lässt sich dementsprechend über die Regelungen des Geldwäschegesetzes nicht rechtfertigen. Keine Rechtfertigungsgrundlage lässt sich weiterhin auch für die Fälle der Annahme eines „bemakelten“ Honorars durch den zumindest leichtfertig im Hinblick auf dessen Herkunftsquelle handelnden Strafverteidiger finden, so dass – bei einer wortgenauen Auslegung des § 261 StGB – die Geldwäschenorm auf den Verteidiger uneingeschränkt anwendbar ist39. Aus diesem Grunde ist zu untersuchen, ob einerseits ein Bedarf nach einer Privilegierung des Strafverteidigers besteht, und andererseits, inwieweit sich eine solche Bevorzugung argumentativ begründen lässt. Die Problematik der Einbeziehung von Strafverteidigerhonoraren in die Geldwäschestrafbarkeit ist mehrfach in der deutschen Rechtsprechung behandelt worden. Erwähnenswert ist in erster Linie der Beschluss des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg vom 6. Januar 200040, in welchem eine verfas38 Siehe dazu Burmeister/Uwer, AnwBl 2004, S. 202 f.; Sommer, „Geldwäscheanmeldungen und Strafprozess“, StraFo 2005, S. 329 f.; ders., „Geldwäsche. Das Schnüffeln geht weiter“, AnwBl 2005, S. 50; Wittig, AnwBl 2004, S. 195. 39 Im deutschen Schrifttum wird auch die Ansicht vertreten, den Strafverteidiger auf der Ebene der Rechtswidrigkeit über einen spezifisch auf ihn bezogenen und nicht ausdrücklich geregelten Rechtfertigungsgrund, der sich aus der Unschuldsvermutung bzw. aus Grundrechten ergibt, von einer Strafbarkeit freizustellen. Ferner wird versucht, den Strafverteidiger über eine Vorsatzlösung bzw. über die Grundsätze der Interessens- und Güterabwägung zu privilegieren. Näher zu dieser Problematik der verschiedenen Privilegierungswege und Lösungsvorschläge siehe Ambos, JZ 2002, S. 74 ff.; Balzer, Die berufstypische Strafbarkeit, S. 257 f., 342 ff.; Bernsmann, „Das Grundrecht auf Strafverteidigung und die Geldwäsche – Vorüberlegungen zu einem besonderen Rechtfertigungsgrund“, StV 2000, S. 40 ff.; Bussenius, Geldwäsche, S. 49 m.w. N., S. 128 ff.; Fad, „Geldwäsche durch die Annahme bemakelten Geldes durch den Strafverteidiger“, JA 2002, S. 15 f.; Gotzens/Schneider, wistra 2002, S. 129; Grüner/Wasserburg, „Geldwäsche durch die Annahme des Verteidigerhonorars?“, GA 2000, S. 438 ff.; Hefendehl, „Kann und soll der Allgemeine Teil bzw. das Verfassungsrecht missglückte Regelungen des Besonderen Teils retten?“, in: Roxin-FS, Schünemann u. a. (Hrsg.), Berlin 2001, S. 154 ff.; Katholnigg, „Kann die Honorarannahme des Strafverteidigers als Geldwäsche strafbar sein?“, NJW 2001, S. 2042 f.; Müther, Jura 2001, S. 322 f.; Otto, JZ 2001, S. 440; Schmidt, „Geldwäsche und Strafverteidigerhonorar“, JR 2001, S. 449 f.

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sungskonforme Auslegung des § 261 Abs. 2 Nr. 1 StGB vorgeschlagen wurde. Eine Begründung dafür lag darin, dass die uneingeschränkte Anwendung des § 261 Abs. 2 Nr. 1 StGB auf die Honorarannahme mit dem Grundgesetz unvereinbar sei, indem sie die Grundrechte – einerseits das Recht des Strafverteidigers auf die freie Berufsausübung (Art. 12 GG) und andererseits das Recht des Mandanten, sich in jeder Lage des Verfahrens des Beistands eines Verteidigers bedienen zu können (§ 137 Abs. 1 StPO i.V. m. Art. 6 EMRK) – verletze. Indem laut dieser Entscheidung die Strafbarkeit des Verteidigers aus § 261 Abs. 2 Nr. 1 StGB selbst dann zu verneinen sei, wenn der Verteidiger sicher weiß, dass die Mittel, aus denen er bezahlt wird, aus einer geldwäschetauglichen Vortat herrühren41, mag auch nicht verwundern, dass sie in der Literatur auf heftige Kritik gestoßen ist42. Kurz zu erwähnen ist auch die dem Urteil des Oberlandesgerichts Hamburg entgegenstehende Entscheidung des Bundesgerichtshofs in Strafsachen43, in welcher der BGH die uneingeschränkte Anwendbarkeit des § 261 Abs. 2 Nr. 1 StGB angenommen und somit der Privilegierung des Strafverteidigers eine Absage erteilt hat. Begründet wurde dies damit, dass die Privilegierung des Strafverteidigers methodisch unzulässig und zudem auch im Hinblick auf die zahlreichen Fälle des Missbrauchs der Verteidiger als Geldwäscheinstitutionen nicht angemessen sei. Danach hat der Gesetzgeber auch die Strafverteidigerhonorare bewusst unter die Strafandrohung einer Geldwäsche gestellt. Nach der Auffassung des BGH spricht die Fassung der Geldwäschenorm daher gegen eine Sonderstellung der rechtsberatenden Berufe44. 40 Vgl. HansOLG Hamburg, Beschluss vom 06.01.2000 – 2 Ws 185/99, NJW 2000, 673 ff.; StV 2000, 140 ff.; NStZ 2000, 311 ff.; StraFo 2000, 96 ff.; wistra 2000, 105 ff. 41 Vorausgesetzt wird jedoch, dass die aus einer Katalogvortat stammenden Vermögenswerte ausschließlich zum Zwecke der Erfüllung der Honorarforderung des Verteidigers entgegenommen werden, sowie dass durch die Honorarzahlung ein aus der Vortat erwachsener Anspruch des Verletzten weder vorsätzlich noch fahrlässig vereitelt, gefährdet oder erschwert wird. 42 Siehe näher Ambos, „Annahme des ,bemakelten‘ Verteidigerhonorars als Geldwäsche?“, JZ 2002, S. 74 f.; Hamm, „Geldwäsche durch die Annahme von Verteidigerhonorar?“, NJW 2000, S. 637 f.; Katholnigg, NJW 2001, S. 2044 f.; Müther, Jura 2001, S. 320 f.; Reichert, „Entscheidungen-Strafrecht“, NStZ 2000, S. 317; Schaefer/Wittig, „Geldwäsche und Strafverteidiger“, NJW 2000, S. 1388 f.; Winkler, Strafbarkeit des Strafverteidigers, S. 249 f. 43 Vgl. BGH Urteil vom 04.07.2001, 2 StR 513/00; BGHSt 41, 68 ff.; NJW 2001, S. 2891 ff.; StV 2001, S. 506 ff. 44 Näher zu dieser Entscheidung siehe Balzer, Die berufstypische Strafbarkeit, S. 262 f.; Bernsmann, „Die Entscheidung des BGH von 4.07.2001 – eine (polemische) Analyse“, StraFo 2001, S. 344 ff.; Fad, JA 2002, S. 14 ff.; Grüner/Wasserburg, GA 2000, S. 430 ff.; Gotzens/Schneider, wistra 2002, S. 121 ff.; Katholnigg, „Anmerkungen zur Entscheidung des BGH vom 4.07.2001“, JR 2002, S. 30 ff.; Matt, „Geldwäsche durch Honorarannahme eines Strafverteidigers. Besprechung von BGH, Urteil vom 4.07.2001, 2 StR 513/00“, GA 2002, S. 137 ff.; ders., „Verfassungsrechtliche Be-

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Eine verfassungskonforme Auslegung des § 261 Abs. 2 Nr. 1 StGB aufgrund der besonderen Schutzbedürftigkeit des Verteidigungsverhältnisses45 wurde allerdings auch in der Entscheidung des BVerfG vom 30. März 200446 zum Ausdruck gebracht, und zwar mit der Begründung, auf diese Weise einerseits die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in die Berufsausübungsfreiheit des Verteidigers sicherzustellen, andererseits aber den Anspruch des Beschuldigten auf effektive Verteidigung durch einen Verteidiger seines Vertrauens und damit auch auf einen angemessenen Geheimnisschutz zu gewährleisten47. Folgt man den durch das BVerfG entwickelten Leitsätzen, so muss betont werden, dass die Figur der verfassungskonformen Auslegung jedenfalls nicht uneingeschränkt anzuwenden ist. Vielmehr ist ein Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit und somit die Bestrafung aus § 261 Abs. 2 Nr. 1 StGB immer dann zulässig, wenn dem Strafverteidiger zum Zeitpunkt der Entgegennahme der Vergütung bewusst ist, dass sein Honorar aus einer Katalogtat stammt48. Über die Strafwürdigkeit entscheidet also allein das sichere Wissen des Verteidigers. Somit findet der Leichtfertigkeitstatbestand des § 261 Abs. 5 StGB auf die Honorarannahme des Strafverteidigers keine Anwendung und Absatz 2 Nr. 1 dieser Norm führt nur dann zu einer Strafbarkeit, wenn dem Strafverteidiger positives Wissen von der deliktischen Herkunft des Honorars nachgewiesen werden kann. Der Verteidiger darf jedoch seine privilegierte Stellung auch nicht missbrauchen. Nicht mehr schutzwürdig ist er nämlich dann, wenn er wissentlich mit seinem Mandanten zum Zwecke der Geldwäsche zusammenwirkt49. schränkungen der Strafverfolgung von Strafverteidigern“, JR 2004, S. 323; Nestler, „Der Bundesgerichtshof und die Strafbarkeit des Verteidigers wegen Geldwäsche“, StV 2001, S. 641 ff. 45 Diese Schutzbedürftigkeit folgt daraus, dass der Strafverteidiger als Prozesssubjektsgehilfe des Beschuldigten dessen verfassungsrechtlich (Art. 2 Abs. 1 GG i.V. m. dem Rechtsstaatsprinzip) geschützten und menschenrechtlich (Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK) verbürgten Anspruch auf effektive Verteidigung durch einen Verteidiger seines Vertrauens zu gewährleisten hat, vgl. Grüner/Wasserburg, GA 2000, S. 433 ff.; Müssig, „Strafverteidiger als ,Organ der Rechtspflege‘ und die Strafbarkeit wegen Geldwäsche“, wistra 2005, S. 203; Wohlers, „Entscheidungen-Strafrecht. Anmerkung“, JZ 2004, S. 679. 46 Vgl. BVerfG, Urteil vom 3.03.2004 – 2 BvR 1520/01 u. 2 BvR 1521/01, NJW 2004, 1305 ff.; StV 2004, 254 ff.; JZ 2004, 670 ff.; NStZ 2004, 259 ff. Erwähnenswert ist, dass diese Entscheidung auf die gegen das Urteil des 2. Senats des Bundesgerichtshofes vom 4. Juli 2001 erhobenen Verfassungsbeschwerden ergangen ist. 47 Vgl. BVerfG NJW 2004, 1311 f. Siehe ferner Matt, JR 2004, S. 324 f.; Müssig, wistra 2005, S. 203; Wohlers JZ 2004, S. 678 f. 48 Vgl. BVerfG NJW 2004, 1311. 49 Die vorgeschlagene Lösung wurde allerdings weitgehender Kritik ausgesetzt. Einwände entstehen insbesondere in Bezug darauf, dass das BVerfG den Stellenwert der aus § 261 Abs. 2 Nr. 1 StGB folgenden Einschränkung der Berufsausübungsfreiheit des Strafverteidigers gegenüber der Beeinträchtigung des Beschuldigtenanspruchs auf effektive Strafverteidigung durch einen Verteidiger des Vertrauens überbewertet hat. Ferner bestehen keine hinreichenden Argumente dafür, den Strafverteidiger in be-

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IV. Schlussfolgerungen Aus den bereits dargestellten Erwägungen folgt, dass die Lösung der Honorarannahmeproblematik auch ohne gesetzgeberische Änderungen möglich ist50. Unbestreitbar ist zunächst, dass die ausschließlich nach dem reinen Wortlaut der Geldwäschenorm interpretierte Rechtslage keinesfalls hingenommen werden kann. Aus diesem Umstand ergibt sich die Notwendigkeit der Einschränkung des weit gefassten Anwendungsbereichs der Geldwäschenorm. Die Herausnahme des Verteidigerhonorars aus dem Anwendungsbereich der Geldwäschevorschrift kann jedoch nur im Wege einer verfassungs- und konventionskonformen Auslegung des Tatbestandes erreicht werden, indem man erkennt, dass eine Norm ihrer ratio legis nach dann nicht zur Anwendung kommen kann, wenn dies zum Schutz vorrangiger (hier: verfassungsrechtlicher) Interessen geboten ist51. Da eine Tatbestandsreduktion jedoch nur dann zulässig ist, wenn sie sich zwar unterhalb des Wortlauts des Gesetzes, aber noch innerhalb des feststellbaren Willens der Gesetzgebung bewegt52, sind bei der verfassungskonformen Auslegung der Geldwäschevorschrift gewisse Beschränkungen in sachlicher und in personeller Hinsicht zu berücksichtigen53. In personeller Hinsicht ist eine solche Privilegierung des Strafverteidigers nur dann möglich, wenn er sein Honorar direkt vom Mandanten bekommt. Keine Bevorzugung greift daher ein, wenn die Honorierung von einem Dritten bzw. wenn die Zahlung nicht für eine Verteidigung erfolgt54. In sachlicher Hinsicht dagegen fängt die Strafbarkeit des Verteidigers erst mit dem positiven Wissen hinsichtlich der illegalen Einnahmequelle seines Mandanten an. Trotz aller Kritik sollte m. E. die weitgehende – jedoch nicht völlige – Straflosigkeit des Strafverteidigers allgemein anerkannt werden, und zwar mit der Begründung, dass die schrankenlose Einbeziehung der Strafverteidigerhonorare in die Geldwäschestrafbarkeit gegen verfassungsrechtliche Vorgaben und andere tragende Grundprinzipien der Rechtsordnung verstieße. In diesem Zusammensonderer Weise als schützwürdig anzuerkennen und für ihn andere Maßstäbe anzuwenden als für die Vertreter anderer Berufe, die ebenfalls in den Geldwäscheverdacht geraten können, soweit sie vorsätzlich bzw. leichtfertig illegale Vermögenswerte als Vergütung für ihre berufliche Tätigkeit annehmen. Darüber hinaus ist selbst die durch das Bundesverfassungsgericht befürwortete „Vorsatzlösung“ bedenklich. 50 So auch Balzer, Die berufstypische Strafbarkeit, S. 450 f.; für die Erforderlichkeit einer gesetzgeberischen Korrektur Otto, JZ 2001, S. 441; Hefendehl, „Kann und soll der Allgemeine Teil bzw. das Verfassungsrecht missglückte Regelungen des Besonderen Teils retten?“, in: Roxin-FS, S. 153; Wohlers, JZ 2004, S. 681; ders., StV 2001, S. 424 ff. 51 Vgl. Wohlers, JZ 2004, S. 681. 52 Vgl. Gotzens/Schneider, wistra 2002, S. 124. 53 So auch Winkler, Strafbarkeit des Strafverteidigers, S. 296 f. 54 Vgl. Wohlers, JZ 2004, S. 681.

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hang ist der oben erwähnten Entscheidung des deutschen BVerfG von 2004 insoweit zuzustimmen, als eine völlige Freistellung des Strafverteidigers von der Strafdrohung der Geldwäschenorm von der Verfassung keinen Schutz verdient und vom Prinzip der Verhältnismäßigkeit auch nicht gefordert wird55. Die Lösung des Problems der Verteidigerhonorierung muss sich daher in erster Linie am Sinn und Zweck des Geldwäschetatbestandes orientieren56. Zu berücksichtigen sind dabei die besondere Rolle des Strafverteidigers, seine Vertrauensstellung gegenüber seinem Mandanten sowie die Bedeutung der Institution der Verteidigung für den Rechtsstaat. Nimmt man eine solche verfassungskonforme Auslegung für die Fälle der Honorarannahme durch den Strafverteidiger an, so können die für die Strafverteidigung relevanten Rechtssätze klare Konturen gewinnen57.

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Vgl. BVerfG NJW 2004, 1311. So auch Winkler, Strafbarkeit des Strafverteidigers, S. 295. 57 Siehe dazu auch Matt, JR 2004, S. 326 f. Als Beispiel einer weiteren verfassungskonformen Auslegung ist ferner die Entscheidung des BGH zu nennen, in der das Beschlagnahmeverbot von Verteidigungsunterlagen entgegen § 97 StPO zur Geltung kommt. Damit wird dem rechtsstaatlichen Gebot (vgl. Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK, Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 GG), dem Beschuldigten zu jeder Zeit eine effektive Verteidigung zu ermöglichen, der Vorzug gegeben, vgl. BGHSt 44, 46 ff. Siehe ferner Balzer, Die berufstypische Strafbarkeit, S. 309 f.; Winkler, Strafbarkeit des Strafverteidigers, S. 292. 56

Perspektiven der Entwicklung des strafrechtlichen Schutzes der finanziellen Interessen der EU1 Ryszarda Formuszewicz I. Einführung In dem Vertrag über die Verfassung für Europa2 wurde ein neuer rechtlicher Rahmen für den Schutz der finanziellen Interessen der EU geschaffen, der die seit langem angestrebte Zielsetzung der Kommission (und des Europäischen Parlamentes) zur Stärkung der strafrechtlichen Dimension in diesem Bereich ermöglichen sollte. Diese Veränderungen wurden zusätzlich von einem fundamentalen Wandel im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen begleitet, der einen erheblichen Zuwachs der Unionskompetenzen im Bereich des Strafrechts herbeiführt. Diese Entwicklung wird jedoch wegen der ungewissen Zukunft des Verfassungsvertrages in Frage gestellt. Die gescheiterten Referenden in Frankreich und in den Niederlanden haben den Ratifikationsprozess stark belastet und eine tiefe institutionelle Krise der EU hervorgerufen. Nach dem Ablauf der selbstverordneten einjährigen Reflexionsphase brachte auch der EU-Gipfel am 15.– 16. Juni 2006 keine endgültige Entscheidung. Es wurde bloß vereinbart, dass während der deutschen Präsidentschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2007 ein Bericht über die möglichen künftigen Lösungen vorbereitet wird. Eine konkrete Entscheidung über die Zukunft des Verfassungsprojektes sollte dann spätestens bis zur 2. Hälfte des Jahres 2008 fallen. In den letzten Monaten wurden in zunehmendem Ausmaß von vielen Seiten politische Lösungsvorschläge für die Überwindung der gegenwärtigen Probleme formuliert, die inzwischen ein breites Spektrum von möglichen Szenarien umfassen3. Diese Entwicklung wirft die Frage auf, welche Perspektiven sich für 1 Auf der Grundlage des Verfassungsvertrages kann man von den „finanziellen Interessen der EU“ sprechen, nach dem geltenden Recht sind es jedoch die finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaft. 2 Der Vertrag über eine Verfassung für Europa wurde am 29. Oktober 2004 in Rom unterzeichnet und am 16. Dezember 2004 im Amtsblatt der Europäischen Union (Reihe C Nr. 310) veröffentlicht. 3 Überblick über die möglichen Szenarien bei Seeger, „Spiel auf Zeit – Die Debatte um die Zukunft der europäischen Verfassung“, CAP Aktuell 3/2006 München Mai

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die strafrechtliche Dimension des Schutzes der finanziellen Interessen auf Gemeinschaftsebene im Hinblick auf diese unterschiedlichen Szenarien, sowohl materiellrechtlich als auch institutionell, eröffnen. Zunächst soll im Folgenden der neue rechtliche Rahmen für den strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der EU erläutert werden. Anschließend werden die Perspektiven der Umsetzung sowohl im Fall des Inkrafttretens des Verfassungsvertrages als auch beim endgültigen Scheitern dieses Vorhabens dargestellt. II. Die Bestimmungen des Verfassungsvertrages bezüglich des Schutzes der finanziellen Interessen der EU In dem Verfassungsvertrag wurde der Bekämpfung von Betrügereien und sonstigen gegen die finanziellen Interessen der Union gerichteten rechtswidrigen Handlungen ausdrücklich der Rang eines Finanzgrundsatzes gewährt (Art. I-53 Abs. 7 VVE)4. Weitere Bestimmungen über den Schutz der finanziellen Interessen enthalten Art. III-415 VVE, der dem geltenden Art. 280 EGV entspricht, und Art. III-274 VVE, in dem die neue Institution der Europäischen Staatsanwaltschaft vorgesehen wurde. 1. Die von dem Konvent vorgeschlagene Fassung des Art. III-415 VVE5 unterlag vor allem redaktionellen Modifizierungen. Zu betonen ist jedoch die Ergänzung in den Absätzen 1 und 4, die ausdrücklich betont, dass alle Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union in den Schutz der finanziellen Interessen der EU einbezogen werden. Die getroffenen Maßnahmen sollen in den Mitgliedstaaten sowie in den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union einen effektiven Schutz bewirken. Diese Neufassung ist auf die Urteile des EuGH zurückzuführen6. Im Vergleich zum geltenden Recht enthält Art. III-415 VVE wesentliche Neuerungen. Die Regelung übernimmt zwar grundsätzlich den Wortlaut von 2006; Thalmaier, „Nach den gescheiterten Referenden: die Zukunft des Verfassungsvertrages“, CAP Analyse München Nov. 2005 und die dort angegebene Literatur; im polnischen Schrifttum Barcz, Aspekty prawne procedury wejs´cia w z˙ ycie Traktatu Konstytucyjnego i ewentualne konsekwencje prawno-polityczne jego odrzucenia, Warszawa 2005; Trzaskowski, „Traktat Konstytucyjny. Moz˙ liwe scenariusze rozwoju sytuacji“, Analizy natolin´skie 1 (1) 2005; Bericht Przyszłos´c´ Traktatu Konstytucyjnego Unii Europejskiej – strategia dla Polski, erarbeitet vom Institute of Public Affairs und The Polish Institute of International Affairs, 2006. 4 Streinz/Ohler/Hermann, Die neue Verfassung für Europa, München, 2005, S. 58. 5 Art. III-175 des Konvententwurfs. 6 Górski/Sakowicz/Srebro, „Ochrona interesów finansowych Unii Europejskiej“ in: Górski/Sakowicz (Hrsg.), Zwalczenie przeste˛pczos´ci w Unii Europejskiej, S. 78. Es geht dabei um die Urteile des Gerichtshofs in der Rechtssache C-15/00 (Kommission gegen EIB) und in der Rechtssache C-11/00 (Kommission gegen EZB).

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Art. 280 EGV, die neue Fassung des Abs. 4 wirft jedoch wichtige Interpretationsfragen auf. Nach der geltenden Rechtslage bleiben die Anwendung des Strafrechts der Mitgliedstaaten und ihre Strafrechtspflege von den auf Gemeinschaftsebene getroffenen Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Betrügereien, die sich gegen die finanziellen Interessen der Union richten, unberührt (Art. 280 Abs. 4 Satz 2 EGV). In den Art. III-415 VVE wurde diese Klausel (im Weiteren: Unberührtheitsklausel) jedoch nicht übernommen. Damit wird die rechtliche Schranke beseitigt, die nach herrschender Meinung als entscheidend für die Ablehnung der Strafrechtssetzungskompetenz der EG gilt7. Berücksichtigt man die Zielsetzung der Vertragsrevision im Bereich der Betrugsbekämpfung, die sich auf die vertragliche Verankerung der Europäischen Staatsanwaltschaft konzentrierte8, kann das Weglassen jener Unberührtheitsklausel sich nur auf diese neue Institution beziehen, um alle Kontroversen im Vorfeld zu beseitigen. Gegen diese Auslegung kann jedoch vorgebracht werden, dass die endgültig angenommene Formel über den Nizza-Vorschlag hinausgeht9. Des Weiteren könnte durch die Neufassung die mehrjährige Auseinandersetzung bezüglich der vorgeschlagenen Richtlinie über den strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft auf der Grundlage von Artikel 280 EG-Vertrag beendet werden10. Dieser Vorschlag wurde vom Rat jedoch nicht angenommen, weil den Mitgliedstaaten kein Spielraum bezüglich der Art der Sanktionen gelassen wurde. Diese Problemstellung erlangte inzwischen wegen der Anerkennung der Existenz einer strafrechtlichen Rechtssetzungskompetenz der EG durch den EuGH wieder große Aktualität11. Die Frage, welche Rechtsfolgen sich aus dem Verzicht auf den strafrechtlichen Vorbehalt ergeben, ist umso wesentlicher, da laut Verfassungsvertrag die erforderlichen Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Betrügereien, 7 Zur Auslegung der Klausel s. Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts, Köln u. a. 2001, S. 138 ff. Fromm, Der strafrechtliche Schutz der Finanzinteressen der EG, Berlin u. a. 2004. 8 Vgl. Vorgaben des Grünbuches. 9 Vgl. Mitteilung der Kommission – Ergänzender Beitrag der Kommission zur Regierungskonferenz über die institutionellen Reformen beim Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft: das Amt eines europäischen Staatsanwalts, KOM(2000) 608. 10 KOM(2001) 272 vom 23.5.2001 (ABl. C 240 E vom 28.8.2001, S. 125), zuletzt geändert durch den geänderten Vorschlag KOM(2002) 577 vom 16.10.2002 (ABl. C 71 E vom 25.3.2003, S. 1). 11 EuGH, Urt. v. 13.9.2005 – C-176/03 Kommission gegen Rat, ECR-[2005] I7879. Zu diesem Urteil: Hefendehl, „Europäischer Umweltschutz: Demokratiespritze für Europa oder Brüsseler Putsch?“, in: ZIS 4/2006, S. 161 ff. und im vorliegenden Band; Pohl, „Verfassungsvertrag durch Richterspruch, Die Entscheidung des EuGH zu Kompetenzen der Gemeinschaft im Umweltstrafrecht“, in: ZIS 5/2006, S. 213 ff.; Grzelak, „Kompetencje WE do okres´lania sankcji karnych w przepisach prawa wspólnotowego“, in: EPS 6/2006, S. 48 ff.

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die sich gegen die finanziellen Interessen der Union richten, durch Europäisches Gesetz oder Rahmengesetz festzulegen sind. Das Rahmengesetz soll als Nachfolger der gegenwärtigen Richtlinie die Hauptrolle bei der Harmonisierung übernehmen, auch im Bereich des Strafrechts12. Das Europäische Rahmengesetz dagegen entspricht der gegenwärtigen Verordnung, die jedoch als Instrument der Vereinheitlichung im Hinblick auf das Kriminalstrafrecht wegen der fehlenden Strafrechtssetzungskompetenz nicht eingesetzt werden darf13. Demzufolge sollte als entscheidendes Kriterium bei der Wahl des Rechtsinstrumentes die Unterscheidung zwischen einer zum Verwaltungsrecht bzw. Strafrecht im weiteren Sinn oder zum Kriminalstrafrecht gehörenden Maßnahme dienen. Wegen der Ablösung der gegenwärtigen Säulenstruktur unterliegen die Vorschriften über die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen demselben rechtlichen Regime, das den Unterschied zwischen den gegenwärtigen Harmonisierungsinstrumenten der I. und der III. Säule der EU beinahe beseitigt. Es wird auch die Auffassung vertreten, dass deshalb, weil die Grundlagen für die Harmonisierung des Strafrechts der Mitgliedstaaten in Kapitel IV Raum der Freiheit, Sicherheit und des Rechts enthalten sind, sich Art. III-415 VVE ausschließlich auf verwaltungsrechtliche Maßnahmen beziehen sollte14. Diesem Argument kann man jedoch entgegenhalten, dass Art. III-415 VVE als lex specialis im Verhältnis zu den Vorschriften von Art. III-270 bis III-272 VVE betrachtet werden kann. Diese Interpretation wäre umso mehr berechtigt, wenn im Bereich des strafrechtlichen Schutzes der finanziellen Interessen der Union15 die Rechtssetzung der Union auch mit einem Europäischen Gesetz erfolgen könnte. Damit würde der Union die Zuständigkeit für den Erlass von strafrechtlichen Vorschriften mit unmittelbarer Wirkung eingeräumt, was als Ansatz eines europäischen Strafrechts im engeren Sinn – im Gegensatz zu dem „bloß“ europäisierten nationalen Strafrecht – angesehen werden kann16. Als Hauptargument gegen eine derartige Entwicklung der Unionskompetenzen kann auf den Grundsatz Nullum crimen sine lege hingewiesen werden, weil der nationale Gesetzgeber in einem solchen Fall nicht mehr tätig würde. Es fehlt auch an Hinweisen in den Dokumenten der Kommission, dass die analy12

Vgl. Art. III-270, III-271 und III-272 VVE. Vgl. Geänderten Vorschlag für eine Richtlinie über den strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft KOM(2002) 577 – der Vorschlag des Parlaments, diese Regelung im Verordnungswege einzuführen, wurde mit dem Hinweis auf die oben sog. Unberührtheitsklausel abgelehnt. 14 Górski/Sakowicz/Srebro, S. 79. 15 In dem Alternativentwurf wurde die Erweiterung dieser Vorschrift um eine Kompetenz für EU-Amtsdelikte als notwendig erachtet; Schünemann (Hrsg.), Alternativentwurf Europäische Strafverfolgung, Köln u. a. 2004, S. 25. 16 Vgl. Satzger, Internationales und europäisches Strafrecht, Baden-Baden 2005, S. 89; Dannecker, „Das materielle Strafrecht im Spannungsfeld des Rechts der Europäischen Union (Teil II)“, Jura 3/06, S. 176; Pohl, S. 220. 13

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sierte Vorschrift in dieser Richtung ausgelegt werden könnte17. Dazu wäre die Frage zu beantworten, ob es mit dem Verfassungsvertrag zu einer derart qualitativen Veränderung der bisherigen Integrationsprinzipien gekommen ist, dass der Union entgegen der bisherigen Entwicklung eine Kompetenz zur Setzung supranationalen Strafrechts eingeräumt werden sollte18. Angesichts dieser Zweifel wird deutlich, dass Art. III-415 VVE nicht nur im Kontext des wirksamen Schutzes der finanziellen Interessen der Europäischen Union, sondern auch im Gesamtbild der wachsenden strafrechtlichen Kompetenzen der Union im Verfassungsvertrag zu sehen ist. 2. Bei der Vorbereitung des Verfassungsvertrags wurde erneut der Versuch unternommen, einen der wesentlicheren Vorschläge des Corpus Juris umzusetzen19. Die Schaffung einer europäischen Strafverfolgungsbehörde, um kriminelle Handlungen zum Nachteil der finanziellen Interessen der vor der Erweiterung stehenden Europäischen Gemeinschaft effektiver zu ahnden, wurde von der Europäischen Kommission bereits bei den Verhandlungen des Vertrages von Nizza vorgeschlagen20. Dieser Vorschlag wurde dann im Grünbuch zum strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften und zur Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft21 weiterentwickelt und wurde folglich im Verfassungsvertrag verwirklicht. Zu diesem Ergebnis hat die Debatte um das Grünbuch beigetragen, die es ermöglicht hat – auch wenn die bestehenden Zweifel nicht völlig beseitigt wurden – die Probleme zu identifizieren und im Rahmen eines europaweiten Dialogs der Strafrechtswissen17 Vgl. Bericht der Kommission an den Rat und an das Europäische Parlament, Der Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft – Betrugsbekämpfung Jahresbericht 2004 (SEC[2005] 973) (SEC[2005] 974), Brüssel, am 19.7.2005, COM (2005) 323, S. 7. Nicht eindeutig jedoch in dem Grünbuch, S. 36 ff. 18 Zum Willen der Vertragsparteien bei den bisherigen Verträgen vgl. Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts, Köln u. a., 2001, S. 136. 19 „Corpus Juris, strafrechtliche Regelungen zum Schutze der finanziellen Interessen der Europäischen Union“ wurde auf Initiative des Europäischen Parlamentes durch eine internationale Gruppe von renommierten Strafrechtlern unter der Leitung von Professorin M. Delmas-Marty erarbeitet und enthält eine Vorlage für die eventuellen materiellrechtlichen und prozessualen Vorschriften. Erste Fassung in: M. DelmasMarty (ed.), Corpus Iuris portant dispositions pénales pour la protection des intérêts financiers de l’Union européenne, Paris 1997, auf Deutsch: M. Delmas-Marty (Hrsg.), Corpus Juris der strafrechtlichen Regelungen zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union, Köln u. a. 1998 (mit Einführung von U. Sieber); auf Polnisch: Corpus Iuris. Wydanie dwuje˛zyczne angielsko-polskie, Warszawa 1999 (mit Einführung von E. Zielin´ska). Die sog. Fassung von Florenz in: M. Delmas-Marty, J. Vervaele, The implementation of the Corpus Juris in the member states I, AntwerpenGroningen-Oxford 2000, S. 189 ff.; deutsche und polnische Fassung sind abrufbar unter http://europa.eu.int/comm/anti_fraud/green_paper/links.html. 20 Ergänzender Beitrag der Kommission zur Regierungskonferenz über die institutionellen Reformen vom 29. September 2000, Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft: das Amt eines Europäischen Staatsanwalts KOM(2000) 608. 21 KOM(2001)715.

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schaftler, Politiker und Vertreter der Rechtspflege aus den Mitglied- und Kandidatenstaaten nach entsprechenden Lösungen zu suchen22. Im Grünbuch wurde als Haupthindernis der wirksamen Betrugsbekämpfung die Zersplitterung des europäischen Strafrechtsraums aufgezeigt, die nach Auffassung der Kommission durch die bisher auf diesem Gebiet geschlossenen Abkommen nicht ausreichend beseitigt wurde23. Außerdem wurde mit der Begründung, dass die gegen die finanziellen Interessen der Gemeinschaft gerichteten Straftaten meist einen grenzübergreifenden Charakter vorweisen und dass sich an derartigen Delikten kriminelle Vereinigungen beteiligen, auf die Erforderlichkeit hingewiesen, die Schranken für nationale Polizei- und Justizbehörden aufzugeben und europaübergreifend zu kooperieren. Art. III-274 VVE sieht vor, dass der Rat einstimmig und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments sowie ausgehend von Eurojust eine Europäische Staatsanwaltschaft einsetzen kann, um Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union zu bekämpfen. Die Europäische Staatsanwaltschaft soll zuständig sein für die strafrechtliche Untersuchung und Verfolgung sowie die Anklageerhebung in Bezug auf Personen, die als Täter oder Teilnehmer derartige Straftaten begangen haben. Sie nimmt vor den zuständigen Gerichten in den Mitgliedstaaten die Aufgaben der Staatsanwaltschaft wahr. Im Vergleich mit dem Konvententwurf24 wurden die Bestimmungen bezüglich der Europäischen Staatsanwaltschaft zwar umgestaltet, ihr Wesen bleibt jedoch grundsätzlich unverändert. Im Gegensatz zum Nizza-Vorschlag ist die Einsetzung der Europäischen Staatsanwaltschaft nicht zwingend, sondern es wird lediglich eine derartige Möglichkeit vorgesehen, was auch auf Kritik gestoßen ist25. Darüber hinaus entscheiden die Mitgliedstaaten über die Einsetzung der Europäischen Staatsanwaltschaft einstimmig. An diesem Grundsatz wurde sowohl in dem Konvent als auch im Rahmen der Regierungskonferenz trotz der Bemühungen der Kommission festgehalten26. Diese Lösung in Bezug auf die 22 Vgl. Follow-Up-Mitteilung Grünbuch zum strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften und zur Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft, Brüssel, 19.3.2003, KOM(2003) 128; die einzelnen Beiträge sind unter der Internetadresse: http://europa.eu.int/comm/anti_fraud/green_paper/in dex_de.html abrufbar. Die in diesem Bericht zusammengefassten Stellungnahmen und Ergebnisse dieser Konsultation wurden dem Europäischen Konvent mitgeteilt. 23 Grünbuch, S. 15. 24 Art. III-175 des Entwurfs. 25 Alternativentwurf S. 5 und 20 (Nach diesem Vorschlag sollte die Staatsanwaltschaft für Verfolgung von Amtsdelikten der europäischen Amtsträger eingesetzt werden); Bericht der Kommission Schutz Der Finanziellen Interessen Der Gemeinschaften Und Betrugsbekämpfung – Jahresbericht 2003, KOM (2004) 573. 26 Die Kommission hat eine zusätzliche Erweiterung der qualifizierten Mehrheit im Vergleich zum Entwurf des Verfassungsvertrags empfohlen bezüglich der Einsetzung der Europäischen Staatsanwaltschaft ausschließlich zum Schutz der finanziellen Inte-

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Einrichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft berücksichtigt auch Bedenken von den Mitgliedstaaten, die von der Unabdingbarkeit dieser Institution nicht überzeugt sind. Man kann die These wagen, dass die Sicherung des Vetorechts im Hinblick auf den heftigen Widerstand mehrerer Delegationen die Annahme von Art. III-274 VVE ermöglichte27. Die Europäische Staatsanwaltschaft soll „ausgehend von Eurojust“ eingesetzt werden28. Welcher konkretere Inhalt sich hinter dieser Formel verbirgt, ist jedoch eher undurchschaubar. Zu klären wäre insbesondere, in welchem Verhältnis beide Institutionen zueinander stehen sollen und ob dieses Verhältnis dynamisch angelegt werden soll. Die Europäische Staatsanwaltschaft könnte eine höhere Entwicklungsstufe von Eurojust sein, oder sie sollte nach der „Ansatzphase“ verselbstständigt werden29. Fraglich ist insbesondere, ob eine derartige Evolution von Eurojust auch ohne eine primärrechtliche Grundlage denkbar ist und, wenn dies zu bejahen wäre, unter welchen Bedingungen sie erfolgen kann. Diese Fragen gewinnen wegen der unsicheren Zukunft des Verfassungsvertrages an Relevanz. Die Verknüpfung der beiden Institutionen scheint auf jeden Fall eine andere Zielsetzung zu verfolgen, als nur eine größere Bereitschaft der Mitgliedstaaten zur Unterstützung von Eurojust zu erzwingen30. Bei der Bestimmung des Zuständigkeitsbereiches der Europäischen Staatsanwaltschaft folgte man im Verfassungsvertrag grundsätzlich – wie es im Grünbuch vorgeschlagen war – dem sektoralen Ansatz. Die Zuständigkeit wurde dementsprechend auf den Schutz der finanziellen Interessen der EU eingeschränkt, weil in diesem Bereich das höchste Akzeptanzniveau für die strafrechtlichen Kompetenzen der Union vorliegt31. Dem allzu sehr integrationsfreundlichen Vorschlag des Konvents, dass die Europäische Staatsanwaltschaft

ressen der EU. Für die Schaffung einer Staatsanwaltschaft mit umfassenderen Kompetenzen sollte das Einstimmigkeitsprinzip beibehalten werden. Mitteilung der Kommission. Eine Verfassung für die Union, Stellungnahme der Kommission gemäß Artikel 48 des Vertrages zum Zusammentritt einer Konferenz von Vertretern der Regierungen der Mitgliedstaaten im Hinblick auf eine Änderung der Verträge, Brüssel, den 17.9.2003 KOM(2003) 548. 27 Vgl. Begründung des Berichts des Ausschusses für Konstitutionelle Fragen des Europäischen Parlamentes, die als Grundlage für die Entschließung des EP zu dem Vertrag über eine Verfassung für Europa vom 12. Januar 2005 diente, veröffentlicht in: Das Europäische Parlament äußert sich zur Europäischen Verfassung, Amt für Veröffentlichungen EU, s. Z. u. O. 28 Die deutsche Bundesregierung betrachtete schon im Jahre 2000 Eurojust als mögliche Keimzelle einer Europäischen Staatsanwaltschaft, Grünbuch, S. 11. Die Kommission betonte dagegen die Unterschiede zwischen beiden Institutionen. 29 Vgl. Follow-up Mitteilung: Szenarien der vollständigen Integration, der institutionellen Verbindung und der Zusammenarbeit zwischen getrennten, sich ergänzenden Stellen; als höhere Entwicklungsstufe von Eurojust Weigend, „Der Entwurf einer Europäischen Verfassung und das Strafrecht“, in: ZStW 116, Heft 2/2004, S. 300. 30 Vgl. Weigend, S. 300.

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in erster Linie für schwere Kriminalität mit grenzüberschreitender Dimension neben den Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union32 zuständig sein sollte, wurde insofern nachgegeben, als in den Abs. 4 eine „Überbrückungsklausel“ eingefügt wurde. Für den Fall, dass sich die neue Einrichtung in ihrer Hauptaufgabe bestätigt und/oder sich eine weitere Entwicklung ihrer Zuständigkeiten wegen einer späteren Dynamik des Integrationsprozesses als erforderlich oder nützlich erweist, können die Befugnisse der Europäischen Staatsanwaltschaft auf die Bekämpfung von schwerer Kriminalität mit grenzüberschreitender Dimension ausgedehnt werden, was dem Zuständigkeitsbereich von Eurojust entspricht. Als eine zusätzliche Garantie für die Mitgliedstaaten muss auch diese Entscheidung einstimmig fallen. Dadurch sind jedoch die Zweifel nicht beseitigt, ob ein Zuständigkeitsbereich, der sich eigentlich einer präzisen Abgrenzung entzieht33, sich noch auf der Basis des Vertrages begründen lässt. Die Regelung bezüglich der Europäischen Staatsanwaltschaft ist sehr bündig34, erst im Sekundärrecht sollen die Satzung der Europäischen Staatsanwaltschaft, die Einzelheiten für die Erfüllung ihrer Aufgaben, die für ihre Tätigkeit geltenden Verfahrensvorschriften sowie Regeln für die Zulässigkeit von Beweismitteln und für die gerichtliche Kontrolle der von der Europäischen Staatsanwaltschaft bei der Erfüllung ihrer Aufgaben vorgenommenen Prozesshandlungen festgelegt werden (Art. III-274 Abs. 3). Die Mitgliedstaaten haben sich offensichtlich nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner geeinigt. Erst bei der Konkretisierung dieser Struktur- und Verfahrensfragen sind mehrere rechtsstaatliche Bedenken seitens der Mitgliedstaaten zu erwarten. Die Ergebnisse des Konsultationsprozesses anhand des Grünbuchs und die Beratungen im Konvent35 weisen deutlich darauf hin, dass es hier viele Kontroversen gibt. Die Einstimmigkeit aller Mitgliedstaaten ist hier wohl kaum zu erwarten. 3. Für die Bewertung des rechtlichen Rahmens für den Schutz der finanziellen Interessen der EU in dem Verfassungsvertrag ist die Tatsache entscheidend, dass im Hinblick auf die unter den Mitgliedstaaten bestehenden Meinungsunterschiede Art. III-415 VVE und mehr noch Art. III-274 VVE derart verfasst wur31 In Erwägung gezogen wurden auch der Schutz der einheitlichen Währung, die Wahrung der Integrität des europäischen öffentlichen Dienstes u. a. Vgl. Follow-up Mitteilung S. 14 f. 32 In Art. III-175 Abs. 1 des Entwurfs wurde zwar die Formel „Interessen der Union“ verwendet, dies ist jedoch im Hinblick auf die Konkretisierung in Abs. 2, der sich ausdrücklich auf die finanziellen Interessen bezieht, wohl als ein redaktionelles Versehen zu beurteilen. 33 Vgl. Weigend in Bezug auf die Harmonisierungszuständigkeit, S. 283. 34 Vgl. das Schreiben an den Präsidenten des Europäischen Konvents vom 5.12. 2002. 35 Vgl. Schlussbericht der Gruppe X „Freiheit, Sicherheit und Recht“ vom 2.12. 2002, CONV 426/02.

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den, dass sie auch für diejenigen Unionsmitglieder, die eine eher zurückhaltende Einstellung gegenüber der Ausdehnung der strafrechtlichen Kompetenz der EU/ EG haben, akzeptabel sein könnten. Unter diesen Bedingungen sind die relevanten Bestimmungen im Verfassungsvertrag als eine Kompromisslösung zu betrachten, mit der zu erwartenden Folge, dass der politische Wille für die Integrationsvertiefung schon durch die Annahme dieser Vorschriften auf Dauer erschöpft worden sein könnte. Dementsprechend wäre damit zu rechnen, dass auch im Fall des Inkrafttretens der im Verfassungsvertrag vorgeschlagenen Bestimmungen einige Mitgliedstaaten – mit dem Vetorecht gerüstet – kurzfristig nicht bereit wären, die neuen Rechtsgrundlagen in Gebrauch zu nehmen. Offensichtlich stellt der Kompromisscharakter der analysierten Vorschriften im Hinblick auf den ganzen Verfassungsvertrag keine Besonderheit dar – bekanntlich ist der Verfassungsvertrag im allgemeinen ein Paket der sorgfältig gegenseitig ausgewogenen Kompromisse (Stichwort: package deal). In dieser Konstellation wurden auch kontroverse Lösungen akzeptiert, die isoliert auf Dauer nicht durchsetzbar wären. Insofern ist hier über einen „zweifachen Kompromiss“ zu sprechen: bei der gegenseitigen Ausbalancierung und bei der konkreten Formulierung von einzelnen Regelungen. Im Fall der analysierten Vorschriften greift dieser „reale Kompromiss“36 in dem Sinne tief ein, dass trotz der vertraglichen Verankerung die konkrete Verwirklichung von eingeführten Neuerungen sowohl inhaltlich als auch zeitlich offen gehalten wurde. Die Aufklärung der Interpretationsspielräume und die Beantwortung der zahlreichen Zweifelsfragen bezüglich der neuen Regelung werden auf einen späteren Zeitpunkt verschoben. Erst angesichts der konkreten Lösungen würden wohl seitens der dem Vorschlag skeptisch gegenüberstehenden Staaten nachholend Vorbehalte geltend gemacht, mit der möglichen Begründung, dass die Umsetzungsvorschläge weiter als der akzeptierte, d.h. durch die Ratifikation gedeckte, Kompromiss reichten. Angesichts der Tatsache, dass nach der einjährigen Reflexionsphase im Juni 2006 das Aufschnüren des Verfassungsvertrages allgemein in Kauf genommen wurde, stellt sich die Frage, ob die analysierten Vorschriften bei Neuverhandlungen erhalten bleiben. Es wird auch erwogen, den ganzen Teil III aus dem Verfassungsvertrag herauszunehmen. Zu berücksichtigen ist, dass die Reichweite der potentiellen Veränderungen in dem Regelungswerk von dem Anteil der Staaten mit einem positiv abgeschlossenen Ratifikationsverfahren abhängen wird37. Zusätzlich ist der Schutz der finanziellen Interessen der EU eine Mate36 Vgl. Information über den Stand der Vorbereitungen für die Regierungskonferenz in Brüssel und über den Stand der Arbeiten an dem Vertrag über eine Verfassung für Europa, Warszawa 16.06.2004, veröffentlicht in: Monitor Europejski, Nr. 2, 2004, S. 7– 13, hier S. 11. 37 Bei der entscheidenden Mehrheit wäre auch das Szenario der Wiederholung von Referenden in Frankreich und in den Niederlanden denkbar. Als Präjudiz dienen hier

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rie ohne hochpolitische Brisanz. Falls es jedoch zu Abänderungen kommen sollte, können Ergebnisse der Konsultationen des Grünbuches wegweisend sein. Zu bedenken sind auch mögliche Auswirkungen des EuGH-Urteils zum europäischen Umweltstrafrecht. Gleiches gilt für alle Szenarien der Überwindung der institutionellen Krise, die auf einer Revision der Verträge beruhen. III. Perspektiven der Entwicklung des strafrechtlichen Schutzes der finanziellen Interessen jenseits des Verfassungsvertrages 1. Angesichts der andauernden EU-Krise, die das Inkrafttreten des Verfassungsvertrages wenigstens bis zum Jahre 2009 ungewiss macht oder zu einem endgültigen Scheitern des Vorhabens führen mag, können die Mitgliedstaaten und die europäischen Institutionen grundsätzlich nach zwei Ansätzen handeln: Sie können sich dafür einsetzen, die im Verfassungsvertrag enthaltenen Neuerungen und Verbesserungen wenigstens partiell mit Hilfe von differenzierten rechtlichen Instrumentarien zu bewahren oder den primärrechtlichen Status Quo zu erhalten. Die Idee, sich auf den Verfassungsvertrag schon vor seinem Inkrafttreten zu berufen, wird vom Europäischen Parlament unterstützt. Auf eine praktische Umsetzung ist auch die neue Kommissionsstrategie ausgerichtet, in der die bereits in den Verträgen bestehenden Möglichkeiten zur Integrationsvertiefung in Anspruch zu nehmen sind. Viele Vorgaben des Verfassungsvertrages lassen sich dabei im Wege von sekundärrechtlichen Beschlüssen oder im Rahmen des Selbstorganisationsrechts der europäischen Institutionen (z. B. Anpassung von Geschäftsordnungen und Abschluss von interinstitutionellen Vereinbarungen) umsetzen. Werden diese Möglichkeiten erschöpft – für den Fall, dass der Verfassungsvertrag endgültig nicht zu geltendem Recht wird –, ist notwendigerweise ein formelles Revisionsverfahren der Verträge einzuleiten38. Als der wichtigste Nachteil dieses Ansatzes wurde der Verlust an Kohärenz und Transparenz der EU-Rechtsgrundlagen angedeutet39. Das Szenario des Vorgreifens auf den Verfassungsvertrag im Bereich des Strafrechts wurde früh erkannt40. Diese Vorgehensweise ist nicht unbedingt von vornherein abzulehnen, solange dabei der Schutz der Grundrechte, das Subsidiadie Referenden in Dänemark und in Irland. Inzwischen wurde der Vertrag von 15 Mitgliedstaaten ratifiziert. Aktuelle Angaben zur Ratifikation sind unter der folgenden Internetadresse einzusehen: http://europa.eu.int/constitution/referendum_de.htm. 38 Eine derartige Ergänzung des Vertrages könnte eventuell mit einem der nächsten Beitrittsverträge verbunden werden, weil sie kraft Natur der Sache auch eine Art Revisionsvertrag darstellen. Dabei würde in vielen „Referendum-Staaten“ in einem solchen Fall eine parlamentarische Ratifikation ausreichen. Barcz, Aspekty prawne . . ., S. 5. 39 Thalmaier, S. 11. 40 Vgl. Weigend, S. 275.

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ritätsprinzip und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht unbeachtet bleiben. Im Hinblick auf die bestehende Rechtslage sollten strafrechtlich relevante Initiativen zur Umsetzung des Verfassungsvertrages nur unter der Voraussetzung erfolgen, dass ein einstimmiges Einvernehmen der Mitgliedstaaten vorliegt. Zum einen ist dabei auf die Möglichkeit der Aufnahme der justiziellen und polizeilichen Zusammenarbeit in Strafsachen in den Gemeinschaftsbereich unter Anwendung von Artikel 42 EUV hinzuweisen, die von der Kommission und vom Europäischen Parlament unterstützt wird41. Zum anderen wäre die Möglichkeit zur Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft zu berücksichtigen. Den Ausgangspunkt für diese Überlegungen stellt die Tatsache dar, dass es sich im Fall von Eurojust schon um einen Vorläufer der Idee der praktischen Umsetzung handelt, ohne das Inkrafttreten der Rechtsgrundlage abzuwarten. Nach der Verkündung in den Schlussfolgerungen des Rates in Tampere 1999 wurde Eurojust zuerst als eine vorläufige Einrichtung der EU gegründet und dann schon 2002 in eine Agenda der EU umgewandelt, obwohl die Ratifikation des Vertrages von Nizza noch nicht abgeschlossen war. Eine evolutionäre Umwandlung von Eurojust durch eine stufenweise erfolgende Erweiterung der Befugnisse würde eine gewisse Fortsetzung dieser Vorgehensweise darstellen, die mit der Aufforderung übereinstimmt, dass die Europäische Staatsanwaltschaft „ausgehend von Eurojust“ geschaffen werden sollte. Theoretisch wäre auch die Einrichtung der Europäischen Strafverfolgungsbehörde durch den Abschluss eines Übereinkommens im Rahmen des III. Pfeilers möglich. Im Gegensatz zu diesen theoretischen Möglichkeiten kann das Urteil des EuGH vom 13.9.2005 als ein praktisch vollzogenes Beispiel des Vorgreifens auf den Verfassungsvertrag herangezogen werden42. Im Hinblick auf den strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen ist vor allem auf die Einbeziehung des Vorschlags der Richtlinie über den strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft in die Zusammenstellung der von dem Urteil betroffenen Rechtsakte hinzuweisen43. Eine gravierende Folge des Urteils, die von der Kommission jedoch bis jetzt nicht aufgegriffen wurde, ist jedoch in der Möglichkeit zu sehen, auf seiner Grundlage gemeinschaftliches Kriminalstrafrecht auch auf dem Verordnungswege zu begründen, was einer der Auslegungsrichtungen des Art. III-415 Abs. 4 entsprechen würde44. Dies macht jedenfalls deutlich, dass das Vorgreifen auf den Verfassungsvertrag durchaus auch

41 Vgl. Barcz/Kranz/Nowak-Far, Polska wobec reformy ustrojowej Unii Europejskiej Co dalej z Traktatem Konstytucyjnym, Mai 2006, S. 12. 42 So u. a. Pohl, S. 213 ff. 43 Mitteilung der Kommission der Europäischen Gemeinschaften an das Europäische Parlament und den Rat über die Folgen des Urteils des Gerichtshofs vom 13. September 2005 (Rechtssache C-176/03, Kommission gegen Rat) KOM(2005) 583. 44 So Pohl, S. 220.

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in Opposition zu den Mitgliedstaaten erfolgt. Es bleibt abzuwarten, wie es den Verlauf der weiteren Verfassungsverhandlungen beeinflusst. 2. Wegen der bestehenden wesentlichen Kontroversen im Hinblick auf die Neuerungen im Bereich des strafrechtlichen Schutzes scheint das Szenario einer verstärkten Zusammenarbeit45 realistischere Aussichten zu haben. Die Möglichkeit der Intensivierung der Zusammenarbeit von einigen Mitgliedstaaten in einem bestimmten Bereich ist in den europäischen Verträgen seit 1997 verankert und sie wurde anschließend mit dem Vertrag von Nizza modifiziert (Art. 11 EGV und Art. 43–45 EUV). Dieses flexible Kooperationsmodell basiert auf einer langen Tradition im europäischen Integrationsprozess, hier ist vor allem auf die Beispiele der Schengen-Verträge und auf die Währungsunion hinzuweisen. Die dauerhafte Ablehnung des Verfassungsvertrages kann dazu beitragen, dass sich eine vertiefte Integration nach diesem Modell zunehmend entwickeln wird. Der Hauptvorteil der institutionalisierten Flexibilität besteht darin, dass sie es ermöglicht, Integrationsbedürfnisse von „Pionierstaaten“ zu befriedigen, ohne den Zusammenhalt von Gemeinschafts- und Unionsstrukturen- und -mechanismen zu bedrohen46. Für den Bereich Justiz und Inneres gilt eine verstärkte Zusammenarbeit als geeignet, günstig, angesagt und sogar unvermeidbar47. Dieser Politikbereich wird auch in der politischen Debatte deutlich als Feld der vertieften Integration für willige Wegbereiter genannt. Dabei bilden die Staaten, die den Verfassungsvertrag inzwischen ratifiziert haben bzw. noch ratifizieren werden, folgerichtig eine potenzielle Kooperationsgruppe im Rahmen der verstärkten Zusammenarbeit – vorausgesetzt werden wenigstens 8 Mitgliedstaaten. Auf die Möglichkeit, auf diesem Weg die Europäische Staatsanwaltschaft einzusetzen, wurde im Schrifttum bereits hingewiesen48. Weil die verstärkte Zusammenarbeit, so wie sie jetzt in den Verträgen festgelegt wurde, bisher nicht umgesetzt wurde, fehlt es an Erfahrungen und Auslegungshinweisen bezüglich der strengen und restriktiven Zulässigkeitsbedingungen49. Das erschwert die Bewertung von Gefahren und Vorteilen der Einführung einer verstärkten Zusammenarbeit50. 45 Ein rechtlicher Rahmen für politische Konzepte für ein „Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten“ und für ein „Kerneuropa“. 46 Barcz, Prawne aspekty . . ., S. 7. 47 Rokicka, „Wzmocniona współpraca w wymiarze sprawiedliwos´ci i w sprawach wewne˛trznych“, in: Jasin´ski/Smoter (Hrsg.), Obszar wolnos´ci, bezpieczen´stwa i sprawiedliwos´ci Unii Europejskiej Geneza, stan i perspektywy rozwoju, Warszawa 2005, S. 82, 100. 48 Vgl. Rokicka, op. cit., S. 102. 49 Vgl. Mik, „Wzmocniona współpraca w s´wietle nicejskiej reformy Unii Europejskiej. Polski punkt widzenia“, in: Traktat z Nicei Wnioski dla Polski, S. 45 ff. 50 Vgl. Rokicka, op. cit., S. 102.

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3. Solange es bei dem primärrechtlichen Status Quo bleibt, prägen die Ausgestaltung des strafrechtlichen Schutzes der finanziellen Interessen die im Rahmen von Titel VI EUV angenommenen Rechtsakte, vor allem das Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften vom 26. Juli 199551 und seine Zusatzprotokolle52, in welchen Betrug, Unterschlagung und Korruption als rechtswidrige Handlungen definiert wurden, die in jedem Mitgliedstaat strafrechtlich verfolgt werden. Unter der Berufung auf die oben erwähnte Entscheidung des EuGH vertritt die Kommission die Meinung, dass dieses Regelungswerk durch die geplante Richtlinie über den strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft auf der Grundlage von Artikel 280 EG-Vertrag53 ersetzt bzw. begleitet werden soll. Es lässt sich dagegen einwenden, dass die Annahme der Richtlinie angesichts der langen Verzögerung bei der Ratifizierung des Übereinkommens und der Protokolle vorgeschlagen wurde – das Übereinkommen ist erst im Oktober 2002 in Kraft getreten. Gegenwärtig hat dieses Problem eine wesentlich geringere Dimension, obwohl bisher weder das Übereinkommen noch die drei Protokolle von allen Mitgliedstaaten ratifiziert worden sind. Ferner weist selbst die Kommission darauf hin, dass die Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften im Anschluss an das Urteil nicht in Frage gestellt sind. Das Europäische Parlament fordert die Kommission ausdrücklich auf, die Schlussfolgerungen des Gerichtshofs nicht automatisch auf jeden weiteren möglichen Themenbereich der ersten Säule auszudehnen54. Im Bereich des Schutzes der finanziellen Interessen der Gemeinschaft ist vor allem die besondere parallele Zuständigkeit der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten zu beachten. Die Annahme der Richtlinie wäre für die Kommission vorteilhaft, weil sie in diesem Fall über stärkere Einflussmöglichkeiten verfügt. Sie ist also aus ihrer Sicht wünschenswert, wenn man berücksichtigt, dass sich die Umsetzung immer noch nicht als einwandfrei darstellt: „Bei genauer Betrachtung hat kein einziger Mitgliedstaat sämtliche Maßnahmen ergriffen, die für eine vollständige 51

ABl. C 316 vom 27.11.1995, S. 49. Protokoll zum Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (ABl. C 313 vom 23.10.1996, S. 2); Protokoll betreffend die Auslegung des Übereinkommens über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften im Wege der Vorabentscheidung (ABl. C 151 vom 20.5.1997, S. 2); Zweites Protokoll zum Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (ABl. C 221 vom 19.7.1997, S. 12). 53 Zu dem Stand im Entscheidungsprozess siehe http://europa.eu.int/prelex/detail_dossier_real.cfm?CL=de& DosId=164800. 54 Entschließung des Europäischen Parlaments zu den Folgen des Urteils des Gerichtshofs vom 13. September 2005 (Rs. C-176/03, Kommission gegen Rat) vom 14. Juni 2006. 52

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Umsetzung der Rechtsakte zum Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften erforderlich wären“55. Zum Abschluss ist noch darauf hinzuweisen, dass zur Erhöhung der Effizienz der Betrugsbekämpfung auch die Neugestaltung von Kooperationsmodalitäten zwischen OLAF, Eurojust und Europol miteinander und mit den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten verbessert werden könnte. Hier sind neue Kooperationsmuster zu entwickeln und zu überprüfen und es ist eine vernünftige Prioritätensetzung notwendig56. IV. Schlussfolgerungen Bei formeller Betrachtung wurde mit dem Verfassungsvertrag die angestrebte Stärkung der strafrechtlichen Dimension des Schutzes der finanziellen Interessen der EU vollzogen. Nach der vertraglichen Verankerung der Betrugsbekämpfung in Maastricht und der Ausweitung und Konkretisierung (insbesondere im Hinblick auf Rechtsetzungskompetenzen der Gemeinschaft) in Amsterdam, wurde die längst angestrebte Rechtsgrundlage für die Schaffung eines europäischen Strafrechtsraumes in diesem Bereich politisch durchgesetzt und vertraglich (wenn auch mit gewissen Einschränkungen) verankert. Trotz der grundlegenden Umgestaltung der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen, die auf die Stärkung der Unionskompetenzen und eine Zentralisierung ausgerichtet ist, behält der Bereich der Betrugsbekämpfung eine Sonderstellung: die potentielle Schaffung des bereichspezifischen supranationalen Strafrechts im engeren Sinn würde einen wichtigen Wendepunkt in der Entwicklung der strafrechtlichen Dimension des Integrationsprozesses darstellen. Es ist jedenfalls zu betonen, dass die Auslegung der neuen Regelung Art. III415 VVE nicht zu eindeutigen Ergebnissen führt. Angesichts der ungewissen Zukunft des Verfassungsvertrages erlangen die analysierten Neuerungen vor allem eine politische Bedeutung. Dem Durchbruch in der bisher ablehnenden Einstellung im Rat ist eine Präjudizwirkung zuzuschreiben. Unabhängig davon, nach welchem Szenario die Verfassungskrise in der EU gelöst werden könnte, werden die Bestimmungen des Verfassungsvertrages wenigstens eine Vorlagefunktion für künftige Rechtsvorhaben erfüllen. Der Einführung der vorgeschlagenen Neuerungen im Fall des Inkrafttretens des 55 Bericht der Kommission über die Umsetzung des Übereinkommens über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften und seiner Protokolle durch die Mitgliedstaaten, Brüssel, den 25.10.2004, KOM(2004)709, S. 8. 56 Vgl. Mitteilung der Kommission Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften. Betrugsbekämpfung Aktionsplan 2004–2005, Brüssel, den 9.8.2004, KOM (2004) 544. In diesen Tätigkeitsbereich ist insbesondere die angestrebte Reform von OLAF einzuordnen.

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(neuen) Verfassungsvertrages oder eines anderen Revisionsvertrages muss bei der Beibehaltung des Einstimmigkeitsprinzips eine Umsetzung dieser konkreten Regelungen nicht unbedingt folgen. Wesentliche Veränderungen in der Praxis des strafrechtlichen Schutzes der finanziellen Interessen sind folglich in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. Weiterreichende Rechtsfolgen sind kurzfristig dem Urteil des EuGH vom September 2005 zuzusprechen. Das kann zur Wiederaufnahme des Legislativverfahrens im Hinblick auf den Vorschlag der Richtlinie über den strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft führen. Darüber hinaus ist nicht auszuschließen, dass dieser Richterspruch auch die Setzung der unmittelbar anwendbaren strafrechtlichen Vorschriften begründen kann, was inhaltlich der Regelung des Verfassungsvertrages entsprechen würde. Das Warten auf die Lösung der Verfassungskrise steht jedoch auf jeden Fall anderen Bemühungen um Gewährleistung eines wirksamen Schutzes der finanziellen Interessen der Gemeinschaften auf der bestehenden primärrechtlichen Basis nicht im Wege.

Das Zusammenwirken von europäischem Abfallwirtschaftsrecht und deutschem Strafrecht am Beispiel der illegalen Abfallverbringung von Deutschland nach Polen Bernd Hecker

A. Einführung Die Problematik der grenzüberschreitenden Abfallverbringung („Mülltourismus“) steht schon seit langem auf der Agenda der nationalen und internationalen Umweltpolitik. Transnationale Abfallströme sind Ausdruck unterschiedlicher innerstaatlicher Aufnahmekapazitäten und Preise sowie differierender Verwertungs- und Beseitigungsstandards.1 Angesichts wachsender wirtschaftlicher Verflechtungen und der Sogwirkung niedrigerer Entsorgungsstandards, die mit kostengünstigeren Entsorgungsmöglichkeiten einhergehen, liegt die große strategische und strukturelle Bedeutung der grenzüberschreitenden Abfallverbringung für die Abfallwirtschaft auf der Hand.2 Abfallerzeuger, -besitzer und -entsorger disponieren über ihren Abfall primär nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Dass hochwertige und darum kostspielige Entsorgungsvarianten nach Möglichkeit nicht in Anspruch genommen werden, wenn preisgünstigere zur Verfügung stehen, kann als betriebswirtschaftliche Gesetzmäßigkeit gelten. Andererseits beeinträchtigt die Auslandsverbringung globale Steuerungsziele wie etwa den Grundsatz, Umweltbeeinträchtigungen vorrangig an ihrem Ursprung zu bekämpfen (Art. 174 II S. 2 EGV). Zugleich konterkariert sie die Bemühungen innerstaatlicher Stellen, eine angemessene Entsorgungskapazität im Inland zu schaffen und mit ordnungsrechtlichen und/oder ökonomischen Mitteln eine Politik der Verknappung von Beseitigungskapazitäten zu verfolgen.3 1 Krieger, in: Rengeling (Hrsg.), Handbuch zum europäischen und deutschen Umweltrecht (EUDUR), Bd. II, 1. Tb., 2. Aufl., Köln, 2003, § 74 Rn. 1; Umweltgutachten 2002 des Rates von Sachverständigen für Umweltfragen, in: BT-Drs. 14/8792, S. 333 ff. 2 Umweltgutachten 2002 des Rates von Sachverständigen für Umweltfragen, in: BTDrs. 14/8792, S. 337 ff.; siehe hierzu auch die nach dem Umweltstatistikgesetz erhobenen statistischen Daten zur grenzüberschreitenden Verbringung genehmigungspflichtiger Abfälle (Export aus und Import nach Deutschland) bis zum Jahre 2004 auf der Homepage des Umweltbundesamtes (www.umweltbundesamt.de). 3 Weidemann, in: EUDUR (Fn. 1), § 70 Rn. 6.

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Die zunehmende Verknappung inländischer Entsorgungskapazitäten sowie die steigenden Kosten einer aufwendigen Entsorgungstechnik motivieren freilich nicht nur zur Vornahme legaler Formen grenzüberschreitender Abfallverbringung, sondern schaffen auch erhebliche Tatanreize für skrupellose Täter.4 In Erwartung hoher Profite etablieren organisierte Tätergruppen, bestehend aus Abfallentsorgern, Abfallmaklern und Spediteuren ein regelrechtes „Verschiebungsgewerbe“, das u. a. durch professionelle Tatplanung und -durchführung, Ausnutzung dubioser Firmenstrukturen und kaschierte Geldflüsse gekennzeichnet ist.5 Man rufe sich nur den Anfang der 1990er Jahre spielenden „RumänienFall“ in Erinnerung, in dem Abfallexporte aus Deutschland für negative Schlagzeilen sorgten.6 Pflanzenbehandlungsmittel, deren Verfallsdatum abgelaufen war, gelangten illegal nach Rumänien und wurden dort ungesichert auf einer Deponie gelagert, bis sie dort durch Mitarbeiter von Umweltschutzorganisationen entdeckt wurden. Das deutsche Umweltministerium organisierte seinerzeit unter Aufwendung hoher Kosten den Rücktransport dieser Abfälle und sorgte für deren gefahrlose Entsorgung im Inland. Von Staat zu Staat divergierende Preise und Entsorgungsstandards bilden zweifellos kriminogene Faktoren ersten Ranges.7 Die Durchsetzung einheitlicher Entsorgungsstandards in allen EU-Mitgliedstaaten auf einem ökologisch anspruchsvollen Niveau liegt somit nicht nur im Interesse der im EGV festgeschriebenen Steuerungsziele (insbesondere Schutz der menschlichen Gesundheit und der Umwelt), sondern ist zugleich unverzichtbarer Bestandteil einer umfassenden Präventionsstrategie gegen Abfallwirtschaftskriminalität.8 Auf der Ebene der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten sollten deshalb alle präventiv-administrativen Instrumentarien ausgeschöpft werden, um Anreize für illegale transnationale Abfallverbringungen soweit wie möglich zu minimieren und Tatdurchführungen zu erschweren. Ein effektives kriminalstrafrechtliches Instrumentarium muss diese Maßnahmen ergänzen und flankieren, kann sie aber nicht ersetzen. Da die EG nicht über die Befugnis zur unmittelbaren Setzung kriminalstrafrechtlicher Regelungen verfügt9, ist sie insoweit auf die Unterstützung der Mitgliedstaaten angewiesen. In allen Mitglied4 Breuer, Der Im- und Export von Abfällen innerhalb der Europäischen Union aus umweltstrafrechtlicher Sicht, Berlin, 1998, S. 35 f. Vgl. zu den Erscheinungsformen illegaler Abfallverschiebung Risch/Windolph/Hühner, in: BKA Kriminalistisches Institut (Hrsg.), Abfallwirtschaftskriminalität im Zusammenhang mit der EU-Osterweiterung, Wiesbaden, 2005, 1.3.3.3; über weitere spektakuläre Fälle berichten Heine, Strafrecht und „Abfalltourismus“, in: Festschrift für Triffterer, Wien/New York, 1996, S. 401, 402 und Pösel, ZUR 1993, 214. 5 Breuer (Fn. 4), S. 37 m.w. N. 6 Greenpeace-Magazin Heft 4/1992, S. 8 ff. und FAZ v. 17.5.1993; vgl. auch zum „Albanien-Fall“ FAZ v. 1.3.1994, S. 17. 7 Vgl. hierzu Heine, Triffterer-FS (Fn. 4), S. 401, 403; Risch/Windolph/Hühner (Fn. 4), 1.4. 8 Vgl. hierzu die Ausführungen im Umweltgutachten 2002 des Rates von Sachverständigen für Umweltfragen, in: BT-Drs. 14/8792, S. 343 ff.

Europäisches Abfallwirtschaftsrecht und deutsches Strafrecht

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staaten sollte deshalb ein annähernd gleichwertiger strafrechtlicher Mindestschutzstandard etabliert und ein gleichermaßen hohes Strafverfolgungsrisiko für Täter geschaffen werden.10 In grenzüberschreitenden Kriminalitätsbereichen gewinnt das kriminalpolitische Interesse an einer harmonisierten Strafrechtsanwendung beträchtlich an Gewicht, da keine nationalspezifischen Gründe für eine Vermeidung der Sanktionierung solcher Angriffe geltend gemacht werden können.

B. Chancen und Risiken des EU-Erweiterungsprozesses Durch den Beitritt von zehn süd- und osteuropäischen Staaten am 1. Mai 2004 wuchs die EU auf insgesamt 25 Mitgliedstaaten an. Dieser Erweiterungsprozess bietet einerseits die Chance, auf europäischer Ebene substantielle Fortschritte in den Bereichen Umweltschutz und Abfallwirtschaft zu erreichen.11 Alle Beitrittsländer sind verpflichtet, ihr nationales Umweltrecht dem EU-Standard anzupassen. Dies beinhaltet u. a. die Aufgabe, bestehende Anlagen auf den europäischen Standard zu bringen und noch weitere Verwertungs-, Verbrennungs- und Deponiekapazitäten zu schaffen, die europäischen Vorgaben entsprechen müssen. Der Erweiterungsprozess birgt aber andererseits gerade in der Übergangsphase bis zur vollständigen Implementierung europarechtskonformer Umweltrechtsstandards in allen Beitrittsstaaten auch beträchtliche Risiken, denen mit geeigneten rechtlichen Maßnahmen (nicht nur, aber auch strafrechtlicher Natur) zu begegnen ist. Insbesondere gilt es zu verhindern, dass es zu einem Anstieg von Abfallexporten aus Deutschland und anderen Mitgliedstaaten mit hohen Entsorgungsstandards in Beitrittsländer kommt, deren Umweltrecht noch nicht dem EU-Standard entspricht. Bei Deponiepreisen, die beispielsweise in Polen deutlich unter den hiesigen Preisen liegen, ist schon aus Kostengründen damit zu rechnen, dass Abfälle ihren Weg in Richtung des neuen EU-Mitgliedstaates suchen werden. Das Kostengefälle zwischen alten und neuen Mitgliedstaaten und die hierdurch erzeugte „Sogwirkung“ für grenzüberschreitende Abfallverbringungen kann gravierende nachteilige Folgen für die Beitrittsländer, aber auch für die alten Mitgliedstaaten entfalten. Exemplarisch ist an die nachstehend aufgeführten Folgewirkungen zu denken:

9 Die h. L. wird bestätigt durch EuGH v. 13.9.2005 – Rs. C-176/03 (Kommission/ Rat), EuZW 2005, 632 = JZ 2006, 307, der jedoch eine strafrechtliche Anweisungskompetenz der EG bejaht; prinzipiell für eine strafrechtliche Rechtsetzungsbefugnis der EG Böse, GA 2006, 211, 220 ff.; zusammenfassend Hecker, Europäisches Strafrecht (EuStR), Berlin/Heidelberg, 2005, § 4 Rn. 101 m.w. N. 10 Vgl. hierzu bereits Hecker, ZStW 115 (2003), S. 880, 897 ff.; ders., JA 2002, 723, 729. 11 So auch die Einschätzung des Umweltgutachtens 2002 des Rates von Sachverständigen für Umweltfragen, in: BT-Drs. 14/8792, S. 365.

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• Gefährdung der notwendigen Deponieschließungsprogramme für Altdeponien in den Beitrittsländern; • zusätzliche Umweltbelastungen für Wasser, Boden und Luft in den Beitrittsländern; • zusätzliche Gesundheitsgefahren für die Bewohner der Beitrittsländer; • Entstehung neuer Altlasten und damit einhergehende finanzielle Probleme für ihre Beseitigung; • durch Ausweitung der Abfallexporte aus den alten Mitgliedstaaten bedingter Entzug von Abfällen aus deren Entsorgungsmärkten mit der Folge der Gefährdung der inländischen Entsorgungsinfrastruktur; • Entstehung einer Schattenwirtschaft („grauer Markt“). Speziell in Polen ist zwar die rechtliche Umsetzung des europäischen Abfallrechts bereits im Gange.12 Die Anpassung der tatsächlichen Verhältnisse wird aber noch beträchtliche Zeit in Anspruch nehmen. Noch im Jahre 1997 wurden etwa 98% aller kommunalen Abfälle auf Hausmülldeponien abgelagert, die in ihrer Mehrzahl den technischen Anforderungen der EU nicht entsprachen. Insgesamt existierten in diesem Jahr in Polen 884 kommunale Hausmülldeponien mit offizieller Betriebsgenehmigung und mit einer Gesamtfläche von 3.058 ha. Darüber hinaus gingen damalige Schätzungen von rund 10.000 illegalen „Müllkippen“ aus. Nur etwa 5% der offiziell genehmigten Deponien verfügten über eine den in der EU geltenden technischen Anforderungen entsprechende Basisabdichtung. Rund ein Viertel verfügten darüber hinaus über eine einfache Basis aus Asphalt oder dünner Folie. Nur etwa 20% der Deponien waren mit einer Sickerwassererfassung, und ebenfalls nur rund 20% der Deponien mit einer Waage und Eingangskontrolle ausgestattet. Eine Abfallvorbehandlung erfolgte in Polen nur bei etwa 2% der zu deponierenden Siedlungsabfälle. Zwar existieren bereits seit langem Wertstoffannahmestellen insbesondere für Altpapier und Altglas. Hierdurch wird jedoch nur ein sehr geringer Anteil des Wertstoffaufkommens erfasst.

C. Das rechtliche Instrumentarium zur Steuerung und Kontrolle der grenzüberschreitenden Abfallverbringung I. Basler Übereinkommen In dem derzeit von 165 Staaten13 ratifizierten und am 5. Mai 1992 in Kraft getretenen Basler Übereinkommen (BÜ) über die Kontrolle grenzüberschreiten12 Vgl. hierzu und zum Nachfolgenden das Umweltgutachten 2002 des Rates von Sachverständigen für Umweltfragen, in: BT-Drs. 14/8792, S. 365 ff. 13 Stand: 06/2006 (vgl. die Homepage des Sekretariats des BÜ www.basel.int/ratif/ frsetmain.php).

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der Verbringung gefährlicher Abfälle und ihrer Entsorgung14 ist der völkerrechtliche Rahmen kodifiziert, in welchem sich europarechtliche und nationale Regelungen der grenzüberschreitenden Abfallverbringung bewegen müssen. Die EG trat dieser völkerrechtlichen Konvention mit Beschluss des Rates vom 1. Februar 1993 bei. Die vorrangige Zielsetzung des BÜ besteht darin, gefährliche Abfälle grundsätzlich in demjenigen Staat zu entsorgen, in dem sie erzeugt wurden. Soweit eine grenzüberschreitende Abfallverbringung als grundsätzlich zulässig erachtet wird, soll diese weltweit einer wirksamen Überwachung und Kontrolle unterworfen werden.15 Der Weg des Abfalls soll vom Ursprung bis zu seiner umweltschonenden Entsorgung verfolgt werden, so dass Abfälle nicht mehr einfach „verschwinden“ oder unsachgemäß entsorgt werden können. Im Einzelnen sieht das BÜ vor, die Ein- und Ausfuhr sowie die Durchfuhr gefährlicher Abfälle nur dann zu erlauben, wenn alle vom Transport betroffenen Staaten informiert wurden und der Abfallverbringung zugestimmt haben (Art. 6 und 4 XI BÜ). Gänzlich ausgeschlossen werden soll nach Art. 4 V BÜ der Export in Staaten, welche dieser Konvention nicht zugestimmt haben. Ebenso ist durch die zuständigen Behörden die Ausfuhr in solche Staaten nicht zu gestatten, die ein Importverbot verhängt haben oder in denen eine umweltgerechte Entsorgung der Abfälle nicht gewährleistet erscheint (Art. 4 IX Buchst. a–e BÜ). Konventionswidrige Abfallverbringungen sind gem. Art. 4 IV BÜ unter Strafandrohung zu stellen. Bei gescheiterten oder illegal durchgeführten Abfallexporten (Art. 9 I BÜ) besteht seitens des Abfallexporteurs, des Erzeugers oder (subsidiär) des Exportstaates nach Art. 9 II BÜ eine Rückführungsverpflichtung in den Exportstaat, wenn auf anderem Wege keine den Bestimmungen dieser Konvention und denen des Empfängerstaates gemäße Entsorgung gewährleistet werden kann. Das BÜ dient also nicht etwa dem Zweck, einen Weltmarkt für Abfälle zu schaffen, sondern zielt vielmehr darauf ab, dem grenzüberschreitenden Verkehr mit Abfällen enge Fesseln bis hin zu Totalverboten aufzuerlegen.16 Diese Zielsetzung wirkt auch für das europäische Abfallverbringungsrecht prägend. II. Abfallverbringungsverordnung (AbfVerbrVO) 1. Zentrale Zielsetzung der AbfVerbrVO In der EG wurde das BÜ durch die Verordnung (EWG) 259/93 des Rates vom 1. Februar 1993 zur Überwachung und Kontrolle der Verbringung von Abfällen 14

ABlEG 1993 Nr. L 39, S. 1; BGBl. I 1994, S. 771; II 1994, S. 2703. Kemmler/Steinbacher, in: Rürup/Schneider (Hrsg.), Umwelt und Technik in den Europäischen Gemeinschaften, Teil I: Die grenzüberschreitende Entsorgung von Abfällen, Frankfurt a. M., 1993, S. 26; te Heesen, Abfallverbringung ohne Grenzen, BadenBaden, 2003, S. 14 ff. 16 Krieger, in: EUDUR (Fn. 1), § 74 Rn. 6 m.w. N. 15

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(Abfallverbringungsverordnung – AbfVerbrVO) umgesetzt, die am 9. Februar 1994 in Kraft trat17 und seit 6. Mai 1994 in allen EG-Staaten unmittelbar anwendbar ist (Art. 44 S. 2 AbfVerbrVO). Die AbfVerbrVO ist derzeit die umfassendste Kodifizierung europäischer Regelungen über die grenzüberschreitende Abfallverbringung. Sie schreibt – differenzierend nach Art der Abfälle, des Bestimmungslandes und des Verbringungszwecks – verschiedene Verfahren vor, die bei dem grenzüberschreitenden Verkehr mit Abfällen zu beachten sind. Innerhalb der EU wird den Mitgliedstaaten grundsätzlich die Möglichkeit eröffnet, die Verbringung zu verbieten bzw. bestimmte Einwände vorzubringen. Die Verordnung findet auf jede grenzüberschreitende Verbringung von Abfällen in der, in die und aus der Gemeinschaft Anwendung (Art. 1 I AbfVerbrVO). Die Abfallverbringung zwischen den Mitgliedstaaten ist Gegenstand des Titels II (Art. 3–12 AbfVerbrVO), der streng zwischen dem Verbringungszweck – Beseitigung oder Verwertung – unterscheidet. Wenn die Verbringung von Abfällen zur Beseitigung (Art. 3–5 AbfVerbrVO) in Rede steht, haben die innerstaatlich zuständigen Behörden wesentlich weitergehende Möglichkeiten, die grenzüberschreitende Verbringung zu unterbinden und dadurch dem Prinzip der vorrangigen Beseitigung von Abfällen im Inland gerecht zu werden. Bei der Verbringung von Abfällen zur Verwertung (Art. 6–11 AbfVerbrVO) steht ihnen dagegen ein weniger einschneidendes Einwendungsregime zur Verfügung. Die richtige Zuordnung des Verbringungszwecks ist somit zentrale Voraussetzung für die korrekte Anwendung der AbfVerbrVO. Eine exakte Abgrenzung der Verbringungszwecke ist schwierig und stellt die Rechtspraxis in den Mitgliedstaaten vor beträchtliche Auslegungsprobleme. Für die von der RL 75/442/EWG legal definierten und von der AbfVerbrVO übernommenen Zentralbegriffe gilt der Grundsatz der einheitlichen Auslegung und Anwendung.18 Die letztverbindliche Definitionsmacht steht daher dem EuGH und nicht etwa den nationalen Behörden und Gerichten zu. Den Mitgliedstaaten obliegt im Lichte des Prinzips der Gemeinschaftstreue (Art. 10 EGV) eine Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung und Anwendung der gemeinschaftsrechtlichen Regelungsvorgaben.19 Immerhin haben einige Urteile des EuGH aus jüngster Zeit die Frage der Abgrenzung von Verwertungs- und Beseitigungsabfall zumindest einer vorläufigen Klärung näher gebracht.20 17 ABlEG 1993 Nr. L 30, 1. Eine neue Verordnung (EG) des Europäischen Parlaments und des Rates über die Verbringung von Abfällen ist beschlossen (vgl. Standpunkt des Europäischen Parlaments vom 25.10.2005, ihr Inkrafttreten steht noch nicht fest (vgl. PE-CONS 3662/05 v. 7.3.2006). 18 Vgl. hierzu nur Bothe/Spengler, Rechtliche Steuerung von Abfallströmen, BadenBaden, 2001, S. 70 ff. 19 Vgl. hierzu Hecker, EuStR (Fn. 9), § 10 Rn. 1 ff. 20 EuGH v. 27.2.2002 – Rs. C-6/00 (ASA/BMU), Slg. 2002, 1961 = NVwZ 2002, 579; EuGH v. 13.2.2003 – Rs. C-228/00 (Kommission/Deutschland), Slg. 2003, 1439 = NVwZ 2003, 455; EuGH v. 13.2.2003 – Rs. C-458/00 (Kommission/Luxemburg),

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2. Abfallverbringung zwecks Beseitigung In Bezug auf zur Beseitigung bestimmte Abfälle sieht die AbfVerbrVO ein spezielles Genehmigungsverfahren in Form eines Notifizierungssystems vor, das die Erfassung und Kontrolle jeder grenzüberschreitenden Abfallverbringung gewährleisten soll. Jeder Verbringungsvorgang zum Zwecke der Abfallbeseitigung ist der zuständigen Behörde am Bestimmungsort zu notifizieren und der zuständigen Behörde des Versandortes durch Übermittlung einer Kopie des Notifizierungsschreibens bekannt zu machen (Art. 3 I AbfVerbrVO). Zur Notifizierung verpflichtet sind Personen, die beabsichtigen, Abfälle zu verbringen oder verbringen zu lassen, also insbesondere der Abfallerzeuger oder – wenn dies nicht möglich ist – der Händler bzw. Makler oder der Abfallbesitzer (Art. 2 Buchst. g AbfVerbrVO). Die Notifizierung erfolgt mit Hilfe eines einheitlichen Begleitscheins (Art. 42 AbfVerbrVO), den die notifizierende Person bei der zuständigen Behörde am Versandort erhält (Art. 3 III AbfVerbrVO). Die Verbringung von Abfällen zur Beseitigung darf erst erfolgen, nachdem die notifizierende Person von der zuständigen Behörde am Bestimmungsort die Genehmigung dazu erhalten hat (Art. 5 I AbfVerbrVO). Die zuständige Behörde am Bestimmungsort darf eine Genehmigung nur erteilen, wenn sie oder die anderen zuständigen Behörden (des Versand- und Durchfuhrortes) keine Einwände erhoben haben (Art. 4 II Buchst. a AbfVerbrVO). Einwände können nur auf die abschließend normierten Gründe des Art. 4 III Buchst. a bis c AbfVerbrVO gestützt werden. Dieser Artikel eröffnet den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, die Ein- oder Ausfuhr von Abfällen generell (im Wege nationaler Gesetzgebung) oder im Einzelfall (im Wege einer behördlichen Entscheidung) zu untersagen. Im Einzelnen unterscheidet Art. 4 III AbfVerbrVO drei Gruppen von möglichen Einwänden: Art. 4 III Buchst. a AbfVerbrVO nennt die Grundsätze der Entsorgungsautarkie, der Entsorgungsnähe und des Vorranges der Verwertung vor der Beseitigung. Die nach Art. 4 III Buchst. a AbfVerbrVO erhobenen Einwände müssen mit den vom EuGH konkretisierten Vorgaben der Warenverkehrsfreiheit (Art. 28 ff. EGV) in Einklang stehen.21 Nach der Judikatur des EuGH gestattet es das Einwendungsregime des Art. 4 III Buchst. a AbfVerbrVO einem Mitgliedstaat nicht, die Ausfuhr von Abfällen zur Beseitigung mit der Begründung zu verbieten, die Beseitigung in dem Bestimmungsort entspreche nicht dem eigenen umweltrechtlichen Standard.22 Weiterhin können mit Gründen versehene Einwände nach Art. 4 III Buchst. b AbfVerbrVO vom Versand- oder Bestimmungsstaat erhoben werden, Slg. 2003, 1553 = NVwZ 2003, 457; zusammenfassend Epiney, Umweltrecht in der EU, 2. Aufl., Köln, 2005, S. 363 f. 21 Epiney (Fn. 20), S. 364. 22 EuGH v. 13.12.2001 – Rs. C-324/99 („Daimler-Chrysler“), Slg. 2001, 9897; vgl. hierzu Versteyl, NVwZ 2002, 565 ff.

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um dem Grundsatz der Entsorgungsautarkie, des Näheprinzips oder Abfallbewirtschaftungsplänen zur Durchsetzung zu verhelfen. Schließlich eröffnet Art. 4 III Buchst. c AbfVerbrVO den Behörden des Versand-, Bestimmungs- und Durchfuhrortes die Möglichkeit, gegen die geplante Abfallverbringung mit Gründen versehene Einwendungen zu erheben, wenn die Verbringung nicht gemäß den einzelstaatlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften zum Schutz der Umwelt, zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung oder zum Schutz der Gesundheit erfolgt, wenn die notifizierende Person oder der Empfänger sich in der Vergangenheit illegale Verbringungen hat zuschulden kommen lassen oder wenn die Verbringung gegen internationale Übereinkommen verstößt, die der betroffene Mitgliedstaat geschlossen hat. 3. Abfallverbringung zwecks Verwertung Drei Listen – die Rote, Gelbe und Grüne – teilen die Abfälle nach ihrem jeweiligen Gefährdungspotential ein. Diese Listen besitzen nur im Rahmen der Verbringung von Abfällen zu Verwertungszwecken Bedeutung. In Entsprechung zum jeweiligen Risikograd variiert die Dichte des rechtlichen Kontrollregimes. Zur Roten Liste (Anhang IV) gehören Abfälle, die in erheblichem Umfang hochgefährliche Stoffe wie PCB oder Asbest enthalten, zur Gelben Liste (Anhang III) Abfälle, die giftige Metalle, organische oder anorganische Stoffe enthalten (einschließlich z. B. Abwasserschlamm und Hausmüll) und zur Grünen Liste (Anhang II) ungiftige Abfälle, wie z. B. Schrott, Bruchglas, Kunststoff-, Papier- und Textilabfälle. Abfälle, die in der Grünen Liste (Anhang II) aufgeführt und zur Verwertung bestimmt sind, unterliegen gem. Art. 1 III AbfVerbrVO grundsätzlich nicht dem in der VO vorgesehenen Kontrollverfahren. Im innergemeinschaftlichen Verkehr ist lediglich ein formloses Begleitdokument mit den Angaben nach Art. 11 AbfVerbrVO erforderlich. Notifizierungsverfahren und Sicherheitsleistung entfallen. Das Verfahren der Verbringung von zur Verwertung bestimmten Abfällen der Gelben Liste (Anhang III) entspricht nach Art. 6 AbfVerbrVO grundsätzlich dem Verfahren nach Art. 3 AbfVerbrVO (Notifizierungspflicht). Jedoch ist das Recht zur Abfallverbringung nicht an eine vorherige Genehmigung gebunden. Vielmehr darf die Verbringung dieser Abfälle zur Verwertung nach Ablauf einer 30-tägigen Frist erfolgen, wenn von den zuständigen Behörden am Versand- und Bestimmungsort keine Einwände erhoben worden sind (Art. 8 I AbfVerbrVO), es sei denn, die zuständigen Behörden haben die Erteilung einer schriftlichen Zustimmung beschlossen (Art. 8 I S. 3 AbfVerbrVO).23 Die stillschweigende Zustimmung der Behörden gilt gem. Art. 8 I S. 2 AbfVerbrVO nur für ein Jahr 23 Das Zustimmungserfordernis stellt ein präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt dar, vgl. BVerwG NVwZ 2004, 344 = DVBl. 2004, 625.

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nach Ablauf der 30-Tage-Frist. Im Unterschied zu den zur Beseitigung bestimmten Abfällen sind generelle Ein- und Ausfuhrbeschränkungen nicht möglich. Nach Art. 7 IV Buchst. a AbfVerbrVO können die zuständigen Behörden am Versand- und Bestimmungsort mit Gründen versehene Einwendungen nur erheben, wenn (1) die Abfallverbringung nicht gemäß den einzelstaatlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften zum Schutz der Umwelt, zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung oder zum Schutz der Gesundheit erfolgt, (2) die notifizierende Person oder der Empfänger sich in der Vergangenheit illegale Verbringungen hat zuschulden kommen lassen, (3) die Verbringung gegen internationale Übereinkommen verstößt, die der betroffene Mitgliedstaat geschlossen hat oder wenn (4) der Anteil an verwertbarem und nicht verwertbarem Abfall, der geschätzte Wert der letztlich verwertbaren Stoffe oder die Kosten der Verwertung und die Kosten der Beseitigung des nicht verwertbaren Anteils eine Verwertung unter wirtschaftlichen und ökologischen Gesichtspunkten nicht rechtfertigen. Hinzu kommt (5) als ungeschriebener Einwendungsgrund das „falsche Verfahren“ (auch „Scheinverwertung“ genannt), d. h. die fälschliche Notifizierung von Abfällen zur Beseitigung als Abfälle zur Verwertung.24 Für die Verbringung der zur Verwertung bestimmten Abfälle der Roten Liste (Anhang IV) gelten gem. Art. 10 AbfVerbrVO die für Abfälle der Gelben Liste in Art. 6–8 AbfVerbrVO aufgestellten Verfahrensvorschriften (Notifizierungspflicht; beschränkte Einwendungsgründe) mit der Ausnahme, dass die zuständigen Behörden des Versand- und Bestimmungsortes ihre Zustimmung schriftlich vor dem Beginn der Verbringung zu erteilen haben. 4. Übergangsvorschriften für das Beitrittsland Polen a) Beseitigungsabfälle betreffend In den Beitrittsverträgen wurden mit einer Reihe von Beitrittsstaaten (Lettland, Malta, Polen, Slowakei und Ungarn) Übergangsvorschriften für die Abfallverbringung vereinbart.25 Diese sehen eine Erweiterung des Kontrollregimes der AbfVerbrVO vor, um den oben beschriebenen Gefahren der Abfallverbringung in diese Staaten während einer festgelegten Übergangszeit zu begegnen. Da die Verbringung von Abfällen zum Zwecke der Beseitigung – gleich, ob der Grünen, Gelben oder Roten Liste zugehörig – stets einem Genehmigungsvorbehalt durch die zuständige Behörde des Bestimmungsortes unterliegt (vgl. oben C. II. 2), die ihrerseits Einwände der Behörden des Versand- und Durchfuhrortes zu beachten hat, besteht für diese Verbringungskonstellation kein Bedarf an

24

Winter, DVBl. 2000, 657, 664. Vgl. hierzu den Leitfaden Abfallwirtschaft und EU-Erweiterung, Stand: 1.4.2004, S. 11 ff. mit Tabelle auf S. 21–23. 25

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speziellen Übergangsvorschriften. Insoweit unterliegt die Abfallverbringung in die genannten fünf Mitgliedstaaten also dem für alle Abfallkategorien geltenden Kontrollregime der Art. 3–5 AbfVerbrVO. Wenn ein Abfallproduzent Abfälle zur Beseitigung aus Deutschland nach Polen verbringen will, muss er zuvor das in Art. 3 AbfVerbrVO geregelte Notifizierungsverfahren durchlaufen. Die Federführung des behördlichen Verfahrens liegt bei der zuständigen Behörde des Bestimmungsortes (hier: Polen), die gem. Art. 5 I AbfVerbrVO für die Erteilung der Genehmigung zuständig ist. Die zuständige Behörde des Versandortes (hier: Deutschland) kann gegen die Abfallverbringung Einwände erheben, die (zumindest) auf einem der in Art. 4 III Buchst. a bis c AbfVerbrVO abschließend normierten Gründe beruhen. Die Möglichkeit, dass die zuständigen Behörden am Versand- und Bestimmungsort zu unterschiedlichen rechtlichen Bewertungen und Ergebnissen kommen, ist systemimmanent.26 Die AbfVerbrVO überträgt nämlich die Verpflichtung, darüber zu wachen, dass die Verbringung entsprechend den Vorschriften der Verordnung erfolgt, allen zuständigen Behörden gleichermaßen. Der AbfVerbrVO wohnt mithin ein behördliches Einstimmigkeitsprinzip inne. Wenn auch nur eine Behörde den Verbringungsvorgang beanstandet, muss dieser – vorbehaltlich erfolgreicher Rechtsbehelfe oder Rechtsmittel – unterbleiben. Die federführende polnische Behörde ist gem. Art. 4 II a AbfVerbrVO verpflichtet, erhobene Einwände der deutschen Behörde zu beachten. Sie darf also eine Genehmigung für die geplante Abfallverbringung nicht erteilen. Tut sie es dennoch, ist die Verbringung trotz materieller Fehlerhaftigkeit der Genehmigung legal, darf also auch nicht etwa gem. § 326 II StGB strafrechtlich geahndet werden (vgl. hierzu auch unten E. III.1).27 Dem Versandstaat, dessen Einwände unberücksichtigt geblieben sind, bleibt dann nur – nach Befassung der Kommission – die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen den Bestimmungsstaat gem. Art. 227 EGV.28 b) Verwertungsabfälle betreffend Die Übergangsvorschriften beinhalten eine Modifikation des Überwachungsstandards für den Bereich der Abfallverbringung zur Verwertung. Dabei werden in Bezug auf das Beitrittsland Polen folgende von der AbfVerbrVO abweichenden Regelungen getroffen:

26 EuGH v. 16.12.2004 – Rs. C-277/02 („EU-Wood-Trading“) ZUR 2005, 134 ff. (Rz. 48). 27 Breuer (Fn. 4), S. 139, Schönke/Schröder/Lenckner/Heine, StGB, 27. Aufl., München, 2006, § 326 Rn. 12 d. 28 Krieger, in: EUDUR (Fn. 1), § 74 Rn. 38.

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(1) Notifizierungspflicht für alle Arten der Abfallverbringung Alle Abfallverbringungen nach Polen unterliegen der Notifizierungspflicht, also auch die zur Verwertung bestimmten Abfälle der Grünen Liste (Anhang II), die nach der AbfVerbrVO an sich von der Notifizierungspflicht ausgenommen sind. Damit können die zuständigen Behörden des Versand-, Durchfuhrund Bestimmungsstaates auch für Abfälle der Grünen Liste Einwände gegen die Verbringung zur Verwertung erheben. Die Freiheit des Warenverkehrs wird insoweit beschränkt. Für Abfälle der Grünen und Gelben Liste (Anhänge II bzw. III) gilt das Verfahren der Art. 6–8 AbfVerbrVO, also das Erfordernis einer stillschweigenden, ausnahmsweise schriftlichen Zustimmung gem. Art. 8 I AbfVerbrVO. Die für eine Übergangszeit angeordnete Notifizierungspflicht für Abfälle zur Verwertung der Grünen Liste gilt für Polen bis 31. Dezember 2012. (2) Spezielle Verbringungsverbote In den Übergangsvorschriften sind spezielle Verbringungsverbote für bestimmte Anlagen statuiert. So ist die Verbringung von Abfällen zur Verwertung in polnische Anlagen verboten, solange für diese Anlagen Übergangsregelungen zur IVU-RL 96/61/EG29 gelten. Nach der IVU-RL 96/61/EG muss der Zulassung besonders umweltrelevanter Vorhaben, die im Anhang der Richtlinie aufgeführt sind, eine integrierte medienübergreifende Bewertung zugrunde gelegt werden. Danach dürfen die an die Umweltverträglichkeit der Anlagen zu stellenden Anforderungen nicht mehr nur isoliert in Bezug auf jeweils einen einzelnen Belastungspfad oder ein einzelnes Schutzgut bestimmt werden; vielmehr ist ihnen eine integrierte Betrachtung unter Berücksichtigung aller Umweltmedien und aller Schutzgüter sowie möglicher Verlagerungs- und Wechselwirkungen zugrunde zu legen, wobei insbesondere Belastungsverlagerungen von einem Umweltmedium in ein anderes vermieden werden sollen. Das Integrationskonzept der IVU-Richtlinie zielt folglich auf eine ökologische Gesamtoptimierung der Anlagentechnik ab.30 (3) Erweiterung der Einwandmöglichkeiten für bestimmte Abfälle zur Verwertung Die Übergangsregelungen verschärfen das Überwachungsregime für bestimmte Abfallverbringungen nach Polen. Bis 31. Dezember 2007 können die 29 Richtlinie 96/61/EG des Rates v. 24.9.1996 über die integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung (ABlEG 1996 Nr. L 257, 26); vgl. hierzu Epiney (Fn. 20), S. 253 ff. 30 Zur Umsetzung der IVU-RL in Deutschland vgl. Umweltgutachten 2002 des Rates von Sachverständigen für Umweltfragen, in: BT-Drs. 14/8792, S. 177 ff.

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zuständigen Behörden Einwände gegen die Verbringung von Glas, Kunststoff, Papier und gebrauchte Reifen – allesamt Abfälle zur Verwertung des Anhangs II (Grüne Liste) – erheben, wie sie für Abfälle zur Beseitigung vorgesehen sind. Des Weiteren können die Behörden gegen die Verbringung von Abfällen zur Verwertung des Anhangs IV (Rote Liste) sowie gegen die Verbringung von zur Verwertung bestimmten, nicht in den Anhängen aufgeführten Abfällen bis 31. Dezember 2012 Einwände erheben, wie sie für Abfälle zur Beseitigung vorgesehen sind. Diese erweiterte Einwandmöglichkeit gilt auch für Abfälle zur Verwertung des Anhangs III (Gelbe Liste) bis 31. Dezember 2007 (verlängerbar bis 31. Dezember 2012). Der Sinn dieser Übergangsregelung besteht darin, den beteiligten Behörden des Ausfuhr- und Bestimmungsstaates die Möglichkeit zu geben, der Abfallverbringung nach Polen auch generelle Einwände – wie z. B. die Prinzipien der Entsorgungsautarkie und Entsorgungsnähe (Art. 4 III Buchst. b AbfVerbrVO) – entgegenzuhalten. Der Rat der Sachverständigen für Umweltfragen begrüßt in seinem für die deutsche Bundesregierung erstellten Umweltgutachten 2002 die mit Polen vereinbarten Übergangsregelungen, weist jedoch darauf hin, dass die wünschenswerte Abstimmung zwischen Verbringungsmöglichkeiten und Geltung der europäischen Entsorgungsstandards damit nur auf der normativen Ebene, nicht dagegen auch faktisch gewährleistet ist.31 Sollte beispielsweise die faktische Anpassung der polnischen Entsorgungsanlagen oder des polnischen Vollzugssystems an die Erfordernisse des europäischen Abfallrechts bis zum Ende der Übergangsfristen nicht erfolgt sein, würde die Verbringungsfreiheit für Verwertungsabfälle einsetzen, ohne dass die europarechtlichen Mindeststandards erfüllt wären. Aus umweltpolitischer Sicht wäre es daher wünschenswert, die Verbringungsfreiheit nicht an den Ablauf bestimmter Fristen, sondern an die faktische Einhaltung der europarechtlich geforderten Standards am Verbringungsort zu binden.

D. Vollzug der AbfVerbrVO in den Mitgliedstaaten Das Ziel der Verhinderung illegaler grenzüberschreitender Verbringungsvorgänge kann nur erreicht werden, wenn die mit dem Vollzug der AbfVerbrVO beauftragten Behörden des Versand-, Durchfuhr- und Bestimmungsstaates ihre Überwachungsaufgaben gehörig erfüllen. Nach Art. 175 IV EGV haben die Mitgliedstaaten für die Durchführung der Umweltpolitik Sorge zu tragen. Mit dem Vollzugsrecht korrespondiert eine Vollzugspflicht. Aufgrund des in Art. 10 EGV verankerten Prinzips der Gemeinschaftstreue und des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, die sich aus den gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen ergebenden Verpflichtungen zu vollzie31

BT-Drs. 14/8792, S. 366.

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hen.32 Wie gut dies in der Vollzugspraxis gelingt, hängt nicht zuletzt davon ab, wie die zuständigen nationalen Verwaltungsbürokratien mit dem auf ihnen lastenden Zeit- bzw. Erledigungsdruck und mit Sachzwängen (z. B. durch Abfallnotstände) umgehen.33 Es bleibt ein ständiger Auftrag aller Mitgliedstaaten, ungeachtet der praktischen Schwierigkeiten den Vollzug der AbfVerbrVO zu optimieren bzw. bestehende Vollzugsdefizite zu beseitigen. Die auf mitgliedstaatlicher Ebene für den Vollzug der AbfVerbrVO zuständigen Behörden sind auf eine effektive Unterstützung durch Polizei und Zoll angewiesen. Praktisches Anschauungsmaterial für eine erfolgreiche deutschpolnische Kontrollaktion liefert die in einer Presseinformation des Bundesumweltamtes vom 13. Juni 200534 geschilderte Maßnahme, die abermals die herausragende Bedeutung grenzüberschreitender Zusammenarbeit bestätigt: Deutsche und polnische Behörden haben in einer gemeinsamen Aktion an der deutsch-polnischen Grenze mehrere illegale Mülltransporte Richtung Polen aufgespürt und angehalten. Das polnische Hauptinspektorat für Umweltschutz, das Umweltbundesamt, der Zoll, das Bundesamt für Güterverkehr und die Polizeibehörden der betroffenen Bundesländer kontrollierten am 8. Juni 2005 Lkw an der deutsch-polnischen Grenze. Kontrolliert wurde an diesem Tag im Vorfeld der Grenzübergänge Swiecko – Frankfurt/O., Kolbaskowo – Pomellen und Jedrzychowice – Ludwigsdorf. Auf deutscher Seite fand die Aktion morgens von 4 Uhr bis 10 Uhr und auf polnischer Seite von 10 Uhr bis 16 Uhr statt. Ziel der konzertierten Kontrollaktion war es, illegale Aktivitäten aufzudecken und deutlich zu machen, dass trotz des Wegfalls der obligatorischen Warenkontrollen seit dem Beitritt Polens zur EU jederzeit eine Prüfung durch die zuständigen Kontrollorgane im Grenzgebiet möglich ist. Elf von insgesamt 200 kontrollierten Lkw transportierten illegal Abfälle nach Polen. Damit bestätigten sich Hinweise, dass schrumpfende Lagerbestände – u. a. von Altreifen oder Altbatterien – in Deutschland unter anderem auf illegale grenzüberschreitende Abfallverbringungen zurückzuführen waren. Es stellte sich heraus, dass die gesetzlichen Regelungen der AbfVerbrVO umgangen und in einem Fall auch Begleitpapiere gefälscht wurden. Aus Sicht des deutschen Polizeirechts ist zu bemerken, dass die Beamten des Polizeivollzugsdienstes bereits nach Maßgabe des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts (Landespolizeigesetze der Länder) befugt sind, Kontrollmaßnahmen durchzuführen und auf diese Weise auch die Einhaltung abfallrechtlicher Bestimmungen zu überwachen. Auch ohne das Vorliegen eines Anfangsverdachts gestatten die einschlägigen Bestimmungen der Landespolizeigesetze 32

Vgl. hierzu nur Callies, ZUR 2003, 129, 135. Vgl. hierzu Heine, Triffterer-FS (Fn. 4), S. 401, 415. 34 Vgl. Presseinformation 031/2005 des Umweltbundesamtes (www.umweltbundes amt.de). 33

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den Polizeibeamten, nicht nur die Berechtigungsscheine35 (hier: Abfallbegleitpapiere) zu kontrollieren, sondern sich auch im Sinne einer Plausibilitätskontrolle davon zu überzeugen, dass die mitgeführte Ladung mit dem Berechtigungsschein übereinstimmt.36 Im Hinblick auf diese für ausreichend befundene Rechtslage hat die Mehrheit des niedersächsischen Landtages Anfang 2002 eine Gesetzesinitiative der Landtagsfraktion „Die Grünen“ abgelehnt, die darauf abzielte, durch eine Änderung des Landesabfallgesetzes sog. „verdachtsunabhängige Abfallkontrollen“ zu ermöglichen.37

E. Strafbarkeit der illegalen grenzüberschreitenden Abfallverbringung I. Schutzzweck und internationaler Anwendungsbereich des § 326 II StGB Art. 26 V AbfVerbrVO statuiert die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, illegale Abfallverbringungen durch „geeignete rechtliche Maßnahmen zu ahnden“. Art. 4 III, IV i.V. m. Art. 9 BÜ verpflichtet die Konventionsstaaten sogar explizit zur Schaffung entsprechender Straftatbestände. Als illegale Abfallverbringungen gelten alle in Art. 26 I Buchst. a bis f AbfVerbrVO aufgezählten Verbringungsvorgänge. Um den völker- und europarechtlichen Anweisungen nachzukommen, hat der deutsche Gesetzgeber in Art. 3 Nr. 1 Buchst. a AGBÜ mit § 326 II StGB einen neuen strafrechtlichen Verbringungstatbestand geschaffen.38 Nach dieser Bestimmung macht sich strafbar, wer Abfälle im Sinne des Absatzes 1 entgegen einem Verbot oder ohne die erforderliche Genehmigung in den, aus dem oder durch den Geltungsbereich dieses Gesetzes verbringt. Auch die versuchte oder fahrlässig begangene Tat ist mit Strafe bedroht (§ 326 IV, V Nr. 1 StGB). Aufgrund seiner europarechtsakzessorischen Ausgestaltung gehört § 326 II StGB zum Besitzstand des Europäischen Strafrechts.39 § 326 II StGB ist ein abstraktes Gefährdungsdelikt, mit dem das Ziel verfolgt wird, Auswüchse des sog. Abfalltourismus, besonders deutlich beim Verbringen hochtoxischer Abfälle in Länder mit unzureichenden Entsorgungsstrukturen,

35 Eine Pflicht zur Mitführung von Abfallbegleitpapieren bei der Abfallbeförderung ergibt sich für den grenzüberschreitenden Abfalltransport aus § 4 V S. 1 AbfVerbrG. 36 Vgl. exempl. § 14 PolG (Brandenburg); § 13 III SOG (Nds.); § 10 III POG (Rh.Pf.); § 26 III PolG (Ba.-Wü.); § 9 III PolG (Saarl.); § 18 VII SOG (Hessen). 37 Vgl. Nieders. LT-Drs. 14/1326. 38 Ausführungsgesetz zum Basler Übereinkommen v. 30.9.1994, in Kraft getreten am 14.10.1994 (BGBl. I, S. 2771). 39 Vgl. zu diesem Begriff Ambos, Internationales Strafrecht, München 2006, § 9 Rn. 14; Hecker, EuStR (Fn. 9), § 1 Rn. 5.

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wirksamer als bisher zu bekämpfen.40 Sein Schutzzweck erschließt sich vor dem Hintergrund des von der AbfVerbrVO etablierten Überwachungssystems, das den zuständigen Behörden des Versand-, Durchfuhr- und Bestimmungslandes ermöglichen soll, alle für eine geplante Abfallverbringung wesentlichen Informationen zu erhalten und die für den Schutz der menschlichen Gesundheit und Umwelt erforderlichen präventiven Maßnahmen treffen zu können. Die Strafbewehrung dient somit der Absicherung einer behördlichen Präventivkontrolle, hier in Form des behördlichen Notifizierungssystems, mit dem der grenzüberschreitende Umlauf der Abfälle in kontrollierte Bahnen gelenkt werden soll.41 Da das Notifizierungssystem der Gewährleistung eines hohen Schutzniveaus für Umwelt und menschliche Gesundheit dient, ist neben dem bei § 326 II StGB dominierenden administrativen Rechtsgutsaspekt auch eine ökologisch-anthropozentrische Rechtsgutskomponente anzuerkennen.42 Hervorzuheben ist, dass § 326 II StGB als eine im „Dienst der Durchsetzung von Gemeinschaftsrecht“ (Assimilierungsprinzip43) stehende Strafnorm keine tatbestandsimmanente Beschränkung auf einen rein inländischen Rechtsgüterschutz aufweist.44 Sein Schutzbereich umfasst somit auch die Gewährleistung der nach Maßgabe der AbfVerbrVO durchzuführenden präventiven Kontrolle durch Behörden anderer Mitgliedstaaten und die hierdurch bezweckte Sicherung ökologischer Interessen im EU-Ausland. Diese Erkenntnis gewinnt bei der Frage der Anwendbarkeit deutschen Strafrechts auf im Ausland handelnde Täter Bedeutung.45 § 326 II StGB ist beispielsweise auf Personen anwendbar, die sich ausschließlich auf polnischem Territorium als Mittäter, mittelbare Täter, Anstifter oder Gehilfen an einer illegalen Verbringung gefährlicher Abfälle von Deutschland nach Polen beteiligen. Für den Mittäter folgt dies daraus, dass er sich den Tatbeitrag seiner in Deutschland handelnden Komplizen (§§ 3, 9 I, 1. Var. StGB) zurechnen lassen muss.46 Entsprechendes gilt für den mittelbaren Täter, als dessen Handlungsort auch der Ort angesehen wird, an dem der Tat40 BT-Drs. 12/192, S. 20 f., Dieckmann, ZUR 1993, 109, Schönke/Schröder/Lenckner/Heine, § 326 Rn. 1a, 12a. 41 Vgl. zu dem administrativen Rechtsgutsaspekt Rengier, NJW 1990, 2513 ff.; krit. Schünemann, Zur Dogmatik und Kriminalpolitik des Umweltstrafrechts, Triffterer-FS (Fn. 4), S. 452. 42 Breuer (Fn. 4), S. 91, Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts, Berlin u. a., 2001, S. 600 ff.; Schönke/Schröder/Cramer/Heine, Vorbem §§ 324 Rn. 8. 43 Hecker, EuStR (Fn. 9), § 7 Rn. 1 ff., 19 ff.; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, Baden-Baden 2005, § 8 Rn. 26. 44 Satzger (Fn. 42), S. 603; im Ergebnis ebenso Breuer (Fn. 4), S. 91; Schönke/ Schröder/Cramer/Heine, § 330 d Rn. 4, Hecker, EuStR (Fn. 9), § 2 Rn. 8. 45 Nach h. M. geht die Frage nach dem tatbestandlichen Schutzbereich der internationalstrafrechtlichen Geltungsfrage „logisch“ vor; vgl. hierzu MüKoStGB/Ambos, Bd. I, München, 2003, Vor §§ 3–7 Rn. 89; Schönke/Schröder/Eser, Vorbem §§ 3–7 Rn. 13. 46 BGHSt 39, 88, 90; MüKoStGB/Ambos/Ruegenberg, § 9 Rn. 10; Schönke/Schröder/Eser, § 9 Rn. 4.

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mittler gehandelt hat.47 Auf einen in Polen agierenden Anstifter bzw. Gehilfen trifft die Bestimmung des § 9 II S. 1, 1. Var. StGB zu, die den Ort der Haupttat (hier: Deutschland als Handlungsort) für maßgeblich erklärt. II. Europarechtsakzessorietät des § 326 II StGB – Abfallbegriff § 326 II StGB ist ein europarechtsakzessorischer Straftatbestand.48 Das Gemeinschaftsrecht dringt unmittelbar in die Ausfüllung einzelner Tatbestandsmerkmale ein, wie sich bereits bei der Bestimmung des Abfallbegriffes zeigt. Ob Abfälle zur Beseitigung oder zur Verwertung bestimmt sind, muss im Abfallverbringungsrecht gemeinschaftsweit einheitlich beurteilt werden.49 Abfälle sind nach der von Art. 2 Buchst. a AbfVerbrVO übernommenen Begriffsbestimmung des Art. 1 Buchst. a RL 75/442 EWG alle Stoffe oder Gegenstände, die unter die in Anhang I der RL i. d. F. der RL 91/156/EWG aufgeführten Gruppen fallen und deren sich der Besitzer entledigt, entledigen will oder entledigen muss.50 Die AbfVerbrVO erstreckt sich damit nicht nur auf gefährliche, sondern auf alle Arten von Abfällen, auch wenn für diese (teilweise) differenzierende Regelungen gelten.51 Hierzu gehören auch Abfallgemische, die in einer sog. Konditionierungsanlage untereinander und/oder mit anderen Stoffen (z. B. Sägespänen) vermischt und dabei hinsichtlich ihrer physikalischen und chemischen Eigenschaften (z. B. zum Zwecke der Erzeugung von Ersatzbrennstoff) „vergleichmäßigt“ werden.52 47 BGH wistra 1991, 135; MüKoStGB/Ambos/Ruegenberg, § 9 Rn. 10; Schönke/ Schröder/Eser, § 9 Rn. 4. 48 Vgl. hierzu bereits Breuer (Fn. 4), S. 59 ff. 49 BVerwG ZUR 2003, 365, vgl. auch EuGH v. 13.12.2001 („Daimler Chrysler“), Fn. 29, Rz. 34. 50 Der EuGH hat entschieden, dass auch Stoffe und Gegenstände, die zur wirtschaftlichen Wiederverwendung geeignet sind, selbst dann wenn sie Gegenstand von Handelsverträgen oder Handelsnotierungen sind, unter den Abfallbegriff fallen können; vgl. EuGH v. 25.6.1997 – Rs. C-224/95 (Tombesi u.a.), Slg. 1997, 3561 Rz. 54; EuGH v. 28.3.1990 – Rs. C-206/88 und C-207/88 (Vesesso und Zanetti), Slg. 1990, 1461 Rz. 8. Zu den Irrungen und Wirrungen um den europäischen Abfallbegriff vgl. Dieckmann, ZUR 1995, 169, 171 ff.; Epiney (Fn. 20), S. 347 ff.; Fluck, DVBl. 1995, 537 ff.; Gassner, NVwZ 1998, 1148 ff.; Lenz/Ebsen, EWS 2003, 345 ff.; Versteyl, EuZW 2000, 585 ff. 51 Radioaktive Abfälle werden jedoch nicht von der AbfVerbrVO erfasst. Für die Verbringung dieser Abfälle statuiert § 5 Verordnung über die Verbringung radioaktiver Abfälle in das oder aus dem Bundesgebiet v. 27.7.1998 (AtAV; BGBl. I, S. 1918) eine Genehmigungspflicht. 52 Es ist Sache der Mitgliedstaaten, durch Statuierung von Vermischungsverboten unerwünschten Vermischungen Einhalt zu gebieten. Dem Export oder Import verbotswidrig vermischter Abfälle kann ein Verbringungseinwand nach Art. 7 IV Buchst. a, 2. Spiegelstrich AbfVerbrVO entgegengehalten werden; vgl. hierzu Kropp, NVwZ 2003, 430, 433 f. Im Umweltgutachten 2002 des Rates von Sachverständigen für Um-

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Da im Anwendungsbereich der AbfVerbrVO ein gemeinschaftsrechtlich definierter Abfallbegriff gilt, kann im Rahmen des § 326 II StGB nichts anderes gelten. Das Tatbestandsmerkmal „Abfall“ muss anhand gemeinschaftsrechtlicher Auslegungsgrundsätze unter besonderer Berücksichtigung einschlägiger EuGHRechtsprechung konkretisiert werden.53 Eine hiervon abweichende Begriffsbestimmung durch die nationale Rechtspraxis wäre unvereinbar mit dem Grundsatz einheitlicher Auslegung und Anwendung unmittelbar anwendbaren Gemeinschaftsrechts in dem von der AbfVerbrVO harmonisierten Bereich der grenzüberschreitenden Abfallverbringung.54 Der Annahme einer unmittelbaren Ausrichtung des Abfallbegriffes des § 326 II StGB an der Begriffsbestimmung der AbfVerbrVO steht auch nicht der Verweis des § 326 II StGB auf „Abfälle im Sinne des Absatz 1“ entgegen. Dieser ist lediglich dahingehend zu verstehen, dass in § 326 II StGB auf die Gefährlichkeitskriterien des § 326 I Nr. 1–4 StGB Bezug genommen wird. III. Tathandlung des § 326 II StGB 1. Grenzüberschreitende Verbringung ohne die erforderliche Genehmigung „Ohne die erforderliche Genehmigung“ i. S. d. § 326 II StGB handelt, wer ohne die nach Maßgabe der AbfVerbVO vorgeschriebene behördliche Freigabe bzw. einer dieser gleichgestellten Freigabefiktion Abfälle verbringt.55 Nicht nur das Verbringen von Beseitigungsabfällen ohne Genehmigung (vgl. oben C. II. 2) ist damit erfasst, sondern auch das Verbringen von Verwertungsabfällen der Gelben Liste vor Fristablauf ohne schriftliche Zustimmung (vgl. oben C. II. 3) bzw. nach Fristablauf ohne stillschweigende Zustimmung (vgl. oben C. II. 3) sowie der Roten Liste ohne schriftliche Zustimmung (vgl. oben C. II. 3).56 Der wirksamen Freigabeentscheidung eines Abfallverbringungsvorganges durch eine mit dem Vollzug der AbfVerbrVO beauftragten Behörde kommt im weltfragen wird eine gesetzliche Getrennthaltungspflicht gefordert, um vorhandenen Anreizen zu abfallwirtschaftlich nicht sinnvoller Erzeugung von Mischabfällen entgegenzuwirken; vgl. BT-Drs. 14/8792, S. 355 ff. 53 Vgl. hierzu Hecker, EuStR (Fn. 9), § 7 Rn. 80. 54 Im Ergebnis ebenso Ahlmann-Otto, Die Verknüpfung von deutschem und EG-Abfallwirtschaftsrecht mit dem Abfallstrafrecht, Berlin, 2000, S. 162 f.; Breuer (Fn. 4), S. 102, Heine, Triffterer-FS (Fn. 4), S. 401, 417; Satzger (Fn. 42), S. 602 f.; a. A. LKSteindorf, § 326 Rn. 122, der pauschal auf die Kommentierung zu dem nicht notwendig deckungsgleichen Abfallbegriff des Absatz 1 verweist. 55 Zu dem innerhalb der EU kaum praxisrelevanten Verbringen „entgegen einem Verbot“ vgl. Breuer (Fn. 4), S. 131 ff.; Schönke/Schröder/Lenckner/Heine, § 326 Rn. 12d. 56 Breuer (Fn. 4), S. 135 ff., 145 ff.; Schönke/Schröder/Lenckner/Heine, § 326 Rn. 12d.

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Rahmen des § 326 II StGB tatbestandsausschließende Wirkung zu.57 Wenn die Genehmigung einer Behörde ausreicht (vgl. zu den Beseitigungsabfällen Art. 5 I AbfVerbrVO), so hat diese Behörde (des Bestimmungsortes) zwar die Einwände der anderen zuständigen Behörden (des Versand- und Durchfuhrortes) zu beachten. Eine verordnungswidrig und damit materiellrechtlich fehlerhaft erteilte Genehmigung ist jedoch grundsätzlich wirksam und schließt die Strafbarkeit nach § 326 II StGB aus (vgl. hierzu bereits oben C. II. 4 a).58 Bei den Verwertungsabfällen der Roten Liste vermag hingegen nur die schriftliche Zustimmung aller betroffenen Behörden (Art. 10 AbfVerbrVO) die Freigabewirkung zu entfalten. Fehlt auch nur eine Zustimmung, liegt eine tatbestandsmäßige illegale Verbringung vor. Soweit die AbfVerbVO – wie bei Abfällen zur Verwertung der Gelben Liste – das Verfahren einer fingierten Freigabeentscheidung (stillschweigende Zustimmung) im Wege des Fristablaufs vorsieht (Art. 8 I AbfVerbrVO), ist für die Freigabewirkung konstitutiv, dass alle Fiktionsbedingungen erfüllt sind. Sobald der notifizierungspflichtigen Person seitens der zuständigen Behörde Einwände mitgeteilt wurden (Art. 7 II S. 2 AbfVerbrVO), ist eine wirksame Freigabe des Verbringungsvorganges ausgeschlossen. Daher macht sich nach § 326 II StGB strafbar, wer gefährliche Abfälle der Gelben Liste zur Verwertung nach Ablauf der 30tägigen Frist verbringt, sofern zuvor Einwände von der zuständigen Behörde erhoben wurden.59 Die mit Polen vereinbarten Übergangsvorschriften sehen eine Erweiterung der Einwandmöglichkeiten für bestimmte Abfälle zur Verwertung vor (vgl. oben C. II. 4), was sich mittelbar auch auf den Anwendungsbereich des § 326 II StGB auswirken kann. Keinem besonderen Kontrollverfahren unterliegen die Verwertungsabfälle der Grünen Liste (vgl. oben C. II. 3). Die mit Polen ausgehandelten Übergangsvorschriften legen zwar fest, dass auch die zur Verwertung in Polen bestimmten Abfälle der Grünen Liste bis 31. Dezember 2012 der Notifizierungspflicht nach Maßgabe der Art. 6–8 AbfVerbrVO unterliegen (vgl. oben C. II. 4). Da diese Abfälle aber schon nicht die von § 326 II StGB vorausgesetzte Gefährlichkeit aufweisen dürften, erfüllt deren behördlich nicht freigegebene Verbringung nach Polen „nur“ den Bußgeldtatbestand des § 14 I Nr. 2 AbfVerbrG. Die „schlichte“ Verletzung behördlicher Kontrollinteressen ist insoweit lediglich mit Bußgeld ahndbar. Rechtsmissbräuchlich erlangte Freigabeentscheidungen entfalten keine strafrechtsrelevante Legalisierungswirkung. Dies ergibt sich zum einen aus der in allen Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbaren Bestimmung des Art. 26 I Buchst. c AbfVerbrVO, in welcher die Verbringung aufgrund einer durch Fäl57 58 59

Breuer (Fn. 4), S. 136; Heine, Triffterer-FS (Fn. 4), S. 401, 418 f. Breuer (Fn. 4), S. 139, Schönke/Schröder/Lenckner/Heine, StGB, § 326 Rn. 12d. Im Ergebnis ebenso Ahlmann-Otto (Fn. 54), S. 226, Breuer (Fn. 4), S. 150.

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schung, falsche Angaben oder Betrug erlangten Zustimmung als illegale Handlung definiert wird. Soweit Gestattungsakte in Rede stehen, die durch Bedrohung, Bestechung oder Kollusion erwirkt wurden, ist ergänzend auf die Rechtsmissbrauchsklausel des § 330 d Nr. 5 StGB zu rekurrieren. Diese erstreckt sich im Lichte des Assimilierungsprinzips auch auf Freigabeentscheidungen nichtdeutscher Behörden anderer EU-Staaten. § 330 d Nr. 5 StGB stellt eine zulässige verstärkte Schutzmaßnahme i. S. d. Art. 176 EGV dar.60 2. Relevanz der materiellen Freigabefähigkeit eines Verbringungsvorganges In Rechtsprechung und Literatur besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass tatbestandsmäßige Handlungen, die vor Erteilung der erforderlichen Genehmigung vorgenommen werden, ungeachtet ihrer materiellen Genehmigungsfähigkeit rechtswidrig sind.61 Dieser Ansicht ist auch im Anwendungsfeld des § 326 II StGB zu folgen. Das entscheidende Argument hierfür ist in der administrativen Schutzzweckkonzeption des § 326 II StGB zu sehen (vgl. oben E. I). Richtigerweise ist in Fällen ungenehmigter Verbringung gefährlicher Abfälle i. S. d. § 326 I Nr. 1–4 StGB stets von einem strafwürdigen Verwaltungsungehorsam auszugehen, da den beteiligten Überwachungsbehörden die Möglichkeit präventiver Kontrolle genommen wird. Aus diesem Grund vermag es auch nicht zu überzeugen, wenn ein Teil der Literatur für die Annahme eines objektiven Strafaufhebungsgrundes62 plädiert, falls von einem Verwaltungsgericht nachträglich entschieden wird, dass eine Freigabeentscheidung hätte ergehen müssen. Zu denken ist etwa an den Fall, dass im Nachhinein die gerichtliche Feststellung erfolgt, dass das Verbringen der tatgegenständlichen Abfälle nicht genehmigungs- oder zustimmungspflichtig gewesen ist oder im Falle des Art. 8 I AbfVerbrVO keine berechtigten Einwände erhoben worden sind. Das Aushebeln des behördlichen Kontrollregimes ist für die hinter dem Kontrollinteresse stehenden Individual- und Umweltgüter mit einem nicht hinnehmbaren Risikopotential verbunden und daher strafwürdig. Hinzu kommt Folgendes: Wenn man in der 60 Zutr. gesehen von Breuer (Fn. 4), S. 139 ff.; ihr folgend Lackner/Kühl, StGB, 25. Aufl., München, 2004, § 330d Rn. 5; Schönke/Schröder/Lenckner/Heine, StGB, § 326 Rn. 12e. 61 Vgl. nur BGHSt 37, 28; BayObLGSt 94, 78; Schönke/Schröder/Cramer/Heine, Vorbem §§ 324 ff. Rn. 19; Lackner/Kühl, § 324 Rn. 10; Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem §§ 32 ff. Rn. 62; Rengier, ZStW 101 (1989), S. 874, 882 ff., 902 ff.; a. A. Bloy, JuS 1997, 586; Brauer, Die strafrechtliche Behandlung genehmigungsfähigen, aber nicht genehmigten Verhaltens, Berlin, 1988, S. 123 ff.; Otto, Jura 1995, 141. 62 Heine/Meinberg, Empfehlen sich Änderungen im strafrechtlichen Umweltschutz? (DJT-Gutachten 1988), S. D 50; Schönke/Schröder/Cramer/Heine, Vorbem §§ 324 ff. Rn. 21; Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem §§ 32 ff. Rn. 130; a. A. BGHSt 23, 93; OLG Karlsruhe NJW 1988, 248; Odenthal, NStZ 1991, 418; Rengier, ZStW 101 (1989), S. 874, 904.

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gerichtlich festgestellten Freigabefähigkeit eines Verbringungsvorganges einen Strafaufhebungsgrund erblickt und damit der materiellen Rechtslage letztlich doch Strafrechtsrelevanz beimisst, müsste dies konsequenterweise auch zu der Akzeptanz einer entsprechenden materiellen Prüfungskompetenz des Strafrichters führen. Denn ihm kann wohl nicht versagt werden, alle für die Strafbarkeit nach § 326 II StGB relevanten Umstände zu prüfen. Der Strafrichter wäre also gehalten, entweder selbst die Rechtmäßigkeit des tatgegenständlichen Verbringungsvorganges anhand der AbfVerbrVO zu prüfen oder das Strafverfahren bis zu der abschließenden Entscheidung der Verwaltungsgerichte sowie ggf. des EuGH (Vorabentscheidungsverfahren) auszusetzen. Abgesehen von den Rechtsanwendungsproblemen, denen sich der hiermit wohl nicht selten fachlich überforderte Strafrichter ausgesetzt sähe, würden durch die zu erwartenden Verfahrensverzögerungen die präventiven und repressiven Funktionen des § 326 II StGB unterlaufen.

F. Schlussbetrachtung Es wurde dargelegt, dass divergierende Preise und Entsorgungsstandards innerhalb der auf 25 Mitgliedstaaten angewachsenen EU kriminogene Faktoren ersten Ranges bilden. Die Bekämpfung illegaler grenzüberschreitender Abfallverbringungen erfordert den konzertierten Einsatz präventiver und repressiver Maßnahmen. Das europäische Abfallverbringungsrecht unterwirft in Gestalt der AbfVerbrVO und im Zusammenspiel mit ergänzenden Übergangsvorschriften für fünf von zehn neuen Beitrittsländern (darunter Polen) die Ein-, Aus- und Durchfuhr von Abfällen einem differenzierten Kontrollsystem, das – differenzierend nach Verbringungszweck und Gefährlichkeitspotential der Abfälle – auf einem interventionistischen und einem liberalen, auf die Marktkräfte vertrauenden Ansatz beruht. Ungeachtet seiner Komplexität ist das vorhandene Rechtsinstrumentarium prinzipiell geeignet, grenzüberschreitende Abfallströme wirkungsvoll zu lenken und zu kanalisieren. Probleme entstehen nach wie vor dadurch, dass Abfälle, deren Verbringung zum Zwecke der Beseitigung unterbunden werden müsste, im Falle der Verwertung frei exportiert werden dürfen. Es ist Aufgabe des Gemeinschaftsgesetzgebers und des EuGH, hinreichend konkrete, europaweit einheitliche Kriterien zur Abgrenzung von Beseitigungs- und Verwertungsmaßnahmen zu entwickeln. Aus umweltpolitischer Sicht wäre es mit Blick auf die neuen Beitrittsländer wünschenswert, die Verbringungsfreiheit im Bereich der Verwertungsabfälle nicht an den Ablauf bestimmter Fristen, sondern an die faktische Einhaltung der europarechtlich geforderten Standards am Bestimmungsort zu binden. Es bleibt ein ständiger Auftrag aller Mitgliedstaaten, den Vollzug der AbfVerbrVO zu optimieren bzw. bestehende Vollzugsdefizite zu beseitigen.

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Der EGV weist der EG keine Kompetenz zur Setzung supranationaler Umweltstraftatbestände zu. Ein supranationales Umweltstrafrecht wird es daher in absehbarer Zeit nicht geben. Der Gemeinschaftsgesetzgeber besitzt jedoch – wie der EuGH mit seinem Urteil v. 13. September 2005 bestätigt hat63 – grundsätzlich die Befugnis, die Mitgliedstaaten in Form von Richtliniendirektiven zur Schaffung von Straftatbeständen zum Schutz der Umwelt anzuweisen. Die EUMitgliedstaaten sind bereits nach Maßgabe der AbfVerbrVO europarechtlich verpflichtet, gegen illegale Abfallverbringungen auch unter Einsatz repressiver Instrumente vorzugehen. Das deutsche Strafrecht stellt mit § 326 II StGB ein abstraktes Gefährdungsdelikt zur Verfügung, dem die Funktion zukommt, das behördliche Notifizierungssystem der AbfVerbrVO zu flankieren. Die Zugehörigkeit dieses Tatbestandes zum Besitzstand des Europäischen Strafrechts, insbesondere seine Europarechtsakzessorietät, wirft neue dogmatische Probleme auf. Da der Strafrichter aber – wie oben dargelegt – nicht die materielle Rechtmäßigkeit eines Verbringungsvorganges anhand der AbfVerbrVO, sondern vielmehr nur das formale Vorliegen oder Fehlen einer wirksamen behördlichen Freigabeentscheidung (sei es auch nur in Form einer Freigabefiktion) zum Tatzeitpunkt zu prüfen hat, dürfte die Anwendung des § 326 II StGB in der strafrechtlichen Praxis auf keine unüberwindbaren Schwierigkeiten stoßen.

63 EuGH v. 13.9.2005 – Rs. C-176/03 (Kommission/Rat), EuZW 2005, 632 = JZ 2006, 307.

Sterbehilfe in Europa: Vom Schutz des Lebens zur Pflicht zum Leiden? Skeptische Anmerkungen zum Fall Diane Pretty* Eric Hilgendorf Die Diskussion um das europäische Strafrecht wird aus unterschiedlichen Perspektiven geführt. Die ersten Arbeiten im Zusammenhang mit dem – sehr missverständlich so genannten – „Corpus Juris“ des Europäischen Strafrechts1 (es ging in Wirklichkeit nur um die finanziellen Interessen der Europäischen Union) waren von einer sehr europafreundlichen Grundhaltung geprägt. Die Gegenbewegung – angeführt vor allem durch den Münchner Strafrechtslehrer Bernd Schünemann – hebt seit einigen Jahren dagegen die rechtsstaatlich bedenklichen Züge vieler Entwicklungen im europäischen Strafrecht hervor2 und formuliert Alternativvorschläge,3 um das Strafrecht nicht (wieder4) zu einem freiheitsbedrohenden Moloch werden zu lassen. Das Zusammenspiel beider Tendenzen hat dazu geführt, dass die Europäisierung des Strafrechts heute wesentlich reflektierter diskutiert wird als noch vor einem halben Jahrzehnt.

* Der Vortragstext wurde leicht überarbeitet und durch Literaturangaben ergänzt, im Übrigen aber die Vortragsfassung beibehalten. Eine stark gekürzte Version erscheint in: M. Tomásek (Hg.), Menschenrechte im europäischen Strafrecht, 2006, S. 39–49. 1 B. Huber (Hg.), Das Corpus Juris als Grundlage eines Europäischen Strafrechts, 2000. 2 Vgl. z. B. W. Hassemer, „Ein Strafrecht für Europa“, in: F. Zieschang/E. Hilgendorf und K. Laubenthal (Hg.), Strafrecht und Kriminalität in Europa, 2003, S. 11–25; B. Schünemann, „Ein Gespenst geht um in Europa – Brüsseler ,Strafrechtspflege‘ intra muros“, in: GA 2002, S. 501–516; ders., „Bürgerrechte ernst nehmen bei der Europäisierung des Strafverfahrens!“, in: StV 2003, S. 116–122; zusammenfassend E. Hilgendorf, „Nationales oder internationales Strafrecht? Europäisches Strafrecht, Völkerstrafrecht und Weltrechtsgrundsatz im Zeitalter der Globalisierung“, in: H. Dreier/H. Forkel und K. Laubenthal (Hg.), Raum und Recht. Festschrift 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät, 2002, S. 333–356 (340 ff.). 3 B. Schünemann (Hg.), Alternativentwurf Europäische Strafverfolgung, 2004. 4 Die Einhegung des Strafrechts durch den Rechtsstaat ist eine Frucht der Aufklärung, die heute wieder bedroht ist, nicht zuletzt deswegen, weil vielen, an den rechtshistorischen und rechtsphilosophischen Grundlagen nicht interessierten Diskussionsteilnehmern das freiheitsbedrohende Potential des Strafrechts gar nicht mehr bewusst zu sein scheint.

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Im folgenden Vortrag möchte ich eine dritte Perspektive wählen. Es soll der Frage nachgegangen werden, in welchen Regelungsbereichen ein europäisches Strafrecht überhaupt denkbar und zweckmäßig erscheint. Dahinter steht letztlich die Frage nach den normativen Standards, den Werten, an denen ein europäisches Strafrecht ausgerichtet werden kann. Diese Frage lässt sich prinzipiell auf zwei Weisen beantworten: Zum einen kann man versuchen, positiv bestimmte Gebiete auszuzeichnen, die durch europäisches Strafrecht geregelt werden sollen. Zum anderen lässt sich aber auch so vorgehen, dass man Gebiete auszeichnet, die keiner europaweiten Regelung zugänglich sind. Diesen zweiten Weg möchte ich hier einschlagen. Mein Beispiel für eine nicht europaweit einheitlich zu regelnde strafrechtliche Materie ist die Sterbehilfe. Lassen Sie uns mit einem Ausgangsfall beginnen: I. Ausgangsfall5 Die 43jährige Diane Pretty litt an einer unheilbaren, immer weiter voranschreitenden Krankheit der motorischen Zellen im zentralen Nervensystem. Sie war bereits vom Hals abwärts gelähmt, konnte nicht mehr verständlich sprechen und wurde durch eine Sonde ernährt. Ihre Intelligenz und ihre Entscheidungsfähigkeit waren dadurch aber nicht beeinträchtigt. Der Tod tritt bei dieser Krankheit in der Regel dadurch ein, dass die Muskulatur, die die Atmung, das Sprechen und das Schlucken ermöglicht, versagt, so dass der Patient qualvoll erstickt oder an einer Lungenentzündung stirbt. Diane Pretty, deren Lebenserwartung nach ärztlicher Erkenntnis nur noch wenige Monate betrug, hatte Angst vor einem solchen Tod und wollte ihrem Leiden ein Ende setzen. Da sie nicht mehr in der Lage war, sich selbst zu töten, war sie auf die Hilfe ihres Ehemannes angewiesen. In England und Wales steht die Beihilfe zur Selbsttötung allerdings unter Strafe.6 Der Anwalt Prettys bat deshalb den Generalstaatsanwalt um die Erklärung, den Ehemann nicht strafrechtlich zu verfolgen, wenn dieser seiner Frau Sterbehilfe leiste. Dies wurde vom Generalstaatsanwalt abgelehnt. Die dagegen erhobene, auf die Europäische Konvention für Menschenrechte gestützte Klage wies das House of Lords in letzter Instanz ab. Daraufhin wandte sich Diane Pretty über ihren Anwalt an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Dieser entschied in einem Aufsehen erregenden Urteil am 29.4.2002 gegen die Schwerstkranke.7 Pretty verstarb einige Wochen später qualvoll an ihrem Leiden.

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Abgedruckt in EGMR NJW 2002, S. 2851–2856. § 2 Abs. 1 des „suicide acts“ von 1961. Sachverhalt nach EGMR NJW 2002, S. 2851.

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II. Sterbehilfe im kulturellen Kontext Das Strafrecht wird wie kaum ein anderes Rechtsgebiet unmittelbar von moralischen Wertungen beeinflusst.8 Diese besondere moralische Dimension zeigt sich etwa bei der Entscheidung, ob überhaupt eine Strafrechtsnorm geschaffen werden soll, sie zeigt sich aber auch bei der sprachlichen Fassung der Norm, bei der Festlegung von Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen, beim Umgang mit Auslegungsspielräumen, insbesondere auch ihrer Öffnung gegenüber den – traditionell in besonderer Weise moralisch „aufgeladenen“ – übergeordneten Rechts- und Verfassungsgrundsätzen und schließlich bei der Strafzumessung. Moral und Strafrecht stehen also in einem engen Zusammenhang. Geht man davon aus, dass die Moral ihrerseits erheblichen kulturellen Prägungen unterworfen ist,9 so liegt die Vermutung nahe, dass Versuche, ein europaweit einheitliches materielles Strafrecht zu schaffen, nur auf jenen Regelungsgebieten eine Chance auf Realisierung haben, in denen in Europa ein einigermaßen stabiler kultureller Konsens besteht. 1. Divergenzen bei der Akzeptanz von Sterbehilfe in Europa Nun unterliegt es keinem Zweifel, dass in sehr vielen Bereichen ein derartiger Konsens erzielt werden kann. Das gilt etwa für den Schutz des Lebens geborener Menschen, der körperlichen Unversehrtheit und des Eigentums. Es existieren jedoch auch Regelungsbereiche, in denen ein Konsens wesentlich schwerer zu erzielen ist. Dazu gehören etwa Verfehlungen im Kontext von Ehe und Familie oder im Zusammenhang mit Sexualität, des Weiteren die Religionsdelikte und der ständig expandierende Bereich der Biotechnologie. Besonders strittig sind die Bewertungen schließlich im Zusammenhang mit dem Schutz des ungeborenen Lebens und der Sterbehilfe, bei der in Europa ganz unterschiedliche rechtspolitische und moralische Grundwertungen zusammenstoßen.10 In jüngerer Zeit wurden zahlreiche empirische Erhebungen durchgeführt, die diesen Befund bestätigen.11 Es ist hier aus Raumgründen nicht möglich, auf die 8 Einführend zum Thema E. Hilgendorf, „Recht und Moral“, in: Aufklärung und Kritik, Jg. 8 (2001), S. 72–90. 9 Einen konzentrierten Überblick über die Bewertung des Suizids in der philosophischen Tradition des Westens gibt D. Birnbacher, „Suizid und Suizidprävention aus ethischer Sicht“, in: ders., Bioethik zwischen Natur und Interesse. Mit einer Einleitung von Andreas Kuhlmann, 2006, S. 195–221. 10 T. Wernstedt, Sterbehilfe in Europa, 2004; nicht mehr ganz aktuell A. Eser (Hg.), Materialien zur Sterbehilfe, 1991. 11 Vgl. nur M. Cuttini u. a., „End-of-Life Decisions in Neonatal Intensive Care: Physicians’ Self-Reported Practices in Seven European Countries“, in: Lancet, 355 (2000), S. 2112–2118; A. van der Heide u. a., „End-of-Life Decision Making in Six

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Ergebnisse dieser Studien im Detail einzugehen. Bemerkenswert ist vor allem das deutliche Nord-Süd-Gefälle: Während in den nördlichen Ländern durchaus häufig für einen Behandlungsabbruch oder einen Behandlungsverzicht optiert wird, wird in den südlichen Ländern in der Regel lange weiterbehandelt. Ergänzt werden die genannten Studien durch eine 2003 publizierte Erhebung des Europarates zur Euthanasie in allen Mitgliedstaaten, die das Bild einer außerordentlich vielfältigen und disparaten einzelstaatlichen Regelung bestätigt.12 Drei Beispiele mögen genügen: Während in England zwar die Selbsttötung straflos ist, die Beihilfe dazu aber unter Strafe steht, wird in Deutschland nicht bloß die Selbsttötung, sondern auch die Beihilfe dazu nicht bestraft. Dies setzt freilich voraus, dass der Sterbehelfer sich auf eine dienende Rolle beschränkt. Erlangt er die Tatherrschaft, so handelt es sich um eine strafbare Tötung auf Verlangen. Sonderregelungen für die Sterbehilfe fehlen. Anders ist es wiederum in den Niederlanden, wo zwar Tötung auf Verlangen und auch Beihilfe zur Selbsttötung grundsätzlich strafbar sind, seit 2001 die aktive Sterbehilfe aber unter bestimmten Voraussetzungen straffrei bleibt.13 Angesichts des immer weiter zunehmenden innerstaatlichen weltanschaulichen Pluralismus, durchlässiger Grenzen und europaweiter Massenkommunikation können die Unterschiede zwischen den einzelstaatlichen Regelungen der Sterbehilfe zu erheblichen Problemen führen. Ein Beispiel ist der „Sterbetourismus“ in Länder mit einer liberaleren Regelung, der zum einen die Bedeutung der Sterbehilferegelungen in den Ausgangsländern untergräbt, zum anderen die Zielländer zu überfordern droht. Auch in Europa besteht die Gefahr weltanschaulich-religiöser Konflikte, wenn unterschiedliche Grundpositionen in einer emotional so aufgeladenen Frage wie der Sterbehilfe unvermittelt aufeinander treffen. Nachdem die Diskussion um die Europäisierung des Strafrechts lange Zeit in erster Linie auf den Schutz finanzieller Interessen der Union und auf Verfahrensfragen konzentriert war, könnte es sich lohnen, diesen inhaltlichen Fragestellungen mehr Aufmerksamkeit zu widmen.

European Countries: Descriptive Study“, in: Lancet, 362 (2003), S. 345–350; M. Rebagliato u. a., „Neonatal End-of-Life Decision Making. Physicians’ Attitudes and Relationship With Self-reported Practices in 10 European Countries“, in: Journal of the American Medical Association (JAMA), 284 (2000), S. 2451–2459; Ch. L. Sprung u. a., „End-of-Life Practices in European Intensive Care Units. The Ethicus Study“, in: JAMA, 290 (2003), S. 790–797. 12 Steering Committee on Bioethics (CDBI), Replies to the questionaire for member states relating to euthanasia, CDBI/INF (2003) 8. 13 Näher C. Finger, „Evaluation der Praxis der aktiven Sterbehilfe und der Hilfe bei der Selbsttötung in den Niederlanden für das Jahr 2001“, in: MedR 2004, S. 379–382; H.-L. Schreiber, „Die Neuregelung der Sterbehilfe in den Niederlanden und Belgien – Vorbild für die Bundesrepublik?“, in: F. Thiele (Hg.), Aktive und Passive Sterbehilfe. Medizinische, rechtswissenschaftliche und philosophische Aspekte, 2005, S. 117–126.

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2. Katholische Kirche und Sterbehilfe Auf der Suche nach einer tragfähigen normativen Basis für eine Regelung der Sterbehilfe in europäischem Maßstab könnte man zunächst an die christliche Religion denken, die das europäische Weltbild wie keine andere Weltanschauung geprägt hat und noch prägt. Allerdings existieren deutliche Unterschiede zwischen dem Katholizismus einerseits und dem Protestantismus und anderen, kleineren christlichen Religionsgemeinschaften andererseits. Nur im Katholizismus gibt eine einigermaßen homogene, klare und konsequent formulierte Lehrmeinung, während in den anderen christlichen Religionsgemeinschaften eine Vielzahl von Positionen vorzufinden ist, die bis hin zur Bejahung selbst aktiver direkter Sterbehilfe14 reicht. Im Folgenden soll deshalb nur die Position des Katholizismus dargestellt werden. Die Haltung der römisch-katholischen Kirche zur Sterbehilfe ist nach wie vor sehr restriktiv: Zwar wird das Sterbenlassen, etwa durch den Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen, in Extremsituationen erlaubt. Eine Lebensverlängerung um jeden Preis soll es nicht geben. Ausnahmslos verboten bleibt aber die direkte (aktive) Sterbehilfe, eine aktive Tötung auf Verlangen, sei es durch einen Arzt oder einen dem Sterbewilligen besonders nahe stehenden Menschen. Hinzu kommt, dass das Leiden am Lebensende nach katholischer Auffassung keinesfalls nur negativ zu bewerten ist. In der „Erklärung der Kongregation für die Glaubenslehre zur Euthanasie“ (1980)15 heißt es dazu: „Nach christlicher Lehre erhält der Schmerz . . . zumal in der Sterbestunde, eine besondere Bedeutung im Heilsplan Gottes. Er gibt Anteil am Leiden Christi und verbindet mit dem erlösenden Opfer, das Christus im Gehorsam gegen den Willen des Vaters dargebracht hat“. Das Leiden am Lebensende erhält so eine tiefe religiöse Bedeutung. Nur beiläufig sei erwähnt, dass auch andere Religionen dem menschlichen Leiden eine besondere religiöse Bedeutung beimessen.16 Für unseren Ausgangsfall der Diane Pretty bedeutet dies, dass ungeachtet ihres menschenunwürdigen Leidens Sterbehilfe durch den Ehemann nach den Lehren der katholischen Religion verboten bleiben muss. Georg Ress, selbst Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte17, hat dies in einem zwei Jahre nach der Entscheidung im Falle Pretty erschienenen Artikel mit be14 H. M. Kuitert, Der gewünschte Tod: Euthanasie und humanes Sterben, 1991; vgl. auch H. Küng, „Menschenwürdig sterben“, in: W. Jens/H. Küng (Hg.), Menschenwürdig sterben. Ein Plädoyer für Selbstverantwortung, 1995, S. 15–85 (auf der Basis eines nicht lehramtsorientierten Katholizismus). 15 Hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, S. 9. 16 P. Kaiser, „Leid/leiden“, in: Metzler Lexikon Religion, hg. von Ch. Auffarth/ J. Bernard/H. Mohr, Sonderausgabe Bd. 2, 2005, S. 328–331; vgl. auch D. B. Morris, Geschichte des Schmerzes, 1996 (US Original u. d. T. „The Culture of Pain“ 1991). 17 Ress war allerdings am Urteil gegen Diane Pretty nicht direkt beteiligt.

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merkenswerter Freimütigkeit wie folgt zusammengefasst: „Der Tod hat nicht nur eine geistig-menschliche Dimension, sondern auch eine tief religiöse. Das Leben liegt in Gottes Hand und der Mensch darf nicht darüber verfügen. Deshalb ist auch die Grenze zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe so wichtig. Wer nicht glaubt, für den mag die Verfügung über das eigene Leben leichter sein“.18 Diese religiöse Haltung verdient großen Respekt. Keinem gläubigen Christen wird man verwehren können, sein Sterben nach den Grundsätzen seines Glaubens zu gestalten. Dies ergibt sich schon aus der Religionsfreiheit, einem der ältesten und vornehmsten Grundrechte. Selbst ein Tod unter frei gewählten extremen Schmerzen, die den Gläubigen nach seiner Vorstellung in besonderer Weise mit dem Leiden des Stifters seiner Religion verbinden, wird durch die Religionsfreiheit geschützt.19 Eine ganz andere Frage aber ist, ob die Position der römisch-katholischen Kirche zur Sterbehilfe und zum Leiden am Lebensende auch Verbindlichkeit für Menschen beanspruchen kann, die nicht dem christlichen Glauben angehören. Die katholische Position ist offenkundig von religiösen Prämissen abhängig, die keineswegs als allgemein akzeptiert gelten können.20 Es erscheint deshalb ausgeschlossen, das katholische Verbot der Sterbehilfe ohne weiteres auch auf Angehörige anderer Religionen oder Weltanschauungen anzuwenden. Als moralische Basis einer europaweit geltenden gesetzlichen Regelung der Sterbehilfe ist die katholische Position deshalb nicht ohne weiteres geeignet. III. Die EMRK und die Sterbehilfe Man könnte nun meinen, durch die zahlreichen internationalen Abkommen sei ein Werte-Grundkonsens formuliert worden, auf dem auch das Recht der Sterbehilfe aufbauen könne. Vor allem die Europäische Konvention für Menschenrechte aus dem Jahr 1953 scheint auf den ersten Blick eine geeignete Basis zu sein, auf der eine gemeinsame Regelung der Sterbehilfe gelingen könnte. Eine Analyse des Urteils des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte im Fall Diane Pretty zeigt jedoch, dass diese Hoffnung trügt. Partikulare Wertungen spielen bei der Interpretation der EMRK eine ganz erhebliche Rolle.21

18 G. Ress, „Sterbehilfe als rechtliches Problem in Europa“, in: H. F. Köck/A. Lengauer/G. Ress (Hg.), Europarecht im Zeitalter der Globalisierung. Festschrift für Peter Fischer, 2004, S. 435–472 (472). 19 Vgl. das analoge Problem bei Zeugen Jehovas, die sich einer überlebensnotwendigen Bluttransfusion verweigern. 20 Dazu allgemein E. Hilgendorf, „Religion, Recht und Staat. Zur Notwendigkeit einer Zähmung der Religionen durch das Recht“, in: ders. (Hg.), Wissenschaft, Religion und Recht, 2006, S. 359–383.

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Von der Formulierung eines Werte-Grundkonsenses kann deshalb allenfalls auf einer sehr abstrakten Ebene die Rede sein. Gegenstand der Prüfung war, ob die Weigerung des Generalstaatsanwalts, von einer Strafverfolgung abzusehen, oder die gesetzliche Regelung, die die Beihilfe zur Selbsttötung in England unter Strafe stellt, gegen die EMRK verstoßen. Prüfungsmaßstab waren dabei das Recht auf Leben (Art. 2), das Verbot der Folter und anderer unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung (Art. 3), das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8), die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 9) und das Diskriminierungsverbot (Art. 14). 1. Die Entscheidungsgründe Wie das Gericht feststellt, dient Art. 2 EMRK nicht nur der Abwehr rechtswidriger Eingriffe seitens des Staates, sondern kann die Einzelstaaten auch verpflichten, angemessene Maßnahmen zum Schutz des Lebens zu ergreifen.22 Dagegen folge aus dem Wortlaut des Art. 2 EMRK kein Recht darauf, über den eigenen Tod selbst zu bestimmen.23 Das Gericht lässt ausdrücklich die Frage offen, ob diejenigen Länder, die die assistierte Selbsttötung – also die Beihilfe zum Freitod – nicht unter Strafe stellen (also z. B. Deutschland), gegen die EMRK verstoßen.24 Art. 3 EMRK verbietet unmenschliche oder erniedrigende Strafen oder eine vergleichbare Behandlung durch den Staat. Diane Pretty hatte argumentiert, die Weigerung der Anklagebehörde, auf eine strafrechtliche Verfolgung ihres Ehemannes zu verzichten, bedeute für sie eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung, weil ihr auf diese Weise Hilfe beim Sterben verwehrt werde. Das Gericht hält dem entgegen, dies sei eine „neue und ausdehnende“25 Art der Interpretation, der schon deshalb nicht gefolgt werden könne, weil das Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Lichte der Verpflichtung zum Schutz des Lebens (Art. 2 EMRK) auszulegen sei.26 Art. 3 EMRK stütze keine staatlichen Maßnahmen, die auf eine Beendigung des Lebens abzielten. Besonders ausführlich beschäftigt sich der EGMR mit einem möglichen Verstoß gegen das Recht auf Achtung der Privatsphäre und des Familienlebens (Art. 8 EMRK). Das Gericht will „nicht ausschließen“, dass die dem Fall Diane 21 Dies ist freilich ein Befund, der niemanden überraschen wird, der sich schon einmal ernsthaft mit juristischer Methodenlehre und Rechtstheorie auseinandergesetzt hat. 22 NJW 2002, S. 2851. 23 NJW 2002, S. 2852. 24 Ebenda. 25 NJW 2002, S. 2853. 26 Ebenda.

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Pretty zugrunde liegende britische Rechtslage einen Eingriff in ihr durch Art. 8 geschütztes Recht auf Achtung ihrer Privatsphäre darstelle.27 Dieser Eingriff sei allerdings nach Art. 8 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt, denn der britische „suicide act“ aus dem Jahr 1961 verfolge mit dem Schutz des Lebens ein legitimes staatliches Interesse und sei trotz seiner umfassenden Formulierung auch nicht unverhältnismäßig,28 da etwaigen Besonderheiten des Einzelfalls durch eine geringe Strafhöhe Rechnung getragen werden könne. Außerdem sei die Strafverfolgung von einer vorhergehenden Zustimmung der Anklagebehörde abhängig. Die Glaubensfreiheit (Art. 9 EMRK) sieht das Gericht schon deshalb nicht als verletzt an, weil es bei der Beschwerde Diane Prettys nicht um eine Form der Religions- oder Glaubensausübung gehe.29 Schließlich sei auch das Diskriminierungsverbot (Art. 14 EMRK) nicht einschlägig. Der „suicide act“ differenziert zwar nicht zwischen eigenständig suizidfähigen Menschen und solchen Personen, die nicht (mehr) in der Lage sind, sich selbst zu töten. Das Gericht erklärt aber, eine derartige Differenzierung sei auch nicht geboten; vielmehr gebe es eine „sachliche und vernünftige Rechtfertigung“ dafür, die genannten Fallgruppen gleich zu behandeln.30 Eine Grenzlinie zwischen den beiden Fallgruppen sei ohnehin kaum zu ziehen und der Schutz des Lebens werde unterminiert, wenn man Ausnahmen von der Regelung des „suicide act“ zulasse.31 2. Kritik Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hat in der Literatur erstaunlich wenig Resonanz gefunden. Soweit Stellungnahmen vorliegen,32 ist die Bewertung uneinheitlich: Das Urteil wird zwar im Ergebnis überwiegend akzeptiert; der Argumentationsgang des Gerichts ist jedoch auf Kritik gestoßen. Überdies ist das Bestreben zu konstatieren, die Bedeutung des Urteils auf den in Frage stehenden Einzelfall zu beschränken; ob und inwieweit die Straflosigkeit der Beihilfe zum Freitod oder gar die Sterbehilfe allgemein 27

NJW 2002, S. 2854. NJW 2002, S. 2855. 29 Ebenda. 30 Ebenda. 31 Ebenda. 32 K. Faßbender, „Lebensschutz am Lebensende und Europäische Menschenrechtskonvention“, in: JURA 2004, S. 115–120; M. Heymann, „Die Europäische Menschenrechtskonvention und das Recht auf aktive Sterbehilfe – EGMR, NJW 2002, 2851“, in: JuS 2002, S. 957–958; B. Kneihs, „Sterbehilfe durch EMRK nicht geboten/Der Fall Pretty“, in: EuGRZ 2002, S. 242–244; A. Minelli, „Die EMRK schützt die Suizidfreiheit. Wie antwortet darauf das Schweizer Recht?“, in: AJP/PJA 2004, S. 491–504; vgl. auch L. Knopp, „Aktive Sterbehilfe – Europäische Entwicklungen und ,Selbstbestimmungsrecht‘ des Patienten aus verfassungsrechtlicher Sicht“, in: MedR 2003, S. 379–387. 28

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mit der EMRK zu vereinbaren sei, habe das Gericht nicht entschieden.33 Im Folgenden möchte ich zu zeigen versuchen, dass die Entscheidungsgründe des Urteils angreifbarer sind, als dies in der Literatur bislang angenommen wurde. Bei seiner Auseinandersetzung mit Art. 2 EMRK (Schutz des Lebens) geht das Gericht zunächst überzeugend davon aus, dass die EMRK dem Individuum ein gegen die staatliche Macht gerichtetes Recht auf den Schutz des eigenen Lebens einräumt. Art. 2 EMRK schützt das Leben gegen Eingriffe des Staates. Das Leben wird in allen seinen Phasen gleichermaßen geschützt; insbesondere macht es keinen Unterschied, ob es sich um das Leben eines Erwachsenen oder Jugendlichen, eines Säuglings oder eines alten Menschen handelt. Auch der Sterbende genießt uneingeschränkten Lebensschutz. Hieran hätte der EGMR im Fall Pretty anknüpfen können: Das Sterben ist Teil des Lebens. Daraus folgt, dass der Staat nicht beliebig in den Sterbeprozess eingreifen und dem Sterbenden sein je eigenes Sterben verweigern darf. Es gibt kein Recht auf einen eigenen Tod – im Tode sind wir alle gleich – aber es gibt ein Recht auf ein eigenes Sterben. Man wende dagegen nicht ein, Art. 2 EMRK schütze nur das biologische Faktum „Leben“ und sei einzig gegen Tötungshandlungen des Staates gerichtet. Eine solche Interpretation würde den Anwendungsbereich von Art. 2 EMRK gegen seinen Wortlaut ohne sachlichen Grund unangemessen einschränken. Zwar erscheint es richtig, über Art. 2 EMRK nicht die allgemeine Handlungsfreiheit zu schützen („wie“ man lebt), doch ist ein Kernbereich der Lebensverwirklichung (zu dem auch das Sterben gehört) so eng mit dem biologischen Lebensablauf verbunden, dass beide zu dem Schutzbereich von Art. 2 EMRK zu zählen sind. Dafür spricht insbesondere, dass auch Art. 2 EMRK im Lichte der Menschenwürdegarantie auszulegen ist, die der EMRK zugrunde liegt.34 Ein weiteres Argument schließt sich an: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte vertritt überzeugend die auch in der Literatur kaum mehr bestrittene Auffassung, dass Art. 2 EMRK nicht bloß ein Abwehrrecht gegen den Staat einräumt, sondern dass sich darüber hinaus auch Schutzpflichten des Staates für das Leben herleiten lassen.35 Der englische „suicide act“ aus dem Jahr 1961 kann als ein solches Schutzgesetz angesehen werden. Das Gericht geht aber nicht auf die nahe liegende Frage ein, ob derartige Schutzpflichten auch gegen den Willen des Betroffenen bestehen können.36 Richtigerweise wird man 33

So insbesondere Kneihs, EuGRZ 2002, S. 244. „Das Wesentliche der Konvention ist die Achtung der Menschenwürde und der menschlichen Freiheit“ (EGMR NJW 2002, S. 2854). 35 NJW 2002, S. 2851. 36 Faßbender, JURA 2004, S. 119 unter Hinweis auf U. Fink, Selbstbestimmung und Selbsttötung. Verfassungsrechtliche Fragestellungen im Zusammenhang mit Selbsttötungen, 1992, S. 126 ff.; St. Rixen, Lebensschutz am Lebensende, 1999, S. 263 ff. 34

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anzunehmen haben, dass sich die staatliche Schutzpflicht nur gegen unerbetene Eingriffe seitens Dritter richtet, nicht aber das Selbstbestimmungsrecht des Rechtsgutsinhabers einschränken kann.37 Nach hier vertretener Ansicht ist es Teil der Autonomie des Individuums, auch über das eigene Leben verfügen zu können.38 Dieses fundamentale, eng mit der Menschenwürde verbundene Recht kann durch das Recht auf Leben, welches sich gegen Eingriffe seitens Dritter richtet, nicht eingeschränkt werden. Das Gericht spricht die wesentlichen Gesichtspunkte sogar selbst an, bedauerlicherweise ohne die gebotenen Folgerungen daraus zu ziehen: „Das Wesentliche der Konvention ist die Achtung der Menschenwürde und der menschlichen Freiheit. [. . .]. In einer Zeit fortschreitender Entwicklung der Medizin in Verbindung mit einer längeren Lebenserwartung ist es für viele Personen ein Anliegen, im hohen Alter oder bei fortschreitendem körperlichen oder geistigen Abbau nicht dazu gezwungen zu werden, weiterzuleben, weil das nicht mit für wesentlich gehaltenen Vorstellungen von eigener und persönlicher Freiheit im Einklang stehen würde.“39 Die EMRK stellt das Leben übrigens keineswegs unter einen absoluten Schutz. So lässt Art. 1 Abs. 1 EMRK die Todesstrafe zu. Nach Art. 2 Abs. 2 EMRK ist eine Tötung dann zu rechtfertigen, wenn sie in Notwehr oder Nothilfe (Buchst. a), im Rahmen einer rechtmäßigen Festnahme oder Fluchtverhinderung (Buchstabe b) oder im Zusammenhang mit der Niederschlagung eines Aufruhrs oder Aufstands (Buchstabe c) erfolgte. Die Tötung muss freilich in allen Fällen unbedingt erforderlich sein. Es ist schwer zu vermitteln, weshalb der Grundsatz des Lebensschutzes einerseits so hoch angesiedelt wird, dass es sogar verboten sein soll, zur Beendigung des eigenen, als unerträglich empfundenen Leidens Hilfe in Anspruch zu nehmen, gleichzeitig aber die Tötung eines Menschen im Rahmen einer Festnahme oder der Niederschlagung eines Aufstands gerechtfertigt werden kann. Im Fall Diane Pretty ging es um eine Beihilfe zur Selbsttötung oder auch „assistierte Selbsttötung“.40 Der Fall unterscheidet sich jedoch in einer entscheidenden Hinsicht vom Normalfall einer assistierten Selbsttötung: Diane Pretty war noch im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte; nur physisch war sie nicht mehr 37 L. Wildhaber, Kommentierung zu Art. 8 Rdnr. 268, in: W. Karl (Hg.), Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention, Loseblatt, Stand Mai 2004. 38 E. Hilgendorf, „Sterbehilfe und individuelle Autonomie. Erkundungen und Klärungsversuche auf vermintem Gelände“, in: Aufklärung und Kritik, Sonderheft 11 (2006), S. 31–39 (35 f.). 39 NJW 2002, S. 2854. 40 Zur juristischen Diskussion des „assisted suicide“ in den USA vgl. M. E. Katsh/ W. Rose, Taking Sides. Clashing Views on Controversial Legal Issues, hier benutzt die 10. Aufl. 2002, S. 38–61.

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in der Lage, die für die Selbsttötung erforderlichen körperlichen Bewegungen durchzuführen. Der Ehemann sollte quasi als ihr Körperersatz wirken; er sollte nichts tun, als den Willen seiner Frau ausführen und ihre körperlichen Defekte nach Art eines Werkzeugs kompensieren. Dieser Vorgang zählt noch zur Autonomiesphäre der Betroffenen. Es handelt sich nicht um einen Angriff auf Diane Pretty „von außen“, sondern um die Verwirklichung ihres Selbstbestimmungsrechts. Es überzeugt nicht, ihr zwar verbal auch noch im Sterben ein Recht auf Selbstbestimmung zuzugestehen,41 ihr aber die angesichts ihrer Schwächesituation zu seiner Verwirklichung erforderlichen Mittel zu versagen. Auch die Argumentation zu Art. 3 EMRK, dem Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, erscheint angreifbar. Der Gerichtshof bestreitet nicht, dass der Tod Diane Prettys durch Ersticken, „qualvoll und entwürdigend“42 war. Die Richter stellen vielmehr darauf ab, Pretty sei nicht Opfer einer „erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung“ durch den Staat geworden. Offenbar ist das Gericht der Meinung, nur aktives Tun, nicht aber ein rechtsgutsverletzendes Unterlassen sei den Konventionsstaaten untersagt. Diese Rechtsauffassung verkürzt in bedenklicher Weise den Schutzbereich von Art. 3 EMRK. Richtigerweise wird man davon auszugehen haben, dass den der EMRK verpflichteten Staaten nicht nur jedes aktive Tun verboten ist, welches erniedrigende oder unmenschliche Zustände hervorruft oder fördert, sondern auch ein entsprechendes Unterlassen. Auch insofern ist, wie beim Rechtsgut „Leben“, eine staatliche Schutzpflicht anzunehmen, so dass der Staat aktiv einzugreifen hat, wenn, wie hier, besonders erniedrigende oder unmenschliche Zustände drohen.43 Es erscheint sogar denkbar, im Fall Pretty auf ein aktives Tun abzustellen, nämlich den Erlass eines zu undifferenzierten, keine Ausnahmen zulassenden Verbots der Sterbehilfe im „suicide act“ von 1961. Indem Diane Prettys Ehemann verboten wurde, seiner Frau einen letzten Dienst zu erweisen und ihr im Sterben zu helfen, wurde Pretty zu einem qualvollen, erniedrigenden und unmenschlichen Tod verurteilt. Gerade der Umstand, dass das Verbot der erniedrigenden und unmenschlichen Behandlung in Art. 3 EMRK ausnahmslos gilt und ein Verstoß nicht gerechtfertigt werden kann, hätte es nahe legen müssen, diesen Aspekt des Falles gründlicher zu behandeln. Die Ausführungen des Europäischen Gerichtshofes zu Art. 8 EMRK (Schutz der Privatsphäre) verdienen besonderes Interesse. Das Gericht erklärt, das britische Verbot der Sterbehilfe greife in die geschützte Intimsphäre von Diane Pretty ein, hält aber diesen Eingriff für gerechtfertigt, weil das Verbot das be41

NJW 2002, S. 2854. So das Gericht selbst, NJW 2002, S. 2851. 43 So auch Ch. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention. Ein Studienbuch, 2. Aufl. 2005, § 20 Rdnr. 21 m.w. N. 42

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rechtigte Ziel verfolge, Leben zu schützen, und dazu erforderlich und auch verhältnismäßig sei.44 Bemerkenswert ist zunächst das „nachgerade unwillige“45 Eingeständnis, der Schutzbereich von Art. 8 EMRK könne durch das britische Verbot betroffen sein. Dies wird im englischen Originaltext noch deutlicher, wo es heisst: „The Court is not prepared to exclude that this constitutes an interference with her right to respect for private life as guaranteed under Article 8 § 1 of the Convention“.46 Diese Formulierung überrascht schon deswegen, weil es kaum einen massiveren Eingriff in die Privatsphäre geben dürfte als das mit staatlichen Zwangsmitteln durchgesetzte Verbot, einen selbst bestimmten Tod zu sterben. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sieht dies offenbar anders: Während das Gericht das Sexualleben als Bestandteil der Privatsphäre einem besonderen Schutz unterstellt und für Eingriffe eine strenge Prüfung der Verhältnismäßigkeit verlangt47, wird dem Recht auf ein selbst bestimmtes Sterben offenbar ein geringerer Rang zugestanden. Zu Recht hat Faßbender darauf hingewiesen, dass das Gericht eine nachvollziehbare Begründung für dieses „überraschende und verfehlte Ergebnis“ schuldig bleibt.48 Das Gericht geht auf die besondere Situation Diane Prettys, in einem Zustand völliger körperlicher Hilflosigkeit angesichts eines immer näher rückenden qualvollen Todes auf die Hilfe ihres Mannes angewiesen zu sein, nicht ein, sondern begnügt sich mit einigen abstrakten Formulierungen, die angesichts des in Frage stehenden Extremfalles völlig unangemessen erscheinen. Dahinter steht offenbar die Befürchtung, ein Präjudiz für eine Ausweitung von Sterbehilfe zu schaffen.49 Ist es aber wirklich mit unseren Vorstellungen von Menschenwürde vereinbar, Diane Pretty einen qualvollen und entwürdigenden Tod aufzuerlegen, um kein „unpassendes“ Präjudiz für die Zukunft zu formulieren? Letztlich geht es hierbei um die Opferung der Menschenwürde einer einzelnen Person zum Zweck der Aufrechterhaltung des Tabus „aktive Sterbehilfe“. Einer derartigen „Verrechnung“ von Einzelschicksalen hat das deutsche Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung über das Luftsicherheitsgesetz vom 15. Februar 200650 eine deutliche Absage erteilt. Die Würde des Einzelnen darf nicht zugunsten vermeintlich höherrangiger Interessen geopfert werden,

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NJW 2002, S. 2854 f. Faßbender, JURA 2004, S. 119. 46 Die englische Fassung des Urteils ist erreichbar auf den Internetseiten des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (http://www.echr.coe.int/echr). 47 NJW 2002, S. 2854. 48 JURA 2004, S. 120. 49 Dies vermutet auch Faßbender, JURA 2004, S. 120. 50 1 BvR 357/05, abgedruckt in JZ 2006, S. 408–417. 45

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auch wenn es die Interessen vieler sind.51 Das „Argument der großen Zahl“ vermag die Menschenwürde der Diane Pretty daher nicht einzuschränken. Hätte das Gericht die Situation Prettys zutreffend gewürdigt, so hätte die Prüfung der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit i. e. S. anders ausfallen müssen: Um das Leben als Grundwert jeder menschlichen Gesellschaft zu schützen, ist es nicht erforderlich, in Extremfällen wie dem vorliegenden Sterbehilfe in Form einer Beihilfe zur Selbsttötung bei Strafe zu verbieten und so die Betroffenen zu einem unsäglich qualvollen Sterben zu verurteilen. Ein „Dammbruch“ beim Lebensschutz steht nicht zu befürchten, wenn in Einzelfällen das Leben im rein biologischen Sinn unter die Menschenwürde und das Selbstbestimmungsrecht des Individuums gestellt werden. Ein strafbewehrtes Verbot der Beihilfe zur Selbsttötung mag für Fälle legitimierbar sein, in denen sich der Sterbewillige in einer Situation befindet, die eine eigenverantwortliche Entscheidung ausschließt. Diane Pretty war aber noch in vollem Besitz ihrer geistigen Kräfte und hat eigenverantwortlich entschieden, ihr Leben durch die Hände ihres Ehemannes zu beenden. Indem der britische Gesetzgeber ihr diese Möglichkeit genommen hat,52 hat er unverhältnismäßig in die Privatsphäre Diane Prettys eingegriffen. Im Fall der Diane Pretty wird übrigens besonders deutlich, dass in der EMRK eine Bestimmung fehlt, die ähnlich wie Art. 1 des deutschen Grundgesetzes die Menschenwürde i. S. einer Grundvermutung für menschliche Autonomie („in dubio pro dignitate“) schützt.53 Man kann die – gerne als beliebig interpretierbares Passepartout für rechtspolitische Probleme jedweder Art missbrauchte – Menschenwürde als ein Ensemble aus subjektiven Rechten verstehen, die auf ein materielles Existenzminimum, auf autonome Selbstentfaltung, auf geistig-seelische Integrität, auf Freiheit von extremen Schmerzen, auf informationelle Selbstbestimmung, auf Rechtsgleichheit und auf minimale Achtung gerichtet sind.54 Im Falle der Diane Pretty sind wohl zumindest die Rechte auf autonome Selbstentfaltung und auf minimale Achtung betroffen gewesen. Freilich waren die Möglichkeiten der Diane Pretty, sich selbst zu „entfalten“, durch ihre Krankheit schon fast auf Null reduziert worden. Was ihr noch blieb, war 51 Dazu auch E. Hilgendorf, „Tragische Fälle. Extremsituationen und strafrechtlicher Notstand“, in: U. Blaschke u. a. (Hg.), Sicherheit statt Freiheit? Staatliche Handlungsspielräume in extremen Gefährdungslagen, 2005, S. 107–132 (124 ff.). 52 Jedenfalls in rechtlicher Hinsicht. Es blieb der Ausweg der Antigone, Moral über das Recht zu stellen und die gesetzlichen Konsequenzen in Kauf zu nehmen, vgl. E. Hilgendorf, „Folter im Rechtsstaat“, in: JZ 2004, S. 331–339 (338 f.). 53 In der Europäischen Grundrechtecharta von Nizza ist die Menschenwürde demgegenüber eigens aufgeführt, doch wurde die Charta wegen des Scheiterns des Verfassungsvertrags bislang nicht geltendes Recht. 54 Näher E. Hilgendorf, „Die missbrauchte Menschenwürde. Probleme des Menschenwürdetopos am Beispiel der bioethischen Diskussion“, in: Jahrbuch für Recht und Ethik, Bd. 7 (1999), S. 137–158 (148 ff.).

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die Entscheidung über den eigenen Tod aus den Händen ihres Ehepartners. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat ihr selbst diese letzte Entscheidungsmöglichkeit genommen. IV. Ergebnis Was folgt aus dieser – zugegebenermaßen nur kursorischen – Prüfung des Falles Diane Pretty? Ich habe zu zeigen versucht, dass das Urteil des EGMR in mehrerer Hinsicht angreifbar ist. In der Entscheidung spielen nicht offen gelegte weltanschauliche Prämissen eine wesentliche und außerordentlich problematische Rolle. Geht man von anderen weltanschaulichen Prämissen aus, wäre auch der Fall Pretty anders zu entscheiden gewesen. Dies führt zu einem zweiten Ergebnis: Die Regelung der EMRK ist offenbar so weit, dass sie für Fälle wie den der Diane Pretty keine eindeutige Lösung zwingend vorgibt. Dieses Ergebnis lässt sich zu der These verallgemeinern, dass die EMRK mit ganz unterschiedlichen Positionen in der Debatte um Sterbehilfe vereinbar ist. Die EMRK gibt also keine Lösung der Sterbehilfeproblematik vor. Es bleibt damit bei dem eingangs festgestellten Befund, dass derzeit in Europa die normative Basis für eine auch nur einigermaßen einheitliche strafrechtliche Regelung der Sterbehilfe fehlt. V. Exkurs: Der Fall der Diane Pretty nach deutschem Recht Es ist durchaus aufschlussreich, zum Abschluss in aller gebotenen Kürze einmal der Frage nachzugehen, wie der Fall der Diane Pretty nach deutschem Recht zu lösen gewesen wäre. Hätte der Ehemann Prettys seiner Frau Sterbehilfe geleistet, so wäre dies nach wohl überwiegender Ansicht auf der Grundlage der subjektiven Theorie55 als bloße Beihilfe einzustufen gewesen. Da die Haupttat tatbestandslos ist, würde dies wegen des Grundsatzes der limitierten Akzessorietät zur Straflosigkeit des Ehemannes führen.56 Ein anderes Ergebnis ließe sich vertreten, wenn man den Ehemann auf der Grundlage einer streng angewandten Tatherrschaftslehre57 als Täter einstuft. In diesem Fall wäre § 216 StGB erfüllt. Es erscheint unbefriedigend, die Lösung des Falles von der Unterscheidung zwischen Täterschaft und Teilnahme, zwischen animus auctoris und animus socii bzw. zwischen Tatherrschaft und einer eher dienenden Funktion im Gesche55 J. Baumann/U. Weber/W. Mitsch, Strafrecht Allgemeiner Teil. Lehrbuch, 11. Aufl. 2003, § 29 Rn. 38 ff. 56 C. Roxin, „Die strafrechtliche Beurteilung von Sterbehilfe“, in: ders., U. Schroth (Hg.), Medizinstrafrecht, 2. Aufl. 2001, S. 93–119 (110). 57 Baumann/Weber/Mitsch (Fn. 55), § 29 Rn. 49 ff.

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hensablauf abhängig zu machen. Die relevanten Unterscheidungsmerkmale sind zum einen unbestimmt und daher in erheblichem Umfang vom jeweiligen Rechtsanwender zu steuern. Zum anderen wurden sie für ganz andere Fallgruppen entwickelt und sind kaum geeignet, die relevanten verfassungsrechtlichen und rechtsethischen Gesichtspunkte der Sterbehilfeproblematik einzufangen. In der philosophischen Tradition wird der Freitod oft als letzter, radikaler Ausdruck der Menschenwürde gesehen: „Daß der Mensch, nur der Mensch sich das Leben nehmen kann in hellem, reinen Entschluß, ohne Trübung durch Affekt, vielmehr sich selber treu, darin liegt seine Würde. Alle Despotien, alle Kirchen, alle Gewalt, die von Menschen über Menschen ausging, den Anspruch erhebend auch auf ihre Seele, haben den Selbstmord perhorresziert: hier bezeugt sich die Freiheit des Einzelnen, des Menschen als Menschen, der sich der Unterdrückung und dem vernichtenden Leiden entzieht“.58 Es liegt auf der Hand, dass damit sehr weitreichende philosophische und rechtliche Fragen aufgeworfen werden, die hier nicht näher zu diskutieren sind.59 Geht man von der Prämisse aus, dass das Recht auf einen selbst bestimmten Tod durch die deutsche Verfassung (Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) geschützt ist,60 und dass weiterhin ein solcher Schutz auch die zum Freitod erforderlichen Unterstützungsmaßnahmen Dritter erfasst,61 so scheidet eine Anwendung des § 216 StGB auf den Fall Diane Pretty schon aus verfassungsrechtlichen Gründen aus. Man könnte versuchen, die Norm für derartige Fallgestaltungen teleologisch zu reduzieren62 oder ein Absehen von Strafe vorschlagen. Überzeugender erscheint mir, § 216 StGB in seiner jetzigen Fassung zu streichen63 und durch eine Regelung zu ersetzen, die dem einzigen legitimen 58 K. Jaspers, Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, 3. Aufl. 1984, S. 474. 59 Zur Behandlung des Suizids in der europäischen Geistesgeschichte sehr aufschlussreich Birnbacher (Fn. 9). Eine scharfsinnige und überzeugende systematische Aufarbeitung der Sterbehilfeproblematik aus juristischer Sicht bietet U. Scheffler, „Sterbehilfe mit System“, in: J. C. Joerden (Hrsg.), Der Mensch und seine Behandlung in der Medizin. Bloß ein Mittel zum Zweck?, S. 249–274. 60 A.A. aber die h. M., vgl. nur P. Kunig, in: von Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 5. Aufl. 2001, Art. 1 Rn. 36 (Stichwort „Sterbehilfe“), Art. 2 Rn. 50 m.w. N.; wie hier z. B. R. Zippelius, Recht und Gerechtigkeit in der offenen Gesellschaft, 2. Aufl. 1996, S. 334. 61 Zutreffend J. F. Lindner, „Grundrechtsfragen aktiver Sterbehilfe“, in: JZ 2006, S. 373–383 (377). 62 G. Jakobs, „Zum Unrecht der Selbsttötung und der Tötung auf Verlangen. Zugleich zum Verhältnis von Rechtlichkeit und Sittlichkeit“, in: Strafgerechtigkeit. Festschrift für Art. Kaufmann, hg. von F. Haft u. a., 1993, S. 459–472 (470); ders., Tötung auf Verlangen, Euthanasie und Strafrechtssystem, 1998, S. 25–32. 63 So auch R. Schmitt, „Strafrechtlicher Schutz des Opfers vor sich selbst“, in: Festschrift für Reinhart Maurach zum 70. Geburtstag, hg. von F. C. Schroeder und H. Zipf, 1972, S. 113–126 (118); vgl. auch Art. Kaufmann, Diskussionsbeitrag, in: ZStW 83 (1971), S. 252.

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Strafgrund der Tötung auf Verlangen, dem Übereilungsschutz,64 schon im Wortlaut besser gerecht wird. Grundlage einer derartigen Regelung sollte sein, dass die Gesellschaft (und damit auch der Gesetzgeber65) die grundsätzliche Befugnis des autonomen und freiverantwortlichen Individuums, über sein eigenes Leben zu verfügen, anerkennt. De lege ferenda würde eine derartige Regelung am besten in den Kontext einer – ohnehin wünschenswerten – Festschreibung der Einwilligungsvoraussetzungen im Allgemeinen Teil des StGB passen.66 Wie heute schon bei der Einwilligung in die Körperverletzung (§ 228 StGB) sollten auch bei der Einwilligung in die (eigene) Tötung ganz besondere, enge Voraussetzungen formuliert werden. Dazu könnten grundsätzlich die Glaubhaftmachung des Vorliegens einer freiverantwortlichen Entscheidung, besondere Dokumentationspflichten und möglicherweise auch eine Prüfung auf Vereinbarkeit mit den geltenden sozialethischen Überzeugungen („gute Sitten“) gehören. Im Fall Diane Pretty ließen sich diese Voraussetzungen wohl erfüllen.67 Lägen die Voraussetzungen einer das Unrecht der Tat beseitigenden Einwilligung nicht vor, so würde § 212, evtl. in Verbindung mit § 213 oder aber auch § 211 StGB, greifen. Die Streichung des § 216 StGB führte also, was vielen juristisch nicht ausgebildeten Diskussionsteilnehmern nicht hinlänglich klar zu sein scheint, bei der „Tötung auf Verlangen“ nicht zu Straflosigkeit, sondern zunächst einmal zu einer Strafverschärfung. Es ist freilich nicht wahrscheinlich, dass der deutsche Gesetzgeber in absehbarer Zukunft den Mut zu einer solchen Lösung finden wird.68 Eher steht zu erwarten, dass § 216 StGB, der schon jetzt infolge einer immer restriktiveren Interpretation seiner Tatbestandsvoraussetzungen einen Großteil seines vom Wortlaut her möglichen Anwendungsbereichs verloren hat, durch Rechtsprechung und Lehre noch weiter eingeschränkt wird, bis nur noch eine leere Hülle zurückbleibt.69 64 H. Schneider, in: Münchner Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 3, 2003, § 216 Rdnr. 8. 65 Dies ist leider keineswegs selbstverständlich. Gerade im Bereich der Sterbehilfe ist eine sehr deutliche Diskrepanz zwischen dem Willen der Bevölkerungsmehrheit und den Aktivitäten des Gesetzgebers festzustellen. Ob sich diese Praxis ohne weiteres auch in Zukunft so weiterführen lässt, bleibt abzuwarten. 66 Für eine umfassende Aufarbeitung des Themas D. Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, 1997 (S. 103 ff. zu § 216 als strafgesetzlich normierter Einwilligungsschranke). 67 Anders aber in Notfällen, die sich durch eine besondere Eilbedürftigkeit auszeichnen, etwa der bekannte Lkw-Fahrer-Fall. Hier müsste es bei einer Anwendung des § 34 StGB bleiben. 68 Auch der neue Alternativentwurf zur Sterbebegleitung schlägt diesen Weg nicht ein, vgl. H. Schöch/T. Verrel u. a., „Alternativ-Entwurf Sterbebegleitung (AE-StB)“, in: GA 2005, S. 553–586.

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VI. Abschließende Thesen Abschließend sei die hier entwickelte Position in einigen Thesen zusammengefasst: (1) Im Bereich der Sterbehilfe existieren in Europa sowohl in der Praxis als auch hinsichtlich der rechtlichen Regelung erhebliche Unterschiede. Diese Unterschiede sind kulturell bedingt, wobei der Einfluss der katholischen Religion eine große Rolle spielen dürfte. Es handelt sich um das Musterbeispiel eines weltanschaulich aufgeladenen Regelungsproblems. (2) Eine europaweit einheitliche strafrechtliche Regelung der Sterbehilfe erscheint deshalb auf absehbare Zeit ausgeschlossen. (3) Solange es deutlich unterschiedliche einzelstaatliche Lösungen bei der Sterbehilfe gibt, mit rigiden Verboten in den einen Ländern, deutlich liberaleren Regelungen in anderen Ländern, sind weltanschauliche Konflikte und „Sterbetourismus“ vorprogrammiert. Wie diese Probleme zu lösen sind, ist noch offen. (4) Es wäre naiv zu erwarten, eine Annäherung der unterschiedlichen Positionen sei nur eine Frage der Zeit und der wechselseitigen Gewöhnung. Die Erfahrung zeigt, dass das Aufeinanderstoßen unterschiedlicher kultureller Grundhaltungen keineswegs zwingend zu kultureller Angleichung oder auch nur zu Toleranz führt, sondern ebenso gut in Intoleranz und Fanatismus umschlagen kann. (6) Die nationalen Gesetzgeber, aber auch die Recht setzenden europäischen Instanzen (unter Einschluss der obersten Gerichtshöfe) stehen vor der Aufgabe, diese Gefahr im Auge zu behalten und auf nationaler wie europäischer Ebene eine rechtliche Regelung der Sterbehilfe zu finden, die weltanschaulich soweit neutral ist, dass sie von Personen unterschiedlicher weltanschaulicher oder religiöser Prägung akzeptiert werden kann.

69 Dies würde der Tendenz des Gesetzgebers zur symbolischen Gesetzgebung im Strafrecht entsprechen, vgl. dazu E. Hilgendorf, „Die deutsche Strafrechtsentwicklung 1975–2000. Reformen im Besonderen Teil und neue Herausforderungen“, in: Th. Vormbaum, J. Welp (Hg.), Das Strafgesetzbuch. Sammlung der Änderungsgesetze und Neubekanntmachungen. Supplementband 1: 130 Jahre Strafgesetzgebung – Eine Bilanz, 2004, S. 258–380 (369 und passim).

Europäisierung der polnischen Strafpolitik – Stand und Perspektiven Maciej Małolepszy I. Nach dem Beitritt Polens und anderer osteuropäischer Länder zur Europäischen Union zum 1.5.2004 befindet sich Europa in einer ganz neuen Situation. Staaten, die jahrelange der Dominanz des sowjetischen Rechts unterworfen waren, wurden in die liberalen Strukturen des EU-Rechts eingegliedert. Natürlich müssen solche sozialen, politischen und wirtschaftlichen Wandelungsprozesse, die Europa bisher nicht gekannt hat, enorme Spannungen verursachen. Sie sind auch im Bereich des Strafrechts und der Strafpolitik1 deutlich sichtbar. Strafrechtssysteme, die nach dem 2. Weltkrieg ganz unterschiedliche Ziele2 verfolgt haben, entwickelten abweichende Rechtsnormen, Straftraditionen und Rechtsinstitute, die in absehbarer Zukunft in Einklang gebracht werden müssen, soll die europäische Integration nicht scheitern. Die Analyse der entsprechenden Daten aus den Annual Penal Statistics bezüglich der Gefangenenrate3 in den europäischen Ländern zeigt jedoch, vor welchen enormen Schwierigkeiten die Rechtsvereinheitlichung im Bereich einer gemeinsamen Strafpolitik steht. Während die Gefangenenrate in den westeuropäischen Ländern im Jahre 2004 zwischen 65 und 140 schwankte, wobei die Gefangenenrate der überwiegenden Mehrheit der westeuropäischen EU-Staaten unter 100 lag, verzeichnete die Statistik bei den neuen Mitgliedstaaten aus Mittel- und Osteuropa wesentlich höhere Zahlen. So 1 Unter dem Begriff der „Strafpolitik“ wird im Folgenden die Präferenz für die Anwendung einer bestimmten Strafart verstanden. Zu dem Begriff der „europäischen Kriminalpolitik“ siehe Bernd Hecker, Europäisches Strafrecht, Berlin/Heidelberg/New York, 2005, RN 10. 2 Die instrumentelle Anwendung des Strafrechts zur Durchsetzung ideologischer und politischer Ziele und die Abhängigkeit der Justiz von der Exekutive waren für die totalitären Staaten charakteristisch. Siehe dazu: Kazimierz Buchała, „System sa˛dowego wymiaru kary w projekcie kodeksu karnego“, in: Stanisław Waltos´ (Hrsg.), Ksie˛ga ku czci prof. M. Cies´laka, Kraków, 1993, S. 133; Andrzej Rzeplin´ski, Die Justiz in der Volksrepublik Polen, Frankfurt am Main, 1996, S. 1; Helmut Kury, „Crime Development in the East and the West – A Comparison“, in: Crime and Criminology at the end of the century, IX Baltic Criminological Seminary 1996 May 22–25, Tallinn, 1997, S. 213. 3 Zahl der Gefangenen gemessen an der Bevölkerungszahl.

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betrug die Gefangenenrate im Jahre 2004 in Estland: 337,9; in Litauen: 227,1; in Lettland: 333,3; in Polen: 207,8; in der Slowakei: 176,7; in Ungarn: 162,2 und in Tschechien: 178.4 Als Ausnahme gilt Slowenien, wo die Gefangenenrate lediglich 56,4 betrug.5 Natürlich kann die Gefangenenrate nicht als einziger und ausreichender Indikator einer Strafpolitik bezeichnet werden. Die Zahl der verhängten Freiheitsstrafen, die Länge der verbüßten Freiheitsstrafen und die Zahl der Eingänge in den Strafvollzug gelten als weitere wichtige Indikatoren, die die Strafpolitik eines Landes charakterisieren. Die Gefangenenrate ist jedoch in der Literatur zu Recht als einer der wichtigsten Indikatoren anerkannt,6 der es erlaubt, die Strafpolitiken der einzelnen Mitgliedstaaten miteinander zu vergleichen. Daher sollen sich die weiteren Erörterungen auf diesen Indikator beschränken. Die wesentlich höhere Gefangenenrate der osteuropäischen Mitgliedstaaten der EU ist somit eine Tatsache, die schwerlich zu bestreiten ist. Diese Zahlen spiegeln jedoch nicht nur die unterschiedliche Untersuchungshaft-, Strafzumessungs- und Entlassungspraxis wider, sondern sie decken eine ganz andere Bewertung der menschlichen Freiheit in den westeuropäischen Staaten einerseits und den osteuropäischen Staaten andererseits auf. Man kann sagen, dass die Freiheit auf den beiden Seiten der Oder eine ganz unterschiedliche Wertschätzung erfährt. Die polnische Strafpolitik muss daher radikal geändert werden, wenn die polnische Gefangenenrate in absehbarer Zukunft dem Niveau der westeuropäischen Länder angeglichen sein soll. Fraglich ist jedoch, ob dieser Versuch überhaupt eine Chance auf Realisierung und vor allem auf Erfolg hat. Die Erfahrungen aus der neuesten Geschichte stimmen leider nicht optimistisch. Schon unter der Geltung des polnischen Strafgesetzbuches von 1969, das bis zum Jahre 1998 galt, mehrten sich die Stimmen, die der von dem sozialistischen Staat geführten Strafpolitik den Vorwurf einer unbegründeten Strenge gemacht haben.7 Das Problem der unakzeptabel hohen Zahl der Gefangenen, das eine permanente Überfüllung der Gefängnisse mit sich brachte, war somit der polnischen Strafrechtslehre durchaus klar. Die Aufrufe der Lehre an den Gesetzgeber sowie an die Praxis brachten jedoch keine nennenswerte Änderung der Situation: Die Ge-

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Council of Europe, Annual Penal Statistics, Survey 2004, S. 16, 29. Council of Europe, Annual Penal Statistics, Survey 2004, S. 16. 6 Barbara Stan´do-Kawecka, „Polityka karna a populacja uwie˛zionych“, Przegla˛d Wie˛ziennictwa Polskiego 36/2002, S. 43. 7 Siehe dazu: Tomasz Kaczmarek, „W sprawie nadmiernej represyjnos´ci polityki karnej“, Nowe Prawo 5/1981; Andrzej Marek, „Reforma prawa karnego-uwagi i postulaty“, Nowe Prawo 7–8/1981, S. 99; ders., „Polskie prawo karne na tle standardów europejskich“, Pan´stwo i Prawo 5/1994, S. 17; Jerzy Jasin´ski, „Spór o ocene˛ polityki karnej lat siedemdziesia˛tych“, Pan´stwo i Prawo 3–4/1982, S. 140; ders., „Punitywnos´c´ systemów karnych (Kontynuacje)“, Pan´stwo i Prawo 6/1984, S. 66. 5

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fängnisse blieben weiterhin voll. Erst nach dem politischen Umbruch im Jahre 1989 schien sich die Situation zu verbessern.8 Bald begann jedoch die Zahl der Gefangenen wieder zu steigen.9 Radikal sollte dieser Tendenz das neue Strafgesetzbuch von 1997 (im Folgenden: StGB) entgegenwirken. Eines der Hauptziele dieser neuen Kodifikation bestand in der Herabsetzung der Gefangenenzahl.10 Heute ist es klar, dass dieses Ziel nicht erreicht wurde. Polen gehört weiterhin zu den europäischen Staaten mit der höchsten Gefangenenrate. Diese Rate wäre noch wesentlich höher, wenn die polnischen Gefängnisse mehr Gefangene aufnehmen könnten, denn mehr als 30.000 Verurteilte warten heute auf ihre Strafantritte. Auch die Prognosen sehen eher schlecht aus: Die von der polnischen Regierung geplanten Reformen lassen keinen Zweifel daran, dass das polnische Strafrecht bald verschärft sein wird, d.h. die Gerichte werden mehr Freiheitsstrafen und/oder längere Freiheitsstrafen verhängen.11 Diese Maßnahmen werden sicherlich in der polnischen Gesellschaft Akzeptanz finden, denn in Polen erreichen die politischen Diskurse, die auf einer allgemeinen Verunsicherung (Stichworte: Anomie, Risikogesellschaft12) basieren, heute ihren Höhepunkt. Die Gefahr geht auch von dem kriminalpolitischen Konzept der USA „lock them up“ aus, das auch in Polen die Vorherrschaft gewinnen könnte, obwohl die finanzielle Leistungsfähigkeit beider Länder in dieser Hinsicht unvergleichbar ist. Nicht undenkbar ist es auch, dass kriminalpolitischen Strategien, wie „Null Toleranz“,13 „three strikes and you’re out“ oder „just desert“ in Polen in kurzer Zeit an Anziehungskraft gewinnen könnten.14

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Andrzej Marek, Prawo karne, 6. Auflage, Warszawa, 2005, RN 363. Ebenda. 10 Kazimierz Buchała, „System kar, s´rodków karnych i zabezpieczaja˛cych w projekcie kodeksu karnego z 1990 r.“, Pan´stwo i Prawo 6/1991, S. 21. 11 Gemeint ist der Entwurf vom 19.12.2005 zur Reform des Strafgesetzbuches. Nach dem neuen Art. 57a § 1 StGB sollten die Straftaten hooliganischer Natur in der Regel mit einer Freiheitsstrafe geahndet werden. Die Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung sollte dabei die Ausnahme bleiben (Art 69 § 3 StGB). Siehe dazu: Rza˛dowy projekt ustawy o zmianie ustawy – Kodeks karny oraz niektórych innych ustaw, Druk sejmowy nr 485. 12 Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main, 1991. 13 William Bratton besuchte Polen im März 2002. An der Diskussion, die eine der größten Tageszeitungen Polens „Rzeczpospolita“ organisierte, nahmen außer Bratton, der damalige Justizminister, Innenminister, Präsident von Warschau (heute Präsident von Polen), der Vorsitzende der parlamentarischen Innenkommission und andere für Sicherheit zuständige Personen teil. Siehe dazu Rzeczpospolita vom 23.3.2002. 14 Vom 27. bis zum 29. September 2002 fand in Warschau eine Konferenz statt, von der ein Teil dem gegenwärtigen Retributionismus gewidmet war. Die Konferenz organisierte die Stiftung „Ius and lex“. 9

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II. Dieser Aufsatz sollte jedoch nicht nur (pessimistische) Diagnosen stellen. Er sollte auch einen konstruktiven Vorschlag für eine Reduzierung der hohen Zahl der Gefangenen in Polen machen, wobei das allgemeine kriminalpolitische Klima für derartige Vorschläge allerdings eher ungünstig zu sein scheint. Trotzdem soll auf drei Probleme hingewiesen werden, deren Bewältigung zur Herabsetzung der Gefangenenrate in Polen beitragen kann. 1. Dauer der verhängten Freiheitsstrafen Zunächst ist die Dauer der verhängten Freiheitsstrafen hervorzuheben. Zu Recht weist man darauf hin, dass die Dauer der verhängten und der verbüßten Freiheitsstrafen sehr stark die Höhe der Gefangenenrate beeinflusst.15 Daher sollten die Staaten, die ihre Gefangenenrate reduzieren wollen, zunächst die Dauer der verhängten und der zu verbüßenden Freiheitsstrafen verkürzen.16 In der Tat muss Polen in diesem Bereich viel tun, damit die Gefangenenrate in Zukunft abnehmen kann, denn in der polnischen Strafzumessungspraxis überwiegen heute die langen Freiheitsstrafen: Die Freiheitsstrafen von 6 Monaten bis zu 2 Jahren stellten im Jahre 2004 fast 85% aller Verurteilungen zu Freiheitsstrafe dar.17 Man kann somit zugleich feststellen, dass das Problem der kurzen Freiheitsstrafen, d.h. unter 6 Monaten, in der polnischen Praxis eine nur marginale Rolle spielt. Dem Gesetzgeber war dieses Problem klar, als er im Strafgesetzbuch von 1997 die Mindestdauer der Freiheitsstrafe auf einen Monat herabsetzte; das StGB von 1969 hatte das Mindestmaß der Freiheitsstrafe noch auf drei Monate festgelegt. Dieser gesetzgeberische Eingriff reicht jedoch offensichtlich nicht aus, um die Dauer der verhängten Freiheitsstrafen wirksam zu verkürzen. Man muss daher nach einer anderen Lösung suchen. Wahrscheinlich sollte man die Herabsetzung des Mindestmaßes der Strafen bei weiteren statistisch bedeutsamen Vorschriften im Besonderen Teil des StGB erwägen. Eine andere Alternative wäre eine Pflicht zur besonderen Begründung der Freiheitsstrafen in der 15 Barbara Stan´do-Kawecka, „Polityka karna a populacja uwie˛zionych“, Przegla˛d Wie˛ziennictwa Polskiego 36/2002, S. 33, m.w. N. 16 Ebenda, S. 34, m.w. N. 17 Berechnungen vom Verfasser auf der Grundlage des Statistischen Jahrbuches (Rocznik Statystyczny 2005, S. 178). Leider lässt sich dem statistischen Jahrbuch nicht entnehmen, wie viele Freiheitsstrafen in diesem Bereich zur Bewährung ausgesetzt wurden. Aus der Untersuchung von Szymanowski geht jedoch hervor, dass die unbedingten Freiheitsstrafen im Bereich von 6 Monaten bis zu 2 Jahren 70% aller Verurteilungen zu der unbedingten Freiheitsstrafe im Jahre 2003 darstellten. Teodor Szymanowski, „Polityka karna sa˛dów w Polsce (w latach 1997 oraz 2000–2003)“, Pan´stwo i Prawo 6/2005, S. 34.

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Höhe über sechs Monaten. Eine solche Pflicht würde die Aufmerksamkeit der Richter auf das Problem der Höhe der verhängten Freiheitsstrafen richten. 2. Alternativen zur unbedingten Freiheitsstrafe Das zweite Problem betrifft die Alternativen zur unbedingten Freiheitsstrafe.18 Obwohl das StGB breite Möglichkeiten einer Anwendung der Geldstrafe und der Freiheitsbeschränkungsstrafe vorsieht, stellen die Richter die bedingte Freiheitsstrafe in den Vordergrund.19 So wurden im Jahre 2004 in Polen 278.338 bedingte Freiheitsstrafen verhängt.20 Die polnische Strafpolitik fußt somit auf der bedingten Freiheitsstrafe. Obwohl die Geldstrafe nach der Auffassung der Schöpfer des StGB eine primäre Rolle bei der Bekämpfung der kleinen und der mittleren Kriminalität spielen sollte, liegt der Anteil der Geldstrafen an allen Verurteilungen heute weit hinter dem Anteil der bedingten Freiheitsstrafen. Er lag im Jahre 2004 bei 22%.21 Dies hat vor allem darin seine Ursache, dass das StGB in Art. 58 § 2 ein Verbot der Verhängung der Geldstrafe gegenüber Einkommensschwachen vorsieht und in keinem Fall die Geldstrafe gegenüber anderen ambulanten Strafen fördert. Dem Art. 58 § 1 StGB, der einen Grundsatz der Präferenz der ambulanten Strafen verkörpert, lässt sich nichts entnehmen, was die Geldstrafe zu Lasten der bedingten Freiheitsstrafe und der Freiheitsbeschränkungsstrafe bevorzugen würde. Wenn man bedenkt, dass eine wesentliche Erweiterung der Geldstrafe grundsätzlich nur zu Lasten der statistisch bedeutendsten Strafe, und zwar der bedingten Freiheitsstrafe, realisierbar ist, muss Art. 58 § 1 StGB kritisch beurteilt werden. Diese Vorschrift förderte nicht und, man kann diese Prognose stellen, wird auch in der Zukunft die Geldstrafe nicht fördern. Diese These kann man mit einem Blick auf die Entwicklung des deutschen Strafrechts untermauern. Es ist bekannt, dass die Geldstrafe in der deutschen Strafzumessungspraxis eine primäre Rolle spielt: Etwa 80% der Verurteilungen 18 Siehe dazu: Jan Skupin´ski, „Problem efektywnych alternatyw bezwzgle˛dnego pozbawienia wolnos´ci“, in: Tadeusz Bojarski, Katarzyna Nazar, Aleksandra Nowosad, Maciej Szwarczyk, Zmiany w polskim prawie karnym po wejs´ciu w z˙ ycie Kodeksu karnego z 1997 roku, Lublin, 2006, S. 137 ff. 19 Die Gründe für diese Praxis habe ich in meiner Dissertation ausführlich dargestellt. Die Arbeit wird in Kürze im Verlag Duncker & Humblot, Berlin, unter dem Titel: „Geldstrafe und bedingte Freiheitsstrafe nach deutschem und polnischem Recht. Rechtshistorische Entwicklung und gegenwärtige Rechtslage im Vergleich“ erscheinen. 20 Rocznik Statystyczny, 2005. 21 Berechnung vom Verfasser auf der Grundlage des Statistischen Jahrbuches aus dem Jahre 2005. Dieser Anteil ist jedoch größtenteils auf den Umstand zurückzuführen, dass das Delikt der Trunkenheit im Verkehr am 16. Dezember 2000 ein Vergehen wurde (früher Übertretung). Wäre der Besondere Teil insoweit nicht geändert worden, so wäre der Anteil der Geldstrafen an allen Verurteilungen heute noch kleiner.

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sind in Deutschland Verurteilungen zu Geldstrafe.22 Die deutschen Gerichte verhängen jährlich ungefähr 500.000 Geldstrafen.23 Daher kann man heute die deutsche Strafkultur als „pekuniäre Strafkultur“ bezeichnen. Die breite Anwendung der Geldstrafe in Deutschland ist jedoch ein Effekt der bewussten Förderung dieser Strafart im StGB seit mehr als 80 Jahren. Seit 1921 gibt es im deutschen Recht eine Vorschrift, die die Gerichte zur Verhängung der Geldstrafe anstatt der kurzen Freiheitsstrafe zwingt.24 Diese Förderung der Geldstrafe trug wesentlich zur Begrenzung der Gefangenenrate auf unter 100 bei. Will Polen die Anwendung der Geldstrafe erweitern, muss die Geldstrafe stärker im Allgemeinen Teil des StGB gefördert werden; sonst ist die Gefahr sehr groß, dass sie noch lange im Schatten der bedingten Freiheitsstrafe bleiben wird. Dabei ist zu beachten, dass nur die Geldstrafe eine Chance hat, die bedingte Freiheitsstrafe in beachtenswertem Umfang zu verdrängen. Andere Strafen, wie z. B. die Freiheitsbeschränkungsstrafe können aus organisatorischen Gründen kaum je eine breitere Anwendung finden. 3. Konstruktion des Widerrufs der Strafaussetzung Will der Gesetzgeber die Geldstrafe zu Lasten der bedingten Freiheitsstrafe nicht erweitern, so sollte er im Hinblick auf die hohe Gefangenenrate und die Zahl der bedingten Freiheitsstrafen in Polen zumindest den Widerruf der Strafaussetzung möglichst elastisch regeln. Dies ist jedoch bisher nicht der Fall. Nach Art. 75 § 1 StGB muss das Gericht die Vollstreckung der Freiheitsstrafe anordnen, falls der Verurteilte erneut vorsätzlich eine ähnliche Straftat begangen hat, die schon früher mit einer bedingten Freiheitsstrafe bestraft wurde. Das Gericht hat dabei kein Ermessen: Es muss die Vollstreckung der Freiheitsstrafe in diesem Fall anordnen, sogar dann, wenn der Täter für seine nächste Tat mit einer bedingten Freiheitsstrafe bestraft wurde.25 Die erneute positive Prognose schließt somit die Freiheitsentziehung nicht aus. Man muss deshalb fragen, weshalb das Gesetz in diesem Punkt so streng, so unelastisch, ist. Es gibt eine Reihe von Fällen in der Praxis, in denen zwischen der ersten und der nächsten Verurteilung ein so beachtlicher Zeitraum liegt, dass die positive Prognose in

22 Berechnung vom Verfasser auf der Grundlage der Strafverfolgungsstatistik, Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 3, 2005. 23 Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 3, 2005. 24 § 27b StGB a. F. und § 14 StGB a. F. = § 47 StGB n. F. 25 Urteil des Obersten Gerichts vom 17.9.1996, I KZP 19/96, OSNKW 1996, z. 11–12, poz. 75; Michał Kalitowski, in: Oktawia Górniok, Stanisław Hoc, Michał Kalitowski, Stanisław M. Przyjemski, Zofia Sienkiewicz, Jerzy Szumski, Leon Tyszkiewicz, Andrzej Wa˛sek, Kodeks karny, Komentarz, Tom I, Gdan´sk, 2005, Art. 75 RN 2; Andrzej Zoll, in: Andrzej Zoll (Redaktion), Kodeks karny, Cze˛s´c´ ogólna, Komentarz, Tom I, Kraków, 2004, Art. 75 RN 7.

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diesen Fällen durchaus berechtigt erscheint. Warum sollte diesen Tätern die Vergünstigung der Strafaussetzung entzogen werden? Man kann sich leicht vorstellen, welche Folgen eine solche Regelung in der Praxis hervorruft. Die Richter müssen die Vollstreckung der Freiheitsstrafe anordnen, obwohl sie bei der nächsten Verurteilung eine positive Prognose bejahen. Unter dem Gesichtspunkt der Gefangenenzahl trägt auch eine solche Unelastizität der Vorschrift des Art. 75 § 1 StGB zu einer unbegründeten Erhöhung der Zahl der Gefangenen bei. Obwohl sich nicht genau feststellen lässt, wie viele Freiheitsstrafen letztlich in der Praxis tatsächlich widerrufen werden,26 darf bei der sehr hohen Zahl der bedingten Freiheitsstrafen das Problem nicht als gering angesehen werden. III. Natürlich gibt es zurzeit keine politische Chance, die geschilderten Vorschläge in kürzerer Zeit in das Gesetz umzusetzen. Diese und andere Vorschläge, die die Herabsetzung der Gefangenenzahl in Polen anstreben, können in der Gesellschaft grundsätzlich heute keine Akzeptanz erwarten. Zurzeit hat die liberale Strömung der polnischen Strafrechtslehre jedoch einen wichtigen Anhänger, und zwar die europäischen Strukturen. Ein Beispiel dafür, wie sie die Strafpolitik eines Landes günstig beeinflussen könnten, stellt das Protokoll Nr. 6 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe dar, das eine reale Schranke für die Zurückführung der Todesstrafe in die polnische Rechtsordnung bildet, obwohl die Mehrheit der polnischen Gesellschaft diese Strafart noch akzeptiert.27 Ein weiteres Beispiel der positiven Einwirkung der europäischen Strukturen auf die nationalen Rechtssysteme stellt das Europäische Übereinkommen zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe vom 26. November 1987 dar. Auf der Grundlage dieser Konvention wurde ein Ausschuss unabhängiger Sachverständiger (sog. Anti-Folter-Ausschuss) geschaf-

26 Die Lehre ist in dieser Hinsicht geteilter Auffassung. Während Siemaszko die Widerrufsquote auf 6% im Jahre 1999 schätzt, geht Szymanowski von 19–20% aus. Andrzej Siemaszko, „Probacja a la polonaise, czyli piórko Damoklesa“, in: Probacyjne S´rodki polityki karnej – stan i perspektywy, Materiały z konferencji zorganizowanej przez Komisje˛ Praw Człowieka i Praworza˛dnos´ci 20–21 paz´dziernika 2000 r., Warszawa, 2001, S. 67. Teodor Szymanowski, Auszug aus der Diskussion, in: Probacyjne s´rodki polityki karnej – stan i perspektywy, Materiały z konferencji zorganizowanej przez Komisje˛ Praw Człowieka i Praworza˛dnos´ci 20–21 paz´dziernika 2000 r., Warszawa, 2001, S. 91. 27 Aus einer Befragung aus dem Jahre 2004 geht hervor, dass 77% der Befragten die Todesstrafe für schwerste Verbrechen befürwortet. Centrum Badania Opinii Publicznej, Poczucie zagroz ˙ enia przeste˛pczos´cia˛ i stosunek do kary s´mierci, Warszawa, 2004, S. 7.

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fen, der in den Mitgliedstaaten die Menschenrechtslage von Personen überprüft, denen die Freiheit entzogen ist. Dank der Berichte über die Überfüllung der Gefängnisse kann dieses Problem auf der europäischen Ebene thematisiert werden. Ferner kann Art. 6 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Recht auf ein faires Verfahren) der Einführung und Anwendung des Beschleunigten Verfahrens entgegenwirken,28 dessen Konstruktion dem Täter keine Gelegenheit zur Vorbereitung seiner Verteidigung gibt. Das sind Beispiele, die davon zeugen, wie das europäische Strafrecht29 das nationale Strafrecht günstig beeinflussen kann. Sie reichen jedoch nicht aus, um die Gefangenenrate in Polen in der kommenden Zeit deutlich zu reduzieren. Man muss daher weiter nach neuen Lösungen auf der europäischen Ebene suchen, die zur Herabsetzung der Gefangenenzahl in den mittel- und den osteuropäischen EUStaaten beitragen könnten. Zusammenfassend ist festzuhalten: 1.

Die polnische Strafpolitik ist in Bezug auf seine hohe Gefangenenrate von den westeuropäischen Standards weit entfernt.

2.

Die Herabsetzung der Zahl der Gefangenen könnte in erster Linie: a) durch eine Verkürzung der Freiheitsstrafen, b) durch eine stärkere Förderung der Geldstrafe und/oder c) durch eine möglichst weite Flexibilisierung der Regelungen zum Widerruf der Strafaussetzung erzielt werden.

3.

Selbstverständlich würden diese Änderungen des Gesetzes nicht ausreichen, um die Anzahl der Gefangenen schlagartig in kurzer Zeit zu senken; sie sind jedoch eine wesentliche Voraussetzung für eine weniger repressive Strafpolitik.

4.

Die Europäisierung der polnischen Strafpolitik sollte durch das europäische Strafrecht unterstützt werden.

28 Rza˛dowy projekt ustawy o zmianie ustawy – Kodeks karny oraz niektórych innych ustaw, Druk sejmowy nr 485. 29 Zu dem Begriff des „europäischen Strafrechts“ siehe Helmut Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, Baden-Baden, 2005, RN 3.

Über die Auflösung des (deutschen) nationalen Wirtschaftsstrafrechts durch das europäische Recht Roland Schmitz I. Einleitung Die EU ist traditionell vor allem eine Wirtschaftsunion. Das gilt auch heute noch, obwohl sie längst auch eine politische Union sein will. Ihre Wurzeln in der Montan-Union und nachfolgend der EWG zeigen sich aber insbesondere darin, dass die Rechtsvereinheitlichung in der EU vor allem wirtschaftliche Bereiche betrifft: Der EU-Binnenmarkt ist nicht nur das größte, sondern auch das am ambitioniertesten betriebene Projekt innerhalb der EU; diesbezüglich unternimmt die EU-Kommission die größten Anstrengungen einer Vereinheitlichung der nationalen Rechtsordnungen.1 Änderungen des nationalen Wirtschaftsrechts durch europäisches Recht sind allerdings auf zweierlei Wegen möglich, die sich teils ergänzen, teils aber auch gegenläufig2 sind: Zum einen – und am intensivsten – geschehen sie durch direkte Vorgaben „aus Brüssel“, indem auf europäischer Ebene Richtlinien – im Bereich des Wirtschaftsrechts wohl die häufigste Form – oder Verordnungen erlassen werden.3 Zum anderen kann es aber auch indirekt zu einer Rechtsänderung kommen, indem sich aufgrund der Rechtsprechung des EuGH für die Mitgliedstaaten die Pflicht ergeben kann, nationale Rechtskonstruktionen anderer Mitgliedstaaten innerhalb ihrer Rechtsordnung anzuerkennen. – Der Begriff „indirekt“ wird hier allein deshalb gewählt, um diese Fälle von denen einer zielgerichteten Intervention durch Rat und Kommission abzugrenzen. Methodisch handelt es sich natürlich um Konstellationen, in denen sich die Beeinflussung durch Auslegung der Verträge ergibt, letztlich also aus diesen selbst. – 1 Vgl. dazu den Aktionsplan der Kommission „Modernisierung des Gesellschaftsrechts und Verbesserung der Corporate Governance in der Europäischen Union“ v. 21.5.2003, KOM (2003) 284endg., insbes. Anhang 2 (S. 31 ff.). 2 Vgl. Eidenmüller, „Mobilität und Restrukturierung von Unternehmen im Binnenmarkt“, JZ 2004, 24. 3 Vgl. Art. 249 EGV. Rahmenbeschlüsse des Rates nach Art. 34 Abs. 2 lit. b) EUV sind wegen der Kompetenzen der Kommission unwahrscheinlich.

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Herausragendes Beispiel hierfür ist die Auslegung der Niederlassungsfreiheit (Art. 43, 48 EGV) durch den EuGH. Spätestens seit der „Inspire Art“-Entscheidung4 im Jahre 2003 muss auch in Deutschland akzeptiert werden, dass nicht nur die im nationalen deutschen Gesellschaftsrecht vorgesehenen Gesellschaftsformen Geltung im Inland beanspruchen können, sondern auch die nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaften – selbst dann, wenn die jeweilige Gesellschaft ausschließlich in Deutschland werbend tätig ist.5 Dies bedeutet, dass für die ausländische Gesellschaft deren Heimatrecht gilt und nicht das deutsche Gesellschaftsrecht.6 Eine Ausnahme soll nur dann gelten, wenn die Gesellschaft explizit zu missbräuchlichen oder betrügerischen7 Zwecken gegründet wird – was aber an relativ enge Voraussetzungen geknüpft ist.8 Insbesondere soll die bewusste Ausnutzung geringerer Anforderungen an die Errichtung der Gesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat keinen Missbrauch begründen.9 Zur Zeit häufigste ausländische Gesellschaftsform ist die „Private Company Limited by Shares“ – eine der deutschen GmbH ähnliche Gesellschaftsform, die im Vereinigten Königreich allerdings schon mit einem Grundkapital von einem Penny gegründet werden kann.10 Steigender Beliebtheit soll sich aber auch eine vergleichbare Gesellschaftsform aus Spanien erfreuen.11

4 Rs. C-167/01, NJW 2003, 3331; zuvor schon die „Centros“-Entscheidung, Rs. C212/97, NJW 1999, 2027, und „Überseering“, Rs. C-208/00, NJW 2002, 3614. 5 Vgl. EuGH NJW 2003, 3331, 3333 (Tz. 95 ff. m.w. N.) und dazu Eidenmüller (Fn. 2) JZ 2004, 24 ff.; Hirte in: Hirte/Bücker (Hrsg.), Grenzüberschreitende Gesellschaften, Köln u. a. O., 2005, § 1 Rn. 16 ff.; Ulmer, „Gläubigerschutz und Scheinauslandsgesellschaften“, NJW 2004, 1201 ff. m.w. N.; Zimmer, „Nach ,Inspire Art‘: Grenzenlose Gestaltungsfreiheit für deutsche Unternehmen?“, NJW 2003, 3585 ff. 6 Vgl. dazu nur BGH NJW 2005, 1648 f.; Eidenmüller (Fn. 2) JZ 2004, 24, 25 ff. m.w. N.; Ulmer (Fn. 5) NJW 2004, 1201 ff. m.w. N.; Zimmer (Fn. 5) NJW 2003, 3585, 3586 ff. – A.A. Altmeppen, „Schutz vor ,europäischen‘ Kapitalgesellschaften“, NJW 2004, 97 ff. 7 Ein solcher kommt in Betracht im Fall des AG Hamburg BB 2003, 1457 = NJW 2003, 2835; vgl. Eidenmüller (Fn. 2) JZ 2004, 24, 26; Hoffmann in: Sandrock/Wetzler (Hrsg.), Deutsches Gesellschaftsrecht im Wettbewerb der Rechtsordnungen, 2004, S. 262 f. 8 Nach Art. 46 EGV kommt – im hier erörterten Zusammenhang nur theoretisch – eine weitere Ausnahme aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit in Betracht. Nach der Rechtsprechung des EuGH kommen Einschränkungen der Grundfreiheiten des EGV durch nationale Maßnahmen nur dann in Betracht, wenn sie (1) nicht diskriminierend angewandt werden, (2) aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sind, (3) zur Erreichung des verfolgten Zieles geeignet sind und (4) nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des Ziels erforderlich ist; vgl. EuGH (Inspire Art) NJW 2003, 3331, 3334 (Ziff. 133) m.w. N. 9 Vgl. EuGH (Centros) NJW 1999, 2017, 2028 (Ziff. 27); EuGH (Inspire Art) NJW 2002, 3331, 3333 f. (Ziff. 96, 137 ff.); eindeutige Aussagen finden sich dort allerdings nicht, vgl. dazu Eidenmüller (Fn. 2) JZ 2004, 24, 26 ff.; Forsthoff in: Hirte/Bücker (Fn. 5) § 2 Rn. 52.

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Änderungen des Wirtschaftsrechts betreffen zwangsläufig auch das Wirtschaftsstrafrecht als nachgelagerter Rechtsmaterie: Bei direkter Beeinflussung sehen Richtlinien durchweg auch die Verpflichtung der Mitgliedstaaten vor, Verstöße gegen die (umzusetzende) Regelungsmaterie zu sanktionieren, und zwar durch „verhältnismäßige, wirksame und abschreckende“ Maßnahmen. Selbst wenn nicht ausdrücklich die Schaffung von Straftatbeständen gefordert wird – was nur teilweise der Fall ist – ergibt sich dennoch regelmäßig aus dem Sanktionserfordernis auch die Pflicht zur Einführung von Straftatbeständen entsprechend der Vorgabe des europäischen Rechts. Bei einer indirekten Beeinflussung kann es dagegen zu einer partiellen Inkompatibilität der nationalen Strafrechtsordnung kommen, weil das Wirtschaftsstrafrecht nicht auf die ausländischen Gesellschaftsformen zugeschnitten ist, für die das ausländische und nicht das nationale deutsche Recht gilt. In diesen Fällen kann aus innerstaatlichen Gründen die Notwendigkeit entstehen, das Wirtschaftsstrafrecht entsprechend anzupassen – ein Problem, das in der Strafrechtswissenschaft gerade in ersten Ansätzen thematisiert wird.12 II. Probleme In beiden Fällen bringt die Änderung des Wirtschaftsrechts rechtsstaatliche Probleme im Hinblick auf die Anpassung des Strafrechts mit sich. Sie sind allerdings unterschiedlich gelagert, weshalb sie hier nacheinander und getrennt angesprochen werden.

10 Vgl. dazu Rönnau, „Haftung der Direktoren einer in Deutschland ansässigen englischen Private Company Limited by Shares nach deutschem Strafrecht – eine erste Annäherung“, ZGR 2005, 832, 835 ff.; Schlösser, „Die Strafbarkeit des Geschäftsführers einer private company limited by shares in Deutschland“, wistra 2006, 81 m.w. N.; zu den tatsächlichen Erkenntnissen über die Häufigkeit solcher Gesellschaftsgründungen vgl. Möhrenschlager wistra 2006, H. 2 S. VII f.; Handelsblatt v. 1.6.2006, S. 3: danach ergeben sich in den Jahren 2002–2005 folgende Zahlen von Ltd.-Gründungen: 945 (2002); 2515 (2003); 9617 (2004); 11463 (2005). 11 Vgl. dazu Lutter, „Zur Entwicklung der GmbH in Europa und der Welt“, GmbHR 2005, 1, 4; allg. zur „SLNE“ Fröhlingsdorf, „Die spanische GmbH: Neues Unternehmen“, RIW 2003, 584 ff.; Irujo, „Eine spanische ,Erfindung‘ im Gesellschaftsrecht. Die ,Sociedad limitada nueva empresa‘ – die neue unternehmerische GmbH“, RIW 2004, 760 ff.; Vietz, „Die neue ,Blitz-GmbH‘ in Spanien“, GmbHR 2003, 26 ff. 12 Vgl. dazu Hoffmann in: Sandrock/Wetzler (Fn. 7) S. 227 ff.; Rönnau (Fn. 10) ZGR 2005, 832 ff.; Schlösser (Fn. 10) wistra 2006, 81 ff.

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1. Demokratie- und Rechtsstaatsprobleme direkter europäischer Vorgaben im Bereich des Strafrechts Sofern es um direkte europäische Vorgaben zur Änderung des Strafrechts geht, handelt es sich um zwei im Prinzip bekannte Problembereiche, die deshalb nachstehend nur kurz genannt werden sollen. a) Das Kompetenzproblem Es geht zum einen um das Kompetenzproblem. Eine ausdrückliche Kompetenz der EU im Bereich des Strafrechts besteht innerhalb der ersten Säule des Gemeinschaftsrechts, dem EGV, allenfalls beschränkt auf den Schutz der eigenen finanziellen Interessen – Art. 280 EGV.13 Sofern man hier – oder auch im Zusammenhang mit einer Annexkompetenz14 – eine solche Kompetenz bejaht, beinhaltet sie auch keine Befugnis originärer Rechtssetzung, sondern (nur) die Möglichkeit, die Mitgliedstaaten zum Erlass bestimmter Straftatbestände zu verpflichten (Anweisungskompetenz).15 Nach der Systematik des Gemeinschaftsrechts und auch nach dem Verständnis der Mitgliedstaaten sollte für die Kommission – als der Initiatorin von Richtlinien – grundsätzlich keine weitergehende Kompetenz im Bereich des Strafrechts bestehen.16 Sie selbst hat dies allerdings schon seit langem anders 13 Vgl. zu dem Streit darüber, ob Art. 280 Abs. 4 EGV eine solche Kompetenz beinhaltet oder (auch) wegen des Satzes 2 – richtigerweise – gerade ausschließt, Hecker, Europäisches Strafrecht, Berlin u.a.O., 2005, § 4 Rn. 97 ff. m.w. N.; Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts, Köln u.a.O., 2001, S. 138 ff. m.w. N.; ders., Internationales und Europäisches Strafrecht, Baden-Baden, 2005, § 7 Rn. 28 m.w. N.; Schröder, Europäische Richtlinien und deutsches Strafrecht, Berlin, 2002, S. 143 ff. m.w. N. einerseits; Tiedemann, „Lehren von der Straftat im Allgemeinen Teil der Europäischen Rechtssysteme“, GA 1998, 107, 108, Fn. 7; ders., „EG und EU als Rechtsquellen des Strafrechts“, in: FS-Roxin, Berlin u.a.O., 2001, 1401, 1406 ff.; Zieschang, „Chancen und Risiken der Europäisierung des Strafrechts“, ZStW Bd. 113 (2001), S. 255, 259 ff. andererseits. 14 Vgl. dazu sofort im Text. 15 Vgl. dazu nur Dannecker, „Das materielle Strafrecht im Spannungsfeld des Rechts der Europäischen Union (Teil I)“, Jura 2006, 95, 96 ff. m.w. N.; Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts (Fn. 13) S. 295 ff. m.w. N.; ders., Internationales und Europäisches Strafrecht (Fn. 13) § 8 Rn. 31 ff. m.w. N.; Schröder, Europäische Richtlinien und deutsches Strafrecht (Fn. 13) S. 179 ff. m.w. N.; Zieschang (Fn. 13) ZStW Bd. 113 (2001), S. 255, 260 f. – A.A. Pache, Der Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, Berlin, 1994, S. 336; Wolffgang/Ulrich, „Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften“, EuR 1998, 616. 16 Vgl. etwa Schröder, Europäische Richtlinien und deutsches Strafrecht (Fn. 13) S. 103 ff.; BGHSt 25, 190, 193 f.; 41, 127, 131 f.; Eisele, „Einführung in das Europäische Strafrecht“, JA 2000, 896, 897; Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts – Allgemeiner Teil, Berlin, 5. Aufl. 1996, § 18 VIII 3; Müller-Gugenberger in: MüllerGugenberger/Bieneck (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht, 4. Aufl., Köln, 2006, § 5 Rn. 65,

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gesehen und hat damit im letzten Jahr vor dem EuGH Recht bekommen. Am 13.09.2005 erklärte der EuGH den „Rahmenbeschluss des Rates über den Schutz der Umwelt durch das Strafrecht“ für nichtig, weil dafür die Kompetenz bei der Kommission läge.17 Begründet wurde dies mit der generellen Zuständigkeit des Gemeinschaftsgesetzgebers für den Schutz der Umwelt nach Art. 174, 175 EGV. Sofern nach Einschätzung der Kommission ein effektiver Schutz nur durch eine strafrechtliche Absicherung der gemeinschaftsrechtlichen Regelung möglich sei, bestehe eine Kompetenz auch zur Vorgabe von Strafvorschriften.18 Der EuGH hat damit eine Rechtsauslegung forciert, die sich schon länger abzeichnete und der Kommission weitgehende Annexkompetenzen auch im Sanktionsrecht zugesteht.19 Damit steht es der Kommission auch im Bereich des Wirtschaftsrechts offen, zukünftige Richtlinien mit der expliziten Vorgabe von Strafsanktionen zu versehen. Denn die Hürde, die der EuGH dafür aufgestellt hat – die nachvollziehbar begründete Notwendigkeit einer nur im Zusammenhang mit Strafsanktionen wirksamen Regelung – ist nicht hoch. Dass der EuGH sich damit gegen die ursprüngliche Intention des EGV stellt, ist ein Problem, das an dieser Stelle nicht vertieft werden kann. Eines sollte allerdings auch nicht verkannt werden: Sofern die „Verfassung für Europa“ doch noch Wirklichkeit werden sollte, wird sich das Kompetenzgefüge ohnehin deutlich zugunsten der Kommission verschieben. Denn Art. III415 EU-Verfassung sieht, anders als noch Art. 280 Abs. 4 S. 2 EGV, keinen Vorrang des nationalen Strafrechts mehr vor. Zudem lässt er nicht nur „Rahmengesetze“ als Nachfolger der Richtlinien zu, sondern auch „Europäische Gesetze“ – die Nachfolger der Verordnungen, die unmittelbare Wirkung entfalten.20 Des Weiteren bieten sich auch andere Artikel des Verfassungsentwurfs

67; Waldhoff in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Kommentar des Vertrages über die Europäische Union und des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, Neuwied, 2. Aufl. 2002, Art. 280 Rn. 3, 20. – A.A. z. B. Appel, „Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft zur Überwachung und sanktionsrechtlichen Ausgestaltung des Lebensmittelrechts“, in: Dannecker (Hrsg.), Lebensmittelstrafrecht und Verwaltungssanktionen in der Europäischen Union, Köln, 1994, S. 165, 177 ff. 17 EuGH, Rs. C-176/03, JZ 2006, 307 mit Anm. Heger. 18 Vgl. EuGH JZ 2006, 307, 310 Ziff. 48–51; dazu Böse, „Die Zuständigkeit der Europäischen Gemeinschaft für das Strafrecht“, GA 2006, 211 ff.; Braum, „Europäische Strafgesetzgebung: Demokratische Strafgesetzlichkeit oder administrative Opportunität“, wistra 2006, 121, 123 ff.; Hefendehl, „Europäischer Umweltschutz: Demokratiespritze für Europa oder Brüsseler Putsch?“, ZIS 2006, 161, 163 ff. m.w. N.; Heger, Anm. zu EuGH JZ 2006, 307, JZ 2006, 310, 312 f. 19 Vgl. dazu nur Appel in: Dannecker (Fn. 16) S. 172, 177; Dannecker (Fn. 15) Jura 2006, 95, 97 f. m.w. N.; ders., Strafrecht der Europäischen Gemeinschaft, Freiburg im Breisgau, 1995, S. 59. – Für eine allgemeine „implied powers“-Kompetenz etwa Böse, Strafen und Sanktionen im Europäischen Gemeinschaftsrecht, Köln u.a.O., 1996, S. 56, 61 ff., 78; Heitzer, Punitive Sanktionen im Europäischen Gemeinschaftsrecht, Heidelberg, 1997, S. 136 ff., 142 ff.

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an, als Ermächtigungsnormen zum Erlass originärer Strafgesetze interpretiert zu werden.21 Kompetenzen im Bereich des Strafrechts sieht zur Zeit der EUV in den Art. 29, 31 vor. Freilich handelt es sich dabei um einen Bereich, für den der Rat der EU zuständig ist; seine Handlungsform sind (vor allem) die Rahmenbeschlüsse. Wie weit die sich aus den Art. 29, 31 EUV ergebenden Kompetenzen sind, ist bekanntlich auch heftig umstritten. Grundsätzlich ist der Bereich der Wirtschaft aber Gegenstand des EGV.22 Andererseits erscheint es auch nicht ausgeschlossen, dass bei der zunehmend vertretenen erweiternden Auslegung der Art. 29, 31 EUV der Rat (auch) auf die Idee kommen könnte, einen Rahmenbeschluss über die Einführung bestimmter Straftatbestände zu erlassen, die zugleich das Wirtschaftsstrafrecht betreffen.23 b) Die mangelnde demokratische Legitimierung europarechtlicher Vorgaben Den zweiten Problembereich stellt die mangelhafte demokratische Legitimierung europarechtlicher Vorgaben im Bereich des Strafrechts dar. (1) Bei Richtlinien (der Kommission) Bei den Richtlinien zeigt sie sich schon darin, dass sie maßgeblich von der Exekutive bestimmt werden. Zwar kommen dem Europäischen Parlament inzwischen Mitbestimmungsrechte an eingebrachten Richtlinien-Vorschlägen zu. Es hat aber überwiegend keine echten Mitwirkungsrechte im Sinne eines Abänderungsrechts.24 Das demokratische Defizit verschärft sich noch erheblich, wenn eine Richtlinie den Rückgriff auf das sog. Komitologie-Verfahren vorsieht – was gerade im Bereich des Wirtschaftsrechts wahrscheinlich ist.25 Hierdurch ergibt sich für die Kommission die Möglichkeit, nachträgliche Änderungen, Ergänzungen oder 20 Vgl. dazu Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht (Fn. 13) § 7 Rn. 40 f.; Walter, „Inwieweit erlaubt die Europäische Verfassung ein europäisches Strafgesetz?“, ZStW Bd. 117 (2005), S. 912, 913, 930 ff. 21 Vgl. dazu Walter (Fn. 20) ZStW Bd. 117 (2005), S. 912, 918 ff. 22 Vgl. Art. 81 ff., 98 ff. EGV. 23 Dagegen spricht freilich, dass die Kommission sehr genau auf ihre (neue) Kompetenz achtet und bereits angekündigt hat, auch andere Rahmenbeschlüsse, die – aus Kommissionssicht – nach dem Urteil des EuGH kompetenzverletzend sind, gerichtlich anzufechten; vgl. die „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat“ v. 24.11.2005, KOM (2005) 583endg./2, mit Anhang der betroffenen Rechtsakte. 24 Je nach Vorgehensweise und Ziel der Kommission hat das Europäische Parlament unterschiedliche Rechte und Möglichkeiten; vgl. Art. 250 ff. EGV.

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Konkretisierungen einer Richtlinie vorzunehmen. Dabei handelt sie weitgehend autonom, nur gestützt auf die Empfehlungen eines je nach Materie einzuberufenden Sachverständigen-Rates.26 Das Komitologie-Verfahren ist damit eine rein administrative Rechtssetzung. Solche Änderungen betreffen zwar nicht den Wortlaut von Strafvorschriften, wohl aber deren Regelungsgegenstand. Sie bedürften daher auch einer demokratischen Absicherung. (2) Bei Rahmenbeschlüssen des Rates Auch Rahmenbeschlüsse ergehen mit einem erheblichen rechtsstaatlichen Defizit. Bei ihnen sind die Mitwirkungsmöglichkeiten des Europäischen Parlaments noch geringer, eine etwaige Versagung der Zustimmung bleibt weitgehend wirkungslos. Zudem entfalten sie eine stärkere Bindungswirkung für die Mitgliedstaaten als Richtlinien. Letztlich bedeutet dies, dass die Parlamente der Mitgliedstaaten an Beschlüsse eines Exekutiv-Gremiums – nichts anderes ist der Rat – gebunden werden. Leider hat in diesem Punkt das Urteil des BVerfG zur Nichtigkeit des deutschen Gesetzes über den Europäischen Haftbefehl auch keine Änderungen gebracht, sondern enthält nur die Forderung, die Bindung rechtsstaatlich umzusetzen.27 2. Rechtsstaatliche Probleme bei indirekter Beeinflussung (Übernahme ausländischer Rechtsformen in nationale Rechtsordnungen) Die indirekte Beeinflussung des nationalen Wirtschaftsrechts durch die Pflicht zur Respektierung ausländischer Gesellschaftsformen bringt nun ganz andere Probleme mit sich. Das erste entsteht dadurch, dass das Wirtschaftsstrafrecht häufig eine Annex-Materie ist. Als Beispiel sei nur auf die §§ 82 ff. GmbHG, §§ 399 ff. AktG verwiesen, die Straftatbestände beinhalten, welche auf die für die GmbH bzw. die Aktiengesellschaft handelnden Personen zuge25 Geregelt im „Beschluss des Rates v. 28.6.1999 zur Festlegung der Modalitäten für die Ausübung der der Kommission übertragenen Ausführungsbefugnisse“ (1999/ 468/EG), ABl. L 184 v. 17.7.1999, S. 23; zum ersten Mal vorgesehen in Art. 17 Abs. 2 Marktmissbrauchs-Richtlinie (Richtlinie 2003/6/EG v. 28.1.2003, ABl. L 96 v. 12.4.2003 S. 16). 26 Der Beschluss 1999/468/EG (vorstehende Fn.) sieht verschiedene Verfahren vor, die je nachdem, was die jeweilige Richtlinie vorsieht, zur Anwendung gelangen können. Art. 17 Abs. 2 Marktmissbrauchs-Richtlinie (Fn. 25) verweist z. B. auf das sog. Regelungsverfahren, innerhalb dessen das Parlament und der Rat lediglich informiert werden. 27 BVerfG v. 18.7.2005 – 2 BvR 2236/04, NJW 2005, 2289, 2291 ff. mit Besprechung Ranft wistra 2005, 361; Vogel, „Europäischer Haftbefehl und deutsches Verfassungsrecht“, JZ 2005, 801.

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schnitten sind. Sie laufen zwangsläufig leer, wenn es um Handlungen geht, die für Gesellschaften vorgenommen werden, die nach ausländischem Recht gegründet wurden. Beispielhaft wird dies deutlich bei der Pflicht des Geschäftsführers einer GmbH zur Insolvenzanmeldung. Der Verstoß dagegen ist über § 84 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG strafrechtlich sanktioniert.28 Der „director“ einer „Limited“ macht sich dagegen nicht strafbar, wenn er bei drohender Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung29 zur Insolvenzanmeldung30 verpflichtet sein sollte.31 Denn jedenfalls das Bestimmtheitsgebot aus Art. 103 Abs. 2 GG verbietet es, ihn als „GmbH-Geschäftsführer“ anzusehen; eine solche Auslegung würde den Wortlaut der Norm sprengen.32 Gleichfalls verbietet sich natürlich eine „ersatzweise“ Anwendung etwaiger Strafvorschriften des Staates, in dem die Gesellschaft gegründet wurde, da dieses im Inland jedenfalls für deutsche Gerichte nicht gilt.33 Die Konsequenz ist, dass mit steigender Gründung von Gesellschaften nach ausländischem Recht der Strafrechtsschutz für die Geschäftspartner von Gesellschaften abnimmt. Zudem ergibt sich eine Ungleichbehandlung von vergleichbaren Taten, die auf Dauer kaum begründbar sein wird. Nun sind nicht alle Tatbestände des Wirtschaftsstrafrechts Annex-Materie.34 Große Bedeutung innerhalb des Wirtschaftsstrafrechts kommt in Deutschland den §§ 263, 266 (Betrug und Untreue) sowie den §§ 283 ff. StGB (Bankrottdelikte) zu, die sich nicht auf bestimmte Gesellschaftsformen beziehen. Allerdings wird man sich im Einzelfall fragen müssen, ob sie Verstöße gegen ausländisches Recht sanktionieren können oder sollen.35 28

I.V.m. § 64 Abs. 1 GmbHG. Vgl. § 18 Abs. 1, § 19 Abs. 1 InsO. 30 Für im Ausland werbend tätige Gesellschaften gilt die VO(EG) Nr. 1346/2000 des Rates über Insolvenzverfahren (EuInsVO), ABl. L 160 v. 30.6.2000, S. 1. Nach deren Art. 4 gilt für das Insolvenzverfahren grundsätzlich das Recht des Mitgliedstaates, in dem das Verfahren eröffnet wird; regelmäßig der Mitgliedstaat, in dessen Gebiet der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen liegt (Art. 3 Abs. 1 EuInsVO). Vgl. dazu Eidenmüller in: Eidenmüller (Hrsg.), Ausländische Kapitalgesellschaften im deutschen Recht, 2004, § 9 Rn. 6 ff., 9 ff. m.w. N.; Bieneck in: Müller-Gugenberger/ Bieneck (Fn. 16) § 75 Rn. 130 ff. 31 Dazu, inwieweit überhaupt eine Verpflichtung besteht, Eidenmüller in: Eidenmüller (Fn. 30) § 9 Rn. 25 ff. 32 Siehe dazu Eidenmüller in: Eidenmüller (Fn. 30) § 9 Rn. 34 m.w. N.; Hoffmann in: Sandrock/Wetzler (Fn. 7) S. 249 ff. m.w. N.; Müller-Gugenberger in: Müller-Gugenberger/Bieneck (Fn. 16) § 23 Rn. 113; Rönnau (Fn. 10) ZGR 2005, 832, 839 m.w. N.; Schlösser (Fn. 10) wistra 2006, 81, 84; Zimmer (Fn. 5) NJW 2003, 3585, 3590. 33 Zu Sanktionen nach englischem Recht über die „Limited“ vgl. Rönnau (Fn. 10) ZGR 2005, 832, 840 ff. m.w. N. 34 Wie zweifelhaft dies im Einzelfall sein kann, zeigt sich an den §§ 283 ff. StGB, die ja im Prinzip an das deutsche Insolvenzrecht anknüpfen; vgl. dazu Rönnau (Fn. 10) ZGR 2005, 832, 845 ff. 29

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Zum einen wird aus europarechtlicher bzw. gesellschaftsrechtlicher Sicht die Frage aufgeworfen, ob nicht jede strafrechtliche Sanktionierung von Handlungen, die im Zusammenhang mit einer wirtschaftlichen Aktivität von Personen oder Gesellschaften aus den EU-Mitgliedstaaten begangen werden, einen Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit bzw. das Diskriminierungsverbot (Art. 12, 43 EGV) darstellt.36 Diese Frage, scheint mir, ist allerdings eindeutig zu verneinen. Das Diskriminierungsverbot ist schon deshalb nicht betroffen, weil ausländische Personen oder Gesellschaften nicht schlechter als inländische behandelt würden.37 Im Hinblick auf die Niederlassungsfreiheit ist umstritten, welche Freiheiten sie begründet.38 Die Rechtsprechung des EuGH wird überwiegend so interpretiert, dass die Niederlassungsfreiheit über das in Art. 43 Abs. 2 EGV gewährte Recht auf Gleichbehandlung von aus- und inländischen Personen hinausgeht und ein Beschränkungsverbot statuiert.39 Damit sind nur solche mitgliedstaatlichen Maßnahmen zulässig, die weder unmittelbar noch mittelbar an die Staatsangehörigkeit anknüpfen.40 Das ist für das Strafrecht, jedenfalls im hier interessierenden Bereich, nicht der Fall. Freilich knüpft es – dazu sofort – an das Recht des Gründungsstaates der Gesellschaft an und muss daraus unterschiedliche Konsequenzen ziehen. Sofern man darin eine Beschränkung im Sinne der Niederlassungsfreiheit sehen will, dürfte sie aber auch im Sinne der Rechtsprechung des EuGH gerechtfertigt sein (nicht diskriminierend, zwingende Gründe des Allgemeininteresses, geeignet und verhältnismäßig41).42 Ansonsten würde die Niederlassungsfreiheit strafrechtsfreie Räume begründen, was schwerlich gewollt sein kann. Zum anderen – und relevanter – stellt sich die Frage, wie eine Verknüpfung von deutscher Strafnorm und ausländischem Handels- und Gesellschaftsrecht 35 Siehe dazu Rönnau (Fn. 10) ZGR 2005, 832, 847 ff.; Schlösser (Fn. 10) wistra 2006, 81, 84 f. 36 Vgl. Eidenmüller (Fn. 2) JZ 2004, 24, 25 ff. (27); Hoffmann in: Sandrock/Wetzler (Fn. 7) S. 253, 260 f.; Spindler/Berner, „Der Gläubigerschutz im Gesellschaftsrecht nach Inspire Art“, RIW 2004, 7, 15. 37 Hoffmann in: Sandrock/Wetzler (Fn. 7) S. 247, sieht dagegen schon dann eine Diskriminierung, wenn das nationale Strafrecht strenger ist als das des Gründungsstaates der Gesellschaft. Dabei wird m. E. aber verkannt, dass der Vergleichsmaßstab stets die Wirkungen im jeweiligen Mitgliedstaat sind – wo nur das jeweilige Strafrecht gilt. 38 Vgl. dazu Bröhmer in: Calliess/Ruffert (Fn. 16) Art. 43 EGV Rn. 29 m.w. N. 39 Vgl. Bröhmer in: Calliess/Ruffert (Fn. 16) Art. 43 EGV Rn. 22 ff. m.w. N. 40 Vgl. Bröhmer in: Calliess/Ruffert (Fn. 16) Art. 43 EGV Rn. 32. 41 Vgl. dazu in Fn. 8. 42 Im Ergebnis ebenso Eidenmüller (Fn. 2) JZ 2004, 24, 27; Forsthoff in: Hirte/ Bücker (Fn. 5) § 2 Rn. 52; Schlösser (Fn. 10) wistra 2006, 81, 85. – Das bedeutet freilich nicht, dass im Einzelfall das Strafrecht nicht doch eine diskriminierende bzw. den Dienstleistungs- oder Warenverkehr behindernde Maßnahme sein kann; vgl. dazu Rönnau, „Strafrechtliche Produkthaftung und der Grundsatz des freien Warenverkehrs (Art. 30–37 EGV)“, wistra 1994, 203 ff.; Tiedemann, „Europäisches Gemeinschaftsrecht und Strafrecht“, NJW 1993, 23, 24 m.w. N.

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erfolgen kann. So soll z. B. § 283 StGB natürlich auch die Gläubiger ausländischer Gesellschaften schützen. Die handels- und bilanzrechtlichen Vorschriften, gegen die der Täter43 zunächst verstoßen haben muss, sind aber nicht die Publizitätspflichten etc. des HGB, sondern die des ausländischen Rechts, wie sich aus § 325a HGB ergibt.44 Versteht man jedenfalls die Tatbestände in § 283 Abs. 1 Nr. 5–7 und in § 283b StGB richtigerweise als Blanketttatbestände,45 müssten sie durch das ausländische Recht ausfüllbar sein. Dies ist m. E. zu verneinen, weil nicht erkennbar ist, dass dies vom deutschen Gesetzgeber gewollt gewesen ist.46 Ein solcher „Globalverweis“ auf sämtliche ausländischen Handels- und Gesellschaftsvorschriften wäre auch nicht mit dem Bestimmtheitsgrundsatz vereinbar, da es sich dann zusätzlich um eine dynamische Verweisung handeln würde.47 Auch ein gesetzgeberischer Wille, zumindest die entsprechenden Gesetze der EU-Mitgliedstaaten in Bezug nehmen zu wollen, kann nicht unterstellt werden. Daher sind zumindest Teile des Bankrottstrafrechts nicht auf Taten im Zusammenhang mit ausländischen Gesellschaften anwendbar. Anders, aber nicht viel besser, sieht es bei Tatbeständen aus, die keine Blankette enthalten, etwa § 266 StGB. Die bei ihm vorausgesetzte Pflichtwidrigkeit wird überwiegend als normatives Tatbestandsmerkmal verstanden, das freilich in die Nähe eines Blanketts rückt, da die Pflichtwidrigkeit gerade auch im Zusammenhang mit den gesellschaftsrechtlichen Normen interpretiert wird.48 Weil sich diese für die nach ausländischem Recht gegründete Gesellschaft in eben dem ausländischen Recht finden, sind die für die deutsche GmbH und AG ent43 Zur Frage einer Zurechnung über § 14 StGB siehe Rönnau (Fn. 10) ZGR 2005, 832, 842 ff. m.w. N. 44 Vgl. dazu Müller-Gugenberger in: Müller-Gugenberger/Bieneck (Fn. 16) § 41 Rn. 24 ff. m.w. N.; Rönnau (Fn. 10) ZGR 2005, 832, 846. – Einen Verstoß gegen die sich aus § 325a HGB ergebende Publizitätspflicht fällt auch nicht unter § 331 HGB, sondern lässt lediglich die Verhängung eines Ordnungsgeldes nach § 335 HGB zu. 45 So Hoffmann in: Sandrock/Wetzler (Fn. 7) S. 254 f.; Rönnau (Fn. 10) ZGR 2005, 832, 848 f. m.w. N.; OLG Karlsruhe NStZ 1985, 317 (für § 283b Abs. 1 Nr. 1 StGB). – A.A. Liebelt, Anm. zu OLG Karlsruhe NStZ 1985, 317, NStZ 1989, 182 (ebenfalls zu § 283b Abs. 1 Nr. 1 StGB). – M. E. sollten auch die normativen Tatbestandsmerkmale „Anforderungen einer ordnungsgemäßen Wirtschaft“ in § 283 Abs. 1 Nr. 1–3, 8 StGB wie Blankettmerkmale behandelt werden; vgl. dazu Schmitz, „Die Abgrenzung von strafbarem Versuchen und Wahndelikt“, Jura 2003, 593, 601 m.w. N. 46 Ebenso OLG Karlsruhe NStZ 1985, 317 m.w. N.; Ambos in: MüKo-StGB, München, 2003, § 7 Rn. 8; Rönnau (Fn. 10) ZGR 2005, 832, 849 m.w. N. – A.A. wohl Müller-Gugenberger in: Müller-Gugenberger/Bieneck (Fn. 16) § 23 Rn. 115. 47 Aus diesem Grund kann der Einwand von Tiedemann in: LK, Berlin u.a.O., 11. Aufl. 1995, § 283 Rn. 244, § 283 StGB verweise nicht ausdrücklich auf das deutsche Handelsrecht, nicht überzeugen. 48 Vgl. dazu Kindhäuser in: NK, Baden-Baden, 2. Aufl. 2005, § 266 Rn. 63; Schünemann in: LK, Berlin u.a.O., 11. Aufl. 1998, § 266 Rn. 94 ff; Tiedemann, „Untreue bei Interessenkonflikten“, in: FS-Tröndle, Berlin u.a.O., 1989, S. 319, 326; wohl auch Rönnau (Fn. 10) ZGR 2005, 832, 854 m.w. N.

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wickelten Grundsätze49 keinesfalls einfach zu übertragen. Als Beispiel sei nur auf die wohl herrschende Auffassung zur pflichtwidrigen Schädigung des Gesellschaftsvermögens bei der GmbH verwiesen. Diese soll dann vorliegen, wenn das Stammkapital entgegen § 30 Abs. 1 GmbHG angegriffen wird.50 Eine § 30 Abs. 1 GmbHG entsprechende Regel kennt z. B. das englische Recht für die „Limited“ nicht. Dort sind Zahlungen noch dann zulässig, wenn das Vermögen der Gesellschaft das Stammkapital nicht übersteigt. Umgekehrt ist es z. B. verboten, nicht realisierte Buchgewinne auszuschütten.51 Verallgemeinert man dies, kommt man um die Feststellung nicht herum, dass die Frage nach einer pflichtwidrigen Untreuehandlung innerhalb ausländischer Gesellschaftsformen theoretisch durch zur Zeit 24 verschiedene Rechtsordnungen beantwortet werden könnte! Damit stellt sich auch hier die dringende Frage nach einer noch vorhandenen Bestimmtheit der Tatbestände – insbesondere bei § 266 StGB, der ja schon bei alleiniger Berücksichtigung des deutschen Rechts in dem Ruch der Unbestimmtheit steht.52 Selbst wenn man diese Frage wie das BVerfG pragmatisch dahingehend beantworten will, dass derjenige, der sich solcher Rechtsformen bedient, im Zweifel auch die strafrechtlichen Implikationen überblicken kann,53 führt sie doch zu einer Überforderung der Justiz. Denn Staatsanwaltschaft und Justiz müssten sich – wiederum zunächst nur theoretisch – in allen 25 Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten auskennen. Abgesehen davon, dass dafür die Ressourcen fehlen und sicherlich auch nicht geschaffen werden, fehlt es regelmäßig schon an der Möglichkeit, alle relevanten Gesetzestexte in den Mitgliedstaaten auch nur (auf Deutsch) zu lesen – von einer Kenntnisnahme der Rechtsprechung ganz zu schweigen. Nun könnte man angesichts dieser Schwierigkeiten auf die Idee kommen, sich achselzuckend zurückzulehnen und sich mit einem weithin fehlenden strafrechtlichen Schutz der ausländischen Gesellschaft abfinden und deren Schutz 49 Auf die im Einzelnen umstrittenen Fragen kann hier nicht eingegangen werden; vgl. dazu etwa Otto, Aktienstrafrecht, Berlin u.a.O., 1997, Vor § 399 Rn. 20–69; Schaal in: Kropff/Semler/Goette/Habersack (Hrsg.), MüKo zum AktienG, München, 2. Aufl. 2006, Vor § 399 Rn. 27–47; Schünemann in: LK (Fn. 47) § 266 Rn. 125 m.w. N.; Tiedemann in: Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GmbH-Gesetz, Köln, 9. Aufl. 2002, Vor §§ 82 ff. Rn. 12 ff. 50 Vgl. Schünemann in: LK (Fn. 47), § 266 Rn. 125; Tiedemann in: ScholzGmbHG (Fn. 49) Vor §§ 82 ff. Rn. 15. 51 Vgl. Rehm in: Eidenmüller (Fn. 30) § 10 Rn. 39 m.w. N.; Schlösser (Fn. 10) wistra 2006, 81, 86 m.w. N. 52 Vgl. nur Schünemann in: LK (Fn. 47) § 266 Rn. 29 ff. m.w. N.; Labsch, Untreue (§ 266 StGB), Lübeck, 1983, S. 189 ff., 202. 53 Vgl. dazu BVerfGE 14, 245, 252; 75, 329, 342 f.; 78, 374, 382 f.; BVerfG NJW 1992, 2624; vgl. auch BGHSt 37, 266, 272. – Kritisch dazu Schmitz in: MüKo-StGB (Fn. 46) § 1 Rn. 49.

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einfach dem Gründungsstaat der Gesellschaft überlassen. Dies würde freilich schon ignorieren, dass insbesondere die Auslegung des § 266 StGB im Zusammenhang mit der gesellschaftsrechtlichen Untreue längst ein anderes Ziel als den Schutz der Gesellschaft verfolgt: es geht – systematisch verfehlt – um Gläubigerschutz.54 Davon aber abgesehen würde eine solche Haltung wohl tatsächlich gegen das Diskriminierungsverbot verstoßen, weil die nach ausländischem Recht gegründete Gesellschaft eine Gleichbehandlung im Inland beanspruchen kann. Dies wird allerdings für die Gründer solcher ausländischen Gesellschaften möglicherweise weniger wichtig sein. Vielmehr könnte sich eine weitere mittelbare Konsequenz einstellen: Ein ungleicher strafrechtlicher Schutz bei Einschaltung von ausländischen Gesellschaftsformen könnte einen zusätzlichen Anreiz schaffen, auf solche ausländischen Rechtsformen auszuweichen. Damit würde dann aber auch die nationale Zielsetzung zur Einführung bestimmter Gesellschaftsformen konterkariert. III. Denkbare Problemlösungen 1. Das Demokratiedefizit Das Demokratiedefizit lässt sich nur dadurch lösen, dass das Europäische Parlament in seinem Mitspracherecht gestärkt wird. Dies würde eine Änderung der Verträge erfordern, wofür nach dem Scheitern der EU-„Verfassung“ auf absehbare Zeit nichts spricht. Einfacher wäre es, wenigstens das Komitologie-Verfahren wieder abzuschaffen. Ihm steht naturgemäß auch das Europäische Parlament kritisch gegenüber, da es dadurch noch weitergehend entmachtet wird. Die MarktmissbrauchsRichtlinie z. B. sieht deshalb auch eine Aussetzung des Verfahrens nach vier Jahren vor, gleichzeitig allerdings auch eine Verlängerungsoption.55 Dennoch steht zu befürchten, dass in einer vor allem auf administrative Effizienz getrimmten EU das Komitologie-Verfahren eher noch verstärkt angewendet werden wird. Es wurde 1999 gerade zu dem Zweck eingeführt, der Kommission die Möglichkeit einer schnellen Reaktion bei sich ändernder Sachlage zu ermöglichen.56 Dass dadurch mittelbar auch immer das Strafrecht betroffen sein 54 Vgl. dazu etwa Ransiek, „Untreue im GmbH-Konzern“, in: FS-Kohlmann, Köln, 2003, S. 207, 212 ff.; ders., „Untreue zum Nachteil einer abhängigen GmbH – ,Bremer Vulkan‘“, wistra 2005, 121 ff.; Zieschang, „Strafbarkeit des Geschäftsführers einer GmbH wegen Untreue trotz Zustimmung sämtlicher Gesellschafter?“, in: FSKohlmann, ebd., S. 351 ff.; a. A. allerdings Lenckner/Perron in: Schönke/Schröder, München, 27. Aufl. 2006, § 266 Rn. 21b m.w. N.; Samson/Günther in: SK, Neuwied u. a.O, 7./8. Aufl. (Stand Okt. 2005), § 266 Rn. 48. 55 Vgl. Art. 17 Abs. 4 Marktmissbrauchs-Richtlinie (Fn. 25).

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kann, ist eine Konsequenz, die auf europäischer Ebene keine Bedeutung zu haben scheint. Sofern es um die hier weniger bedeutsamen Rahmenbeschlüsse geht, müsste auch den nationalen Parlamenten ein viel stärkeres Mitspracherecht zukommen – entweder bei der Umsetzung oder schon im Vorfeld eines Rahmenbeschlusses. Aber auch insoweit besteht wohl wenig Hoffnung, weil dadurch das Ziel von Rahmenbeschlüssen – eine verstärkte Bindung aller Mitgliedstaaten an die gemeinsame Gesetzgebung – gefährdet würde. Im Hinblick auf die EU-Verfassung ist anzumerken, dass ihr Inkrafttreten in diesem Punkt eine – allerdings völlig unzureichende – Verbesserung bringen würde. Nach Art. 4 des „Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit“57 sind die nationalen Parlamente durch den Initiator eines EU-Rechtsaktes über den Entwurf zu informieren. Diese haben dann das Recht, die Verletzung des Subsidiaritätsprinzips zu rügen; allerdings sollen sie dafür nur sechs Wochen Zeit haben (Art. 6 Abs. 1). Zudem soll eine Rüge nur dann Relevanz erlangen, wenn mindestens ein Viertel bzw. ein Drittel der Mitgliedstaaten eine solche Rüge erhebt.58 Um eine effektive Beteiligung der nationalen Parlamente würde es sich also auch dabei nicht handeln.59 Das Demokratiedefizit wird also bestehen bleiben. 2. Das Auseinander-Driften von Wirtschaftsstrafrecht und ausländischen Rechtsformen Wie sieht es nun eine Ebene tiefer aus, also bei der Frage nach einem praktikablen Wirtschaftsstrafrecht im einzelnen Mitgliedstaat? a) Rechtsordnungsübergreifende Tatbestände? Um die sich in Teilen abzeichnende Inkompatibilität von Wirtschaftsrecht und Strafrecht zu beheben, könnte man versuchen, Straftatbestände zu schaffen, die sozusagen rechtsordnungsübergreifend sind. Gemeint sind Tatbestände, die weder auf eine bestimmte Rechtsform unmittelbar Bezug nehmen – AG, 56

Vgl. die Erwägungsgründe des Beschlusses 1999/468/EG (Fn. 25). ABl. C 310 v. 16.12.2004, S. 207. 58 Im Einzelnen in Art. 7 des Protokolls geregelt: Jeder Mitgliedstaat hat zwei Stimmen in diesem Verfahren; grundsätzlich ist eine Stimmenmehrheit von einem Drittel erforderlich; bei Maßnahmen betreffend den „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ soll ein Viertel genügen. 59 Im Hinblick auf die zu kurze Frist ebenso Walter (Fn. 20) ZStW Bd. 117 (2005), S. 912, 931. 57

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GmbH, Genossenschaft etc. – noch deren Rechtsgrundlagen mittelbar berücksichtigen müssen, wie es etwa bei § 266 StGB im Rahmen des Merkmals „pflichtwidrig“ der Fall ist. Solche Tatbestände würden aber notwendigerweise so abstrakt gestaltet werden müssen, dass ihre Vereinbarkeit mit dem Bestimmtheitsgebot kaum gewährleistet werden könnte – selbst unter dem mehrheitlich (und zu Unrecht) akzeptierten großzügigen Maßstab von Tatbestandsbestimmtheit.60 Abgesehen davon würde bei der Konkretisierung der Grenzen des erlaubten Risikos auch bei solch abstrakt formulierten Tatbeständen doch wieder die Frage aufzuwerfen sein, wie sich die ausländische Rechtsordnung dazu verhält. b) Schaffung eines einheitlichen Wirtschaftsstrafrechts? Es erscheint angesichts dieser Situation naheliegend, die Problemlösung in einem einheitlichen europäischen Wirtschaftsstrafrecht zu suchen61 – und die durch die indirekte Beeinflussung geschaffenen Probleme im Wege einer unmittelbaren Beeinflussung aufzulösen. Dies ginge dann zwar nur unter Inkaufnahme der schon angeführten rechtsstaatlichen Defizite. Dennoch liegt die Idee auch deshalb nahe, weil hierfür ja schon Grundlagen geschaffen wurden, nämlich die im Rahmen des „Freiburg-Symposiums“ 2000 gemachten Vorschläge für ein einheitliches Wirtschaftsstrafrecht in der EU.62 Die „Freiburger Vorschläge“ sind gedacht als Modell zur Vereinheitlichung des Wirtschaftsstrafrechts oder sollen wenigstens „Mindeststandards“ für ein solches Strafrecht in Europa aufstellen. Die Idee dahinter ist, ein einheitliches Niveau an Strafrechtsschutz zu gewährleisten, damit Handlungen, die in einem Mitgliedstaat strafbar sind, nicht in anderen Mitgliedstaaten straflos bleiben – und umgekehrt.63 Aber lässt sich allein dadurch das aufgezeigte Problem lösen? Ich meine: nein, jedenfalls nicht in dem hier relevanten Bereich. Betrachtet man etwa den Vorschlag über „Ungetreue Geschäftsführung“ (Art. 45), so rekurriert auch dieser – wie § 266 StGB – auf außerstrafrechtliche Pflichten.64 Im Prinzip nichts anderes gilt etwa für den Tatbestand einer „Verletzung des Stammkapitals“ (Art. 46)65 oder die „Unrichtige Darstellung“ [in Bilanzen o. ä.] (Art. 47). Dies 60 Vgl. zur h. M. nur Eser in: Schönke/Schröder (Fn. 54) § 1 Rn. 19 f. m.w. N. – Kritisch dazu Schmitz in: MüKo-StGB (Fn. 46) § 1 Rn. 41 m.w. N. 61 Vgl. Rönnau (Fn. 10) ZGR 2005, 832, 858. 62 Vgl. Tiedemann (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht in der Europäischen Union (Freiburg-Symposium), Köln u.a.O., 2002. 63 Vgl. Tiedemann, Freiburg-Symposium (Fn. 62) S. IX ff.; Pradel, ebd., S. 56 ff. 64 Vgl. Fn. 62, S. 474 i.V. m. S. 330 f. 65 Vgl. Fn. 62, S. 474 i.V. m. S. 331 ff.

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kann auch gar nicht anders sein, weil das Wirtschaftsstrafrecht eine Materie ist, die notwendig an die Vorgaben des Wirtschaftsrechts anknüpfen muss. Würde man diese Verknüpfung lösen, käme es zu einer Umgestaltung des Wirtschaftsrechts durch das Strafrecht – das gleiche Problem ist schon im Bereich des Umweltstrafrechts deutlich geworden, als eine Abschaffung oder Aufweichung von dessen Verwaltungsakzessorietät gefordert wurde.66 Aus den gleichen Gründen ließe sich das Problem auch nicht etwa dadurch entschärfen, dass eine originäre Strafbarkeit juristischer Personen in Deutschland statuiert würde – von allen Bedenken dagegen abgesehen. Denn sie würde hier genauso gesellschaftsrechts-akzessorisch ausfallen müssen wie die Strafbarkeit der natürlichen Person. Die Forderung nach einem einheitlichen und praktikablen Wirtschaftsstrafrecht bedeutet daher nichts weniger als die Forderung nach einem einheitlichen Wirtschaftsrecht – ein Umstand, der bei der Abfassung der „Freiburger Vorschläge“ übersehen wurde. Die Formulierung einheitlicher Straftatbestände vor der Vereinheitlichung des vorgelagerten Handels- und Gesellschaftsrechts „zäumt das Pferd vom Schwanz her auf“. Erst nach einer Vereinheitlichung des Wirtschaftsrechts kann das daran anknüpfende Wirtschaftsstrafrecht formuliert werden. – Aus diesem Grunde hätten allein die „Freiburger Vorschläge“ zum Schutz des Kapitalmarktes67 – auf Kritik im Einzelnen will ich hier verzichten68 – durchaus Modellcharakter haben können. Denn in diesem Bereich hat die Marktmissbrauchsrichtlinie für ein einheitliches Recht in der EU gesorgt, das Problem des unterschiedlichen vorgelagerten Rechts entsteht nicht. Die Frage ist nur, ob ein einheitliches Recht in der EU im gesamten Bereich der Wirtschaft (derzeit) überhaupt erstrebenswert ist. Bezeichnend ist, dass selbst die Kommission, die ja den einheitlichen Binnenmarkt in vielfältiger Weise vorantreibt, im Bereich des Gesellschaftsrechts Zurückhaltung übt im Hinblick auf die Einführung einheitlicher Gesellschaftsformen. So gibt es zwar Regelungen über die europäische Gesellschaft69 (SE) und die europäische Genossenschaft70 (SCE). Sie sind aber nur als Alternativen zum nationalen Gesellschaftsrecht gedacht oder sollen lediglich Mindeststandards setzen. Auch sollen die Haftungsregeln, der Gläubigerschutz und manches mehr harmonisiert wer66 Vgl. hierzu Schmitz in: MüKo-StGB, München, 2006, Vor §§ 324 ff. Rn. 38 ff. m.w. N. 67 Vor allem über Kursbetrug (Art. 51), Verleitung zu Börsenspekulationsgeschäften (Art. 52), Insiderhandel (Art. 53); vgl. Fn. 62, S. 477 ff. 68 Vgl. dazu Schmitz, „Der strafrechtliche Schutz des Kapitalmarkts in Europa“, ZStW Bd. 115 (2003), S. 501, 530 ff. 69 VO(EG) Nr. 2157/2001, ABl. L 294 v. 10.11.2001 S. 1; Richtlinie 2001/86/EG, ABl. L 294 v. 10.11.2001 S. 22. 70 Vgl. VO(EG) Nr. 1435/2003, ABl. L 207 v. 18.8.2003 S. 1; Richtlinie 2003/72/ EG, ABl. L 207 v. 18.8.2003 S. 25.

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den. Eine vollständige Angleichung des Gesellschaftsrechts ist bislang aber nicht geplant.71 Speziell aus der Sicht der Mitgliedstaaten wird eine Vereinheitlichung jedenfalls kurz- und mittelfristig auch nicht in ihrem Interesse liegen. Denn nicht nur die Einführung bestimmter Gesellschaftsformen, sondern auch ihre Ausgestaltung im Einzelnen erfolgt im Hinblick auf nationale wirtschaftspolitische Zielsetzungen. Diese können aber in einer EU, deren Mitgliedstaaten im Wirtschaftsbereich noch ein höchst unterschiedliches Niveau besitzen, sehr unterschiedlich sein: z. B. weniger Gläubigerschutz oder geringere bürokratische Hürden unter Inkaufnahme geringerer Kontrollmöglichkeiten, um Anreize zu wirtschaftlicher Betätigung oder zur Gründung einer Gesellschaft gerade im jeweiligen Land zu geben etc.72 Angesichts des derzeitigen Zustandes in der EU ist es unwahrscheinlich, dass es auch nur mittelfristig zu einer echten Vereinheitlichung des Wirtschaftsrechts kommen wird. Das bedeutet aber auch, dass die Grundlage für ein einheitliches Wirtschaftsstrafrecht noch lange auf sich warten lassen wird. IV. Fazit Sofern, wie kurz dargestellt, das nationale Wirtschaftsstrafrecht unmittelbar durch europäisches Recht beeinflusst wird, entstehen rechtsstaatliche Defizite vor allem im Hinblick auf das Demokratieprinzip. Sie werden leider auf lange Zeit ungelöst bleiben. Die zunehmende indirekte Beeinflussung des nationalen Wirtschaftsstrafrechts führt zumindest teilweise zu einem Auseinanderdriften des Strafrechts und des ihm vorgelagerten Wirtschaftsrechts. Allein auf nationaler Ebene wird dieses nicht zu ändern sein, jedenfalls nicht bei Beachtung des Bestimmtheitsgrundsatzes. Eine Lösung durch Einführung eines einheitlichen europäischen Wirtschaftsstrafrechts ist derzeit auch nicht in Sicht, weil dies zunächst eine Vereinheitlichung des gesamten Wirtschaftsrechts voraussetzte, die noch in keiner Weise absehbar ist. Allerdings könnten die auftretenden Probleme im Strafrecht, die ja nicht auf Deutschland beschränkt sind, hier eine zusätzliche Beschleunigung bewirken. Einstweilen werden wir uns aber daran gewöhnen müssen, dass Teile des nationalen Wirtschaftsstrafrechts in Auflösung begriffen sind. Gesetzgeberische 71

Vgl. den Aktionsplan der Kommission (Fn. 1) S. 7 ff. So geht die Einführung der SCE in Deutschland mit einer Änderung des GenG einher, um „die Attraktivität der inländischen Genossenschaften gegenüber der SCE“ zu stärken; vgl. Presseerklärung des BMJ v. 25.1.2006. 72

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Möglichkeiten, dies zu stoppen, bestehen derzeit nicht. Dennoch wäre einem etwaigen Versuch, unter Auflösung der Tatbestandsgrenzen die Effizienz des Wirtschaftsstrafrechts „zu retten“, energisch entgegenzutreten. Dies wäre rechtsstaatlich noch bedenklicher als der sich abzeichnende uneinheitliche Strafrechtsschutz. Letztlich gilt für das Wirtschaftsstrafrecht die gleiche Sentenz, die der leider schon verstorbene Eckhard Horn für das Umweltstrafrecht geprägt hat: Es ist eine „After-Disziplin“73 – ein in sich schlüssiges Wirtschaftsstrafrecht setzt zunächst einmal ein einheitliches Wirtschaftsrecht voraus.

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Vgl. Horn, „Umweltschutz-Strafrecht: eine After-Disziplin?“, UPR 1983, 362.

C. Spezielle Probleme der Europäisierung des Strafrechts mit prozessrechtlichem Ausgangspunkt

Vorschläge zur Kooperation im Bereich der Verteidigung und Rechtsbewahrung in einem international geführten Strafverfahren* Anna Demenko I. Internationales Strafverfahren und das Prinzip der Waffengleichheit Es ist schon fast ein Truismus zu sagen, dass der Schaffung eines geopolitisch einheitlichen Raumes der EU die Verbrechensinternationalisierung folgte und dass die Terrorismusbedrohung eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen den nationalen Verfolgungsbehörden auf der internationalen Ebene fordert. Um in der neuen Wirklichkeit wirksam Straftaten zu verfolgen, werden die Verfolgungs- und Ermittlungsorgane immer mehr auf internationale Kooperation und auf außerhalb ihres Hoheitsgebiets getroffene Maßnahmen angewiesen sein. Die Entwicklung des Binnenmarkts und gemeinsamer europäischer Interessen wirft zudem die Frage nach einem Schutz der genuinen europäischen Rechtsgüter auf. Durch diese Entwicklung wird dem Begriff „internationales Strafrecht“ eine neue Bedeutung gegeben – es ist nicht mehr als ein reines Rechtshilfe- oder Strafanwendungsrecht zu verstehen, sondern wird, durch die Schaffung von Institutionen der Strafverfolgung auf der europäischen Ebene, zum Prozess- und Institutionenrecht, das sich später auch zum materiellen supranationalen Strafrecht entwickeln wird.1 Staatliche Behörden sind immer mehr auf internationale Unterstützung angewiesen, und es gibt immer mehr Verfahren, die eine internationale Komponente beinhalten, d.h. nicht territorial begrenzt sind und auch Maßnahmen außerhalb des Gebietes des eigentlichen Verfahrensstaates umfassen. In diesem Sinn wird in den hier vorgenommenen Erwägungen das internationale europäische Strafverfahren, sachbezogen, als ein Verfahren verstanden, in dem Handlungen zur Ermittlung und Verfolgung einer Straftat auf mehreren * Die Probleme der Verteidigung in transnationalen Strafverfahren und die Beeinträchtigung des Waffengleichheitsprinzips wurden im Rahmen des Projekts „Ein Gesamtkonzept für europäische Strafrechtspflege“ von der polnischen Gruppe unter der Leitung von Prof. Dr. hab. Andrzej J. Szwarc bearbeitet. 1 Satzger, Helmut, Internationales und europäisches Strafrecht, Baden-Baden, 2005, S. 24–26, S. 77–141.

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Staatsgebieten unternommen werden und Behörden mehrerer Mitgliedstaaten an der Ermittlung und Verfolgung dieser Tat beteiligt sind. Zur Schaffung eines hohen Sicherheitsstandards für die Unionsbürger gem. Art. 29 des Vertrages über die Europäische Union wurden innerhalb der dritten Säule der EU – der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen – Maßnahmen zur Stärkung der zwischenstaatlichen Kooperation bei der Kriminalitätsbekämpfung getroffen. Sie umfassen die Errichtung von entsprechenden Institutionen, wie Europol, Eurojust und OLAF, sowie den Erlass von zahlreichen Rahmenbeschlüssen u. a. zum europäischen Haftbefehl, zur Vollstreckung von Entscheidungen über die Sicherstellung von Vermögenswerten oder Beweismitteln oder zu gemeinsamen Ermittlungsteams.2 Weitere Maßnahmen bei der Umsetzung des im Tampere Programm verankerten und durch das Haager Programm bestätigten Grundsteins der Entwicklung im Europäischen Strafrecht – der allgemeinen gegenseitigen Anerkennung der Entscheidungen in Strafsachen – befinden sich in der Vorbereitungsphase.3 Aus zeitlicher Perspektive ist inzwischen aber auch erkannt worden, dass die Anfangszeit der Entwicklung des europäischen Strafrechts, angesichts der schnell wachsenden internationalen Kriminalität, ausschließlich vom Effizienzgedanken der Strafverfolgung geprägt wurde. Durch die Forderung nach Strafverfolgung, zwar mit dem Willen zu dieser, aber ohne eine faktische Sicherung der Rechte anderer Verfahrensteilnehmer, wurden die Grundsätze eines fairen Strafverfahrens und insbesondere das Prinzip der Waffengleichheit erheblich beeinträchtigt. Durch die Vereinfachung und Institutionalisierung der Zusammenarbeit, vor allem der Informationsübergabe zwischen den Ermittlungsorganen, wurde deren Stellung gegenüber anderen Verfahrensteilnehmern, denen solche Mittel nicht zur Verfügung gestellt wurden, besonders in der Ermittlungsphase des Verfahrens enorm verbessert und zugleich das Gleichgewicht im Verfahren gestört. Zwar wird die Geltung des Prinzips der Waffengleichheit in Strafverfahren allgemein, sowie im Vorverfahren besonders, von manchen heftig bestritten, aber es ist unabhängig davon nach Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte als eines der wichtigsten Prinzipien eines 2 In die polnische Strafprozessordung wurden bei der Umsetzung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl die Abschnitte 65a und 65b mit Art. 607a–607z, des Rahmenbeschlusses über die Sicherstellung von Vermögenswerten und Beweismitteln – die Abschnitte 62a und 62b mit Art. 589g–u, und des Rahmenbeschlusses zu den gemeinsamen Ermittlungsteams – Art. 589b–f, eingeführt. 3 „Schlussfolgerungen einer Sondertagung des Europäischen Rates am 15./16. Oktober 1999 in Tampere“, www.europarl.europa.eu/summits/tam_de.htm, Stand: 1. Mai 2006 „Mitteilung der Kommission an den Rat und das europäische Parlament. Das Haager Programm: Zehn Prioritäten für die nächsten fünf Jahre. Die Partnerschaft im Bereich der Erneuerung Europas im Bereich der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ [KOM 2005/184, nicht im Amtsblatt veröffentlicht].

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„fair-trial“ allgemein international anerkannt.4 Es verlangt, „dass die eine Partei den Fall unter Bedingungen präsentieren können muss, die sie in keine nachteilige Position gegenüber der anderen Partei bringen.“5 Für den Angeklagten bedeutet dies insbesondere, dass ihm nicht nur das Recht auf Verteidigung (persönlich oder durch einen Verteidiger wahrgenommen) zusteht, sondern es muss auch deren Effektivität gesichert werden, und zwar durch die Bestimmung der Position der Verteidigerseite möglichst auf der gleichen Ebene wie der der Verfolgungsorgane.6 Das Prinzip der Waffengleichheit, dessen Umsetzung ein faires nationales Verfahren garantieren soll, ist besonders auch bei der Entwicklung eines europäischen Strafverfahrens zu berücksichtigen. Die Stellung sowohl des Beschuldigten wie des Opfers wird unabhängig davon, in welcher Form das Verfahren in der Zukunft gestaltet wird, noch zusätzlich durch die internationale Komponente und die Ausdehnung auf mehrere Staatsgebiete erheblich verschlechtert. Die genannte Entwicklung verändert insbesondere auch die Position der Strafverteidigung, und zwar nicht nur des Beschuldigten, sondern auch seines professionellen Verteidigers, der nicht mehr die rechtlichen Möglichkeiten hat, um in einem international geführten Strafverfahren, auf einer übernationalen Ebene, wirksam und faktisch effektiv für seinen Mandanten zu agieren. Das die Stellung und Kompetenzen des Verteidigers regelnde nationale Recht ist im Gegensatz zu den beschriebenen Kooperationsmöglichkeiten der Verfolgungsapparate ausschließlich auf nationale Verfahren gerichtet und nicht an zentral geführte oder koordinierte, länderübergreifende Verfahren, trotz der Regelungen zur Erleichterung der Ausübung des Anwaltsberufs im Ausland, angepasst.7 4 In der polnischen Strafprozessordnung ist zwar das Prinzip der Waffengleichheit nicht ausdrücklich ausgesprochen, es ergibt sich aber aus den einzelnen Bestimmungen und ist weitgehend in der Literatur und Rechtsprechung als eines der Grundinstrumente der Realisierung des Gleichheitsgebotes anerkannt und als die Garantie eines fairen Verfahrens hervorgehoben. Uchwała SN (Beschluss des Obersten Gerichts) vom 16. Dezember 2003, I KZP 35/03, wyrok SN (Urteil des Obersten Gerichts) vom 18. Dezember 2002, II K 298/02, wyrok TK (Urteil des Verfassungsgerichtshofs) vom 6. Dezember 2004, SK 29/04, Wa˛sek-Wiaderek, Małgorzata, Zasada równos´ci stron (Das Prinzip der Parteiengleichheit), Kraków 2003. 5 Ambos, Kai, „EGMR und Verfahrensrechte“, ZStW 115 (2003) Heft 3, S. 592– 593. 6 Vgl. z. B. Wa˛sek-Wiaderek, Małgorzata, a. a. O., S. 151–158. 7 Braum, Stefan, „Aufbruch oder Abbruch europäischer Strafverteidigung?“, StV 10/2003, S. 578, Buruma, Ybo, „Radikale Toleranz“, ZStW 116 (2004) Heft 2, S. 434, Gless, Sabine, „Eine akademische Kritik des ,EU-Acquis‘ zur grenzüberschreitenden Beweissammlung“, überarbeitete Fassung des Vortrags bei der Tagung der ERA Trier und des englischen Crown Prosecution Service, „Der Umgang mit europäischen Beweismitteln: Die Notwendigkeit praktischer Reformen zur Verbesserung der grenzüberschreitenden Rechtshilfe“, Trier, 20 November 2004, Nestler, Cornelius: „Europäisches Strafprozessrecht“, ZStW 116/2004, S. 351–352, Salditt, Franz, „Doppelte Verteidigung im einheitlichen Raum“, StV 2/2003, S. 136.

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Da es im Rahmen dieser Bearbeitung nicht möglich ist, auf alle mit der Frage der Waffengleichheit in internationalen Strafverfahren verbundenen Probleme und Fallkonstellationen einzugehen, wird hier unter Berücksichtigung der deutsch- und polnischsprachigen Literatur und der polnischen, wie teils der deutschen Regelungen eines der wichtigsten Probleme, nämlich das einer effektiven Verteidigung in der neuen „Verfahrenswirklichkeit“, thematisiert. II. Probleme einer Internationalen Verteidigung Trotz des Prinzips der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme können nach dem polnischen Recht im Ausland erhobene Beweise – z. B. ins Protokoll aufgenommene Zeugenaussagen – zur Grundlage eines durch das einheimische Gericht getroffenen Urteils gemacht werden (nach Art. 587 i.V. m. Art. 389, Art. 391 und Art. 393 der polnischen StPO). Die rechtlichen Vorgaben, die Beweisaufnahme in mehreren Staaten durchzuführen, sind vorhanden, und die Entwicklung der internationalen Strafverfolgungsorgane und der Kooperationsmöglichkeiten führt dazu, dass diese Möglichkeit immer öfter genutzt wird und auch werden muss.8 Dies wird künftig auch noch durch die Einführung der geplanten Europäischen Beweisanordnung zur Erlangung von Sachen, Schriftstücken und Daten zur Verwendung in Strafverfahren gefordert. Dabei stellt sich aber das dringende Problem, während dieser Auslandshandlungen auch wirksam die Interessen anderer Verfahrensparteien zu vertreten. Die bei den ausländischen Ermittlungen gewonnenen Erkenntnisse können für das Verfahren ausschlaggebend sein; soweit der Betroffene nicht rechtzeitig interveniert, wird er später keine Korrektur- und Interventionsmöglichkeit mehr bekommen. Den Beschuldigten können die Folgen des Versäumten daher besonders schwer treffen. Auch deshalb muss bei einer Auslandsbeweisaufnahme unbedingt eine effektive Verteidigung sichergestellt werden. Um wirksam verteidigen zu können, muss der Verteidiger vor allem über eine entsprechende Wissensbasis verfügen, d.h. den in der jeweiligen Rechtsordnung eingeräumten Zugang zu den Akten uneingeschränkt nutzen können. Er muss faktisch die Möglichkeit haben, das Verfahren direkt und schnell beeinflussen zu können – an der Beweiserhebung teilzunehmen, Beweisanträge zu stellen. Er muss also am Ort der Beweiserhebung anwesend sein und als Verteidiger zur Vertretung vor dem jeweiligen ausländischen Organ zugelassen und faktisch handlungsfähig sein. Die Tätigkeit eines Anwalts außerhalb seines Herkunftsstaates wird zurzeit auf der europäischen Ebene durch drei Richtlinien aus den Jahren 1977, 1989 8 Z. B. durch die Bildung gemeinsamer Ermittlungsteams nach Art. 589b der polnischen StPO.

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und 1998 geregelt.9 In deren Umsetzung sind landesrechtliche Regelungen eingeführt, die es einem ausländischen Anwalt ermöglichen, in einem bestimmten Umfang auf den Hoheitsgebieten anderer Staaten beruflich tätig zu werden.10 Nach dem polnischen Gesetz über die Leistung der Rechtshilfe durch ausländische Juristen in der Republik Polen kann ein Anwalt aus der EU unter bestimmten Voraussetzungen seinen Mandanten vor polnischen Gerichten und anderen Organen vertreten. Im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit kann er grenzüberschreitende Dienstleistungen erbringen, d.h. gegenüber den polnischen Ermittlungsbehörden und Organen wirksam für seinen Mandanten handeln, ohne in Polen eine ständige Praxis auszuüben. Seine Befugnis erstreckt sich auf alle mit einem bestimmten Prozess verbundenen Handlungen. Maßgebend ist jeweils der vorübergehende Charakter der Berufsausübung.11 In der deutschen Rechtsordnung wurde die Richtlinie durch ähnliche Bestimmungen im Teil 5 des Gesetzes über die Tätigkeit europäischer Rechtsanwälte in Deutschland umgesetzt. Nach Art. 5 der genannten Richtlinie aus dem Jahre 1977 kann aber der ausländische Jurist bei der Erbringung der Dienstleistung bestimmten Begrenzungen unterliegen. Von diesen eingeräumten Beschränkungsmöglichkeiten hat bei ihrer Umsetzung sowohl Polen als auch Deutschland Gebrauch gemacht. Nach der polnischen Regelung muss sich der ausländische Anwalt bei der ersten vorgenommenen Handlung gegenüber dem Gericht und eventuell dem Dekan der zuständigen Rechtsanwaltskammer als ein im Heimatland zugelassener Anwalt legitimieren – dieses ist eine sine qua non Bedingung für die Wirksamkeit seiner Handlungen.12 Zudem ist er auch verpflichtet, einen Bevollmächtigten zur Korrespondenzübernahme in Polen zu bestellen – sonst werden

9 Richtlinie Nr. 77/249/EWG (Amtsblatt L. 078 vom 26. März 1977), Richtlinie Nr. 89/48/EWG (Amtsblatt L. 019 vom 24. Januar 1989), Richtlinie Nr. 98/5/EG (Amtsblatt L. 077 vom 14. März 1998). Vor allem ist durch die Richtlinie Nr. 77/249/ EWG die Möglichkeit eingeführt worden, für Juristen die unter einer der dort verzeichneten Berufsbezeichnung tätig sind, Handlungen die mit der Vertretung oder der Verteidigung eines Mandanten im Bereich der Rechtspflege oder vor Behörden zusammenhängen, auf dem Gebiet des Aufnahmestaates vorzunehmen. 10 Gesetz über die Leistung der Rechtshilfe durch ausländische Juristen in der Republik Polen vom 5. Juli 2002 (AuslJurG), Dz.U. 2002 nr. 126, poz. 1069, (Gesetzblatt 2002 Nr. 126 Pos. 1069), Gesetz über die Tätigkeit europäischer Rechtsanwälte in Deutschland vom 9. März 2000 (EuRAG), BGBl. I 2000, 182, 1349. 11 Kłaczyn´ska, Katarzyna, Kłaczyn´ski, Michał, „S ´ wiadczenie przez prawników zagranicznych pomocy prawnej w Polsce“ (Leistung von Rechtshilfe durch ausländische Juristen in Polen), Warszawa 2004, S. 63–64 – obwohl da Zweifel aufkommen, ob dies auch das Kassationsverfahren einschließt. 12 Art. 40 AuslJurG, Kłaczyn´ska, Katarzyna, Kłaczyn´ski, Michał: a. a. O., S. 234 – hier stellt sich allerdings die Frage nach der Gültigkeitsfrist einer solchen Bescheinigung.

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die an ihn gerichteten Schreiben an den Mandanten direkt geschickt oder in den Akten gelassen.13 Nach § 26 des EuRAG hat auch der in Deutschland dienstleistende Anwalt der Rechtsanwaltskammer und dem zuständigen Gericht oder der zuständigen Behörde auf Verlangen nachzuweisen, dass er zur Berufsausübung zugelassen ist. Nach den polnischen Vorschriften muss in den Fällen des sog. Anwaltszwangs der dienstleistende Anwalt mit einem polnischen Anwalt zusammenwirken.14 Dem Gesetz ist aber leider nicht klar zu entnehmen, ob diese Mitwirkungspflicht die Handlungen betrifft, die wirksam nur ein Anwalt und nicht einmal der Mandant selbst vornehmen kann, oder ob sie sich auch auf die Handlungen bezieht, die zwar an sich der Betroffene selbst vornehmen kann, will er bei ihnen aber einen Vertreter haben, es nur ein Anwalt sein kann. Die zweite Lösung würde dann an sich das gesamte Strafverfahren betreffen. Zwar gibt es bisher keine Rechtsprechung zu diesem Problem, die Lehre tendiert aber unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH zu einer einschränkenden Interpretation dieser Pflicht und sieht sie nur da, wo der Mandant nicht auch persönlich wirksam handeln kann.15 Die deutsche Regelung ist dabei etwas präziser und auferlegt die Mitwirkungspflicht in Verfahren, in denen der Mandant nicht selbst den Rechtsstreit führen oder sich verteidigen kann.16 Zudem ist aber auch noch die Kommunikationsfreiheit des dienstleistenden Anwalts mit einem Mandanten, dem die Freiheit entzogen wurde, begrenzt. Ein Besuch ist nur in Anwesenheit des Einvernehmensanwalts möglich und die Korrespondenz kann nur durch ihn geführt werden.17 Zu diesen gesetzlichen Schranken kommen noch Probleme, die zwar einen rein technischen und organisatorischen Charakter haben, aber durchaus entscheidend sein können. Erstens sind dies Entfernungsprobleme – der Verteidiger müsste zeitlich sehr flexibel sein, um „der Beweisaufnahme hinterher“ reisen zu können. Zweitens kann es für ihn sehr schwer, wenn nicht unmöglich werden, in einer fremden und vor allem fremdsprachigen Rechtsordnung, über die er sich meistens nur begrenzt informieren kann, wirksam zu arbeiten. Der Auf13

Art. 39 AuslJurG. Art. 38 AuslJurG. 15 Dies würde z. B. die Einlegung der Kassation, den Antrag auf Verfahrenswiederaufnahme betreffen. Kłaczyn´ska, Katarzyna, Kłaczyn´ski, Michał: a. a. O., S. 135–138, Klatka, Zenon, „Reprezentowanie klienta przez prawnika zagranicznego w poste˛powaniu przed sa˛dami i innymi organami władzy publicznej“ (Vertretung eines Mandanten durch einen ausländischen Juristen in Gerichtsverfahren oder vor anderen Behörden), Radca Prawny 2004, Nr. 5, S. 120. 16 § 28 EuRAG. 17 § 30 EuRAG. 14

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wand einer Auslandsverteidigung wird deshalb nur sehr selten und eher von „größeren“ Mandanten, die auch entsprechende Finanzierungsmöglichkeiten haben, getragen. Faktisch werden die rechtlich eingeräumten Möglichkeiten einer Auslandsverteidigung nur ausnahmsweise und meist allenfalls in den Grenzgebieten wahrgenommen.18 Die Internationalisierung der Verfahren hat zur Zeit die Folge, dass die Verfahrensteilnehmer mit manchmal sehr unterschiedlichen Rechtssystemen konfrontiert werden und die für das Verfahren einschlägigen Regelungen oft gar nicht kennen. Die juristische Berufsaubildung konzentriert sich auf nationale und europarechtliche Regelungen – es ist nicht möglich, alle anderen Rechtsordnungen zu erfassen, und diese werden deshalb eher nur fakultativ bearbeitet. An diesem Zustand wird sich in der nächsten Zukunft wohl nicht viel ändern – ein einheitliches, vollständiges europäisches Strafrecht und Strafverfahrensrecht ist nicht in Sicht und auch nicht in allen Fällen zwingend notwendig. Für das international geführte Verfahren, sind und bleiben demnach auch weiterhin die nationalen Ordnungen einschlägig. Um trotzdem eine effektive Verteidigung zu sichern und die genannten Schwierigkeiten und Schranken zu überwinden, ist auf der Verteidigungsseite der Einsatz und der Rechtsbeistand von Anwälten aus mehreren Ländern notwendig. Die Zusammenarbeit der Verteidiger muss dabei effizient gestaltet und gefördert werden. III. Vorschläge zur Unterstützung der Verteidigungsseite Die o. g. Fehlentwicklung im Bereich der internationalen Strafverfolgung wurde durchaus erkannt und Initiativen zur Korrektur wurden ergriffen. Versuche zum Ausgleich der Positionen der Verfahrensteilnehmer wurden mit dem „Grünbuch II“ zu grundlegenden Garantien für ein europäisches Strafverfahren sowie mit dem Vorschlag für einen Rahmenbeschluss des Rates über Verfahrensrechte in Strafverfahren innerhalb der Europäischen Union gemacht.19 Diese Garantien wurden jedoch, da ohnehin von elementarer Bedeutung (wie das Recht auf einen Dolmetscher, auf Information des Betroffenen über seine Rechte und das Recht auf konsularischen Beistand), weitgehend gegenüber den mit „kriminalpolitischer Wucht“ ausgebauten europäischen Polizei- und Strafverfolgungsbehörden als unzureichend angesehen.20 Sowohl von den Anwalts18

Satzger, Helmut, a. a. O., S. 140. „Grünbuch der Kommission, Verfahrensgarantien in Strafverfahren innerhalb der Europäischen Union“, KOM2003/0075, „Vorschlag für einen Rahmenbeschluss des Rates über bestimmte Verfahrensrechte in Strafverfahren innerhalb der Europäischen Union“, KOM2004/328. 20 Braum, Stefan, a. a. O., S. 576–581, „CCBE Response to the Green Paper on procedural safeguards for suspects and defendants in criminal proceedings throughout the European Union“, Brüssel 27. Mai 2003, www.ccbe.org/doc/En/ccbe_response_ 19

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organisationen wie auch von der Lehre wurde besonders eine Verstärkung der Seite der Strafverteidigung als dringend notwendig postuliert.21 Es findet inzwischen allgemeine Zustimmung, dass die Verteidigung eine Koordination für länderübergreifende Verfahren braucht. Unterschiedlich sind aber die Vorstellungen, wie das am besten zu verwirklichen wäre. Initiativen dazu gehen zunächst von unten aus, d.h. von Seiten der Anwaltsorganisationen und der Strafverteidiger. Von der European Criminal Bar Association zusammen mit dem Council of Bars and Law Societies of Europe wurde ein European Criminal Law Ombudsman vorgeschlagen, der als eine unabhängige Institution, besetzt mit Anwälten, errichtet werden soll. Deren Aufgaben wären die Koordination der Arbeit der Verteidiger und die Lösung der sich bei internationalen Verfahren im Zusammenhang mit dem Europäischen Haftbefehl und anderen Institutionen der gegenseitigen Anerkennung ergebenden Probleme.22 Von Seiten einer Arbeitsgruppe der Strafverteidigervereinigungen der Bundesrepublik Deutschland ging der Vorschlag eines Netzwerks der Europäischen Strafverteidiger aus. Dieser sollte auf dem Prinzip der Selbstorganisation basieren, mit den Aufgaben der Vermittlung grenzüberschreitender Verteidigungen, der Einrichtung eines Internetforums, der Durchführung von Fortbildungsveranstaltungen, Seminaren und Diskussionen sowie der Beobachtung und Bewertung der Strafrechtsentwicklung in Europa.23 Der deutsche Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein ruft auf zur Bildung von europäischen Legal Teams zur Verteidigung und Vertretung von Personen, die anlässlich von (Antiglobalisierungs-)Demonstrationen von Repressionsmaßnahmen betroffen wurden.24 Eine Institution zum Ausgleich der Verfahrensbalance in internationalen Verfahren wurde auch in dem „Alternativentwurf Europäische Strafverfolgung“, herausgegeben von Prof. Bernd Schünemann, vorgeschlagen und die Institution 270503_en.pdf, Stand: 28. September 2005, „Procedural safeguards for suspects and defendants in criminal proceedings throughout the EU, CCBE speech“, www.ccbe. org/doc/En/d_071002_en.pdf, Stand: 28. September 2005. 21 Schünemann, Bernd, „Grundzüge eines Alternativ-Entwurfs zur europäischen Strafverfolgung“, ZStW 116 (2004) Heft 2, S. 388–391, Braum, Stefan, a. a. O., S. 580, Satzger, Helmut, „Gefahren für eine effektive Verteidigung im geplanten europäischen Verfahrensrecht“, StV 2/2003, S. 139–141, Nestler, Cornelius, a. a. O., S. 351–352, Salditt, Franz, a. a. O., S. 136, Buruma, Ybo, a. a. O., S. 434, „Proposal by the CCBE for the establishment of a European criminal law ombudsman“, 8. Dezember 2004 www.ccbe.org/doc/En/criminal_law_ombudsman_en.pdf, Stand: 28. September 2005, „Procedural safeguards for suspects and defendants in criminal proceedings throughout the EU, CCBE speech“, www.ccbe.org/doc/En/d_071002_en.pdf, Stand: 28. September 2005. 22 www.ccbe.org/en/activites/eclo_seminar_en.html, Stand: 1. Mai 2006. 23 http:/ /www.rav.de/download/Project %20for %20European %20Defence %20Net work%2017%, www.eu-defense.de/, Stand: 1. Mai 2006. 24 www.rav.de/legalteams_aufruf.htm, Stand: 1. Mai 2006.

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als solche der „Eurodefensor“ genannt. Nach diesem „Alternativentwurf“ wäre die Institution „von oben“ – d.h. von der Europäischen Union und nicht den Anwaltsorganisationen – zu organisieren. Der „Eurodefensor“ hätte die Verteidigung in Strafverfahren wegen schwerer grenzüberschreitender Kriminalität zu stärken und zu unterstützen. Seine Aufgaben wären: die Herstellung und Vermittlung von Kontakten, die Koordination der Zusammenarbeit der Verteidiger, die Bereitstellung von Informationen und eine finanzielle Unterstützung der Verteidigung. Zu diesen Koordinationsaufgaben hätte der „Eurodefensor“ auch das Recht, in Verfahren, in denen Eurojust tätig wird und noch kein Verteidiger bestellt wurde, für die Wahrung der Interessen eines Beschuldigten oder von Drittpersonen zu sorgen. In dieser Funktion sollte der „Eurodefensor“ als „Protoverteidiger“ bis zur Bestellung eines Verteidigers handeln und die Einhaltung der Rechte eines noch unbekannten oder nicht förmlich beteiligten Beschuldigten wahren, vor allem bei der Anwendung von Zwangsmaßnahmen und bei der Durchführung von Vernehmungen.25 Diese Annahmen wurden während der noch nicht beendeten Arbeiten im Rahmen des von Prof. Bernd Schünemann geleiteten Projekts „Ein Gesamtkonzept für europäische Strafrechtspflege“ weiter bearbeit. Obwohl ein endgültiger Vorschlag noch nicht erstellt wurde, sind die Grundideen schon klar. Der „Eurodefensor“ sollte als ein europäisches Amt zentral, mit nationalen Stellen in den Mitgliedstaaten, aufgebaut und mit Beamten besetzt werden. Die Institution wäre in zweifacher Weise tätig – als eine Art Ermittlungsrichter wird sie zum einen für die Protoverteidigung zur Wahrung der Rechte des Beschuldigten, der noch keinen Verteidiger haben kann, und der Rechtmäßigkeit der Durchführung von Zwangsmaßnahmen und geheimen Ermittlungen zuständig gemacht, und zum anderen, sollte sie als eine Art Serviceeinrichtung zur Unterstützung der in mehreren Staaten in einem Verfahren eingesetzten Verteidiger dienen. Der o. g. Vorschlag, eine internationale Organisation zum Schutz der Rechte eines noch nicht näher bekannten oder förmlich noch nicht beteiligten Beschuldigten einzusetzen, könnte zunächst auf Zurückhaltung, wenn nicht sogar auf Protest stoßen. Eine Verteidigung ist erst ab dem Zeitpunkt möglich und notwendig, ab dem das Verfahren in die Phase in personam übergeht, wenn es also bereits einen konkreten Beschuldigten gibt, dem der Vorwurf einer Straftatbegehung gemacht wird. Erst dann kann der Betroffene auch einen Verteidiger beauftragen, seine Rechte zu wahren. Zum einen hat ein Verteidiger nur zu Gunsten seines Mandanten zu handeln – er muss also genau wissen, in welcher Richtung er agieren soll. Das kann er aber nicht, wenn er offensichtlich noch nicht weiß, wessen Interessen genau zu wahren sind. Zum anderen entstünde die Gefahr, dass der Einsatz eines für jeden potentiellen Verdächtigten bestell25 Schünemann, Bernd (Hrsg.), „Alternativentwurf Europäische Strafverfolgung“, Köln u. a., 2004, S. 14–19.

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ten Verteidigers das Verfahren schon an seinem Anfang wesentlich behindern könnte. Unter anderem aus den o. g. Gründen kennt bis jetzt weder die polnische noch die deutsche Rechtsordnung die Möglichkeit eines Protoverteidigers, der, ohne dass einer bestimmten Person der Vorwurf einer Straftatbegehung gemacht wurde, für die Wahrung allgemeiner Interessen potentieller Beschuldigter sorgen soll.26 Um aber von der Terminologie wegzukommen – unabhängig davon, ob man das als Verteidigung bezeichnet oder nicht – ist doch die Frage zu stellen, ob nicht in der Strafprozessordnung eine solche Figur notwendig wäre. Ohne hier näher auf das auch für die Staatsanwaltschaften geltende Unparteilichkeitsgebot und seine Einhaltung durch einschlägige Organe einzugehen, muss darauf hingewiesen werden, dass faktisch die Staatsanwaltschaft und die Verfolgungsorgane nicht immer die Interessen der von Zwangsmaßnahmen Betroffenen im erforderlichen Umfang berücksichtigen. Die Idee eines Rechtsschutzbeauftragten, der die Maßnahme auf ihre Erforderlichkeit und Zulässigkeit hin überprüft und somit die zuständigen Organe bei ihren Vorhaben kontrolliert und bändigt, scheint in diesem Kontext gar nicht so abwegig.27 Die Einführung einer solchen Figur auf der europäischen Ebene könnte sich, bei international geführten Verfahren, in denen Behörden wegen der Reichweite der verfolgten Taten öfters von mehreren Seiten unter den Druck einer möglichst schnellen Verurteilung und Beendigung des Verfahrens gesetzt werden und daher vorwiegend den Effizienzgedanken vor Augen haben, vielleicht als besonders notwendig erweisen. Dem Einwand der Beeinträchtigung des Gleichheitsgebotes – durch bessere Schutzstrukturen für die von einem internationalen Strafverfahren Betroffenen – ist mit zwei Argumenten zu begegnen: erstens erfordert gerade ein internationales Verfahren bessere Garantien, da die Betroffenen mit mehreren, fremden Rechtsordnungen konfrontiert werden, und zweitens sollte die Einführung von Sicherheiten für einen bestimmten Personenkreis nicht dadurch gehindert werden, dass sie nicht automatisch für alle gelten können. Die Gründung einer solchen „Protoverteidigung“ auf der internationalen Ebene könnte zwar einzelne Mitgliedstaaten nicht dazu zwingen, solche Maßnahmen in die nationalen Ordnungen einzuführen, sie könnte diese aber dazu bewegen, neue Garantien für die Teilnehmer der national geführten Verfahren zu erwägen. Die Errichtung 26 Abgesehen von dem verfassungsrechtlichen Organ des Beauftragten für Bürgerrechte, der für die Wahrung der in der Verfassung und anderen Gesetzen bestimmten Freiheiten und Rechte zuständig ist. Vogel, Joachim, „Licht und Schatten im Alternativ-Entwurf“, ZStW 2004, S. 415. 27 Einen „Protoverteidiger“ dieser Art gibt es bereits im österreichischen Strafverfahren – nach dem Sicherheitspolizeigesetz ist ein Rechtsschutzbeauftragter für die besonderen Ermittlungsmaßnahmen „zur rechtlichen Kontrolle der erweiterten Gefahrenerforschung“ berufen.

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einer solchen Institution in einem internationalen Strafverfahren ist allerdings momentan, in der „stockenden“ Entwicklung eines europäischen Strafrechts mit dem Erfordernis eines Teilverzichts auf die Souveränitätsrechte der Mitgliedstaaten, realistischerweise nicht durchsetzbar. Der Ursprung aller jener vorgestellten Ideen liegt in dem Willen, die Kooperation der Verteidiger zu stärken, um dadurch zu der Kooperation der Ermittlungs- und Verfolgungsbehörden ein Gegengewicht herzustellen. Die Errichtung einer solchen Organisation ist in der heutigen europäischen Wirklichkeit auch möglich und realistisch. Allerdings muss beachtet werden, dass schon wegen der Funktion der Verteidigung, die für den Beschuldigten und gegen den Staat (bzw. gegen die von der Union koordinierten staatlichen Ermittlungsorgane) auftritt, die Unionsorgane es nicht unbedingt für dringlich halten werden, eine solche Institution zu fordern – insbesondere wenn doch für die Ermittlungsorgane weiterhin das Unparteilichkeitsgebot gilt und die Verfahrensrechte in Strafverfahren in einem Rahmenbeschluss verankert werden sollen. Ein besonderer Einsatz wird deshalb von den Vertretern der Anwaltsberufe gefordert. Es muss aber, nicht nur ein Netzwerk, sondern eine schlagkräftige Institution errichtet werden, entsprechend technisch und organisatorisch ausgerüstet, um als Katalysator für alle mit einer internationalen Verteidigung verbundenen Probleme zu fungieren. Ihre Aufgaben sollten zwei Gebiete umfassen. Zum einen wären es mit einem konkreten Verfahren verbundene Aufgaben wie: die Kontaktvermittlung und Koordination der Zusammenarbeit der auf der Seite des Beschuldigten/Angeklagten eingebundenen Personen, die Forderung des Informationsaustauschs zu den für das Verfahren einschlägigen Regelungen und informell herrschenden Vorgehensweisen sowie die Übermittlung und eventuell auch Übersetzung von verfahrensrelevanten Unterlagen. Zum anderen wären es allgemeine, auf die internationale Verteidigung bezogene Aufgaben, wie: die Sammlung und Lieferung von Informationen über die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten mit besonderer Berücksichtigung der Verteidigungsmöglichkeiten und Rechte; die Intervention bei Rechtsverletzungen, Kontrolle über den Strafvollzug ausländischer Sträflinge und eventuell auch die Durchführung von rechtsvergleichenden Studien und die Vorbereitung von Stellungnahmen oder Gesetzesvorschlägen zur Entwicklung des europäischen Strafrechts. Besonders wichtig wäre dabei die Errichtung eines Dokumentations- und Informationszentrums – einem ausgebildeten Anwalt könnte es eine solche Informationsbasis ermöglichen, sich in bestimmtem Umfang auch in anderen Rechtsordnungen zurecht zu finden. Sie würde zudem auch die Kenntnis über fremde Rechtsordnungen verbreiten und dadurch zum gegenseitigen Verständnis der zusammenwirkenden Anwälte beitragen. Die Aufgaben der Institution zur Unterstützung der Verteidigung sollten von teils in der Zentrale, teils lokal eingesetzten Ombudsmännern ausgeübt werden.

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Die Ombudsmänner müssten vor allem unabhängige, als Anwälte oder Strafverteidiger ausgebildete Juristen sein. Es ist dabei besonders wichtig, dass die Ombudsmänner in keinem Fall sachlich tätig werden sollten – die Verteidigung als solche wäre stets unabhängigen Anwälten anvertraut. Die Handlungen der Ombudsmänner wären rein organisatorisch. Der Ombudsmann wird mehrere Teilnehmer eines Verfahrens, deren Interessen widersprüchlich sein können, unterstützen müssen. Es ist aber nicht auszuschließen, dass der lokal eingesetzte Ombudsmann je nach Möglichkeit weiterhin einer anwaltlichen Tätigkeit in seinem Zulassungsstaat nachgehen könnte – bei einer Kollision würde aber seine Funktion als Ombudsmann Vorrang haben. Die Errichtung einer zentralen Institution zur Unterstützung der Kooperation der Verteidiger wäre der erste Schritt, um eine effektive internationale Verteidigung zu sichern. Sie könnte dann auch weiterentwickelt werden und auch neue Aufgaben, wie die in dem o. g. „Alternativentwurf Europäische Strafverfolgung“ vorgeschlagenen, übernehmen. Im Weiteren werden aber auch andere, zusätzliche Maßnahmen, sowie auch Änderungen in den nationalen Prozessordnungen – nach denen letztendlich das Verfahren geführt wird – erforderlich. Wie schon am Anfang erwähnt, werden im Ausland Verfahrenshandlungen vorgenommen, bei denen selten der Verteidiger anwesend ist. Wie auch schon dargelegt, ist aber oft die Teilnahme eines Verteidigers bei solchen Handlungen besonders wichtig und geboten. Am wirksamsten, dem Betroffenen den besten Rechtsschutz bietend, kann dabei der Anwalt eingreifen, der in der Rechtsordnung des Staates, in dem zu handeln ist, „zu Hause“ ist. Er kann unbegrenzt seine Funktion ausüben, er kennt nicht nur die nationalen Regelungen am besten, sondern kann sich auch in den informellen Strukturen und Gewohnheiten bewegen. Deshalb wäre für die Zukunft auch nicht nur an eine, mehr oder weniger, informelle Zusammenarbeit der Verteidiger zu denken, sondern an ein System der mehrfachen Verteidigung. Wie schon von Prof. Franz Salditt vorgeschlagen, muss eine „mehrfache“ Verteidigung gesichert werden – neben dem im Hauptverfahrensstaat tätigen Hauptanwalt hätte dann der Beschuldigte/Angeklagte sog. Kontaktverteidiger in den betreffenden Auslandsstaaten, in denen im Rahmen der Rechtshilfe oder Zusammenarbeit der Verfolgungsbehörden, ermittelt wird.28 Zwar ist es bereits jetzt möglich, dass sich für den Betroffenen bei einer Beweisaufnahme im Ausland auch einheimische Verteidiger einsetzen. Es gibt aber erstens keine Regelungen, die die Zusammenarbeit der Verteidiger, ihre Kompetenzen und Zuständigkeiten bei einer solchen Kooperation bestimmen würden; zweitens gibt es trotz der hohen Kosten, die bei einer Auslandsverteidigung entstehen können, auf der europäischen Ebene keine Regelungen über eine 28

Salditt, Franz, a. a. O., S. 137, siehe auch: Braum, Stefan, a. a. O., S. 580.

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Prozesskostenhilfe, und drittens wird z. B. in vielen Rechtsordnungen die Zahl der in einem Verfahren für einen Beschuldigten oder Angeklagten zugelassenen Verteidiger begrenzt (z. B. in Polen und Deutschland auf drei). Es wäre also wichtig, zunächst eine Art von Kooperationsordnung zur Zusammenarbeit der Anwälte zu erstellen. Die nationalen Berufsregeln, die die Zusammenarbeit eines Anwalts mit seinen Kollegen bestimmen, könnten sich sonst beim Einsatz von Vertretern aus verschiedenen Rechtssystemen, in denen auch die Stellung des Verteidigers im Verfahren unterschiedlich gestaltet ist, als unzureichend erweisen.29 Da im Falle einer internationalen Verteidigung sich die Verteidiger nicht im selben Staat befinden und öfters keinen schnellen direkten Kontakt zum Mandanten und anderen Verteidigern werden aufnehmen können, werden sie öfter „auf eigene Faust“ handeln müssen (besonders bei den kurzen Fristen für die Rechtsmitteleinlegung). Dabei können Zuständigkeitsund Verantwortlichkeitskonflikte entstehen, die nicht durch nationale Regelungen gedeckt werden. Der Hauptverteidiger, der seinem Mandanten am nächsten ist, wäre für die gesamte Verteidigung zuständig. Er könnte mit der Hilfe und durch die Teilnahme der Kontaktverteidiger, ohne selbst eine grenzüberschreitende Dienstleistung zu erbringen, das in anderen Staaten geführte Verfahren anregen und kontrollieren. Für die Kontaktanwälte müsste wiederum ein Freiraum gewahrt bleiben, damit sie flexibel auf die Entwicklung im Prozess reagieren können und nicht völlig von den Anweisungen des Hauptanwalts abhängig gemacht werden. Wichtig wäre eben die Bestimmung der Zuständigkeitsbereiche, die eine eventuelle Verantwortungsverschiebung auf die anderen Verteidiger vermeiden ließe. Der Einsatz von mehreren Vertretern in mehreren Staaten erfordert ziemlich hohe Ausgaben, die in vielen Fällen der Beschuldigte nicht fähig ist zu tragen. Deshalb wäre eine Regelung zur Prozesskostenhilfe für internationale Strafverfahren von grundlegender Bedeutung. Ein Anspruch auf staatliche Unterstützung bei der Finanzierung der Verteidigung ist, wie das Prinzip der Waffengleichheit, als einer der grundlegenden Garantien eines fairen Verfahrens durch Art. 6 Abs. 3 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte anerkannt und muss daher auch als solcher in international geführten Strafverfahren in vollem Umfang berücksichtigt werden. Die Regelung und Institutionalisierung der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit der Verteidiger ist einer der wichtigsten Schritte auf dem Weg zur Stärkung 29 Die Unterschiede zeigen sich schon daran, dass z. B. in der polnischen Strafprozessordnung der Verteidiger eine selbstständige, vom Beschuldigten unabhängige Position hat. Der Beschuldigte kann die Handlungen seines Verteidigers nicht eliminieren, bei widersprüchlichen Handlungen hat das Gericht zu entscheiden, welche für die Verteidigung am günstigsten ist – vgl. Grzegorczyk, Tomasz, „Kodeks Poste˛powania Karnego. Komentarz“ (Strafprozessordnung. Kommentar), Kraków 2005, S. 292.

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der Rechte der Beschuldigten und Angeklagten in einem internationalen Verfahren. Die rechtlichen Schranken, die organisatorischen Probleme und das Wissensdefizit der eingesetzten Verteidiger im Hinblick auf fremde Rechtsordnungen sind in der kommenden Zeit nicht zu beseitigen. Deshalb werden die Verteidiger faktisch immer auf die Kooperation mit ihren ausländischen Kollegen angewiesen sein. Durch eine „organisierte“ Kooperation wird die Verteidigungsseite mobiler, mit Juristen aus mehreren Rechtsordnungen besetzt und in den jeweiligen Ländern immer und ohne Einschränkungen handlungsbereit. Die Hauptverteidigung wäre bei ihrem Informationsfluss und ihren Handlungen von den Verfolgungs- und Ermittlungsorganen losgelöst und unabhängig. IV. Schlussbemerkungen Die Wahrung der Verfahrensrechte ist für das gegenseitige Vertrauen der Staaten bei der Entwicklung eines gemeinsamen Strafrechtsraumes grundlegend und für eine wirksame und allgemein akzeptierte Übergabe der traditionell nationalen Aufgabe der Strafverfolgung an Einheiten mit internationaler Beteiligung notwendig.30 Damit ein faires internationales Strafverfahren nicht zum Wunschdenken, sondern zur Realität wird, um wenigstens zum Teil das zu verwirklichen, was immer postuliert wird, müssen Maßnahmen sowohl auf der europäischen Ebene wie auch in den einzelnen Staaten ergriffen werden. Die Stärkung der Verteidigung wird die Errichtung zentraler, europäischer Institutionen sowie Änderungen in den nationalen wie europäischen Vorschriften erfordern. Was genau und sehr konkret gemacht werden soll und welche Gestalt die Unterstützung der internationalen Verteidigung annehmen soll, ist noch unklar. Es ist aber wichtig, dass Initiativen ergriffen werden, sich die Diskussion mit verschiedenen Erfahrungen aus verschiedenen Mitgliedstaaten zu diesem Thema entwickelt und bereits dadurch der Informationsaustausch und eine Zusammenarbeit zwischen den Verteidigern gefördert wird.

30 „CCBE Response to the green paper on procedural safeguards for suspects and defendants in criminal proceedings throughout the European Union“, Brüssel 27. Mai 2003, www.ccbe.org/doc/En/ccbe_response_270503_en.pdf, Stand: 28. September 2005.

Europa¨ische Initiativen zur Begrenzung der Untersuchungshaft Robert Esser I. Einleitung Zu den eingriffsintensivsten strafprozessualen Zwangsmaßnahmen geho¨rt die Anordnung einer Freiheitsentziehung gegenu¨ber dem Beschuldigten vor dem (rechtskra¨ftigen) Abschluss des Strafverfahrens. Die ha¨ufigste Form einer solchen Inhaftierung – im deutschen Recht als Untersuchungshaft bezeichnet (§ 112 I StPO) – will die Anwesenheit des Beschuldigten in der gerichtlichen Verhandlung u¨ber die gegen ihn erhobene strafrechtliche Anklage (vgl. Art. 6 I EMRK) sicherstellen. Sie dient damit der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs und der Durchfu¨hrung des Strafverfahrens insgesamt.1 Ohne eine Untersuchungshaft wa¨re in vielen Fa¨llen – meist solchen, in denen es um schwere Verbrechen geht – die Effektivita¨t der Strafverfolgung ernsthaft gefa¨hrdet. Die Mo¨glichkeit, einem Beschuldigten die Freiheit vor dem rechtskra¨ftigen Abschluss des gerichtlichen Strafverfahrens zu entziehen, ist daher in allen nationalen Strafverfahrensordnungen Europas vorgesehen. Auch bei den Anordnungsvoraussetzungen und Vollzugsgrundsa¨tzen bestehen durchaus Gemeinsamkeiten; so geho¨ren die Fluchtgefahr und die Verhinderung einer Einflussnahme des Beschuldigten auf den Gang des Verfahrens zu den europaweit bekannten Haftgru¨nden.2 Gleichwohl differieren die relativen Haftzahlen ebenso wie der Anteil von U-Gefangenen an der gesamten Gefangenenpopulation in den einzelnen

1 Eine weitere Form der Inhaftierung vor Abschluss des Strafverfahrens ist die vorla ¨ ufige Unterbringung mutmaßlich schuldunfa¨higer Ta¨ter (vgl. § 126a StPO). Diese Art des Freiheitsentzugs soll im Folgenden außer Betracht bleiben. 2 Anhang zum Gru ¨ nbuch der Kommission u¨ber die gegenseitige Anerkennung von ¨ berwachungsmaßnahmen ohne Freiheitsentzug im Ermittlungsverfahren, KOM (2004) U 562 endg., SEK (2004) 1046, Annex 2 (National legislation in the area of pre-trial detention); siehe auch die La¨nderberichte in der umfangreichen Studie von Du¨nkel / Vagg, Untersuchungshaft und Untersuchungshaftvollzug, 1994; Ku¨hne, Strafprozessrecht, 7. Aufl. 2006, Rn. 1200 (pre-trial detention), 1241 f. (garde a` vue / de´tention provisoire), 1298 (custodia cautelare), 1345 (prisio´n provisional), 1393 ff. (voorlopige hechtenis); van den Wyngaert (Hrsg.), Criminal Procedure Systems in the European Community, 1993; speziell fu¨r die Staaten Osteuropas (La¨nderberichte): Pavisic (Hrsg.), Transition of Criminal Procedure Systems, Vol. II, 2004.

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nationalen Rechtssystemen zum Teil erheblich.3 Gegen die derzeitige europaweite Praxis der Untersuchungshaft werden im Wesentlichen drei zentrale Bedenken gea¨ußert: Untersuchungshaft wird in zu vielen Fa¨llen angeordnet (Ha¨ufigkeit)4, ihr Vollzug dauert zu lange (Haftdauer) und die Haft- bzw. Vollzugsbedingungen entsprechen ha¨ufig nicht den international verbindlichen Vorgaben (Art und Weise des Vollzugs).5 Bemerkenswert ist in jedem Fall, dass auf nationaler Ebene zahlreiche grundrechtlich relevante Fragestellungen im Zusammenhang mit der Anordnung und dem Vollzug von Untersuchungshaft erst bzw. wieder in den letzten Jahren in den Mittelpunkt des Interesses geru¨ckt sind. Dass sich beispielsweise das deutsche BVerfG im Jahr 2005 gleich in mehreren grundlegenden Entscheidungen mit zentralen Fragen der Untersuchungshaft zu bescha¨ftigen hatte6 und sich in einem Fall sogar selbst zur Aufhebung des Haftbefehls geno¨tigt sah7, hat angesichts des hohen Ranges, den die Freiheit in den nationalen Rechtsordnungen verfassungsrechtlich einnimmt, aufhorchen lassen. Es scheint demzufolge auch auf dem grundrechtssensiblen Gebiet des Haftrechts noch das ein oder andere ungelo¨ste

3 Vgl. Anhang zum Gru ¨ nbuch der Kommission u¨ber die gegenseitige Anerkennung ¨ berwachungsmaßnahmen ohne Freiheitsentzug im Ermittlungsverfahren, KOM von U (2004) 562 endg., SEK (2004) 1046, Annex 3 – Pre-trial detention rates in the EU Member States; Europa¨ische Kommission, MEMO / 06 / 314 v. 29. 8. 2006, S. 4. Du¨nkel, StV 1994, 610 (617). In Deutschland befanden sich am 31. 3. 2006 insgesamt 14.634 Personen in Untersuchungshaft: Statistisches Bundesamt, Bestand der Gefangenen und Verwahrten in den deutschen Justizvollzugsanstalten nach ihrer Unterbringung auf Haftpla¨tzen des geschlossenen und offenen Vollzuges (Stand: 12. 5. 2006), Wiesbaden 2006, S. 2. 4 In der BR Deutschland gehen die U-Haftzahlen seit 1997 kontinuierlich zuru ¨ ck (Stichtagsza¨hlung): 20.440 (1996), 19.935 (1997), 19.049 (1998), 17.661 (1999), 17.524 (2000), 17.431 (2001), 16.853 (2002), 16.785 (2003), 15.783 (2004); vgl. Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, R1, 2005, 4 Strafvollzug, 4.3. Art des Vollzugs 1970 bis 2004. 5 Vgl. hierzu die Untersuchungen des Europa ¨ ischen Netzes unabha¨ngiger Sachversta¨ndiger fu¨r Grundrechte (Network of independent experts in fundamental rights – CFR-CDF): Report on the Situation of Fundamental Rights in the European Union and its Member States; prepCFR-CDF / Conclusions 2005, S. 67 ff.; fu¨r die 90er Jahre: Du¨nkel, StV 1994, 610 (619 ff.); speziell zur BR-Deutschland: Lo¨we-Rosenberg (LR) / Hilger, 25. Aufl., Vor § 112 Rn. 47; Schloth, Die Haftgru¨nde der Wiederholungsgefahr und der Schwere der Tat, 1999, S. 71 ff.; Gebauer, Die Rechtswirklichkeit der Untersuchungshaft in der Bundesrepublik Deutschland, 1987, S. 389 ff. 6 Zur Wiederinvollzugsetzung eines Haftbefehls gema ¨ ß § 116 IV StPO: BVerfG, Beschl. v. 26. 10. 2005 – 2 BvR 1618 / 05, StV 2006, 26; zum „Wiederaufleben eines einmal gegenstandslos gewordenen Haftbefehls: BVerfG, Beschl. v. 18. 8. 2005, 2 BvR 1357 / 05, NJW 2005, 3131; zur Haftdauer – Beschleunigungsgebot: Beschl. v. 5. 12. 2005, 2 BvR 1964 / 05, NJW 2006, 672 = StV 2006, 75 (8 Jahre dauernde U-Haft); BVerfG, Beschl. v. 29. 12. 2005, 2 BvR 2057 / 05, NJW 2006, 677; Beschl. v. 22. 2. 2005, 2 BvR 109 / 05, NStZ 2005, 456; Beschl. v. 23. 9. 2005, 2 BvR 1315 / 05, StV 2005, 615; hierzu: Gaede, HRRS 2005, 409 ff. 7 BVerfG, Beschl. v. 5. 12. 2005 (Fn. 6); zu dieser Entscheidung: Jahn, NJW 2006, 652.

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Rechtsproblem zu geben8, ebenso wie Umsetzungsdefizite auf der Ebene der Fachgerichte in Bezug auf verfassungsgerichtliche Vorgaben. II. Bedeutung und Problematik der Untersuchungshaft im Rahmen der grenzu¨berschreitenden Strafverfolgung Besondere Brisanz birgt die Anordnung einer Untersuchungshaft gegenu¨ber (ausla¨ndischen) Beschuldigten, die sich nur fu¨r kurze Zeit auf dem Staatsgebiet des die Strafverfolgung betreibenden Staates aufhalten. Obwohl sich in der deutschen Literatur und Rechtsprechung mittlerweile die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass die Ausla¨ndereigenschaft eines Beschuldigten allenfalls dann als Indiz fu¨r dessen Fluchtbereitschaft gewertet werden darf, wenn in seiner Person engere familia¨re und soziale Bindungen zum Inland (Verfolgerstaat) fehlen und konkrete Anhaltspunkte fu¨r sein Nichterscheinen vor Gericht vorliegen9, erfa¨hrt dieser Grundsatz in der justitiellen Praxis nicht durchga¨ngig Beachtung.10 Ein Grund fu¨r die voreilige und im Ergebnis proportional ha¨ufigere Annahme einer Fluchtgefahr bei ausla¨ndischen Beschuldigten ist, dass ihre Ru¨ckkehr auf das Staatsgebiet des Verfolgerstaates und ihre Anwesenheit bei Vernehmungen im Vorverfahren bzw. in der Hauptverhandlung nicht mit den herko¨mmlichen prozessualen Mitteln erzwungen (Ladung, Vorfu¨hrung) sondern nur u¨ber den mitunter beschwerlichen Weg der justiziellen Rechtshilfe erreicht werden ko¨nnen. Hinzu kommt, dass die Einleitung eines fo¨rmlichen Auslieferungsverfahrens grundsa¨tzlich die Vorlage eines Haftbefehls oder einer Urkunde mit gleicher Wirkung durch den ersuchenden Staat voraussetzt.11 Andererseits ist gerade aufgrund der vielfa¨ltigen Rechtshilfe- und Auslieferungsbeziehungen der Staaten in Europa die Annahme einer Fluchtgefahr in jedem Einzelfall sehr genau zu pru¨fen und zu begru¨nden. Im Anwendungsbereich des Europa¨ischen Haftbefehls (EuHb) du¨rfte sie praktisch nicht mehr in Betracht kommen.12

8 Dazu geho ¨ rt sicherlich nach wie vor die Auslegung der Begriffe „flu¨chtig“, „sich verborgen halten“ und „sich entziehen“ iSv § 112 II Nr. 1 u. 2 StPO: OLG Ko¨ln, StV 2006, 25; OLG Ko¨ln, StV 2005, 393 f.; OLG Dresden, StV 2005, 224; OLG Karlsruhe, StV 2005, 33; Dahs / Riedel, StV 2003, 416 (417); Bo¨hm, NStZ 2001, 633 (634); deutlich weiter dagegen aber: OLG Hamm, StV 2005, 35 mit abl. Anm. Hilger; OLG Ko¨ln, NStZ 2003, 219; OLG Stuttgart, NStZ 1998, 427; zum Ganzen: LR / Hilger, § 112 Rn. 32 ff. 9 Mu ¨ nchhalffen / Gatzweiler, Das Recht der Untersuchungshaft, 2. Aufl. 2002, Rn. 77, 86. 10 Kritisch auch: Schlothauer / Weider, Untersuchungshaft, 3. Aufl. 2001, Rn. 530; Mu¨nchhalffen / Gatzweiler (Fn. 9), Rn 77; Dahs / Riedel, StV 2003, 416 (417); Du¨nkel, StV 1994, 610 (613); LR / Hilger, 25. Aufl., § 112 Rn. 36. 11 Vgl. § 10 I IRG; Art. 12 EuAlU ¨ bk, Hackner / Lagodny / Schomburg / Wolf, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 2003, Rn. 81. 12 Ebenso: Gercke, StV 2004, 675 (678).

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Die offensichtliche Ungleichbehandlung nicht auf dem Territorium des Verfolgerstaates verwurzelter Beschuldigter bei der Anordnung von Untersuchungshaft hat sich durch die Grenzo¨ffnung und die dadurch bedingte Freizu¨gigkeit in Europa noch verscha¨rft, so dass heute nicht mehr von „ausla¨ndischen“ Beschuldigten, sondern besser von „gebietsfremden“ oder „nicht-einheimischen“ Beschuldigten als Problemgruppe bei der Anordnung von Untersuchungshaft gesprochen werden sollte. Zu dieser Gruppe geho¨ren nicht nur Ausla¨nder, die in dem die Strafverfolgung betreibenden Staat weder einen Wohnsitz haben noch u¨ber sonstige feste soziale Beziehungen verfu¨gen (u. a. Touristen und Berufspendler), sondern auch Staatsangeho¨rige des Verfolgerstaates, die ihren Lebensmittelpunkt im Ausland gewa¨hlt haben und sich nur noch sporadisch in ihrem Heimatstaat aufhalten. Nicht die „Ausla¨ndereigenschaft“ sondern die „Wohnsitzlosigkeit“ im Verfolgerstaat ist letztlich das entscheidende Kriterium, welches in der Praxis ha¨ufig zur Begru¨ndung einer Untersuchungshaft wegen Fluchtgefahr herangezogen wird.13 Sowohl Statistiken14 als auch Stimmen aus der Justizpraxis15 belegen, dass Personen, die einer Straftat in einem Mitgliedstaat verda¨chtigt werden, in dem sie keinen Wohnsitz haben („non-resident suspects“), sta¨rker dem Risiko ausgesetzt sind, wegen einer von den Strafverfolgungsbeho¨rden und Gerichten prognostizierten Fluchtgefahr in Untersuchungshaft genommen oder einer vergleichbar inten¨ berwachungsmaßnahme ausgesetzt zu werden als siven freiheitsentziehenden U „inla¨ndische“ Personen, d. h. solche, die ihren Wohnsitz in dem die Strafverfolgung betreibenden Staat haben. Dass ein solcher Befund schwerlich mit den Geboten der Gleichbehandlung und Freizu¨gigkeit in Einklang zu bringen ist, liegt auf der Hand. Eine Reduzierung von Untersuchungshaft gegenu¨ber „gebietsfremden“ Beschuldigten ist allerdings nicht nur unter dem Aspekt der Gleichbehandlung im Strafverfahren16 zu fordern sondern ein zentrales Gebot der Unschuldsvermutung und des Freiheitsgrundrechts. Man muss sich hier nur plastisch vor Augen fu¨hren, wie belastend ein Beschuldigter die Inhaftierung gerade in einem fu¨r ihn fremden Rechtskreis 13

Vgl. Pfordte / Degenhard, Der Anwalt im Strafrecht, 2005, § 7 Rn. 22. Anhang zum Gru¨nbuch der Kommission u¨ber die gegenseitige Anerkennung von ¨ berwachungsmaßnahmen ohne Freiheitsentzug im Ermittlungsverfahren, KOM (2004) U 562 endg., SEK (2004) 1046, 4.3.4 und Annex 3 (unter Hinweis auf Statistiken des Europarates); fu¨r die BR Deutschland: Bo¨hm, Strafvollzug, 3. Aufl. 2003, Rn. 445, Fn. 50 (unter Auswertung der monatlichen Belegungsu¨bersichten des BMJ und des Statistischen ¨ berlegung der Haftanstalten in Europa auch: Committee for the PreBundesamtes); zur U vention of Torture – CPT, The CPT-Standards, 2006 (u¨ber www.cpt.coe.int). 15 Vgl. OLG Ko ¨ ln, NStZ 2003, 219 mit krit. Anm. Dahs / Riedel, StV 2003, 416; Schmidt, Verteidigung von Ausla¨ndern, 2. Aufl. 2005, Rn. 300 („schematisch“, „stereotyp“); Pfordte / Degenhard (Fn. 13), § 7 Rn. 24; Gercke, StV 2004, 675 f. 16 Eingehend zu dieser Diskriminierungsproblematik vor dem Hintergrund des Gemeinschaftsrechts: Gercke, StV 2004, 675 ff. 14

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empfindet – u¨ber die mit jeder Untersuchungshaft zwangsla¨ufig verbundenen Beschra¨nkungen hinaus. So sind Besuche von Angeho¨rigen und Familienmitgliedern nicht selten schon aufgrund der gro¨ßeren ra¨umlichen Distanz deutlich erschwert und die Kontaktmo¨glichkeiten zum Arbeitgeber und dem sozialen Umfeld stark eingeschra¨nkt, was die Gefahr eines Arbeitsplatzverlustes und eines damit verbundenen sozialen Abstiegs signifikant erho¨ht. Gespra¨che mit dem Verteidiger sind oft nur mit Hilfe eines Dolmetschers mo¨glich; sprachliche Schwierigkeiten und kulturelle Unterschiede erschweren den Umgang mit Mitha¨ftlingen und den Kontakt zum Gefa¨ngnispersonal. Abgesehen von dieser menschenrechtlichen Perspektive haben auch die nationalen Justizsysteme selbst ein hohes Interesse an der Reduzierung ihrer U-Haftzahlen. Mit Hilfe einer restriktiven U-Haftpraxis ließe sich einer weiter zuneh¨ berbelegung der Haftanstalten, einer dadurch bedingten Verschlechtemenden U rung der Haftbedingungen und schließlich einem weiteren Anstieg der Haftkosten entgegenwirken.17 Die nachfolgenden Ausfu¨hrungen sind Initiativen auf europa¨ischer Ebene gewidmet, die Wege und Instrumentarien zur Begrenzung der Untersuchungshaft und ihrer negativen Folgen aufzeigen. Im Mittelpunkt soll dabei die Frage der Anordnung, d. h. die Vermeidung von Untersuchungshaft stehen; die Art und Weise ihres Vollzugs muss dagegen einer separaten Analyse vorbehalten bleiben.18 III. Art. 5 I, III EMRK Auf der Ebene des Europarates existieren mit Art. 5 I 2 lit. c, III EMRK seit mehr als 50 Jahren zentrale vo¨lkerrechtlich verbindliche Bestimmungen zur Begrenzung von Freiheitsentziehungen im Strafverfahren. Diese Vorschriften sind stets vor dem Hintergrund der in Art. 6 II EMRK festgeschriebenen Unschuldsvermutung zu interpretieren; ohne sie wa¨re jede Inhaftierung vor Abschluss des strafgerichtlichen Verfahrens als mit der Unschuldsvermutung unvereinbar und damit als konventionswidrig einzustufen. Beide Bestimmungen, die zu den Grundprinzipien einer freiheitlich orientierten Gesellschaft za¨hlen, setzen unumsto¨ßliche Maßsta¨be fu¨r alle 45 Vertragsstaaten der EMRK ebenso wie fu¨r die Europa¨ische Union selbst (Art. 6 EU). Sowohl das Recht auf Freiheit als auch die Unschulds17 Zu den europaweit ho ¨ chst unterschiedlich hohen Haftkosten fu¨r Untersuchungsha¨ftlinge vgl. Europa¨ische Kommission, MEMO / 06 / 314 v. 29. 8. 2006, S. 3. 18 Vgl. zu den Haftbedingungen: Empfehlung des Europa ¨ ischen Parlaments an den Rat zu den Rechten der Ha¨ftlinge in der Europa¨ischen Union (2003 / 2188(INI)), ABl. EU Nr. C 102 / 154 E v. 28. 4. 2004; Empfehlung des Ministerkomitees des Europarates Rec(2006)2 v. 11. 1. 2006 (Europa¨ische Strafvollzugsgrundsa¨tze / European Prison ¨ berbelegung in den Strafanstalten sowie u¨berma¨ßiger Rules); R(99)22 v. 30. 9. 1999 – U Anstieg der Zahl inhaftierter Personen / prison overcrowding and prison population inflation).

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vermutung haben Aufnahme gefunden in die Charta der Grundrechte der Europa¨ischen Union vom 2. 10. 200019 sowie in den – noch nicht von allen EU-Staaten ratifizierten und daher noch nicht in Kraft getretenen – Vertrag u¨ber eine Verfassung fu¨r Europa vom 29. 10. 2004.20 Die in Art. 6 II EMRK und Art. 14 II IPbpR festgeschriebene Unschuldsvermutung gebietet es, nicht nur die mit einer Untersuchungshaft verbundenen Belastungen fu¨r den Beschuldigten so gering wie mo¨glich zu halten, sondern auf die Anordnung einer Untersuchungshaft ganz zu verzichten, wenn der mit ihr verfolgte Zweck (Sicherung des Strafverfahrens) auch mit fu¨r den Betroffenen weniger einschneidenden Maßnahmen zu erreichen ist. Das gilt insbesondere bei Beschuldigten, die keinen Wohnsitz in dem die Strafverfolgung betreibenden Staat haben. Art. 5 I 2 EMRK zufolge darf einer Person, die einer Straftat verda¨chtigt wird, das Recht auf Freiheit nur unter bestimmten, abschließend aufgefu¨hrten Voraussetzungen entzogen werden. Schon aufgrund dieser Einschra¨nkung sind die Ver¨ berwachungsmaßnahmen ohne Freitragsstaaten gehalten, nach Mo¨glichkeit auf U heitsentzug zuru¨ckzugreifen. Art. 5 I 2 lit. c EMRK fordert einen speziellen Grund fu¨r eine Inhaftierung im noch laufenden Strafverfahren und manifestiert damit den Ausnahmecharakter der Untersuchungshaft insgesamt. Ein strafprozessualer Eingriff in das durch Art. 5 I 1 EMRK verbu¨rgte Recht auf Freiheit ist allerdings schon dann legitim, wenn – neben der Einhaltung des nationalen Verfahrensrechts („in accordance with a procedure prescribed by law“)21 – ein hinreichender Verdacht („reasonable suspicion“)22 besteht, dass die von der freiheitsentziehenden Maßnahme betroffene Person eine konkret-spezifische Straftat begangen hat.23 Als weitere Gru¨nde fu¨r eine Freiheitsentziehung nennt Art. 5 I 2 lit. c EMRK die Fluchtgefahr sowie die Verhinderung einer Straftat (sog. Pra¨ventivhaft). Da die Fluchtgefahr nach dem Konventionstext immer auch (mindestens) den hinreichenden Verdacht einer bereits begangenen Tat voraussetzt („when it is reasonably considered necessary to prevent his committing an offence or fleeing 19

ABl. EG Nr. C 364 / 1 v. 18. 12. 2000. Vgl. Art. 6 EU-Charta: „Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit“; Art. II-66 EU-Verf (ABl. EU Nr. C 310 v. 16. 12. 2004): „Jeder Mensch hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit“; Art. 48 EU-Charta: „Jede angeklagte Person gilt bis zum rechtsfo¨rmlich erbrachten Beweis ihrer Schuld als unschuldig“; Art. II-108 I EU-Verf: „Jeder Angeklagte gilt bis zum rechtsfo¨rmlich erbrachten Beweis seiner Schuld als unschuldig.“ 21 Siehe hierzu: Esser, Auf dem Weg zu einem europa ¨ ischen Strafverfahrensrecht, 2002, S. 203 ff. 22 Hierzu: Esser (Fn. 21), S. 223 ff.; Gollwitzer, Menschenrechte im Strafverfahren – MRK und IPBPR, 2005, Art. 5 MRK, Rn. 65. 23 Vgl. EGMR, Guzzardi . / . Italien, Urt. v. 6. 11. 1980, Serie A Nr. 39, § 102; Fox, Campbell u. Hartley . / . Vereinigtes Ko¨nigreich, Urt. v. 30. 8. 1990, Serie A Nr. 182, § 32; Murray . / . Vereinigtes Ko¨nigreich, Urt. v. 28. 10. 1994, Serie A Nr. 300-A, § 55; K.-F. . / . Deutschland, Urt. v. 27. 11. 1997, Reports 1997-VII, § 57. 20

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after having done so“), hat dieser formal dritte Haftgrund des Art. 5 I 2 lit. c EMRK neben dem ersten Haftgrund (hinreichender Tatverdacht) aus Sicht der Praxis keine eigensta¨ndige Bedeutung.24 Schon auf den ersten Blick wird deutlich, dass Art. 5 I 2 lit. c EMRK als zentrale „europa¨ische Rahmenbestimmung“ fu¨r die Anordnung von Untersuchungshaft fu¨r sich betrachtet hinter den Vorgaben zahlreicher nationaler Rechtsordnungen zuru¨ckbleibt25, wenngleich er diese u¨ber die Tatbestandsmerkmale „rechtma¨ßig“ und die „gesetzlich vorgeschriebene Weise“ in Bezug nimmt. Aus deutscher Sicht gilt dies in zweifacher Hinsicht. §§ 112, 112a StPO fordern nicht nur einen erho¨hten Verdachtsgrad in Bezug auf die dem Beschuldigten zur Last gelegte strafbare Handlung, sondern machen die Anordnung einer Untersuchungshaft und damit die Rechtma¨ßigkeit einer Freiheitsentziehung vom Nachweis eines neben dem dringenden Tatverdacht bestehenden speziellen Haftgrundes abha¨ngig (Flucht, Flucht-, Verdunklungs- oder Wiederholungsgefahr, Schwere der Tat26, §§ 112 I, 112a StPO). Aufgrund seiner wenig strengen Eingriffsvoraussetzungen vermag Art. 5 I 2 lit. c EMRK insbesondere fu¨r Beschuldigte, die keinen Wohnsitz in dem die Strafverfolgung betreibenden Staat haben, keinen – u¨ber das nationale Recht hinausgehenden – effektiven Schutz gegen freiheitsentziehende Maßnahmen zu gewa¨hren.27 Die Vorschrift verlangt nicht einmal, dass die Freiheitsentziehung durch einen Richter angeordnet wird; gerichtlicher Rechtsschutz wird erst durch die unverzu¨gliche Vorfu¨hrung des Beschuldigten nach der Festnahme gema¨ß Art. 5 III 1 EMRK garantiert. In dieser Hinsicht bilden Art. 5 I 2 lit. c EMRK und Art. 5 III EMRK eine Einheit, woran Art. 5 I 2 lit. c EMRK schon in Struktur und Wortlaut keinen Zweifel la¨sst („for the purpose of bringing him before the competent legal authority“). Eine u¨ber das innerstaatliche Recht hinausgehende Schutzwirkung entfaltet dagegen Art. 5 III EMRK, der im unmittelbaren Zusammenhang mit Art. 5 I 2 lit. c EMRK zu lesen ist und – u¨ber das Kriterium der Angemessenheit der Haftdauer – nicht nur den Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen normiert, sondern zugleich auch die in Art. 5 I 2 EMRK fehlende Verha¨ltnisma¨ßigkeitspru¨fung ersetzt. Art. 5 III 1 EMRK zufolge hat jede nach Art. 5 I 2 lit. c EMRK festgenommene Person 24 Ebenso: Do¨rr, in: Grote / Marauhn, EMRK / GG, Konkordanzkommentar, 2006, Kap. 13, Rn. 173. 25 Dies gilt insbesondere fu ¨ r das Rechtsmittelverfahren, da eine Haftfortdauer im Anschluss an die erstinstanzliche gerichtliche Entscheidung nicht unter Art. 5 I 2 lit. c EMRK fa¨llt sondern unter Art. 5 I 2 lit. a EMRK, selbst wenn die Haft nach nationalem Rechtsversta¨ndnis noch als Untersuchungs- und nicht bereits als Strafhaft angesehen wird; vgl. EGMR, Wemhoff . / . Deutschland, Urt. v. 27. 6. 1968, Serie A Nr. 7, § 9; Esser (Fn. 21), S. 215 f. 26 Zum Erfordernis eines zusa ¨ tzlichen „Haftgrundes“ bei „schweren Taten“ iSv § 112 III StPO: BVerfGE 19, 342 (350); Meyer-Goßner, Strafprozessordnung, 49. Aufl. 2006, § 112 Rn. 37. 27 Ebenso: Do¨rr (Fn. 24), Kap. 13 Rn. 172.

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Anspruch auf ein Urteil innerhalb angemessener Frist oder auf Entlassung aus der Haft wa¨hrend des noch laufenden Verfahrens. Die Entlassung kann von der Leistung einer Sicherheit fu¨r das Erscheinen vor Gericht abha¨ngig gemacht werden (Art. 5 III 2 EMRK). Ob die Dauer einer Haft angemessen ist, muss dabei in jedem Einzelfall auf der Grundlage der in den staatlichen Entscheidungen gegebenen Begru¨ndung sowie der vom Betroffenen in seinen Antra¨gen auf Haftentlassung substantiiert vorgetragenen Tatsachen gepru¨ft werden.28 Die Fortdauer der Haft ist nur dann gerechtfertigt, wenn konkrete Anhaltspunkte fu¨r ein zwingendes Erfordernis des o¨ffentlichen Interesses vorliegen, das trotz der Unschuldsvermutung dem Grundsatz der Achtung der perso¨nlichen Freiheit vorgeht.29 Das Fortbestehen eines hinreichenden Verdachts, dass die festgenommene Person eine Straftat begangen hat, kann die Haftfortdauer nach Ablauf einer gewissen Zeitspanne nach Ansicht des EGMR alleine nicht mehr rechtfertigen. Es kommt dann darauf an, ob die anderen von den Gerichten und Justizbeho¨rden stichhaltig angegebenen Gru¨nde ausreichend sind, um die Aufrechterhaltung der Haft weiterhin rechtfertigen zu ko¨nnen. In jedem Fall sind die staatlichen Stellen gehalten, das Strafverfahren gegenu¨ber inhaftierten Beschuldigten in einer besonderen Weise („special diligence“)30, d. h. mit der gro¨ßtmo¨glichen Beschleunigung zu fu¨hren. Vor dem Hintergrund des Art. 5 III 1 EMRK besteht weitgehend Einigkeit darin, dass dem Beschleunigungsgrundsatz im Haftrecht, namentlich im Hinblick auf die Unschuldsvermutung, als Korrektiv gegen eine u¨berlange Haftdauer besondere Bedeutung zukommt und dass die Strafverfolgungsbeho¨rden, vor allem aber die Gerichte, alle mo¨glichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen mu¨ssen, um eine rechtskra¨ftige Entscheidung u¨ber den Anklagevorwurf mit der gebotenen Schnelligkeit herbeizufu¨hren. Das BVerfG spricht in diesem Zusammenhang vom „Gebot der bestmo¨glichen Verfahrensfo¨rderung“31. Das ju¨ngst in diesem Programmbefehl zum Ausdruck kommende Bemu¨hen des ho¨chsten deutschen Gerichts, konkrete Fristen und Vorgaben fu¨r die Verfahrensfu¨hrung in Haftsachen festzuschreiben, hat aber auch Kritiker auf den Plan gerufen, die offen die Frage stellen, ob es sich bei diesen Ausfu¨hrungen tatsa¨chlich noch um spezifisches Verfassungsrecht oder aber um eine Kompetenzu¨berschreitung des Gerichts handelt.32 Schon dieser nationale Zwist u¨ber die Kriterien zur Bestimmung einer

28 EGMR, Cevizovic . / . Deutschland, Urt. v. 29. 7. 2004, § 37, NJW 2005, 3125 = StV 2005, 136 mit Anm. Pauly; Dzelili . / . Deutschland, Urt. v. 10. 11. 2005, StV 2006, 474, § 69. 29 EGMR, Cevizovic (Fn. 28), § 37; W . / . Schweiz, Urt. v. 26. 1. 1993, Serie A Nr. 254-A, § 30; Labita . / . Italien, Urt. v. 6. 4. 2000, Reports 2000-IV, § 152. 30 EGMR, Cevizovic (Fn. 28), § 38; I.A. . / . Frankreich, Urt. v. 23. 9. 1998, § 102; Labita (Fn. 29), § 153. 31 BVerfG, Beschl. v. 29. 12. 2005 (Fn. 6), NJW 2006, 677 (679); OLG Hamm, StV 2006, 481 („gro¨ßtmo¨gliche Beschleunigung“). 32 Vgl. Kuckein, NStZ 2005, 697 (698); Foth, NStZ 2005, 457 (458).

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„Angemessenheit“ der Haftdauer macht deutlich, dass auch Art. 5 III EMRK nur sehr grundsa¨tzliche Vorgaben fu¨r die Begrenzung von Untersuchungshaft liefert. Bei allem Respekt vor der Arbeit des EGMR und den bei der Auslegung der EMRK in den letzten Jahren entwickelten Mindeststandards fu¨r die Anordnung und den Vollzug der Untersuchungshaft, darf nicht u¨bersehen werden, dass die Rechtsprechung des EGMR gerade im Bereich des Haftrechts stets einzelfallbezogen ist und vor allem auf die Kontrolle nationaler Strafverfahren aus der Retrospektive beschra¨nkt ist. Besondere Problemlagen einer grenzu¨berschreitenden Strafverfolgung lassen sich ha¨ufig schon deshalb nicht vollsta¨ndig mit den Garantien der EMRK erfassen, weil diese von den Vertragsstaaten grundsa¨tzlich nur auf das eigene Territorium bezogen zu gewa¨hrleisten sind (Art. 1 EMRK). Die fu¨r die Untersuchungshaft einschla¨gigen Bestimmungen des IPbpR v. 19. 12. 1966 entsprechen weitgehend denen der EMRK. Art. 9 III 2 IPbpR hebt allerdings ausdru¨cklich hervor, dass es nicht die allgemeine Regel sein du¨rfe, dass Personen, die eine gerichtliche Aburteilung erwarten, in Haft gehalten werden – eine Forderung, die sich bereits aus der Unschuldsvermutung (Art. 14 II IPbpR) ableiten la¨sst. ¨ ber den Text der EMRK hinaus geht auch die Aussage, dass Beschuldigte – abgeU sehen von außergewo¨hnlichen Umsta¨nden, von Verurteilten getrennt unterzubringen sind (Trennungsprinzip) und so zu behandeln sind, wie es ihrer Stellung als Nichtverurteilte entspricht (Art. 10 II lit. a IPbpR). Bemerkenswert ist dagegen, dass der IPbpR auf einen abschließenden Katalog zula¨ssiger Haftgru¨nde verzichtet.

IV. Empfehlungen des Ministerkomitees des Europarates Der Europarat in Straßburg hat seit seiner Gru¨ndung im Jahre 1949 regelma¨ßig konkrete Mindeststandards fu¨r die Anordnung und den Vollzug von Straf- und Untersuchungshaft formuliert, die u¨ber den abstrakten Maßstab der EMRK zum Teil deutlich hinausgehen.33 Wesentliche Quelle fu¨r diese Standards sind die an die Mitgliedstaaten gerichteten Empfehlungen des Ministerkomitees34 des Europarates (Recommendations35), die durch die Arbeit des Europa¨ischen Ausschusses fu¨r Strafrechtsfragen (European Committee on Crime Problems, ECCP / DCPC) intensiv vorbereitet werden. 33 Die Empfehlungen sind u ¨ ber die Homepage des Europarates (www.coe.int) in englischer und franzo¨sischer Sprache zuga¨nglich; die bis 2003 angenommenen Empfehlungen zum Strafvollzug und zur Untersuchungshaft sind dokumentiert bei: BMJ u. a. (Hrsg.), Freiheitsentzug – Die Empfehlungen des Europarates 1962 – 2003, Mo¨nchengladbach 2004. 34 Das Ministerkomitee setzt sich aus den Außenministern der Mitgliedsstaaten des Europarates zusammen, die regelma¨ßig (aber nicht zwingend) durch die jeweiligen Sta¨ndigen Diplomatischen Vertreter vertreten werden. Die Recommendations des Ministerkomitees geben daher den politischen Willen der Regierungen der Mitgliedsstaaten wieder; vgl. auch: Jung, JuS 2000, 417 (419). 35 Diese Empfehlungen wurden vom Ministerkomitee urspru ¨ nglich als Entschließungen (Resolutions) bezeichnet.

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Die Untersuchungshaft betreffend, hat das Ministerkomitee zuletzt am 27. 9. 2006 die Empfehlung Rec(2006)13 u¨ber die Anordnung von Untersuchungshaft, der Bedingungen ihres Vollzugs und u¨ber die Einrichtung von Sicherheiten gegen ihre missbra¨uchliche Verwendung36 beschlossen.37 Aussagen und Vorgaben zur Untersuchungshaft enthalten des weiteren die Empfehlungen R(92)16 v. 19. 10. 1992 (Europa¨ische Grundsa¨tze betreffend „community sanctions and measures“), R(99)22 v. 30. 9. 1999 (U¨berbelegung in den Strafanstalten sowie u¨berma¨ßiger Anstieg der Zahl inhaftierter Personen – Anhang Nr. 10 ff.), Rec(2003)20 v. 24. 9. 2003 (Neue Wege im Umgang mit Jugenddelinquenz und der Rolle der Jugendgerichtsbarkeit, Nr. 16 ff.) und Rec(2006)2 v. 11. 1. 2006 – Europa¨ische Strafvollzugsgrundsa¨tze (Anhang Nr. 94 ff.38). Da der Europarat nicht u¨ber Rechtssetzungsbefugnisse verfu¨gt, entfalten die Empfehlungen des Ministerkomitees gegenu¨ber den Mitgliedstaaten des Europarates weder eine vo¨lkerrechtlich verbindliche Rechtswirkung noch begru¨nden sie Rechte oder Pflichten fu¨r die von einer Freiheitsentziehung Betroffenen. Gleichwohl bewirken sie eine nicht zu unterscha¨tzende moralische und rechtspolitische Verpflichtung der Mitgliedstaaten, ihr jeweiliges nationales Recht entsprechend ¨ ber die Spruchpraxis des EGMR ko¨nnen diese Recommendations anzupassen. U sogar eine mittelbare vo¨lkerrechtliche Verbindlichkeit erlangen.39 Rec(2006)13 postuliert mit Nachdruck den generellen Ausnahmecharakter der Untersuchungshaft (Nr. 3.1: „exception rather than the norm“; Nr. 3.2: „not be a mandatory requirement“; Nr. 3.3: „strictly necessary and as a measure of last resort“; Nr. 6: „generally be available only in respect of persons suspected of committing offences that are imprisonable“)40, entha¨lt aber daru¨ber hinaus das ausdru¨ckliche Gebot, weniger eingriffsintensive Maßnahmen in Betracht zu zie36 Recommendation Rec(2006)13 of the Committee of Ministers to member states on the use of remand in custody, the conditions in which it takes place and the provision of safeguards against abuse; adopted on 27 September 2006 at the 974th meeting of the Ministers’ Deputies; siehe hierzu auch das Explanatory Memorandum, CM(2006)122 Addendum v. 30. 8. 2006. 37 Rec(2006)13 lo ¨ st die fru¨heren Empfehlungen zur Untersuchungshaft – Recommendation Rec(80)11 concerning custody pending trial (adopted on 27 June 1980) und Resolution (65)11 on remand in custody (adopted on 9 April 1965) – ab; vgl. BMJ (Fn. 33), S. 33 ff.; 63 ff.; die Texte sind zuga¨nglich u¨ber www.coe.int. 38 Vgl. hierzu: R(87)3 v. 12. 2. 1987 – Europa ¨ ische Strafvollzugsgrundsa¨tze, Anhang Nr. 91 ff. 39 Auch der Europa ¨ ische Anti-Folterausschuss (Committee for the Prevention of Torture – CPT) nimmt auf die Empfehlungen des Ministerkomitees Bezug. Der Ausschuss u¨berpru¨ft regelma¨ßig die Haftbedingungen in Europa auf der Grundlage der Europa¨ischen Konvention zur Verhu¨tung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe v. 26. 11. 1987 (CETS 126). Zur Arbeit des CPT: Lettau, ZfStrVo 2002, 195 ff.; Puhl, NJW 1990, 3057 f. 40 Zum Ausnahmecharakter der U-Haft gegenu ¨ ber Jugendlichen: Rec(2003)20, Nr. 16 ff.

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hen: „In order to avoid inappropriate use of remand in custody the widest possible range of alternative, less restrictive measures relating to the conduct of a suspected offender shall be made available“ (Nr. 4; vgl. auch Nr. 11). Solche Alternativmaßnahmen41 sollen insbesondere die Anordnung von Untersuchungshaft gegenu¨ber – im oben beschriebenen Sinne – „gebietsfremden“ bzw. „nicht-einheimischen“ Beschuldigten beschra¨nken: „Wherever practicable, alternative measures shall be applied in the state where a suspected offender is normally resident if this is not the state in which the offence was allegedly committed“ (Nr. 2.2). Und noch an anderer Stelle will Rec(2006)13 der Ungleichbehandlung „gebietsfremder“ Beschuldigter (s. o.) entgegenwirken: „The fact that the person concerned is not a national of, or has no other links with, the state where the offence is supposed to have been committed shall not in itself be sufficient to conclude that there is a risk of flight“ (Nr. 9.2). Als (weniger eingriffsintensive) Alternativen zur Untersuchungshaft nennt Rec(2006)13 beispielhaft: die Abgabe einer Versicherung (z. B. mit folgendem Inhalt: Erscheinen vor Gericht auf entsprechende Ladung; keine Behinderung der Ermittlungen; Unterlassungserkla¨rungen insbesondere in Bezug auf berufliche Ta¨tigkeiten), bestimmte Auflagen (z. B. Meldeauflagen; Duldung einer beho¨rdli¨ berwachung; Aufenthaltsbestimmungen; Aufenthaltschen oder elektronischen U und Kontaktverbote), die Abgabe von Ausweispapieren sowie die Hinterlegung einer (finanziellen) Sicherheit fu¨r das Erscheinen vor Gericht (Nr. 2.1).42 Neben Vorgaben in Bezug auf die Begru¨ndung von Haftentscheidungen – namentlich in Bezug auf die Annahme spezieller Haftgru¨nde (Nr. 7 – 9), zu den Voraussetzungen und Bedingungen einer gerichtlichen Haftpru¨fung (Nr. 13 – 21), zur Dauer von Untersuchungshaft (Nr. 22 – 24; in Anlehnung an Art. 5 III EMRK), zu weiteren Haftrechten des Beschuldigten (Nr. 25 – 32) sowie zum Vollzug der Haft (Nr. 35 – 44) ist vor dem Hintergrund aktueller Bestrebungen der EU zur Begrenzung von Untersuchungshaft (dazu unter V.) eine Bestimmung von besonderem Interesse: Ein Verstoß gegen die Bedingungen einer Alternativ41 Vgl. auch die zur Reduzierung der Jugendkriminalita ¨ t vorgeschlagenen Alternativmaßnahmen: Rec(2003)20, Nr. 7 ff. 42 Rec(2006)13 Nr. 2.1: „Alternative measures to remand in custody may include, for example: undertakings to appear before a judicial authority as and when required, not to interfere with the course of justice and not to engage in particular conduct, including that involved in a profession or particular employment; requirements to report on a daily or periodic basis to a judicial authority, the police or other authority; requirements to accept supervision by an agency appointed by the judicial authority; requirements to submit to electronic monitoring; requirements to reside at a specified address, with or without conditions as to the hours to be spent there; requirements not to leave or enter specified places or districts without authorisation; requirements not to meet specified persons without authorisation; requirements to surrender passports or other identification papers; requirements to provide or secure financial or other forms of guarantees as to conduct pending trial.“

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maßnahme kann sanktioniert werden; dies soll aber nicht zwingend und automatisch zur Anordnung von Untersuchungshaft fu¨hren, sondern erst nach eingehender Pru¨fung des Falles (Nr. 12).43 V. Strafverfahrensrechtliche Initiativen der Europa¨ischen Union zur Begrenzung der Untersuchungshaft Eine der zentralen Perspektiven der Europa¨ischen Union ist die Schaffung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (Art. 29 EU). Dieses Ziel verfolgt die Union auf dem Gebiet des Strafverfahrensrechts mit unterschiedlichen Maximen: Assimilierung, Anweisung, Harmonisierung, Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung.44 Im Zusammenhang mit Freiheitsentziehungen im Ermittlungsverfahren ist ju¨ngst der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung in den Mittelpunkt der Betrachtung geru¨ckt. 1. Haager Programm – Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung Die Kommission hat am 29. 8. 2006 den Vorschlag fu¨r einen Rahmenbeschluss des Rates u¨ber die Europa¨ische U¨berwachungsanordnung in Ermittlungsverfahren innerhalb der Europa¨ischen Union angenommen.45 Sie stu¨tzt ihr Vorhaben politisch auf das am 29. 11. 2000 beschlossene Maßnahmenprogramm des Rates zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen46. ¨ A geho¨rt zum sog. Die Initiative der Kommission zur Schaffung einer EuU Haager Programm47 und steht in unmittelbarem Zusammenhang mit weiteren 43 Rec(2006)13 Nr. 12: „A breach of alternative measures may be subject to a sanction but shall not automatically justify subjecting someone to remand in custody. In such cases the replacement of alternative measures by remand in custody shall require specific motivation.“ 44 Vgl. hierzu: Hecker, Europa ¨ isches Strafrecht, 2005, §§ 7, 8, 11, 12; Satzger, Internationales und Europa¨isches Strafrecht, 2005, § 8; Ambos, Internationales Strafrecht, 2006, § 11. 45 KOM (2006) 468 endg.; Ratsdok. 12367 / 06; im Folgenden: RB-EuU ¨ A; vgl. auch die Unterrichtung des Bundesrates durch die Bundesregierung (BR-Drucks 654 / 06). Bereits am 17. 8. 2004 hatte die Kommission ein Gru¨nbuch u¨ber die gegenseitige Anerkennung von U¨berwachungsmaßnahmen ohne Freiheitsentzug im Ermittlungsverfahren, KOM (2004) 562 endg., vorgelegt, das als Diskussionsgrundlage fu¨r den RB-Vorschlag diente. 46 ABl. EG Nr. C 12 / 10 v. 15. 1. 2001 (Nr. 10). 47 Haager Programm zur Sta ¨ rkung von Freiheit, Sicherheit und Recht in der Europa¨ischen Union v. 4. / 5. 11. 2004, ABl. EU Nr. C 53 / 1 v. 3. 3. 2005; Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europa¨ische Parlament – Das Haager Programm: Zehn Priorita¨ten fu¨r die na¨chsten fu¨nf Jahre, KOM (2005) 184 endg., Anhang – Liste der Vorhaben mit Zeitplan, Nr. 283.

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Vorhaben der Union zur Harmonisierung des Strafverfahrensrechts48, zur Verbesserung der grenzu¨berschreitenden polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit49 sowie zur Umsetzung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung.50 Bemerkenswert ist allerdings, dass der schon auf dem EU-Sondergipfel von Tampere (1999) als Eckpfeiler der Justizpolitik beschlossene Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung justizieller Entscheidungen („principle of mutual recognition of decisions“)51 endlich auch strafrechtslimitierend auf der Ebene der Beschuldigtenrechte zur Geltung kommen soll. Die bislang auf der Grundlage dieses Prinzips von der Union angenommenen Rechtsinstrumente hatten dagegen ausschließlich die Verbesserung der grenzu¨berschreitenden Strafverfolgung zum Gegenstand52, was den strafrechtlichen Initiativen in der Dritten Sa¨ule insgesamt – in gewissem Grade und zumindest von der Reihenfolge der Herangehensweise her betrachtet sicherlich zu Recht – den Vorwurf der „Punitivita¨t“ eingebracht hat.53 2. Rechtsgrundlage und Subsidiarita¨tsprinzip Die rechtliche Grundlage fu¨r den geplanten Rahmenbeschluss bilden Art. 29 II, 31 I lit. c, 34 II 2 lit. b EU. Maßnahmen mit dem Ziel, die Anordnung von Untersuchungshaft gegenu¨ber Beschuldigten, die keinen Wohnsitz im Verfolgerstaat 48 Vorschlag der Kommission v. 28. 4. 2004 fu ¨ r einen Rahmenbeschluss des Rates u¨ber bestimmte Verfahrensrechte in Strafverfahren innerhalb der Europa¨ischen Union, KOM (2004) 328 endg.; Gru¨nbuch der Kommission – Verfahrensgarantien in Strafverfahren innerhalb der Europa¨ischen Union v. 19. 2. 2003, KOM (2003) 75 endg. 49 Beschluss 2005 / 876 / JI des Rates u ¨ ber den Austausch von Informationen aus dem Strafregister (ABl. EU Nr. L 322 / 33 v. 9. 12. 2005); Vorschlag der Kommission v. 12. 10. 2005 fu¨r einen Rahmenbeschluss des Rates u¨ber den Austausch von Informationen nach dem Grundsatz der Verfu¨gbarkeit, KOM (2005) 490 endg. 50 Mitteilung der Kommission an den Rat und an das Europa ¨ ische Parlament v. 19. 5. 2005 – Mitteilung zur gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen und zur Sta¨rkung des Vertrauens der Mitgliedstaaten untereinander, KOM (2005) 195 endg. 51 Nr. 33 ff. der Schlussfolgerungen des Vorsitzes (zuga ¨ nglich u¨ber www.consilium. europa.eu); vgl. auch: Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europa¨ische Parlament v. 2. 6. 2004: Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts: Bilanz des Tampere-Programms und Perspektiven, KOM (2004) 401 endg. 52 Rahmenbeschluss 2005 / 214 / JI des Rates vom 24. 2. 2005 u ¨ ber die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen, ABl. EU Nr. L 76 / 16 v. 22. 3. 2005; Rahmenbeschluss 2005 / 212 / JI des Rates v. 24. 2. 2005 u¨ber die Einziehung von Ertra¨gen, Tatwerkzeugen und Vermo¨gensgegensta¨nden aus Straftaten, ABl. EU Nr. L 68 / 49 v. 15. 3. 2005; Rahmenbeschluss 2003 / 577 / JI des Rates v. 22. 7. 2003 u¨ber die Vollstreckung von Entscheidungen u¨ber die Sicherstellung von Vermo¨gensgegensta¨nden oder Beweismitteln in der Europa¨ischen Union, ABl. EU Nr. L 196 / 45 v. 2. 8. 2003; Rahmenbeschluss des Rates vom 13. 6. 2002 u¨ber den Euro¨ bergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten – ABl. pa¨ischen Haftbefehl und die U EG Nr. L 190 / 1 v. 18. 7. 2002. 53 Siehe: Schu¨nemann, GA 2004, 193 (197, 202 f.: „europaweite Exekutierbarkeit der jeweils punitivsten Strafrechtsordnung“).

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haben, weitestgehend zu vermeiden, wird man als die Vereinbarkeit der jeweils geltenden Vorschriften der Mitgliedstaaten untereinander betreffend (Art. 31 I lit. c EU) ansehen ko¨nnen.54 Eine daru¨ber hinausgehende Kompetenz zur Harmonisierung grundlegender Fragestellungen der Untersuchungshaft (z. B. Anordnungsvoraussetzungen, Kriterien fu¨r die Angemessenheit der Haftdauer; Standards fu¨r die gerichtliche Haftpru¨fung und den Haftvollzug), hat die Union nur, soweit diesen Fragestellungen der Art. 29 ff. EU immanente und alle Maßnahmen innerhalb der Dritten Sa¨ule pra¨gende staatenu¨bergreifende Charakter zugeschrieben werden kann. Die Kommission interpretiert die von Art. 31 I lit. c EU geforderte „Vereinbarkeit“ der nationalen Rechtsvorschriften u¨beraus weit – unter Berufung auf den von der Union angestrebten gemeinsamen „Rechtsraum“, in dem die Bu¨rger der Union auf „gleichwertige“ Verfahrensstandards „vertrauen“ du¨rfen sollen.55 Das nicht nur fu¨r die Gemeinschaft (Art. 5 EG) sondern auch fu¨r die Union geltende Subsidiarita¨tsprinzips (vgl. Art. 2 II; 31 I lit. c EU: „soweit . . . erforderlich“) setzt einer solch weiten Auslegung freilich Grenzen. Beim geplanten ¨ A sind diese aber ganz sicher eingehalten. Unabha¨ngig von dieser komRB-EuU petenzrechtlichen Problematik du¨rfte es sinnvoll sein, eine Harmonisierung zentraler strafprozessualer Rechtsfragen zuna¨chst auf der Ebene des Europarates zu betreiben – fu¨r eine gegenu¨ber der EU kriminalgeographisch gro¨ßere Gruppe von derzeit 46 europa¨ischen Staaten. An der Notwendigkeit einer Initiative zur Vermeidung von Untersuchungshaft gegenu¨ber „gebietsfremden“ Beschuldigten auf Unionsebene ko¨nnte man – wiederum unter dem Gesichtspunkt des Subsidiarita¨tsprinzips56 – insofern zweifeln, als bereits heute auf nationaler Ebene – in Auspra¨gung des Verha¨ltnisma¨ßigkeitsgrundsatzes – durchaus weniger eingriffsintensive Alternativen zur Untersuchungshaft zur Verfu¨gung stehen.57 Diese ko¨nnen jedoch vielfach nicht grenzu¨berschreitend umgesetzt werden, da den entsprechenden Entscheidungen nationaler Gerichte (z. B. Meldeauflagen oder die Festsetzung sonstiger Verhal54 Vgl. zur Auslegung des Art. 31 I lit. c EU: Callies / Ruffert, Kommentar EUV / EGV, 2. Aufl. 2002, Art. 31 EU-Vertrag, Rn. 7; Streinz / Satzger, EUV / EGV-Kommentar, 2003, Art. 31 EUV Rn. 10. 55 Vgl. Gru ¨ nbuch der Kommission zur Unschuldsvermutung v. 26. 4. 2006, KOM (2006), 174 endg., S. 3. Die Kommission plant auf dieser Linie fu¨r 2007 eine Studie zu verfahrensrechtlichen Mindestnormen fu¨r Verfahren zur Untersuchungshaft. 56 Vgl. Art. 31 I lit. c EU: „soweit dies zur Verbesserung dieser Zusammenarbeit erforderlich ist“. 57 Nach deutschem Recht besteht die Mo ¨ glichkeit, den Vollzug des Haftbefehls auszusetzen und dem Beschuldigten statt dessen verfahrenssichernde Anweisungen zu erteilen, §§ 116 I 2, II 2, III; 116a StPO; hierzu: Schlothauer / Weider (Fn. 10), Rn. 560 ff., 612 ff.; Ranft, Strafprozessrecht, 3. Aufl. 2005, Rn. 637 ff.; siehe auch die in § 132 StPO vorgesehene Hinterlegung einer Sicherheitsleistung nebst Zustellungsbevollma¨chtigung, wenn nur die Verha¨ngung einer Geldstrafe in Betracht kommt und die Voraussetzungen eines Haftbefehls nicht vorliegen; nach h. M. setzt diese Vorschrift allerdings die Anwesenheit des Beschuldigten im Bundesgebiet voraus; vgl. Schmidt (Fn. 15), Rn. 305.

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tensgebote) die Anerkennung und Vollstreckung im Ausland oftmals versagt bleibt. Kehrt der Beschuldigte also in seinen Wohnsitzstaat zuru¨ck, so la¨uft der Verfolgerstaat Gefahr, das eingeleitete Strafverfahren nicht erfolgreich zu Ende fu¨hren zu ko¨nnen. Auch die Anordnung einer Sicherheitsleistung (Kaution)58, gegen die unter Gleichheitsgesichtspunkten („Privilegierung Wohlhabender“) seit jeher Bedenken vorgebracht werden, stellt oftmals keine hinreichende Sicherheit fu¨r den Verfolgerstaat dar, dass ein im Inland Wohnsitzloser tatsa¨chlich aus dem Ausland zur Durchfu¨hrung des Strafverfahrens zuru¨ckkehrt. Die Kommission will mit ihrer Initiative sicherstellen, dass die Strafverfolgung gegen im Ausland lebende Beschuldigte so weit wie mo¨glich durch nicht-frei¨ berwachungsmaßnahmen gewa¨hrleistet wird, vor allem aber, heitsentziehende U dass die Anordnung von Untersuchungshaft auch und gerade gegenu¨ber „gebietsfremden“ Beschuldigten eine außergewo¨hnliche, in jedem Einzelfall rechtfertigungsbedu¨rftige Maßnahme bleibt. Der geplante Rechtsakt soll die derzeit fehlende gegenseitige Anerkennung nationaler gerichtlicher Entscheidungen zur ¨ berwachung des Beschuldigten in den u¨brigen Mitnicht-freiheitsentziehenden U gliedstaaten der Union sicherstellen und dazu beitragen, die Zahl „nicht-einheimischer“ bzw. „gebietsfremder“ Untersuchungsha¨ftlinge zu verringern.59 Mit Hilfe ¨ berwachungsanordnung (EuU ¨ A) will die Kommission also in der Europa¨ischen U erster Linie die derzeit vorhandene Ungleichbehandlung von Beschuldigten in Bezug auf die Anordnung von Untersuchungshaft beseitigen, daneben aber auch einen effektiven Beitrag zur Entlastung der Haftanstalten leisten. 3. U¨berwachung des Beschuldigten im Wohnsitzstaat auf der Grundlage einer Europa¨ischen U¨berwachungsanordnung Zentraler Bestandteil des geplanten Rahmenbeschlusses ist die sog. Europa¨i¨ berwachungsanordnung (EuU ¨ A; European Supervision Order). Personen, sche U die in einem Mitgliedstaat der Union einer Straftat verda¨chtigt werden, ko¨nnen ¨ A bis zum Beginn der Hauptverhandlung in auf der Grundlage einer solchen EuU ihren Wohnsitzmitgliedstaat zuru¨ckzukehren. Sie unterliegen dann dort einer staatlichen Aufsicht, statt in dem die Strafverfolgung betreibenden Mitgliedstaat ¨ berwachungsmaßnahmen unterin Untersuchungshaft genommen oder anderen U stellt zu werden.60 Die Justizbeho¨rden des Mitgliedstaates, in dem die dem Beschuldigten zur Last gelegte Straftat begangen wurde (Anordnungsstaat), erhalten die Mo¨glichkeit, 58

Vgl. im Einzelnen: Schlothauer / Weider (Fn. 10), Rn. 575 ff. ¨ A. Siehe Nr. 4 der Erwa¨gungen fu¨r den geplanten RB-EuU 60 Von diesem Vorschlag wa ¨ ren nach Scha¨tzung der Kommission rund 8.000 Personen betroffen: Europa¨ische Kommission, MEMO / 06 / 314 v. 29. 8. 2006, S. 5. 59

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¨ berwachungsmaßnahmen wa¨hrend des noch laufenden Ermittlungsverfahrens U ohne Freiheitsentzug auf den Staat zu u¨bertragen, in dem der Beschuldigte seinen gewo¨hnlichen Aufenthalt hat (Vollstreckungsstaat). Die zusta¨ndigen Beho¨rden ¨ A), die dieses Wohnsitzstaates wa¨ren dann prinzipiell verpflichtet (Art. 9 RB-EuU ¨ ¨ vom Anordnungsstaat in der EuUA festgelegten Uberwachungsmaßnahmen anzuerkennen und zu vollstrecken – mit Ausnahme einiger weniger Ablehnungsgru¨nde ¨ A)61. Auf diese Weise ko¨nnte der Beschuldigte bis zum Beginn (Art. 10 RB-EuU der Hauptverhandlung im Anordnungs- / Verfolgungsstaat in seiner vertrauten Umgebung unter Aufsicht gestellt werden. Die Pla¨ne der Kommission entsprechen zwar im Kern durchaus dem Prinzip der Unschuldsvermutung und dem Anspruch des Beschuldigten auf Haftverschonung (Art. 5 III EMRK). Das Prozedere von Anordnung und Vollstreckung einer ¨ A bedarf freilich genauerer Betrachtung. EuU ¨ A soll es sich um die Entscheidung einer mitgliedstaatlichen JusBei der EuU tizbeho¨rde handeln, die der Anerkennung durch die zusta¨ndigen Beho¨rden der anderen Mitgliedstaaten bedarf. Als „Anordnungsbeho¨rde“ sind neben (Ermitt¨ A). Soweit lungs-)Richtern auch Staatsanwa¨lte vorgesehen (Art. 2 lit. c RB-EuU ¨ berwachungsmaßnahmen lediglich die im Wohnsitzstaat zu vollstreckenden U nicht-freiheitsentziehenden Charakter haben, ergeben sich aus der staatsanwaltschaftlichen Anordnungskompetenz in Hinblick auf das Richterprivileg bei Freiheitsentziehungen (vgl. Art. 104 I GG; Art. 5 III 1 EMRK) keine Probleme. Die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 5 I EMRK zeigt aber, dass der Begriff „Freiheitsentziehung“ durchaus nicht eng geschweige denn starr zu verstehen ist.62 Darauf ist insbesondere bei der Anordnung von Aufenthaltsbeschra¨nkungen („Hausarrest“) zu achten. Nicht unproblematisch ist in diesem Zusammenhang die Auflage, sich bestimmter Aktivita¨ten einschließlich bestimmter Berufe oder Bescha¨ftigungen zu ¨ A). Diese Auflage kommt einem vorla¨ufigen enthalten (Art. 6 II lit. g RB-EuU Berufsverbot sehr nahe, dass wegen seiner erheblichen Konsequenzen nach deutschem Recht nur durch den Richter angeordnet werden kann (§ 132a StPO). Eine ¨ A ko¨nnte also theoretisch zur Folge haben, dass deutsche Beho¨rden ein durch EuU die Staatsanwaltschaft eines anderen Mitgliedstaates angeordnetes vorla¨ufiges

61 Obligatorisch: ne bis in idem (Art. 10 I RB-EuU ¨ A); fakultativ: fehlende Strafmu¨ndigkeit im Vollstreckungsstaat; Immunita¨t oder sonstiges Vorrecht; Amnestie im Voll¨ A); Ru¨cku¨berstellung verurteilter Angeho¨riger des streckungsstaat (Art. 10 II RB-EuU ¨ A). Vollstreckungsstaates (Art. 11 RB-EuU 62 EGMR, Guzzardi (Fn. 23); Amuur . / . Frankreich, Urt. v. 20. 5. 1996, Reports 1996-III; dagegen: Raimondo . / . Italien, Urt. v. 22. 2. 1994 (Hausarrest als Freiheitsbeschra¨nkung iSv Art. 2 des 4. ZP zur EMRK); vgl. hierzu: Esser (Fn. 21), S. 199 ff.; Do¨rr (Fn. 24), Kap. 13, Rn. 121 ff.; Ovey / White, Jacobs and White, The European Convention on Human Rights, 4thd ed., Oxford 2006, S. 123 ff.

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Berufsverbot vollstrecken mu¨ssten, was kaum mit dem ordre public vereinbar scheint. ¨ A liegt ein Optionsmodell zugrunde. Die justiziellen Dem geplanten RB-EuU ¨ A nicht verStellen des Anordnungsstaates wa¨ren demnach zum Erlass einer EuU pflichtet. Umgekehrt ha¨tte ein Beschuldigter mit einem Wohnsitz im Ausland auch keinen Anspruch darauf, dass der Verfolgerstaat von der Mo¨glichkeit einer ¨ berwachungsanordnung Gebrauch macht. Dass den justiziellen Stellen hinsichtU ¨ A und damit auch fu¨r deren Einsatz insgelich der Erfolgsaussichten einer EuU samt ein gewisser – und praktisch auch kaum justiziabler – Beurteilungsspielraum verbleiben muss, liegt auf der Hand. Andererseits erscheint es aber geboten, die Unschuldsvermutung und den Verha¨ltnisma¨ßigkeitsgrundsatz im Text des RB¨ A – und nicht nur in den Begru¨ndungen der Kommission63 – sta¨rker zum EuU ¨A Ausdruck zu bringen, d. h. die Mitgliedsstaaten formal zum Erlass einer EuU anstelle einer Untersuchungshaft zu verpflichten, wenn diese eine Anwesenheit des Beschuldigten in der Hauptverhandlung hinreichend sicher gewa¨hrleistet. ¨ A, die a¨hnlich wie ein EuHb als europaweit einheitliches und direkt In der EuU ¨ A), kann der Anordzu u¨bermittelndes Formblatt konzipiert ist (Art. 7, 8 RB-EuU nungsstaat Auflagen und Maßnahmen festlegen sowie Weisungen aussprechen, mit denen im Wesentlichen den in allen europa¨ischen Strafrechtsordnungen bekannten Haftgru¨nden – Fluchtgefahr, Verdunklungsgefahr, Wiederholungsgefahr – und den ihnen zugrundeliegenden Risiken fu¨r den ordnungsgema¨ßen Ablauf des Strafverfahrens entgegengewirkt werden soll. Meldepflichten, Reise-, Aufenthalts- und Ausgehverbote, die Verpflichtung, eine ladungsfa¨hige Anschrift zu hinterlassen, ebenso wie die Anordnung eines (auf die Freizeit beschra¨nkten) Haus¨ A geho¨ren. Einen arrestes werden sicherlich zu den Standardauflagen einer EuU ¨ abschließenden Katalog mo¨glicher Auflagen soll der RB-EuUA nicht enthalten; ¨ A genannten Auflagen sollen fakultativ sein. die meisten der in Art. 6 RB-EuU Nur die Auflage, „sich fu¨r die Entgegennahme der Ladung zur Gerichtsverhandlung zur Verfu¨gung zu halten und vor Gericht zu erscheinen, wenn er vorgeladen ¨ A), ist obligatorisch und damit notwendiger Bestandteil wird“ (Art. 6 I 1 RB-EuU ¨ jeder EuUA. Die Kommission befu¨rwortet aber auch eher pauschale Auflagen und Verbote, wie etwa, „die Behinderung der Justiz“ oder „das Begehen einer Straftat“ (Art. 6 ¨ A) zu unterlassen. Bedenkt man die Konsequenzen, die der BeschulI 2 RB-EuU ¨ A zu befu¨rchten hat (Festnahme digte im Falle eines Verstoßes gegen eine EuU ¨ und Uberstellung; dazu sogleich), so sind in jedem Fall hinreichend bestimmte Auflagen zu verlangen, aus denen der Beschuldigte klar und eindeutig erkennen kann, welches konkrete Verhalten von ihm erwartet wird bzw. ihm untersagt ist. Sowohl inhaltlich als auch in ihrer sprachlichen Formulierung mu¨ssen die Aufla63

Vgl. KOM (2006) 468 endg., S. 9.

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¨ A zudem mit der Unschuldsvermutung64 vereinbar sein. Erhebligen in einer EuU che Brisanz birgt daher die an den Beschuldigten gerichtete Auflage, sich einer ¨ A). bestimmten a¨rztlichen Behandlung zu unterziehen (Art. 6 II lit. h RB-EuU Zwangsweise verordnete a¨rztliche Behandlungseingriffe in die ko¨rperliche Integrita¨t des Beschuldigten ohne jeden Bezug zum strafprozessualen Ermittlungsverfahren sind in diesem Stadium des Strafverfahrens nicht zu rechtfertigen – und sei es auch, dass der Beschuldigte damit eine Inhaftierung umgehen kann. ¨ A festgesetzten Auflagen du¨rfen außerdem keine in der Praxis Die in einer EuU unerfu¨llbaren Anforderungen an den Beschuldigten stellen. Ein solcher Fall ko¨nnte eintreten, wenn einem mittellosen Beschuldigten aufgegeben wird, „die Kosten fu¨r seine U¨berstellung zu einer Vorverhandlung oder zur Hauptverhand¨ A) – eine Auflage, die in Zeiten audiolung zu erstatten“ (Art. 6 I 3 lit. c RB-EuU visueller Vernehmungstechniken – zumindest in Bezug auf Vorverhandlungen – ohnehin kaum mehr zur Anwendung kommen sollte. ¨ berwachung Nicht u¨bersehen werden darf in diesem Zusammenhang, dass die U ¨ A festgelegten des Beschuldigten, sprich die Kontrolle, ob dieser die in der EuU Auflagen erfu¨llt, fu¨r den Vollstreckungs- / Wohnsitzstaat regelma¨ßig mit einer erheblichen personellen und finanziellen Mehrbelastung verbunden sein wird. Aus diesem Grund bedu¨rfen sa¨mtliche Auflagen, die eine Mitwirkung der Vollstreckungsbeho¨rden im Wohnsitzstaat des Beschuldigten erfordern, deren Zustim¨ A). Der Vollstreckungsstaat kann außerdem Weisungen mung (Art. 6 II RB-EuU und Auflagen aba¨ndern, soweit dies fu¨r die Vollstreckung zwingend erforderlich ¨ A). ist (Art. 6 IV RB-EuU 4. Festnahme und U¨berstellung bei Verstoß gegen die EuU¨A Um zu gewa¨hrleisten, dass sich der Beschuldigte nicht der Justiz entzieht, schla¨gt die Kommission – als letztes Mittel – ein besonderes Verfahren vor, das ¨ berstellung eines sich den Anordnungen widersetzenden Bedie zwangsweise U ¨ berlegunschuldigten an den Verhandlungsstaat ermo¨glicht. Ausgangspunkt der U ¨ bergen ist, dass die Verantwortlichkeit fu¨r die nicht-freiheitsentziehende U wachung des Beschuldigten bei den Beho¨rden und Gerichten des Wohnsitz- / Vollstreckungsstaates la¨ge. Diese mu¨ssten die zusta¨ndigen Stellen des Anordnungsstaates u¨ber sa¨mtliche Versto¨ße des Beschuldigten gegen die in der ¨ A enthaltenen Auflagen informieren (Art. 16 RB-EuU ¨ A). Ein Beschuldigter, EuU ¨ A nicht Folge leistet, riskiert eine Festnahme durch der den Auflagen einer EuU die Beho¨rden des Vollstreckungsstaates65 und – nach Gewa¨hrung rechtlichen Ge64 Siehe hierzu das Gru ¨ nbuch zur Unschuldsvermutung vom 26. 4. 2006, KOM (2006) 174 endg. 65 U ¨ ber die Folgen eines Verstoßes gegen die in einer EuU ¨ A enthaltenen Auflagen und Weisungen soll der Beschuldigte vor deren Erlass belehrt werden (Art. 5 RB¨ A). EuU

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¨ A)66 – ho¨rs, u.U. in Form einer audiovisuellen Anho¨rung (Art. 17 IV RB-EuU ¨ seine Uberstellung an den Anordnungsstaat, der dann eine Untersuchungshaft ent¨ A) anordnen sprechend seiner nationalen Vorschriften (vgl. Art. 17 I lit. c RB-EuU und vollziehen kann. Nach dem Vorschlag der Kommission wa¨re der Vollstreckungsstaat grundsa¨tz¨ berstellung des Beschuldigten verpflichtet – von lich zu einer Festnahme und U ¨ A). Die Kommission wenigen Ausnahmen abgesehen (Art. 17 III, 18 III RB-EuU ist offenbar der Meinung, nur mit diesem „zwei-stufigen“ Modell die erforder¨ A zu erreichen (vgl. liche Zustimmung aller 25 EU-Mitgliedstaaten zur EuU ¨ A zu sanktionieren, Art. 34 II 2 EU). Die Mo¨glichkeit, Versto¨ße gegen die EuU entspricht durchaus auch den Empfehlungen des Europarates. Allerdings sieht Rec(2006)1367 Nr. 12 ausdru¨cklich vor: „A breach of alternative measures may be subject to a sanction but shall not automatically justify subjecting someone to remand in custody. In such cases the replacement of alternative measures by remand in custody shall require specific motivation.“ Eine automatisch mit dem Pflichtverstoß verbundene Untersuchungshaft ko¨nnte der Beschuldigte als eine Art Bestrafung empfinden. Dem stu¨nde der Gedanke entgegen, dass eine Untersuchungshaft generell nicht als Mittel der Bestrafung missbraucht oder zur Sanktio¨ A vernierung eines Fehlverhaltens eingesetzt werden sollte.68 Art. 17 II RB-EuU pflichtet daher die Anordnungsbeho¨rde ausdru¨cklich zur umfassenden Wu¨rdigung ¨ A voraller fallrelevanten Umsta¨nde, bevor sie von einer der in Art. 17 I RB-EuU gesehenen Optionen Gebrauch macht. Gerade zur Vorbereitung dieser Entscheidung ist die bereits erwa¨hnte obligatorische (audiovisuelle) Anho¨rung des Be¨ A). schuldigten vorgesehen (Art. 17 IV RB-EuU Schon vor dem Hintergrund des Art. 5 III 1 EMRK („unverzu¨gliche Vorfu¨h¨ A fu¨r die U ¨ berstellung des Beschuldigten an rung“) sind im geplanten RB-EuU die zusta¨ndige gerichtliche Stelle im Verfolgerstaat enge Fristen vorgesehen ¨ A). Ko¨nnen diese im Einzelfall nicht eingehalten werden, muss (Art. 12 RB-EuU die Vorfu¨hrung des Festgenommenen iSv Art. 5 III 1 EMRK und die anschließende gerichtliche Pru¨fung der Inhaftierung noch im Vollstreckungsstaat geschehen, der allerdings regelma¨ßig nicht u¨ber die fu¨r das Haftpru¨fungsverfahren erfor-

66 Vgl. Art. 10 des U ¨ bereinkommens – gema¨ß Art. 34 des Vertrags u¨ber die Europa¨ische Union – u¨ber die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Euro¨ bk), ABl. EG Nr. C 197 / 1 v. 12. 7. 2000, BGBl. pa¨ischen Union v. 29. 5. 2000 (EURhU ¨ bereinkommen vom 29. 5. 2000 u¨ber die 2003 II, 582; Gesetz v. 22. 7. 2005 zu dem U Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europa¨ischen Union ¨ bereinkommens v. (BGBl. 2005 II, 650); Gesetz v. 22. 7. 2005 zur Umsetzung des U 29. 5. 2000 u¨ber die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europa¨ischen Union (BGBl. 2005 I, 2189). 67 Siehe oben unter IV. 68 Vgl. Rec(2006)13, Nr. 3 III aE; Rec(2003)20, Nr. 17; vgl. auch: R(92)16, 3.10, Grundsatz / Rule 10.

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derlichen Unterlagen verfu¨gen wird. Als Alternative bleibt dann nur die Freilassung des Beschuldigten. 5. Die EuU¨A als „kleiner“ Europa¨ischer Haftbefehl? ¨ A stellt bei genauerer BeDer zweite Teil des Kommissionsvorschlags zur EuU ¨ bertrachtung durchaus eine Erga¨nzung des in Art. 9 ff. RB-EuHb vorgesehenen U ¨ A geplanten U ¨ berstellungsgabeverfahrens dar. So werden von dem im RB-EuU verfahren auch und gerade Fa¨lle minder schwerer Kriminalita¨t erfasst, bei denen ¨ berstellung des Beschuldigten auf der Grundlage eines Euroder Erlass und die U pa¨ischen Haftbefehls wegen einer zu geringen Strafandrohung bzw. ausgeurteilten Strafho¨he (vgl. Art. 2 I RB-EuHb69) nicht in Betracht kommt.70 Vor diesem Hin¨ A den Vorwurf machen, dass sie in Wahrheit so ettergrund ko¨nnte man der EuU was wie ein „kleiner“ Europa¨ischer Haftbefehl ist und dass in ihr letztlich doch die bisher tendenziell „punitive“ Grundhaltung des EU-Strafrechts zum Ausdruck kommt. ¨ A durch den Verfolgerstaat nicht an Dafu¨r spra¨che, dass der Erlass einer EuU die Voraussetzungen einer nach nationalem Recht zula¨ssigen Untersuchungshaft ¨ A die zwangsweise Vergebunden ist; d. h. der Verfolgerstaat kann u¨ber eine EuU bringung des Beschuldigten auf sein Territorium auch dann sicherstellen, wenn er nach innerstaatlichem Recht eine Untersuchungshaft – z. B. mangels Schwere der Tat oder wegen einer zu geringen Straferwartung – (zuna¨chst) nicht anordnen ko¨nnte. Allerdings ist der Anordnungsstaat bei der Frage, wie er auf einen Verstoß ¨ A reagieren soll, grundsa¨tzlich an des Beschuldigten gegen eine Auflage der EuU das eigene nationale Recht – sprich an die dortigen Voraussetzungen fu¨r die An¨ A). ordnung von Untersuchungshaft – gebunden (vgl. Art. 17 I lit. c RB-EuU ¨ A weicht diese Anbindung an das nationale Recht des AnArt. 17 I lit. d RB-EuU ordnungsstaates dagegen wieder deutlich auf und sollte daher gestrichen werden. ¨ A unterliegende Beschuldigte es durch die Hinzu kommt, dass der einer EuU Befolgung der in der Anordnung festgelegten Auflagen und Weisungen selbst in der Hand hat, eine Freiheitsentziehung zu vermeiden. Um dem Eindruck entge¨ A neben dem vorrangig intendierten Schutz der Freigenzutreten, dass die EuU heitsrechte auch einen die grenzu¨berschreitende Strafverfolgung verbessernden Charakter erha¨lt, sollte es allerdings dem Anordnungsstaat von vornherein unter¨ A scha¨rfere Auflagen und U ¨ berwachungsmaßnahsagt sein, mit Hilfe einer EuU 69 Rahmenbeschluss des Rates vom 13. 6. 2002 u ¨ ber den Europa¨ischen Haftbefehl ¨ bergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten, ABl. EG Nr. L 190 / 1 v. und die U 18. 7. 2002. 70 In Fa ¨ llen, die vom Schweregrad her von der Regelungsmaterie des EuHb erfasst sind, du¨rfte ein Verzicht des Verfolgerstaates auf die Anordnung einer Untersuchungshaft ¨ A sowie Erwa¨gung Nr. 6 selten in Betracht kommen; vgl. Art. 15 Satz 1 lit. a RB-EuU ¨ A. zum RB-EuU

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men festzusetzen als dies nach dem jeweiligen nationalen Recht mo¨glich ist. Dies wa¨re auf der Grundlage des Kommissionsvorschlags u¨ber die in Art. 13 RB¨ A getroffene Regelung zum Rechtsschutz gegen die EuU ¨ A nur formal geEuU wa¨hrleistet („nach Maßgabe des Rechts des Anordnungsstaates dieselben Rechte in Bezug auf die U¨berpru¨fung der EuU¨A“)71 und sollte daher klarer im endgu¨ltigen Rechtstext zum Ausdruck kommen. VI. Schlussbetrachtung ¨ A vom 29. 8. 2006 entha¨lt ein Der Vorschlag der Kommission fu¨r einen RB-EuU interessantes Modell zur Vermeidung von Untersuchungshaft, dessen Erfolg in der Praxis aber ganz wesentlich von der Zusammenarbeit zwischen Anordnungs- und Vollstreckungsstaat abha¨ngen wird. Im Gegensatz zum Europarat verfu¨gt die EU mit dem Rahmenbeschluss (Art. 34 II 2 lit. b EU) u¨ber das erforderliche rechtliche Instrumentarium, um verbindliche Vorgaben fu¨r die Anordnung der Untersuchungshaft und deren Vollzug in den derzeit insgesamt 25 Mitgliedstaaten der Union festzuschreiben – in den Grenzen des Art. 31 I lit. c EU.72 Die Arbeiten des Europarates bleiben ein wichtiges Argumentationspotential, auf das auch die Union bei ihren strafrechtlichen Initiativen zuru¨ckgreifen kann. ¨ A geplante grenzu¨berschreitende Sicherung alternativer Die durch die EuU Maßnahmen zur Untersuchungshaft bedarf der Erga¨nzung durch Maßnahmen zur Durchsetzung des Prinzips der stellvertretenden Strafverfolgung. Es macht wenig Sinn, einen im Rechtssystem seines Wohnsitzstaates verwurzelten Beschuldigten in einen anderen Staat zu u¨berstellen bzw. seine freiwillige Ru¨ckkehr dorthin durch Sanktionsmechanismen abzusichern, wenn das Strafverfahren ebenso effektiv im Wohnsitzstaat gefu¨hrt werden kann. Freilich eignen sich nicht sa¨mtliche ¨ bernahme der StrafverfolDelikte, geschweige denn Verfahren, fu¨r eine solche U gung. Es gilt daher, allgemeine und vor allem justiziable Kriterien fu¨r die Bestimmung solcher Verfahren zu entwickeln, auch um zu verhindern, dass der Voll¨ A ohne Absprache mit dem Anordnungsstaat streckungsstaat aus Anlass einer EuU ¨ A sowie Nr. 6 der selbst ein Strafverfahren einleitet (vgl. Art. 15 Satz 2 RB-EuU ¨ A). Das Gru¨nbuch u¨ber Kompetenzkonflikte und Erwa¨gungsgru¨nde zum RB-EuU das „ne bis in idem“-Prinzip in Strafverfahren v. 23. 12. 200573 und das dort angeregte Verweisungsverfahren sind in dieser Hinsicht allerdings nicht mehr als ein Anfang. Weitere Initiativen der Union in diese Richtung mu¨ssen und werden folgen. 71 Das Recht zur U ¨ berpru¨fung ist allerdings fristgebunden („innerhalb von 60 Tagen ¨ A). nach ihrem Erlass oder ihrer letzten U¨berpru¨fung“; Art. 13 I RB-EuU 72 Zur Bindungswirkung von Rahmenbeschlu ¨ ssen: EuGH, Urt. 16. 6. 2005, C-105 / 03 (Pupino), StV 2006, 1; zu diesem Urteil: Tinkl, StV 2006, 36 ff.; Ga¨rditz / Gusy, GA 2006, 225 ff. 73 KOM (2005) 696.

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Ein weiterer Weg, auf dem sich eine Untersuchungshaft fu¨r „nicht-einheimische“ Beschuldigte vermeiden ließe, wa¨re die (eingeschra¨nkte) Zulassung von Abwesenheitsurteilen. Auch hierzu verfolgt die Union bereits konkrete Pla¨ne.74 Wegen der bei Abwesenheitsurteilen zwangsla¨ufig auftretenden vollstreckungsrechtlichen Problematik (ordre public), bedarf es einer engen Anlehnung legislativer Vorschla¨ge an die zu dieser Fragestellung bereits vorliegende Rechtsprechung des EGMR.75

74 75

Ein Gru¨nbuch zu dieser rechtlichen Fragestellung ist fu¨r 2007 geplant. Vgl. Esser (Fn. 21), S. 721 ff.

Die Implementation des Europäischen Haftbefehls in Polen und Deutschland im Vergleich – Eine kritische Skizze aus polnischer Sicht Ewa M. Guzik-Makaruk „Hominum causa omne ius constitutum sit“

In diesem Aufsatz konzentriere ich mich grundsätzlich auf Probleme des Europäischen Haftbefehls (im Text „EuHb“ abgekürzt). Der EuHb versucht eine grenzüberschreitende Kriminalitätsbekämpfung möglich zu machen – und zeigt zugleich, wie immens das Problem ist, 25 verschiedene Rechtssysteme anzugleichen. Seit dem 14. Mai 2005 ist das Netz, das sich um mutmaßliche Straftäter spannt, feinmaschiger geworden – seit diesem Tag setzte mit Italien der letzte der 25 EU-Staaten den EuHb in Kraft. In dieser Hinsicht hat Polen zurzeit völlig andere Probleme als Deutschland. In der Bundesrepublik Deutschland wurde schon im Jahre 2000 das Grundgesetz geändert.1 In Polen bleibt weiterhin das Problem einer partiellen Implementation des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl2 in die geltende Gesetzgebung offen. Offen bleibt auch die Frage nach dem rechtlichen Charakter des EuHb. Diese Frage hat besonders an Bedeutung gewonnen, und zwar unter einem verfassungsrechtlichen Aspekt. Art. 55 der polnischen Verfassung besagt, dass die Auslieferung eines polnischen Staatsangehörigen verboten ist.3 Dagegen lautet Art. 607t § 1 der polnischen StPO4: „Wurde ein Europäischer Haftbefehl zur Verfolgung einer Person ausgestellt, die polnischer Staats1 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 29. November 2000, in Kraft getreten am 2. Dezember 2000, BGBl. I 1633. Art. 16 Abs. 2 GG lautet: „Kein Deutscher darf an das Ausland ausgeliefert werden. Durch das Gesetz kann eine abweichende Regelung für Auslieferungen an einen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder an einen internationalen Gerichtshof getroffen werden, soweit die rechtsstaatlichen Grundsätze gewahrt sind.“ 2 Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten, Abl. L 190/1 vom 18.07. 2002. 3 Art. 55 der Verfassung: Abs. 1. Die Auslieferung eines polnischen Staatsbürgers ist verboten. Abs. 2. Verboten ist die Auslieferung einer Person, die verdächtig ist, aus politischen Gründen eine Straftat ohne Gewaltanwendung begangen zu haben. Abs. 3. Über die Zulässigkeit einer Auslieferung entscheidet das Gericht.

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bürger ist oder in der Republik Polen Asylrecht genießt, so kann die Übergabe unter der Bedingung erfolgen, dass diese Person nach dem rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens im Ausstellungsstaat auf das Hoheitsgebiet der Republik Polen zurück überstellt wird.“ Der polnische Gesetzgeber versuchte gewissermaßen die Implementation durch die „Hintertür“ durchzuführen, als er in Art. 602 StPO einen Unterschied zwischen der klassischen Auslieferung (Extradition) und der Übergabe (surrender) im Rahmen des EuHb vorgesehen hat. Art. 602 StPO besagt, dass Extradition die Auslieferung eines Verfolgten oder Verurteilten auf Ersuchen eines ausländischen Staates ist, vorbehaltlich der Vorschriften des Abschnitts 65b. Abschnitt 65b regelt das Ersuchen eines Mitgliedstaates der Europäischen Union um Übergabe eines Verfolgten aufgrund eines EuHb. Logischerweise sollte man folgern, dass der (im Ansatzpunkt) rationale Gesetzgeber zwischen zwei Institutionen unterschieden hat. Wenn wir anerkennen würden, dass eine Übergabe des Verfolgten im Rahmen des EuHb kein Instrument der Auslieferung wäre, dann wäre das Rechtssystem kohärent. Das war aber nicht klar und hat viele praktische Zweifel geweckt. Diese Zweifel hatte besonders das Landgericht Danzig, das vor dem Problem stand, ob es die Auslieferung einer polnischen Staatsangehörigen (Frau Maria D.) nach Holland im Rahmen des EuHb vollziehen darf, kann oder soll. Die dem Verfassungsgerichtshof vom Landgericht Danzig vorgelegte Frage, wurde in der Form eines Urteils des Verfassungsgerichtshofes beantwortet.5 Der Haupttenor der Entscheidung lautet: „Die Vorschrift des Art. 607t §1 StPO ist, soweit sie die Übergabe eines polnischen Staatsangehörigen an einen anderen Staat der Europäischen Union aufgrund des EuHb erlaubt, mit Art. 55 Abs. 1 der Verfassung nicht vereinbar.“ Der Verfassungsgerichtshof hat sich in seiner umfassenden Begründung auf die beiden folgenden Hauptargumente bezogen: 1.

Die verfassungsrechtlichen Begriffe haben autonomen Charakter und die Auslegung der gesetzlichen Vorschriften sollte auf der Verfassung basieren, in keinem Fall umgekehrt!

2.

Es besteht durchaus ein Unterschied zwischen der klassischen traditionellen Auslieferung und dem Europäischen Haftbefehl. Vor allem: die Voraussetzung der beiderseitigen Strafbarkeit, der politische Charakter einer Straftat,

4 Die Übersetzung der Vorschriften basiert auf: Die polnische Strafprozessordnung vom 6. Juni 1997. Deutsche Übersetzung und Einführung von E. Weigend, Freiburg im Breisgau 2004, mit Aktualisierung der zweisprachigen Ausgabe der polnischen Strafprozessordnung auf den Stand vom 1. Mai 2004. 5 Urteil des Verfassungsgerichtshofes vom 27. April 2005, Aktenzeichen P 1/05, Dz. U. (GBl.) 2005, Nr. 77, Pos. 680.

Die Implementation des EuHb in Polen und Deutschland im Vergleich

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die polnische Staatsangehörigkeit. Der EuHb und die Auslieferung differieren auch in anderen Elementen, wie z. B. bei den Kompetenzen der zuständigen Organe. Diese Unterschiede ändern aber nichts daran, dass der EuHb immer noch eine Auslieferung ist. Summa summarum erfasst das Auslieferungsverbot gemäß der VGH-Entscheidung auch die Übergabe auf der Grundlage eines EuHb. An dieser Stelle muss hervorgehoben werden, dass die bloße Nomenklatur jedenfalls allein nicht den rechtlichen Charakter einer Handlung bestimmen kann. Obwohl bei der Auslegung das Prinzip der Förderung des europäischen Integrationsprozesses und das Prinzip einer europakonformen Interpretation der Rechtsakte gelten6, hat der polnische Verfassungsgerichtshof zu Recht entschieden, dass die Auslegung der gesetzlichen Vorschriften jedenfalls nicht zur Abschwächung der Garantiefunktion der Verfassungsvorschriften über Freiheiten und Rechte der Bürger führen darf. Der Verfassungsgerichtshof hat die Derogationsfolge allerdings um 18 Monate verschoben, was Art. 190 § 3 der Verfassung zulässt.7 Als Begründung für diese Entscheidung kann angeführt werden, dass Polen als EU-Mitglied seine Pflichten erfüllen soll, und eine davon ist die Anpassung des innerstaatlichen Rechts an das europäische Recht. Der Verfassungsgerichtshof hat betont, dass der EuHb ein Zeichen für die fortgeschrittene Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten bei der Kriminalitätsbekämpfung sei und deshalb die Anpassung eine wesentliche Aufgabe für den polnischen Gesetzgeber sein solle. Zur Erfüllung dieser Aufgabe sei eine Änderung der Verfassung nicht ausgeschlossen.

6 Vergleiche z. B.: B. Banaszkiewicz, „Prawo polskie a prawo Unii Europejskiej w orzecznictwie Trybunału Konstytucyjnego“, Europejski Przegla˛d Sa˛dowy, grudzien´ 2005, S. 49–58; Urteil des VGH vom 29. September 1997, Aktenzeichen K 15/97, OTK Z. U. 1997, Heft 3–4, Pos. 37; Urteil des VGH vom 28. März 2000, Aktenzeichen K 27/99, Dz. U. (GBl.) 2000, Nr. 22, Pos. 291, OTK Z. U. 2000, Heft 2, Pos. 62; Urteil des VGH vom 24. Oktober 2000, Aktenzeichen K 12/00, Dz. U. (GBl.) 2000, Nr. 92, Pos. 1025, OTK Z. U. 2000, Heft 7, Pos. 255; Urteil des VGH vom 27. Mai 2003, Aktenzeichen K 11/03, Dz. U. (GBl.) 2003, Nr. 98, Pos. 904, OTK Z. U. 2003, Heft 5A, Pos. 43; Urteil des VGH vom 21. April 2004, Aktenzeichen K 15/04, Dz. U. (GBl.) 2004, Nr. 109, Pos. 1160, OTK Z. U. 2004, Heft 4A, Pos. 31. 7 Gemäß Art. 190 Abs. 1 der polnischen Verfassung haben die Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes allgemein bindende Rechtskraft und sind endgültig. Die Entscheidung kann den ganzen Normativakt oder nur einzelne Teile des Normativaktes betreffen. Sie tritt am Tag ihrer Verkündung in Kraft, es sei denn, der Verfassungsgerichtshof setzt eine andere Frist fest, nach der der Normativakt seine bindende Kraft verliert. Ist ein Gesetz betroffen, darf diese Frist achtzehn Monate nicht überschreiten. Bei anderen Normativakten darf die Frist nicht länger als 12 Monate betragen. Im Falle eines Urteiles, das finanzielle Aufwendungen zur Folge hat, die im Haushaltsgesetz nicht vorgesehenen sind, setzt der Verfassungsgerichtshof die Frist für das Außerkrafttreten des Gesetzes nach Anhörung des Ministerrates fest.

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Kritisch muss man an dieser Stelle hervorheben, dass der polnische Verfassungsgerichtshof es zugelassen hat, dass die Verfassung so lange verletzt wurde. Es gibt auch eine Kehrseite der Medaille: Die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes setzt den polnischen Verfassungsgeber, also den Sejm und den Senat, stark unter Druck. Denn am 6. November 2006 tritt die strafprozessuale Vorschrift8 außer Kraft, sofern die Verfassung nicht novelliert wird. Prof. B. Schünemann und ich haben uns schon im Januar 2006 an den Vorsitzenden des polnischen Sejm (Marek Jurek) und an den Justizminister (Zbigniew Ziobro) gewandt, und zwar mit einer schriftlichen Bitte um Information, welche Schritte zur Änderung des Rechts eingeleitet worden sind oder eingeleitet werden. Bisher haben wir nur eine lakonische Antwort bekommen. Das Justizministerium hat uns mitgeteilt, dass es einen Vorschlag zur Änderung der Verfassung vorbereitet hat, die gesetzgeberische Initiative habe aber ein Fünftel der Abgeordneten des Sejm, der Senat oder der Präsident der Republik Polen.9 Die Recherchen nach dem Inhalt des Vorschlags auf den Internet-Seiten des Justizministeriums haben keine positiven Resultate gebracht.10 Die Sejmkanzlei hat dagegen gar keine Antwort auf unsere Frage gegeben. Die gesetzgeberischen Pläne sind aber nicht völlig unbekannt, denn der Präsident der Republik Polen hat unlängst eine Initiative unternommen und zwei Vorschläge an den Sejm gesandt. Der erste Vorschlag betrifft die Novellierung der polnischen Verfassung, der zweite ist der Entwurf zur Änderung der polnischen StPO.11 Obwohl der Präsident in der Begründung der beiden Entwürfe nicht deutlich darauf hingewiesen hat, scheint es mir, dass Polen die Erfahrungen seiner Nachbarn nutzen und eine Änderung der Verfassung, wie Deutschland, Österreich oder Großbritannien, erwägen sollte. Laut Entwurf des Präsidenten sollte der neu gestaltete Art. 55 der Verfassung die Auslieferung eines polnischen Staatsangehörigen zulassen, wenn die Auslieferung an einen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder an einen internationalen Gerichtshof vorgenommen wird. Der aufgehobene Art. 607t § 1 StPO muss natürlich aufgehoben bleiben und als Art. 607t § 1a sollte man denselben Inhalt, wie bisher im Art. 607t § 1 StPO erfasst, beschließen. Es ist völlig offen, ob die vorgeschlagenen Entwürfe beim aktuellen Stand der Machtverhältnisse im polnischen Parlament Zustimmung finden. Es kann sein, dass bei dieser wichtigen Angelegenheit die politische Opposition nicht stören wird, aber zur Änderung der Verfassung braucht man besondere Bedingungen. 8

Art. 607t § 1 StPO. Art. 235 Abs. 1 der polnischen Verfassung. 10 Projekty aktów prawnych Ministerstwa Sprawiedliwos´ci, http://www.ms.gov.pl/ projekty/projekty.shtml. 11 Druk Sejmowy nr 580 i nr 581, zamieszczony na oficjalnych stronach internetowych Sejmu, www.sejm.gov.pl. [Sejmdruck Nr. 580 und Nr. 581]. 9

Die Implementation des EuHb in Polen und Deutschland im Vergleich

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Gemäß Art. 235 der Verfassung erfolgt die Verfassungsänderung durch ein Gesetz, das zunächst vom Sejm und dann wortgleich innerhalb einer Frist von nicht mehr als sechzig Tagen vom Senat verabschiedet wird. Zwischen der Einbringung der Gesetzesvorlage zur Änderung der Verfassung beim Sejm und der ersten Lesung dieser Vorlage müssen mindestens dreißig Tage liegen. Das Gesetz über die Verfassungsänderung wird vom Sejm mit einer Mehrheit von mindestens zwei Drittel der Stimmen in Anwesenheit von mindestens der Hälfte der gesetzlichen Abgeordnetenzahl beschlossen. Der Senat beschließt es mit absoluter Mehrheit der Stimmen in Anwesenheit von mindestens der Hälfte der gesetzlichen Senatorenzahl. Betrifft das Verfassungsänderungsgesetz die Vorschriften des Kapitels I (z. B. Art. 55), können ein Fünftel der gesetzlichen Abgeordnetenzahl, der Senat oder der Präsident der Republik innerhalb einer Frist von fünfundvierzig Tagen nach der Verabschiedung des Gesetzes durch den Senat beanspruchen, dass eine Volksabstimmung über das Gesetz durchgeführt wird. Mit einem diesbezüglichen Antrag wenden sich die Rechtsträger an den Sejmmarschall, der unverzüglich die Durchführung der Volksabstimmung innerhalb von sechzig Tagen nach Anbringung des Antrages anordnet. Die Verfassungsänderung gilt als angenommen, wenn sie von der Mehrheit der abgegebenen Stimmen befürwortet wird.12 Das macht deutlich, dass das Änderungsverfahren sehr kompliziert ist und erhebliche Kompromissbereitschaft erfordert. Es bleibt zu wünschen, dass diese politischen Kompromisse und Annäherungen an eine sinnvolle Konzeption erreicht werden können. Der Sejm erörtert eine Gesetzesvorlage in drei Lesungen. Das Recht, während der Erörterung Änderungen in die Vorlage einzuführen, steht demjenigen, der die Gesetzesvorlage eingebracht hat, den Abgeordneten und dem Ministerrat zu. Am 21. Juni 2006 hat die erste Lesung der Entwürfe im Sejm stattgefunden. Nur eine Partei (die Rechtspartei: „Liga Polskich Rodzin“ [Bund der polnischen Familien]) war dagegen, die anderen Parteien haben in der Diskussion gezeigt, dass sie prinzipiell für beide Novellen sind. Zur Zeit befinden sich die Entwürfe in außerordentlichen Ausschüssen und warten auf weitere gesetzgeberische Schritte. Wenn Polen die Anpassungsprobleme gelöst hat, sind danach neue Aufgaben anzugehen, und zwar meines Erachtens zumindest: 1.

Stärkere Verteidigung eines polnischen Staatsangehörigen;

2.

Präzisere Gestaltung der fakultativen Hindernisse beim EuHb, besonders bei Art. 607r § 1 Pkt. 5 StPO.

12 E. Misior (Übersetzerin), Verfassung der Republik Polen, Warszawa 1997, http://www.sejm.gov.pl/prawo/konst/niemiecki/niem.htm.

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Wenn es um die stärkere Verteidigung eines polnischen Staatsangehörigen geht, sieht Art. 79 § 2 StPO Folgendes vor: „Die Mitwirkung eines Verteidigers am Strafverfahren ist notwendig, wenn das Gericht dies aufgrund von Umständen, welche die Verteidigung erschweren, für unerlässlich erachtet.“ Unklar ist demzufolge, ob allein das Verfahren in der Angelegenheit der Übergabe eines polnischen Staatsangehörigen aufgrund des EuHb bereits die notwendige Verteidigung begründet. Der Bürger, d.h. ein Durchschnittsmensch, muss nicht unbedingt die Unterschiede zwischen der Auslieferung und der Übergabe im Rahmen des EuHb kennen. Er hat Vertrauen in seinen Staat und demzufolge sollte der Staat auch seine Sicherheitsfunktion erfüllen, um die eigenen Bürger zu schützen. Meiner Ansicht nach ist es unerlässlich, die notwendige Verteidigung für die polnischen Bürger zu garantieren, zumindest in dieser Phase des Verfahrens, in der sich das Schicksal der Übergabe entscheidet. Auf diese Art und Weise könnten die Vorschriften über die Übergabe von eigenen Staatsangehörigen etwas stärker legitimiert werden. Meines Erachtens ist die Mitwirkung eines Verteidigers am Strafverfahren notwendig, wenn ein Mitgliedstaat der EU um die Übergabe eines polnischen Verfolgten aufgrund eines Europäischen Haftbefehls ersucht. Aber dies wäre eine Überlegung „de lege ferenda“. Die zweite wichtige Frage, die ich schon kurz angesprochen habe, ist die präzise Gestaltung der fakultativen Hindernisse bei der Übergabe eines polnischen Staatsangehörigen. Gemäß Art. 607r § 5 StPO kann die Vollstreckung eines EuHb abgelehnt werden, wenn der EuHb sich auf Straftaten bezieht, die nach polnischem Recht ganz oder teilweise auf dem Hoheitsgebiet der Republik Polen oder auf einem polnischen Wasser- oder Luftfahrzeug begangen wurden. In solchen Fällen erfolgt die Entscheidung des Gerichtes immer nach freiem Ermessen des Richters. Das Gesetz ist hier allgemein, lakonisch und gibt keine Hinweise, was konkret in Betracht gezogen werden sollte. Der deutsche Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses über den EuHb13 versucht jedoch, obwohl er nicht perfekt und nicht ohne Beanstandungen ist, angemessene Lösungen zu finden, um die deutschen Staatsangehörigen oder gleichgestellte Ausländer möglichst vor der Übergabe zu schützen. Es steht für mich außer Frage, dass ähnliche Schritte auch in Polen eingeleitet werden sollten. In diesem Bereich besteht Bedarf nach einer genaueren Bestimmung und präziseren Gestaltung des Art. 607r § 5 StPO, damit die Garantiefunktion (Schutzfunktion) des Strafrechts besser realisiert werden kann.

13 Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, http://www.bmj.bund.de.

Die Implementation des EuHb in Polen und Deutschland im Vergleich

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Nehmen wir folgendes Beispiel: Ein Deutscher bietet seine Niere im Internet an. Der Server steht in Großbritannien. Der Deutsche hat alles, was mit der Transplantation zusammenhängt, mit einem Polen vereinbart, der ihm schon eine Anzahlung in Höhe von 10.000 Euro überwiesen hat. Die chirurgische Entnahme der Niere sollte in Polen stattfinden. Die deutsche Staatsanwaltschaft hat aber alles aufgedeckt und der Deutsche landet in Deutschland in Untersuchungshaft, anstatt in Polen. Beide Akteure machen sich strafbar, in diesem Fall haben wir es mit notwendiger Mittäterschaft zu tun. Nach Art. 18 des deutschen Transplantationsgesetzes (TPG) stellt allein das Verkaufsangebot im Internet schon eine vollendete Straftat des Organhandels dar.14 Das polnische Gericht bestraft seinen Bürger nach dem Territorialitätsprinzip wegen versuchten unerlaubten Organhandels und ersucht Deutschland um die Übergabe des Deutschen. Natürlich kann auch Großbritannien darum ersuchen. Deutschland lehnt den Antrag ab, denn die Tat weist zwar einen Bezug zum ersuchenden Mitgliedstaat auf, dieser Bezug ist aber nicht maßgeblich im Sinne § 80 Abs. 215 des Entwurfes. Denn es liegen 14 S. Rixen, Kommentar zum Transplantationsgesetz – Verbotsvorschriften, (in:) W. Höfling (Hrsg.), Kommentar zum Transplantationsgesetz (TPG), Berlin 2003, S. 425; Landgericht München I, Urteil vom 23. Mai 2002, 4 KLs 310 JS 42299/01, NJW 2002, Heft 36, S. 2655, 2656. 15 § 80. Auslieferung deutscher Staatsangehöriger. (1) Die Auslieferung eines Deutschen zum Zwecke der Strafverfolgung ist nur zulässig, wenn 1. gesichert ist, dass der ersuchende Mitgliedstaat nach Verhängung einer rechtskräftigen Freiheitsstrafe oder sonstigen Sanktion anbieten wird, den Verfolgten auf seinen Wunsch zur Vollstreckung in den Geltungsbereich dieses Gesetzes zurück zu überstellen, und 2. die Tat einen maßgeblichen Bezug zum ersuchenden Mitgliedstaat aufweist. Ein maßgeblicher Bezug der Tat zum ersuchenden Mitgliedstaat liegt in der Regel vor, wenn die Tathandlung vollständig oder in wesentlichen Teilen auf seinem Hoheitsgebiet begangen wurde und der Erfolg zumindest in wesentlichen Teilen dort eingetreten ist, oder wenn es sich um eine schwere Tat mit typisch grenzüberschreitendem Charakter handelt, die zumindest teilweise auch auf seinem Hoheitsgebiet begangen wurde. (2) Liegen die Voraussetzungen des Absatz 1 Satz 1 Nr. 2 nicht vor, ist die Auslieferung eines Deutschen zum Zwecke der Strafverfolgung nur zulässig, wenn 1. die Voraussetzungen des Absatz 1 Satz 1 Nr. 1 vorliegen, und die Tat 2. keinen maßgeblichen Bezug zum Inland aufweist und 3. auch nach deutschem Recht eine rechtswidrige Tat ist, die den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklicht oder bei sinngemäßer Umstellung des Sachverhalts auch nach deutschem Recht eine solche Tat wäre, und bei konkreter Abwägung der widerstreitenden Interessen das schutzwürdige Vertrauen des Verfolgten in seine Nichtauslieferung nicht überwiegt. Ein maßgeblicher Bezug der Tat zum Inland liegt in der Regel vor, wenn die Tathandlung vollständig oder in wesentlichen Teilen im Geltungsbereich dieses Gesetzes begangen wurde und der Erfolg zumindest in wesentlichen Teilen dort eingetreten ist. Bei der Abwägung sind insbesondere der Tatvorwurf, die praktischen Erfordernisse und Möglichkeiten einer effektiven Strafverfolgung und die grundrechtlich geschütz-

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die Prämissen laut § 80 Abs. 1 Pkt. 2 des Entwurfes nicht vor. Wenden wir uns daher § 80 Abs. 2 des Entwurfes zu. Aber auch danach ist die Auslieferung des Deutschen unzulässig, denn die Tat weist einen maßgeblichen Bezug zum Inland auf. Das deutsche Gericht entscheidet daher, dass der Deutsche zum Zwecke einer Strafverfolgung nicht ausgeliefert werden darf. Nehmen wir noch ein anderes Beispiel und tauschen wir die Rollen. Ein Pole spielt jetzt die Rolle des Anbieters. Er hat einen Deutschen kontaktiert, der ihm schon einen Teil des Geldes überwiesen hat. Der Pole wollte nach München kommen, wo die chirurgische Entnahme der Niere vorgesehen war, wurde aber zwei Kilometer vor der deutsch-polnischen Grenze durch die polnische Polizei zurückgehalten. Das deutsche Gericht bestraft seinen Bürger, ersucht aber auch gleichzeitig um die Übergabe des Polen. Der Pole war sozusagen spiritus movens des unrechtmäßigen Verhaltens. Nach den polnischen Vorschriften (Art. 607t § 1 StPO) ist vorgesehen: Wurde ein EuHb zur Verfolgung einer Person ausgestellt, die polnischer Staatsbürger ist, so kann die Übergabe unter der Bedingung erfolgen, dass diese Person nach dem rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens im Ausstellungsstaat auf das Hoheitsgebiet der Republik Polen zurück überstellt wird. Das ist die einzige obligatorische Prämisse in unserem Beispiel. Der Richter kann also den EuHb gegen den polnischen Staatsangehörigen realisieren, denn auch der Umstand, dass die Straftat zum Teil oder ganz auf dem Territorium Polens begangen wurde, stellt nur ein fakultatives Hindernis der Übergabe dar. Anhand von diesen zwei Beispielen wird deutlich, wie der Schutz der eigenen Bürger vor der Übergabe aufgrund des EuHb in Deutschland und in Polen aussieht. Der polnische Gesetzgeber bleibt leider hinter dem Schutz durch den deutschen Gesetzgeber zurück. Noch schlimmer sieht es z. B. bei der typischen Vorbereitung des Organhandels aus, die in Polen straflos ist und in Deutschland durch Vorverlagerung der Strafbarkeit bereits als strafbarer Versuch zu qualifizieren ist. Art. 2 des Rahmenbeschlusses nennt den illegalen Handel mit Organen und menschlichem Gewebe als eine der Straftaten, bei denen die beiderseitige Strafbarkeit nicht erforderlich ist. In einer akademischen Diskussion könnten wir uns vorstellen, dass Deutschland einen EuHb gegen einen polnischen Staatsangehörigen erlässt, der nur eine Vorbereitung zum Organhandel begangen hat, bei dem aber wegen ge-

ten Interessen des Verfolgten unter Berücksichtigung der mit der Schaffung eines Europäischen Rechtsraums verbundenen Ziele zu gewichten und zueinander ins Verhältnis zu setzen. Liegt wegen der Tat, die Gegenstand des Auslieferungsersuchens ist, eine Entscheidung einer Staatsanwaltschaft oder eines Gerichts vor, ein deutsches strafrechtliches Verfahren einzustellen oder nicht einzuleiten, so sind diese Entscheidung und ihre Gründe in die Abwägung mit einzubeziehen; Entsprechendes gilt, wenn ein Gericht das Hauptverfahren eröffnet oder einen Strafbefehl erlassen hat. (. . .)

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zielter Kontakte mit einem Deutschen die Strafbarkeit nach dem deutschen Recht besteht. Gemäß Art. 607w der polnischen StPO hindert der Umstand, daß die Tat nach polnischem Recht keine Straftat darstellt, nicht an der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, wenn dieser eine Tat betrifft, wegen der im Ausstellungsstaat eine Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren droht oder wegen der eine andere freiheitsentziehende Maßnahme in mindestens der gleichen Höhe verhängt werden kann und die eine der folgenden Straftaten darstellt: Pkt. 16: Illegaler Verkehr mit Organen oder menschlichem Gewebe. Wegen Organhandel droht nach deutschem Recht eine Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren.16 Wenn das polnische Gericht einen polnischen Staatsangehörigen in diesem Fall nach Deutschland übergibt, verletzt es meiner Meinung nach die grundsätzliche Funktion des materiellen Strafrechts, nämlich die Garantiefunktion. Durch das Gesetzlichkeitsprinzip wird dem Bürger garantiert, dass sein Verhalten nur dann strafbar ist, wenn es die Merkmale eines vor der Tat gesetzlich normierten Deliktstatbestands verwirklicht.17 Das ist die alte rechtsstaatliche Garantiefunktion des Strafrechts, und ich sehe keinen Grund, weshalb diese Funktion im Verfahren aufgrund des EuHb keine Anwendung finden sollte. Nehmen wir zum Beispiel das österreichische Bundesgesetz über die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU-JZG), das am 1. Mai 2004 in Kraft getreten ist.18 Gemäß § 77 Abs. 2 EU-JZG ist bis zum 1. Januar 2009 die Vollstreckung eines EuHb gegen einen österreichischen Staatsbürger abzulehnen, wenn die Tat, derentwegen der EuHb erlassen worden ist, nach österreichischem Recht nicht mit gerichtlicher Strafe bedroht ist. Der österreichische Gesetzgeber hat die Garantiefunktion des Strafrechts auf diese Art und Weise gesichert. Allerdings hat sich Österreich Übergangsfristen ausbedungen: Erst Anfang 2009 kann der Fall eintreten, dass tatsächlich ein Österreicher auf Grund eines EuHb ausgeliefert werden muss. Österreich konnte also für sich Übergangsfristen aushandeln, Polen dagegen sah keinen solchen Bedarf.

16 Gesetz über die Spende, Entnahme und Übertragung von Organen (Transplantationsgesetz – TPG) vom 5. November 1997, BGBl. I S. 2631. [§ 17 Verbot des Organhandels. (1) Es ist verboten, mit Organen, die einer Heilbehandlung zu dienen bestimmt sind, Handel zu treiben. (. . .) § 18 Organhandel. (1) Wer entgegen § 17 Abs. 1 Satz 1 mit einem Organ Handel treibt oder entgegen § 17 Abs. 2 ein Organ entnimmt, überträgt oder sich übertragen läßt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Handelt der Täter in den Fällen des Absatzes 1 gewerbsmäßig, ist die Strafe von einem Jahr bis zu fünf Jahren. (3) Der Versuch ist strafbar. (. . .)] 17 U. Kindhäuser, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Baden-Baden 2005, S. 41. 18 BGBl. I Nr. 36/2004.

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Ich schlage daher nachfolgend vor, wie ein verstärkter Schutz der eigenen Staatsangehörigen de lege ferenda erfolgen könnte: I. Verstärkung der Position der eigenen Staatsangehörigen durch die Anordnung von notwendiger Verteidigung bei Verfahren um die Übergabe eines polnischen Staatsangehörigen im Rahmen des EuHb; II. Anwendung des alten, schon im XVII. Jahrhundert postulierten (Hugo Grotius) Auslieferungsprinzips: aut dedere aut judicare (punire) und infolge dessen Nichtauslieferung der eigenen Bürger, wenn die Tat zumindest teilweise auf dem Territorium Polens begangen wurde – Vorrang des Territorialitätsprinzips; III. Beiderseitige Strafbarkeit als conditio sine qua non bei der Übergabe der eigenen Staatsangehörigen.

Die Implementation des europa¨ischen Haftbefehls in Polen und Deutschland im Vergleich – Eine kritische Skizze aus deutscher Sicht Bernd Schu¨nemann* I. Der europa¨ische Haftbefehl: Speerspitze eines rechtsstaatlichen und demokratischen Debakels Es ist allgemein bekannt und war noch vor wenigen Jahren in jedem Grundriss des Europarechts zu lesen, dass die Strafrechtspflege nicht zu den vergemeinschafteten Materien geho¨rte und weiterhin vollsta¨ndig in der Souvera¨nita¨t der Mitgliedstaaten verblieben sei1. Dass den Vertretern des Europarechts zur Begru¨ndung hierzu lediglich einfiel, dass die Einzelstaaten in diesem Punkt auf die Bewahrung ihrer Souvera¨nita¨t streng bedacht gewesen seien, erkla¨rt sich durch die geringe Vertrautheit, zumindest aber durch die geringe Ru¨cksichtnahme der verfassungsrechtlichen Dogmatik auf die geschichtlich begru¨ndeten qualifizierten Legitimationsanforderungen des Strafrechts. Materiell ist das Strafrecht durch das Sozialschadensprinzip begrenzt, welches bekanntlich von Beccaria in der gemeineuropa¨ischen Aufkla¨rung aus dem Legitimationsmodell des Gesellschaftsvertrages abgeleitet wurde und in Deutschland u¨ber die Theorie der Rechtsverletzung durch Kant und Feuerbach schließlich in die Theorie der Rechtsgutsverletzung von Birnbaum umformuliert worden ist, ohne dass sich der sachliche Gehalt wesentlich vera¨ndert ha¨tte2. Ein Staat, der das Strafrecht in seinem Kern, bei dem es um die Verha¨ngung von Freiheitsstrafen geht, von der Bindung an dieses Prinzip lo¨sen wollte, ko¨nnte nicht mehr als Rechtsstaat qualifiziert werden. In kompetenzma¨ßiger Hinsicht geht es um den Grundsatz „nulla poena sine lege parlamentaria“, der allein dem unmittelbar demokratisch legitimierten Parlament die Bedingungen zu formulieren gestattet, unter denen ein freier Bu¨rger in einen Gefa¨ngnisinsassen verwandelt werden darf3. Ein Staat, in dem diese Frage von der Exekutive entschieden wird, ko¨nnte nicht als Demokratie qualifiziert werden. * Der Vortragsstil wurde beibehalten. Zur seither eingetretenen Entwicklung siehe Schu¨nemann in Schu¨nemann (Hrsg.), Ein Gesamtkonzept fu¨r die europa¨ische Strafrechtspflege, 2006, S. IX f, 102, 105, ferner die Bemerkungen unten IV. 5. 1 Vgl. dazu die zahlreichen Nachweise bei Satzger, Europa ¨ isierung des Strafrechts, 2001, S. 94 Fn. 493. 2 Dazu na ¨ her Schu¨nemann in Hefendehl / v. Hirsch / Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, 2003, S. 133 ff.

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Bei der Schaffung der Europa¨ischen Union mit ihren gubernativen und bu¨rokratischen Machtstrukturen musste also das Strafrecht von vornherein ausgeklammert werden, wenn nicht eine 200-ja¨hrige Entwicklung von Rechtsstaat und Demokratie in Europa auf den Kopf gestellt werden sollte. Das ist auch lange Zeit respektiert worden, doch haben die Regierungen schließlich im Vertrag von Amsterdam 19974 mit dem Institut des gouvernementalen Rahmenbeschlusses das Trojanische Pferd gezimmert, mit dem sie anschließend scheinbar mu¨helos in die rechtsstaatlich-demokratischen Festungen der bu¨rgerlichen Freiheit eindringen konnten. Denn wenn auch gema¨ß Art. 34 Abs. 2 lit. b) EU-Vertrag bei der Ausfu¨llung der Rahmenbeschlu¨sse zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten nur das Ziel verbindlich sein soll, wa¨hrend den Mitgliedstaaten die Wahl der Form und der Mittel verbleibe, ist das doch in der Praxis des Rates in Form einer immer engmaschigeren Vorgabe gehandhabt worden, durch die die einzelstaatlichen Parlamente bald zu Bru¨sseler Lakaien degradiert wurden5, als die sich beispielsweise die Abgeordneten des deutschen Bundestages nach ihrer eigenen Bekundung selbst gefu¨hlt haben6. Dass der Europa¨ische Gerichtshof in seinem Urteil vom 13. 9. 2005 entgegen der historisch und systematisch eindeutigen Aussage der Vertra¨ge eine allgemeine Annexkompetenz der EG im Bereich des Strafrechts zu konstruieren versucht hat7, ist deshalb aus der Sicht des Bu¨rgers sogar zweitrangig, weil es mehr eine Verschiebung innerhalb der europa¨ischen Machtkonglomerate als die Mo¨glichkeit des Zugriffs auf das Strafrecht u¨berhaupt betrifft. Deshalb mo¨chte ich mich zu dieser Entscheidung auf die Bemerkung beschra¨nken, dass sie nicht nur in ihrer argumentativen Du¨rftigkeit das Zerrbild eines Rechtsprechungsaktes ist, sondern auch nahezu einen Staatsstreich in judikativem Gewande darstellt, weil der EG dadurch eine Machtfu¨lle zugeschoben werden soll, die keine vertragliche Grundlage hat und deshalb eine Usurpation bedeutet8. Auch wenn die Europa¨ische Kommission bereits ausgelotet hat, welche weiteren Rahmenbeschlu¨sse außer demjenigen u¨ber das Umweltstrafrecht in die vom Europa¨ischen Gerichtshof erfundene Strafrechtskompetenz der EG eingreifen wu¨rden9, bleibt es doch vorerst offen, wie der dadurch angezettelte Machtkampf 3

Eindringlich Lu¨derssen, GA 2003, 71 ff. ABlEG Nr. C vom 10. 11. 1997, 340. 5 Na ¨ her Schu¨nemann, ZRP 2003, 185 ff. und 472; ders., StV 2003, 531 ff. 6 Nachw. u. Fn. 13, ferner in der mu ¨ ndlichen Verhandlung vor dem BVerfG, s. Bo¨hm, NJW 2005, 2588. 7 EuGH Urteil vom 13. 09. 2005, C-176 / 03, ABl. C. 315 vom 10. 12. 2005, S. 2 ff. = NVwZ 2005, 1289 (notabene in wenigen Sa¨tzen, so gut wie ohne Begru¨ndung und ohne Benutzung des Terminus „Annexkompetenz“); zur Kritik siehe Hefendehl ZIS 2006, 161 ff.; dazu ohne ernsthafte Beru¨cksichtigung der besonderen Legitimationsanforderungen im Bereich des Strafrechts Bo¨se und Ga¨rditz / Gusy, GA 2006, 211, 225. 8 Na ¨ her Hefendehl im vorliegenden Band. 9 KOM (2005) 583 endgu ¨ ltig / 2. 4

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zwischen Kommission, Parlament und Rat letztlich ausgehen wird. Bereits heute la¨sst sich aber feststellen, dass der Rahmenbeschluss u¨ber den europa¨ischen Haftbefehl10 die Speerspitze der ganzen Entwicklung bildet, die u¨brigens nicht einmal vom Wortlaut des an sich ja sehr weit gefaßten Art. 34 EU-Vertrag gedeckt wird, weil es bei der Einfu¨hrung des europa¨ischen Haftbefehls nicht um eine Angleichung der Rechtsvorschriften geht, sondern um die Abschaffung des Instituts der ¨ berstellung. Ich darf vor dem Auslieferung durch eine kurzerhand erfolgende U heutigen Auditorium die Kenntnis der genauen Bewandtnisse des europa¨ischen Haftbefehls voraussetzen und kann mich deshalb darauf beschra¨nken, auf die gravierendsten Vera¨nderungen hinzuweisen, die er gegenu¨ber dem traditionellen Auslieferungsrecht gebracht hat. Indem sowohl der Schutz der eigenen Staatsbu¨rger vor Auslieferung an das Ausland als auch das Prinzip der gegenseitigen Strafbarkeit fu¨r den beru¨chtigten Horrorkatalog der 32 Deliktsgruppen aufgehoben worden ist, kann sich danach das jeweils punitivste Strafrecht in dem gesamten Raum der EU mu¨helos durchsetzen11. Obwohl im Ausstellungsstaat gar nicht beurteilt werden kann, ob aufgrund der Verha¨ltnisse im Vollstreckungsstaat u¨berhaupt irgendeine Fluchtgefahr oder ein vergleichbarer Haftgrund besteht, kann sich der Ausstellungsstaat den Beschuldigten ohne jedes Hindernis in seine Gefa¨ngnisse zuliefern lassen. Auch insoweit setzt sich das autorita¨rste Strafprozessrecht durch, so dass die Staaten, in denen schon bei einfachem Tatverdacht ohne besonderen Haftgrund eingesperrt wird, diese Praxis mu¨helos auf dem gesamten Territorium der Union exekutieren ko¨nnen. Wenn man den dahinter stehenden Gedanken, dass Europa in einen einheitlichen Strafverfolgungsraum verwandelt werden solle, in einer fairen und rechtsstaatlichen Weise zu Ende gedacht ha¨tte, ha¨tte man selbstversta¨ndlich erkennen mu¨ssen, dass dies wegen der europa¨ischen Freizu¨gigkeit auch fu¨r die Haftgru¨nde und damit fu¨r den zentralen Haftgrund der Fluchtgefahr ha¨tte gelten mu¨ssen, was die ausschließliche Zuweisung der diesbezu¨glichen Pru¨fung in die Kompetenz des Vollstreckungsstaates notwendig gemacht ha¨tte. Die von mir gegru¨ndete Arbeitsgruppe 14 europa¨ischer Strafrechtsprofessoren zur Ausarbeitung eines alternativen Konzepts der Strafrechtspflege wird in wenigen Wochen in Thessaloniki ein wahrhaft rechtsstaatliches Konzept vorstellen, das mit dem europa¨ischen Raum der Freiheit und des Rechts wirklich Ernst macht und durch die Formulierung europa¨ischer Haftgru¨nde sowie eine der Sachlogik entsprechende Kompetenzverteilung zwischen Ermittlungs- und Vollstreckungsstaat die Bedu¨rfnisse der Strafverfolgung und die Freiheitsinteressen der europa¨ischen Bu¨rger in Harmonie bringt12. 10 ABl. L vom 18. 07. 2002 190 / 1; zur einschla ¨ gigen Diskussion siehe vorerst nur Schu¨nemann, ZRP, 2003, 185 ff.; ders., StV 2003, 531 ff., na¨her im weiteren Text. 11 Dazu bereits Schu¨nemann, ZRP, 2003, 185, 187; ders., ZRP 2003, 472; ders., StraFo 2003, 344, 348; ders., StV 2003, 116, 120; ders., ZStW 116 (2004), 376, 383; ders., StV 2005, 681. 12 Dazu unser Gesetzgebungsvorschlag und die Erla ¨ uterungen von Asp und Fraende in Schu¨nemann (Hrsg.), Ein Gesamtkonzept fu¨r die europa¨ische Strafrechtspflege, 2006.

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II. Die erste Reaktion der Parlamente in Deutschland und Polen auf den Rahmenbeschluss zum europa¨ischen Haftbefehl 1. Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages haben sich nach ihren eigenen Aussagen vor dem Bundesverfassungsgericht wie die von mir bereits apostrophierten Lakaien von Bru¨ssel gefu¨hlt und nicht einmal daru¨ber nachgedacht, dass das Rechtsstaatsprinzip und damit das europafeste Fundament des Grundgesetzes durch den Rahmenbeschluss sogar dreifach verletzt worden ist: Durch die Aufhebung des Prinzips der beiderseitigen Strafbarkeit ist ja von einer Versammlung von Regierungsmitgliedern u¨ber die Ausdehnung von Strafrechtsnormen entschieden und damit materielles Strafrecht gesetzt, also der Grundsatz „nulla poena sine lege parlamentaria“ verletzt worden; dies war, wie erwa¨hnt, nicht einmal vom Wortlaut des Art. 34 EU-Vertrag gedeckt; und die erwa¨hnte glatte Exekution der punitivsten Strafrechtsordnungen u¨ber alle Grenzen hinweg und in ei¨ berstellung ins Ausland fu¨r den Beschuldigten maximal belastenner durch die U den Weise ist ebenfalls wegen der vo¨llig fehlenden Abwa¨gung mit den Freiheitsinteressen rechtsstaatlich unertra¨glich. Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages haben das zwar in der parlamentarischen Debatte unisono beklagt, aber mit Ausnahme zweier Abgeordneten der FDP letztlich resigniert hingenommen13 und den Entwurf der Bundesregierung verabschiedet, der nicht einmal die Umsetzungsspielra¨ume im Interesse der bu¨rgerlichen Freiheit ausgenutzt hat, groteskerweise jedoch durch die Beibehaltung der außerordentlich umsta¨ndlichen Verfahrensstruktur bei der Auslieferung in diesem Punkt die Ziele des Rahmenbeschlusses durchkreuzt14. 2. Der polnische Sejm hat im Grunde noch schlimmer reagiert, indem er auf die frivole Idee gekommen ist, die Auslieferung kraft des europa¨ischen Haftbefehls einfach terminologisch umzufrisieren und mit dem euphemistischen Aus¨ bergabe“ zu bezeichnen, um das in Art. 55 der polnischen Verfassung druck „U enthaltene Verbot der Auslieferung polnischer Staatsbu¨rger an das Ausland zu umgehen15. 3. Beide Verhaltensweisen bringen deutlich zum Ausdruck, dass die Parlamente der Mitgliedstaaten in sei es trunkener, sei es resignierender Europatu¨melei ihre traditionelle Aufgabe zur Bewahrung der bu¨rgerlichen Freiheit gegenu¨ber den Anmaßungen der Staatsgewalt vergessen und die Bru¨sseler Machtspru¨che a¨hnlich kritiklos hingenommen haben, wie dies bei in cathedra und damit in Unfehlbarkeit verku¨ndeten Dogmen des Papstes fu¨r die Gla¨ubigen zu geschehen hat. Dass diese Einstellung keinesfalls unausweichlich war, beweist die Rechtslage in den skandinavischen La¨ndern und in Großbritannien, die fu¨r die Rahmenbe13 14 15

Siehe BT-Prot. 15 / 97, S. 8747 – 8749, 8752 f., 8758 – 8762. Insoweit zutreffend Vogel, JZ 2005, 801, 803. Dazu na¨her Guzik-Makaruk im vorliegenden Band.

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schlu¨sse gema¨ß Art. 34 EU-Vertrag einen sog. Parlamentsvorbehalt statuiert haben16, so dass deren Regierungen nur einem solchen Rahmenbeschluss zustimmen du¨rfen, der vorher vom Parlament akzeptiert worden ist und damit die direkte demokratische Legitimation erfahren hat. III. Die Reaktionen der Verfassungsgerichte 1. Das deutsche Bundesverfassungsgericht schien zuna¨chst die ganze Dimension des im europa¨ischen Haftbefehl ja nur kulminierenden Problems erkannt zu haben, dass der Zugriff von EG und EU auf das Strafrecht die Axt an dessen demokratische und rechtsstaatliche Wurzeln legt. Denn als es durch eine Verfassungsbeschwerde mit der Sache befasst wurde, ordnete es eine zweita¨gige mu¨ndliche Verhandlung an, fu¨r die vom Senatsvorsitzenden folgende Themenliste aufgestellt wurde: (1) Rahmenbeschluß u¨ber den europa¨ischen Haftbefehl 1. Rechtsetzungsverfahren in der „Dritten Sa¨ule“ und Demokratieprinzip 2. Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung 3. Die „Deliktsgruppen“ in Art. 2 Abs. 2 RbEuHb 4. Vereinbarkeit mit prima¨rem Unionsrecht (Vorlage an den Gerichtshof der Europa¨ischen Gemeinschaften) (2) Integrationsgrenzen ¨ bertragung von Kernkompetenzen 1. Schrittweise Entstaatlichung durch U 2. Identita¨t des deutschen Verfassungsstaates und sekunda¨res Unionsrecht – „Harmonisierungsdruck“ durch Innen- und Justizpolitik der Europa¨ischen Union 3. Art. 23 Abs. 1 GG; Subsidiarita¨tsprinzip (3) Verfassungsma¨ßigkeit des europa¨ischen Haftbefehlsgesetzes 1. Art. 16 Abs. 2 GG – Auslieferung deutscher Staatsangeho¨riger a) Vereinbarkeit von Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG mit Art. 79 Abs. 3 GG b) „Rechtsstaatliche Grundsa¨tze“ (Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG) c) Konkretisierungen (Schuldprinzip – Art. 1 Abs. 1 GG und Ru¨ckwirkungsverbot – Art. 103 Abs. 2 GG)

Bei den anschließenden Beratungen im Senat mu¨ssen dann aber zahllose Kontroversen ausgebrochen sein, denn die große Mehrheit hat sich zwar dazu durchringen ko¨nnen, das deutsche Durchfu¨hrungsgesetz fu¨r insgesamt nichtig zu erkla¨ren, hat aber eine klare Stellungnahme zu den zentralen demokratietheoretischen Fragen vermieden und stattdessen versucht, durch einen Ru¨ckgriff auf das beliebte Verha¨ltnisma¨ßigkeitsprinzip eine Kompromisslo¨sung zu finden. Der Schutz der eigenen Staatsangeho¨rigen vor einer Auslieferung ins Ausland soll hiernach dann gewa¨hrt, aber auch darauf beschra¨nkt werden, wenn die Tat einen – in den Worten des Bundesverfassungsgerichts – „maßgeblichen Inlandsbezug“ hat17. In 16 17

Rohlff, Der Europa¨ische Haftbefehl, 2003, S. 23. BVerfGE 113, 273, 302.

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meiner kritischen Rezension dieses Urteils habe ich davon gesprochen, dass es eine Sisyphus-Arbeit sein werde, diese grobe Maxime zu subsumtionsfa¨higen Normen zu konkretisieren, und dass der Vorschlag Vogels, diese Generalklausel einfach ins Gesetz hineinzuschreiben18, zu einem Zirkelschluss fu¨hren wu¨rde, weil die „Maßgeblichkeit“ des Inlandsbezuges zugleich Pra¨misse und Ergebnis wa¨re. Markiges Ergebnis, entta¨uschende Begru¨ndung: So muss deshalb die Gesamtbewertung der Entscheidung des deutschen Bundesverfassungsgerichts zur Nichtigkeit des deutschen Ausfu¨hrungsgesetzes lauten19. 2. Der polnische Verfassungsgerichtshof hat sich nicht einmal zu einem markigen Ergebnis durchringen ko¨nnen, sondern die frivole sprachliche Umfrisierung der Materie durch den Sejm mit 18-monatiger Wirksamkeit versehen und dadurch einen, wie ich es jedenfalls empfinde, ga¨nzlich unziemlichen Druck auf den Sejm ¨ nderung der polnischen Verfassung zum Nachteil der polin Richtung auf eine A nischen Bu¨rger ausgeu¨bt. Dass der Verfassungsgerichtshof in seinem Urteil vom 27. April 200520 die Erfolglosigkeit des zuvor vom Sejm unternommenen Versuches dekretiert hat, die Garantien der polnischen Verfassung durch eine semantische Verschmutzung zu umgehen, war unabweisbar. Unhaltbar ist aber der zusa¨tzliche Ausspruch des Gerichtshofs, das polnische Durchfu¨hrungsgesetz u¨ber den europa¨ischen Haftbefehl fu¨r 18 Monate insgesamt in Kraft zu lassen, auch soweit darin die Auslieferung polnischer Staatsbu¨rger fu¨r zula¨ssig erkla¨rt worden ist. Zwar hat der polnische Verfassungsgerichtshof gema¨ß Art. 190 der polnischen Verfassung die Befugnis, den Zeitpunkt fu¨r die Kassation verfassungswidriger Rechtsvorschriften hinauszuschieben. Das kann aber nach der inneren Logik dieser einen Schwebezustand anordnenden Norm nur fu¨r solche Fa¨lle gelten, bei denen es nicht um irreparable Maßnahmen geht. Denn es wa¨re mit den Minimalvoraussetzungen eines Rechtsstaates unvereinbar, wenn eine verfassungswidrige Norm allein wegen der Mo¨glichkeit, dass zuku¨nftig die Verfassung gea¨ndert werden ko¨nnte, aufrecht erhalten und zur Schaffung spa¨ter nicht mehr reparabler Zusta¨nde benutzt werden ko¨nnte. Genau das ist aber bei der Auslieferung eines Staatsbu¨rgers ins Ausland der Fall, weil er damit aus dem eigenen Souvera¨nita¨tsbereich herausexpediert wird, so dass ihn Polen spa¨ter auch dann nicht mehr herausverlangen ko¨nnte, wenn der Sejm die Aufhebung der die polnischen Bu¨rger schu¨tzenden Verfassungsgarantien ablehnen wird. Zugleich wird dadurch deutlich, dass der polnische Verfassungsgerichtshof einen ganz unerho¨rten Druck auf den Sejm ausgeu¨bt hat, die polnische Verfassung in Richtung auf die Beibehaltung des europa¨ischen Haftbefehls zu a¨ndern, weil man sonst vor der absurden ¨ bergangszeit aus verfasSituation stu¨nde, dass der Schutz der Bu¨rger fu¨r eine U 18

JZ 2005, 801, 807 Fn. 47. Schu¨nemann StV 2005, 681. Weitere Rezensionen stammen von Lagodny, StV 2005, 515 ff.; Jekewitz, GA 2005, 625 ff.; Ranft, wistra 2005, 361 ff.; Wolf, KJ 2005, 350 ff. 20 Aktenzeichen P 1 / 05, Dz. U. (Gesetzblatt). 2005, Nr. 77, Pos. 680. 19

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sungswidrigen und verfassungswidrig bleibenden Gru¨nden heraus missachtet worden war. Nach der mir in deutscher Sprache vorliegenden Zusammenfassung des Urteils hat der polnische Verfassungsgerichtshof sich mit den demokratischen Defiziten einer Strafrechtssetzung durch Rahmenbeschluss u¨berhaupt nicht bescha¨ftigt und stattdessen zur Begru¨ndung auf die These abgehoben, dass der europa¨ische Haftbefehl ein Zeichen fu¨r die fortgeschrittene Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten zur Beka¨mpfung der Kriminalita¨t sei und dass die ho¨chste Aufgabe fu¨r den polnischen Gesetzgeber darin bestehe, dass er kontinuierlich angewandt werden ko¨nne. Soweit es dabei um die Aufhebung des Grundsatzes der beiderseitigen Strafbarkeit geht, handelt es sich hierbei aber um einen reinen Zirkelschluss, denn was ein Verbrechen ist und was deshalb umfassend beka¨mpft werden muss, kann nur durch u¨bereinstimmende parlamentarische Akte der Mitgliedstaaten festgelegt werden. Hierbei geht es auch um einen praktisch außerordentlich wichtigen Punkt, denn wie im voranstehenden Beitrag von Guzik-Makaruk in diesem Band durch einige frappierende Beispiele belegt wird, sind die Bereiche des strafbaren Verhaltens in den Mitgliedstaaten auch dort vo¨llig unterschiedlich ausgedehnt, wo ein in allen Staaten durchaus gemeinsamer Deliktskern existiert. IV. Die erneute Bescha¨ftigung des Gesetzgebers mit dem Rahmenbeschluss 1. Weil ich u¨ber die Pla¨ne des Sejm nichts weiß, muss ich mich auf die Reaktion der deutschen Bundesregierung und des Bundestages auf die Nichtigkeit des ersten Durchfu¨hrungsgesetzes beschra¨nken. Nach dem Entwurf des neuen § 80 des deutschen Gesetzes u¨ber die internationale Rechtshilfe21 soll die Auslieferung eines deutschen Staatsbu¨rgers zuku¨nftig in drei Alternativen zula¨ssig sein: erstens, wenn Tathandlung und Erfolg zumindest in wesentlichen Teilen auf dem Hoheitsgebiet des ersuchenden Staates begangen wurden bzw. eingetreten sind; zweitens, wenn es um eine Tat mit grenzu¨berschreitendem Charakter geht, die mindestens teilweise auf dem fremden Hoheitsgebiet begangen wurde; und drittens, wenn kein maßgeblicher Inlandsbezug vorliegt und die gegenseitige Strafbarkeit gewa¨hrleistet ist. Aber das geht logisch nicht auf, vielmehr scheint mir der Entwurf das Opfer einer der (zahlreichen) gedanklichen Unklarheiten des Urteils des Bun21 BT-Drucks. 16 / 1024, gleichlautend auch ein Gesetzesentwurf der Regierungsfraktionen der Großen Koalition, BT-Drucks. 16 / 544. Dass die Union ihre mit Recht sehr kritische Einstellung gegenu¨ber der Europapolitik der alten Bundesregierung (greifbar etwa in ihrem Gesetzesentwurf zur Versta¨rkung der Mitwirkungsrechte des Deutschen Bundestages, BT-Drucks. 15 / 4716) nach ihrem Eintritt in die Regierung flugs aufgegeben hat, ist fu¨r den Zustand der Demokratie in Deutschland bezeichnend und sollte deshalb eigentlich nicht nur in einer Fußnote vor der Vergessenheit bewahrt werden.

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desverfassungsgerichts22 geworden zu sein. Nach dem Entwurf sollen sich maßgeblicher Inlandsbezug und maßgeblicher Auslandsbezug gegenseitig ausschließen, so dass also danach nicht der Fall denkbar ist, dass die Tat sowohl einen maßgeblichen Inlands- als auch Auslandsbezug aufweist. Dies ist logisch konsequent, wenn man die „Maßgeblichkeit“ auf das Ergebnis bezieht und also daraus immer ableitet, dass der Beschuldigte dort hinkommen muss, wo der maßgebliche Bezug vorliegt. Man kann die „Maßgeblichkeit“ aber auch in einem allgemeineren Sinne als „gewichtig“ verstehen, und dann wa¨re es durchaus vorstellbar, dass in einem Fall sowohl fu¨r das Ausland als auch fu¨r das Inland gewichtige Anknu¨pfungsgru¨nde gegeben sind. Nach dem Willen des Entwurfes soll diese Gruppe anscheinend in § 80 Abs. 2 erfasst sein, und zwar unter der Pra¨misse, dass weder ein maßgeblicher Inlands- noch ein maßgeblicher Auslandsbezug gegeben sei. Dann ergibt sich aber ein logisch zwingender Widerspruch zu der Regelung des maßgeblichen Auslandsbezuges in § 80 Abs. 1, wonach na¨mlich schwere Taten mit typisch grenzu¨berschreitendem Charakter, die zumindest teilweise auf dem Hoheitsgebiet des ersuchenden Staates begangen worden sind, einen maßgeblichen Auslandsbezug ha¨tten – obwohl ja die Definition selbst logisch zwingend voraussetzt, dass mindestens die gleiche Gewichtigkeit auch fu¨r einen Bezug zum Inland vorliegt! 2. Die Behandlung dieser Mittelgruppe der typisch grenzu¨berschreitenden Straftaten im Entwurf ist deshalb m. E. logisch zwingend fehlerhaft! Die gegenteilige Behauptung auf S. 38 der Begru¨ndung des Entwurfs, dass bei transnationalen Taten von erheblicher Schwere in der Regel ein maßgeblicher Auslandsbezug zu bejahen sei, ist fu¨r mich nicht nachvollziehbar und kann bereits durch eine Art „Gegenprobe“ widerlegt werden, indem man den Sachverhalt aus der Perspektive der ausla¨ndischen Rechtsordnung sieht: Nach den gleichen Kriterien mu¨sste dann na¨mlich auch dort ein Auslandsbezug (d. h. dann fu¨r Deutschland: ein Inlandsbezug) bejaht werden! 3. Weiterhin zeigt die Behandlung des Kriteriums der „beiderseitigen Strafbarkeit“ im Entwurf, wie wenig deren Probleme vom Bundesverfassungsgericht ¨ bernahme der teilweise dunkwirklich durchdacht worden sind; die bloß verbale U len Wendungen des Bundesverfassungsgerichts im Entwurf gera¨t deshalb in die Gefahr, fu¨r die Zukunft nur weitere Verfassungsbeschwerden mit zweifelhaftem Ausgang zu provozieren: Weil der Entwurf beim Handeln in einem Drittstaat die beiderseitige Strafbarkeit fordert (S. 40), obwohl in diesem Fall ja kein maßgeblicher Inlandsbezug in seinem Sinne vorliegt, wa¨hrend dies bei transnationalen schweren Delikten wiederum nicht der Fall sein soll, weil diese (wie oben dargelegt: aus logisch falschen Erwa¨gungen heraus) einem maßgeblichen Auslandsbezug untergeordnet werden, bleibt es in letzter Konsequenz vo¨llig unklar, welches materielle Schutzinteresse nach dem Entwurf mit dem Erfordernis der „beidersei22

Weitere Beispiele bei Schu¨nemann StV 2005, 681 ff.

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tigen Strafbarkeit“ gesichert werden soll. In analytischer Hinsicht ist die ganze Regelung deshalb eine Art Chaos. 4. Fu¨r a¨ußerst zweifelhaft halte ich auch die vo¨llige Verschwommenheit der Abwa¨gung, die dem in Deutschland fu¨r die Auslieferung zusta¨ndigen Oberlandesgericht letztlich u¨bertragen wird, besonders deutlich greifbar in Gestalt der Konstellationen, dass ein deutsches Verfahren entweder schon eingestellt oder aber sogar bis zum Hauptverfahren gediehen, aber noch nicht rechtskra¨ftig erledigt worden ist. Bezeichnend ist, dass in diesen Fa¨llen nach dem Entwurf sowohl eine Pru¨fung des OLG unter dem Aspekt eines aus zahllosen Einzelgesichtspunkten einschließlich des Verfahrensschicksals in Deutschland herleitbaren Inlandsbezuges gema¨ß § 80 Abs. 2 als auch ein nach Ermessen anzunehmendes Bewilligungshindernis gema¨ß § 83 b einschla¨gig sein kann. Wenn ein deutscher Staatsbu¨rger bereits ein deutsches Ermittlungsverfahren u¨ber sich ergehen lassen musste, das gema¨ß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt worden ist und deshalb freilich keine Rechtskraft wirkt, so kann man sich kaum vorstellen, dass dessen danach erfolgende Auslieferung an ein Ausland, das vielleicht nur die Beweise anders wu¨rdigt, rechtma¨ßig sein kann23; und noch zweifelhafter ist der Gedanke, dass jemand ans Ausland ausgeliefert wird, obwohl sein Verfahren in Deutschland bereits im Stadium des Hauptverfahrens angekommen ist. Andere Mitgliedstaaten behandeln diese beiden Fa¨lle weitaus restriktiver24, und zwar, wie ich glaube, mit vollem Recht! Es spricht auch vieles dafu¨r, dass in derartigen Fa¨llen eine erneute Verfassungsbeschwerde Erfolg ha¨tte – der allgemeine Rechtsgedanke der „double jeopardy“25 schließt es eigentlich aus, in solchen Fa¨llen noch einmal im Ausland das Verfahren ganz von neuem (!) beginnen zu lassen. 5. Obwohl das Urteil des Bundesverfassungsgerichts einen Anlass ha¨tte bieten sollen, die Rechtsstaatlichkeit des ganzen europa¨ischen Haftbefehls noch einmal insgesamt kritisch unter die Lupe zu nehmen, war in den gleich lautenden Entwu¨rfen der deutschen Bundesregierung und der Regierungsfraktionen davon auch nicht ein Hauch zu spu¨ren, und in diesem „Geist“ (soweit der Ausdruck in diesem Zusammenhang Berechtigung besitzt) hat die Große Koalition das Gesetz „durch23 Man ha ¨ tte deshalb zumindest verlangen sollen, dass dem ausla¨ndischen Begehren belastende neue Tatsachen oder Beweismittel zugrunde liegen. 24 So folgt aus § 363 Ziffer 1 der o ¨ sterreich. StPO im Umkehrschluss, dass eine Einstellung nach Vorerhebungen materiell rechtskra¨ftig wird und nur unter engen Voraussetzungen wiederaufgenommen werden kann (§ 352 Abs. 1 o¨StPO). Dieses extensivere Versta¨ndnis des Verbots der Doppelverfolgung hat dazu gefu¨hrt, dass in den im Text genannten Fa¨llen nach dem o¨sterreich. Vollzugsgesetz zum EuHb, weil innerstaatlich ne bis in idem gelten wu¨rde, keine Auslieferung erfolgen darf. 25 Das formale Versta ¨ ndnis des „ne-bis-in-idem-Grundsatzes“ in Art. 103 Abs. 3 GG ¨ mit Recht auf den gro¨ßeren Anwendungsist vom EuGH in seiner Rspr. zu Art. 54 SDU bereich der im angelsa¨chsischen Rechtskreis anerkannten materiellen Garantie erweitert worden, vgl. dazu EuGH-Urteile vom 11. 02. 2003, C-187 / 01 und C-385 / 01, ABl. C vom 05. 04. 2003, 83 / 5; zum Versta¨ndnis im Rechtskreis des Common Law s. nur Whitebread / Slobogin, Criminal Procedure, 3rd ed. New York 1993, S. 793 ff.

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gezogen“. Obwohl sich in der vom Rechtsausschuss am 5. 4. 2006 durchgefu¨hrten Anho¨rung der (wie u¨blich nach dem jeweiligen politischen Zweck gezielt vorsortierten) Experten selbst die notorischen Anha¨nger des Bru¨sseler Kurses auf dem Gebiet der Strafrechtspflege zu einer Kritik der zahlreichen gravierenden Ma¨ngel der Entwu¨rfe gezwungen sahen26, hat die Regierungsmehrheit des Rechtsausschusses in einem denkwu¨rdigen Dokument, na¨mlich in seinem Bericht vom 28. 6. 200627, auf den Seiten 6 – 11 zuna¨chst alle auf die Entscheidung des BVerfG und ¨ nderungsantra¨ge der Fraktionen FDP und die Expertenanho¨rung gestu¨tzten A Bu¨ndnis 90 / Die Gru¨nen, die sich um eine eingehende Begru¨ndung bemu¨ht hatten, durch nicht weiter begru¨ndete Mehrheitsbeschlu¨sse verworfen und sodann auf ¨ nderungen dargelegt, deren Petitessen an dieser Stelle S. 11 – 14 die eigenen A keine na¨here Analyse erfordern. Nachdem die Abgeordneten des Deutschen Bundestages sich beim 1. EuHbG, wie sie entsprechend den obigen Darlegungen ja selbst erkla¨rt haben, noch gutgla¨ubig als Lakaien von Bru¨ssel gefu¨hlt haben, waren sie zwischenzeitlich durch die (freilich allzu spa¨t erwachende) Strafrechtswissenschaft und zuletzt auch durch den freilich in fataler Weise sibyllinischen Spruch des BVerfG daru¨ber aufgekla¨rt worden, dass sie „die politische Gestaltungsmacht im Rahmen der Umsetzung, notfalls auch durch die Verweigerung der Umsetzung, behalten“28 – aber offenbar konnten sie ihre Lakaienmentalita¨ t nicht ablegen, dieses Mal gegenu¨ber einem notorisch defizienten Entwurf der Bundesregierung, und beschra¨nkten sich auf die Addition einiger Petitessen, die dann an dem auf den Bericht folgenden Tag vom Plenum des Deutschen Bundestages in Gesetzesform gegossen wurden29. Aber es wa¨re zu kurz gedacht, wenn man den Bericht des Rechtsausschusses nur als ein (bestu¨rzendes) Denkmal u¨ber den gegenwa¨rtigen Zustand des deutschen Parlamentarismus apostrophieren wu¨rde (wobei der Gerechtigkeit halber nicht unterschlagen werden darf, dass die FDP ihrer traditionellen Rolle als Verteidigerin des liberalen Rechtsstaates durch Herausstellung aller zentralen Gebrechen der Entwu¨rfe treu geblieben ist30). Denn der Befund muss ja wissenschaftlich hinterfragt werden – wobei es mir hier nicht um die Theorie der Demokratie, sondern der Strafrechtswissenschaft geht. Als Repra¨sentanten des Volkes als des Souvera¨ns haben die Abgeordneten Tag fu¨r Tag u¨ber Angelegenheiten zu entscheiden, von denen sie wenig oder nichts verstehen und deretwegen sie sich deshalb auf die communis opinio der Experten verlassen (mu¨ssen). Dass die deutsche Strafrechtswissenschaft durch ihre heutige 26 Sekr. des Rechtsausschusses, v. 30. / 31. 3., 5. 4. 2006, Zusammenstellung der Stellungnahmen von P.-A. Albrecht, Bo¨hm, Bo¨se, Ettenhofer, Herdegen, Brenner, Rosenthal und Weigend. 27 BT-Drucks. 16 / 2015. 28 NJW 2005, 2289, 2292 li. Sp. 29 Und als EuHbG v. 20. 7. 2006 im BGBl. I S. 1721 vero ¨ ffentlicht worden sind. 30 Bericht des Rechtsausschusses (Fn. 27), S. 10 f.; auch die Oppositionspartei Bu ¨ nd¨ nderungsantra¨gen ihrem traditionelnis 90 / Die Gru¨nen hat sich in ihren verschiedenen A len Ziel des Schutzes von Randgruppen verpflichtet gefu¨hlt, Bericht S. 6 ff.

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¨ berproduktion kontroverser Theorien, die ich die „dogmatische U ¨ berfeinerung“ U genannt habe, in der Praxis der Rechtsprechung zu einer Art Gemischtwarenhandel denaturiert ist, aus dessen zahllosen Regalen sich die Judikatur ohne Ru¨cksicht auf Konsistenz einfach diejenigen Artikel herausgreift, die zum vorher ausgesuchten Ergebnis passen, habe ich schon bei anderen Gelegenheiten vermerkt31. Wenigstens hinsichtlich des demokratisch-rechtsstaatlichen Fundaments des Strafrechts in Gestalt des ehernen Grundsatzes „nulla poena sine lege parlamentaria“, das durch die Rahmenbeschlu¨sse der EU zum allgemeinen und durch denjenigen zum Europa¨ischen Haftbefehl im besonderen eingerissen und gesprengt wird, ha¨tte man sich freilich Einigkeit erwarten du¨rfen. Aber wenn auch die (sich leider erst allzu spa¨t formierende) herrschende Lehre hier die Preisgabe der Fundamente brandmarkt, hat sich doch ausgerechnet unter den allerju¨ngsten Strafrechtslehrern (einer Altersgruppe, die vor 40 Jahren den immer noch denkwu¨rdigen AlternativEntwurf hervorgebracht hat!) eine neopositivistische Richtung herausgebildet32, die die Aufgabe der Strafrechtswissenschaft mehr oder weniger in einer Registratur der administrativen und gubernativen, ebenso zahllosen wie von der Bedeutung oft genug ephemeren Rechtsakte der EU zu erscho¨pfen vermeint und, in Verbindung mit der die speziellen Legitimationsanforderungen des Strafrechts seit je ignorierenden „Spezialwissenschaft“ des Europarechts, dem deutschen Gesetzgeber einen vielleicht sogar gutgla¨ubig benutzten Vorwand geliefert, die bis 1933 selbstversta¨ndlichen und nach 1945 mu¨hsam wieder errichteten demokratischrechtsstaatlichen Fundamente des Strafrechts zu relativieren, sobald Europa ins Spiel kommt. Mochte man dem Gesetzespositivismus alter Schule noch zugute halten, dass die Rechtswissenschaft damit dem Willen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers Gehorsam bezeugen wollte, so gibt es fu¨r eine entsprechende Einstellung gegenu¨ber den usurpatorischen Akten einer Ministergruppe, die in ihrer Gesamtheit so wenig zur Strafgesetzgebung befugt sein kann wie ein einzelner Justizminister, weder Legitimation noch Versta¨ndnis. Es handelt sich schlicht um einen Niedergang der deutschen Strafrechtskultur, der eine frappierende Parallele zu der von mir seit Jahren gegeißelten Einstellung weiter Kreise der deutschen Strafprozessrechtswissenschaft zur Zersto¨rung der vom Gesetz geschaffenen Strafprozessstruktur durch die von der Rechtsprechung contra legem etablierten Urteilsabsprachen33 aufweist. Sic transit gloria mundi.

31

FS f. Roxin, 2001, S. 1, 2 ff. Vgl. exemplarisch die Referate und Diskussionen auf der Dresdener Strafrechtslehrertagung 2003, ZStW 116 (2004), 275 ff., versus Bo¨se und Ga¨rditz / Gusy (Fn. 7) oder auch die Vernachla¨ssigung aller kritischen Aspekte bei Dannecker, Jura 2006, 95, 173. 33 Vgl. dazu nur Schu¨nemann, Absprachen im Strafprozeß? Grundlagen, Gegensta ¨ nde und Grenzen, Gutachten B fu¨r den 58. Deutschen Juristentag, 1990, ders., Wetterzeichen vom Untergang der deutschen Rechtskultur, 2005. 32

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V. Schlussbemerkung Der Umgang mit dem Strafrecht in der Europa¨ischen Union bildet geradezu einen Seismographen fu¨r die Lebendigkeit rechtsstaatlicher und demokratischer Ideen in Europa. Der Europa¨ische Gerichtshof und die Dogmatik des Europarechts in Deutschland haben die Europa¨isierung zu einem Wert an sich erkla¨rt und die demokratischen Defizite in großer Behendigkeit mit Schlagwo¨rtern wie „Mehrebenendemokratie“ oder „gubernative Rechtssetzung“ zu u¨berbru¨cken versucht34. Ich habe dafu¨r durchaus Versta¨ndnis, soweit es etwa die Regelung von Fragen wie die La¨nge von Bananen oder die Kru¨mmung von Gurken betrifft, aber beim Strafrecht geht es um die perso¨nliche Freiheit der Bu¨rger und damit um den Kern ihrer sozialen Existenz, zu deren Schutz die rechtsstaatlich-liberale Demokratie einmal konzipiert und durchgesetzt wurde. Mir ist durchaus bekannt, dass gerade auch unter ju¨ngeren polnischen Strafrechtswissenschaftlern eine verbreitete Neigung besteht, die fu¨r den o¨konomischen Sektor durch die Vertra¨ge etablierten und vom Europa¨ischen Gerichtshof maximal ausgereizten Kompetenzen der europa¨ischen Organe ohne Bedenken auf das Strafrecht zu u¨bertragen. Sollte ich je den Ehrgeiz haben, meine „Kritischen Anmerkungen zur geistigen Situation der deutschen Strafrechtswissenschaft“ aus dem Jahre 199535 fortzuschreiben, so wa¨re dieser „europa¨ische untergesetzliche Neopositivismus“ sogar mit der Propagierung eines „Feindstrafrechts“36 auf die gleiche Stufe zu stellen – als die ebenso wichtigsten wie bedrohlichsten Entwicklungen, die die in der Aufkla¨rung geborenen Ideen eines rechtsstaatlich-liberalen und entsprechend spa¨ter demokratischen Strafrechts zu vernichten drohen. Ich habe keinen Zweifel daran, dass unser Umgang mit dem Strafrecht dadurch ungefa¨hr in die Phase des aufgekla¨rten Absolutismus zuru¨ckkatapultiert wird, nur dass dieses Mal nicht ein Monarch, sondern Minister und Beamte die Rechtssetzungskompetenz erhalten sollen. Vor 250 Jahren ist es Beccaria gelungen, die Initialzu¨ndung fu¨r die rechtsstaatliche Liberalisierung und spa¨ter dann auch Demokratisierung des Strafrechts zu liefern. Heute wu¨rden wir nicht nur einen Beccaria, sondern viele Beccarias in allen Staaten der Europa¨ischen Union beno¨tigen, und selbst deren Aufrufe wu¨rden und werden mit ho¨chster Wahrscheinlichkeit in der gegenwa¨rtigen politischen Situation ungeho¨rt 34 Zur „Mehrebenendemokratie“ vgl. Brunkhorst / Kettner (Hrsg.), Globalisierung und Demokratie, 2000; Hiebaum, Politische Vergemeinschaftung unter Globalisierungsbedingungen, 1997; Zu¨rn, PVS 37 (1996), 27 ff.; Jachtenfuchs / Kohler-Koch, in: dies. (Hrsg.), Europa¨ische Integration, 1996, S. 15 ff.; Schuppert, in: Heyde / Schaber (Hrsg.), Demokratisches Regieren in Europa?, 2000, S. 65, 75 f.; Vogel, ZStW 116 (2004), 400 f. Programmatisch zur „gubernativen Rechtssetzung“ die gleichnamige Monographie von v. Bogdandy (2000), in der das Strafrecht aber bezeichnenderweise u¨berhaupt nicht vorkommt. 35 GA 1995, 201 ff. 36 Statt aller Jakobs, ZStW 117 (2005), 839 ff.; Ho¨rnle und Greco, GA 2006, 80 ff., 906 ff.; Go¨ssel und Kindha¨user, FS f. F.-C. Schroeder, 2006, S. 33 ff., 81 ff.; Schu¨nemann, FS f. Nehm, 2006, S. 219 ff.

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¨ ußerung verhallen. Dennoch mo¨chte ich es mit Martin Luther halten, dem die A zugeschrieben wird, er wolle noch am Vorabend des Weltunterganges ein Apfelba¨umchen pflanzen. Genau das wird die von mir eingangs erwa¨hnte europa¨ische Arbeitsgruppe in wenigen Wochen in Thessaloniki versuchen, denn man soll nicht sagen ko¨nnen, dass sich die Strafrechtswissenschaft vor ihrer Hauptaufgabe der kritischen Analyse gedru¨ckt und auf die Rolle eines Liebesdieners der Ma¨chtigen zuru¨ckgezogen habe37.

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Nunmehr liegt das Ergebnis vor, s. Schu¨nemann a. a. O. (Fn. 12).

Der Trend zum Kronzeugen in Europa* Jan C. Joerden I. Wenn es eine strafprozessuale Lehre gibt, die man aus jenem beru¨hmten Film „Zeugin der Anklage“ mit Marlene Dietrich und Charles Laughton ziehen kann, dann die, dass den Aussagen von Zeugen grundsa¨tzlich zu misstrauen ist. Zumal dann, wenn diese Zeugen auch noch Zeugen der Anklage sind und die Ankla¨gerin ist in England bekanntlich die Krone. Nun wird der Ausdruck „Kronzeuge“ allerdings traditionell nur auf diejenigen Zeugen der Anklage angewendet, die selbst Beteiligte an dem zur Verhandlung anstehenden Delikt waren und nunmehr gegen ihre ehemaligen Komplizen aussagen. Traditionell ist indes nicht nur diese eingeschra¨nkte Bedeutung der Bezeichnung „Kronzeuge“, Tradition hat auch der wissenschaftliche Streit um die materiell- und die prozessrechtliche Legitimita¨t der Figur des Kronzeugen.1 Dabei wird dieser Streit durchaus mit harten Bandagen gefu¨hrt. Einerseits wird die These aufgestellt, dass der Kampf gegen die Kriminalita¨t ohne eine ada¨quate Kronzeugenregelung nicht zu gewinnen sei. Andererseits wird nicht nur die Nutzlosigkeit einer solchen Regelung betont, sondern daru¨ber hinaus die in ihr liegende erhebliche Gefa¨hrdung eines rechtsstaatlichen Verfahrens behauptet. Aber immer dann, wenn einerseits gleichsam das Abendland, das * Geku¨rzte und u¨berarbeitete Fassung meines Beitrages „Europa¨isierung des Strafrechts – ein Beispiel: Der Kronzeuge“, in: Beichelt / Chołuj / Rowe / Wagener (Hrsg.), Europa-Studien, Wiesbaden 2006, S. 329 ff. 1 Vgl. etwa Jung, Straffreiheit fu ¨ r den Kronzeugen?, Ko¨ln u. a. 1974; Jahrreiss, „Zum Ruf nach dem sogenannten Kronzeugen. Das Mitglied einer Bande von Schwerstverbrechern als ,Staats-Zeuge‘ mit zugesicherter Belohnung fu¨r rechtsfo¨rderliche Aussage“, in: FS fu¨r R. Lange, Berlin 1976, S. 765 ff.; T. Weigend, „Anmerkungen zur Diskussion um den Kronzeugen aus der Sicht des amerikanischen Rechts“, in: FS fu¨r H.-J. Jescheck, Berlin 1985, S. 1333 ff.; Hassemer, „Kronzeugenregelung bei terroristischen Straftaten – Thesen zu Art. 3 des Entwurfs eines Gesetzes zur Beka¨mpfung des Terrorismus“, Strafverteidiger 1986, 550 ff.; Bernsmann, „Kronzeugenregelungen des geltenden Rechts – Dogmatische Anmerkungen zu einer (kriminal-)politischen Auseinandersetzung“, JZ ¨ berlegungen zur Figur des Kronzeugen im Umweltstrafrecht – 1988, 539 ff.; Behrend, „U Zugleich ein Beitrag zur Lehre vom Prozessvergleich“, GA 1991, 337 ff.; Hoyer, „Die Figur des Kronzeugen – Dogmatische, verfahrensrechtliche und kriminalpolitische Aspekte“, JZ 1994, 233 ff.; Roxin, Strafverfahrensrecht, 25. Aufl., Mu¨nchen 1998, § 14 Rdn. 20 ff.; Fezer, „Kronzeugenregelung und Amtsaufkla¨rungsgrundsatz“, in: FS fu¨r Th. Lenckner, Mu¨nchen 1998, S. 681 ff.; Jeßberger, Kooperation und Strafzumessung. Der Kronzeuge im deutschen und amerikanischen Strafrecht, Berlin 1999.

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dem Verbrechertum die Stirn bieten muss, und andererseits der Rechtsstaat, der doch die Voraussetzung fu¨r jedwede Rechtsverwirklichung darstellt, auf dem Spiel zu stehen scheinen, ist eine mo¨glichst vorurteilsfreie Analyse gefragt, die auch zu dem Ergebnis fu¨hren kann, dass die juristische Wahrheit irgendwo in der Mitte zwischen den beiden skizzierten Extremen liegt. Es kommt hinzu, dass die Diskussion u¨ber den Kronzeugen vor dem Hintergrund eines sich mehr und mehr europa¨isierenden Strafrechts gefu¨hrt werden muss. Zwar sind gerade die Strafrechtsordnungen bekanntlich immer noch prima¨r nationales Recht, aber der Druck auf eine Internationalisierung bzw. zumindest Europa¨isierung wichtiger strafrechtlicher Grundlagen erho¨ht sich sta¨ndig. Das spu¨ren nicht nur die sich im Anpassungsprozess an das europa¨ische Recht befindenden „neuen“ EU-La¨nder (wie Polen) und erst recht die Beitrittskandidatenla¨nder, sondern durchaus auch die „alten“ La¨nder der EU (wie Deutschland). Denn der fru¨her kaum u¨bliche Blick u¨ber die Grenze mit der Frage, „Wie beurteilen denn die anderen EU-Partner die jeweilige strafrechtliche Problematik?“ wird heute wesentlich o¨fter gewagt; und er ist auch dringend notwendig, da gerade im Rahmen der strafrechtlichen Verbrechensbeka¨mpfung u¨ber die nationalen Grenzen hinweg ein mo¨glichst einheitliches Rechtssystem sehr hilfreich sein ko¨nnte. Denn die Verbrecher haben die internationalen Herausforderungen la¨ngst angenommen und operieren u¨ber die Grenzen des Nationalstaates hinaus, und zwar nicht nur, was die klassischen Grenzdelikte wie Schmuggel aller Art betrifft. Allerdings ist dem Ruf nach Europa¨isierung des Strafrechts auch hier hinzuzufu¨gen, dass diese nicht auf Kosten rechtsstaatlicher Grundsa¨tze, sozusagen auf kleinstem gemeinsamem Nenner, geschehen darf. Es macht daher durchaus Sinn, einzelne Fragen des materiellen Strafrechts und des Strafprozessrechts mit Blick auf die Regelungen der EU-Nachbarn zu diskutieren, allerdings ohne dabei den Maßstab rechtsstaatlicher Verfasstheit des Strafrechts aus dem Auge zu verlieren. II. Zwar gibt es zur Zeit noch keine europa¨ische Richtlinie, die die Einfu¨hrung einer Kronzeugenregelung in den Mitgliedstaaten verlangt,2 wobei hier durchaus offen bleiben mag, ob dies auf der Basis der momentanen Erma¨chtigungslage der 2 Immerhin ero ¨ ffnen schon jetzt Rahmenbeschlu¨sse der EU den Mitgliedstaaten die Mo¨glichkeit zur Einfu¨hrung von (strafmildernden) Kronzeugenregelungen, vgl. Art. 6 des Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. 06. 2002 zur Terrorismusbeka¨mpfung (2002 / 475 / JI), Amtsblatt der Europa¨ischen Gemeinschaften vom 22. 06. 2002, L 164 / 5; Art. 5 des Rahmenbeschlusses 2004 / 757 / JI des Rates vom 25. Oktober 2004 zur Festlegung von Mindestvorschriften u¨ber die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen im Bereich des illegalen Drogenhandels, Amtsblatt der Europa¨ischen Union vom 11. 11. 2004, L 335 / 10. – Man sollte auch daran denken, dass es durch den auf die europa¨ische Ebene u¨bertragenen Gedanken des ne bis in idem dazu kommen kann, dass die Anwendung einer Kronzeugenregelung in dem einen EU-Land indirekt bindende Wir-

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europa¨ischen Vertra¨ge u¨berhaupt mo¨glich wa¨re. Aber es gibt in den einzelnen Mitgliedstaaten natu¨rlich durchaus unterschiedliche, bereits realisierte Konzepte fu¨r eine jeweils national-staatliche Kronzeugenregelung. So etwa in England, ¨ sterreich, Frankreich, Griechenland und Polen mit relativ umfassenden und in O 3 der Schweiz und Spanien mit eher ansatzweisen Regelungen. Auch Deutschland wird sich deshalb einer entsprechenden Diskussion nicht auf Dauer entziehen ko¨nnen, zumal es ja auch in Deutschland durchaus Schritte in Richtung auf eine Kronzeugenregelung gegeben hat und gibt.4 So galt bekanntlich in Deutschland bis zum Jahre 1999 ein in seiner Wirkungsdauer mehrmals verla¨ngertes Gesetz, das im Jahre 1989 eine Kronzeugenregelung bei terroristischen Straftaten eingefu¨hrt hatte. Dieser „Probelauf“ einer Kronzeugenregelung ero¨ffnete im Hinblick auf den Beteiligten eines Delikts nach § 129a StGB (Bildung einer terroristischen Vereinigung) oder einer mit dieser Tat zusammenha¨ngenden Straftat dem Generalbundesanwalt die Mo¨glichkeit, von der Verfolgung dieser Straftat abzusehen, wenn jener Beteiligte sein Wissen u¨ber Tatsachen offenbart hatte, deren Kenntnis geeignet war, die Begehung einer solchen Straftat zu verhindern oder die Aufkla¨rung einer solchen Straftat, falls er daran beteiligt war, u¨ber seinen Tatbeitrag hinaus zu fo¨rdern oder zur Ergreifung eines Ta¨ters oder Teilnehmers einer solchen Straftat zu fu¨hren. Es gibt weitere Details dieser Regelung, auf die es hier aber schon deshalb weiter nicht ankommen soll, weil diese Vorschrift – wie bereits erwa¨hnt – nicht mehr gilt, nachdem ihre Geltungsdauer ab 1999 nicht mehr verla¨ngert wurde. Gleichwohl bzw. auch gerade deshalb wird immer wieder die erneute Einfu¨hrung einer solchen Kronzeugenregelung gefordert; und dies nicht nur im Hinblick auf § 129a StGB, sondern auch fu¨r weitere Delikte. Die wohl am weitesten gehende Position dra¨ngt sogar auf eine gesetzliche Verankerung dieser Prozessrechtsfigur im Hinblick auf alle Straftaten. Bisher zumindest haben sich diese oder eine sonstige Initiative zur zumindest begrenzten Einfu¨hrung der Kronzeugenregelung allerdings noch nicht durchgesetzt. Und doch gibt es im deutschen Strafrecht gleichsam eine Nischenexistenz der Kronzeugenregelung, die im Unkung auch fu¨r ein anderes EU-Land entfalten kann, wenn es um die strafrechtliche Verfolgung des betreffenden Kronzeugen geht. 3 Vgl. dazu etwa die La ¨ nderberichte in: Gropp / Huber (Hrsg.), Rechtliche Initiativen gegen organisierte Kriminalita¨t, Freiburg i. Br. 2001; s. a. Denny, „Der Kronzeuge unter besonderer Beru¨cksichtigung der Erfahrungen mit Kronzeugen in Nordirland“, ZStW 103 (1991), 269 ff.; Waltos´, „Der Streit um den Kronzeugen in Polen“, in: Hirsch u. a. (Hrsg.), Neue Erscheinungsformen der Kriminalita¨t in ihrer Auswirkung auf das Strafund Strafprozeßrecht, Białystok 1996, S. 485 ff.; Mehrens, Die Kronzeugenregelung als Instrument zur Beka¨mpfung organisierter Kriminalita¨t – Ein Beitrag zur deutsch-italienischen Strafprozeßrechtsvergleichung, Freiburg i. Br. 2001; Pas´kiewicz, „Grundprinzipien und Rechtspraxis der polnischen Kronzeugenregelung“, ZStW 114 (2002), 922 ff. 4 Vgl. nur ju ¨ ngst „Referentenentwurf, Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf ¨ nderung des Strafgesetzbuches ( . . . StrA ¨ ndG)“ vom 18. April eines . . . Gesetzes zur A 2006 und dazu NJW-Spezial, Strafrecht, 2006, 236.

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terschied zu dem genannten Gesetz oder einer noch weitergehenden Regelung auch als „kleine Kronzeugenregelung“ bezeichnet wird. So kann etwa gem. § 31 I Nr. 1 des Gesetzes u¨ber den Verkehr mit Beta¨ubungsmitteln (BtMG) ein Gericht nach seinem Ermessen die Strafe fu¨r eine Tat nach dem BtMG mildern oder von bestimmten Strafen fu¨r Taten nach dem BtMG sogar ganz absehen, „wenn der Ta¨ter durch freiwillige Offenbarung seines Wissens wesentlich dazu beigetragen hat, daß die Tat u¨ber seinen eigenen Tatbeitrag hinaus aufgedeckt werden konnte.“5 Eine ganz parallele Formulierung findet sich auch in Abs. 10 des § 261 StGB, der Vorschrift u¨ber die Geldwa¨sche, wonach der Ta¨ter dann mit einer Strafmilderung oder gar dem Absehen von Strafe „belohnt“ werden kann, wenn er im Hinblick auf die eigene Tat u¨ber seinen Tatbeitrag hinaus oder im Hinblick auf die Geldwa¨schevortat eines anderen sein Wissen offenbart hat, das zur Aufdeckung der genannten Taten wesentlich beigetragen hat (vgl. § 261 X StGB). Nach § 129 VI StGB und § 129a VII StGB gibt es eine vergleichbare „kleine Kronzeugenregelung“ auch im Hinblick auf die Delikte der Bildung einer kriminellen bzw. einer terroristischen Vereinigung, also etwa auch bei dem Delikt des § 129a StGB, im Hinblick auf welches die Regelung u¨ber eine große Kronzeugenregelung keine gesetzliche Verla¨ngerung gefunden hat (vgl. auch § 129b I StGB fu¨r kriminelle und terroristische Vereinigungen im Ausland und ferner § 153e I 2 StPO im Hinblick auf Staatsschutzdelikte). Es ist immerhin bemerkenswert, dass u¨ber diese sog. kleinen Kronzeugenregelungen nicht anna¨hernd so gestritten wird wie u¨ber das Gesetz zur großen Kronzeugenregelung. Woran dies liegt, wird noch zu ero¨rtern sein. Bevor ich mich jedoch na¨her mit dem Fu¨r und Wider einer Kronzeugenregelung auseinandersetze, muss zuna¨chst etwas u¨ber die Funktionsweise einer jeden Kronzeugenregelung gesagt werden. Dass na¨mlich eine Kronzeugenregelung u¨berhaupt in der Praxis grundsa¨tzlich funktionieren kann, hat – vo¨llig abgesehen von eventuellen rechtsstaatlichen Bedenken gegen ein solches Vorgehen – etwas damit zu tun, dass die Kronzeugenregelung auf der Konstellation eines sog. Gefangenendilemmas aufbaut. III. Die Konstellation eines Gefangenendilemmas wird etwa durch folgende Fallgestaltung abgebildet:6 Zwei Personen haben gemeinsam einen Diebstahl begangen, sind aber alsbald gefasst worden. Beweise fu¨r ihre Tat stehen den Strafverfol5 Na ¨ her zu dieser Regelung mit zum Teil kritischer Auseinandersetzung mit ihr vgl. Jaeger, Der Kronzeuge unter besonderer Beru¨cksichtigung von § 31 BtMG, Frankfurt a. M. 1986; Buttel, Kritik der Figur des Aufkla¨rungsgehilfen im Beta¨ubungsmittelstrafrecht (§ 31 BtMG), Frankfurt a. M. 1988; Endriß, „§ 31 BtMG – ein bewa¨hrtes Instrument in der Strafverfolgungspraxis?“, StraFo 2004, 151 ff. 6 Na ¨ her dazu z. B. Cornides, „Gefangenendilemma, herrschaftsfreie Kooperation und Rechtstheorie“, Rechtstheorie 19 (1988), 90 ff.

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gungsbeho¨rden allerdings nur in sehr eingeschra¨nktem Ausmaß zur Verfu¨gung, so dass es fu¨r eine eventuelle Verurteilung der beiden Gefangenen wesentlich auf den Inhalt ihrer Aussagen ankommen wird. Dabei sei von den folgenden Regelungen ausgegangen, die u. a. eine Kronzeugenregelung umfassen (von der Diebstahls¨ bersichtbeute und deren eventueller Ru¨ckerstattung sei hier aus Gru¨nden der U 7 lichkeit der Fallgestaltung abgesehen): 1. Sollten beide Gefangenen ihre Tat gestehen, so haben sie wegen des Gesta¨ndnisses eine relativ milde Strafe von je 2 Jahren Gefa¨ngnis zu erwarten. (Hier greift die Kronzeugenregelung nicht ein, weil das Gesta¨ndnis zur ¨ berfu¨hrung des jeweils anderen Diebes nicht erforderlich war). U 2. Sollte der eine der beiden Gefangenen die Tat gestehen und damit zugleich die Ta¨terschaft des anderen bezeugen, der jeweils andere Gefangene dagegen die Tat leugnen, gilt eine Kronzeugenregelung, wonach der gesta¨ndige Angeklagte eine relativ milde Gefa¨ngnisstrafe von nur 1 Jahr zu erwarten hat, der verstockte Gefangene dagegen, der weiterhin leugnet, 4 Jahre Gefa¨ngnis erha¨lt. Dabei wird der Nachweis seiner Tatbeteiligung natu¨rlich gerade mit der Aussage des Kronzeugen gefu¨hrt. 3. Sollten schließlich beide Gefangene die Tat abstreiten bzw. u¨ber ihre Tatbeteiligung und die ihres Mitta¨ters schweigen, werden sie zwar noch ca. 6 Monate in Untersuchungshaft zubringen mu¨ssen, dann aber aus Mangel an Beweisen freigesprochen werden. Es sei vorausgesetzt, dass diese Regelungen auch den beiden Gefangenen bekannt sind, bevor sie zu ihrer Tatbeteiligung und der ihres Mitta¨ters vernommen werden. Allerdings sind sie im Gefa¨ngnis so untergebracht, dass sie nicht in der Lage sind, miteinander Kontakt aufzunehmen, und dementsprechend ihr Aussageverhalten nicht absprechen ko¨nnen. Jeder der beiden Gefangenen steht deshalb vor den hier abgeku¨rzt bezeichneten Verhaltensalternativen des „Schweigens“ oder des „Gestehens“, deren Konsequenzen fu¨r die beiden Gefangenen G1 und ¨ bersicht zusammenstellen lassen: G2 sich in folgender U G1

Schweigen

Gestehen

G2 Schweigen

G1: 6 Monate G2: 6 Monate

G1: 1 Jahr G2: 4 Jahre

Gestehen

G1: 4 Jahre G2: 1 Jahr

G1: 2 Jahre G2: 2 Jahre

Auszahlungsmatrix beim Gefangenendilemma 7 Es sei hinzugefu ¨ gt, dass hier nur ein Beispiel fu¨r eine Kronzeugenregelung gegeben wird, durch das deren prinzipielle Wirkungsweise erla¨utert werden soll; es handelt sich nicht um die Abbildung etwa der deutschen oder einer anderen gesetzlichen Regelung.

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Jeder der beiden Gefangenen wird sich angesichts dieser Konstellation als rational denkender Egoist u¨berlegen, wie er sich wohl am besten verhalten soll, und zwar je nachdem wie sein Mitgefangener sich verhalten wird. Beispielsweise wird sich der Gefangene G1 u¨berlegen: 1. Sollte G2 gestehen, ist es fu¨r mich besser, ebenfalls zu gestehen, weil ich dann nur 2 Jahre Gefa¨ngnis bekomme, wa¨hrend ich dann, wenn ich schweige, fu¨r 4 Jahre ins Gefa¨ngnis muss. 2. Sollte G2 demgegenu¨ber schweigen, ist es fu¨r mich besser zu gestehen, weil ich dann nur fu¨r 1 Jahr meine Freiheit verliere, wa¨hrend dann, wenn ich auch schweige, die Strafe fu¨r mich 2 Jahre betragen wu¨rde. ¨ berlegungen wird der Gefangene G1 daher folgern, dass es Aus diesen beiden U fu¨r ihn in jedem Fall besser ist, zu gestehen, gleichgu¨ltig wie G2 sich verha¨lt. Aber auch G2 wird als rationaler Egoist, als der er hier vorausgesetzt sei, genauso u¨berlegen und daher zu demselben Ergebnis kommen: Gestehen ist fu¨r mich jeweils das Beste. Daher werden beide Gefangenen ein Gesta¨ndnis ablegen und daraufhin beide zu je 2 Jahren Gefa¨ngnis verurteilt. Die Pointe an der Geschichte ist nun, dass beide Gefangenen sich zwar aus ihrer individuellen Perspektive durchaus rational verhalten, wenn sie gestehen, sie aber gerade dadurch die Option verpassen, zu einer wesentlich geringeren Freiheitseinbuße zu kommen, die sich ergeben ha¨tte, wenn beide geschwiegen ha¨tten, und zwar nur jeweils 6 Monate Untersuchungshaft. Die beiden Gefangenen befinden sich offenkundig in einem Dilemma, eben dem deshalb so genannten Gefangenendilemma. Dieses Dilemma besteht darin, dass sie einerseits durchaus alle Konsequenzen des eigenen und des Verhaltens des anderen Mitta¨ters und sogar die Konsequenzen des Verhaltens der Staatsorgane kennen und trotzdem nicht in die fu¨r beide Gefangenen relativ gu¨nstigste Ergebniskonstellation vordringen, bei der sie beide wegen ihres beiderseitigen Schweigens nur einen Freiheitsentzug von jeweils 6 Monaten zu erwarten ha¨tten. Sie werden daran gleichsam durch ihren eigenen Egoismus und natu¨rlich durch die Struktur des Gefangenendilemmas und dessen „Auszahlungsmatrix“ gehindert; und dies mit Notwendigkeit, weil sie sich aus ihrer je eigenen egoistisch rationalen Perspektive gar nicht anders entscheiden ko¨nnen, als zu gestehen, wie soeben im einzelnen gezeigt wurde. Bewirkt wird dies hier durch die Kronzeugenregelung, die das Gesta¨ndnis, bei dem auch der Mitta¨ter belastet wird, belohnt, und zwar im Beispiel mit einer Strafmilderung von 1 Jahr; eine Belohnung, die zudem noch in Relation gesehen werden muss zu der Strafe von 4 Jahren bei einseitig fehlendem Gesta¨ndnis eines der beiden Gefangenen. Dabei ist wichtig, dass diese Situation eines Gefangenendilemmas nicht nur und nicht erst im Rahmen der Aufkla¨rung der Straftat wirksam ist, also repressiv, sondern auch pra¨ventiv, d. h. sogar schon vor Begehung

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der Tat Wirkungen entfalten kann. Denn die Quintessenz des Gefangenendilemmas ist es, dass die beiden Gefangenen resp. die beiden Ta¨ter (oder auch nur planenden Ta¨ter) einander nicht mehr ohne weiteres vertrauen ko¨nnen, weil sie immer damit rechnen mu¨ssen, dass der jeweils andere fu¨r sich einen Vorteil (hier: Strafmilderung) daraus ziehen kann, dass er seinen Komplizen verra¨t. Dies ist zwar bei Straftaten von zwei oder mehr Beteiligten ohnehin so, weil bei mehr als einer Person immer das Risiko des Verrats besteht; die Kronzeugenregelung verscha¨rft dieses Risiko aber so weit, dass eine mo¨glicherweise zwischen den Beteiligten getroffene Verabredung, bei einer eventuellen Festnahme nicht gegeneinander auszusagen, stets nur ein „labiles Gleichgewicht“ herstellen kann, weil jederzeit das Risiko besteht, dass der andere Mitta¨ter aus Eigennutz sich der Verabredung entzieht und dabei dem weiterhin auf das Versprechen Vertrauenden einen großen Schaden zufu¨gt (hier: 4 Jahre Gefa¨ngnis). Fu¨r beide Mitta¨ter bleibt es daher stets verfu¨hrerisch, die Verabredung zu brechen; tun sie es jedoch beide, ist fu¨r beide die Konsequenz zwar nicht ganz so hart wie im Fall des einseitigen Bruchs der Verabredung durch den jeweils anderen, aber insgesamt immer noch suboptimal (hier: 2 Jahre Gefa¨ngnis). ¨ ber ein Gefangenendilemma mit dieser Pra¨gung durch eine KronzeugenregeU lung hinaus ist die zugrunde liegende Struktur schon zur Beschreibung sehr unterschiedlicher Kontexte verwendet worden, insbesondere, wenn man die Mo¨glichkeit einer mehrfachen Wiederholung der „Spielzu¨ge“ des Gefangenendilemmas hinzunimmt (sog. iteriertes Gefangenendilemma8). So la¨sst sich etwa die Situation der damaligen Superma¨chte USA und UdSSR im Kalten Krieg als ein immer wieder neu entstehendes „Gefangenendilemma“ auffassen: Da keine Seite der anderen vertraute und vertrauen konnte, haben beide Ma¨chte aus individuell egoistischer Perspektive heraus durchaus vernu¨nftigerweise keine relevanten Abru¨stungsschritte unternommen, haben also nicht kooperiert, sondern defektiert. Mit dem Kunstwort „defektieren“ bezeichnet man die Verhaltensweise im Gefangenendilemma, bei der einer das Vertrauen des anderen ausnutzt, indem er nicht kooperiert. In diesem Sinne ist bei dem Kronzeugenbeispiel das Schweigen der Gefangenen die relativ gewinntra¨chtigste Verhaltensweise, also die Kooperation, wa¨hrend das Gestehen eine Defektion darstellt, bei der die beiden Gefangenen eben gerade nicht kooperieren. Doch noch einmal zuru¨ck zu der Situation im Kalten Krieg: Erst als USA und UdSSR sich nach den Vera¨nderungen in der UdSSR zu vertrauen begannen, konnten sie durch beiderseitige Abru¨stung in eine fu¨r beide Seiten gewinntra¨chtigere (d. h. genauer: weniger verlustreiche) Lage kommen. Aber wieder war das wechselseitige Vertrauen stets von der Gefahr des Missbrauchs durch eine Seite bedroht, da sich stets jede der beiden Seiten einen zumindest kurzfristigen Vorteil ausrechnen konnte, wenn sie die Verabredungen u¨ber die Abru¨stung erfolgreich unterlief.

8 Vgl dazu etwa Axelrod, Die Evolution der Kooperation, Mu ¨ nchen 1987, siehe auch Cornides, a. a. O. (ob. Fn. 6).

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Es gibt daru¨ber hinaus Vorschla¨ge, den Begriff des Rechts ganz allgemein und insbesondere auch den durch das Recht grundsa¨tzlich geschu¨tzten Abschluss von Vertra¨gen damit zu erkla¨ren, dass man seitens des Staates versucht, auf die Situation eines – auf andere Kontexte erweiterten – Gefangenendilemmas Einfluss zu nehmen, indem man eine erwu¨nschte Kooperation der beiden Partner – z. B. Gescha¨ftspartner – durch die Zurverfu¨gungstellung von Sanktionsmechanismen sta¨rkt; im obigen Abru¨stungsbeispiel etwa durch das Vo¨lkerrecht, wie bru¨chig auch immer es sich dann eventuell erweisen mag. Oder im Verha¨ltnis zwischen kooperierenden Gescha¨ftsleuten, auf das die Struktur des Gefangenendilemmas auch u¨bertragbar ist, durch die Mechanismen des Zivil- und Handelsrechts. Bei dem strafrechtlichen Beispiel der Kronzeugenproblematik ist es nun gerade so, dass die Kooperation zwischen den beiden Gefangenen nicht erwu¨nscht ist, weshalb die staatlichen Vorschriften durch eine mo¨glichst weitgehende Kronzeugenregelung die Defektion beider Gefangener zu unterstu¨tzen suchen. Es ist daher nicht weiter verwunderlich, dass die sog. Verbrechermoral ihrerseits die Kooperation zu fo¨rdern trachtet, indem sie den Verrat eines Komplizen als das schlimmste Verbrechen gegen eben diese „Verbrechermoral“ wertet und einen Verstoß gegen diese Norm bekanntlich mit erheblichen Sanktionen belegt (das viel zitierte „Gesetz des Schweigens“). Stellt man einmal gedanklich diese mo¨glichen Sanktionen in die Auszahlungsmatrix des Gefangenendilemmas ein, so zeigt sich schnell, dass sich die Gewichte deutlich zur Kooperation hin, also zum beiderseitigen Leugnen der Gefangenen, verschoben haben. Gegenmittel hierzu ist bei einer sinnvollen Kronzeugenregelung daher der Zeugenschutz fu¨r den Aussteigewilligen, bis hin zur Organisation einer neuen Identita¨t. Im polnischen Strafrecht etwa ist dies bis ins Detail geregelt, indem im Rahmen einer recht umfassenden Kronzeugenregelung sogar die Erstattung von Aufwendungen fu¨r einen Kronzeugen vorgesehen sind, die fu¨r dessen kosmetische, seine Identita¨t verbergende Operationen aufgewendet werden mu¨ssen.9 IV. Dass und wie eine Kronzeugenregelung grundsa¨tzlich funktionieren kann, ist damit gezeigt. Dies beantwortet indes natu¨rlich noch nicht die Frage, ob sie auch rechtlich akzeptabel ist. Zur umfassenden Beantwortung dieser Frage wa¨re im Einzelnen auf alle juristischen Einwa¨nde gegen die Kronzeugenregelung einzugehen und dabei auszuloten, ob es zumindest einen legitimen Anwendungsbereich der Figur des Kronzeugen geben kann. Eine solche in alle Einzelheiten gehende Analyse ist hier jedoch schon aus Raumgru¨nden nicht mo¨glich; es ko¨nnen hier nur die wichtigsten Punkte herausgegriffen und dabei das Fu¨r und Wider einer Kronzeugenregelung erla¨utert werden. Um dabei ein Teilergebnis schon an dieser 9

Vgl. na¨her Pas´kiewicz, a. a. O. (ob. Fn. 3), 922 ff., 936.

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Stelle vorwegzunehmen: Mir scheint ein mo¨glicher und legitimer Anwendungsbereich allenfalls im Bereich der Wirtschaftsstraftaten im weitesten Sinne zu liegen. Ich werde dies bei der Durchmusterung der Einwa¨nde gegen die Kronzeugenregelung na¨her zu belegen versuchen. Ein Beispiel mag dabei vorweg eine gewisse Indizwirkung entfalten. In seiner ku¨rzlich erschienenen Dissertation hat Till Wiesner10 – auch unter Bezugnahme auf die Situation des Gefangenendilemmas11 – die Frage untersucht, inwieweit die Kronzeugenregelung im Kartellrecht Verwendung findet und legitimerweise Verwendung findet, wenn es darum geht, die Verfolgung bestimmter Kartelle durch die Europa¨ische Kommission und das Bundeskartellamt zu erleichtern. Im Unterschied zu der umstrittenen Kronzeugenproblematik im Strafverfahren geht es bei der Beka¨mpfung der genannten Kartelle (im wesentlichen) allerdings nur um Ordnungswidrigkeiten, so dass – worauf noch zuru¨ckzukommen sein wird – prima¨r die Verletzung der Ordnungsfunktion des Rechts in Rede steht und damit zumindest graduell eine Differenzierung zum Strafverfahren gegeben ist. Immerhin wird hier – wie es scheint durchaus erfolgreich – die Mo¨glichkeit zur Herabsetzung von Geldbußen im Gegenzug zur Aufdeckung von Kartellen seitens hieran Beteiligter genutzt, also im Wege einer gerade einer Kronzeugenregelung entsprechenden Vorgehensweise. Es liegt auf der Hand, dass bei Kartellen das Angebot eines Ausstiegs durch Preisgabe des Kartells mit dem Ziel der Herabsetzung der an sich verwirkten Geldbuße ein durchaus Erfolg versprechendes Mittel ist, um das Kartell empfindlich zu sto¨ren. Und das – wie bereits angedeutet – nicht nur repressiv, sondern auch pra¨ventiv, weil es erheblich zur Verunsicherung der Mitglieder des Kartells beitra¨gt, wenn diese davon ausgehen mu¨ssen, einer von ihnen ko¨nnte gleichsam vorzeitig aussteigen und das Kartell auffliegen lassen. Aber es fu¨hrt kein Weg daran vorbei, dass die Legitimation einer solchen Vorgehensweise sich nicht auf den Aufweis ihrer Funktionalita¨t beschra¨nken kann. Vielmehr sind diesem Aspekt nun die in Betracht kommenden rechtsstaatlichen Bedenken gegenu¨berzustellen. Als ein gewichtiger Vorwurf wird die These vertreten, eine jede Kronzeugenregelung sei schon deshalb suspekt, weil der Wahrheitsgehalt der Kronzeugenaussage als gering einzuscha¨tzen sei. Dies deshalb, weil der Kronzeuge ein eigenes Interesse daran habe, in bestimmter Weise auszusagen, da er ja der Strafe, die ihm droht, zumindest partiell, entgehen will. Er wird 10 Vgl. Wiesner, Der Kronzeuge im Kartellrecht – Zur Rechtma ¨ ßigkeit der Honorierung von Aufkla¨rungshilfe durch Sanktionserlass bei der Verfolgung von Hardcore-Kartellen durch die Europa¨ische Kommission und das Bundeskartellamt, Berlin 2004; vgl. auch Hetzel, Kronzeugenregelungen im Kartellrecht. Anwendung und Auslegung von Vorschriften u¨ber den Erlass oder die Erma¨ßigung von Geldbußen im Lichte elementarer Rechtsgrundsa¨tze, Freiburg i. Br. 2004; Dannecker, „Die Sanktionierung von Versto¨ßen gegen das gemeinschaftsrechtliche Kartellrecht nach der Verordnung (EG) Nr. 1 / 2003 in der Europa¨ischen Union“, wistra 23 (2004), 361 ff.; s. a. Hellmann / Beckemper, Wirtschaftsstrafrecht – Studienbuch, Stuttgart 2004, Rdn 958 ff. 11 Wiesner, a. a. O. (ob. Fn. 10), S. 14 ff.

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deshalb eher bereit sein, einen (eventuell u¨berhaupt nur angeblichen) Mitta¨ter schwer zu belasten, um dadurch seinen eigenen Tatbeitrag mo¨glichst gering erscheinen zu lassen. Es besteht sogar die naheliegende Gefahr, dass durch den Kronzeugen ga¨nzlich Unschuldige fa¨lschlich belastet werden. Diese Einwa¨nde sind zwar alle zutreffend, aber gerade bei Zeugenaussagen wird der Richter immer zu pru¨fen haben, ob der Zeuge u¨berhaupt glaubwu¨rdig aussagt. Und bei der Aussage von Kronzeugen wird er mit den beschriebenen Gefahren besonders zu rechnen haben. Aber andererseits ist der Richter natu¨rlich auch gewarnt, weil er die Kronzeugenposition mit in seine Beurteilung der Glaubwu¨rdigkeit des Zeugen einbeziehen kann, wa¨hrend er bei einem „normalen“ Zeugen mo¨glicherweise nicht einmal ein Indiz hat fu¨r ein bei diesem ebenfalls, allerdings versteckt, vorhandenes Motiv fu¨r mo¨gliche Falschaussagen im Eigeninteresse. Deshalb mag die These durchaus stimmen, der Kronzeuge sei das schlechteste Beweismittel, aber es folgt hieraus allein noch nicht, dass er u¨berhaupt nicht als Beweismittel genutzt werden du¨rfte. Denn auch sonst wu¨rde man ja nicht darauf verzichten, die Aussage eines Mitbeschuldigten zu ho¨ren, nur weil man weiß, dass er eigene Interessen bei der Aussage verfolgen ko¨nnte. Das Argument der mo¨glichen Korrumpierung der Aussage des Kronzeugen durch sein Eigeninteresse tra¨gt also nur so weit, als es eine Warnung vor dem mo¨glichen Missbrauch der Aussagemo¨glichkeit bedeutet; es kann aber eine Kronzeugenregelung als solche nicht zentral in Frage stellen. Allenfalls ist die Forderung zu erheben, dass Verurteilungen nicht allein auf die Aussage eines Kronzeugen gestu¨tzt werden du¨rfen, sondern weiterer Beweismittel bedu¨rfen. Ein weiterer Einwand geht dahin, es sei per se zu missbilligen, dass der Staat die Aussage des Kronzeugen gleichsam „einkaufe“, indem er diesem Strafmilderung oder gar Straffreiheit fu¨r eine Aussage in Aussicht stelle. Es geht bei diesem Einwand also nicht mehr um die Korrumpierung der Aussage in ihrem Inhalt, sondern um die Korrumpierung der Aussagebereitschaft. Aber ist dieser Einwand wirklich stichhaltig? Wir kennen ja auch in anderen Kontexten durchaus das Angebot von Straffreiheit oder Strafmilderung im Tausch gegen ein staatlich erwu¨nschtes Verhalten. In materiellrechtlicher Hinsicht seien hier etwa die Straffreistellung bei Ru¨cktritt vom Versuch (§ 24 StGB) oder die Strafmilderung bzw. Straffreistellung bei ta¨tiger Reue erwa¨hnt.12 Auch der Ta¨ter-Opfer-Ausgleich (vgl. § 46a StGB) hat eine prinzipiell a¨hnliche Struktur. Weiterhin werden zu Recht Belohnungen fu¨r Hinweise ausgesetzt, die zur Ergreifung eines Ta¨ters fu¨hren. Und schließlich ist es keineswegs verpo¨nt, den „Kronzeugen gegen sich selbst“, also den Ta¨ter, zu einem Gesta¨ndnis zu motivieren, indem man ihm Strafmilderung in Aussicht stellt. Obwohl ja auch hier die Ka¨uflichkeit des Gesta¨ndnisses, sowohl hinsichtlich des Gesta¨ndnisses selbst als auch hinsichtlich des Inhalts desselben durchaus problematisiert werden ko¨nnte. 12 Zu den Parallelen zwischen Kronzeugenregelung und Ru ¨ cktrittsregelungen vgl. etwa Hoyer, „Die Figur des Kronzeugen – Dogmatische, verfahrensrechtliche und kriminalpolitische Aspekte“, Juristenzeitung 1994, 233 ff.

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Allerdings kommt natu¨rlich im Unterschied zu dem ein Gesta¨ndnis ablegenden „Kronzeugen gegen sich selbst“ bei dem Kronzeugen gegen einen anderen etwas hinzu: Der Verrat an seinem Komplizen, der die Legitimita¨t einer Kronzeugenregelung belasten ko¨nnte. Der Verrat ist uns suspekt und scheint deshalb als Mittel der Rechtsdurchsetzung problematisch. Aber man sollte sich schon klar machen, dass man sich mit einer Wertung, die diesen Verrat negativ sanktioniert, unversehens auf die Seite der oben bei den Ero¨rterungen zum Gefangenendilemma schon erwa¨hnten Verbrechermoral stellt. Dies kann deshalb kaum ein durchschlagender Einwand gegen eine Kronzeugenregelung sein. Es erscheint daher auch nicht mehr akzeptabel, wenn im Kontext der Diskussion u¨ber eine eventuelle Kronzeugenregelung die Figur des Kronzeugen mit dem Ausdruck „Denunziant“ belegt wird und dies offenbar den Teil eines Arguments ausmachen soll, das man vorbringen mo¨chte.13 Denn der Ausdruck „Denunziant“ stellt eher eine begriffliche Verbindung zu demjenigen her, der der Staatsgewalt eines Unrechtsstaates die von diesem gesuchten Personen ausliefert. In diesem Sinne war in der Zeit des Nationalsozialismus derjenige ein Denunziant, der insbesondere Widersta¨ndler oder Juden der Staatsmacht anzeigte, oder der in anderen Fa¨llen unschuldige Personen angeblicher Verbrechen bezichtigte, entweder in dem Sinne, dass diese Personen die Verbrechen gar nicht begangen hatten oder in dem Sinne, dass es sich um „Verbrechen“ handelte, die u¨berhaupt nur in einem Unrechtsstaat als solche bezeichnet werden. Ein Denunziant in diesem Sinne ist der Kronzeuge – zumindest dann, wenn er wahrheitsgema¨ß aussagt – gerade nicht. Vielmehr stellt sich dieser – wenn auch aus dem eigennu¨tzigen Motiv der Vermeidung von Bestrafung – (wieder) auf die Seite des Rechts und verhilft diesem zur Durchsetzung. Ernster zu nehmen ist da schon der Einwand, eine Kronzeugenregelung verstoße gegen das formelle Legalita¨tsprinzip, wenn die Strafbarkeit des Kronzeugen nicht von Amts wegen untersucht und verfolgt, sondern durch Einstellung gleichsam unter den Teppich gekehrt wird. Dieser Einwand ist schon deshalb ernst zu nehmen, weil das Legalita¨tsprinzip ohnehin schon vielfa¨ltige Durchbrechungen erfa¨hrt, etwa durch die Regelungen u¨ber die Verfahrenseinstellung in den Fa¨llen der §§ 153 ff. StPO, die auf Dauer und bei weiterer Ausweitung durch Kronzeugenregelungen dem Legalita¨tsprinzip so schweren Schaden zufu¨gen ko¨nnten, dass der Strafprozess, so wie wir ihn bisher kennen, zu einem bloßen Spielball staatlicher Interessen abgewertet wu¨rde. An die Stelle des Legalita¨tsprinzips tra¨te mithin ein reines Opportunita¨tsprinzip (wie weitgehend heute schon im Strafrechtssystem der USA). Diesem Einwand kann indes dadurch die Spitze genommen werden, dass man ganz bewusst darauf verzichtet, die Realisierung der durch die Kronzeugenrege13 Vgl. in diesem Sinne aber etwa die Stellungnahme des Strafrechtsausschusses des DAV (Deutscher Anwaltsverein) zur Neuauflage einer Kronzeugenregelung, Strafverteidiger 2001, 317 ff.

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lung in Aussicht gestellten Vergu¨nstigungen der Staatsanwaltschaft zu u¨berlassen. Nicht die Einstellung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft, sondern Strafmilderung oder auch Straferlass durch das Gericht sollten das Angebot einer eventuellen Kronzeugenregelung sein. D. h. im Sinne einer prima¨r materiellrechtlichen Regelung und nicht etwa – wie in den USA14 – einer stark prozessrechtlichen Lo¨sung. So wie ja auch die bereits im Gesetz festgeschriebenen sog. kleinen Kronzeugenregelungen (vgl. oben) auf eine materiellrechtliche Vorgehensweise bezogen sind. Dementsprechend war der Weg des seinerzeitigen Gesetzes zur Kronzeugenregelung bei terroristischen Straftaten nicht zuletzt insoweit zu kritisieren, als durch dieses Gesetz der Generalbundesanwalt erma¨chtigt wurde (selbst wenn er dazu der Zustimmung eines Strafsenats des Bundesgerichtshofs bedurfte), ggf. von der Verfolgung der betreffenden Taten abzusehen. Doch nun zu dem wohl am ernstesten zu nehmenden Einwand gegen eine mo¨gliche Kronzeugenregelung, der darauf abzielt, dass eine Kronzeugenregelung das Rechtsstaatsprinzip und den Gleichbehandlungsgrundsatz beru¨hre, indem sie u. U. schwerster Straftaten Verda¨chtige von der Strafverfolgung und u¨berfu¨hrte Ta¨ter von der Bestrafung ausnimmt. Hassemer stellt daru¨ber hinaus sogar die These auf, die Kronzeugenregelung sei geeignet, das Rechtsbewusstsein der Bevo¨lkerung zu gefa¨hrden.15 Und in der Tat, es ist dieser Mangel an Gerechtigkeit, der dem Gedanken an eine Kronzeugenregelung am sta¨rksten widerstreitet, indem na¨mlich bisher die Perspektive des Opfers der betreffenden Straftat ganz unberu¨cksichtigt geblieben ist (u¨brigens auch in der Strukturanalyse mittels des Gefangenendilemmas). Denn es geht ja nicht nur um den staatlichen Strafanspruch, den man mo¨glicherweise gleichsam im Verhandlungswege zur Disposition stellen kann, sofern man sich auf diese Weise gro¨ßere Aufkla¨rungserfolge einhandelt. Es geht im Strafverfahren eben auch darum, dem Opfer dadurch Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, dass man den Strafta¨ter einer gerechten Strafe zufu¨hrt. Aber hier o¨ffnet sich nun auch ein Raum zur Differenzierung. Denn nicht bei allen Delikten ist das Bedu¨rfnis nach gerechter Strafe so elementar wie bei den Delikten unmittelbar gegen Leib und Leben. Viele Delikte etwa, die im weitesten Sinne unter den Begriff des Wirtschaftsstrafrechts fallen, sind Delikte, bei denen kommensurable Rechtsgu¨ter, also in Geldwerten ausdru¨ckbare Interessen, in Rede stehen, soweit nicht zusa¨tzlich Gewalt zur Realisierung des Deliktserfolgs eingesetzt wurde. Daru¨ber hinaus sind viele Delikte dieses Bereichs ganz ohne konkret betroffene Rechtsgutstra¨ger, also gleichsam „opferlos“. Es du¨rfte hiermit zusammenha¨ngen, dass gegen die Regelungen des § 261 X StGB und des § 31 BtMG so relativ wenig Kritik aufgekommen ist, gerade weil es bei der Geldwa¨sche, aber

Dazu na¨her T. Weigend, a. a. O. (ob. Fn. 1); Jeßberger, a. a. O. (ob. Fn. 1). Vgl. Hassemer, „Kronzeugenregelung bei terroristischen Straftaten – Thesen zu Art. 3 des Entwurfs eines Gesetzes zur Beka¨mpfung des Terrorismus“, Strafverteidiger 1986, 550 ff. 14 15

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auch bei den Beta¨ubungsmitteldelikten, in aller Regel an einem konkret bestimmbaren Opfer fehlt. ¨ hnliches gilt nun aber auch bei vielen anderen Delikten aus dem Bereich der A Wirtschaftskriminalita¨t. Das liegt zum einen daran, dass diese Delikte oft dem dogmatischen Feld der Gefa¨hrdungsdelikte angeho¨ren, bei denen es naturgema¨ß schwierig ist, ein konkretes Opfer zu bestimmen. So etwa beim Kapitalanlagebetrug gem. § 264a StGB, aber auch beim Kreditbetrug gem. § 265b StGB. Oftmals ist Gescha¨digter in erster Linie der Staat oder die Allgemeinheit, so dass ebenfalls eher die Ordnungsfunktion der Norm im Vordergrund steht und nicht so sehr ein einzelner Rechtsgutstra¨ger betroffen ist. So etwa dann, wenn es um einen Subventionsbetrug gem. § 264 StGB oder das Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt gem. § 266a StGB oder um den sog. Submissionsbetrug gem. § 298 StGB oder um die schon erwa¨hnte Geldwa¨sche gem. § 261 StGB geht. Noch deutlicher wird die Loslo¨sung vom individuellen Rechtsgu¨terschutz im Wirtschaftsstrafrecht, wenn man die zahlreichen nebenstrafrechtlichen Normen dieses Rechtsgebietes hinzunimmt, die schon von der Konstituierung des Feldes „Wirtschaftsstrafrecht“ aus betrachtet gerade durch den Schutz u¨berindividueller Rechtsgu¨ter, oder wie es auch heißt: sozialer oder Kollektivrechtsgu¨ter, Interessen der Allgemeinheit16, charakterisiert sind. Genannt seien beispielsweise die Delikte des Schmuggels und der Steuerhehlerei gem. §§ 373, 374 AO und die Delikte, die unter Verstoß gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz oder das Außenwirtschaftsgesetz begangen werden, sowie die Delikte, die vom Gesetz gegen den unlauteren ¨ hnliches gilt auch fu¨r Wettbewerb oder dem Kreditwesengesetz erfasst werden. A die meisten Umweltdelikte gem. §§ 324 ff. StGB, die man im weitesten Sinne auch zum Wirtschaftsstrafrecht hinzuza¨hlen ko¨nnte. Bei allen diesen Delikten eines relativ abstrakten Rechtsgu¨terschutzes erscheint eine eventuelle Kronzeugenregelung unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit eher akzeptabel als bei Delikten mit konkreter Rechtsgutsbeeintra¨chtigung wie bei den Delikten gegen Leib und Leben oder z. B. bei den Delikten zum Schutz der sexuellen Selbstbestimmung. Und es kommt bei den Wirtschaftsdelikten natu¨rlich noch hinzu, dass, wenn u¨berhaupt, nur kommensurable Rechtsgu¨ter, also etwa das Vermo¨gen und / oder Sachwerte in Rede stehen, die grundsa¨tzlich wieder zu beschaffen sind. Hier ist zumindest prinzipiell ein Schadensersatz im Wege der Naturalrestitution im eigentlichen Sinn des Wortes mo¨glich, so dass angesichts dieses durchaus mo¨glichen (echten) Schadensersatzes das Bedu¨rfnis nach Strafe in den Hintergrund treten kann und deshalb der Verzicht auf Strafe oder zumindest eine Reduzierung der Strafe im Wege einer Kronzeugenregelung eher vertretbar erscheint. Schließlich ist bei den Wirtschaftsdelikten auch ein pragmatischer Gesichtspunkt nicht unwichtig. Schon der typische Ta¨ter eines Wirtschaftsdeliktes, also 16 Vgl. Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht. Einfu ¨ hrung und Allgemeiner Teil mit wichtigen Rechtstexten, Ko¨ln u. a. 2004, Rdn. 45.

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der sprichwo¨rtliche white collar delinquent, ist rationalen Erwa¨gungen, wie sie der durch das Gefangenendilemma beschriebenen Grundstruktur einer Kronzeu¨ berzeugungsta¨ter, der Angenregelung entsprechen, eher zuga¨nglich als der U sprechpartner des inzwischen außer Kraft getretenen Kronzeugengesetzes bei terroristischen Gewalttaten sein sollte.17 Es du¨rfte denn auch kein Zufall sein, sondern der speziellen Situation von terroristischen Vereinigungen geschuldet, dass es kaum einen pragmatisch erfolgreichen Anwendungsfall des genannten Gesetzes gegeben hat.18 Wer dagegen zu rechnen versteht und bei etwas wirtschaftlichem Sachverstand sich die nicht zuletzt o¨konomischen Vor- und Nachteile seines Aussageverhaltens vor Augen fu¨hren kann, der du¨rfte weit eher durch eine Kronzeugenregelung dazu zu motivieren sein, die Karten auf den Tisch zu legen. Hinzu kommt die bereits erwa¨hnte pra¨ventive Wirkung einer Kronzeugenregelung, die sich bei regelma¨ßig „rational“ planenden Wirtschaftsstrafta¨tern eher einstellen du¨rfte als bei eher spontan handelnden Ta¨tern anderer Deliktsarten. Bei all dem sollte indes die bei jeder Kronzeugenregelung bestehende Gerechtigkeitslu¨cke (vgl. oben) nicht außer Acht gelassen werden. Auch wenn man demnach im Bereich der Wirtschaftsdelikte an eine Strafreduzierung oder sogar Strafverzicht in Aussicht stellende Vorschrift denkt, sollte man weiterhin erwa¨gen, die zentralen Figuren des kriminellen Geschehens von der Kronzeugenregelung auszunehmen. Um es zuna¨chst ganz einfach zu formulieren: Wer mit zehn Helfern und Helfershelfern eine umfangreiche Wirtschaftsstraftat gesteuert und gleichsam als Kopf geleitet hat, ka¨me wohl zu gut dabei weg, wenn er, nachdem die Sache ruchbar geworden ist, nunmehr den Staatsorganen anbietet, sich bei der Aufkla¨rung seiner Tat und der Mitwirkung seiner Gehilfen als Kronzeuge zu verdingen ¨ berleund dabei gar noch Straffreiheit zu erlangen. Man kann und sollte dieser U gung dadurch Rechnung tragen, dass man Zentralfiguren eines deliktischen Geschehens nicht durch eine eventuelle Kronzeugenregelung begu¨nstigt. Dieser Gedanke findet sich auch etwa in der bereits erwa¨hnten Kronzeugenregelung bei bestimmten verbotenen Kartellbildungen, wo entsprechend der in Deutschland in diesem Kontext maßgeblichen und auf Grundsa¨tzen der Europa¨ischen Kommission basierenden Richtlinien der Verzicht auf die Festsetzung einer Geldbuße insbesondere voraussetzt, dass der Ta¨ter, der sich als Kronzeuge zur Verfu¨gung gestellt hat, „keine entscheidende Rolle in dem Kartell gespielt hat“.19 Und wirft man noch einmal den Blick auf die ebenfalls bereits erwa¨hnte, sehr weit ¨ berlegungen wohl auch zu weit gehende gehende und gemessen an den obigen U ¨ berlegungen auch schon bei Hoyer, a. a. O. (ob. Fn. 1), 235; zum 17 Vgl. a ¨ hnliche U ¨ berlegunUmweltstrafrecht als Feld mo¨glicher Kronzeugenregelungen vgl. Behrendt, „U gen zur Figur des Kronzeugen im Umweltstrafrecht – Zugleich ein Beitrag zur Lehre vom Prozeßvergleich“, GA 1991, 337 ff. 18 Vgl. Roxin, a. a. O. (ob. Fn. 1), S. 14, Rdn. 22 m. w. N. 19 Vgl. etwa Hellmann / Beckemper, a. a. O. (ob. Fn. 10), Rdn. 959; Wiesner, a. a. O. (ob. Fn. 10). S. 202 jeweils m. w. N.

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Kronzeugenregelung in Polen, die sich gegen die sog. Organisierte Kriminalita¨t richtet, so findet man auch dort einen hinsichtlich des Tatbeitrages begrenzten Rahmen des staatlichen Angebots an mo¨gliche Kronzeugen: Wer eines To¨tungsdeliktes u¨berfu¨hrt wurde, scheidet aus dem Personenkreis aus, dem die Kronzeugenregelung und das damit verbundene Zeugenschutzprogramm zu Gute kommen kann (vgl. Art. 4 des polnischen Kronzeugengesetzes).20 V. Es bleibt darauf hinzuweisen, dass der Gedanke, die Zentralfigur des kriminellen Geschehens solle nicht begu¨nstigt werden, indirekt auch in der sog. kleinen Kronzeugenregelung des § 261 X StGB wiederkehrt. Denn begu¨nstigt wird hier eben nur der Geldwa¨scher und nicht der Ta¨ter der in aller Regel schwereren Tat, zu der die Geldwa¨sche geleistet worden ist, also nicht der Ta¨ter der sog. Katalogtat. Gleichwohl geht es bei dem Angebot des § 261 X StGB keineswegs nur um die Aufdeckung der Geldwa¨schehandlungen, zu der der Geldwa¨scher als Kronzeuge beitragen soll, sondern ausweislich des Wortlautes von § 261 X StGB gerade auch um die „in Absatz 1 [von § 261] genannte[n] rechtswidrige[n] Tat[en] eines anderen“, also um die Aufdeckung von Katalogtaten. Feinsinnig hat hier u¨brigens der Gesetzgeber die Worte „eines anderen“ beibehalten, als er dieselben Worte in Absatz 1 des § 261 StGB bei der Beschreibung der Vortat der Geldwa¨sche gestrichen hat. Bekanntlich kann man nach der unla¨ngst erfolgten Gesetzesa¨nderung – anders als bei der Hehlerei – durchaus auch tatbestandlich Geldwa¨scher im Hinblick auf eine selbst als Ta¨ter durchgefu¨hrte Vor- bzw. Katalogtat sein und wird lediglich im Rahmen der Regelung nach § 261 IX StGB von Strafe freigestellt, was hier nicht weiter zu ero¨rternde Vorteile bei der Strafverfolgung von Geldwa¨schern hat, die mo¨glicherweise an der Vortat beteiligt waren.21 Jedenfalls geht die kleine Kronzeugenregelung hier nicht so weit, dass der Geldwa¨scher, der selbst an der Vortat ta¨terschaftlich beteiligt war, nun durch Offenbarung dieser seiner eigenen Vortat die Vorteile der Kronzeugenregelung erreichen ko¨nnte. Allerdings gilt dies nicht fu¨r den Geldwa¨scher, der an der Vortat als Teilnehmer beteiligt war. Jedenfalls wird man die Wendung „rechtswidrige Tat eines anderen“ in § 261 StGB parallel zu der Formulierung in § 259 StGB und § 261 I StGB a. F. so auszulegen haben, dass hier nur der ta¨terschaftlich Beteiligte von der Regelung des § 261 X StGB ausgenommen werden soll; wer also nur als Anstifter oder Gehilfe eher Nebenfigur der Vortat war, ko¨nnte in den Genuss der kleinen Kronzeugenregelung kommen.

Na¨her dazu Pas´kiewicz, a. a. O. (ob. Fn. 3). Na¨her dazu Joerden, „Fremd- und Eigenreferenz bei den Anschlussdelikten Begu¨nstigung, Strafvereitelung, Hehlerei und Geldwa¨sche“, in: FS fu¨r Lampe, Berlin 2003, S. 771 ff. 20 21

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Sieht man einmal von dem Spezialfall einer Beteiligung, sei sie nun ta¨terschaftlich oder als Teilnehmer, des Geldwa¨schers an der Vortat ab, so bleibt fu¨r den vorliegenden Kontext immer noch von Bedeutung, dass eben auch der Geldwa¨scher im Hinblick auf die Vor- bzw. Katalogtat regelma¨ßig eher Nebenfigur ist, indem er etwa u¨ber die Verwendung der Beute Verfu¨gungen trifft, dann aber die Vortat natu¨rlich schon la¨ngst begangen wurde. Der Geldwa¨scher ist dabei im Verha¨ltnis zum Vorta¨ter in einer vergleichbaren Rolle wie der Gehilfe im Verha¨ltnis zum Hauptta¨ter, weshalb die Anschlussdelikte der §§ 257 ff. StGB bekanntlich im anglo-amerikanischen Rechtskreis auch unter dem Stichwort accessory after the fact, also als Hilfeleistung nach der Tat, diskutiert werden. Auch bei der kleinen Kronzeugenregelung des § 261 StGB wird demnach dem „Helfer nach der Tat“, dem Geldwa¨scher, ein Angebot zur Mitarbeit bei der Aufkla¨rung der Vortat unterbreitet, wa¨hrend die Zentralfigur des deliktischen Geschehens, der Vorta¨ter, dieses Angebot zu Recht nicht erha¨lt. Nicht plausibel und daher ein Beispiel fu¨r die Mo¨glichkeit einer vertretbaren Erweiterung dieser bisher kleinen Kronzeugenregelung des § 261 X StGB ist es aber, wenn de lege lata der Teilnehmer an der Vortat der Geldwa¨sche, der nicht zusa¨tzlich anschließend Geldwa¨scher wird, das Angebot der Kronzeugenregelung nicht erha¨lt. Auch er ko¨nnte zweifellos zur Aufkla¨rung der Vortat, die fu¨r ihn Haupttat ist, beitragen, und es erscheint auch hier vertretbar, ihm das Angebot von Strafmilderung resp. Straffreistellung in Aussicht zu stellen, jedenfalls dann, wenn – insofern gelten auch hier die oben ero¨rterten Voraussetzungen – die betreffende Haupttat dem Wirtschaftsstrafrecht zuzurechnen ist und damit prima¨r der Schutz u¨berindividueller Rechtsgu¨ter in Rede steht.

VI. ¨ berlegungen zur Legitimita¨t eventueller KronzeugenregeDie vorangehenden U lungen lassen sich noch einmal in den folgenden fu¨nf Thesen zusammenfassen: (1) Der oftmals ideologisch gepra¨gte Kampf um die Kronzeugenregelung fu¨hrt nicht weiter und verhindert eine pragmatische und gleichwohl rechtsstaatlich vertretbare Regelung. Zudem wird sich auch der deutsche Gesetzgeber dem „Trend zum Kronzeugen in Europa“ nicht auf Dauer entziehen ko¨nnen. Es gilt daher, die rechtsstaatlichen Grenzen einer mo¨glichen Kronzeugenregelung na¨her zu bestimmen. (2) Verstehen la¨sst sich die Funktionsweise einer Kronzeugenregelung am besten mit Hilfe der Struktur eines Gefangenendilemmas, die zeigt, dass sich der Delinquent durch das Angebot der Kronzeugenregelung in eine Lage gebracht sieht, in der er das besagte Angebot nur ablehnen kann, wenn er seinen rational-egoistischen Interessen zuwider handelt.

Der Trend zum Kronzeugen in Europa

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(3) Die meisten Einwa¨nde gegen eine Kronzeugenregelung lassen sich, wenn nicht vollsta¨ndig entkra¨ften, so doch zumindest durch geeignete Regelungen, die den Bedenken entgegenkommen, abschwa¨chen. (4) Fu¨r den wohl wichtigsten Einwand, den man kurz als „Gerechtigkeitslu¨cke“ apostrophieren kann, gilt das, wenn man sich auf bestimmte Deliktsarten konzentriert, die sich – wie insbesondere im Wirtschaftsstrafrecht – prima¨r auf den Schutz von nicht konkretisierten, u¨berindividuellen Rechtsgu¨tern beziehen. (5) In diesem Sinne kann die kleine Kronzeugenregelung insbesondere des § 261 X StGB als Beispiel dienen, dessen Ausdehnung auf andere Deliktsgruppen als vertretbar erscheint.

Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung in Strafsachen Paweł Nalewajko* Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung ist als Panazee für die Schwächen der justiziellen Zusammenarbeit in der EU konzipiert worden. Das Ziel dieses Beitrages besteht vorrangig darin, die „Nebenwirkungen“ seiner Anwendung auf dem Gebiet des Strafrechts kurz hervorzuheben und nach Alternativmitteln de lege ferenda zu suchen. Den Schwerpunkt der Bearbeitung bildet die Problematik der sog. „europaweit verkehrsfähigen Beweise“. I. Einleitung Fortschreitende Integration und die Verwirklichung neuer gesamteuropäischer Strategien zur Effizienzsteigerung der internationalen Zusammenarbeit üben auch auf Verfassungsrecht und Strafrecht Einfluss aus; Rechtsgebiete, die bis vor kurzem als Bastion des Staatsmonopols erachtet wurden. Eine ganz besondere Dynamik hat die Rechtseuropäisierung bei der Umsetzung der Idee erreicht, einen „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ zu schaffen (Art. 29 I EUV), sowie anderer Unionsziele, die ein hohes Maß an Sicherheit anstreben. Als einer der wichtigsten und vielversprechendsten Tätigkeitsbereiche der Europäischen Union wird die Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf dem Gebiet der Strafjustiz erachtet.1 Dieses zum ersten Mal auf der Tagung des Europäischen Rates vom 15. und 16. Juni 1998 in Cardiff erwähnte Prinzip, avancierte im Oktober 1999 auf der Ratstagung in Tampere zum „Eckstein der justiziellen Zusammenarbeit sowohl in Zivil- als auch in Strafsachen“2 innerhalb der Europäischen Union und wurde in den Vertrag über * Doktorand an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) und der AdamMickiewicz-Universität in Posen. 1 Vgl. KOM(2000) 495 endgültig v. 26. Juli 2000; kritisch: Alegre/Leaf, „Mutual Recognition in European Judicial Cooperation: A Step Too Far Too Soon? Case Study – the European Arrest Warrant“, E.L. J. Nr. 10/2004, S. 200 f.; Böse, „Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in der transnationalen Strafrechtspflege in der EU“, in: Momsen/Bloy/Rackow (Hrsg.), Fragmentarisches Strafrecht, Frankfurt a. M. (u. a.), 2003, S. 233 ff.

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eine Verfassung für Europa3 (z. B. Art. III-257 Abs. 3 und 4, III-260) aufgenommen. Seit Tampere gilt die Anerkennungspolitik als „kriminalpolitische Legitimationsvokabel europäischer Strafrechtsentwicklung“ und hat sich „zur wichtigsten Leitlinie gesamteuropäischer Innen- und Rechtspolitik entwickelt“.4 Mittlerweile ist der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung in mehreren Rahmenbeschlüssen umgesetzt5 und seine weitere Anwendung für die Jahre 2005–2010 im Haager Programm zur Stärkung von Freiheit, Sicherheit und Recht in der Europäischen Union6 gesichert worden. II. Anerkennungspolitik – nihil novi Der Anerkennungsgedanke in der Rechtswissenschaft ist kein Urheberkonzept oder eine neue Errungenschaft des europäischen Gesetzgebers. Auch die Idee, seine Anwendung auf Strafsachen zu erstrecken, datiert bereits vor den erwähnten Tagungen in Cardiff und Tampere. Nachweisbare Auseinandersetzungen mit dem Problem der Wirksamkeitssteigerung der Strafverfolgung und der zu diesem Zweck notwendigen Anerkennung eines fremden Strafniveaus lassen sich schon um das Ende des neunzehnten Jahrhunderts finden.7 Die historischen Erfahrungen mit der Anerkennungspolitik, ihrer Universalität als Rechtsmodus der zwischenstaatlichen Kooperation und Effizienz bei der Überbrückung vieler materiell- und prozessrechtlicher Unterschiede haben in der Nachkriegsgeschichte zur Renaissance des Anerkennungsgedankens und seiner Anwendung auf dem Gebiet des Europarechts geführt. Dort diente das Konzept der „gegenseitigen Anerkennung“ ursprünglich dem Abbau sog. technischer Schranken bei der Verwirklichung des Binnenmarktes. Es war somit ein Bestandteil der Regelungen des vergemeinschafteten Warenverkehrs.8 Seine Be2 Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat von Tampere vom 15./16. Oktober 1999 (Rdnr. 33) „Eine verbesserte gegenseitige Anerkennung von gerichtlichen Entscheidungen und Urteilen und die notwendige Annäherung der Rechtsvorschriften würden die Zusammenarbeit zwischen den Behörden und den Schutz der Rechte des Einzelnen durch die Justiz erleichtern“. 3 ABl. C Nr. 190 v. 16.12.2004. 4 Braum, „Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung“, GA 2005, S. 681. 5 Wie z. B. der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren in den Mitgliedstaaten, ABl. L Nr. 190 v. 18.7.2002; Rahmenbeschluss über die Vollstreckung von Entscheidungen über die Sicherstellung von Vermögensgegenständen oder Beweismitteln in der EU, ABl. L 196/45 v. 2.8.2003, S. 45; Rahmenbeschluss über die Europäische Beweisanordnung zur Erlangung von Sachen, Schriftstücken und Daten zur Verwendung in Strafverfahren, KOM(2003) 688 endgültig. 6 Vgl. KOM (2005) 184 endgültig v. 10.5.2005. 7 Zum „Prinzip gegenseitiger Anerkennung in historischer Perspektive“ vgl. Braum, „Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung“, GA 2005, S. 683 ff.

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deutung hat auch der EuGH in drei Entscheidungen zur Warenverkehrsfreiheit bekräftigt, laut derer jedes Produkt, welches in einem Mitgliedstaat in den Verkehr eingeführt wurde, gleichfalls Verkehrsfreiheit in anderen Mitgliedstaaten genießen soll.9 Im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen können die Mitgliedstaaten seit 1957, gestützt auf Artikel 293 (ex-Artikel 220) EGV, die Förmlichkeiten für die gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung richterlicher Entscheidungen vereinfachen.10 Als wichtigste Beispiele für die Anwendung der Anerkennungspolitik sind hier die Übereinkommen von Brüssel von 1968 und von Lugano von 1988 zu nennen, welche die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen regeln,11 und die Rechtsprechung des EuGH zu den Anerkennungsgrenzen („ordre public“ bei Adhäsionsverfahren).12 Innerhalb der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen erschien der Anerkennungsgedanke z. B. beim Haager Übereinkommen von 1970 über die internationale Geltung von Strafurteilen,13 der vom Europarat ausgearbeitet und zur Unterzeichnung vorgelegt wurde, und im Übereinkommen über die Vollstreckung ausländischer Entscheidungen in Strafsachen (am 13. November 1991 in Brüssel).14 Diese beiden Übereinkommen sind jedoch nicht von allen Mitglied8 Calliess (Hrsg.), Kommentar zu EUV und EGV-Kahl, Art. 14, Rn. 14, 18, Neuwied, 2002; Streinz, Europarecht, Rn. 977, Heidelberg, 2003. 9 Vgl. „Dassonville“-Urteil, EuGH Rs. 8/74, Slg. 1974, 837 ff.; „Cassis de Dijon“Urteil, EuGH Rs. 120/78, Slg. 1979, 651 ff.; „Reinheitsgebot“-Urteil, EuGH Rs. 178/ 84, Slg. 1987, 1227 ff. 10 Vgl auch: Übereinkommen über Insolvenzverfahren in der Gemeinschaft von 1995, das Übereinkommen über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union von 1997 und das Übereinkommen über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen von 1998, Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates über Insolvenzverfahren; Verordnung (EG) Nr. 1348/2000 des Rates über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in den Mitgliedstaaten; Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 des Rates über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung für die gemeinsamen Kinder der Ehegatten, Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 des Rates über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung für die gemeinsamen Kinder der Ehegatten. 11 Vgl. Maliszewska-Nienartowicz, „Uznawanie orzeczen´ w sprawach cywilnych i handlowych w prawie wspólnotowym“, Monitor Prawniczy Nr. 1/2005, S. 53 ff. 12 Vgl. z. B. EuGH v. 28. 03. 2000 – Krombach/Baberski – C-7/98, Slg. 2000 I1935. 13 Europäisches Übereinkommen über die internationale Geltung von Strafurteilen v. 28.5.1970, ETS No. 70. 14 Abgedruckt in: BGBl. 1997 II S. 1351; Schomburg/ Lagodny, IRhSt, Hauptteil III C.

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staaten ratifiziert worden.15 Auch das Übereinkommen der EU von 1998 über den Entzug der Fahrerlaubnis,16 das nach Maßgabe des EU-Vertrages in der Fassung des Vertrags von Maastricht angenommen wurde, ist bislang nur von 2 Mitgliedstaaten ratifiziert worden.17 Einige einheitliche Regeln zur Verkehrsfähigkeit rechtskräftiger Urteile wurden erfolgreich beim Strafklageverbrauch nach Art. 54 SDÜ, welcher die Anerkennung einer rechtskräftigen Aburteilung voraussetzt, vom EuGH eingeführt.18 Im Rahmen des Schengener Übereinkommens basiert auf dem Anerkennungsgedanken auch das Übereinkommen über die Zusammenarbeit in Verfahren wegen Zuwiderhandlungen gegen Verkehrsvorschriften und bei der Vollstreckung von dafür verhängten Geldbußen und Geldstrafen.19 Auf viele, der in dieser kurzen historischen Darstellung genannten Erfahrungen mit der gegenseitigen Anerkennung, kann auch bei ihrer Anwendung auf dem Gebiet der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen zurückgegriffen werden. Anderseits wird zurecht kritisiert, dass das Strafrecht schon wegen seiner starken nationalen und kulturellen Prägung nicht dieselbe Disponibilität für die „Internationalisierung“ aufweist, wie das beispielsweise im Handelsrecht der Fall ist. „Die Strafrechtspflege ist keine wirtschaftliche Tätigkeit, der Richter kein Unternehmer, der Waren oder Dienstleistungen über die Grenzen seines Heimatstaates hinaus anbieten möchte.“20 III. Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung de lege lata und de lege ferenda Der auch als „Eckstein der justiziellen Zusammenarbeit“ bezeichnete Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung wurde nach Tampere zuerst als ein Vorschlag, auf das von einem europäischen Finanzstaatsanwalt zu betreibende Ermittlungsverfahren wegen einer Straftat zum Nachteil der EU übertragen.21 Mittlerweile gibt es auf dem Gebiet der nicht vergemeinschafteten Strafverfol15 Das Brüsseler Übereinkommen haben z. B. nur vier Mitgliedstaaten ratifiziert; (Quelle: http://ue.eu.int). 16 ABl. C 216 v. 10.7.1998, S. 1. 17 Vgl. KOM(2006) 73 endgültig v. 21.2.2005, S. 8. 18 Vgl. EuGH Rs. „Gözütok“ und „Brügge“ (C-187/01 und C-385/01). 19 SCH/Com-ex (99) 11, 2 Rev. 20 Böse, „Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in der transnationalen Strafrechtspflege in der EU“, in: Momsen/Bloy/Rackow (Hrsg.), Fragmentarisches Strafrecht, Frankfurt a. M. (u. a.), 2003, S. 236; vgl. auch Górski/Sakowicz, „Bariery prawne integracji europejskiej w sprawach karnych“, Materiały Robocze 3/05, Warszawa 2005, S. 6 ff. m.w. N. 21 Nach: Schünemann, „Europäischer Haftbefehl und EU-Verfassungsentwurf auf schiefer Ebene“, ZRP 2003, S.186 m.w. N.

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gung eine Reihe von Rahmenbeschlüssen und mehreren Vorschlägen für weitere Rechtsakte, die auf dem Anerkennungsgedanken basieren.22 1. Die Funktionsweise des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung beruht auf dem Gedanken, dass, selbst wenn ein anderer Mitgliedstaat einen bestimmten Fall nicht in derselben oder einer ähnlichen Weise wie der eigene Mitgliedstaat behandelt, die Ergebnisse als gleichwertig zu Entscheidungen anerkannt werden, die im eigenen Mitgliedstaat ergehen. Dazu bedarf es gegenseitigen Vertrauens nicht nur in die Rechtsvorschriften des anderen Mitgliedstaats, sondern auch in die Tatsache, dass diese ordnungsgemäß angewandt werden.23 Die Anerkennung einer ausländischen Entscheidung in Strafsachen bedeutet somit, ihr außerhalb des Staates, in dem sie ergangen ist, Wirkung zu verleihen, indem ihr entweder die vom ausländischen Strafrecht bestimmten Rechtswirkungen zuerkannt werden, oder die ausländische Entscheidung berücksichtigt wird, damit sie die vom inländischen Strafrecht bestimmten Rechtswirkungen entfalten kann.24 Die Anwendung einer Entscheidung eines anderen Mitgliedstaates kann direkt (gerichtlichen Entscheidungen kommt so weit wie möglich vollständige und unmittelbare Wirkung in der gesamten Union zu) oder indirekt (Erfordernis einer Umsetzung der ausländischen Entscheidung in eine innerstaatliche Entscheidung) erfolgen. Nach Auffassung der Kommission lassen die Schlussfolgerungen von Tampere einen Vorzug für die direkte Anwendung der Entscheidungen erkennen. Ein bereits funktionierendes Beispiel für die direkte Anwendung der gegenseitigen Anerkennung stellt der bereits in den meisten Mitgliedstaaten25 umge22 Vgl. Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten v. 18.07.2002, ABl. L 190/12, 2002/584 JHA; Rahmenbeschluss über die Vollstreckung von Entscheidungen über die Sicherstellung von Vermögensgegenständen oder Beweismitteln in der EU v. 22.06.2003, ABl. L 196/45 v. 2.8.2003, S. 45; Rahmenbeschluss über die Europäische Beweisanordnung zur Erlangung von Sachen, Schriftstücken und Daten zur Verwendung in Strafverfahren v. 14.11.2003, KOM(2003) 688 endgültig; vgl. auch: Grünbuch über die gegenseitige Anerkennung von Überwachungsmaßnahmen ohne Freiheitsentzug im Ermittlungsverfahren v. 17.08.2004, KOM(2004) 562 endgültig. Im Februar 2005 wurde auch der Rahmenbeschluss über die gegenseitige Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen erlassen, aufgrund dessen grundsätzlich alle in einem EU-Mitgliedstaat verhängten Geldstrafen und Geldbußen für alle Formen von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten (d.h. insbesondere auch Verkehrsordnungswidrigkeiten) europaweit vollstreckt werden können. 23 Vgl. Fuchs, „Bemerkungen zur gegenseitigen Anerkennung justizieller Entscheidungen“, ZStW 2004, S. 368. 24 KOM(2000) 495 endgültig v. 26.7.2000. 25 Vgl. KOM(2005) 63 endgültig v. 23.02.05.

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setzte Rahmenbeschluss über den EHB dar: Wenn die Justizbehörde eines Mitgliedstaates um die Übergabe einer rechtskräftig verurteilten oder strafrechtlich verfolgten Person ersucht, muss ihre Entscheidung anerkannt und automatisch (mit Ausnahme enumerativ genannter Ablehnungsgründe) in allen Mitgliedstaaten vollstreckbar sein.26 Der Unterschied zum bisherigen Auslieferungsrecht, welches schließlich auch auf Billigung einer fremden Rechtsentscheidung (des ersuchenden Staates) beruhte, besteht in weitgehender „Automatisierung“ des Anerkennungsprozesses. Nach Art. 1 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses über den EHB soll jegliche Art der Überprüfung, welche über die Ablehnungsgründe hinausgeht, unterlassen werden. Im Vergleich zur bisherigen Lage wird also das souveränitätsbedingte Entscheidungsermessen der Mitgliedstaaten rigoros eingeschränkt. Das Ziel des in den EHB inkorporierten „Systems des freien Verkehrs strafrechtlicher justizieller Entscheidung“27 ist die Beseitigung von Komplexität und Verzögerungsrisiken, also die „Heilung“ von Schwächen der bisherigen Auslieferungsverfahren. Notwendigerweise geht diese „Freizügigkeit der Entscheidung“ von einem unionsweiten „full faith and credit“ aus, was der Rat unter Nr. 10 der Erwägungsgründe zum Rahmenbeschluss über den EHB explizit voraussetzt.28 2. Kritikpunkte des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung Die mit dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung vorangetriebene Europäisierung des Strafrechts, der dominierende Effizienzgedanke und das ohne weiteres vorausgesetzte „hohe Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten“ sind bei vielen Rechtswissenschaftlern auf Kritik gestoßen.29 Die Vorwürfe beinhalten u. a., dass seine Anwendung zu einer Beeinträchtigung des Demokratieprinzips führe, da der Täter nur nach den Strafgesetzen verfolgt werden dürfe, deren Entstehung durch die eigene Mitwirkung demokratisch legitimiert sei.30 Die Anerkennungspolitik könne auch, angesichts der Un-

26 Vgl. Vorschlag für einen Rahmenbeschluss des Rates über den EHB v. 19.9. 2001, KOM(2001) 522 endgültig, 2001/0215 (CNS), S. 6. 27 So Weigend, „Der Entwurf einer Europäischen Verfassung und das Strafrecht“, ZStW 2004, S. 292. 28 „Grundlage für den Mechanismus des EHB ist ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten.“ 29 Vgl. Schünemann/Nestler, Thesen zur „Europäisierung der Strafverfolgung durch das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung“, http://www.jura.uni-muenchen.de/ einrichtungen/ls/schuenemann/Eur2.htm (letzter Zugriff: 17.03.06). 30 Schünemann, „Europeizacja prawa karnego niebezpieczen´stwem dla demokratycznego pan´stwa prawnego?“, Jurysta Nr. 7–8/2004, S. 5 ff.; ders., „Die Schranken des Grundgesetzes“, ZRP 2003, S. 188 f.

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terschiede auf dem Gebiet des Beweisrechts in den EU-Staaten, zu schwierigen Rechtskollisionen führen,31 was insgesamt Tür und Tor für Willkür und Manipulationen öffne.32 Der Anerkennungsgrundsatz fördere die Durchsetzung der jeweils punitivsten Strafrechtsordnung33 und wirke sich negativ auf die Garantien der bürgerlichen Freiheit aus.34 Seit über sechs Jahren konzentrieren sich Kommissionsarbeiten auf die Gewährleistung einer ungestörten und kollisionsfreien Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung. Unter Berücksichtigung der nationalen Erfahrungen wird an neuen Regelungen gearbeitet, deren Hauptziel eine Mindestharmonisierung der strafprozessualen Standards ist. Die wichtigsten Bestrebungen betreffen folgende Kritikpunkte: a) Bestimmung des Umfangs der gegenseitigen Anerkennung und ne bis in idem Angesichts der unterschiedlichen Arten der gerichtlichen und außergerichtlichen Entscheidungen erscheint es notwendig festzulegen, welche von ihnen anerkannt werden müssen und welche Rechtsfolgen ihre Anerkennung für die Verfahren in anderen Mitgliedstaaten entfaltet (z. B.: res iudicata, lis pendens). Unter „Entscheidung“ wird, in Bezug auf die gegenseitige Anerkennung, jeder Akt, durch den eine bestimmte Angelegenheit in verbindlicher Weise geregelt wird, verstanden. Die wichtigste Gruppe bilden die Entscheidungen mit verfahrensbeendender Wirkung (d.h. Entscheidungen der Gerichte und bestimmter Verwaltungsbehörden, Ergebnisse von Schlichtungsverfahren und Absprachen zwischen verdächtigen Personen und Staatsanwaltschaften). Um über eine Arbeitsdefinition einer Endentscheidung zu verfügen, schlägt die Kommission vor, alle Entscheidungen einzuschließen, mit denen die materiellrechtliche Seite einer Strafsache geregelt wird und gegen die kein ordentliches Rechtsmittel mehr eingelegt werden kann bzw. in Fällen, in denen dies noch möglich ist, dies keine aufschiebende Wirkung hat. Eine solche Definition entspricht auch Bestimmungen, die bereits im Rahmen der gegenseitigen Anerkennung von Ent31 Vgl. Weigend, „Der Entwurf einer Europäischen Verfassung und das Strafrecht“, ZStW 2004, S. 293 f. m.w. N.; Nestler, „Europäisches Strafprozessrecht“, ZStW 2004, S. 342; Kreß, „Das Strafrecht auf der Schwelle zum europäischen Verfassungsvertrag“, ZStW 2004, S. 458 ff. 32 Fuchs, „Bemerkungen zur gegenseitigen Anerkennung justizieller Entscheidungen“, ZStW 2004, S. 369 f. 33 Schünemann, „Europäischer Haftbefehl und EU-Verfassungsentwurf auf schiefer Ebene“, ZRP 2003, S. 187. 34 Vgl. Böse, „Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in der transnationalen Strafrechtspflege in der EU“, in: Momsen/Bloy/Rackow (Hrsg.), Fragmentarisches Strafrecht, Frankfurt a. M. (u. a.), 2003, S. 238 ff.

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scheidungen in Zivil- und Handelssachen anwendbar sind.35 „Strafsachen“ stellen, in diesem Sinne, eine Emanation von staatlichen Reaktionen auf ein Verhalten dar, „welches der Staat als mit seinen sozialen Werten unvereinbar erachtet und daher Sanktionen verhängt, um den Täter von einer Wiederholung seiner Tat abzuhalten und andere von ähnlichen Taten abzuschrecken“.36 Dieses Verständnis von „Strafsachen“ schliesse danach auch Elemente der Rehabilitation (z. B. Anordnungen auf Drogenentzug) ein. Wie angedeutet, wird die Anerkennung nicht nur gerichtlicher, sondern auch anderer Entscheidungen beabsichtigt, welche die genannten Kriterien erfüllen (z. B. auch Vereinbarungen zwischen einem Verdächtigen und den Ermittlungsbehörden, sofern sie dazu führen, dass wegen derselben Tat keine weitere Strafverfolgung möglich ist). Die Einbeziehung von verwaltungsbehördlichen Entscheidungen wird u. a. darauf gestützt, dass juristische Personen für Straftaten, die in ihrem Namen oder zu ihren Gunsten begangen wurden, in einigen Mitgliedstaaten (noch) nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können.37 Eine Ausweitung der Anwendbarkeit des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf alle Endentscheidungen stößt auf einige Probleme, die bis jetzt nicht gelöst wurden. Uneingeschränkt kann die Anwendung der gegenseitigen Anerkennung u. a. erst dann erfolgen, wenn klare, eindeutige und europaweite Zuständigkeitsregeln einerseits und eine Mindestharmonisierung der Verfahrensrechte und des Beweisrechts andererseits erreicht werden.38 Unter Berücksichtigung unterschiedlicher Fallkonstellationen bezüglich des Straftatortes sowie grenzüberschreitend begangener Straftaten müssten Kollisionsregeln geschaffen werden, die gegebenenfalls nur einen Mitgliedstaat berechtigen, ein Strafverfahren einzuleiten und rechtskräftig zu beenden.39 Solange dies jedoch nicht verwirklicht wird, sollte (unter Vorbehalt der unten genannten Modalitäten) m. E. erwogen werden, die Reichweite der Anerkennung fremder Gerichtsentscheidungen der Gerichtsdiskretion zu überlassen. Denkbar in Hinsicht auf die Beachtung des ne bis in idem Grundsatzes erscheint, die Justizbehörden zu einer obligatorischen Anerkennung der von einem ausländischen EU-Gericht entschiedenen Schuldfrage zu verpflichten. Bei 35 Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Brüsseler Übereinkommen von 1968, konsolidierte Fassung in ABl. C 27 vom 26. Jänner 1998). 36 KOM(2000) 495 endgültig v. 26.7.2000, S. 6. 37 KOM(2000) 495 endgültig v. 26.7.2000. 38 So auch: Eicker, Transstaatliche Strafverfolgung: ein Beitrag zur Europäisierung, Internationalisierung und Fortentwicklung des Grundsatzes ne bis in idem; Herbolzheim 2004, S. 152 f. m.w. N. 39 Andere Vorschläge hierzu: Hecker, Europäisches Strafrecht, Berlin (u. a.) 2005, S. 444 ff.

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Verurteilungen würde dies bedeuten, dass der Richter kein weiteres Verfahren durchführen darf, wenn die Frage der Schuld von einem anderen Gericht geklärt wurde; er ist aber nicht in Bezug auf die verhängte Strafe gebunden. Analog würde die Regel bei Freisprüchen dazu führen, dass sie von den nationalen Gerichten vorbehaltlos anerkannt werden müssen. Eine Ausnahme sollte jedoch für die Einstellungen, welche die Frage der Schuld nicht klären, erwogen werden. Zumindest in den ersten Etappen der Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung sollte in Betracht gezogen werden, die Anerkennungspflicht solcher Entscheidungen aufzulockern. Ein weiteres Problem stellt sich in Bezug auf die Anerkennung einiger Entscheidungen im Ermittlungsverfahren. Fraglich ist hier z. B., ob die Einleitung eines Verfahrens in einem der Mitgliedstaaten eine Einleitung des Verfahrens gegen dieselbe Person und in derselben Rechtssache ausschließt. Um die Situation zu vermeiden, dass vor zwei europäischen Gerichten dieselbe Rechtssache abgeurteilt werden muss, wäre es ratsam, entweder die Strafverfahrenseinleitung in einem der Mitgliedstaaten mit dem Verbot lis pendens zu koppeln, oder den parallel tätigen Staatsanwaltschaften nur eine Anklage vor dem Gericht zu gestatten.40 Dies erfordert jedoch zunächst einen internationalen Kompromiss über die bezüglich der Zuständigkeit entscheidende Hierarchie der Gründe. Für die Koordination bzw. Korrektur nicht sachgerechter Ergebnisse wäre an die Schaffung eines europäischen Organs (bzw. an die Ausstattung eines bereits existierenden Organs wie Eurojust mit entsprechenden Kompetenzen) zu denken. b) Kollisionen auf dem Gebiet des Beweismittelrechts Das Freizügigkeitskonzept der EU schließt nicht nur Waren und Dienstleistungen ein, sondern erstreckt sich auch auf „europaweit verkehrsfähige Beweise“. Um die Funktionsfähigkeit der internationalen Zusammenarbeit im europäischen Strafrechtsraum zu steigern, wird auf der europäischen Ebene in Bezug auf die Beweiserhebung leider nur zwei Möglichkeiten Vorrang gegeben: Entweder soll das Beweisrecht gemeinschaftsrechtlich angeglichen werden (was wegen des Aufwands und der Verluste, welche die nationalen Rechtsordnungen infolge einer Unifizierung erleiden müssten, illusorisch erscheint), oder die in einem Mitgliedstaat erhobenen Beweise werden von den Gerichten der anderen Mitgliedstaaten der Union anerkannt (was – man denke nur an die unterschiedlichen Auffassungen bezüglich der Beweiszulässigkeit von z. B. sog. Lauschangriffen, der Verwertbarkeit von bestimmten Beweisquellen oder bezüglich der

40 Weitere Vorschläge diesbezüglich hat die Kommission bereits im Grünbuch über Kompetenzkonflikte und den Grundsatz ne bis in idem in Strafverfahren dargestellt, vgl. KOM(2005) 696 endgültig v. 23.12.2005.

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Aussageverweigerungsrechte – wegen Unberechenbarkeit und Rechtsunsicherheit problematisch ist). Mit Ausnahme von Verfahrensrechten, die durch Anerkennung ihre für den Beschuldigten positive Wirkung entfalten können (z. B. ne bis in idem), besteht bei einem „Import“ von Beweismitteln stets ein Risiko, dass die strafprozessualen und verfassungsrechtlichen Garantien der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen umgangen werden.41 Das Ergebnis eines auf uneingeschränkter Anwendung der gegenseitigen Anerkennung aufgebauten Beweisrechts – „Ein schwer überschaubares und inkohärentes Gesamtrechtsgebilde“42 – entspricht nicht dem Leitgedanken des Europäischen Rechtsraums „Schutz der Rechte des Einzelnen durch die Justiz erleichtern“43 und kann nicht als Mittel zur Schaffung eines europäischen Rechtsraums ernsthaft in Erwägung gezogen werden. Damit die einzelstaatlichen Justizbehörden das bei der gegenseitigen Anerkennung vorausgesetzte Vertrauen in das Rechtssystem der anderen Mitgliedstaaten haben können, ist es notwendig, einen konsensualen Mindeststandard in den gemeinsamen Vorschriften bezüglich der Gewinnung und Verwendung von Ermittlungsergebnissen herauszuarbeiten. Einer der Wege zum Mindeststandard führt über die Harmonisierung der strafprozessualen Eingriffsmaßnahmen, deren Kombinierbarkeit ein Risiko von Rechtsverlusten schafft.44 Dies könnte beispielsweise im Rahmen der Fortsetzung und Ausweitung von bereits im Grünbuch der Kommission über Verfahrensgarantien in Strafverfahren45 begonnenen Arbeiten erfolgen. Diese Lösung kann auch mit der Einführung eines generalklauselartigen Ausnahmetatbestandes in Form eines „europäischen ordre public“ verbunden werden, für jene Bereiche, die nicht harmonisiert wurden. Die 41 Z. B. umstrittene Maßnahmen wie Telefonüberwachung; weitere Beispiele liefert Nestler, „Europäisches Strafprozessrecht“, ZStW 2004, S. 346: „Die Zulassung des französischen Urkundebeweises in der Hauptverhandlung passt mit dem Unmittelbarkeitsprinzip des deutschen Verfahrensrechts nicht zusammen, mittelbare Verwertung von Zeugenaussagen nach den kontinentalen Prozessordnungen ist mit der HearsayRule im britischen Jury Trial inkompatibel“; Weigend, in: „Der Entwurf einer Europäischen Verfassung und das Strafrecht“, ZStW 2004, S. 293 führt folgendes Beispiel für einen „Hybridprozess“ aus unterschiedlichen Beweissystemen ein: „die Einführung von Urkundenbeweisen aus dem Ermittlungsverfahren einer Rechtsordnung, die auf Mitwirkung der Verteidigung schon im Ermittlungsverfahren setzt, in das Hauptverfahren eines Rechtssystems, das die Verteidigungsrechte durch strikte Einhaltung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes zu sichern sucht“. 42 Hecker, Europäisches Strafrecht, Berlin (u. a.) 2005, S. 444. 43 Vgl. z. B. ABl. C 12/1 v. 15.1.2001, S. 1. 44 Vgl. Górski/Sakowicz, Bariery prawne integracji europejskiej w sprawach karnych, Materiały Robocze 3/05, Warszawa 2005, S. 11. 45 KOM(2003) 75 endgültig v. 19.2.2003; der Rahmenbeschluss über die Vollstreckung von Entscheidungen über die Sicherstellung von Vermögensgegenständen oder Beweismitteln in der Europäischen Union, ABl. L Nr. 196 S. 45 v. 22.7.2003; Europäische Beweisordnung zur Erlangung von Sachen, Schriftstücken und Daten, KOM(2003) 688 endgültig, v. 14.11.2003.

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ordre public-Klausel sollte dann in unabsehbaren Einzelfällen, wenn besonders gewichtige Verstöße gegen Verfahrensgrundsätze eines Mitgliedstaates drohen, eine Ablehnung der Verwendung von Ermittlungen in grenzüberschreitenden Taten ermöglichen und somit als eine „Notbremse“ funktionieren. Schonender für die nationalen Strafrechtsordnungen als eine, auch nur partielle, Harmonisierung zur Festlegung von „prozessualen Mindeststandards“, wäre die Schaffung eines supranationalen Strafverfahrens.46 Dies würde dazu führen, dass ein dem föderalen Parallelismus in den Vereinigten Staaten ähnliches System der Strafverfolgung in der EU entsteht.47 Auf einer Ebene wäre die Europäische Strafjustiz (d.h. Europäischer Staatsanwalt und Europäischer Strafgerichtshof) zur Verfolgung von abschließend statuierten Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der EU zuständig. Auf einer anderen Ebene behielten die Mitgliedstaaten ihre jetzigen Strafrechtsordnungen und Strafverfolgungskompetenzen. Diese zwei Strafverfahren müssten durch Kollisionsnormen und Kompetenzregelungen miteinander verknüpft werden.48 Offen bleibt bei dieser Lösung, wie die traditionelle Rechtshilfe zwischen den Mitgliedstaaten in den Bereichen reformiert werden kann, die die finanziellen Interessen der EU nicht tangieren. Die Durchsetzung eines solchen dualistischen Systems wirft auch viele Fragen nach dem organisatorischen Aufwand auf und scheint wegen der Abtretung der Hoheitsgewalt auf jetzigem Integrationsniveau wenig realistisch.49 Eine weitere Alternative zur gegenseitigen Anerkennung stellt das sog. „Schweizer Modell“ mit der „Meistbegünstigungsklausel“ dar.50 Übertragen auf die Union bedeutete das „Schweizer Modell“, welches auf dem Konkordat über die Rechtshilfe und die interkantonale Zusammenarbeit in Strafsachen vom 5. November 1992 beruht,51 dass die Strafverfolgungsorgane des „ersuchenden“ Mitgliedstaates auf dem Hoheitsgebiet jedes anderen Mitgliedstaates, auch ohne seine Zustimmung, nach eigenem Strafprozessrecht tätig werden könnten.52 53 Wobei das Prinzip der Meistbegünstigung garantierte, dass der transnational Verfolgte in den Genuss aller Rechte käme, die vom Entscheidungs- und Voll46 Vgl. Schwarzenburg/Hamdorf, „Brauchen wir ein EU-Finanz-Strafgesetzbuch?“ NStZ 2002, S. 623. 47 Vgl. hierzu Sieber, „Memorandum für ein Europäisches Modellstrafgesetzbuch“, JZ 1997, S. 372. 48 Vgl. Radtke, „Der Europäische Staatsanwalt. Ein Modell für Strafverfolgung in Europa mit Zukunft?“, GA 2004, S. 19. 49 So auch Hecker, Europäisches Strafrecht, Berlin (u. a.) 2005, S. 445. 50 Schünemann, „Grundzüge eines Alternativ-Entwurfs zur europäischen Strafverfolgung“, ZStW 2004, S. 382 m.w. N. (in Bezug auf die „Europäische Verfassung“). 51 SR 351.71, AS 1993, 2876; vgl. Hauser/Schweri, Schweizerisches Strafprozessrecht, 5. Auflage 2002, § 44, Rn. 31 ff. 52 Nach: Vogel, „Licht und Schatten im Alternativ-Entwurf Europäische Strafverfolgung“, ZStW 2004, S. 407.

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streckungsstaat gewährt werden.54 Ein „begünstigendes“ mixtum compositum mehrerer Rechtssysteme in einem Verfahren würde zwar den Beschuldigten besser stellen, als dies der Fall bei der gegenseitigen Anerkennung ist, seine Durchsetzung scheint aber in einer nicht föderalistischen EU nur geringe Chancen zu haben. Eine weitere Lösung, die dem aktuellen Integrationsgrad angemessen ist und der Notwendigkeit einer effizienten Strafverfolgung entgegen kommt, bestünde in der Schaffung eines europäischen Beweiszulassungsverfahrens.55 Dieses als ein Referenzsystem konzipierte Verfahren würde nur diejenige justizielle Entscheidung als anerkennungspflichtig zertifizieren, die bestimmte Mindeststandards erfüllt. Der Orientierungsmaßstab dieses Systems könnte auf den Vorgaben der EMRK basieren,56 und die rechtsstaatlichen Verfahrensstandards in den Mitgliedstaaten berücksichtigen, ohne jedoch eine Kumulation der Verfahrenshürden zu verursachen.57 Die „Filterfunktion“ des Referenzsystems würde verhindern, dass z. B. ein Justizorgan gezwungen werden kann, die nach eigenem Rechtssystem unverwertbaren Beweismittel anzuerkennen58 und somit zur Einschränkung der Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung führen. Als schwierig gestaltet sich jedoch die Antwort auf die Frage, wer die Entscheidungsgewalt über die Rechtmäßigkeit der Beweiserhebung haben soll. Eine denkbare Lösung bestünde darin, die nationalen Gerichte über die Zulässigkeit nach europaweit geltenden Grundsätzen entscheiden zu lassen. Eine „europäische Behörde“ könnte die Beweiszulassungsverfahren in den Mitgliedstaaten koordinieren und die einheitliche Anwendung der Vorschriften garantieren. c) Weitere nicht erfüllte Voraussetzungen des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung Eine auch nur punktuelle Darstellung aller Fragen, die für eine kollisionsfreie Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung geklärt werden müssen, ist in diesem Beitrag nicht möglich. Auf zwei Aspekte, die auch auf

54 Schomburg/Lagodny, IRG-Kommentar, Einleitung Rn. 106, 3. Auflage, München 1998; Lagodny, „Zur Ermessensentscheidung bei einem Antrag eines ausländischen Verurteilten auf Strafverbüßung im Heimatland“, JZ 1997, S. 568. 55 Vgl. Gleß, „Die ,Verkehrsfähigkeit von Beweisen‘ im Strafverfahren“, ZStW 2003, S. 148 ff. 56 Hecker, Europäisches Strafrecht, Berlin (u. a.), 2005, S. 445. 57 Vgl. auch: Grünbuch der Kommission über Verfahrensgarantien in Strafverfahren innerhalb der Europäischen Union, KOM(2003) 75 endgültig v. 19.2.2003, S. 28. 58 Vgl. Perron, „Auf dem Weg zu einem europäischen Ermittlungsverfahren?“, ZStW 2000, S. 211 ff.

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der Unionsebene vor kurzem umfangreich bearbeitet wurden, will ich aber noch kurz hinweisen. Das erste Problem betrifft die Anerkennung von Sanktionen. Insbesondere bedarf es in diesem Anerkennungsstadium einer verbindlichen Regelung für jene Fälle, in denen eine Rechtsordnung eine bestimmte Sanktion nicht kennt. Dieses Problem wurde bereits von der Kommission in Bezug auf u. a. Geldstrafen, Beschlagnahme, alternative Maßnahmen, Aberkennung von Rechten untersucht.59 Zu einem der Ergebnisse dieser Studie zählt der Rahmenbeschluss über die gegenseitige Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen,60 aufgrund dessen grundsätzlich alle in einem EU-Mitgliedstaat verhängten Geldstrafen und Geldbußen für alle Formen von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten (d.h. insbesondere auch Verkehrsordnungswidrigkeiten) europaweit vollstreckt werden können. Die simple Formel der Anerkennungspolitik scheitert immer noch bei Sanktionen, die nicht in jedem EU-Mitgliedstaat vorgesehen sind. Das Aufrechterhalten des exequatur-Verfahrens, bezogen jedoch auf stricte Verfahrensaspekte, scheint diesbezüglich immer noch die beste Lösung zu sein.61 Der zweite Aspekt ist einer eher „technischen Natur“. Um eine in einem anderen Mitgliedstaat ergangene Entscheidung anerkennen zu können, müssen zuerst ihre Existenz und ihr Inhalt bekannt sein. Das Einrichten und die Nutzung eines europäischen Registers, das auch für die Strafzumessung bei Rückfalltätern benutzt werden könnte, wirft zahlreiche Probleme auf wie z. B. bezüglich seiner Aktualität und Vollständigkeit, Eintragung und Entfernung von strafrechtlichen Verurteilungen sowie entsprechende Regelungen zum Zugriffsrecht, zur Verwendung, Speicherung und Löschung gewonnener Informationen. Eine einfachere Alternativlösung bestünde in der Vernetzung der nationalen Strafregister.62 Auch bei diesem Vorhaben können die Fragen des Datenschutzes und der Datenverarbeitung nicht ohne eine Rechtsharmonisierung den nationalen Regelungen überlassen werden.

59 Grünbuch über die Angleichung, die gegenseitige Anerkennung und die Vollstreckung strafrechtlicher Sanktionen in der Europäischen Union, KOM(2004) 334 endgültig v. 30.4.2004; zu der Aberkennung von Rechten vgl. auch: Mitteilung der Kommission an der Rat und an das Europäische Parlament, Rechtsverluste infolge strafrechtlicher Verurteilungen in der Europäischen Union, KOM(2006) 73 endgültig v. 21.2.2006. 60 ABl. L 76 v. 22.3.2005. 61 So auch: Górski/Sakowicz, Bariery prawne integracji europejskiej w sprawach karnych, Materiały Robocze 3/05, Warszawa 2005, S. 35 m.w. N. 62 Einige Schritte zur Verbesserung und Beschleunigung des Informationsaustausches aus Strafregistern sind bereits im Vorschlag für einen Rahmenbeschluss über die Durchführung und den Inhalt des Austauschs von Informationen aus dem Strafregister zwischen den Mitgliedstaaten, KOM(2005) 690 endgültig v. 22.12.2005 eingeleitet worden.

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IV. Aussichten und Schlussfolgerungen Es ist sicherlich nicht mehr erforderlich zu wiederholen, dass in der EU neue und effektivere Instrumente zum Schutz der Sicherheit sowie der Vermeidung von „sicheren Häfen“ für Straftäter eingesetzt werden müssen. Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung kommt grundsätzlich diesen Herausforderungen entgegen und ermöglicht die Verwirklichung eines Kooperationsmodells, welches für die nationalen Strafrechtsordungen schonender als das „Oktroyieren“ eines gesamteuropäischen Strafgesetzbuchs wäre. Die ersten positiven Folgen der Anerkennungspolitik in Strafsachen nennt der Kommissionsbericht in Bezug auf den Rahmenbeschluss über den EHB, laut dessen u. a. eine Verkürzung der Vollstreckungsdauer von durchschnittlich 9 Monaten auf 45 Tage eingetreten ist.63 Neben der Steigerung der Effizienz und Schnelligkeit ist die mit der gegenseitigen Anerkennung fortschreitende Entpolitisierung der internationalen Rechtshilfe und die Gewährleistung eines europäischen ne bis in idem zu begrüßen. Solange jedoch keine effektiven Mechanismen zum Schutz der Rechte von Beschuldigten garantiert und verbindliche Kriterien zur Anerkennungsfähigkeit einer justiziellen Entscheidung nicht festgelegt sind, muss die Frage, ob das bisher Unternommene zur Gewährleistung einer einwandfreien Anwendung der gegenseitigen Anerkennung in allen Stadien des Strafverfahrens ausreichend ist, mit „nein“ beantwortet werden. Auch wenn das Ziel „einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu schaffen“ legitim und erstrebenswert ist, kann eine uneingeschränkte Geltung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung lediglich einen Teil dieses Vorhabens – nämlich das Entstehen eines Rechtsraumes – fördern. Die Ungewissheit, gar Zufälligkeit der Ergebnisse eines Strafverfahrens oder sogar eine eventuelle Manipulierbarkeit seines Verlaufs würden aber diesen Raum weder sicher noch freiheitlich machen.

63 Vgl. die Meldung IP/05/207 v. 23.02.05 im Internet: http://europa.eu.int/rapid/ searchResultAction.do?search=OK&query=COMDOC&username=PROF&advanced=0 &guiLanguage=en.

Habeas Corpus – Probleme der Umsetzung von Art. 5 EMRK in Polen und in Deutschland* Joachim Renzikowski I. Einleitung: Das Prinzip des „Habeas Corpus“ Der Grundsatz, dass niemandem die Freiheit ohne richterliche Anordnung auf gesetzlicher Grundlage entzogen werden darf, geho¨rt zu den a¨ltesten Freiheitsgarantien u¨berhaupt. Seine Geschichte steht in einer Wechselwirkung zu der Herausbildung zweier Prinzipien, die den modernen Verfassungsstaat pra¨gen: Ba¨ndigung der Hoheitsgewalt durch Gesetzesbindung und gerichtliche Kontrolle sowie Anerkennung unvera¨ußerlicher Freiheitsrechte des Einzelnen. Insofern stellt sich das Prinzip des „Habeas Corpus“ (nach den Worten eines mittelalterlichen Vorfu¨hrungsbefehls) als eine Wurzel des demokratischen Rechtsstaats dar: Da das Recht auf perso¨nliche Freiheit jedem Individuum in gleicher Weise zugestanden wird, erfordert seine Realisierung auch die politische und rechtliche Gleichheit. Damit es sich als einklagbares Recht innerhalb eines politischen Systems entfalten kann, muss es weiterhin mit positiven Freiheitsrechten, d. h. Rechten auf Teilhabe an den politischen Entscheidungen verknu¨pft sein.1 Das Rechtsinstitut des „Habeas Corpus“ entwickelt sich im europa¨ischen Hochmittelalter aus der Auseinandersetzung zwischen Ko¨nigen und ihren Lehnstra¨gern zuna¨chst als Standesrecht. Das beru¨hmteste Dokument ist Art. 39 der Magna Charta Libertatum von 1215, wonach die Verhaftung einer Person an das Urteil einer Jury oder an die lex terrae gebunden war.2 Im 17. Jahrhundert bildeten sich aus dem Kampf zwischen dem englischen Parlament und dem Ko¨nig um die absolute Staatsgewalt individuelle Garantien gegenu¨ber der Krone zum Schutz vor willku¨rlicher Verhaftung heraus.3 Die Habeas-Corpus-Akte von 1679 und die Bill of Rights von 1689 schufen eine institutionelle Absicherung der Freiheit der Per* Fu¨r wertvolle Hinweise zum polnischen Recht danke ich Dr. Maciej Małolepszy (Viadrina) und Prof. Dr. Andrzej Zoll (Universita¨t Krakau). 1 s. Kaufmann, Aufgekla ¨ rte Anarchie: Eine Einfu¨hrung in die politische Philosophie, Berlin, 1999, S. 197 f.; Kriele, Einfu¨hrung in die Staatslehre, 5. Aufl., Reinbek, 1994, S. 133 ff. 2 Ausfu ¨ hrlich dazu Ollinger, Die Entwicklung des Richtervorbehalts im Verhaftungsrecht, Berlin, 1997, S. 112 ff. 3 Dazu und zum folgenden Duker, A Constitutional History of Habeas Corpus, Westport, 1980, S. 48 ff.; Ollinger (o. Fn. 2), S. 196 ff.

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son gegen ungesetzliche Einwirkungen: Die Exekutive wurde verpflichtet, die Gru¨nde fu¨r die Ingewahrsamnahme anzugeben, um damit eine richterliche Kontrolle zu ermo¨glichen. Ausdru¨cklich wurde die strafrechtliche Verfolgung als wichtigster Anwendungsfall aufgefu¨hrt. Im weiteren Prozess der Ausbildung der Gewaltenteilung, insbesondere einer unabha¨ngigen Justiz, wurde diese Garantie auch praktisch versta¨rkt. Fu¨r die konstitutionellen Bewegungen des 18. und 19 Jahrhunderts wird diese Verbindung eines materiellen Grundrechts mit formellen Verfahrensgarantien gegen willku¨rliche Beeintra¨chtigungen zum Pru¨fstein fu¨r die Legitimita¨t staatlicher Herrschaft. Infolgedessen nehmen alle bedeutenden Menschenrechtserkla¨rungen dieser Zeit das Habeas-Corpus-Prinzip in unterschiedlichen Auspra¨gungen auf, so etwa Abschnitt 8 der Virginia Bill of Rights von 1776 als Vorla¨ufer von Art. 1 Abschnitt 9 Abs. 2 der Verfassung der Vereinigten Staaten von 1787 i.V.m. dem 4. Amendment von 1791 sowie Art. 7 – 9 der „De´claration des droits de l’homme et du citoyen“ vom 26. 8. 1789. Diese Tradition gipfelt in der Allgemeinen Erkla¨rung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen vom 10. 12. 1948, die in Art. 9 die willku¨rliche Festnahme oder Inhaftierung einer Person verbietet. Hieraus entstehen die Gewa¨hrleistungen des Art. 9 des Internationalen Paktes fu¨r bu¨rgerliche und politische Rechte sowie des Art. 5 der Europa¨ischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK).4 Beide Regelungen verbinden die Garantie der perso¨nlichen Freiheit mit einer verfahrensma¨ßigen Absicherung: Ein wirksamer Schutz gegen willku¨rliche Freiheitsentziehungen setzt nicht nur voraus, dass fu¨r jedermann die Voraussetzungen einer Inhaftierung gesetzlich bestimmt und somit vorhersehbar sind. Vielmehr muss der Inhaftierte auch die Mo¨glichkeit haben, die strikte Beachtung des Rechts in einem Gerichtsverfahren u¨berpru¨fen zu lassen, das eine effektive Verteidigung zula¨sst. In diesem Sinne wird der Grundrechtsschutz durch Verfahren in der Grundrechtsdogmatik als allgemeine Auspra¨gung objektiv-grundrechtlicher Gewa¨hrleistungsgehalte angesehen.5 Entsprechende materiellrechtliche und verfahrensrechtliche Garantien zum Schutz der perso¨nlichen Freiheit finden sich inzwischen in den meisten rechtsstaatlichen Verfassungen der Gegenwart, so auch in Art. 104 GG und Art. 41 der 4 Na ¨ her dazu Renzikowski in: Karl (Hrsg.), Internationaler Kommentar zur Europa¨ischen Menschenrechtskonvention, Loseblatt, Ko¨ln u. a., Stand 7. Lief. 2004, Art. 5 Rn. 6 ff.; Trechsel, Die europa¨ische Menschenrechtskonvention, ihr Schutz der perso¨nlichen Freiheit und die schweizerischen Strafprozessrechte, Bern, 1974, S. 171 ff. 5 Vgl. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III / 1 – Allgemeine Lehren der Grundrechte, 2. Aufl., Mu¨nchen, 1988, § 69 V; Rengeling / Szczekalla, Grundrechte in der Europa¨ischen Union, Ko¨ln u. a., 2004, Rn. 420; zur verfahrensrechtlichen Dimension der Garantie der Freiheit s. EGMR, Reports 1998-III (Kurt gegen Tu¨rkei), § 128; EGMR v. 31. 5. 2001 – 23954 / 94 (Akdeniz gegen Tu¨rkei), § 106.

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polnischen Verfassung vom 2. 4. 1997.6 Die EMRK trat in Polen am 1. 5. 1993 in Kraft.7 Der Gedanke des „Habeas Corpus“ besitzt dort allerdings eine viel a¨ltere Tradition. Bereits in den Jahren 1425, 1430 und 1433 hat Ko¨nig Władysław Jagiełło die Privilegien des „neminem captivabimus nisi iure victum“ verku¨ndet.8 Man sollte nun meinen, dass die Beachtung des Habeas-Corpus-Prinzips durch die staatliche Gewalt angesichts seiner tiefen Verwurzelung in der europa¨ischen Rechtskultur in jedem Rechtsstaat eine Selbstversta¨ndlichkeit darstellt. Jedoch machen Beschwerden wegen Verletzung von Art. 5 EMRK bis heute einen Großteil des Gescha¨ftsanfalls der Straßburger Organe – Kommission (EKMR) und Gerichtshof (EGMR) – aus. Die Frage nach den Standards des Menschenrechtsschutzes ist also unvera¨ndert aktuell. Die nationalen Rechtsordnungen la¨dt die EMRK als Referenzordnung zu einem Blick von Außen ein9 – freilich fu¨r die Bundesrepublik und Polen unter verschiedenen Vorzeichen. Ungeachtet einer vorbildlichen Verfassung sieht sich die deutsche Rechtsordnung zu einer sta¨ndigen – kritischen – Selbstvergewisserung aufgefordert, wobei die Zahl der festgestellten Verletzungen der Konventionsgarantien in den letzten Jahren deutlich angewachsen ist, da der EGMR den Grundrechtsschutz in einzelnen Bereichen u¨ber den hierzulande erreichten Standard ausbaut und dadurch die nationale Selbstzufriedenheit gelegentlich nachhaltig erschu¨ttert.10 Fu¨r die Rechtsentwicklung in Polen kann die Bedeutung der Konvention schon deshalb kaum u¨berscha¨tzt werden, weil anders als bei gewo¨hnlichen gesellschaftlichen Umstu¨rzen durch die EMRK und die Rechtsprechung des EGMR eine reichhaltige Tradition zur Verfu¨gung gestellt wird, aus der die Dz. U. Nr 78, poz. 483. Davon geht jedenfalls der EGMR in den einschla¨gigen Entscheidungen gegen Polen aus. Nach der Ansicht des polnischen Parlaments (www.sejm.gov.pl) trat die EMRK in Polen dagegen erst am 19. 9. 1993 in Kraft, s. auch Dz. U. Nr 61, poz. 284. 8 Eingehend dazu K. Balcerzak / M. Balcerzak / Gronowskaq / Jsudowicz, Neminem captivabimus nisi iure victum, Torun´, 2004. 9 Vgl. dazu Ho¨land, „Rechts- und Moralbildung in Europa durch die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten“, in: Renzikowski (Hrsg.), Die EMRK ¨ ffentlichen Recht – Grundlagen einer europa¨ischen Rechtskultur, im Privat-, Straf- und O Zu¨rich u. a., 2004, S. 9 ff. 10 Besondere Aufmerksamkeit hat in diesem Zusammenhang der Fall „Caroline von Monaco“ erlangt, s. dazu BVerfGE 101, S. 361 ff.; BVerfG, NJW 2000, S. 2192 f. einerseits sowie EGMR, Reports 2004-VI (von Hannover gegen Deutschland) = NJW 2004, S. 2647 ff. andererseits. Die Zurechtweisung durch den EGMR hat das BVerfG im Fall „Go¨rgu¨lu¨“ (BVerfGE 111, S. 307 ff.; BVerfG, NJW 2005, S. 1105 ff.) zu einem wenig konventionsfreundlichen obiter dictum provoziert. s. dazu auch Cremer, „Zur Bindungswirkung von EGMR-Urteilen, EuGRZ 2004, S. 683 ff.; Esser, „Die Umsetzung der Urteile des Europa¨ischen Gerichtshofs fu¨r Menschenrechte – ein Beispiel fu¨r die Dissonanz vo¨lkerrechtlicher Verpflichtungen und verfassungsrechtlicher Vorgaben?“, StV 2006, S. 348 ff.; einlenkend zuletzt Papier, „Umsetzung und Wirkung der Entscheidungen des Europa¨ischen Gerichtshofes fu¨r Menschenrechte aus der Perspektive der nationalen deutschen Gerichte“, EuGRZ 2006, S. 1 ff. 6 7

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polnischen Organe scho¨pfen ko¨nnen und die sie nicht erst in einem mu¨hsamen Prozess vollsta¨ndig selbst entwickeln mu¨ssen.11 Im folgenden sollen die Ausstrahlungen der Verfahrensgarantien des Art. 5 EMRK auf die Rechtsordnungen in Deutschland und in Polen an den Beispielen der richterlichen Anordnung der Untersuchungshaft (II.), des Haftpru¨fungsverfahrens (III.) und des Beschleunigungsgebots in Haftsachen (IV.) na¨her untersucht werden. II. Richterliche Anordnung der Untersuchungshaft 1. Die Rechtsentwicklung in Polen a) Die Rechtslage seit 1989 Nach der im Jahr 1989 reformierten polnischen Strafprozessordnung (Kodeks poste˛ powania karnego) konnte der Staatsanwalt wa¨hrend des Ermittlungsverfahrens bei Vorliegen bestimmter Haftgru¨nde die Untersuchungshaft anordnen (Art. 210 Abs. 1). Die Dauer der Untersuchungshaft war gema¨ß Art. 222 Abs. 1 auf ho¨chstens drei Monate begrenzt. Unter besonderen Umsta¨nden war auf Antrag der Staatsanwaltschaft eine Verla¨ngerung der Untersuchungshaft durch das fu¨r die Hauptverhandlung zusta¨ndige Gericht bis zu einem Jahr mo¨glich (Art. 222 Abs. 2 Nr. 1). Das Gericht musste in seiner Anordnung das Ende der Untersuchungshaft angeben. Allerdings konnte diese Frist auf Antrag erneut verla¨ngert werden. Nach Ablauf der Frist, insbesondere wenn die Staatsanwaltschaft den Antrag versa¨umte, war die inhaftierte Person unverzu¨glich freizulassen (Art. 213 Abs. 1). Mit der Erhebung der o¨ffentlichen Klage ging die Verfahrensherrschaft auf das Tatgericht u¨ber. Art. 299 Abs. 1 Nr. 6 schrieb vor, dass das Gericht bei der Ero¨ffnung der Hauptverhandlung pru¨ft, ob Zwangsmaßnahmen, etwa Untersuchungshaft, angeordnet werden mu¨ssen. Bei einem bereits im Ermittlungsverfahren durch die Staatsanwaltschaft erlassenen Haftbefehl wendete die fru¨here Praxis diese Vorschrift nicht an, weil man davon ausging, dass die Untersuchungshaft allein aufgrund der Anklageerhebung fortdauerte. Eine gesetzliche Grundlage hierfu¨r gab es nicht. Vielmehr schloss man wohl aus dem Schweigen des Gesetzes auf die automatische Verla¨ngerung der Untersuchungshaft. Folglich wurde auch eine gesonderte Entscheidung u¨ber die Verla¨ngerung der Untersuchungshaft fu¨r entbehrlich gehalten, zumal keine weiteren Bestimmungen fu¨r die Haft nach der Erhebung der Anklage existierten. Vor allem sah das Gesetz – im Gegensatz zur Untersuchungshaft wa¨hrend des Ermittlungsverfahrens – keine Frist vor, so dass 11 Na ¨ her dazu Pellonpa¨a¨, „Der europa¨ische Gerichtshof fu¨r Menschenrechte und der Aufbau des Rechtsstaats in den neuen Demokratien“, in: Donatsch / Forster / Schwarzenegger (Hrsg.), Strafrecht, Strafprozessrecht und Menschenrechte. Festschrift fu¨r Trechsel, Zu¨rich u. a., 2002, S. 79 ff.

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die Angeklagten damit rechnen mussten, bis zur Verku¨ndung des Urteils – das auf sich warten lassen konnte – in Haft zu bleiben. Diese Rechtslage war aufgrund der Beschwerden von Baranowski und Kawka gegen Polen Gegenstand zweier Verfahren vor dem EGMR. Baranowski war am 1. 6. 1993 von der Polizei festgenommen worden. Am Folgetag erließ der zusta¨ndige Staatsanwalt einen Haftbefehl wegen Betrugsverdachts. Am 25. 6. 1993 wies das Bezirksgericht Ło´dz´ eine Beschwerde Baranowskis zuru¨ck und hielt die Haftanordnung aufrecht. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft wurde die Untersuchungshaft zwei Mal verla¨ngert, zuletzt bis zum 31. 1. 1994. Am 11. 1. 1994 erhob die Staatsanwaltschaft die o¨ffentliche Klage. Auf die Ru¨ge, die Befristung der Untersuchungshaft sei abgelaufen, wurde Baranowski am 16. 2. 1994 vom Pra¨sidenten der Strafkammer des Bezirksgerichts Ło´dz´ darauf hingewiesen, dass sein Vorbringen unberechtigt sei. Infolge der Anklageerhebung unterstehe der Angeklagte nunmehr bis zu einer Aufhebung der Untersuchungshaft bzw. bis zum Erlass des erstinstanzlichen Urteils dem Bezirksgericht. Eine eigensta¨ndige Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft unterblieb zuna¨chst. Erst am 24. 5. 1994 wies das Bezirksgericht Ło´dz´ eine weitere Haftbeschwerde des Angeklagten zuru¨ck, weil die Haftgru¨nde fortbestu¨nden. Am 22. 10. 1996 wurde die Untersuchungshaft aufgehoben und der Angeklagte der Polizeiaufsicht unterstellt. Zum Zeitpunkt der Beschwerde vor dem EGMR war das Strafverfahren noch anha¨ngig.12 Im Fall Kawka war der Beschwerdefu¨hrer am 6. 1. 1994 aufgrund eines staatsanwaltschaftlichen Haftbefehls wegen des Verdachts des versuchten Totschlags inhaftiert worden. Die Untersuchungshaft wurde zwei Mal verla¨ngert, zuletzt bis zum 30. 9. 1994. Am 20. 9. 1994 erhob die Staatsanwaltschaft die o¨ffentliche Klage. Eine Haftbeschwerde des Angeklagten wurde am 4. 10. 1994 zuru¨ckgewiesen, weil die Gru¨nde fu¨r die Anordnung der Untersuchungshaft fortbestu¨nden. Am 25. 10. 1994 wies das Appellationsgericht Ło´dz´ die weitere Beschwerde zuru¨ck. Die Berufung auf den Ablauf der Frist am 30. 9. 1994 sei offensichtlich unbegru¨ndet, weil die Fristanordnungen durch die Anklageerhebungen gegenstandslos geworden seien. Am 5. 6. 1995 wurde Kawka wegen versuchten Totschlags zu einer fu¨nfja¨hrigen Freiheitsstrafe verurteilt.13

Der EGMR stellt in beiden Entscheidungen den Zweck des Art. 5 EMRK in den Mittelpunkt: Schutz vor ungerechtfertigter und willku¨rlicher Freiheitsentziehung.14 An diesem Schutzzweck muss sich das nationale Recht messen lassen. Hierbei verlangt zuna¨chst das Prinzip der Rechtssicherheit, dass die Voraussetzungen der Freiheitsentziehung im nationalen Recht so klar geregelt sind, dass seine Anwendung fu¨r die Bu¨rger, gegebenenfalls mit anwaltlicher Beratung, vor12 s. die Darstellung des Sachverhalts bei EGMR, Reports 2000-III (Baranowski gegen Polen), §§ 7 – 22. 13 s. die Darstellung des Sachverhalts bei EGMR v. 9. 1. 2001 – 2587 / 94 (Kawka gegen Polen), §§ 7 – 25. 14 EGMR, Reports 2000-III (Baranowski gegen Polen), § 51; EGMR v. 9. 1. 2001 – 2587 / 94 (Kawka gegen Polen), § 47; das entspricht der sta¨ndigen Rechtsprechung, s. Renzikowski (o. Fn. 4), Art. 5 Rn. 1 m. w. N. in Fn. 1.

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hersehbar ist.15 Mit diesen Anforderungen ist die Umwandlung der befristeten Untersuchungshaft wa¨hrend des Ermittlungsverfahrens in unbefristete Untersuchungshaft wa¨hrend der Hauptverhandlung nach dem fru¨heren polnischen Strafprozessrecht nicht vereinbar, wie der EGMR im Fall Baranowski na¨her ausfu¨hrt.16 Daru¨ber hinaus leitet der Gerichtshof aus dem Schutzzweck des Art. 5 EMRK ab, dass ein rechtma¨ßiges Verfahren nach Art. 5 Abs. 1 EMRK Freiheitsentziehungen grundsa¨tzlich unter den Vorbehalt einer richterlichen Anordnung stellt. Zwar sei der Richtervorbehalt in Art. 5 Abs. 1 EMRK nicht ausdru¨cklich angeordnet. Aber aus dem Regelungszusammenhang der gesamten Norm („from Article 5 read as a whole“), insbesondere aus Abs. 1 lit. c, Abs. 3 und der Habeas-Corpus-Garantie des Abs. 4 ergebe sich die Notwendigkeit einer gerichtlichen Intervention, da der Schutzzweck des Art. 5 EMRK ernstlich gefa¨hrdet wa¨re, wenn die Freiheit allein aufgrund einer Anordnung der Exekutive entzogen werden ko¨nnte.17 Da die Fortdauer der Untersuchungshaft nach dem Ablauf der Frist in beiden Fa¨llen bis zur erstmaligen richterlichen Zuru¨ckweisung einer Haftbeschwerde allein auf der Anklageerhebung beruhte, bejahte der EGMR jeweils eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK.18 ¨ bergang in eine rechtsstaatliche Ordnung Derartige Schwierigkeiten beim U sind indes keineswegs Besonderheiten des polnischen Rechtssystems. Mit vergleichbaren Transformationsproblemen sah sich der EGMR beispielsweise auch im litauischen Recht konfrontiert. In mehreren Entscheidungen hat der Gerichtshof nochmals die Bedeutung des Richtervorbehalts fu¨r ein rechtsstaatliches Verfahren nach Art. 5 Abs. 1 EMRK betont.19 b) Die Reform des Strafprozessrechts in den Jahren 1996 bis 1998 Das Gesetz vom 29. Juni 1995 zur Erga¨nzung der Strafprozessordnung und anderer Strafgesetze,20 das am 4. 8. 1996 in Kraft getreten ist, verbesserte die fru¨15 EGMR, Reports 2000-III (Baranowski gegen Polen), § 52; EGMR v. 9. 1. 2001 – 2587 / 94 (Kawka gegen Polen), § 49; EGMR v. 20. 6. 2006 – 39510 / 98 (A.S. gegen Polen), § 73; vgl. dazu auch Renzikowski (o. Fn. 4), Art. 5 Rn. 70 und 77 m. w. N. 16 EGMR, Reports 2000-III (Baranowski gegen Polen), §§ 54–56; vgl. auch Jacobs / White, The European Convention on Human Rights, 3. Aufl., Oxford, 2002, S. 107 f.; Trechsel, Human Rights in Criminal Proceedings, Oxford, 2005, S. 430. 17 EGMR, Reports 2000-III (Baranowski gegen Polen), § 57; s. auch EGMR v. 13. 7. 2004 – 38668 / 97 (Ciszewski gegen Polen), § 30. 18 EGMR, Reports 2000-III (Baranowski gegen Polen), § 58; EGMR v. 9. 1. 2001 – 2587 / 94 (Kawka gegen Polen), § 52; ebenso EGMR v. 23. 2. 2006 – 39598 / 98 (Hulewicz gegen Polen), §§ 46–48, 52–54. 19 EGMR, Reports 2000-IX (Jec ˇ ius gegen Litauen), §§ 57–64; EGMR v. 10. 10. 2000 – 36743 / 97 (Grauslys gegen Litauen), §§ 39–41; EGMR v. 21. 3. 2002 – 47679 / 99 (Stasaitis gegen Litauen), §§ 59–61; EGMR, Reports 2002-II (Butkevicius gegen Litauen), §§ 37–39; EGMR v. 19. 11. 2006 – 66004 / 01 und 36996 / 02 (Vaivada gegen Litauen), §§ 43–45.

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here Rechtslage nur zum Teil. In unserem Zusammenhang erscho¨pfte sich seine Bedeutung darin, dass die Befristungen der Untersuchungshaft im Ermittlungsverfahren nunmehr auch auf den Zeitraum der Hauptverhandlung erstreckt wurden (vgl. Art. 222 Abs. 3 n.F.). Die Untersuchungshaft sollte nicht la¨nger unbestimmte Zeit dauern, bis das erstinstanzliche Gericht endlich das Urteil abgesetzt hatte.21 Nunmehr sollte das Tatgericht bei der Ero¨ffnung der Hauptverhandlung die Haftdauer bestimmen und wa¨hrend des weiteren Verfahrens laufend u¨berpru¨fen.22 Dass damit die Probleme noch keineswegs gelo¨st waren, zeigen weitere Beschwerdeverfahren gegen Polen. In den Fa¨llen Goral, Latasiewicz und A.S. verlor ¨ nderungen des polnischen Strafverfahrensder Gerichtshof kein Wort zu den A rechts, wonach aufgrund der zeitlichen Befristung der Untersuchungshaft jedenfalls der Rechtssicherheit entsprochen wurde. Ausschlaggebend war allein – wie bereits im Fall Baranowski –, dass die Verla¨ngerung der Untersuchungshaft infolge der Anklageerhebung nicht von einer richterlichen Entscheidung autorisiert worden war.23 Hinzu kommt, dass die Freiheit auch dann nicht „auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise“ (in accordance with a procedure prescribed by law) nach Art. 5 Abs. 1 EMRK entzogen wird, wenn die Fortdauer der Untersuchungshaft erst nach dem Ablauf einer Frist angeordnet wird.24 Am 6. 6. 1997 hat der Sejm eine neue Strafprozessordnung beschlossen, die am 1. 9. 1998 in Kraft getreten ist.25 Die Neuregelung erfu¨llt nunmehr in vorbildlicher Weise alle Vorgaben des Art. 5 EMRK.26 Nach Art. 250 n.F. muss die Untersuchungshaft durchga¨ngig von einem Gericht angeordnet werden, wa¨hrend des Ermittlungsverfahrens auf Antrag der Staatsanwaltschaft, nach der Erhebung der Anklage von dem fu¨r das Hauptverfahren zusta¨ndigen Gericht. Wenn der Staatsanwalt die Anordnung der Untersuchungshaft beantragt, soll er zugleich dafu¨r Sorge tragen, dass der Verda¨chtige dem Gericht vorgefu¨hrt wird. Bevor die Untersuchungshaft angeordnet wird, muss das Gericht den Beschuldigten anho¨ren, sofern er nicht flu¨chtig ist. Zur Vernehmung ist der Verteidiger zuzulassen, wenn er erscheint. Eine Verpflichtung zur Benachrichtigung des Verteidigers besteht nach Art. 249 Abs. 3 jedoch nicht, es sei denn, der Beschuldigte hat einen entsprechen-

Dz. U. Nr. 89, poz. 443. Vgl. Oberstes Gericht v. 6. 2. 1997, no. I KZP 35 / 96. 22 Vgl. Oberstes Gericht v. 2. 9. 1997, no. I KZP 23 / 97. 23 EGMR v. 30. 10. 2003 – 38654 / 97 (Goral gegen Polen), §§ 57, 58; EGMR v. 23. 6. 2005 – 44722 / 98 (Latasiewicz gegen Polen), §§ 45–47; EGMR v. 20. 6. 2006 – 39510 / 98 (A.S. gegen Polen), §§ 67–70. 24 s. EGMR v. 20. 1. 2004 – 34221 / 97 (D.P. gegen Polen), §§ 74–76; EGMR v. 20. 1. 2004 – 38816 / 97 (G.K. gegen Polen), § 76; EGMR v. 11. 10. 2005 – 37444 / 97 (Bagin´ski gegen Polen), §§ 51–55; EGMR v. 20. 6. 2006 – 39510 / 98 (A.S. gegen Polen), §§ 74–76. 25 Dz. U. Nr. 88, poz. 553. 26 Vgl. EGMR v. 4. 4. 2006 – 57477 / 00 (Malik gegen Polen), § 26. 20 21

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den Antrag gestellt und das Verfahren dadurch nicht verzo¨gert wird. Die polnische Regelung geht damit u¨ber § 114 StPO hinaus, denn danach ist fu¨r den richterlichen Haftbefehl weder die Anho¨rung des Beschuldigten, noch seines Verteidigers erforderlich. 2. Die richterliche Vorfu¨hrung in Deutschland Art. 5 Abs. 3 EMRK gewa¨hrt jedem Untersuchungsgefangenen nach Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. c EMRK einen Anspruch auf unverzu¨gliche Vorfu¨hrung vor einen Richter. Diese Verfahrensgarantie bezweckt zum einen die gerichtliche Kontrolle der Untersuchungshaft und ist insofern Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips und der Gewaltenteilung. Zum anderen soll die unverzu¨gliche Kontrolle durch ein unabha¨ngiges Organ pra¨ventiv vor Misshandlungen bei der Festnahme oder der Inhaftierung schu¨tzen.27 In Deutschland muss die Untersuchungshaft gema¨ß Art. 104 Abs. 2 S. 1 GG i.V.m. § 114 StPO durch einen schriftlichen Haftbefehl des Richters angeordnet werden. Wird der Verda¨chtige festgenommen, so muss er nach Art. 104 Abs. 3 GG spa¨testens am folgenden Tag dem Richter vorgefu¨hrt werden. Nach Mo¨glichkeit handelt es sich um den Richter, der den Haftbefehl erlassen hat (§ 115 StPO). Wenn der Verhaftete nicht rechtzeitig, etwa wegen großer Entfernung, vor den zusta¨ndigen Richter gestellt werden kann, muss er gema¨ß § 115 a StPO dem na¨chsten Richter vorgefu¨hrt werden. Bei einer vorla¨ufigen Festnahme nach § 127 StPO ordnet § 128 StPO die Vorfu¨hrung vor den Richter an, damit u¨ber den Erlass einen Haftbefehls entschieden werden kann. Insofern scheint die Rechtslage den Anforderungen der Konvention zu entsprechen.28 a) Die Kompetenz des „na¨chsten Richters“ gema¨ß § 115 a Abs. 2 StPO Problematisch ist indes die Pru¨fungskompetenz des „na¨chsten Richters“ nach § 115 a Abs. 2 StPO. Der Gesetzeswortlaut von Abs. 2 S. 3 beschra¨nkt die richter¨ berpru¨fung im wesentlichen auf die Feststellung der Identita¨t. Ansonsten liche U darf der Richter den Beschuldigten nur dann freilassen, wenn der Haftbefehl nicht mehr besteht. Eine daru¨ber hinausgehende Entscheidungskompetenz steht dem Richter nicht zu. Selbst wenn er den Haftbefehl fu¨r offensichtlich unbegru¨ndet ha¨lt, darf er ihn nicht selbst aufheben oder gema¨ß § 116 StPO außer Vollzug set-

27 Vgl. Esser, Auf dem Weg zu einem europa ¨ ischen Strafverfahrensrecht, Berlin, 2002, S. 262; Jacobs / White (o. Fn. 16), S. 111; Trechsel (o. Fn. 16), S. 464; Renzikowski (o. Fn. 4), Art. 5 Rn. 238 m. w. N. 28 So wohl Meyer-Goßner, Strafprozessordnung, 49. Aufl., Mu ¨ nchen, 2006, Art. 5 MRK Rn. 9.

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zen, sondern muss seine Bedenken dem zusta¨ndigen Richter mitteilen.29 Diese Beschra¨nkung dient nicht nur der Sicherung der Zusta¨ndigkeit des Richters, der den Haftbefehl erlassen hat, fu¨r alle weiteren Haftentscheidungen gema¨ß § 126 StPO. Sie beruht auch auf einem praktischen Grund: In der Regel ist der Richter des na¨chsten Amtsgerichts mit der Sache nicht vertraut. Er kennt die Akten nicht, sondern hat nur eine Abschrift des Haftbefehls.30 Gewo¨hnlich wirft die eingeschra¨nkte Entscheidungsbefugnis keine Probleme auf, weil der „na¨chste Richter“ sich telefonisch, per Telefax oder per e-mail mit dem zusta¨ndigen Richter in Verbindung setzen kann, der seine Anordnung dann durch seinen Kollegen ausfu¨hren lassen kann. Probleme ergeben sich jedoch dann, wenn der zusta¨ndige Richter am Tag der Vorfu¨hrung auch durch die modernen Kommunikationsmittel nicht erreicht werden kann und die Aufrechterhaltung des Haftbefehls unvertretbar wa¨re. Ein Beispiel aus der Praxis ist die amtsa¨rztlich attestierte Haftunfa¨higkeit.31 Als ein weiteres Beispiel wird der Vorfu¨hrungsbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO angesprochen, der gegen einen Angeklagten angeordnet wird, der nicht zur Verhandlung erscheinen konnte, weil er wegen eines Unfalls bewusstlos im Krankenhaus lag.32 Nimmt man § 115 a Abs. 2 StPO beim Wort, so darf der „na¨chste Richter“ in diesen Fa¨llen die Umsta¨nde, die gegen eine Fortdauer der Freiheitsentziehung sprechen, nicht beru¨cksichtigen – nur weil es nicht in seine Kompetenz fa¨llt. Um in diesen Konstellationen zu einem sachgerechten Ergebnis zu gelangen, werden verschiedene Lo¨sungen vorgeschlagen. So wird § 115 a Abs. 2 StPO als ¨ bertragung sa¨mtlicher Befugnisse des zusta¨ndigen Richters an den pauschale U „na¨chsten Richter“ interpretiert.33 Andere leiten aus der Freiheitsgarantie der Art. 2 Abs. 2 S. 2, 104 GG ab, dass die Freilassungsbefugnis des „na¨chsten Richters“ nach § 115 a Abs. 2 S. 3 StPO – mit hier nicht weiter interessierenden Differenzierungen – erweitert werden muss.34 Problematisch an diesen Vorschla¨gen ist, 29 So auch die h.L., vgl. BGHSt 42, S. 343, 346; Boujong, in: Pfeiffer (Hrsg.), Karlsruher Kommentar zur StPO und zum GVG, 5. Aufl., Mu¨nchen, 2003, § 115 a Rn. 4; Meyer-Goßner (o. Fn. 28), § 115 a Rn. 5 f. 30 Krey, Strafverfahrensrecht, Bd. 2, Stuttgart 1990, Rn. 351. 31 Vgl. LG Frankfurt, StV 1985, S. 464. 32 Enzian, „Die Freilassungsbefugnis des na ¨ chsten Amtsrichters (§ 114 c StPO)“, NJW 1956, S. 1786; ders., „Befehlsverweigerung oder blinder Gehorsam des Vorfu¨hrungsrichters gegenu¨ber unbegru¨ndeten Haftbefehlen: § 115 a StPO?“, NJW 1973, S. 838, 839. 33 Heinrich, „Die Entscheidungsbefugnisse des ,na ¨ chsten Amtsrichters‘ nach § 115 a StPO“, StV 1995, S. 660, 665 ff.; zustimmend Roxin, Strafverfahrensrecht, 25. Aufl., Mu¨nchen, 1998, § 30 Rn. 27; krit. Schmitz, „Der verhaftete Beschuldigte und sein erster Richter (§§ 115, 115 a StPO)“, NStZ 1998, S. 165, 170; Christian Schro¨der, „Freiheitsentzug entgegen richterlicher Erkenntnis? § 115 a Abs. 2 StPO und die Kompetenz des na¨chsten Richters“, StV 2005, S. 241, 242. 34 Vgl. etwa Enzian, NJW 1973, S. 839; Claus Schro¨der, „Zur Kompetenz des Richters beim na¨chsten Amtsgericht“, NJW 1981, S. 1425 ff.; Ziegert, „Der Richter des

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dass sie zu der unmo¨glichen Konsequenz fu¨hren ko¨nnen, dass ein Gericht niederer Ordnung – der „na¨chste Richter“ ist immer ein Richter am Amtsgericht – auf eine Entscheidung eines Gerichts ho¨herer Ordnung – bei einem Haftbefehl des Landgerichts – zugreift.35 Diese Falle wird vermieden, wenn man den „na¨chsten Richter“ in analoger Anwendung von § 116 StPO erma¨chtigt, den Haftbefehl vorla¨ufig außer Vollzug zu setzen, soweit im Zeitpunkt seiner Verku¨ndung eine weitere Freiheitsentziehung als nicht vertretbar erscheint.36 b) Der Anspruch auf unverzu¨gliche Vorfu¨hrung vor einen Richter nach Art. 5 Abs. 3 EMRK Diese Diskussion soll an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden. Im Folgenden geht es vielmehr um die Anforderungen, die die Verfahrensgarantie des Art. 5 Abs. 3 EMRK an die richterliche Vorfu¨hrung stellt. Insofern wird vertreten, dass die Vorfu¨hrungspflicht nach Art. 5 Abs. 3 EMRK nicht eingreift, wenn bereits ein richterlicher Haftbefehl vorliegt. Denn eine – zweite – unabha¨ngige richterliche Kontrolle der Exekutive sei in diesem Fall entbehrlich. Der die Freiheitsentziehung anordnende Gerichtsbeschluss bzw. die Fortdauer der Untersuchungshaft ko¨nne im Haftpru¨fungsverfahren nach Art. 5 Abs. 4 EMRK u¨berpru¨ft werden.37 Hinzu kommt, dass die richterliche Vorfu¨hrung vor den zusta¨ndigen Richter nach § 115 StPO ha¨ufig nicht in der von Art. 5 Abs. 3 EMRK vorgeschriebenen kurzen Frist38 mo¨glich ist. Auf der anderen Seite differenziert Art. 5 Abs. 3 EMRK nicht zwischen der vorla¨ufigen Festnahme und einer Festnahme aufgrund eines richterlichen Haftbefehls. Zudem hat der EGMR aus der Konvention ganz bestimmte Vorstellungen davon entwickelt, was u¨berhaupt unter einer richterlichen Ta¨tigkeit zu verstehen ist.39

na¨chsten Amtsgerichts – Richter oder Urkundsbeamter?“, StV 1997, S. 439, 441 f.; s. auch Zieschang, „Die Entscheidungsbefugnisse des Richters des na¨chsten Amtsgerichts gema¨ß § 115 a StPO“, in: Dreier u. a. (Hrsg.), Raum und Recht. Festschrift 600 Jahre Wu¨rzburger Juristenfakulta¨t, Berlin, 2002, S. 665, 681 f. 35 Das dann, je nach Konstellation, seinerseits im Beschwerdeverfahren die Entscheidung des Amtsgerichts aufheben ko¨nnte. 36 So Christian Schro¨der, StV 2005, S. 246; zustimmend Meyer-Goßner (o. Fn. 28), § 115 a Rn. 6. 37 Vgl. Kopetzki, „Kommentar zum Bundesverfassungsgesetz vom 29. November 1988 u¨ber den Schutz der perso¨nlichen Freiheit (PersFrG)“, in: Korinek / Holobek ¨ sterreichisches Bundesverfassungsrecht: Textsammlung und Kommentar, Lo(Hrsg.), O seblatt, Wien, Stand 5. Lief. 2002, Art. 4, 5 Rn. 17; Renzikowski (o. Fn. 4), Art. 5 Rn. 240. An dieser Auffassung halte ich nicht mehr fest. 38 Die Konventionsorgane gehen grundsa ¨ tzlich von einem Zeitraum von 24 bis 48 Stunden aus, s. Renzikowski (o. Fn. 4), Art. 5 Rn. 246 m. w. N. 39 Vgl. Trechsel (o. Fn. 16), S. 469.

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Der Gerichtshof wurde erst einmal mit diesem Problem befasst. Gegen den irischen Beschwerdefu¨hrer McGoff hatte ein schwedisches Gericht am 27. Oktober 1977 in seiner Abwesenheit, aber in Gegenwart eines gerichtlich bestellten Verteidigers einen Haftbefehl erlassen. McGoff wurde erst am 10. 7. 1979 in den Niederlanden festgenommen und am 24. 1. 1980 an Schweden ausgeliefert. Erst am 8. 2. 1980 wurde er einem Gericht vorgefu¨hrt, das nach einer mu¨ndlichen Verhandlung die Fortdauer der Untersuchungshaft anordnete.

Der Gerichtshof entschied ebenso wie bereits die Kommission, dass der Haftbefehl die nachfolgende Anwendung der Garantien des Art. 5 Abs. 3 EMRK nicht ausschließe und dass die richterliche Vorfu¨hrung erst 15 Tage, nachdem der Beschwerdefu¨hrer in schwedischen Gewahrsam verbracht worden war, nicht fristgerecht erfolgte. Ferner deuteten sowohl die Kommission wie auch der Gerichtshof an, dass eine richterliche Haftentscheidung im eigentlichen Sinne erst dann vorliege, wenn die betroffene Person perso¨nlich angeho¨rt worden sei. Die Anwesenheit des gerichtlich bestellten Verteidigers wurde mit keinem Wort gewu¨rdigt. Als weitere – hilfsweise (?) – Erwa¨gung wurde der Zeitraum von u¨ber zwei Jahren zwischen dem Erlass des Haftbefehls durch das schwedische Gericht und der Festnahme des Beschwerdefu¨hrers in den Niederlanden erwa¨hnt.40 Der maßgebliche Gesichtspunkt der Entscheidung im Fall McGoff ist die richterliche Anordnung der Untersuchungshaft. Art. 5 Abs. 3 EMRK verlangt die unverzu¨gliche Vorfu¨hrung, damit ein Richter u¨ber die Freiheitsentziehung entscheidet. Sie ist nur dann entbehrlich, wenn bereits eine richterliche Entscheidung vorliegt. Hinzu kommt, dass die Zula¨ssigkeit der Untersuchungshaft von Amts wegen u¨berpru¨ft werden muss. Man kann die inhaftierte Person daher nicht darauf verweisen, dass sie ja eine richterliche Haftpru¨fung beantragen kann.41 Es kommt also darauf an, welche Anforderungen Art. 5 EMRK an eine richterliche Entscheidung stellt. Bei der entscheidenden Stelle muss es sich nicht zwingend um ein Gericht im klassischen Sinne, d. h. um eine in die Justizorganisation integrierte Stelle handeln. Wohl aber muss die entscheidende Stelle die wesentlichen Merkmale aufweisen, die ein Gericht auszeichnen, also perso¨nliche Unabha¨ngigkeit von den Parteien, organisatorische Selbsta¨ndigkeit von den Verwaltungs- oder Strafverfolgungsbeho¨rden, sowie die Befugnis, in sachlicher Unabha¨ngigkeit in einem rechtsstaatlichen Verfahren verbindlich u¨ber die Freiheitsentziehung zu entscheiden.42 40 EKMR, Serie B Nr. 68-B (McGoff gegen Schweden), § 27; EGMR, Serie A Nr. 83B (McGoff gegen Schweden), § 27 = EuGRZ 1985, S. 671, 672. 41 Vgl. EGMR, Reports 1999-III (Aquilina gegen Malta), § 49 = NJW 2001, S. 51, 53; EGMR v. 4. 7. 2000 – 27915 / 95 (Niedbala gegen Polen), § 50; EGMR v. 15. 7. 2005 – 42026 / 98 (Asenov gegen Bulgarien), § 57. 42 Grundlegend EGMR, Serie A Nr. 34 (Schiesser gegen Schweiz), §§ 27, 30, 31, 35 = EuGRZ 1980, S. 204 ff.; weitergefu¨hrt in EGMR, Serie A Nr. 188 (Huber gegen

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In zahlreichen Entscheidungen gegen Polen stellte der EGMR klar, dass ein Staatsanwalt diese richterliche Funktion nicht erfu¨llt, weil seine Unabha¨ngigkeit durch die Stellung als o¨ffentlicher Ankla¨ger beeintra¨chtigt ist – ungeachtet der Pflicht, auch den Beschuldigten entlastende Tatsachen zu ermitteln.43 Die Beschwerden betrafen allerdings noch den alten Rechtszustand vor der Reform des Jahres 1995, wonach der Staatsanwalt wa¨hrend des Ermittlungsverfahrens allein fu¨r die Anordnung einer auf ho¨chstens drei Monate befristeten Untersuchungshaft zusta¨ndig war (Art. 210 Abs. 1 a.F., s. o.). Unbeachtlich war, dass der Staatsanwalt vor der Haftanordnung die betroffene Person anho¨ren musste. Seit der Reform des Jahres 199544 liegt die Entscheidung u¨ber die Untersuchungshaft nunmehr allein in der Hand eines Gerichts. Von zentraler Bedeutung ist weiterhin, dass der Richter oder richterliche Beamte befugt ist, die Rechtma¨ßigkeit der Freiheitsentziehung umfassend zu u¨berpru¨fen und gegebenenfalls die Entlassung anzuordnen.45 Damit sind jegliche Einschra¨nkungen der Pru¨fungstiefe und der Entscheidungskompetenz mit Art. 5 Abs. 3 EMRK unvereinbar. Schließlich muss die richterliche Vorfu¨hrung gewissen Verfahrensanforderungen genu¨gen. So hat der Festgenommene einen Anspruch darauf, vom Richter oder dem erma¨chtigten Beamten mu¨ndlich angeho¨rt zu werden.46 Ein Anwesenheitsrecht des Verteidigers bei der Vorfu¨hrung schreibt Art. 5 Abs. 3 EMRK nicht vor.47 Das Vorbringen des Beschuldigten sowie alle Umsta¨nde, die fu¨r oder gegen Schweiz), § 43 = EuGRZ 1990, S. 502, 503 f.; s. ferner Esser (o. Fn. 27), S. 265 ff. m. w. N. 43 EGMR v. 4. 7. 2000 – 27915 / 95 (Niedbala gegen Polen), §§ 49, 52–57; EGMR v. 27. 2. 2002 – 33885 / 96 (Eryk Kawka gegen Polen), §§ 16–18; EGMR v. 2. 7. 2002 – 34611 / 97 (Dacewicz gegen Polen), §§ 21–23; EGMR v. 19. 12. 2002 – 35498 / 97 (Salapa gegen Polen), §§ 68–70; EGMR v. 3. 4. 2003 – 31583 / 96 (Klamecki gegen Polen), §§ 105–109; EGMR v. 27. 4. 2004 – 34091 / 96 (M.B. gegen Polen), §§ 59–61; EGMR v. 11. 10. 2005 – 37444 / 97 (Bagin´ski gegen Polen), §§ 59–62; EGMR v. 20. 12. 2005 – 30865 / 96 (Jasin´ski gegen Polen), §§ 46, 47; EGMR v. 10. 4. 2006 – 3334090 / 96 (W.B. gegen Polen), §§ 50, 51; EGMR v. 13. 6. 2006 – 33866 / 96 (Bogulak gegen Polen), §§ 34–37; EGMR v. 20. 6. 2006 – 39510 / 98 (A.S. gegen Polen), §§ 80–83. 44 Dz. U. Nr. 89, poz. 443. 45 Vgl. EGMR, Serie A Nr. 77 (De Jong, Baljet und van den Brink gegen Niederlande), § 48 = EuGRZ 1985, S. 700, 705 f.; EGMR, Serie A Nr. 78 (van der Sluijs, Zuiderveld und Klappe gegen Niederlande), § 43; EGMR, Reports 1999-II (Nikolova gegen Bulgarien), § 49 („power to make a binding order for the detainee’s release“) = EuGRZ 1999, S. 320 f.; EGMR, Reports 1999-III (Aquilina gegen Malta), §§ 53, 54 = NJW 2001, S. 54. 46 EKMR, Serie B Nr. 68-A (Skoogstro¨m gegen Schweden), §§ 80, 81; EGMR, Reports 1998-VIII (Assenov u. a. gegen Bulgarien), § 146; EGMR, Reports 1999-I (Hood gegen Großbritannien), § 60 = NVwZ 2001, S. 304, 305; EGMR, Reports 1999-III (Aquilina gegen Malta), § 50 = NJW 2001, S. 53. 47 s. EGMR, Serie A Nr. 34 (Schiesser gegen Schweiz), § 36 = EuGRZ 1980, S. 202, 206; Harris / O’Boyle / Warbrick, Law of the European Convention on Human Rights, London, 1995, S. 134; abweichend Esser (o. Fn. 27), S. 273.

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die Untersuchungshaft sprechen, mu¨ssen von Amts wegen gepru¨ft und die Fortdauer der Freiheitsentziehung muss begru¨ndet werden.48 Diesen Maßsta¨ben genu¨gt die derzeitige Rechtslage in Deutschland nicht. Beim Erlass eines richterlichen Haftbefehls nach § 114 StPO wird in der Regel das konventionsrechtlich gebotene Verfahren nicht eingehalten. Insbesondere wird dem Beschuldigten gema¨ß § 33 Abs. 4 StPO kein rechtliches Geho¨r gewa¨hrt. Das rechtliche Geho¨r kann nach § 33 a StPO zwar auch nachgeholt werden, wozu gerade die Vorfu¨hrung vor den zusta¨ndigen Richter nach § 115 StPO dienen soll. Bei der Vorfu¨hrung vor den „na¨chsten Richter“ bleibt die Nachholung des rechtlichen ¨ berpru¨fung der Geho¨rs jedoch ohne Konsequenz, denn eine vollumfa¨ngliche U Rechtma¨ßigkeit der Freiheitsentziehung scheitert an der beschra¨nkten Entscheidungskompetenz des § 115 a Abs. 2 S. 3 StPO. Die Pflicht, Bedenken gegen die Aufrechterhaltung der Haft unverzu¨glich dem zusta¨ndigen Richter mitzuteilen (§ 115 a Abs. 3 S. 4 StPO), ist schon deshalb kein konventionskonformer Ausweg, weil der entscheidende Richter den Verhafteten selbst mu¨ndlich angeho¨rt haben muss. Schließlich muss der Beschuldigte im Fall des § 115 a StPO einen Antrag auf Vorfu¨hrung vor den zusta¨ndigen Richter stellen (Abs. 3 S. 1), wa¨hrend Art. 5 Abs. 3 EMRK eine richterliche Haftpru¨fung von Amts wegen verlangt. Eine Gesetzesa¨nderung ist also geboten – die sich durchaus an dem insoweit vorbildlichen polnischen Recht orientieren ko¨nnte.49 III. Das Haftpru¨fungsverfahren nach Art. 5 Abs. 4 EMRK Art. 5 Abs. 4 EMRK entha¨lt die klassische Habeas-Corpus-Garantie, na¨mlich das fundamentale Recht jeder inhaftierten Person, ein Verfahren einzuleiten, in dem ein Gericht die Rechtma¨ßigkeit der Freiheitsentziehung u¨berpru¨ft.50 Ziel ist – wie bereits bei Art. 5 Abs. 3 EMRK – die Vermeidung einer weiteren unbegru¨ndeten Freiheitsentziehung. Dabei steht der Anspruch auf Haftkontrolle neben den Garantien des Abs. 3. Auf Antrag ist daher auch dann ein Haftpru¨fungsverfahren durchzufu¨hren, wenn die Rechtma¨ßigkeit der Freiheitsentziehung bereits von Amts wegen u¨berpru¨ft worden ist.

48 EGMR, Reports 1998-VIII (Assenov u. a. gegen Bulgarien), § 146; EGMR, Reports 1999-I (Hood gegen Großbritannien), § 60 = NVwZ 2001, S. 305; EGMR, Reports 1999-III (Aquilina gegen Malta), §§ 47, 52–54 = NJW 2001, S. 53 f. 49 Jedenfalls sollte die Kompetenz des na ¨ chsten Richters in dem Sinne erweitert werden, dass der Beschuldigte bei offensichtlicher Rechtswidrigkeit freigelassen werden kann. Andernfalls muss sichergestellt werden, dass er dem zusta¨ndigen Richter innerhalb von 48 Stunden vorgefu¨hrt wird, so Schmitz, NStZ 1998, S. 171. 50 Vgl. EGMR, Reports 2000-X (Varbanov gegen Bulgarien), § 58; EGMR v. 9. 1. 2001 – 25874 / 94 (Kawka gegen Polen), § 57; EGMR v. 20. 1. 2004 – 38816 / 97 (G. K. gegen Polen), § 90; s. auch van Dijk / van Hoof, Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, 3. Aufl., Den Haag, 1998, S. 381.

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Nach sta¨ndiger Rechtsprechung des EGMR muss das Haftpru¨fungsverfahren so ausgestaltet sein, dass es „gerichtlichen Charakter hat und dem Betroffenen die Garantien gibt, die der Art der Freiheitsentziehung, um die es geht, angepasst sind.“51 Dabei mu¨ssen die Grundprinzipien eines adversatorischen Verfahrens, insbesondere die Waffengleichheit zwischen der inhaftierten Person und der staatlichen Beho¨rde („equality of arms between the parties“) gewa¨hrleistet sein.52 In Beschwerdeverfahren gegen Deutschland und Polen haben vor allem die Gewa¨hrung des rechtlichen Geho¨rs sowie der Anspruch auf Akteneinsicht eine Rolle gespielt: 1. Die Gewa¨hrung des rechtlichen Geho¨rs Zu den Mindestanforderungen an ein rechtsstaatliches Haftpru¨fungsverfahren geho¨rt die Gewa¨hrleistung des rechtlichen Geho¨rs. Der Betroffene muss dem Richter alle Argumente vortragen ko¨nnen, die nach seiner Auffassung die Rechtma¨ßigkeit des Freiheitsentzugs in Frage stellen.53 Ob der Anspruch auf rechtliches Geho¨r eine perso¨nliche Anho¨rung vor dem Gericht verlangt, wurde von den Konventionsorganen anfangs kontrovers beurteilt. So hatte der EGMR im Fall Neumeister dem Gebot, innerhalb kurzer Frist („speedily“) u¨ber die Rechtma¨ßigkeit des Freiheitsentzugs zu entscheiden, Vorrang vor der perso¨nlichen Beteiligung des Beschwerdefu¨hrers eingera¨umt. Der Gerichtshof akzeptierte die Verfahrensweise des o¨sterreichischen Gerichts, das nur den Vertreter der Staatsanwaltschaft in Abwesenheit des Beschwerdefu¨hrers und seines Verteidigers zum schriftlichen Haftpru¨fungsantrag mu¨ndlich angeho¨rt 51 Vgl. EGMR, Serie A Nr. 33 (Winterwerp gegen Niederlande), §§ 57, 60 = EuGRZ 1979, S. 650, 656; EGMR v. 11. 7. 2000 – 25792 / 94 (Trzaska gegen Polen), § 74; EGMR, Reports 2000-XI (Włoch gegen Polen), § 125; EGMR v. 9. 1. 2001 (Kawka gegen Polen), § 57; EGMR v. 27. 4. 2004 – 34091 / 96 (M.B. gegen Polen), § 65; EGMR v. 4. 5. 2006 – 17584 / 04 (Celejewski gegen Polen), § 39. Seit jeher hat der Gerichtshof die verfahrensrechtlichen Garantien als Elemente des Gerichtsbegriffs in Art. 5 Abs. 4 EMRK angesehen, s. EGMR, Serie A Nr. 12 (De Wilde, Ooms und Versyp gegen Belgien), § 78; EGMR, Reports 2001-III (D.N. gegen Schweiz), §§ 41, 42; Matscher, „Der Rechtsmittelbegriff der EMRK“, in: Kralik (Hrsg.), Verfahrensrecht – Privatrecht. Festschrift fu¨r Kralik, Wien, 1986, S. 257, 263; Trechsel, „Liberty and Security of Person“, in: Macdonald / Matscher / Petzold (Hrsg.), The European System for the Protection of Human Rights, Dordrecht u. a., 1993, S. 328. ¨ JZ 1989, S. 763, 52 Vgl. EGMR, Serie A Nr. 151 (Lamy gegen Frankreich), § 29 = O 764; EGMR v. 13. 2. 2001 – 23541 / 94 (Garcia Alva gegen Deutschland), § 39; EGMR, Reports 2001-I (Lietzow gegen Deutschland), § 44; EGMR, Reports 2001-I (Scho¨ps gegen Deutschland), § 44 = StV 2001, S. 201 ff. m. Anm. Kempf; EGMR v. 25. 6. 2002 – 24244 / 94 (Migon´ gegen Polen), § 68; zuletzt EGMR v. 4. 5. 2006 – 17584 / 04 (Celejewski gegen Polen), § 39. 53 EGMR, Serie A Nr. 107 (Sanchez-Reisse gegen Schweiz), § 51 = EuGRZ 1988, S. 523, 526; EGMR, Serie A Nr. 129 (Bouamar gegen Belgien), § 60; Trechsel (o. Fn. 51), S. 329.

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hatte, als konventionsgema¨ß.54 Von prozeduraler Waffengleichheit kann man bei einem solchen Verfahren indes nicht mehr sprechen. Vor allem aber leuchtet es nicht ein, den Beschleunigungsgrundsatz, der ja vor allem im Interesse des Betroffenen liegt, dazu zu benutzen, seine Verfahrensstellung zu verschlechtern. Zu Recht verlangt der Gerichtshof seit dem Fall Toth, dass der Antragsteller im Fall der Untersuchungshaft nach Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK grundsa¨tzlich perso¨nlich angeho¨rt werden muss.55 Freilich kann der Antragsteller auch auf eine mu¨ndliche Anho¨rung verzichten (vgl. § 118 a Abs. 2 StPO), etwa weil sich die aus seiner Sicht maßgeblichen Gru¨nde fu¨r eine Freilassung vollsta¨ndig aus den vorliegenden Akten ergeben. Ferner kann eine mu¨ndliche Anho¨rung des Antragsstellers dadurch ersetzt werden, dass sein Rechtsbeistand perso¨nlich an der Verhandlung teilnimmt.56 Diese Grundsa¨tze waren Gegenstand mehrerer Beschwerdeverfahren gegen Polen. Nach der alten Strafprozessordnung von 1969 wurde u¨ber eine Haftbeschwerde nicht in mu¨ndlicher Verhandlung, sondern im Beschlussverfahren (in camera) entschieden. Art. 88 a.F. ermo¨glichte der Staatsanwaltschaft, an der Sitzung teilzunehmen. Eine Vorschrift, die die Anwesenheit des Beschuldigten oder seines Verteidigers geboten ha¨tte, war dem fru¨heren polnischen Recht unbekannt. Ausgangspunkt der jeweiligen Entscheidungen des EGMR ist die Forderung einer mu¨ndlichen Anho¨rung unter den Bedingungen der Waffengleichheit.57 Demzufolge entsprach der alte Rechtszustand nicht den Anforderungen an das HabeasCorpus-Verfahren, weil weder dem Antragsteller, noch seinem Rechtsbeistand die Anwesenheit garantiert wurde. Auf diese Weise wurde dem Inhaftierten die Mo¨glichkeit genommen, auf den Vortrag der Staatsanwaltschaft vor Gericht zu antworten.58 Es reichte daher auch nicht aus, wenn der Antragsteller vor Gericht EGMR, Serie A Nr. 8 (Neumeister gegen O¨sterreich), § 24. ¨ JZ 1992, S. 244; fortgeEGMR, Serie A Nr. 224 (Toth gegen O¨sterreich), § 84 = O ¨ JZ 1995, fu¨hrt in EGMR, Serie A Nr. 318-B (Kampanis gegen Griechenland), § 58 = O S. 954; EGMR, Reports 1999-II (Nikolova gegen Bulgarien), § 58 = EuGRZ 1999, S. 321. Ob und inwieweit dies fu¨r alle Haftgru¨nde gilt, ist in der Rechtsprechung des EGMR noch nicht abschließend gekla¨rt. Nimmt man die Forderung eines adversatorischen Verfahrens ernst, kommt man um eine durchga¨ngige mu¨ndliche Anho¨rung nicht umhin, s. Harris / O’Boyle / Warbrick (o. Fn. 47), S. 149; Renzikowski (o. Fn. 4), Art. 5 Rn. 290. 56 Vgl. EGMR, Reports 2000-X (Varbanov gegen Bulgarien), § 58; EGMR v. 12. 3. 2003 – 46221 / 99 (O¨calan gegen Tu¨rkei), § 69 = EuGRZ 2003, S. 472, 473: „opportunity to be heard either in person or through some form of representation“. 57 EGMR v. 4. 7. 2000 – 27915 / 95 (Niedbala gegen Polen), § 66; EGMR, Reports 2000-XI (Włoch gegen Polen), § 126; EGMR v. 9. 1. 2001 – 25874 / 94 (Kawka gegen Polen), § 57; EGMR v. 3. 4. 2003 – 31583 / 96 (Klamecki gegen Polen), §§ 129, 130; EGMR v. 20. 1. 2004 – 38816 / 97 (G.K. gegen Polen), § 91. 58 EGMR v. 4. 7. 2000 – 27915 / 95 (Niedbala gegen Polen), § 67; EGMR v. 11. 7. 2000 – 25792 / 94 (Trzaska gegen Polen), § 78; EGMR v. 9. 1. 2001 – 25874 / 94 (Kawka gegen Polen), § 60; EGMR v. 25. 6. 2002 – 24244 / 94 (Migon´ gegen Polen), § 70; EGMR v. 20. 1. 2004 – 38816 / 97 (G.K. gegen Polen), §§ 93, 94; EGMR v. 27. 4. 54 55

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eine Erkla¨rung zur Rechtma¨ßigkeit der Freiheitsentziehung abgeben konnte und dann aber vom weiteren Verlauf der mu¨ndlichen Verhandlung ausgeschlossen war.59 Auch insoweit hat die Strafprozessrechtsreform einen großen Fortschritt gebracht. Art. 249 Abs. 5 n.F. schreibt nunmehr vor, dass der Verteidiger und der Staatsanwalt an jeder Sitzung teilnehmen ko¨nnen, in der die Beschwerde gegen die Anordnung der Untersuchungshaft gepru¨ft wird. Grundsa¨tzlich muss auch die betroffene Person angeho¨rt werden. Der Verteidiger wird jedoch nur auf Antrag des Beschuldigten benachrichtigt, soweit das Verfahren dadurch nicht verzo¨gert wird. Im Interesse des Beschuldigten wird man diese Einschra¨nkung eng auslegen mu¨ssen und nicht schon jegliche Terminschwierigkeiten ausreichen lassen du¨rfen. In einem Beschwerdeverfahren gegen Polen aus ju¨ngerer Zeit hat der EGMR jedenfalls die neue Rechtslage als konventionskonform bewertet.60 2. Akteneinsicht Der Geho¨rsanspruch impliziert, dass der Inhaftierte u¨ber die Gru¨nde informiert wird, die von den Ermittlungsbeho¨rden fu¨r die Fortdauer der Untersuchungshaft geltend gemacht werden. Andernfalls hat er keine Mo¨glichkeit, sich mit diesen Argumenten auseinanderzusetzen.61 Aktuelle Bedeutung hat daher die Frage erlangt, inwieweit einem in Untersuchungshaft befindlichen Beschuldigten oder seinem Verteidiger – auf Antrag62 – die Einsicht in die Ermittlungsakten gewa¨hrt werden muss. Evident kollidieren hier zwei Interessen miteinander: Auf der einen Seite steht das Recht des inhaftierten Beschuldigten auf eine effektive Haftpru¨fung. Auf der anderen Seite muss die Staatsanwaltschaft eine Beeintra¨chtigung der Ermittlungen befu¨rchten, wenn sie – aus ihrer Sicht – zur Unzeit gezwungen wird, ihre Karten auf den Tisch zu legen. Die Rechtslage in Polen und in Deutschland stimmt insoweit u¨berein. Wa¨hrend des Ermittlungsverfahrens entscheidet die Staatsanwaltschaft gema¨ß Art. 156

2004 – 34091 / 96 (M.B. gegen Polen), § 66; EGMR v. 22. 6. 2004 – 29687 / 96 (Wesołowski gegen Polen), §§ 63–65; EGMR v. 11. 10. 2005 – 37444 / 97 (Bagin´ski gegen Polen), §§ 81–84; EGMR v. 13. 6. 2006 – 33866 / 96 (Bogulak gegen Polen), §§ 40–43. 59 EGMR, Reports 2000-XI (Włoch gegen Polen), § 129. 60 EGMR v. 4. 5. 2006 – 17584 / 04 (Celejewski gegen Polen), §§ 46–48. ¨ JZ 1989, S. 763 f. 61 Vgl. EGMR, Serie A Nr. 151 (Lamy gegen Frankreich), § 29 = O m. Bespr. von Zieger, „Akteneinsichtsrecht des Verteidigers bei Untersuchungshaft“, StV 1993, S. 320 ff.; EGMR, Reports 1999-II (Nikolova gegen Bulgarien), § 58 = EuGRZ 1999, S. 321; EGMR v. 26. 7. 2001 – 33977 / 96 (Ilijkov gegen Bulgarien), § 104; zuletzt EGMR v. 1. 6. 2006 – 70148 / 01 (Fodale gegen Italien), § 42; s. auch Esser (o. Fn. 27), S. 343; Trechsel (o. Fn. 51), S. 329. 62 Vgl. EGMR v. 29. 2. 2000 – 45012 / 98 (Kamantauskas gegen Litauen); EGMR, Reports 2001-I (Scho¨ps gegen Deutschland), § 46 = NJW 2002, S. 2015.

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Abs. 5 der polnischen Strafprozessordnung und § 147 Abs. 5 StPO u¨ber die Gewa¨hrung von Akteneinsicht, wobei im Vordergrund steht, dass die Ermittlungen nicht gefa¨hrdet werden sollen. Nach dem Abschluss der Ermittlungen (§ 147 Abs. 2 StPO) bzw. in Polen nach der Erhebung der Anklage (Art. 156 Abs. 1) besteht ein Anspruch auf Akteneinsicht. Wie der EGMR in mehreren Verfahren gegen Polen entschieden hat, darf diese Rechtslage nicht dazu fu¨hren, dem Inhaftierten eine effektive Haftpru¨fung abzuschneiden. Im Fall Migon´ war der Beschwerdefu¨hrer am 15. 10. 1993 aufgrund eines staatsanwaltschaftlichen Haftbefehls wegen Betrugs, Urkundenfa¨lschung und Scheckreiterei in Untersuchungshaft genommen worden. Am 25. 10. 1993 lehnte das Bezirksgericht Tarno´w seine Haftbeschwerde ab. Ebenfalls wurde am 15. 11. 1993 ein Antrag des Verteidigers auf Akteneinsicht abgelehnt. Die Beschwerde dagegen wurde am 3. 12. 1993 verworfen, da im Ermittlungsverfahren kein Rechtsanspruch auf Akteneinsicht bestehe. Am 10. 2. 1994 verla¨ngerte das Bezirksgericht Tarno´w die Untersuchungshaft bis zum 30. 3. 1994. Die dagegen eingelegte Beschwerde wurde am 1. 2. 1994 vom Appellationsgericht Krako´w zuru¨ckgewiesen. Es folgten weitere Haftverla¨ngerungen, die vom Beschwerdefu¨hrer erfolglos angegriffen wurden. Ein erneuter Antrag auf Akteneinsicht wurde am 29. 4. 1994 von der Staatsanwaltschaft abgelehnt. Am 26. 5. 1994 wurde die Untersuchungshaft bis zum 15. 8. 1994 verla¨ngert. Am 13. 6. 1994 wurde die Einsicht in die nunmehr auf u¨ber 50 Ba¨nde angeschwollenen Akten verweigert. Am 22. 6. 1994 wies das Appellationsgericht Krako´w die Beschwerde gegen die Haftverla¨ngerung zuru¨ck. Am 5. 7. 1994 ku¨ndigte die Staatsanwaltschaft die Erlaubnis zur Akteneinsicht an. Aber erst im September stellte der Verteidiger einen neuen Antrag, als die Untersuchungshaft am 5. 8. 1994 abermals verla¨ngert worden war, nachdem neue Zeugen und neue Vorwu¨rfe bekannt geworden waren. Nun war eine Einsicht in die Akten nicht mo¨glich, da sie zum Zweck der Haftverla¨ngerung an das dafu¨r zusta¨ndige Obergericht u¨bersandt worden waren. Endlich wurde ab dem 21. 10. 1994 Akteneinsicht gewa¨hrt.63

Der Gerichtshof betonte die Notwendigkeit der Akteneinsicht fu¨r eine effektive Haftpru¨fung. Das Ziel der Strafverfolgung du¨rfe nicht auf Kosten substantieller Beschra¨nkungen der Verteidigerrechte erkauft werden. Die polnischen Gerichte ha¨tten sich bei ihren Haftentscheidungen wiederholt auf Dokumente und Beweismittel gestu¨tzt, die dem Beschwerdefu¨hrer nicht bekannt waren. Darin sah der EGMR eine Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK.64 Die fru¨here Praxis in Deutschland lo¨ste den Konflikt zwischen dem Anspruch des Inhaftierten auf rechtliches Geho¨r und dem Strafverfolgungsinteresse folgendermaßen: Wenn die Staatsanwaltschaft nach § 147 Abs. 2 und 5 StPO die Akteneinsicht ganz oder teilweise verweigerte, um die weitere Sachaufkla¨rung nicht zu gefa¨hrden, mussten dem Beschuldigten die Tatsachen, aus denen sich die Haft63 s. die Darstellung des Sachverhalts bei EGMR v. 25. 6. 2002 – 24244 / 94 (Migon ´ gegen Polen), §§ 8–48. 64 EGMR v. 25. 6. 2002 – 24244 / 94 (Migon ´ gegen Polen), §§ 79–87; fru¨her bereits EGMR, Reports 2000-XI (Włoch gegen Polen), §§ 127, 130, 131.

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gru¨nde nach § 112 StPO ergaben, in der ersten richterlichen Vernehmung mu¨ndlich mitgeteilt werden. Konnte auf diese Weise das durch die Verweigerung der Akteneinsicht verursachte Informationsdefizit nicht ausgeglichen werden, so durften die entsprechenden Erkenntnisse nicht zur Begru¨ndung des Haftbefehls verwertet werden. Da das Gericht in eigener Verantwortung alle Umsta¨nde umfassend pru¨fen und den Verhafteten hierzu anho¨ren musste, hielt man ihn schon durch seinen Anspruch auf rechtliches Geho¨r fu¨r hinreichend davor geschu¨tzt, dass die Haftentscheidung auf Tatsachen gestu¨tzt wu¨rde, zu denen er nicht vorher Stellung nehmen konnte.65 Dieser Praxis hat der EGMR am 13. 2. 2001 in den Fa¨llen Garcia Alva, Lietzow und Scho¨ps mit einer dreifachen Verurteilung der Bundesrepublik eine nachdru¨ckliche Absage erteilt.66 Der Beschwerdefu¨hrer Garcia Alva war am 6. 4. 1993 wegen Verdachts von Beta¨ubungsmitteldelikten in Untersuchungshaft genommen worden. Am 4. 5. 1993 beantragte der Verteidiger bei der Staatsanwaltschaft die Einsicht in die Ermittlungsakten zum Zweck der Haftpru¨fung. Mitgeteilt wurden jedoch nur Teile, insbesondere die Aussagen des Beschuldigten vor der Polizei und vor dem Haftrichter sowie der Haftbefehl. Die vollsta¨ndige Akteneinsicht wurde unter Hinweis auf den Schutz der Ermittlungen verweigert. Am 27. 5. 1993 ordnete das AG Tiergarten die Fortdauer der Untersuchungshaft an, wobei es sich u. a. auf die Aussagen eines Zeugen bezog, dessen Vernehmungsprotokoll weder dem Beschuldigten, noch seinem Verteidiger ausgereicht worden war. Im Rahmen des Beschwerdeverfahrens verweigerten das LG Berlin und das KG wegen Verdunkelungsgefahr eine vollsta¨ndige Akteneinsicht. Lietzow war am 6. 2. 1992 wegen Betrugsverdacht verhaftet worden. Am 7. 2. 1992 stellte sein Verteidiger einen Antrag auf Akteneinsicht, was von der Staatsanwaltschaft wegen Gefa¨hrdung des Untersuchungszwecks verweigert wurde. Ein Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 17. 2. 1992 wurde am 24. 4. 1992 vom OLG Frankfurt als unzula¨ssig verworfen. Scho¨ps war am 19. 3. 1993 wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, des Drogenhandels und mehrerer Fa¨lle des Betrugs in Untersuchungshaft gekommen. Am selben Tag beantragte sein Verteidiger die Haftpru¨fung. Am 14. 9. 1993 wurde erfolglos Akteneinsicht beantragt. Die Duplikate waren zur Haftpru¨fung beim OLG Du¨sseldorf; die Originale wurden nicht herausgegeben, weil sie gerade von der Staatsanwaltschaft beno¨tigt wurden, um die Ermittlungen fortzufu¨hren. Die Generalstaatsanwaltschaft beantragte Haftfortdauer und legte zur Begru¨ndung 24 Aktenordner vor. Am 21. 10. 1993 beantragte der Verteidiger erneut Akteneinsicht beim OLG. Am 22. 11. 1993 wurde Einsicht in 22 Aktenordner gewa¨hrt. Mehr bekam der Verteidiger nicht zu Gesicht, obwohl die Verfahrensakte 65 Vgl. BVerfG, StV 1994, S. 1 ff. m. krit. Anm. Lammer; BVerfG, NJW 1994, S. 3219; BGH, NJW 1996, S. 734; KG, wistra 1994, S. 38; s. auch Nehm, „Die Akteneinsicht des inhaftierten Beschuldigten“, in: Pfeiffer u. a. (Hrsg.), Der verfasste Rechtsstaat. Festgabe fu¨r Graßhoff, Heidelberg, 1998, S. 239, 250 ff. 66 Vgl. EGMR v. 13. 2. 2001 – 23451 / 94 (Garcia Alva gegen Deutschland), §§ 39– 43; EGMR, Reports 2001-I (Lietzow gegen Deutschland), §§ 44–48; EGMR, Reports 2001-I (Scho¨ps gegen Deutschland), §§ 44–55 = StV 2001, S. 201 ff. m. Anm. Kempf.

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bis Februar 1994 auf 69 Ordner und 3 Beiakten, spa¨ter auf insgesamt 132 Ordner anwuchs. Bemerkenswert an allen drei Fa¨llen ist, dass das Bundesverfassungsgericht entsprechende Verfassungsbeschwerden mangels hinreichender Aussicht auf Erfolg nicht zur Entscheidung annahm.

Der EGMR kehrt das Verha¨ltnis von mu¨ndlicher Unterrichtung und Akteneinsicht um: Regelma¨ßig muss Akteneinsicht gewa¨hrt werden. Mu¨ndliche Informationen oder die Mitteilung des Haftbefehls ko¨nnen die Kenntnisnahme der Akten grundsa¨tzlich nicht ersetzen.67 Welche Schlu¨sse aus dieser Rechtsprechung gezogen werden mu¨ssen, ist allerdings noch strittig. Einerseits wird vertreten, dass sich der aus Art. 5 Abs. 4 EMRK abzuleitende Einsichtsanspruch vollsta¨ndig auf die ganze, dem Gericht vorliegende Akte erstrecke.68 Demgegenu¨ber will vor allem die Praxis lediglich teilweise Akteneinsicht gewa¨hren. Dem Anspruch auf rechtliches Geho¨r werde auch bei einer Beschra¨nkung der Akteneinsicht auf die fu¨r die Untersuchungshaft wesentlichen Teile ausreichend Rechnung getragen. Am Grundsatz des § 147 StPO, wonach die Staatsanwaltschaft weiterhin im Ermittlungsinteresse Teile der Akten vor dem Beschuldigten geheim halten du¨rfe (z. B. durch Schwa¨rzung), habe sich nichts gea¨ndert.69 Nach dieser Ansicht stimmen die Maßsta¨be, die das Bundesverfassungsgericht seit jeher aus Art. 103 Abs. 1 GG fu¨r die Haftpru¨fung entnimmt, mit der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 5 Abs. 4 EMRK im Wesentlichen u¨berein und die am 13. 2. 2001 entschiedenen Beschwerden stellen sich lediglich als „Betriebsunfa¨lle“ der deutschen Justiz dar. Die Lo¨sung dieser Streitfrage wird dadurch erschwert, dass die Rechtsprechung des EGMR nicht gerade von einer klaren und unzweideutigen Ausdrucksweise gepra¨gt ist. So ko¨nnen sich die Befu¨rworter eines restriktiven Akteneinsichts67 EGMR, Reports 2001-I (Scho¨ps gegen Deutschland), § 50. Diese Grundsa ¨ tze gelten nicht nur bei Fluchtgefahr, sondern auch bei Verdunkelungsgefahr, vgl. EGMR v. 13. 2. 2001 – 23541 / 94 (Garcia Alva gegen Deutschland), § 18; EGMR, Reports 2001-I (Lietzow gegen Deutschland), § 16. Anders noch OLG Saarbru¨cken, NJW 1995, S. 1440 f. unter Bezugnahme auf das Urteil des EGMR im Fall Lamy. 68 So die Anmerkung von Kempf, StV 2001, S. 206; ders., „Die Rechtsprechung des EGMR zum Akteneinsichtsrecht und §§ 114, 115 Abs. 3, 115 a Abs. 3 StPO“, in: Hanack (Hrsg.), Festschrift fu¨r Rieß, Berlin u. a., 2002, S. 217; Kieschke / Osterwald, „Art. 5 IV EMRK contra § 147 II StPO“, NJW 2002, S. 2003, 2005; Lu¨derssen in: Lo¨we-Rosenberg, Die Strafprozessordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, Großkommentar, Bd. 3, 25. Aufl., Berlin, 2004, § 147 Rn. 160 a; Wohlers in: Rudolphi u. a. (Hrsg.), Systematischer Kommentar zur StPO und zum GVG, Loseblatt, Mu¨nchen, 38. Lief. April 2004, § 147 Rn. 65; Hilger, „§ 147 V StPO – Untersuchungshaft“, GA 2006, S. 294, 296 f.; etwas zuru¨ckhaltender Ku¨hne / Esser, „Die Rechtsprechung des Europa¨ischen Gerichtshofs fu¨r Menschenrechte (EGMR) zur Untersuchungshaft“, StV 2002, S. 383, 391. 69 OLG Ko ¨ ln, NStZ 2002, S. 659; Lange, „Vollsta¨ndige oder teilweise Akteneinsicht fu¨r inhaftierte Beschuldigte in den Fa¨llen des § 147 II StPO? Falsche oder richtige Folgerungen aus den Urteilen des EGMR vom 13. 2. 2001 gegen Deutschland“, NStZ 2003, S. 348, 352 f.

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rechts immerhin darauf berufen, dass der EGMR in allen einschla¨gigen Entscheidungen die Akteneinsicht fast durchweg nur auf die Informationen bezieht, die fu¨r die Frage der Rechtma¨ßigkeit der Untersuchungshaft wesentlich („essential“) sind. Außerdem fordert der Gerichtshof lediglich, dass die Haftpru¨fung so weit als mo¨glich („to the largest extent possible“) kontradiktorisch sein muss.70 Damit scheint ein Spielraum fu¨r Beschra¨nkungen der Akteneinsicht ero¨ffnet zu sein. Auf der anderen Seite entha¨lt das Urteil im Fall Scho¨ps den Hinweis auf vollsta¨ndige Akteneinsicht („full access“).71 Diese Entscheidung wird jedoch keineswegs als Pla¨doyer fu¨r ein uneingeschra¨nktes Akteneinsichtsrecht interpretiert, sondern mit den besonderen Umsta¨nden des Einzelfalles (Umfangsverfahren) erkla¨rt.72 Dabei wird jedoch u¨bersehen, dass die Pointe der Problematik darin liegt, wer daru¨ber befinden soll, ob ein bestimmter Akteninhalt fu¨r die Untersuchungshaft wesentlich ist oder nicht. Wer Art. 5 Abs. 4 EMRK eng auslegt, legt diese Entscheidung in die Ha¨nde der Gerichte, die ohnehin nach § 147 Abs. 5 StPO gegen die (teilweise) Versagung der Akteneinsicht angerufen werden ko¨nnen.73 Demgegenu¨ber betont der Gerichtshof, dass es nicht genu¨gt, die Verteidigung auf die Bewertung durch den Haftrichter zu verweisen. Vielmehr soll sie durch die Akteneinsicht in die Lage versetzt werden, selbst die Vollsta¨ndigkeit und die Relevanz der Informationen zu beurteilen.74 In diesem Sinne hat der EGMR in der Beschwerde Lanz gegen O¨sterreich gefordert, dass dem Inhaftierten im Rechtsmittelverfahren jeder Schriftsatz der Beho¨rde mit der Mo¨glichkeit zu einer Stellungnahme zur Kenntnis gebracht werden muss, gleichgu¨ltig ob er nach Einscha¨tzung des Gerichts oder der Beho¨rden neue Gesichtspunkte entha¨lt oder nicht.75 Der Gerichtshof weist weiter darauf hin, dass das Ziel einer effizienten Strafverfolgung nicht mit wesentlichen Beschra¨nkungen der Rechte der Verteidigung erkauft werden darf.76 Nach alledem erscheint eine Beschra¨nkung der Akteneinsicht nur im ¨ JZ 1989, 764; EGMR v. 70 EGMR, Serie A Nr. 151 (Lamy gegen Frankreich), § 29 = O 29. 2. 2000 – 45012 / 98 (Kamantauskas gegen Litauen); EGMR v. 13. 2. 2001 – 23541 / 94 (Garcia Alva gegen Deutschland), § 39; EGMR, Reports 2001-I (Lietzow gegen Deutschland), § 44; ebenso EGMR, Reports 2003-I (Shiskov gegen Bulgarien), § 77; EGMR v. 30. 1. 2003 (Nikolov gegen Bulgarien), § 97. 71 EGMR, Reports 2001-I (Scho¨ps gegen Deutschland), § 52. 72 Lange, NStZ 2003, S. 349 f. 73 Lange, NStZ 2003, S. 352. 74 EGMR v. 13. 2. 2001 – 23541 / 94 (Garcia Alva gegen Deutschland), § 41; EGMR, Reports 2001-I (Scho¨ps gegen Deutschland), § 50; EGMR v. 25. 6. 2002 – 24244 / 94 (Migon´ gegen Polen), § 79; vgl. auch Samson, „The Right to a Fair Criminal Trial in German Criminal Proceedings Law“, in: Weissbrodt / Wolfrum (Hrsg.), The Right to a Fair Trial, Berlin u. a., 1997, S. 513, 531 f. ¨ JZ 2002, 75 EGMR v. 31. 1. 2002 – 24430 / 94 (Lanz gegen O¨sterreich), §§ 43, 44 = O S. 434. 76 EGMR v. 13. 2. 2001 – 23541 / 94 (Garcia Alva gegen Deutschland), § 42; EGMR, Reports 2001-I (Lietzow gegen Deutschland), § 47; EGMR v. 25. 6. 2002 – 24244 / 94 (Migon´ gegen Polen), § 80; EGMR, Reports 2003-I (Shishkov gegen Bulgarien), § 77.

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Hinblick auf solche Aktenteile gerechtfertigt, die Ermittlungsansa¨tze gegen weitere Tatverda¨chtige enthalten, da sich ihr Inhalt nicht auf die Begru¨ndung der Untersuchungshaft des Antragsstellers auswirkt. IV. Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen Zu einem notorischen Problem hat sich die Dauer von Gerichtsverfahren entwickelt. Beschwerden wegen Verletzung des Anspruchs auf ein zu¨giges Verfahren nach Art. 6 Abs. 1 EMRK du¨rften inzwischen den gro¨ßten Einzelposten des Gescha¨ftsanfalls beim EGMR ausmachen. Gegenu¨ber Art. 6 Abs. 1 EMRK entha¨lt Art. 5 Abs. 3 EMRK eine spezielle Verfahrensgarantie fu¨r Personen, deren Freiheit gema¨ß Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK vorla¨ufig entzogen ist. Das Recht auf ein Urteil binnen angemessener Frist liegt im Interesse des Beschuldigten. Es soll mo¨glichst schnell Klarheit daru¨ber geschaffen werden, ob die weitere Inhaftierung gerechtfertigt ist – oder ob er entlassen werden muss.77 Der Unterschied zum Recht auf angemessene Verfahrensdauer nach Art. 6 Abs. 1 EMRK zeigt sich darin, dass die Verfahrensgarantie nur fu¨r den Zeitraum von der Verhaftung bis zur – nicht notwendig rechtskra¨ftigen – Verurteilung gilt (s. dazu unten 2.b – Fall Wemhoff). Die Bedeutung von Art. 5 Abs. 3 EMRK reicht indes weit daru¨ber hinaus. In Zusammenschau mit dem Grundsatz der Verha¨ltnisma¨ßigkeit und der Unschuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 EMRK) hat der EGMR die Konventionsgarantie zu ¨ berpru¨fung der Rechtma¨ßigkeit der Fortdauer der Untereinem Instrument zur U suchungshaft unabha¨ngig von ihrer La¨nge ausgebaut.78 Eine inhaftierte Person muss freigelassen werden, wenn die Fortdauer der Untersuchungshaft unangemessen wird oder weniger belastende Maßnahmen wie die Leistung einer Sicherheit ¨ berwachung in Betracht kommen. Eine Beoder die Anordnung polizeilicher U schwerde wegen Verletzung des Art. 5 Abs. 3 EMRK fu¨hrt daher zu einer abgestuften Pru¨fung: In einem ersten Schritt untersucht der Gerichtshof, inwieweit die Untersuchungshaft durch Haftgru¨nde nach Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK gerechtfertigt ist. Sodann wird gepru¨ft, ob sich die Haftgru¨nde durch den Zeitablauf – teilweise – erledigt haben. Schließlich geht es darum, ob die nationalen Beho¨rden das Verfahren mit der erforderlichen Sorgfalt betrieben haben.79 Auf eine absolute

Vgl. Renzikowski (o. Fn. 4), Art. 5 Rn. 251 m. w. N. EGMR, Reports 2003-I (Shishkov gegen Bulgarien), § 66. 79 Diese Grundsa ¨ tze sind seit EGMR, Serie A Nr. 9 (Sto¨gmu¨ller gegen O¨sterreich), § 4 in der Rechtsprechung anerkannt und werden seitdem fast wortgleich in jeder Entscheidung zum Beschleunigungsgebot wiederholt, zuletzt EGMR v. 5. 12. 2006 – 27556 (Lachowski gegen Polen), §§ 29, 30; s. auch Jacobs / White (o. Fn. 16), S. 117; zur Entwicklung der Rechtsprechung vgl. Murdoch, „Safeguarding the Liberty of the Person: Recent Strasbourg Jurisprudence“, ICLQ 42 (1993), S. 511 ff. 77 78

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zeitliche Ho¨chstgrenze der Untersuchungshaft hat sich der EGMR bislang nicht festlegen lassen.80 1. Die Beachtung des Beschleunigungsgebots in Polen a) Die Rechtslage – konventionskonform Nach der reformierten Strafprozessordnung aus dem Jahr 1989 war die Untersuchungshaft nur wa¨hrend des Ermittlungsverfahrens an zeitliche Fristen gebunden. Sie war grundsa¨tzlich auf drei Monate begrenzt und konnte vom zusta¨ndigen Gericht auf bis zu einem Jahr verla¨ngert werden. Fu¨r die Dauer der Hauptverhandlung sah das Strafverfahrensrecht keine Fristen vor. Mit dem 4. 8. 1996 (s. oben II.1.b) a¨nderte sich die Rechtslage insoweit, als nun die Untersuchungshaft insgesamt, d. h. einschließlich der Hauptverhandlung, grundsa¨tzlich nicht la¨nger als ein Jahr und sechs Monate, bei schweren Straftaten (mit einer Mindestfreiheitsstrafe von drei Jahren) zwei Jahre dauern durfte (Art. 222 Abs. 3 a.F.). In besonders gelagerten Ausnahmefa¨llen konnte das Oberste Gericht – wie bisher – auf Antrag des Generalstaatsanwalts die Fortdauer der Untersuchungshaft anordnen (Art. 222 Abs. 4 a.F.). Wie bereits erwa¨hnt, impli¨ berschreitung einer Haftfrist eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK. ziert die U Die Reform des Strafverfahrensrechts im Jahr 1997 hat an diesen Fristen nichts wesentliches gea¨ndert. Konkretisiert wurden indes die Gru¨nde fu¨r eine außerordentliche Fristverla¨ngerung durch das Oberste Gericht. Art. 263 Abs. 4 nennt als Regelbeispiele u. a.: die Aussetzung der Hauptverhandlung, eine la¨ngere Unterbringung zur Beobachtung in einer psychiatrischen Anstalt, umfangreiche Beweiserhebungen in komplexen Verfahren oder im Ausland sowie die Verzo¨gerung des Verfahrens durch den Angeklagten. Seit Juli 2000 ist das Appellationsgericht fu¨r die außerordentliche Fristverla¨ngerung zusta¨ndig. Hervorzuheben ist ferner, dass die Entscheidung des Gerichts (Art. 252 Abs. 2) aufgrund einer mu¨ndlichen Anho¨rung der inhaftierten Person ergeht, wobei der Verteidiger zuzulassen ist, wenn er erscheint. Auf Antrag ist er grundsa¨tzlich vom Termin zu benachrichtigen (Art. 249 Abs. 3 und 5). Schon seit jeher wird die Untersuchungshaft an das Verha¨ltnisma¨ßigkeitsprinzip geknu¨pft (s. Art. 213 Abs. 1, 218, 225). Sie ist nur zula¨ssig, wenn keine milderen Maßnahmen wie z. B. Sicherheitsleistung, Polizeiaufsicht, Bu¨rgschaft durch eine erwachsene Person oder eine soziale Gemeinschaft, befristetes Aufenthalts80 Renzikowski (o. Fn. 4), Art. 5 Rn. 258 m. w. N.; in der Entscheidung Rosenbaum gegen Deutschland hat die Kommission (CD 29, S. 31, 44 ff.) unter Beru¨cksichtigung der besonderen Umsta¨nde des Falles sogar eine Haftzeit von u¨ber sechs Jahren als konventionskonform akzeptiert. Ob sich diese Praxis halten la¨sst, erscheint angesichts des Falles Erdem (s. u. 2.b.) zweifelhaft.

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verbot oder Ausreiseverbot die ordnungsgema¨ße Durchfu¨hrung des Strafverfahrens gewa¨hrleisten (s. Art. 257 Abs. 1, 259 Abs. 1). b) Die Praxis – defizita¨r Der konventionskonformen Gesetzeslage steht eine Praxis gegenu¨ber, die zu der bemerkenswerten Zahl von 42 erfolgreichen Beschwerdeverfahren im Zeitraum vom 11. 7. 2000 (Fall Trzaska) bis zum 8. 8. 2006 (Fall Cegłowski) gefu¨hrt hat.81 In negativer Hinsicht geho¨rt Polen damit zu den Mitgliedstaaten mit den ha¨ufigsten Verurteilungen wegen Verletzung von Art. 5 Abs. 3 EMRK. Dies deutet auf grundlegende Defizite der Gerichte bei der Anwendung des an sich vorbildlichen Rechts hin. Die vom EGMR geru¨gten Ma¨ngel lassen sich folgendermaßen einteilen: (a) Begru¨ndungsma¨ngel Die Begru¨ndung der Haftentscheidung ist besonders wichtig, denn sie bildet die Basis fu¨r die Beurteilung durch den Gerichtshof, ob die fu¨r die Haft angefu¨hrten Gru¨nde stichhaltig und ausreichend sind. Daher mu¨ssen die Gerichte die maßgeblichen Tatsachen angeben („set them out“).82 Diesbezu¨gliche Versa¨umnisse ko¨nnen im Beschwerdeverfahren vor dem EGMR nicht mehr korrigiert werden; ein spa¨teres Nachschieben von Gru¨nden ist nicht mo¨glich.83 Die fu¨r die Inhaftierung relevanten Gru¨nde mu¨ssen substantiiert ausgefu¨hrt werden. So genu¨gt es nicht, wenn sich die Gerichte mehr oder weniger auf eine Wiedergabe der in Art. 258 aufgefu¨hrten Haftgru¨nde beschra¨nken. Vielmehr mu¨ssen konkrete Tatsachen angegeben werden, aus denen sich etwa eine Flucht- oder Verdunkelungsgefahr ableiten la¨sst.84 81 Insgesamt habe ich fu ¨ r diesen Zeitraum 45 Entscheidungen ermittelt. In der Zwischenzeit sind bis zum 5. 12. 2006 (Fall Lachowski) 12 Entscheidungen, davon 10 Verurteilungen hinzugekommen. Außer Betracht bleibt hierbei, wie viele Beschwerden mo¨glicherweise vorab als unzula¨ssig abgelehnt worden sind. ¨ JZ 1992, S. 242 f.; 82 Vgl. EGMR, Serie A Nr. 224 (Toth gegen O¨sterreich), § 67 = O EGMR v. 30. 10. 2003 – 38654 / 97 (Goral gegen Polen), § 65; zuletzt EGMR v. 8. 8. 2006 – 3489 / 03 (Cegłowski gegen Polen), § 38. 83 s. EGMR v. 11. 7. 2000 – 25792 / 94 (Trzaska gegen Polen), § 66; EGMR v. 22. 2. 2001 – 33079 / 96 (Szeloch gegen Polen), § 90; EGMR v. 4. 10. 2001 – 27504 / 95 (Ilowiecki gegen Polen), § 61; EGMR v. 25. 4. 2006 – 31330 / 02 (Gołek gegen Polen), § 55. 84 s. EGMR v. 15. 11. 2001 – 34052 / 96 (Olstowski gegen Polen), § 78: die Begru ¨ ndung sei sehr allgemein („very general“) und lasse eine sorgfa¨ltige Pru¨fung nicht erkennen („do not seem to reflect a diligent examination“); EGMR v. 22. 2. 2001 – 33079 / 96 (Szeloch gegen Polen), § 91; EGMR v. 26. 7. 2001 – 34097 / 96 (Kreps gegen Polen), § 43; EGMR v. 26. 4. 2005 – 49929 / 99 (Chodecki gegen Polen), § 60; EGMR v. 4. 7. 2006 – 77832 / 01 (Dzyruk gegen Polen), § 38: „ . . . vaguely referred to a risk that the applicant might go into hiding . . . ( . . . ) . . . without specifying any details . . .“

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Ein hinreichender Tatverdacht ist gema¨ß Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK zwingende Voraussetzung fu¨r die Anordnung der Untersuchungshaft. Angesichts der Unschuldsvermutung reicht er nach einiger Zeit nicht mehr als alleiniger Grund fu¨r die Fortdauer der Untersuchungshaft. Vielmehr mu¨ssen weitere Gru¨nde hinzukommen, die indes auch durch Zeitablauf an Gewicht verlieren.85 Mit anderen Worten: Nur sehr gewichtige Argumente ko¨nnen eine la¨ngere Untersuchungshaft rechtfertigen.86 Seit jeher kritisiert der Gerichtshof deshalb Begru¨ndungen, die sich auf stereotype Formulierungen oder bloße Wiederholungen fru¨herer Haftentscheidungen beschra¨nken und damit keine Abwa¨gung nach dem Verha¨ltnisma¨ßigkeitsgrundsatz erkennen lassen. Hierin liegt bis in die ju¨ngste Zeit die Ursache fu¨r zahlreiche Verurteilungen.87 Delikat wird es, wenn die Begru¨ndung grundlegende Rechtsma¨ngel aufweist. So kann man natu¨rlich die Untersuchungshaft nicht damit begru¨nden, dass der Beschuldigte noch kein Gesta¨ndnis abgelegt habe. Das ist ein eklatanter Verstoß gegen die Unschuldsvermutung nach Art. 6 Abs. 2 EMRK.88 (b) Einzelne Haftgru¨nde Als Haftgrund akzeptiert der Gerichtshof grundsa¨tzlich die Schwere der vorgeworfenen Tat bzw. die Ho¨he der zu erwartenden Strafe. Dieser Grund tra¨gt jedoch 85

Sta¨ndige Rspr., zuletzt EGMR v. 8. 8. 2006 – 3489 / 03 (Cegłowski gegen Polen),

§ 41. 86 Vgl. EGMR, Reports 2000-XI (Kudła gegen Polen), § 114 („very compelling reasons“); EGMR v. 4. 5. 2006 – 17584 / 04 (Celejewski gegen Polen), § 38 („particularly strong reasons“); EGMR v. 20. 5. 2006 – 5270 / 04 (Drabek gegen Polen), § 50; EGMR v. 20. 6. 2006 – 6356 / 04 (Pasin´ski gegen Polen), § 44 („very strong reasons“); EGMR v. 22. 6. 2004 – 29687 / 96 (Wesołowski gegen Polen), § 55 („raisons vraiment empe´rieuses“); s. ferner Ku¨hne / Esser, StV 2002, S. 389. 87 EGMR v. 22. 2. 2001 – 33079 / 96 (Szeloch gegen Polen), § 91; EGMR v. 20. 1. 2004 34221 / 96 (D.P. gegen Polen), § 87; EGMR v. 22. 6. 2004 – 29687 / 96 (Wesołowski gegen Polen), § 55; EGMR v. 26. 4. 2005 – 49929 / 99 (Chodecki gegen Polen), § 57; EGMR v. 11. 10. 2005 – 37444 / 97 (Bagin´ski gegen Polen), § 71; EGMR v. 10. 1. 2006 – 9013 / 02 (S´wierzko gegen Polen), § 32; EGMR v. 28. 3. 2006 – 16535 / 02 (Kubicz gegen Polen), § 43; EGMR v. 6. 4. 2006 – 36258 / 97 (J.G. gegen Polen), § 52; EGMR v. 4. 5. 2006 – 13425 / 02 (Michta gegen Polen), § 48; EGMR v. 4. 5. 2006 – 17584 / 04 (Celejewski gegen Polen), § 34; EGMR v. 20. 5. 2006 – 5270 / 04 (Drabek gegen Polen), § 45; EGMR v. 4. 7. 2006 – 77832 / 01 (Dzyruk gegen Polen), § 38; EGMR v. 6. 7. 2006 – 56552 / 00 (Telecki gegen Polen), § 33. 88 EGMR v. 4. 10. 2005 – 28904 / 02 (Go´rski gegen Polen), § 58; EGMR v. 10. 1. 2006 – 38227 / 02 (Harazin gegen Polen), § 44; vgl. auch EGMR v. 8. 9. 2003 – 31583 / 96 (Klamecki gegen Polen), § 122; EGMR v. 7. 3. 2006 – 36576 / 03 (Leszczak gegen Polen), § 48. Unzureichend ist ebenfalls der Hinweis auf Verzo¨gerungen, die der Angeklagte aufgrund der Wahrnehmung seiner Verteidigungsrechte verursacht habe, s. EGMR v. 4. 10. 2005 – 15479 / 02 (Jarzyn´ski gegen Polen), § 41; EGMR v. 4. 10. 2005 – 10268 / 03 (Kankowski gegen Polen), § 53; EGMR v. 4. 10. 2005 – 17732 / 03 (Krawczak gegen Polen), § 50.

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als alleiniges Argument selbst bei schwerwiegenden Straftaten nicht sehr weit.89 Andererseits ist die zu erwartende Strafe ein wichtiges Indiz fu¨r Fluchtgefahr. Wer eine hohe Freiheitsstrafe zu erwarten hat, wird eher geneigt sein, sich dem Strafverfahren zu entziehen. Hier mu¨ssen aber weitere Tatsachen hinzukommen, die fu¨r Fluchtgefahr sprechen.90 Schließlich gibt sich der EGMR nicht mit der abstrakten Angabe des in Betracht kommenden Strafrahmens zufrieden, sondern verlangt, dass die Straferwartung an der Beweislage gemessen wird. Liegt die tatsa¨chlich verha¨ngte Freiheitsstrafe am unteren Ende der Skala, so ist der Gerichtshof nicht geneigt, dieses Argument zu akzeptieren.91 Hier deutet sich eine Entwicklung hin zu der Forderung an, dass die Untersuchungshaft nicht la¨nger dauern darf, als die konkret zu erwartende Strafe – unter Beru¨cksichtigung der regelma¨ßigen vorzeitigen Entlassung.92 Auch an den Haftgrund der Fluchtgefahr werden hohe Anforderungen gestellt. Wie erwa¨hnt ist die Prognose einer hohen Strafe lediglich ein – wenn auch wichtiges – Indiz, das durch andere Tatsachen gestu¨tzt werden muss. Bei der gebotenen umfassenden Abwa¨gung sind auf der einen Seite die sozialen Bindungen des Betroffenen, insbesondere seine familia¨re, berufliche und vermo¨gensrechtliche Situation, auf der anderen Seite seine Auslandskontakte, die eine Flucht erleichtern ko¨nnen, zu beru¨cksichtigen.93 Daher kann nach einiger Zeit Fluchtgefahr

89 Geru ¨ gt wurde bereits eine Haftdauer von einem Jahr und fu¨nf Monaten wegen Verdachts mehrerer Betrugsdelikte, EGMR v. 4. 7. 2006 – 77832 / 01 (Dzyruk gegen Polen), § 39; s. ferner EGMR v. 26. 7. 2001 – 34097 / 96 (Kreps gegen Polen), § 43; EGMR v. 15. 11. 2001 – 34052 / 96 (Olstowski gegen Polen), § 78; EGMR v. 30. 10. 2003 – 38654 / 97 (Goral gegen Polen), § 68; EGMR v. 4. 5. 2005 – 39437 / 03 (Miszkurka gegen Polen), § 50; EGMR v. 28. 7. 2005 – 75112 / 01 (Czarnecki gegen Polen), § 41; EGMR v. 11. 10. 2005 – 37444 / 97 (Bagin´ski gegen Polen), § 71; EGMR v. 10. 1. 2006 – 38227 / 02 (Harazin gegen Polen), § 45; EGMR v. 8. 8. 2006 – 23042 / 02 (Cabała gegen Polen), § 35; EGMR v. 8. 8. 2006 – 3489 / 03 (Cegłowski gegen Polen), § 41. 90 Fu ¨ r konventionswidrig hielt EGMR v. 7. 3. 2006 – 36576 / 03 (Leszczak gegen Polen), § 47 eine Haftdauer von zwei Jahren und zehn Monaten wegen Verdachts des Totschlags und des versuchten Einbruchdiebstahls; vgl. auch EGMR v. 23. 6. 2005 – 44722 / 98 (Latasiewicz gegen Polen), § 56; EGMR v. 4. 10. 2005 – 28904 / 02 (Go´rski gegen Polen), § 57; EGMR v. 4. 5. 2006 – 17584 / 04 (Celejewski gegen Polen), § 36; EGMR v. 20. 5. 2006 – 5270 / 04 (Drabek gegen Polen), § 47; EGMR v. 20. 6. 2006 – 6356 / 04 (Pasin´ski gegen Polen), § 42; EGMR v. 6. 7. 2006 – 56552 / 00 (Telecki gegen Polen), § 34. 91 Z. B. bei einer Haftdauer von fast eineinhalb Jahren wegen Verdachts mehrerer Raubu¨berfa¨lle: EGMR v. 23. 6. 2005 – 44722 / 98 (Latasiewicz gegen Polen), § 57; s. ferner EGMR v. 8. 9. 2003 – 31583 / 96 (Klamecki gegen Polen), § 122; EGMR v. 30. 10. 2003 – 38654 / 97 (Goral gegen Polen), § 69. 92 s. bereits EKMR, Serie B Nr. 5 (Wemhoff gegen Deutschland), § 68. Der EGMR, Serie A Nr. 7, § 16 ist der Ansicht der Kommission damals jedoch nicht gefolgt. 93 Sta ¨ ndige Rspr, zuletzt etwa EGMR v. 4. 7. 2006 – 77832 / 01 (Dzyruk gegen Polen), § 35; daran hat es in den Fa¨llen Kreps (EGMR v. 26. 7. 2001 – 34097 / 96, § 43), Dzyruk (a. a. O., § 38) und Telecki (EGMR v. 6. 7. 2006 – 56552 / 00, § 34) gefehlt.

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nicht mehr allein darauf gestu¨tzt werden, dass der Beschuldigte versucht hat, sich einer Festnahme zu entziehen.94 Ebenfalls spielt es keine Rolle, dass der Beschuldigte seinen Wohnsitz nicht in der Na¨he des zusta¨ndigen Gerichts hat.95 Ungeachtet dessen verliert auch die Annahme von Fluchtgefahr mit zunehmender Haftdauer an Gewicht. Aufgrund der anzurechnenden Untersuchungshaft verringert sich na¨mlich die noch zu verbu¨ßende Freiheitsstrafe, so dass auch der Fluchtanreiz immer mehr sinkt. Durchweg hat der EGMR in seinen Entscheidungen gegen Polen eine Haftdauer von u¨ber drei Jahren nicht mehr akzeptiert.96 Die Verdunkelungsgefahr ha¨ngt im Wesentlichen von der Art und dem Umfang der aufzukla¨renden Strafsache sowie vom Verhalten des Betroffenen ab. Die Gerichte mu¨ssen anhand von konkreten Tatsachen darlegen, weshalb die Entlassung des Beschuldigten aus der Untersuchungshaft das weitere Strafverfahren beeintra¨chtigen ko¨nnte; eine bloß theoretische Mo¨glichkeit genu¨gt nicht.97 Unzureichend sind etwa der Hinweis auf die zwischenzeitliche Entlassung eines Mitbeschuldigten98, die Weigerung, mit den Ermittlungsbeho¨rden zu kooperieren99 oder die pure Notwendigkeit, noch weitere Zeugen zu vernehmen.100 Anders ist es, wenn der Beschuldigte zu Beginn der Ermittlungen versucht hat, Beweismaterial zu vernichten oder Zeugen zu beeinflussen. Eine la¨ngere Haftdauer ist aber auch in diesen Fa¨llen nicht gerechtfertigt, falls keine weiteren Versuche unternommen worden sind, um die Ermittlungen zu behindern.101 Zu Recht wurde – bei einer allerdings nicht signifikanten Haftdauer – Verdunkelungsgefahr angenommen, weil die Ehefrauen von drei Angeklagten wegen Anstiftung eines Zeugen zur Falschaussage verfolgt wurden.102 Verdunkelungsge94 EGMR, Reports 2000-XI (Kudła gegen Polen), § 112; EGMR v. 20. 1. 2004 – 38816 / 97 (G.K. gegen Polen), § 84; EGMR v. 11. 10. 2005 – 37444 / 97 (Bagin´ski gegen Polen), § 71. 95 EGMR v. 4. 7. 2006 – 77832 / 01 (Dzyruk gegen Polen), § 40. 96 EGMR, Reports 2000-XI (Kudła gegen Polen), § 114; EGMR v. 20. 1. 2004 – 38816 / 97 (G.K. gegen Polen), § 84; EGMR v. 11. 10. 2005 – 37444 / 97 (Bagin´ski gegen Polen), § 71; EGMR v. 4. 5. 2006 – 17584 / 04 (Celejewski gegen Polen), § 36; EGMR v. 20. 5. 2006 – 5270 / 04 (Drabek gegen Polen), § 47. 97 s. EGMR v. 8. 9. 2003 – 31583 / 96 (Klamecki gegen Polen), § 122; EGMR v. 26. 4. 2005 – 49929 / 99 (Chodecki gegen Polen), § 60; EGMR v. 13. 9. 2005 – 44165 / 98 (Skrobol gegen Polen), § 60; EGMR v. 4. 10. 2005 – 15479 / 02 (Jarzyn´ski gegen Polen), § 43; EGMR v. 13. 12. 2005 – 31575 / 03 (Kozłowski gegen Polen), § 40. 98 EGMR v. 11. 7. 2000 – 25792 / 94 (Trzaska gegen Polen), § 65. 99 EGMR v. 8. 9. 2003 – 31583 / 96 (Klamecki gegen Polen), § 122; EGMR v. 4. 10. 2005 – 28904 / 02 (Go´rski gegen Polen), § 58; EGMR v. 10. 1. 2006 – 38227 / 02 (Harazin gegen Polen), § 44. 100 EGMR v. 23. 6. 2005 – 44722 / 98 (Latasiewicz gegen Polen), § 158; vgl. auch EGMR v. 26. 7. 2001 – 34097 / 96 (Kreps gegen Polen), § 43. 101 s. EGMR v. 4. 5. 2005 – 39437 / 03 (Miszkurka gegen Polen), § 51; EGMR v. 10. 1. 2006 – 38227 / 02 (Harazin gegen Polen), § 42. 102 s. EGMR v. 10. 1. 2006 – 34090 / 96 (W.B. gegen Polen), § 66 – bei einer relativ geringen Haftdauer von unter eineinhalb Jahren!

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fahr scheidet ferner aus, wenn die Ermittlungen weitgehend abgeschlossen sind.103 Wenn die Tat dem Bereich der Organisierten Kriminalita¨t zuzurechnen ist – wofu¨r eine gemeinschaftliche Begehung noch nicht ausreicht104 –, gelten nach neuerer Rechtsprechung des EGMR Besonderheiten. Hier ha¨lt der Gerichtshof eine la¨ngere Untersuchungshaft wegen der komplexeren Ermittlungen, der Vielzahl von Zeugen und dem Auftauchen neuer Verda¨chtiger fu¨r gerechtfertigt. Hinzu kommt, dass in diesem Bereich Verdunkelungsgefahr generell nahe liegt.105 Alle diese Umsta¨nde mu¨ssen jedoch von den Gerichten belegt werden; die Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung genu¨gt fu¨r sich nicht.106 Gleichwohl kann eine la¨nger dauernde Untersuchungshaft – u¨ber den Beginn der Hauptverhandlung hinaus107 – allein mit diesen Erwa¨gungen nicht mehr gerechtfertigt werden. Auch insoweit verlieren die anfa¨nglichen Argumente mit dem Zeitablauf an Gewicht. Akzeptiert hat der Gerichtshof bislang nur eine Haftdauer von etwas mehr als zwei Jahren.108 (c) Sorgfa¨ltige Verfahrensweise Wenn hinreichende Haftgru¨nde vorliegen, pru¨ft der Gerichtshof in einem zweiten Schritt, ob die nationalen Beho¨rden das Verfahren mit der erforderlichen Sorgfalt betrieben haben.109 Strafverfahren gegen Tatverda¨chtige, die sich in Untersuchungshaft befinden, mu¨ssen vorrangig und beschleunigt bearbeitet werden, freilich unter Beachtung der Pflicht zur gru¨ndlichen Aufkla¨rung des Sachverhalts

103 s. EGMR v. 22. 2. 2001 – 33079 / 96 (Szeloch gegen Polen), § 93; EGMR v. 15. 11. 2001 – 34052 / 96 (Olstowski gegen Polen), § 79; EGMR v. 4. 5. 2005 – 39437 / 03 (Miszkurka gegen Polen), § 51; EGMR v. 6. 4. 2006 – 36258 / 97 (J.G. gegen Polen), § 54. 104 s. EGMR v. 4. 4. 2006 – 57477 / 00 (Malik gegen Polen), § 49; EGMR v. 6. 7. 2006 – 56552 / 00 (Telecki gegen Polen), § 34. 105 s. EGMR v. 4. 5. 2006 – 633 / 03 (Dudek gegen Polen), § 36; EGMR v. 4. 5. 2006 – 17584 / 04 (Celejewski gegen Polen), § 37; EGMR v. 20. 5. 2006 – 5270 / 04 (Drabek gegen Polen), § 49; EGMR v. 30. 5. 2006 – 43748 / 98 (Wiensztal gegen Polen), § 52; EGMR v. 20. 6. 2006 – 6356 / 04 (Pasin´ski gegen Polen), § 43. 106 s. EGMR v. 4. 10. 2005 – 28904 / 02 (Go´rski gegen Polen), § 58. 107 s. EGMR v. 4. 10. 2005 – 15479 / 02 (Jarzyn ´ ski gegen Polen), § 40; EGMR v. 4. 10. 2005 – 10268 / 03 (Kankowski gegen Polen), § 52; EGMR v. 4. 10. 2005 – 17732 / 03 (Krawczak gegen Polen), § 49; EGMR v. 13. 12. 2005 – 31575 / 03 (Kozłowski gegen Polen), § 40. 108 s. EGMR v. 4. 5. 2006 – 633 / 03 (Dudek gegen Polen), § 36 (Haftdauer 2 Jahre und 8 Tage); EGMR v. 30. 5. 2006 – 43748 / 98 (Wiensztal gegen Polen), §§ 54, 55 (Haftdauer 2 Jahre und 2 Monate). Konventionsversto¨ße wurden dagegen bejaht bei u¨ber dreija¨hrigerUntersuchungshaft, s. EGMR v. 10. 1. 2006 – 9013 / 02 (S´wierzko gegen Polen), § 32; sowie die Fa¨lle Celejewski, Drabek und Pasin´ski (o. Fn. 90). 109 Sta ¨ ndige Rspr., zuletzt EGMR v. 18. 7. 2006 – 25501 / 02 (Kozik gegen Polen), § 36.

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und der Verfahrensgrundsa¨tze des Art. 6 EMRK. Maßgebliche Gesichtspunkte bei der Beurteilung der Angemessenheit der Haftdauer sind die Komplexita¨t des Verfahrens, die Schwere des Tatvorwurfs, die Anzahl der Tatverda¨chtigen, der Umfang der Beweiserhebungen oder die Nachforschung nach Zeugen im Ausland.110 In der Regel bejahte der EGMR eine Konventionsverletzung, wenn zwischen der Anklageerhebung und der Ero¨ffnung der Hauptverhandlung la¨ngere Zeitra¨ume der Unta¨tigkeit liegen.111 Unta¨tigkeit im laufenden Verfahren kann nicht damit gerechtfertigt werden, dass gegen den Angeklagten wa¨hrend der Haftzeit auch vor anderen Gerichten verhandelt wird.112 Von einer sorgfa¨ltigen Verfahrensweise kann ebenfalls keine Rede sein, wenn die Hauptverhandlung selbst nur sehr zo¨gerlich betrieben wird, etwa wenn sie immer wieder durch gro¨ßere Intervalle unterbrochen wird oder wenn jeweils nur wenige Zeugen vernommen werden.113 Zeitverluste durch die Versendung von Akten sind allenfalls in geringem Umfang akzeptabel, da sie sich unschwer durch die Anfertigung von Aktendoppel vermeiden lassen.114 Schließlich mu¨ssen die Gerichte darauf dra¨ngen, dass Sachversta¨ndige das Gutachten zu¨gig erstatten.115 Nachgerade peinlich wird es, wenn der EGMR im Fall Harazin den polnischen Beho¨rden vorha¨lt, dass die Untersuchungshaft keineswegs dazu beigetragen habe, das Strafverfahren zu fo¨rdern. Denn die Verzo¨gerungen ha¨tten ihre Ursache hauptsa¨chlich darin, dass es der Polizei nicht mo¨glich gewesen sei, den Beschwerdefu¨hrer zu den jeweiligen Terminen aus der Untersuchungshaft vorzufu¨hren.116

110 Vgl. EGMR v. 10. 1. 2006 – 34090 / 96 (W.B. gegen Polen), §§ 64–69; EGMR v. 4. 5. 2006 – 633 / 03 (Dudek gegen Polen), § 39. 111 Zwischen Anklageerhebung und erstem Verhandlungstermin lagen sechs Monate bis zu zwei Jahre, s. EGMR v. 26. 7. 2001 – 34097 / 96 (Kreps gegen Polen), § 44; EGMR v. 2. 12. 2003 – 37641 / 97 (Matwiejczuk gegen Polen), § 79; EGMR v. 28. 7. 2005 – 75112 / 01 (Czarnecki gegen Polen), § 44; EGMR v. 13. 9. 2005 – 44165 / 98 (Skrobol gegen Polen), § 61; EGMR v. 10. 1. 2006 – 38227 / 02 (Harazin gegen Polen), § 48; EGMR v. 25. 4. 2006 – 31330 / 02 (Gołek gegen Polen), § 58; EGMR v. 23. 6. 2005 – 44722 / 98 (Latasiewicz gegen Polen), § 62. 112 EGMR v. 2. 12. 2003 – 37641 / 97 (Matwiejczuk gegen Polen), § 79; vgl. auch EGMR v. 20. 5. 2006 – 5270 / 04 (Drabek gegen Polen), § 48, wo die Fortdauer der Untersuchungshaft damit gerechtfertigt wurde, dass zugleich an verschiedenen Orten gegen den Angeklagten verhandelt wurde. 113 s. EGMR v. 11. 7. 2000 – 25792 / 94 (Trzaska gegen Polen), §§ 67, 68; EGMR v. 13. 9. 2005 – 44165 / 98 (Skrobol gegen Polen), § 61. 114 Vgl. EGMR v. 2. 12. 2003 – 37641 / 97 (Matwiejczuk gegen Polen), § 79. 115 EGMR v. 26. 7. 2001 – 34097 / 96 (Kreps gegen Polen), § 44 ru ¨ gte ein Jahr unta¨tiges Zuwarten des Gerichts. 116 EGMR v. 10. 1. 2006 – 38227 / 02 (Harazin gegen Polen), § 43.

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(d) Haftentlassung gegen Sicherheit; Polizeiaufsicht Art. 5 Abs. 3 S. 2 EMRK gewa¨hrt einen Anspruch auf Haftentlassung, wenn die Untersuchungshaft nicht mehr erforderlich ist, um die Durchfu¨hrung des Strafverfahrens gegen den Beschuldigten bzw. den Angeklagten sicherzustellen.117 Die polnischen Gerichte haben sich in der Vergangenheit wenig aufgeschlossen gegenu¨ber weniger einschneidenden Alternativen zur Untersuchungshaft gezeigt, obwohl die Strafprozessordnung entsprechende Regelungen entha¨lt (s. o. IV.1.a). Dies hat ihnen zahlreiche Ru¨gen durch den EGMR eingetragen.118 Bei der Festsetzung der Sicherheit sind die perso¨nlichen Verha¨ltnisse des Inhaftierten, namentlich sein Charakter, familia¨re Bindungen, finanzielle Verha¨ltnisse sowie Bindungen an den Wohnort oder das Land zu beru¨cksichtigen. Es ist nicht zu beanstanden, wenn eine Entlassung gegen Sicherheit verweigert wird, weil der Betroffene selbst nur u¨ber geringes Vermo¨gen verfu¨gt und die Sicherheit im wesentlichen von Dritten erbracht werden muss.119 Wenn der Beschuldigte mit den Beho¨rden kooperiert und alle Informationen, insbesondere auch zu seinen Vermo¨gensverha¨ltnissen beibringt, so wird Art. 5 Abs. 3 EMRK verletzt, wenn das Gericht u¨ber vier Monate beno¨tigt, um die Aussetzung der Untersuchungshaft anzuordnen.120 117 Vgl. EGMR v. 4. 7. 2006 – 77832 / 01 (Dzyruk gegen Polen), § 41; s. auch Jacobs / White (o. Fn. 16), S. 115. 118 s. EGMR v. 12. 12. 2000 – 33492 / 96 (Jablonski gegen Polen), §§ 83, 84; EGMR v. 22. 2. 2001 – 33079 / 96 (Szeloch gegen Polen), § 94; EGMR v. 26. 7. 2001 – 34097 / 96 (Kreps gegen Polen), § 43; EGMR v. 4. 10. 2001 (Ilowiecki gegen Polen), §§ 63, 64; EGMR v. 20. 1. 2004 – 38816 / 97 (G.K. gegen Polen), § 85; EGMR v. 28. 10. 2004 – 42643 / 98 (Paszkowski gegen Polen), §§ 45, 46; EGMR v. 4. 5. 2005 – 39437 / 03 (Miszkurka gegen Polen), § 52; EGMR v. 26. 4. 2005 – 49929 / 99 (Chodecki gegen Polen), §§ 58, 59; EGMR v. 23. 6. 2005 – 44722 / 98 (Latasiewicz gegen Polen), §§ 59, 60; EGMR v. 28. 7. 2005 – 75112 / 01 (Czarnecki gegen Polen), § 42; EGMR v. 4. 10. 2005 – 10268 / 03 (Jarzyn´ski gegen Polen), §§ 45, 46; EGMR v. 4. 10. 2005 – 28904 / 02 (Gorski gegen Polen), §§ 59, 60; EGMR v. 4. 10. 2005 – 10268 / 03 (Kankowski gegen Polen), §§ 59–61; EGMR v. 4. 10. 2005 – 17732 / 03 (Krawczak gegen Polen), §§ 53–55; EGMR v. 11. 10. 2005 – 37444 / 97 (Bagin´ski gegen Polen), § 72; EGMR v. 13. 12. 2005 – 31575 / 03 (Kozłowski gegen Polen), §§ 44–46; EGMR v. 10. 1. 2006 – 38227 / 02 (Harazin gegen Polen), § 46; EGMR v. 7. 3. 2006 – 36576 / 03 (Lesczak gegen Polen), §§ 49– 51; EGMR v. 28. 3. 2006 – 16535 / 02 (Kubicz gegen Polen), §§ 44–46; EGMR v. 28. 3. 2006 – 25715 / 02 (Jaworski gegen Polen), §§ 41–43; EGMR v. 4. 4. 2006 – 57477 / 00 (Malik gegen Polen), §§ 47, 48; EGMR v. 6. 4. 2006 – 36258 / 97 (J. G. gegen Polen), §§ 55, 56; EGMR v. 4. 5. 2006 – 13425 / 02 (Michta gegen Polen), § 50; EGMR v. 4. 5. 2006 – 17584 / 04 (Celejewski gegen Polen), § 39; EGMR v. 4. 7. 2006 – 77832 / 01 (Dzyruk gegen Polen), §§ 41, 42; EGMR v. 18. 7. 2006 – 25501 / 02 (Kozik gegen Polen), §§ 39, 40; EGMR v. 8. 8. 2006 – 23042 / 02 (Cabała gegen Polen), § 37; EGMR v. 8. 8. 2006 – 3489 / 03 (Cegłowski gegen Polen), § 43. Eine ru¨hmliche Ausnahme bildet EGMR v. 30. 5. 2006 – 43748 / 98 (Wiensztal gegen Polen), § 53. 119 s. EGMR v. 13. 9. 2005 – 44165 / 98 (Skrobol gegen Polen), §§ 57, 59. Dem Beschwerdefu¨hrer wurde ein Subventionsbetrug mit einem außerordentlich hohen Schaden zur Last gelegt. 120 EGMR v. 15. 11. 2001 – 25196 / 94 (Iwan ´czuk gegen Polen), §§ 66–70.

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c) Fazit Auf welche Ursachen das Auseinanderklaffen zwischen konventionskonformer Rechtslage und konventionswidriger Praxis beruht, daru¨ber kann nur spekuliert werden, solange dazu keine empirische Untersuchung vorliegt. Mo¨glicherweise sind viele Richter noch der Vergangenheit verhaftet geblieben. Den Gerichten ist freilich zugute zu halten, dass der unbestimmte Rechtsbegriff der Angemessenheit Divergenzen bei der Beurteilung der Haftdauer durch die staatlichen Stellen einerseits und den EGMR andererseits begu¨nstigt – zumal die Konventionsorgane in der Vergangenheit selbst auch nicht durchweg zur selben Bewertung gelangt sind.121 Hinzu kommt, dass die Rechtsprechung des EGMR inzwischen zwar klare Pru¨fungskriterien entwickelt hat. Ihre Anwendung auf den Einzelfall scheint jedoch einer gewissen Beliebigkeit zu unterliegen, so dass schwer vorhergesagt werden kann, wie ein Beschwerdeverfahren ausgehen wird. 2. Die Beachtung des Beschleunigungsgebots in Deutschland a) Die Rechtslage Die Rechtslage in der Bundesrepublik unterscheidet sich in mancher Hinsicht von derjenigen in Polen. So wird im Haftbefehl (§ 114 StPO) kein bestimmter Zeitpunkt festgesetzt, zu dem der Verhaftete entlassen werden muss. Die in §§ 121 Abs. 1, 122 a StPO vorgesehenen Fristen begrenzen nicht die Freiheitsentziehung selbst, sondern no¨tigen gegebenenfalls zur Aufhebung des Haftbefehls. Insofern besteht auch keine Notwendigkeit, eine von vornherein befristete Haftanordnung vor Fristablauf durch gerichtliche Entscheidung zu verla¨ngern. Voraussetzungen sind zuna¨chst lediglich – wie auch in Polen –, dass ein dringender Tatverdacht gegen den Beschuldigten vorliegt und ein Haftgrund besteht (§ 112 Abs. 1 StPO). Die Beachtung des Beschleunigungsgrundsatzes soll durch regelma¨ßige gerichtliche Kontrollen von Amts wegen sichergestellt werden. Nach drei Monaten muss das zusta¨ndige Gericht u¨berpru¨fen, ob die Voraussetzungen fu¨r die Untersuchungshaft noch vorliegen. Dabei kann der Beschuldigte eine mu¨ndliche Verhandlung erzwingen (§ 118 Abs. 1 StPO). Dauert die Untersuchungshaft wegen derselben Tat sechs Monate, so mu¨ssen die Akten gema¨ß § 122 Abs. 1 StPO dem Oberlandesgericht vorgelegt werden, wenn die Fortdauer der Untersuchungs121 Z. B. EKMR, Serie B Nr. 5 (Wemhoff gegen Deutschland), § 69 (Angemessenheit verneint); EGMR, Serie A Nr. 7 (Wemhoff gegen Deutschland), § 16 (Angemessenheit bejaht); EKMR v. 10. 9. 1991 – 14379 / 88 (W gegen Schweiz), § 147 = EuGRZ 1993, S. 427, 428 (Angemessenheit verneint); EGMR, Serie A Nr. 254-A (W gegen Schweiz), § 43 = EuGRZ 1993, S. 384, 387 (Angemessenheit bejaht, allerdings nur mit der denkbar knappen Mehrheit von fu¨nf zu vier Stimmen!); EKMR, Serie A Nr. 321 (van der Tang gegen Spanien), § 94 (Angemessenheit verneint); EGMR, Serie A Nr. 321 (van der Tang gegen Spanien), § 76 (Angemessenheit bejaht).

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haft fu¨r erforderlich gehalten wird. Das Oberlandesgericht muss u¨berpru¨fen, ob „die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen und die Fortdauer der Haft rechtfertigen“ (§ 121 Abs. 1 StPO) und entsprechend entscheiden (Abs. 2). Werden die Akten dem OLG erst nach Ablauf der Sechsmonatsfrist vorgelegt, so fu¨hrt dies nicht ohne weiteres dazu, dass der Haftbefehl aufgehoben werden muss. § 121 Abs. 2 StPO wendet sich nur an den Haftrichter, nicht aber an das OLG.122 Alle weitere Haftpru¨fungen erfolgen im Abstand von drei Monaten durch das OLG (§ 122 Abs. 4 StPO). Vor der Entscheidung mu¨ssen der Beschuldigte und sein Verteidiger – nicht zwingend mu¨ndlich – angeho¨rt werden (§ 122 Abs. 2 StPO). Die Voraussetzungen des § 121 Abs. 1 StPO fu¨r die Fortdauer der Untersuchungshaft u¨ber sechs Monate hinaus werden von der Praxis eng ausgelegt, wobei die Anforderungen an die Zu¨gigkeit der Bearbeitung von Haftpru¨fung zu Haftpru¨fung zunehmen. Insgesamt entspricht der Pru¨fungsmaßstab der obersten deutschen Gerichte den Vorgaben der Rechtsprechung des EGMR.123 Das Bundesverfassungsgericht hat allerdings in einer neueren Entscheidung einen Zeitraum von drei Monaten zwischen Ero¨ffnungsbeschluss und Beginn der Hauptverhandlung akzeptiert.124 Ob das auch vor dem EGMR Bestand hat, wird sich zeigen.125 b) Beschwerdeverfahren vor dem EGMR Erst vier Mal haben Beschwerdeverfahren gegen Deutschland wegen Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes zu Entscheidungen des EGMR gefu¨hrt. Diese sehr niedrige Zahl – etwa im Verha¨ltnis zu Polen, aber auch zu anderen Konventionsstaaten – kann mo¨glicherweise damit erkla¨rt werden, dass die Fortdauer der Untersuchungshaft von den deutschen Gerichten streng beurteilt wird – ungeachtet mancher Klagen u¨ber „apokryphe Haftgru¨nde“ oder die hohe Zahl von Untersuchungsha¨ftlingen hierzulande.126 122 OLG Bamberg, NStZ 1981, S. 403; OLG Karlsruhe, NStZ 1997, S. 452; Boujong ¨ berschrei(o. Fn. 29), § 121 Rn. 30; zur disparaten Entscheidungspraxis des EGMR bei U tung von Pru¨fungsfristen s. Renzikowski (o. Fn. 4), Art. 5 Rn. 94–100. 123 Vgl. etwa BVerfG, NJW 2005, S. 3485 ff.; NJW 2006, S. 668 ff., S. 1336 ff.; zu den Einzelheiten s. ferner Meyer-Goßner (o. Fn. 28), § 121 Rn. 18–26. 124 BVerfG, NJW 2006, S. 672, 674; enger OLG Koblenz, StV 2000, S. 515, 516: eine vermeidbare Verfahrensverzo¨gerung von rund zwei Monaten verletzt das Beschleunigungsgebot in Haftsachen. 125 s. dazu Renzikowski (o. Fn. 4), Art. 5 Rn. 268 m. w. N. 126 Vgl. etwa Du¨nkel, „Praxis der Untersuchungshaft in den 90er Jahren – Instrumentalisierung strafprozessualer Zwangsmittel fu¨r kriminal- und ausla¨nderpolitische Zwecke?“, StV 1994, S. 610 ff.; s. ferner Ku¨hne, Strafverfahrensrecht, 6. Aufl., Heidelberg, 2003, Rn. 415. Angesichts steigender U-Haft-Zahlen ist sehr umstritten, ob die strenge Rechtsprechung pra¨ventiv wirkt oder ob die gerichtlichen Kontrollen letztlich

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(a) Das Urteil vom 27. 6. 1968 im Fall Wemhoff steht am Anfang der Rechtsprechung zu Art. 5 Abs. 3 EMRK und darf zu Recht gleich in mehrfacher Hinsicht als wegweisende Grundlagenentscheidung betrachtet werden. Der Beschwerdefu¨hrer, ta¨tig als Bo¨rsenmakler bei einer Bank, war am 9. 11. 1961 wegen des Verdachts der Anstiftung zur Untreue festgenommen worden. In der Folgezeit blieben zahlreiche Haftbeschwerden erfolglos. Mehrere Antra¨ge auf Haftentlassung wurden zuna¨chst wegen Verdunkelungs-, spa¨ter wegen Fluchtgefahr zuru¨ckgewiesen. Im Laufe der a¨ußerst umfangreichen Ermittlungen wurde Wemhoff u¨ber 40 Mal von den Strafverfolgungsbeho¨rden verho¨rt. Insgesamt mussten 169 Konten von 13 Banken in Berlin, 35 Banken in Westdeutschland und 8 Banken in der Schweiz u¨berpru¨ft werden, wobei es um Transaktionen in Ho¨he von insgesamt 776 Mio. DM ging. Mehrere Dutzend Zeugen und 15 Sachversta¨ndige wurden geho¨rt, bis die Ermittlungsakten auf 45 Aktenordner mit u¨ber 10.000 Seiten Umfang angeschwollen waren. Die Anklageschrift vom 23. 4. 1964 umfasste 855 Seiten. Am 17. 7. 1964 ero¨ffnete das LG Berlin das Strafverfahren gegen Wemhoff und acht Mitangeklagte. Die Hauptverhandlung begann am 9. 11. 1964. 117 Beweisantra¨ge des Beschwerdefu¨hrers, die Vernehmungen von 97 Zeugen, drei medizinischen Sachversta¨ndigen und vier Finanzexperten schlugen sich in einem fast 1.000seitigen Sitzungsprotokoll nieder; hinzu kamen Anha¨nge von u¨ber 600 Seiten. Am 7. 4. 1965 wurde Wemhoff wegen fortgesetzter Beihilfe zur Untreue in einem besonders schweren Fall zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die Urteilsbegru¨ndung umfasste 292 Seiten. Am 17. 12. 1965 wurde die Revision vom BGH zuru¨ckgewiesen.

Der Gerichtshof stellt zuna¨chst klar, dass der Wortlaut den staatlichen Stellen keineswegs ein Wahlrecht ero¨ffnet, entweder das Verfahren zu¨gig zu betreiben oder den Inhaftierten freizulassen. Ein derartiges Versta¨ndnis stu¨nde nicht nur in Widerspruch zum Schutzzweck der Norm, sondern auch zu Art. 6 Abs. 1 EMRK. Entscheidend kommt es darauf an, ob die Untersuchungshaft vor dem Hintergrund der Unschuldsvermutung angemessen ist. Andernfalls muss der Beschuldigte aus der Haft entlassen werden.127 Das erste gro¨ßere Problem warf die Berechnung der Dauer der Untersuchungshaft auf. Die Kommission ging in ihrem Bericht davon aus, dass die Frist mit dem Beginn der Hauptverhandlung endet.128 Dadurch werden indes alle Verzo¨gerungen wa¨hrend der Hauptverhandlung ausgeblendet. Die Lo¨sung war auch innerhalb des Gerichtshofs nicht unumstritten.129 Der EGMR stellte unter Bezugnahme auf Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK auf den Erlass des erstinstanzlichen

nicht effektiv sind, wie die Beitra¨ge in Jehle / Hoch (Hrsg.), Oberlandesgerichtliche Kontrolle langer Untersuchungshaft: Erfahrungen, Probleme, Perspektiven, Wiesbaden, 1998 zeigen. 127 EGMR, Serie A Nr. 7 (Wemhoff gegen Deutschland), §§ 4 und 5. 128 EKMR, Serie B Nr. 5 (Wemhoff gegen Deutschland), § 69. 129 s. die Sondervoten der Richter Terje Wold und A. Favre, die die Rechtskraft der Verurteilung fu¨r das maßgebliche Datum ansehen.

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Urteils ab. Art. 5 Abs. 3 EMRK schu¨tze die Freiheit auch vor Verzo¨gerungen der Hauptverhandlung. Ab der Verurteilung liege jedoch der Haftgrund nach Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK vor, wobei es unerheblich sei, ob nach der nationalen Rechtsordnung das Strafurteil oder eine eigensta¨ndige Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft (vgl. § 268 b StPO) die Grundlage fu¨r die weitere Freiheitsentziehung darstelle. Gegenu¨ber weiteren Verfahrensverzo¨gerungen ko¨nne sich der Verurteilte auf den allgemeinen Beschleunigungsgrundsatz aus Art. 6 Abs. 1 EMRK berufen.130 Diese Auslegung ist vor dem Hintergrund der Unschuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 EMRK) nicht unproblematisch, denn ein endgu¨ltiger Schuldnachweis wird erst durch das rechtskra¨ftige Urteil erbracht. Zuvor fehlt die Rechtsgrundlage fu¨r die Vollstreckung von Strafhaft. Wenn die weitere Haft nach einem nichtrechtskra¨ftigen Freispruch als Untersuchungshaft behandelt wird, leuchtet es nicht recht ein, dass fu¨r eine nicht-rechtskra¨ftige Verurteilung etwas anderes gelten soll. Schließlich greift der Verweis auf Art. 6 Abs. 1 EMRK zu kurz, denn bei einer Verschleppung des Strafverfahrens zwischen verschiedenen Instanzen wird dem Angeklagten der Anspruch auf Entlassung aus der Untersuchungshaft genommen.131 Ungeachtet dieser Einwa¨nde hat der EGMR seitdem an seiner autonomen Begriffsbildung festgehalten.132 Die entscheidende Frage war, nach welchen Kriterien die Angemessenheit der Dauer der Untersuchungshaft beurteilt werden soll. Die Kommission schlug hierzu einen Katalog von sieben Punkten vor133, dem sich der Gerichtshof nicht anschließen wollte. Gleichwohl finden sich schon hier erste Ansa¨tze zu dem spa¨teren Pru¨fungsprogramm (s. oben vor IV.1.). Zuerst werden die von den Gerichten vorgetragenen Haftgru¨nde akzeptiert. Die Ablehnung einer Aussetzung des Vollzugs des Haftbefehls gegen Sicherheitsleistung wird nicht beanstandet. Schließlich stellt der Gerichtshof fest, dass die außerordentliche La¨nge der Untersuchungshaft von drei Jahren und fu¨nf Monaten wegen der besonderen Komplexita¨t 130 EGMR, Serie A Nr. 7 (Wemhoff gegen Deutschland), §§ 7–9. In der Neuauflage des Verfahrens nach Aufhebung der tatrichterlichen Verurteilung in der Revision befindet sich der Angeklagte wieder in Untersuchungshaft, s. zuletzt EGMR v. 5. 12. 2006 (Lachowski gegen Polen), § 23. 131 Zur Kritik s. Reindl „Probleme der Untersuchungshaft in der ju ¨ ngeren Rechtsprechung der Straßburger Organe“, in: Grabenwarter / Thienel (Hrsg.), Kontinuita¨t und Wandel der EMRK, Kehl u. a., 1998, S. 45 ff.; Trechsel (o. Fn. 16), S. 519 f. 132 Vgl. etwa EGMR v. 28. 7. 2005 – 75112 / 01 (Czarnecki gegen Polen), § 33; EGMR v. 10. 1. 2006 – 34090 / 96 (W.B. gegen Polen), § 62; zustimmend Esser (o. Fn. 27), S. 287 ff. 133 Tatsa ¨ chliche Dauer der Untersuchungshaft – Verha¨ltnis zur Schwere der Straftat und zur Straferwartung – Auswirkungen der Haft auf den Beschuldigten – Verhalten des Beschuldigten (Kooperation mit den Ermittlungsbeho¨rden oder Behinderung der Untersuchungen; Anbieten von Sicherheitsleistungen) – Schwierigkeit des Falles – Art und Weise, in der die Untersuchung durchgefu¨hrt wurde – Entscheidungen der Gerichte (Haftbeschwerden, Abschluss des Verfahrens).

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des Falles gerechtfertigt war, denn der Beschleunigungsgrundsatz entbinde nicht von der Pflicht zur umfassenden Sachaufkla¨rung in einem fairen Verfahren.134 (b) Im Fall Erdem deutete der Gerichtshof zum ersten Mal eine Ho¨chstgrenze fu¨r die Untersuchungshaft an. Der Beschwerdefu¨hrer war am 7. 4. 1988 wegen Verdachts der Mitgliedschaft in der PKK verhaftet worden. Am 20. 10. 1988 erhob die Staatsanwaltschaft Anklage vor dem Oberlandesgericht Du¨sseldorf, das am 31. 8. 1989 den Ero¨ffnungsbeschluss gegen insgesamt 18 Angeklagte erließ. Gegenstand des Verfahrens waren sechs Morde und sechs Freiheitsberaubungen sowie die Organisationsstruktur der PKK in Deutschland. Die Hauptverhandlung begann am 24. 10. 1989 und endete nach 353 Verhandlungstagen am 7. 3. 1994 mit der Verurteilung des Beschwerdefu¨hrers zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Am 6. 3. 1996 verwarf der Bundesgerichtshof die Revision des Beschwerdefu¨hrers. Die Verfassungsbeschwerde nahm das Bundesverfassungsgericht am 19. 2. 1997 nicht zur Entscheidung an.135

Der Gerichtshof a¨ußerte sich kritisch zum Haftgrund der Schwere des Tatvorwurfs und wies darauf hin, dass die letztlich verha¨ngte Strafe praktisch mit der Dauer der Untersuchungshaft u¨bereinstimme. Dagegen hielt er zwar die Annahme von Fluchtgefahr fu¨r zutreffend, meinte jedoch, dass sie allein eine Freiheitsentziehung von fu¨nf Jahren und elf Monaten nicht rechtfertigen ko¨nne. Kritisiert wurde ferner, dass die Gerichte bei ihren Haftpru¨fungsentscheidungen die fru¨heren Begru¨ndungen nahezu wo¨rtlich u¨bernommen ha¨tten, statt neue Anhaltspunkte darzulegen. Nur beila¨ufig a¨ußerte sich der EGMR dazu, dass das Verfahren von den deutschen Beho¨rden nicht mit der gebotenen Sorgfalt betrieben worden sei, ohne insofern auf Einzelheiten einzugehen.136 Bemerkenswert ist die Entscheidung deshalb, weil der EGMR erstmals die Dauer der Untersuchungshaft unabha¨ngig vom tatsa¨chlichen Vorliegen eines Haftgrundes und unbeeindruckt von der außerordentlichen Komplexita¨t des Falles137 begrenzt hat. (c) Im Mittelpunkt der Beschwerde Cˇ evizovic´ gegen Deutschland stand mangelnde Sorgfalt bei der Durchfu¨hrung der Hauptverhandlung.

134 EGMR, Serie A Nr. 7 (Wemhoff gegen Deutschland), §§ 12–17. Demgegenu ¨ ber hatte die Kommission (Serie B Nr. 5, § 69) noch die Angemessenheit der Haftdauer verneint; vgl. ferner die dissenting opinion von Richter Zekia. 135 s. die Darstellung des Sachverhalts bei EGMR v. 5. 7. 2001 – 38321 / 97 (Erdem gegen Deutschland), §§ 8–27 = NJW 2003, S. 1439. 136 EGMR v. 5. 7. 2001 – 38321 / 97 (Erdem gegen Deutschland), §§ 43–47 = NJW 2003, S. 1440 f.; in Betracht kommen hier eigentlich nur die langen Zeiten zwischen Anklageerhebung, Ero¨ffnungsbeschluss und Beginn der Hauptverhandlung. 137 Die Verfahrensakten umfassten etwa 50.000 Seiten. In der Hauptverhandlung wurden 200 Zeugen und 20 Sachversta¨ndige geho¨rt sowie u¨ber 350 Schriftstu¨cke verlesen. Die Verteidiger stellten 154 Ablehnungsantra¨ge gegen die Richter und 174 Beweisantra¨ge.

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Der Beschwerdefu¨hrer wurde am 17. 6. 1996 wegen Verdachts des gemeinschaftlichen Raubes mit versuchtem Mord verhaftet. Am 4. 11. 1996 erhob die Staatsanwaltschaft Anklage vor dem Landgericht Oldenburg. Die Anklage wurde am 18. 2. 1997 mit Modifikationen zur Hauptverhandlung zugelassen. Die Hauptverhandlung begann jedoch erst am 14. 3. 1997. Nach 56 Hauptverhandlungstagen mit einer durchschnittlichen Dauer von 90 Minuten fiel am 22. 5. 1998 ein Scho¨ffe wegen Krankheit aus. Da der Ersatzscho¨ffe kurz zuvor ebenfalls erkrankt war, musste am 2. 6. 1998 mit der Hauptverhandlung neu begonnen werden. Endlich verku¨ndete das LG Oldenburg am 20. 3. 2001 das Urteil gegen den Beschwerdefu¨hrer – nachdem beim zweiten Mal im Durchschnitt an weniger als vier Tagen im Monat verhandelt worden war. Bei der Festsetzung der Freiheitsstrafe von 10 Jahren und 6 Monaten beru¨cksichtigte das Gericht die ungewo¨hnliche La¨nge der Untersuchungshaft und der Hauptverhandlung. Am 25. 7. 2001 wurde der Beschwerdefu¨hrer nach Kroatien abgeschoben. Wa¨hrend der Untersuchungshaft hatte er wiederholt ohne Erfolg Haftbeschwerde eingelegt oder die Aussetzung des Vollzugs beantragt. Zwei Verfassungsbeschwerden gegen Entscheidungen des OLG Oldenburg hatte das Bundesverfassungsgericht wegen offenkundiger Erfolglosigkeit nicht zur Entscheidung angenommen.138

Gegen die Begru¨ndung der Untersuchungshaft durch die Gerichte hatte der EGMR zwar nichts einzuwenden. Aber es ist offensichtlich, dass das Verfahren, auch im Hinblick auf die Komplexita¨t der Ermittlungen mit Zeugen aus dem Ausland, nicht mit der gebotenen Sorgfalt betrieben wurde. Der Gerichtshof ru¨gt das Verstreichen von u¨ber vier Monaten zwischen Anklageerhebung und erstem Verhandlungstermin und meint zu Recht, dass in Haftsachen effektiver und straffer verhandelt werden kann und muss.139 Man fragt sich bloß, warum diese Ma¨ngel nicht schon dem Bundesverfassungsgericht aufgefallen sind. In der Folgeentscheidung im Fall Dzelili ging es um die Konsequenzen einer Verletzung des Beschleunigungsgebots. Dzelili war als Komplize von Cˇ evizovic´ mitangeklagt. Er wandte sich mit der Revision dagegen, dass bei der Festsetzung des Strafmaßes die u¨berlange Dauer des Strafverfahrens nicht ausreichend beru¨cksichtigt worden sei. Aus diesem Grund wurde das Urteil des LG Oldenburg im Rechtsfolgenausspruch aufgehoben.140 Am 2. 9. 2004 verha¨ngte das LG Oldenburg nach einer neuen Verhandlung gegen den Beschwerdefu¨hrer eine Freiheitsstrafe von sechseinhalb Jahren und setzte den Rest der Strafe zur Bewa¨hrung aus. In der Begru¨ndung fu¨hrte das LG aus, dass es den Beschwerdefu¨hrer an sich zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt ha¨tte, ha¨tte nicht eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK vorgelegen, die eine Reduktion des Strafmaßes geboten ha¨tte.141 ˇ evizo138 s. die Darstellung des Sachverhalts bei EGMR v. 29. 7. 2004 – 49746 / 99 (C vic´ gegen Deutschland), §§ 9–26 = StV 2005, S. 136 f. ˇ evizovic´ gegen Deutschland), §§ 41–56 = StV 139 EGMR v. 29. 7. 2004 – 49746 / 99 (C 2005, S. 137 f. m. Anm. Pauly; vgl. auch BVerfG, NJW 2006, S. 677, 679. 140 Vgl. BGH, StV 2004, S. 241, 243. 141 Zum gesamten Sachverhalt s. EGMR v. 10. 11. 2005 – 65745 / 01 (Dzelili gegen Deutschland), §§ 10–63 = StV 2006, S. 474 ff. m. zust. Anm. Pauly.

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Die Kompensation einer Missachtung des Beschleunigungsgebots setzt zuna¨chst voraus, dass die nationalen Beho¨rden entweder ausdru¨cklich oder im Kern eine Konventionsverletzung anerkennen. Das ist hier durch den BGH und das zweite Urteil des LG Oldenburg geschehen. Sodann muss fu¨r die Konventionsverletzung entsprechender Ersatz geleistet werden.142 Die origina¨re Rechtsfolge einer Verletzung von Art. 5 Abs. 3 EMRK ist die unverzu¨gliche Entlassung aus der Untersuchungshaft. Seit der Entscheidung im Fall Neumeister gegen O¨sterreich ist anerkannt, dass die Beru¨cksichtigung der u¨berlangen Verfahrensdauer im Rahmen der Strafzumessung einen ausreichenden Ausgleich darstellt.143 Genau das aber hat das LG Oldenburg durch die Reduzierung der Freiheitsstrafe von neun Jahren auf sechs Jahre und sechs Monate getan. Man fragt sich daher, weshalb der Gerichtshof trotzdem auf eine Verletzung von Art. 5 Abs. 3 EMRK erkennt. Nach der Meinung der Kammermehrheit habe das LG Oldenburg versa¨umt, zu spezifizieren, in welchem Ausmaß sich die festgestellte Konventionsverletzung rechnerisch auf das Strafmaß ausgewirkt habe.144 Diese Argumentation ist kaum nachvollziehbar, stellt der EGMR doch kurz darauf fest, dass eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK ausscheide, weil die Gerichte insoweit das exakte Ausmaß der den Beho¨rden anzulastenden Verfahrensverzo¨gerungen detailliert ermittelt ha¨tten.145 Mit anderen Worten: Das Landgericht ha¨tte seinen Text zu Art. 6 Abs. 1 ¨ berschrift des Art. 5 Abs. 3 EMRK wiederholen sollen! Das EMRK unter der U aber erscheint doch angesichts der Koinzidenz der Zeitra¨ume, die vorliegend als konventionswidrige Verzo¨gerungen anzusehen sind, als rechte Haarspalterei.146

142 EGMR v. 10. 11. 2005 – 65745 / 01 (Dzelili gegen Deutschland), §§ 83, 84 = StV 2006, S. 477 f. 143 EGMR, Serie A Nr. 17 (Neumeister gegen O¨sterreich), §§ 40, 41 = EuGRZ 1974, ¨ JZ S. 28, 31; s. ferner EGMR, Serie A Nr. 207 (Letellier gegen Frankreich), § 62 = O 1991, S. 789, 791; EGMR, Reports 1997-II (Muller gegen Frankreich), § 54. Nach BGH, NJW 2006, S. 1529, 1535, besta¨tigt von BVerfG, NStZ 2006, S. 680, soll bei lebenslanger Freiheitsstrafe grundsa¨tzlich jegliche Kompensation durch Herabsetzung der Strafe ausscheiden, selbst wenn das Strafverfahren u¨ber einen erheblichen Zeitraum in rechtsstaatswidriger Weise verzo¨gert worden ist. Dafu¨r spricht, dass hier nach § 51 Abs. 1 S. 2 StGB auch keine Untersuchungshaft angerechnet wird. Ob das mit den Vorgaben des Art. 5 Abs. 3 EMRK haltbar ist, erscheint jedoch zweifelhaft. 144 EGMR v. 10. 11. 2005 – 65745 / 01 (Dzelili gegen Deutschland), § 85 (= StV 2006, S. 478): „. . . does not specify to what extent this finding had entailed a measurable reduction of the applicant’s sentence. ( . . . ) Therefore, the Court concludes that the national courts have not reduced the applicant’s sentence in a measurable manner in order to redress the previous breach of Article 5 § 3.“ 145 EGMR v. 10. 11. 2005 – 65745 / 01 (Dzelili gegen Deutschland), § 103 = StV 2006, S. 479. 146 Ebenso Judge Myier in seiner partly dissenting opinion, StV 2006, S. 480.

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V. Schluss Durch die Reform des Strafverfahrensrechts in den spa¨ten neunziger Jahren hat Polen die gemeineuropa¨ischen Standards des Habeas Corpus in das polnische Recht transformiert. Bei der Umsetzung dieser Standards hinkt die Praxis allerdings noch hinterher. In Deutschland wird das naturgema¨ß anders gesehen. Jedoch ¨ berraschunhat sich gezeigt, dass man bei der Rechtsprechung des EGMR vor U gen niemals sicher sein kann.

Ein Entwurf von Rechtsvorschriften zur Anwendung des Verbots der mehrfachen Einleitung und Führung von Strafverfahren in den Mitgliedstaaten der EU gegen einen einer strafbaren Tat Verdächtigten* Andrzej J. Szwarc Das Verbot der Einleitung eines Strafverfahrens, wenn ein wegen derselben Tat derselben Person schon früher begonnenes Verfahren im Gang ist, ist auf der einzelstaatlichen Ebene ein allgemein geltender Grundsatz (der Grundsatz der Rechtshängigkeit der Sache, lis pendens). Die polnische Strafprozessordnung1 bestimmt ihn in Art. 17 § 1 folgendermaßen: „Ein Verfahren wird nicht eingeleitet, und das eingeleitete Verfahren wird eingestellt, wenn (. . .) 7) das Verfahren wegen derselben Tat derselben Person rechtskräftig beendet wurde, oder wenn das früher eingeleitete Verfahren fortgeführt wird (. . .).“ Dieser Grundsatz gilt in den strafrechtlichen Systemen auch anderer Länder. Es sei hervorgehoben, dass die Geltung dieses Grundsatzes sich nicht nur aus der Prozessökonomie, sondern auch und vor allem aus dem Postulat ergibt, dass der Täter für dieselbe Tat nur einmal bestraft wird, oder – wenn man die Sache weiter fasst – dass man nach dem rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren die Möglichkeit einer anderen Entscheidung über dieselbe Tat derselben Person ausschließt. Das diesem Ziel dienende Verbot der Einleitung und Führung eines anderen bzw. anderer Verfahren wegen derselben Tat derselben Person umfasst nicht nur das Gerichtsverfahren, sondern auch das Ermittlungsverfahren.2 * Eine teilweise abweichende Fassung des Beitrages wurde in polnischer Sprache in einer Festschrift für Prof. Tomasz Kaczmarek veröffentlicht, vgl. Andrzej J. Szwarc, „Propozycja ,umie˛dzynarodowienia‘ zasady zawisłos´ci sprawy w poste˛powaniach karnych w Unii Europejskiej“ (Ein Vorschlag der „Internationalisierung“ des Grundsatzes der Rechtshängigkeit der Sache in Strafverfahren in der Europäischen Union), in: Giezek (Hrsg.), Przeste˛pstwo – kara – polityka kryminalna. Problemy tworzenia i funkcjonowania prawa (Straftat – Strafe – Kriminalpolitik. Probleme bei Rechtssetzung und -wirkung), Festschrift für Prof. Tomasz Kaczmarek zum 70. Geburtstag, Zakamycze 2006, S. 601–615. 1 Gesetz vom 6. Juni 1997 – Kodeks poste˛powania karnego (Strafprozessordnung), (GBl. Nr. 89, Pos. 555 mit Änderungen). 2 Vgl. z. B. J. Bartoszewski/L. Gardocki/Z. Gostyn´ski/S. M. Przyjemski/R. A. Stefan´ski/S. Zabłocki, Kodeks poste˛powania karnego. Komentarz (Hrsg. Z. Gostyn´ski), Warszawa, 2003, II. Auflage, Band I, S. 307–316; B. Bien´kowska/P. Kruszyn´ski/ C. Kulesza/P. Piszczek, Wykład prawa karnego procesowego (Hrsg. P. Kruszyn´ski),

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Es wäre wünschenswert, dass dieser Grundsatz auch in den zwischenstaatlichen Beziehungen, darunter auch in den Beziehungen zwischen den EU-Mitgliedstaaten, geltend gemacht würde. Das ist aber nicht der Fall. Der zitierte Art. 17 § 1 der polnischen StPO regelt nur das von den polnischen Strafverfolgungs- und Gerichtsorganen durchgeführte Strafverfahren. Er schließt also die Möglichkeit der Einleitung und Führung des Verfahrens nicht aus, wenn und obwohl bezüglich derselben Tat derselben Person ein oder mehrere Verfahren auch in einem anderen bzw. in mehreren anderen Ländern im Gang sind. In den zwischenstaatlichen Beziehungen pflegt die Einleitung und Führung des Strafverfahrens ausgeschlossen zu sein, allerdings erst – und zwar nicht immer – nach der Rechtskrafterlangung der Entscheidung über dieselbe Tat derselben Person, nicht selten auch unter der Bedingung, dass diese Entscheidung die Verurteilung oder Bestrafung bedeutet, oder dass die zugemessene Strafe vollstreckt wurde. Art. 114 § 1 des polnischen StGB3, welcher bestimmt, dass die „im Ausland getroffene Entscheidung kein Hindernis bei der Einleitung oder Führung eines Verfahrens bezüglich derselben mit Strafe bedrohten Tat vor dem polnischen Gericht ist“ und der im § 2 die Bestrafung trotz der Bestrafung im Ausland (allerdings unter Anrechnung der im Ausland vollstreckten Strafe) vorsieht, schließt jedoch im § 3 die Einleitung und Führung eines Strafverfahrens wegen derselben mit Strafe bedrohten Tat vor dem polnischen Gericht in folgenden Fällen aus: 1.

wenn der Vollzug einer im Ausland gefällten Verurteilung auf dem Territorium der Republik Polen übernommen wird und wenn die im Ausland getroffene Entscheidung eine Straftat betrifft, bei der die Übergabe der Strafverfolgung oder die Auslieferung des Täters aus dem Territorium der Republik Polen erfolgte;

2.

zu den Entscheidungen internationaler Strafgerichte, die auf Grund des für die Republik Polen geltenden Völkerrechts tätig sind,

3.

zu den Entscheidungen der Gerichte fremder Staaten, wenn sich das aus einem für die Republik Polen verbindlichen internationalen Vertrag ergibt.

Białystok, 2003, S. 123; W. Daszkiewicz, Proces karny. Cze˛s´c´ ogólna, Poznan´, 1966, III. Auflage, S. 151; T. Grzegorczyk/J. Tylman, Polskie poste˛powanie karne, Warszawa, 2005, 5. Auflage, S. 195–196; P. Hofman´ski/E. Sadzik/K. Zgryzek, Kodeks poste˛powania karnego (Hrsg. P. Hofman´ski), Warszawa, 2004, II. Auflage, Band I., S. 138–143; K. Marszał/St. Stachowiak/K. Zgryzek, Proces karny (Hrsg. K. Marszał), Katowice, 2005, II. Auflage, S. 136–137; S. S´liwin´ski, Polski proces karny przed sa˛dem powszechnym. Zasady ogólne, Warszawa, 1961, II. Auflage, S. 111–113. 3 Gesetz vom 6. Juni 1997 – Kodeks karny (Strafgesetzbuch), (GBl. Nr 88, Pos. 553 mit Änderungen, insbesondere im Wortlaut des Gesetzes vom 18. März 2004 über die Änderung des Gesetzes – StGB, des Gesetzes – StPO und des Gesetzes – Ordnungswidrigkeitsgesetzbuch (GBl. Nr 69, Pos. 626).

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Die Einleitung oder Führung eines Strafverfahrens, sowohl des Ermittlungsals auch des Gerichtsverfahrens, ist also in Polen ausgeschlossen, wenn ein Verfahren gegen denselben Täter wegen derselben Tat im Ausland im Gang war, aber nur in den Fällen, die im Art. 114 § 3 des polnischen StGB bestimmt sind. In anderen Fällen stellt die im Ausland getroffene Entscheidung kein Hindernis bei der Einleitung oder Führung des Strafverfahrens wegen derselben verbotenen Tat vor einem polnischen Gericht dar. Umso weniger ist solch ein Hindernis der Umstand, dass gegen einen Verdächtigten wegen der Begehung derselben Tat ein Verfahren im Ausland eingeleitet bzw. geführt wird, in dem noch keine Entscheidung getroffen wurde. Verbote der Einleitung und Führung eines Verfahrens gegen denselben Täter, der für dieselbe Tat bereits bestraft wurde, auch wenn die Bestrafung in einem anderen Staat erfolgte, gibt es auch in den völkerrechtlichen Regelungen. Zum Beispiel bestimmt Art. 54 des Übereinkommens vom 19. Juni 1990 zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985, dass „eine Person, deren Prozeß mit einer rechtskräftigen Verurteilung auf dem Territorium einer der Vertragsseiten abgeschlossen wurde, auf dem Gebiet einer anderen Vertragsseite für dieselbe Tat nicht verfolgt werden kann, unter der Bedingung, daß die Strafe auferlegt und vollstreckt wurde oder daß sie sich im Vollzug befindet, oder daß sie auf Grund rechtlicher Vorschriften der verurteilenden Vertragsseite nicht mehr vollstreckt werden kann“. Weitere Bestimmungen dieses Übereinkommens sehen allerdings die Möglichkeit vor, dass der Staat, auf dessen Seite die Person ist, sich der Unterordnung unter diesen Grundsatz entzieht (Art. 55). Die erwähnten Regelungen schließen jedenfalls die Einleitung und Führung eines Verfahrens nicht aus, solange das Verfahren gegen dieselbe Person wegen derselben Tat in einem anderen Staat nicht – gemäß der genannten Regelung – mit einer Entscheidung, Verurteilung, Bestrafung beziehungsweise dem Strafvollzug abgeschlossen worden ist. Im folgenden Teil dieses Beitrags wird – in diesem Kontext – von solchen Regelungsvorschlägen die Rede sein, die die Einleitung und Führung des Verfahrens schon zu einem früheren Zeitpunkt unmöglich machen würden, und zwar bereits bei der Einleitung und Führung des Ermittlungsverfahrens in einem anderen Staat gegen einen Verdächtigten wegen der Begehung derselben Tat. Abschließend soll dann ein Entwurf diesbezüglicher Regelungen vorgestellt werden.4 4 Die hier behandelte Problematik war schon Gegenstand des Interesses u. a. in den nachstehenden Publikationen: J. Banach-Gutierrez, „Zasada ,ne bis in idem‘ w prawie karnym Unii Europejskiej“, Jurysta, 2004, Nr. 11–12, S. 4–5; A. Górski/A. Sakowicz, Bariery prawne integracji europejskiej w sprawach karnych, Warszawa, 2005; B. Nita, „Zasada ne bis in idem w mie˛dzynarodowym obrocie karnym“, Pan´stwo i Prawo, 2005, Nr. 3, S. 18–34; E. Weigend, „Europeizacja prawa karnego w s´wietle Konsty-

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Es handelt sich dabei um einen der Vorschläge, die im Rahmen einer internationalen Forschungsgruppe unter der Leitung von Prof. Dr. Bernd Schünemann von der Universität München diskutiert werden. Diese Gruppe, die sich aus Forschern von 14 Universitäten bzw. Forschungsinstituten aus 11 EU-Ländern zusammensetzt, realisiert – im Rahmen des AGIS-Programms – das Forschungsprojekt „Ein Gesamtkonzept für europäische Strafrechtspflege“ (A Programme for European Criminal Law and Procedure).5 Der hier präsentierte Vorschlag ist allerdings lediglich eine Vorüberlegung. Ihr Ziel ist es, in den wünschenswerten Diskussionen zu diesem Thema – natürlich unter Berücksichtigung auch anderer Lösungen – zu überlegen, ob die „Internationalisierung“ des Grundsatzes der Rechtshängigkeit der Sache (lis pendens) auf der Ebene der EU-Mitgliedstaaten überhaupt wünschenswert und möglich ist und, wenn ja, dann auf welche Art und Weise. Theoretisch kann man sich das Funktionieren dieses Grundsatzes in den zwischenstaatlichen Beziehungen ohne Einschränkungen vorstellen, so wie er auch auf der innerstaatlichen Ebene funktioniert. So könnte es sein, wenn identische oder zumindest sehr ähnliche strafrechtliche Regelungen und dieselbe bzw. eine ähnliche Strafpolitik die Staaten zum gegenseitigen Vertrauen hinsichtlich der tucji Europejskiej“, Pan´stwo i Prawo, 2005, Nr. 6, S. 11–29. Aus dem deutschen Schrifttum vgl. dazu u. a. M. Mansdörfer, Das Prinzip des ne bis in idem im europäischen Strafrecht, Berlin, 2004. 5 Die Projektbeschreibung lautet wie folgt: „Ziel des Projekts, das im Wesentlichen von der EU-Kommission im Rahmen des Programmes AGIS finanziert wird, ist die Herstellung eines Gesamtkonzepts für europäische Gesetze und Institutionen, für grenzüberschreitende Kompetenzen der Mitgliedstaaten und die notwendige Rechtsvereinheitlichung auf dem Gebiet des Strafrechts und des Strafverfahrens. Die Ansätze, die sich bisher dazu in der sog. dritten Säule, den Rahmenbeschlüssen des Rates, dem Verfassungsvertrag, dem Corpus Juris und den Grünbüchern der Kommission finden, sind als Vorarbeiten wertvoll, ergeben aber noch kein schlüssiges Gesamtkonzept und sind außerdem im Kreis der Strafrechtswissenschaft und der Anwaltschaft auf starke Kritik gestoßen. Durch das Projekt soll der kritische Beitrag der Wissenschaft eine konstruktive Richtung bekommen. Es sollen die punktuellen Aktivitäten der Rahmenbeschlüsse und der Grünbücher zu einem Gesamtprogramm vervollständigt werden, das die notwendigen rechtlichen Regelungen und institutionellen Vorkehrungen zur Herstellung eines ,Raumes der Sicherheit‘ enthält. Es sollen aber auch die Rechte der Bürger und damit der ,Raum der Freiheit‘ in gleicher Weise garantiert werden. Diese anspruchsvolle Aufgabe soll in Zusammenarbeit von renommierten Wissenschaftlern des Strafrechts und Strafprozeßrechts aus elf Mitgliedstaaten, aus 14 Universitäten und Forschungsinstituten gelöst werden. Zur Vorbereitung ihrer in ungefähr dreimonatigem Turnus abzuhaltenden, Ende 2004 beginnenden Arbeitssitzungen hat die Projektgruppe dieses Internet-Forum eingerichtet. Die Projektgruppe wird ferner vor Abschluss ihrer Tätigkeit das ausgearbeitete, aber noch nicht endgültig fertiggestellte Konzept auf einer internationalen Konferenz den Experten aus der Justiz, der Polizei und der Rechtsanwaltschaft der Mitgliedsländer zur Stellungnahme und Kritik unterbreiten, deren Verarbeitung zu dem endgültigen, Ende 2006 vorzustellenden und zu publizierenden Konzept für ein europäisches Strafrecht und Strafverfahren führen wird.“

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Verfolgung und Bestrafung der Straftäter veranlassen würden. Das ist aber bisher nicht der Fall. Aber auch ohne auf die erwünschte Vereinheitlichung oder zumindest Angleichung der strafrechtlichen Systeme und der Strafpolitik zu verzichten, sollte man schon jetzt nach anderen Lösungen der angesprochenen Problematik suchen. Der hier präsentierte Vorschlag enthält keine Empfehlungen bezüglich der Form, in der die vorgeschlagenen Regelungen in den Beziehungen zwischen den EU-Mitgliedstaaten zu Geltung gebracht werden könnten. Da die EU-Organe zur Zeit nur über begrenzte Kompetenzen bei der Entwicklung von strafrechtlichen Regelungen verfügen, die unmittelbar in den EU-Mitgliedstaaten gelten würden, kann man sich u. a. vorstellen, dass sie entweder in einer künftig geltenden Fassung der Verfassung von Europa mitenthalten oder dass sie Gegenstand einer mehrseitigen Vereinbarung der EU-Mitgliedstaaten sein werden. In Art. 1 Abs. 1 des Entwurfs ist der Gedanke enthalten, dass die Wirkung der vorgeschlagenen Geltungsprinzipien des Verbots der Einleitung und Führung von mehr als einem Strafverfahren gegen denselben Verdächtigten wegen der Begehung derselben mit Strafe bedrohten Tat in den EU-Mitgliedstaaten auf die Verfahren eingeschränkt werden soll, die bezüglich der in dieser Bestimmung aufgezählten Taten durchgeführt werden. Diesem Gedanken liegt die Überzeugung zugrunde, dass ein Verwirklichungsversuch der besprochenen Idee ja eine Novität – und in diesem Zusammenhang gewissermaßen auch ein Experiment – darstellen würde. Es wäre durchaus lohnend zu prüfen, wie sich diese Idee in Bezug auf nur einige Taten bewährt, um eventuell erst später, unter Berücksichtigung dieser Erfahrungen, an die Erweiterung ihres Geltungsbereiches zu denken. In der hier vorgeschlagenen Variante des Entwurfs nennt Art. 1 diese Taten nicht und lässt somit die Angelegenheit offen und weiteren Überlegungen zugänglich. Man kann sich vorstellen, dass es in erster Linie Taten gegen die Rechtsgüter der EU, z. B. gegen ihre finanziellen Interessen, oder aber auch korruptes Verhalten der EU-Beamten sein können und sollen. In dem vorgeschlagenen Art. 1 Abs. 1 sind diese Taten genau zu beschreiben, und zwar so, wie man dies auch in den inländischen strafrechtlichen Vorschriften in Form der sogenannten gesetzlichen Tatbestandsmerkmale Beschreibungen der mit Strafe bedrohten Taten unter Hinweis auf die strafbaren Formen ihres Begehens (Vorsätzlichkeit, Fahrlässigkeit, Vorbereitungshandlung, Versuch, Mittäterschaft, Anstiftung, Beihilfe usw.) vornimmt. Es ist dabei nicht ausgeschlossen, dass die Geltung des besprochenen Grundsatzes selbst bezüglich derjenigen Taten, die im vorgeschlagenen Art. 1 Abs. 1 genannt würden, in bestimmter Hinsicht beschränkt werden könnte. Im Hinblick darauf wurde Art. 1 Abs. 2 entworfen, in dem allerdings die Umstände, die die Geltung jenes Grundsatzes ausschließen, nicht genannt werden. Hypothetisch könnte dies zum Beispiel der Umstand sein, dass die Einleitung und Führung

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des Verfahrens gegen einen Verdächtigten wegen der Begehung einer mit Strafe bedrohten Tat in die ausschließliche Zuständigkeit der Europäischen Staatsanwaltschaft fallen könnte, wenn ein solches Rechtsorgan in der EU eventuell einmal geschaffen würde. Ist die Geltungskraft des besprochenen Grundsatzes nur auf einige Taten beschränkt, so muss man sich natürlich auch den Nachteil einer solchen Lösung vergegenwärtigen, der darin besteht, dass in der EU in bestimmten Sachen wegen gewisser Taten dieser Grundsatz gelten, in anderen Sachen aber nicht gelten würde. Im Falle einer schwereren Tat, zumindest vom Standpunkt der Interessen der EU aus betrachtet, könnte nun in der Union nur ein Verfahren gegen einen Verdächtigten wegen der Begehung dieser Tat durchgeführt werden. Infolgedessen würde er in der EU für die Tat nur einmal bestraft. Wegen der Begehung einer Tat, die die vorgeschlagenen Regelungen nicht erfassen, könnte dagegen das Strafverfahren gegen den Verdächtigten von den Strafverfolgungsorganen zweier und mehrerer Staaten durchgeführt werden, was mehr als eine Bestrafung desselben Täters wegen des Begehens derselben mit Strafe bedrohten Tat zur Folge haben könnte. Dies könnte man aber als eine vorläufige Kompromisslösung hinnehmen, wenn dieser Grundsatz zumindest in ferner Zukunft in einem weiteren Umfang verwirklicht werden soll. Die Einschränkung der Geltungskraft dieses Grundsatzes nur auf einige Taten würde allerdings die Möglichkeit ihrer Erweiterung – sei es in den internen Regelungen einzelner Staaten, sei es in Form separater internationaler Vereinbarungen – nicht ausschließen. Die vorgeschlagenen Regelungen sehen die Geltung des besprochenen Grundsatzes bezüglich derjenigen Strafverfahren vor, die gegen einen Verdächtigten wegen der Begehung einer mit Strafe bedrohten Tat eingeleitet und geführt werden, d.h. bezüglich der sog. Strafverfahren in personam. Im Sinne des vorgeschlagenen Art. 7 ginge es dabei um Verfahren gegen eine Person, der das Strafverfolgungsorgan den Vorwurf macht, eine mit Strafe bedrohte Tat begangen zu haben. Diese Regelungen sollen bewirken, dass in der EU gegen denselben Verdächtigten, der derselben mit Strafe bedrohten Tat verdächtigt ist, nur ein Strafverfahren (Strafverfahren in personam) und nur in einem EU-Mitgliedstaat geführt würde. Die Geltung dieses Grundsatzes im Bereich derartiger Verfahren würde – im Sinne der im Art. 6 Abs. 1 vorgeschlagenen Regelung – ein anderes oder andere Strafverfahren wegen derselben Tat nicht ausschließen, allerdings in Form des sog. Strafverfahrens in rem. Der präsentierte Vorschlag sieht zudem das Funktionieren eines Europäischen Registers der Strafverfahren vor. Vorläufig werden keine näheren Normen formuliert, die dessen Tätigkeit regeln würden. Vielmehr wird vorausgesetzt, dass bezüglich der mit den vorgeschlagenen Regelungen erfassten Taten jedes Strafverfolgungsorgan eines EU-Mitgliedstaates, welches ein Verfahren gegen einen

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Verdächtigten wegen der Begehung einer mit Strafe bedrohten Tat (Strafverfahren in personam) oder ein Verfahren wegen der Begehung einer mit Strafe bedrohten Tat (Strafverfahren in rem) durchführt, die Pflicht hätte, die im vorgeschlagenen Art. 2 genannten Angaben dem Register zu übergeben. Diese Pflicht wäre innerhalb von 30 Tagen seit der Einleitung des Verfahrens, wie auch – während des Verfahrens – innerhalb von 30 Tagen seit der Feststellung der im Art. 2 übergabepflichtigen Tatsachen, zu erfüllen. In dem vorgeschlagenen Art. 6 Abs. 2 wird darüber hinaus vorgesehen, dass das Strafverfolgungsorgan eines EU-Mitgliedstaates, welches ein Verfahren wegen der Begehung einer mit Strafe bedrohten Tat (Strafverfahren in rem) durchführt, die Pflicht hätte, die in der Sache gesammelten Materialien laufend dem Strafverfolgungsorgan zu überweisen, welches das Verfahren gegen einen Verdächtigten wegen der Begehung einer mit Strafe bedrohten Tat (Strafverfahren in personam) durchführt. In den in Art. 3 Abs. 4 und Art. 5 vorgeschlagenen Regelungen ist vorgesehen, dass in dem besprochenen Umfang gewisse in diesen Vorschriften bestimmte Kompetenzen auch ein Organ gerichtlichen Typs hätte, das in den entworfenen Vorschriften als „Strafkammer des Europagerichts“ bezeichnet wird. Es wird vorgeschlagen, dass man auf dieser Etappe der Überlegungen über weitere diesbezügliche Einzelheiten nicht entscheiden sollte. Ob es sich dabei um ein ganz neues gerichtliches EU-Organ oder eine Kammer an dem schon existierenden Europäischen Tribunal in Luxemburg handeln sollte, was aufgrund des Art. 225a des EU-Gründungsvertrags de lege lata möglich wäre, bleibt offen. Der bisher nicht einmal formulierten Empfehlung, dass mit diesen Kompetenzen die Institution Eurojust ausgestattet werden möge, wäre wohl mit Zurückhaltung zu begegnen. Denn es ist hervorzuheben, dass die Natur der in den vorgeschlagenen Regelungen genannten Kompetenzen Entscheidungen eher eines gerichtlichen Organs verlangen würde. Die weiteren vorgeschlagenen Regelungen würden selbstverständlich dann keine Anwendung finden, wenn das Strafverfahren gegen einen Verdächtigten wegen der Begehung einer mit Strafe bedrohten Tat (Strafverfahren in personam) von nur einem Strafverfolgungsorgan nur eines EU-Mitgliedstaates durchgeführt wird und wenn in einem anderen EU-Mitgliedstaat weder ein solches Verfahren durchgeführt wird noch die Absicht seiner Einleitung besteht. Andererseits würden weitere vorgeschlagene Regelungen Anwendung finden, die darüber entscheiden würden, dass auch in einem solchen Fall nur ein Verfahren gegen einen Verdächtigten wegen der Begehung einer mit Strafe bedrohten Tat (Strafverfahren in personam) eingeleitet bzw. geführt würde. Diese Regelungen bringen die Überlegung zum Ausdruck, dass die Zuständigkeit eines Strafverfolgungsorgans für die Einleitung oder Führung eines einzigen Verfahrens – im Sinne dieser Regelungen – gleichsam „automatisch“ festgelegt würde. Demzufolge – ohne irgendeinen weiteren Eingriff – wäre die Einleitung und Führung

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nur eines einzigen Verfahrens möglich. Diese Zuständigkeit könnte nur ausnahmsweise anders festgelegt werden, wovon noch die Rede sein wird. Die oben erwähnte Zuständigkeit würde „automatisch“ im Sinne der im vorgeschlagenen Art. 3 Abs. 1–3 formulierten Regeln festgelegt. Im Art. 3 Abs. 3 werden in hierarchischer Ordnung die Prämissen genannt, die die Führung des Strafverfahrens gegen einen Verdächtigten wegen der Begehung einer mit Strafe bedrohten Tat (Strafverfahren in personam) durch ein Strafverfolgungsorgan des jeweiligen EU-Mitgliedstaates fordern. Dem Inhalt des vorgeschlagenen Art. 3 Abs. 2 gemäss leitet ein Strafverfolgungsorgan eines anderen EU-Mitgliedstaates im Falle zumindest eines Verfahrens, das bereits im Gange ist, dasselbe Verfahren nicht ein oder stellt das bereits eingeleitete Verfahren ein, wenn seine Zuständigkeit nur durch eine minder wichtige Prämisse begründet wäre, als diejenige, die die Führung eines solchen Verfahrens durch ein Strafverfolgungsorgan eines anderen EU-Mitgliedstaates begründet. Das Strafverfolgungsorgan dagegen, welches bereits ein Verfahren führt, soll es einstellen, wenn die Zuständigkeit des Strafverfolgungsorgans eines anderen EU-Mitgliedstaates für die Führung eines durch dieses Organ eingeleiteten und geführten Verfahrens durch eine wichtigere Prämisse begründet ist. Problematisch kann dabei natürlich die Hierarchie der in dem vorgeschlagenen Art. 3 Abs. 3 genannten Prämissen sein, die die Zuständigkeit des Strafverfolgungsorgans eines bestimmten EU-Mitgliedstaates für die Einleitung und Führung des Verfahrens gegen einen Verdächtigten wegen der Begehung einer mit Strafe bedrohten Tat begründet. Der in dem vorgeschlagenen Art. 3 Abs. 2 vorgesehenen Bevorzugung eines Strafverfolgungsorgans des Staates, auf dessen Territorium sich der Tatort befindet, liegt die Überzeugung zugrunde, dass sich in diesem Staat meistens die Tatbeweise befinden und sich dort vor allem die Tatzeugen aufhalten. Durch diesen Umstand ist das Strafverfolgungsorgan eines solchen Staates in der Regel in der Lage, das Verfahren am leichtesten, am schnellsten und am wirksamsten durchzuführen, zumal seine Kosten in einem solchen Fall auch meistens niedriger sind. Befinden sich der Begehungsort und der Erfolgsort, bzw. der Ort, an dem der Erfolg nach der Absicht des Täters eintreten sollte, in verschiedenen Ländern, wird in den vorgeschlagenen Regelungen der Begehungsort als Tatort bevorzugt. Wenn in einem solchen Fall die zuvor genannten Umstände, die die Bevorzugung der Zuständigkeit eines Strafverfolgungsorgans des Staates, in dem der Begehungsort ist (Beweise, Zeugen), begründen, stattdessen die Zuständigkeit des Staates legitimieren, in dem sich der Erfolgsort befindet, ist in weiteren vorgeschlagenen Regelungen, von denen noch die Rede sein wird, die Möglichkeit vorgesehen, die Zuständigkeit des Straforgans, welches das einzige Verfahren durchführt, anders festzulegen. Auch andere Prämissen, die die besprochene Zuständigkeit begründen und die in dem vorgeschlagenen Art. 3 Abs. 2 (Staatsangehörigkeit des Verdächtig-

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ten, Wohnsitz/ständiger Aufenthaltsort des Verdächtigten, aktueller Aufenthaltsort des Verdächtigten, der Ort oder Orte, an dem sich das Vermögen des Verdächtigten befindet) vorgesehen sind, deren Position in der Hierarchie als weniger wichtig als der Tatort bestimmt wurde, können in konkreten Situationen für eine andere Festlegung der Zuständigkeit sprechen, insbesondere dann, wenn z. B. die oben genannten Umstände, die in der Regel für die Wahl des Strafverfolgungsorgans des Staates sprechen, auf dessen Territorium der Tatort (Beweise, Zeugen) liegt, nicht in Frage kommen. Das kann der Fall sein, wenn z. B. die Zweckmäßigkeit der Sicherung besserer Verteidigungsbedingungen für den Verdächtigten dafür spricht, dass das Verfahren von einem Strafverfolgungsorgan des Staates durchgeführt wird, dessen Bürger der Verdächtigte ist oder in dem sich sein Wohnsitz bzw. sein ständiger Aufenthaltsort befindet, oder wenn die Zweckmäßigkeit der Sicherung besserer Bedingungen für die Vollstreckung der vorgesehenen Geldbuße oder die Vollstreckung der Entscheidung bezüglich der Einziehung des Vermögens beziehungsweise das Interesse des Geschädigten (des Opfers) dafür sprechen, dass das Verfahren durch ein Strafverfolgungsorgan des Staates durchgeführt wird, in dem sich das Vermögen des Verdächtigten befindet. Auch in solchen Fällen sehen weitere vorgeschlagene Regelungen, von denen noch die Rede sein wird, die Möglichkeit einer anderen Festlegung der Zuständigkeit des Organs vor, welches das einzige Verfahren in dieser Sache durchführt. Der oben genannte spezifische „Automatismus“, der in dem vorgeschlagenen Art. 3 Abs. 1–3 geregelt ist, kann in bestimmten Fällen die Entscheidung des Problems der Zuständigkeit des einzelnen Strafverfolgungsorgans eines EU-Mitgliedstaates zur Einleitung und Führung des Verfahrens gegen einen Verdächtigten wegen der Begehung einer mit Strafe bedrohten Tat (Strafverfahren in personam) nicht garantieren. Diese Situation kann zumindest in drei Fällen vorkommen, in denen eine entsprechende Entscheidung durch die Strafkammer des Europagerichts getroffen werden müsste. Die Strafkammer des Europagerichts kann erstens – im Sinne des vorgeschlagenen Art. 3 Abs. 4 Pkt. 1a – auf Antrag eines interessierten EU-Mitgliedstaates, des Verdächtigten, des Opfers oder aus eigener Initiative die Kompetenz haben, das Verfahren einzustellen, welches durch das Strafverfolgungsorgan eines EU-Mitgliedstaates eingeleitet und durchgeführt wird, das die im Sinne der im Art. 3 Abs. 2–3 bestimmte Zuständigkeit nicht hat, sowie das Verfahren einzustellen, welches durch dieses Strafverfolgungsorgan nicht eingestellt wurde, obwohl die Zuständigkeit des Strafverfolgungsorgans eines anderen EU-Mitgliedstaates für die Führung dieses Verfahrens durch eine wichtigere Prämisse begründet ist. Die Strafkammer des Europagerichts könnte zweitens – im Sinne des vorgeschlagenen Art. 3 Abs. 4 Pkt. 1b – auf Antrag eines interessierten EU-Staates,

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des Verdächtigten, des Opfers oder aus eigener Initiative die Kompetenz haben, ein durch das Strafverfolgungsorgan eines EU-Mitgliedstaates eingeleitetes und durchgeführtes Verfahren gegen einen Verdächtigten wegen der Begehung einer Tat einzustellen, die ein Element einer durch die vorgeschlagenen Regelungen erfassten Tat ist, wegen der das Strafverfolgungsorgan eines anderen EU-Mitgliedstaates ein Verfahren gegen einen anderen Verdächtigten wegen dessen Beteiligung an der Tat durchführt. Es sei hier zur Veranschaulichung dieser Situation ein Beispiel genannt, in dem die Tat – der Plausibilität zuliebe – mit den vorgeschlagenen Regelungen wohl nicht erfasst würde. Stellen wir uns vor, dass der Täter eine Vergewaltigung unter Anwendung einer strafbaren Drohung beging, die nach polnischem Strafrecht in Art. 197 § 1 erfasst ist. Im Sinne der genannten Regelung würde das Verfahren, welches z. B. durch ein polnisches Strafverfolgungsorgan gegen diese Person durchgeführt wird, die aber in diesem Verfahren nur der strafbaren Drohung verdächtigt ist (Art. 190 des polnischen StGB), dann eingestellt, wenn z. B. ein spanisches Strafverfolgungsorgan gegen denselben Verdächtigten ein Strafverfahren durchführen würde wegen des Vergewaltigungsverdachts und wegen der Vergewaltigung unter Anwendung einer strafbaren Drohung, wegen der das Verfahren durch ein polnisches Strafverfolgungsorgan durchgeführt wird. Diese Lösung soll die Vollstreckung doppelter strafrechtlicher Verantwortlichkeit für dieselbe Tat ausschließen – im genannten Beispiel für die strafbare Drohung –, wenn sie ein Element der Tat darstellt, wegen der ein Strafverfolgungsorgan ein Strafverfahren durchführt. Die Strafkammer des Europagerichts hätte drittens – laut dem vorgeschlagenen Art. 3 Abs. 4 Pkt. 2 – auf Antrag eines interessierten EU-Staates, des Verdächtigten oder des Opfers oder aus eigener Initiative die Entscheidungskompetenz hinsichtlich der Zuständigkeit eines bestimmten Strafverfolgungsorgans eines EU-Mitgliedstaates zur Führung des Verfahrens gegen einen Verdächtigten wegen der Begehung einer mit Strafe bedrohten Tat (Strafverfahren in personam), wenn die Koinzidenz der Zuständigkeiten der Strafverfolgungsorgane zweier oder mehrerer EU-Mitgliedstaaten für die Führung eines solchen Verfahrens auf Grund der im vorgeschlagenen Art. 3 Abs. 2 und 3 formulierten Grundsätze nicht gelöst werden kann. So könnte es z. B. im Falle einer fortgesetzten Handlung sein, die durch den Täter an Orten ausgeführt wird, die sich in zwei oder mehreren Staaten befinden, wenn die Handlungsorte in allen diesen Staaten zugleich Begehungsorte des Täters wären, was laut dem vorgeschlagenen Art. 3 Abs. 2 und 3 gleichermaßen die Zuständigkeit der Strafverfolgungsorgane aller dieser Staaten für die Führung eines Strafverfahrens gegen den Verdächtigten begründen würde. Die vorgeschlagenen Regelungen sehen noch zwei andere Verfahrensarten vor für die Festlegung der Zuständigkeit des Strafverfolgungsorgans eines bestimmten EU-Mitgliedstaates zur Führung eines Strafverfahrens gegen einen Verdächtigten wegen der Begehung einer strafbaren und mit diesen Regelungen

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erfassten Tat. Die erste dieser Verfahrensarten, die in Art. 4 des Entwurfs vorgesehen ist, ist eine diesbezügliche Vereinbarung der interessierten EU-Mitgliedstaaten. Es wird dabei vorausgesetzt, dass eine solche Vereinbarung sich auf ein konkretes Strafverfahren gegen einen bestimmten Verdächtigten wegen der Begehung einer bestimmten mit Strafe bedrohten Tat beziehen kann. Diese Regelung schließt jedoch auch eine mehr oder weniger generelle Vereinbarung nicht aus, die diese Zuständigkeit für eine bestimmte Kategorie der Verfahren gegen eine bestimmte Kategorie der Verdächtigten wegen der Begehung einer bestimmten Kategorie strafbarer Taten regeln würde. Die zweite Verfahrensart einer anderen Bestimmung der Zuständigkeit des Strafverfolgungsorgans eines bestimmten EU-Mitgliedstaates zur Führung nur eines Strafverfahrens gegen einen Verdächtigten wegen der Begehung einer mit Strafe bedrohten Tat wird in Art. 5 des Entwurfs vorgeschlagen. Sie beruht darauf, dass die Strafkammer des Europagerichts mit der Kompetenz zur Festlegung diesbezüglicher Zuständigkeit eines anderen Strafverfolgungsorgans ausgestattet wird, die sich aus der Anwendung der in den vorgeschlagenen Art. 2–4 bestimmten Grundsätzen ergeben würde. Die Strafkammer des Europagerichts soll diese Einwirkungsmöglichkeit auf Antrag eines interessierten EU-Staates, des Verdächtigten, des Opfers oder aus eigener Initiative erhalten. Diese andere Bestimmung der Zuständigkeit des Strafverfolgungsorgans eines EU-Mitgliedstaates müsste allerdings durch bestimmte Umstände gerechtfertigt werden. In dem vorgeschlagenen Art. 5 Abs. 2 werden diese Umstände nicht erschöpfend genannt. Es wird darauf hingewiesen, dass zu ihnen die Geschwindigkeit des Verfahrens und die Prozessökonomie gehören. Eine nicht erschöpfende Benennung solcher Umstände ließe z. B. die Möglichkeit, die Zuständigkeit eines Strafverfolgungsorgans festzulegen, hinter dem zwar nicht die in Art. 3 Abs. 3 bestimmte Hierarchie der Prämissen steht, dessen Verfahren aber in der gegebenen Sache schon sehr fortgeschritten ist. Eben in dieser Verfahrensart könnte die Zuständigkeit eines bestimmten EUMitgliedstaates durch die Strafkammer des Europagerichts auch anders festgelegt werden: 1.

anders als nach den Prinzipien einer spezifisch „automatisierten“ Bestimmung dieser Zuständigkeit, wie im vorgeschlagenen Art. 3 Abs. 2 und 3 festgelegt sind,

2.

anders als nach den Prinzipien eines Eingreifens der Strafkammer des Europagerichts in den Fällen, die sie im vorgeschlagenen Art. 3 Abs. 4 Pkt. 1 bestimmt sind,

3.

anders als nach der Vereinbarung der interessierten EU-Mitgliedstaaten, von der im vorgeschlagenen Art. 4 die Rede ist. Man kann sich vorstellen, dass in einem solchen Fall die Lösung des Zuständigkeitsproblems durch die Strafkammer des Europagerichts notwendig wäre, wenn z. B. bestimmte

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Umstände die Zuerkennung der Zuständigkeit des Strafverfolgungsorgans eines EU-Mitgliedstaates begründen würden, welcher überhaupt kein Partner der angesprochenen Vereinbarung war. In den oben genannten Regelungen ist vorgesehen, dass die Strafkammer des Europagerichts ihre Kompetenzen auf Antrag eines interessierten EU-Mitgliedstaates, des Verdächtigten, des Opfers bzw. aus eigener Initiative wahrnehmen wird, allerdings ohne durch die Anträge der anderen oben erwähnten Rechtssubjekte dazu verpflichtet zu sein. Entwurf von Rechtsvorschriften zur Anwendung des Verbots der mehrfachen Einleitung und Führung von Strafverfahren in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union gegen einen einer strafbaren Tat Verdächtigten Art. 1. 1. Die nachfolgenden Artikel 2 bis 7 regeln die Anwendung des Verbots der mehrfachen Einleitung und Führung von Strafverfahren in den EU-Mitgliedstaaten gegen einen einer strafbaren Tat Verdächtigten (Strafverfahren in personam) in Bezug auf folgende Handlungen: 1) (. . .), 2) (. . .), (. . .). 2. In folgenden Fällen finden die Artikel 2 bis 7 keine Anwendung: 1) (. . .), 2) (. . .), (. . .). Art. 2. Das Strafverfolgungsorgan eines EU-Mitgliedstaates, welches ein Strafverfahren gegen einen einer strafbaren Tat Verdächtigten (Strafverfahren in personam), bzw. ein Strafverfahren wegen einer strafbaren Tat (Strafverfahren in rem) führt, ist verpflichtet, dem Europäischen Strafverfahrensregister innerhalb von 30 Tagen seit der Verfahrenseinleitung sowie – im Laufe des Verfahrens – innerhalb von 30 Tagen seit der Feststellung einer der übermittlungspflichtigen Tatsachen, folgende Angaben – soweit im Besitz des Strafverfolgungsorgans – zu übermitteln: 1. Angaben zum Organ der Strafverfolgung, welches das Verfahren führt, 2. Datum der Einleitung und Einstellung des Strafverfahrens, 3. Angaben zur Identität des Verdächtigten, 4. Beschreibung der Tat, mit allen Elementen der in Art. 1 Abs. 1 genannten Beschreibung der Tat,

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5. rechtliche Qualifizierung der Tat auf Grund der Regeln des eigenen Rechts, 6. Staatsangehörigkeit des Verdächtigten, 7. Wohnsitz/ständiger Aufenthaltsort des Verdächtigten, 8. aktueller Aufenthaltsort des Verdächtigten, 9. Ort oder Orte, an denen sich das Vermögen des Verdächtigten befindet.

Art. 3. 1. Das Strafverfolgungsorgan eines EU-Mitgliedstaates kann auf der Grundlage des in diesem Staat geltenden Rechts ein Strafverfahren gegen einen einer strafbaren Tat Verdächtigten (Strafverfahren in personam) nur dann einleiten und führen, wenn gegen dieselbe Person kein Strafverfahren (Strafverfahren in personam) aufgrund des Verdachts der Begehung derselben strafbaren Tat in einem anderen EU-Mitgliedstaat geführt wird. 2. Wird eines oder mehrere Strafverfahren in einem anderen bzw. in anderen EU-Mitgliedstaaten gegen einen einer strafbaren Tat Verdächtigten (Strafverfahren in personam) geführt, darf ein weiteres Strafverfahren in einem anderen EU-Mitgliedstaat gegen denselben Verdächtigten wegen derselben strafbaren Tat (Strafverfahren in personam) nur dann eingeleitet werden, wenn die Zuständigkeit zur Einleitung durch einen wichtigeren Grund bzw. durch wichtigere Gründe gegeben ist, als jene, die über die Einleitung des früheren Strafverfahrens bzw. der früheren Strafverfahren entschieden haben. 3. Die folgende Hierarchie der Gründe ist bei der Entscheidung über die Zuständigkeit eines Organs der Strafverfolgung in einem EU-Mitgliedstaat zur Einleitung und Führung eines Strafverfahrens gegen einen einer strafbaren Tat Verdächtigten (Strafverfahren in personam) zu beachten: 1) Tatort, mit der Bevorzugung des Handlungsortes, 2) Staatsangehörigkeit des Verdächtigten, 3) Wohnsitz/ständiger Aufenthaltsort des Verdächtigten, 4) Ort oder Orte, an dem der Verdächtigte sein Vermögen hat. 4. Auf Antrag eines betroffenen EU-Mitgliedstaates, des Verdächtigten oder des Opfers sowie aus eigener Initiative entscheidet die Strafkammer des Europäischen Gerichtshofs: 1) über die Einstellung: a) eines von einem Strafverfolgungsorgan eines EU-Mitgliedstaates, dessen Zuständigkeit auf der Grundlage der Abs. 3 und 4 nicht gegeben ist, eingeleiteten und geführten Strafverfahrens, wenn weitere Strafverfahren von Strafverfolgungsorganen in mehr als einem EU-Mitgliedstaat gegen einen einer strafbaren Tat Verdächtigten (Strafverfahren in personam) eingeleitet und geführt werden; b) eines in einem EU-Mitgliedstaat eingeleiteten und geführten Strafverfahrens gegen einen einer strafbaren Tat Verdächtigten, die ein Element einer von

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Andrzej J. Szwarc diesen Vorschriften erfassten Tat darstellt und aufgrund deren Begehung ein Strafverfolgungsorgan eines anderen EU-Mitgliedstaates ein Verfahren gegen den dieser Tat Verdächtigten führt (Strafverfahren in personam).

2) über die Zuständigkeit eines bestimmten Strafverfolgungsorgans eines EU-Mitgliedstaates, wenn die Zuständigkeitkonkurrenz bezüglich der Führung eines Strafverfahrens gegen einen einer strafbaren Tat Verdächtigten (Strafverfahren in personam) zwischen den Strafverfolgungsorganen zweier oder mehrerer EUMitgliedstaaten auf der Grundlage der in den Abs. 3 und 4 bestimmten Regeln nicht entschieden werden kann. Art. 4. Die Zuständigkeit eines bestimmten Strafverfolgungsorgans eines EU-Mitgliedstaates zur Führung eines Strafverfahrens gegen einen einer strafbaren Tat Verdächtigten (Strafverfahren in personam) kann zwischen den betroffenen EU-Mitgliedstaaten durch Vereinbarung auch anders bestimmt werden. Art. 5. 1. Die Strafkammer des Europäischen Gerichtshofs kann auf Antrag eines betroffenen EU-Mitgliedstaates, des Verdächtigten, des Opfers oder aus eigener Initiative, unter Ausschluss der Regeln in Art. 2–4, aber unter Berücksichtigung der in den inländischen Vorschriften geregelten Zuständigkeit, ein anderes Strafverfolgungsorgan eines EU-Mitgliedstaates als zuständig zur Führung eines Strafverfahrens gegen einen einer strafbaren Tat Verdächtigten (Strafverfahren in personam) bestimmen, soweit besondere Gründe dafür sprechen. 2. Zu den besonderen Gründen sind insbesondere die Schnelligkeit der Durchführung des Verfahrens und die Verfahrensökonomie zu zählen. Art. 6. 1. Ein Strafverfahren gegen einen einer strafbaren Tat Verdächtigten (Strafverfahren in personam) schließt die Möglichkeit der Führung eines anderen Strafverfahrens wegen derselben strafbaren Tat (Strafverfahren in rem) nicht aus. 2. Das Strafverfolgungsorgan eines EU-Mitgliedstaates, welches ein Strafverfahren bezüglich einer strafbaren Tat führt (Strafverfahren in rem) ist verpflichtet, dem Strafverfolgungsorgan eines EU-Mitgliedstaates, welches das Strafverfahren gegen einen derselben Tat Verdächtigten (Strafverfahren in personam) führt, auf seinen Antrag hin die in der Sache gesammelten Materialien zu übergeben. Art. 7. In den Artikeln 1 bis 6 ist unter dem „einer strafbaren Tat Verdächtigten“ eine solche Person zu verstehen, der das Strafverfolgungsorgan bereits die Straftatbegehung vorgeworfen hat.

Autorenverzeichnis Braum, Stefan, Prof. Dr., Université de Luxembourg, Professur für Strafrecht, Campus Limpertsberg 162 A, Av. De la Falencerie, L-1511 Luxembourg e-mail: [email protected] Demenko, Anna, Mag., ul. Polanka 14 a m. 4, PL 61-131 Poznan´ e-mail: [email protected] Długosz, Joanna, Dr., Europa-Universität Viadrina, c/o Lehrstuhl für Strafrecht, insbes. Internationales Strafrecht und Strafrechtsvergleichung, Rechtsphilosophie, Große Scharrnstr. 59, D-15230 Frankfurt (Oder) e-mail: [email protected] Esser, Robert, Prof. Dr., Universität Passau, Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht, Innstr. 40, D-94032 Passau e-mail: [email protected] Formuszewicz, Ryszarda, Mag., Instytut Zachodni, ul. Mostowa 27, PL 61-854 Poznan´ e-mail: [email protected] Górski, Adam, Dr., Uniwersytet Jagiellon´ski, Wydział Prawa i Administracji, ul. Bracka 12, PL 31-007 Kraków e-mail: [email protected] Guzik-Makaruk, Ewa M., Dr., Uniwersytet Białystok, Katedra Prawa Karnego, ul. A. Mickiewicza 1, PL 15-213 Białystok e-mail: [email protected] Hecker, Bernd, Prof. Dr., Justus-Liebig-Universität Gießen, Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht II, Hein-Heckroth-Str. 3, D-35390 Gießen e-mail: [email protected] Hefendehl, Roland, Prof. Dr., Universität Freiburg, Institut für Kriminologie und Wirtschaftsrecht, Erbprinzenstr. 17a, D-79085 Freiburg e-mail: [email protected] Hilgendorf, Eric, Prof. Dr. Dr., Universität Würzburg, Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Informationsrecht und Rechtsinformatik, Domerschulstr. 16, D-97070 Würzburg e-mail: [email protected] Hryniewicz, Elz ˙ bieta, Mag., Uniwersytet Szczecin´ski, Wydział Prawa i Administracji, Katedra Prawa Karnego, ul. Narutowicza 17A/304b, PL 70-240 Szczecin e-mail: [email protected] Joerden, Jan C., Prof. Dr., Europa-Universität Viadrina, Lehrstuhl für Strafrecht, insbes. Internationales Strafrecht und Strafrechtsvergleichung, Rechtsphilosophie, Große Scharrnstr. 59, D-15230 Frankfurt (Oder) e-mail: [email protected]

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Autorenverzeichnis

Małolepszy, Maciej, Dr., Collegium Polonicum, ul. Kos´ciuszki 1, PL 69-100 Słubice e-mail: [email protected] Nalewajko, Paweł, Mag., Sprengelstraße 21, D-13353 Berlin e-mail: [email protected] Paprzycki, Lech K., Dr., Sa |cd Najwyz ˙ szy, Plac Krasin´skich 2/4/6, PL 00-951 Warszawa e-mail: [email protected] Piskorski, Justyn, Dr., Uniwersytet im. Adama Mickiewicza, Wydział Prawa i Administracji, ul. S´w. Marcin 90, PL 61-809 Poznan´ e-mail: [email protected] Renzikowski, Joachim, Prof. Dr., Professur für Strafrecht und Rechtstheorie, Universitätsplatz 6 a, D-06108 Halle (Saale) e-mail: [email protected] Sakowicz, Andrzej, Dr., Assistent, Uniwersytet Białystok, Katedra Prawa Karnego, ul. A. Mickiewicza 1, PL 15-213 Białystok Scheffler, Uwe, Prof. Dr. Dr., Europa-Universität Viadrina, Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Kriminologie, Postfach 1786, D-15207 Frankfurt (Oder) e-mail: [email protected] Schmitz, Roland, Prof. Dr., Universität Bayreuth, Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Nebengebiete, D-95440 Bayreuth e-mail: [email protected] Schünemann, Bernd, Prof. Dr. Dr. h. c., Universität München, Institut für die gesamten Strafrechtswissenschaften, Rechtsphilosophie und Rechtsinformatik, Ludwigstr. 29, 1. Stock, D-80539 München e-mail: [email protected] Szwarc, Andrzej J., Prof. Dr., Uniwersytet im. Adama Mickiewicza, Wydział Prawa i Administracji, ul. S´w. Marcin 90, PL 61-809 Poznan´ e-mail: [email protected]