Moderne und Religion: Kontroversen um Modernität und Säkularisierung [1. Aufl.] 9783839419663

Ist Säkularisierung ein integraler Bestandteil der Moderne? Renommierte Sozial- und Kulturwissenschaftler, Historiker un

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Moderne und Religion: Kontroversen um Modernität und Säkularisierung [1. Aufl.]
 9783839419663

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
TEIL 1: KONTROVERSEN UM DIE MODERNE
Globale Moderne. Skizze eines Konzeptualisierungsversuchs
Aufstieg und Fall der Modernisierungs theorie und des säkularen Bildes ›moderner Gesellschaften‹. Versuch einer Historisierung
Historischer Fortschritt oder leere Progression? Das Fortschreiten der Moderne als kulturelles Versprechen und als struktureller Zwang
Sukzessive Modernen und die Idee des Fortschritts
Verspätung und Modernität: Subalterne Historien, wieder mal
Entangled. Interdisziplinäre Modernen. Eine literaturwissenschaftliche Moderation
TEIL 2: KONTROVERSEN UM MODERNITÄT UND SÄKULARISIERUNG
›Säkularisierung‹ und ›Wiederkehr der Religion‹. Zu zwei Narrativen der europäischen Moderne
Religion in modernen Zeiten. Die Perspektive des Historikers
Religion und Moderne: Theoretische Überlegungen und empirische Beobachtungen
Amerika ist keine Ausnahme
Die neuen religiösen Konstellationen im Rahmen gegenwärtiger Globalisierung und kultureller Transformation
Ethnologie und die Vervielfältigung von Modernität
Die bloße Vernunft
Religion und Normative Moderne
Religion und Moderne bei Jürgen Habermas
Autorinnen und Autoren
Abstracts

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Ulrich Willems, Detlef Pollack, Helene Basu, Thomas Gutmann, Ulrike Spohn (Hg.) Moderne und Religion

Sozialtheorie

Ulrich Willems, Detlef Pollack, Helene Basu, Thomas Gutmann, Ulrike Spohn (Hg.)

Moderne und Religion Kontroversen um Modernität und Säkularisierung

Gedruckt mit Mitteln des Exzellenzclusters »Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und Moderne« an der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster (Deutsche Forschungsgemeinschaft)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Ulrike Spohn, Sonja Hillerich Satz: Alexander Masch, Justine Haida, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1966-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort | 7 Einleitung Detlef Pollack, Ulrike Spohn, Thomas Gutmann, Helene Basu, Ulrich Willems | 9

T EIL 1: K ONTROVERSEN UM DIE M ODERNE Globale Moderne Skizze eines Konzeptualisierungsversuchs Volker H. Schmidt | 27

Aufstieg und Fall der Modernisierungs theorie und des säkularen Bildes ›moderner Gesellschaften‹ Versuch einer Historisierung Wolfgang Knöbl | 75

Historischer Fortschritt oder leere Progression? Das Fortschreiten der Moderne als kulturelles Versprechen und als struktureller Zwang Hartmut Rosa | 117

Sukzessive Modernen und die Idee des Fortschritts Peter Wagner | 143

Verspätung und Modernität: Subalterne Historien, wieder mal Dipesh Chakrabarty | 183

Entangled. Interdisziplinäre Modernen Eine literaturwissenschaftliche Moderation Martina Wagner-Egelhaaf | 203

T EIL 2: K ONTROVERSEN UM M ODERNITÄT UND S ÄKUL ARISIERUNG ›Säkularisierung‹ und ›Wiederkehr der Religion‹ Zu zwei Narrativen der europäischen Moderne Albrecht Koschorke | 237

Religion in modernen Zeiten Die Perspektive des Historikers Christof Dipper | 261

Religion und Moderne: Theoretische Überlegungen und empirische Beobachtungen Detlef Pollack | 293

Amerika ist keine Ausnahme Steve Bruce | 331

Die neuen religiösen Konstellationen im Rahmen gegenwärtiger Globalisierung und kultureller Transformation Shmuel N. Eisenstadt | 355

Ethnologie und die Vervielfältigung von Modernität Helene Basu | 379

Die bloße Vernunft Charles Taylor | 415

Religion und Normative Moderne Thomas Gutmann | 447

Religion und Moderne bei Jürgen Habermas Ulrich Willems | 489

Autorinnen und Autoren | 527 Abstracts | 531

Vorwort

Der vorliegende Band basiert auf der Ringvorlesung und dem Forschungskolloquium »Moderne – Religion – Politik. Konzepte, Befunde und Perspektiven«, die das Exzellenz-Cluster »Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne« an der Universität Münster im Sommersemester 2009 veranstaltet hat. Die HerausgeberInnen haben jedoch über den Kreis der damaligen ReferentInnen hinaus weitere Beiträge eingeworben, um das Spektrum der Kontroversen um die Moderne und die Rolle der Religion in ihr deutlicher herauszustellen. Die Konzeption des Bandes sowie die Beiträge von Mitgliedern des Clusters spiegeln zugleich die inzwischen mehrjährige Beschäftigung mit diesem Themenfeld in zwei Arbeitsgruppen unseres Forschungsverbunds wider. Wir möchten an dieser Stelle zunächst den ReferentInnen der Ringvorlesung danken, die ihre Vorträge für diesen Band ausgearbeitet haben. Zudem gilt unser Dank auch den AutorInnen, die sich auf unsere Anfrage hin an dem Unternehmen beteiligt haben. Dem Vorstand des Exzellenz-Clusters danken wir für die finanzielle Unterstützung von Redaktionsarbeiten und Drucklegung. Matthias Utech, Miriam Streit und Jutta Siepert haben großartige redaktionelle Unterstützung geleistet. Manon Westphal und Nikolaus G. Schneider haben die englischsprachigen Beiträge sorgfältig ins Deutsche übersetzt. Auch dafür bedanken wir uns herzlich. Münster, im August 2012

Helene Basu, Thomas Gutmann, Detlef Pollack, Ulrike Spohn und Ulrich Willems

Einleitung Detlef Pollack, Ulrike Spohn, Thomas Gutmann, Helene Basu, Ulrich Willems

Die Thematik der Moderne ist seit Aufkommen des Begriffs im 19. Jahrhundert immer wieder Gegenstand von Debatten innerhalb verschiedener Disziplinen gewesen – prominent vor allem in der Soziologie, die sich seit ihren Anfängen damit beschäftigt hat, was ›moderne‹ Gesellschaften kennzeichnet und von ›traditionalen‹ Gesellschaften unterscheidet. Den zentralen Bezugspunkt für die aktuellen Kontroversen um die Moderne bilden die in den 1950er und 1960er Jahren des 20. Jahrhunderts in den Sozialwissenschaften ausgearbeiteten und einflussreich gewordenen Modernisierungstheorien amerikanischer Prägung und deren Nachfolgerinnen. Auch wenn durch den cultural turn in den Geschichts- und Sozialwissenschaften, durch die Diskussionen über Poststrukturalismus und Postmoderne, durch den Aufstieg kulturwissenschaftlicher, kulturanthropologischer, postkolonialer, feministischer Perspektiven sich die heutige Diskussionslage von der vor 50 Jahren fundamental unterscheidet, vollziehen die heutigen Debatten noch immer eine Absetzbewegung von dem, was als längst überwunden gilt. Die längst totgesagte Modernisierungstheorie aus der Mitte des 20. Jahrhunderts ist unbestreitbar der heimliche oder offen angesprochene Referenzpunkt der gegenwärtigen Kontroversen um die Moderne. Über die Gründe, warum dies so ist, lässt sich nur spekulieren. Möglicherweise hängt dies mit dem klassischen Erbe der Sozialwissenschaften zusammen, denn die Ansätze der Gründungsväter der Soziologie – Comte, Spencer, Durkheim, Weber – lassen sich problemlos modernisierungstheoretisch lesen und stellen zweifellos den Ursprung der späteren Modernisierungstheorien dar, auf den sich diese auch häufig berufen.

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Ein weiterer Grund für den Rückbezug auf die benannten Versionen der Modernisierungstheorie könnte darin liegen, dass dieser Theoriestrang über längere Zeit in den Sozial- und Geschichtswissenschaften dominierte und sich neuere Ansätze daher noch immer herausgefordert fühlen, sich an diesem scheinbar übermächtigen Gegner abzuarbeiten. Vielleicht wird für die Widerlegung und Zurückweisung modernisierungstheoretischer Argumentationen aber auch deshalb ein besonderer Bedarf gesehen, weil diese in zahlreichen wissenschaftlichen Disziplinen wie etwa in der Volkswirtschaftslehre, der Wirtschafts- und Sozialgeschichte, der Politikwissenschaft sowie auch in Teilen der Soziologie nach wie vor präsent sind und ihre Wahrnehmung der Wirklichkeit maßgeblich prägen. Von dieser Präsenz legt auch der hier vorgelegte Band ein beredtes Zeugnis ab, denn während nicht wenige der hier versammelten Beiträge einen klar modernisierungstheoriekritischen Standpunkt beziehen (Wolfgang Knöbl, Albrecht Koschorke, Martina Wagner-Egelhaaf, Ulrich Willems, Helene Basu), finden sich auch einige, die sich eher einer modernisierungstheoretisch zu verortenden Denktradition zuordnen lassen (Volker H. Schmidt, Hartmut Rosa, Steve Bruce, Detlef Pollack, Thomas Gutmann). Die Kontroverse um die Moderne scheint noch nicht an ihr Ende gekommen zu sein. Wenn nicht alle Anzeichen trügen, gewinnt sie gerade wieder an Fahrt.1 Die Modernisierungstheorien der 1950er, 1960er Jahre gingen davon aus, dass sich in Europa und Nordamerika seit dem späten 18. Jahrhundert ein neuer Gesellschaftstypus konstituiert hat, der zu allen früheren Gesellschaftsformationen einen Bruch darstellt. Die ›moderne‹ Gesellschaft schien sich einerseits von ›traditionalen‹, ›vormodernen‹ und andererseits von außerwestlichen, ›nichtmodernen‹ Gesellschaften zu unterscheiden. 1 | Dies legt ein Blick auf einige jüngere Publikationen nahe. Ein von Thomas Schwinn (2006) herausgegebener Band widmet sich in vergleichender Perspektive explizit der Frage nach der Einheit und Vielfalt der Moderne. Der von Bonacker und Reckwitz (2007) herausgegebene Band Kulturen der Moderne versammelt soziologische Beiträge, die sich der Moderne aus kulturtheoretischer Perspektive nähern. In dem im selben Jahr erschienenen Band Säkularisierung und die Weltreligionen, herausgegeben von Hans Joas und Klaus Wiegandt, befassen sich die AutorInnen mittels unterschiedlicher theoretisch-methodischer Herangehensweisen mit dem Phänomen bzw. dem Begriff der Säkularisierung. Das Verhältnis der Religion zur umstrittenen Moderne ist Gegenstand der Beiträge eines von Michael Reder und Matthias Rugel (2010) herausgegebenen Bandes.

Einleitung

Zu ihren charakteristischen Kennzeichen zählte – nach der bekannten Bestimmung von Marion J. Levy (1952) – die Durchsetzung von leistungsbezogenen, universalistischen und funktional spezifischen Rollenmustern und Werten im Unterschied zu askriptiven, partikularistischen und funktional diffusen Normen, die für traditionale Gesellschaften als bezeichnend angesehen wurden. Aber auch die Ausdifferenzierung und relative Verselbstständigung gesellschaftlicher Handlungssphären wie Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Kunst wurden der modernen Gesellschaft zugeschrieben (Smelser 1959). Der Prozess der Säkularisierung galt als ein weiteres zentrales Charakteristikum der Moderne. Dieser Prozess habe die Anforderungen an die Begründung rechtlicher und moralischer Normen, an die Legitimation politischer Herrschaft sowie an die Bedingungen der Möglichkeit wissenschaftlicher Wahrheit verändert. Über die Möglichkeit der Abgrenzung ›moderner‹ gegenüber ›traditionalen‹ und ›nichtmodernen‹ Gesellschaften bestand ebenso weitgehend Einigkeit (vgl. aber Gusfield mit seiner Kritik an dieser Unterscheidung bereits 1966) wie über die universelle Ausbreitung moderner Institutionen und Ideen. Die Modernisierungstheorien der 1950er und 1960er Jahre gingen davon aus, dass der Typus der modernen Gesellschaft den universalen Fluchtpunkt der Entwicklung aller gegenwärtigen Gesellschaften bildete. Heute wird der Status der Moderne, d.h. die Frage, ob es sich bei ihr um eine universale gesellschaftliche Entwicklungsstufe oder um das kontingente Ergebnis einer partikularen kulturellen Praxis handelt, kontrovers diskutiert. KritikerInnen der Modernisierungstheorien heben insbesondere auf die spezifischen historischen Bedingungen der Entstehung und Ausbreitung moderner Ideen und Institutionen ab (vgl. z.B. Taylor 2009; Casanova 2008; Chakrabarty 2000; Kaviraj 2005). Darüber hinaus haben diese kritischen Stimmen eine Reihe weiterer skeptischer Einwände und Argumente aufgegriffen, um herauszustellen, dass sich die Idee klar abgrenzbarer Gesellschaftstypen und der Möglichkeit der Etikettierung von Gesellschaften als ›modern‹, ›vormodern‹ oder ›nichtmodern‹ nicht halten lässt:

1. Kontinuitäten statt Epochenbruch Die klare Abgrenzbarkeit von Tradition und Moderne wird zunehmend dadurch in Zweifel gezogen, dass Elemente, die bislang als Charakteristika ›moderner‹ Gesellschaften fungierten, auch in ›traditionalen‹ Gesellschaften ›entdeckt‹ werden, wie umgekehrt auch ›traditionale‹ Elemente in ›mo-

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dernen‹ Gesellschaften ausfindig gemacht werden. Die Eindeutigkeit des Übergangs von partikularen zu universalistischen sozialen Mustern, von diffusen Funktionswahrnehmungen zu spezifischen, von Gemeinschaft zu Gesellschaft usw. werden unterlaufen und als in sich widersprüchlich ausgewiesen. Wo man früher einen deutlichen Epochenbruch annahm, richtet sich der Blick heute auf Kontinuitäten, Grenzüberschreitungen, unscharfe Grenzen und Uneindeutigkeiten.

2. Kontingenz statt Determinismus Im Kontrast zu dem Bild klassischer Modernisierungstheorien, in dem sich der Weg in die Moderne als eine lineare Entwicklung und als teleologische Fortschrittsgeschichte darstellt, sehen KritikerInnen hier einen kontingenten Prozess sozialen Wandels, der keineswegs linear verläuft. Nicht Determinismus und Automatismus bestimmen die Herausbildung moderner Gesellschaften, vielmehr ist diese durch Gegenläufigkeiten, Rückschläge, kulturelle Pfadabhängigkeiten und von Akteurskonstellationen abhängige Zufälligkeiten gekennzeichnet, was den Ausgang bzw. weiteren Verlauf der Prozesse des gesellschaftlichen Wandels unvorhersehbar macht.

3. Vielfalt statt Einheit Des Weiteren erscheint heute die Klassifizierung von Gesellschaften als ›modern‹ oder ›vormodern‹ bzw. ›nichtmodern‹ anhand eines Merkmalkatalogs, der ursprünglich an den Erfahrungen westlicher Gesellschaften abgelesen wurde, vielen WissenschaftlerInnen als fragwürdig. Denn die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung in vielen Regionen der Welt sowie die vielfältigen politischen, ökonomischen und kulturellen Verflechtungen und Wechselwirkungen durch Globalisierungsprozesse haben Gesellschaften entstehen lassen, deren Strukturen sich einer Klassifizierung in diesem Sinne widersetzen. Diese Gesellschaften weisen zwar oft mehrere der klassischen Merkmale ›moderner‹ Gesellschaften auf, gleichzeitig unterscheiden sie sich jedoch auch in vielerlei Hinsicht von den ehemals Modell bildenden westlichen Gesellschaften. Wenn Marktwirtschaften entstehen, so ist damit nicht gesagt, dass sich demokratische Beteiligungsformen herausbilden; Urbanisierung zieht nicht zwangsläufig ein höheres Bildungsniveau nach sich; kulturelle Pluralisierung erzwingt nicht automatisch den Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen. Die in den Modernisierungstheorien unterstellte Interdependenz von Entwicklungsschüben in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen wird zunehmend in Frage

Einleitung

gestellt. An die Stelle der Vorstellung von einer einheitlichen Moderne tritt mehr und mehr die Idee der »multiple modernities« (Eisenstadt).

4. Globale Perspektive statt westlicher Blick Eine der größten Herausforderungen für den Moderne-Begriff ergibt sich aus denjenigen Perspektiven, die im Feld der postkolonialen Theorien anzusiedeln sind und die sich dem Begriff aus dem Blickwinkel der lange Zeit als ›nichtmodern‹ klassifizierten Gesellschaften des globalen Südens nähern. Hier wird eine lange Zeit unterbelichtete Dimension des Moderne-Begriffs – die Dimension der Machtwirkungen und Dominanzbestrebungen sowie der Ausbeutung und des Imperialismus – hervorgehoben. Das heißt, Modernisierung wird weniger als ein anonymer Prozess globalen sozialen Wandels begriffen – stattdessen rückt die Akteursdimension in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Die Frage, inwiefern es sich bei der globalen Modernisierung um einen Expansionsprozess handelt, der das Ergebnis eines Zusammentreffens wirtschaftlicher, aber auch (bzw. daraus resultierend) politischer und kultureller Machtressourcen einerseits und (westlichem) Expansions- und Dominanzstreben andererseits darstellt, ist Gegenstand kritischer Analysen. Zugleich werden auch die Wechselwirkungen zwischen westlichen und den als ›nichtmodern‹ klassifizierten Gesellschaften des globalen Südens ebenso wie die vielfältigen Amalgamierungs- und Aneignungsprozesse ›moderner‹ und ›autochthoner‹ Elemente stärker in den Blick genommen.

5. Konstruktivismus statt Essenzialismus Schließlich unterwirft die kritische Reflexion über die Modernisierungstheorien den Essenzialismus dieser Theorien einer skeptischen Analyse. Lag der Fokus in Auseinandersetzungen lange Zeit nur darauf, zu klären, welche Elemente zum ›Kern‹ der Moderne gehören und von welchen dies nicht angenommen werden kann, so wird die Moderne-Problematik heute zunehmend auch auf einer Metaebene diskutiert. Die leitende Frage dabei lautet, inwieweit sich die Moderne als empirischer Gegenstand überhaupt fassen lässt oder ob an die Stelle sich empirisch gebender Analysen nicht die Interpretation von Diskursen über die Moderne und ihre Eigenart zu treten habe. Damit verschiebt sich der Akzent von der Bestimmung der Essenz der Moderne auf die Untersuchung der Modernitätsnarrationen, und es treten die Deutungskämpfe um den Begriff der Moderne ins Blickfeld. Das Erkenntnisinteresse liegt dann nicht mehr in der Identifizierung

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von Kernelementen der Moderne, sondern in der Erfassung und Offenlegung der verschiedenen Versuche, die Definitionshoheit darüber, was als modern zu gelten hat, zu erlangen und dadurch ggf. auch bestimmte politische Positionen zu stärken. Diese fünf Schauplätze bilden zentrale Kristallisationspunkte in den Kontroversen um die Moderne, die im ersten Teil unseres Bandes aufgegriffen werden. Der geäußerten Kritik an den modernisierungstheoretischen Positionen tritt die modernisierungstheoretische Gegenkritik an die Seite, die in unserem Band gleichfalls zur Sprache kommt: Der Kritik an der scharfen Entgegensetzung von Tradition und Moderne setzt sie entgegen, dass kaum eine andere historische Diskontinuität sich durch einen so scharfen Bruch auszeichne wie der Übergang von der Vormoderne zur Moderne. Mit wirtschaftsstatistischen Daten, institutionstheoretischen Argumenten und kulturgeschichtlichen Analysen zeigen die BefürworterInnen der Modernisierungstheorie die epochalen Differenzen zwischen den gesellschaftlichen Verhältnissen im Mittelalter oder der Frühen Neuzeit und dem 19. Jahrhundert auf (Berger 2006: 201; Maddison 2007: 382) (1.). Den Vorwurf des Determinismus und der Teleologie parieren sie durch den Hinweis, dass eine deterministische oder teleologische Geschichtsauffassung von keinem/r neueren ModernisierungstheoretikerIn vertreten werde. Die Modernisierungstheorie rechne nicht mit unabänderlichen Notwendigkeitsverläufen, sondern mit Wahrscheinlichkeitsabläufen (Norris/Inglehart 2004: 16) (2.). Auf die These von der Vielfalt der Moderne wiederum reagieren die VerfechterInnen der Modernisierungstheorie durch die Gegenfrage, ob sich in den letzten Jahrzehnten eher eine Divergenz in den politischen, wirtschaftlichen, technischen, rechtlichen und sozialen Entwicklungen zwischen reicheren und ärmeren Ländern beobachten lasse oder eher eine Konvergenz. Kommt es weltweit, so fragen sie, nicht zu Aufholprozessen, und ist es für diese Aufholprozesse nicht charakteristisch, dass dort, wo sich das Bruttoinlandsprodukt erhöht, auch das Bildungsniveau ansteigt und mit dem Bildungsniveau die Wahrscheinlichkeit der Herausbildung partizipativer demokratischer Strukturen wächst (Diamond 1992; Barro 1996: 23; Berger 2006: 211ff.)? Und erklären sich die erstaunlichen und weiter zunehmenden weltweiten Homologien in Bezug auf Institutionen und Handlungsmuster nicht durch die erfolgreiche Durchsetzung von »weltkulturell« vermittelten Standards, Realitäts- und Wertdefinitionen, die Anleitungen zur Modernisierung global verbreiten

Einleitung

(Meyer 2009) (3.)? Ebenso weisen sie auch die postkoloniale, macht- und imperialismuskritische Perspektive zurück. Für das wirtschaftliche Wachstum Europas sei nicht der Kolonialismus verantwortlich zu machen; vielmehr habe der Aufstieg Europas – man denke nur an den Aufschwung der Wissenschaften, der Städte, der Messeplätze, der Universitäten – lange vor dem Kolonialismus stattgefunden und der innereuropäische Handel selbst in der Zeit des Kolonialismus das Gewicht des Fernhandels mit Indien, China oder Afrika stets deutlich überschritten (Wagener 2008: 9; Mokyr 2005: 1135; Maddison 2001: 77). Nicht auf externe Ursachen, sondern auf endogene Faktoren sei die Entwicklungsdynamik der westlichen Moderne zurückzuführen. Darüber hinaus rechnet die Modernisierungstheorie damit, dass der Westen gerade wegen dieser Dynamik in der heraufziehenden polyzentrischen Moderne seine Schlüsselposition als Referenzmodell der Modernisierung verlieren und zu einem von mehreren globalen Akteuren herabgestuft werden wird (Schmidt 2009). (4.). Und was schließlich die Überführung der empirischen Analyse von Formationen der Moderne in eine Interpretation der Diskurse über die Moderne angeht, so nehmen die meisten Modernisierungstheoretiker-Innen eine empiristische Haltung ein und vertrauen auf die Möglichkeit, theoretische Annahmen durch die Benutzung empirischer Methoden zu überprüfen (5.). Die Positionen in dieser Debatte stehen sich nach wie vor teilweise unversöhnlich gegenüber. Von der Intensität der Debatte zeugt auch der Umstand, dass die Parteien davon überzeugt sind, die andere Position habe gegenwärtig die Diskurshoheit inne. Die aufgezeigten Kontroverspunkte wiederholen sich bei der Frage nach der Rolle der Religion in modernen Gesellschaften, die den zweiten Schwerpunkt unseres Bandes bildet. Auch hier wird den säkularisierungsund modernisierungstheoretischen Annahmen nicht selten scharf widersprochen. Und auch hier stehen die Positionen einander teilweise unvermittelt gegenüber: 1. Die Frage nach dem Verhältnis von Tradition und Moderne übersetzt sich in der säkularisierungstheoretischen Diskussion in die Frage danach, inwieweit es berechtigt ist, die Moderne als eine Epoche des religiösen Zerfalls anzusprechen und dem modernen Niedergang des Religiösen eine vormoderne Zeit der religiösen Einheitskultur entgegenzusetzen. Beobachten wir nicht gerade eine Wiederkehr des Religiösen, eine Desäkularisation, eine Entprivatisierung der Religion?

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Dies ist die Auffassung von Soziologen und Historikern wie José Casanova (1994), Staf Hellemans (2010), Ulrich Beck (2008) und Friedrich Wilhelm Graf (2004). Andere widersprechen und bestreiten die Renaissance des Religiösen. Wiedergekehrt sei nur die öffentliche Präsenz der Religion, das Bewusstsein ihrer gesellschaftsgestaltenden und identitätsstiftenden Kraft sowie ihrer politischen Konflikthaftigkeit; auf der Ebene der religiösen Überzeugungen und Praktiken lasse sich von einer Wiederkehr der Religion nicht sprechen (Bruce 2011; Norris/Inglehart 2004). Doch nicht nur die Deutung der religiösen Lage in der Gegenwart ist umstritten, auch wenn es um die Interpretation des religiösen Charakters vormoderner Epochen geht, prallen die Meinungen hart aufeinander. Kann die religiöse Kultur des Mittelalters als corpus christianum charakterisiert werden oder ist die Vorstellung von der religiösen Einheitskultur des Mittelalters, vom ›Golden Age of Faith‹ nicht ein Mythos, der einer genaueren Überprüfung nicht standzuhalten vermag (Stark/Finke 2000)? So wie die Diskussion in den Geistes- und Sozialwissenschaften im Allgemeinen kontrovers verläuft, so besteht auch unter den in diesem Band versammelten AutorInnen keine Einigkeit. Autoren wie Steve Bruce, Hartmut Rosa oder Detlef Pollack neigen der Säkularisierungsthese zu, Wolfgang Knöbl, Ulrich Willems oder Albrecht Koschorke hingegen widersprechen. 2. Ebenso treffen die unterschiedlichen Positionen auch im Hinblick auf den Notwendigkeitscharakter der unterstellten religiösen Wandlungsprozesse aufeinander. Die KritikerInnen der Säkularisierungstheorie werfen ihren VertreterInnen eine teleologische, deterministische und einlinige Vorstellung von diesen Prozessen vor (Joas 2007). Die SäkularisierungstheoretikerInnen können sich jedoch in diesen Aussagen nicht wiedererkennen: »Nothing in the social world is irreversible or inevitable«, sagen zwei von ihnen (Wallis/Bruce 1992: 27). Statt deterministische Aussagen zu treffen, wollten sie Wahrscheinlichkeitsbehauptungen aufstellen. Während die einen vor allem darauf abstellen, die Kontingenz der religiösen Wandlungsprozesse herauszustellen (Knöbl 2007), kommt es den anderen darauf an, nach Regelmäßigkeiten, Mustern und Zusammenhängen zu suchen. 3. Den zentralen Punkt der Kontroverse bildet die Frage danach, ob es einen unauflöslichen Zusammenhang zwischen Modernisierung und Säkularisierung gibt. Die empirischen Beispiele, die angeführt werden, um einen solchen Zusammenhang zu bestreiten, betreffen einmal die

Einleitung

USA, in denen ein hohes Modernisierungsniveau mit einer ausgeprägten religiösen Vitalität Hand in Hand gehe, zum andern aber auch Entwicklungs- und Schwellenländer in Lateinamerika und Asien sowie die postkommunistischen Staaten Osteuropas, in denen sich Prozesse einer nachholenden Modernisierung vollzögen und zugleich ein überdurchschnittliches religiöses Wachstum anzutreffen sei (Casanova 2001: 13790; Greeley 2003: 93f.; Tomka 2001: 16; Tomka 2004: 56). Demgegenüber versuchen die VertreterInnen der Säkularisierungstheorie die vorgebrachten Fälle als Ausnahmen zu behandeln und unter Aufrechterhaltung säkularisierungstheoretischer Annahmen zu erklären (Bruce 2002, sowie in diesem Band). Jedenfalls für die normative Dimension der Moderne, insbesondere für die Entwicklung des Rechts und der sie begleitenden theoretischen Konzepte der Normenbegründung, wird ganz überwiegend eine eindeutige Tendenz zur Säkularisierung ausgemacht (Siep u.a. 2012). Die »moderne Rechtskultur« (Friedman 1994) ist eine säkulare. Ihrem Anspruch nach tragen die »säkular ›freistehenden‹ Legitimationsgrundlagen von Politik und Recht« (Habermas 2009: 404) den auf ihnen errichteten Bau selbstständig und bieten mit dem Prinzip der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Rechtsstaats eine nicht ersetzbare Bedingung der Integration pluralistisch verfasster Gesellschaften (Rawls 1999). Thomas Gutmann sieht in dieser Säkularisierungsdynamik des normativen ›Projekts‹ der Moderne, die er insbesondere in den Prinzipien eines menschenrechtlichen Egalitarismus verortet, einen gerichteten Prozess. Gleichwohl ist die spezifische Ausgestaltung des Verhältnisses von Religion und Politik derzeit erneut zum Gegenstand normativer Debatten in der Öffentlichkeit sowie in der Politischen Philosophie und der Politischen Theorie avanciert. Dabei geht es zum einen um die Frage, welche Rolle religiösen AkteurInnen und religiösen Argumenten in der Politik gegenwärtiger liberal-demokratischer Staaten zukommen soll (vgl. u.a. Audi 2000, Rawls 1999, Habermas 2005 sowie die kritischen Beiträge von Quinn und Wolterstorff in Weithman 1997). Zum anderen wird erneut darum gerungen, ob die lange unumstrittenen normativen Prinzipien des ›Säkularismus‹, die mehr oder weniger strikte Trennung von Religion und Politik sowie die Verweisung der Religion in den Bereich des Privaten, nach wie vor angemessene Antworten auch auf die Situation einer gewachsenen religiösen, kulturellen und weltanschaulichen Pluralität bilden oder der Revision oder doch zumindest Neuinterpretation

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bedürfen (vgl. Levey/Modood 2009, Cady/Hurd 2010, Mendieta/Van Antwerpen 2011 sowie jüngst die Themenhefte The Hedgehog Review 12 (3), 2010 bzw. Transit 39, 2010). 4. Inwieweit eine machttheoretische Perspektive angebracht ist, um religiösen Wandel in modernen Gesellschaften zu erfassen, ist gleichfalls umstritten. SäkularisierungstheoretikerInnen klammern Prozesse einer erzwungenen Säkularisierung aus ihren Analysen zumeist aus. Sie seien nicht auf Prozesse der gesellschaftlichen Modernisierung zurückzuführen (Krech 2011: 127). Sozialwissenschaftler und Historiker wie Christian Smith (2003) und Hugh McLeod (2000) begreifen Säkularisierung hingegen weniger als Folge struktureller Wandlungsprozesse der Gesellschaft denn als Ergebnis des Handelns spezifischer Akteursgruppen. Sie setzen damit einer differenzierungstheoretischen Perspektive, die in makrosoziologischer Orientierung langfristige sozialstrukturelle Entwicklungslinien rekonstruiert, eine akteurstheoretische Perspektive entgegen. Religion, Politik, Recht und Kultur werden dabei als potenziell offene soziale Felder interpretiert, deren dynamische Grenzen zwischen konkreten AkteurInnen ausgehandelt werden. Insbesondere der osteuropäische Fall bietet sich für eine derartige Perspektive an (Wohlrab-Sahr u.a. 2009). 5. Die Frage nach dem konstruktivistischen Charakter des Säkularisierungstheorems schließlich nimmt ebenfalls einen zentralen Platz in den religionssoziologischen und religionsgeschichtlichen Debatten ein. Während Inglehart, Bruce und Dobbelaere am empirischen Gehalt dieses Theorems festhalten, dekonstruieren es andere, indem sie nach den kulturellen und sozialgeschichtlichen Umständen und nach den ideenpolitischen Interessen fragen, die hinter seiner Herausbildung stehen. Ob sie das Säkularisierungstheorem wie etwa Callum Brown (2003: 39f.) als ein aus der Aufklärung hervorgegangenes eurozentrisches »concept of modernity« ansehen oder wie Manuel Borutta (2005: 16; 2010: 347) als ein Element europäisch-westlicher Identität, das in einer bestimmten historischen Situation – den Kulturkämpfen des 19. Jahrhunderts – entstanden sei, oder wie Hans G. Kippenberg (2007: 50) als eine These, die »sich spezifischen Umständen der sechziger Jahre verdankt« – in jedem Fall gehen die Autoren davon aus, dass es nicht mehr als Explanans herangezogen werden könne und allenfalls noch als ein Moment der Selbstauslegung des Westens von Interesse ist.

Einleitung

Die Beiträge in dem vorliegenden Sammelband stellen diese grundlegenden Positionen in den gegenwärtigen Kontroversen um die Moderne vor, versuchen, zur Klärung offener Fragen beizutragen, und wollen die Diskussion über den erreichten Stand hinausführen. Dabei ist es ein Spezifikum dieses Bandes, die angerissenen Fragen nicht aus der Perspektive einer einzelnen Disziplin zu verhandeln, sondern interdisziplinär anzugehen. Die AutorInnen dieses Bandes vertreten Disziplinen wie Soziologie, Politikwissenschaft, Kulturwissenschaft, Ethnologie, Philosophie, Rechtswissenschaft, Geschichtswissenschaft und Literaturwissenschaft. Längst verlaufen die intellektuellen Fronten in den Kontroversen um die Moderne und die Rolle der Religion in modernen Gesellschaften innerhalb der Disziplinen und quer zu den disziplinären Grenzen. Dies zeigt sich bereits an der fächerübergreifenden Konkurrenz zwischen makro- und mikrotheoretischen Ansätzen und ist durch den cultural turn, der eine Polarisierung zwischen empirischen und konstruktivistischen Ansätzen in vielen Disziplinen bewirkt hat, noch deutlicher geworden (vgl. hierzu den Beitrag von Martina Wagner-Egelhaaf in diesem Band). Die theoretisch-methodischen Kontroversen konfigurieren oft auch die Art und Weise der inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Prozess der Säkularisierung und der Rolle der Religion in modernen Gesellschaften. Häufig fördern makrotheoretische gegenüber mikroanalytischen und konstruktivistische gegenüber empirischen Zugängen diesbezüglich sehr unterschiedliche Erkenntnisse zutage. Genau an einer solchen Differenz der Positionen, Argumente und Beobachtungen ist unser Band interessiert. Er möchte die Umstrittenheit der verhandelten Sachverhalte abbilden, selbst einen Beitrag zu den Kontroversen um die Moderne leisten, sich selbst aber nicht auf einen Standpunkt festlegen. Dabei spielt er die Debatten um die analytische Tragfähigkeit des Modernebegriffs anhand eines besonders intensiv diskutierten Kontroversthemas noch einmal gesondert durch: anhand des umstrittenen Verhältnisses von Religion und Moderne. Schließlich kommt es ihm darauf an, die angerissenen Themen und Fragestellungen aus dem Blickwinkel unterschiedlicher Disziplinen zu beleuchten, die mit verschiedenartigen Methodologien arbeiten, unterschiedliche Begrifflichkeiten benutzen und deren Perspektiven nicht zum Ausgleich gebracht werden können. Auch insofern verweigert sich der Band einem letzten Wort in der Debatte.

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Detlef Pollack, Ulrike Spohn, Thomas Gutmann, Helene Basu, Ulrich Willems

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Einleitung

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Teil 1 Kontroversen um die Moderne

Globale Moderne Skizze eines Konzeptualisierungsversuchs Volker H. Schmidt

1. E INLEITUNG Der Begriff der Moderne wird sehr unterschiedlich verwendet. In der klassischen Soziologie steht er für eine der großen Stufen oder Stadien gesellschaftlicher Entwicklung, die sich im Verlauf der bisherigen Menschheitsgeschichte herausgebildet haben. Schon in sehr frühen, bis ins Mittelalter zurückreichenden Verwendungen (zur Begriffsgeschichte vgl. Gumbrecht 1978) symbolisierte er das Neue, das, was ein je Gegenwärtiges mal positiv, mal negativ von der Vergangenheit abhob, sich aber noch nicht klar bestimmen ließ, weil sich zwar schon abzeichnete, dass die vertrauten Verhältnisse in Fluss geraten waren, aber einstweilen niemand sagen konnte, was an ihre Stelle treten würde. Insofern war der Begriff ein Verlegenheitsbegriff, und in gewisser Weise ist er das bis heute geblieben, weil er, zumindest im Alltagsgebrauch, immer noch das je Neue, Aktuelle, Kommende bezeichnet, das ein Vorangehendes ablöst, auch wenn das dadurch obsolet Gewordene bis vor Kurzem noch als Inbegriff von Modernität gegolten hatte. Die Geschwindigkeit, mit der Gegenwärtiges in Vergangenes überführt wird, hat sich seit dem Beginn der Neuzeit stark beschleunigt; die Dynamik eines rastlosen, sich selbst antreibenden Wandels ist dieselbe. Diese Beobachtung legt es nahe, den Begriff relativ allgemein zu fassen und auf einer hohen Abstraktionsstufe anzusiedeln. Modernität ist dann kein wie immer definierter Zustand, der sich ein für alle Mal erreichen lässt, sondern eine Art moving target, ein bewegliches Ziel, das Gegenwärtiges für eine laufend neu bestimmte Zukunft öffnet und zu darauf be-

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zogenem Wandel drängt.1 Das schließt ein teleologisches Begriffsverständnis aus, nicht jedoch die Möglichkeit gerichteter Wandlungsprozesse, die trotz Kontingenz aller singulären Ereignisse bestimmte Entwicklungen wahrscheinlicher machen als andere. Ebenso wenig schließt es die (Ko-) Existenz unterschiedlicher Grade der Modernität aus, die gegebene soziale Entitäten auf unterschiedlichen Stufen jenes Wandlungskontinuums verorten, das die Moderne bei dieser allgemeinen Begriffsbestimmung im Kern ausmacht. Im Fluss des Modernisierungsgeschehens gibt es nämlich stets Vorreiter, die mit den von ihnen ausgelösten Innovationen Vorgaben für Etappenziele machen, zu denen die Nachzügler aufschließen müssen, wenn sie nicht zu sehr ins Hintertreffen geraten wollen. Die Aufteilung des sozialen Universums in Vorreiter und Nachzügler ist ein permanentes Merkmal von Modernität; die Platzierung einer bestimmten Einheit (einer Region, eines Landes, einer Organisation usw.) in der einen oder anderen Kategorie ist es nicht.2 Die Geschichte der Moderne kennt viele Beispiele von ›latecomers‹, die an einstigen Vorreitern vorbeiziehen, um dann ihrerseits die Standards zu setzen, an denen andere sich hinfort orientieren (müssen). Die Rede von globaler Moderne signalisiert, dass Modernität kein regional beschränktes Phänomen ist, sondern weltumspannenden Charakter hat. Die Betonung ihrer Globalität macht freilich nur Sinn, wenn sie sich nicht von selbst versteht. Das tut sie in der Tat nicht, denn die Heraufkunft der globalen Moderne ist, so die auch von anderen vertrete1 | Bereits Schiller (2001: 438) bezeichnet das den Menschen durch Modernität auferlegte Entwicklungsziel als ein »unendliches Ideal«, das »niemals erreicht« wird, aber genau damit dauernden Wandel in Richtung einer ungewissen Zukunft stimuliert. 2 | Wenn man, wie in den Sozialwissenschaften weithin üblich, auf Nationalstaaten als Bezugsgrößen gesellschaftlicher Modernität abstellt, wird man realistischerweise davon ausgehen müssen, dass kein Land jemals in allen Dimensionen des Modernisierungsprozesses die Pionierrolle innehat(te). Außerdem sind Entwicklungsunterschiede innerhalb von Ländern zu berücksichtigen; nicht alle Landesteile haben denselben Anteil an einer Pionierrolle. Vielmehr werden Teile des betreffenden Landes hinter weiterentwickelten Landesteilen anderer Länder zurückbleiben, denen in der Gesamtschau ein geringerer Modernisierungsstand bescheinigt wird. Stellt man von Ländern auf andere Untersuchungseinheiten (etwa: Organisationen) um, leuchtet die genannte Behauptung ohnehin unmittelbar sein.

Globale Moderne. Skizze eines Konzeptualisierungsversuchs

ne These, relativ rezenten Datums (vgl. z.B. Dirlik 2003). Sie ist zugleich ein Novum von welthistorischer Bedeutung, das intellektuell noch kaum verarbeitet ist. Das Konzept der globalen Moderne zielt darauf ab, einen analytischen Bezugsrahmen zu entwickeln und bereitzustellen, der es erlaubt, diese Bedeutung zu erfassen, indem es eine Vielzahl von in der Globalisierungsliteratur meist separat behandelten Prozessen bündelt und in ihren Wechselwirkungen erkennbar macht, die schon für sich genommen bemerkenswert sind, in der Summe jedoch dramatische Konsequenzen haben. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf Herausforderungen, vor welche die Sozialwissenschaften, speziell die Soziologie, sich durch die globale Ausbreitung moderner Arrangements gestellt sehen. Zur Herleitung der Problematik beginnen sie mit einer Periodisierung von Phasen der Modernität. Periodisierungen sind stets nachträgliche Konstrukte, die dem Erkenntnisinteresse folgen, unter dem ein geschichtlicher Prozess analysiert wird. Sie dienen also nicht der exakten Wiedergabe des betreffenden Geschehens, sondern der Betonung bestimmter Aspekte. Andere Periodisierungen sind möglich und je nach Bezugsproblem auch berechtigt. Die hier gewählte Periodisierung stellt auf die erwähnten Herausforderungen ab, die freilich nicht erschöpfend behandelt werden können. Im Zentrum des Interesses steht die Bestimmung eines auf der Höhe der Zeit befindlichen Modernitätsbegriffs. Dem vorangestellt sind einige äußerst knapp gehaltene Bemerkungen zu den genannten Phasen der Modernität (Abschnitt 2) sowie zu epistemologischen bzw. methodologischen Konsequenzen der Heraufkunft globaler Modernität (Abschnitt 3). Der Hauptteil des Aufsatzes (Abschnitt 4) ist in fünf Teilabschnitte untergliedert, die unterschiedliche Dimensionen von Modernität beleuchten. Der Schluss nimmt den am Ende des dritten Abschnitts liegen gelassenen Faden noch einmal auf und verknüpft zeitdiagnostische Fragen mit epistemologischen Fragen zu erwartbaren semantischen Verschiebungen im Verständnis von Modernität (Abschnitt 5).

2. P HASEN DER M ODERNITÄT Drei Phasen der Modernität werden hier unterschieden: die Phasen der eurozentrischen Moderne, der westzentrischen Moderne und der polyzentrischen Moderne. Das Modernisierungsgeschehen nimmt von Phase zu

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Phase an Intensität und Extensität zu, erfasst bei wachsender Geschwindigkeit immer breitere Bevölkerungskreise mit zunehmender Durchdringungstiefe. Die eurozentrische Moderne bildet die erste Phase. Allen Relativierungen zum Trotz, die das neuere Schrifttum zur Globalgeschichte an der These der Einzigartigkeit der europäischen Moderne vornimmt, darf als gesichert gelten, dass der Durchbruch zur Moderne in Europa erfolgte, von wo aus sie sich nach und nach über den ganzen Erdball ausbreitete. Keine Einigung besteht über den Beginn der Moderne. Hier gibt es, grob gesagt, zwei Positionen. Die eine lässt die Moderne im späten 15. bzw. frühen 16. Jahrhundert beginnen: mit der Renaissance, der protestantischen Reformation und den sogenannten Entdeckungsreisen der Portugiesen und Spanier. Die folgenden, oft auch als Frühmoderne bezeichneten drei Jahrhunderte legen gewissermaßen die Fundamente für die politischen und industriellen Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts, die nach der zweiten Sicht den eigentlichen Beginn der Moderne markieren und die Lebensbedingungen der Menschen in nie gekannter Weise umwälzen. Unabhängig davon, welcher der beiden – unterschiedlich akzentuierenden, aber nicht inkompatiblen – Sichtweisen man zuneigt, handelt es sich bei dem, was sich in dieser Phase an modernen Arrangements herauskristallisiert, im Wesentlichen um europäische Phänomene. Über Prozesse der Kolonialisierung und der Besiedelung kommen auch andere Kontinente und Kulturkreise mit Aspekten von Modernität in Berührung, aber Europa bildet das unangefochtene Zentrum der Moderne (Tiryakian 1985), ist Agent und Impulsgeber für lange Zeit auch weitgehend auf den eigenen Kontinent beschränkte Modernisierungsprozesse – kurzum: ist praktisch die Moderne (Mignolo 2000: 207), denn andernorts gibt es das damit Gemeinte noch nicht oder allenfalls in rudimentären Ausprägungen.3 Am Ende dieser Phase, etwa gegen 1900, dominiert Europa den gesamten Globus, steht Großbritannien an der Spitze des größten, weltumspannends3 | Dieser Befund gilt jedenfalls bei Fassung des Modernebegriffs als Epochenbegriff, wie das hier geschieht. Viele Phänomene, die mit (aus heutiger Sicht) frühen Formen von Modernität assoziiert werden, waren auch in anderen Weltgegenden verbreitet, bis ins 19. Jahrhundert hinein zum Teil auf höherem Entwicklungsniveau als in Europa. Die Modernisierungsbewegung, die die ganze Welt mit modernen Arrangements überzieht, hat gleichwohl ihren Ausgangspunkt in Europa.

Globale Moderne. Skizze eines Konzeptualisierungsversuchs

ten Imperiums aller Zeiten, und ist der Rest der Welt zur europäischen Peripherie geschrumpft: wirtschaftlich, politisch, militärisch, kulturell (Darwin 2007). In der zweiten, als westzentrische Moderne bezeichneten Phase verliert Europa sein Monopol auf die Moderne und geht die europäische in der westlichen Moderne auf, in der nun freilich die USA den Ton angeben. Seit den 1870er Jahren beginnen die aus ehemaligen europäischen Kolonien hervorgegangenen Vereinigten Staaten von Amerika die größten und am weitesten entwickelten Länder Europas wirtschaftlich zu überflügeln. Der Lebensstandard ist höher, und als erstes Land überhaupt bilden sie einen bescheidenen Massenwohlstand aus, der sich im Fordismus niederschlägt und durch diesen weiter befördert wird. Nach dem Ersten Weltkrieg beginnen sie sich auch politisch als Weltmacht zu positionieren, und der Zweite Weltkrieg besiegelt endgültig ihren Aufstieg zur Führungsmacht des Westens. Die Institutionen der im Anschluss daran errichteten Weltordnung tragen maßgeblich ihre Handschrift, und wenngleich der Kalte Krieg und die Systemkonkurrenz mit der Sowjetunion das lange Zeit überdecken, avancieren die USA in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wenigstens kurzfristig, zu dem Leitbild von Modernität schlechthin. Sie bilden das Zentrum der Weltwirtschaft, ihre führenden Unternehmen, Universitäten, Forschungseinrichtungen usw. setzen global die Standards, ihre Massenmedien propagieren amerikanisches bzw. westliches Ideengut als universell gültige, weltweit verbindliche Wertmaximen, und ihre Flotten durchkreuzen alle Weltmeere. Den unzähligen aus kolonialer Herrschaft entlassenen staatlichen Neugründungen empfehlen sie sich unumwunden als Modell zur Nachahmung, und da Amerikanisierung vielerorts negative Beiklänge hat, zieht die wissenschaftliche Begleitforschung es vor, von »Modernisierung« zu sprechen (Lerner 1958). Der Beginn der dritten, mit dem Begriff der polyzentrischen Moderne belegten Phase lässt sich grob auf das Millennium terminieren – plus/ minus etwa 20 Jahre. Ihre Ursprünge reichen bis in die Anfänge der Entkolonialisierung, in gewisser Weise sogar bis in die 1870er Jahre zurück, als Japan sich auf einen Modernisierungspfad begibt, der es vor dem Kolonialisierungsschicksal seiner Nachbarn bewahrt, später selbst zur Kolonialmacht aufsteigen lässt, vor allem aber demonstriert: Die Moderne ist kein Prärogativ des Westens, auch andere können den Sprung in die Moderne schaffen. Der eigentliche Wendepunkt liegt gleichwohl später, koinzidiert mit dem Zusammenbruch der Kolonialreiche nach dem Zweiten

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Weltkrieg. Der Wandel, der nun seinen Lauf zu nehmen beginnt, erscheint manchen Beobachtern im Rückblick als so gewaltig, dass er alles bisher Dagewesene in den Schatten stellt. Eric Hobsbawm beispielsweise spricht von »the greatest and most dramatic, rapid and universal transformation in human history […]. For 80 per cent of humanity the Middle Ages ended suddenly« (1994: 288). Hobsbawm rekurriert auf das rasche Absterben des Bauerntums, auf Prozesse der Landflucht und Urbanisierung, der Industrialisierung und Postindustrialisierung, der Bildungsexpansion, der Frauenemanzipation, der Entstehung von Jugendkultur usw. Seine Betrachtung erstreckt sich auf die ganze Welt, besonders aber auf die nichtwestliche Welt, die gewissermaßen mit einem Schlag in die Moderne katapultiert wird. An der Wende zum neuen Jahrtausend ist dieser Prozess so weit vorangeschritten, dass moderne Arrangements erstmals die Lebensverhältnisse der Mehrheit der Weltbevölkerung bestimmen (Schmidt 2007). Der Ausdruck polyzentrische Moderne will darauf aufmerksam machen, dass das damit anbrechende Zeitalter der globalen Moderne auch Änderungen in den Beziehungen der Weltregionen nach sich zieht. Darauf wird am Ende dieses Aufsatzes kurz zurückzukommen sein. Zuvor gilt es jedoch, die aus der veränderten welthistorischen Konstellation erwachsenden epistemologischen bzw. methodologischen Konsequenzen zu skizzieren.

3. E PISTEMOLOGISCHE UND ME THODOLOGISCHE K ONSEQUENZEN Die Soziologie ist bekanntlich aus dem Bemühen hervorgegangen, den Übergang zur modernen Gesellschaft und die damit verbundenen sozialen Verwerfungen analytisch zu durchdringen, zu beschreiben und zu erklären. Ihren Gegenstand fand sie dort vor, wo die Autoren, die sich damit befassten und die die intellektuellen Grundlagen des Fachs schufen, zuhause waren, nämlich in Westeuropa und später auch in Nordamerika. Insofern überrascht es nicht, dass ihre Begriffsschöpfungen, Hypothesen und Theorien überwiegend westliche Erfahrungen und Befindlichkeiten widerspiegeln, Abstraktionen sind, die an europäischem und nordamerikanischem Fallmaterial gewonnen wurden. Auch dass sie das darin Verarbeitete kurzerhand zu Merkmalen ›der‹ Moderne verabsolutiert haben, wird man ihnen kaum vorhalten können. Die klassische Soziologie der

Globale Moderne. Skizze eines Konzeptualisierungsversuchs

Moderne war eine Soziologie des Westens und konnte auch nichts anderes sein, weil die außerwestliche Welt die Transition zur Moderne weithin noch vor sich hatte, mithin nur wenig Anschauungsmaterial für Analysen von Modernität bot. Die heutige Situation ist eine andere. Mit dem globalen Durchbruch moderner Verhältnisse reicht das Studium des Westens nicht mehr aus, um empirisch gehaltvolles, verallgemeinerungsfähiges Wissen über ›die‹ Moderne zu generieren. Wer jetzt noch generalisiert, was auf womöglich kontextuell spezifische Bedingungsfaktoren zurückzuführen ist, droht provinziell zu werden. Das ist der berechtigte Kern der Kritik am Westbzw. Eurozentrismus von Teilen der einschlägigen Theoriebildung: Europa und Nordamerika lassen sich nicht länger als Synonyme für Modernität behandeln, denn mit der Heraufkunft der globalen Moderne wird die Identifikation ›der‹ Moderne mit ›dem‹ Westen hinfällig. Die Soziologie der Moderne muss, der Entwicklungsrichtung ihres Gegenstands folgend, selbst global werden. Für ein an Prämissen des methodologischen Nationalismus geschultes Denken, das dazu disponiert, sich auf innerhalb der ›eigenen‹ Landesgrenzen stattfindendes Sozialgeschehen zu konzentrieren, ist die Entwicklung einer globalen Soziologie kein leichtes Unterfangen. Dass neun von zehn sozialwissenschaftlichen Publikationen aus Ländern des Westens stammen,4 macht es nicht einfacher, weil das, in Verbindung mit der durch den methodologischen Nationalismus beförderten Verengung des Beobachtungshorizonts, den Eindruck erweckt und laufend bestärkt, sozialwissenschaftlich relevantes Geschehen spiele sich primär im Westen ab. Auch davon kann heute keine Rede mehr sein. Solange das Zentrum der Moderne im Westen lag, gingen die Impulse für den sozialen Wandel vorwiegend vom Westen aus. Auch Nachzügler konnten sich daher berechtigterweise auf die Speerspitzen der Entwicklung im Westen konzentrieren, um sich, mit Marx (1979: 12) zu sprechen, ein Bild von der eigenen Zukunft zu machen. Mit der Herausbildung multipler Zentren 4 | So Drori u.a. (2003: 199) für die 1980er Jahre. Seither haben sich zwar in den naturwissenschaftlichen Disziplinen die Gewichtsverhältnisse zu Lasten des (gleichwohl dominant bleibenden) Westens verschoben (vgl. nur Unesco 2010), und es ist möglich, dass andere Weltregionen, insbesondere Asien, ihren Anteil auch an der Produktion des sozialwissenschaftlichen Wissensfundus erhöht haben, aber eine echte Trendwende zeichnet sich hier bislang nicht ab.

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ohne eindeutige Rangordnung vervielfältigt sich die Zahl der Akteure und Orte, die Einfluss auf das Sozialgeschehen nehmen. Die globale Moderne ändert nicht nur die neu in die Moderne Eintretenden, sie ändert auch die Umwelt aller anderen. Was in dieser Situation methodisch gefordert ist, lässt sich am besten als methodologischer Globalismus bezeichnen. Ulrich Beck und andere propagieren seit geraumer Zeit einen methodologischen ›Kosmopolitismus‹ (vgl. zuletzt Beck/Grande 2010). Die dahinter stehende Idee speist sich aus ähnlichen Motiven und weist auch in dieselbe Richtung, leidet aber an der normativen Aufladung des Begriffs. Methodologischer Globalismus wird aus den genannten Gründen nämlich auch für diejenigen zu einem Gebot der Stunde, die den normativen Zumutungen des Kosmopolitismus skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen; selbst eingefleischte (methodologische) Nationalisten werden es sich künftig nicht mehr leisten können, Introspektion als den Normalfall sozialwissenschaftlicher Analyse zu behandeln und den Rest der Welt auszublenden. Der methodologische Globalismus wendet sich nicht gegen Untersuchungen mit national- oder regionalspezifischen Problembezügen. Gelingt die systematische Einübung eines globalen Blicks auf die soziale Wirklichkeit, dann wird man allerdings verstärkt dazu kommen, Untersuchungen mit sozialräumlich begrenzterem Fokus in umfassendere Kontexte einzubetten, also zu einer Umkehrung der Blickrichtung, aus der wir einen Gegenstand betrachten. Statt wie selbstverständlich in den Niederungen des Lokalen oder Nationalen zu beginnen, um dann ggf. von dort aus zu den höher gelegenen Schichten des Internationalen und Globalen aufzusteigen, nimmt man gleich die Vogelperspektive ein. Das vergrößert die Distanz zum Gegenstand, schafft aber genau damit auch Voraussetzungen für jene Dezentrierung des analytischen Blicks, zu der man, soll die Kritik am Eurozentrismus ernst gemeint sein, ohnehin wird kommen müssen. Das leitet über zu den sozialtheoretischen Herausforderungen. Der Akzent liegt dabei auf konzeptuellen Aspekten.

4. E IN VIERDIMENSIONALES S CHEMA ZUR E RFASSUNG VON M ODERNITÄT Konzeptuell stellt die globale Moderne die Soziologie vor das Problem, einen Begriff der Moderne zu entwickeln, der einerseits weltweit applika-

Globale Moderne. Skizze eines Konzeptualisierungsversuchs

bel ist – was heißt, dass er nur solche Bedeutungskomponenten enthalten darf, die wirklich universell tragfähig sind –, der aber andererseits auch moderne Vielfalt, d.h. Formen der Differenz erfassen kann, die nicht auf unterschiedliche Grade der Modernität zurückzuführen sind, sondern auf sektoral- oder regional variierende Ausprägungen derselben Modernität. Um es an einem Beispiel zu illustrieren: Gesetzt den Fall, es gäbe Grund, eine europäische von einer ostasiatischen Moderne zu unterscheiden (dazu ansatzweise Schmidt 2010a), dann sollte der Begriff so gefasst sein, dass er beides, ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede, abbilden kann. Auf diese Herausforderung lässt sich unterschiedlich reagieren. Ein Vorschlag lautet, den Begriff der Moderne selbst zu pluralisieren. Dieser, von Vertretern des multiple modernities-Ansatzes gemachte Vorschlag ist mit Mängeln behaftet (vgl. Schmidt 2006; 2010b), die ihn für das hier verfolgte Anliegen untauglich machen. Eine Alternative setzt bei der Unterscheidung von Abstraktionsstufen sozialtheoretischer Analysen an. Auf der unter modernetheoretischem Aspekt höchsten Abstraktionsstufe befindet sich die eingangs zitierte Begriffsbestimmung der soziologischen Klassiker, wonach die Moderne für eines von mehreren evolutionären Entwicklungsstadien steht. Es liegt auf der Hand, dass die Moderne bei dieser Konzeptualisierung nur im Singular vorkommen kann. Damit ist nicht gesagt, sie müsse überall dieselbe Gestalt annehmen. Auch frühere Sozialformationen kennen, wofür die Historiografie reichlich Belege liefert, eine große Formenvielfalt. Gesagt ist allerdings, dass es unterhalb der Ebene dieser Vielfalt Regelmäßigkeiten, gemeinsame Strukturmuster geben muss, und die Aufgabe der soziologischen Theoriebildung besteht dann darin, diese Strukturmuster herauszuarbeiten. Dazu will der Aufsatz einen Beitrag leisten. Gibt es Strukturmuster, von denen begründet anzunehmen ist, dass sie sich überall ausbilden, wo Modernes an die Stelle von Vormodernem tritt, wo ein Übergang zur Moderne erfolgt? Einen vielversprechenden Ausgangspunkt zur Erfassung solcher Strukturmuster bietet Talcott Parsons’ Unterscheidung von Gesellschaft, Kultur, Person und Verhaltensorganismus (vgl. Parsons 1977). Die Gesellschaft ist in Parsons’ Theoriearchitektur ein Subsystem des sozialen Systems, das zusammen mit den anderen drei ›Systemen‹ die Kernbestandteile des von ihm so genannten allgemeinen Handlungssystems bildet. Sowohl den deduktiven Modus ihrer Herleitung als auch die inhaltlichen Bestimmungen, die Parsons seinen Systemen gibt, wird man für überholt halten müssen. Was gleichwohl für sein

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Schema spricht, ist dessen heuristische Fruchtbarkeit. Es hat nämlich den Anschein, als sei es besser als die zurzeit im Angebot befindlichen Alternativmodelle geeignet, der Komplexität des Modernisierungsgeschehens gerecht zu werden. In dieser Funktion eines Suchschemas zur Kartografierung des Feldes wird es hier verwendet. Modernisierung erscheint dann als ein vierdimensionaler Prozess, der grundlegenden Wandel in allen vier (selbstredend nur analytisch zu trennenden) Dimensionen beinhaltet, wobei die Wandlungsprozesse in den einzelnen Dimensionen wechselseitig miteinander verschränkt sind. Schaubild 1 bietet eine grafische Darstellung der dem Vorschlag zugrundeliegenden Vorstellung des Modernisierungsgeschehens.5 Schaubild 1: Dimensionen der Modernisierung (eigene Darstellung)

Hält man sich an dieses Schema, dann lassen sich stichwortartig folgende grundlegende Trends der Modernisierung identifizieren, von denen angenommen wird, dass sie allgemeine Merkmale von Modernität darstellen: 1. Modernisierung der Gesellschaft (= eines von mehreren sozialen Systemen): Ausdifferenzierung funktionaler Teilsysteme 5 | Der Modernisierungsbegriff wird hier als Prozessbegriff zur Erfassung der dynamischen Seite von Modernität gefasst. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass der Begriff der Moderne logisch zwingend a) die Existenz einer Vormoderne und b) Modernisierungsprozesse (verstanden als Prozesse des Übergangs zur Moderne ei nerseits, des Wandels in der Moderne andererseits) impliziert. Die Konzeptualisierung beider Seiten des Mo dernisierungsgeschehens ist umstritten, aber wie immer man in diesen Fragen inhaltlich disponiert, die An nahme als solche ist unausweichlich, sobald man sich auf die Semantik der Modernität einlässt.

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2. Modernisierung der Kultur: Rationalisierung; Kontingentsetzung und Reflexivität sozialer Ordnung; Wertverallgemeinerung 3. Modernisierung der Person: Individuierung; Herausbildung reflexiver Identitäten und multipler, aktivistischer Selbste 4. Modernisierung des Organismus: Disziplinierung und (Selbst-)Perfektionierung des menschlichen Körpers Den einzelnen Dimensionen des Modernisierungsgeschehens wird im Folgenden gesondert nachgegangen. Den Beginn macht das soziale System bzw. die Gesellschaft.

4.1 Modernisierung der Gesellschaft Neben der Gesellschaft gibt es noch weitere Sozialsysteme. Parsons bleibt in dem Punkt eigentümlich vage; abgesehen von der Klarstellung, dass die Gesellschaft nur einen Unterfall des sozialen Systems bildet, belässt er es bei dem allgemeinen Hinweis auf die Existenz anderer Sozialsysteme, ohne systematisch auszuführen, an welche Systeme dabei zu denken wäre. In dieser Hinsicht bietet Luhmanns Unterscheidung von Gesellschaft, Organisation und Interaktion als grundlegenden Typen sozialer Systeme (1975; 1984) einen besseren Ansatzpunkt. Aus Gründen, die gleich zu erörtern sein werden, wird dem hier mit der Gemeinschaft noch ein weiterer Systemtyp hinzugefügt. Damit gelangt man erneut zu einer Vierertypologie, was wiederum Reminiszenzen an Parsons weckt, aber nur insofern durch dessen Werk inspiriert ist, als die Idee zur Aufnahme des als Gemeinschaft bezeichneten ›Systemtyps‹ diesem Werk den wichtigsten Impuls verdankt. Im Unterschied zu Parsons wird die Gemeinschaft allerdings nicht der Gesellschaft zugeschlagen, sondern als ein Sozialsystem eigener Art behandelt, das seinerseits eine Vielzahl von Unterfällen kennt. Schaubild 2 bietet eine überblicksartige Darstellung. Der aus Sicht der soziologischen Theoriebildung wichtigste Fall modernisierungsbedingten Wandels ist die Modernisierung der Gesellschaft. Hält man sich an die differenzierungstheoretische Traditionslinie, dann ist die Struktur der Gesellschaft durch die evolutionär jeweils vorherrschende Differenzierungsform gekennzeichnet. Als strukturbestimmend für die moderne Gesellschaft gilt dieser Tradition der Modus der funktionalen Differenzierung. Funktionale Differenzierung meint die Ausdifferenzierung von Teilbereichen oder -systemen der Gesellschaft mit je eigenen Zustän-

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digkeiten und Funktionen. Prozesse der funktionalen Differenzierung sind langwieriger Natur und können sich über Jahrhunderte, in manchen Fällen Jahrtausende erstrecken (vgl. Luhmann 1970). Von funktional differenzierter Gesellschaft spricht die Soziologie nach Parsons und Luhmann, wenn funktionale Differenzierung zur dominanten Differenzierungsform wird, die andere, weiter bestehende Differenzierungsformen, so insbesondere die für hochkulturelle Gesellschaften charakteristische stratifikatorische Differenzierung, überlagert und gesellschaftsstrukturell gleichsam ins zweite Glied rückt. Schaubild 2: Typen sozialer Systeme (Integration von Parsons und Luhmann) (eigene Darstellung)

Gesellschaft

Organisationen

Gemeinschaften

Interaktionssysteme

Die prominentesten Fälle der Ausdifferenzierung verschiedener Funktionskomplexe sind gemäß Luhmann die des Rechts, der Religion, der Politik, der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Erziehung. Die Zahl ausdifferenzierter Funktionsbereiche nimmt im Zeitlauf zu und lässt sich daher, so Luhmann, nicht wie bei Parsons deduktiv herleiten, sondern nur empirisch ermitteln. Eine weitere Umdisposition der Luhmann-Schule gegenüber Parsons ist, dass ihre Systeme nicht als analytische Konstrukte

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verstanden werden, sondern als reale Entitäten, die tatsächlich als Systeme beobachtbar sind (Luhmann 1984: 332). Die Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme impliziert die Autonomisierung von Funktionsbereichen auf der Ebene ihrer Operationen bei wachsender Interdependenz zwischen den Bereichen. Autonomisierung ist eine Folge der Umstellung systemischer Operationen auf Eigenrationalität bei gleichzeitiger Indifferenz gegenüber »ökologischen« Folgekosten, die konsequent externalisiert werden. Zugleich induziert sie laufende Expansionsbestrebungen. Expansiv sind Funktionssysteme in mindestens dreierlei Hinsicht: (1) im Sinne der Institutionalisierung von Prämien auf Leistungssteigerungen, die mangels systeminterner Stoppregeln permanente Selbstüberbietung je erreichter Systemzustände zu einer für alle Beteiligten verbindlichen Maxime machen; (2) im Sinne des Ausgreifens von Systemlogiken auf die Gesamtgesellschaft mit der Folge einer wachsenden Politisierung, Ökonomisierung, Verrechtlichung, Verwissenschaftlichung, Medikalisierung usw. aller Lebensbereiche;6 und (3) im Sinne von Globalisierung, d.h. der Ausdehnung der Reichweite systemischer Operationen auf die ganze Welt. Schaubild 3 bietet eine vereinfachte Darstellung des Gesellschaftsaufbaus, wie die an Luhmann orientierte Theoriebildung ihn sich in der Folge der Durchsetzung funktionaler Differenzierung vorstellt. Die Tendenz zur Globalisierung systemischer Operationen führt nach Maßgabe der Prämissen dieser Theoriebildung zur Herausbildung einer Weltgesellschaft, deren Existenz sie im Einklang mit diversen anderen Theorieschulen seit etwa dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts für gegeben hält (Luhmann 1975; 1997; Stichweh 2000). Das Konzept der Weltgesellschaft ist sozialtheoretisch umstritten, gewinnt aber zunehmend an Boden. Mit dem Konzept der globalen Moderne trifft und überschneidet es sich insofern, als auch dieses davon ausgeht, dass moderne Arrangements heute tatsächlich weltumspannenden Charakter haben, und wenn funktionale Differenzierung auf die Errichtung weltgesellschaftlicher Strukturen zielt, dann liegt die Vermutung nahe, dass zwischen dem Durchbruch globaler Modernität und der Etablierung der Weltgesellschaft ein Zusammenhang besteht.

6 | Dieser Befund steht hinter Habermas’ Diagnose von der »Kolonialisierung der Lebenswelt« (vgl. Habermas 1981, Bd. 2: 522).

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Schaubild 3: Moderne, funktional differenzierte Gesellschaft (nach Luhmann)

Politik

Wirtschaft

Recht

Wissenschaft

Bildung

Religion

Massenmedien

X

Y...

Sobald man sich auf das Konzept der Weltgesellschaft einlässt, wird die den Mainstream der Sozialwissenschaften kennzeichnende Gleichsetzung von Gesellschaft und Nationalstaat, d.h. von Gesellschaften im Plural mit politisch konstituierten Einheiten wie dem Vereinigten Königreich oder der Republik Frankreich, hinfällig. Kommt die Gesellschaft als Weltgesellschaft nur noch im Singular vor,7 dann muss diese Identifikation aufgegeben werden. Selbstverständlich bedeutet das nicht Leugnung der Existenz von Nationalstaaten. Ebenso wenig folgt daraus zwingend eine Irrelevanzerklärung von Nationalstaaten als Gegenständen sozialwissenschaftlicher Untersuchungen oder als Bestimmungsfaktoren der Gestaltung sozialer Wirklichkeit, der individuellen und kollektiven Lebensverhältnisse usw. Es bedeutet allerdings zweierlei: erstens die Aufgabe jenes ›Containermodells‹ von Gesellschaft, das Gesellschaft als ein in sich geschlossenes, selbstgenügsames Gebilde fasst, welches die sozialen Beziehungen angebbarer Populationen umfassend regelt;8 und zweitens die Auflösung der be7 | Unter heutigen Bedingungen, so Luhmann (1993: 571; ausführlicher 1997: Kap. I, X), gebe es nur noch ein einziges Gesellschaftssystem, das der Weltgesellschaft. 8 | Die Artifizialität der durch den Nationalstaat erst geschaffenen Konstituierung der sozialen Welt »as a system of enclosures« betont Aneesh (2006: 27).

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grifflichen Fusion von Gesellschaft und Politik (Luhmann 2000: 14), die die Bindung des Gesellschaftsbegriffs an politisch konstituierte Einheiten, eben Territorialstaaten, beinhaltet. Aber so unhaltbar die Ineinssetzung von Nationalstaat und Gesellschaft sein mag,9 ihre Aufgabe bereitet erhebliche Schwierigkeiten, darunter nicht nur die Entwöhnung von tief verwurzelten Denkmustern, sondern auch die Notwendigkeit zum Umbau des kategorialen Bezugsrahmens sozialwissenschaftlicher Analysen. Deutlich wird diese Notwendigkeit nicht zuletzt bei dem Versuch, dem Nationalstaat mit dem begrifflichen Instrumentarium von Luhmanns Konzeption sozialer Systeme zu Leibe zu rücken. Dieses Instrumentarium ist nämlich außerstande, Wirklichkeitsaspekte zu erfassen, die im Konzept der Nationalgesellschaft stets mitgedacht sind, aber im Gesellschaftsbegriff nicht mehr unterzubringen sind, sobald dieser von der Referenz auf Kollektivsubjekte abgelöst wird. Im Fall des Nationalstaats ist dieses Kollektivsubjekt eine als nationale Gemeinschaft gedachte Teilmenge der Weltbevölkerung, verbunden mit der Annahme, dass jede Person einer, und zwar typischerweise genau einer nationalen Gemeinschaft angehört.10 Für diese Gemeinschaft steht der Nationenbegriff. Demgegenüber stellt der Staatsbegriff auf den Verwaltungsund Erzwingungsapparat eines territorial gebundenen politischen Verbandes oder Gemeinwesens ab, als welche die Nation sich dem Konzept der Nationalgesellschaft darstellt. Diesen Apparat zu erfassen bereitet Luhmanns Typologie keine Schwierigkeiten – dafür bietet sie den Organisationsbegriff. Aber die Nation kann sie nicht einfangen, denn die ist weder (ein Unterfall von) Interaktion noch Gesellschaft. Andererseits bleibt sie trotz Globalisierung sozial wirkungsmächtig. Parsons hat ihrer Bedeutung mit dem Begriff der gesellschaftlichen Gemeinschaft Rechnung zu tragen gesucht, der sie im Einklang mit den Prämissen des methodologischen Nationalismus freilich zu einem Subsystem der Gesellschaft macht, das sie 9 | Unhaltbar ist diese Ineinssetzung schon deshalb, weil sie impliziert, dass es vor der Heraufkunft des National staats keine Gesellschaft gab. Und das Gros der gegenwärtig als ›Gesellschaften‹ behandelten Gebilde wäre kaum mehr als ein halbes Jahrhundert alt – zum Zeitpunkt der Gründung der Vereinten Nationen existierte weniger als ein Drittel ihrer heutigen Mitglieder. 10 | Wie man spätestens seit Anderson (1983) weiß, ist auch die nationale Gemeinschaft ein ›imaginiertes‹, in die sem Sinne: hochgradig ›künstliches‹ Gebilde, deren Hervorbringung aufwendiger ›konstruktiver‹ Tätig keit bedurfte und bedarf.

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bei Luhmann aus guten Gründen nicht mehr sein kann. Man kann aber mit Max Weber im Anschluss an Tönnies Vergemeinschaftung als einen eigenen Modus der Konstituierung sozialer Beziehungen behandeln, der von Vergesellschaftung zu unterscheiden ist (1972: 21ff.). Auf diese Weise lässt sich ein gesellschaftsunabhängiges Gemeinschaftskonzept (wieder-) gewinnen,11 das jene Lücke füllt, die sich in Luhmanns Typologie auftut, sobald diese mit Phänomenen wie dem der ›Nation‹ konfrontiert wird. Löst man den Gemeinschaftsbegriff sowohl von seiner Bindung an die Nation als auch von der Gesellschaft, dann wird er frei für die Erfassung von Sinn- und Solidarbezügen, für die die Gemeinschaft der Staatsbürger nur eines von mehreren Beispielen ist. In dieser Funktion eines allgemeinen Platzhalters für Sinn- und Solidarbezüge wird er hier verwendet und Luhmanns Typologie sozialer Systeme hinzugefügt (siehe oben, Schaubild 2). Damit wird zugleich der Gesellschaftsbegriff frei für die Erfassung dynamischer Entwicklungen von Funktionssystemen, die bei lokalen Vergesellschaftungen nicht haltmachen, also für das Konzept der Weltgesellschaft, das nur dann irritieren muss, wenn der Nationalstaat als gleichsam prototypisches Modell für Gesellschaft figuriert. Das seit der Etablierung der Vereinten Nationen praktisch wie symbolisch an Bedeutung gewinnende Konzept der Weltgemeinschaft12 indiziert eine parallel zur Herausbildung der Weltgesellschaft ablaufende Ausweitung von Projektionshorizonten auf dem Gebiet der Gemeinschaftsbildung. Soweit an dieser Stelle zur Entwicklungsrichtung der Modernisierung sozialer Systeme. Auf Organisation und Interaktion kann hier nicht ausführlich eingegangen werden. Zu Interaktionen sei nur gesagt, dass der sie betreffende Erwartungsstil global praktisch alternativlos auf egalitäre Ausgangsprämissen umgestellt hat bzw. umzustellen im Begriff ist, weil Modernität die unter Bedingungen stratifikatorischer Differenzierung selbstverständliche Annahme der mit Schichtzugehörigkeit (aber auch z.B. nach Geschlecht) variierenden Wertigkeit sozialer Kategorien erodiert. 11 | Wiedergewinnen insofern, als ein solches Konzept mit Tönnies’ Begriffsdual von Gemeinschaft und Gesell schaft bereits vorgegeben war. Aber Tönnies’ Idealisierung mittelalterlicher Dorfgemeinschaften, die bis heute nachwirkt, macht es für Zwecke nüchterner sozialwissenschaftlicher Analyse unbrauchbar. 12 | Symbolisch z.B. in den Schriften des verzweigten Netzwerks von Unterorganisationen der Vereinten Natio nen, vieler think tanks, zahlreicher unabhängiger Autoren und zunehmend auch der Weltmedien.

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Für Organisationen gilt demgegenüber, dass der Typ formaler, funktional spezifizierter Organisation eine rasante Ausbreitung erfährt – in der Welt der Wirtschaft, in der Welt der Politik, in der Welt des Rechts, in der Welt der Wissenschaft, in der Welt der Religion (speziell dazu Bayly 2004: Kap. 9) usw.13 Beides verdankt sich nicht zuletzt der Diffusion originär westlicher, heute global verbindlicher Ideen, die sich als ›Weltmodelle‹ (Meyer u.a. 1997) auf der Ebene der Weltkultur festgesetzt haben.

4.2 Modernisierung der Kultur Kultur ist Ausdruck von und referiert auf Vergemeinschaftungen unterschiedlicher sozialer Dichte und Reichweite. Gemeinschaften haben Außengrenzen, die Nichtdazugehöriges exkludieren. Dem entspricht in normativer Hinsicht die Unterscheidung zwischen Binnen- und Außenmoralen, d.h. von nach Mitgliedsstatus gestaffelten Solidaritäts- und Achtungsverpflichtungen. In der globalen Moderne verschiebt die äußerste Außengrenze sich in Richtung eines maximal inklusiven Verständnisses von Mitgliedschaft. Diesem Verständnis gemäß sind alle Menschen als ›Weltbürger‹ einer imaginierten Weltgemeinschaft zu behandeln. Negativ entspricht dem die Diskreditierung der Unterscheidung zwischen zum ›eigenen‹ Kulturkreis Gehörenden und ›Barbaren‹, denen keine Behandlung nach Standards eines zivilisierten (im wahrsten Sinne des Wortes: humanen) Umgangs geschuldet ist (Offe 1994), positiv artikuliert es sich in der Idee basaler Menschenrechte, die allen Mitgliedern der Spezies qua Gattungszugehörigkeit zukommen;14 neuerdings auch als Extension des Menschenrechtsdenkens auf distributive Fragen (Stichwort ›globale Gerechtigkeit‹; dazu statt vieler Pogge 2008). Schaubild 4 veranschaulicht die Logik der Entwicklung mit Hilfe konzentrischer, von innen nach außen dünner werdender Kreise. Die Kreise stehen für eine Ausdehnung der Verpflichtungshorizonte (von der familiären Primärgruppe zur Weltgemeinschaft) bei abnehmendem Verpflichtungsgrad. Die Beschränkung auf vier Kreise hat keine systematischen Gründe, sondern ist allein darstellungstechnisch motiviert; unterhalb der Weltgemeinschaft sind vie13 | Vgl. dazu grundsätzlich Drori u.a. 2006; beschränkt auf den Fall internationaler Nichtregierungsorganisa tionen bereits Boli/Thomas 1997. 14 | Zu den Menschenrechten als Kern der Moral der Moderne (und nicht etwa lediglich derjenigen des modernen Westens) vgl. Donnelly 2003.

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le weitere Formen der Gemeinschaftsbildung denkbar (vgl. z.B. Sahlins 1989: 111), die auch keineswegs immer territorial gebunden sein müssen, sondern (wie beispielsweise Sprache oder Religion) quer zu politischen Grenzziehungen stehen oder (wie epistemische Gemeinschaften oder virtuelle Internetgemeinschaften) gänzlich deterritorialisiert sind. Schaubild 4: Schichten der Gemeinschaftsbildung. Von der (familiären) Primärgruppe zur Weltgemeinschaft. Ausdehnung des Verpflichtungshorizonts bei abnehmendem Verpflichtungsgrad (eigene Darstellung)

Die Emergenz der Weltgemeinschaft liegt auf der Entwicklungslinie eines allgemeinen modernisierungsbedingten Trends der sukzessiven Transzendierung kleinräumiger Sozialverbände mit hoher Interaktionsdichte in Richtung Ausweitung des Horizonts sozialer Kontaktmöglichkeiten, Verkehrsformen und, wie in diesem Fall, der Stiftung solidarischer Zusammenhänge. Andere Formen der Vergemeinschaftung werden dadurch nicht bedeutungslos, büßen aber einen Teil ihrer Sogwirkung als ›natürliche‹, selbstverständliche Priorität genießende Bezugsgrößen von Zugehörigkeits- und Loyalitätsempfindungen ein. Dieser, vom Prozess der Nationenbildung her bekannte Vorgang der Relativierung lokaler Bindungen zugunsten der imaginierten Gemeinschaft eines Staatsvolks, der den Bürgern des Nationalstaats erhebliche Abstraktionsleistungen abver-

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langt,15 erfasst nun diesen selbst, wiederholt sich auf nochmals höherer Ebene im Kontext der Entstehung supranationaler Blockbildungen (wie der Europäischen Union) und schließlich der Herausbildung einer Weltgemeinschaft. Was für Gemeinschaftsbildung und den darauf bezogenen Normenhaushalt gilt, gilt analog für andere Bereiche der Kultur und reflektiert sich im die Gesamtheit der Kulturerscheinungen erfassenden Konzept der Weltkultur. Weltkultur meint, dass es mittlerweile eine alle lokal bzw. regional gebundenen Partialkulturen überwölbende Sinnschicht gibt, die sich aus einer Vielzahl entwicklungsgeschichtlich durchaus lokalisierbarer Quellen speist, aber deterritorialisierend wirkt, indem sie einen globalen Horizont für die Projektion und Rezeption kultureller Artefakte aufspannt. Im Licht dieses Horizonts wird Lokales erst in seiner Besonderheit, damit zugleich Begrenztheit erkennbar, weil dem Vergleich mit ›Fremdem‹ ausgesetzt. Im Verein mit dem Fremden – und das ist aus Sicht jeder Partialkultur die große Mehrheit der Kulturerscheinungen –, verdichtet es sich auf der Ebene von Weltkultur zu einem alle Dimensionen des kulturellen Geschehens umfassenden Weltkulturerbe,16 auf das lokale Akteure mit wachsender Leichtigkeit praktisch überall zugreifen (können). Allein dieser Umstand verändert den Charakter des Lokalen, indem es ihm die Selbstverständlichkeit des Vertrauten, fraglos Gültigen, (jederzeit) Vorzugswürdigen nimmt und es zu einem Gegenstand der Wahl macht, bei dem es sich in Konkurrenz mit anderen Angeboten behaupten muss. Die Grenzen einstmals relativ gegeneinander abgeschlossener kultureller Milieus werden dadurch zunehmend porös (Tomlinson 1999),17 auch wenn sozialräumlich ›defi15 | Man nimmt an, dass die Umpolung angestammter Loyalitäten gegenüber Dorf, Landstrich und/oder Dynastie auf die Nation für die gesamte Bevölkerung selbst in Europa kaum vor Beginn des 20. Jahrhunderts gelungen sein dürfte (vgl. Habermas 1996 unter Rekurs auf Sahlins 1989). 16 | Der Begriff des Weltkulturerbes wird hier nicht im Sinne der Unesco-Definition auf bestimmte ausgezeich nete Kulturgüter begrenzt, sondern auf alle kulturellen Artefakte ausgeweitet, die weltweit rezipiert werden. Infolge der digitalen Revolution wird nahezu jedes (einstmals) lokale Kulturgut global abrufbar. 17 | Und zwar so porös, dass ein auf solche Milieus abstellender Kulturbegriff selbst zunehmend fragwürdig wird. Die Rede von der Hybridisierung und dem wachsenden Synkretismus des kulturellen Geschehens versucht der beschriebenen Entwicklung gerecht zu werden, geht aber ihrerseits von einem essenzia-

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niertere‹, in ihrem Wirkungskreis limitiertere Sinnmuster für die meisten Menschen in allen Teilen der Welt weiterhin eine besondere Qualität und wohl auch die größte Orientierungskraft besitzen dürften. Schaubild 5 verdeutlicht die Logik dieser Entwicklung, wiederum mit Hilfe konzentrischer Kreise, die von innen nach außen dünner werden.18 Schaubild 5: Kulturschichten. Von der lokalen zur Weltkultur. Ausweitung von Rezeptions- und Projektionshorizonten (Weltliteratur, Weltmusik, Weltnormen usw.) (eigene Darstellung)

Die Struktur der modernen Kultur ist durch eine Reihe von Eigenschaften gekennzeichnet, deren wichtigste nach landläufiger Auffassung das Reflexivwerden und die Kontingentsetzung sozialer Ordnung, die Umstellung der Normen- und Ordnungslegitimation auf postkonventionelle Begründungsmuster und die Rationalisierung der Weltbilder sind.

listischen Kultur begriff aus, dessen Gegenstand der Tendenz nach durch diese Entwicklung gerade zum Verschwinden ge bracht wird. Aus der Perspektive der Weltkultur stellen subglobale, in diesem Sinne: partikulare, Kulturen nur noch Subkulturen dar (vgl. Hannerz 1992). 18 | Die Zahl der Kreise und ihre Bezeichnungen sind wiederum darstellungstechnischen Gründen geschuldet und je nach Bezugsproblem variierbar.

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Reflexivität, verstanden als kritische Selbstbeobachtung, gehört zu den Grundbeständen der menschlichen Daseinsform und ist insofern nichts spezifisch Modernes. Ihre moderne Form erfährt sie durch Permanentstellung der Verflüssigung von Mustern der Legitimation sozialer Ordnung. Anders als vormoderne Formen der Reflexivität begnügt moderne Reflexivität sich nicht mit der Auslegung und (Re-)Interpretation überkommener Traditionsbestände, in deren Kontinuität sie sich stellt und deren Kontinuierung sie dem eigenen Selbstverständnis nach auch betreibt. Vielmehr stellt sie im Wissen um die Konstruktivität sozialer Arrangements Affirmation unter den Vorbehalt immer nur provisorisch geltender ›guter‹ Gründe, die ihre Plausibilität ausschließlich aus sich selbst schöpfen (Giddens 1990). In genau diesem Sinne impliziert sie Kontingenz und Postkonventionalität: die in die Strukturen der Alltagskultur eingelassene Erwartung der Unbeständigkeit und dauernden Überprüfbarkeit der Geltungsgründe von Gegebenem nach Maßgabe verallgemeinerungsfähiger Prinzipien. Die von den Klassikern der Soziologie, insbesondere von Weber notierte Rationalisierung der Weltbilder leistet der Verbreitung dieser Art von Reflexivität Vorschub. Sie lässt sich ihrerseits in mindestens vier Dimensionen unterteilen. Die erste Dimension wird durch den Säkularisierungsbegriff bezeichnet. Säkularisierung bedeutet, wie man inzwischen weiß, nicht zwangsläufig das Verschwinden von Religion, wohl aber einen Trend in Richtung Substituierung ›metasozialer Geltungsgaranten‹ (Touraine 1981) durch soziale Konstrukte, zur Privatisierung von Religiosität und zu einer nicht mehr aus der Welt zu schaffenden Entzauberung, die als Drohpotenzial auch über solchen Religionsgemeinschaften schwebt, die deren Zersetzungskraft bislang scheinbar schadlos standgehalten haben. Ein zweites Moment ist mit der von Habermas (1981, Bd. 1: 233f.) betonten Differenzierung von Wertsphären – in das Wahre, das Gute, das Schöne – mit je eigenen Handlungssphären und Geltungskriterien benannt. Diese Differenzierung erlaubt, drittens, eine Aufspaltung der Rationalität und Systematisierung von Handlungslogiken durch bereichsspezifische Reflexionstheorien (Luhmann), die gleichsam an die Funktionssysteme der Gesellschaft andocken und die Semantik ihrer Selbstbeschreibungen in Theorieform gießen. Viertens schließlich geht die Rationalisierung der Weltbilder einher mit einer Aufwertung von (egoistischer) Interessenrationalität und sozialer Mobilität, die durch die kulturelle Überlieferung vormoderner Sinnmuster systematisch perhorresziert werden (Inglehart/ Welzel 2005: 22).

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Als Folge der genannten Prozesse haben sich mit Aktivismus, Rationalismus, Universalismus, Individualismus und Konsumismus eine Reihe von Wertmustern durchgesetzt, die, obgleich zunächst im Okzident beobachtet, heute zentrale Bestandteile von Weltkultur sind.19 Unter Aktivismus wird eine Disposition verstanden, die die planmäßige (Um-)Gestaltung naturaler und sozialer Umwelten nach Maßgabe von Nützlichkeits- und Fortschrittserwägungen sanktioniert und motiviert (Inkeles/Smith 1974). Ihr korrespondiert die Erfindung bzw. Konstruktion des ›rationalen Akteurs‹ (Meyer u.a. 1997) als Leitbild personaler Entwicklungsprozesse. Rationalismus meint die Umstellung der Handlungsfundierung auf kognitives Wissen, ›richtige‹ Normen, identitätsverbürgende Expressionen und konsistente Sinnmuster (Münch 1986: 24). Universalismus bezieht sich auf die (zunächst auf den Nationalstaat beschränkt, heute zunehmend global gedachte) Allgemeinverbindlichkeit eines Grundbestands an materialen und prozeduralen Normen und auf die für das Selbstverständnis der Moderne konstitutiven Leitmaximen der Freiheit, Gleichheit und Selbstbestimmung/Autonomie der Person. Individualismus bezeichnet einen Komplex von Ideen, der um das Individuum als Letztbezugspunkt der Rechtfertigung von Formen kollektiver Ordnungsbildung (Vorrang der Rechte/Pflichten von Individuen gegenüber Gruppen) einerseits und als Zentrum der Lebensgestaltung (Selbststeuerung und Selbstverantwortung biografischer Prozesse) andererseits kreist. Und Konsumismus meint die Aufwertung von (Massen-)Konsum zu einem Eigen- und Leitwert ›des‹ guten Lebens (dazu zuletzt Worldwatch Institute 2010).20

19 | Mit Durchsetzung ist nicht gemeint, dass diese Wertmuster überall für alle sozialen Gruppen dieselbe Ver bindlichkeit besitzen. Es meint allerdings, dass sie als Möglichkeiten überall präsent sind und zumindest von Teilen der Bevölkerung mit wachsender Ten denz auch aktualisiert werden. 20 | Dass diese Wertmuster lokal oft Widerstand provozieren, bestätigt nur ihre Bedeutung, weil es zeigt, dass man, auch wo man sich von ihnen distanziert, nicht an ihnen vorbeikommt. Das gilt auch und gerade für den Individualismus, gegen den oft eingewandt wird, er sei eine genuin westliche Erscheinung, ersichtlich etwa an der Betonung der Vorrangigkeit des Kollektivs in anderen Kulturkreisen. Aber kommunitaristische Abwehrre flexe gegen den Individualismus sind keine Spezialität Asiens, Lateinamerikas oder Afrikas, sondern werden seit Beginn der Moderne immer wieder auch im Westen registriert (dazu exemplarisch Ben-

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Der Kulturbegriff wird, wie diejenigen der Moderne, der Gesellschaft usw., höchst unterschiedlich verwendet. Um ihn für Zwecke sozialwissenschaftlicher Analysen handhabbar zu machen, empfiehlt es sich, ihn analytisch in verschiedene Referenzbereiche aufzuspalten, die jeweils aufgerufen werden, wenn die Rede auf Kulturerscheinungen kommt. Dafür bieten sich die Unterscheidung von hoher Kultur vs. Alltagskultur einerseits, Eliten- vs. (populärer) Massenkultur andererseits an. Hohe Kultur ist eine Sache von Eingeweihten, deren Erzeugung, Rezeption und Genuss besonderer Qualifikationen bzw. in langjähriger Einübung erworbener Expertise bedarf, deshalb sozial exklusiv wirkt und sich zur Distinktion (Bourdieu 1982) der über die entsprechenden Kompetenzen Verfügenden von anderen, oft sozial niedriger stehenden Kreisen eignet. Beispiele für Erzeugnisse hoher Kultur sind etwa als herausragend qualifizierte, ›gehobenen‹ intellektuellen Ansprüchen genügende Literatur, ernste Musik, bildende Kunst und Schauspiel. Alltagskultur bezeichnet demgegenüber jenes in der täglichen Praxis verankerte und zugleich diese anleitende Ensemble von Normen, Sitten, Gebräuchen, Werten, Sichtweisen, Erwartungen, Lebensstilen, Geschmackspräferenzen usw., auf das der ethnologische Kulturbegriff abstellt. Dieses Ensemble variiert zwischen sozialen Gruppen und Verkehrskreisen – innerhalb gegebener Kollektive, z.B. nach Schichtung, aber auch zwischen verschiedenen imaginierten, z.B. nationalen Gemeinschaften, wobei zu letzteren typischerweise auch Elemente der Hochkultur gerechnet werden, die als mehr oder weniger konstitutiv für die Kultur des betreffenden Kollektivs gelten. Der Begriff der Elitenkultur hat streng genommen zwei Bedeutungen. In der ersten Bedeutung bezieht er sich auf die Kultur sozial hochstehender (Intellektuellen-)Kreise, die zugleich Träger der Traditionsaneignung und -fortsetzung einer Gemeinschaft sind; in der zweiten referiert er auf die (Alltags-)Kultur sozioökonomisch führender Gruppen, d.h. auf Oberschicht im engeren Sinne. Hohe und Elitenkultur weisen einen hohen Überschneidungsgrad auf, sind aber nicht identisch miteinander. Unter modernen Bedingungen kommt es zudem verstärkt zu sozialen Differenzierungen im Bereich der Elitenkultur, so dass nicht mehr selbstverständlich davon auszugehen ist, dass die kulturelle Avantgarde der dix 1977: 369-376; 400-403; für eine Reflexion der jüngsten Welle u.a. Phillips 1993).

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Oberschicht entstammt bzw. dieser nach Einkommen, Sozialstatus und Prestige zuzurechnen ist. Massenkultur steht einmal für Kultur der Massen, zum anderen (und vornehmlich) ist der Begriff ein Synonym für populäre Kultur im Sinne von Kultur für die Massen (Trivialkultur; Boulevard; Unterhaltungsindustrie). Der Begriff trägt einen zweifachen sozialen Index, insofern er sowohl auf soziale Schichtung (Kultur der Unterschichten und der unteren Mittelschichten) als auch auf Hierarchie der Wertigkeit von Kulturerzeugnissen referiert. Auch seine Verwendung erfolgt asymmetrisch: ›die‹ Massen titulieren sich typischerweise nicht selbst als Massen und ›wissen‹ auch nicht um die Minderwertigkeit der von ihnen gepflegten bzw. konsumierten Kulturgüter. Hoch- und Elitenkultur stehen zur Massenkultur in einem Verhältnis der Über- und Unterordnung. Im Anschluss an eine kultursoziologische Wendung des Begriffspaars von Zentrum und Peripherie bei Shils (1982) lässt diese Beobachtung sich wie folgt reformulieren: Hohe Kultur beansprucht Definitionshoheit über die Semantik von ›Kultur‹ schlechthin und Leitbildfunktion für Institutionenbildung. Sie steht im – und bildet das – Zentrum der für die kollektive Identität einer (politischen, ethnischen, religiösen usw.) Gemeinschaft als maßgeblich erachteten Ordnung der Symbole, Werte und Glaubensvorstellungen. Zugleich strahlt sie auf die kulturelle Peripherie ab, deren Randstellung sie laufend bestätigt. Diese, bei Shils auf nationalstaatlich konzipierte Gesellschaften bezogene Überlegung lässt sich in einem weiteren Schritt auch auf die globalen Verhältnisse übertragen. Der Binnendifferenzierung der Kultur nationalstaatlich gebundener Gemeinschaften in Zentrum und Peripherie entspricht dann auf globaler Ebene die Hegemonialstellung der westlichen im Verhältnis zu den Kulturen anderer Zivilisationen. Der Westen kontrolliert die Semantik der Moderne, die Begrifflichkeit, in der sie sich beschreibt, und das strahlt auf alle anderen Regionen ab, die sich zu der von dieser Semantik in Anspruch genommenen Alternativlosigkeit ins Verhältnis setzen müssen. Historisch verdankt die westliche Kultur ihre Hegemonialstellung der Dominanz zunächst Europas, dann des Westens während der dem Zeitalter der globalen Moderne vorangehenden Phasen der Modernität (Darwin 2007: 339). Die westlichen Eliten neigen zu der Auffassung, sie verdanke sich auch intrinsischen Qualitäten, die sie unabhängig von an politische und wirtschaftliche Macht geknüpfter Deutungsmacht attraktiv mache. Das mag so sein. Es gibt aber auch begründete Vermutungen, dass

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ihr Einfluss im Gefolge der wirtschaftlichen und politischen Machtverschiebungen von West nach Ost und Süd beträchtlich schrumpfen dürfte (vgl. z.B. Jacques 2009). Für ein sicheres Urteil ist es in dieser Frage zu früh; wie die globale Moderne selbst ist auch der Aufstieg Asiens und anderer Weltregionen, dem sie ihren Durchbruch verdankt, noch in einem relativ frühen Stadium, so dass man sich einstweilen mit Spekulationen begnügen muss (dazu unten, Abschnitt 5).

4.3 Modernisierung der Person Der Modernisierungsprozess verändert auch die Person, ihr Selbst- wie Umweltverhältnis. Charakteristisch für die moderne Modalpersönlichkeit sind nach Lerner (1958: 48ff.) Empathie, Leistungs-, Aufstiegs- und Mobilitätsorientierung sowie Individuierung. Andere Beobachter stellen Attribute wie Autonomie, Offenheit für Neues, geistige Flexibilität, Vertrauen in die Fähigkeit zur Gestaltung der eigenen Lebensumstände, aber auch zur politischen Urteilsbildung heraus – im Unterschied zu Fatalismus, (Schicksals-)Ergebenheit, Untertanenmentalität usw. (Inkeles/Smith 1974). Eine dritte, in der kognitivistischen Entwicklungspsychologie verankerte Position fokussiert auf die Steigerung kognitiver Kompetenzen. Diese Forschung verdankt Habermas (1976) wichtige Impulse, der den bei Piaget auf ontogenetische Entwicklungsprozesse bezogenen Begriff der »Dezentrierung der Weltbilder« mit Überlegungen zu einer phylogenetisch parallelen Entwicklungslogik auf dem Gebiet der kulturellen Weltdeutungen verknüpft hat. Diese Idee eines entwicklungslogischen Gleichklangs von kultureller und personaler Entwicklung wird hier aufgegriffen. Ausgangspunkt sind die einschlägigen Arbeiten Piagets und Kohlbergs. Löst man die Prämissen dieser Arbeiten von gewissen normativen Voreingenommenheiten, die sie speziell bei Kohlberg mit sich führen, lassen sie sich zur Modellierung von Prozessen der Herausbildung einer reflexiven Identität nutzen, die als gleichsam individualpsychologisches Gegenstück zur Reflexivität der Kultur verstanden wird. Zur Herleitung des Modells müssen zunächst die Theorien Piagets und Kohlbergs kurz rekapituliert werden. Gegenstand der kognitivistischen Entwicklungspsychologie ist die Ontogenese kognitiver Strukturen, die zu fortlaufend ›rationaleren‹ Problemlösungen befähigen. Erworben werden diese Kompetenzen im Rahmen kognitiver, auf die »objektive Welt der Tatsachen« (Habermas) und

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sozialkognitiver, auf die soziale Welt interpersonaler Beziehungen und die symbolische Welt kultureller Überlieferungen bezogener Lernprozesse. Sowohl Piaget als auch Kohlberg erheben für die von ihnen entwickelten Theorien den Anspruch, universale Gattungskompetenzen bzw. Entwicklungspotenziale zu rekonstruieren. Beide Theorien sind Stufentheorien: Sie nehmen an, dass die von ihnen identifizierten Entwicklungsstufen sequenziell angeordnet sind und alle in derselben Abfolge durchlaufen werden müssen, soll die jeweils höchste Stufe erreicht werden können. Auf der höchsten Stufe steht jene autonom handlungsfähige, rational urteilende Person, die die heute vorherrschenden Weltmodelle (Meyer u.a. 1997) der modernen Kultur zum Ideal gelungener Bildungsprozesse stilisieren. Piaget unterscheidet vier Stufen der kognitiven Entwicklung, die zugleich bestimmten typischen Altersabschnitten zugeordnet werden: die Stufe 0 des sensomotorischen Stadiums (bis ca. 2 Jahre), die als präoperationales Stadium bezeichnete Stufe 1 (ca. 2 bis 7 Jahre), die Stufe 2 des konkretoperationalen Stadiums (7/8 bis ca. 11/12 Jahre), und das formal-operationale Stadium der Stufe 3 (ab 11/12 Jahre; Höhepunkt bei ca. 16/17 Jahren). Die Stufen 0 und 1 sind durch das Vorherrschen prälogischen Denkens geprägt, wobei es auf Stufe 1 zur Ausbildung erster Formen soziozentrischer Sprache und begrifflichen Denkens kommt. Im konkret-operationalen Stadium bildet sich die Fähigkeit zum gedanklichen Nachvollzug logischer Probleme aus, allerdings bei Fortdauer des Denkens in Begriffen imaginierter Objekte. Das formal-operationale Stadium überwindet diesen Konkretismus und befähigt zu zunehmend abstrakterem Denken sowie zur Durchführung formaler Denkoperationen auf der Grundlage verbaler Behauptungen. Das wiederum ist Voraussetzung für die Fähigkeit zur Einnahme einer hypothetischen Einstellung gegenüber bzw. Subsumtion der Welt des »Realen unter den Bereich des Möglichen« (Piaget 1984: 49). Kohlbergs Theorie der Moralentwicklung (1984) unterscheidet ebenfalls vier Phasen: den prämoralischen Egozentrismus der Phase (oder des Stadiums) 0 (bis ca. 6 Jahre), die präkonventionelle Moral der Phase 1 (6 bis 10 Jahre), die konventionelle Moral der Phase 2 (10 bis 16 Jahre) und die Phase 3, in der sich ein postkonventionelles Moralverständnis herausbilden kann (15 bis 19 bzw. 25 bis 30 Jahre). Die dem prämoralischen Egozentrismus folgenden Phasen hat Kohlberg in jeweils zwei Unterstufen aufgeteilt, die den Entwicklungsprozess innerhalb der einzelnen Phasen präziser fassen sollen, aber hier außer Betracht gestellt bleiben. Prämoralischer Egozent-

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rismus meint, dass das in dieser Phase befindliche Kind kein Verständnis für die moralischen Implikationen seines Handelns hat und sich ganz von Triebimpulsen leiten lässt. In der präkonventionellen Phase weiß es zwar um die Existenz einer moralischen Ordnung, befolgt gegebene Normen aber nur instrumentell zur Befriedigung eigener Bedürfnisse und/oder Vermeidung von Strafen. Dem folgt in der konventionellen Phase eine Orientierung an als verbindlich erachteten Maximen, denen Gehorsam geschuldet ist. Sie wird abgelöst durch die postkonventionelle Phase, in der gegebene Normen zur Disposition gestellt und auf ihre Legitimität nach Maßgabe universalistischer Prinzipien hin überprüft werden. Kennzeichnend für die dem postkonventionellen Denken entsprechende Haltung ist die Unterscheidung zwischen faktischer empirischer Geltung und normativer Gültigkeit oder Sollgeltung, verbunden mit der Annahme, dass bei Abweichung der sozialen Wirklichkeit von als legitim erachteten Normen diese mit jenen in Einklang zu bringen ist. Die entwickeltsten Formen des logischen Denkens und des Moralbewusstseins konvergieren demnach in der Induzierung einer hypothetischen Einstellung gegenüber dem je ins Visier genommenen Weltausschnitt. Die kognitivistische Entwicklungspsychologie nimmt an, dass der Erwerb formaler Operationen eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für die Herausbildung postkonventioneller Bewusstseinsstrukturen ist. Um überhaupt ein genuines Moralverständnis entwickeln zu können, bedarf es freilich zunächst der Überwindung des Egozentrismus mittels Dezentrierungsleistungen, die es dem Kind erlauben, sich schrittweise in die Perspektive anderer hineinzuversetzen und diese mit der eigenen zu koordinieren. Die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme scheint sich ihrerseits in Stufen zu entwickeln. Eine Theorie der Ontogenese von sozialer Interaktions- und Perspektivenübernahmekompetenz hat Robert Selman (1980) vorgelegt. An diese Theorie schließt Kohlberg an, der sie als eine Art Brückentheorie zwischen Piagets und seiner eigenen Theorie nutzt. Die Idee ist, dass dem Schritt von einer höheren Stufe des logischen Denkens zu der ihr entsprechenden Stufe des moralischen Denkens jeweils ein Zwischenschritt in Richtung eines höheren Niveaus der Perspektivenübernahme vorgeschaltet ist, das die moralische Sensibilität, den Sinn für die Vulnerabilität und legitimen Interessen anderer steigert und dadurch einem höherstufigen Moralverständnis erst den Weg bahnt. Aus Kohlbergs Sicht weist Selmans Theorie jedoch eine entscheidende Schwäche auf: Die von

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ihr identifizierte höchste Stufe der Perspektivenübernahme reicht nämlich nur bis zu dem Niveau, dessen Erreichung Vorbedingung für die Ausbildung eines konventionellen Moralverständnisses ist. Die Crux von Kohlbergs Theorie besteht jedoch gerade in der Ausweisung von Postkonventionalität als Zielpunkt gelungener soziokognitiver Lernprozesse in der Moderne.21 Und die Frage ist dann: Wie hat man sich die Logik des Übergangs von einem konventionellen zu einem postkonventionellen Moralverständnis vorzustellen? Kohlberg hat diese Frage mit der Konstruktion eines eigenen Modells beantwortet, das die genannte Lücke schließt, indem es Selmans Theorie um eine zum postkonventionellen Denken überleitende Stufe der Perspektivenübernahme erweitert. Verknüpft man die so erweiterte Theorie der Perspektivenübernahme mit den Theorien Piagets und Kohlbergs, dann lässt sich das zur Postkonventionalität führende Entwicklungsgeschehen vereinfacht wie in Schaubild 6 schematisieren. Postkonventionalität ist eine wichtige Konstituente reflexiver Identität, die sich freilich nicht auf die Einstellung zu moralischen Fragen reduzieren lässt und die in moralischen Angelegenheiten auch keineswegs zwingend auf jene inhaltlichen Positionen verpflichtet, die Kohlberg damit assoziiert.22

21 | Dem liegt die bei Kohlberg eher implizit bleibende, aber bei Habermas explizit gemachte Vorstellung zugrun de, dass ontogenetische Potenziale kognitiver Entwicklung mit phylogenetischen Stadien sozioökonomischer und -kultureller Entwicklung variieren. So heißt es etwa bei Habermas (1976: 16), auch in archaischen Gesell schaften habe es Individuen gegeben, die formale Denkoperationen beherrschten, aber zu einem breite Bevölkerungsteile erfassenden Phänomen kann dies erst unter modernen Bedingungen werden. Übertragen auf die soziokognitive Entwicklung bedeutet das, auch Anlagen zu postkonventionellem Denken treffen erst in der Moder ne auf Bedingungen, die ihre Entfaltung breitenwirksam ermöglichen. In genau diesem Sinne versteht Kohl berg Postkonventionalität als Zielpunkt der Entwicklung. 22 | Bei Kohlberg sind dies letztlich deontologische Moralvorstellungen kantianischer Provenienz. Diese mit den Mitteln einer psychologischen Theorie vorgenommene Auszeichnung einer bestimmten moralphilosophischen Position ist oft kritisiert worden (vgl. statt vieler Habermas 1983; 1986). Da Kohlbergs Haltung in dieser An gelegenheit für das hier verfolgte Bezugsproblem – Herausarbeitung der Logik der Entwicklung reflexiver Identität – nicht relevant ist, bleibt sie, wie schon die Unterstufen seiner Theorie, außer Betracht gestellt.

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Schaubild 6: Modernisierung der Person (eigene Darstellung)

Das eigentliche die Struktur einer solchen Identität wie auch von Postkonventionalität kennzeichnende Merkmal ist vielmehr ein gesteigertes Bewusstsein der Konstruktivität und Kontingenz der das Selbst- und Umweltverhältnis der Person betreffenden soziokulturellen Vorgaben. Kohlbergs Befund, dass der Durchbruch zu Postkonventionalität, wenn überhaupt, frühestens in der Adoleszenz erfolgt und kaum vor Ende des dritten Lebensjahrzehnts als dauerhafte intrapsychische Struktur gefestigt werden kann, deutet darauf hin, dass die Ausbildung einer solchen Identität ein schwieriger und riskanter Prozess ist. Dafür spricht auch die Beobachtung, dass die Abkehr vom konventionell eingelebten Basissupport für eine in ihren Grundzügen unhinterfragte Herkunftskultur oft mit schweren Identitätskrisen einhergeht (Döbert/Nunner-Winkler 1975). Denn diese Abkehr zieht der sich bildenden Person buchstäblich den Boden unter den Füßen weg, solange es an einem alternativen Orientierungssystem mangelt, das an die Stelle der reflexiv gebrochenen und entwerteten Deutungsmuster treten könnte. Um den damit verbundenen Problemen auf theoretischer Ebene Rechnung zu tragen, hat Kohlberg sein Modell um eine Übergangsstufe 4 ½ erweitert, die das Zwischenstadium eines nicht mehr konventionellen, aber auch noch nicht stabil postkonventionellen Bewusstseins abzubilden

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sucht.23 Verknüpft man diesen Vorschlag mit zentralen Annahmen eines von Hans-Joachim Giegel (1988) entwickelten Reflexionsstufenmodells und schneidet man beides auf die hier interessierende Frage zu, dann lässt der Prozess der Herausbildung einer reflexiven Identität sich, wiederum stark vereinfacht, wie folgt modellieren: Schaubild 7: Postkonventionelles Denken. Ausbildung einer reflexiven Identität (eigene Darstellung)

Ausgangspunkt ist die moderne Modalpersönlichkeit des 20. Jahrhunderts (Stufe 1). Im Mittelpunkt ihrer Identitätsbestimmung steht eine zielstrebig verfolgte Berufskarriere, der andere Bedürfnisse untergeordnet werden. In Fragen der Berufsbiografie weist dieser Persönlichkeitstyp, wie Giegel betont, eine durchaus große Entscheidungs- und Selbststeuerungsfreudigkeit auf. Dem entspricht allerdings eine eher konventionelle Orientierung in anderen Lebensbereichen, die der Reflexion entzogen bleiben und in den Bahnen lizensierter Normalbiografien prozessieren. Reflexion findet also statt, bleibt aber punktuell.

23 | Hält man sich an die Grobeinteilung von präkonventionellen, konventionellen und postkonventionellen Mo ralstufen, d.h. ignoriert man die betreffenden Unterstufen, dann müsste es Stufe 2 ½ heißen. Für eine voll ent faltete, stabilisierte reflexive Identität kommt tatsächlich nur eine postkonventionelle Moral in Frage, aber inhaltlich präjudiziert das wenig. Festgelegt wird nur eine Haltung, die den Rückweg zu einem konventionel len (in der Diktion der Klassiker: »traditionellen«) Moralverständnis versperrt.

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Das ändert sich, wenn infolge wie immer ausgelöster Infragestellungen der institutionalisierten Vorgaben für biografische Entwicklungsprozesse Suchbewegungen in Gang gesetzt werden, die das gesamte Spektrum lebenspraktischer Entfaltungsmöglichkeiten und überlieferter Deutungsmuster zum Gegenstand kritischer Reflexion machen. Solche Suchphasen, die mit starker Verunsicherung der Betroffenen einhergehen und sich über Zeiträume von mehreren Jahren hinziehen können (Stufe 2), müssen freilich irgendwann abgebrochen werden. Im Erfolgsfall führen sie zur Ausbildung einer stabilen reflexiven Identität (Stufe 3). Ein wichtiger Schritt in diese Richtung ist ein weiterer Reflexionsprozess, eine Art Reflexion der Reflexion, mit der die Gefahr eines durch erhöhte Reflexivität induzierten Absturzes in die Bodenlosigkeit verhindert wird. Dieser weitere Reflexionsprozess ermöglicht einen souveräneren Umgang mit der durch vorangegangene Reflexionsprozesse ausgelösten totalen Kontingenzerfahrung, ohne deren kritische Funktion komplett aufzuheben. Die sich bildende Person tritt damit zu sich und ihrer Umwelt in ein Verhältnis ironisch-kritischer Distanz, kann Schwächen, Widersprüche usw. tolerieren und gleichwohl (oder gerade deshalb) ihr Leben weitgehend selbstverantwortlich gestalten. Gelingt die Reflexion der Reflexion dagegen nicht, drohen Dauerkrisen oder auch Regressionen auf dem Entwicklungsniveau der Modalpersönlichkeit vorangehende Stufen der Persönlichkeitsbildung. Das kann hier nicht näher ausgeführt zu werden. Wenn es dennoch wenigstens erwähnt wird, so deshalb, weil Kohlberg nur positive Ausgänge aus der Übergangsphase zwischen Konventionalität und Postkonventionalität vorsieht. Das scheint wenig realistisch, und deshalb wird die Möglichkeit des Scheiterns im hier vorgestellten Stufenschema systematisch mitberücksichtigt.

4.4 Modernisierung des Organismus Die sozialwissenschaftliche Beobachtung der Moderne hat eine Literaturgattung hervorgebracht, die sich mit auf den menschlichen Körper gerichteten Wandlungsprozessen befasst. In sozialtheoretischen Untersuchungen zur Moderne kommen die durch diese Forschung zutage geförderten Befunde entweder (so gut wie) nicht vor oder sie begründen eine eigene, ganz auf das betreffende Geschehen fokussierende Linie der Konzeptualisierung von Modernität, die mit anderen Theorieschulen kaum Austausch pflegt und von diesen auch weitgehend ignoriert wird. Den damit ver-

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bundenen Engführungen soll hier mit einer Beobachtungskategorie abgeholfen werden, die die Modernisierung des Organismus als eine eigene Dimension des Modernisierungsprozesses fasst. In einer ersten Annäherung wird dabei zwischen Disziplinierung des Körpers einerseits und Optimierung bzw. Perfektionierung des Körpers andererseits unterschieden. Zu den wichtigsten unter den Begriff der Disziplinierung rubrizierten Phänomenen gehören die vor allem von Norbert Elias (1980) notierte Wandlung der Affekt-, Trieb- und Kontrollstrukturen sowie die Verfeinerung der Sitten, Manieren, Gebärden usw. im Gefolge säkularer Zivilisationsprozesse. Wie Elias zeigt, verbindet sich der Übergang von überwiegend agrarisch geprägten Lebensverhältnissen zu zunächst höfischen, dann zunehmend urbanen Lebensweisen mit weitreichenden Umstellungen im Gefühlshaushalt und Verhaltenskodex der Oberschichten. Später diffundieren die durch den Adel kultivierten – keineswegs mühelos eingeübten, sondern »Zucht« und »Selbstzwang« erfordernden – neuen Standards ins städtische Bürgertum, um schließlich, vermittels des sich ausbreitenden Schulwesens und der Massenmedien, die gesamte Bevölkerung zu erfassen und zum Leitbild zivilisierten Verhaltens schlechthin zu werden. Die von Elias am europäischen Fall herausgearbeiteten Wandlungen, für die sich frühe, auf die Oberschichten beschränkte Parallelen auch in anderen Weltgegenden, z.B. in China (vgl. Burke 2009), finden, lassen sich heute global beobachten. Dasselbe gilt für einen zweiten Typ von Disziplinierungsphänomenen, die Einzwängung des menschlichen Organismus in industriell-bürokratische Kontroll- und Zeitregimes, die eine radikale Umstellung des Körper- und Zeitempfindens nach sich ziehen. Ihre Erforschung verdankt den Werken Max Webers (1984) und Edward Thompsons (1967) wichtige Impulse. Damit verwandt, aber nicht identisch sind die von Foucault (1976; 1980) herausgearbeitete und durch allerlei Überwachungstechniken forcierte Sublimierung und Interiorisierung (externer) Gewalt-, Macht- und Zwangsverhältnisse im Gefolge des Rückzugs (und allmählichen Rückgangs) extremer Formen manifester Gewaltausübung aus der Öffentlichkeit sowie die etwa zeitgleich anlaufende Entwicklung von verstärkt das Sexualleben und andere Lebensbereiche reglementierenden »Biopolitiken«, die sich zusammengenommen als eine dritte Form von Disziplinierungsprozessen fassen lassen. Da die betreffenden Phänomene wohlbekannt sind, seien sie hier nur kurz erwähnt, um eine grobe Vorstellung von der Richtung des Gemeinten zu vermitteln.

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Ebenfalls, aber unter einem anderen Gesichtspunkt auf den Körper gerichtet ist eine zweite Gruppe von Aktivitäten, die sich als Optimierungsund Perfektionierungsbestrebungen bezeichnen lässt. Ausgangspunkt ist hier die Selbstperzeption des Menschen als Mängelwesen. Nachdem er seine Blüte erreicht hat, altert der Körper, büßt er an Attraktivität und Funktionstüchtigkeit ein. Die Haut wird schlaff und welk, die Glieder werden steif, die Knochen brüchig, die Sinnesorgane stumpfen ab, die Zähne fallen aus, schließlich stirbt der ganze Rest. Der Körper ist schmerzempfindlich und kann deshalb zu einem Gehäuse des (nicht nur) physischen Leidens werden. Seine Leistungsfähigkeit ist, gemessen an einer Phantasie, die kaum Grenzen kennt, gering. Er verströmt unangenehme Gerüche. Er ist verletzlich und bedroht in dieser Verletzlichkeit laufend unsere – unausweichlich körpergebundene – Existenz. Er ist, kurzum, alles andere als perfekt. Aber er lässt sich verbessern, ›transformieren‹ (Clarke u.a. 2003). Man kann Programme zur Heranzüchtung sozial und biologisch optimierter Körper auflegen, die ›minderwertiges‹, zu Deformationen oder Krankheiten disponierendes Erbgut eliminieren; am Ende gar die Evolution der Gattung selbst in die Hand nehmen: Eugenik, Präimplantationsdiagnostik, Gentechnologie usw.24 Man kann ausgefallene oder abgetrennte Gliedmaßen durch künstliche ersetzen, kann optische Makel ausmerzen, das äußere Selbst gängigen Moden und Schönheitsidealen anpassen, den Alterungsprozess (dem Anschein nach) um Jahre hinauszögern usw.: plastische und kosmetische Chirurgie; Bodybuilding. Man kann das Leistungsvermögen steigern – mit Sport und Fitnesstraining, aber auch durch Einnahme pharmakologischer Präparate: Doping, inzwischen auch des Gehirns (›Neuroenhancement‹). Man kann von einer körperlosen Existenz in der grenzenlosen Welt des world wide web träumen – »leaving the body behind« (Eerikänen 1999: 230) – und mit solchen oder anderen Träumen Entwicklungen anstoßen, die Grenzen verschieben, Möglichkeitsräume des Handelns, Erlebens, Seins in der Welt ausweiten. Man kann den Kör24 | »Homo sapiens«, heißt es am Ende eines 1968 publizierten Berichts der National Academy of Sciences der Vereinigten Staaten zu den Errungenschaften der life sciences, der die Förderung gentechnologischer For schung anregt und sich dabei offen in die Tradition der Eugenik stellt, »has overcome the limitations of his origin. […] Now he can guide his own evolution« (zitiert bei Keller 1992: 288; Hervorhebung weggelassen). Unsere biologische Konstitution ist nicht länger ›Schicksal‹, sondern wird zu einem Gegenstand der Wahl.

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per technisch aufrüsten oder chemisch verändern – von der Brille über die Impfung bis hin zum Herzschrittmacher –, um seine Funktionalität zu erhöhen, Anfälligkeit zu minimieren, Lebensdauer zu verlängern; letztlich ihn unsterblich zu machen: »creating cyborgs« (Gray 1995), regenerative Medizin (Lafontaine 2009) usw. Viele dieser Entwicklungen haben eine lange, zum Teil Jahrtausende zurückreichende Vorgeschichte (zur plastischen Chirurgie vgl. etwa Gilman 1999; zur Eugenik Kelves 1992). In der Moderne werden sie, angesichts einer historisch beispiellosen Technikentwicklung, zu einem die Lebenserfahrung, den Erwartungshorizont und den Alltag von erst Millionen, dann Milliarden Menschen bestimmenden Phänomen. Daraus erwächst ihnen eine neue Qualität: Sie sind nicht mehr aus der Welt zu schaffen, und da sie, zumal in der Summe, das Körperverhältnis im Vergleich zu vormodernen Verhältnissen grundlegend ändern, müssen auch sie zum strukturellen Bestand der Moderne gerechnet werden. Wer die (globale) Moderne verstehen will, kommt also nicht darum herum, sich mit ihnen zu befassen. Und da sie mit den anderen Dimensionen des Modernisierungsprozesses zwar im Zusammenhang stehen, sich aber nicht auf eine oder mehrere dieser Dimensionen reduzieren lassen, reserviert der hier entwickelte Konzeptualisierungsvorschlag ihnen eine eigene Kategorie.

4.5 Globale Entwicklungstrends Die vorstehenden Ausführungen dienten dem Zweck, einen konzeptuellen Rahmen zu skizzieren, dessen Pfeiler das Terrain abstecken, das mindestens in den Blick zu nehmen ist, um zu einem sozialtheoretisch gehaltvollen Begriff von Modernität zu gelangen. Jede Konzeption der Moderne, die eine oder mehrere Dimensionen des Modernisierungsprozesses ausblendet, erscheint vor diesem Hintergrund als unvollständig. Das muss sie nicht entwerten, denn wissenschaftliches Beobachten ist immer selektiv. Aber es relativiert den Anspruch mancher Paradigmen, ›die‹ Moderne insgesamt auf den Begriff zu bringen. Auch das hier vorgeschlagene Suchschema mag sich bei näherer Betrachtung als ergänzungsbedürftig erweisen. Das wäre z.B. dann der Fall, wenn es nicht gelänge, Aspekte des Modernisierungsgeschehens darin unterzubringen, von denen begründet anzunehmen ist, dass sie dazugehören und deren Nichtberücksichtigung ein verzerrtes, unterkomplexes

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oder anderweitig unzulängliches Bild von der Moderne zeichnen würde. Dann müsste es erweitert oder durch ein besseres Schema ersetzt werden. Immerhin scheint es breiter aufgestellt als die zurzeit im Angebot befindlichen Alternativen. Unterstellt, das Schema böte einen brauchbaren Ansatzpunkt für modernetheoretische Analysen, dann sollten die für die einzelnen Dimensionen des Modernisierungsgeschehens herausgestellten Strukturmuster allgemeine Entwicklungstrends, Konstanten der Modernisierung benennen, die sich überall abzeichnen, wo moderne Ar rangements vormoderne Struktur muster ablösen, und sie sollten umso stärker zur Geltung kommen, je mehr Modernes sich in den Vordergrund schiebt. Globale Moderne hieße dann, dass die Transition zur Modernität so weit vorangeschritten ist, dass moderne Strukturmuster die ganze Welt in ihren Bann ziehen – wenn auch nicht überall mit derselben Penetrationskraft. 25 Für viele solcher Strukturmuster gibt es, wie bereits mehrfach angeklungen, vormoder ne Vorläufer.26 Funktionale Differenzierung auf der Ebene der Entwicklung spezialisierter Rollen, etwa zur Ausführung administrativer Funktionen, gibt es schon lange. Aber das geschieht im Rahmen einer anderen Gesellschaftsordnung. Folgt man Luhmann (1980: 27), dann läuft die »Umstellung eines gesamten Gesellschaftssystems auf eine primäre, die Gesamtordnung bestimmende Differenzierung dieses Typs […] erst im späten Mittelalter an und erreicht erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts (und zunächst nur in wenigen Regionen Europas) eine kaum mehr reversible Lage«. Seither ist ihre Wirkung, wie bereits die Klassiker der Soziologie bemerkten, exponentiell gestiegen. Ähnliches 25 | Die historische Abfolge von Entwicklungsstufen oder -stadien bedeutet nicht, dass die Manifestationen und Errungenschaften evolutionär früherer Formationen sämtlich verschwinden oder komplett substituiert werden. Vielmehr wird das evolutionär Vorausliegende, wie Gesteinsschichten geologischer Formationen, durch die Ablagerungen späterer Stadien überdeckt. Übertragen auf das hier verfolgte Bezugsproblem bedeutet das: Je dünner die oberste, Modernität repräsentierende Schicht, umso mehr Vormodernes ›schimmert‹ sozusagen (noch) durch und bestimmt es die Gegenwartsverhältnisse. 26 | Die soziologische Evolutionstheorie spricht insoweit von »preadaptive advances« (vgl. etwa Luhmann 1997: 512), die künftige Entwicklungen vorwegnehmen, aber erst in späteren Entwicklungsstadien strukturbildend werden.

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lässt sich für die Entwicklung der reflexiven Kultur sagen. Ihre Anfänge werden bis in die sogenannte Achsenzeit vor gut 2.500 Jahren zurückverfolgt, als in den Hochkulturen Eurasiens Transzendenzvorstellungen aufkommen, die eine Kluft zwischen Weltlichem und Göttlichem aufreißen und damit erstmals Anstöße zu systematischen Reflexionsprozessen über die Grundbedingungen des menschlichen Daseins, die Legitimation sozialer Ordnungsbildung usw. geben (vgl. Joas/Knöbl 2004: 446ff.). Aber das bleibt zwei Jahrtausende lang Privileg einer kleinen intellektuellen Elite, und selbst noch die viel weiter vorangetriebene Reflexivität der Gesellschaftstheorie der frühen Neuzeit erscheint im Licht heutiger Maßstäbe als eigentümlich limitiert (Dux 2008: 41ff.). Inzwischen diffundiert reflexives Wissen massenmedial und hält es sich in für die Auf bewahrung von Ideengut geschaffenen Speichereinrichtungen (als neuester Entwicklung: dem Internet) global verfügbar; auf der Ebene der Weltmodelle ist der ihm entsprechende Erwartungsstil ohnedies längst Standard (Meyer u.a. 1997). Nimmt man postkonventionelle Moralvorstellungen als Indikator für das Vorliegen reflexiver Identitäten, dann wird man feststellen, dass ihr Verbreitungsgrad noch in den 1970er Jahren relativ gering war (Döbert/ Nunner-Winkler 1975). Da ein höherer Bildungsstand zu den wichtigsten Determinanten von Postkonventionalität zählt und das sekundäre wie das tertiäre Bildungswesen seither global enorm expandiert sind (Unesco 2009), darf vermutet werden, dass er, wenngleich regional variierend, in allen Teilen der Welt stetig zugenommen hat. Disziplinierungsprozesse mögen in den am weitesten entwickelten Weltgegenden mit dem etwa zeitgleich aufkommenden Wertwandel in Richtung Selbstverwirklichung (Inglehart/Welzel 2005) teilweise entschärft worden sein, aber global gesehen dürften sie durch die noch beschleunigte Proliferation formaler Organisationen (Drori u.a. 2006) gleichwohl einen enormen Schub erhalten haben; dasselbe gilt für Techniken der Körperoptimierung, die seit eben dieser Zeit zu einem globalen Massenphänomen und nicht zuletzt dadurch auch zunehmend normalisiert werden. Was hier für den Vergleich zwischen vormodernen und modernen Verhältnissen gesagt wird, gilt ebenso für die verschiedenen Phasen der Modernität. Auch wenn man die Moderne erst im 18. Jahrhundert beginnen lässt, ist leicht zu sehen, dass sie seither die Lebensbedingungen von immer mehr Menschen immer tiefgreifender umgestaltet hat. Selbst auf den kleinen ›Inseln der Modernität‹, die sich allmählich aus einem Meer ›traditionaler‹ Verhältnisse herausheben, bleiben diese Verhältnisse

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für die Mehrheit der Bevölkerung bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, an den Rändern sogar bis weit ins 20. Jahrhundert hinein, weitgehend intakt (Hobsbawm 1994: Kap. 10; Luhmann 1997: 712; Bayly 2004: Kap. 11). Für den Rest der Welt ist der Befund, verschärft, derselbe.27 Nimmt man eine globale Perspektive ein und orientiert man sich an den im 20. Jahrhundert geläufigen Indikatoren für Modernität, dann scheint es wenig übertrieben zu sagen, die Transition zur Moderne befinde sich in gewisser Weise noch am Anfang, weil moderne Strukturmuster in großen Teilen der Welt erst jetzt auf breiter Front Wurzeln zu schlagen beginnen.28 Setzt dieser Wandlungsprozess sich ungebrochen fort, dann braucht es nicht viel Phantasie sich vorzustellen, dass künftige Gegenwarten sich von heutigen Zuständen noch weitaus radikaler unterscheiden werden als diese von den Umwälzungen des 19. Jahrhunderts, die zeitgenössischen Beobachtern zu Recht den Atem stocken ließen, weil sie alles bis dahin Gesehene in den Schatten stellten. Die Transformationskraft und das Transformationspotenzial der globalen Moderne sind nämlich ungleich größer als diejenigen früherer 27 | Das gilt angesichts der geringen Kontrolltiefe der seinerzeit verfügbaren Kom munikations- und Transport technologie auch für große Teile der von westlichen Mächten kolonialisierten Territorien Asiens. Auf dem Land, wo die Masse der Bevölkerung lebt, ändert der Kolonialismus wenig, und in China, wo westliche Händ ler nirgends ohne einheimische Mittelsmänner auskommen (Arrighi u.a. 2003), funktionieren die Strukturen des imperialen politischen Systems noch in den 1870er Jahren, als existierten die westlichen Enklaven gar nicht. Nur Teile Indiens bilden eine partielle Ausnahme (vgl. Darwin 2007: Kap. 4-6). 28 | Die knapp 250 Jahre, die seit Beginn der Industriellen Revolution verstrichen sind, sind menschheitsge schichtlich betrachtet kein langer Zeitraum, und wenn man die Bedeutung des Übergangs zu modernen Ver hältnissen mit derjenigen der Neolithischen Revolution, die immerhin ca. 10.000 Jahre benötigt hat, um ihr Entwicklungspotenzial auszuschöpfen, auf eine Stufe stellt, dann kann man sich nur wundern, wie viele für die Struktur der Moderne vergleichsweise geringfügige Änderungen Anlass zum Ausrufen grundlegend neuer Epochen geben. Umgekehrt muss es dann auch keineswegs mehr als befremdlich erscheinen, wenn gesagt wird, sehr weit sei die moderne Revolution womöglich noch gar nicht gediehen. Ob und wieweit sie kon tinuierbar ist, dürfte sich aus heutiger Sicht vor allem an der Frage ihrer ökologischen Verträglichkeit ent scheiden (andere Faktoren, die sie ausbremsen könnten, wären unüberwindbare Rohstoff- und Energiemängel sowie Kriege katastrophalen Ausmaßes).

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Phasen der Modernität (vgl. dazu nur das Entwicklungsschema und die Spekulationen bei Morris 2010: 582ff.). Einen Aspekt des mit dem Durchbruch globaler Modernität bereits angelaufenen Transformationsgeschehens behandelt der nun folgende, letzte Abschnitt dieses Aufsatzes.

5. A USBLICK : F OLGEN DER E MERGENZ GLOBALER , POLY ZENTRISCHER M ODERNITÄT Die globale Moderne hat Konsequenzen, die alle Dimensionen des Modernisierungsprozesses betreffen. Manches davon lässt sich rein quantitativ in Steigerungsbegriffen fassen: mehr Wirtschaftswachstum, Wohlstand, (mittelschichttypischer) Konsum, Spezialisierung, Industrie- und Dienstleistungsarbeit, aber auch: Konkurrenz; mehr (effektive) politische und rechtliche Kontrolle bzw. Regulierung; mehr Bildung; mehr (wissenschaftliches) Wissen und Information; mehr technologische Innovation; mehr medizinische Intervention; mehr Urbanität; mehr Mobilität; mehr Langlebigkeit; mehr Stress; mehr Risiko usw.29 Oder umgekehrt: weniger Landwirtschaft, Landleben, Eigenproduktion; weniger Armut (relativ zur Gesamtbevölkerung); weniger kategoriale Ungleichheit (z.B. zwischen den Geschlechtern) usw. Das sind bekannte und statistisch gut belegte Erscheinungen. Erst neuerdings vermehrt Beachtung findet eine andere Entwicklung: die Verschiebung der Machtzentren der modernen Gesellschaft im Zuge der globalen Ausbreitung moderner Arrangements. Der mit dieser Ausbreitung einhergehende Aufstieg Asiens (bis vor Kurzem vornehmlich Ostasiens; nunmehr auch Südasiens) und von Teilen des globalen Südens (z.B. Brasilien) bedeutet einen relativen Abstieg des Westens und das Ende seiner mehrhundertjährigen Vorherrschaft – in der Weltwirtschaft, in der Weltpolitik, in der Weltwissenschaft, wahrscheinlich auch in der Weltkultur. Sofern die Entwicklungstrends der zurückliegenden Dekaden sich fortsetzen, wird der Westen bis Mitte des Jahrhunderts auf allen diesen Feldern dramatisch an Gewicht verlieren (vgl. u.a. Schmidt 2009 und die dort 29 | Enorm angestiegen sind auch die Destruktionskapazitäten und -anfälligkeiten – im Bereich der Waffen technologie, beim Naturverbrauch, durch Schadstoffemissionen, in Katastrophenfällen usw.

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zitierte Literatur). Auch insoweit markiert die Heraufkunft der globalen Moderne also eine welthistorische Zäsur – den Übergang zu einer postwest-, eben: polyzentrischen Moderne, in der der Westen seine Schlüsselposition als Taktgeber und Referenzmodell der Modernisierung verliert, zu einem von mehreren globalen ›Spielern‹ herabgestuft wird, der nicht länger anderen das Geschehen diktiert, sondern selbst vermehrt zur Anpassung an Wandlungen genötigt wird, die ihn betreffen, aber jenseits seiner Kontrolle liegen. ›Polyzentrizität‹ meint zunächst die Auflösung der Zentrum-Peripherie-Verhältnisse der zurückliegenden zwei Jahrhunderte.30 Da diese Auflösung ein gradueller Prozess ist, ist, zumindest mittelfristig, nicht damit zu rechnen, dass an die Stelle des alten Zentrums ein neues Zentrum tritt, das alle anderen komplett dominiert. Vielmehr steht zu erwarten, dass es, bei einer gewissen Konzentration auf Nordamerika, Westeuropa und die entwickelteren Teile Asiens, zu einer Proliferation von Zentren an unterschiedlichen Orten in allen Teilen der Welt kommt. Zu denken ist dabei nicht allein an staatliche Akteure, sondern auch (und in gewisser Weise sogar vorrangig) an »global assemblages« (Sassen 2008), Anziehungspunkte und Ansammlungen von privaten oder halbprivaten Organisationen, deren Aktivitäten, Experimente, Vorstöße globale Strahlkraft besitzen. Das können multifunktionale Formationen wie z.B. Weltstädte sein, aber auch funktional spezialisierte Netzwerke oder ›Cluster‹, die sich, wie etwa globale Netzwerke von Finanzzentren oder auch die Filmindustrie, (bei Zentralstellung bestimmter Knotenpunkte; dazu z.B. Cohen 2002) auf eine Mehrzahl von über den ganzen Globus verstreuten Orten verteilen und deren Ortsgebundenheit sich lediglich dem Umstand verdankt, dass sie an den betreffenden Orten Bedingungen vorfinden, die ihren Anliegen, Interessen usw. förderlich sind – ändern sich die Bedingungen, werden einzelne Standorte rasch zur Disposition gestellt. Wie die Funktionssysteme der modernen Gesellschaft zeichnen auch diese ›assemblages‹ sich 30 | Die hier erfolgende Verwendung des Begriffs der Polyzentrizität unterscheidet sich von derjenigen in der Glo balisierungsliteratur, die vor allem auf die Herausbildung nicht-staatlicher Formen der governance und die damit einhergehende relative Bedeutungsminderung staatlicher Akteure abstellt (vgl. dazu statt vieler Scholte 2005). Dem soll nicht widersprochen, aber eine weitere Bedeutungskomponente hinzugefügt werden, die eine bislang weniger beachtete Konsequenz des Globalisierungsprozesses akzentuiert.

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durch Selbstreferenzialität aus: Sie mögen sich, solange sie erfolgreich sind, (punktuell) für übergeordnete Zielsetzungen (auch solche nationaler Art) einspannen lassen, direkt verpflichten lassen sie sich darauf nicht. Diese unter Stichworten wie Denationalisierung oder Bedeutungsverlust staatlicher Akteure beschriebenen Entwicklungen werden in der Globalisierungsliteratur breit diskutiert. Blickt man, informiert durch die Beobachtungen dieser Literatur, auf frühere Phasen der Modernität zurück, wird deutlich, dass auch die Rede von einer eurozentrischen oder westzentrischen Moderne im Grunde nur metaphorisch zu verstehen ist. Denn es waren ja nie Europa, auch nicht ein oder mehr europäische Länder, die ›die‹ Konturen ›der‹ (europäischen) Moderne bestimmt haben, sondern spezifische auf europäischem Territorium angesiedelte assemblages – Gruppen von Städten oder städtischen Ballungsräumen, die in bestimmten Hinsichten eine herausgehobene (in diesem Sinne: Zentrums-)Rolle spielten, Netzwerke von Organisationen, z.B. Unternehmen oder Universitäten, die kaum staatlich gebunden waren und sich teilweise auch auf Orte konzentrierten, die ansonsten durchaus zweit- oder drittrangig sein konnten (Bologna, Heidelberg, Oxford). Für die Vereinigten Staaten gilt derselbe Befund. Wer den USA die Führungsposition in der westzentrischen Moderne bescheinigt, wird dabei nicht an Alabama oder Wyoming und auch z.B. in Illinois nur an Chicago denken. Andererseits ist auch klar, dass es einen Unterschied macht, wo solche assemblages sich befinden. Zentren wirtschaftlicher, wissenschaftlicher, kultureller usw. Produktion strahlen nicht nur auf die globale, sondern auch auf die lokale Peripherie ab, können sich nachhaltig auf die Lebensverhältnisse und die Lebenschancen der Bevölkerung in ihrer unmittelbaren und erweiterten Nachbarschaft auswirken, zumal sie typischerweise in räumlicher Nähe zueinander auftreten, sich wechselseitig befruchten und mit Ressourcen versorgen usw. Weder ihre Operationen noch ihre Wirkungen machen an Staatsgrenzen halt. Gleichwohl gibt es, nicht zuletzt als Folge politischer Planung und Steuerung, vielerorts nationaltypische Muster des Wirtschaftens, der Erziehung, der Organisation wissenschaftlicher Forschung usw., und es ist, trotz der relativen Selbstbezüglichkeit eines wachsenden Maßes an organisationalem Geschehen, auch keineswegs unmöglich, etwa europäische, ostasiatische, lateinamerikanische Besonderheiten, Befindlichkeiten, Stile, kurzum: Kulturen der Problemperzeption und -bearbeitung auszumachen, die ganze Regionen kennzeichnen. Insofern ist es dann doch berechtigt, in umfassenderen geografischen oder

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territorialen Kategorien zu denken, von einer europäischen oder amerikanischen oder westlichen Zentrumsrolle zu sprechen. Denn wenn es auch beispielsweise nicht ›die USA‹ waren, ›deren‹ Universitäten und Forschungseinrichtungen im 20. Jahrhundert ›das‹ Zentrum der Weltwissenschaft bildeten (Ben-David 1971), so waren es doch vorrangig auf dem Territorium der Vereinigten Staaten angesiedelte Wissenschaftsorganisationen, denen diese Vorrangstellung zukam – und nicht etwa solche mit Sitz in Zentralasien, Nordafrika oder Südamerika. Entsprechend hat, wer wissen wollte, wie die Zukunft der Wissenschaft aussieht, mit gutem Grund nach Nordamerika geschaut. Dasselbe gilt für andere Funktionsbereiche der Gesellschaft – und: für deren Zusammenhang. Daraus folgt im Umkehrschluss, dass man bei vorsichtiger Wortwahl und eingedenk der genannten Einschränkungen sehr wohl auch vom Aufstieg Ostasiens oder Chinas sprechen und sowohl der Region als Ganzer als auch der Volksrepublik China im Besonderen eine Zentrumsrolle in der polyzentrischen Moderne zusprechen kann – und nicht nur speziellen in diesem Teil der Welt ansässigen assemblages. Mittlerweile beginnt sich abzuzeichnen, was das für die Weltwirtschaft (dazu zuletzt Webber 2010), die Weltpolitik (National Intelligence Council 2008) und die Weltwissenschaft (Unesco 2010) bedeutet. Aber wie wirkt es sich auf die Weltkultur aus – und damit zugleich auf die Selbstbeschreibung der globalen Moderne als Teil von Weltkultur? Wissen kann das heute niemand. Man kann aber begründete Vermutungen anstellen. Wie John Meyer (Meyer u.a. 1997: 167) betont, hat die wirtschaftliche, politische und technologische Dominanz des Westens auch auf die Bestimmung der von ihm so genannten Weltmodelle durchgeschlagen. Weltmodelle sind global verbindliche Leitvorstellungen adäquater Entwicklung. Die Semantik solcher Sinnmuster versteht sich allerdings nicht von selbst, sondern ist umstritten, Gegenstand fortlaufender deutungspolitischer Konflikte. Denn wer die Begriffe kontrolliert, kann damit präferierte Pfade und Ziele der Entwicklung auszeichnen, an denen andere sich ausrichten müssen. Solange das Zentrum der Moderne im Westen lag, genoss der Westen dieses Privileg nahezu uneingeschränkt. Polyzentrizität meint, dass er es verliert. Denn in dem Maße, wie individuelle und kollektive Akteure außerhalb des Westens in die Moderne eintreten, den Entwicklungsabstand zum Westen verkürzen und zu ihm aufschließen, verringert sich das Risiko der Zurückweisung unpopulärer Sinnzumutungen. Zugleich steigt das Variationspotenzial für Sinnmutationen, weil nun

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gleichzeitig an vielen Orten moderne Arrangements, Ideen, Identitäten und darauf bezogene Reflexionen generiert werden, die Gelegenheiten für die Erzeugung neuen, von der Orthodoxie abweichenden Sinns bieten, der zudem bessere Selektions- und Retentionschancen hat, weil er nicht länger der Sanktionsmacht eines Fügsamkeit gebietenden Zentrums weichen muss. Kurzum, die schon vor der Emergenz globaler Modernität große Vielfalt der Sinnmuster nimmt weiter zu, und da Polyzentrizität mit einer Symmetrisierung der Wissensflüsse zwischen ehemaligem Zentrum und ehemaliger Peripherie einhergeht, steht zu erwarten, dass die Weltmodelle der Zukunft auch weniger originär westliches Ideengut reflektieren werden. Bei technischen Standards und in der populären Kultur sind entsprechende Tendenzen bereits erkennbar. Wie sie die Selbstbeschreibung der (globalen) Moderne im Einzelnen affizieren werden, ist schwer zu sagen; die intellektuelle Reflexion dazu läuft gerade erst an.31 Zumal die westliche Intelligenz wird es sich aber kaum leisten können, die Welt auch künftig nahezu ausschließlich durch das Prisma einer wie immer definierten westlichen Moderne zu betrachten. Denn das Zeitalter der westzentrischen Moderne, in dem ›Westliches‹ und ›Modernes‹ praktisch ein und dasselbe waren, ist vorbei. Und auch die Dynamik der Moderne dürfte künftig stärker als je zuvor von außerhalb des Westens ausgehen. Grund genug also, sich auf das Abenteuer einer globalen Soziologie einzulassen.

31 | Unwahrscheinlich ist aber, dass sich nichts ändert. Schon der innerwestliche Diskurs verstand im Jahr 2000 etwas anderes unter Modernität als 1950, 1900, 1850 – nicht zuletzt als Folge des Hinzutretens von Diskursteilnehmern, die zuvor exkludiert oder marginalisiert waren (Arbeiter, Juden, Frauen, Schwarze, Homosexuel le usw.). Derselbe Befund gilt für spezielle institutionelle Ordnungen, etwa für das Verständnis von politi scher Demokratie – mit dem Ergebnis, das einstmals demokratisch genannte Ordnungen heute nicht mehr als Demokratien durchgehen würden (so beispielsweise Inglehart/Welzel 2005: 35f.).

Globale Moderne. Skizze eines Konzeptualisierungsversuchs

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Aufstieg und Fall der Modernisierungstheorie und des säkularen Bildes ›moderner Gesellschaften‹ Versuch einer Historisierung Wolfgang Knöbl

»Vor zehn Tagen war er vielleicht noch über das Common, den Park im Herzen Bostons, geschritten, unter den Armen große Pakete von jenen Büchern, die er zu seiner Vorbereitung über den Fernen Osten und die Probleme Chinas gelesen hatte. Er hörte gar nicht, was ich sagte; so eingehend befasste er sich bereits mit den Zwangsentscheidungen der Demokratie und der Verantwortung des Westens. Sehr bald sollte ich erfahren, dass er fest entschlossen war, Gutes zu tun, nicht einem einzelnen Menschen, sondern einem Land, einem Kontinent, einer Welt. Nun, jetzt war er in seinem Element, und das ganze Universum stand ihm für seine Weltverbesserungspläne offen.« (Greene 1978 [1955]: 22)

Diese Sätze stammen von einem der Helden eines berühmten und bereits mehrfach verfilmten Romans von Graham Greene, The Quiet American oder in deutscher Übersetzung: Der stille Amerikaner. Thomas Fowler heißt der Held, ein ältlicher, opiumabhängiger und zutiefst zynischer englischer Kriegsberichterstatter zu Beginn der 1950er Jahre in Vietnam, als die Franzosen ziemlich aussichtslos ihren Kolonialkrieg gegen die Unabhängigkeitsbewegung der Vietnamesen zu gewinnen suchen und der amerikanische Geheimdienst sich bereits einschaltet, um auf jeden Fall Vietnam nicht den Kommunisten zu überlassen. Der Zyniker Fowler beschreibt mit den eben zitierten Sätzen den gerade in Vietnam angekommenen jungen und dynamischen Diplomaten Alden Pyle, der – unzweifelhaft auch CIAAgent – mit neuen und scheinbar zwingend logischen Ideen, die es in die Tat umzusetzen gilt, die vietnamesischen Verhältnisse im Sinne der ameri-

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kanischen Regierung zu steuern versucht. Fowler schildert Alden Pyle des Weiteren folgendermaßen: »Pyle war ein sehr ernster Mensch, und ich hatte oft unter seinen Vorträgen über den Fernen Osten zu leiden gehabt, den er seit ebenso vielen Monaten kannte, wie ich Jahre dort verbracht hatte. Die Demokratie war sein zweites Lieblingsthema, und er hatte ganz entschiedene und aufreizende Ansichten über die Leistungen, die die USA für die übrige Welt vollbrachten.« (Greene 1978 [1955]: 13)

Das Faszinierende an Greenes 1955 erschienenem Roman ist sicherlich die prägnant herausgearbeitete Spannung zwischen dem Guten einerseits und dem guten Willen andererseits. Der Engländer Fowler, Repräsentant einer alten Kolonialmacht, die freilich in jenem Indochina-Krieg nur zusieht, ist keine Figur, der man allzu große Sympathien entgegenbringen wird. Er ist nicht nur ein drogenabhängiger und lebensmüder Zyniker, sondern auch einer, der um seiner emotionalen und sexuellen Bedürfnisse willen seine viel jüngere vietnamesische Freundin ausbeutet. Auf der anderen Seite der Amerikaner Pyle, Angehöriger einer neuen, dynamischen, einer bei Weitem nicht so stark in den Kolonialismus verstrickten, weil noch ziemlich jungen Nation, ein ernster, schüchterner, privat höchst aufrichtiger Mensch, der sich viele Gewissensbisse macht, als er Fowler die Freundin ausspannt, die er allerdings auch in die USA mitzunehmen und zu heiraten gedenkt. Und doch, so sehr die Attribute ›gut‹ und ›böse‹ ein für alle Mal definiert und verteilt scheinen: Der Leser des Romans erhält schnell den Eindruck, dass der britische Zyniker und Drogenfreak Fowler die Wirklichkeit angemessener wahrnimmt als dieser junge und hochgebildete Mann aus Boston mit den großartigen Weltverbesserungsideen, deren Durchsetzung zu unübersehbaren Nebenfolgen führt. In ebenso brillanter wie bösartiger Weise gelingt Graham Greene mit diesem Roman die Ausleuchtung einer historischen Situation, in der westliche Staaten und hier insbesondere die USA Einfluss zu nehmen versuchten auf Nationen, die es zu ›entwickeln‹ galt. Greene wusste dabei durchaus, wovon er sprach, war er doch selbst einige Zeit in Vietnam (vgl. Sheldon 1995: 389-412) und damals mit dem britischen Geheimdienst verbunden gewesen, so dass er kenntnisreich, aber natürlich in fiktionaler Weise schildern konnte, wie Akteure eine sich allmählich herausbildende Theorie zu implementieren versuchten, deren normativer Gehalt scheinbar von niemandem ernsthaft in Frage gestellt werden konnte – die Moder-

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nisierungstheorie! Mit diesem Sujet hat Greene einen Volltreffer gelandet, denn – ohne dass er es vorausahnen konnte – kaum eine andere Theorie, mit Ausnahme vielleicht des Marxismus, sollte derart einflussreich werden wie sie, nicht nur, weil Modernisierungstheoretiker in vielerlei Hinsicht die praktische (Entwicklungs-)Politik angeleitet haben, sondern weil das mit der Modernisierungstheorie verbundene Bild der ›Moderne‹ in das Alltagsbewusstsein einer großen Zahl von Menschen eingegangen ist. Wenn heute von ›Moderne‹ die Rede ist, dann spielen ganz gewiss auch Prämissen und Thesen eine Rolle, wie sie unmittelbar nach 1945 formuliert worden waren. Deshalb sollte im Rahmen einer Beschäftigung mit der Modernisierungstheorie nicht nur die kritische Auseinandersetzung mit ihr eine Rolle spielen, sondern insbesondere auch eine Historisierung ihrer Aussagen und des mit ihr verbreiteten Moderne-Bildes. Eine solche Historisierung wird im Folgenden in fünf Schritten erfolgen: In einem ersten Schritt werden zunächst die historischen Ursprünge der Modernisierungstheorie und damit ihr konkreter politischer Entstehungskontext beschrieben. Die Modernisierungstheorie war ein amerikanisches Projekt einer ganz bestimmten welthistorischen und -politischen Epoche, was aber bezüglich der Qualität der Theorie allein noch kein Urteil erlaubt: Die historische Genese einer Theorie determiniert sicherlich nicht vollständig deren Geltung! Dennoch wird sich zeigen, dass die ursprüngliche Prägung der Modernisierungstheorie viel über ihre späteren theoretischen Probleme aussagt. – In einem zweiten Schritt wird dargelegt, wie stark die frühe Modernisierungstheorie – und daran hat sich in ihrer weiteren Entwicklung nicht viel geändert – zugleich auch an säkularisierungstheoretische Thesen gekoppelt war. Das Bild der Moderne, das die Modernisierungstheorie entwarf, war in der Tat ein ganzes Weltbild, in dem alle möglichen Phänomene – mitunter auch die Religion – einer ganz bestimmten Deutung zugeführt wurden. – In einem dritten Schritt wird begründet, warum die Modernisierungstheorie – ein irgendwie großartig-spektakulärer Versuch der Theoriebildung – Ende der 1960er Jahre intellektuell zusammenbricht. Die interne Kritik an ihr wird so massiv, dass sich der Kern der Theorie aufzulösen beginnt. Die Theorie ist meiner Auffassung nach also schon vor langer Zeit gescheitert, obwohl es immer wieder auch Versuche zu ihrer Wiederbelebung gegeben hat. Jedenfalls sollte man die Geschichte der Modernisierungstheorie gut kennen, weil sich so noch immer am besten verstehen lässt, was gute und was weniger gute makrosoziologische Argumente sind und warum sich bestimmte

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Bilder der ›Moderne‹ so hartnäckig halten. – Der vierte Schritt wird dann darin bestehen, zu zeigen, dass auch die mit der Modernisierungstheorie verbundenen Säkularisierungsannahmen zunehmend in die Kritik gerieten, dass es trotz unbestreitbarer Säkularisierungsphänomene immer schwieriger wurde, eine allgemeine Theorie der Säkularisierung zu formulieren und dass darüber auch die Vision einer bald heraufkommenden säkularen ›Moderne‹ zunehmend an Plausibilität verlor. – In einem fünften und letzten Schritt wird schließlich erörtert, wie sich makrosoziologisch plausibler argumentieren lässt, als dies innerhalb der Modernisierungstheorie geschehen ist.

1. D ER E NTSTEHUNGSKONTE X T DER M ODERNISIERUNGSTHEORIE Beginn und frühe Entwicklung der Modernisierungstheorie sind genau in der Zeit zu finden, in der Graham Greene seinen Roman spielen lässt, nämlich Anfang der 1950er Jahre. Und so ist es auch kein Zufall, wenn Greene in den in der Einleitung des Aufsatzes zitierten Passagen beschreibt, wie der Amerikaner Alden Pyle beladen mit großen Buchpaketen durch den Boston Common geht. Denn tatsächlich sollte Boston und das dortige Massachusetts Institute of Technology für die Modernisierungstheorie eine ganz wichtige Rolle spielen. Aber all dies ist natürlich nur anekdotisch, weshalb es nun an der Zeit ist, zu systematischeren Argumenten überzugehen. Die Modernisierungstheorie ist zweifellos mit der Hochzeit des beginnenden Kalten Krieges und insbesondere mit der Präsidentschaft Harry S. Trumans verbunden (vgl. zum Folgenden Baumann 1990). Schon in den Jahren 1947/48 lief die unter dem Namen »Marshall-Plan« bekannt gewordene amerikanische Initiative an, den Wiederaufbau Europas durch großzügige Wirtschaftshilfe voranzutreiben, um so insbesondere kommunistischen Machtübernahmen entgegenzuwirken. Dieses von der ersten Truman-Administration eingeleitete und durchgeführte Vorhaben wurde durch das sog. »Point Four«-Programm, das Harry S. Truman im Januar 1949 anlässlich seiner Antrittsrede für seine zweite Amtszeit präsentierte, auch auf außereuropäische Länder ausgedehnt (vgl. Amuzegar 1958). Die zunächst auf Europa beschränkte Containment-Politik wurde somit erheblich ausgeweitet. Trumans hier erwähnte Antrittsrede war deshalb so

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bemerkenswert, weil sie fast ausschließlich außenpolitische Themen zum Inhalt hatte und dabei den ›nichtwestlichen‹ Regionen und Ländern der Welt einen geradezu visionären Entwicklungsweg aufzeigte, der mit Hilfe der USA zu beschreiten wäre. »For the first time in history, humanity possesses the knowledge and skill to relieve the suffering of these people. The United States is pre-eminent among the nations in the development of industrial and scientific techniques. The material resources which we can afford to use for the assistance of other peoples are limited. But our imponderable resources in technical knowledge are constantly growing and are inexhaustible. I believe that we should make available to peaceloving peoples the benefits of our store of technical knowledge in order to help them realize their aspirations for a better life.« (www.americanrhetoric.com/ speeches/harrystrumaninauguraladdress.html [abgerufen am 24.11.2010])

Diese programmatischen Äußerungen Trumans mussten administrative Konsequenzen nach sich ziehen. Und so wurde von neu gegründeten Institutionen in der US-amerikanischen Regierung eine große Zahl von Technikern und Experten in viele Staaten der Erde geschickt, um Entwicklungshilfe überwiegend im agrarischen Bereich, aber auch im Gesundheits- und Bildungswesen zu leisten. Probleme bei der Umsetzung der anvisierten Ziele blieben dabei nicht aus. Zwar gab es derartige entwicklungspolitische Projekte schon länger; in Lateinamerika war bereits einige Jahre zuvor ein vergleichbares US-amerikanisches Hilfsprogramm angelaufen. Aber das neue, global angelegte Vorhaben stellte ganz andere Anforderungen, und sehr schnell wurde klar, dass vor allem die kulturellen Unterschiede in den verschiedenen Weltregionen erhebliche Reibungsverluste bei der Durchführung konkreter Hilfsmaßnahmen mit sich brachten. Die Realisierung vieler Projekte schien deshalb auf die Mitarbeit von Sozialwissenschaftlern angewiesen zu sein, die Erklärungen (und Lösungen) anbieten sollten für die vielfach zu beobachtenden, sich negativ auswirkenden kulturellen Differenzen zwischen den Helfern einerseits und den ›Klienten‹ andererseits. Offensichtlich war soziologische, anthropologische, politologische und historische Expertise gefragt, um den Prozess der ›Entwicklung‹ unterstützen oder überhaupt dauerhaft in Gang bringen zu können. Gefragt war – um es sehr pointiert auszudrücken – eine neue Makrotheorie, mit der sich großflächige Wandlungsprozesse erklären und die Implementationsprobleme von Entwicklungsprojekten verstehen ließen.

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Bevor nun auf die konkreten Umstände der Art und Weise der Formulierung einer solchen Theorie, also der später so genannten Modernisierungstheorie, eingegangen wird, lohnt es sich hier einzuhalten, um darüber zu reflektieren, wie sehr denn tatsächlich die Modernisierungstheorie eine theoretische Neuerung war und aus welchen Quellen sie schöpfte. Denn erst jüngst hat Philipp H. Lepenies (2009) behauptet, dass eine lange Linie zu ziehen sei von den aufklärerischen Zivilisierungsideen eines Condorcet bis hin zur Modernisierungstheorie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, insofern es hier wie dort um die Implementation überlegenen Wissens ging, weil man im 18. Jahrhundert ebenso wie nach dem Zweiten Weltkrieg irgendwie als ›zurückgeblieben‹ zu bezeichnende Bevölkerungsteile oder ganze Völker mithilfe neuer Ideen auf ein höheres, irgendwie zeitgemäßeres Niveau heben wollte. An dieser These ist sicherlich vieles richtig, ebenso wie an einer anderen These, wonach die Modernisierungstheorie sehr viel von den soziologischen Gründervätern, vor allem von Max Weber, übernommen hätte, weswegen Weber auch heute noch – und zwar gerade im anglo-amerikanischen Raum – nicht selten als Urvater der Modernisierungstheorie oder sogar als erster Modernisierungstheoretiker bezeichnet wird. Aber derartige Thesen sind im Hinblick auf ein Verständnis der Modernisierungstheorie meines Erachtens zu pauschal; sie sagen wenig darüber aus, warum nach 1945 die Modernisierungstheorie ihre ganz spezifische Form annahm, die sich eben kaum aus dem Denken von Condorcet oder demjenigen Webers herleiten lässt. Will man hierüber mehr erfahren, so sind die Einsichten heranzuziehen, die im letzten Jahrzehnt im Felde der »Global History of the Cold War« (vgl. Westad 2000; 2004; einen umfassenden Literaturbericht hierzu bietet Unger 2010) überwiegend von US-amerikanischen Historikern gewonnen wurden. Vier Punkte wären hier zu nennen: 1. Die Modernisierungsprojekte und das diesbezügliche theoretische Denken der Phase nach dem Zweiten Weltkrieg hatten nicht allzu weit zurückreichende amerikanische Wurzeln.1 Wie vor allem David Ekbladh (2002; 2010) herausgearbeitet hat, gab es erstaunliche planerische und personelle Kontinuitäten zwischen dem New Deal und der Tennessee Valley Administration (TVA) einerseits und den späteren Modernisie1 | Diese Wurzeln selbst sind jedoch – wie im dritten Punkt gezeigt werden wird – nur vor einem globalen Kontext wirklich zu verstehen.

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rungsvorhaben nach 1945 andererseits, die so groß waren, dass man von einem von 1930 bis 1970 reichenden Entwicklungskonsens (Ekbladh 2010: 7) sprechen könne. Intellektuell war der New Deal in zahlreichen politischen und zeitdiagnostischen Diskursen, deren Wurzeln selbst wiederum bis in die Zeit des US-amerikanischen Progressivismus zurückreichen, vorbereitet worden, stand doch nach 1918 eine umfassende Dynamisierung von Wirtschaft und Gesellschaft vermeintlich kurz vor der Verwirklichung. Der entscheidende Begriff war damals »Rekonstruktion« (Ekbladh 2010: 18), nicht ›Modernisierung‹, selbst wenn mit jenem Rekonstruktionsbegriff schon viele Bedeutungen verbunden waren, die später auch in denjenigen der ›Modernisierung‹ eingehen sollten. Dieses Rekonstruktionsbedürfnis führte tatsächlich aber erst dann zu massiven Reaktionen, als mit dem Börsenkrach von 1929 und der beginnenden Weltwirtschaftskrise die ökonomischen Verwerfungen nicht mehr zu übersehen waren. Das Ergebnis waren Franklin D. Roosevelts »New Deal« und hier vor allem die in der Großregion des Tennessee Tals geplanten Maßnahmen. Unter der Leitung der Tennessee Valley Administration entstand ein erstes »totales Projekt« (Ekbladh 2010: 58), mit dem ein Gebiet so groß wie England mithilfe von Flussbegradigungen, Dämmen zur Stromerzeugung und Wasserregulierung, Vorkehrungen zur Verhinderung der Bodenerosion, Malariabekämpfung etc. auf ein völlig neues ökonomisches Niveau gehoben werden sollte. Das Projekt sollte sich als so erfolgreich erweisen, dass ähnliche Planungen dann nach 1945 auch auf die Länder der später so genannten Dritten Welt übertragen wurden. Nicht zufällig sollten Dammprojekte zu den Lieblingsideen der damaligen westlichen Planer und der Regierungschefs in Afrika, Asien und Lateinamerika werden, sollten die US-amerikanischen Firmen, die schon beim Bau des Hoover-Damms beteiligt waren, in den 1950er Jahren auch die Dämme in Afghanistan hochziehen (Cullather 2002: 522), sollten zentrale Figuren der TVA wie David Lilienthal später auch wichtige Propagandisten des entwicklungspolitischen Denkens nach 1945 werden (Ekbladh 2002). 2. Das Projekt am Tennessee war gleichzeitig auch ein von den (Sozial-) Wissenschaften begleitetes Unternehmen, insofern sich einflussreiche Forscher, vor allem Ökonomen und Politikwissenschaftler,2 den Pla2 | Der US-amerikanische New Deal war für das Feld der Sozialwissenschaften deshalb von großer Bedeutung, weil in dieser Periode die Soziologie ins Hinter-

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nungen anschlossen, darüber neue Institutionen entstanden und zudem die privaten Wissenschaftsstiftungen in den planerischen Prozess einbezogen wurden (Ekbladh 2010: 57; Engerman 2010: 395). Auch wenn aus dieser wissenschaftlichen Begleitung keine Großtheorie hervorging, war doch offensichtlich, dass sich ganz spezifische wissenschaftliche und universitäre Strukturen herausbildeten, die sich dann im Gefolge der ›Verkündung‹ von Trumans »Point Four«-Programm voll entfalten konnten. Erst nach 1945 kam es also zu einer massiven Umwandlung der Sozialwissenschaften, erst nach 1945 wurde der Versuch gemacht, die Disziplingrenzen aufzubrechen und durch große interdisziplinäre Forschungsprogramme eine Vereinheitlichung der Menschenwissenschaften zu erreichen, wobei das Stichwort ›Behavioral Science‹ genau diese interdisziplinären Ambitionen zum Ausdruck brachte (Crowther-Heyck 2006: 421). Aber erste Spuren der späteren wissenschaftlichen Entwicklungen lassen sich eben schon während des New Deal und dann im Zweiten Weltkrieg finden. 3. Der amerikanische Zwischenkriegskontext kann freilich nicht isoliert betrachtet werden. Denn es ist ja offensichtlich, dass bei nicht wenigen amerikanischen Intellektuellen Inspirationen für eine gesellschaftliche und vor allem ökonomische Rekonstruktion aus dem faschistischen Italien (Ekbladh 2010: 44) oder – noch sehr viel häufiger – aus der neu gegründeten Sowjetunion kamen, wo Lenins berühmt-berüchtigte Definition des Kommunismus als »Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes« einen eigentümlichen Reiz ausübte, weil unter den Bolschewiki scheinbar Planungsideen zu verwirklichen waren, die in den USA den intellektuellen Eliten verschlossen blieben: »Impressed by grandiose Soviet plans and dismissive of backward Russians, many American intellectuals enthusiastically observed Soviet efforts at modernization. And western enthusiasms for the Soviet Union reverberated long after the Depression decade. They helped define McCarthyism and the

treffen geriet und vor allem Ökonomen und Politikwissenschaftler an praxisrelevante Beratungstätigkeiten herangeführt wurden (Camic 2007: 248-279). Mit der späteren Modernisierungstheorie sollte sich dies freilich ändern, weil hier dann scheinbar die Soziologie die geeigneteren theoretischen Mittel zur Verfügung stellen konnte, mit dem sich Entwicklungsprozesse verstehen ließen.

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early Cold War, as a generation of intellectuals viewed their own – and their ›friends‹ – Soviet enchantment with increasing disdain.« (Engerman 2003: 9)

Die Idee der massiven staatlichen Planung, die wohl im Zusammenhang mit der Kriegswirtschaft zwischen 1914 und 1918 entstanden war, begann also ihren weltweiten Siegeszug tatsächlich erst in der Zwischenkriegszeit (vgl. auch Schivelbusch 2005; zu sowjetischen Planungsideen vgl. exemplarisch Schlögel 2009: 353-407), wobei die wechselseitige Beobachtung zwischen den Staaten und Gesellschaften im Hinblick auf die jeweilige Ausgestaltung der Planungsideen eine erhebliche Rolle spielte.3 Es ist dann wenig verwunderlich, dass ähnliche Planungsideen auch nach 1945 in der so genannten Dritten Welt eine ganz entscheidende Rolle spielen sollten. Modernisierung schien planbar zu sein – und dies in ganz großem Stil! 4. Weil nun aber Planung sicherlich ein bis in die Zeit des New Deal zurückreichender Traditionsbestandteil der Modernisierungstheorie ist, deshalb lässt sie sich – und dies darf gerade auch angesichts der von Linken vielfach geäußerten Kritik an ihr nicht vergessen werden – nicht einfach als liberal-konservative Ideologie Amerikas bezeichnen. Vielmehr war es so, dass – wie Michael Latham (2000) und Nils Gilman (2003a) überzeugend herausgearbeitet haben – die ursprünglich linken Planungsideen der New Deal-Phase nach dem Zweiten Weltkrieg, nachdem sie in den USA keine Verwirklichungschance mehr hatten, zumindest außenpolitisch noch weiterwirken konnten – wie sehr dies auch immer mit (konservativen) realpolitischen Motiven wie etwa denjenigen zur Eindämmung des Kommunismus verbunden war. In diesem Zusammenhang ist darauf zu verweisen, dass – und dies wäre gegen die Behauptung allzu langer Traditionslinien vorzubringen, wie 3 | Es gibt durchaus Gründe, einige Ähnlichkeiten zwischen Lenin und auch späteren Modernisierungstheoretikern hervorzuheben: Wie Nils Gilman mit Bezug auf Lenin und Walt W. Rostow, den Wirtschaftshistoriker der Modernisierungstheorie und späteren Sicherheitsberater Lyndon B. Johnsons, formulierte: »Lenin and Rostow shared a belief in an immanent historical process that proceeded through inexorable ›stages‹ to a secular utopia. Both believed that the relevant unit of economic and political analysis as the individual nation-state. And both also believed that this process was ›revolutionary‹, irreversible, and most important, salutary.« (Gilman 2003b: 49).

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sie etwa von Lepenies stark gemacht werden (s. oben) – die Entstehung der Modernisierungstheorie dabei durchaus einen Bruch mit früheren (imperialen) Zivilisierungsmissionen bedeutete: Kaum je ein Reformer des 19. Jahrhunderts oder des davor liegenden aufklärerischen Zeitalters hatte mit Blick auf die Völker der nicht-europäischen und nicht-amerikanischen Welt ernsthaft an Partizipation, Demokratisierung etc. gedacht. Zivilisiert werden sollten die Nicht-Europäer und Nicht-Amerikaner jeweils im kolonialen politischen Kontext. Die Modernisierungstheoretiker hingegen verstanden sehr gut, dass dieser koloniale Kontext ein für alle Mal passé war (Adas 2003: 36-37), dass also Partizipation und Demokratisierung tatsächlich auf der Tagesordnung standen. Damit zusammenhängend war auch klar, dass man sich innerhalb der Modernisierungstheorie ernsthaft bemühen musste, rassistische und ethnozentrische Definitionen des Entwicklungsfortschritts zu vermeiden (Robin 2001: 30; Latham 2003: 4-5), um die Ideale von Partizipation und Demokratisierung überhaupt erreichen zu können. Insofern waren die Wertprämissen der Modernisierungstheoretiker tatsächlich andere als diejenigen der Imperialisten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Allein dies stellte also eine Abkehr von der Vergangenheit dar – ganz abgesehen von den neuen theoretischen Argumenten, die man ausarbeitete und die es nun vorzustellen gilt. Es wird also nach dem soeben Gesagten nicht verwundern, wenn man feststellt, dass die in den 1950er Jahren entstehende Modernisierungstheorie zutiefst von den erst kurz zurückliegenden Tendenzen und Strömungen geprägt, dass sie also durchaus in der US-amerikanischen Kultur verankert war (Latham 2000: 13). Wie reagierte man Anfang der 1950er Jahre aber nun ganz konkret auf die Anforderungen der Politik, die ja das Ziel einer erfolgreichen Implementation des »Point Four«-Programms vorgab? Wie konnte man einem mehr oder minder globalen politischen Programm eine ebenso globale Theorie sozialen Wandels an die Seite stellen, die idealiter den Anspruch erheben konnte, die Politik in wichtigen Fragen sogar anzuleiten? Zunächst ist zu betonen, dass es zur Diskussion dieser Fragen einen intensiven interdisziplinären Erfahrungsaustausch zwischen sozialwissenschaftlichen Experten gab. Und aus einer der zahlreichen Konferenzen ganz zu Beginn der 1950er Jahre ging dann ein einflussreicher Sammelband hervor, in dem sich unter anderem ein Aufsatz von Marion J. Levy

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(1963 [1952]) befand, der sich explizit dem Problem einer Theorie makrosozialen Wandels stellte und dazu die von Talcott Parsons kurz zuvor entwickelten, analytisch gedachten »Mustervariablen« (pattern variables) historisierte (vgl. Knöbl 2001: 160-173). Levy zufolge ist mit diesem begrifflichen Instrumentarium der Übergang von so genannten traditionalen zu modernen Gesellschaften zu fassen. Er argumentierte, dass moderne Industriegesellschaften durch rationale, universalistische und funktional spezifische Wertorientierungen und Rollenzuschreibungen gekennzeichnet seien, nicht-industrielle Gesellschaften hingegen durch nicht-rationale, partikularistische und funktional diffuse Werte und Rollen. Ein marktinduzierter Prozess werde über kurz oder lang – und zwar unumkehrbar – die nichtwestlichen Länder auf den Weg in die moderne Industriegesellschaft bringen, so dass dort die gleichen Werte und Rollenmuster zum Durchbruch kommen werden, wie sie aktuell schon im Westen und insbesondere natürlich in den USA vorzufinden seien. Levy formulierte hier theoretisch eine Position, der sich die anderen Konferenzteilnehmer auch deshalb anschließen konnten, weil hiermit eine einfache, variable und scheinbar ausbaufähige Formel zur Analyse von zentralen Wandlungstendenzen gefunden schien. Auch wenn mehrere Diskutanten (siehe etwa den erstaunlich reflektierten Text des bekannten Ökonomen Jacob Viner (1963 [1952]) skeptisch waren hinsichtlich der Schnelligkeit der zu verwirklichenden Transformationsprozesse, weil sie v.a. die kulturellen Barrieren als nicht leicht überwindbar einschätzten, wurde Levys theoretische Beschreibung des zu erwartenden Entwicklungsprozesses doch zumindest in den Grundzügen geteilt. Selbst wenn der Begriff so noch nicht existierte: Die Modernisierungstheorie war geboren! Durch ihre makrosoziologische Orientierung, also durch ihre klare Fokussierung auf großformatige Wandlungsprozesse, und vor allem durch eine explizite Einbeziehung vergleichender und historischer Analysen wollte die Theorie quasi globale Erklärungen und weit reichende Prognosen liefern. Damit aber betraten amerikanische Sozialwissenschaftler völliges Neuland. Zwar waren schon in den 1930er Jahren und dann während des Zweiten Weltkrieges eine ganze Reihe von sozialwissenschaftlichen (zumeist anthropologisch beeinflussten) Untersuchungen entstanden, welche im Rahmen des »culture-and-personality-approach« die Kultur fremder Länder, den Nationalcharakter fremder Völker und die Eigenheiten fremder Regierungen – ab 1941 vor allem die Kultur, den Nationalcharakter und die Regierungen der Kriegsgegner! – analysiert hatten. Doch diese Studien standen in der Regel nicht unter dem

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Zwang, Prozesse zu denken. Zumeist hatte man sich mit Zustandsbeschreibungen und Momentaufnahmen von Ländern und Kulturen begnügt, die in sich als relativ stabil begriffen wurden. Wenn nun – nach dem Krieg und unter dem Eindruck der von Truman formulierten Ziele – die Modernisierungstheorie für sich eine ernsthafte Kompetenz für makrosoziologische Themen reklamierte, dann musste sie sich zwangsläufig völlig neuen Problemen stellen, ging es doch plötzlich um die ›Entwicklung‹ von Gesellschaften, die trotz eines z.T. völlig anderen kulturellen Hintergrundes binnen möglichst kurzer Zeit auf das politische, soziale und technologische ›Niveau‹ westlicher Nationen gebracht werden sollten. Nicht nur, dass sich die Modernisierungstheorie damit den Aspekten stärker widmen musste, die in der bisherigen amerikanischen Sozialwissenschaft völlig vernachlässigt worden waren. Gefordert war von der entstehenden Modernisierungstheorie nun offenbar sogar eine globale Erklärung sozialen Wandels. Levys Formel – an Parsons’ Werk angelehnt – oder zumindest nah verwandte Denkmodelle schienen genau dies nun leisten zu können. Natürlich soll mit dem Hinweis auf den Sammelband, in dem Levys Text publiziert wurde, nicht gesagt sein, dass 1952 tatsächlich das genaue Geburtsjahr der Modernisierungstheorie war. Aber auf derartigen Sammelbänden zugrunde liegenden Konferenzen und nicht zuletzt in Denkfabriken wie dem Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston (offensichtlich war Graham Greene hinsichtlich der Entwicklung der Sozialwissenschaften recht gut informiert!)4 wurden die Grundlagen für ihre Ausformulierung gelegt, wobei – und dies ist zu betonen – gerade die politische Anwendbarkeit der theoretischen Überlegungen immer ganz oben auf der Tagesordnung stand. Dies zeigte sich, als etwa im Juli 1956 der amerikanische Senat das Special Committee to Study the Foreign Aid Program ins Leben rief, das seinerseits eine Reihe von Studien in Auftrag gab, um praktisch wie theoretisch das Problem der Auslandshilfe eingehend zu analysieren. Eine der zentralen Studien stammte dabei aus dem Center for International Studies (CENIS) am MIT (vgl. Milne 2008: 44-45), nämlich 4 | Eine andere wichtige Institution im Rahmen der Entwicklung der Modernisierungstheorie war die Harvard University – nicht weit vom MIT entfernt – und hier vor allem das Russian Research Centre, an dem zentrale Figuren des entstehenden modernisierungstheoretischen Diskurses wie etwa Talcott Parsons, Clyde Kluckhohn und Alex Inkeles, aber auch spätere Kritiker dieses Diskurses wie Barrington Moore (mit-)arbeiten sollten (Engerman 2009: 44-55).

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Max F. Millikans und Walt W. Rostows Abhandlung aus dem Jahre 1957 mit dem Titel A Proposal: Key to an Effective Foreign Policy. Die beiden Autoren argumentierten, dass es das nationale Interesse der USA erfordere, ein langfristiges Entwicklungshilfe-Programm für die Staaten der nichtwestlichen Welt aufzulegen mit dem Ziel der Schaffung von »self-sustaining growth«. Entwicklungs- bzw. Auslandshilfe sollte dabei nach strikt ökonomischen Kriterien vergeben werden, und wenn dies konsequent geschehe, dann könnten – betrachtet über einen Zeitraum von 20 bis 30 Jahren – in weiteren Teilen der nichtwestlichen Welt nicht nur tragfähige Ökonomien, sondern auch funktionierende demokratische und das heißt: nicht-kommunistische Systeme entstehen. Wie sie an anderer Stelle ein Jahr später betonen sollten: »[…] a society which has passed through its economic take-off and restructured its political and social institutions around the requirements of modern statehood is likely to have a high immunity to the Communist appeal.« (Millikan/Rostow 1957/58: 422)

Die höchst einflussreiche so genannte »Millikan-Rostow-Thesis« – später mitunter auch »Charles River Approach« genannt, eben weil das MIT am Charles River in Boston liegt (vgl. zum Folgenden Baumann 1990: 16-19 und 30-34) – besagte also, dass eine »doctrine of indirect influence« besser geeignet sei, positive Veränderungen in den Ländern der Dritten Welt herbeizuführen als die direkte Beeinflussung der dortigen Politik durch externe Maßnahmen wie etwa Militärhilfe. Damit war eine im Prinzip liberale Position formuliert, die durchaus nicht allgemein geteilt wurde. Es gab unter Sozialwissenschaftlern der damaligen Zeit auch abweichende Stellungnahmen, denen zufolge die Auslandshilfe nach anderen Kriterien beurteilt werden sollte: Machtpolitische ›Realisten‹ wie Hans Morgenthau oder Samuel P. Huntington betonten noch stets den Primat der Außenpolitik, und diesem Aspekt hätte die Auslandshilfepolitik letztlich zu dienen. Wirtschaftshilfe hätte demgegenüber keine eigenständige Existenzberechtigung. Im Unterschied zu Morgenthau und Huntington waren nun Millikan und Rostow also tatsächlich alles andere als außenpolitische Falken; sie vertraten vielmehr ein liberales außenpolitisches Programm, das zwar den Kommunismus in der ›Dritten Welt‹ eindämmen helfen sollte, dies aber eben vorwiegend mittels einer vergleichsweise breit angelegten und kontinuierlichen Entwicklungshilfe. Millikan und

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Rostow zufolge sollten kurzfristige Aspekte gerade keine entscheidende Rolle spielen – wie etwa das Stimmverhalten des Empfängerlandes in der UN-Vollversammlung oder bevorstehende Wahlen im Empfängerland. Die Entscheidungsgrundlagen für Finanztransfers und technische Hilfe sollten vielmehr mittel- und langfristig und damit entwicklungsbezogen sein, politische Kriterien sollten ebenso eine Rolle spielen wie das Entwicklungsniveau des Empfängerlandes, die Absorptionsfähigkeit für externes Kapital sollte ebenso wichtig sein wie das Vorhandensein eines kohärenten Entwicklungsplanes. Letztlich waren die Argumente und Schriften von Rostow und Millikan Ende der 1950er Jahre Ausdruck eines sich anbahnenden und dann einigermaßen breiten modernisierungstheoretischen Konsensus in den Sozialwissenschaften (zum Folgenden vgl. Knöbl 2001: 30-33): Berühmt werdende und bahnbrechende Werke wie Robert Bellahs Tokugawa Religion (1957), Daniel Lerners The Passing of Traditional Society (1958), Neil J. Smelsers Social Change in the Industrial Revolution (1959), Seymour Martin Lipsets Political Man (1960), Walt W. Rostows The Stages of Economic Growth (1960), David McClellands The Achieving Society (1961) oder Gabriel Almonds und Sidney Verbas The Civic Culture. Political Attitudes and Democracy in Five Nations (1963) bildeten den Grundstock modernisierungstheoretischer Literatur, in der nach den Voraussetzungen und Vorbedingungen für die Entstehung moderner Gesellschaften und deren weiterer Entwicklung gesucht wurde. Als nicht-marxistische makrosoziologische und ganz überwiegend interdisziplinär angelegte Theorie sozialen Wandels versuchte die Modernisierungstheorie historisch-vergleichend oder zumindest typologisch die Entwicklung bzw. die Stufenabfolge von Gesellschaften makrotheoretisch zu fassen, wobei zunächst das Verhältnis von Kultur und ökonomisch-technologischem Fortschritt, dann aber auch sehr schnell dasjenige von Kultur und politisch-demokratischer Entwicklung oder dasjenige von sozio-ökonomischem Wachstum und Demokratie im Vordergrund stehen sollte. Konkret ging man davon aus, dass 1. Modernisierung ein globaler Prozess ist, der mit der industriellen Revolution seit Mitte des 18. Jahrhunderts (oder vielleicht sogar schon früher) in Europa begann, nun aber alle Gesellschaften betrifft und insgesamt irreversibel ist, 2. es trotz der Globalität des Modernisierungsprozesses einzelne Gesellschaften sind, die – als kohärente und organisierte Ganzheiten betrach-

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tet und häufig mit Hilfe einer strukturfunktionalistischen Begrifflichkeit5 analysiert – den Fokus der Untersuchungen zu bilden haben, die historische Entwicklung, d.h. der Modernisierungsprozess, von traditionalen hin zu modernen Gesellschaften verläuft, womit gleichzeitig eine scharfe Antithese zwischen Moderne und Tradition unterstellt wird, in den traditionalen Gesellschaften und Ländern der Dritten Welt persönliche Einstellungen, Werte und Rollenstrukturen dominieren, die durch Begriffe wie ›ascription‹, ›particularism‹ und ›functional diffuseness‹ umschrieben werden können und die sich als ökonomische und politische Entwicklungshindernisse herausstellen, im Gegensatz dazu die modernen Gesellschaften des europäischen und nordamerikanischen Kulturraumes durch leistungsbezogene und universalistische Werte charakterisiert und durch entsprechende Rollenmuster geprägt sind, der Modernisierungsprozess mehr oder minder endogen angetrieben wird, wobei externe Entwicklungshindernisse wie Imperialismus und Weltmarktbedingungen bei der Analyse des Prozesses nur von nebensächlicher Bedeutung sind, der soziale Wandel zur Moderne hin in den verschiedenen Ländern relativ uniform und ohne große Rückschläge stattfinden wird.

Entlang und mit Hilfe dieser Prämissen analysierte man zunächst die in den noch traditionalen und sich gerade entwickelnden Ländern ablaufenden Prozesse, wobei man annahm, dass das westliche ökonomische und politische Modell mit einer mehr oder weniger großen Variationsbreite »in virtually all modernizing societies on all continents of the world, regardless of variations in race, color, creed« erfolgreich nachgeahmt werden würde (Lerner 1958: 46). Sehr schnell wurden aber auch historische Erklärungen für den im 18. und 19. Jahrhundert erfolgten ökonomischen und industriellen Aufschwung des ›Westens‹ geliefert und vor allem auch Aussagen zur zukünftigen Gestalt bereits relativ entwickelter Gesellschaften (im Blick 5 | Abbott und Sparrow (2007: 295) haben überzeugend argumentiert, dass die Massen von Daten, die in den interdisziplinären Forschungsprogrammen und insbesondere im Rahmen der Etablierung von Area Studies kreiert wurden, offensichtlich nur mehr durch ein funktionalistisches Analyseraster zu bewältigen waren. Nicht die Daten an sich hätten den Aufstieg des (Struktur-)Funktionalismus mit befördert, sondern deren kaum mehr zu bändigende Flut.

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waren hier solche Länder wie Deutschland, Italien, Japan etc.) getroffen, deren Werden sich gleichfalls durch kontinuierliches wirtschaftliches Wachstum, eine zunehmende strukturelle Differenzierung, fortschreitenden Wertewandel usw. beschreiben lassen würde. Unterstellt wurde dabei, dass das ökonomische Wachstum demokratische Formen nach sich ziehen werde, wobei eine ›civic culture‹ nach dem Muster Großbritanniens oder der USA die stabilsten Rahmenbedingungen für Demokratisierungsprozesse darstellen würde. Ähnliche Muster – so die Annahme – würden sich über kurz oder lang auch in anderen Ländern einstellen und seien gerade deshalb rasch anzustreben. Mit dieser doch erheblichen thematischen Ausweitung des Anwendungsbereichs – weg von der reinen Entwicklungsländerforschung – schien die Modernisierungstheorie den Anspruch einer wirklichen Globaltheorie des sozialen Wandels einlösen zu wollen und tatsächlich auch zu können. Sie erhob Erklärungsansprüche, die denen des Marxismus vergleichbar waren.

2. D IE M ODERNISIERUNGSTHEORIE UND DAS SÄKUL ARE B ILD › MODERNER G ESELLSCHAF TEN ‹ In diesen modernisierungstheoretischen Diagnosen und Prognosen spielte dabei immer auch eine bestimmte Vorstellung hinsichtlich der Stellung der Religion in ›modernen Gesellschaften‹ eine Rolle, auch wenn dies zu Beginn nur sehr selten explizit ausgesprochen wurde. Die Religion wurde zunächst lediglich mit Blick auf ihre Funktionalität verhandelt. Weil man die Richtigkeit von Max Webers Protestantismus-These unterstellte (vgl. etwa McClelland 1961: 47-57), also die Auffassung, wonach bestimmte (religiöse) Wertgrundlagen die westliche kapitalistische Entwicklung wesentlich verursacht oder doch zumindest geprägt haben, für plausibel hielt, suchte man in den zu entwickelnden Ländern nach funktionalen Äquivalenten der protestantischen Ethik. Robert Bellahs Tokugawa Religion [1957] war ein erster imponierender Versuch in diese Richtung, der freilich auch deshalb so bemerkenswert war, weil Bellah bei der Untersuchung der Hintergründe der japanischen Entwicklung die in der Modernisierungstheorie häufig zugrunde gelegte scharfe Trennung zwischen Tradition und Moderne implizit verwarf. Schließlich konnte er ja zeigen, dass traditionellreligiöse Elemente der japanischen Kultur der Modernisierung des Landes durchaus zuträglich waren:

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»[…] Japanese religion never tires of stressing the importance of diligence and frugality and of attributing religious significance to them, both in terms of carrying out one’s obligations to the sacred and in terms of purifying the self of evil impulses and desires. That such an ethic is profoundly favourable to economic rationalization was the major point of Weber’s study of Protestantism and we must say that it seems similarly favourable in Japan.« (Bellah 1985 [1957]: 196)

Man hätte nun aufgrund dieser von Bellah gewonnenen Einsichten nicht nur fragen können, ob es auch noch in anderen Ländern funktionale Äquivalente für die protestantische Ethik gibt, sondern ob man das Verhältnis von Tradition und Moderne nicht doch noch einmal grundlegend überdenken sollte. Letzteres aber geschah nicht, weil man von Anfang an die Vorstellung einer an sich säkularen Moderne hegte, welche zwar das Fortleben religiöser Traditionen nicht ausschloss, welche aber doch beinhaltete, dass im Prozess der sozioökonomischen Modernisierung genau diese religiösen Traditionen erheblich abgeschwächt werden würden. Am deutlichsten kommt dies vielleicht in Daniel Lerners The Passing of Traditional Society. Modernizing the Middle East zum Ausdruck, dem Buch, das m. W. auch zum ersten Mal den Modernisierungsbegriff im Titel trug. Lerner geht wie selbstverständlich davon aus, dass alle Gesellschaftsmitglieder im Prozess der Modernisierung eine säkulare Sichtweise anzunehmen hätten, dass also die u.a. von ihm untersuchte türkische Gesellschaft in ähnlicher Weise säkularisiert werden würde, wie dies in einem Jahrhunderte währenden Prozess auch im ›Westen‹ geschehen war: »Secular enlightenment does not easily replace sacred revelation in the guidance of human affairs. […] But secular enlightenment each man must get for himself. Many individuals must struggle through the loss of ignorance-as-bliss in the making of a new secular ›climate of opinion‹.« (Lerner 1958: 43)

Lerner war zwar der Auffassung, dass es im Prozess der Modernisierung durchaus Rückschläge geben könne, wobei er den geistigen Rückzug von Teilen der Bevölkerung in einen vergangenheitsorientierten Islam für möglich hielt. Aber dies dürfte nur bei wenigen Personen zu beobachten sein, weil das Gros der Menschen in der von ihm untersuchten Region verstanden hätte, dass die alten Denkweisen verschwinden müssten (Lerner 1958: 44).

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»Whether from East or West, modernization poses the same basic challenge — the infusion of ›a rationalist and positivist spirit‹ against which, scholars seem agreed, ›Islam is absolutely defenceless‹.« (Lerner 1958: 45)

Eine solche Ansicht wurde auch vom einflussreichen Psychologen David McClelland vertreten, behauptete dieser doch, dass mit zunehmender Leistungsmotivation (»achievement motivation«), die den Modernisierungsprozess antreibe oder die ihn zumindest begleite, auch die Position der Religion geschwächt würde: »If high n Achievement is associated with entrepreneurial activity, low n Achievement may be associated with priestly, traditionalistic activity.« (McClelland 1961: 70)

Die Annahme von McClelland war also, dass der Modernisierungsprozess die Verteilung von Status und Prestige in einer Gesellschaft massiv verändern werde – und mit dem schwindenden Prestige religiöser Experten und Führer würde insgesamt wohl auch das religiöse Element in ›modernen Gesellschaften‹ zurückgedrängt werden.6 Man konnte die Diagnosen und Prognosen von Lerner und McClelland als bloße empirische Betrachtungen lesen (unabhängig von ihrer Richtigkeit und Stimmigkeit). Aber die hier zum Ausdruck kommende Säkularisierungsthese war immer auch mit bestimmten demokratietheoretischen Hoffnungen verbunden und insofern normativ aufgeladen. Am deutlichsten wird dies vielleicht im Werk von Seymour Martin Lipset, dessen »Political Man« nur eine ganz bestimmte Form der Religiosität haben sollte: Denn für Lipset ist klar, dass stabile demokratische Prozesse nur dann entstehen und funktionieren können, wenn sowohl Klassenspaltungen als auch tiefe ethnische oder religiöse Konflikte in der Bevölkerung vermieden werden (Lipset 1960: 70-76). Weil aus seiner Sicht nun gerade die Unterschichten eine gewisse Tendenz zur Irrationalität haben, eben auch eine zu religiöser Irrationalität, propagierte Lipset die gesellschaftliche 6 | In einem anderen Kontext behauptete McClelland, dass Religionen für die Vermittlung von (moderner) hoher Leistungsbereitschaft durchaus bedeutsam sein könnten. Dies gelte freilich nicht für alle Religionen, sondern nur für solche, bei denen ein individualisierter (nicht: ritualisierter) Umgang mit Gott üblich sei (McClelland 1963: 153/154).

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Hegemonie eines gemäßigten Mittelschichten-Protestantismus, der gegen politischen Radikalismus immunisieren soll. Deutlich wird, dass Lipset das amerikanische Modell konkurrierender, aber eben nicht radikalisierter Denominationen für eine der entscheidenden Bedingungen oder Vorbedingungen demokratischer Entwicklungen hält. Ein solcher Protestantismus sei im Unterschied zum eher demokratiefeindlichen Katholizismus (Lipset 1960: 72, Fn 8) am ehesten in der Lage, in eine – wie es später bei Bellah (1967) heißen sollte – »civil religion« einzumünden, bei der religiöse Unterschiede kein Hindernis mehr für politische Kooperation und Stabilität sein würden. Unterstellt man die Richtigkeit einer solchen These, so blieb freilich völlig unklar, wie derartig ›günstige‹ religiöse Muster außerhalb des Gebietes der USA überhaupt zustande kommen oder gar gefördert werden könnten. Unklar war insgesamt auch – und hier ist wieder auf Bellahs Tokugawa-Werk zurückzukommen –, wie man nun letztlich die Rolle der Religion in ›modernen Gesellschaften‹ einschätzen sollte. Ist Religion ein bloß traditionelles Phänomen, das es zu überwinden gelte und das man in einigen Ländern als ein funktionales Äquivalent zur Protestantischen Ethik allenfalls am Anfang des Modernisierungsprozesses benötige, danach aber immer weniger? Oder muss man gar mit dem Fortbestand von Religion rechnen, ja benötigt man vielleicht sogar Religion, um Probleme, die dauerhaft im Modernisierungsprozess auftreten, zu lösen? Letzteres schien einigen Entwicklungspraktikern zu dämmern – und zwar gerade in dem aus heutiger Sicht so interessanten ›Fall‹ Afghanistan, das in den 1950er Jahren ein Land war, in dem gewissermaßen mustergültig, nämlich in großem Maßstab und in konzertierter Form, Entwicklungshilfe und -politik betrieben wurde und wo man die Erfahrungen aus dem New Deal mitsamt den Ideen zum Dammbau umsetzen konnte. Wie Nick Cullather zeigte, hatten die Großprojekte in Südafghanistan jedoch sehr schnell dazu geführt, dass sich eine bestimmte Ethnie – die Paschtunen – die Herrschaft über diese Region zu sichern suchte und damit das modernisierungstheoretische Projekt des ›nation-building‹ durch Tribalismus in Gefahr brachte. Die westlichen und vor allem US-amerikanischen Experten wussten sich dann – aus heutiger Sicht durchaus spektakulär – nicht anders zu helfen, als an den Islam im Sinne einer überbrückenden Integrationsideologie zu appellieren, welche die Paschtunen überzeugen sollte, ihre Macht doch auch mit anderen ethnischen, aber immerhin muslimischen Gruppen zu teilen bzw. diese Gruppen, ihre Glaubens-

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brüder, an den Segnungen der Entwicklungsprojekte teilhaben zu lassen (Cullather 2002: 530). Einerseits war man sich also theoretisch sicher, dass über kurz oder lang Modernisierung zu einer säkularen Moderne führen würde; andererseits deuteten die Schwierigkeiten der realen Entwicklung ›vor Ort‹ darauf hin, dass mit der Lebendigkeit der Religionen gerechnet oder gar der Religion eine gewisse Funktionalität zugesprochen werden müsse, um den Modernisierungsprozess zu meistern. Dies bedeutete aber, dass sich die in der Modernisierungstheorie angelegte scharfe Trennung zwischen Tradition und Moderne, zwischen traditionalen religiösen und modernen säkularen Gesellschaften nur dann aufrechterhalten ließ, wenn man – zumindest mit Blick auf die Länder der ›Dritten Welt‹ – den dortigen Durchbruch hin zu einer wirklich ›modernen Gesellschaft‹ immer weiter nach hinten, d.h. in die Zukunft schob. Denn nur dann funktionierte ja die angesprochene Dichotomie, nur dann ließ sich noch behaupten, dass zumindest ›in the long run‹ die Modernisierung zu den Ergebnissen führen würde, welche die Modernisierungstheoretiker schon immer vorausgesagt hatten. Besonders überzeugend war dies freilich nicht, und so musste man tatsächlich erhebliche theoretische Anstrengungen unternehmen, um plausibel machen zu können, warum Modernisierung zumindest mittelund langfristig letztlich doch zu Säkularisierung führen werde. Wie die religionssoziologische Debatte von den 1960er Jahren bis heute zeigen sollte, sprachen aus Sicht der Modernisierungstheoretiker mindestens drei Gründe für eine zunehmende Säkularisierung: A. Wenn Modernisierung auch die Entstehung ausdifferenzierter und spezialisierter Rollen meint, dann folgt daraus, dass sich die gesellschaftlichen Funktionssysteme trennen, die Ökonomie von der Politik, die Politik von der Wissenschaft, die Wissenschaft von der Religion. Dies heißt aber auch, dass die Religion ihren ehemals gegebenen Primat in der Gesellschaft nicht mehr wird behaupten können – ein Argument, das schon bei McClelland angelegt war: Säkularisierung würde im Gefolge von Modernisierung deshalb auftreten, weil in der Moderne der Primat des Religiösen verloren geht und damit die Stellung der Religion – oder besser: die Stellung der Kirchen als Institutionen – geschwächt werden wird. B. Modernisierungstheoretiker verwendeten aber auch ein Pluralisierungs- und ein Verwissenschaftlichungstheorem, um zu begründen,

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warum sich die Glaubensfestigkeit von Individuen verringern würde. Mit Bezug auf ersteres wurde argumentiert, dass die europäische Reformation das Monopol der Katholischen Kirche gebrochen und – im Zusammenspiel mit weiteren Prozessen – eine umfassende Pluralisierung sozialer, politischer und eben auch religiöser Formen herbeigeführt habe. Pluralität und Diversität würden – so Steve Bruce als einer der derzeit führenden britischen Modernisierungs- und Säkularisierungstheoretiker – selbst wiederum dazu führen, dass sich religiöse Bindungen abschwächten »by removing the social support for any one religion and by encouraging people to confine their religious beliefs to specific compartments and to remove the specific and contested elements from their beliefs« (Bruce 2002: 22). Die Pluralisierung habe also eine Art Büchse der Pandora geöffnet, denn aus den in der Reformation entsprungenen, anfangs sehr lebendigen Sekten hätten sich über kurz oder lang Denominationen entwickelt, in denen religiöse Bindungen zwangsläufig mit der Zeit immer schwächer wurden und die dem allgemeinen Säkularisierungsprozess Vorschub leisteten. Die Sekten hätten sich danach also ironischerweise als ihre eigenen Totengräber erwiesen, weil ohne einen monopolartig organisierten und institutionalisierten religiösen Unterbau langfristig auch die subjektiven Glaubensgewissheiten in Frage gestellt werden würden. – Neben dem Verweis auf Pluralisierung wurde und wird häufig aber noch ein anderes Argument benutzt, um einen allgemeinen Niedergang von Religion zu prognostizieren: Hier wird behauptet, dass mit dem Vordringen universalistischer Werte gleichzeitig auch ein Vordringen der Wissenschaft einhergehen werde, die gewissermaßen allgemeingültige Wahrheiten produzieren würde. Mit dieser Verwissenschaftlichung der Welt werde nun eine Kritikinstanz fest im Alltagsleben der Menschen installiert, die auch die partikularen Glaubensinhalte nicht ungeschoren lässt. Modernisierungstheoretiker konnten also vermuten, dass durch die Verwissenschaftlichung des Lebens – eine Folge der Modernisierung – ein allgemeiner Niedergang der Religion eintreten werde, eben weil im Bewusstsein der Menschen das Vordringen des wissenschaftlichen Wissens gewissermaßen den Rückzug des Religiösen unvermeidlich mache. C. Modernisierungstheoretiker behaupteten schließlich auch, dass sich die Religion gerade deshalb allmählich aus der Öffentlichkeit zurückziehen werde, weil im Rahmen von Modernisierungsprozessen indi-

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vidualistische Wertmuster an Bedeutung gewönnen und insofern verpflichtende Großorganisationen eher diskreditiert würden. Dies führe dazu, dass religiöse Sachverhalte zunehmend nur mehr im Privatbereich verhandelt werden würden, dass es zu einer Privatisierung der Religion und damit zum Einflussverlust der Kirchen kommen werde, was über kurz oder lang auch die individuelle Bereitschaft zum Glauben nicht unberührt lässt. Die modernisierungstheoretische Argumentation prognostizierte Säkularisierung also – um es in den Worten des derzeit vielleicht bekanntesten Religionssoziologen (und gleichzeitig Kritikers der Modernisierungs- wie Säkularisierungstheorie) José Casanova (1994) zusammenzufassen – in dreierlei Hinsicht: Modernisierung wird A) zu einer Trennung der religiösen Sphäre von anderen Sphären führen, insbesondere zur Trennung von Religion und Staat; im Rahmen der Modernisierung wird B) ein allgemeiner Niedergang der Religion im Sinne eines Rückgangs der Glaubensintensität bei den Individuen erfolgen; und eintreten wird C) eine Privatisierung der Religion. – Insgesamt wird deutlich, dass die Säkularisierungsthese letztlich eng an die Modernisierungstheorie gekoppelt war, was dann aber bedeutete, dass sie sich wechselseitig stützten und vielleicht sogar stützen mussten. Anders formuliert: Beginnt die allgemeinere Theorie (also die Modernisierungstheorie) zu wanken, dann wird auch die andere, wesentlich speziellere Theorie auf wackeligen Füßen stehen, wenn sie nicht radikal umgebaut und reformuliert werden kann. Umgekehrt gilt aber eben auch: Probleme der Säkularisierungstheorie können modernisierungstheoretische Thesen nicht unberührt lassen.

3. D IE I MPLOSION DER M ODERNISIERUNGSTHEORIE Ins Wanken kam nun freilich zeitlich zuerst die Modernisierungstheorie, was dann eben auch – freilich mit einer gewissen Verzögerung – den Status der Säkularisierungsthese nicht unangetastet ließ. Aber zunächst zur Kritik an ersterer. Interessant dabei ist, dass sie gerade aufgrund von Einwänden unterminiert wurde, die von den im Modernisierungsparadigma Forschenden selbst stammten. Diese Selbstkritik, die ab Mitte der 1960er Jahre artikuliert wurde, führte dazu, dass die Konturen der Modernisierungstheorie –

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und die Betonung liegt hier auf ›Theorie‹ – immer schwammiger wurden. Man sprach zwar weiterhin viel von ›Modernisierung‹, aber immer unklarer wurde, was denn genau darunter zu verstehen sei. Denn es war nur zu offensichtlich, dass die sieben im vorletzten Abschnitt genannten Hypothesen der ursprünglichen Modernisierungstheorie in dieser Form nicht mehr zu halten waren, ähnliche Thesen von vergleichbarer Allgemeinheit gleichwohl nicht zur Verfügung standen. Zwar konnte man einzelne Länder, manchmal auch größere Regionen mit dem modernisierungstheoretischen Vokabular ganz gut beschreiben. Aber häufig war es nicht möglich plausibel zu begründen und darzulegen, warum in diesen Ländern und Regionen – und nicht in anderen – Modernisierungsprozesse abliefen, was die entscheidenden Akteure und Akteurskonstellationen waren, wie genau das Verhältnis zwischen den Teilprozessen der Modernisierung – etwa dasjenige zwischen ökonomischer Entwicklung und Demokratisierung – genau zu bestimmen sei etc. ›Modernisierung‹ wurde somit in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren zu einer eher vagen Beschreibungskategorie, die vielfältige Phänomene umfasste, die aber gleichzeitig mehr Fragen aufkommen ließ als Antworten ermöglichte. Und so war es sicherlich kein Zufall und auch nicht ein vorwiegend politischen Gegebenheiten geschuldeter Sachverhalt (der Linksruck an den Universitäten), dass in den späten 1960ern und dann vor allem in den 1970er Jahren mit der Dependenztheorie und der Wallerstein’schen Weltsystemtheorie sich andere makrotheoretische Ansätze in den Vordergrund schoben. Und es ist wiederum kein Zufall, dass die Versuche der Erneuerung der Modernisierungstheorie in den 1980er und frühen 1990er Jahren – in den USA vor allem vorangetrieben von Jeffrey Alexander und Paul Colomy (1990) – nur mehr sehr abstrakt ausfielen. Nur zur Erinnerung: Alexander (1994) hatte behauptet, dass die Modernisierungstheorie eben aus genannten politischen Gründen verdrängt worden sei und deshalb mit leichten Veränderungen durchaus wiederbelebt werden könne: Er und seine Mitstreiter griffen deshalb auf das alte Konzept der sozialen Differenzierung zurück und behaupteten, dass die Aussagen der ursprünglichen Modernisierungstheorie im Wesentlichen noch immer belastbar seien und lediglich mit einem verfeinerten differenzierungstheoretischen Vokabular gefasst werden müssten. Differenzierungsprozesse, die Alexander sehr stark mit Modernisierungsprozessen gleichsetzte, seien abhängig von Akteuren, Akteurskonstellationen und kontingenten Umständen. Und genau dies gelte es stärker als in der alten Modernisierungstheorie

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zu berücksichtigen, um – und hier sei das Vokabular des deutschen Modernisierungsforschers Wolfgang Zapf (1991: 35) verwendet – den Ansatz empirisch zu ›härten‹. Zu dieser Strategie der Erneuerung der Modernisierungstheorie und somit zu ihrer aktuellen Gestalt nur zwei Anmerkungen: 1. Man kann schon fragen, ob eine allgemeine Theorie, die behauptet, alles sei sehr stark von Akteurskonstellationen und Kontingenzen abhängig, tatsächlich noch eine allgemeine Theorie ist, weil damit wohl kaum mehr substanzielle und dann verallgemeinerungsfähige Aussagen über Entwicklungsprozesse möglich werden, wie das ja ursprünglich angedacht war (Joas 1992: 334-336). 2. Zu erinnern ist auch daran, dass die Einführung des Differenzierungsbegriffes in der Modernisierungstheorie selbst schon eine Art Kapitulation vor der Komplexität des sozialen Wandels darstellte (vgl. zum Folgenden Knöbl 2001: 203-206). Häufig wird ja vergessen, dass Neil Smelser sein berühmtes Buch Social Change in the Industrial Revolution aus dem Jahre 1959 mit folgenden zwei Sätzen eingeleitet hatte: »When comparing a society with its past or with another society, we often employ a dichotomy such as ›advanced vs. backward‹, ›developed vs. underdeveloped‹, ›civilized vs. uncivilized‹, or ›complex vs. simple‹. Sometimes these words yield too little information, because they claim simply that one society is superior to another.« (Smelser 1959: 1)

Der Differenzierungsbegriff – den einzuführen er vorschlug – wäre Smelser zufolge in der Lage, die bereits als problematisch erkannte Dichotomie zwischen Tradition und Moderne zu umgehen. Schließlich könnte man durch die Anwendung dieser neuen Begrifflichkeit von unterschiedlich differenzierten Gesellschaften sprechen und damit von graduellen Übergängen anstatt von klaren Brüchen. So genial der Schachzug Smelsers war, so teuer erkauft war er aber auch: Denn zwar konnte man mit der Verwendung des Differenzierungsbegriffs Konflikte, Spannungen usw. in die Theorie einbeziehen; aber gleichzeitig konnte man keine klaren Aussagen mehr machen hinsichtlich der kausalen Verursachung von Prozessen. Gerade weil es der Modernisierungstheorie nicht gelungen ist, in klaren Hypothesen genau die Prozesse ausfindig zu machen, welche die vermeintliche Bewegung von der traditionalen zur modernen Gesellschaft antreiben, schien die Hinwendung zu allgemeinen differenzierungstheoretischen Beschreibungen für Smelser und dann auch für andere Autoren

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ein eleganter Ausweg und deshalb so attraktiv zu sein – Beschreibungen wohlgemerkt, nicht Erklärungen. Differenzierung ist ja keine kausale Variable, sondern eine Folge des Zusammenwirkens von Wandlungsfaktoren. Dies musste auch Smelser schmerzlich erfahren, kam er doch nicht umhin, bei seiner Betonung von »Spannungen« (strain) als den Auslösern von Differenzierungsprozessen immer wieder Akteure ins Spiel zu bringen und darzulegen, auf welche Weise von den Handelnden die jeweiligen Spannungen produktiv ›genutzt‹ werden. Aber dass sie tatsächlich immer oder auch nur häufig produktiv genutzt werden im Hinblick auf einen Differenzierungsfortschritt, also in Bezug auf Modernisierung, war nur eine Unterstellung. Die unmittelbaren Handlungsziele von Akteuren lassen sich nicht so einfach generalisieren, was den Theoriestatus eines sich Differenzierungs- oder Modernisierungstheorie nennenden Ansatzes doch erheblich in Zweifel zieht. Die Modernisierungstheorie wurde also zwar in den 1980er und 1990er Jahren in verschiedenen Anläufen wieder belebt, aber dies konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die schon früh artikulierte Kritik aus den 1960er und 1970er Jahren auch später nie ausgeräumt wurde. Konkret sollten sich vier Aspekte als unüberwindliche Problemkomplexe erweisen, wie sich dies bei allen Reformulierungen der Modernisierungstheorie zeigen sollte: 1. Die Rede von ›traditionalen‹ Gesellschaften, die sich vermeintlich zu modernen wandeln, gab und gibt keine Auskunft darüber, welche konkreten Prozesse hier stattfinden. Sie basiert zunächst auf einer bloßen Dichotomie – hier die traditionalen Gesellschaften, dort eben die modernen. Aber weder wurde jemals klar, was der genaue Unterschied zwischen Tradition und Moderne ist, noch schien überhaupt jemand zu bemerken, dass mit dem Begriff der traditionalen Gesellschaft nur eine Residualkategorie geschaffen wurde: Mit ihm wurden alle Gesellschaften bezeichnet, die eben nicht westlich-modern sind, ›primitive Stämme‹ in Neuguinea ebenso wie die Hochkulturen Ägyptens in vorchristlicher Zeit oder die Türkei in den 1950er Jahren. Alles schien irgendwie ›traditional‹ zu sein, was es unmöglich machte, belastbare generalisierende Aussagen zum Wandlungsprozess von jenen traditionellen hin zu modernen Gesellschaften zu machen! Umgekehrt galt auch, dass angesichts der Unsicherheit der Definition des ›Traditionalen‹ gleichzeitig auch Probleme bezüglich der Identifizierbarkeit des

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›Modernen‹ einhergingen. Dies war ironischerweise schon relativ früh deutlich geworden, nämlich – wie erwähnt – in Robert Bellahs Tokugawa Religion. Wirklich angenommen wurden die Einsichten Bellahs nicht. Auch der Vorschlag Smelsers, dem viele Theoretiker dann später folgen sollten, nämlich mit dem Differenzierungsbegriff zu arbeiten, änderte wenig am hier angesprochenen Problem, weil – wie schon angedeutet – Differenzierungsaussagen keine Kausalaussagen sind und zudem Unterscheidungen zwischen Differenzierungsniveaus (etwa: segmentär – stratifikatorisch – funktional) dem Verdacht nicht entgehen können, dass empirisch allzu Vieles und vor allem allzu Heterogenes unter die Rubrik nicht-moderner, also nicht-funktionaler Differenzierungsformen eingeordnet wird. 2. Es war und ist immer noch unklar, wer in den zu entwickelnden Gesellschaften überhaupt die Modernisierung will. Die Modernisierungstheorie hatte – das ist meines Erachtens ein nicht zu unterschätzendes Verdienst der Theorie – darauf gesetzt, Akteurskonstellationen modellieren zu können, welche die Modernisierung behindern oder eben beschleunigen. Allerdings zeigte es sich empirisch, dass all die kollektiven Akteure, die Schichten und Klassen, die man im Fokus hatte, hinsichtlich ihres tatsächlichen Verhaltens höchst unsichere Kantonisten waren, was – hätte man mehr Zeit und Mühe auf theoretische Überlegungen verwendet – letztlich auch nicht wirklich überraschen konnte. Walt Rostow etwa hatte wie viele andere in der Modernisierungstheorie auf modernisierungswillige Eliten gesetzt. Das Problem dabei war freilich, dass man diesen Eliten häufig nicht wirklich trauen konnte. Manche schienen eher den Status Quo erhalten zu wollen, weil sie sich im gegebenen Gesellschaftszustand gut eingerichtet hatten; andere schienen eher eine Modernisierung nach sowjetischem Muster anzustreben, so dass Eliten als Trägergruppen der Modernisierung tatsächlich höchst unterschiedliche Projekte verfolgten. – Andere Modernisierungstheoretiker setzten deshalb auf die Mittelschichten, denen man (ob mit guten Gründen, dies sei hier nicht erörtert) eher ein demokratisches Gewissen zusprechen wollte und denen man unterstellte, dass sie mehr als die Eliten einen westlichen Modernisierungspfad anstrebten. Das Problem dabei war freilich, dass es große Mittelschichten in den Ländern der Dritten Welt kaum gab, sondern eine mächtige Mittelschicht ja zumeist erst das späte Ergebnis erfolgreicher Modernisierung ist. – Den agrarischen Schichten und also der überwiegenden

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Mehrheit in den Ländern der ›Dritten Welt‹ traute man insgesamt auch nicht recht, weil sie ja aufgrund ihrer fehlenden Bildung und Ausbildung am wenigsten den modernen Geist geatmet hätten und damit scheinbar am wenigsten bereit waren, den Weg in die so genannte ›Moderne‹ überhaupt zu gehen. Kurz, es war innerhalb der Modernisierungstheorie überhaupt unklar, wer die Träger der Modernisierung sind oder sein sollen. 3. Schnell wurde auch deutlich, dass – und auch dieser Punkt ist teilweise schon angesprochen worden – Wirtschaftswachstum nicht notwendig zu politischer Demokratie führt. Zwar konnte man auf einen gut bestätigten positiven Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und Demokratie (vgl. Rueschemeyer 1991) verweisen. Aber wie die genauen Kausalverhältnisse aussehen, dies war letztlich nur durch historisch-komparative Analysen zu klären. Diese vergleichenden Studien verwiesen nun aber – im Unterschied zum häufig quantitativ argumentierenden modernisierungstheoretischen Mainstream – oft darauf, dass Wachstumsprozesse erst einmal politische Krisen auslösen, deren Bewältigung alles andere als einfach vorherzubestimmen ist, weil hier Aufstiege charismatischer Führer ebenso in Rechnung zu stellen sind wie Erziehungsdiktaturen. Demokratie schien diesen Arbeiten zufolge ein eher kontingentes Ergebnis der Geschichte zu sein. Mit Blick auf das modernisierungstheoretische Paradigma bedeutete dies aber eben, dass einigermaßen unklar blieb, wie der vermeintlich unbestreitbare Zusammenhang zwischen ökonomischer und politischer Entwicklung kausal zu deuten ist. 4. Die Modernisierungstheorie ging zudem meist davon aus, dass Entwicklung interne oder endogene Entwicklung ist. Reinhard Bendix (1967) hatte freilich schon früh auf das Phänomen von Referenz- und Bezugsgesellschaften aufmerksam gemacht, an denen sich Entwicklungsländer und ihre politischen Eliten orientieren. Die Referenzgesellschaften sind aber nicht für alle die gleichen, weshalb schon aus diesem Grunde ein relativ homogenes Entwicklungsgeschehen in der Welt nicht erwartet werden konnte. Schließlich war und ist angesichts politisch-ideologischer Differenzen über ›best practices‹ (um es in der heutigen Sprache auszudrücken) nur selten eine übereinstimmende Meinung über einzuschlagende Wege zu finden. Auch dies machte dann Prognosen darüber, in welche Richtung Modernisierungsprozesse laufen würden, wenig verlässlich.

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Die Geschichte der frühen Modernisierungstheorie und diejenige der Versuche ihrer Wiederbelebung zeigen also, dass man sofort auf fast unüberwindliche Schwierigkeiten stieß. Gleichzeitig ist aber auch klar – und darauf haben Kommentatoren schon in den 1970er Jahren hingewiesen –, dass Idee und Begriff der ›Modernisierung‹ nicht verschwinden wollen. Dean C. Tipps etwa hatte in einem anregenden Essay aus dem Jahre 1973 betont, dass der Begriff ›Modernisierung‹ in seiner Bedeutung zwar höchst unklar und auch heftig umstritten sei, dass aber paradoxerweise gerade dies die Modernisierungstheorie und ihre runderneuerten Nachfolger am Leben erhalte und erhalten werde, und dies trotz aller massiven und berechtigten Kritik: Diese Überlebensfähigkeit des Begriffs und der Theorie der Modernisierung – so Tipps – sei der Tatsache geschuldet, dass der Begriff der ›Moderne‹ und derjenige der ›Modernisierung‹ eine eigenartige Attraktivität für all diejenigen haben, welche die Konturen der gegenwärtigen und zukünftigen Gesellschaft diskutieren, seien es nun Politiker oder Intellektuelle. Diese Aussage hat meiner Meinung nach seither nichts von ihrer Plausibilität und Aktualität eingebüßt. Denn trotz aller späteren Debatten um die Postmoderne, um Dekonstruktion und das Ende der großen Erzählungen gilt, dass im Mainstream-Diskurs die ›Modernität‹ der eigenen Nation oder Gesellschaft noch immer zentral ist, mit all den dabei bemerkbaren problematischen Annahmen und Aporien, nämlich dass Geschichten über Nationen und Gesellschaften allzu leicht die eindeutige Gerichtetheit und Konvergenz von sozialen Prozessen suggerieren und zudem ein Begriff der ›Moderne‹ verwendet wird, der je nach Kontext ständig seine Bedeutung verändert und damit letztlich beliebig wird. Was macht man aber nun mit der Tatsache, dass zwar einerseits die Modernisierungstheorie intellektuell gescheitert ist, uns aber gleichzeitig – wie Tipps zurecht prognostizierte – der Modernisierungsbegriff und immer wieder neu aufgelegte Modernisierungstheorien auch in Zukunft begleiten werden? Und weiter: Welche Auswirkungen hatte und hat dies für das säkulare Bild der Moderne? Konnte und kann die Säkularisierungsthese von der Implosion oder zumindest anhaltenden Schwäche der Modernisierungstheorie unberührt bleiben?

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4. D IE SÄKUL ARE ›M ODERNE‹ ALS Z IEL DER G ESCHICHTE ? Zunächst ist zu bemerken, dass in der säkularisierungstheoretischen Debatte einige Anomalien auftauchten, die gewissermaßen theoriewidrig waren und die es zu erklären galt. Wenigstens drei dieser Anomalien seien hier genannt (vgl. hierzu wieder Casanova 1994): 1. Irritierend war, dass gerade diejenige Gesellschaft, die gemeinhin als die modernste gedeutet wurde, nämlich die US-amerikanische Gesellschaft, durch ein lebendiges religiöses Leben charakterisiert war. Schon in den 1950er Jahren fiel auf, dass von einem kontinuierlichen, der Modernisierung folgenden Niedergang der Religion ganz generell nicht gesprochen werden konnte, weil etwa die Religiosität der Amerikaner deutlich höher war als diejenige der ›weniger entwickelten‹ Westeuropäer. Und dies wird bis heute so bestätigt, insofern alle Daten zu Kirchenbesuch, individueller Gläubigkeit, Gebetshäufigkeit etc. in die gleiche Richtung weisen (vgl. für einen Überblick zur US-amerikanischen Religiosität Wuthnow 1988). Warum dies so ist, darüber wurde viel geschrieben. Besonders überzeugende Erklärungen existieren aber offensichtlich nicht,7 und auch der vielleicht 7 | Steve Bruce etwa argumentiert, dass die staatlich-föderale Struktur der USA die Entstehung und Persistenz von religiösen Subkulturen begünstigt hat, in denen vor allem die Einwanderer (zeitweilig!) psychologische Unterstützung fanden und finden: Über kurz oder lang würden aber auch dort die Individualisierung, der Relativismus und die Privatisierung der Religion die jeweiligen Sekten und Kirchen erfassen, so dass deren doktrinäre Glaubensformen und Verhaltensspezifika allmählich verschwinden werden (Bruce 2002: 227; vgl. auch Bruce 2003: 62). Interessanterweise schreibt Bruce also gerade den Einwanderern eine große Rolle zu für das auch von ihm zugestandene höhere Niveau an Religiosität in der amerikanischen Gesellschaft. Irritierend ist freilich, dass dieses Argument bei Bruce eine Art historischer Finalisierung erfährt nach dem Motto: Irgendwann werden die Eingewanderten integriert sein und damit ihre besonders hohe Affinität zur Religion verlieren. Aber selbstverständlich lässt sich auch genau andersherum argumentieren, beispielsweise mit Verweis auf zunehmende globale Migrationsprozesse: Wenn die These von Bruce stimmen sollte, dass es vor allem die Einwanderer sind, die Zuflucht in der Religion suchen, dann ist ja gerade in einer heimatlos werdenden Welt für die Religionen ein enormes ›Rekrutierungspotenzial‹ vorhanden, das auf alles, nur nicht auf den Niedergang der

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prominenteste deutsche Säkularisierungstheoretiker, Detlef Pollack, weiß keine anzubieten (Pollack 2009: 38). Klar ist nur, dass die Behauptung eines allgemeinen Niedergangs der Religion aufgrund von Modernisierungsprozessen problematisch ist. Der USA-Europa-Vergleich gibt eine solche Behauptung nicht her, selbst wenn man annehmen würde, was allerdings nicht erwiesen ist, dass auch in den USA langsam die Religiosität der Menschen zurückgehen würde. – 2. Irritierend für modernisierungsund säkularisierungstheoretische Prognosen war auch, dass spätestens in den 1970er Jahren von einer zunehmenden Privatisierung der Religion nicht die Rede sein konnte. Es war ja auffallend, dass sich – wiederum in den USA, aber nicht nur dort – beispielsweise bestimmte protestantische Gruppen, also solche, die man gewöhnlich als fundamentalistisch bezeichnet, stärker als je zuvor zu Wort meldeten und dann etwa im Rahmen der Wahlkampagnen von Ronald Reagan eine wichtige politische Rolle spielten: Schärfer als je zuvor nahmen Protestanten zur Abtreibung, zu Homosexualität usw. Stellung, wobei freilich auch die Katholische Kirche etwa zur Sozialpolitik durchaus nicht schwieg. Von einem Rückzug der Religion ins Private konnte also schlichtweg nicht die Rede sein, eben weil religiöse Fragen und Probleme massiv politisiert wurden. Aber die USA waren diesbezüglich ja keine Ausnahme: Ende der 1970er Jahre kam es bekanntlich im Iran zur Etablierung eines klerikalen Regimes, das religiöse Programmatiken mit politischen gleichsetzte, so dass hier etwas auftrat, was man – aus modernisierungstheoretischer Sicht – nur als eine Art Rückfall bezeichnen konnte. Unglücklicherweise – wiederum aus der Sicht von Modernisierungstheoretikern – nahmen die Rückfälle und Ausnahmen aber Religionen schließen lässt. Genau das ist dann auch die These von Pippa Norris und Ronald Inglehart (2004): Die Autoren, obwohl der Modernisierungs- wie Säkularisierungstheorie durchaus zugetan, behaupten dort unter Verweis auf eine Fülle vorliegender Daten, dass zwar die Modernisierung tatsächlich zur Säkularisierung führen kann, dass dies allerdings nur dann der Fall ist, wenn die Modernisierung mit einem Wohlstandszuwachs und somit mit größerer existenzieller Sicherheit für die Bevölkerung einher geht. Da die Modernisierung aber genau dies keineswegs überall bewirkt, sondern für viele Menschen in den wenig industrialisierten Ländern Modernisierung eher Not und Armut bedeutet, kommen die Autoren zu dem paradox erscheinenden Befund, dass die reichen Gesellschaften säkularer werden, die Welt insgesamt aber — aufgrund der höheren Fertilitätsraten gerade in ärmeren Ländern — immer religiöser wird.

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zu, was die Plausibilität säkularisierungstheoretischer Annahmen nicht eben erhöhte. – 3. Irritierend war schließlich auch, dass – und hier ist wieder der Iran das Beispiel gewesen – selbst die Trennung von Staat und Religion eingezogen werden und damit etwas geschehen konnte, das man als modernitätswidrig bezeichnen musste. Auffallend ist also, dass in allen drei der von José Casanova aufgefächerten Dimensionen der Säkularisierung (s. S. 96) der auszumachende Trend weit weniger eindeutig war, als man dies gemäß der Vorgaben der Säkularisierungstheorie vermuten konnte. Dies führte dann dazu, dass die Modernisierungstheorie und die mit ihr einhergehende Säkularisierungsannahme zunehmend in die Kritik gerieten, dass die Frage nach den kausalen Zusammenhängen, die im Rahmen von Modernisierungsprozessen vermeintlich Säkularisierung hervorrufen, immer lauter wurde – wirklich befriedigende Antworten darauf aber nicht gegeben werden konnten! Es machte sich also der gleiche Diskussionsprozess, wie er schon im Zusammenhang mit der Modernisierungstheorie geführt wurde, auch im Umfeld der Säkularisierungstheorie bemerkbar. Die Frage nach den Ursachen der Säkularisierung war viel schwerer zu beantworten als zunächst gedacht. Vordergründige Plausibilitäten wie etwa psychologische Annahmen aus einem irgendwie modernisierungstheoretischen Argumentationsfundus vermochten jedenfalls nicht zu überzeugen. Die von dem schon genannten Steve Bruce (s. Fn. 7) vorgebrachte These, wonach ökonomisches Wachstum den Glauben schwäche: »The more pleasant this life, the harder it is to concentrate on the next« (Bruce 2002: 25), ist nämlich nur auf den ersten Blick schlagend. Denn das genau entgegengesetzte Argument ist mindestens ebenso plausibel: ›Je mehr Wohlstand die Leute besitzen, umso mehr Zeit haben sie, über metaphysische oder religiöse Sinnfragen nachzudenken.‹ Angesichts der Unklarheiten über die kausalen Faktoren, welche ganz allgemein Säkularisierung bewirken, war es folgerichtig, dass sich Säkularisierungstheoretiker zunehmend auf den europäischen Raum konzentrierten – aber dadurch zumindest indirekt und versteckt den Allgemeinheitsanspruch der Theorie aufgaben. Die Konzentration auf Europa war aus ihrer Sicht deshalb sinnvoll, weil zunächst einmal unbestreitbar war, dass es gerade in der europäischen Geschichte der letzten Jahrhunderte erhebliche Säkularisierungstendenzen gegeben hat und man gewissermaßen die Hoffnung haben konnte, zumindest in diesem einigermaßen überschaubaren räumlichen Kontext kausal relevante Aussagen machen

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zu können. Ein Zusammenhang zwischen Modernisierungsprozessen in Europa und Säkularisierung existiert nämlich zweifellos, wie etwa jüngst Detlef Pollack (2009) unter Zuhilfenahme einer Fülle von Daten gezeigt hat. Hier scheint also zu gelten, dass eine Gesellschaft umso weniger religiös ist, je moderner sie ist. Freilich zeigt Pollack auch, dass die Säkularisierungsdaten in den jeweiligen Gesellschaften erhebliche Unterschiede aufweisen, dass es also massive Differenzen zwischen den europäischen Großregionen gibt und selbst Länder östlich des früheren Eisernen Vorhangs wie etwa Polen und Tschechien hinsichtlich des Säkularisierungsgrades weit auseinander liegen. Diese Unterschiede zu erklären fällt ihm ebenso schwer wie die Erklärung der allgemeinen Ursachen von Säkularisierungsprozessen. Und diese Schwierigkeiten teilt er mit anderen Säkularisierungstheoretikern. Klar scheint deshalb nur zu sein, dass herkömmliche religionssoziologische Erklärungsansätze wie etwa das aus der US-amerikanischen Religionssoziologie kommende Marktmodell (eine Pluralisierung des religiösen Feldes führe zu einer Revitalisierung des religiösen Lebens) wenig plausibel sind (Pollack 2009: 35-44). Und auch das nahe liegende und zunächst einleuchtende Argument, wonach sich gerade die Länder, in denen die Religion der Verteidigung nationaler Identitäten gedient habe, am stärksten der Säkularisierung entzogen hätten (siehe Irland, siehe Polen), ist auf den zweiten Blick so überzeugend nicht: Denn es basiert in ziemlich unklarer Weise auf der Prämisse, wonach Religion letztlich ein reines Glaubensphänomen sei, eine Art individueller Suche nach Transzendenz, so dass der gemeinschaftsbildende Aspekt der Religion nur eine Art archaisches Überbleibsel sei. Dies ist aber eine höchst fragwürdige Unterstellung (vgl. hierzu auch Casanova 2011), die möglicherweise zu falschen Diagnosen und Prognosen führt. Religion ist zugegebenermaßen gerade in vergleichender Perspektive schwer zu definieren. Es ist aber auf jeden Fall eine theoretisch problematische Verkürzung, wenn man allein Fragen der individuellen ›Erlösung‹ zum entscheidenden Merkmal von Religion erklärt. Religiöse Phänomene waren und sind immer auch Vergemeinschaftungsphänomene – zumindest dann, wenn sie soziologisch wirkmächtig sind. Wenn dies richtig ist, dann hat dies aber erhebliche Auswirkungen auf Aussagen zu Säkularisierungstendenzen – und zwar in folgender Hinsicht: Ist nämlich die Suche nach ethnischer oder nationaler Identität mehr als nur ein Ausdruck bald verschwindender Mentalitäten (Wimmer 2002), sind Ethnisierungsprozesse also Phänomene in ›moder-

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nen Gesellschaften‹, dann wird man mit guten Gründen davon ausgehen können, dass Religion in Verteidigung von wie immer vorgestellten oder erfundenen Identitäten weiterhin eine wichtige Rolle spielen dürfte, so wie dies in Polen oder in Irland auch in der Vergangenheit der Fall war. Insofern sollte man allzu forsche Säkularisierungsprognosen vermeiden, selbst wenn – und dies sei durchaus zugestanden – zumindest in Europa derzeit wenig für religiöse Revitalisierungsprozesse spricht. Dies ist auch deshalb angeraten, weil die historische Forschung überzeugend nachgewiesen hat, dass gerade die europäische Vergangenheit eine höchst komplexe Säkularisierungsgeschichte aufweist.8 Zwar haben auch Säkularisierungstheoretiker nie behauptet, dass Säkularisierung ein linearer Prozess sei. Die von den Historikern vorgelegten Befunde sind aber derart beeindruckend, dass immer unklarer wird, ob es überhaupt sinnvoll ist, von einem Säkularisierungstrend zu sprechen. Insbesondere ist nicht mehr so ohne weiteres die Vorstellung aufrechtzuerhalten, wonach mit der Reformation und damit der Pluralisierung religiöser Überzeugungen in Europa die Religiosität der Menschen abgenommen habe und dass darüber hinaus seit der Reformation ein massiver Differenzierungsprozess eingeleitet worden sei. Historiker wie Heinz Schilling (1988), Wolfgang Reinhard (1997) und Harm Klueting (1998) haben gezeigt, dass gerade das Zeitalter der Reformation auch in katholischen Gebieten zu einer verstärkten religiösen Durchdringung im Sinne der Konfessionalisierung geführt habe und dass dies mitnichten ein Differenzierungsprozess zwischen Staat und Kirche gewesen sei, sondern – im Gegenteil – einer der De-Differenzierung zwischen Staat, Kirche und Gesellschaft (Gorski 2003: 159). Und dieser Prozess war nun beileibe nicht im 16. Jahrhundert abgeschlossen, sondern er wiederholte sich in ganz erstaunlichem Ausmaß im 19. Jahrhundert, in dem es in vielen europäischen Ländern zu einer erheblichen Mobilisierung religiöser Bevölkerungsschichten kam, von der Formierung konfessioneller Parteien bis hin zur Schaffung selbstbewusster protestantischer oder katholischer Milieus, die in dieser Art vorher nicht vorhanden waren. Es kann dann auch kaum verwundern, wenn mittlerweile einige Historiker jenes angeblich für die Säkularisierung so zentrale 19. Jahrhundert als ein »Zweites Konfessionelles Zeitalter« bezeichnen (Blaschke 2000). 8 | Die folgenden Absätze basieren auf meinem Buch Die Kontingenz der Moderne. Wege in Europa, Asien und Amerika (2007).

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Dies war übrigens beileibe kein auf Europa beschränkter Prozess, sondern gerade der durch die europäische (und amerikanische) Expansion verstärkt aufgetretene Kontakt zwischen den Weltreligionen führte fast auf dem gesamten Erdball zu eindeutigen ›Konfessionalisierungsbemühungen‹, also zu einer verstärkten religiösen Durchdringung der jeweiligen ›Gesellschaften‹ (Bayly 2006: 400-450): Die Vielfalt religiöser Glaubensformen wurde durch diese Konfessionalisierung zurückgedrängt und Homogenisierungsprozesse traten ein, die qualitativ durchaus etwas Neues boten. Insofern ist dann die oben schon genannte und von Bruce verfochtene kausale Deutung, mit der Reformation sei ein Zeitalter der Pluralität und Diversität angebrochen und in der Folge davon habe dann jener unter diesen Bedingungen schier unvermeidliche Prozess der Säkularisierung begonnen, schief. Die scharfe Dichotomie zwischen einer homogenen ›Vormoderne‹ und einer heterogenen, pluralen Moderne, die Bruce (aber nicht nur er) zeichnet, trifft den Sachverhalt nicht (vgl. Joas 2004: 36ff.; Graf 2005: 239). Denn das Mittelalter war pluraler als vermutet, und auch in ›modernen Gesellschaften‹ gab es immer wieder Homogenisierungsversuche und auch -erfolge, und zwar nicht nur in Europa, sondern weltweit! Wenn dem aber so ist, wenn die von Säkularisierungstheoretikern aufgemachten Dichotomien so nicht haltbar sind, dann ist man auch nicht gezwungen, die (europäische) Religionsgeschichte der letzten paar Jahrhunderte als eine der Säkularisierung zu erzählen. Vielmehr ließe sich fragen, ob man das, was man gewöhnlich als Ergebnis der Säkularisierung bezeichnet hat (also beispielsweise jene Pluralisierung der Glaubensformen), nicht auch als eine Rückkehr zu schon sehr viel älteren parallelen Monotheismen (Borgolte 2005) oder gar zu einem Polytheismus bezeichnen könnte (Gorski 2005: 180). Dann ließe sich in provozierender Absicht nicht nur ein europäischer9 Sonderweg konstatieren, sondern – religionsgeschichtlich gesehen – sogar behaupten, dass die europäische Neuzeit (etwa von der Reformation bis ins 20. Jahrhundert) als eine sehr außergewöhnliche Phase anzusehen ist, die aber aus eben diesem Grund gerade 9 | Man könnte (und müsste) vielleicht sogar noch radikaler argumentieren und behaupten, dass es höchst unterschiedliche Formen des Säkularismus in westlichen Gesellschaften gibt (Asad 2003: 5; Karagiannis 2009; Starrett 2010) und dass es deshalb insgesamt problematisch sei, in verallgemeinernder Absicht von »Säkularisierung« zu sprechen.

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nicht notwendig Auskunft über die Zukunft gibt, nicht einmal über die Zukunft Europas! Damit würde man nicht bestreiten, dass sich die religiöse Verfassung der Europäer seit der Reformation geändert hat; bestreiten würde man auch nicht, dass es in vielen Teilen Europas erhebliche Säkularisierungstendenzen gegeben hat und dass es solche vielleicht auch in Zukunft weiter geben wird (und zwar in allen von Casanova genannten drei Dimensionen!). Man würde diese Frage aber empirisch offen lassen, auch deshalb übrigens, weil über die Kausalprozesse, welche jenen vermeintlich allgemeinen Trend der Säkularisierung vorantreiben, doch wenig Wissen und wenig Einigkeit besteht.

5. S CHLUSS Ich hatte zu Beginn meiner Ausführungen erwähnt, dass ich die Modernisierungstheorie für einen großartig-spektakulären, obgleich gescheiterten modelltheoretischen Versuch halte. Und dieses Adjektiv ›großartig‹ ist hier alles andere als ironisch gemeint. Tatsächlich hat sich in den 1950er Jahren eine ganze Reihe von Wissenschaftlern auf den Weg in ›nichtwestliche‹ Regionen gemacht, um die dortigen politischen, ökonomischen und sozialen Verhältnisse zu studieren. Wie problematisch auch immer die Forschung betrieben worden ist – und hier gab es sicherlich viel zu kritisieren –, so ist gleichwohl der Hinweis wichtig, dass die Modernisierungstheoretiker tatsächlich Theorie und Empirie zusammenzubringen versuchten, etwas, was man sicherlich nicht von allen heutigen Makrotheorien wird sagen können. Bemerkenswert ist meines Erachtens auch, dass die Modernisierungstheorie zumindest anfänglich durchaus handlungstheoretisch ansetzte, auf individuelle wie kollektive Akteure (Eliten, Mittelschichten etc.) und die sich hierbei ergebenden Konstellationen blickte, weil man unter anderem das Interesse der konkreten Gesellschaftsveränderung hatte oder zumindest hoffte, gesellschaftliche Prozesse – Modernisierungsprozesse – steuern oder gar beschleunigen zu können. Wir werden heutzutage nicht mehr so einfach die Planungseuphorie der damaligen Zeit teilen können; dennoch lässt sich aber natürlich fragen, ob der anfängliche handlungstheoretische Impuls vor der differenzierungstheoretischen Wende, wie dies mit Verweis auf das Werk von Neil Smelser (S. 98) kurz angerissen worden war, nicht doch der richtige Ausgangspunkt für die makrosoziologische Theoriebildung war.

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Wenn man jedenfalls das tut, was die Modernisierungstheorie ganz zu Beginn ihrer Entwicklung völlig zurecht gemacht hatte, nämlich handlungstheoretisch anzusetzen, dann müsste relativ klar sein, dass es – und dies gilt es zu akzeptieren – kaum möglich sein wird, Aussagen von allzu großer Verallgemeinerungsfähigkeit und Reichweite zu entwickeln. Eine Beschäftigung mit der Geschichte der Modernisierungstheorie und der mit ihr verbandelten Säkularisierungstheorie mahnt zu Bescheidenheit hinsichtlich der Theorieansprüche in der Makrosoziologie: Was nutzen große Theorieentwürfe zur Weltgesellschaft, wenn ziemlich unklar ist, was darunter eigentlich genau verstanden werden soll? Was nutzen große Theorieversuche zur Globalisierung, wenn die meisten der dann beschriebenen Prozesse eben nicht global sind, sondern allenfalls regional oder gar lokal? Der Gestus der großen Makrotheoretiker scheint oft die Probleme zu verdecken, die es zu lösen gilt. Niemand soll davon abgehalten werden, von ›Weltgesellschaft‹ oder ›Globalisierung‹ zu sprechen, solange er oder sie lediglich auf empirisch interessante Phänomene aufmerksam macht. Aber er oder sie sollten dann schon erklären, warum hier unbedingt das Wort ›Theorie‹ verwendet werden muss, wenn nicht wenige der empirischen Beobachtungen dem verwendeten theoretischen Leitbegriff schlicht widersprechen. Wie schrieb doch Frederick Cooper (2005: 91) in Bezug auf Globalisierungstheorien so treffend wie ironisch: »There are two problems with the concept of globalization: first the ›global‹, and second the ›-ization‹.« Begriffe, die sich fast schon selbst dementieren, sollten nicht zum Ausgang von Theoriebildung gemacht werden. Und dies gilt für den Begriff der ›Modernisierung‹ ebenso wie für den der ›Säkularisierung‹: Das Problem ist ja nicht nur, dass es einigermaßen schwer ist, zu definieren, was hiermit gemeint ist, weil nicht klar ist, was der Ausgangs- und der Endpunkt dieses Prozesses genau ist. Was genau hat man sich eigentlich unter einer völlig säkularisierten Gesellschaft vorzustellen? Noch viel unklarer ist ja, welche Kausalkonstellationen sowohl ›Modernisierung‹ als auch ›Säkularisierung‹ vorantreiben und wie sich die unter den ›Modernisierungsbegriff‹ häufig gefassten Teilprozesse – die Individualisierung, die Bürokratisierung, die Durchsetzung eines kapitalistischen Marktes, die Demokratisierung, die Urbanisierung, und eben auch die Säkularisierung etc. – zueinander verhalten. Wie viele brauchbare Studien zum Zusammenhang zwischen Demokratisierung und Urbanisierung liegen eigentlich vor und wer kann klare Aussagen darüber machen, wie diese beiden Prozesse wiederum beispielsweise mit Säkularisierung interagieren?

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Kaum jemand wird darauf befriedigende Antworten geben können. Und wenn dies so ist, dann liegt eine nächste Frage nahe, nämlich: Ist es wirklich plausibel anzunehmen, dass die jeweiligen Interaktionen zwischen den hier genannten Faktoren oder Variablen alle in die gleiche Richtung drängen? Mir erscheint dies eher unwahrscheinlich; und selbst wenn es Korrelationen gibt, wenn sich aufweisen ließe, dass beispielsweise urbane Bevölkerungen insgesamt stärker hin zu demokratischen und säkularen Werten tendieren: Sagt uns dies allzu viel über die Ursachen, über die entscheidenden Akteure und Trägergruppen, deren Konflikte etc.? Glauben wir wirklich, dass die im Großraum Mexico City auftretenden Interaktionsdynamiken zwischen den Teilprozessen eine große Ähnlichkeit besitzen werden mit denen, die in Göttingen oder Münster zu beobachten sind? Ich würde die Frage eher verneinen und damit auch behaupten wollen, dass Modernisierungs- ebenso wie die Säkularisierungstheorien allzu vieles verdecken. Und wenn das so ist, dann sollte eine gehörige Skepsis walten gegenüber allen Versprechen hinsichtlich modernisierungs- oder säkularisierungstheoretischer Neuanfänge. Die Probleme der Modernisierungstheorie sind seit den 1950er Jahren durchdiskutiert worden und Ähnliches gilt auch für die Säkularisierungstheorie. Befriedigende Lösungen hierzu waren bisher nicht zu erkennen, und es ist wenig wahrscheinlich, dass sie in Zukunft auftauchen werden. Dies sollte dann aber auch Rückwirkungen auf das in der Soziologie verhandelte säkulare Bild ›moderner Gesellschaften‹ haben, insofern man sich – wenn man schon von ›modernen Gesellschaften‹ und ›Moderne‹ reden will – darüber im Klaren sein sollte, dass alle diesbezüglichen Vorstellungen in einem ganz spezifischen historischen Kontext entstanden sind, dessen Traditionslinien die meisten von uns auch heute noch prägen. Genau deshalb gilt es, diesen für die Soziologie so prägenden und kontinuierlich inszenierten Diskurs der ›Moderne‹ – so schwer es auch immer fällt – stets von Neuem kritisch zu hinterfragen, eben zu historisieren!

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Historischer Fortschritt oder leere Progression? Das Fortschreiten der Moderne als kulturelles Versprechen und als struktureller Zwang Hartmut Rosa

1. E INLEITUNG Für Jürgen Habermas wie für Niklas Luhmann – als den beiden zentralen Protagonisten der Kritischen Theorie und der Systemtheorie – bildet Kommunikation das Grundelement des sozialen Geschehens, und beide bestimmen auf diese Weise Gesellschaft gleichsam ›operativ‹ und dynamisch, als prozesshafte Bewegung. Dann jedoch öffnet sich in ihren Analysen eine signifikante Differenz in der Auffassung von Sinn und Richtung dieser Bewegung, die einen Unterschied ums Ganze ausmacht – und aus der zwei sehr verschiedene Moderne-Theorien hervorgehen. Für Jürgen Habermas entspricht der kommunikative Prozess einer gerichteten Suchbewegung; er zielt auf Verständigung im Hinblick auf die Fragen, um derentwillen jeweils kommuniziert wird (Habermas 1981, Bd. 1: 44-71). Angetrieben wird Kommunikation dabei stets durch die Thematisierung und Problematisierung von Geltungsansprüchen mit Blick auf praktische, politische, moralische, ethische, epistemologische oder auch ästhetische Fragen, welche sozialer oder kultureller Vereinbarung und Klärung bedürfen. Kommunikation hat in diesem Sinne ihrer Natur oder ihrer Idee nach eine Richtung und ein Ziel – und diese bestimmen ihre Logik auch dann noch, wenn dieses Ziel sich als unerreichbar erweist oder von den Kommunizierenden gar nicht vordringlich verfolgt wird. Eine kollektive Bewegung auf dieses Ziel zu erweist sich dann als genuiner Fortschritt, wie ihn Habermas im Hinblick auf Wahrheits- oder Gerechtigkeitsfragen im Prozess der Mo-

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dernisierung als Rationalisierung glaubt ausmachen zu können. Von hier aus lässt sich, wie Habermas gezeigt hat, die Moderne als ein kulturelles Projekt und ein Versprechen verstehen, das über die Verflüssigung und ›Demokratisierung‹ von Geltungsansprüchen auf individuelle und kollektive Selbstbestimmung zielt. Für Luhmann dagegen zielt Kommunikation auf nichts, das außerhalb ihrer selbst läge: Ziel eines kommunikativen Aktes ist allein die Fortsetzung der Kommunikation, der operative Anschluss, die Schließung der Prozessketten (Luhmann 1987: 191-241). Bis zum Zusammenbruch eines Kommunikationssystems spinnt sich die Kommunikation immer weiter fort, ohne sich irgendwohin zu bewegen. Die Differenz zwischen Luhmann und Habermas lässt sich ganz unmittelbar in eine Grundfrage an alle Arten des kommunikativen Geschehens übersetzen: Ist das Ziel des wissenschaftlichen Diskurses eine Verständigung über Wahrheit – oder die (prinzipiell offene und endlose) Fortsetzung des Forschungsprozesses? Wird die politische Debatte von der Idee getrieben, die ›richtigen‹ Gesetze zu formulieren – oder geht es um die unabschließbare Fortsetzung und Aufrechterhaltung des politischen Prozesses, um Verlust und Eroberung von Macht? Geht es in der Wirtschaft um Bedarfsdeckung – oder um die dynamische Stabilisierung des Status quo? Verbindet sich Habermas’ Moderne-Begriff mit der Idee der (historischen) Bewegung als Fortschritt, ergibt sich bei Luhmann das Konzept der Moderne als leere Progression: Ihr Signum ist das »autopoietische«, sich selbst erzeugende und erhaltende Prozessieren ausdifferenzierter und »operativ geschlossener«, nur ihrem je eigenen Code folgender Kommunikations- bzw. Funktionssysteme. Diese vermögen sich nur dynamisch zu stabilisieren, d.h. sie sind auf die stetige Fortsetzung der Kommunikation angewiesen, nicht um Wahrheit, Klärung oder Verständigung zu erreichen, sondern um den Status quo zu erhalten. Der Streit um die Moderne, der in den Kultur- und Sozialwissenschaften nun seit mehreren Jahrzehnten ebenso anhaltend wie unversöhnlich ausgetragen wird (Berger 1986, Costa u.a. 2006), lässt sich in vielerlei Hinsicht als verschlungene Auseinandersetzung zwischen den sich aus diesen beiden Denkrichtungen ergebenden Konzeptualisierungsmustern verstehen: Ist die Moderne ein kulturelles Projekt, das bestimmten normativen Geltungsansprüchen folgt, mittels derer sich historische Entwicklungsphasen bestimmen lassen – oder ist sie als ein struktureller Prozess zu beschreiben, der sich im Wesentlichen ›hinter dem Rücken der Akteure‹ vollzieht und die gesellschaftliche Operations- und Reproduktionsweise bestimmt?

Historischer Fortschritt oder leere Progression?

Die Antwort, die ich in diesem Beitrag versuchen möchte, lautet, dass die Moderne beides zugleich, aber in einem überaus ambivalenten Wechselverhältnis ist: Die europäische Moderne wird nicht unwesentlich angetrieben von spezifischen normativen und kulturellen Impulsen, die sich im 18. Jahrhundert verdichten und eine Kulturwirksamkeit erlangen, die sich als ›Versprechen der Aufklärung‹ beschreiben lässt. In ihrem Zentrum steht, gleichsam als politisches, ethisches und kulturelles ›Projekt der Moderne‹ die Idee der (individuellen und kollektiven) Autonomie des Menschen, die sich auch und gerade aus dem Anspruch auf Selbstbestimmung in Fragen der religiösen Überzeugung und Lebensführung entwickelt. Die soziokulturelle Formation der Moderne ist aber zugleich durch den hochspezifischen Modus ihrer strukturellen Stabilisierung und Reproduktion gekennzeichnet. Eine moderne Gesellschaft lässt sich aus dieser Perspektive definieren als eine Gesellschaft, die sich nur dynamisch zu stabilisieren vermag, die also systematisch auf Wachstum, Beschleunigung und Innovationsverdichtung angewiesen ist, um sich strukturell zu reproduzieren. Es ist diese unabschließbare Steigerungslogik, die sich unter anderem (aber nicht nur) im notorischen Zwang zu Wirtschaftswachstum und sozialer Beschleunigung bemerkbar macht, welche moderne Gesellschaften von traditionalen und nicht-modernen Formationen aller Art unterscheidet (Fulda/Rosa 2011, Rosa 2005a). Dieser durch Steigerung und Beschleunigung gekennzeichnete Prozess lässt sich als Prozess der Modernisierung verstehen, der logisch und analytisch von jenem Projekt der Moderne durchaus unabhängig ist, wobei das Kausalverhältnis zwischen den beiden Momenten der Moderne als empirisch umstritten und daher als offen gelten kann und muss. Während in den Kulturwissenschaften die verbreitete Auffassung herrscht, dass die Impulse der Aufklärung jenen Dynamisierungsprozess erst in Gang gesetzt hätten (Schmidt 2009), erscheinen die Verhältnisse aus einer (post-)marxistischen oder differenzierungstheoretischen Perspektive gerade umgekehrt (Nassehi 2009: Die normativen, politischen und kulturellen Umbrüche des 18. Jahrhunderts gelten ihr nur als gleichsam ›semantische Anpassung‹ an vorgängige strukturelle Verschiebungen. Ganz unabhängig von der Frage nach der Genesis der (europäischen) Moderne stellt sich darüber hinaus die Frage, wie sich Projekt und Prozess im weiteren Verlauf zueinander verhalten: Bedarf die Aufrechterhaltung des Modus dynamischer Stabilisierung im 21. Jahrhundert (noch) der antreibenden Impulse der Aufklärung? Oder hat sich der Steigerungsprozess so sehr verselbstständigt, dass das Insistieren auf die Geltungsansprüche

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des Projekts ihm eher hinderlich geworden ist? Und weiter: Wie verhalten sich Projekt und Prozess außerhalb des euroatlantischen Raumes zueinander – ist es möglich, dass die Umstellung auf den Modus dynamischer Stabilisierung in China und Südostasien sich ohne die vorgängige oder gleichzeitige Etablierung des Projekts vollzog und vollzieht? Entfalten sich in China möglicherweise die Geltungsansprüche des Projekts als Folge der Entfesselung des Modernisierungsprozesses, während sie sich in Europa als deren Ursachen erweisen? Ich möchte in diesem Beitrag die konzeptuellen und theoretischen Bedingungen dafür klären, solche Fragen systematisch zu stellen und mit den Mitteln der empirisch-historischen Analyse bearbeitbar zu machen – ihre definitive Beantwortung muss dann freilich der materialen Forschung überlassen bleiben. Dazu werde ich im Folgenden zunächst in gebotener Kürze die Umrisse des kulturellen Projekts der Moderne zu skizzieren versuchen, um dann im dritten Abschnitt die Umstellung auf den Modus dynamischer Stabilisierung als Kernelement des Modernisierungsprozesses zu identifizieren und zu beschreiben. Auf dieser Basis will ich dann im letzten Schritt die Frage nach dem Verhältnis zwischen Projekt und Prozess in der Moderne sowohl in synchroner als auch in diachroner Perspektive noch einmal systematisch aufnehmen und herausarbeiten, dass sich dieses Verhältnis sowohl im historischen Verlauf verändert als auch im interkulturellen Vergleich unterscheidet.

2. D ER I MPULS DER A UFKL ÄRUNG : D AS P ROJEK T DER M ODERNE Nach meinem Verständnis kann es keinen Zweifel daran geben, dass sich im Zeitalter der Aufklärung, insbesondere im 18. Jahrhundert, eine ganze Reihe von philosophischen, ästhetischen, politischen und moralischen Geltungsansprüchen auf historisch neuartige Weise artikuliert und zu normativen Impulsen verdichtet, welche dann in einer Vielzahl sich nach und nach herausbildender politischer, ökonomischer, ästhetischer und wissenschaftlicher Praktiken auch kulturwirksam werden und es in vielerlei Hinsicht bis heute geblieben sind.1 Wenngleich die mit jenen Geltungsan1 | Wesentliche der in diesem Beitrag formulierten Ideen gehen zurück auf einen Antrag der Friedrich Schiller Universität Jena und der Universität Halle-Wittenberg auf ein Exzellenzcluster im Rahmen der jüngsten Exzellenzinitiative des Bundes

Historischer Fortschritt oder leere Progression?

sprüchen verknüpften Begriffe – etwa: Vernunft, Freiheit, Kritik, Bildung, Authentizität, Geschichte, Natur, Fortschritt – nicht nur vielfältig, sondern auch in sich und unter sich spannungsreich und widerspruchsvoll sind, scheinen sie mir ein eindeutiges Gravitationszentrum zu haben, das in der Idee und im Versprechen der Freiheit als autonomer Selbstbestimmung liegt (vgl. auch Habermas 1988). Diese Idee gewinnt eine kulturtransformierende und dynamisierende Kraft durch ihre buchstäbliche philosophische und intellektuelle, ästhetische, religiöse und politische Attraktivität, durch ihre Wirkungsweise als Versprechen. Als solches fungiert sie beispielsweise in Immanuel Kants Konzeption moralischer Selbstbestimmung und kritischer Vernunft, aber auch in den amerikanischen und französischen Deklarationen der Menschenrechte von 1776 und 1789. Weil Thomas Jeffersons Formulierung der unveräußerlichen Rechte eines jeden Menschen auf »Life, Liberty and the Pursuit of Happiness« in der Präambel der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung just diese Qualität eines kulturwirksamen (und politischen) Versprechens auf ein selbstbestimmtes Leben birgt und entfaltet, kann sie etwa von Stephen E. Lucas (1989: 85) zu den einflussreichsten Formulierungen in der Geschichte der englischen Sprache überhaupt gezählt werden. Im Zentrum des ›Projekts der Moderne‹ steht daher das Versprechen der Aufklärung, dass die Individuen selbst zum Zentrum aller moralischen und politischen Wertansprüche werden sollen, dass mithin keine weltliche oder religiöse Autorität (kein König und keine Kirche) das Recht habe, die (ethischen, religiösen, ästhetischen oder ökonomischen) Prinzipien der Lebensführung gegen deren Willen zu diktieren. Dieser Anspruch auf Autonomie, auf Selbstbestimmung der Prinzipien und Ziele der Lebensführung, erweist sich als folgenreich in gleich drei Hinsichten, welche für die soziokulturelle Formation der Moderne konstitutiv sind: Zum Ersten begünstigt und rechtfertigt er ohne Zweifel den Prozess der Individualisierung und der kulturellen Pluralisierung, so sehr diese auch ihrerseits Konsequenzen oder Korrelate des sich größtenteils ›hinter dem Rücken der Akteure‹ vollziehenden Prozesses der funktionalen Differenzierung sein mögen. Zum Zweiten aber findet der Anspruch mit dem Titel »The Force of Enlightenment and the Dynamics of Modernity«. Für diesen Antrag habe ich die federführende Verantwortung getragen – dennoch verdanke ich wertvolle Einsichten, insbesondere in die Impulse der Aufklärung, meinen Mitstreitern an diesem Projekt, allen voran Daniel Fulda und Georg Schmidt.

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auf individuelle Autonomie ein notwendiges Korrelat in der politischen Idee der Demokratie als kollektiver Selbstbestimmung (Habermas 1992: 112134): Weil die kollektiven Institutionen und Ordnungen, innerhalb derer Individuen ihre (pluralen) Konzeptionen des gelingenden Lebens verfolgen können, als intersubjektiv verbindliche und strukturell verankerte ihrerseits nicht selbst individuell bestimmt und gestaltet werden können, sind sie, wie schon Rousseau argumentierte, nur dann mit dem Prinzip der Selbstbestimmung vereinbar, wenn sie im Modus demokratischer Selbstgesetzgebung konstituiert und gerechtfertigt werden, so dass die Akteure sich als »Autoren und Adressaten« der entsprechenden Regelungen zugleich begreifen können. Auf diese Weise wird das Projekt der Moderne unvermeidlich auch zu einem politischen Projekt der kollektiven Gestaltung der sozialen Strukturen. Dieser Selbstbestimmungs- und Gestaltungsanspruch impliziert dabei, zum Dritten schließlich, nicht nur die Emanzipation von autoritativen und traditionellen religiösen und politischen Vorgaben, sondern ebenso die Überwindung und/oder Erweiterung der von der Natur gesetzten Limitierungen. Der Anspruch auf ein selbst gestaltetes Leben drängt daher gleichsam ›natürlich‹ dazu, durch Ressourcensteigerung die Gestaltungsspielräume zu erweitern. Erst wenn die unmittelbaren materiellen Zwänge aus Knappheit, Armut, Mangel (und Unwissenheit) beseitigt sind, gewinnt die Idee selbstbestimmter Lebensführung ihren praktischen Sinn. Dieser entfaltet sich erst vollends in der (Massen-)Konsumgesellschaft, die den Einzelnen Wahlmöglichkeiten in allen Sphären der Lebensführung eröffnete und damit den Entwurf und die Realisierung eines je individuellen ›Lebensprojektes‹ ermöglichte. Dies begründet meines Erachtens die (zumindest minimale) kulturelle Akzeptanz, ja die Attraktivität der kapitalistischen Wirtschaftsweise (Deutschmann 1999): Sie versprach (und verspricht), die notwendigen Ressourcen für eine autonome Lebensführung bereitzustellen; erst auf der Basis erwirtschafteter Überschüsse wird darüber hinaus auch das Konzept einer kollektiven, politischen Gestaltung der Lebensform plausibel, weil sie politische Interventions- und Verteilungsspielräume eröffnen. Ist auf diese Weise das Streben nach ökonomischer Entwicklung und Wohlstand gleichsam inhärent mit dem Projekt der Moderne verknüpft, so gilt das Gleiche für die Entfesselung der wissenschaftlich-technischen Entwicklung: Die Geschichte dieser Entwicklung lässt sich als Geschichte der Autonomiesteigerung gegenüber natürlichen Begrenzungen rekonstruieren. Selbstbestimmung impliziert heute etwa, frei

Historischer Fortschritt oder leere Progression?

von tages- oder jahreszeitlichen Vorgaben zu entscheiden, ob ein Raum hell oder dunkel, warm oder kalt sein soll, aber auch, selbst zu entscheiden, ob die Fortbewegung zu Wasser, zu Lande oder zu Luft erfolgen soll, ob die Haare blond oder schwarz sind, ja, als Grenzfall sogar: ob wir Mann oder Frau sein wollen. Ökonomisches Wachstum und wissenschaftlichtechnischer Fortschritt scheinen auf diese Weise ebenso wie demokratische Politik ›natürliche‹ Korrelate des modernen Selbstbestimmungsanspruches zu sein – was von unmittelbarer Bedeutsamkeit ist für die Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem ›Projekt der Moderne‹ und der Steigerungslogik moderner Gesellschaften, der ich mich nun im folgenden Abschnitt zuwenden möchte.

3. D YNAMISCHE S TABILISIERUNG : D ER P ROZESS DER M ODERNISIERUNG Anders als in der Philosophie oder den Kulturwissenschaften, in denen die ›Moderne‹ häufig im Sinne der im letzten Abschnitt ausgeführten Überlegungen als epistemisches und normatives Projekt samt der damit verbundenen Veränderungen der Legitimationsmuster und der sozialen und kulturellen Praktiken verstanden wird, hat sich in den Sozialwissenschaften weitgehend die Vorstellung durchgesetzt, dass die Moderne in erster Linie als eine transformative, prozesshafte Veränderung zu begreifen sei, wie sie etwa in ›klassischen‹, an Parsons angelehnten Modernisierungstheorien beschrieben wird (Zapf 1990). Aber auch viele andere, ja die meisten der heute diskutierten Gesellschaftstheorien konzeptualisieren die Moderne im Sinne eines (mehr oder minder gerichteten) Prozesses als Transformation, als deren Kern dann in der Regel fortlaufende soziale Differenzierung, Rationalisierung, Individualisierung oder Domestizierung (Naturbeherrschung) ausgemacht wird (Rosa u.a. 2007). In meinem Beschleunigungsbuch von 2005 habe ich zu zeigen versucht, dass die darüber identifizierten und bezeichneten Veränderungstendenzen sich systematisch und widerspruchsfrei zusammenbringen lassen unter einen einzigen Begriff der sozialen Beschleunigung, so dass als ›Kern der Moderne‹ bzw. der Modernisierung ein bis heute andauernder Prozess der Dynamisierung (oder des In-immer-schnellere-Bewegung-Setzens) der materiellen, sozialen und geistigen Verhältnisse bestimmt werden kann (auch Rosa 2007). Von entscheidender Bedeutung ist dabei jedoch, dass die Eigenlogik der Dynamisierung –

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anders als es die Projektmetapher nahelegt – inzwischen selbst zu einem strukturellen Zwang geworden ist. Moderne Gesellschaften sind dadurch gekennzeichnet, dass sie ihre Teilbereiche und ihre Sozialstruktur nur noch dynamisch zu stabilisieren und zu reproduzieren vermögen; sie gewinnen Stabilität gleichsam in und durch Bewegung. Daher möchte ich an dieser Stelle die folgende Definition vorschlagen: Eine Gesellschaft ist modern, wenn sie sich nur (noch) dynamisch zu stabilisieren vermag, wenn sie also systematisch auf Wachstum, Innovationsverdichtung und Beschleunigung angewiesen ist, um ihre Struktur zu erhalten und zu reproduzieren. Die Trias Wachstum, Beschleunigung und Innovationsverdichtung lässt sich dabei als zeitliche (Beschleunigung), sachliche (Wachstum) und soziale (Innovationsverdichtung) Dimension eines einzigen Dynamisierungsprozesses verstehen, der sich seinerseits als Mengensteigerung pro Zeiteinheit definieren lässt. Diese letztere Definition ist exakt die Bestimmung von ›Beschleunigung‹, die ich meiner Theorie der Beschleunigung zugrunde gelegt habe (2005a: 115). Weil dieser umfassende Beschleunigungsbegriff jedoch die Zeitdimension über die beiden anderen Aspekte privilegiert bzw. die sachlichen und sozialen Konsequenzen sprachlich nahezu invisibilisiert, möchte ich hier stattdessen lieber jene begriffliche Trias verwenden. Denn insbesondere der (materielle) Wachstumszwang moderner (kapitalistischer) Gesellschaften erweist sich angesichts der sich abzeichnenden ökologischen Krisen des 21. Jahrhunderts als problematische Konsequenz dynamischer Stabilisierung.2 Der unbestreitbare Vorteil einer solchen ›prozessualen‹ und zugleich strukturlogischen Bestimmung moderner Gesellschaften besteht darin, dass sie ohne jene normativen Vorentscheidungen auskommt, welche nicht nur die Idee eines ›Projekts der Moderne‹ belasten, sondern auch die (quasi-teleologischen) ›klassischen‹ Modernisierungstheorien und selbst noch die Identifikation von Modernisierung als Rationalisierung, Differenzierung, Individualisierung oder progressive Naturbeherrschung im Sinne der instrumentellen Vernunft. Daher erlaubt der in der hier vorgeschlagenen Moderne-Definition verwendete Begriff einerseits die bruchlose Inklusion von »multiple modernities« auch und gerade dort, wo entscheidende normative Momente oder kulturelle Elemente des ›Projekts der Moderne‹ nicht ausgebildet oder dezidiert negiert werden, oder wo sich 2 | Er steht daher im Mittelpunkt der jüngst von der DFG bewilligten Kolleg-Forschergruppe »Landnahme, Beschleunigung, Aktivierung. (De-)Stabilisierung moderner Wachstumsgesellschaften« an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

Historischer Fortschritt oder leere Progression?

jene postulierten Tendenzen der Individualisierung, der Rationalisierung oder der (funktionalen) Differenzierung nicht entwickelten oder als reversibel erwiesen. Dynamische Stabilisierung ist konzeptuell beispielsweise umstandslos mit ›totalitären‹ Gesellschaftsverfassungen kompatibel. Andererseits vermeidet die Moderne-Definition der dynamischen Stabilisierung die ›Beliebigkeitsfalle‹ mancher Ansätze wie etwa des Postkolonialismus, welche zwar mit überzeugenden Argumenten die ›Multiplizität‹ und Pluralität der Moderne herausarbeiten, aber hinter dieser Vielfalt die Einheit nicht mehr kenntlich zu machen vermögen, ›Moderne‹ daher nur noch als leere Chiffre oder chronologisch bestimmtes, aber vollkommen substanzloses Epochenkonzept verwenden können (Rosa 2007). Über den Begriff der dynamischen Stabilisierung lassen sich moderne und nichtmoderne Gesellschaften ganz unabhängig von ihrer historischen Einordnung trennscharf unterscheiden – freilich um den Preis der Möglichkeit, dass auf diese Weise auch eine historisch eindeutig ›vormoderne‹ Gesellschaft als ›modern‹ zu klassifizieren sein könnte. Insbesondere aber lässt es dieses Konzept zu, Aufklärung und Moderne, Projekt und Prozess systematisch zu unterscheiden und analytisch so voneinander zu lösen, dass ihre wechselseitige Bezogenheit zu einer empirischen Forschungsfrage werden kann: Ob und in welcher Weise die Aufklärung die Moderne (als Prozess) hervorbringt, ob und in welcher Weise der Prozess dynamischer Stabilisierung der Impulse der Aufklärung, des fundierenden Projekts heute noch bedarf (oder umgekehrt), und ob die gesellschaftsweite und kulturwirksame Etablierung des einen ohne das andere möglich ist, sind empirisch zu bearbeitende Fragestellungen. Ich möchte sie im nächsten Abschnitt wieder aufgreifen. Zuvor will ich jedoch noch herausarbeiten, wie umfassend und radikal sich der Übergang von einem gleichsam ›statischen‹, mimetischen oder bedarfsdeckenden Modus der strukturellen Reproduktion zum modernen Modus der dynamischen Stabilisierung in den einzelnen Gesellschaftsbereichen seit dem 18. Jahrhundert vollzog. Dass diese Umstellung jeweils auch mit einer Entkoppelung oder ›Freisetzung‹ der je funktionsspezifischen Eigenlogik von religiösen Steuerungs-, Stabilisierungs- und Rechtfertigungsmustern einherging, scheint mir dabei kaum bestreitbar zu sein. Autonomisierung und Dynamisierung der Funktionssphären vollzogen sich gleichsam ›Hand in Hand‹, ja sie erscheinen als die beiden Seiten ein und derselben Medaille. Umgekehrt war es die entfesselte ökonomische, soziale und kulturelle Dynamisierung der Gesellschaft, welche

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die überlieferte, ständisch und religiös fundierte Ordnung erschütterte und transformierte. Dieser Prozess lässt sich instruktiv an den bereits thematisierten Wertund Funktionssphären der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Politik untersuchen. In allen drei Dimensionen bildet sich vom 17. bis zum 19. Jahrhundert eine neue institutionelle Ordnung heraus, welche den ständisch-statischen durch einen dynamischen Modus der Stabilisierung ersetzt. Vielleicht am offensichtlichsten gilt das für die moderne, kapitalistische Wirtschaftsordnung: Anders als die überlieferten Formen bedarfsorientierten und bedarfsdeckenden Wirtschaftens sind kapitalistische Ökonomien strukturell darauf angewiesen, dass der Kapitalzirkulationsprozess nicht nur ununterbrochen im Gang bleibt, sondern sich sogar beschleunigt und dabei die materielle Wachstumsspirale vorantreibt. Diese Einsicht bestimmt etwa Marx’ Postulat, dass der Steigerungsprozess ›G-W-G‹ zum (dynamischen) Subjekt der Geschichte werde, welche selbst die Bourgeoisie vor sich her treibe (Marx/Engels 1986; Dörre/Lessenich/ Rosa 2009), aber auch Max Webers Diktum, der Kapitalismus sei die »schicksalsvollste Macht unseres modernen Lebens« (Weber 1991: 12), weil er die Muster der Lebensführung, den Ethos und Habitus des modernen Menschen im Sinne der ›protestantischen Ethik‹ so transformiert und dynamisiert habe, dass sie auf ständige Optimierung, Rationalisierung und Effizienzsteigerung hin ausgerichtet seien. Daraus resultiert einerseits der ökonomische Wachstumszwang aller bekannten kapitalistischen Formationen, andererseits jedoch auch die fortwährende technische Beschleunigung im Sinne der von David Harvey (1990: 240-307) identifizierten progressiven »Raum-Zeit-Kompression« und schließlich ebenso der Zwang zur stetigen sozialen Innovation.3 3 | Liest man das »Kommunistische Manifest« einmal nicht durch die Brille des »Klassenkampfes«, erweist es sich als ungeheuer eindrucksvolles Dokument dieser multidimensionalen Dynamisierung: »Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. Unveränderte Beibehaltung der alten Produktionsweise war dagegen die erste Existenzbedingung aller früheren industriellen Klassen. Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisieepoche vor allen anderen aus. Alle festen, eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von

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Die Umstellung auf den Modus dynamischer Reproduktion ergibt sich jedoch nicht nur durch den ökonomisch erzeugten Innovationsdruck – er resultiert auch aus der eigenlogischen (in Europa durchaus auch ›Projektgetriebenen‹) Transformation der politischen Sphäre und der Wissensproduktion. Tatsächlich lässt sich die fundamentale Umstellung schon auf der begrifflichen Ebene beobachten. Die höchste Autorität in epistemologischen und Wissensfragen gewinnen im 18. Jahrhundert die Wissenschaften, die nicht mehr traditionell oder durch Autorität gesetztes oder überliefertes oder geoffenbartes Wissen verwalten, sichern und tradieren, sondern Wissen in immer neuen Forschungsprojekten und -programmen stetig erweitern und neu schaffen. Die Wissensordnung der Moderne beruht daher nicht auf statischen, sondern auf dynamischen Fundamenten: Alle Lehrsätze sind prinzipiell revidierbar, das Falsifikationsstreben wird zum Motor wissenschaftlicher Entwicklung. Der moderne Wissenschaftler verwaltet und sichert oder ›besitzt‹ im Gegensatz zum vormodernen Weisen oder Priester kein sicheres Wissen und keine unantastbare Quelle, er bezieht seine Autorität aus der Forschung, also aus der permanenten Erschließung von Neuland. Die frühmoderne Hoffnung, dass auf diese Weise doch wieder ein festes Universum des Wissens zu gewinnen sein könnte, dass eine letztgültige Wissensordnung als Ergebnis des dynamischen Forschungsprozesses entstehen könnte, ist mit dem weiteren Fortschreiten der Moderne der habitualisierten (›konstruktivistischen‹) Auffassung gewichen, dass Wissenschaftler zu sein bedeutet, immer wieder neue Fragen zu stellen, immer wieder neue Antworten zu erhalten. Der Forschungsprozess erscheint so als unabschließbar. Was auf diese Weise für die Transformation der Wissensordnung gilt, lässt sich nun aber analog auch für die Reproduktion der politischen Ordnung beobachten, und zwar sowohl mit Blick auf die Regierungsform wie auch hinsichtlich der Gesetzgebung. Anders als in monarchischen Herrschaftsordnungen ist die demokratische Herrschaft – als die paradigmatisch moderne Form politischer Verfassung – auf eine stetige Neubestellung hin angelegt: Alle vier oder fünf Jahre wird die Regierung neu bestimmt, ihre Amtsdauer ist von Anfang an zeitlich beschränkt, Lebensund Herrschaftszeit sind systematisch getrennt. An die Stelle der statischen altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht […]« (Marx/Engels 1986: 37f.).

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Herrschaft tritt so der stetige, dynamische Austausch von Regierungen. Es ist das Wissen um die Begrenztheit jeder Regierungsmacht, welches den politischen Prozess und damit die politische Stabilität, Reproduktion und Steuerungsfähigkeit moderner (demokratischer) Gesellschaften im Gange hält. Vor allem aber wird politische Herrschaft auf diese Weise gezwungen und zugleich fähig, sensibel auf soziale Bedürfnisse und Veränderungen zu reagieren und damit rasche Anpassungsbewegungen zu vollziehen. Diese widerspiegeln sich insbesondere auch in der Logik moderner Gesetzgebung: Anders als traditionales Gewohnheitsrecht, religiös überlieferte Rechtsordnungen oder statisches Naturrecht ist das moderne Recht auf seine stetige Entwicklung, Veränderung und Anpassung hin angelegt. Die Rechtsordnung der Moderne basiert ebenso wenig wie die Wissensordnung und die politische Ordnung auf der Idee fester substanzieller Fundamente, sondern vielmehr auf der Institution legitimierter dynamischer Gesetzgebung: Es geht in ihr nicht darum ›ewiges‹ oder tradiertes Recht festzustellen, durchzusetzen oder zu bewahren; die höchste Souveränität liegt vielmehr in der Legislative als dem Organ permanenter (Neu-)Schaffung von Recht (Scheuerman 2004). Auch die Rechtsordnung stabilisiert sich auf diese Weise dynamisch.4 Wie sehr die Moderne nicht nur durch die Transformation der institutionellen Sozialordnung, sondern auch durch die korrespondierende Umstellung der kulturellen Orientierungen gekennzeichnet ist, offenbart sich schließlich mit Blick auf die Normen und Muster der ästhetischen Praktiken ebenso wie der individuellen Lebensführung. Wie etwa Boris Groys gezeigt hat, liegt das spezifische Charakteristikum der modernen Kunst und Literatur darin, dass es ihr nicht (mehr) um die Imitation einer gegebenen natürlichen oder sozialen Wirklichkeit, um die Tradierung künstlerischer Formgesetze oder die Erfüllung der Vorgaben ›alter Meister‹ geht, sondern um Innovativität, Originalität und Überbietung. »Von einem Denker, Künstler oder Literaten wird gefordert, dass er das Neue schafft, wie früher 4 | Dies gilt ungeachtet der Tatsache, dass der Prozess dynamischer Rechtsschöpfung seinerseits in der Regel durch eine Verfassung ›festgeschrieben‹ wird, welche ihrerseits weitgehend statische Züge aufweist, und auch unbeschadet des Umstandes, dass demokratische Gesetzgebung in der Spätmoderne ihrerseits zu zeitintensiv oder zu langsam für die dynamische Anpassung an das hohe ökonomische, wissenschaftlich-technische und soziokulturelle Veränderungstempo zu werden droht (Rosa 2005b, Scheuerman 2004).

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von ihm gefordert worden war, dass er sich an die Tradition hält und sich ihren Kriterien unterwirft« (Groys 1992: 10). Auf diese Weise aber wird der Kunst- und Literaturbetrieb zu einem unabschließbaren, dynamischen Geschehen, das sich nur durch Innovation und Veränderung zu stabilisieren vermag. »Das Neue ist unausweichlich, unvermeidlich, unverzichtbar. Es gibt keinen Weg, der aus dem Neuen führt, denn ein solcher Weg wäre auch neu. Es gibt keine Möglichkeit, die Regeln des Neuen zu brechen, denn ein solcher Bruch ist genau das, was die Regeln erfordern. Und in diesem Sinne ist die Forderung nach Innovation, wenn man will, die einzige Realität, die in der Kultur zum Ausdruck gebracht wird« (Groys 1992: S. 12, vgl. Fulda/Rosa 2011). Im Hinblick auf die Lebensführung und die Identitätsmuster der Subjekte von entscheidender Bedeutung ist dabei, dass sich die Umstellung der sozialen und kulturellen Ordnung auf die Logik dynamischer Stabilisierung und Reproduktion unmittelbar im Allokationsmodus der Gesellschaft widerspiegelt. Ist jede soziale Formation dazu gezwungen, Regeln für die Verteilung bzw. Zuteilung ihrer Ressourcen, ihrer Produkte, aber auch von gesellschaftlichen Privilegien und Positionen sowie von Status und Anerkennung zu definieren, so zeichnet sich die moderne Allokationsordnung dadurch aus, dass sie (abgesehen von der Staatsbürgerschaft) in keiner dieser Hinsichten auf statische oder ständische Verteilungsmuster zurückgreift, sondern die Vergabe nach der Logik des Wettbewerbs und dem Prinzip der individuellen Leistung dynamisiert: Während etwa in einer mittelalterlichen Ständeordnung die soziale Position und damit Status und Anerkennung, Privilegien und Chancen, Optionen und Ressourcen, die einer Person (als Bauer oder Handwerker, Bettler oder Krieger, Gräfin oder Königin) zukamen, im Wesentlichen mit der Geburt festgelegt waren, werden diese in der modernen Gesellschaft nach der Konkurrenzlogik immer wieder neu vergeben. Dabei lässt sich zeigen, dass sich der Konkurrenzkampf im Verlauf der Moderne noch einmal in sich selbst dynamisiert, indem in der Spätmoderne nicht mehr um ›Lebenszeitpositionen‹, sondern um ›dynamische Performanzen‹ konkurriert wird: Die Allokationsordnung verändert ihre Gestalt nicht mehr im generationalen Wandel, sondern in einem intra-generationalen Tempo (Rosa 2006, 2009).5 5 | Dies gilt unbeschadet der Tatsache, dass sich dabei durchaus signifikante soziale Schließungstendenzen beobachten lassen, welche es nahe legen, von einer Rückkehr von Klassenstrukturen zu sprechen: Sogenannte ›prekäre‹ Unter-

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Wie aber verhält sich nun die Sphäre der Religion zu der hier herausgearbeiteten Dynamisierungslogik der Moderne? Gewiss liegt es nahe, auch in diesem Bereich nach Anzeichen, Tendenzen und Evidenzen für eine entsprechende Transformation zu suchen, ja gerade in religiösen Entwicklungen der Neuzeit Dynamisierungsmotoren zu vermuten, wie sie etwa von Charles Taylor (2007: 299-419) im »Nova Effect« des religiösen Pluralismus und lange vorher von Max Weber (1991) im angstgetriebenen Ethos der protestantischen Ethik identifiziert werden. Und natürlich lassen sich die Etablierung eines linearen (anstelle eines zyklischen) Zeitkonzepts und die Herausbildung eschatologischer und chiliastischer Erwartungen und Bewegungen zu den Voraussetzungen des modernen Dynamisierungsprozesses zählen. Dennoch scheint mir hier Skepsis angebracht: Anders als die Wissens-, Rechts- oder Wirtschaftsordnung der Moderne sind meines Erachtens die substanziellen ebenso wie die allokativen Momente, aber auch die Zeitordnungen religiösen Glaubens gerade nicht dynamisiert, ja vielleicht nicht dynamisierbar. Die Idee einer ›Heiligen Schrift‹, die Konzeption eines Heilsgeschehens und einer Heils- oder Sakralzeit, ja der Verlauf eines Kirchenjahres: Sie alle erweisen sich als weitgehend resistent gegenüber den Imperativen der Innovation, der Beschleunigung oder der Steigerung. Daher scheinen mir die überlieferten Religionen, jedenfalls in ihrer jüdisch-christlichen oder auch islamischen Gestalt, zumindest auch – wenn nicht sogar primär – als (möglicherweise unverzichtbare) Gegenpole zur Steigerungs- und Dynamisierungslogik der Moderne zu fungieren. Es ist kein Zufall, dass es zwar durchaus religiöse Ordnungen in der Moderne gibt, aber keine religiöse Ordnung der Moderne, und ebenso wenig ist es zufällig, dass insbesondere die katholische Kirche als Institution gelten kann, die sich gerade nicht dynamisch stabilisiert, sondern sowohl theologisch als auch liturgisch-rituell und sozial an Tradition und Überlieferung orientiert und daher überwiegend (wenngleich natürlich niemals ausschließlich) im Modus ›statischer Reproduktion‹ verharrt. Dies bedeutet freilich per definitionem nicht, dass Innovationen und Veränderungen schichten, die über geringes soziales, ökonomisches und kulturelles Kapital verfügen, haben immer weniger Chancen, sozial aufzusteigen, während umgekehrt die privilegierten Schichten de facto nur selten abstiegsbedroht sind. Diese Schließung ist jedoch nur das materiale Ergebnis eines ungleichen Konkurrenzkampfes, dessen Austrag dennoch den Dynamisierungsimperativen folgt (Bude 2010, Castel/Dörre 2009).

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hier unmöglich wären – es besagt nur, dass diese nicht per se reproduktions- und stabilisierungsnotwendig sind, dass Innovation, Beschleunigung und Wachstum also kein inhärentes Strukturerfordernis bilden. Sofern sich eine ›Rückkehr der Religion‹ bzw. eine verstärkte Nachfrage nach religiösen Sinnstiftungen und ein Bedeutungszuwachs religiöser Institutionen und Praktiken, wie sie in den jüngsten Diskussionen um ein ›postsäkulares Zeitalter‹ und eine entsprechende Neubewertung des Verhältnisses von Religion und Modernisierung für die gegenwärtige Phase der Spätmoderne postuliert werden (Warner u.a. 2010), tatsächlich empirisch beobachten lassen (skeptisch dazu: Pollack/Olson 2008), scheinen sie mir daher vor allem eine Krise des Reproduktions- und Stabilisierungsmodus der Moderne anzuzeigen. Eine solche Krise lässt sich etwa dort beobachten, wo ökonomisches Wachstum soziale Probleme nicht mehr zu lösen vermag, wo die Steigerungslogik ihre eigenen Grundlagen in Form der ökologischen Ressourcen untergräbt oder – und insbesondere dort – wo Subjekte auf die Dynamisierungsimperative der modernen Gesellschaften mit Anzeichen der Erschöpfung, der Depression oder des Burnouts reagieren (Ehrenberg 2008, Rosa 2005a: 352-390). Das Verlangen nach einer den permanenten Wandel überdauernden, identitätsverbürgenden Stabilität und Selbstvergewisserung lässt sich in der Sozialordnung der Spätmoderne konsequenterweise nur noch über die Orientierung an einer transzendenten oder metaphysischen Idee stillen. Es sind aber insbesondere solche Krisenerscheinungen, welche der Frage nach dem Verhältnis zwischen dem im zweiten Abschnitt skizzierten Projekt der Moderne und der hier rekonstruierten Dynamisierungslogik ihre Brisanz und Aktualität verleihen. Ihm möchte ich mich daher nun abschließend zuwenden.

4. E NTFESSELTE D YNAMISIERUNG UND R ASENDER S TILLSTAND – DAS UNGLEICHE V ERHÄLTNIS VON P ROJEK T UND P ROZESS IN DEN » MULTIPLE MODERNITIES « Die Frage des Ethnozentrismus stellt einen heiß umkämpften Gegenstand in der Debatte um die Moderne dar. Lässt sich ›Moderne‹ so bestimmen, dass sie einerseits nicht einfach als tendenziell teleologisch aufgeladene Definition der westlichen Gesellschaften erscheint, an deren Maßstab dann der Grad der Modernisierung oder Modernität anderer Gesellschaf-

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ten ›gemessen‹ wird, andererseits aber auch nicht zu einem substanzlosen Containerbegriff wird, der alle gegenwärtigen Gesellschaftsformationen gleichermaßen umfasst? Eine zentrale Annahme meiner Überlegungen ist es nun, dass das Projekt der Moderne ohne Zweifel in wesentlichen Aspekten eurozentrische Züge trägt und nicht in allen Phasen der europäisch-nordamerikanischen Moderne die gleiche Ausprägung und Wirksamkeit entfaltete, während es sich im außereuropäischen Raum in vielfacher Weise mit anderen kulturellen Traditionen amalgamierte, auf Widerstand und Ablehnung stieß, sich ganz oder teilweise transformierte etc. Fraglos richtig ist darüber hinaus auch, dass das ›europäische‹ Projekt der Moderne sich durch Rückund Wechselwirkungen mit anderen Traditionen selbst immer wieder verwandelte (Therborn 2003). Die Verwandlung des Projekts im Sinne einer Veränderung der jeweiligen Bedeutung und Gewichtung seiner widerstreitenden und spannungsreichen Kernelemente – wie Autonomie bzw. Selbstbestimmung, Vernunft, Sicherheit, Partizipation, Bildung, Authentizität etc. – kennzeichnet darüber hinaus die verschiedenen Entwicklungsphasen von der frühen über die ›organisierte‹ oder formierte Moderne bis zur Spätmoderne (Wagner 1995). Im Gegensatz dazu scheint die durch die Umstellung auf einen Modus dynamischer Stabilisierung in Gang gesetzte Steigerungslogik der Moderne – ihre strukturelle Abhängigkeit von Wachstum, Beschleunigung und Innovationsverdichtung – diese Formation über alle Phasen hinweg und darüber hinaus auch in allen Weltgegenden gleichermaßen zu charakterisieren. Ungeachtet aller kulturellen und institutionellen Differenzen etwa zwischen Modernisierungsprozessen in Brasilien und Japan, zwischen solchen in China, Südafrika oder Iran oder zwischen Modernisierungsprojekten im Realsozialismus und im kapitalistischen Westen erscheint das Prinzip dynamischer Stabilisierung gleichsam als eine im Horizont der Moderne universalistische Konstante, die sich auch noch im nationalsozialistischen Deutschland beobachten lässt, das sich normativ vom Projekt der Moderne weit entfernt hatte. Zugleich verläuft der Dynamisierungsprozess über alle Phasen der Moderne seit dem 18. Jahrhundert hinweg, ohne seine Kraft oder Richtung wesentlich zu ändern; ja, es sprechen gute Gründe für die Annahme, dass Wachstums- und Beschleunigungszwänge wesentlich verantwortlich sind für die Übergänge etwa von der liberalkapitalistischen Frühmoderne zur ›organisierten‹, sozialdemokratisch-fordistischen und schließlich zur neoliberal-postfordistischen Phase der Moderne (Rosa 2005a, S. 257-278 und

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428-458). Ist diese Überlegung richtig, dann hat der Prozess der Modernisierung einen wesentlichen Einfluss auf die jeweilige Form und Gestalt des Projekts der Moderne. Dieser Einfluss wird etwa im Übergang von einem sozialdemokratischen zu einem neoliberalen Konzept von ›Autonomie‹ und Eigenverantwortung sichtbar (Lessenich 2008). Nichtsdestotrotz bildet der Anspruch auf Autonomie und eine damit verknüpfte Konzeption diskursiver Vernunft ein ungebrochenes und weiterhin kulturwirksames normatives Element des Projekts. So fungieren Selbstbestimmung, Freiheit und Vernunft – allen Katastrophen und Herausforderungen des ›Projekts‹ durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts zum Trotz – weiterhin als nahezu invariante Referenzpunkte oder Geltungsansprüche für die Legitimierung von Institutionen, Forderungen und/oder Vereinbarungen im internationalen und globalen Kontext. Die Rhetorik der (menschenrechtsbasierten) Freiheit und der Selbstbestimmung scheint einstweilen schlechterdings unverzichtbar für den globalen Diskurs des 21. Jahrhunderts etwa im Rahmen der UNO. Die von mir vertretene Moderne-Konzeption erhebt damit die folgenden fünf Geltungsansprüche: 1. Projekt und Prozess der Moderne in dem hier bestimmten Sinne lassen sich logisch und analytisch trennen. Es lassen sich soziokulturelle Formationen denken, die zwar den Autonomieanspruch vertreten und institutionell implementieren, dabei aber dennoch nicht der strukturellen Steigerungsdynamik der Moderne unterliegen. Umgekehrt lassen sich aber auch Gesellschaften denken (oder sogar beobachten), die sich nur dynamisch zu stabilisieren vermögen, dabei jedoch normativ und kulturell keineswegs das Projekt der Moderne verfolgen. 2. Während das Projekt der Moderne sich zwar nicht in seinen einzelnen Komponenten – natürlich gibt es auch zu anderen Zeiten und in anderen Weltregionen Konzeptionen, die Freiheits-, Vernunft-, Autonomieoder Bildungsansprüche erheben –, wohl aber als spannungsreiche und zugleich kulturwirksame Konfiguration von Werten und Motiven als (zunächst) europäisches oder euroatlantisches Projekt erweist, lässt sich die Umstellung auf den Modus dynamischer Stabilisierung nahezu kulturunabhängig überall dort beobachten, wo Modernisierungsprozesse raumgreifen. 3. Gleichwohl dienen die normativen Grundpfeiler des Projekts – paradigmatisch am Beispiel der Menschenrechte – im globalen Rahmen als Basis für die Legitimierung von (politischen) Geltungsansprüchen.

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4. Die Frage nach dem Kausalverhältnis zwischen Projekt und Prozess muss als empirisch offene Forschungsfrage gelten. Während für Europa einiges dafür spricht, dass die Transformation der Sozialordnung durch die Impulse der Aufklärung wenn nicht verursacht, so auf jeden Fall massiv befördert wurde, lässt sich möglicherweise mit ebenso guten Gründen sagen, dass in einigen Regionen des heutigen Südostasiens, etwa in China, die Dynamisierungsimperative vor der oder ohne die Übernahme des Projekts der Moderne raumgreifen. Ob dort in Zukunft verstärkte Individualisierungs- und Demokratisierungsansprüche als Folge der umfassenden Dynamisierung der Gesellschaftsordnung erhoben werden, bleibt abzuwarten. In jedem Falle belegen die Beispiele Chinas, Singapurs oder auch des heutigen Russlands, dass kapitalistische und technologische Dynamisierungen auch ohne politische Demokratie zu erreichen sind. Insgesamt aber ist insbesondere im Rückblick auf die Geschichte der europäischen Moderne die Annahme plausibel, dass zwischen Projekt und Prozess eine ursprüngliche »Wahlverwandtschaft« im Sinne Max Webers besteht: Wie ich gleich zeigen möchte, begünstigen sich die beiden Seiten der Moderne zumindest in ihrer Anfangsphase wechselseitig. Zwischen Aufklärung und Dynamisierung, zwischen Autonomie (als Geltungsanspruch) und Individualisierung, zwischen der Idee der Vernunft und dem Prozess der Rationalisierung und zwischen dem Anspruch auf Partizipation und dem Prozess der Demokratisierung bestehen offensichtliche Wechselwirkungen. 5. Das Verhältnis von Prozess und Projekt darf gleichwohl nicht als statisch verstanden werden, denn es erweist sich als historisch (und regionalspezifisch) variabel und verändert sich just im Zuge der progressiven Entfaltung der prozessualen Steigerungslogik, bis im Stadium der Spätmoderne Prozess und Projekt geradezu inkompatibel werden. Ich möchte die Logik dieser Entwicklung für die europäische Moderne nun in drei Schritten nachzeichnen.

Drei Phasen der Moderne In der frühen Moderne des 18. Jahrhunderts entwickeln sich Prozess und Projekt der Moderne nicht nur parallel, sondern sie befruchten, befördern und legitimieren sich wechselseitig: Ökonomisches Wachstum, wissenschaftlich-technische Innovationen und die Dynamisierung der sozialen und politischen Verhältnisse eröffnen und vergrößern systematisch die

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Spielräume individueller und politischer Gestaltung. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass für erhebliche Teile der Bevölkerung insbesondere die ökonomische Transformation durchaus nicht als Freiheitszugewinn, sondern weit eher als Verlust an Ressourcen und an Sicherheit, ja bisweilen sogar als Zerstörung der Lebensgrundlagen erfahren wurde. Denn das zunächst von den bürgerlichen Schichten verfolgte Fortschrittskonzept eröffnete von Beginn an auch für die entstehende Arbeiterbewegung einen Horizont der Verheißung: Die Mittel zur Vergrößerung von Autonomiespielräumen lagen in den Strategien der Arbeitszeitverkürzung, der Bildung, der Lohnerhöhung, der sozialen Sicherung etc., welche die Arbeiterbewegung seit ihrer Frühphase verfolgte. Die (institutionelle) Umsetzung des Autonomieanspruchs erfordert geradezu die Transformation der überkommenen Ordnung und die Umstellung auf einen Modus dynamischer Stabilisierung, und eben deshalb zielt die politische Gestaltung – im Sinne ›progressiver Politik‹ – auf die Entfaltung und Entfesselung der Innovations-, Wachstums- und Beschleunigungspotenziale und auf die Dynamisierung der Sozialordnung (Koselleck 1989). Umgekehrt ist diese Umstellung nur möglich auf der Basis neuer Formen der Legitimierung und der (individuellen und kollektiven) Selbststeuerung. Autonomieanspruch und Steigerungslogik stützen und befördern sich gegenseitig; Projekt und Prozess der Moderne weisen in die gleiche Richtung. Diese Richtung wird in der Idee des historischen ›Fortschritts‹ angezeigt, die die beiden Seiten der Moderne nahezu zur Ununterscheidbarkeit amalgamiert: Sie bringt das (unabschließbare und strukturnotwendige) Voranschreiten der Moderne und die Verbesserung der Verhältnisse im Sinne des Projekts auf einen gemeinsamen Begriff. In der entwickelten oder organisierten Moderne des 19. und vor allem des 20. Jahrhunderts lösen sich dann die Geltungsansprüche des Projekts und die Steigerungsimperative des Prozesses voneinander. Nicht immer vergrößern Wachstum, Beschleunigung und Innovationsverdichtung die Spielräume und Möglichkeiten der Selbstbestimmung; gelegentlich erzwingen sie als gleichsam heteronome Zwangsmechanismen gerade die Preisgabe von Vernunft- und Autonomieansprüchen. Eben deshalb werden immer häufiger umgekehrt soziale Räume oder Gruppen im Namen des Rechts auf Selbstbestimmung vor den ›zerstörerischen‹ Wirkungen der ›entfesselten‹ Moderne geschützt, etwa dort, wo indigene Gruppen Sonderrechte zur Verteidigung gegen die Kolonialisierung durch die Dynamisierungskräfte erhalten oder wo die Interessen gewachsener loka-

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ler Gemeinschaften vor dem transformierenden Zugriff des Marktes geschützt werden. Projekt und Prozess befördern sich in dieser Phase zum Teil weiterhin wechselseitig, zum Teil separieren sie sich voneinander, und zum Teil wenden sie sich gegeneinander. Dass die Steigerungsimperative der Moderne gleichsam ›flächendeckend‹ zur Bedrohung für das Projekt der Moderne werden, kennzeichnet dann den Übergang in die Phase der Spätmoderne. Sie ist dadurch charakterisiert, dass Wachstum, Beschleunigung und die Steigerung der Innovationsraten nicht mehr oder kaum mehr als Verheißungen, sondern vielmehr als Zwänge erscheinen. Als einfacher Test für den Umschlagpunkt kann dabei die politische Rhetorik bzw. die Rechtfertigung entsprechender Reformanstrengungen herangezogen werden: Während noch Willy Brandts Anspruch, mehr Demokratie zu wagen, um so eine neue und bessere Form des Gemeinwesens zu realisieren, als Vision einer Konvergenz von Prozess und Projekt und damit als Verheißung von ›Fortschritt‹ in dem skizzierten Doppelsinn gedeutet werden kann, wurde die Agenda 2010 von Kanzler Schröder nahezu ausschließlich als notwendige Strukturanpassung legitimiert. Ihrer Logik folgen nahezu alle politischen Reformanstrengungen vom Umbau des Sozialstaates bis hin zur Euro-Rettung und zu den Reaktionen auf die Finanzmarktkrise seit 2008: Sie gelten als notwendig, um die Imperative der dynamischen Stabilisierung zu erfüllen und einen (endgültigen oder zumindest lang anhaltenden) Verlust von Selbstbestimmungsmöglichkeiten zu verhindern. Wenn Politiker aller Couleur unentwegt darauf hinweisen, dass noch mehr politische, ökonomische, soziale, kulturelle und pädagogische Anstrengungen unternommen werden müssten, um den Wachstumsmotor in Gang zu bringen, um die Innovationsfähigkeit zu erhalten oder zu steigern, um den Anschluss in der globalen Konkurrenz nicht zu verlieren, dann bringen sie damit zugleich zum Ausdruck, dass sie den Fortschrittshorizont des Projekts aus dem Auge verloren haben und stattdessen den Abgrund eines Zusammenbruchs der dynamischen Stabilisierung fürchten. Die Oppositionsstellung von Projekt und Prozess kommt dabei auch in dem Umstand zum Ausdruck, dass ›progressive‹ Politik im Sinne des ›projektbasierten‹ Gestaltungsanspruchs der Moderne heute entgegen der ursprünglichen Wortbedeutung keine den Dynamisierungsprozess vorantreibende Politik mehr indiziert, sondern eher umgekehrt für eine Limitierung der Wachstumszwänge, für eine Beschränkung

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ökonomischer Transaktionsgeschwindigkeiten, für eine politische Kontrolle oder Steuerung technologischer Innovationsprozesse etc. eintritt (Rosa 2005a: 415-420). Weil immer mehr individuelle und kollektive Energien in die Aufrechterhaltung der Wettbewerbsfähigkeit und damit in die Aufrechterhaltung der dynamischen Stabilisierung investiert werden müssen, zehrt der weitere Fortgang des Steigerungsprozesses inzwischen die individuellen wie die kollektiven Autonomie- und Gestaltungsspielräume der Moderne wieder auf. Aus der Verheißung immer weiterer (potenziell) autonomiesteigernder Dynamisierung im 18. Jahrhundert ist inzwischen der Zwang zu gleichsam ›leerem‹ Wachstum und unabschließbarer Beschleunigung geworden: Die Fortschrittsvision ist der dystopischen Vision einer ›leeren Progression‹ gewichen: Die Wissenschaft wird immer neue Forschungsprogramme verfolgen, ohne ein festes Wissensfundament zu schaffen, die Wirtschaft wird immer weiter wachsen, ohne die Knappheit zu überwinden (sie wird im Gegenteil aufgrund der Endlichkeit von Ressourcen und der Verschärfung des globalen Wettbewerbs neue und größere Knappheiten erzeugen), die Politik wird den Rechts- und Sozialstaat immer weiter reformieren, ohne die Qualität des demokratischen Gemeinwesens zu verbessern, technische und bald auch biotechnische und pharmazeutische Entwicklungen werden unsere Beschleunigungsfähigkeit immer weiter steigern, ohne die notorische Zeitknappheit zu überwinden (ganz im Gegenteil) usw. Kurz: Der Modus dynamischer Stabilisierung scheint, wo er nicht selbst an krisenhafte Grenzen stößt, die Hoffnung auf die Verwirklichung des Projekts der Moderne immer stärker zu untergraben. Als deutliches Symptom dafür kann etwa der Umstand gelten, dass Eltern in allen westlichen Gesellschaften heute nicht mehr davon ausgehen und nicht mehr getrieben werden von der Hoffnung, dass es ihre Kinder einmal besser haben werden als sie selbst – stattdessen sind sie getrieben von der Furcht, dass es ihnen entschieden schlechter gehen wird, wenn nicht alle erdenklichen Anstrengungen unternommen werden, ihre Wettbewerbsfähigkeit zu optimieren. Dass die Moderne nicht mehr ›bewegt‹ wird durch ein vor ihr liegendes, projektbasiertes kulturelles Telos, durch einen Fortschrittshorizont, sondern durch den sich gleichsam von hinten nähernden Abgrund eines Zusammenbruchs der dynamischen Stabilisierung kommt etwa auch darin zum Ausdruck, dass individuelle wie kollektive Akteure nach den Befunden der qualitativen empirischen Zeitforschung immer häufiger das Gefühl haben, sie müssten immer schneller laufen, um ihren

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Platz zu halten, um nicht in einen (tendenziell grundlosen) Abgrund zu rutschen.6 Der dynamische Fortschritt der Spätmoderne, so lassen sich diese Beobachtungen zusammenfassen, hat seine synthetisierende Kraft verloren: Er erscheint (jedenfalls in der westlichen Welt)7 als leere Progression im Sinne der dreifachen Steigerungslogik, ohne noch das Versprechen auf qualitativen Fortschritt im Horizont des Projekts der Moderne zu bergen. Aus der Perspektive des letzteren erscheint der so erreichte Zustand mithin als »rasender Stillstand« (Rosa 2005a: 460-490); ja, sofern die Aufrechterhaltung der dynamischen Stabilisierung immer schwieriger, energieaufwändiger und riskanter wird, sogar als progressiver Rückschritt. In dem Maße, wie die Dynamisierungsimperative dem Projekt der Moderne den Plausibilitätsgrund und die Ressourcen wieder entziehen, entziehen sie sich jedoch möglicherweise zugleich ihre eigenen kulturellen Legitimationsgrundlagen. Wo Wachstum und Beschleunigung nicht mehr als Verheißung, sondern als Zwang und Drohung erscheinen, könnte die immer weitere Mobilisierung kultureller und sozialkinetischer Energien auf lange Sicht zu einem Problem werden. Auf den Ausgang dieses Konflikts zwischen Projekt und Prozess der Moderne darf man aus der Sicht des kultur- und sozialwissenschaftlichen Beobachters höchst gespannt sein, verheißt er doch Aufschluss über das relative Gewicht struktureller Entwicklungstendenzen oder Eigenlogiken einerseits und normativer bzw. kultureller Geltungsansprüche anderer6 | »We run as fast as we can in order to stay in the same place« beschreibt Peter Conrad (1999: 6) – stellvertretend für Legionen von Kulturbeobachtern – auf der ersten Seite seiner Kulturgeschichte der Moderne die Alltags- und Lebenserfahrung der Subjekte am Ende des 20. Jahrhunderts, und die Zeitbudget-Forscher Robinson und Godbey (1999: 33) bestätigen diese Erfahrung auf der Grundlage ihrer empirischen Befunde mit nahezu den gleichen Worten: »We dance faster and faster just to stay in place«. 7 | In den Schwellenländern Südostasiens, Südafrikas oder Lateinamerikas mag dies durchaus noch anders erscheinen; dort trägt der Verheißungshorizont der Moderne noch, weil die in Gang gekommenen dynamischen Steigerungsprozesse erstmals große Bevölkerungsgruppen in die Lage versetzen, sich durch den Einbezug in die Optionsräume des Massenkonsums autonome Gestaltungsmöglichkeiten zu eröffnen. Diese Regionen befinden sich damit noch nicht in der Spätmoderne in dem hier definierten Sinne.

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seits. Denkbar ist sowohl, dass sich der Prozess dynamischer Stabilisierung weiter fort- und durchsetzt und das Projekt der Moderne durch andere kulturelle Konzeptionen (wie sie etwa in ›postmodernen‹ Entwürfen bereits formuliert werden) ersetzt wird, als auch der umgekehrte Fall, dass der Autonomie- und Vernunftanspruch der Moderne durch neue Formen politischer Ermächtigung noch einmal gegen die ›leere Progression‹ schrankenloser Steigerungszwänge in Anschlag gebracht werden wird. Wie das indessen geschehen könnte ist – den Überraschungen des Arab Spring und der Stuttgart-21-Erhebung und Bewegungen wie der französischen Decroissance-Initiative zum Trotz – einstweilen nicht zu sehen.

L ITER ATUR Berger, Johannes (Hg.). 1986. Die Moderne – Kontinuität und Zäsuren (Soziale Welt, Sonderband 4). Göttingen. Brandt, Reinhard. 2007. Die Bestimmung des Menschen bei Kant. Hamburg. Bude, Heinz. 2010. Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft. München. Castel, Robert und Klaus Dörre. 2009. Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung. Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts. Frankfurt a.M.; New York. Conrad, Peter. 1999. Modern Times, Modern Places. How Life and Art Were Transformed in a Century of Revolution, Innovation, and Radical Change. New York. Costa, Sérgio, J. Mauricio Domingues, Wolfgang Knöbl und Josué P. da Silva (Hg.). 2006. The Plurality of Modernity: Decentering Sociology. München. Deutschmann, Christoph. 1999. Die Verheißung des absoluten Reichtums. Zur religiösen Natur des Kapitalismus. Frankfurt a.M.; New York. Dörre, Klaus, Stephan Lessenich und Hartmut Rosa. 2009. Soziologie – Kapitalismus – Kritik. Eine Debatte. Frankfurt a.M. Ehrenberg, Alain. 2008. Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Frankfurt a.M. Fulda, Daniel und Hartmut Rosa. 2011. Die Aufklärung – ein vollendetes Projekt? Für einen dynamischen Begriff der Moderne. Zeitschrift für Ideengeschichte 5 (4): 111-118. Groys, Boris. 1992. Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie. München.

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1. E INLEITUNG Die Moderne ist immer mit Fortschritt assoziiert worden. Im Alltagsleben drückt die Überzeugung – und die Selbstverpflichtung darauf –, dass unsere Kinder ein besseres Leben haben sollen als wir selbst, eine Vorstellung von Fortschritt in der Zeit aus. Wie Begriffshistoriker gezeigt haben, entsteht unsere Idee des Fortschritts im späten 18. Jahrhundert und leistet der Vorstellung einer kommenden – strahlenden – Zukunft Vorschub, die sich von der – häufig beklagenswerten – Gegenwart loslöst. Der Horizont der Erwartungen bewegt sich somit weit über den Raum der Erfahrung hinaus, wie Reinhart Koselleck (1979) es bekanntermaßen formuliert hat. Der Begriff des Fortschritts ist eng mit jenem der Revolution verbunden, welcher seit der gleichen Zeit die Bedeutung eines abrupten und radikalen Vorwärtsschrittes in der Zeit angenommen hat. Die Französische Revolution war die erste Revolution dieser Art, und viele weitere sozio-politische Ereignisse, die wir unter diesem Begriff kennen, sollten im Laufe des 19. und eines großen Teils des 20. Jahrhunderts folgen. Neuerdings wird dieser Begriff jedoch seltener verwendet, und wenn er verwendet wird, scheint sich seine Bedeutung verändert zu haben. Die iranische Revolution von 1979 wird häufiger als Sturz des Schah-Regimes bezeichnet. Und den Zusammenbruch des Sozialismus sowjetischen Stils im Jahr 1989 hat Jürgen Habermas (1990) als eine »nachholende« Revolution bezeichnet, wodurch auf missliche Weise nahegelegt wird, dass die sozialistischen Gesellschaften danach strebten, den Sprung in die moderne Gegenwart und nicht in irgendeine andere Zukunft zu schaffen. Eine solche Verwendung verschiebt den Begriff in die Nähe seines Bedeutungsgehalts aus der Zeit vor 1789,

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nämlich einer aktiven sozio-politischen Transformation, die eine gute Ordnung wiederherstellt – statt etwas Neues zu schaffen, geht es um die Orientierung an einem normativ überlegenen Zustand in der Vergangenheit. Wir scheinen auf ähnliche Weise den Glauben an den Fortschritt zu verlieren. Realistische Eltern – zumindest, aber bei Weitem nicht nur, im Westen –1 wissen, dass es unwahrscheinlich ist, dass ihre Kinder ein besseres und leichteres Leben haben werden. Anstelle einer Offenheit des Zeithorizonts herrscht eher Unsicherheit über die Zukunft an einem Ort und in einer Zeit vor, in denen die Jugendarbeitslosigkeit extrem hoch ist und Lebensverläufe äußerst anfällig für zukünftige Kontingenzen sind, in denen Technikversagen beispiellose Katastrophen hervorruft und ›normale‹ Technikanwendung das Risiko birgt, den Planeten in einer allzu absehbaren Zukunft unbewohnbar zu machen (zum vom Menschen geschaffenen Klimawandel siehe Chakrabarty 2009). Unsere gegenwärtige Moderne mag radikal anders sein als die Moderne der 1960er Jahre, auch mit Blick auf ihre Zukunftserwartungen, mit Blick auf ihre Tendenz, eine normativ überlegene Zukunft, d.h. Fortschritt zu produzieren – oder eben nicht. Dieser Beitrag wird die Beziehung zwischen der Analyse der Moderne – ihrer historischen Verläufe sowie ihres gegenwärtigen Zustands – und der Auffassung von Fortschritt, die wir in unserer Zeit haben können, untersuchen. Bedeutende Stränge der sozio-politischen Theorie sind davon ausgegangen, dass menschliche Gesellschaften einem evolutionären Weg in Richtung höherer Organisationsformen folgen. Insbesondere ist man der Ansicht gewesen, dass der Durchbruch zur ›modernen Gesellschaft‹ im Zuge der großen sozialen Transformationen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts das Erreichen eines überlegenen Stadiums der Geschichte markiert habe. Die Argumente für diese Perspektive waren unterschiedlich. Die politische Theorie hat das Bekenntnis zu individueller Autonomie 1 | Wir werden später expliziter vergleichende Beobachtungen verfolgen. An dieser Stelle sei nur angemerkt, dass ein Hauptunterschied zwischen Erwartungen an die Zukunft mit der Frage zusammenhängen mag, ob eine Gesellschaft sich selbst plausibler Weise als Gestalterin ihrer eigenen Moderne verstehen kann, oder ob sie sich gezwungen sieht, auf eine Moderne zu reagieren, die sich außerhalb von ihr selbst entfaltet und dennoch einen starken Einfluss ausübt. Osteuropäische Intellektuelle haben beispielsweise dazu tendiert, der Moderne kritischer gegenüber zu stehen als westeuropäische (Arnason 2010); und dieselbe Erfahrung entsteht umso mehr in kolonialen Situationen (Ribeiro 1969; Mbembe 2001).

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und kollektiver Selbstbestimmung hervorgehoben. Die Sozialtheorie hat ihrerseits die funktionale Differenzierung der Gesellschaft ausgemacht, die sowohl eine bessere Befriedigung gegenwärtiger Bedürfnisse als auch eine stärkere Anpassungsfähigkeit an zukünftige Bedürfnisse ermöglicht habe. Die kritische Theorie hat zwar Probleme in der weiterhin bestehenden Klassenstruktur der modernen Gesellschaft identifiziert, war jedoch überzeugt, dass es bloß einer weiteren revolutionären Transformation bedürfe, um dieses letzte Defizit zu überwinden. In ihren starken Versionen haben diese Interpretationen, die in der jüngsten menschlichen Geschichte einen Marsch des Fortschritts sahen, an Glaubwürdigkeit verloren. Zwar neigte nicht jeder Jean-François Lyotards Behauptung zu, dass das Ende aller Erzählungen der Emanzipation erreicht sei, weil diese durch historische Ereignisse widerlegt worden seien. Doch die evolutionistischen Theorien wurden nun als in zu starkem Maße abhängig von den Annahmen einer Geschichtsphilosophie gesehen, die in keinerlei Hinsicht durch historisch-soziologische Forschung ›getestet‹ (in einem sehr weiten Sinne verstanden) werden könnten (siehe bereits Habermas 1981; und für eine Diskussion Wagner 2001, Kapitel 5). Andererseits haben die normativen Theorien auch Prinzipien etabliert, deren Gültigkeit man nicht in Frage stellen möchte – die Prinzipien der Freiheit und Gleichheit sind hierfür die besten Beispiele. Die Fragen, inwieweit diese Prinzipien in den bestehenden Gesellschaften realisiert wurden und, falls dies der Fall ist, ob die Form ihrer Realisierung die leitenden Ideen dieser Prinzipien unberührt lässt, sind jedoch umstritten. Schwächere Versionen der Fortschrittserzählungen bestehen gleichwohl fort. In der soziologischen Theorie wurden simplifizierende Theorien der Modernisierung, die in den 1950er und 1960er Jahren vorherrschten, zwar weitgehend verworfen; doch sie haben Neo-Modernisierungstheorien den Weg bereitet, die weniger kohärent, aber auch nuancierter sind und deren Grundsätze – wenn auch manchmal nur implizit – von vielen Autoren geteilt werden. In der normativen politischen Theorie würde kaum jemand bestreiten, dass Jürgen Habermas eine zutreffende Beobachtung macht, wenn er sagt, dass die Institutionalisierung von individuellen Rechten und Rechtsstaatlichkeit einen Fortschritt in der menschlichen Geschichte kennzeichnet. Und selbst jene kritischen Theoretiker, die hier Einwände erheben, würden diese Beobachtung nicht gänzlich verwerfen, sondern lediglich auf neue normative Probleme hinweisen, die im Nachhinein und als Folge einer solchen Institutionalisierung aufgetreten sind. Die Debatte

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über das Ende der Moderne und das Aufkommen der Postmoderne in den 1980er und 1990er Jahren mag zu keinem klaren Ergebnis geführt haben. Doch mittlerweile ist zu beobachten, dass sich das Zentrum der Diskussion verschoben hat, hin zur Untersuchung von verschiedenen Formen der Moderne und weniger von ihrem Ende. Unbeabsichtigter Weise (und manchmal wünscht man sich mehr Deutlichkeit) zeigt dies, dass die normativen Anliegen der Moderne und in ähnlicher Weise die Frage, wo und wie deren Realisierung auszumachen ist, in der bestehenden Welt bedeutsam geblieben sind. Unter dieser neuen Perspektive ist die Vorstellung von pluralen Formen der Moderne in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Manchmal scheint es, als sei diese Vorstellung nun weithin akzeptiert. Unklar sind jedoch häufig ihre Implikationen für eine Sozialtheorie und politische Philosophie, die normative Belange lebendig hält und das Ziel hat, diese mittels sozio-politischer Analyse zu artikulieren.2 In jenen letztgenannten Forschungsbereichen wird häufig angenommen, dass eine Befürwortung des Konzeptes pluraler Modernen (unter diesem oder unter anderen Namen) notwendigerweise eine Absage an normative Belange bedeutet, welche letztlich universal und einzigartig, und nicht plural und partikular seien. Im Folgenden werde ich zunächst kurz einen zentralen Strang der fortlaufenden historisch-soziologischen Forschung diskutieren, die sogenannte »multiple modernities«-Debatte, wie sie in Shmuel N. Eisenstadts Werk begründet wurde. Ich werde feststellen, dass das Konzept multipler Modernen aus dem Blickwinkel normativer Theoretiker verständlicherweise für gewisse Bedenken bezüglich eines Relativismus gesorgt hat, und dass diese Bedenken – wie es für Debatten über Relativismus charakteristisch ist – noch nicht umfassend behandelt wurden. Anschließend werde ich das Terrain wechseln und die Pluralität der Moderne in Analysen von Transformationen der Moderne diskutieren, »sukzessiven Modernen«, 2 | Sie sind weitgehend, aber bei Weitem nicht einstimmig akzeptiert. Gegenwärtige Befürworter von revidierten Versionen der Modernisierungstheorie – nun zum Teil als Neo-Modernisierungstheorie bezeichnet – bestreiten weiterhin das Argument einer tiefgreifenden und fortdauernden Vielfalt von Moderne, allerdings ohne sich dabei im Detail auf die von ihnen kritisierte Forschung zu beziehen (für eine neue, partielle Ausnahme siehe Schmidt 2010). Ich habe Aspekte dieser Kontroverse in Wagner 2011a und b behandelt und werde an dieser Stelle nicht weiter ins Detail gehen.

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wie Johann Arnason sie genannt hat.3 Solche historisch-soziologischen Analysen verursachen normativ motivierte Sorgen um den Fortschritt auf eine Weise, die möglicherweise mittels einer Überwindung der Grenze zwischen historischer Soziologie auf der einen und Sozialtheorie sowie politischer Theorie auf der anderen Seite fruchtbarer behandelt werden können als die Idee multipler Modernen, da der Referenzpunkt ›dieselbe Moderne‹ ist, die sich im Laufe der Zeit durch die strukturierenden Handlungen ihrer eigenen Mitglieder transformiert. Die Frage nach den Dynamiken von ›Sukzession‹ unter den Bedingungen der Moderne führt zu einer Neu-Bewertung der Konzepte von Krise und Kritik sowie der Verbindung zwischen beiden; sie führt über die Diskussion der Bedeutung von ›Kritik‹ auch zu einer neuen Verbindung zwischen Geschichte und normativer Philosophie. Solch eine neuartige Verbindung muss anschließend detaillierter ausgearbeitet werden. Dies wird geschehen, indem ich Axel Honneths jüngsten Versuch, eine neuartige, empirisch reichhaltige und historisch verortete Theorie der Gerechtigkeit zu formulieren, als den theoretischen Gegenstand nutze, vor dessen Hintergrund und unter Rückgriff auf vorliegende Erkenntnisse der komparativ-historischen Soziologie eine Neubetrachtung der Fortschrittsidee erfolgen kann.4 Diese Überlegungen werden weitere Fragen hervorrufen, die im Fazit des Beitrags behandelt werden: Fragen mit Blick auf materiellen Fortschritt, politischen Fortschritt sowie die Rolle von Kritik in der gegenwärtigen Moderne. 3 | Der Begriff »successive modernities« wurde von Johann Arnason in seinem Plenarvortrag auf dem Kongress des Internationalen Instituts für Soziologie in Stockholm im Jahr 2005 geprägt und zusammen mit einer Reihe anderer Autoren auch für meinen eigenen Ansatz (Wagner 1995) verwendet. Der vorliegende Artikel stellt einen Versuch dar, auszubuchstabieren, was »Sukzession« in diesem Kontext bedeutet, und mir wird hoffentlich verziehen, dass ich die Gelegenheit teilweise dazu nutzen werde, eine Reflexion über meine eigene vorangegangene Arbeit vorzunehmen. 4 | Ich möchte mich bei Mikael Carleheden dafür bedanken, diesen Versuch angeregt zu haben. Mein Dank richtet sich auch an Jean de Munck und an die Teilnehmer des Seminars »Theorizing modernity – understanding the present« an der Université catholique de Louvain im März 2010, die mich dazu gebracht haben, meine Ideen auszuarbeiten. Die weitere Ausarbeitung dieser Überlegungen verdankt sich auch der Förderung des European Research Council durch den Advanced Grant 249438 für das Projekt »Trajectories of modernity«.

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2. M ULTIPLE M ODERNEN UND DAS G ESPENST DES R EL ATIVISMUS Die Debatte über multiple Modernen hatte den großen Wert, die Idee einer Pluralität möglicher Formen sozio-politischer Organisation in die Analyse ›moderner Gesellschaften‹ (wieder) eingeführt zu haben, welche zuvor jahrzehntelang von Vorstellungen weitgehend linearer Evolution und Konvergenz dominiert worden war, denenzufolge ursprünglich unterschiedliche Gesellschaften zur Einsicht in die Überlegenheit funktionaler Differenzierung gelangen und diese adaptieren. Der Ansatz, der für diese Öffnung eine zentrale Rolle gespielt hat und von Shmuel Eisenstadt begründet wurde (siehe etwa 2002, 2003), erklärt die fortdauernde Pluralität mit ›kulturellen Programmen‹, die sich in den verschiedenen historischen Zivilisationen herausgebildet haben – und zwar zum größten Teil unabhängig voneinander (wenn auch nicht ohne Kontakt miteinander) und zeitlich vor jenem intensiven Aufeinandertreffen mit der Moderne westlichen Typs, wie sie sich in den vergangenen drei oder vier Jahrhunderten in Europa und Nordamerika entwickelt hat. Eisenstadt zufolge resultiert die gegenwärtige Diversität nichtwestlicher Modernen aus der Beständigkeit des jeweiligen kulturellen Programms, welches Eingang in eine Artikulation mit der Moderne westlichen Typs findet und partikulare Modernen entstehen lässt, ohne zu verschwinden. Dieser Ansatz wurde breit rezipiert und anerkannt; dennoch gelang es ihm nicht, die innovative Wirkung zu entfalten, die man hätte erwarten können. Dieses – relative – Versagen ist unter anderem auf zwei Schwächen des Ansatzes multipler Modernen zurückzuführen: Erstens suggeriert das starke Konzept der ›kulturellen Programme‹ eine beträchtliche Stabilität jeglicher bestehenden Form von Moderne. In der Tat argumentieren nun viele Autoren innerhalb der Debatte in Bezug auf Zivilisationen, wobei ›klassische‹ Zivilisationen wie die chinesische, die japanische oder auch die indische die zentralen Objekte für die Identifikation multipler Modernen darstellen. Folglich wird die Anwendbarkeit des Ansatzes erheblich begrenzt, denn es erweist sich als schwierig, etwa Südafrika, Brasilien oder selbst die Vereinigten Staaten oder Australien als tief verwurzelte, weitgehend stabile kulturelle Programme zu begreifen, die sich im Zusammentreffen mit neuen Situationen bloß entfalten. Zweitens fußt der Ansatz lediglich auf zwei Hauptkonzepten: einerseits auf den charakteristischen (gemeinsamen und unvermeidbaren) Merkmalen der Moder-

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ne und andererseits auf den (vielfältigen) kulturellen Programmen. Diese Dichotomie schränkt die Möglichkeiten von Vergleichen ein, da aus dieser Perspektive alle Unterschiede zwischen Modernen unter Bezug auf die je spezifischen zugrundeliegenden Programme erklärt werden müssen.5 In normativer Hinsicht ist solch eine Konzeptualisierung von Diversität äußerst beunruhigend. Nehmen wir für den Moment an – wohl wissend, dass solche Annahmen oft kritisiert werden – dass die Moderne westlichen Typs einige normative Prinzipien beinhaltet, deren Übernahme Fortschritt bedeuten würde. Sofern dies der Fall ist, welche Artikulation von ursprünglichen kulturellen Programmen würde eine Übernahme dieser Prinzipien bedeuten und welche nicht? Wenn wir wiederum annehmen, dass die ursprünglichen kulturellen Programme normative Prinzipien potenziell universalisierbaren Charakters beinhalten, wie lässt sich dann erfassen, was mit ihnen im Zuge der Artikulation mit den eintreffenden Prinzipien der westlichen Moderne geschieht? Solche Fragen stehen im Hintergrund aktueller Debatten beispielsweise über ›asiatische Werte‹ oder den ›chinesischen Weg in die Moderne‹. Theoretiker multipler Modernen behaupten normalerweise nicht, dass alle Modernen gleich modern sind. Aber sie untersuchen auch nicht, entlang welcher normativer Linien Modernen sich unterscheiden, und lassen somit die Frage unangetastet, ob die Artikulation ursprünglicher kultureller Programme mit der Moderne westlichen Typs Fortschritt darstellt oder darstellen könnte. Dies ist der Grund, warum normative Theoretiker häufig das Gespenst des Relativismus hinter Begriffen wie Pluralität und Vielfalt lauern sehen, sobald diese auf die Moderne angewendet werden. Mit Blick auf die komparativ-historische Soziologie sind die Schlussfolgerungen, die aus diesen Defiziten der Debatte über multiple Modernen 5 | Ibrahim Kayas (2004) Konzept der »later modernities«, welches er im Rahmen einer Analyse der türkischen Gesellschaft seit der Kemalistischen Revolution entwickelt hat, verweist sinnvoller Weise auf Wahrnehmungen von Krise und einem als notwendig empfundenem Wandel, welche in Gesellschaften (oder unter ihren Eliten) entstehen können, wenn diese ihre eigene mit anderen Gesellschaften vergleichen und letztere – aus verschiedenen und oft partiellen Gründen – als überlegen oder entwickelter erachten. Solch ein Ansatz überwindet die konzeptionelle Dichotomie, indem er die interpretativen Ressourcen empirisch untersucht, die innerhalb einer bestehenden Gesellschaft mobilisiert werden und zum Teil von außerhalb der Gesellschaft wieder abgerufen werden.

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gezogen werden müssen, relativ eindeutig. Erstens: In den meisten Fällen ist das Selbstverständnis von Gesellschaften nicht jahrhundertelang stabil geblieben, sondern hat signifikante Transformationen durchlaufen, sogar oft und insbesondere in der jüngsten Vergangenheit. Das bedeutet, dass es kein zugrundeliegendes kulturelles Programm gibt, sondern vielmehr einen fortlaufenden Prozess einer – mehr oder weniger kollektiven – Interpretation der eigenen Situation im Lichte wichtiger Erfahrungen, die in vorangegangenen Situationen gemacht wurden. Zweitens: Anstatt ›Kultur‹ von den institutionellen Säulen der Moderne zu trennen, muss gezeigt werden, ob und auf welche Weise Neu-Interpretationen des Selbstverständnisses einer Gesellschaft Einfluss auf institutionellen Wandel haben, oder anders ausgedrückt, auf welche Weise kulturell-interpretative Transformationen mit sozio-politischen Transformationen in Verbindung stehen (Sewell 2005). Solche Schritte sollten auch dazu führen, die Sorgen normativer Theoretiker abzuschwächen. Da historische Diversität allerdings der Ausgangspunkt der Analyse bleibt, wird es immer schwierig sein, normative Verbindlichkeiten, die in einem Kontext entstanden und dort identifizierbar sind, zu den normativen Verbindlichkeiten eines anderen Kontextes in Relation zu setzen. Eine Möglichkeit dies zu tun, bestünde darin, gewisse universale Verbindlichkeiten als Maßstab zu nutzen, was jedoch nicht einfach umzusetzen ist. Sofern die philosophische Debatte daran gearbeitet hat, universale normative Ansprüche zu entdecken oder zu schaffen, war sie – abhängig davon, welche Interpretation man bevorzugt – entweder ergebnislos oder unzureichend konkret. In beiden Fällen bleibt die Beziehung zwischen einem empirisch identifizierbaren normativen Anspruch und der universalisierenden Formulierung eines scheinbar ähnlichen Anspruchs unscharf.6 Aus diesen Gründen werden wir die Standardversion der Debatte über multiple Modernen hier nicht weiter verfolgen und – mit Blick auf das Ziel dieses Artikels – schlicht akzeptieren, dass die Irritationen der normativen Theoretiker verständlich sind. Der Weg für eine Überwindung dieser Irritationen kann leichter vor dem Hintergrund historisch-

6 | Ich behaupte nicht, dass dies immer der Fall ist. Wenn die Verfassung eines Staates einer Bevölkerungsgruppe das Recht zur politischen Partizipation verwehrt, wie es während der Apartheid in Südafrika der Fall war, wird das Prinzip der Gleichheit verletzt. Die Einführung egalitären Wahlrechts kann deshalb ohne Zweifel in normativer Hinsicht als Fortschritt gewertet werden.

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soziologischer Vergleiche entworfen werden, die nicht von Getrenntheit und Diversität ausgehen.

3. S UK ZESSIVE M ODERNEN : K RISEN , K RITIK UND TR ANSFORMATIONEN DER M ODERNE Das Theorem der sukzessiven Modernen entstammt der Untersuchung einer besonderen Form der großen sozialen Transformationen, nämlich jener, in welcher sowohl der vorherige als auch der spätere Zustand der sich transformierenden sozialen Konfiguration mit Blick auf ihre Modernen hinreichend analysiert werden können. Hierbei handelt es sich um eine relativ neue Perspektive, da die funktionalistische Theorie moderner Gesellschaft zuvor nahegelegt hatte, dass es keine weitere große soziale Transformation mehr geben würde, nachdem sich ein funktional differenzierter institutioneller Rahmen erst einmal herausgebildet hat. Trotz des ursprünglich provokativen Charakters der gegenteiligen Behauptung, der durch ein Vokabular verstärkt wurde, welches auf eine Überwindung oder Verdrängung einiger Charakteristika der Moderne im Zuge der Transformation hingewiesen hat (siehe Wagner 2011a), ist das Theorem der sukzessiven Modernen mittlerweile weitgehend akzeptiert. Wenn auch häufig nicht in aller Deutlichkeit, so wird es doch in zahlreichen soziologischen Untersuchungen gegenwärtiger Gesellschaften und aktueller Veränderungstendenzen angewendet. In seiner vorherrschenden Variante nutzt es das Konzept einer Transformation der Moderne, um die gegenwärtige Verfassung der Gesellschaft mit ihrer Verfassung – grob gesagt – vor den 1960er Jahren zu vergleichen, und nimmt dabei meistens an, dass dieser frühere Zustand von der soziologischen Theoriebildung bis zu jenem Zeitpunkt gründlich analysiert wurde. Das trifft zum Beispiel auf Ulrich Becks (1986) Unterscheidung zwischen einer ersten, einfachen und einer zweiten, reflexiven Moderne zu, welche auch Anthony Giddens’ (1990; 1994) Überlegungen bezüglich einer institutionellen Reflexivität als neues Charakteristikum der Moderne beeinflusst hat. Eine ähnliche Metaphorik lässt sich in Zygmunt Baumans (1987; 1989; 1991; 2000) Ausführungen zu den gesetzgebenden, Ordnung herstellenden, Ambivalenz überwindenden, stabilen Charakteristika der (früheren) Moderne finden, die mit den interpretierenden, verflüssigenden Charakteristika einer jüngeren (Post-)Moderne kontrastiert werden. Alain Touraine

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(1992) geht in seiner Unterscheidung zwischen den subjektivierenden und rationalisierenden Charakteristika der Moderne zwar vorsichtiger hinsichtlich einer Periodisierung vor, legt aber ebenfalls nahe, dass Rationalisierung für lange Zeit der vorherrschende Aspekt existierender Moderne gewesen ist, dieser aber jüngst durch neu aufkommende Bedenken bezüglich einer Subjektivierung in Frage gestellt wird. Es sollte festgehalten werden, dass zwar alle diese Arbeiten auf einer normativen Agenda fußen, die Bewertung der beiden Moderne-Perioden bei den Autoren aber erstens nicht dieselbe ist und zweitens nicht einfach im Sinne von Fort- oder Rückschritt interpretiert werden kann. Worauf die Autoren verweisen, sind vielmehr neue Herausforderungen, die durch die Transformation der Moderne erzeugt wurden. Diese Analysen arbeiten mit einem überaus vereinfachten Bild der vergangenen Moderne und berücksichtigen auf viel zu geringe Weise den historischen Charakter moderner sozialer Konfigurationen. Meine eigene Rekonstruktion der sich transformierenden Modernen in westeuropäischen nationalen Gesellschaften geht auf komparativ-historischer Ebene detaillierter vor und rückt eine Krise und Transformation der europäischen Modernen gegen Ende des 19. Jahrhunderts in den Mittelpunkt, womit sie die Geschichte europäischer Modernen in drei, anstatt nur in zwei, große Zeiträume einteilt (Wagner 1995; siehe auch Evers/Nowotny 1986). Inspiriert durch Giddens’ Strukturierungstheorie hat sich die Analyse zudem eher auf die Erfahrungen der Moderne durch die sozialen Akteure selbst sowie auf die Interpretationen, die diese von ihren Erfahrungen gegeben haben, fokussiert, als dass sie irgendeinen Akteur-freien Wandel in der sozialen Dynamik festgelegt hätte (wie es Beck mit dem Übergang von einer funktionalen Differenzierung zu einer risikoreichen Über-Differenzierung getan hat). Aus dieser Perspektive ist eine soziale Transformation das Ergebnis einer Krise der früheren sozialen Konfiguration. Solch eine Krise wiederum besteht in der Wahrnehmung von Problemen oder von Mängeln gegebener Praktiken im Lichte bestimmter Prinzipien, Erfahrungen oder Forderungen. Die Verbindung zwischen Krise und Transformationen gestaltet sich folgendermaßen (ich erlaube mir, an dieser Stelle mich selbst zu zitieren): »Wenn Institutionen als relativ dauerhafte Anordnungen von sozialen Konventionen gesehen werden können, dann können wir Institutionenbildung als Prozeß der Konventionalisierung und eine Krise als eine Tendenz zur Dekonventionalisierung, die von der Bildung eines neuen Satzes von Konventionen gefolgt sein

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kann, auffassen. Dabei können die Interaktionsketten neu orientiert oder erweitert und die Art ihrer Verknüpfung geändert werden, wodurch Gesellschaften ihre Gestalt und Ausdehnung wandeln. Krisen sind dann Perioden, in denen Individuen und Gruppen ihre sozialen Praktiken in einem solchen Ausmaß ändern, daß größere Institutionen und mit ihnen die institutionelle Konfiguration einem Umbruch unterliegen« (Wagner 1995: 63).

Solche Transformationen sind nicht ziellos; eine Moderne folgt nicht willkürlich auf eine andere. Vielmehr stellt eine Krise der Moderne ein Ereignis dar, als dessen Konsequenz soziale Entwicklungen auf einen anderen Weg gebracht werden (Wagner 1995: Kapitel 4). Trotz der Betonung individuellen sowie kollektiven Handelns und Problemlösens waren normativ orientierte Beobachter allerdings nicht davon überzeugt, dass mit einer Öffnung der Analyse der Moderne für eine Identifikation aufeinander folgender, sukzessiver Modernen nicht die Frage nach den normativen Verpflichtungen der Moderne insgesamt aufgegeben würde (Habermas 1998). Hier handelte es sich um ein Missverständnis, das vermutlich auf einen Mangel an Deutlichkeit in A sociology of modernity zurückzuführen ist, obwohl hier sogar eine gewisse ›Logik‹ in der Geschichte der (westlichen) Moderne vorgeschlagen wurde. In aller Kürze: Die Arbeit legt nahe, dass diese Moderne ursprünglich auf äußerst liberalen, aber in sozialer Hinsicht erheblich begrenzten Prinzipien errichtet wurde. Die Konsequenzen dieser beiden Eigenschaften waren Ungleichheit, Verarmung und Exklusion, und eine gegen diese Konsequenzen gerichtete Kritik forderte Inklusion, Gleichheit und soziale Sicherung ein. Diese Forderungen wurden weitestgehend durch die Transformation zu der inklusiven, begrenzten und organisierten Moderne befriedigt, die sich seit den 1890er Jahren entwickelte und bis in die 1970er Jahre Bestand hatte. Aber diese Transformation bedeutete eine starke Standardisierung von Praktiken und eine Homogenisierung von Lebensstilen sowie die Festigung äußerer Grenzen. In den 1960er Jahren änderte sich die Stoßrichtung sozialer Kritik in westlichen Gesellschaften erneut, und mit der Dekonstruktion von Konventionen der organisierten Moderne ging eine Ausweitung von Freiheiten und eine Öffnung von Grenzen einher (Wagner 1995: Kapitel 9). Luc Boltanski und Eve Chiapello (1999) haben einen ähnlichen Ansatz entwickelt, um die Transformationen des französischen Kapitalismus zu untersuchen, welche historisch in etwa mit den Transformationen der europäischen Moderne zusammenfallen. Sie haben die Konzepte der

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»critique sociale« und der »critique artiste« vorgeschlagen, um die unterschiedlichen »Richtungen der Kritik« zu erfassen, und wollten zeigen, inwiefern eine spezielle Form des Kapitalismus dazu neigt, eine spezielle Form der Kritik zu provozieren und sich anschließend in Reaktion auf diese Kritik zu transformieren. Meine spätere Arbeit hat dieses Thema weiterentwickelt. Eine Studie untersuchte die Französische Revolution, die Formierung der Arbeiterklasse, die Errichtung wohlfahrtsstaatlicher Institutionen sowie die Einführung keynesianischer Nachfragesteuerung als partielle Transformationen von europäischen Gesellschaften auf dem Wege einer Neu-Interpretation bestehender Perspektiven auf Gesellschaft, Staat und Ökonomie angesichts von Situationen, die als problematisch und kollektiven Handelns bedürftig betrachtet wurden (Wagner 2008, Kapitel 13). Eine andere Studie hat die Geschichte der europäischen politischen Philosophie von der Idee der staatlichen Souveränität bis zum Totalitarismus parallel zu der Geschichte der europäischen politischen Moderne gelesen. Hier wurde nahegelegt, dass Prinzipien der politischen Philosophie als Antworten auf problematische Situationen entworfen wurden und dann für eine Anwendung in späteren Situationen zur Verfügung standen. Diese späteren Situationen konnten sich signifikant von den früheren unterscheiden, in welchen Fällen dann konzeptionelle Nachbesserungen und weiterreichende Ausarbeitungen erforderlich wurden. Bezeichnenderweise konnten einige problematische Aspekte neuer Situationen als Konsequenzen von Lösungen bezeichnet werden, die für den Umgang mit vorangegangenen Problemen eingeführt worden waren (Wagner 2008, Kapitel 10).

4. G ESCHICHTE UND THEORIE – EINE Z WISCHENBEOBACHTUNG Bevor diese sozio-historischen Analysen mit Blick auf die Fortschrittsidee, die sie enthalten (oder auch nicht), neu gelesen werden, muss kurz die Frage nach der Relevanz historischer Analysen für die normative Theorie behandelt werden. Philosophen sind allgemein dafür bekannt, Schwierigkeiten im Umgang mit empirischen Beobachtungen zu haben, es sei denn, sie werden von ihnen selbst konstruiert, um als exemplarische Beispiele ein theoretisches Argument zu untermauern. Deshalb, so das häufig geäußerte Argument, habe die empirische Ko-Existenz von

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pluralen institutionellen Ordnungen, welche Bekenntnisse zur Moderne enthalten, keine Relevanz für eine Diskussion der universalen Natur einiger moderner normativer Prinzipien. Die Behauptung, die diesem Argument zugrunde liegt – andernfalls missverstehe ich es – muss sein, dass universale Begründungen sich nicht von empirischen Beobachtungen abhängig machen dürfen, weil sie sonst Gefahr laufen, einem Partikularismus zu erliegen, was bedeutet, dass sie unter Bezug auf widersprüchliche empirische Beweise ihre Falsifikation riskieren. Anders ausgedrückt: Universale Feststellungen müssten allein das Ergebnis von Argumentationen sein. Aus meiner laienhaften philosophischen Perspektive erweist sich diese Position aus dreierlei Gründen als unhaltbar. Erstens sind Wörter außerhalb eines Anwendungskontextes potenziell bedeutungslos. Selbst eine abstrakte Argumentation ist von etwas abstrahiert, und während sie eine interne linguistische Kohärenz aufweisen kann, müssen strittige Fälle häufig durch eine Rückkehr zu jenem Konkreten geschlichtet werden, von dem zuvor abstrahiert wurde. Zweitens entstammen alle unsere politisch-philosophischen Konzepte einem konkreten Entstehungskontext, der oft sogar freigelegt und untersucht werden kann. Das bedeutet, dass unsere Konzepte historisch sind. Sie können zwar weit von ihren Ursprüngen entfernt werden, oder sie können gedehnt werden, um große »spatio-temporal envelopes« (Bruno Latour) abzudecken, aber dennoch behalten sie immer ihren historischen Charakter. Drittens wird die Gültigkeit von Konzepten nicht notwendiger Weise durch ihre unvermeidbar historische, kontextuale Natur beeinträchtigt. Insbesondere die Geschichte der Moderne kann als eine Geschichte der Ausdehnung von Konzepten über den ganzen Globus bezeichnet werden. Dies mag häufig zunächst als ein bloßer Anspruch auf Gültigkeit erschienen sein, doch einige Konzepte – oder einige Interpretationen einiger Konzepte – sind in der Tat auch in dem Sinne weit gereist, dass sie als gültig anerkannt wurden. Philosophen, die an Universalität und Fortschritt glauben, sollten ebenfalls an die Möglichkeit menschlichen Lernens glauben. Aus diesem Grund kann die Ausdehnung von Konzepten, in deren Zuge sie umfassendere Situationen abdecken und von einer größeren Anzahl von Menschen als gültig anerkannt werden, ein – wenn auch nicht der einzige – Indikator für ihre allgemeine Gültigkeit sein. Es ist an dieser Stelle nicht notwendig, starke allgemeine Aussagen über die Relation von Geschichte und Theorie zu treffen. Was hier als not-

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wendig erachtet wurde, war, den Einwand auszuschließen, aus der empirischen komparativ-historischen Soziologie könne kein Gewinn für normative Überlegungen gezogen werden. Geschichte und Theorie wohnen nicht in unterschiedlichen Welten.

5. H ISTORISCHE S OZIOLOGIE UND S OZIAL- UND P OLITISCHE THEORIE (I): K RITIK UND DIE G ENERIERUNG VON F ORTSCHRIT T So verstanden – und nun kehren wir zu dem Hauptthema der Argumentation zurück – hat die Kritik, welche in einer Transformation der Moderne wirksam wird, immer einen theoretischen Charakter. Ihre unmittelbare Ursache ist eine soziale Situation, die als problematisch angesehen wird. Das Problem ist allerdings selten absolut. Es wird zum Problem, sofern eine Situation anhand eines Standards beurteilt wird, der einerseits den involvierten Akteuren zur Verfügung steht, andererseits aber auch insofern externer Natur ist, als dass er als Werkzeug für eine Beurteilung des defizitären Charakters der gegebenen Situation fungieren kann (siehe Boltanski/Thévenot 1991). Insbesondere in all jenen Fällen, die ich im Rahmen meiner bisherigen, auf Europa fokussierten Arbeit untersucht habe, entstammen nahezu alle solche Beurteilungskriterien dem Zeitalter der Auf klärung und Revolution. Sie beziehen sich häufig direkt auf das Bekenntnis zu Freiheit und Gleichheit, sowie zu anderen Gelegenheiten in komplexerer Weise auch auf Neu-Interpretationen des Bekenntnisses zu Brüderlichkeit, welches bald als Solidarität reformuliert werden sollte (siehe etwa Sewell 1980). Bei den Akteuren des 19. Jahrhunderts scheint die Doppelnatur dieser Bekenntnisse keinerlei Bedenken hervorzurufen. Sie haben eindeutig einen historischen Charakter, da sie sich auf eine nicht allzu weit entfernte historische Erfahrung beziehen. Gleichzeitig besitzen sie bereits eine Geschichte der schnellen Diffusion, weshalb ihnen eine allgemeine, potenziell universelle Bedeutung zukommt.7

7 | Reinhart Kosellecks Kritik und Krise (1959) bleibt überaus bedeutsam für die in Europa nach der Aufklärung aufkommende Verbindung zwischen prinzipiengeleiteter Kritik und sozio-politischer Krise.

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Sozialer Wandel vollzieht sich als Antwort auf die Kritik und mit Blick auf eine Lösung des Problems. Häufig ist er innovativ und bringt Neuerungen hervor, sogar zuvor nie dagewesene Neuerungen. Die möglichen Konsequenzen der neuen Situation können aus diesem Grund nicht vollständig vorhergesagt werden. Zwei Beispiele aus der Geschichte der europäischen Moderne können diesen Aspekt veranschaulichen: Zum einen führte die Französische Revolution die neuartige politische Form der auf Volkssouveränität basierenden Republik ein. Die revolutionären Optimisten nahmen damals an, dass sich der Republikanismus schnell verbreiten würde, so dass es kein Problem darstellen würde, aus dem kollektiven Willen der Europäer Republiken zu errichten. Beobachter, die diese Idee zwar unterstützten, aber skeptischer waren (hier handelte es sich zumeist um deutschsprachige Beobachter) wiesen wiederum darauf hin, dass es gewisse Gemeinsamkeiten in Werten und Überzeugungen unter den Mitgliedern eines um Selbstbestimmung bemühten Kollektivs brauche, damit eine Republik tatsächlich realisierbar sei. Solch eine kulturell-linguistische Theorie des modernen Staates wurde zur Grundlage nationaler Befreiungsbewegungen sowie später des Nationalismus und einer nationalstaatlichen Politik der kulturellen Homogenisierung. Das theoretische Argument ist weder brüchig noch anti-modern: Es bezieht sich auf kollektive Autonomie und definiert das autonome Kollektiv über eine gewisse Spezifität. Allerdings haben seine Befürworter die möglichen negativen Konsequenzen ignoriert oder unterschätzt: dass der Nationalismus in einer Situation des Konkurrenzkampfes zwischen imperialen Staaten und Ökonomien aggressiv werden könnte; und dass sich die Politik einer kulturellen Homogenisierung sowohl in eine Begrenzung von individueller Autonomie als auch in Formen der Exklusion kehren könnte. Zum anderen basierte die Liberalisierung der Marktkräfte durch die Garantie kommerzieller Freiheit, welche die Freiheit zum Kauf und Verkauf von Arbeitskraft beinhaltete, auf einer ganzen Reihe normativer Argumente. Aufgrund der wechselseitigen Abhängigkeit zwischen den Menschen als Produzenten erforderlicher Güter würde die Ausdehnung des Handels sowohl innerstaatlichen als auch internationalen Frieden befördern (auch das »doux commerce«-Argument genannt). Spezialisierung, die aus der Produktion heraus und für einen Markt anstatt für den eigenen Nutzen entsteht, würde die Produktivität und somit auch den Wohlstand der Nationen steigern (das »invisible hand«-Argument; siehe Hirschman 1977 für beide Argumente). Und kommerzielle Freiheit bedeute das Ende

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von Leibeigenschaft sowie von ungerechtfertigten staatlichen Eingriffen und sei aus diesem Grund selbst ein entscheidender Ausdruck für das moderne Bekenntnis zu individueller Autonomie. Alle diese Argumente behalten eine gewisse Gültigkeit. Allerdings hat die Anwendung solcher Argumentationen im Zuge der Marktrevolution des 19. Jahrhunderts zu Erfahrungen von Verarmung, zunehmender Ungleichheit sowie einer abnehmenden Qualität der Lebens- und Arbeitsbedingungen geführt, und es wurde eine ganze Reihe von kollektivierenden Innovationen geschaffen, die den Effekten einer individualisierenden Revolution in Richtung ökonomischer Moderne entgegenwirken sollten: die Anerkennung von Gewerkschaften, kollektive Arbeitsgesetze, sozial-politische Institutionen, Handelsbeschränkungen etc. (Polanyi 1944 bleibt hierfür eine beeindruckende Darstellung). Diese beiden Beispiele mögen für den Moment genügen, um ein Zwischenfazit zu ziehen: Es hat einen Fortschritt in der Geschichte der (europäischen) Moderne in dem Sinne gegeben, dass sozio-politische Probleme identifiziert und unter Rückgriff auf Maßnahmen gelöst wurden, die mit modernen normativen Orientierungen übereinstimmten. Im Rahmen eines direkten, kurzfristigen Vergleichs zwischen zwei historischen Zeitpunkten besteht häufig kaum Zweifel darüber, dass ein Fortschritt erreicht wurde. Weiterhin bleibt ein solcher Fortschritt nicht notwendiger Weise auf kurzfristige Effekte beschränkt. Das Ende der Leibeigenschaft und die Einführung von Handelsfreiheit schienen so offensichtlich durch die Verpflichtung zu individueller Autonomie gefordert zu sein, dass ein rechtlicher Wandel in ihre Richtung zur Institutionalisierung dieser Freiheiten führte und somit ein Instrument geschaffen wurde, um die normativen Errungenschaften für die Zukunft abzusichern.8 Allerdings gibt es keine Garantie für einen anhaltenden, langfristigen Fortschritt, da die – potenziell negativen, unvorhergesehenen und möglicherweise unvorhersehbaren – zukünftigen Folgen des problemlösenden Handelns größer sein können als der gegenwärtig positive Effekt der Problemlösung. Ausgehend von dieser Erkenntnis der historisch-soziologischen Forschung wenden wir uns

8 | Ein früher Beobachter der Moderne drückte seine Zurückhaltung mit Blick auf die Möglichkeit, Errungenschaften für die Zukunft zu sichern, folgendermaßen aus: »Was Du geerbt von Deinen Vätern hast, erwirb es um es zu besitzen« (Goethe, Faust).

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nun der historisch sensiblen normativen Philosophie zu, um zu sehen, auf welche Weise dasselbe Thema aus dieser Perspektive behandelt wird.

6. H ISTORISCHE S OZIOLOGIE UND S OZIALUND P OLITISCHE THEORIE (II): F ORTSCHRIT T IN DER HISTORISCH SENSIBLEN P HILOSOPHIE Die normative politische Philosophie der Moderne nimmt das duale Prinzip individueller und kollektiver Autonomie zu ihrem Ausgangspunkt. Es besteht zwar eine Debatte über die Beziehung zwischen diesen beiden Aspekten des Autonomieprinzips (für eine kritische Diskussion siehe Wagner 2008, Kapitel 2 und 3), aber ein Großteil der politischen Theorie erachtet dieses Prinzip als eine universalistische Errungenschaft, die aus den Ideen von Freiheit und Gleichheit abgeleitet wurde, welche wiederum als direkte Folgen des Schritts einer Anerkennung von anderen Menschen als in gleicher Weise menschlich angesehen werden (die Annahme einer »common humanity«, wie Boltanski und Thévenot es formulieren). Unlängst wurde der Versuch, eine universalistische politische Theorie zu begründen, durch die Formulierung einer Theorie der Gerechtigkeit bereichert, die auf keinen anderen Prinzipien als auf den zuvor genannten fußt und es dennoch schafft, eine Verpflichtung zu Ressourcenumverteilung oder Solidarität universell zu begründen (Rawls 1971). In der Tat war das Hauptziel dieses Ansatzes, die Vielfalt »umfassender Weltanschauungen«, an denen die Mitglieder moderner Gesellschaften festhalten können, von den kollektiven normativen Verpflichtungen ihres politischen Gemeinwesens, welche allein auf prozedurale Weise eingelöst werden können, zu trennen. Mit Hilfe dieses Maßstabes könnte die Moderne bestehender Gesellschaften und Staaten dann bemessen werden. Diese Form der Theoriebildung ist dafür kritisiert worden, die historischen Entwicklungen in einigen westlichen Gesellschaften als universelle Prinzipien misszuverstehen. Daraufhin haben es sogar Verteidiger der genannten Prinzipien als notwendig erachtet, solch einen prozeduralistischen Ansatz »historisch zu verorten«. Dieser Ausdruck wurde von Axel Honneth (2009) verwendet, um auf Habermas’ Analyse der gegenwärtigen Moderne Bezug zu nehmen, nach der diese auf der Institutionalisierung von individueller Freiheit durch Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit in den liberal-demokratischen Verfassungsstaaten gründet.

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Honneth stimmt dem Schritt in Richtung Historisierung zu, kritisiert aber die Begrenzung auf den liberalen Staat als einzige Möglichkeit zur institutionellen Ausgestaltung und Verteidigung von individueller Autonomie. Aus seiner Perspektive, die er zuvor ausführlich ausgearbeitet hat (Honneth 1992), brauchen Menschen nicht bloß Anerkennung in rechtlicher Hinsicht, sondern ebenfalls Anerkennung für ihren Beitrag zum Kollektiv sowie die Anerkennung, ein einzigartiger Mensch im Privatleben zu sein. Das bedeutet, dass Menschen neben Rechten auch Liebe und Respekt brauchen. Für den gegenwärtigen Zweck muss Honneths reichhaltige Philosophie lediglich mit Blick auf zwei Aspekte diskutiert werden. In seinen neueren Arbeiten betont Honneth erstens, dass Menschen Liebe und Respekt, ebenso wie Rechte, benötigen, um ihr Leben autonom führen zu können. Anerkennung wird hier also nicht als ein grundlegendes Bedürfnis an sich betrachtet, sondern als eine Voraussetzung für individuelle Autonomie. Mit diesem Schritt bringt Honneth seine Philosophie in eine Linie mit breiteren Strängen der Theoriebildung und wendet sie expliziter in eine Theorie der Moderne – weshalb sie sich hier als überaus geeignet für eine Diskussion von Ergebnissen der komparativ-historischen Soziologie der Moderne erweist. Zweitens legt Honneth nahe, dass die Pluralisierung von Sphären der Anerkennung einen nuancierteren Weg der historischen Rekonstruktion erfordert als die bloße Bezugnahme auf institutionelle Errungenschaften in Habermas’ »historisch verortetem Prozeduralismus«.9 9 | Während ich gänzlich mit dem so vorgenommenen Schritt übereinstimme, erscheint die Bewertung von Habermas’ Werk etwas unfair. Schließlich kombiniert der Großteil von Habermas’ soziologischer Theorie der Moderne, wie sie in Theorie des kommunikativen Handelns enthalten ist, eine institutionelle Analyse (die Unterscheidung zwischen Systemen und Lebenswelt sowie zwischen ökonomischen und politisch-administrativen Systemen) mit Reflexionen über soziale Tendenzen, welche die Balance zwischen den gesellschaftlichen Sphären stören oder wiederherstellen (also den Formen einer Kolonialisierung der Lebenswelt und kommunikativen Handelns, die sich durch Grenzüberschreitungen systemischer Imperative einstellen). Zugegebenermaßen finden sich in Habermas’ Theorie kaum explizite historische Betrachtungen, und er hat dies auch später nicht getan, um beispielsweise Prozesse der Kommodifizierung oder der Verrechtlichung nach den 1980er Jahren zu analysieren. Aber das explizite Ziel seiner Theorie war es, mittels einer substanziellen Analyse von Transformationen

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Honneths (2009) Verständnis zufolge sollte die normative Theorie nicht länger einen neutralen Standpunkt konstruieren, von dem aus Gerechtigkeitsprinzipien identifiziert und ausgearbeitet werden können, sondern jene Prinzipien stattdessen aus den historischen Prozessen ihrer Anerkennung rekonstruieren, im Zuge derer sie immer schon als Normen wechselseitigen Respektes und wechselseitiger Rücksichtnahme wirksam sind. Bezeichnenderweise behauptet Honneth, dass eine solche Theorie »Vertrauen in die historische Realität« haben kann, weil diese Prinzipien bereits in den historisch etablierten Kommunikationsbeziehungen enthalten seien und die sozialisierten Subjekte bereits von ihnen angeleitet würden, die Theorie sie also nur noch zu explizieren habe. Dieser Schritt stellt einerseits eine angemessene und notwendige Historisierung der Debatte über normative Prinzipien dar; andererseits zeugt er von einer ziemlich optimistischen Perspektive auf die Geschichte, die Subjekte und ihre Kommunikationsbeziehungen.10 In der Tat erkennt Honneth die Notwendigkeit, unmittelbar eine »Ausnahme« hinzuzufügen: »[W]o wir es historisch mit sittlich vollkommen zerstörten, demoralisierten Sozialbeziehungen zu tun haben, da steht eine derartige [rekonstruktive] Gerechtigkeitstheorie relativ hilflos da.« (Honneth 2009: 17)

Die Einführung einer solchen »Ausnahme« lässt unmittelbar die Frage aufkommen, auf welche Weise wir Normalität bestimmen. Oder allgemeiner ausgedrückt: Sie legt nahe, dass selbst eine rekonstruktive Theorie, nachdem sie die Metaphysik der Geschichtsphilosophie aufgegeben hat, nicht gänzlich auf eine Spezifizierung grundlegender Kriterien von Normativität oder auf ein Fortschrittskonzept verzichten kann.11 Die völlige der Moderne – um es in der in diesem Aufsatz verwendeten Sprache zu sagen – Fortschritt zu identifizieren und Rückschritt zu kritisieren. 10 | Genauer gesagt spricht Honneth von »mehr Vertrauen« als prozeduralistische Theoretiker, die auf einen suprahistorischen Standpunkt angewiesen sind, um zu normativen Prinzipien zu gelangen. In einer anderen Hinsicht ist Honneth skeptischer als die Prozeduralisten, weil er die Möglichkeit sieht, dass abstrakt entwickelte Prinzipien unter Umständen übermäßig hohe Ansprüche an die sozialen Beziehungen stellen. 11 | So argumentiert Honneth (2004) explizit mit Blick auf Möglichkeiten der Interpretation von Hegels Sozialtheorie.

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Abwesenheit solcher Kriterien würde dann die Ausnahme kennzeichnen; und unter den Bedingungen von Normalität können diese Kriterien als ein ›Maß‹ (in einem sehr weiten Sinne verstanden) für Fortschritt oder Rückschritt dienen. In verwandten Arbeiten hat Honneth (in Fraser/Honneth 2003) auf zwei solche grundlegenden Kriterien, mit welchen der Fortschritt der Anerkennung gemessen werden kann, hingewiesen – nämlich auf Inklusion und Individualisierung. Ersteres scheint recht eindeutig zu sein. Je mehr Mitgliedern eines gegebenen Kollektivs Anerkennung zugute kommt, und je mehr ihnen alle Formen der Anerkennung zugute kommen, desto inklusiver ist dieses Kollektiv und desto stärker erfüllt es folglich normative Prinzipien. Das zweite Kriterium ist komplexer. Auf den ersten Blick erscheint es offensichtlich anwendbar: Sofern Anerkennung Individuen dazu befähigt, ein autonomes Leben zu führen, sollte ein höherer Grad an Individualisierung Anzeichen für einen Zustand sozialer Beziehungen sein, in welchem Anerkennung weit verbreitet ist. Jedoch ist der Begriff der Individualisierung zu unklar, als dass er so eindeutig verwendet werden könnte. In der Geschichte der Sozial- und Politischen Theorie hat er sich ohne Zweifel auf zunehmende Möglichkeiten der Selbst-Realisierung bezogen; aber er wurde auch zur Bezeichnung der Entwurzelung von Individuen aus sozialen Milieus genutzt, die Anomie, Entfremdung, Konformismus und verwandte Phänomene zur Folge hatten. Wie wir schließlich sehen werden, offenbaren beide Kriterien in der geschichtlichen Anwendung mehr von ihrer Komplexität.

7. I NKLUSION UND I NDIVIDUALISIERUNG IN EUROPÄISCHEN SUK ZESSIVEN M ODERNEN Waren Inklusion und Individualisierung Folgen der sich in der (europäischen) Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts vollziehenden sozialen Transformationen? Und wenn ja, war mit diesen Transformationen ein aus normativer Perspektive wünschenswerter Effekt verbunden, der ihre möglichen negativen Folgen überwiegt? Wie oben bereits kurz angedeutet, war Inklusion in den vergangenen zwei Jahrhunderten ein zentrales Merkmal der sozialen Transformationen in Europa. Um 1800 repräsentierten nur männliche, Eigentum besitzende Haushaltsvorstände die Vollbürger der Moderne. Durch ihre Kämpfe seit

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den 1830er bis in die 1970er Jahre wurden die Arbeiter als Rechteinhaber und als zum Gemeinwohl Beitragende anerkannt. Frauen fanden Anerkennung als Bürgerinnen zwischen 1919 und dem Ende des Zweiten Weltkriegs; die gleichen zivilen Rechte wie Männer bekamen sie häufig erst in den 1960er und 1970er Jahren; und sie erlangten Rechte auf körperliche Selbstbestimmung durch die Legalisierung von Scheidung und Schwangerschaftsabbruch, die dafür sorgten, dass sie nicht länger in ungewollten privaten Beziehungen gefangen waren, denen es oft sowohl an Liebe als auch an Respekt mangelte. Hier hat es Fortschritt durch Inklusion gegeben. Allerdings gestaltet sich das Bild unter Einbeziehung zweier weiterführender Beobachtungen komplizierter. Im Zuge der Konstruktion einer inklusiven, organisierten Moderne seit dem späten 19. Jahrhundert wurden durch Einwanderungsbegrenzungen, Grenzkontrollen etc. gleichzeitig Mauern zwischen nationalen Gemeinschaften gezogen (siehe Noiriel 1991). Das heißt, dass die Anerkennungsprozesse, die sich innerhalb nationaler Grenzen vollzogen, mit einer externen Exklusion und dementsprechend mit einer Verweigerung des Zugangs zu Anerkennung einhergingen. Diese beiden Prozesse waren wohl miteinander verbunden: Eine Definition und Begrenzung der Bürgerschaft wurde als Voraussetzung für eine Gewährung des politischen und sozialen Bürgerstatus erachtet. Mit anderen Worten, interne Anerkennung kann mit der Verweigerung externer Anerkennung einhergehen, wodurch das Problem einer Rechtfertigung von Grenzen und die Frage nach globaler Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit aufgeworfen werden. Im Zuge jüngerer Transformationen der organisierten Moderne haben sich wiederum neue Formen der sozialen Exklusion (Prekariat) herausgebildet, nachdem die vollständige formal-rechtliche Inklusion bereits erreicht und aufrechterhalten worden war. Es mag also eine Verbindung geben zwischen einer verstärkten Anerkennung von Menschen als Trägern von Rechten auf der einen und einer Schwächung von Anerkennung mit Blick auf Verdienste und Solidarität auf der anderen Seite – und vielleicht sogar von Anerkennung in Form von Liebe und Freundschaft, insofern der Netzwerkkapitalismus die Grenze zwischen Arbeit und Privatleben verwischt (Boltanski/Chiapello 1999). Fortschritt bezüglich Inklusion wurde also in mancherlei Hinsicht von einem Rückschritt in anderer Hinsicht begleitet. Wenden wir uns nun der Frage der Individualisierung zu. Die Steigerung individueller Autonomie bildet spätestens seit dem 16. Jahrhundert eine zentrale normative Verpflichtung der europäischen Moderne, auch

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wenn sie sich nur schrittweise in der Gesellschaft ausbreitete (Taylor 1989). Vom frühen 19. Jahrhundert an haben ein rechtlicher Wandel wie etwa die Formalisierung individueller Rechte in der Folge der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte sowie die Gewährung von Handelsfreiheit dafür gesorgt, dass die Orientierung an individueller Autonomie einen Schub erhielt. Schon sehr bald wurden jedoch die negativen Folgen im Sinne einer Loslösung der Menschen aus ihren sozialen Kontexten spürbar. Der sich anschließende, langfristige Prozess einer Kollektivierung kann nur schwerlich als weitere Individualisierung betrachtet werden. Es stimmt zwar, dass moderne kollektive Konventionen ihre Mitglieder als Individuen einbeziehen, aber sie tun dies, indem sie Rollen standardisieren und Perspektiven auf die Welt homogenisieren. Tocquevilles Erkenntnis, dass Individualisierung mit einer Zunahme von Konformismus einhergehen kann, erhielt in der organisierten Moderne, die zu jener Zeit häufig Massengesellschaft genannt wurde, ihre Bestätigung. Solange wir die Bedeutung des Begriffes Individualisierung nicht so weit dehnen, dass er beinahe das Gegenteil dessen meint, was Honneth im Sinn hat, kann die Zeit zwischen den 1890er und den 1950er Jahren kaum als ein Zeitraum bezeichnet werden, der einen Fortschritt der Individualisierung mit sich gebracht hat. Die auf die 1970er Jahre folgende Individualisierung wiederum mag jedoch, wie weiter oben erwähnt wurde, mit neuen Formen der Exklusion einhergehen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass unsere knappe Anwendung von Kriterien des Fortschritts, wie sie aus der normativen Philosophie hervorgehen, auf die Sukzession der Modernen dazu tendiert, jenes Bild zu bestätigen, das wir oben skizziert haben. Wir können einen historischen Fortschritt in den Transformationen der Moderne identifizieren, was nicht überraschend sein sollte, da diese Transformationen aus der Artikulation von Kritik und Krise im Zuge eines Umgangs mit den problematischen Entwicklungen innerhalb der Moderne entstehen. Allerdings konstituiert solch ein Fortschritt in den Transformationen keine langfristige und lineare Linie des normativen Fortschritts, weil historische Lösungen für soziale Probleme auch für das Entstehen neuer normativer Defizite sorgen können – und dies in der Tat auch häufig tun –, die nicht notwendigerweise von geringerer Bedeutung sind als jene, die erfolgreich überwunden wurden.12 12 | Dies legt eine Rückkehr zu der Frage nach der »Ausnahme« einer gänzlich demoralisierten Gesellschaft nahe, bei der Honneth Situationen wie jene des

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Bis hierhin haben wir eine Darstellung des historischen Fortschritts geliefert, die zwei allgemeine Kriterien verwendet und diese auf die Dynamiken des sozialen Wandels in den letzten zwei Jahrhunderten anwendet. Diese Darstellung wirft jedoch einige weiterführende Fragen auf, die behandelt werden müssen. Erstens hat unsere Diskussion die Idee des materiellen Fortschritts vernachlässigt, über den weniger Zweifel bestehen mag als über den oben untersuchten sozialen Fortschritt. Zweitens haben wir nur kurz berührt, was wir vielleicht politischen Fortschritt nennen möchten, nämlich eine Zunahme der Fähigkeit, mit Problemen umzugehen – unabhängig von dem Gehalt des vorliegenden Problems, welches oben im Fokus stand. Und schließlich erfährt die Beziehung zwischen Krise und Kritik, die wir oben als eine skizziert haben, die einen Großteil der Fortschrittsdynamik bewirkt hat, vielleicht selbst eine historische Veränderung, nicht zuletzt als Ergebnis einer jüngst erfolgten Transformation der Moderne.

8. W EITERFÜHRENDE F R AGEN (I): M ATERIELLER F ORTSCHRIT T Einige Leser mögen den Eindruck bekommen haben, dass unsere bisherige Diskussion den wichtigsten Aspekt übersehen hat: dass die Moderne das materielle Wohlergehen der Menschen steigert. Der Fortschritt des 19. und 20. Jahrhunderts in Europa und Nordamerika war meistens mit einer Zunahme des Wohlstands und einer Verbesserung der Lebensumstände verbunden, und diese Errungenschaften wiederum wurden als eine Folge nationalsozialistischen Totalitarismus im Auge hat. Es ist jedoch problematisch, solche Situationen aus dem historischen Kontext zu reißen. Der Nationalsozialismus hatte seine Entstehungsbedingungen in vorangegangenen Entwicklungen in Deutschland und Europa, und im Zuge seines Aufkommens wurde er von vielen als Lösung für die Probleme der liberal begrenzten Moderne gesehen. Der radikale Verfall normativer Standards in der historischen Realität lässt sich nicht mittels eines Wechsels der Herangehensweise und eines plötzlichen Vertrauens auf »moral reasoning alone« (wie Honneth unter Bezug auf Hegel sagt) untersuchen — oder zumindest nur zu dem Preis, dass man die Möglichkeit eines solchen Verfalls nicht versteht und seine Rückkehr auf diese Weise wahrscheinlicher macht (siehe Lefort 1999).

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der Anwendung des technischen Fortschritts in der ursprünglichen industriellen Revolution und ihren Nachfolgerinnen gesehen. So ermöglichen Dampfmaschine und Eisenbahn einen Ausweg aus dem malthusischen Gesetz und machen es möglich, größere Bevölkerungen besser zu versorgen und die in der Vergangenheit üblichen Hungersnöte zu vermeiden. Physikalische und chemische Erfindungen bilden die Grundlage von Innovationen in der Elektro- und Chemieindustrie, die zu lebens- und arbeitserleichternden Geräten im Haushalt und in der Arbeitswelt führen und so sowohl die Entstehung der Konsumgesellschaft bewirken als auch die Voraussetzungen für eine neue geschlechterspezifische gesellschaftliche Arbeitsteilung etablieren. In jüngster Zeit lassen die Innovationen in der Informations- und Kommunikationstechnologie den Globus schrumpfen und schaffen neue Möglichkeiten, die von einem nie dagewesenen Informationszugang bis hin zu einer neuen und effizienteren globalen Arbeitsteilung reichen. In einer weit verbreiteten Sichtweise ist es genau dies, was die Attraktivität der Moderne wirklich ausmacht. ›Spätere Modernen‹, wie etwa die ostasiatischen, sind genau in dem Maße erfolgreich, in dem sie die technischen Innovationen des Westens übernehmen, ihre Wohltaten über ihre Gesellschaften verteilen, und die Fähigkeit zu weiterem technischen und materiellen Fortschritt erlangen. Die ›alternativen Modernen‹ wiederum, wie etwa die sowjetische oder verschiedene historische Versuche in Lateinamerika, scheiterten letztlich, weil sie sich als unfähig erwiesen, sich den materiellen Fortschritt auf dieselbe Weise zu Nutzen zu machen, wie es der Westen getan hatte. Solch eine Sichtweise lässt sich sowohl im Zentrum gegenwärtiger Neo-Modernisierungstheorien finden – auch wenn es dort selten explizit gemacht wird – als auch auf offensichtlichere Weise in vielen öffentlichen Debatten. Das Streben nach materiellem Fortschritt muss ernsthaft als ein Motor sozialen Wandels betrachtet werden, auch wenn es Grund gibt, die exklusive Rolle des Westens bei der Pionierarbeit für diese Form des Fortschritts anzuzweifeln. Es ist wichtig zu betonen, dass solcher Fortschritt nicht anhand von wirtschaftlichen Wachstumsraten gemessen werden sollte, wie es in der aktuellen Debatte häufig getan wird, sondern vielmehr anhand von Lebenserwartungen, Gesundheitszuständen und allgemeinen Lebensbedingungen. Es wäre ebenfalls notwendig, die Unterschiede innerhalb einer gegebenen Gesellschaft zu betrachten, allerdings wiederum nicht in direktem Bezug auf soziale Ungleichheit, wie sie mittels des Gini-Koeffizienten gemessen wird, sondern mit Blick auf

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Ungleichheiten in den Lebensbedingungen und der Erfüllung menschlicher Bedürfnisse.13 Die Ansicht, dass die Moderne sich in zentraler Hinsicht durch materiellen Fortschritt – in einem weiten Verständnis – auszeichnet, kann somit nur um den Preis rundweg zurückgewiesen werden, eine bedeutsame Dynamik des jüngeren sozialen Wandels misszuverstehen. Vielmehr müssen die obigen Beobachtungen in die allgemeine Analyse der Geschichte der Moderne integriert werden. Drei Überlegungen sind in dieser Hinsicht wichtig. Erstens suggeriert die allgemein übliche Auffassung des materiellen Fortschritts der Moderne, dass dieser das Ergebnis der technischen und industriellen Dynamiken sei, die in der europäischen Geschichte entfesselt wurden und manchmal mit den Dynamiken der Marktkräfte verbunden waren. Wir haben allerdings Grund anzunehmen, dass solche Dynamiken für sich genommen die Verbesserungen in den Lebensbedingungen, wie sie Europa um etwa 1913 erreicht hatte, nicht hätten zu Stande bringen können, wenn nicht andere Kräfte am Werk gewesen wären. Die ›Sozialkritik‹, die – wie oben erörtert – seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wirksam wurde, kann eher als die Kraft gesehen werden, die ein technisch-ökonomisches Potenzial in einen breiten sozialen Nutzen verwandelt. Und entsprechend mag auch in der Gegenwart und in der Zukunft eine solche Kraft erforderlich sein, um den Weg des materiellen Fortschritts fortzusetzen. Zweitens erlaubt uns eine Rückkehr zu dem Konzept der ›Sozialkritik‹, eine erste Ambivalenz in dieser Form des Fortschritts sichtbar zu machen. Die von Luc Boltanski und Eve Chiapello (1999) erarbeitete Analyse der Transformationen des Kapitalismus legt nahe, dass der Fortschritt bei der Verminderung von Ausbeutung und Unterdrückung, der eine Reaktion auf die Sozialkritik war, historisch mit einer zunehmenden Entfremdung einhergegangen ist, gegen die sich die ›künstlerische Kritik‹ seit Beginn des frühen 20. Jahrhunderts richten sollte. Der materielle Fortschritt be-

13 | Es sei an Johan Galtungs (1975) Konzept der »strukturellen Gewalt« als die aus sozio-strukturellen Positionen heraus entstehenden Hindernisse für eine Realisierung von Lebenschancen erinnert. Der von den Vereinten Nationen entwickelte Human Development Index schlägt nun ein an solchen Überlegungen orientiertes, umfassendes statistisches Fortschrittsmaß vor.

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steht somit nicht ohne ein Unbehagen an ihm – wenn auch nicht notwendigerweise, so doch zumindest historisch. Drittens hat der materielle Fortschritt seine »Nebenwirkungen«, seine »Externalitäten«, seine »nicht-intendierten Konsequenzen«, seine »effets pervers«, um verschiedene Begriffe aus der Wirtschaftswissenschaft und der Soziologie für vergleichbare Phänomene aufzugreifen. Die moderne Technik schafft Vorteile, bringt aber auch Gefahren verschiedener Art mit sich, von unterschiedlichen Ausmaßen der Verschmutzung durch Industrie und Verkehr zu den mit Atomenergie verbundenen Risiken, die uns jüngst durch die Fukushima-Katastrophe in Japan wieder vor Augen geführt wurden. Auch wenn diese negativen Effekte niemals unbekannt waren, wurde die Diskussion über sie für lange Zeit von zwei Überzeugungen beherrscht: dass die Vorteile die Risiken weit überwiegen; und dass der innovative menschliche Verstand, der diese Technologien erfunden und angewendet hat, ebenfalls praktikable Lösungen erfinden würde, mit denen sich die negativen Effekte reduzieren oder unter Kontrolle halten lassen. Die ökologische Debatte, die in den 1960er Jahren aufkam, hat diese Überzeugungen scharf und in zunehmendem Maße kritisiert. Seit den 1980er Jahren sind der vom Menschen verursachte Klimawandel und große Nuklearunfälle zu Schlüsselthemen geworden, die die Diskussionsbedingungen verändert haben. In beiden Fällen ist es plausibel anzunehmen, dass die geschaffenen Risiken die Bewohnbarkeit der Erde als Ganze oder zumindest großer Regionen bedrohen und derart langfristiger Natur sind – inklusive der möglichen Irreversibilität von Entwicklungen –, dass selbst Technik-Optimisten weiterhin starkes Vertrauen haben müssten, dass der Mensch in Zukunft sowohl die Fähigkeit als auch den Willen aufbringt, mit diesen Risiken umzugehen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Berücksichtigung des materiellen Fortschritts unserem Bild von der Moderne, tendenziell zur Verbesserung unseres Lebens beizutragen, eine signifikante Dimension hinzufügt. Aber das ändert nichts an dem grundlegenden Befund, dass jeder Fortschritt einen Rückschritt beinhalten kann, der unter Umständen maßgeblicher ist als die erreichten Vorteile.

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9. W EITERFÜHRENDE F R AGEN (II): P OLITISCHER F ORTSCHRIT T Die vorangegangene Diskussion endete mit einer Spekulation über die zukünftige Fähigkeit des Menschen, problematische Situationen zu bewältigen. Angesichts des steigenden Ausmaßes einiger technologisch bedingter Probleme bedarf es hierbei mehr denn je der Fähigkeit zu kollektivem Handeln. Das Beispiel des Klimawandels vermag auch diesen Aspekt zu veranschaulichen. Vorschläge für einen unmittelbaren Umgang mit diesem Risiko liegen vor, jedoch erfordert ihre Umsetzung eine globale Einigung und Koordinierung, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht erreicht wurde. Somit könnte das Risiko einer Verschlechterung der Lebensbedingungen, die von den Begleiterscheinungen der Technologie und der Industrie verursacht wurde, real werden, weil der politische Fortschritt fehlt, das heißt Steigerungen der Fähigkeit, kollektiv Probleme zu bewältigen. Diese Frage eröffnet eine weitere Dimension der historischen Transformation der Moderne. Wir können uns unschwer vorstellen, dass – hypothetisch betrachtet – verstärkte Inklusion und Individualisierung sowie materieller Fortschritt ohne eine gesteigerte Fähigkeit zu kollektivem Handeln entstehen könnten. Viele Theorien sozialen Wandels haben in der Tat mit Annahmen über Trends oder Tendenzen gearbeitet, die durch ihre eigenen Dynamiken gesteuert werden, ohne auf menschliches Handeln oder menschliche Intentionalität angewiesen zu sein (für eine Kritik siehe Boudon 1984, Kapitel 1). Wenn wir uns detaillierter den obigen historischen Abriss anschauen, stellen wir fest, dass sich die Fähigkeit zu kollektivem Handeln in verschiedenerlei Hinsichten über den Verlauf der europäischen Moderne hinweg verändert. Die Entfesselung der Marktkräfte durch eine Garantie der Handelsfreiheit kann als eine Absage an die kollektive Organisation von Produktion und Distribution interpretiert werden, die auf der Annahme basierte, dass die Aggregation individueller Handlungen für ein besseres Ergebnis sorgen wird. Im Gegensatz dazu wurden die Reaktionen auf die problematischen Auswirkungen des Kapitalismus des 19. Jahrhunderts und des Industrialismus dergestalt verstanden, dass sie eine Steigerung des kollektiven Handlungspotenzials erforderlich machten, sowohl mit Blick auf solidarische soziale Bewegungen als auch hinsichtlich eines stärker ›interventionistisch‹ – wie es später genannt wurde – werdenden Nationalstaates. Neuerdings signalisieren die Diskussionen über ›den

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Niedergang des Nationalstaates‹ im Kontext von ›Globalisierung‹ und ›Deregulierung‹ einen Rückgang kollektiver Handlungsfähigkeit. Interessanterweise war dieser Rückgang – mit Blick auf die Einstellungen der Eliten – zu einem gewissen Maße ein gewollter, mindestens aber ein akzeptierter. Diese letzte Beobachtung legt nahe, dass sich tatsächlich eine radikale Veränderung in der vorherrschenden Haltung gegenüber politischem Fortschritt vollzogen hat. Vom frühen 19. Jahrhundert bis in die 1960er Jahre war intentionales kollektives Handeln sehr oft mit der Idee verbunden, dass die Welt verbessert werden kann, dass eine bessere Welt geschaffen werden kann. Heutzutage ist die Erfahrung, dass solches Handeln in der Vergangenheit häufig negative Effekte hatte, im Westen weit verbreitet; und sich in kollektivem Handeln zu engagieren, um wirklich positive normative Veränderungen zu erwirken, wird als eine zu komplexe und zu mühsame Angelegenheit angesehen, als dass sie der Mühe wert wäre (für eine Kritik siehe Hirschman 1991). Eine Folge davon ist, dass unter Umständen kaum – wenn überhaupt noch – ein Konzept politischen Fortschritts übrig bleibt. Unter Berücksichtigung der Herausforderungen in dieser Situation hat sich Claus Offe (2010) kürzlich mit der Frage beschäftigt, welches Konzept politischen Fortschritts – wenn denn überhaupt eines – heutzutage noch tragfähig ist. Seine primäre Schlussfolgerung ist eher skeptisch. Angesichts der Illusion in Bezug auf Fortschritte in der Vergangenheit sowie des höchst problematischen gegenwärtigen Zustandes der Welt – er nennt Bedrohungen durch Kriege, Energieknappheit und Klimaverschlechterung – könne das Äußerste, das wir realistischer Weise anstreben können, die Verhinderung eines Rückschritts und nicht irgendeine politische Verbesserung sein. Dies erscheint wie der Inbegriff eines konservativen Credos, stammt aber von einem führenden kritischen Theoretiker. Offe ähnelt hier ein wenig Edmund Burke (1993 [1790]), dessen liberale Ansichten erschüttert wurden, als er über die möglichen Konsequenzen einer Verbreitung der Ideen der Französischen Revolution nachdachte. Aber Offe schreibt mehr als zwei Jahrhunderte nach Burke, und das bedeutet: nach der Erfahrung mit beinahe zwei Jahrhunderten fortschrittsorientierter Moderne. Anstatt seine Reflexionen kurzerhand zurückzuweisen, müssen wir die Perspektive verstehen, aus welcher er den gegenwärtigen Zustand der Moderne analysiert. Bei diesem Versuch erweist sich die Idee der ›Rückschrittsvermeidung‹ als aufschlussreich. Anstatt ein unmittelbar konservatives Argument zu

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verwenden, geht Offe auf diese Weise davon aus, dass es historisch Fortschritt gegeben hat. Es hat normative Errungenschaften gegeben, die Offe mit den Begriffen rechtlich geordneter Verhältnisse und institutionalisierter gesellschaftlicher Solidarität umschreibt. Beide Begriffe stehen in einer doppelten Opposition: Rechtlich geordnete Verhältnisse stehen im Gegensatz sowohl zu Barbarei als auch zu der Blaupause einer Mustergesellschaft; institutionalisierte Solidarität ist sowohl von Armut, Hunger und sozialer Deprivation als auch von einer auf radikale Gleichheit zielenden Umverteilung abzugrenzen. Letztere Begriffe beziehen sich auf die historischen Ziele einer progressiven Politik, erstere auf diejenigen gesellschaftlichen Verhältnisse, die drohen – sofern man sich heutzutage nicht darum bemüht – einen Rückschritt zu verhindern. Mit dieser nuancierteren Lesart können wir Offes Sorgen verstehen, ohne seine Schlussfolgerungen gänzlich zu akzeptieren. Allgemein lässt sich sagen, dass es sehr wohl Bedarf nach weiterem Fortschritt geben kann, und der Slogan der globalisierungskritischen sozialen Bewegungen, ›Eine andere Welt ist möglich‹, legt nahe, dass progressive politische Vorstellungen noch immer lebendig sind. Offe zielt also auf die Fähigkeit zu kollektivem Handeln und sogar zu kollektiver Befreiung und Emanzipation als einem Hauptbestandteil des historischen Konzepts von politischem Fortschritt. Seine Schlussfolgerungen sollten als ein Vorschlag gelesen werden, die Bewahrung – und wir ergänzen: die Steigerung – dieser Fähigkeit als eine Voraussetzung dafür zu sehen, dass die substanziellen Ziele einer Vermeidung zukünftiger Barbarei erreicht werden können.

10. W EITERFÜHRENDE F R AGEN (III): K RISE OHNE K RITIK UND F ORTSCHRIT T ? Unsere bisherige Argumentation hat Folgendes hervorgehoben: dass die Moderne auf normativen Selbstverpflichtungen basiert, die einen Horizont von Erwartungen an eine bessere Zukunft, von Fortschritt eröffnet haben; dass historische Formen der Moderne die normativen Versprechungen nicht einlösen und somit in Krisen geraten; dass solche Krisensituationen der Kritik Vorschub leisten; dass die Moderne Transformationen durchläuft, indem sie als Reaktion auf Kritik ihre Probleme bearbeitet; dass jegliches Lösen von Problemen neuen, häufig unvorhersehbaren Problemen den Weg bereiten kann; dass die Erfahrung verschiedener solcher Trans-

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formationen Zweifel in Bezug auf die Möglichkeit von Fortschritt aufkommen lassen kann; dass unser gegenwärtiger Zustand der Moderne durch den Verlust von Vertrauen auf den Fortschritt charakterisiert werden kann, weil die Gefahren, die moderne Praktiken erzeugt haben, schwerer wiegen als alle Vorteile, die man von der Fortsetzung ähnlicher Praktiken erwarten kann. Dieser Ablauf lässt eine letzte weitere Frage offen: Wie ist es heutzutage um die Kritik bestellt? Wenn man der Argumentationslinie folgt, sollte man das Entstehen einer neuartigen Form der Kritik erwarten, die trotz der beträchtlichen Probleme im gegenwärtigen Zustand der Moderne genau diesen Erschöpfungszustand der Fortschrittserwartung thematisiert. Wir haben jedoch gesehen, dass sich ein führender Kritiker aus der Tradition der Kritik zurückzieht. Und auch wenn Offe eine spezielle Ansicht vertritt, ist eine Orientierungslosigkeit mit Blick auf die gegenwärtig erforderliche Form der Kritik und auch ihre bloße Möglichkeit weit verbreitet. Als Konsequenz unserer Untersuchung der Moderne und des Fortschritts sollten wir uns deshalb mit den Transformationen der Kritik in der Geschichte des sozialen und politischen Denkens beschäftigen und die Aussichten der Kritik heutzutage untersuchen. Die Soziologie ist häufig als eine Hauptkomponente des kritischen Bewusstseins der modernen Gesellschaft gesehen worden. Führende Praktiker der Disziplin wie etwa Raymond Boudon, Michael Burawoy und John Goldthorpe haben kürzlich versucht, die Aufgabe der Soziologie neu zu bestimmen, indem sie verschiedene Typen von Praktiken und Selbstverständnissen unterscheiden. Auch wenn einige von ihnen dies mit der Absicht taten, die professionalisierte Disziplin zu verteidigen, kam keiner von ihnen umhin, eine Vorstellung von Soziologie als Kritik in ihre Typologien einzubeziehen. Dies ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass die Soziologie als die Disziplin entstanden ist, die die Struktur sozialer Beziehungen analysiert, und zwar insbesondere die Transformation der Struktur sozialer Beziehungen nach den liberal-demokratischen und markt-industriellen Revolutionen, die in Nordwesteuropa und Nordamerika im späten 18. Jahrhundert begannen. Inspiriert durch das Aufklärungsdenken wurden diese Revolutionen im Namen der Freiheit durchgeführt, aber ihre Folgen sah man häufig als weit davon entfernt, die hohen Erwartungen, die geweckt worden waren, zu erfüllen. Seit ihren Anfängen hatten Soziologie und Sozialtheorie eine doppelte Agenda: Sie mussten die Transformationen der sozialen Bindungen infolge jener Revolutionen analysieren; und sie muss-

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ten das Ausmaß des Zurückbleibens der Realität hinter den Erwartungen erfassen. Somit hatten sie in grundlegender Hinsicht sowohl einen empirischen (und historischen, da sie sozialen Wandel untersuchten) als auch einen kritischen Charakter. Wann immer ein Teil der Agenda fallengelassen wurde, machte das ganze Unterfangen unmittelbar nur noch wenig Sinn. Historisch gesehen schien es deshalb natürlich, dass der Analytiker ebenso ein Kritiker der Gesellschaft sein würde – oder genauer gesagt: der ›Moderne‹ als jener Form der Gesellschaft, die im Anschluss an die großen Revolutionen entstanden ist. Die wissenschaftliche Untersuchung der Gesellschaft sollte Einblicke in ihre Mängel aufzeigen, die gewöhnlichen Mitgliedern derselben Gesellschaft nicht zugänglich waren. Karl Marx’ Kritik der politischen Ökonomie führte diese Konzeption der Kritik ein, und in der deutschen Sprache wurde sie in der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule weiter ausgearbeitet, zunächst in Max Horkheimers programmatischen Schriften und dann in seiner und Theodor W. Adornos Dialektik der Aufklärung von 1944. In Frankreich kann eine weitestgehend parallele Entwicklung ausgemacht werden, die von der Entstehung der Figur des ›intellectuel engagé‹ am Ende des 19. Jahrhunderts zu der Verkörperung dieser Haltung durch Jean-Paul Sartre und zuletzt zu Pierre Bourdieus kritischer Soziologie führte (für eine Diskussion von Formen der Kritik siehe Walzer 1988). Im Licht unserer Überlegungen zu dem Verschwinden der Idee des Fortschritts ist es wichtig, zu beobachten, dass kürzlich – sowohl in den französischen als auch in den deutschen Kontexten – eine Neubewertung sozialer Kritik vorgenommen wurde. In Frankreich stellt den Anfangspunkt Luc Boltanskis und Laurent Thévenots Sociology of Critical Capacity (1999) dar, die die Fähigkeit zu sowie die Praxis der Kritik in den »Laien«Mitgliedern der Gesellschaft und eben nicht in dem losgelösten Theoretiker verortet. Boltanskis und Thévenots Arbeit entwuchs ursprünglich aus einer intensiven Zusammenarbeit mit Bourdieu während der 1960er und 1970er Jahre. Seit der Veröffentlichung ihrer De la justification (1991, in einer ersten Version 1987) wurde ihr Ansatz jedoch zunehmend als eine Alternative zu Bourdieus kritischer Soziologie dargestellt – er präsentierte sich auch so – und die Verbindungen zwischen den beiden Gruppen von Sozialtheoretikern und Soziologen, die man zu Recht die bedeutendsten in Frankreich nennen kann, wurden durchtrennt (für einen detaillierteren Blick auf den Ansatz siehe Wagner 1999). Zuletzt hat Luc Boltanski (2009)

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ein reflexives Vorhaben begonnen, indem er versucht, die fundamentale »Struktur kritischer Theorien« zu erfassen und anschließend detailliert seine eigene Soziologie der kritischen Urteilskraft, oder »pragmatische Soziologie«, Bourdieus kritischer Soziologie gegenüberzustellen. Sein Ziel war es, sowohl die Kluft zwischen den beiden Ansätzen als auch ihr jeweiliges Potenzial für eine Erneuerung der Kritik unter den gegenwärtigen sozio-politischen Bedingungen, die er »demokratische und kapitalistische Gesellschaften« nennt, zu untersuchen und zu erklären. Boltanskis Analyse wurde durch die Adorno-Vorlesungen veranlasst, die er im November 2008 in Frankfurt gehalten hat – somit durch das Aufeinandertreffen der Soziologie der kritischen Urteilskraft mit dem jüngeren Forschungsprogramm des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, das sich einer Untersuchung der »Paradoxien der kapitalistischen Modernisierung« verschrieben hat und in den letzten Jahren unter der Leitung des derzeitigen Institutsdirektors Axel Honneth ausgearbeitet wurde. Wie Boltanskis moralische und politische Soziologie zieht sich auch Honneths Sozialphilosophie – wie wir oben gesehen haben – von der Behauptung zurück, dass der Analytiker einen überlegenen kritischen Einblick in die Abläufe von Gesellschaft und Politik habe, und beabsichtigt eine historische Verortung der normativen Ansprüche, anhand derer die soziale Realität bemessen werden kann. Auf ähnliche Weise möchten beide Autoren und ihre Ansätze auf der Grundlage einer solchen Verortung nicht die Fähigkeit zur Kritik aufgeben und sehen sich somit dem Problem gegenüber, ihre kritische Wirkung in der Abwesenheit starker epistemischer Ansprüche zu rechtfertigen – eine Aufgabe, die noch schwieriger durch die Tatsache gemacht wird, dass scheinbar radikalere Kritiken, die aus ihren intellektuellen Traditionen heraus entstanden waren, in Europa weit verbreitet bleiben und im Kontext der anhaltenden Krisen von Kapitalismus und Demokratie sogar an Überzeugungskraft gewinnen. Boltanskis Begegnung mit den Frankfurter Debatten hat somit Material für einen faszinierenden Doppelvergleich geboten: zwischen verschiedenen Kritikvarianten innerhalb intellektueller Traditionen, die im Laufe der Zeit Transformationen erlebt haben; und zwischen zwei aktuellen Forschungsprogrammen, die den großen Anspruch, die gegenwärtige soziale Welt von einem höheren Standpunkt aus zu kritisieren, aufgegeben und sich stattdessen der Fähigkeit der Mitglieder jener Gesellschaften zur Kritik selbst zugewendet haben. Ein kurzer Blick auf Boltanskis Überlegungen ist hilfreich, bevor man das Argument generalisiert. Boltanski beunruhigt die Möglichkeit, dass

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letztgenannte Wende hin zu einer Kritikfähigkeit der »Laien«, auch wenn sie unvermeidbar ist und in seinen eigenen Werken stark unterstützt wird, das Ende der Kritik, wie die Soziologie sie kannte, bedeutet. Um eine kritische Perspektive jenseits der Analyse vielfältiger Streits und Kontroversen, die im Zentrum des von ihm mit initiierten Forschungsprogramms in moralischer und politischer Soziologie standen, zurückzugewinnen, wendet er sich auf überzeugende Weise den Institutionen als den sozialen Phänomenen zu, die einerseits von sozialen Akteuren geschaffen werden und von ihnen verändert werden können, andererseits aber immer schon vor den Menschen existieren und ihnen ihre Regeln aufzuerlegen scheinen. In ersterem Sinne sind sie der pragmatischen Soziologie als das sedimentierte Ergebnis konfliktualer Interaktionen zugänglich; in letzterem Sinne können sie von dem distanzierten Analytiker kritisiert werden, der seinen Fokus auf ihre Strukturen und die Formen sozialer Asymmetrie und Beherrschung legt, die sie beinhalten können. An dieser Stelle führt Boltanski eine Unterscheidung ein zwischen der »Realität«, wie sie ist, und der »Welt« als dem Repertoire zu zeigen, dass jede gegebene »Realität« immer nur eine unter einer Pluralität von möglichen ist. Da Menschen hermeneutische Tiere sind, sind sie prinzipiell immer in der Lage, auf eine Weise mit einer gegebenen Realität in Beziehung zu treten, dass eine Kluft zwischen Realität und Welt entstehen kann. Dies ist der Raum für Kritik – der weder vollständig außerhalb der Erfahrung von gewöhnlichen Mitgliedern einer gegebenen Gesellschaft liegt, wie es die früheren Versionen der Kritischen Theorie behauptet haben, noch auf die Begegnung und Interaktion zwischen einigen Mitgliedern der Gesellschaft begrenzt bleibt, da es in der Natur von Institutionen liegt, Regeln so auszudehnen, dass sie eine größere Anzahl von Menschen einbeziehen als nur diejenigen, die tatsächlich interagieren. Genau genommen meint Boltanski, dass Institutionen dazu tendieren, die Gesamtheit möglicher Perspektiven jeder Erfahrung abzudecken und somit eine Pluralität an Interpretationen auszuschließen. Dabei handelt es sich um das, was frühere Theoriebildung als Naturalisierung oder Reifizierung bezeichnet hat. Dass sie Fragen bezüglich der »Realität der Realität« vollständig verhindern, ist jedoch aufgrund der Vielfalt menschlicher Erfahrung und der Offenheit ihrer Interpretation unwahrscheinlich. Etwas konkreter unterscheidet Boltanski drei Typen von »Überprüfungen« oder »Tests« (épreuves), denen jede gegebene Realität unterzogen werden kann. Erstens wird der Wahrheitstest in der institutionellen Praxis

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selbst vollzogen, um bestehende Regeln zu bestätigen und ihren nachhaltigen Charakter in allen möglichen Routinen nachzuweisen. Der zweite und der dritte Überprüfungstyp sind im Gegensatz dazu mit Formen der Kritik verbunden. »Realitätstests« untersuchen, inwiefern die Praktiken von Institutionen tatsächlich leisten, was sie zu leisten beanspruchen. Da Gesellschaften mit einer Pluralität an Evaluationsregistern funktionieren – wie es in De la justification und späteren Arbeiten der Groupe de sociologie politique et morale in Frankreich gezeigt wurde –, besteht immer die Möglichkeit, dass eine Praxis für die Art des Testes, die sie durchlaufen soll, ungeeignet ist und aufgrund dessen kritisiert werden kann. Solche Kritik wird nun »reformistisch« genannt. Schließlich erwachsen »existenzialistische Tests« aus der Erfahrung von Leid, etwa aufgrund von Ungerechtigkeit oder Erniedrigung, die innerhalb des bestehenden institutionellen Rahmens nicht (oder noch nicht) in irgendeiner Form repräsentiert werden oder repräsentiert werden können – anerkannt, würde Axel Honneth sagen. Die Kritik, die aus einer solchen Erfahrung heraus entsteht, ist »radikal«. Boltanskis Überlegungen erreichen zumindest zwei wichtige Ziele. Erstens unterstützen sie die Idee, dass Kritik ein elementares Kennzeichen der Sozialwissenschaft, insbesondere der Soziologie, und weder ein Überrest aus einer prä-professionellen Vergangenheit noch eine willkürliche Ergänzung von individuellen Praktiken ist, weil Kritik in der sozialen Welt, die untersucht wird, entsteht und zu deren Gestaltung beiträgt. Zweitens ermöglichen sie es, über frühere Formen der ›Kritischen Theorie‹ und der ›kritischen Soziologie‹ hinauszugehen, indem sie die Kritik als ein soziales Phänomen mit zentralen Konzepten wie dem der ›Institution‹ in Beziehung setzen. Gleichzeitig erreichen sie jedoch ein weiteres Ziel, das Boltanski ebenfalls anstrebt, nicht, nämlich die Verwendung seiner Werkzeuge für die Analyse verschiedener gesellschaftlicher Situationen und die Möglichkeit von Kritik in ihnen, und zwar im Hinblick auf eine historische Soziologie, deren oberstes Ziel es ist, die Spezifität der Gegenwart zu erfassen – unserer gegenwärtigen Moderne, wie wir es für unsere Zwecke ausdrücken könnten. Um dieses Ziel zu erreichen, ist Boltanskis Kritikkonzept selbst (a) zu ›präsentistisch‹, nicht hinreichend in einer längeren Geschichte verankert, und es ist (b) nicht in einem breiteren, umfassenderen Rahmen für die Analyse der Moderne verortet. (a) Wie oben kurz erwähnt wurde, konzentrierte sich Boltanskis eigenes früheres Werk, und insbesondere Le nouvel esprit du capitalisme, welches er

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mit Eve Chiapello (1999) verfasst hat, auf die Möglichkeiten, wie Kritik eine Krise bestehender sozialer Institutionen hervorrufen und anschließend bedeutsame soziale Transformationen auslösen kann. Seine aktuellen Überlegungen kehren jedoch nicht zu der Verbindung zwischen Kritik und Krise zurück und erkennen die historischen Voraussetzungen und Bedingungen nicht. Am weitgehendsten hatte Shmuel Eisenstadts Aufarbeitung der ›Achsenzeithypothese‹, der althergebrachten Vorstellung eines großen eurasischen Zeitalters der politisch-kulturellen Transformation im ersten Jahrtausend unserer Zeitrechnung, das Ziel, die Unterscheidung zwischen der bestehenden Welt und anderen möglichen Welten, sowie die Dynamik, die die Existenz einer solchen Unterscheidung potenziell erzeugt, historisch nachzuzeichnen (siehe jetzt Arnason u.a. 2005). Näher an unserer eigenen Zeit liegt Reinhart Kosellecks Analyse des sozio-politischen Wandels in der Post-Aufklärungs-Ära, Kritik und Krise von 1959, die am Anfang der bedeutenden Arbeiten des Autors zu begrifflichem Wandel stand, und in der Koselleck eine spezifische Neufassung der Verbindung zwischen Kritik und Krise in den großen Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts und frühen 19. Jahrhunderts vorschlägt und wohl die erste voll ausgearbeitete Version eines solchen Argumentes darlegt. Insbesondere führt seine Beobachtung, dass sich der menschliche »Erwartungshorizont« von dem »Erfahrungsraum« löst, in dem die Menschen leben (Koselleck 1979), in anderen Worten die Unterscheidung zwischen »Realität« und möglichen »Welten« ein, welche nach Boltanski den Raum für Kritik eröffnet. (b) Während Kosellecks Werk eine historische Verortung für die Debatte über die europäische Moderne leistet, bietet Cornelius Castoriadis’ Analyse der imaginären Institution der Gesellschaft (1975; 1990) und der Unterscheidung zwischen dem gründenden und dem begründeten Moment – die nur einmal von Boltanski erwähnt wird – eine konzeptionelle Fundierung für eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Situationen der Moderne an. Castoriadis bestand darauf, dass unsere gegenwärtigen westlichen Gesellschaften, auch wenn er sie eher als »liberale Oligarchien« denn als Demokratien bezeichnet hat, zumindest teilweise auf dem Autonomieprinzip errichtet worden sind. Dieses Prinzip wurde durch die mächtige Präsenz des kapitalistischen Drangs, die rationale Beherrschung (oder die pseudo-rationale pseudo-Beherrschung, wie Castoriadis gerne sagte) zu steigern, geschwächt, aber es ist nicht verschwunden und bleibt für eine erneute Aneignung und Kritik der Realität präsent. Boltanski hin-

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gegen fertigt die politische Philosophie als »die Fiktion, die als Grundlage für die Institutionen dient« ab und berücksichtigt den »Imperativ der Rechtfertigung«, welcher unsere Gesellschaften und Institutionen durchzieht, nicht – oder doch kaum. Allerdings sollte die politische Philosophie besser als eine potenzielle Ressource für Kritik gesehen werden, zumindest für »reformistische Kritik«, aber in vielen aktuellen Situationen auch für viel mehr als das. Boltanski scheint hier »fundamentale Demokratisierung« (Karl Mannheim) als ein eher irrelevantes »Oberflächenphänomen« (Adorno in einer Rezension Mannheims) zu betrachten und trägt somit unglücklicherweise zu einer Vernachlässigung des Politischen bei, die einen Großteil der Kritischen Theorie, sowohl in der Frankfurter als auch in der Pariser Variante, kennzeichnet. Anders ausgedrückt vermag er nicht zu erkennen, dass die Institutionen der Moderne – zumindest potenziell – anderer Art sind als andere Institutionen. Sie geben nicht die »Realität der Realität« vor, sondern basieren auf der ständigen Möglichkeit einer Anfechtung ihrer eigenen gegenwärtigen und somit spezifischen Grundlagen im Namen der Autonomie (siehe Kalyvas 2005; Karagiannis 2010). Es bleibt dennoch wahr, dass die Transformationen des Kapitalismus eine Realität hervorgebracht haben, die einem konstanten Wandel unterliegt, und in der ein solcher Wandel einerseits als gut und notwendig angesehen wird, andererseits aber durch eine sachliche Logik und somit ohne Rückgriff auf Autonomie gesteuert zu werden scheint. Hannah Arendt (1958) hat schon von diesem Phänomen als dem Risiko einer »Weltlosigkeit« gesprochen und es zu einem zentralen Aspekt ihres Kritikmodells gemacht, weil Menschen eine gemeinsame Welt – nicht »Realität«, da dies ein Sprechakt, ein Akt des miteinander Sprechens ist – errichten müssen, die eine gewisse Stabilität erfordert, ohne die sie nicht geteilt werden könnte. Eine solche Gestaltung einer gemeinsamen Welt ist aufgrund der Allianz von Wissenschaft und Kapital immer problematischer geworden, wie Boltanski zu Recht betont, indem er sich auch auf die neuere Wissenschaftssoziologie bezieht. Sie ist jedoch auch aus dem Grund problematisch, dass es schlicht schwierig ist, starke substanzielle Übereinkünfte zwischen zahlreichen, an Deliberation teilnehmenden Akteuren auf der Grundlage einer »equal humanity« zu erreichen (siehe Wagner 2008, Kapitel 6 für detailliertere Ausführungen). Boltanski konzentriert sich – wenn auch auf andere Weise – auf dieses Risiko eines Weltverlusts, gegen welches dringend eine radikale Kritik erarbeitet werden müsse. An dieser Stelle scheint

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er jedoch aus dem Blick verloren zu haben, dass eine solche Kritik in den sprachlichen Interaktionen zwischen gewöhnlichen Mitgliedern unserer Gesellschaften, basierend auf ihren Erfahrungen, gegründet werden muss. Er riskiert, auf die Position eines kritischen Theoretikers zurückzufallen, der von seinen Zeitgenossen weit entfernt ist und ein überlegenes Verständnis von der Welt hat. Um das Risiko der Weltlosigkeit zu bekämpfen, muss man vielmehr eine Welt-Soziologie der Moderne entwickeln, um ein intellektuelles Werkzeug zu haben, das sowohl auf den kritischen Interpretationen, die die gegenwärtigen Bewohner der Moderne von ihren Erfahrungen geben, als auch auf der Analyse der aktuellen globalen Institutionen als den Sedimenten früherer interpretativer und problemlösender Handlungen basiert. Übersetzung aus dem Englischen: Manon Westphal

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I. Auch wenn im Folgenden vor allem von Historiografie und nicht von Kunst die Rede sein wird, muss ich zugeben, dass dieser Essay seinen Titel einer Einladung verdankt, die ich vor Kurzem von Professor Christopher Pinney, dem renommierten Historiker der visuellen Kultur Südasiens, erhielt. Pinney lud mich ein, auf einer kunsthistorischen Tagung zu sprechen, die er im Mai 2008 an der Northwestern University in Chicago ausrichtete. Im selben Jahr fand eine wunderbare Ausstellung »zeitgenössischer Kunst aus Indien« im Chicago Cultural Center statt. Die Kunstwerke von Gulammohammed Sheikh, Nalini Malani, Subodh Gupta, Vivan Sundaram und anderen waren schon für sich genommen eindrucksvoll und großartig. Doch der Katalog der Ausstellung »New Narratives: Contemporary Art from India« machte deutlich, welche Bedeutung des Begriffs ›Zeit‹, Worten wie ›neu‹ oder ›zeitgenössisch‹ zugrunde gelegt wurde (Seid 2007). Indische Kunst konnte ›zeitgenössisch‹ sein, weil sie, wie die Kuratorin Betty Seid in der Einleitung des Bandes schrieb, »die weltweite Anerkennung [Indiens] als bedeutender Akteur im neuen Jahrtausend widerspiegelt«. Amerikanische Museen hatten es vermieden, indische Kunst zu kaufen oder auszustellen, bis sie wirklich zeitgenössisch wurde, also etwas, das sich von einem »In-einem-ethnographischen-Modus-des-Selbst-Vergleichs-Feststecken« zu einem Zustand hinbewegt hatte, in dem »zeitgenössische Welt-Künstler aus Indien nun einmal in Indien leben und arbeiten« (Seid 2007: 13). »Westliche Kuratoren zeitgenössischer Kunst beginnen« nun, »in puncto Indien zu ›schalten‹«, doch es ist leicht zu sehen warum: Sie beginnen sich für Indien zu interessieren, weil indische Künstler jetzt endlich aufholen.

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Wurde Indien den Fluch der Verspätung jemals los? fragte ich mich. Im selben Katalog heißt es über die Geschichte der Moderne und der feministischen Kunst in Indien weiter: »Wie die Moderne kam auch die feministische Kunst später nach Indien als in den Westen« (Seid 2007: 15). Indische Kunst wird erst dann ›global‹ oder ›Teil der Welt‹, wenn sie den Punkt erreicht, der im Westen als ›zeitgenössisch‹ anerkannt wird, ein Punkt, an dem sich der Westen mutmaßlich schon immer befand, jedenfalls lange, bevor die indische Kunst dort angelangte. »Die Kommunikationsmöglichkeiten unseres elektronischen Zeitalters haben eine globale Erkenntnis der Kunst produzierenden Welt ermöglicht, die vielen indischen Künstler aus der Mitte des Jahrhunderts nicht zur Verfügung stand«, erläutert der Katalogessay und fährt fort: »Vor der Unabhängigkeit 1947 war moderne westliche Kunst in Indien praktisch unbekannt. Indische Künstler waren nicht mit der allmählichen Entwicklung der modernen Kunstgeschichte konfrontiert gewesen. Stattdessen wurden sie von ihr in ihrer Gesamtheit bombardiert, mit Ausstellungen in Indien und mit der seit Kurzem gegebenen Möglichkeit, im Ausland zu studieren und zu reisen.« (Seid 2007: 19)

Ich fühlte mich von Professor Pinneys Einladung geehrt, doch für mich berührte sie das Thema der Verspätung sowohl in formaler als auch in persönlicher Hinsicht. Zunächst einmal wurde ich verspätet für die Tagung ausgewählt. Der zweite Hauptredner sagte im letzten Moment ab, und ich wurde als Lückenbüßer in die Tagung hineinkatapultiert. Ich hatte das Gefühl, mich in einer Situation zu befinden, die das All India Radio einmal mit der Formulierung »Anstelle des eigentlich vorgesehenen Künstlers« zu beschreiben pflegte. Ich wurde sehr herzlich, aber verspätet eingeladen; niemand war schuld daran, doch so war es nun mal. Außerdem betrafen auch einige der Themen, die Professor Pinney in dem von ihm in Umlauf gesetzten Tagungsstatement skizziert hatte, die Idee der Verspätung. Die Tagung, so das Statement, sollte ein Fenster auf »die Logik einer gewissen Art der historiographischen Praxis sein«. Bestimmte Formen der Kunstproduktion werden aus den Kanons der Kunstgeschichte ausgeschlossen, weil sie als »verspätet« angesehen werden, und die Moderne in Indien schien mir ein Beispiel hierfür. »Steht hier eine einzelne Temporalität auf dem Spiel?«, fragte das Statement. Tatsächlich verdankte es sich einem Geist der Auflehnung gegen alle derartigen Urteile: »Ist der vermeintlich

Verspätung und Modernität: Subalterne Historien, wieder mal

universalisierende Raum des White Cube selbst nur eine euroamerikanische Fantasie […]? Diktiert eine globale Praxis eine Heterogenität, die die Möglichkeit des ›Globalen‹ scheut? […] Kann man Territorien zugunsten von ›Flüssen‹ aufgeben?« Und sie wandte sich auch ganz unmittelbar der Frage nach dem Urteil zu: »Wie kann es in unvertrauten ästhetischen Welten zu Wertzuschreibungen kommen? […] Sind solche Zuschreibungen […] für eine Weltkunst notwendig?« (Tagungsstatement, »(World) Art: Art History and Global Practice«, Northwestern University, 23.-24. Mai 2008). Meine Zustimmung, verspätet über Verspätung zu sprechen, erinnerte mich an einen Witz aus meiner Heimatstadt Kalkutta. Wenn man ältere bengalische Bürger anspricht, so fügt man ihrem Namen am Ende häufig ein achtungsvolles ›da‹ hinzu, also etwa Ashisda für Ashis Nandy, oder Ranajitda für Ranajit Guha. Als Derrida die Stadt vor einigen Jahren besuchte, um eine Buchmesse zu eröffnen und dort zu sprechen, gingen Menschen, die mit ausländischen Gepflogenheiten nicht vertraut waren, davon aus, dass es sich bei ihm wahrscheinlich um einen älteren bengalischen Mann handele, dessen eigentlicher Name ›Deri‹ war, ein Wort, das auf Bangla passenderweise ›Verzögerung‹ bedeutet, und dass es sich um einen Ausdruck des Respekts handelte, dass man ihn ›Deri-da‹ nannte. Nachdem also klar war, dass ich nur anstelle eines anderen an dieser Tagung würde teilnehmen können, wurde ich über diese Assoziationskette mit dem bekannten Philosophen auf einen der Gedanken gebracht, die ich in diesem Essay näher ausführen werde, nämlich die Beziehung zwischen Verspätung und Verschiebung, denn ich glaube, dass Verspätung aufgrund dieser Verbindung zu einer Gelegenheit oder einer ›Möglichkeit‹ wird, ein Zusammenhang, den ich im Titel dieses Essays andeute. Die von Professor Pinney in seinem Tagungsstatement aufgeworfenen Fragen hallen in den Sälen subalterner Historien nach, in denen ich bei meiner Arbeit als Historiker verkehre. Das Thema der Verspätung und ein gewisser Geist der Auflehnung dagegen sind in den Subaltern Studies höchst präsent. Diese Diskussion war ein entscheidender Teil des Prozesses, durch den die Subaltern Studies, eine Reihe, die wir immer nur als indisches Projekt zu begreifen vermochten, ein Teil der globalen oder Welt-Geschichte wurden. Während Professor Pinneys Tagung das Wort ›Welt‹ im Ausdruck »(Welt-)Kunst« einklammerte, möchte ich über die Welt sprechen, die sich bildet, wenn man Verspätung in Möglichkeiten verwandelt. Man wird dann sehen, dass es dasselbe Problem des Urteils, das sich in der Kunstgeschichte stellt, wenn man die Trope der Verspätung benutzt, auch

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in der politischen Historiografie gibt: Wie bewerten wir Entwicklungen in der subalternen Historie, während diese Historie Teil einer emergenten globalen Formation wird?

II. Gleich vom Moment ihrer Geburt an wurden die Subaltern Studies von mehreren Kommentatoren als ein »verspätetes« Projekt begrüßt, das auf dem Subkontinent das durchführte, was die britische »Geschichte von unten« schon vor Längerem erreicht hatte. Arif Dirlik war einer der bekannteren dieser Kritiker. Verspätung in der Geschichte war an sich kein neues Problem. Alexander Gerschenkron, der renommierte Harvard-Historiker, der in den frühen 1960er Jahren das Buch Economic Backwardness in Historical Perspective schrieb, sah das Problem der russischen Modernisierung durch das Prisma der Verspätung und der Politik eines »Aufholen«-Müssens gegenüber den »moderneren« Nationen (Gerschenkron 1962). Der indische Premierminister Nehru pflegte nach der Unabhängigkeit häufig zu sagen, Indien müsse in wenigen Jahrzehnten das erreichen, wofür die Amerikaner einige Jahrhunderte benötigt hätten. »Verspätung« war, wie ich in Provincializing Europe zu zeigen versucht habe, ein wesentlicher Bestandteil einer bestimmten historistischen Perspektive, die im 19. Jahrhundert aufkam. Wie die von mir zitierten Stellen aus dem Katalog der Ausstellung in Chicago letztes Jahr deutlich gemacht haben sollten, bestimmt diese Perspektive noch immer die kunsthistorischen Diskussionen in der Öffentlichkeit. Das Problem der Verspätung berührt ein Problem der Wiederholung (repetition) und der An- oder Wiedererkennung (re-cognition) in der Geschichte. Wenn etwas geschieht, das etwas anderem in einem Feld ähnelt, das konzeptionell durch Vorher-Nachher-Beziehungen strukturiert ist, dann ist das, was später kommt, verspätet. Dies wiederum wirft eine Frage auf, die Homi Bhabha einmal stellte, indem er Salman Rushdies Worte mit einer gewissen Dringlichkeit benutzte: Wie kommt das Neue in die Welt? (Bhabha 1994) Wie wissen wir angesichts dessen, was eine Wiederholung zu sein scheint, was neu ist? Ich möchte Ihnen zwei Thesen unterbreiten, die ein wenig paradox klingen mögen. Meine erste These lautet: Neues kommt durch Akte der Verschiebung in die Welt. Meine zweite: Das Neue verwirrt das Urteil,

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weil das Urteil dazu neigt, das Neue als Wiederholung und daher als defizitär zu begreifen. Das Neue lässt sich schwer von einem Simulacrum unterscheiden, einer Fälschung, die weder eine Kopie noch ein Original ist. Für das Neue offen zu sein, heißt, eine Heidegger’sche Anstrengung unternehmen: das zu hören, was ich nicht bereits verstehe. Das Urteil, und in meinem Fall meine ich das politische Urteil, macht dies zu einer sehr schwierigen Aufgabe. Im Rest dieses Essays werde ich meine These näher erläutern und bediene mich dabei dem Beispiel der Subaltern Studies. Doch bevor ich dies tue, dürfte es von Nutzen sein, sich kurz Gilles Deleuze zuzuwenden, der in unserer Zeit mit Sicherheit mehr über einige dieser Fragen nachgedacht hat als die meisten anderen. Deleuze trifft eine primäre Unterscheidung zwischen »Wiederholung« und »Allgemeinheit« und unterscheidet dann weiter zwischen »Wiederholung« und »Ähnlichkeit«. »Die Wiederholung ist nicht die Allgemeinheit«, schreibt er und fügt hinzu: »Es besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen der Wiederholung und jeder noch so großen Ähnlichkeit. Die Allgemeinheit«, so Deleuze, »macht zwei große Ordnungen geltend: die qualitative Ordnung der Ähnlichkeiten und die quantitative Ordnung der Äquivalenzen. Zyklen und Gleichheiten sind deren Symbole.« Die Wiederholung hingegen betrifft »eine untauschbare, unersetzbare Singularität. […] Wiederholen heißt sich verhalten, allerdings im Verhältnis zu etwas Einzigartigem oder Singulärem, das mit nichts anderem ähnlich oder äquivalent ist« (Deleuze 2007: 15). »Ist der Tausch das Kriterium der Allgemeinheit, so sind Diebstahl und Gabe Kriterien der Wiederholung. […] In der Gedenkfeier liegt gerade dieses Paradox offen zutage: ein ›Unwiederbringliches‹ wiederholen. Nicht ein zweites und drittes Mal dem ersten hinzufügen, sondern das erste Mal zur n-ten Potenz erheben. […] [E]s ist […] nicht die Feier des 14. Juli, die den Sturm auf die Bastille erinnert oder repräsentiert, vielmehr ist es der Sturm auf die Bastille, der im voraus alle Jahrestage feiert und wiederholt; oder es ist die erste Seerose Monets, die alle weiteren wiederholt. Man stellt also die Allgemeinheit als Allgemeinheit des Besonderen der Wiederholung als Universalität des Singulären gegenüber. Man wiederholt ein Kunstwerk als begrifflose Singularität, und nicht zufällig muß ein Gedicht auswendig […] gelernt werden.« (Deleuze 2007: 15f.)

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Die Unterscheidung zwischen Gesetz und Poesie, Geschichte und Gedächtnis, auf die dieser Abschnitt hindeutet, verleiht der Wiederholung ihre Macht zur Überschreitung. »Das Theater der Wiederholung tritt dem Theater der Repräsentation gegenüber, wie die Bewegung dem Begriff und der Repräsentation gegenübertritt, durch die sie auf den Begriff bezogen wird.« (Deleuze 2007: 26)

Deleuze macht deutlich, dass das Neue durch die Wiederholung in die Welt gelangt, doch verkleidet und mittels Verschiebung – »Die Verkleidung gehört ebenso zur Wiederholung wie die Verschiebung« (Deleuze 2005: 287) –, denn Wiederholung (so Deleuzes Lesart von Kierkegaard und Nietzsche) ist die »doppelte Verdammung von Gewohnheit und Gedächtnis« (Deleuze 2007: 23), die, wie wir sehen werden, beide dem politischen Urteil zugrundeliegen. Die Wiederholung stellt also eine Krise des politischen Urteils dar.

III. Ich möchte nun die Themen Verschiebung und Verkleidung, die beiden Aspekte der Deleuze’schen Wiederholung, anhand des Beispiels der Subaltern Studies näher erläutern. Lassen Sie mich zunächst das Thema der Verschiebung dokumentieren, anschließend werde ich mich der schwierigeren Frage der Verkleidung zuwenden. Die Reihe Subaltern Studies, mit der ich seit 1982 verbunden bin, war ein Fall politisch motivierter Historiografie. Das politische Urteil war für dieses Projekt von zentraler Bedeutung. Es ging aus einer marxistischen Tradition der Geschichtsschreibung in Südasien hervor und stand hinsichtlich der anfänglichen Ausführungen, die die Reihe leiteten, deutlich in der Schuld Maos und Gramscis. Die Tradition der Geschichtsschreibung war in Indien auf der Linken sehr stark, wenn auch – was möglicherweise kaum überraschend ist – von der englischen marxistischen oder sozialistischen Historiografie beeinflusst, der sogenannten Tradition der »Geschichte von unten« verpflichtet, bei der Persönlichkeiten wie Edward Thompson, Eric Hobsbawm, Christopher Hill, George Rudé und andere Pionierarbeit geleistet hatten. So wie Thompsons Arbeit über die englische popular history auf der Frage beruhte, welchen Beitrag die unteren

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Schichten der Gesellschaft zur Geschichte der englischen Demokratie leisteten, begannen die Historiker in der Subaltern Studies-Reihe, indem sie eine ähnliche Frage stellten: Welchen selbtstständigen Beitrag lieferten die subalternen Klassen zur Politik des Nationalismus in Indien und damit auch zur indischen Demokratie? (Thompson 1975). Doch hier endete die Ähnlichkeit. Englische marxistische Narrative der popular history orientierten sich an einem developmentalen Zeitbegriff. In dieser Geschichte starb der Bauer entweder aus oder wurde durch den aufstrebenden Arbeiter abgelöst, der sich durch Maschinenstürmerei, die Chartistenbewegung und sonstige Kämpfe für bestimmte Rechte eines Tages in die Figur des Bürgers oder des revolutionären Proletariats verwandelte. Der Bauer oder Stammesangehörige aus der Dritten Welt, der, so als würden Jahrhunderte ineinandergeschoben, plötzlich mit dem Kolonialzustand und seinem modernen bürokratischen und repressiven Apparat konfrontiert wurde, war dieser Denkweise zufolge eine »vorpolitische« Person. Er oder sie war jemand, der sozusagen die operativen Sprachen der modernen Regierungsinstitutionen nicht verstand und dennoch mit ihnen zurande kommen musste. Im Sinne der Thesen der englischen »Geschichte von unten« konnten die subalternen Klassen erst im Lauf der Zeit und indem sie sich einem Prozess der intellektuellen Entwicklung unterzogen zu einer modernen politischen Kraft heranreifen. Die Subaltern Studies begannen mit einer Ablehnung dieser Entwicklungsidee des ›Politisch-Werdens‹. Der Bauer oder der Subalterne, so der Anspruch, waren bereits von dem Moment an politisch, indem sie sich gegen die Institutionen der britischen Fremdherrschaft in Indien (Raj) auflehnten (vgl. im Einzelnen Chakrabarty 2002: Kap. 1). Ihre Aktionen waren in dem Sinne politisch, dass sie auf die institutionellen Grundlagen der Kolonialregierung, den Raj, den Geldverleiher und den Grundherrn reagierten und sich auf sie auswirkten. Wir dachten damals nicht lange über die Folgerungen unseres Anspruchs nach, dass der Subalterne politisch sein könnte, ohne einen Prozess ›politischer Entwicklung‹ zu durchlaufen. Doch die Folgerungen dieses Anspruchs waren unserer Historiografie deutlich eingeschrieben. Ich sollte erklären, dass sowohl das Vermächtnis des Imperialismus als auch das des Antikolonialismus in dieser impliziten Debatte darüber, ob der Subalterne mit der Zeit (durch eine Art pädagogische Praxis) politisch wurde oder ob die Figur des Subalternen gesetzmäßig politisch war, einander affizieren. Entwicklungszeit oder jene Zeitauffassung, die einem

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stadialen Geschichtsbild zugrunde liegt, war in der Tat ein Vermächtnis der imperialen Herrschaft in Indien. Dies ist die Zeit des »Noch nicht«, wie ich sie in Provincializing Europe genannt habe. Europäische politische Denker wie Mill, und selbst Marx, benutzten diese Zeitstruktur so, wie sie Geschichte dachten. Nationalisten und Antikolonialisten hingegen lehnten diese Zeitvorstellung im 20. Jahrhundert ab, indem sie sofortige Autonomie forderten, ohne eine Warte- oder Vorbereitungszeit, ohne Verzögerung: »Jetzt«. An die Stelle der Struktur des »Noch nicht« trat in ihrer Vorstellung der Horizont des »Jetzt« (vgl. Chakrabarty 2000: Einleitung). Im 19. Jahrhundert begründeten die Briten gegenüber gebildeten Indern ihre Ablehnung der Autonomie damit, sie seien nicht repräsentativ für die große Masse des indischen ›Volkes‹. Die Antwort darauf lieferte Gandhi, der ab dem Augenblick, in dem er sich im Ersten Weltkrieg in die indische Politik einmischte, die wichtigste nationalistische Partei, den Indian National Congress, zu einer ›Massen‹-Organisation ausbaute. Er tat dies, indem er Bauern als gewöhnliche, sogenannte »Four-Anna«-Mitglieder aufnahm und ihnen innerhalb der Partei das Wahlrecht gab. Die ›Massenbasis‹ der Kongresspartei ermöglichte es ihren Anführern, den Anspruch zu erheben, ›repräsentativ‹ für die Nation zu sein, auch wenn die Armen und Analphabeten formell unter dem Raj kein Wahlrecht hatten. Die Bildungskluft, die den Bauern von den gebildeten Anführern trennte, wurde bei dieser Auffassung von Repräsentation nie als Problem betrachtet. Der Bauer, so die gängige Annahme, war durchaus imstande, Bürger-Entscheidungen zu treffen, die die Kolonialherren ihm vorenthielten. Ab Anfang der 1920er Jahre äußerte sich Gandhi im Sinne eines allgemeinen Wahlrechts der Erwachsenen in einem zukünftigen, unabhängigen Indien. Auf diese Weise wurde der Bauer, zumindest im Hinblick auf das Wahlrecht, über Nacht zu einem Bürger, ohne die Entwicklungszeit formeller oder informeller Bildung durchlaufen zu müssen; dies war das »Jetzt«, das die Nationalisten verlangten. In den Verfassungsdebatten, die in der verfassungsgebenden Versammlung unmittelbar nach der Unabhängigkeit stattfanden, trat der Philosoph und spätere Staatsmann Radhakrishnan für eine republikanische Regierungsform ein, indem er die Auffassung vertrat, Tausende Jahre der Zivilisation hätten den Bauern, trotz des Fehlens formeller Bildung, bereits auf einen solchen Staat vorbereitet (vgl. hinsichtlich der Details Chakrabarty 2000: Einleitung). Gestützt wurde dieser antikoloniale, aber populistische Glaube an die moderne politische Fähigkeit der Massen von einem anderen europäi-

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schen Vermächtnis, einer Art Poetik der Historie, der Romantik. Natürlich stimmt es, dass die aus der Mittelschicht stammenden Anführer der antikolonialen Bewegungen, an denen Bauern und Arbeiter beteiligt waren, die Idee der Entwicklungszeit und eines pädagogischen Projekts zur Ausbildung der Bauern nie völlig aufgaben. In Gandhis Schriften und denjenigen anderer nationalistischer Führer ist häufig von der Furcht vor dem gesetzlosen Pöbel die Rede, und Bildung wird darin als eine Lösung für dieses Problem aufgefasst (vgl. Pandey 1988). Relativiert wird diese Furcht freilich durch ihr Gegenteil, einen politischen Glauben an die Massen. In den 1920er und 1930er Jahren kennzeichnete diese romantische Haltung den indischen Nationalismus allgemein; viele Nationalisten etwa, die keine Kommunisten waren und auch nicht der Linken angehörten, teilten diesen Glauben. Francesca Orsini, die über Hindi-Literatur arbeitet, förderte unlängst eine Fülle von Belegmaterial zutage, das diese Tendenz dokumentiert. So schreibt, um nur zwei verstreute Beispiele aus ihrer Auswahl anzuführen, Ganesh Shankar Vidyarthi (1890-1931), der Herausgeber der Hindi-Zeitung Pratap am 31. Mai 1915 in einem Leitartikel: »Die vielgeschmähten Bauern sind unsere wahren Brötchengeber [annadata], nicht diejenigen, die sich selbst für etwas Besonderes halten und auf diejenigen herabblicken, die als unbedeutende Wesen in Armut leben und sich abrackern müssen.« (Orsini 2003)

Oder nochmals Vidyarthi am 11. Januar 1915: »Jetzt ist die Zeit gekommen, dass sich unsere politische Ideologie und unsere Bewegung nicht länger auf die Englisch-Gebildeten beschränkt, sondern sich unter dem gewöhnlichen Volk [samanya janta] verbreitet, und dass die indische öffentliche Meinung [lokmat], nicht die Meinung jener wenigen gebildeten Einzelner ist, sondern das Denken aller Schichten des Landes widerspiegelt. […] [T]atsächlich ist demokratische Herrschaft die Herrschaft der öffentlichen Meinung.« (Orsini 2003)

Es gilt festzuhalten, dass dieser romantisch-politische Glaube an die Massen auch in einem klassischen Sinne des Begriffs populistisch war. Wie der russische Populismus des späten 19. Jahrhunderts versuchte diese Denkweise nicht nur, eine ›gute‹ politische Eigenschaft in den Bauern zu erkennen, sondern trug mit diesem Schritt auch dazu bei, die sogenann-

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te ›Rückständigkeit‹ des Bauern in einen historischen Vorteil zu verwandeln. Die von dem selbstsüchtigen Individualismus des Bürgers ›unverdorbenen‹ und sich stattdessen an den Bedürfnissen ihrer Gemeinschaft orientierenden Bauern und Bäuerinnen galten als diejenigen, die bereits mit der Fähigkeit ausgestattet waren, einer Moderne zum Durchbruch zu verhelfen, die anders und kommunitaristischer war als diejenige, die damals im Westen vorherrschte (vgl. hinsichtlich einer hervorragenden Auseinandersetzung mit diesem Punkt Walicki 1989: Kap. 1 und 2, davon vor allem den Abschnitt »The Privilege of Backwardness«). Der Widerspruch, der mit dem sehr beschränkten Charakter der Bürgerrechte unter der Kolonialherrschaft und der gleichzeitigen Einbeziehung der Bauern und der armen Städter in die nationalistische Bewegung einherging, hatte eine wichtige Konsequenz. Gerade die Beschränkungen, die der Verfassungspolitik auferlegt wurden, führten daher dazu, dass das Feld, die Fabrik, der Basar, die Messe und die Straße wichtige Schauplätze des Kampfes für die Unabhängigkeit und Selbstherrschaft wurden. Und diese Schauplätze waren es, auf denen die subalternen Subjekte mit ihren charakteristischen Formen der kollektiven Mobilisierung, zu denen auch Praktiken öffentlicher Gewalt zählten, Einzug in das öffentliche Leben hielten. Die Einführung des Zeitalters der Massenpolitik in Indien wurde also durch Ideologien ermöglicht, die einige der entscheidenden globalen Kennzeichen des populistischen Denkens aufweisen. Da war zunächst die Tendenz, den Bauern oder den Massen eine bestimmte politische Integrität zuzuschreiben. Und darüber hinaus gab es die Neigung, dort, wo aus kolonialer Sicht nur Rückständigkeit und Nachteile herrschten, einen historischen Vorteil zu erkennen. Einen ›Vorteil‹ in der ›Rückständigkeit‹ zu erkennen, d.h. Verspätung als eine Gelegenheit zu begreifen, bedeutete auch eine Herausforderung der Zeit, von der eine stadiale Geschichtsauffassung ausging; es bedeutete, die Zeit des kolonialen »Noch nicht« mit der Struktur des demokratischen und antikolonialen »Jetzt« zu verflechten. Mit dieser gerafften Geschichte des romantisch-populistischen Ursprungs des indischen demokratischen Denkens – doch nicht der indischen Demokratie an sich, dies ist ein wichtiger Unterschied – möchte ich auf einen für meine Ausführungen grundlegenden Punkt hinweisen. Das in den frühen Ausgaben von Subaltern Studies (Erstveröffentlichung 1982) und in Ranajit Guhas Elementary Aspects of Peasant Insurgency in Colonial India (1983) vorhandene Beharren darauf, dass der Bauer oder der Subalterne immer schon politisch war, und nicht »vor-politisch« in irgendeinem

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entwicklungstheoretischen Sinne, wiederholte in mancher Hinsicht eine populistische Prämisse, die auf jeden Fall in den antikolonialen Massenbewegungen in Britisch-Indien impliziert war (Guha 1983: Kap. 1). Doch es gab auch, in meinem Sinne, eine Verschiebung dieses Begriffs. Der Populismus in Subaltern Studies war intensiver und eindeutiger. Zunächst einmal gab es in der Analyse der Subaltern Studies keine ›Furcht vor den Massen‹. Genauso wenig gab es, und dies lief der klassischen marxistischen oder leninistischen Analyse zuwider, eine Diskussion über die Notwendigkeit einer Organisation oder Partei. Guha und seine Kollegen ließen sich von Mao, vor allem seinem Bericht über den Bauernaufstand in der Provinz Hunan 1927, und von Gramsci, vor allem von seinen Gefängnisheften, inspirieren. Doch ihr Rückgriff auf Mao und Gramsci zeugt vor allem von der Zeit, in der Subaltern Studies entstand. Schließlich handelte es sich um die 1970er Jahre, eine Phase des globalen Maoismus, dem Althusser und andere Ansehen verschafft hatten. 1971 waren Auszüge aus Gramscis Gefängnisheften auf Englisch erschienen. Sowohl Gramsci als auch Mao wurden nach den Geschehnissen in der Tschechoslowakei 1968 als Auswege aus dem stalinistischen oder sowjetischen Marxismus gepriesen. Viele der Historiker in den Subaltern Studies waren an der maoistischen Bewegung, die Teile Indiens zwischen 1969 und 1971 erschütterte, beteiligt oder sympathisierten mit ihr (Amin 2003; Prakash 2003; Chakrabarty 2003). Doch bezeichnenderweise spielten weder Maos Hinweise auf die Notwendigkeit der »Führungsrolle der Partei« noch Gramscis scharfe Kritik an der »Spontaneität« irgendeine nennenswerte Rolle in unseren Texten. In seiner Publikation Elementary Aspects of Peasant Insurgency galt Guhas Augenmerk eindeutig dem Verständnis der Frage, wie sich die aufständischen Bauern im Britisch-Indien des 19. Jahrhunderts, sprich vor dem Zeitalter von Gandhis »Massennationalismus«, mobilisierten. Guha war bestrebt, die Bauern als kollektive Urheber dieser Erhebungen zu begreifen, indem er eine strukturalistische Analyse der Raum und Zeit erzeugenden Praktiken der Mobilisierung, Kommunikation und öffentlichen Gewalt durchführte, aus denen der Aufstand, und damit für Guha ein subalterner Bereich der Politik, bestand. Von Guhas sozialistischem Standpunkt aus gab es Grenzen hinsichtlich dessen, was die Bauern aus eigener Kraft erreichen konnten, doch diese Grenzen erforderten keine Vermittlung seitens einer Partei. Ein Kult der Auflehnung kennzeichnete die frühen Bemühungen der Subaltern Studies, die an eine von Maos während der Kulturrevolution populären Bemerkungen erinnerte: »Sich aufzulehnen

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ist gerechtfertigt.« Die Auflehnung war kein Mittel, um etwas zu erreichen, sondern sie war ein Selbstzweck. Tatsächlich könnte man aus einer globalen Perspektive sagen, dass die Subaltern Studies das letzte, oder das aktuellste, Beispiel einer langen globalen Geschichte der Linken waren: die romantisch-populäre Suche nach einem nicht-industriellen revolutionären Subjekt, die im 19. Jahrhundert unter anderem von Russland ausging. Dieser romantische Populismus prägte einen Großteil des Maoismus im 20. Jahrhundert und hinterließ seine Spur in den Antinomien und Mehrdeutigkeiten von Gramscis Gedanken zur Partei als dem »Modernen Fürsten«. Die ehemals globale und inhärent romantische Suche nach einem revolutionären Subjekt außerhalb des industrialisierten Westens hatte also eine lange Geschichte und zog von Russland im späten 19. Jahrhundert in die koloniale und semi-koloniale, um mich eines maoistischen Ausdrucks zu bedienen, »dritte« Welt im 20. Jahrhundert weiter. Das politische Potenzial dieser Romantik hat sich heute erschöpft. Doch im Rückblick kann man erkennen, was diese Geschichte der Suche nach einem revolutionären Subjekt in den relativ wenig industrialisierten Ländern der Welt so schwer machte. Ein solches Subjekt konnte per definitionem nicht das Proletariat sein. Doch es war schwierig, ein welthistorisches Subjekt zu definieren, das in den auf Bauern basierenden Ökonomien, die von der Anziehungskraft der kapitalistischen Welt erfasst wurden, den Platz der industriellen Arbeiterklasse einnehmen würde, die nicht existierte, jedenfalls nicht in großer Zahl. Würde die Revolution, wie Trotzki sagte, ein Akt des Substitutionismus sein? Würde die Partei für die Arbeiterklasse einspringen? Konnte die Bauernschaft unter der Führung der Partei die revolutionäre Klasse sein? Würden es die Kategorie »Subaltern« oder Fanons »Verdammte dieser Erde« sein? Als der junge Linkshegelianer Marx die Kategorie des Proletariats als neues revolutionäres Subjekt der Geschichte ausheckte, das an die Stelle des Bürgertums treten würde – und er tat dies bevor Engels 1844 sein Buch über die Arbeiterklasse von Manchester verfasste –, war diese Kategorie philosophisch präzise. Außerdem schien sie in der aus der Industriellen Revolution hervorgehenden Arbeiterklasse ein soziologisches Korrelat zu finden. Aber Bezeichnungen wie »Bauern« (Mao), »Subaltern« (Gramsci), »Die Verdammten dieser Erde« (Fanon) oder »Die Partei als das Subjekt« (Lenin/Lukacs) sind weder in philosophischer noch in soziologischer Hinsicht präzise. Es war so, als sei die Suche nach einem revolutionären Subjekt, das (in Ermangelung einer großen Arbeiterklasse) nicht-das-Prole-

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tariat war, eine Übung in einer Serie von Verschiebungen des ursprünglichen Begriffs, des Proletariats. Fanon selbst ist ein bezeichnender Fall. Wie David Macey, Fanons Biograf, hervorgehoben hat, war der Ausdruck »die Verdammten dieser Erde« eine Anspielung auf den Wortlaut der Kommunistischen Internationale, »›Debout, les damnés de la terre‹/›Wacht auf, Verdammte dieser Erde‹«, und verwies dort eindeutig auf das Proletariat. Doch Fanon verwendete ihn in einem anderen Sinne; bei ihm meinte er nicht das Proletariat. Er konnte dieses andere Subjekt nicht eindeutig definieren, aber er ließ keinen Zweifel daran, dass es sich in der Kolonie nicht um das Proletariat handeln konnte. Es genügt, sich daran zu erinnern, dass er schon früh in seinem Buch mahnte: »Deshalb müssen die marxistischen Analysen immer etwas gedehnt werden, wenn man sich mit dem kolonialen Problem befaßt« (Fanon 1981: 33). Ein kollektives Subjekt ohne eigenen Namen, ein Subjekt, das sich nur durch eine Serie von Verschiebungen des ursprünglichen europäischen Begriffs »das Proletariat« benennen lässt, ist Ausdruck eines Zustands des Scheiterns und zugleich der eines Neuanfangs. Das Scheitern ist leicht zu erkennen. Es beruht auf der mangelnden Spezifität oder Definition. Wo fängt dies an? Zunächst einmal ist diese Ungenauigkeit ein Hinweis auf die Unangemessenheit des eurozentrischen Denkens im Kontext eines globalen Bemühens um eine sozialistische Verwandlung der Welt. Außerhalb der industrialisierten Länder war das revolutionäre Subjekt selbst in theoretischer Hinsicht nicht definiert. Die Geschichte dieser Ungenauigkeit läuft auf die Anerkennung der Tatsache hinaus, dass wir, wenn wir den Charakter populärer politischer Praktiken auf globaler Ebene mittels Begrifffen verstehen wollen, die in Europa erfunden wurden, nur auf eine Reihe von Stellvertretern zurückgreifen können (unabhängig von der Tatsache, dass das Original möglicherweise ebenfalls ein Simulacrum war). Warum? Weil wir an den und über die Grenzen des europäischen politischen Denkens arbeiten, gerade da wir eine Verwandtschaft zur europäischen revolutionären Romantik des 19. Jahrhunderts einräumen. Die Anerkennung des Stellvertretercharakters von Kategorien wie ›die Massen‹, ›der Subalterne‹ oder ›der Bauer‹ ist, so meine These, der erste Schritt zum Verfassen von Geschichten der Demokratien, die durch die Massenpolitik des antikolonialen Nationalismus entstanden. Zweifelsohne handelt es sich hier um ein Massen-Subjekt. Doch es lässt sich nur fassen, indem man sich bewusst durch die Grenzen des europäischen Denkens hindurcharbeitet. Eine unmittelbare Suche nach einem revolutionären

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welthistorischen Subjekt führt lediglich zu Stellvertretern. Das globale und theoretische Scheitern, einen eigenen Namen für das revolutionäre Subjekt zu finden, das nicht-das-Proletariat ist, begründet so die Notwendigkeit eines neuen Denkens und Forschens außerhalb des Westens und führt zu einer Reihe von Verschiebungen der einstmals europäischen Kategorie, des Proletariats.

IV. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ein Großteil des sozialistischen politischen Denkens außerhalb des Westens aufgrund eines kontinuierlichen Prozesses des Durcharbeitens europäischer Kategorien möglich gemacht wurde, um sie von dem Ort ihrer ursprünglichen Bedeutung zu verschieben. So viel zum Thema der Verschiebung, das, wie Deleuze uns erinnert hat, ein entscheidender Teil der Überschreitungsmacht der Wiederholung ist. Doch wie verhält es sich mit dem Thema der Verkleidung? Das Thema der Verkleidung betrifft unsere Fähigkeit, das Neue zu benennen und zu erkennen. Hier zeigt sich, um nochmals mit Deleuze zu sprechen, die Spannung zwischen Allgemeinheit und Wiederholung, zwischen Gesetz und Dichtung, zwischen Geschichte/Soziologie und Erinnerung am deutlichsten und veranschaulicht, wie das politische Urteil das Neue zu zähmen versucht. Betrachten wir noch einmal den grundlegenden Text der Subaltern Studies, Ranajit Guhas Elementary Aspects of Peasant Insurgency in Colonial India. Welchen Status hat die Kategorie des ›Politischen‹ in Guhas (und unserem) Disput mit Hobsbawm, dass die Bauern und die Stammesmitglieder nicht »vor-politisch« waren, sondern de facto genauso politisch wie die Briten oder die Mittelschicht? (Guha 1983: Kap. 1). Der Status ist mehrdeutig: Die Bauern waren politisch in dem bereits vereinbarten Sinn des Begriffs – insofern sie sich mit den Institutionen der Kolonialherrschaft auseinandersetzten –, aber sie waren auch ›politisch‹ in einem anderen Sinne, über den wir uns überhaupt nicht klar waren. Der politische Anspruch, dass die Bauernaufstände des 19. Jahrhunderts politisch waren, konnte nur kraft der Annahme erhoben werden, und dies bleibt eine Annahme, dass wir uns bereits vollständig darüber klar waren, was ›politisch sein‹ bedeutete. Das, was an dem Widerstand der Bauern im Indien des 19. Jahrhunderts neu war, konnte nur im Gewand der alten Kategorie ›Politik‹ ausgedrückt werden.

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Etwas ganz Ähnliches geschieht – um ein weit entferntes Beispiel zu zitieren, das zeigen wird, dass das Problem kein rein historiografisches oder indisches ist – in dem bahnbrechenden Werk des australischen Historikers Henry Reynolds über den Widerstand der Aborigines gegen die Besetzung Australiens durch die Weißen im 19. Jahrhundert. Man nehme etwa sein Buch Fate of a Free People, das den Widerstand der Aborigines in Tasmanien im 19. Jahrhundert analysiert. Reynolds ist sich der europäischen Wurzeln der modernen Idee des Politischen bewusst. Er schreibt, dass einige europäische Siedler erstaunt darüber waren, unter den Ureinwohnern »Ideen von ihren natürlichen Rechten« vorzufinden, was Reynolds zu Recht als europäische Versuche betrachtet, »unter europäischen Gesichtspunkten« das Welt-Schaffen (world-making) zu deuten, das sie bei den australischen Ureinwohnern antrafen. Doch auch wenn er die Historien ablehnt, die von früheren weißen Historikern und Chronisten verfasst wurden, beharrt Reynolds, ganz ähnlich wie Guha, auf der Anwendbarkeit der Kategorie des ›Politischen‹ für die Beschreibung des Widerstands der Aborigines. Er stellt »die eindeutige Annahme [in Frage], die Tasmanier seien außerstande gewesen, politisch aktiv zu werden«, beschreibt den Aborigines-Anführer Walter Arthur aus dem 19. Jahrhundert als »den ersten Aborigines-Nationalisten« und reißt die Idee des ›Nationalismus‹ aus ihrer Verankerung in der Geschichte der modernen Institutionen (Reynolds 1995: 11, 23, 69). ›Politik‹ und ›Nationalismus‹ sind hier eindeutig unterdeterminierte, teils soziologische und teils rhetorische Kategorien, die der Forderung nach Präzisierung nicht völlig offen gegenüberstehen. Und diese rhetorische Ungenauigkeit ist es, in der das Neue verkleidet wird. Oder man nehme Partha Chatterjees Kategorie »der Regierten«, abermals ein Begriff in der Reihe der Verschiebungen des revolutionären Subjekts, die ich bereits nachgezeichnet habe. Nachdem er den Überlebenskampf, darunter den Diebstahl von Strom, dokumentiert hat, bei dem subalterne und andere Gruppen in der Tat ihre Lektionen lernen und der in einer Stadt wie Kalkutta Tag für Tag stattfindet, macht er »die Regierten« gegen Ende seiner Vorlesungen zu diesem Thema plötzlich zu den Schöpfern von etwas, das selbst Aristoteles anerkennen dürfte, nämlich der Demokratie. »Was ich zu zeigen versucht habe«, schreibt er, »ist, dass Menschen, neben dem abstrakten Versprechen der Volkssouveränität, im Großteil der Welt neue Möglichkeiten ersinnen, bei denen sie wählen können, wie sie regiert werden sollten.« Er räumt ein, dass »viele der Formen der politischen Gesellschaft« und ihrer rechtswidrigen Aktivitäten nicht

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auf »Aristoteles’ Zustimmung« gestoßen wären. Doch er glaubt, dass der »weise Grieche«, wenn er Chatterjees Beweise sehen könnte, tatsächlich eine »ethische Rechtfertigung« der Demokratie in Volksaktionen erkennen würde, die er andernfalls missbilligt hätte (Chatterjee 2004: 77f.). Mir geht es wiederum um die Mehrdeutigkeit dieser Bewegung, die Behauptung, dass Volksaktionen im alltäglichen Kalkutta zwar nicht immer demokratisch aussehen mögen, aber dennoch eine zukünftige Demokratie ankündigen. Natürlich ist es durchaus möglich, dass das Alltagsleben in Kalkutta einer Zukunft entgegenblickt, für die wir einfach noch keine Kategorie haben. Doch in Chatterjees Prosa ist es wieder einmal die Mehrdeutigkeit des alten und des neuen Gebrauchs des Wortes ›Demokratie‹, in der sich das tatsächlich ›Neue‹ dessen, was in Kalkutta passiert, zeigt und verbirgt. Mal sieht man es, dann wieder nicht. Mein letztes Beispiel für die Verkleidung des Neuen ist Hardts und Negris bekannte Kategorie der »Multitude« (Menge, Vielheit), ein weiterer Kandidat für meine Liste von Begriffen, die das ursprüngliche revolutionäre Subjekt Europas verschieben. Die Verkleidung entbehrt nicht der Ironie angesichts eines Buches, das in seiner ersten Hälfte, in einer Deleuze’schen Gesinnung, versucht, dessen Herr zu werden, was die Vorherrschaft in der Welt ausmacht: das Empire. Doch ihre revolutionäre Agentur, »die Multitude«, muss, auch wenn sie auf spinozistische Weise als immanent begriffen wird, ein »angemessenes Bewusstsein« erlangen – es finden sich hier Anklänge an Hegel und Marx –, um politisch zu sein. »Wie können die Handlungen der Menge politisch werden?« fragen die Autoren. Ihre Antwort: »Die einzige Antwort, die wir […] geben können, lautet: Das Handeln der Menge wird zuallererst dann politisch, wenn es sich unmittelbar und in angemessenem Bewusstsein gegen die zentralen Unterdrückungsaktionen des Empire richtet« (Hardt/Negri 2000: 399; dt. 2003: 406). Es bleibt mir noch, meine letzte Frage zu stellen: Warum verbindet sich Verschiebung mit Verkleidung, um ausgerechnet die Struktur der Wiederholung zu erzeugen? Dies geht meines Erachtens auf ein Problem zurück, auf das Marx bereits vor langer Zeit Bezug genommen hat. Das Neue kommt als Herausforderung für das Urteil und das Gesetz in die Welt. Deshalb bezieht Deleuze sich durch die Figur der Poesie darauf. Das politische Urteil ist mit dem Alten verknüpft. Man tut gut daran, sich zu erinnern, dass selbst Homi Bhaba, dessen produktive Vermittlungen der postkolonialen Kondition nicht viel über die Bedingungen für den Kampf für den Sozialismus, im herkömmlichen Sinne, zu sagen hatten, seinen

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Weg als Theoretiker des Postkolonialismus mit der Attitüde des Anschlusses an jene sozialistische Politik begann, so wie sie in Großbritannien in den 1980ern verstanden wurde (Bhabha 1988). Ich meine, dass Marx in einem Moment des Nachdenkens über das Problem der Wiederholung und der Ähnlichkeit in der Geschichte, und damit über die Figur des Verspäteten, seinen Finger auf die notwendige Verkleidung des Neuen legt. Diese Zeilen sind in der Tat nur allzu bekannt, doch im Kontext dieser Diskussion lohnt es sich meines Erachtens, sie zu wiederholen. Marx soll also, mit einer kleinen Einschränkung, das letzte Wort haben: »Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken […]. Die Tradition aller todten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, […] noch nicht Dagewesenes zu schaffen, […] beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüme, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen.« (Marx 2007: 9)

Marx geht davon aus, dass dieser Prozess ein glückliches hegelianisches Ende finden wird. Wie Sie wissen, vergleicht er ihn mit der Erfahrung, die ein Mensch beim Erlernen einer neuen Sprache macht: »So übersetzt der Anfänger, der eine neue Sprache erlernt hat, sie immer zurück in seine Muttersprache, aber den Geist der neuen Sprache hat er sich nur angeeignet und frei in ihr zu produzieren vermag er nur, sobald er sich ohne Rückerinnerung in ihr bewegt und die ihm angestammte Sprache in ihr vergißt.« (Marx 2007: 9f.)

Wir stehen einem solchen glücklichen Ausgang zu Recht skeptisch gegenüber. Wir bleiben an den Resten und Versäumnissen der Übersetzung interessiert, die immer wieder zurückkehren, das von der Übersetzung Erreichte heimsuchen und ihm Ungemach bereiten. In der Tat ist dies der Punkt, an dem wir uns möglicherweise von Marx und seiner Nachkommenschaft lösen müssen, wenn wir das Problem der Wiederholung und der Verspätung in unserer Zeit betrachten. Übersetzung aus dem Englischen: Nikolaus G. Schneider

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Entangled. Interdisziplinäre Modernen Eine literaturwissenschaftliche Moderation Martina Wagner-Egelhaaf

Interdisziplinäre Forschungsverbünde sind in der gegenwärtigen Wissenschaftslandschaft nicht nur bei Drittmittelgebern und, damit zusammenhängend, bei Hochschulleitungen hoch angesehen, sondern sie bieten den aus unterschiedlichen Disziplinen kommenden beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern Foren der Auseinandersetzung, die mit ebenso vielen Schwierigkeiten wie Chancen verbunden sind.1 Interdisziplinarität ist ein wissenschaftspolitisches Programm, das seine Suggestivität aus der Vorstellung gewinnt, dass die multiperspektivische, verschiedene Fachkompetenzen bündelnde Arbeit an einem gemeinsamen Thema einen Mehrwert gegenüber der disziplinär beschränkten, selbstgenügsamen Arbeit des einzelnen Wissenschaftlers bzw. der Wissenschaftlerin am individuellen Schreibtisch erbringt. Dabei hat Jürgen Mittelstraß zu Recht darauf hingewiesen, dass Interdisziplinarität nicht in der additiven Zusammenfügung disziplinärer Wissensbestandteile besteht (vgl. Mittelstraß 1986: 155). Disziplinarität und Interdisziplinarität folgen, so 1 | Der vorliegende Beitrag knüpft an die Debatten der »Multiple Modernities«AG des Exzellenz clusters »Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne« (WWU Münster) an und dis kutiert offen gebliebene Fragen und Divergenzpunkte aus einer literaturwissenschaftlichen Perspektive. Den aus Ethnologie, Politikwissenschaft, Soziologie, Rechtswissenschaft, Geschichtswissenschaft, Philosophie, Arabistik und Germanistik kommenden Kolleginnen und Kollegen der AG sei für teilweise erhitzte Diskussionen, wertvolle Denkanstöße und produktive Missverständnisse gedankt. Gedankt sei auch den Hilfskräften in Münster, Kerstin Wilhelms, Carina Wobbe und Philipp Pabst, für ›transkontinentale‹ Zuarbeit.

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Mittelstraß, unterschiedlichen Ordnungen. In dem Maß, in dem die interdisziplinäre Kooperation disziplinäre Horizonte öffnet, gibt sie Anlass, vertraute und als selbstverständlich erachtete fachwissenschaftliche Ansätze und Denkgewohnheiten kritisch zu beleuchten und sie im Hinblick auf das interdisziplinäre Projekt zu erweitern, umzuformulieren und gegebenenfalls auch ihre Unzuständigkeit zu konzedieren. Allerdings verlaufen theoretisch-methodische Trennlinien heute auch quer durch die Fächer bzw. Disziplinen.2 Makrotheoretische und mikroanalytische Ansätze stehen sich ebenso gegenüber wie Forschungslogiken, die am Erfahrungsobjekt orientiert sind, und solche, die nach dem Erkenntnisobjekt fragen (vgl. Kaufmann 1986: 69). Hinzu kommt, insbesondere seit der Postmoderne und dem sog. cultural turn, sowohl innerhalb der Geistes- als auch in den Sozialwissenschaften eine deutliche Frontstellung zwischen empirischen und konstruktivistischen Ansätzen. Daraus folgt, ungeachtet der topischen, freilich nicht zu bestreitenden Formel, ohne Disziplinarität könne es keine Interdisziplinarität geben, dass interdisziplinäre Forschung mehr und anderes ist als ein unverbindliches Gespräch zwischen den Disziplinen. »Interdis ziplinarität im rechtverstandenen Sinne geht nicht zwischen den Disziplinen hin und her oder schwebt, dem absoluten Geist nahe, über den Disziplinen. Interdisziplinarität ist vielmehr Transdisziplinarität.« (Mittelstraß 1986: 156)

2 | Dass zwischen Disziplinen und Fächern zu unterscheiden ist, insofern als erstere durch ein »theoreti sches Integrationsniveau« gekennzeichnet sind und es deshalb mehr Fächer als Disziplinen gibt, darauf verweist Jürgen Kocka in der »Einleitung« des von ihm herausgegebenen Bandes Interdisziplinarität (1986: 8). Franz-Xaver Kaufmann hebt dagegen die Unbestimmtheit des Disziplinenbegriffs hervor, die für die Schwierigkeit, Interdisziplinarität zu bestimmen, verantwortlich ist. »Wir können unterschiedliche Verfestigungsgrade wissenschaftlicher Kommunikation feststellen, die sich zudem in verschiedenen Dimensionen bewegen: gemeinsame Ursprungstraditionen, fachgesellschaftliche Zusammenschlüsse, universitäre Zuordnungsmuster, methodische Gemeinsamkeiten, gemeinsame Grundbegriffe und theo retische Prämissen sowie Affinitäten in der berufsmäßigen Anwendung sind solche offenkundige Di mensionen« (Kaufmann 1986: 63-81, 67).

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Disziplinarität und Transdisziplinarität in diesem Sinne schließen sich nicht aus. Disziplinarität, Interdisziplinarität und Transdisziplinarität, wie immer die Begriffe im Einzelnen definiert werden mögen,3 sind Aktivitäten im wissenschaftlichen Feld, die nebeneinander bestehen und auf vielfache Weise interagieren. Sie sollten nicht gegeneinander ausgespielt werden. Dass die Ausdifferenzierung der Wissenschaften als ein spezifisch modernes Phänomen wahrgenommen wird (vgl. etwa Stichweh 1979), macht das Projekt der Inter- bzw. Transdisziplinarität zum Paradigma einer sich selbst thematisierenden und sich vielleicht auch selbst problematisch gewordenen Moderne. Wo die Einheit der Wissenschaft, falls es sie je gegeben hat, ein unwiederbringliches Ideal geworden ist (vgl. Mittelstraß 1986: 152, 157), stellt sich die Frage, in welcher Weise partikulare und heterogene Perspektiven nicht homogenisiert werden müssen, sondern gerade auf der Grundlage ihrer Singularität und Spezifik gemeinsame Probleme formulieren und bearbeiten können. Im Folgenden werden literatur- und sozialwissenschaftliche Moderne-Konzepte ins Verhältnis zueinander gesetzt. Dabei wird deutlich, dass Gemeinsamkeiten und Differenzen quer durch die Disziplinen gehen. Der spezifische Beitrag der Literaturwissenschaft zur inter- und transdisziplinären Modernedebatte besteht zweifellos in ihrer Aufmerksamkeit auf die sprachliche Medialität sowohl ihrer Erfahrungsobjekte als auch des Erkenntnisobjekts Moderne. Der sprach- und zeichenkritische Ansatz der Literaturwissenschaft lenkt den Blick auf das dynamische Wechselverhältnis von sprachlicher Repräsentation und Objektkonstitution. Nicht zufällig hat der Genfer Linguist Ferdinand de Saussure zu Beginn der – literaturwissenschaftlich gesprochen – ›klassischen Moderne‹ die Nichtnatürlichkeit, die Konventionalität des aus zwei Seiten bestehenden Zeichens, dem materialen Zeichenträger (Signifikant) und der vorgestellten Zeichenbedeutung (Signifikat), herausgestellt (vgl. de Saussure 2001). Ein literaturwissenschaftliches Frageinteresse richtet sich auf die kritische Verbindung, die ›Kontaktstelle‹ gewissermaßen, dieser beiden Aspekte des sprachlichen Zeichens, nicht nur im Bereich von Literatur und Ästhetik,

3 | Es liegt nahe, von ›Interdisziplinarität‹ zu sprechen, wenn im gemeinsamen Projekt die einzeldis ziplinären Perspektiven erkennbar bleiben, und von ›Transdisziplinarität‹, wenn Forschungs fragen und Ansätze entwickelt werden, die den Horizont spezifischer Disziplinen übersteigen.

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sondern auch im wissenschaftlichen Diskurs, denn: »The ›first word‹ is quite simply the word« (Monchoachi, zit.n. Edwards 2008: 193).

1. M ODERNE LITER ATURWISSENSCHAF TLICH In der Literaturwissenschaft wird der Begriff ›Moderne‹ in zweierlei Hinsicht gebraucht, zum einen als Epochenbegriff und zum anderen zur Beschreibung einer künstlerisch-literarischen Phänomenstruktur. Implizit wird davon ausgegangen, dass sich die als modern qualifizierten Phänomene denn auch, zumindest gehäuft, in der als ›Moderne‹ bezeichneten Epoche zeigen.4 Die makrologische wird auf die mikrologische Perspektive projiziert und umgekehrt, um die Erscheinungen zu historisieren und die Epoche inhaltlich zu qualifizieren. Dabei ist die Problematik der Epocheneinteilung in der Literaturwissenschaft intensiv diskutiert worden; man ist sich ihrer Historizität, ihrer Konventionalität, ihrer mangelnden Systematik, ihrer Relativität bewusst – und behält sie aus pragmatischen Gründen zum Zweck der Literaturgeschichtsschreibung bei, auch weil man keine besseren Einteilungskriterien, die allgemein akzeptiert würden, gefunden hat. Wie Gattungsbegriffe dienen Epochenbegriffe der Strukturierung des literarischen Felds. Auch wenn es in der Gegenwart verschiedentlich Versuche gibt, das linear-chronologische Narrativ der Literaturgeschichte aufzubrechen und zu anderen Formen der Darstellung und Analyse zu gelangen,5 scheint Geschichtsschreibung doch im Grund4 | Dies ist keineswegs selbstverständlich: Denkt man beispielsweise an das Werk Georg Büchners mit seinen an sich und der Welt zweifelnden und verzweifelnden Figuren, seinem Fragmentarismus und seinen grotesken Zuspitzungen, könnte man mit Fug und Recht von einer modernen Ästhetik sprechen; als der Epoche des Vormärz zugehörig wird Büchner indessen literaturgeschichtlich anders, bestenfalls als prämodern diskursiviert. Vgl. Beutin u.a. (2001: 265): »Seitdem gilt Büchner neben Lenz, Kleist und Grabbe als einer der klassischen unzeitgemäßen ›modernen‹ Dramatiker, von den Naturalis ten ebenso wie von den Expressionisten, vom politischen Theater ebenso wie vom absurden Theater als einer der ihren in Anspruch genommen.« 5 | Vgl. Pechlivanos (1995). Die in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft erschienene, von amerikanischen Kolleginnen und Kollegen verfasste »neue Geschichte der deutschen Literatur« verzichtet zwar auf das herkömmliche Schema

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satz linear verfasst. Und wenn im Zuge von Studienreform und Modularisierung zunehmend literaturgeschichtliche Leitfäden und Abrisse auf den Markt kommen, die den Studierenden rasche Orientierung ermöglichen sollen (vgl. etwa Jeßing 2008), bleibt das an Epochen rückgebundene linear-chronologische Narrativ mehr als intakt. In diesem Sinne gilt als Zeit der sog. ›klassischen Moderne‹ die Zeit um 1900 bis zum Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft. Man geht davon aus, dass in diesen Jahren die Literatur grundlegende moderne Züge und Eigenschaften ausgeprägt hat. Diese epochale Moderne differenziert sich nicht nur in Teilmodernen – so versuchen germanistische Literaturgeschichten mit ›Naturalismus‹, ›Symbolismus‹, ›Impressionismus‹, ›Jugendstil‹, ›Jahrhundertwende‹, ›Fin de siècle‹, ›Expressionismus‹, ›Neue Sachlichkeit‹, ›Futurismus‹ das historische Feld der Moderne zu untergliedern, um es operationalisierbar zu machen –, sondern sie setzt in den verschiedenen Nationalphilologien auch durchaus unterschiedliche Markierungen. Die literaturgeschichtliche Moderne ist indessen auch eine andere als etwa die Moderne der Geschichtswissenschaft, für die das Zeitalter der Aufklärung mit seinen Leitvorstellungen der Rationalität, Toleranz und Säkularisierung maßgeblich geworden ist. In literaturgeschichtlichen Darstellungen der Moderne spielt bemerkenswerterweise Säkularisierung keine prominente Rolle. Glaubensverlust und Religionskritik werden zwar als Faktoren u.a. genannt, die das moderne Bewusstsein prägen, aber sie werden nicht als konstitutiv erachtet. Dies liegt zweifellos daran, dass unübersehbar ist, in welch bemerkenswertem Ausmaß sich spirituelle und religiöse Strömungen im weitesten Sinne gerade in der Zeit um und nach 1900 auch und gerade unter Künstlern und Intellektuellen der Aufmerksam-

der Epochengliederung, bleibt aber dennoch der Chronologie verhaftet, indem sie einzelne Da ten und Ereignisse in den Vordergrund stellt, denen aus durchaus individueller Perspektive Essays ver schiedener Autorinnen und Autoren gewidmet werden. Auf diese Weise soll die Linearität zumindest aufgebrochen und dem Heterogenen sowie unterschiedlichen, um nicht zu sagen ›multiplen‹ Perspekti ven Raum gegeben werden (vgl. Wellbery u.a. 2007). Einen anderen Versuch unternimmt Franco Moretti, der dem Prinzip der Zeit lichkeit in der Literaturgeschichte dasjenige der Räumlichkeit gegenüberstellt (vgl. Moretti 2009: 108).

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keit und der Beliebtheit erfreuen.6 Auch Helmuth Kiesel verweist in seiner 2004 erschienenen Geschichte der literarischen Moderne darauf, »daß es in Deutschland aufgrund der intensiven religiösen Vorprägung vieler Autoren aus Pfarrhäusern länger als in anderen europäischen Ländern dauerte, bis sich die Literatur aus der Fixierung auf religiöse Themen und Normen befreite« (Kiesel 2004: 65). Es habe, so Kiesel, keine breite Abwendung der Moderne von der Religion gegeben. Mit Silvio Vietta betont er sogar eine starke Affinität der Moderne zur Religion (vgl. Kiesel 2004: 66). Für die Zeit Ende des 19. Jahrhunderts verzeichnet der Heidelberger Germanist eine starke Rückwendung zur Religion und geht sogar so weit, den Katholizismus in der Moderne als bedeutende literarische Kraft zu bezeichnen (vgl. Kiesel 2004: 69; vgl. auch Braungart 1997; Braungart u.a. 1998). Wenn nach gesellschaftlichen Begründungen der Moderne gefragt wird, verweisen Literaturgeschichten viel eher als auf die Religion auf die Industrialisierung und ihre Auswirkungen, die den Menschen das Gefühl einer nicht zu beherrschenden Beschleunigung und Veränderung der Lebensverhältnisse vermittelten. Zu denken ist dabei insbesondere auch an die Erfahrung der Großstadt. So beginnt etwa Alfred Döblins frühe Erzählung Modern. Ein Bild aus der Gegenwart (1896) mit der folgenden Straßenszene, die moderne Heterogenität, beschleunigtes Lebens- und Zeitgefühl, aber auch die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zur Darstellung bringt: »Geschäftiges Leben flutete in der Leipzigerstraße. Auf dem Trottoir drängte sich ein Pêle-mêle von allen Ständen, allen Berufen. Naserümpfend betrachtete da die ›Welt dame‹ die Erzeugnisse der Hutindustrie und wies ihrer Begleiterin die ungeschickte Form dieser oder jener eleganten Kapotte. Über ihrer Schulter schaute kritischen Blicks ein junger Mann, anscheinend vom Fach, auf die Dekorationen und die Anordnung der Sorten. […] Da trottete schweren Schritts der Bankbeamte mit seiner großen Leder mappe – Ausläufer bekannter Firmen, – Bummler, der Deutsche nennt sie Flaneurs, in der Hand die lange Cigarette, mit der andern den dünnen Stock wirbelnd, Leute, die bei jedem Schaufenster stehen bleiben, – Commis, Soldaten – – alles das wogte auf dem Trottoir nebeneinander; keiner sieht auf den andern in dem Gedränge, jeder hat genug mit sich 6 | Vgl. dazu Wagner-Egelhaaf (1989). Spezifisch ›modern‹ im genannten Sinne bleibt bestenfalls die Kritik an den Amtskirchen und ihren Repräsentanten. Vgl. auch Spörl (1997).

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zu thun. […] Dann konnte ganz hinten am Dönhoffsplatz ein Heuwagen, bis zum Umfallen beladen, nicht vorwärtskommen – bis zur Friedrichsstraße standen die Pferdebahnen, eine hinter der andern. Und an dem Hindernisse da nun ein Lärm! Dick alles ringsum von Menschen besät; alles ist neugierig und fragt, schreit. Schutzleute, be rittene wie solche zu Fuß, wettern und schimpfen, einer notiert den Namen des Kut schers, der dies Pech gehabt hatte; um den Wagen selbst sind einige Leute beschäftigt. Sie schieben, heben, schreien, endlich ein gewaltiger Ruck und der Wagen ist von den Schienen herunter. Und nun rollen die Pferdebahnen, alle in doppelter Eile, – es waren ganze zwanzig Minuten Aufenthalt gewesen durch diesen verwünschten Heuwagen!« (Döblin 1981: 7f.)

Der im Wilhelminischen Reich aufkommende Imperialismus ist ebenso dafür verantwortlich, dass sich Bewusstseinshorizonte öffnen und die Grundfesten beschränkter vertrauter Welten erschüttert werden. Die gesellschaftlichen Verhältnisse im deutschen Kaiserreich werden von der jungen, sich als ›modern‹ empfindenden Generation als beengend und bedrückend erfahren, so dass der Ausbruch des Ersten Weltkriegs eine Art Ventilfunktion erhält und von ebendieser jungen Generation bekanntlich begeistert begrüßt wird. Die Erfahrung von Tod, Zerstörung und Niederlage, die der eben nicht, wie man sich ihn vorgestellt hatte, rauschhaft schnell gewonnene Krieg mit sich brachte, werden einmal mehr zu den politisch-ernüchterten Erfahrungen der Moderne. Zudem wird in der Literaturwissenschaft geistesgeschichtlich argumentiert, auf Nietzsches Fundamentalkritik der Sprache und des Denkens verwiesen; sein Diktum vom Tod Gottes (vgl. Nietzsche 1980) wird regelmäßig zitiert. Freilich wird der Tod Gottes – zu Recht – eher als Denkfigur begriffen denn mit einem tatsächlichen gesellschaftlichen Bedeutungsverlust der Religion in Zusammenhang gebracht. So heißt es etwa auch in Döblins bereits zitierter Erzählung Modern. Ein Bild aus der Gegenwart, in deren Mittelpunkt eine stellungslose Näherin steht: »Bisher hatte sie geweint, geschluchzt in jammervoller Verzweiflung – sie hatte eine Trösterin, die Religion. Sie war als fromme Katholikin auferzogen. Alle Heiligen, alle Wunder konnte sie aufzählen, viel mehr auch nicht. Und ihr gläubiges Herz hatte sie sich bewahrt, trotz aller Angriffe auf ihre ›Einfalt‹, ihre ›Klugheit‹, sie konnte ja noch beten zur reinen Jungfrau Maria, der Gebenedeiten!« (Döblin 1981: 9)

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Wenn das Bild von der Gesellschaft, das sich die Literaturgeschichtsschreibung gezeichnet hat, bisweilen holzschnittartig und unvollständig erscheint, liegt das daran, dass die Gesellschaft nicht ihr primäres Erkenntnisobjekt ist. Der Untersuchungsgegenstand der Literaturwissenschaft ist die Literatur und die Gesellschaft lediglich Kontext des literarischen Texts bzw. der literarischen Texte.7 Was Moderne ist, kann von literaturwissenschaftlicher Seite streng genommen gleichsam nur textanalytisch beantwortet werden. In allen anderen Aussagen ist die Literaturwissenschaft auf die Zulieferung aus anderen Disziplinen, vornehmlich den Sozialwissenschaften natürlich, angewiesen. Moderne ist literaturwissenschaftlich Form und literarische Struktur. In ihrer Beschreibung und Analyse liegt die spezifische Kompetenz der Literaturwissenschaft; auf die ›Gesellschaft‹ bezieht sie sich in der Regel nur als kontextuellen Verstehens- und als Ordnungsrahmen. Und die Antwort auf die Frage, ob und in welcher Weise sich literarische Strukturen im Rückgriff auf gesellschaftliche Strukturen und Zusammenhänge erklären lassen, ist bereits außerordentlich komplex8 und in der Literaturwissenschaft keineswegs unumstritten. Die zweite in der Literaturwissenschaft gebräuchliche, qualitative Begriffsverwendung von ›modern‹, auf die sich die Beschreibung künstlerisch-ästhetischer Formen und Strukturen stützt, konstatiert Krisen, ins7 | Freilich hat sich das Verhältnis von Text und Kontext seit dem New Historicism dynamisiert. Was in der älteren Literaturwissenschaft eher ein statisches Verhältnis von Text und (politischem, gesellschaft lichem, kulturellem etc.) ›Hintergrund‹ war, ist mit Stephen Greenblatt, dem ›Begründer‹ des sog. »New Historicism«, einem nach beiden Seiten aktiven Wechselverhältnis gewichen. Vgl. Greenblatt (2005). Selbstredend ist das dynamische Text/Kontext-Verhältnis des New Historicism in der Literaturwissenschaft keineswegs common sense. 8 | Auch Kiesel benennt bezeichnenderweise nur literatursoziologische ›Aspekte‹ der Moderne (vgl. Kiesel 2004: 35ff). Die in den 1960er-Jahren Aktualität erlangende ›Sozialgeschichte der Literatur‹ ging in der Regel von einem Widerspiegelungsverhältnis zwischen Literatur und Gesellschaft aus. Vgl. dagegen aber Theodor W. Adornos »Rede über Lyrik und Gesell schaft« von 1951, die gerade im Abstand des lyrischen Textes von gesellschaftlichen Bezügen seine spezifisch gesellschaftliche Leistung wahrnahm. Zu Adorno vgl. auch Edwards (2008: 189f). Die an der Universität Münster eingerichtete Graduate School Practices of Literature widmet sich ver stärkt wieder den gesellschaftlichen Bezügen der Literatur (www.uni-muenster.de/Practices-of-Literature/index.html).

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besondere die ›Krise der Sprache‹ und die ›Krise des Subjekts‹ (vgl. etwa Wagner-Egelhaaf 2002: 274-275). Die Sprachkrise führt ein weiteres Mal zurück auf den Gewährsmann des modernen Krisenbewusstseins, Friedrich Nietzsche, der in seinem Essay Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn von 1872 geleugnet hatte, dass der Sprache eine referenzialisierbare Wirklichkeit zugrunde liegt, und der ›Wahrheit‹, so lautet die berühmte Formulierung, »als ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen« qualifiziert hatte, »kurz [als] eine Summe von menschlichen Relationen, die […] nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind« (Nietzsche 1980: 880f.).9 Fritz Mauthner arbeitete in seinem dreibändigen Werk Beiträge zu einer Kritik der Sprache (1901/02) Nietzsches Impulse zu einer umfassenden Sprachkritik aus, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts breit rezipiert wurde. Das wohl immer noch bekannteste literarische Dokument moderner Sprachkritik ist Hugo von Hofmannsthals ›Chandos-Brief‹ aus dem Jahr 1902, in dem Lord Chandos seinem Freund Francis Bacon erläutert, warum er seine literarischen Projekte aufgegeben hat und sich auch fürderhin nicht mehr schriftstellerisch betätigen wird. Die Worte zerfallen ihm bekanntlich im Mund wie »modrige Pilze« (Hofmannsthal 1979: 465), d.h. sie haben für ihn ihre Bedeutung verloren. Mit de Saussure lässt sich hier an die ›Kluft‹ zwischen Zeichenträger und -bedeutung, Signifikat und Signifikant denken. Statt auf die Begriffssprache setzt Chandos allerdings auf epiphanische Erlebnisse, die ihm die geringen und hässlichen Dinge wie etwa eine vergessene Gießkanne im Garten oder ein Rattennest vermitteln. Im Hinblick auf die Frage, welche Rolle die Religion in der Moderne spielt, ist es bemerkenswert, dass gerade das Versagen der Begriffssprache neue Transzendenzen erzeugt. Der wichtigste Repräsentant der mit der Sprachkrise eng verbundenen Krise des Subjekts ist natürlich Sigmund Freud, dessen Psychoanalyse ihrerseits eine kritische Sprachtheorie enthält. In dem Maße, wie das Ich bei Freud nicht Herr im eigenen Haus ist (vgl. Freud 1947: 11), so ist auch die Sprache insofern nicht mehr bei sich, als sie von den Triebstrukturen des Unbewussten gesteuert 9 | De Saussure hat gewissermaßen die optimistische zeichentheo retische Konsequenz aus Nietzsches pessimistischer Diagnose gezogen, wenn er darauf hingewiesen hat, dass die Bedeutung sprachlicher Zeichen in ihrer Unterschiedenheit von allen anderen Zeichen im System der Sprache besteht.

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ist, dessen Sprachlichkeit Freud immer wieder betont hat, nicht zuletzt in der Beschreibung der Traummechanismen.10 Freilich ist dieses Krisenbewusstsein der ästhetischen Moderne bei aller Klage des »Nicht mehr« ein produktives; es macht die Moderne reflexiv und treibt, da wo die alten Repräsentationsformen ihre Verbindlichkeit verlieren, neue, innovative Formen der Darstellung hervor, wie etwa im Bereich der Bildenden Kunst die Abstraktion, im Bereich der Musik die Atonalität, im Bereich der Literatur Sprachspiel, Fragment und Montage. Die Reflexivität, bezeichnenderweise gerade in Bezug auf die Religion, zeigt sich im Übrigen auch in Döblins Erzählung Modern, indem die Gläubigkeit seiner Protagonistin vom Erzähler kritisch-ironisch kommentiert wird: »Alle Heiligen, alle Wunder konnte sie aufzählen, viel mehr auch nicht« (Döblin 1981: 9). Mit Nietzsche, de Saussure, Lord Chandos u.a. sind die Wörter, die Signifikanten, intakt, allein sie scheinen, aus der Perspektive des Erzählers, ihre Bedeutung verloren zu haben. Einmal mehr zeigt sich, dass die Moderne die Religion nicht hinter sich gelassen hat, sich indessen im Bezug auf sie reflektiert und verhandelt. Moderne ist in der Literaturwissenschaft aber nicht nur Geschichte und/oder (textuelles, künstlerisches) Ereignis, sondern immer auch ein Programm, d.h. eine historische (Selbst-)Zuschreibung, wie auch der Titel von Döblins Erzählung deutlich macht. In diesem Zusammenhang ist an Arthur Rimbaud zu erinnern, der bereits 1873 proklamierte: »Il faut être moderne, absolument moderne!« In Deutschland wurde die literarische Moderne wenig später ausgerufen, als Ende 1886 im Berliner Magazin für Litteratur des In- und Auslandes zehn Thesen der literarischen Vereinigung Durch! publiziert wurden, von denen die sechste lautet: »Unser höchstes Kunstideal ist nicht mehr die Antike, sondern die Moderne« (vgl. Kiesel 2004: 9, 13).11 In dieser Formulierung wird bereits deutlich – ebenso wie in Döblins Heuwagen, der den Vekehr aufhält –, dass ›modern‹ ein Relationsbegriff ist, der sich von einem Nichtmodernen abgrenzt. Das lat. ›modo‹ (›soeben‹, ›eben erst‹, ›bald‹) markiert eine zeitliche Differenz und verweist auf das Gegenwärtige bzw. ein zu Kommendes. Die berühmte »Querelle des anciens et des modernes«, die 1687 in Paris ausgelöst wurde, 10 | Vgl. Freud (1992). Namentlich die Mechanismen der »Verschie bung« und der »Verdichtung« sind in der strukturalistischen Freudrezeption, aber auch von Jacques Lacan als Metonymisierung und Metaphorisierung gelesen worden. 11 | Am 1. Januar 1887 wurden die Thesen noch einmal in der Allgemeinen Deutschen Universitätszeitung abgedruckt.

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als Charles Perrault in der Académie française die kulturelle Vorbildfunktion der Antike in Frage stellte, macht dies deutlich. Bekanntlich wurden in dieser Streitfrage, die auch nach England und im 18. Jahrhundert nach Deutschland übergriff, konträre Positionen vertreten, der Vorbildhaftigkeit der antiken Autoren Innovationswert und Genialität der neuen, der gegenwärtigen Autoren gegenübergestellt. Moderne in dieser Perspektive ist also ein Qualitätsmerkmal, das sich in der Zeit Veränderndes bezeichnet und die jeweilige, sich selbst als fortschrittlicher gegenüber der vorausgegangenen Zeit begreifende Gegenwart meint. Damit ist eine chronologische Linearität gleichsam konzeptuell impliziert. Entsprechend definiert Bruno Latour die Moderne folgendermaßen: »Die Moderne kommt in so vielen Bedeutungen daher, wie es Denker oder Journalisten gibt. Dennoch verweisen alle diese Definitionen in der einen oder anderen Form auf den Lauf der Zeit. Mit dem Adjektiv ›modern‹ bezeichnet man ein neues Regime, eine Be schleunigung, einen Bruch, eine Revolution der Zeit. Sobald die Worte ›modern‹, ›Mo dernisierung‹, ›Moderne‹ auftauchen, definieren wir im Kontrast dazu eine archaische und stabile Vergangenheit. Mehr noch, das Wort wird immer im Verlauf einer Polemik eingeführt, in einer Auseinandersetzung, in der es Gewinner und Verlierer, Alte und Moderne gibt. ›Modern‹ ist daher doppelt asymmetrisch: Es bezeichnet einen Bruch im regelmäßigen Lauf der Zeit, und es bezeichnet einen Kampf, in dem es Sieger und Be siegte gibt.« (Latour 2008: 18f.)

Relativität und (Selbst-)Zuschreibung sind die Kriterien dieses Verständnisses von Moderne, das nicht explizit normativ ist, aber doch jeweils Angaben darüber macht, warum etwa die Modernen den Alten überlegen sind, beispielsweise weil sie Neues hervorbringen und nicht am Hergebrachten hängen bleiben – hier zeigt sich, dass der Selbstzuschreibung der Modernität auch ein Moment der Redundanz eignet: Wir sind modern, weil wir uns von den Nichtmodernen unterscheiden. Die Tatsache, dass ›Moderne‹ immer auch eine historisch veränderliche Selbst-Zuschreibung ist, lässt die Unterscheidung zwischen Erfahrungs- und Erkenntnisobjekt problematisch werden. Im Falle der genannten historischen Beispiele wird das als solches schon sprachlich verfasste Erfahrungsobjekt selbst zum Erkenntnisobjekt, indem es sich bewertet, interpretiert und als ›modern‹ wahrnimmt. Damit trägt sich das Objekt selbst in den Moderne-Diskurs ein und wird als Erkenntnisobjekt wiederum zum literaturwissenschaftlichen Erfahrungsobjekt zweiter Ordnung. Will sagen: Moderne ist für

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die Literaturwissenschaft ein oszillierender Wechselblick zwischen Objekt und Interpretation, Signifikat und Signifikant, der sich nur um den Preis normativer Vereinseitigung funktional stillstellen lässt. Die von Vertreterinnen und Vertretern empirisch-normativer Disziplinen vielfach nur mit spitzen Fingern angefasste, längst für überwunden und ohnehin immer schon für abwegig erklärte Postmoderne12 stellt sowohl für die Literaturgeschichtsschreibung als auch für ein an der textuellen Medialität orientiertes literaturwissenschaftliches Interesse mehr als ein belangloses Intermezzo dar. In literaturgeschichtlicher Hinsicht ermöglicht es die Annahme einer postmodernen Phase, die im Bereich der Germanistik meist in den 1980er-Jahren angesetzt wird, das weite Feld der Moderne weiter zu untergliedern und zu spezifizieren.13 Dabei ist auch die Postmoderne im oben beschriebenen Sinn gleichermaßen Programm und Erscheinung, Erkenntnis- und Erfahrungsobjekt. Keineswegs ist die Postmoderne mit der Auffassung eines wahllosen ›Anything goes‹ gleichzusetzen, die sich möglicherweise von einem Missverständnis der Fiedler’schen Parole »Cross the border, close the gap!«14 herschreibt. Die postmoderne Theoriebildung ist z.T. mit sehr genauen zeichen- und repräsentationskritischen Infragestellungen verbunden.15 Mit Blick auf die Frage nach dem Verhältnis von Moderne und Religion gilt es festzuhalten, dass die postmoderne Literatur und Theorie das Thema des ›ganz Anderen‹ auf neue Weise aufgegriffen hat. In dem Maße, in dem Differenzialität als 12 | Da hier keine vertiefte Postmoderne-Debatte zu führen ist, wird im Folgenden nicht zwischen ›Postmo derne‹ und ›Postmodernismus‹ unterschieden. Poststrukturalistische Theorieansätze, auf die Bezug ge nommen wird, werden als epochale Ereignisse der Postmoderne gesehen. 13 | Wolfgang Welsch hat die Frage diskutiert, ob die Postmoderne Teil der Moderne sei oder als eigene Epoche angesetzt werden müsse und sich für die erste Alternative entschieden (vgl. Welsch 2002 [zuerst 1987]). 14 | So der Titel von Leslie A. Fiedlers häufig als Auftaktschrift der Postmoderne verstandenem Artikel im Playboy vom Dezember 1969 (vgl. Fiedler 1994). 15 | Vgl. Derridas (1983: insbes. 53-83) einlässliche Auseinandersetzung mit dem de Saussure’schen Zeichenbegriff in der Grammatologie, die sich an dem hierarchischen Verhältnis von Signifikat und Signifikant abarbeitet und argumentiert, dass Signifikate und Signifikanten keine vorgegebenen, in varianten Positionen sind, sondern im sprachlichen Prozess ihre Wertigkeiten austauschen, so dass aus Signifikanten Signifikate werden und umgekehrt.

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Produktivkraft wahrgenommen wurde, stellte sich die Frage nach deren Begründung, die strukturell in die Nähe negativ-theologischer Denkweisen geriet. In der Literatur trat das Apokalyptische auf den Plan (vgl. Eco 1980 sowie Ransmayr 1988; 1995), in der Theorie der Postmoderne das Erhabene (vgl. Pries 1989; 1995), das als Konzept natürlich keine Erfindung der Postmoderne war, im Zuge der postmodernen Infragestellung überlieferter Bezugsgrößen eine die Sinne des Menschen überwältigende Präsenzerfahrung jenseits des begrifflich Fassbaren auf neue Weise zu denken gab. Weder das Apokalyptische noch das Erhabene lassen sich freilich mit Religion und dem monotheistischen Gott (der ohnehin als metaphysische Einheit dekonstruiert war) verrechnen, gleichwohl setzt gerade die Postmoderne mit ihrer Radikalkritik ein Transzendenzbewusstsein frei, das sowohl zur künstlerischen als auch zur theoretischen Herausforderung wurde. Bemerkenswerterweise gilt es auch als ein Verdienst der Postmoderne, die bekanntlich mit Lyotard die großen Erzählungen verabschiedet hat (vgl. Lyotard 1979), eben durch diese Verabschiedung die Wiederkehr des Erzählens ermöglicht zu haben (vgl. Förster 1999). Da, wo gewissermaßen alle Traditionen hinterfragt und alle Einheiten aufgelöst sind, kann das Werk der Zusammensetzung neu beginnen.16 Freilich ist Erzählen – und dies kann nicht genug unterstrichen werden – nach der Postmoderne konzeptuell nicht identisch mit dem Erzählen vor der Postmoderne. Vielmehr heißt Erzählen nach der Postmoderne Erzählen im Bewusstsein seiner Kontingenz und im Wissen um seine Artifizialität: Erzählen nach der Postmoderne ist in diesem Sinne ironisches Erzählen. Eine gewisse Verlegenheit herrscht auch in der Literaturwissenschaft darüber, ob die Postmoderne an ihr Ende gekommen ist und ob wir uns gegenwärtig in der Phase der Post-Postmoderne befinden. Die Postmoderne scheint sich in den 1990er-Jahren einfach stillschweigend, ohne sich programmatisch zu verabschieden, totgelaufen zu haben, und wenn man sie mit Wolfgang Welsch als Teil der Moderne betrachtet,17 kann man getrost davon ausgehen, dass der postmoderne Auf- und Ausbruch sich wieder in die longue durée der Moderne eingegliedert hat. Wie auch immer: Gegenwärtig ist es eher chic, postmoderne Positionen als sich in ihrem eigenen Jargon gefallende überkommene Verirrung abzutun. Indessen gilt 16 | Das Paradebeispiel für einen postmodernen (wieder) ›erzählten‹ Roman ist Patrick Süskinds Das Par fum aus dem Jahr 1985. 17 | Vgl. Anm. 13.

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es heute, die Postmoderne zu historisieren, sie in ihren umfassenden Auswirkungen in Kunst, Architektur, Literatur, Musik, Theorie zu würdigen und ihr Reflexionspotenzial in die gegenwärtigen wissenschaftlichen Paradigmatiken einzubringen. Es ist gewiss kein Zufall, dass mit dem Ende bzw. dem Auslaufen der Postmoderne in den 1990er-Jahren der sog. cultural turn in den Geisteswissenschaften einsetzte, der gegenüber manchen abgehobenen postmodernen Theoriediskussionen von einem erneuten Interesse an den zuvor dekonstruierten Realien, an konkreten Objekten und kulturellen Phänomenen getragen war. Das umfassende Bewusstsein von der Kontingenz und vom Konstruktionscharakter kultureller Erscheinungen, das große Teile der kulturwissenschaftlichen Forschung kennzeichnet, schreibt sich jedoch zweifellos von der postmodernen Kritik her.

2. K ONTROVERSEN , A LLIANZEN . S OZIALWISSENSCHAF TLICHE UND LITER ATURWISSENSCHAF TLICHE M ODERNEN Im Folgenden werden sozialwissenschaftliche Debatten über die Moderne mit literaturwissenschaftlichen Perspektiven gegengelesen, um gewissermaßen durch Triangulierung transdisziplinäre Verflechtungen sichtbar zu machen. Die Klassiker der Soziologie – und in diesem Zusammenhang lassen sich Namen wie Karl Marx, Max Weber, Émile Durkheim, Talcott Parsons und durchaus auch Niklas Luhmann nebeneinander stellen – sind im Ansatz alle Modernisierungstheoretiker insofern, als sie davon ausgehen, dass Gesellschaften einem Entwicklungsprozess unterworfen sind. Dieser Entwicklungsprozess ist in der Perspektive der Modernisierungstheorie mit Säkularisierung (vgl. auch Taylor 2007) und funktionaler Differenzierung18 verbunden. Der klassischen Modernisierungstheorie unterliegt ein Fortschrittsnarrativ. Modernisierung erscheint als zielgerichtet und als Prozess in der Zeit. Als grundlegend wird die Differenz zwischen modernen und traditionalen Gesellschaften erachtet. Rationalität ist ein weiteres Kriterium des Modernisierungsprozesses (vgl. Bonacker/Reck18 | Kritisch gegenüber dem Theorem der funktionalen Differenzierung ist Richard Münchs institutionen- und handlungstheoretischer Ansatz, der davon ausgeht, dass sich die gesellschaftlichen Sphären des Han delns konstitutiv durchdringen (vgl. Münch 1984: 14).

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witz 2007b: 9ff.). In der Literaturwissenschaft ist es insbesondere die Literaturgeschichtsschreibung, die in gewisser Weise auch modernisierungstheoretisch argumentiert, wenn sie die Geschichte der Literatur als Entwicklungsprozess versteht. Dabei wird Literaturgeschichte allerdings nicht in dem Sinne als Fortschrittsgeschichte geschrieben, wie es im Falle der soziologischen Modernisierungstheorie behauptet wird. Die Moderne ist nicht das Ziel der Literaturgeschichte. Die Literaturgeschichtsschreibung ist durch die Schule des Historismus gegangen, der jeder Epoche ihre spezifische Bedingtheit und Eigengesetzlichkeit zuerkennt. ›Moderne‹ fungiert in der Literaturwissenschaft insofern als Beschreibungskategorie; sie ist nicht Bestandteil eines Fortschrittsnarrativs, ruht aber gleichwohl auf einem Entwicklungsgedanken auf. Genetische Argumente sind also durchaus konstitutiv für das literaturgeschichtliche Denken, das, im Ansatz hermeneutisch verfasst, das Einzelne im Blick auf das Ganze beobachtet und literarische Formen nicht nur in ihrem Sosein, sondern auch in ihrem Gewordensein analysiert. Die literaturwissenschaftliche Moderne erscheint auch nicht in dem Sinne als normativ wie die Moderne im Denken der Modernisierungstheorie. Der Soziologe Volker H. Schmidt beispielsweise nennt bestimmte institutionelle Voraussetzungen, die gegeben sein müssen, wenn eine Gesellschaft als ›modern‹ anerkannt sein will: »[…] the following institutions can be suggested to best epitomise our current (ideal typical) understanding of the structure of modern society: a rationalised (preferably de mocratic and representative) polity with accountable governments; a market (or capitalist) economy; the rule of law and a legal system guaranteeing a core set of human rights; bureaucratic administration based on ›meritocratic‹ (skill-oriented) recruitment and insulated from ›special‹ interests; a public (collectively run or regulated) welfare system covering the whole population and securing its basic needs; a system of formal mass schooling and education; research and development in large science organisations etc.« (Schmidt 2007: 211)

Wie sich schon im Falle der Literaturgeschichtsschreibung die Frage stellt, was nach der Postmoderne bzw. der sie übergreifenden Moderne kommt, so ruft auch die der Modernisierungstheorie inhärente Fortschrittsdynamik die Frage hervor, wie es mit/nach der Moderne weitergeht. Endet der Fortschrittsimperativ in der Moderne, die sich vielleicht nurmehr perfektionieren, bestenfalls noch eine Supermoderne aus sich hervorbringen

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kann? Sitzt der Gedanke der Modernisierung hiermit nicht einem performativen Selbstwiderspruch auf? Der von Thorsten Bonacker und Andreas Reckwitz im Jahr 2007 unter dem Titel Kulturen der Moderne vorgelegte Sammelband stellt dem soziologischen Modernisierungsnarrativ kulturtheoretische Deutungsansätze gegenüber bzw. unternimmt es, ersteres mit letzteren gegenzulesen (vgl. Bonacker/Reckwitz 2007a). Die kulturtheoretische Deutung der Moderne, schreiben die Herausgeber am Ende ihrer Einleitung, sei als »ein Versuch ihrer Neubeschreibung« (Bonacker/Reckwitz 2007b: 18) zu verstehen. Dass ein solcher Band erst 2007 erscheint, weist darauf hin, wie beherrschend das Modernisierungsnarrativ in der Soziologie (gewesen) ist. Die Rezeption des Poststrukturalismus und der Postmoderne in den 1980erJahren und die teilweise darauf aufbauende kulturwissenschaftliche Wende der 1990er-Jahre treffen offensichtlich in den Nullerjahren des 21. Jahrhunderts in der Soziologie immer noch auf eine starke Bastion. Dies liegt natürlich daran, dass die Soziologie in weiten Teilen empirisch ausgerichtet ist und an der Priorität des Erfahrungsobjekts festhält, während Bonacker und Reckwitz zu bedenken geben, dass ›Moderne‹ kein Gegenstand, sondern eine soziologische Betrachtungskategorie sei (Bonacker/Reckwitz 2007b: 7). In den Worten Kaufmanns: Moderne ist kein Erfahrungsobjekt, sondern ein Erkenntnisobjekt (vgl. Kaufmann 1986: 69). Die Merkmale des kulturtheoretischen Ansatzes sind in Bonackers und Reckwitz’ Darstellung gleichsam ein Hohlspiegel der modernisierungstheoretischen Prämissen. Demnach erscheint das Soziale als kulturell und d.h. auch sprachlich konstituiert. »Diese kulturtheoreti schen Annahmen entziehen […] der Moderne ihr scheinbares Fundament: Als Sinnphäno mene sind kulturelle Codes im Prinzip kontingent, sie sind historisch und lokal spezifisch und in diesem Sinne auch einer unberechenbaren historischen Logik, einem Spiel kultureller Poly semien und Neuinterpretationen unterworfen.« (Bonacker/Reckwitz 2007b: 12)

Damit relativiert sich automatisch die Grenze zwischen Traditionalität und Modernität, die für die Modernisierunstheorie grundlegend ist. Hybridisierungen treten in den Blick, ebenso wie Diversität und Konflikthaftigkeit der Moderne. Schließlich verbindet sich mit dem kulturtheoretischen Ansatz eine rationalitätskritische Perspektive. Rekonstruiert werden Prozesse, in denen »Rationalitätsregime« (Bonacker/Reckwitz 2007b: 14) ausgeformt

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und instituiert werden. Der Dissens zwischen Modernisierungstheorie und Kulturtheorie ist auch einer zwischen makrotheoretischer und mikrotheoretischer Betrachtung insofern, als letzterer dem Einzelnen, dem Differenten Aufmerksamkeit schenkt, und, vielleicht grundlegend, ein Konflikt zwischen zeitlicher und räumlicher Perspektive. Shmuel N. Eisenstadts Konzept der »multiple modernities« eröffnet den Band von Bonacker und Reckwitz (Bonacker/Reckwitz 2007b: 14). Es lenkt den Blick von der zeitlichen Verlaufsgeschichte in die räumliche Vergleichsperspektive. Globalisierung, der Zusammenbruch der Sowjetunion und die damit verbundenen weltpolitischen Veränderungen, schließlich der 11. September sind in Eisenstadts Wahrnehmung Anlass, die Modernisierungstheorien der 1950er-/60er-Jahre kritisch zu befragen und den Gedanken zu formulieren, dass »Moderne als eine Geschichte der Formierung und Neukonstitution multipler, sich wandelnder und oft strittiger und miteinander konfligierender ›Modernen‹ im Plural (multiple modernities) zu lesen« (Eisenstadt 2007: 20)19 sei. Eisenstadt weist darauf hin, dass sich seit Beginn des Moderne-Diskurses zwei Bewertungsmuster herausgebildet haben, »die zugleich auch einen immanenten Widerspruch von Modernität repräsentieren« (vgl. Eisenstadt 2007: 22), eine Lesart, welche die Moderne als eine progressive, emanzipatorische Kraft begreift, wie sie auch von den Modernisierungstheorien konzeptualisiert wird, und eine Lesart, in der die Moderne als ambivalent und destruktiv erscheint. Während sich die Klassiker der Soziologie, wie Toqueville, Marx, Weber und Durkheim der modernen Ambivalenz bewusst gewesen seien und sich dieses Bewusstsein in den 1920er- und 1930er-Jahren auch angesichts des aufkommenden Faschismus und des Kommunismus verstärkt habe, sei es nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs dem Fortschrittsoptimismus der Modernisierungstheorie gewichen. Erst im Zuge der Protestbewegung der späten 60er- und frühen 70er-Jahre und mit dem Aufkommen des Postmodernismus habe die modernekritische Haltung wieder Raum gewonnen. Die »immanenten Antinomien der Moderne« (Eisenstadt 2007: 24f.) sind es, die die Grundlage und den Ansatzpunkt seiner Konzeption der »multiple modernities« bilden. »Schließlich hat die Beständigkeit der Antinomien der Moderne und der entsprechende Diskurs der Kritik entscheidend zu einer Transfor19 | Der Artikel setzt auf Eisenstadts älteren Arbeiten zur Moderne, insbes. auf seinem 1973 erschienenen Werk Tradition, Change and Modernity, New York, London, Sydney, Toronto, auf.

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mation in Richtung von multiple modernities beigetragen«, schreibt Eisenstadt (Eisenstadt 2007: 34). Bei Eisenstadt finden sich denn auch Brücken in die ästhetische bzw. literarische Moderne. Das erste von vier Spannungsfeldern der Moderne, die er benennt, bezieht sich auf »das strittige Verhältnis verschiedener Dimensionen menschlicher Existenz zueinander« (Eisenstadt 2007: 31);20 gemeint damit ist etwa das Verhältnis von Vernunft und Rationalität zu Emotionalität und Ästhetik. Emotionalität mit Ästhetik gleichzusetzen und Ästhetik damit in Opposition zu Venunft und Rationalität zu bringen, ist sicherlich zu kurz gedacht, doch trägt Eisenstadt der ästhetischen Moderne insofern Rechnung, als er betont, dass der kritische Moderne-Diskurs vor allem in Kunst, Philosophie und Populärkultur stattgefunden habe (vgl. Eisenstadt 2007: 34). Und als Kronzeugen nennt er Charles Baudelaire und Georg Simmel; beider Werk beschreibe, wenngleich auf verschiedene Art, »Entwurzelung und Fluidität«, die er als Merkmale der kritischen Moderne begreift. Ist mit Baudelaire der Protagonist insbesondere der literarischen Moderne aufgerufen, kann der Philosoph und Soziologe Georg Simmel sowohl als Ahnherr einer literarischen als auch einer soziologischen Moderne-Kritik herhalten. Und mit Nachdruck hält Eisenstadt fest, dass die Antinomien der Moderne nie rein intellektuelle oder ideologische Vorstellungen, sondern immer in den institutionellen Sphären der Gesellschaft enthalten gewesen sind (vgl. Eisenstadt 2007: 34). Die kritische, die ästhetische Moderne ist in Eisenstadts Überlegung also integraler Bestandteil der gesellschaftlichen Moderne. Wenn Volker H. Schmidt dem multiple modernities-Ansatz vorwirft, er lasse ein klar definiertes Verständnis von ›Moderne‹ vermissen (vgl. Schmidt 2007: 212), ist das mehr als eine Mängelrüge. Hier treffen zwei 20 | Das zweite Spannungsfeld betrifft das prekäre Verhältnis von menschlicher Autonomie einerseits und Natur- bzw. Gesellschaftsbeherrschung andererseits, das zur Wahrnehmung des von seiner eigenen Natur entfremdeten Menschen führt. Aus Eisenstadts zweitem Spannungsfeld ergibt sich Spannungsfeld drei: Die Institutionalisierung des modernen Programms in einer technokratischen oder moralischen Ordnung führt zwangsläufig zu einem Spannungsverhältnis zwischen menschlicher Autonomie und Kontrolle, wie es etwa Norbert Elias und Michel Foucault in je verschiedener Weise beschrieben haben. Die vierte Spannung ist ein problematisches Verhältnis zwi schen Totalit(arit)ät und Pluralismus. Totalisierende und pluralistische Visionen lassen sich kaum in Einklang bringen (vgl. Eisenstadt 2007: 32).

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Wissenschaftswelten aufeinander, die nicht einmal gegensätzliche Positionen im wissenschaftslogischen Sinn vertreten. Vielmehr stehen sich zwei im eigentlichen Sinne des Wortes inkommensurable wissenschaftliche Ansätze gegenüber, die, wenn sie sich gegenseitig kritisieren, dies auf der Grundlage ihrer eigenen epistemischen Logik tun – und den ›Gegner‹ auf diese Weise notwendig verfehlen. Dass die Vertreterinnen und Vertreter des multiple modernities-Ansatzes nicht definieren, was sie unter Moderne verstehen, erklärt sich aus ihrer Grundeinstellung, ›Moderne‹ weder normativ noch präskriptiv begreifen zu wollen. Auch Modernisierungstheoretiker erkennen indessen an, dass die Welt nicht uniform ist und dass es »cross country« und »regional variations« (Schmidt 2007: 224) im Prozess der Modernisierung gibt. Wo gleichwohl Konvergenz im Prozess der Modernisierung wahrgenommen wird, lässt sich die Diagnose ›multiple‹ bestenfalls durch ›variable‹ ersetzen: »[…] a better alternative to the fuzzy notion of multiple modernities might be a yet-to-be-developed concept of ›varieties of modernity‹« (Schmidt 2007: 224). How variable and how multiple? könnte man fragen, d.h. wie breit ist das Spektrum des Variablen und wie verschieden das Multiple? Doch lässt sich der Streit nicht über die Semantik schlichten, denn die Werte liegen nicht auf einer Skala, sondern sind unterschiedlichen Logiken verpflichtet, der Logik der Identität und der Logik der Differenz. Variation ist immer Abweichung vom oder Spielart des Einen, während multipel denken von prinzipieller Verschiedenheit ausgeht. Indessen gehören Identität und Differenz in einer übergeordneten Perspektive doch einer, nämlich der binär verfassten, der westlichen Wissenschaftslogik an, innerhalb derer Verständnis prinzipiell möglich sein sollte. Ob man identitätslogisch oder differenztheoretisch denken möchte, ist eine theoretische Grundsatzentscheidung. Die jeweils andere Position kann aber nicht ›falsch‹ sein, sie ist gleichermaßen ›denkbar‹, eröffnet lediglich eine ›andere‹ Perspektive. Eine differenzierende Weiterführung des multiple modernities-Ansatzes stellt das Konzept der entangled modernities, der ›Verwobenen Moderne‹ dar, das Shalini Randeria vorgeschlagen hat. Der Ansatz nimmt eine postkoloniale nichtwestliche Perspektive ein, die aber als solche immer auf westliche Positionen bezogen bleibt. Genau das meint ›entangled‹: Das Konzept der entangled modernities wendet sich gegen die Vorstellung, dass es ›das Eigene‹ und ›das Fremde‹ als vorausgesetzte Entitäten ›gibt‹, vielmehr geht es davon aus, dass nicht nur ›das Fremde‹ eine kulturelle Konstruktion und Projektion des ›Eigenen‹ ist, sondern dass auch ›das

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Eigene‹ erst über die Projektion ›des Fremden‹ zu denken möglich wird. Die modernisierungstheoretische Gegenüberstellung von ›traditional‹ und ›modern‹ wird insofern problematisiert, als das »Nicht-Moderne oder Traditionale« als eine Kategorie wahrgenommen wird, »die selbst erst durch das Projekt der Moderne geschaffen wurde« und »daher Teil des Moderne-Diskurses« ist (Randeria u.a. 2004: 18). Tradition ist also keine objektive Gegebenheit, »sondern eine Ansammlung von Projektionen aus der Warte der Modernitätstheorie auf alles, von dem man sich abgrenzt« (Randeria u.a. 2004: 18). Vor diesem Hintergrund ist zu sehen, dass der Weg zum ›Eigenen‹ über das ›Fremde‹ führt, alternative Modernen nicht einfach ›vielfältig‹ sind, sondern auf asymmetrische Weise verflochten mit westlichen Konzepten, von denen sie sich abgrenzen und auf die sie sich (in der Abgrenzung) beziehen. Die Betrachtungsperspektive verläuft in zwei Richtungen; so sind nicht nur der Einfluss der Kolonialmächte auf die kolonisierten Länder, sondern auch die Folgen des Kolonialismus und der Blick auf das ›Fremde‹ für die kolonisierenden Länder selbst zu untersuchen. Der Westen, so Randeria, habe das Definitionsmonopol über die Moderne verloren. Moderne sei nicht nur ein emanzipatorisches Projekt; vielmehr müsse der Tatsache Rechnung getragen werden, dass Moderne auch mit Normierung, Disziplinierung und Exklusion einhergehe.21 Ausgehend von der Situation des postkolonialen Indien, in dem die erst durch den Kolonialismus geschaffenen Kasten als zivilgesellschaftliche Gemeinschaftsinstitutionen fungieren (vgl. Randeria 2004: 166f.), argumentiert sie für das Konzept einer geteilten Perspektive zwischen den ehemaligen Kolonialmächten und den kolonisierten Staaten, da sich die »Moderne der postkolonialen Gesellschaften […] weder auf eine Nachahmung westlicher Ideen und Institutionen reduzieren [lässt], noch […] ohne Verweis auf diese Ideen und Institutionen reflektiert werden« (Randeria 2004: 157) kann. Die zivilgesellschaftliche Funktion der etwa von Kastenräten praktizierten familienrechtlichen Konfliktlösung, die einen von der staatlichen Rechtssprechung unabhängigen Raum für die Erprobung alternativer Lösungen und für Formen der Selbstorganisation bildet, unterläuft nicht nur die holzschnittartige Unterscheidung von ›Tradition‹ und ›Moderne‹, sondern verschiebt auch die Grenze zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre (vgl. Randeria 2004: 157, 174), so dass die Unangemessenheit der binär 21 | Vgl. Randeria (2004: 155). In diesem Zusammenhang ist natürlich an Norbert Elias’ Disziplinierungsthese und an Michel Foucaults Machtkritik zu denken.

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organisierten Wissenschaftssprache offenkundig wird. Für Randeria ist es daher eine Herausforderung, »eine neue moralische und gesellschaftliche Imagination sowie ein adäquates sozialwissenschaftliches Vokabular zu entwickeln, die beide für die Texturen und Rhythmen der ungleichen indischen Moderne und die Rolle der diversen zivilgesellschaftlichen Akteure sensibel sind« (Randeria 2004: 175). Wo von »Imagination« und Sprache (»Vokabular«), »Texturen und Rhythmen« die Rede ist, mag sich der Modernisierungstheoretiker abwenden, fühlt sich indessen die Literaturwissenschaft zum interdisziplinären Gespräch eingeladen. So bezieht der entangled modernities-Ansatz gleichfalls explizit den künstlerisch-ästhetischen Beitrag zur Moderne-Debatte in seine Analysen ein, wenn etwa darauf verwiesen wird, wie ausgeprägt in modernen Texten der zitathafte Rückgriff auf Traditionelles ist und welche diskursprägende Rolle gerade das Moment der Epiphanie, also der Erscheinung des Unverfügbaren, in der Kunst der Moderne spielt (vgl. Therborn 2003: 296, 298). Entanglement stellt indessen nicht nur eine Kategorie für die Beschreibung des Erfahrungsobjekts heterogener und doch geschichtlich, kulturell, politisch und ökonomisch miteinander verbundener moderner Kulturen dar, sondern muss auch als Erkenntnis- und Reflexionskategorie für die interdisziplinäre Zusammenarbeit diskutiert werden: Die Vorstellung von der wechselseitigen Verwobenheit unterschiedlicher, d.h. makro- und mikrotheoretischer, erfahrungsobjekt- und erkenntnisobjektbezogener, zeit- und raumorientierter Forschungsansätze ermöglicht eine geteilte Perspektive mit der Lizenz, disziplinenspezifische Fragestellungen und Blickrichtungen zu verfolgen und doch deren historische, systematische und je spezifische wissenschaftslogische Bedingtheit zu akzeptieren.

3. W AS SIND N ARR ATIVE ? Seit geraumer Zeit hat in der interdisziplinären kulturwissenschaftlichen Debatte der Begriff des Narrativs Konjunktur. So weist etwa der dem multiple modernities-Ansatz nahe stehende Soziologe Wolfgang Knöbl darauf hin, dass sich die Pfadabhängigkeiten der Makrosoziologie nicht beweisen, sondern lediglich mittels Erzählungen plausibilisieren lassen: »Das aber heißt, dass man offen zu sein hat für alternative Erzählungen, für solche, für die ganz andere ›critical junctures‹ zentral sind, die also gerade vor dem

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Hintergrund einer vergleichenden Perspektive andere Brüche und Wendungen anbieten.« (Knöbl 2007: 311) 22

Narrative sind, so könnte man sagen, Erzählmuster, die, etwa in Politik und Wissenschaft, immer wieder aufgerufen werden, weil sie Sachverhalte in einer konventionalisierten, d.h. eingängigen Ordnung präsentieren. Da Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler sich in besonderer Weise für die Analyse von Narrationen ausgebildet wähnen, fühlen sie sich, insbesondere nach dem disziplinäre Grenzen überschreitenden cultural turn, auch für nichtliterarische Narrationen kompetent. Wolfgang Müller-Funk beispielsweise geht von der konstitutiven Bedeutung von Narrativen für Kulturen aus. Narrative sind Müller-Funk zufolge zentral für die Darstellung von Identität, die ethnische und die geschlechtliche Identität etwa, das individuelle Erinnern, die kollektive Befindlichkeit von Gruppen, Regionen und Nationen (vgl. Müller-Funk 2002, 2007: 17). Müller-Funk hebt hervor, dass »die Philologie des 19. von der des 20. Jahrhunderts dadurch zu unterscheiden [sei], daß erstere über kein systemati sches Wissen der narrativen Strukturen der Literatur verfügte, während die Literaturwissen schaft insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Gefolge von Hermeneutik und Strukturalismus eine avancierte Theorie des literarischen Kunstwerks entwickelte, was es zum Beispiel ermöglichte, die Erzählsituation im literarischen Text zu untersuchen und strikt vom realen Autor zu unterscheiden« (Müller-Funk 2002, 2007: 44).

Das sind nun freilich recht basale literaturwissenschaftliche Einsichten, die hinter dem, was die Erzähltheorie, beispielsweise eines Gérard Genette (vgl. Genette 1998), an differenziertem Instrumentarium zu bieten hat, weit zurückbleibt. Im vorliegenden Diskussionszusammenhang ist es bemerkenswert, dass Müller-Funk die literaturhistorisch ausgerichtete Philologie des 19. Jahrhunderts, die Literaturgeschichte gleichsam naiv erzählte, gegen die erzähltheoretisch versierte Literaturwissenschaft der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stellt, die sich reflexiv mit ihrer eigenen disziplinären Grundlage auseinanderzusetzen in der Lage ist. Narrative sind einerseits konstitutiv, andererseits ist ihre Funktionslogik durchschaubar. Als Kronzeugen für die Notwendigkeit von Narrativen zitiert Müller-Funk Robert Musil, der 22 | Knöbl bezieht sich in seiner Darstellung moderner Gesellschaften auch auf ästhetische und literarische Erscheinungen (vgl. Knöbl 2007: 29, 272).

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in seinem paradigmatisch modernen Roman Der Mann ohne Eigenschaften (1930-1952) das Gesetz des Lebens als eines der erzählerischen Ordnung qualifiziert.23 »Die meisten Menschen sind im Grundverhältnis zu sich selbst Erzähler«, heißt es entsprechend bei Musil (1981: 650). In kritischer Auseinandersetzung mit Wolfgang Kraus, der in seiner sozialpsychologischen Studie Das erzählte Selbst. Die narrative Konstruktion von Identität in der Spätmoderne von 1996 ein Stufenmodell von Modernität und Narrativität vorgeschlagen hatte,24 argumentiert Müller-Funk, dass (narrative) Literatur ein höchst komplexer Sonderbereich sei, »der sich in einem fortwährenden Austauschprozeß mit anderen[,] nicht-fiktionalen Erzählungen, großen und kleinen, politischen und scheinbar nur ganz privaten befindet« (Müller-Funk 2002, 2007: 42). Müller-Funk schließt damit an die auch im New Historicism fundierte flexible Text-Kontext-Relation an, die eine Zirkulation dessen, was Stephen Greenblatt ›soziale‹ oder ›kulturelle Energie‹ genannt hat, ermöglicht. Narrative sind sinnstiftend, so hebt der Wiener Literatur- und Kulturwissenschaftler hervor, nicht auf Grund ihrer Inhalte, sondern auf Grund ihrer spezifischen strukturellen Konstellationen (vgl. Müller-Funk 2002, 2007: 29). Und: Narrative sind immer perspektiviert. »Narrative sind […] strukturlogisches ›falsches Bewußtsein‹ und sind doch zugleich anthropologisch einigermaßen unvermeidlich. Sie erschaffen uns ein symbolisch ge mütliches Zuhause und im Grunde geht die zentrale Bedeutung von Erzählungen im Kontext der jeweiligen Kultur gerade in dieser Funktion fast 23 | Vgl. Müller-Funk (2002, 2007: 29). Ironischerweise gelang es Robert Musil nicht, seinem Roman eine erzählerische Ordnung zu geben, die ihn zum Abschluss gebracht hätte. Der Mann ohne Eigenschaften ist, wie Elisabeth Albertsen früh schon formuliert hat, ein »maßloses Fragment« ge blieben (Albertsen 1968: 126). 24 | Demnach erzählt die klassische Moderne »unrunde, kantige, komplexe, perspektivische, in die Zukunft hin offene Geschichten«, während eine von Kraus als »herkuleisch« bezeichnete Spätmoderne einen strategisch aktiven Erzähler als »Narrationsorganisator« ansetze und Zukunft als »Projektraum« ent werfe. Die Hauptdevise im Umgang mit spätmoderner Ambiguität laute »Perspektivbeschränkung«. Die Postmoderne schließlich sei von einem situativen Narrationstypus geprägt, der Erzähler ein »Narrationsdesorganisator«; die Zukunft werde zur terra incognita. Im Umgang mit Ambiguität domi niere die gebrochene, ironische Utopie; die Grundstimmung sei von »Ironie, Spaß, larvierte[r] Ver zweiflung« gekennzeichnet (Müller-Funk 2002, 2007: 27f.).

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ohne Rest auf. Zur Parado xie der modernen Bewusstseinslage gehört es, diese perspektivische Selbstverkürzung kritisch zu hinterfragen und ihr doch zugleich nicht entrinnen zu können. Diese Zwie spältigkeit ist es, die uns prinzipiell von der historischen Aufklärung trennt.« (Müller-Funk 2002, 2007: 30)

Es gibt kein Jenseits der Narrative. Selbst im Bemühen, sie zu vermeiden, erweist sich ihre Wirksamkeit (vgl. Müller-Funk 2002, 2007: 34). Einem kulturwissenschaftlichen Ansatz mit narratologischem Hintergrund geht es nicht darum, den gegebenen Narrativen andere gegenüberzustellen oder anders zu erzählen, vielmehr plädiert Müller-Funk für ein ironisches Erzählen und für Geschichten, die eben nicht glatt aufgehen (vgl. MüllerFunk 2002, 2007: 35). Kritisch sei angemerkt, dass es bislang den Theoretikern des Narrativen nicht gelungen ist, die erzähllogische Konstruktion von Narrativen in einer Weise vorzuführen, die den Einsatz des komplexen erzähltheoretischen Instrumentariums plausibel gemacht hätte. Dies mag daran liegen, dass man zwar den Text einer konkreten Erzählung narratologisch analysieren kann, Narrative aber immer eine Abstraktion sind, die nicht in spezifischer Textgestalt vorliegen. Albrecht Koschorke hat die Funktionsweise hegemonialer Narrative am Beispiel des Narrativs von der säkularisierten Moderne und des Narrativs von der ›Wiederkehr der Religion‹ kritisch analysiert (vgl. Koschorke, in diesem Band). Auch er geht weniger auf ihre konkrete interne erzählerische Organisation ein als auf ihre diskursive Funktion. Eine Grundthese lautet, dass Narrative umso stabiler sind, je mehr und weiter auseinanderliegende Optionen, ja Kontraevidenzen sie in der Lage sind zu integrieren. So ließ sich das Narrativ von der säkularisierten Moderne von dem offensichtlichen Vorhandensein religiöser Bestrebungen und Erscheinungsweisen nicht irritieren; es konnte sie, verbunden mit spezifischen Exklusions- und Inklusionsmechanismen, vielmehr in einer Weise ›wegsortieren‹, die das Narrativ selbst zu stabilisieren vermochte (vgl. Koschorke, in diesem Band: 241). Narrative sind also von hegemonialer Gewalt. Wer sich ihnen entgegenstellt, verfängt sich in ihnen. »Der Feind an der Peripherie, dem ein Platz innerhalb der normativen Ordnung des Imperiums verweigert wird, muss darauf mit einer entsprechenden Gegenerzählung reagieren«, schreibt Koschorke (in diesem Band: 255). Demnach ist der Repräsentant der Peripherie »[…] dazu gezwungen, zur Beglaubigung seines Handelns semantische Ressourcen in Anspruch zu nehmen, die nicht schon vom Hegemon erfolgreich verein-

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nahmt worden sind. Er wird der Macht des Allgemeinen das Recht des Besonderen entgegenhalten und sich dabei typischerweise auf lokale beziehungsweise regionale Sitten, Rechte und Glaubensformen berufen. Zumindest in der Moderne ist deshalb die Berufung auf Autochthonie eine wichtige Widerstandsquelle geworden. Wobei stets der Effekt zu be rücksichtigen ist, dass die antihegemonialen Strebungen sich ihren semantischen Ort oft ex negativo von der hegemonialen Ordnung zuweisen lassen. Im Widerspiel zwischen Selbst- und Fremddefinition richten sie sich im Raum der Auslassungen, Selbstzweifel, Utopien, in den Barbarismen, Romantizismen, Exotismen und Orientalismen des Dis kurses der Herrschenden ein […]. Ob sie wollen oder nicht, bleiben sie bis zu einem gewissen Grad an die überlegene semantische Formation gekettet, die sie bekämpfen.« (Koschorke, in diesem Band: 255f.)

Hegemoniale Narrative und ihre Gegenbewegungen – und hier lässt sich einmal mehr an die Modernisierungstheorie auf der einen Seite und multiple modernities-Ansätze auf der anderen Seite denken – bleiben also durch ein entanglement miteinander verbunden, das im Hinblick auf die Möglichkeit inter- bzw. transdisziplinärer Kooperation nicht als Manko, sondern als Chance begriffen werden sollte, denn Verständigung kann überhaupt nur funktionieren, solange man sich (noch) innerhalb eines gemeinsamen semantischen und grammatischen Formationsraums befindet. Wenn sich die Gegenerzählungen allerdings ihrerseits zu Narrativen verfestigen, muss es notwendigerweise zum clash, wenn nicht gar zum Abbruch der Kommunikation kommen. Das Besondere, Autochthone, Utopische, Romantische, das durchaus auch in topischen Formen und Floskeln auftreten kann, entfaltet seine politische bzw. rhetorische Wirkmacht insbesondere dann, wenn es sich gerade nicht in Mustern, Argumentationsfolgen, diskursiv vorgeprägten Verkettungen präsentiert. Nicht ohne Grund ist dieses so qualifizierte Singuläre durch den Bruch des Geläufigen markiert und nicht zufällig begegnet es darin dem, was die ästhetische Moderne als kunstfähig erachtet. Dass der Bruch der Narrative strukturell auch dem Einbruch ›des Heiligen‹ als dem ›ganz Anderen‹ auch und gerade in der säkularisierten Moderne Raum gibt (vgl. Otto 1923), lässt sich beispielsweise am Werk eines zweifellos modernen Künstlers wie Joseph Beuys nachvollziehen, oder aber auch an einem Roman wie Arnold Stadlers Salvatore aus dem Jahr 2008, der in der auch schriftbildlich markierten Unterbrechung der linearen Erzählung dem Religiösen Raum gibt. Da Narrative, wie Müller-Funk herausgestellt hat, konstitutiv für Kulturen sind, ist ihnen

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am wenigsten mit Gegennarrativen beizukommen, bestenfalls sind ihnen Narrationen, d.h. weniger verfestigte, aber umso überraschendere – und das sind immer konkrete – Erzählungen, und Bilder zur Seite zu stellen, die ihre Codes und Zeichen zur Bearbeitung und Neukonstellation freigeben. Was die hegemonialen Narrative integriert haben, vermögen Kunst und Literatur freizusetzen.

Joseph Beuys, halbiertes Filzkreuz mit Staubbild ›Magda‹ 1960, Filz, Papier, Ölfarbe (Braunkreuz), Zehennägel, gerahmtes Staub- und Schriftbild im Zinkblechkasten, 8 x 68 x 5.5 cm, Museum Ludwig Köln © VG Bild-Kunst, Bonn 1998

4. G E WIT Z TE A GENTINNEN ODER : W IR WERDEN VIELLEICHT DOCH NOCH MODERN SEIN Ein konstitutives entanglement von Erfahrungs- und Erkenntnisobjekt hat bereits in den 1980er-Jahren die amerikanische Naturwissenschaftshistorikerin Donna Haraway behauptet, wenn sie argumentiert hat, dass wissenschaftliche Objekte nicht von einem souveränen Wissenschaftlersubjekt konstruiert werden, sondern an dessen Begriffs- und Beschreibungssprache mitschreiben. Sie sind in dem Sinne aktiv, indem sie den wissen-

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schaftlichen Blick herausfordern, irritieren und korrigieren. »Situiertes Wissen erfordert, dass das Wissensobjekt als Akteur und Agent vorgestellt wird und nicht als Leinwand oder Grundlage oder Ressource und schließlich niemals als Knecht eines Herrn, der durch seine einzigartige Handlungsfähigkeit und Urheberschaft von ›objektivem‹ Wissen die Dialektik abschließt« (Haraway 1995: 93), schreibt Haraway mit Blick auf die Hegel’sche Herr-und-Knecht-Konstellation. Das Objekt wird in dieser Perspektive zur »gewitzten Agentin«25 , die genau an dem Punkt des entanglements mitmischt, an dem die Unterscheidung zwischen Objekt und Subjekt, Materie und Form, Erfahrungs- und Erkenntnisobjekt, Signifikat und Signifikant suspendiert und fragwürdig wird. Sehr ähnlich und durchaus im Bezug auf Haraway (Latour 2008: 65) hat Bruno Latour in seiner Modernekritik argumentiert, indem er die Verflechtung von Biologie und Gesellschaft, von Natur und Kultur am Beispiel der kompatiblen, sich aber voneinander trennenden Wissenschaftlerprofile von Thomas Hobbes und von Robert Boyle im 17. Jahrhundert zum Ausgangspunkt seines Arguments gemacht hat. Beide, Hobbes und Boyle, sind Naturforscher und Gesellschaftstheoretiker, aber: »Boyle verfügt über eine Wissenschaft und eine politische Theorie, Hobbes über eine politische Theorie und eine Wissenschaft«, schreibt Latour (Latour 2008: 26). Die Ausdifferenzierung einer objekt- und einer subjektbasierten Wissenschaft ist Latour zufolge von einem Punkt der Unterscheidung aus zu denken, der beide Seiten als gleichursprünglich setzt – und der seine Arbeit nur unvollständig getan hat. Verbunden mit dieser Operation ist die Sperrung oder absolute Transzendierung Gottes, der weder in der Natur noch in der Gesellschaft noch seinen Platz erhält. Denn: »Niemand ist wirklich modern, wenn er nicht bereit ist, Gott aus dem Spiel der Gesetze der Natur und der Republik zu entfernen« (Latour 2008: 47). Im vermehrten Auftreten sog. Hybride, wie sie etwa in der Verbindung naturwissenschaftlicher und gesellschaftspolitischer Erklärungen, beispielsweise in Zeitungsberichten über den Klimawandel oder biomedizinische Entwicklungen und ihre jeweilige gesellschaftliche Bedeutung (Latour 2008: 12) vorliegen, diagnostiziert Latour eine nur unvollständige Trennung der Pole Natur und Gesellschaft und mithin ein Zurückbleiben der sog. Moderne hinter ihren selbstgesteckten 25 | Haraway (1995: 94) behält die konventionelle Genderkodierung bei, die das aktive Subjekt als männlich und das passive Objekt als weiblich konzeptualisiert, unterläuft sie aber, in dem sie das Objekt als »aktiv« und »gewitzt« denkt.

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Zielen. Anstatt weiter am Fortschrittsmodell der Moderne festzuhalten (vgl. Latour 2008: 18f.), schlägt er vor, Entwicklung und Gleichzeitigkeit im Bild der Spirale zu denken: »Nehmen wir zum Beispiel an, daß wir die gleichzeitigen Elemente entlang einer Spirale anordnen und nicht mehr entlang einer geraden Linie. Wir haben dann sehr wohl eine Zukunft und eine Vergangenheit, aber die Zukunft hat die Form eines sich in alle Rich tungen ausweitenden Kreises, und die Vergangenheit ist nicht überholt, sondern wird wiederholt, aufgegriffen, umschlossen, geschützt, neu kombiniert, neu interpretiert und neu geschaffen. Elemente, die entfernt scheinen, wenn wir der Linie der Spirale folgen, lassen sich sehr nahe beieinander wiederfinden, wenn wir verschiedene Windungen vergleichen. Umgekehrt können sich Elemente, die auf der Linie der Spirale sehr nahe beieinander, d.h. gleichzeitig sind, sehr weit voneinander entfernen, wenn wir einen Ra dius durchlaufen. Mit einer solchen Zeitlichkeit sind wir nicht mehr gezwungen, die Etiketten ›archaisch‹ oder ›fortgeschritten‹ zu verwenden, denn jede Kohorte zeitgenössischer Elemente kann Elemente aus allen zusammenfügen. In einem solchen Rahmen werden unsere Handlungen endlich als polytemporell anerkannt.« (Latour 2008: 101)

Im Bild der Latour’schen Spirale kann das entanglement von Zeit und Raum, Geschichte und Ereignis, Modernisierung und »multiple modernities« gedacht werden, das Moderne sowohl als Erfahrungs- als auch als Erkenntnisobjekt hervorbringt. Mehr noch: Im Bild der Spirale werden aus Erfahrungsobjekten Erkenntnisobjekte und umgekehrt. Die als Prozess und Aktivität zu beschreibende Verflechtung bleibt immer an Sprache und Diskurs und damit an ein entanglement von Signifikaten und Signifikanten, Wörtern und Dingen gebunden. Für die inter- und transdisziplinäre Zusammenarbeit schafft diese Denkfigur eine Basis, die den postmodernen Konstruktivismus ebenso hinter sich gelassen hat (vgl. Latour 2008: 82f.) wie die Vorstellung einer vormaligen und künftig inter- oder transdisziplinär wiederzuerlangenden Einheit der Wissenschaft. Auch Latours Ausgangspunkt von der vormodernen Ungeschiedenheit von Natur und Kultur erscheint lediglich in der Rückprojektion als ›Einheit der Wissenschaft‹. Das modellhafte Bild von der Spirale ermöglicht es vielmehr, Differenzierung als Grundlage der Moderne insofern einzuholen, als sie nicht nur eine Progressionsfigur in der Zeit, sondern auch eine Denkfigur des Nebeneinander im Raum darstellt. Eine Interdisziplinarität in diesem Sin-

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ne, die vorwärts, rückwärts und seitwärts denken kann, in der Vergleich und Übersetzung dominante Aktivitäten darstellen (vgl. Edwards 2008: 191), ist im Wissen um das konstitutive entanglement von Einheit und Differenz ein vielversprechendes genuin modernes Projekt.

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Teil 2 Kontroversen um Modernität und Säkularisierung

›Säkularisierung‹ und ›Wiederkehr der Religion‹ Zu zwei Narrativen der europäischen Moderne Albrecht Koschorke

1. H EGEMONIALE W AHRHEITEN Die Annahme, dass Säkularisierung ein allgemeines Bewegungsgesetz moderner Gesellschaften sei, hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten einen rapiden Plausibilitätsverlust erlitten, auch wenn sie nach wie vor starke Befürworter hat (vgl. als prominente Stimme Taylor 2007). In systematischer Hinsicht bestand ein Hauptangriffspunkt der Kritik darin, dass der Begriff der Säkularisation mehrere Prozesse miteinander vermengt, die nicht notwendigerweise synchron verlaufen. José Casanova etwa insistiert auf der Unterscheidung dreier Aspekte: »decline of religious beliefs and practices in modern societies«, »privatization of religion« und »differentiation of the secular spheres (state, economy, science), usually understood as ›emancipation‹ from religious institutions and norms« (Casanova 2006: 6, in Zusammenfassung seines Buches Public Religions in the Modern World [Chicago 1994]). In historischer Hinsicht geht die einschränkende Nuancierung der Säkularisationsthese mit dem Abbau der Vorstellung einher, dass Europa dem Rest der Welt die Richtung vorgebe. War anfangs noch die Zusatzhypothese eines amerikanischen Exzeptionalismus notwendig, weil in den USA – einem kolonialen Ableger Europas und unzweifelhaft modernen Land – schwerlich von einem Rückgang des Religiösen gesprochen werden kann, erschien nach und nach die europäische Situation selbst als weltgeschichtlicher Ausnahmefall. Auch diese letzte Bastion der Säkularisierungstheoretiker hat sich jedoch nicht halten können, als deutlicher wurde, wie sehr innerhalb von Europa nationale und konfessionelle Be-

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sonderheiten zu berücksichtigen sind und unterschiedliche Entwicklungspfade bedingen. Am Ende hatte also nicht einmal die These vom säkularen Europa Bestand. Kurz gefasst, ist das Gesamtbild in dem Maß diffuser geworden, in dem es sich nicht mehr um die Idee einer einheitlichen europäischen Entwicklungsnorm zentrierte. Das Theorem der Säkularisierung teilt damit das Schicksal der Modernisierungstheorien im Allgemeinen, die, aus ihrer Verankerung im Evolutionsdenken und in der Geschichtsphilosophie des europäischen Kolonialismus gerissen, gewissermaßen heimatlos durch die Welt irren. Das Stichwort heißt hier: »multiple modernities«. Der Gesellschaftstheorie stellt sich folglich die Aufgabe, den sukzessiven Machtverlust Europas – erst politisch-ökonomisch, dann ideell beziehungsweise ideologisch – in ihren Modellannahmen nachzuvollziehen. Alternativen sind jedoch nicht leicht beizubringen. Denn jenseits der welthistorischen Definitionsmacht, die sich der europäisch-nordatlantische Raum über Jahrhunderte hinweg aneignen konnte, ist vorerst keine globale Einheitssemantik in Sicht, die stark genug wäre, um Kollektivsingulare wie die Geschichte oder die Moderne zu etablieren. Wie in einem Lehrstück lässt sich in einer solchen Situation das Verhältnis zwischen Macht und Wahrheit studieren. Ohne den Schutz eines Hegemons und ohne die zugehörigen Bildungseinrichtungen, Kommunikationsnetze und Infrastrukturen kann keine Einheitssemantik dauerhaft über weite Zeit- und Raumspannen hinweg navigieren. Weder verfügt sie dann über eine hinreichende Kraft zur Verallgemeinerung noch über das Vermögen zu selektiver Ignoranz. Beide sind nötig, um Grandiositätsvorstellungen – des Typs, dass Vernunftgebrauch eine exklusiv abendländische Angelegenheit ist, dass sich in Preußen erst die Aufklärung und dann der Weltgeist vollenden und dass der Europäer an der Spitze der biologischen und kulturellen Evolution steht – mit dem kollektiven Kredit auszustatten, der sie von individuellen Wahnphantasien unterscheidet. Auch wenn solche Größenvorstellungen nur selten explizit ausformuliert und noch seltener ganz geglaubt werden, bieten sie doch einen Rahmen für Wahrheitsprogramme (Veyne 1987: 40ff. und passim), die unter günstigen Umständen eine immense performative Wirksamkeit entfalten. Das Säkularisationstheorem, das über fast zwei Jahrhunderte ein erfolgreiches Distinktionsmittel wissenschaftlich gebildeter, fortschrittlicher, liberaler, protestantischer, männlicher westlicher Eliten war, ist mit solchen Hintergrundvorstellungen auf symbiotische Weise verbunden. Es gedeiht auf

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dem Nährboden einer abendländischen Zivilisierungsmission, die sich gleichermaßen nach außen wie nach innen richtet. Wenn wissenschaftliche Wahrheiten an das Ende ihrer historischen Laufzeit gelangen, werden sie als narrative Konstruktionen entzifferbar. Sie können die Kontraevidenzen, die ihnen bis dahin erstaunlich ungefährlich waren, nicht länger aus dem Blickfeld rücken; die Sprecherposition, von der aus sie konstruiert wurden, gewinnt klarere Konturen, und es wird zugleich offensichtlich und anzweifelbar, dass sie eine bestimmte WirGruppe begünstigt, von der andere ausgeschlossen bleiben. Solange es noch nicht möglich ist, vom festen Boden eines neuen Paradigmas aus zu argumentieren, bleibt auch die Analyse des alten bis zu einem gewissen Grad unentschieden und zwitterhaft, weil man epistemische Bedingungen, die man teilt, niemals in Gänze zu durchschauen vermag. Ist aber ein Paradigma einmal vollständig überwunden, erscheint es im Rückblick leicht als irrational, als bloßes Phantasiespiel ohne Verwurzelung in der Empirie.1 Deshalb mag der beste Moment einer narratologischen Analyse die Phase des Übergangs sein. Eine solche Analyse soll im Folgenden skizziert werden: eine Analyse, die nicht in erster Linie einen historischen Tatbestand rekonstruieren oder richtigstellen will, sondern nach der Beschaffenheit des Narrativs als solchem und ihrer den Erzählstoff präformierenden Wirksamkeit fragt.

2. Z UR F UNK TIONSWEISE EINER G ROSSEN E RZ ÄHLUNG Zu den großen Mythen der europäischen Moderne gehört bekanntlich die Idee, dass die europäische Moderne eine durch Entmythologisierung gekennzeichnete Epoche sei. In den Modernisierungstheorien des 20. Jahrhunderts ist das Leitbild einer rationalen und innerweltlich auf sich selber gestellten Moderne, das seine philosophische Ausprägung in der Aufklärung und im Wissenschaftspositivismus des 19. Jahrhunderts erfuhr, zum Grundgerüst gesellschaftlicher Selbstbeschreibung geworden. Moderni-

1 | »Das Wis sen war zu allen Zeiten für die Ansichten jeweiliger Teilnehmer systemfähig, be wiesen, anwendbar, evident. Alle frem den Systeme waren für sie widersprechend, unbewiesen, nicht anwendbar, phantastisch oder mystisch« (Fleck 1980: 34).

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sierung – der Bequemlichkeit halber sei aus einer Studie von Friedrich Wilhelm Graf zitiert – wurde »in Mustern einer – zumeist als Emanzipationsgewinn begrüßten – Niedergangsgeschichte der Religion gedeutet […]. Die konfliktreichen Prozesse der Durchsetzung der modernen bürgerlichen Gesellschaft […] wurden weithin in teleologischen Fortschrittsnarrativen erzählt, in denen Modernisierung mit der Erosion traditionaler Bindungen und einem Gewinn an Gestaltungschancen emanzipierter Individuen gleichgesetzt wurde. In solchen modernisie rungs theoretischen Sprachspielen konnte Religion primär nur als eine jener Traditionsmächte wahrgenommen werden, die in den Prozessen gesell schaft licher Diffe renzierung zunehmend ihre einstmals zentrale kulturelle Prägekraft verloren hatten. Fortschreitende Modernisierung wurde häufig als progressive Rationalisierung gedeutet, als mit der Steigerung wissenschaftlich-technischer Zweck rationalität verbundener Siegeszug humaner Vernunft überhaupt. Reli gion wirkte dann irgendwie archaisch, ein Relikt aus alten, vormodernen Zeiten.« (Graf 2007: 104)

Anders als das Zitat nahelegt, hat dieses Narrativ keine eindeutig vorherrschende Wertrichtung. Denn neben der optimistischen Version gibt es eine ebenso machtvolle kulturpessimistische Variante, die denselben Vorgang als Verfallsgeschichte erzählt – Verlust von Transzendenz und metaphysischer Geborgenheit, Schwund des Heiligen, spirituelle Verödung oder, mit Max Webers prägnantem Begriff, »Entzauberung« (Weber 1995: 19). Ganz offensichtlich hat es zum Erfolg des grand récit der irreligiösen Moderne beigetragen, dass er die tiefe Gespaltenheit dieser Epoche im Verhältnis zu sich selbst mitartikuliert und beiden Tendenzen, die ohnehin oft unauflöslich ineinandergewirkt sind: der Fortschrittsfreude und der Zivilisationskritik, einen Resonanzboden verleiht. Was in Europa nach der napoleonischen Ära den Namen ›Säkularisierung‹ erhalten hat, kann begrüßt oder beklagt werden, ohne dass dies den Status des Narrativs selbst angreifen würde. Aus diesem Sachverhalt lässt sich schon eine erste allgemeine Beobachtung zur Funktionsweise von Narrativen ableiten: dass sie nämlich umso stabiler sind, je mehr und je weiter auseinanderliegende Optionen sie in sich vereinigen. Auch ein zweiter für die Stabilität des Narrativs maßgeblicher Faktor ist schnell zu ermitteln. Wie alle evolutionistischen Konstruktionen ruht auch die Rede von der säkularisierten Moderne einer zugleich exkludierenden und inklusiven Asymmetrie auf und gestaltet sie mit:

›Säkularisierung‹ und ›Wiederkehr der Religion‹

Sie gesteht dem Religiösen durchaus einen Ort zu, nur eben nicht im Zentrum des Fortschritts, sondern an seiner entweder zeitlich überwundenen oder räumlich zurückgebliebenen Peripherie. Exkludierend ist diese Asymmetrie, insofern sie die in religiösen Befangenheiten verstrickten Anderen aus der Wir-Gruppe ausgrenzt, wie sie die implizite Sprecherposition des Narrativs vorsieht; inklusiv, insofern es auch die Unaufgeklärten in den Einzugsbereich der Modernitätsnormen versetzt. Für beide Fälle gilt, dass die säkulare Selbstdefinition der Moderne sich durch den Fortbestand religiöser Phänomene zunächst einmal nicht irritieren lassen muss, weil sie über einen Mechanismus verfügt, mit dem es solche Phänomene gewissermaßen aus der Zone der Relevanz ›wegsortiert‹. Als hegemoniales Konzept gewinnt sie ihre Elastizität gerade dadurch, dass sie auch ihre eigene Negation mitgestaltet und zahlreiche Rubriken für mangelnde Modernität bereitstellt (die durch die teleologische Ausrichtung automatisch als Vormoderne erscheint), in die unter anderem alle aus Sicht der ›Modernen‹ devianten Zeugnisse von religiösem Irrationalismus eingruppiert werden. Dieses Verfahren der einschließenden Ausschließung hat den paradoxen Effekt, dass sogar ein der Idee fortschreitender Säkularisierung widersprechender Augenschein zu deren normativer Festigung dienen kann. Der Fanatismus der Anderen (vorzugsweise Orientalen) stärkt dann die Modernen nur in ihrer Selbsteinschätzung, aufgeklärt und modern zu sein. Entsprechend ist, weitgehend erfolgreich, noch mit dem militanten Islam der Gegenwart verfahren worden, der in der Weltordnung der westlichen Moderne dadurch seinen Platz findet, dass man ihn über die Figur der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ins Mittelalter zurückverweist. So wird bis heute eine Denkform des europäischen Kolonialismus perpetuiert, und zwar in einer doppelten Hinsicht. »Zum einen«, schreibt Reinhard Schulze in seiner Geschichte der islamischen Welt, »war Europa nicht willens oder nicht in der Lage, die islamische Welt genauso säkularisiert zu sehen wie sich selbst. Tatsächlich endete der Horizont der Wahrnehmung des Säkularismus an den durch die europäische Identität gestifteten Grenzen. Zum anderen beschrieb Europa, auch um seine eigene Unvergleichlichkeit zu erhalten, die islamischen (aber auch andere) Welten stets mit den Mitteln der Diachronie« – ein Interpretationsmuster, das in den Kolonien rezipiert, angeeignet und gegen seine westlichen Erfinder gekehrt wurde: und genau dies »kann als die eigentliche Geburtsstunde des sogenannten islamischen Fundamentalismus angesehen werden« (Schulze 2002: 14f.).

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Wie effizient der allochrone Sortiermechanismus entlang der Linie modern/nicht-modern ist, zeigt sich jedoch stärker noch an der Alterisierung des Eigenen als an derjenigen des Fremden. In dieser Hinsicht sind Aussagen zum christlichen Fundamentalismus in den USA besonders interessant. Auch wenn hier die Argumentationen subtiler scheinen, lässt sich doch eine Tendenz ausmachen, den Evangelikalen Modernitätsdefizite zu bescheinigen, die diesmal nicht an der äußeren Peripherie der westlichen Kultur, sondern inmitten einer hochmodernen Gesellschaft entstehen. Das Chicagoer Fundamentalism Project, mit seinen fünf Bänden ein regelrecht enzyklopädisches Unternehmen, porträtiert die christlichen Radikalen als konservativ, antiurban, tendenziell bildungsfern und damit letztlich als Modernisierungsverlierer; es kommt verallgemeinernd zu dem Schluss: »This marginality to the modern in the sense of social status and education may be characteristic of fundamentalist movements across religious traditions and cultures« (Marty/Appleby 1995: 436). Fundamentalistische Strömungen werden zwar als eine durchaus moderne Reaktionsbildung auf Säkularisierungsprozesse, das heißt als Retraditionalisierung und nicht – wie es die Gläubigen zumeist selber tun – als Fortleben von Tradition gedeutet.2 Aber es wird doch nahegelegt, dass sie Symptome einer Überforderung sind und insofern ein inadäquates Verhalten darstellen. Im Hintergrund steht dabei eine sozialpsychologische Begründungsfigur, derzufolge die beschleunigten Wandlungsprozesse der Moderne bei den Menschen Verunsicherungen und Orientierungsdefizite auslösen, die sie durch ihren religiösen Glauben zu kompensieren versuchen. Kompensation ist das Schlüsselwort, durch das die Zuflucht zu starken Glaubensgemeinschaften in das Dispositiv der Modernisierung eingefügt wird. Den Glaubenssuchern geht es dann wahlweise darum, eine verfallene Gemeinschaftlichkeit, Identität, einen lang entbehrten Sinn- und Lebenszusammenhang wiederzugewinnen. Sie wollen Modernisierungsschäden ausgleichen oder streben überhaupt danach, eine Sehnsucht zu stillen, die das moderne Leben nicht befriedigen kann. Und so fügen sich sogar die Erklärungsmodelle, die der Erneuerung religiöser Praktiken gewidmet sind, in den grand récit der Säkularisation ein. Denn auch in solchen Modellen ist die Religion – oder jedenfalls die Bedürfnisse, auf die sie Antworten bietet – eine letztlich anachronistische Angelegenheit; sie 2 | »The defining and distinctive structural cause of fundamentalist movements is secularization« (Marty/Appleby 1995: 441).

›Säkularisierung‹ und ›Wiederkehr der Religion‹

stammt eigentlich aus einer anderen Zeit, die von ihr erfüllt war; in der Gegenwart stellt sie ein Heilmittel für die Teile der Bevölkerung dar, die in der Gefahr sind, hinter ihrer Zeit zurückzubleiben. Dass sich religiöse Orientierungen sozusagen entgegen dem geschichtlichen Sinn wieder breit machen können, wird in einen kausalen Zusammenhang mit den Defiziten des Projekts der Moderne gebracht und bleibt so in der Spur jener sentimentalischen Moderne-Erzählung, die wie ein dunkler Zwilling die Geschichte vom Fortschritt und der Emanzipation der Menschheit begleitet. Selbst Darstellungen, welche die Zeitgemäßheit religiöser Erweckungsbewegungen nicht verleugnen, tun sich schwer, auf einprägsame Weise einen positiven Zusammenhang zwischen Modernisierung und intensivierter Frömmigkeit herzustellen.

3. D IE R ELIGIOSITÄT DER A NDEREN Für das Narrativ der Säkularisierung lassen sich in einer ersten Annäherung und zunächst vergleichsweise abstrakt zwei Erfolgsbedingungen angeben. Erstens ist es imstande, das ambivalente Selbstverhältnis der Moderne in sich auszutragen; es lässt sich gleichermaßen unter das Vorzeichen des Fortschritts wie des Verfalls stellen. Zweitens erzeugt es eine Asymmetrie, die sogar offenbare Gegentendenzen zum Säkularisationsprozess in sich einschließt, und zwar dadurch, dass es ihnen einen Platz an den Rändern des Hauptstroms der Entwicklung zur Moderne zuweist. (Ganz allgemein bemisst sich die Durchsetzungskraft eines Narrativs daran, inwieweit es durch bestimmte Klauseln und Umkehrfiguren auch Kontraevidenzen einzubeziehen vermag und sich so gegen einfache Widerlegungen abdichtet.) Das Gefälle, das dem Narrativ der Säkularisation innewohnt, bringt nun allerdings in beiden Richtungen erhebliche Konstruktionszwänge mit sich. In der behaupteten Prozessrichtung der Moderne führt es, wie eben angedeutet, dazu, dass fortbestehende oder sich sogar intensivierende religiöse Bewegungen in das Generalschema der Verdiesseitigung eingelesen werden müssen. Das kann entweder durch Alterisierung (aktuell über den Begriff des Fundamentalismus, der ja immer der Fundamentalismus der anderen ist) oder durch sozialpsychologische Begründungsfiguren wie etwa Kompensation erfolgen. Eine komplementäre Notwendigkeit ergibt sich in der umgekehrten Zeitrichtung. Hier muss der grand récit der Sä-

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kularisation von der einstmals oder anderswo herrschenden Frömmigkeit und Geborgenheit im Glauben erzählen. Asymmetrische Narrative vollziehen ja immer eine Doppelbewegung, sie organisieren ihren Erzählstoff sozusagen gleichzeitig vorwärts und rückwärts, auf das imaginierte Endziel hin und von ihm weg. Und so steht der Vision einer ganz und gar verweltlichten Zukunft das Panorama vormaliger, noch unerschütterter Glaubensformen gegenüber. Die Rechnung ist einfach: Wenn die Menschheit wahlweise immer aufgeklärter oder gottloser wird, dann muss sie zuvor unmündiger oder gottesfürchtiger gewesen sein.3 Es handelt sich hier um eine allein aus der Logik des Narrativs abgeleitete Darstellungsnotwendigkeit, die zunächst einmal nichts mit empirischen Sachverhalten zu tun hat. Im Gegenteil ist es faszinierend zu beobachten, wie dieser narrative Zugzwang sich aus sich selbst heraus die Suggestion von Evidenz schafft. Und dies gilt keineswegs nur auf der Ebene der Alltagsmythologie – also jener geläufigen Rede davon, wie es früher war, die den Wechsel der Generationen skandiert –, sondern in gleicher Weise im wissenschaftlichen Diskurs. Denn auch die heute gebräuchlichen kulturgeschichtlichen Periodisierungen leben von der Suggestivkraft eines ›noch nicht‹ oder ›nicht mehr‹, das zwar seltener als noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein im großen Stil der Geschichtsphilosophie daherkommt, aber in einer grammatikalisch miniaturisierten, dadurch fast unkenntlich gemachten Schwundform fortwirkt. Die europäische Literaturgeschichtsschreibung jedenfalls scheint sich solcher Konstruktionen nicht enthalten zu können, die wie ein Stafettenlauf das Signum der Gläubigkeit an die jeweils voraufgehende Epoche weiterreichen. Kaum eine Monografie über die ästhetischen Revolutionen um 1900 kommt ohne den Hinweis auf eine metaphysische Krisenerfahrung 3 | In prägnanter Formulierung bei Charles Taylor: »[…] why was it virtually impossible not to believe in God in, say, 1500 in our Western society, while in 2000 many of us find this not only easy, but even inescap able?« (Taylor 2007: 25) – »Naïveté is now unavailable to anyone, believer or unbeliever alike.« (Ebd.: 21) Dieser letzte Satz liest sich fast wie Schiller in seiner Abhandlung Über naive und senti mentalische Dichtung, wobei sich aus Schillers Argumentationsgang immerhin erschließen lässt, dass das naive Bewusstsein eine perspektivische Konstruktion des sentimentalischen ist. Vgl. dagegen den Ansatz von Paul Veyne (1987), der sich mit der Kopräsenz von Glauben und Skepsis in alten wie in neuen Zeiten befasst.

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aus, was ja impliziert, dass es davor einen Zustand metaphysischer Sicherheit gab. Das Stichwort ›Transzendenzverlust‹ ist aber schon aus den Überblicksdarstellungen über die Epochenschwelle um 1800 nicht wegzudenken – gern wird ja überhaupt das ausgehende 18. Jahrhundert unter das Zeichen einer Erschütterung der Theodizee (nach dem Erdbeben von Lissabon von 1755) gestellt. Im kontrastierenden Rückblick erscheint dadurch das Barock als Zeitalter christlicher Frömmigkeit; doch nicht erst seit Walter Benjamin gilt für das Barock die Diagnose einer zerstörten und melancholisch betrauerten Heilsgewissheit. Das macht es nötig, wenigstens den Menschen des Mittelalters religiöse Geborgenheit zu attestieren – mit der ironischen Pointe, dass sich die Theoretiker fortschreitender Verweltlichung ihr Mittelalterbild von sehr parteiischer Seite, nämlich von den ordo-Modellen des schriftmächtigen katholischen Klerus jener Jahrhunderte, diktieren lassen. Und so geht es weiter, jeweils bis an den Rand der eigenen disziplinären Zuständigkeit, bis schließlich die Kette der Rückwärts-Fiktionen in einem Phantasma des mythischen Zeitalters und der mythischen Denkweise mündet. Mit bewundernswerter Folgerichtigkeit haben insbesondere die im Bann des Evolutionismus stehenden Kulturtheorien um 1900, die das koloniale Wissen über sogenannte primitive Kulturen oder Naturvölker verarbeiten, dieses Schema einer retrospektiven Heiligung der Welt durchexerziert. Die Grundlage bildet eine Anthropologie der Angst, wie sie noch Horkheimer und Adorno in ihrer Dialektik der Aufklärung bemühen werden.4 »Alles, was seltsam [im Sinn von: ungewohnt] ist«, so formuliert es Lévy-Bruhl in seinem Buch Das Denken der Naturvölker, »ist für den Eingeborenen ein Gegenstand der Angst […]« (Lévy-Bruhl 1921: 55). Angst lässt alle Erscheinungen zu übermächtigen Eindrücken werden, die sich mit einer fluiden, noch präanimistischen Ahnung eines allgegenwärtig Heiligen verbindet. Auf dieser Stufe ist die Welt voller Geistwesen und Götter, die entstehen und vergehen, so flüchtig wie die Impressionen der noch ganz unverstandenen Natur. Gleichzeitig ist in einer solchen Durchseelung der Welt schon der Keim eines geistigen Fortschritts angelegt. Mit den Worten von Ernst Cassirer:

4 | »Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen« (Horkheimer/Adorno 1984: 19).

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»Ein beliebiger Vorstellungsinhalt, ein beliebiger Gegenstand kann, sofern er in noch so flüchtiger Art das mythisch-religiöse Interesse erweckt und auf sich lenkt, zum Rang eines eigenen Gottes, eines Dämons erhoben werden. Daneben aber verläuft eine andere Bewegung, die darauf gerichtet ist, die äußeren Dämonen in innere, die Augenblicks- und Zufallsgötter in schicksal hafte Wesen und Gestalten umzuwandeln.« (Cassirer 1925: 208f.)

Cassirer stützt sich teilweise auf Hermann Useners Götternamen. Versuch einer Lehre von der religiösen Begriffsbildung von 1896, wo der Entwicklungsgang von der anfangs undifferenzierten »masse der sondergötter« zu »persönliche[n] götter[n] umfassenderen machtbereichs«, die Träger von festen Eigennamen sind, beschrieben wird (Usener 1896: 323). Damit ist der Pfad eingeschlagen, der über verschiedene Stufen der Entmythologisierung zu einer allmählichen Scheidung des Heiligen vom Profanen, zu religiöser (insbesondere: monotheistischer) Systembildung und schließlich zur wissenschaftlichen Erfassung der Wirklichkeit führen wird. Die »schlichte Ergriffenheit« durch den Gegenstand, die »Intensität« und »unmittelbare Gewalt, mit der das mythische Objekt für das Bewußtsein da ist« (Cassirer 1925: 96), verwandelt sich Schritt für Schritt in die distanzierende Objektivität rationaler Erkenntnis. Auch in solchen Konstruktionen steht der Gewinn- eine Verlustrechnung gegenüber; am deutlichsten bei Lévi-Bruhl, einem der Begründer der Ethnologie: »Verglichen mit der Unwissenheit, wenigstens mit der bewußten Unwissenheit, ist die Erkenntnis zweifellos im Besitz ihres Objekts. Aber verglichen mit der Partizipation, welche die prälogische Geistesart realisiert, ist dieser Besitz immer nur unvollkommen, unzureichend und gleichsam äußerlich. Erkennen heißt im allgemeinen objektivieren, gegenständlich machen; etwas objektivie ren heißt, es nach außen zu projizieren als etwas Fremdes, das erkannt werden muß. Welch intimes Gemeinschaftsbewußtsein zwischen den Wesen, die an einander partizipieren, flößen hingegen die Kollektivvorstellungen der prä logischen Geistesart ein!« (Lévy-Bruhl 1921: 343f.)

Lévi-Bruhl will das mythische, von ihm als »prälogisch« bezeichnete Denken als ein Denken eigenen Rechts verstanden wissen und tritt insofern aus einem simplen teleologischen Schema heraus. Das Denken der ›Primitiven‹ hat ihm zufolge seine Stärke darin, dass es ein Verhältnis der mystischen Partizipation zwischen den Menschen und ihrer Umwelt stiftet, und

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zwar gleichermaßen in der Sach- wie in der Sozialdimension. Der Mangel an Individuierung, der einer Erkenntnis des einzelnen Gegenstandes im Wege steht, erscheint so, anders akzentuiert, als ein Reichtum an kollektiver Teilhabe. So ist der ›Primitive‹ den Dingen näher verbunden, auch wenn er sie nicht begrifflich durchdringt; sie stehen ihm nicht »als etwas Fremdes« gegenüber; und zugleich ist er gegenüber seinen Mitmenschen weniger isoliert, weil ein »intimes Gemeinschaftsbewußtsein« ihn trägt. Im Umkehrschluss führt der Moderne ein zwar von elementarer Naturfurcht befreites, aber seelenloseres, abstrakteres, kälteres und letztlich einsameres Leben.

4. Z UM P ROBLEM DER F ALSIFIK ATION DES S ÄKUL ARISIERUNGSNARR ATIVS Es kostet Mühe, der Versuchung nicht nachzugeben, an dieser Stelle in einen Exkurs zu dem vitalistischen Unterstrom des Säkularisationsnarrativs einzutreten, der sich in dem eben angeführten Zitat aus Lévi-Bruhl zeigt und der überhaupt dem Denken des (verlorenen) Heiligen in der Moderne, von Nietzsche bis Bataille, mächtige Energien zuführt. (Auch Max Webers Diagnose der Entzauberung speist sich aus diesen Energien.) Den inneren Zusammenhang der verschiedenen, auf den ersten Blick ganz disparat scheinenden Verlustanzeigen der Moderne nachzuzeichnen – im Hinblick auf das Heilige, die Gemeinschaft, das Leben, den Trieb und nicht zuletzt auf das Reale –, wäre ein außerordentlich lohnendes Unterfangen, für das hier jedoch kein Raum ist. Stattdessen soll die Frage erörtert werden, welche Umstände die Große Selbsterzählung von der säkularen Moderne ermöglicht haben und was dazu geführt haben könnte, dass diese Selbsterzählung in jüngster Zeit von einem anderen Narrativ abgelöst oder zumindest abgewandelt wurde – der ›Wiederkehr der Religion‹. Dabei ist festzuhalten, dass ›Wiederkehr der Religion‹ die von europäischen Erfahrungen her auf die gesamte zivilisierte Menschheit hochgerechnete ›Säkularisierung‹ ja nicht wirklich revidiert, sondern auf dem Vorgängernarrativ gleichsam aufsattelt. Dies gilt auch dann, wenn man die Formel von der Wiederkehr der Religion als rhetorische zuspitzende Verkürzung deutet, mit der eigentlich so etwas wie die Wiederkehr der Religion im öffentlichen (westlichen) Bewusstsein gemeint ist. Auch in diesem Punkt zeigt sich die Beharrungskraft des Sä-

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kularisationsgedankens, einschließlich der in ihm als Sedimentschicht abgelagerten eurozentrischen Perspektive. Was hat die Große Erzählung von der fortschreitenden Verweltlichung der Welt anfechtbar gemacht? – Zunächst eine Klarstellung, wo die Antwort nicht zu suchen ist. Die Krise des Säkularisierungsnarrativs hat nicht mit dem Auftauchen neuer Evidenzen zu tun, seien sie aktueller oder historischer Natur. Sie lässt sich deshalb auch nicht daraus erklären, dass Forschung und öffentliche Wahrnehmung inzwischen zu einer kritischeren, differenzier teren Betrachtungsweise gelangt sind.5 Dem ist ganz allgemein die These entgegenzustellen, dass sich erfolgreiche, das heißt kulturell wirkmächtige Narrative, die entsprechende kollektive Energien an sich binden, nicht durch vereinzelte widerständige Tatsachen außer Kraft setzen lassen – so wenig wie Denkstile bei Ludwik Fleck (1980) oder wissenschaftliche Paradigmen in dem Modell von Thomas Kuhn (1976). Wie bereits ausgeführt, sind starke Narrative aufgrund bestimmter Vorkehrungen gegenüber einer sozusagen frontalen Falsifikation weitgehend immun. Mit Sicherheit besteht eine solche eingebaute Immunität gegenüber derjenigen politischen Ent wicklung, die derzeit am häu figsten mit der Idee einer ›Wiederkehr der Religion‹ in Verbindung gebracht wird: nämlich dem Auf kommen eines terroristischen Islamismus, der sich unter Zu hilfenahme verfügbarer OrientalismusKlischees leicht in ein von Modernisierungsnormen geprägtes Weltbild einpassen ließe. Das stärkste Argument gegen die Annahme, dass das Säkularisierungsnarrativ durch Nicht-Übereinstimmung mit den Fakten in die Krise geraten sei, bezieht sich aber nicht auf die Gegenwart, sondern auf seine Entstehungsgeschichte. Denn diese Annahme würde ja voraussetzen, dass der grand récit vom Rückzug der Religion sich seinerzeit im Einklang mit den tatsächlichen Gegebenheiten befand. Das ist aber, wenn überhaupt, nur in einem äußerst eingeschränkten Sinn der Fall. Mittlerweile wurde in großer Breite belegt, dass das 19. Jahrhundert nicht einmal in Westeuropa, und schon gar nicht im Weltmaßstab gesehen, ein Jahrhundert verminderter religiöser Tätigkeit war. Im Gegenteil: Die neuere global history hat überreiches Material zusammengetragen,

5 | Das legt, sehr wortreich, Friedrich Wilhelm Grafs oben zitierte Studie nahe.

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»um zu zeigen, wie im 19. Jahr hundert in zahlreichen unterschiedlichen Zusammenhängen ›revivalist‹ move ments und neue Kirchen aufkamen, welche mobili sie rende Kraft nicht nur die christliche Mis sion entfaltete, wie neue Trägerschichten des Religiösen auftraten, wie ›imperial religions‹ für und auch gegen Imperien politisch instru mentalisiert wurden und wie überhaupt erst am Ende des 19. Jahrhunderts der Begriff der ›Weltreligionen‹ (im Plural) entstand.« (Osterhammel [2005: 14] in Rezension Baylys [2006: 400ff.])

Wäre es rein um wissenschaftlich eruierbare Fakten gegangen, so hätte man auf vielen Feldern ein Miteinander, nicht ein Gegeneinander von intensivierter Religiosität einerseits, gesellschaftlicher Modernisierung andererseits feststellen müssen. Statt also die Krise des Konzepts von der wesenhaft säkularen Moderne zu erklären, lässt die inzwischen freiere Sicht auf die Fakten umgekehrt dessen über 200-jährige Dominanz rätselhaft werden. Was hat es möglich gemacht, einen aus vielfältigen Quellen gespeisten auf klärerischen Antiklerikalismus, der sich im 17. und 18. Jahrhundert in Ländern des nordatlantischen Raumes – vor allem in England, Frankreich und Deutschland – ausbildete, zu einer einheitlichen Zielvorgabe oder, anders akzentuiert, zum Schicksal der gesamten Menschheitsgeschichte zu verallgemeinern? Wenn man nur die deutsche Entwicklung dieses Diskurses berücksichtigt, gewinnt man den Eindruck, es habe sich anfangs um eine eher regionale, nämlich protestantische und näherhin preußisch-protestantische Angelegenheit gehandelt, die ihren doppelten Ursprung in der Kritik am Papsttum und am katholischen Bilderdienst einerseits, der Klage über Besucherschwund, Unkirchlichkeit und Freigeisterei in der eigenen Konfession andererseits nahm (vgl. Graf 2007: 76ff. und passim) und dann gleichsam in eine weltgeschicht liche Dimension hochkopiert wurde. Die Idee einer fortschreitenden Ver weltlichung gründet sich hier weniger auf entsprechende Er fahrungen im Weltmaßstab als vielmehr auf eine bestimmte Dynamik innerhalb eines kulturell produk tiven und Ton angebenden protestantischen Milieus – desselben Milieus, aus dem später der Kultur protestantismus erwuchs. Vor allem im deutschen Bildungswesen des 19. Jahrhunderts zeigt sich eine Tendenz des Protestantismus zur Selbst transformation von einer religiösen in eine philosophisch-weltanschauliche Bewegung, die zu seiner kulturellen Breitenwirkung beitrug, ihn in seiner amtskirchlichen Verfasst-

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heit jedoch nach haltig schwächte.6 Tatsächlich ist ja die akademische Religionskritik in Deutschland zu einem großen Teil das Werk von, wenn man so will, protestantischen ›Dissidenten‹ gewesen. Diese Dialektik aus kultureller Suprematie und Selbstschwächung betrifft indessen nicht nur den Protestantismus, sondern wohnt dem christlichen Monotheismus insgesamt inne – und zwar über die besonderen Bedingungen im nördlichen Europa hinaus auch in seiner weltweiten Mission. Denn die Missionstätigkeit, die der kolonialistischen Expansion Europas teils vorausging und sie teils ideologisch flankierte, war ja ihrerseits zur guten Hälfte nichts anderes als ein Säkularisierungsprogramm. Bevor Missionare und Kolonialoffiziere die europäische Zivilisation in fernen Weltteilen ausbreiten konnten, mussten sie erst die einheimischen Kulte unterdrücken, Altäre umstürzen, Götzenbilder zerstören und Priester als Scharlatane enttarnen.7 Monotheistische Religionen, die die Götter der anderen nicht mehr als andere Götter gelten lassen, sondern mit der »mosaischen Unterscheidung« (Assmann 2003) zwischen dem einen richtigen und den vielen falschen Göttern Ernst machen, lassen in ihrer Theologie immer schon einen halbierten Atheismus mitlaufen und tragen insofern den Keim der Säkularisierung in sich. Ihre Kritik an Priestertrug und Idolatrie gibt die intellektuellen Werkzeuge für eine verallgemeinerte Skepsis gegenüber Religion überhaupt an die Hand. Wenn sich diese spekulative Herleitung erhärten lässt, dann wäre die Große Erzählung von der Säkularisierung als Weltprozess nicht einfach nur Ausdruck eines selbstbewussten aufklärerischen Eurozentrismus, sondern ginge vielmehr aus einem zumindest partiellen Zusammenbruch der Asymmetrie zwischen Europa und dem Rest der Welt, zwischen der einen wahren Religion und den vielen falschen Kulten hervor. Die ›Entzauberung der Welt‹, die zum Pro-

6 | Zu der in das kulturelle Zentrum des Protestantismus, nämlich das Pfarrhaus, schon eingebauten Säku lari sie rungstendenz vgl. die klassische Studie von Albrecht Schöne (1968). 7 | Es ist bezeichnend, in welchem Maß der Gegensatz der Konfessionen innerhalb von Europa die koloniale Wahrneh mung überseeischer Völker bestimmte. So werden im protestantischen Reiseschrifttum der Frühen Neuzeit immer wieder Parallelen zwischen den Wilden Amerikas und den als heidnisch denunzierten Katho liken gezogen (vgl. Mahlke 2005).

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gramm der europäischen kolonialen Mission gehörte, hätte sich am Ende gegen ihre christlichen Urheber gewendet.8 Lenkt man den Blick auf die konkreten Entstehungsumstände der Säkularisierungstheorie, dann fällt auf, wie stark sie von den inneren Verhältnissen einiger europäischer Staaten geprägt wurde. Manuel Borutta hat in einer glänzenden Studie dargelegt, dass diese Theorie sich in den europäischen Kulturkämpfen des 19. Jahrhunderts ausformte, in denen es, vor allem in Auseinandersetzung mit der katholischen Amtskirche, »um den Ort und die Bedeutung der Religion in der Moderne« ging (Borutta 2010). Der Schwerpunkt dieser Kämpfe änderte sich, je nachdem, welche Kontrahenten sich gegenüberstanden. Aber alle ließen sich unter denselben Generalnenner bringen, wodurch ›Säkularisierung‹ zu einem überdeterminierten und umso machtvolleren Globalkonzept wurde: »Die Liberalen wollten eine Differenzierung von Politik und Religion, eine Privatisierung der Religion, eine Unterordnung der Kirche unter den Staat und eine Verweltlichung öffentlicher Institutionen wie der Schule, aber auch eine Befreiung von kirchlichem Zwang und religiöser Diskriminierung erreichen. Demokraten und Radikale, später auch Sozialisten und Anarchisten, Freidenker und Positivisten forderten mehr: Staat und Kirche sollten getrennt, Glauben durch Wissen ersetzt werden. All diesen – zum Teil verfeindeten – Kräf ten ging es um eine Säkularisierung der Gesellschaft, unter der sie freilich Unter schiedliches verstanden: eine Privatisierung der Religion, ihre Differenzie rung von anderen Sphären, eine Rationalisierung der Welt.« (Borutta 2010: 351)

8 | Es wäre sicher ergiebig, in diesem Zusammenhang den Werdegang einiger Schlüssel begriffe genauer zu untersuchen, die aus dem Kulturkontakt zwischen Europäern und indigenen Völkern entstanden. Zu denken ist an die Begriffsgeschichte des Fetisch, der ur sprünglich als Vehikel für die Asymmetrie zwischen ver nünftiger Religion einerseits, abergläubischer Beseelung von Unbe seeltem andererseits diente und erst später eine wach sen de Rolle in der kulturellen Selbstkritik der Europäer zu spielen begann; im Kontrast dazu die Karriere der poly nesischen Lehn wörter mana und tabu um 1900, die bald als universelle Konzepte diskutiert wurden, um im Licht ethnografischer Befunde bestimmte Funktionsweisen der eigenen Gesell schaft besser zu verstehen. – Anregungen hierzu verdanke ich einem Gespräch mit Erhard Schüttpelz im Kreuzlinger Park am 28.5.2009.

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Zur Karriere des Konzepts hat möglicherweise gerade die Tatsache beigetragen, dass die antikirchlichen Bewegungen in Europa ihr Programm nur in einem begrenzten Ausmaß durchsetzen konnten. Stattdessen nahm sich die Wissenschaft seiner an und erklärte zur historischen Norm, was in der historischen Realität nicht ohne Weiteres zu bewerkstelligen war. Das wiederum hatte zur Folge, dass das Narrativ einer auf vollständige Verweltlichung zustrebenden Moderne als Narrativ unsichtbar wurde: »Während die praktische Umsetzung der Säkularisierung – nicht nur in Deutschland – scheiterte, hatte sie auf einer anderen Ebene Erfolg: Von einer Selbstbeschreibung progressiver, bürgerlich-männlicher Eliten wurde sie nach 1900 zur Selbstbeschreibung der westlichen Moderne, zum Definitionsmerkmal moderner westlicher Gesellschaften. Als wissenschaftliche Theorie wurde die große Erzählung von der Säkularisierung durch die Religionssoziologie institutionalisiert, wo sie noch immer viele Anhänger hat. Klassiker wie Max Weber und Émile Durkheim erklärten Säkularisierung, unter der sie Ver schiedenes verstanden, zum Kern des Modernisierungsprozesses. […] Indem die Säkularisierungstheorie mit den Sozialwissenschaften letztlich auch die historische Kulturkampf-Forschung prägte, verwischte sie ihre Spuren.« (Borutta 2010: 375)

5. H EGEMONIALE S EMANTIKEN UND R ADIK ALISIERTE G EGENSTREBUNGEN Ob man die Entchristianisierung Europas im Fortschrittsdenken des 19. Jahrhunderts als nicht-intendierte Spätfolge des religionskritischen Potenzials der christlichen Mission selbst oder als theoretisches Surrogat eines unvollendeten politischen Programms mit liberal-kulturprotestantischem Akzent deutet, sie bleibt insoweit eine innerchristliche Angelegenheit. Im Gegensatz dazu wirkt sich der andere Teil des Moderne-Diskurses, die Rede von der Gläubigkeit der Nicht-Modernen, in erheblichem Maß auf den Rest der Welt aus. Weil sich daraus später auch die Geschichte von der Wiederkehr der Religion ableiten wird, ist es ratsam, diesem Gesichtspunkt eingehendere Aufmerksamkeit zu schenken. Einige allgemeine Betrachtungen zur Funktionswiese hegemonialer Semantiken seien vorausgeschickt. Solche Semantiken erschöpfen sich nicht darin, dass sie ein Bedeutungsmonopol zu errichten versuchen. Vielmehr macht es einen Großteil ihrer Wirksamkeit aus, dass sie Redepositionen festlegen, die über

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eine größere oder geringere Teilhabe am hegemonialen Sinn entscheiden. Das schließt ein, dass sie auch die Abweichungen vorbestimmen; jede hegemoniale Semantik ist zugleich das Bezugssystem für mehr oder minder radikale Gegenbildungen und Anti-Narrative. In einem schematischen Aufriss ist zunächst zwischen der Zugehörigkeit zu einer hegemonialen Kultur und der Akzeptanz ihrer Normen und Werte zu unterscheiden. Es gibt diesbezüglich nicht nur zwei mögliche Positionen, sondern vier: Man kann einer dominierenden Kultur oder Sozialsphäre angehören und ihre Wertvorstellungen teilen (Position 1), man kann davon ausgeschlossen sein und auch seine Zustimmung zu der angeblich universellen Geltung der entsprechenden kulturellen Semantik verweigern (Position 4). Das sind die einfachsten Möglichkeiten. Komplizierter – und interessanter – sind die in sich unstimmigen Positionen: Man kann als Angehöriger einer hegemonialen Kultur deren Ideologie kritisieren (Position 2), wie es etwa bei vielen westlichen Protestbewegungen in den siebziger Jahren der Fall war, die sich mit antiimperialen Positionen der Dritten Welt solidarisiert haben. Und man kann von der Partizipation an der hegemonialen Gesellschaft ausgeschlossen sein und sich doch ihre Wertvorstellungen zu Eigen machen (Position 3) – das ist, zumindest für lange Zeit, das Drama nichteuropäischer Eliten gewesen. Anerkennung einer hegemonialen Wertordnung (normative Dimension)

Zugehörigkeit Nichtzugehörigkeit zur hegemonialen Kultur

ja

nein

1

2

Inklusion (Soziale Dimension)

3

4

Exklusion

Wie schon ein so simples Vier-Felder-Schema zeigt, ist Hegemonie weniger ein stabiler Zustand als ein durch permanenten Grenzverkehr geprägter Prozess. Das wird deutlich, wenn man den Quadranten in zwei Diagonalen zerlegt, die eine von links oben nach rechts unten, die andere von links unten nach rechts oben. Die Positionen 1 und 4 sind unproblematisch und insofern auch undynamisch: Position 1 ist immer ›innerhalb‹, Position 4 immer ›außerhalb‹, und zwar jeweils in Übereinstimmung mit

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sich selbst. Die Achse der Felder 2 und 3 dagegen führt Unruhe in das Schema ein, weil die hier einzutragenden Positionen hybrid sind: halb drinnen, halb draußen. Position 2 ist der logische Ort der Dissidenz. Sie erlaubt es, innerhalb eines Systems dessen Exklusivitätskriterien anzuzweifeln. Dies ist das Feld, von dem Innovationen ausgehen, das die jeweilige Ordnung in Widerspruch zu sich bringt. (Drastischer gesprochen: aus diesem Feld rekrutieren sich die Revolutionäre. Ohne die Mitwirkung von inneren Gegeneliten, die dieses Feld besiedeln, wird keine hegemoniale Ordnung zu stürzen sein.) Noch wichtiger aber scheint die Funktion von Feld 3: das Operationsfeld derjenigen, die eine Kultur anerkennen, aber ihr nicht angehören. Vermutlich ist dies die Position, die das hegemoniale Dispositiv wirklich stabilisiert. Nur wenn die Zahl derjenigen, die Teilhabe verlangen, größer als die Zahl der faktischen Teilhaber ist, entfaltet eine hegemoniale Ordnung so etwas wie einen Sog, der ihr affektive Aufladung verschafft und sie zum Objekt eines überschießenden Begehrens macht. Zum Dynamismus dieses Vier-Felder-Schemas trägt bei, dass die radikalen Gegenströmungen, die sich im Einzugsbereich hegemonialer Ordnungen ausbilden, sich ihrerseits in hegemoniale Semantiken verwandeln oder in ihnen aufgehen können. Historisch dürfte dies eher die Regel als die Ausnahme sein. Ein für die Geschichte der politischen Imagination folgenreiches Beispiel ist die biblische Moses-Erzählung, die in vielen Zügen als eine Erzählung »zur Abwehr des ideologischen Anspruchs der assyrischen Hegemonialmacht« entzifferbar ist (vgl. Otto 2006: 104). Über zwei Jahrtausende später wird das Buch Exodus bei den Puritanern, die in Nordamerika ein neues Israel gründen, zum Vehikel einer kolonialen Landnahme riesigen Ausmaßes und zum Basisnarrativ eines religiösen Sendungsbewusstseins, das sich im Lauf der Zeit in imperiale Dimensionen ausweitet. Vor Kurzem hat Jan Philipp Reemtsma die Reformation insgesamt als eine »fundamentalistische Regression« gekennzeichnet, die auf eine Expansionskrise des katholischen Europas reagierte, bevor sie selbst hegemoniale und expansionistische Züge annahm (Reemtsma 2008: 74). Und bekanntlich geht schon das antike Christentum aus einer radikalen Gegenerzählung hervor, die von der Peripherie des Imperium Romanum ins Machtzentrum vordrang und dort zur Staatsreligion wurde. Dieser ›Seitenwechsel‹ ist vor allem deshalb von Belang, weil die etablierten Herrschaftssemantiken Elemente des anfänglichen Widerstands

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konservieren (und instrumentalisieren), so dass sie selbst denen, die sie bedrücken, im Gewand eines Freiheitsversprechens entgegentreten. Dieses Gemisch aus Nötigung und Verheißung entfaltet eine Bindekraft eigener Art. Ohne dass darauf hier weiter eingegangen werden kann, sei die Behauptung riskiert, dass solche double binds einen Großteil der hegemonialen Wirksamkeit ausmachen. Hegemoniale Semantiken und radikale Gegenströmungen sind sich dadurch verbunden, dass sie von zwei Seiten her eine asymmetrische Beziehung gestalten. Was den Hegemon angeht, so wird er sich weigern, seinen Widerpart als gleichrangig anzuerkennen. Er wird in die herrschende Semantik Reziprozitätsblockaden einbauen und gegenläufigen Strömungen nicht nur ihre Berechtigung, sondern geradezu ihre Rationalität streitig machen. Die hegemoniale Semantik scheint dabei nur eine abhängige Variable der faktischen Machtungleichheit zu sein. Herfried Münkler hat das am Beispiel der Kriegsbegründung von Imperien illustriert, die sich vorzugsweise auf das Konzept des gerechten Krieges berufen: »Imperiale Kriege wurden demnach nicht aus symmetrischen Rechtsgründen – also nach dem Muster von Duellen – ausgetragen, sondern sie galten als eine Form des Vorgehens gegen Gesetzesbrecher. Die Idee des gerechten Krieges fußt auf einer Asymmetrie der Rechtsgründe. Dieser Gedanke zieht sich durch die Geschichte imperialer Kriegführung wie ein roter Faden […]. In solchen Kriegen lässt sich eine starke Tendenz zur Krimi nalisierung des Gegners beobachten; der Feind wird grund sätzlich nicht als Gleicher und damit auch nicht als legitime Kriegspartei anerkannt, was zur Folge hat, dass selten nach den Regeln des Kriegsvölkerrechts gefochten wird.« (Münkler 2005: 192)

Der Feind an der Peripherie, dem ein Platz innerhalb der normativen Ordnung des Imperiums verweigert wird, muss darauf mit einer entsprechenden Gegenerzählung reagieren. Er sieht sich dazu gezwungen, zur Beglaubigung seines Handelns semantische Ressourcen in Anspruch zu nehmen, die nicht schon vom Hegemon erfolgreich vereinnahmt worden sind. Er wird der Macht des Allgemeinen das Recht des Besonderen entgegenhalten und sich dabei typischerweise auf lokale beziehungsweise regionale Sitten, Rechte und Glaubensformen berufen. Zumindest in der Moderne ist deshalb die Berufung auf Autochthonie eine wichtige Widerstandsquelle geworden. Wobei stets der Effekt zu berücksichtigen ist, dass die antihegemonialen Strebungen sich ihren semantischen Ort oft ex ne-

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gativo von der hegemonialen Ordnung zuweisen lassen. Im Widerspiel zwischen Selbst- und Fremddefinition richten sie sich im Raum der Auslassungen, Selbstzweifel, Utopien, in den Barbarismen, Romantizismen, Exotismen und Orientalismen des Diskurses der Herrschenden ein (Feld 2 im aussagelogischen Schema). Ob sie wollen oder nicht, bleiben sie bis zu einem gewissen Grad an die überlegene semantische Formation gekettet, die sie bekämpfen. Auf das Dispositiv des gerechten Krieges, das dem Störer der imperialen Ordnung nur die Rolle eines zu bestrafenden Kriminellen zubilligt, wird dieser Störer dadurch reagieren, dass er seinem Handeln eine gewissermaßen exterritoriale ideologische Rechtfertigung gibt. Wenn ihm in dieser Welt kein Platz eingeräumt wird, muss er sich auf eine außerweltliche, das heißt außerhalb der Reichweite der hegemonialen Semantik liegende Legitimationsquelle berufen. Es liegt nahe, dies auf dem Weg einer sakralen Selbstautorisierung zu tun. Und so steht dem gerechten Krieg des Hegemons idealtypisch der heilige Krieg des aus der hegemonialen Ordnung Ausgeschlossenen gegenüber. Auf eine solche Weise ließe sich, sehr verkürzt, die Genese militanter Fundamentalismen rekonstruieren. Akzeptiert man dieses Beschreibungsmodell, dann erübrigt sich die Rede von einer einseitig religiöskulturell motivierten Gewalt. Die Bezugnahme auf Religion erscheint dann nicht als Ursache, sondern als Effekt eines Kampfes zwischen zwei Gegnern, die sowohl militärisch als auch im Hinblick auf die Dimension der soft power extrem ungleichgewichtig sind.9 Zum Mittel der Heiligkeit – zumal einer apokalyptisch dramatisierten Heiligkeit – greift, wer keine anderen Mittel verfügbar glaubt und in jeder innerweltlichen Form von Eskalation notwendig verlieren müsste. Heiligkeit ist eine prinzipiell un9 | Vgl. Münkler (2005: 204f.) Münkler identifiziert einen neuen Typus von Bürgerkriegen, der nicht mehr um materielle Ressourcen, sondern »um die kulturelle Identität der Menschen geht« (204). Was von den »antiimperialen Akteuren […] dabei hauptsächlich abgelehnt und bekämpft wird, ist die aus den imperialen Zentren in die Peripherie diffundierende weiche Macht […]. Tatsächlich nimmt soft power einen wesentlich größeren Einfluss auf die Lebensweise von Gesellschaften als hard power: Letztere tangiert nur die Macht verhältnisse, Erstere verändert die Identität. Fundamentalismus in seinen unterschiedlichen Spielarten ist vor allem Widerstand gegen die weiche Macht eines imperialen Zentrums« (205).

›Säkularisierung‹ und ›Wiederkehr der Religion‹

endliche Ressource für diejenigen, die nicht über die offiziellen, institutionell standardisierten und mit entsprechender Sanktionsmacht ausgestatteten Legitimationsgründe verfügen. Sie bietet überdies eine geeignete Trägersemantik, mit deren Hilfe sich ein weites Netz von Solidarbeziehungen knüpfen und aufrechterhalten lässt. Dieses Beziehungsnetz mag die Infrastruktur der globalen Waren-, Geld- und Nachrichtenströme nutzen, aber es stellt sie in den Dienst einer partikularistischen Gegen-Identität.

6. R ESÜMEE Die vorstehende Diskussion zweier Großer Erzählungen – erst von der säkularisierten Moderne, dann von der Wiederkehr der Religion – ist in vielen Hinsichten unvollständig geblieben. Sie hat wichtige Faktoren außer Betracht gelassen: demografische, familiengeschichtliche und geschlechterpolitische Entwicklungen; die Rolle des Bildungswesens, nicht zuletzt der Universitäten als Träger säkularen Gedankenguts, in den verschiedenen Etappen der Globalisierung; die Korrelation zwischen der Aushöhlung von Staatsfunktionen und dem Bedeutungszuwachs religiöser Einrichtungen;10 überhaupt die prägende Kraft von karitativen, pädagogischen und politischen Infrastrukturen, die in vielen Ländern nicht nur der Dritten Welt mehr und mehr in die Obhut von Religionsgemeinschaften übergehen. Stattdessen hat sich dieser Beitrag auf eine im weiteren Sinn narratologische Analyse konzentriert. Sein Anliegen bestand darin, der Eigenlogik kultureller Erzählungen im Hinblick auf die Betrachtungsweise von Religion ein angemessenes Gewicht zuzuerkennen. Wenn man so vorgeht, dann richtet sich das Interesse nicht auf den Schwund oder die Zunahme irgendeiner religiösen Substanz im gesellschaftlichen Bewusstseinshaushalt. Vielmehr hängt es von den jeweils verfügbaren narrativen Optionen ab, wie Mangelsituationen und Spannungslagen von den involvierten Parteien wahrgenommen, dargestellt und sozial verhandelt werden. Kulturel10 | Michel Foucault hat bekanntlich Säkularisierung nicht in erster Linie auf die Trennung von Staat und Kirche, sondern auf die Ausweitung der pastoralen Funktionen des Staates zurückgeführt. Umgekehrt hat der Bedeutungsgewinn religiöser Heilsversprechen damit zu tun, dass das Versprechen des säkularen Staates in vielen Teilen der Welt nicht eingelöst wurde (vgl. Juergensmeyer 2009).

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le Erzählungen üben die Definitionshoheit darüber aus, ob die Beteiligten einen Konflikt auf materielle, ethnische oder eben religiöse Ursachen zurückführen, welche Erinnerungen sie aktivieren und in das kollektive Erzählgut aufnehmen, welche Traditionen sie weiterführen oder versiegen lassen. Insofern stellen Narrative so etwas wie Formatierungsvorlagen dar, nach deren Maßgabe Solidaritäten erzeugt, aber auch Grenzen gezogen und sogar Kriege geführt werden können. Was ihre Entstehung und Durchsetzung angeht, hängen derartige Großerzählungen zwar von äußeren Umständen und vor allem von institutionellen Rahmenbedingungen ab, aber sie bilden ihrerseits die Grundlage für das Selbstverständnis von sozialen Gruppen, das sich wiederum institutionell sedimentiert.11 Denn Institutionen sind, wie an anderer Stelle zu zeigen wäre, letztlich nichts anderes als kommunikativ verfestigte und gegebenenfalls apparativ ausgestattete Narrative. Die Selbsterzählung der europäischen Moderne zeichnete sich durch ihren asymmetrischen Universalismus aus: Als ausgeprägtes Wir-Narrativ stellte sie die anderen, insbesondere die Bildungseliten nicht-europäischer Länder, vor die Alternative, entweder aufgeklärt-säkular auf der Höhe der Entwicklung zu sein oder das Los einer peripheren Unzeitgemäßheit zu tragen. Lange war die Attraktionskraft dieser Erzählung so groß, dass selbst die postkoloniale Emanzipation von Europa sich europäischer Modelle – Nationalismus, Demokratie, Sozialismus – bediente. Spätestens seit 1989 jedoch, als mit dem Ende des Kalten Krieges die noch auf Europa zentrierte Nachkriegsordnung zusammenbrach und damit auch die Epoche der Entkolonialisierung zu ihrem endgültigen Abschluss kam, scheinen sich die semantischen terms of trade geändert zu haben. Wie insbesondere das Beispiel des radikalen Islam zeigt, ging man in großen Teilen der nichtwestlichen Welt dazu über, der wirtschaftlichen, militärischen, ideologischen und konsumkulturellen Hegemonie des Westens die ohnmächtige Macht der eigenen, autochthonen Identität entgegenzusetzen. Und weil der Westen in religiösen Dingen ein doppeltes Antlitz zeigt – er gibt sich teils verweltlicht (in feindseliger Diktion: gottlos), teils christlich-missionarisch –, muss auch die genaue Antwort auf ihn schwankend sein. Sie besteht wechselweise darin, durch erneuerten religiösen Eifer dem Mangel 11 | Eingehendere Überlegungen zu diesem Transformationismus zwischen Erzählung und Realität finden sich in Koschorke 2009 – dieser Aufsatz überschneidet sich mit dem vorliegenden in einigen Passagen.

›Säkularisierung‹ und ›Wiederkehr der Religion‹

an Spiritualität zu begegnen oder sich in Abgrenzung vom Christentum westlicher Prägung auf die eigene Religiosität zu besinnen. Doch auch diese Selbstbesinnung gehorcht bis zu einem gewissen Grad noch dem Schema der Moderne-Erzählung, selbst wenn sie in subversiver Absicht deren Vorzeichen umkehrt. So wie die Modernen sich in ihrem narrativen Selbstporträt säkular gemacht haben, machen sich die Retraditionalisierer religiös; sie ziehen gleichsam Optionsscheine auf Frömmigkeit, nicht zuletzt weil damit die derzeit größten Distinktions- und Feindschaftsgewinne erzielt werden können.

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Religion in modernen Zeiten Die Perspektive des Historikers Christof Dipper

Es ist inzwischen fast schon eine Banalität, von der ›Wiederkehr der Götter‹ oder der ›Rückkehr der Religion‹ zu sprechen, aber dieses postmoderne – die Begründung für diese Zuordnung wird weiter unten geliefert – diskursive Grundrauschen steuert längst sowohl unsere Alltagswahrnehmung als auch die wissenschaftlichen Debatten oder beeinflusst sie zumindest nachhaltig. Eine seriöse Zeitdiagnose ohne Blick auf die Religion wäre heutzutage jedenfalls kaum zu rechtfertigen und so liegt es natürlich nahe, dass auch der Historiker gebeten wird, etwas zum Verhältnis von Religion und Moderne oder, um es disziplinspezifischer zu formulieren, etwas zur Geschichte der Religion in modernen Zeiten beizutragen. Konventionell wäre es, mit einem Überblick über den Stand der Forschung zu beginnen. Es bestünde dabei allerdings immer die Versuchung bzw. Gefahr, in die Kirchengeschichte hinüberzugleiten, denn hier fühlt sich der Historiker auf sicherem, in gewissem Sinne gar ureigenem Terrain und entsprechend zahllos sind die Beiträge, über die zu berichten wäre. Beim Thema Religion ist das anders,1 vor allem wenn es um das 20. Jahrhundert geht und man die Frage der politischen Religion dabei ausklammert. Anders verhält es sich für das 19. Jahrhundert, erst recht aber für die Frühe Neuzeit, in der Religion für Historiker ein so wesentliches 1 | Gangolf Hübinger (2010: 238f.) meint dagegen, die Beiträge der Historiker zur Religion seien besser als ihr Ruf, es gebe freilich Konjunkturen. Von Leopold Ranke bis Franz Schnabel sei das Thema derart intensiv besetzt gewesen, dass in den 1960er Jahren das Pendel in die Gegenrichtung umgeschlagen und nur Thomas Nipperdey als gleichsam erratischer Block übrig geblieben sei, bis dann der »cultural« auch einen »religious turn« ausgelöst habe.

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Thema ist, dass sie – abgesehen von Beiträgen zur Volksreligiosität –2 in den 1980er Jahren das Konfessionalisierungsparadigma entwickelt haben, um die vielfältigen, oft widersprüchlichen Vorgänge in einen entwicklungsgeschichtlich plausiblen Zusammenhang zu bringen.3 Es ist dies übrigens der bisher letzte, wenn nicht überhaupt der einzige religionsbezogene Prozessbegriff, den die Geschichtswissenschaft hervorgebracht hat. Olaf Blaschke schlug dann vor, für das 19. Jahrhundert vom »Zweiten Konfessionellen Zeitalter« zu sprechen (Blaschke 2000: 38-75), hatte damit aber nicht den erhofften Erfolg.4

1. M ODERNE Im Hinblick auf das Thema sind jedoch andere Fragen dringlicher als ein Forschungsüberblick. An erster Stelle steht die Frage, was mit Moderne gemeint ist. Der Begriff wird neuerdings auch von Historikern gerne gebraucht, aber meist als Blackbox, die oft nur ein anderes Wort für Neuzeit ist, fallweise aber auch nach soziologischem Vorbild normativ bzw. geschichtsphilosophisch gefüllt wird und dann eine der Modernisierungstheorie entlehnte ›große Erzählung‹ meint, zu deren eisernem Bestandteil die Vorstellung vom kontinuierlichen Niedergang der Religion gehört.5 Es liegt dann – anders als in der Soziologie mit ihrer bis heute ungebrochenen religionssoziologischen Tradition – nahe, dass aus dieser Perspektive Religion keine große Aufmerksamkeit beanspruchen kann.6 Hier wird ein Moderne-Begriff vorgeschlagen, der diese Mängel vermeidet, indem er die Erfahrungshorizonte, Selbst- und Weltdeutungen vie2 | Die Anhänger dieses Forschungszweigs bemühten sich, »den Eigenwert des Fremden, des Vormodernen, des ›Irrationalen‹« herauszustellen und suchten keinen Anschluss an die allgemeine, ja noch nicht einmal an die Religionsgeschichte (Neugebauer-Wölk 2006: Abschn. 8). 3 | Von Paradigma spricht Schilling (1988: 13). 4 | Die Gründe sind bei Ziemann (2009: 73-76) bündig zusammengestellt. 5 | Es sei sogleich hinzugefügt, dass es in der Soziologie namhafte Gegenstimmen gibt. Sie repräsentieren aber das Fach derzeit nicht. Mehr dazu in Abschnitt 4. 6 | Das hat zur Folge, dass die Ausnahmen begründungspflichtig sind. Zur Wiederentdeckung durch Wolfgang Schieder und Richard van Dülmen in den 1970er Jahren vgl. Neugebauer-Wölk (2006: Abschn. 3).

Religion in modernen Zeiten

ler Menschen namentlich im 20. Jahrhundert zur Grundlage macht und entsprechend konsequent historisiert ist.7 Maßgeblich für die geschichtliche Rekonstruktion ist die Verschränkung sozialstruktureller Basisprozesse mit zeitgenössischen Erfahrungs- und Wahrnehmungsmustern, wobei den zeitdiagnostischen Selbstaussagen gerade auch für die Epochenbezeichnungen große Aufmerksamkeit eingeräumt wird. Das dabei sichtbar werdende Bewusstsein geschichtlicher Diskontinuität, ausgehend von der Erfahrung eines welthistorischen Bruchs, der mit der Chiffre ›1789‹ unzureichend, aber gemeinverständlich umschrieben zu werden pflegt, objektiviert sich in drei jeweils von ›Sattelzeiten‹ bzw. Kulturschwellen eingeleiteten, kulturell definierten Epochen. Die erste setzte um 1770/1780 ein und ist durch einen grundstürzenden Sprach- und Diskurswandel gekennzeichnet, der einen bis in die Antike zurückreichenden Modus der Selbstbeobachtung beendete und die Selbstermächtigung des (westeuropäischen) Menschen, dem Weltenlauf eine neue Richtung zu geben, zur Folge hatte. Massiver Erfahrungswandel brachte eine Theorie der Neuzeit hervor, die die Menschen in die Lage versetzte, anders als bisher in den Geschehnisablauf steuernd einzugreifen, und zwar, das ist das Neuzeitliche, im Lichte einer antizipierten Zukunft (vgl. Koselleck 1979).8 Revolution ist die spektakulärste der neuen Möglichkeiten, die man planen, bekämpfen oder der man reformierend zuvorkommen konnte. Vom »Zeitalter der Revolution« sprachen darum auch alsbald die Zeitgenossen und so soll dieser Terminus als Bezeichnung für die erste der drei modernen Epochen fungieren, die bis gegen 1880 andauerte. 1886 prägten Berliner Schriftsteller den Begriff »Moderne« für die von ihnen vertretene literarische Richtung. Unerwartet war, dass er das Zeitgefühl einer inzwischen erneut erreichten Kulturschwelle offensichtlich derart perfekt zum Ausdruck brachte, dass das neue Substantiv sich rasch in der deutschen Gesellschaft verbreitete und der Brockhaus es bereits 1895 zur »Bezeichnung für den Inbegriff der jüngsten socialen, litterarischen und künstlerischen Richtungen« erklärte (Brockhaus 1895: 959, Stichwort »modern«). Das lag auch an seiner besonderen Eignung, dem nun erst7 | Näheres bei Dipper (2010). 8 | Diesen Artikel verfasste Koselleck ursprünglich für den von ihm verantworteten Sammelband »Studien zum Beginn der modernen Welt« (Koselleck 1977). Dort ist das Feld des von Koselleck und seinen Mitautoren in den Blick genommenen ›Neuzeitlichen‹ erkennbar, was im Wiederabdruck notwendig unterbleibt.

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mals auch von den wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften verursachten massiven Erfahrungswandel zum Ausdruck zu verhelfen. ›Moderne‹ ist ein Kampfbegriff – schon 1873 hatte der Provokateur Rimbaud seinen Lesern eingehämmert, »il faut être absolument moderne« (Rimbaud 1972: 116)9 –, weshalb er, abgesehen von der Theologie, von den Wissenschaften, selbst von der Soziologie, aus deren Wortschatz er heute kaum noch wegzudenken ist, zunächst gemieden wurde. Er erklärt die Gegenwart zum weltgeschichtlichen Höhepunkt und im Überschwang des Anfangs wurde dabei der Preis nicht mitgedacht, den die neue Zeit dafür zu entrichten hatte und den Weber, der den Ursachen des europäischen Sonderweges nachging, mit dem Bild des »stählernen Gehäuses« umschrieb. Wenn es trotzdem gerechtfertigt ist, die Zeit von 1880 bis 1970/80 als Moderne zu benennen (während und obwohl die ›moderne Welt‹ rund hundert Jahre früher begann), so vor allem deshalb, weil sie so von vielen inzwischen im Rückblick bezeichnet wird. Der Historiker wirkt dann eher als Notar, der vergangenen Wortgebrauch registriert, sich aber qualitativer Aussagen darüber enthält. Anders verhält es sich beim Umgang mit der Gegenwart. Vielfach wird derzeit festgestellt, dass in den 1970er Jahren nicht nur ein ölbasierter Konjunkturzyklus endete und die mit ihm verbundene industrielle Gesellschaftsordnung dauerhaft Schaden litt, sondern dass sich auch ein neues Wertesystem herauszubilden begann.10 Als Zeitgenossen nehmen wir das als Pluralisierung, Instabilität, nicht zuletzt als Ungewissheit wahr, was Habermas 1985 von der »neuen Unübersichtlichkeit« sprechen ließ (Habermas 1985). Zu ihr gehört auch die Rede vom Ende der Utopien, d.h. des überkommenen Fortschrittsbewusstseins und der von ihm beeinflussten Zukunftsentwürfe. Rasch war der Begriff »Postmoderne« zur Hand, um sich – verzagend oder selbstbewusst – von der vergehenden Epoche abzugrenzen.11 Der neue Kampfbegriff suggerierte, dass die modernen Zeiten 9 | Der Gedichtband Rimbauds wurde allerdings erst 1901 dem Publikum bekannt, weil der Verlag, nachdem Rimbaud den Druck nicht bezahlen konnte, das Buch zurückhielt. Bis dahin hatten nur Freunde, denen er ein Exemplar geschenkt hatte, davon nähere Kenntnis. 10 | Detailliert zu beiden Aspekten Doering-Manteuffel/Raphael 2008. 11 | Zu den disziplinspezifischen und oft ideologieträchtigen – obwohl gerade deren Fehlen den Unterschied zur Vorgängerepoche ausmachen soll – Gehalten von »Postmoderne« noch immer informativ Daniel 2001: 150-167.

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nun überhaupt zu Ende seien, was bei Kunst- und Literaturwissenschaftlern sowie Kultursoziologen auf große Zustimmung stieß. Der normative Charakter ihrer Zeitdiagnosen machte jedoch die Geschichtswissenschaft misstrauisch. Soweit sich Historiker überhaupt darauf einlassen, die Tragfähigkeit dieses Begriffs zu prüfen, kommen sie zu dem Ergebnis, dass die aktuelle Kritik an der Moderne auffallend derjenigen um 1900 ähnelt, und schließen daraus, dass wir tatsächlich eine neue Epochenschwelle durchleben. Das erlaube jedoch damals so wenig wie heute, ein Ende der Moderne zu behaupten; vielmehr lebe sie in veränderter Gestalt fort (Langewiesche 1998). Unter dieser Prämisse scheint es dann auch gerechtfertigt, die Gegenwart als Postmoderne zu bezeichnen. Die um 1770 beginnende ›moderne Welt‹ gliedert sich also nach dieser Lesart in drei Epochen, die sich nicht einfach ereignisgeschichtlich voneinander unterscheiden, sondern dadurch, dass die Menschen mit Deutungen, Leitbegriffen und Ordnungsmustern die Ereignisketten wahrnehmen und zu steuern versuchen. Weil diese Kategorien zeitspezifisch sind und deshalb wenn schon nicht veralten, so doch infolge bestimmter Konstellationen irgendwann als unzeitgemäß gelten, ergeben sich periodisch Bewusstseinsschübe, die zeitdiagnostisch in einem neuen Begriff kondensieren, der dann zur Leitkategorie aufrückt und einer Epoche den Stempel aufdrückt. Zeitalter der Revolution, Moderne und Postmoderne sind die drei Epochen, in die sich die moderne Welt gliedert,12 jedenfalls nach Ansicht der Meinungsführer und der von ihnen beeinflussten gesellschaftlichen Segmente, und das hat natürlich Rückwirkungen auf die Praxis. Wo aber ist die ›moderne Welt‹ zu finden? Nicht an einem bestimmten Ort, sondern in Räumen, die das Ergebnis kultureller, sozialer und wirtschaftlicher Prozesse sind und deshalb dem Wandel unterliegen. Forschungspraktisch ist diese Feststellung freilich schwer einzulösen und so mag man sich hier mit den nötigsten Abgrenzungen behelfen. Schon ein Blick auf die Quellen legt nahe, dass in diesem Text überwiegend von Deutschland die Rede ist.13 Die moderne Welt ist aber natürlich nicht auf 12 | Als Epochenbezeichnungen im hier definierten Sinne stehen sie kursiv, damit man sie von anderen Wortbedeutungen schon auf den ersten Blick unterscheiden kann. 13 | Dass hier ein national definierter Raum den Rahmen bildet, ist einerseits problematisch, weil Nationen ihrerseits (weitgehend) ein Ergebnis moderner Zeiten sind und gelegentlich auch scheitern. Andererseits mag der Notbehelf ange-

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Deutschland beschränkt, denn Deutschland ist nur eines ihrer Urheberländer neben anderen und die Meinungsführer stehen bekanntlich seit jeher über Grenzen hinweg in vielerlei Form im geistigen Austausch. Die Moderne-Diskurse sind daher in Westeuropa14 bzw. in der nordatlantischen Welt ähnlich, aber nicht identisch. Dasselbe gilt natürlich für die realen Erscheinungsformen der Moderne. Die Unterwerfung großer Teile der Erde durch diesen Großraum und der als Folge dieses und anderer Vorgänge als Globalisierung bezeichnete Prozess verbreitete die westeuropäisch-nordatlantischen Modernen schritt- und teilweise über die ganze Welt, was wiederum bis heute auf die hiesigen Modernen zurückwirkt, doch muss dies hier außer Betracht bleiben.

2. R ELIGION Dass Religion zur modernen Welt gehört, ist unbestritten, das nähere Verhältnis zwischen beiden dagegen umso mehr. Einzelheiten dazu werden weiter unten diskutiert. Hier geht es zunächst um den angemessenen Religionsbegriff, denn von ihm hängt alles Andere ab. Friedrich Wilhelm Graf diagnostizierte 2005 bei uns Historikern in Sachen Religion »elementare Unsicherheit« und Rückständigkeit im Vergleich zur Forschungslage in anderen Ländern, beides verursacht nicht zuletzt durch »erkennbare Rezeptionsaskese gegenüber den akademischen Theologien« (Graf 2005: 234). Seinen Rat, die normativen Gehalte von Religion in den geschichtswissenschaftlichen Religionsbegriff aufzunehmen, wies allerdings Monika Neugebauer-Wölk, die ansonsten seiner Diagnose zustimmte, fünf Jahre später entschieden ab, weil dies die Fülle der von ihr als Religion bezeichneten Erscheinungen namentlich der Frühneuzeit ausschließen würde hen, weil die Nation neben der Religion bis in die Gegenwart die die Praktiken und Wertordnungen der Menschen am stärksten steuernde Größe ist. Es macht deshalb nicht viel Sinn, zwischen einer pfälzischen und preußischen Moderne zu unterscheiden. Geboten ist es dagegen, zwischen städtischer und ländlicher, bürgerlicher und proletarischer usw. Moderne zu differenzieren, aber der hier gewählte Maßstab schließt solche Feinheiten aus. 14 | Die Trennlinie zwischen lateinischem Westen und orthodoxem Osten ist im Hinblick auf die Räume der modernen Welt fundamental. Die religionsgeschichtlichen Unterschiede gelten als weithin ursächlich.

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(Neugebauer-Wölk 2010). Ihr Vorschlag einer disziplinären Matrix ›Religion‹ läuft darauf hinaus, in teilweiser Anlehnung an die Religionssoziologie die bisherige Fixierung auf Christentum und Kirchen zugunsten der Einbeziehung aller Arten von Esoterik und deren spezifischen Organisationsformen aufzugeben, was unter anderem auch zur Folge hat, dass die wesentliche Zäsur ins 15. Jahrhundert zurückverlegt wird, als Antikenrezeption und die Entstehung eines neuzeitlichen europäischen Magieglaubens die religiöse Landschaft auf Dauer erweitert haben. Diesem Entwurf hat schon gleich Gangolf Hübinger (2010) widersprochen und ihm wird auch hier nicht gefolgt, weil er nicht in die Parameter der modernen Welt passt. Er erinnert uns zwar mit Recht daran, die Pluralisierung religiöser Vorstellungen nicht erst in der Moderne beginnen zu lassen, steuert aber nicht auf das in den Augen vieler wichtigste und jedenfalls umstrittenste Merkmal der Moderne zu, die Säkularisierung, sondern interessiert sich in erster Linie für binnenreligiöse Konflikte. Die Leitfrage lautet aber doch, ob Religion bzw. der Umgang mit ihr sich in die epochenspezifischen Deutungsmuster moderner Zeiten einfügt, oder ob die Perspektive einer mehr oder minder geradlinigen, ja eigengesetzlichen Entwicklung (hinter der man je nach Einstellung Gottes Wirken oder heutigentags besonders von den Soziologen vorgeschlagene Prozesskategorien vermuten mag), wie sie sich in den allermeisten Überblicken findet, mehr Plausibilität besitzt. Da Religion sich seit jeher zeitdiagnostischer Stellungnahmen verpflichtet weiß – sie benötigt sie schließlich zur Krisenbewältigung, einer ihrer wesentlichen Aufgaben –, liegt die erste Möglichkeit zumindest nahe. Die Mehrzahl der Religionssoziologen vertritt wie die meisten Soziologen überhaupt auch für ihren Gegenstandsbereich eine universalistische Vorstellung und schafft sich damit unnötige Schwierigkeiten. Was ist denn mit einem Religionsbegriff gewonnen, der alles irgend Religiöse – falls es das überhaupt gibt – auf der Welt zu fassen vermag? Eine kulturgeschichtlich informierte Wissenschaft weiß demgegenüber, dass der Religionsbegriff ein europäisches, aus den Konfessionskonflikten der Frühen Neuzeit hervorgegangenes Konstrukt ist, beschränkt sich aber klugerweise weder auf diese dekonstruktivistische Banalität noch riskiert sie für Europa eine das Normative aussparende Definition, sondern nimmt den Religionsdiskurs der letzten zweihundertfünfzig Jahre zum Ausgangspunkt, der, wie Ulrich Linse gezeigt hat (Linse 1997), durchaus auch von den sog. »Neuen Religionen« Kenntnis zu nehmen pflegt, weil dort ebenfalls Normatives verhandelt und verkündet wurde und noch wird. Strittig bleibt dann einzig

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die sog. »unsichtbare Religion« (Luckmann), die nur mit dem Begriffskunststück »religioid« in unseren Wahrnehmungshorizont eingeschoben werden kann (Körtner 2006: 15), weil namentlich massenträchtige Sportund Musikveranstaltungen sowie Events der sog. Hochkultur normalerweise anders gelesen werden. Hier bleiben sie ausgeklammert. Die Geschichtswissenschaft ist weder berufen noch befähigt, einen gehaltvollen Beitrag zum Religionsbegriff beizusteuern und kommt schon mit dem Aufarbeiten der Diskurse an die Grenzen ihrer Leistungskraft. Einige Aspekte dieses großen Themas sollen im Folgenden skizziert werden.

3. R ELIGION UND M ODERNE Herkömmlicherweise verstehen sich Religion und Moderne als Antipoden, hat doch nach gegenwärtiger Mehrheitsmeinung die Moderne ihren Ursprung in der Religionskritik der Aufklärung. Aber eben dadurch sind beide seit jeher auch aufeinander verwiesen. Mit Trutz Rendtorff kann man deshalb sagen, dass sich »das Bewußtsein der Moderne […] im Verhältnis zur Religion gebildet [hat] und […] von diesem Verhältnis bestimmt« wird (Rendtorff, 1991: 224). Deswegen wird über die religiöse Legitimität der modernen Welt seit deren Beginn gestritten. Eine Einigung ist weder in Sicht noch überhaupt erwartbar. Zwar haben sich mehrfach die Fronten verschoben, aber im »zentralen normativen Modernitätskonflikt […] um die Vermittelbarkeit alter religiöser Wahrheit mit moderner Autonomie des Menschen« ist Dissens unvermeidlich (Graf 2002: Sp. 256). Ja, er ist nichts weniger als eines der wichtigsten Merkmale der modernen Welt überhaupt, eben weil die Aufklärung dem euro-atlantischen Raum eine zweite normative Ordnung beschert hat – mit der zeitlichen und räumlichen Ausdehnung der Moderne hat die Zahl der Ordnungen weiter zugenommen –, die ebenso wie die erste, christliche, den Primat beansprucht. Es ist auch nicht so, dass nur die Religionsgemeinschaften mit der Moderne ringen und sich dabei, notgedrungen oder aus Einsicht, bewegen, sondern die Moderne ändert sich auch ihrerseits und damit ihr Verhältnis zu Religion und Kirche. Es gehört wiederum zum Selbstverständnis der euro-atlantischen Moderne, dass die Religionskonflikte heutzutage nur diskursiv, d.h. nicht im Wege eines Machtspruchs oder gar mit Gewaltanwendung ausgetragen werden können. Das Problem ist allerdings die unterschiedliche Auslegung von ›Religion‹, das sich durch Immigration auf neue Weise stellt. Gehört

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das Kopftuch der Musliminnen in die Abteilung Religion oder Tradition, wenn nicht gar Emanzipation? Ausgestorben geglaubte Kulturkämpfe kehren zurück und werden wie schon früher durch soziale und rassistische Abgrenzungsversuche verschärft. Es gibt also, das klang schon an, zwei Diskurse des Verhältnisses der Religionen zur modernen Welt, nämlich entweder ihr Opfer oder ihr Schöpfer zu sein. Der Opferdiskurs war beileibe kein Monopol der Katholiken, aber sie empfanden sich als die eigentlichen Verlierer der geschichtlichen Entwicklung, während die Protestanten, auch wenn die Mehrzahl allenfalls ein konditioniertes Ja zur Moderne über die Lippen brachte, niemals davon ganz absehen konnten, ihre Konfession ursächlich mit der modernen Welt in Zusammenhang zu bringen. Als Folge davon begegnet man für nahezu zweihundert Jahre zwei sehr unterschiedlichen Diskursen, bis dann in der Postmoderne sowohl ›Religion‹ als auch ›Moderne‹ so weit neu justiert wurden, dass man das Verhältnis beider zueinander seither in ganz anderem Licht zu sehen pflegt. Als Folge finden nun auch protestantische und katholische Deutungsformen zueinander. Die deutsche Aufklärung leitete ihre historische Herkunft von der Reformation ab (Wolgast 1984: 332), selbst die Pariser Enzyklopädisten taten dies, aus Zensurgründen allerdings an versteckter Stelle, nämlich im Artikel »Isleb« (Eisleben, Luthers Geburtsort) (de Jaucourt 1765: 925), und Hegel brachte den Zusammenhang auf die Formel, dass es »die protestantische Welt selbst« war, »welche so weit im Denken zum Bewußtsein der absoluten Spitze des Selbstbewußtseins gekommen ist«, während in Frankreich erst die Revolution diesen Schritt mit der durch die Verzögerung bedingten größeren Radikalität nachgeholt habe (Hegel 1928: 554f.). Insofern überrascht es zunächst, dass um die Wende zum 20. Jahrhundert unter Protestanten eine neue Diskussion um die Ursprünge der modernen Welt stattfand. Aber inzwischen war der Blick auf die Vergangenheit historisiert worden und das bedeutete theologiegeschichtlich, dass um 1900 der Altprotestantismus, eine ›Entdeckung‹ Troeltschs, 15 zu einer historischen Belastung geworden war und eine Neubewertung der Anfänge erzwang.16 Außerdem hatte sich inzwischen die Einsicht in die 15 | Kritisch dazu freilich Schorn-Schütte (1999: 45-54). 16 | Dem widersprach am heftigsten der einflussreiche Adolf von Harnack, der Luthers Rang im protestantischen Weltbild ungeschmälert zu erhalten trachtete (dazu Assel 2004: 69-83).

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Autonomie der kulturellen Sphäre durchgesetzt. Troeltsch selbst verortete deshalb 1897 in der Aufklärung »Beginn und Grundlage der eigentlich modernen Periode der europäischen Kultur und Geschichte«, weil sie »die fürchterlichen Religionskriege« ein für alle Mal beendet habe (Troeltsch 1925: 338, 346). Sein Wiener Kollege Karl Beth versuchte dagegen 1907, das kulturprotestantische Glaubensbekenntnis zu retten, das im 16. Jahrhundert weiterhin den Beginn der Moderne sehen wollte, indem er deren Anfänge von der Reformation in die »Renaissancemoderne« verlegte, die am Anfang des Glaubens an die Autonomie der menschlichen Vernunft stehe (Beth 1907: 61). Max Weber hatte aber schon 1904/05 einen ganz anderen Ansatz gewählt und von der »protestantischen Ethik« gesprochen, die vom frühneuzeitlichen Puritanismus auf der Grundlage einer spezifisch europäischen Konditionierung zur Rationalität – das sollte allerdings erst 1910 seine ›Entdeckung‹ werden – herbeigeführt worden sei und damit die Moderne auf den Weg gebracht habe (Weber 1904/05).17 Mit dieser inzwischen weltweit bekannten These hat Weber Moderne und Christentum in ein dialektisches Verhältnis, zugleich aber die Modernitätsfähigkeit von Weltreligionen überhaupt zur Diskussion gestellt. Die Ursache war, dass um die Jahrhundertwende »sowohl Max Weber als auch Ernst Troeltsch die empirische Geschichte der modernen Gesellschaft an einem Punkte angelangt [sahen], an dem die Grundlagen der christlichen Tradition, die den Aufstieg der modernen Welt ermöglicht hatten, nicht länger zentral waren für die soziohistorische Bewegung« (Rendtorff 1991: 230). »Das Konzept einer ›christlichen Moderne‹ [steckte] in einer tiefen Krise« (Rendtorff 1991: 229), auch wenn der Kieler Ordinarius für praktische Theologie, Otto Baumgarten, zuversichtlich davon sprach, dass alle »Formen ›modernen‹ Christentums« bemüht seien, dieses »in die volle geistige Gegenwart zu verpflanzen« und dieses Bemühen avantgardistisch als »Modernisierung« bezeichnete (Baumgarten 1909: Sp. 1688). Gleichwohl war es genau diese Konstellation, die das bis heute einflussreichste Interpretament der Moderne hervorgebracht hat: die These der Säkularisierung. Der Katholizismus diskutierte das Verhältnis von Religion und Moderne auf völlig andere Weise. Dabei spielte es eine untergeordnete Rolle, dass er sich naturgemäß nicht auf die Reformation berufen konnte. Entscheidend war vielmehr die im 19. Jahrhundert wiederbelebte scholastische Lehre von 17 | Von ›Moderne‹ sprach Weber allerdings nie.

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der Kirche als »societas perfecta«, in der die Dualität von Kirche und Welt ihren bestimmtesten Ausdruck erhielt. Kirche und Christentum waren damit der Historizität grundsätzlich entzogen, Zugeständnisse an die moderne Welt auf Technisches beschränkt. Das verhinderte zwar keine Binnenkonflikte, gab dem Vatikan aber ein argumentatives Schlüsselinstrument zur ungeschmälerten Identitätssicherung an die Hand, die er dank seines neugewonnenen Zentralitätszuwachses weltweit durchzusetzen wusste. So verurteilte Pius IX. 1864 die im »Syllabus errorum« zusammengestellten Ableitungen der mit der Kirche konkurrierenden normativen Ordnungen. Mit diesem Machtspruch war jedoch der Druck nicht gewichen und so sah sich die antimodernistische Strategie vierzig Jahre später erneut zum Eingreifen genötigt und griff dabei den damals noch jungen Moderne-Begriff frontal an. »Modernismus« war der von orthodoxen Theologen geschaffene Kampfbegriff, mit dem sie sämtliche missliebigen Vorstellungen zu einem System zusammenzufassen versuchten; Pius X. hat 1907 davon 65 als »Irrtümer« verurteilt und 1910 den sog. Antimodernisteneid eingeführt. Die ›Modernisten‹ scheiterten aber nicht erst am Papst, sondern schon am empirischen Beweis modernitätsträchtiger Errungenschaften katholischer Herkunft, weil der Merkmalskatalog von ›Moderne‹ protestantisch bzw. laizistisch bestimmt war. Insofern wirkte es unbeholfen, wenn der Würzburger Theologieprofessor Hermann Schell 1897 feststellte: »Der Katholicismus ist seiner Natur und Geschichte zufolge eine Triebkraft des Fortschritts, weil eben von der treu bewahrten und gründlich erfassten vollen christlichen Wahrheit naturgemäß der lebendigmachende Geist steter Vervollkommnung auf allen Gebieten der menschlichen Kultur hervorgeht« (Schell 2006: 35).

Bei Schell ist dann in der Folge auch mehr von Beispielen der Rückständigkeit die Rede. Es ist deshalb bezeichnend, dass der dem Kulturprotestantismus vergleichbare Triumphalismus damals nur bei den ultramontanen Theologen zu finden war. Schells Schriften landeten dagegen auf dem Index; er starb 1906 verbittert. Das katholische Dilemma mit der Moderne war das zentrale Thema des II. Vatikanischen Konzils.18 Der Streit drehte sich um die Frage, ob bzw. inwieweit sich die katholische Kirche ›in der Welt‹ zu verorten und die 18 | Das Folgende nach Sander (2009). Sander verfasste den maßgeblichen theologischen Kommentar zur Pastoralkonstitution »Gaudium et spes« (Sander 2005).

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›Zeichen der Zeit‹ zu respektieren, wie weit sie sich also von der Vorstellung der »societas perfecta« zu verabschieden habe. Es waren französische Theologen, die sich in der Pastoralkonstitution »Gaudium et spes«, dem in dieser Hinsicht zentralen Konzilsdokument, gegen deutschen Widerstand mit einer soziologischen Lesart theologischer Ortsbestimmung und damit eine theologische Modernisierung durchsetzten, die erwartungsgemäß bis heute umstritten ist. Der gegenwärtige Papst war schon damals der Ansicht, der von ihm als »Gegensyllabus« bezeichnete Text sei als »Versuch einer offiziellen Versöhnung der Kirche mit der seit 1789 gewordenen neuen Zeit« zu verstehen, von dem aus nun mit Hilfe der katholischen Traditionsbestände eine christliche Moderne geschaffen werden müsse (Ratzinger 1976: 40; zit.n. Sander 2009). Dem Historiker der Moderne fällt auf, dass die Pastoralkonstitution es zwar offen gelassen hat, zu welcher »Welt dieser Zeit«, wie die wörtliche, wenn auch holprige Übersetzung lauten muss, sie sich ins Verhältnis setzt, dass das Konzil selber aber am Ende der hier als Moderne bezeichneten Epoche stattgefunden hat. Das konnten die Konzilsväter natürlich nicht wissen, aber sie waren – wie sollte es auch anders sein? – Männer ihrer Zeit. Aus heutiger Sicht zeigt sich nämlich, zumal bei der französischen Lesart der Dokumente, eine zeittypische Zuversicht in die theologische Modernisierung (deren Einzelheiten stellt zusammen Klinger 1996: 171-187), die inzwischen schon wieder veraltet scheint. »Gaudium et spes« öffnete die Schleusen, das Wasser floss aber in alle möglichen Richtungen; von einer einheitlichen Auslegung des Verhältnisses von Religion und Moderne kann keine Rede sein. Die Skala reicht von der Pius-Bruderschaft, deren Gründer, Erzbischof Lefebvre, schon auf dem Konzil selbst in jenen frühen Texten, die noch den Geist der »societas perfecta«-Lehre atmen, lauter Häresien erblickte, über Ratzingers »katholische Variante von radical orthodoxy« (Sander 2009; dort auch der Hinweis auf Lefebvres Opposition) bis zur selbstzufriedenen Behauptung Wolfgang Reinhards, demzufolge es »keine Moderne ohne das Papsttum, aber auch keine Moderne nur dank des Papsttums« gebe (Reinhard 2007: 33). Reinhard halbiert die Weber-These, indem er die Dialektik von Urheberschaft und Opfer des Christentums unterschlägt, und gelangt so zu der »behaglichen Überzeugung«,19 dass das Papsttum »beträchtliche Bei19 | Von »behaglicher Überzeugung« spricht der Zeitungsbericht über die jenem Sammelband zugrunde liegende Tagung der Friedrich Ebert-Stiftung, die zum 70.

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träge« zur Moderne geleistet habe (Reinhard 2007: 16) – der Katalog reicht vom Dualismus zwischen Weltlichem und Geistlichem bis zum päpstlichen Behördenapparat –, bis ihm die entstehenden Nationalstaaten gewissermaßen die Lebenskraft geraubt hätten. Mit diesem selbstbewussten Leistungskatalog befindet sich Reinhard nun dort, wo der Kulturprotestantismus war, bevor ihm in der »zweiten Sattelzeit« (Graf 2004: 171) Troeltsch und namentlich Weber die Augen für die Komplexität des Verhältnisses von Religion und Moderne geöffnet haben. Die Postmoderne stellt aber die skeptische Frage, ob im Lichte der Weberschen Einsicht in die Kosten der Moderne eine – jede – Religion gut beraten ist, sich ihr uneingeschränkt anzuvertrauen. 1986 brachte das der Soziologe Franz-Xaver Kaufmann, dem die Mythologisierung der Moderne im Gewande sozialwissenschaftlicher Theorien ohnedies ein Gräuel ist, auf die Formel, dass »das Christentum […] zu denjenigen Sozialphänomenen [gehört], die sich – trotz erheblicher Anpassungen – kaum dem Diktat der Moderne unterworfen haben. Nicht alles an der neuzeitlichen Geschichte ist also ›modern‹« (Kaufmann 1986: 307). Religion und Kirche unterscheiden sich darum heute vielleicht mehr denn je in ihrem Verhältnis zur Moderne, denn in seiner verkirchlichten Form bleibt das Christentum dem ›Diktat‹ nahezu zwangsläufig unterworfen. Das spiegelt sich auch in der Frage der Säkularisierung.

4. S ÄKUL ARISIERUNG »Säkularisierung« ist ebenso wie »De-« bzw. »Entchristianisierung« und »Entkirchlichung« ein »ideenpolitischer Kampfbegriff«. Sie wurden alle in den europäischen Kulturkonflikten des 19. Jahrhunderts geprägt (Nachweise bei Graf 2004: 69-101. Ferner Borutta 2010: 347-376), aber was die ihnen unterliegende Denkfigur eines Spannungsverhältnisses zwischen Politik und Religion, Vernunft und Offenbarung, Autonomie und Abhängigkeit betrifft, sind sie mindestens Kinder der Aufklärung. Die moderne Welt versteht eben Religion von Anfang an als Überrest der Tradition, entwickelt dazu aber durchaus unterschiedliche, ja gegensätzliche Einstellungen und Verhaltensweisen. Geburtstag Reinhards von Schülern und Freunden des Jubilars bestritten wurde (Straub 2006).

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›Säkularisierung‹ ist also das Produkt einer Kulturschwelle, der ersten, um genau zu sein, und auch wenn es sich zunächst um einen Kampfbegriff handelte, ist doch offensichtlich, dass er mit der Zeit sozialen Realitätscharakter erlangte. In der Epoche der Revolution, die der politischen und materiellen Existenz vor allem der katholischen Kirche schwere Schläge versetzt hat, war es für die entstehende Gesellschaftswissenschaft von Comte über Marx bis Mill und Spencer jedenfalls selbstverständlich, dass auch die spirituelle Rolle der Religion auf dem Rückzug sei. Keine der von ihnen entwickelten Fortschritts- und Stufenlehren sprach allerdings von ›Säkularisierung‹ und niemand scheint die der Theorie so gar nicht entsprechenden religionsgeschichtlichen Wirklichkeiten als Anlass zur Überprüfung genommen zu haben; sie galten einfach als ›rückständig‹. Weber und Troeltsch kamen dank ihrer Aufmerksamkeit für die geschichtliche bzw. gesellschaftliche Empirie zu einem ganz anderen Ergebnis und fundierten mit ihren Erkenntnissen zur Rolle der Religion die um 1900 im Gang befindliche neuerliche Kulturschwelle auf kaum zu überschätzende Weise. Bei beiden stand das Individuum im Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit. Troeltsch leitete aus seiner Historisierung der europäischen Religionskonflikte der Vergangenheit und der Kulturkämpfe seiner Zeit die Erkenntnis ab, dass »Säkularisation« den Schlüssel für die »kulturanthropologischen Bedingungen moderner Individualität oder von religionspolitischen Weichenstellungen zwischen West- und Kontinentaleuropa« abgebe. Die »Säkularisation des religiösen Individualismus« sei das wichtigste Merkmal der europäischen Moderne und deshalb »Motor ›für die allgemeine Kulturgeschichte‹« (zit. Hübinger 2008: 99). Weber benützte stattdessen »Rationalisierung« und machte sie für die weltgeschichtlich ausschlaggebenden »›Spannungen‹ zwischen modernen Lebensordnungen« verantwortlich (zit. Hübinger 2008: 101), denn der Eigenweg der europäischen Kultur, um den es Weber schließlich zu tun war, bestehe in der »praktisch-rationale[n] Lebensführung«, deren Urheber der asketische Protestantismus war (Weber 1920: 12). Für beide, die über Jahre in Heidelberg zusammengearbeitet haben, ergab sich deshalb »Struktur und Genese der modernen Welt aus einer grundsätzlichen Dauerspannung zwischen religiösem und säkularem Weltverhalten, eingebettet in eine beschleunigte ›Eigengesetzlichkeit‹ der Lebenssphären« (Hübinger 2008: 99. Hervorhebung im Original). Aus heutiger Sicht hätte dies das letzte Wort sein können. Dass es das nicht war, hat mit dem Ehrgeiz der Soziologen für Synthesen zu tun, der

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dieser Disziplin schon deswegen von Beginn an eigen war, weil sie sich bestimmungsgemäß mit der ›modernen Gesellschaft‹ befasst, die ebenfalls nur eine Abstraktion von teils empirisch schwer Fassbarem, teils Widersprüchlichem darstellt. Die nach 1945 aufkommende Modernisierungstheorie ist, wie man inzwischen zu sehen gelernt hat, der waghalsige Versuch einer Synthese höchst unterschiedlicher, ihrerseits bereits hoch abstrahiert gesehener Prozesse,20 von denen einer – manche meinen, der prominenteste – eben die Säkularisierung ist. Erst in den 1950er Jahren fand darum auch ›Säkularisierung‹ als eigenständiger Begriff, und zwar im inzwischen maßgeblichen soziologischen Sinne, Aufnahme in den großen Enzyklopädien (Näheres dazu bei Lehmann 2004: 49-56). Philosophie und Theologie setzten sich umgehend mit ihm auseinander, Literatur-, Geschichts- und Politikwissenschaft rezipierten ihn wenig später, und zwar weitgehend unkritisch. Mit ›Säkularisierung‹ war aber nun etwas Anderes gemeint als bei den Klassikern – jedenfalls als bei Troeltsch (der freilich nicht zu den Kultursoziologen zählt), während Weber mit seiner Suche nach Universalien seiner modernisierungstheoretisch gesättigten posthumen Lesart vielleicht doch Vorschub geleistet hat –, nämlich (erneut) die Annahme eines allmählichen Absterbens oder Verschwindens der Religion überhaupt, d.h. als universaler Prozess in der modernen Welt. Das war deshalb so überzeugend, weil diese These nicht nur eine abstrakte Theorie, sondern zugleich, aber lange Zeit ahnungslos, eine Selbstbeschreibung namentlich europäischer Intellektueller war. Mindestens 30 Jahre lang, teilweise aber bis in die Gegenwart zählt(e) diese Auffassung deshalb zum »kollektiven Unbewussten« (Willems) nicht nur einzelner Forscher, sondern ganzer Disziplinen. Im Gefolge der sog. kulturalistischen Wende geriet diese Großtheorie unter Verdacht und damit sind wir zeitlich und sachlich mitten in der dritten Kulturschwelle, die zu einem guten Teil ihre argumentative Kraft 20 | Diese namentlich von Talcott Parsons geschaffene Großtheorie geht, wie Knöbl (2009) gezeigt hat, kaum auf Weber, sondern in erster Linie auf Émile Durkheim zurück. Er nämlich tat den entscheidenden Schritt mit der Schaffung eines abstrakten, klar umrissenen Gesellschaftsbegriffs, dessen Hauptmerkmal in der Moderne die funktionale Differenzierung ist. Damit waren bereits vor dem 1. Weltkrieg alle wesentlichen Bestandteile für eine Modernisierungstheorie vorhanden (Idee der Differenzierung, ›reifizierter‹ Gesellschaftsbegriff, Abgrenzung zwischen traditionalen und modernen Gesellschaften).

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aus der dekonstruktivistischen Prüfung vorgefundener Großerzählungen schöpft. Entsprechend groß sind gegenwärtig die Anstrengungen, »das undifferenzierte Säkularisierungsgerede« (Riesebrodt 2000: 253) zu überwinden. Was als ›differenziert‹ Geltung beanspruchen, d.h. was an die Stelle von ›Säkularisierung‹ treten kann, um religiösen Wandel zu beschreiben, ist allerdings heftig umstritten; die Fronten gehen mitten durch die Disziplinen.21 Am einen Ende der Skala könnte man Graf verorten, der von »Säkularisierung« überhaupt nicht sprechen und auch »Entkirchlichung«, »Entchristlichung« und ähnliche »Deutungsschablonen« nicht gelten lassen will (Graf 2004: bes. 69-101). Deshalb lehnt er auch Lehmanns Vorschlag eines »Zeitalters der Säkularisierung« ab (Graf 2006: 9f.). Am anderen Ende stünden dann Forscher wie Detlef Pollack, ebenfalls Theologe (ursprünglich jedenfalls), der, seine Aussagen auf die volkskirchlich geprägten Gesellschaften Kontinentaleuropas beschränkend, die Behauptung vertritt, die klassische Säkularisierungsthese besitze weitaus mehr Plausibilität als die verbreitete Alternative der »unsichtbaren Religion« des Individuums (Pollack 2003: 149-182).22 Diese 1967 von Thomas Luckmann in die Religionssoziologie eingeführte Alternative (Luckmann 1967)23 setzt einen anthropologischen und darum von Normen freien, funktionalen Religionsbegriff voraus, der überall auf der Welt Geltung beanspruchen kann.24 Aus kulturhistorischer Perspektive ist ein solcher Anspruch eher disqualifizierend. Insofern kann Martin Riesebrodt, ebenfalls ein zeitweise in den USA lehrender deutschsprachiger Religionssoziologe, mit mehr Aufmerksamkeit rechnen, weil er, freilich nicht als erster, vorschlägt, ›Säkularisierung‹ von Religion im engen Sinne abzukoppeln und institutionell zu verstehen. Er definiert sie nämlich als den »Prozess der 21 | Dazu auch die instruktive Übersicht des in Oxford lehrenden Theologen Zachhuber (2007: 11-42). Die deutsche Diskussion bleibt bei ihm aber, von Habermas und der Theologie abgesehen, unterbelichtet. 22 | Pollack verteidigt die Modernisierungstheorie und stützt sich vorzugsweise auf Indikatoren für Religiosität, die durch wertbezogene Umfragen zustande kommen. Inwieweit damit den Eigenarten katholischer Frömmigkeit Gerechtigkeit getan wird, bleibt hier unerörtert. 23 | Dass dieses Buch sehr viel später als andere von ihm, nämlich erst 1991, ins Deutsche übersetzt wurde, wäre ein eigenes Thema. 24 | Zum Funktionalismus des Luckmann’schen Religionsbegriffs zuletzt Schnettler (2006: 176-179).

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Emanzipation gesellschaftlicher Institutionen von religiöser Kontrolle«. Dies sei »der zentrale Unterschied« gegenüber früheren Zeiten und habe außer im ›Westen‹ auch bei den sich an ihm orientierenden bzw. von ihm dominierten Ländern »zumindest ansatzweise stattgefunden« (Riesebrodt 2007: 245f.).25 Zeitlich reicht dieser Ansatz noch hinter die Anfänge moderner Zeiten zurück, nämlich in die Epoche der religiösen Bürgerkriege, die in der Tat das Selbstverständnis der (West-)Europäer vom Verhältnis der (institutionalisierten) Religion zu anderen Institutionen dauerhaft und irreversibel verändert haben.26 Die uns seit Langem geläufige Unterscheidung gibt es ohne europäischen Einfluss sonst nirgends auf der Welt. Es ist ja im Gegenteil gerade so, dass Shmuel Eisenstadt seine »multiple modernities« auf die unterschiedlichen Religionskulturen zurückführt, was diesem Kultursoziologen geradezu weltweite Aufmerksamkeit beschert hat (Eisenstadt 2000).27 Insofern scheint es gerechtfertigt, dieses Kriterium der Differenz zum Leitmotiv einer Geschichte der Religion in modernen Zeiten zu machen. Damit sind wir wieder bei Troeltsch bzw. bei der ihm von Hübinger abgelauschten »grundsätzlichen Dauerspannung zwischen religiösem und säkularem Weltverhalten« (Hübinger 2008: 99. Hervorhebung im Original). Daraus muss nun die Geschichtswissenschaft ihre Fragen ableiten. Welches sind die erkenntnisleitenden Kategorien? Wie kann man, ohne die kontingenten Umstände zu vernachlässigen, die Religionsgeschichte der letzten 250 Jahre erzählen? Gibt es Trends? Welches waren bzw. sind die Ordnungsmuster, mit deren Hilfe die Menschen die Ereignisse wahr25 | Der normativ argumentierende Jürgen Habermas will neuerdings diese Differenz im Interesse der Sicherung der Demokratie insoweit ›rückabwickeln‹, als die inzwischen »postsäkulare Gesellschaft« akzeptieren müsse, dass sie zu ihrer Absicherung auch wieder auf religiöse Argumente angewiesen ist (Habermas 2005: 15-37). Das blieb erwartungsgemäß nicht unwidersprochen. Mit ihm selber diskutierten der Staatsrechtler Christoph Möllers und der Soziologe Hans Joas auf Grafs Geburtstagskolloquium in der Münchener Siemens-Stiftung (dazu Schloemann 2008). 26 | Passende wissenschaftsgeschichtliche Befunde hierzu bei Pott (2006: 223-238). 27 | Diese Ausdifferenzierung ist allerdings für Eisenstadt nur eines unter mehreren Merkmalen, denn alleine könnte sie die Unterschiede zwischen europäischer und nordamerikanischer Moderne natürlich nicht erklären.

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nahmen und verarbeitet haben? Einiges davon soll im letzten Abschnitt angesprochen werden.

5. V ON DER R ELIGIONSGESCHICHTE ZU DEN R ELIGIONSGESCHICHTEN Jan Philipp Reemtsma begann sein Buch über Gewalt in der Moderne mit der erstaunten Frage, wie man eigentlich glauben konnte, dass Gewalt nicht zur Moderne gehöre, wo doch gerade das 20. Jahrhundert bekanntlich wie kein anderes von Gewaltexzessen moderner Gesellschaften gekennzeichnet gewesen ist (Reemtsma 2008: 13-23).28 Man kann diese heuristisch ungeheuer fruchtbare Provokation auch auf unser Thema anwenden. Die Frage lautet dann, wie es eigentlich kam, dass wir glauben (konnten), Religion verschwinde in den Zeiten der Moderne. Einige wissenschaftsgeschichtliche Antworten dazu finden sich im vorigen Abschnitt. Hier müsste das Arrangement der sog. Sachgeschichte den Beweis für die kontinuierliche Präsenz der Religion im Wandel ihrer Praxis und Wahrnehmung erbringen. Aus Platzgründen kann das hier aber nur als grobe Skizze geleistet werden. Eine Religionsgeschichte der Moderne, bei der ›Moderne‹ nicht nur ein anderes Wort für Neuzeit ist, existiert bislang nicht. Weitere Abgrenzungen müssen mitbedacht werden: zum Christentum, zu den Kirchen und den anderen verfassten Religionsgemeinschaften, zur Theologie und zur Frömmigkeit. Sie alle haben ihre eigenen Geschichten. Beziehungen, Abhängigkeiten, Ko-Evolutionen, Transfers u. dgl. kommen noch dazu und steigern die Komplexität, die von der Modernisierungstheorie – das machte sie attraktiv – ein erhebliches Stück weit reduziert werden konnte. Selbst wenn die Kompetenz für alles dieses gegeben wäre, reichte der Platz nicht, und deshalb sollen hier nur Stichworte genannt werden, die für die Geschichte der Religion in modernen Zeiten erkenntnisleitend sein müssten. Sie stehen alle, das dürfte nicht überraschen, in einem Spannungsverhältnis zur klassischen Säkularisierungsthese und versuchen so etwas wie eine Gegendarstellung.

28 | In der Einleitung »Das Rätsel« begründet Reemtsma, weshalb er seine Befunde nicht als Paradoxon verstanden wissen will, sondern eben als Rätsel.

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An erster Stelle steht die hohe Religionsproduktivität seit dem 18. Jahrhundert.29 Sie kann nicht anders denn als eine Antwort auf den Beginn moderner Zeiten und die damit verbundenen Legitimationsverluste herkömmlicher religiöser Antworten und ihrer kirchlichen Institutionen gesehen werden. Einen Beweis dafür liefert die gründliche Übersicht Linses für das späte 19. Jahrhundert, der die »neue[n] religiöse[n] Angebote« zusammenstellt (Linse 1997: 120). Dass sie damals meist angelsächsischer Herkunft sind, ist ein weiterer Beleg für die These vom Zusammenhang von Moderne und Religionsproduktivität, denn dort war damals die Moderne in entscheidenden Hinsichten – wirtschaftlich, wissenschaftlich und nicht zuletzt verfassungsrechtlich (Presse- und Religionsfreiheit) – weiter als in Mitteleuropa. Teils handelt es sich dabei um antimodernistischen Protest – vor allem Erweckungsbewegungen –, teils aber auch um Religionsangebote, die sich selbst als ›modern‹ bezeichneten, weil sie neue Offenbarungsquellen – insbesondere Natur und Wissenschaft – erschlossen. Der Bremer Monistenpfarrer Albert Kalthoff erklärte seinen Lesern, die »Religion der Modernen« sei eine »Laienreligion«, »untheologisch«, »unkirchlich«; das alles mache sie »ganz und gar modern« (Kalthoff 1905; zit. n. Linse 1997: 135). Schriften wie diese pflegten im Diederichs-Verlag zu erscheinen, dessen Inhaber sich »als Organisator der außerkirchlichen religiösen Bewegung« verstand (zit. n. Graf 1996: 244). Dem verkirchlichten Protestantismus fiel darauf nicht viel ein, aber der Katholizismus konnte damals auf eine fast hundertjährige Tradition neuer rituell-kultischer Angebote zurückschauen: neue bzw. erneuerte Wallfahrten,30 erneuerte Andachtsformen, neue bzw. neu interpretierte Heilige und nicht zuletzt entschiedene Erschließung der weiblichen Glaubensreserven (ausführlich dazu Ziemann 2009: Kap. 3.2). Was letztere betrifft, so ist für die Anfangsjahrzehnte der Frauenemanzipation sogar ein Zusammenhang mit religiöser Reform eindeutig nachgewiesen, was allerdings die These der Feminisierung der traditionellen Religiosität nicht in Frage stellt, weil die Zahl religiöser Dissenterinnen überschaubar blieb (Paletschek 1993: 315f.).

29 | Vgl. Graf (2002: Sp. 256), wo er davon spricht, dass »die Neuzeit seit dem späten 18. Jahrhundert keineswegs weniger religionshaltig als andere Epochen ist«. 30 | Bahnbrechend Schieder (1974). Schieder hat diesen Aufsatz später um religionsgeschichtliche Aspekte erweitert (Schieder 1996).

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Angesichts dieser Religionsproduktivität glaubte sich der Schweizer Staatsrechtler und erweckte Laientheologe Carl Hilty 1899 zur Prognose berechtigt, »das kommende Jahrhundert wird nicht ein Jahrhundert der ›sozialen Frage‹ sein […], sondern vielmehr ein Jahrhundert der religiösen Frage, in welchem sich wieder deutlicher als seit langem zeigen muss, was überhaupt das weltbewegende Prinzip ist« (Hilty 1899: 10). Die »gebildeten Klassen wenden sich [dem Christentum] wieder sichtbar zu«, stellte er befriedigt fest (Hilty 1899: 11). Er hat sich hierin bekanntlich getäuscht, weil eben damals als Folge der neuerlichen Kulturschwelle das Konzept einer ›christlichen Moderne‹ zu Ende ging (Rendtorff 1991: 230) und damit auch die seit 1800 virulente Erwartung vieler Menschen, ein Zeitalter der Kirche werde kommen (Hölscher 2005: 16). In der Epoche der Moderne war, wenn man die ›unsichtbare Religion‹ aus den oben genannten Gründen ausklammert, die Religionsproduktivität allerdings nicht beendet, aber anders beschaffen und schlug sich nicht mehr vornehmlich in leicht fassbarer Vereinsorganisation nieder. Der die Moderne begleitende Fortgang der Individualisierung veränderte selbstverständlich auch den Religionsgebrauch; »›bricolage‹ und Privatsynkretismen« sind wichtige Merkmale (Graf 2004: 244). So stellten (und stellen wohl noch immer) kulturelle Milieus nichtchristlicher, in erster Linie an Heilung interessierter Praktiken einen Wachstumssektor dar, wovon entsprechende Angebote in Buchhandlungen und Esoterikläden Zeugnis ablegen. Fachleute sind sich außerdem einig, dass der religiöse Pluralismus in Deutschland nicht ab-, sondern zunimmt; jeder Blick ins Telefonbuch von Großstädten liefert den Beleg. Das gilt auch für das Christentum. Es gibt derzeit hierzulande deutlich mehr als tausend christliche Religionsgemeinschaften.31 Wenn man die ›Hauptkirchen‹ beiseite lässt, sind sie allerdings, anders als in den USA und in Lateinamerika, alle im unteren einstelligen Prozentbereich angesiedelt, während die Konfessionslosen längst die ›dritte Konfession‹ darstellen (Einzelheiten bei Krech 2005: 116-144). Für den wachsenden Pluralismus gibt es außer der Individualisierung zwei weitere Gründe, die ebenfalls zu den grundlegenden Prozessen der Moderne zählen: fortgesetzter gesellschaftlicher Wandel und Migration. Die Pluralisierung verstärkt zwangsläufig die Konfliktpotenziale und verursacht deshalb 31 | Jenkins (2007) spricht von »mindestens 1100 fremdsprachige[n] evan geli sche[n] Kirchen«, von denen die meisten afrikanischer Herkunft sind und den dort üblichen »Congregationalism« nach Deutschland bringen.

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Spannungen innerhalb der Religionsgemeinschaften, aber auch zwischen ihnen sowie zwischen ihnen und dem (deutschen) Staat, weil dieser, anders als vor allem die Vereinigten Staaten, mit Hilfe des sog. Staatskirchenrechts steuernd und privilegierend – was natürlich auch Benachteiligung der anderen bedeutet – auf die Religionen einwirkt. Die große Frage ist, ob diese vielgestaltigen und teilweise durchaus widersprüchlichen Phänomene auf eine zusammenfassende und erklärende Formel gebracht werden können. ›Säkularisierung‹ wurde verworfen, sofern darunter ein universaler, geradliniger, unaufhaltsamer Prozess in modernen Zeiten und nicht eine Verhältnisbestimmung zwischen religiösem und säkularem Weltverhalten verstanden wird. Eng ausgelegt, trifft der Begriff eigentlich nichts außer allgemein sichtbare Entwicklungen vor allem der Großkirchen oder das Ende kirchlicher Steuerung der sich ausdifferenzierenden Sphären von Herrschaft, Wirtschaft und Kultur. Grace Davie hat deshalb als Hebel zur Deutung vorgeschlagen, religiöse Überzeugung von Kirchlichkeit zu entkoppeln, und für ihre das lateinische Europa umschließenden Befunde eine Reihe unmittelbar einleuchtender Formulierungen geprägt: Aus verschiedenen Erhebungen ergebe sich, dass die Europäer eher »unchurched« als »simply secular« seien (Davie 2001: 266), soweit sie nicht religiösen Minderheiten oder den neuen religiösen Bewegungen angehören. Die Formen religiöser Lebensführung liefen nämlich auf etwas hinaus, was sie in die Formel »believing without belonging« kleidete (Davie 2001: 267) bzw. unter Rückgriff auf einen von Bruce Reed bereits 1978 geprägten Ausdruck als »vicarious religion« bezeichnete (Davie 2001: 271): Die Europäer überließen den Kirchen die Aufgabe, das religiöse Gedächtnis zu bewahren, und bedienten sich ihrer vornehmlich als Anbieterinnen besonderer Dienstleistungsangebote (Erziehung, Wohlfahrt und Begleitung bei Lebenswenden), wollten von den lehramtlich festgelegten Glaubenssätzen aber in aller Regel nichts mehr wissen.32 Das ist ein Erklärungsangebot, das nicht institutionell33 oder religionsökonomisch34 argumentiert, sondern kulturalistisch. Es gebe eine spezifisch europäische Mentalität, die sich auch darin niederschlage, dass hier 32 | Zu den Deutungskonzepten ausführlich Davie (2007). 33 | Casanova (2006) begründet den Rückgang religiöser Vitalität als Folge der großen Nähe europäischer Kirchen zum Staat. 34 | Ausführlich zu Leistungen und Grenzen dieses Deutungsangebots, was Europa betrifft, Graf (2004: 19-30).

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weder Fundamentalismus noch Pfingstbewegungen nennenswerte Anhänger rekrutieren könnten. Die Europäer sähen vor dem Hintergrund ganz alter staatskirchlicher Erfahrungen in den Kirchen primär öffentliche Dienstleisterinnen und nicht Konkurrentinnen um knappe Güter, auch wenn diese immer öfter eine ausgeprägte Kundenorientierung erkennen ließen, sei es als Folge üppiger Finanzmittel – ein vor allem deutsches Problem –35, sei es im Zuge des allgemeinen sozialen Wandels in Richtung auf eine Konsumgesellschaft. So überzeugend dieser Deutungsversuch ist, alle modernen Religionsphänomene kann er nicht aufklären, schon gar nicht auf europäischer Ebene. Deshalb gibt es ja den Wettlauf der Beschreibungsmodelle, der hier nur unvollständig wiedergegeben worden ist (Überblick bei Graf/Große Kracht 2007: 1-40). Bisher ist jedoch kein Theorieangebot vorgestellt worden, das sämtliche Elemente verbindet bzw. erklärt. Die postmoderne Wende, d.h. die Ereignisse der letzten vierzig Jahre, haben den Grad der Schwierigkeiten noch einmal stark vergrößert, was man schon am gängigsten Schlagwort ablesen kann. Die ›Rückkehr der Religion‹ suggeriert auf den ersten Blick eine Art Auferstehung der Kirchen, Konfessionen oder wenigstens privat gelebter Religionsformen. Das zuversichtliche, um nicht zu sagen, enthusiastische Bild, das Philip Jenkins vom religiösen Europa der Gegenwart zeichnet (Jenkins 2008),36 wird von abgebrühten europäischen Empirikern nicht geteilt. Seine Thesen entnimmt er vornehmlich Einwanderergemeinden, wo tatsächlich eine dynamische Erneuerung der europäischen Christenheit, allerdings fast ausnahmslos außerhalb des traditionell-institutionellen Modells von Pfarrgemeinde, Geistlichkeit und Bistum, anzutreffen ist, und anderen religiösen Minderheiten. Außerdem hat er grenzenloses Vertrauen in Umfragen über das religiöse Selbstverständnis. Einig sind sich die Experten, dass »die alten etablierten Staats-, Landes- und Volkskirchen in einer sehr kritischen Lage sind« (Graf/Große Kracht 2007: 23) und dass gut besuchte Kirchen- oder Katholikentage daran nichts ändern können. Soweit von ›Wieder-‹ oder ›Rückkehr‹ die Rede ist, handelt es sich zunächst um ein Phänomen auf der Diskursebene, und das ist natürlich nicht weniger relevant als wenn Habermas 2001 erstmals und dann be35 | Eine erste gründliche Studie dazu legte kürzlich Schmunk (2010) vor. 36 | Im amerikanischen Original von 2007 fehlt das Fragezeichen, in der italienischen und holländischen Übersetzung ebenfalls.

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sonders in seinem vielbeachteten Gespräch mit Ratzinger 2004 von der »postsäkularen Gesellschaft« spricht und damit nicht nur seinen eigenen Bewusstseinswandel anzeigt, sondern zugleich »eine veränderte Haltung des säkularen Staates oder der Öffentlichkeit zum Fortbestehen religiöser Gemeinschaften« andeutet (Joas 2004: 124f.). Die Gegner der Säkularisierungsthese vertreten natürlich die Ansicht, es handle sich lediglich um ein diskursives Phänomen und sprechen folglich von »Entprivatisierung« der religiösen Sphäre (Kippenberg 2007: 54) oder von der »Expansion des religiösen Feldes, dessen Konturen mit der Ausdehnung zugleich an Schärfe verlieren« (Graf 2004: 243).37 Ob man sich mit ›postsäkular‹ nicht dieselben Probleme einhandelt wie mit ›säkular‹ – also ein eurozentrisches, normatives und protestantismuslastiges Konzept –, sei dahingestellt. Die veränderte Rede über Religion hat zwei ganz verschiedene Ursachen. Die eine ist die Krise der Moderne. Daniel Bell, der hellsichtige amerikanische Soziologe, sprach 1978 als erster davon (Bell 1978), also genau in jenem Jahrzehnt, in dem die Modernisierungshoffnungen durch das Ende des Booms abrupt aufgegeben werden mussten (Doering-Manteuffel/Raphael 2008). Der erste einschlägige deutsche Buchbeitrag setzte noch ein Fragezeichen hinter seine im Titel angesprochene Diagnose (Oelmüller 1984) und erst durch den französischen Islamforscher Gilles Kepel kamen die religiösen Fundamentalismen auf die Tagesordnung (Kepel 1991)38 – einige Zeit bevor sie sich selbst auf die Frontseiten der Tageszeitungen bombten. Die Krise der Moderne macht sich auf vielfältige Weise sichtbar und führt in eine ›neue Unübersichtlichkeit‹, die Habermas 1985 einleuchtend dargelegt hat, wenn man davon absieht, dass von Religion bei ihm damals noch nicht die Rede war (Habermas 1985). Was diese betrifft, so sind Hoffnungen auf eine Evangelisation unter amtskirchlichen Vorzeichen39 wohl 37 | Bei Graf (2004: 102) ist, noch deutlicher, von der »kulturalistische[n] Wiederkehr der Religion« die Rede. Aus der Expansion des religiösen Feldes entwikkelte Höhn eine »Dispersionstheorie des Religiösen« (Höhn 2006). 38 | Die im selben Jahr erschienene deutsche Übersetzung drehte, kein Zufall, die Reihenfolge um: Die Rache Gottes. Radikale Moslems, Christen und Juden auf dem Vormarsch (München 1991). 39 | Treuherzig erwartet sich die Erfurter Pastoraltheologin Maria Widl von der Postmoderne die Evangelisation der modernen Religionslosen: »Der moderne Mensch hat so gelebt, als ob es Gott nicht gebe, der postmoderne Mensch

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ebenso unberechtigt wie die Furcht, dass von einer fundamentalistischen Gegenelite mit Gewalt eine Anpassung der Moderne an den Glauben erfolgreich ist.40 Diese Furcht verweist auf die zweite Ursache der veränderten Sicht auf die Religion, hat aber mit der Krise der Moderne allenfalls mittelbar – wirtschaftliches Wachstum als Integrationshilfe bleibt aus – zu tun. Es ist die Zuwanderung von Muslimen, die zu der Frage führt, ob die Demokratie sie in einer Art und Weise integrieren kann, die sowohl mit ihren liberalen Prinzipien als auch mit den Glaubensgrundsätzen des Islam vereinbar ist. Schon die alltäglichen Konflikte in den Schulen lassen erkennen, dass ein Staat, der Beschulungsmonopol und staatlich beaufsichtigten Religionsunterricht und außerdem den Einzug von Kirchensteuern für wenige privilegierte Religionsgemeinschaften für selbstverständlich hält, einem unzeitgemäß gewordenen religionspolitischen Modell folgt (dazu ausführlich Willems/Minkenberg 2003). Dem französischen Laizismus mit seinem starken zivilreligiösen Lenkungsanspruch ergeht es allerdings nicht besser, aber auch die Feministinnen sind in der Frage des Kopftuchs gespalten. Wenn für modern gehaltene Gewissheiten plötzlich keine Antworten mehr bieten, weil sich die Verhältnisse grundlegend geändert haben, ist eben die Moderne (im hier definierten Sinne) zu Ende. Was folgt daraus für die Geschichte der Religion? Sie muss die Merkmale religiöser Moderne zusammentragen, um deren Beitrag zur Geschichte der modernen Welt zu erklären. Besondere Aufmerksamkeit verdienen dabei die den Ereignisablauf strukturierenden Kulturschwellen, die immer auch eine religionsgeschichtliche Ursache haben und zugleich auf die Religionsgeschichte einwirken. Die für den Verlauf so wesentlichen Ordnungsmuster weisen mindestens drei spezifisch moderne Merkmale auf: Erstens das von Troeltsch betonte Faktum einer »durch die Einwirkung der Wissenschaft hindurchgegangene[n] Religion« (Troeltsch, zit.n. Kippenberg 2010: 71), die dadurch eine andere geworden ist. Zweitens die von Graf beobachtete, zunehmend auch von katholischen Theologen für möglich gehaltene (Höhn 1992) religionsproduktive Leistungskraft

merkt, wohin wir damit gekommen sind – und entwickelt deshalb massive religiöse Sehnsüchte« (Zit. n. Lehnartz 2007: 65). 40 | Dies ist die These Kepels.

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der Moderne, die wachsende »Theodiversität«.41 Schließlich drittens Hübingers Formel von der »grundsätzlichen Dauerspannung zwischen religiösem und säkularem Weltverhalten, eingebettet in eine beschleunigte ›Eigengesetzlichkeit‹ der Lebenssphären« (Hübinger 2008: 99. Hervorhebung im Original). Und zum Schluss die Quintessenz aus alledem, dass es die eine große Meistererzählung nicht gibt, sondern das Gebot radikaler Historisierung nur ein Ergebnis haben kann: das Nebeneinander vieler Religionsgeschichten.

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Religion und Moderne: Theoretische Überlegungen und empirische Beobachtungen Detlef Pollack

Seit einiger Zeit ist in den Sozial- und Geisteswissenschaften, sobald die Sprache auf das Verhältnis von Religion und Moderne kommt, ein neuer, selbstgewisser Ton zu vernehmen. Einsichten der soziologischen Klassiker in das Spannungsverhältnis von religiösen Ritualen und modernen Verfahren, religiösen Überzeugungen und modernem Wissen, religiösen Identitäten und moderner Reflexivität sollen nicht mehr gelten. Stattdessen wird unter Bezugnahme auf die in den Massenmedien breit diskutierte Rückkehr des Religiösen in den Raum von Öffentlichkeit und Politik die Vereinbarkeit von Religion und Moderne, die religiöse Imprägnierung moderner Institutionen und Ideen, ja die religionsproduktive Kraft der Moderne selbst behauptet. Die Entwicklung von Religion in den letzten Jahrzehnten sei, so Staf Hellemans, »nicht mehr vom Gegensatz zwischen Religion und Moderne aus zu deuten« (Hellemans 2010: 15). »Es wird Zeit, dass wir uns von diesem antithetischen Denken verabschieden« (35). »Alle Religion in der Moderne«, auch »die orthodoxeste und modernitätsfeindlichste«, sei »durch und durch modern« (35). Die gegenwärtig beobachtbaren religiösen Formen und Inhalte gehörten, wie man noch bis vor Kurzem geglaubt habe, nicht einem voraufklärerischen Zeitalter an, sondern seien ein Ausdruck der Moderne und mit ihr vollständig kompatibel. Ebenso strebt in seinem Buch Der eigene Gott auch Ulrich Beck einen soziologischen Perspektivenwechsel an, in dem Religion »vom Opfer der Entzauberung zum Akteur reflexiver Modernisierung« werden könne (Beck 2008: 225). Als Soziologe habe er zwar »im Glauben an die Erlösungskraft der soziologischen Aufklärung das Säkularismus-Idiom im

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Blut« (13). Aber der soziologische Blick, der die religiösen Phänomene primär auf ihre gesellschaftlichen Ursachen und Funktionen hin befrage und Modernisierung von Anfang an als einen universalen und unaufhaltsam voranschreitenden, mit der Säkularisierung untrennbar verbundenen Prozess verstanden habe (36), mache »unverstehbar, was zunehmend die Wirklichkeit bestimmt: die Wiederverzauberung durch Religion« (14). Mit der Renaissance des Religiösen sei die Soziologie dazu herausgefordert, sich von ihren Ursprüngen zu lösen und sich auf das mit dem Soziologischen nur schwer verträgliche Religiöse neu einzulassen (13). Abgesehen davon, dass jede wissenschaftliche Analyse gut beraten ist, zu modischen Strömungen des Zeitgeistes Distanz zu wahren, muss gegenüber derartigen Diagnosen festgehalten werden, dass eine Erkenntnis noch nicht dadurch wahr ist, dass sie neu ist. Auch wenn sich leicht nachvollziehen lässt, dass die eigene wissenschaftliche Argumentation einen besonderen Schwung erhält, wenn sie sich von den etablierten Weisheiten der Klassiker absetzt und innovatives Wissen erzeugt, muss sie doch stets damit rechnen, dass auch frühere Einsichten ihr Recht haben. Die Säkularisierungsthese und die mit ihr verbundene Modernisierungstheorie zu verabschieden, nur weil sie konventionell sind, könnte sich als übereilt erweisen, wenn man denn nicht wirklich überzeugende Gründe hat, sie aufzugeben. Solche kann es geben. Deshalb soll es in einem ersten Punkt zunächst darum gehen, diese Gründe ausfindig zu machen und zu prüfen, welche Berechtigung ihnen zukommt. Das Ergebnis dieser Prüfung wird sein, dass nicht wenige der gegen die Modernisierungs- und Säkularisierungstheorie vorgebrachten Einwände begründet sind, dass aber die Argumente, die gegen sie sprechen, nicht ausreichen, um sie preiszugeben. In einem zweiten Abschnitt sollen daher die Umrisse einer Theorie skizziert werden, die trotz der berechtigten Einwände gegenüber der Modernisierungstheorie an diese anschließt und einige ihrer Argumente zu reformulieren versucht. In einem dritten Punkt sei aufgezeigt, worin, wenn man die Prämissen dieses theoretischen Entwurfs ernst nimmt, mögliche Konsequenzen der Modernisierung für das religiöse Feld gesehen werden könnten.

Religion und Moderne: Theoretische Überlegungen und empirische Beobachtungen

1. D ISKUSSION EINIGER E INWÄNDE GEGENÜBER DER M ODERNISIERUNGSTHEORIE Ein erster Einwand bezieht sich auf den makrosoziologischen Charakter der Modernisierungstheorie. Schon Clifford Geertz (1987: 30) – einer der frühen Kritiker der Modernisierungstheorie – wandte sich dagegen, in der ethnografischen Analyse mit der Interpretation ganzer Gesellschaften einzusetzen. Auch wenn die ethnografische Analyse die Untersuchung umfassender Zusammenhänge nicht ausschließe, so nähere sich der Ethnologe – anders als der Historiker, Ökonom, Politikwissenschaftler oder Soziologe – den großen Realitäten wie Macht, Legitimität, Modernisierung, Konflikt, Integration, Unterdrückung, Arbeit und Struktur doch nicht von oben, sondern von unten: mikroskopisch. Nur durch akribische Feldforschung könne man diesen »großen Worten, die uns allen Angst machen«, jene Feinfühligkeit verleihen, die man braucht, wenn man mit ihnen konkret und schöpferisch arbeiten will (31). Dieser Einwand ist berechtigt. Modernisierungstheorien verbleiben tatsächlich zumeist auf der makrosoziologischen Ebene und begnügen sich damit, makrosoziologische Zusammenhänge, etwa den zwischen Wirtschaftswachstum und Demokratieentwicklung, aufzuzeigen, ohne die Frage aufzuwerfen, wie sich ein solcher Zusammenhang im Denken, Handeln und Erleben der Individuen darstellt und welche kausalen Mechanismen für die Herstellung dieses Zusammenhangs im Zusammenspiel zwischen makro- und mikrosozialen Faktoren verantwortlich zu machen sind. Um dieses Defizit zu beheben, dürfte es erforderlich sein, unterschiedliche Konstitutionsebenen des Sozialen zu unterscheiden, mit deren Hilfe sowohl die wechselseitigen Bezüge zwischen diesen Ebenen als auch ihre relative Unabhängigkeit voneinander Berücksichtigung finden können (vgl. Luhmann 1975). Dieser Vorschlag läuft nicht darauf hinaus, makrosoziologische Theorien durch mikroskopische Feldforschungen zu ersetzen, sondern darauf, beide zu relationieren, denn natürlich ist die Erfahrungsund Lebenswelt der Individuen von systemischen Kontextbedingungen nicht unabhängig. Im Falle der Christentumsgeschichte Deutschlands zum Beispiel besaß der Protestantismus im Deutschen Kaiserreich ein großes öffentliches Gewicht, während die kirchliche Beteiligung der Bevölkerung vergleichsweise gering war (vgl. McLeod 1997: 64). Gleichzeitig übte die öffentliche Dominanz des Protestantismus auf die Bevölkerung insofern einen starken Einfluss aus, als sich Angehörige der Arbeiterschaft

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und anderer staatskritischer Bevölkerungsschichten eher kirchendistanziert verhielten, während Adlige, Verwaltungsbeamte, Militärs und andere, die dem Kaiserhaus nahe standen, eher bereit waren, sich am kirchlichen Leben zu beteiligen. Das herangezogene Beispiel zeigt, dass zwischen sozialer Mikro- und Makroebene unterschieden werden muss, auch wenn sich beide natürlich beeinflussen. Ein zweiter Einwand ist mit dem ersten eng verwandt und betrifft den hohen Generalisierungsgrad der Modernisierungstheorien. Hier wird Kritik an dem Anspruch der Modernisierungstheorien geübt, verallgemeinerbare Aussagen formulieren zu können, die auf jeden Einzelfall anwendbar sind. Zu Recht wird dagegen eingewandt, dass es immer Ausnahmen von der Regel gebe und generalisierte Aussagen dazu tendieren, die Besonderheit des einzelnen Falles zu negieren. Es liegt in der Logik dieses Arguments, dass Wolfgang Knöbl (2007) seinen Gegenentwurf zur Modernisierungstheorie Die Kontingenz der Moderne nennt und vor allem darum bemüht ist, die Unmöglichkeit der Entwicklung von Ansätzen mit hoher Verallgemeinerbarkeit und Reichweite nachzuweisen. So richtig es ist, die historische Besonderheit des einzelnen Falles zu berücksichtigen, so unsinnig wäre es allerdings auch, auf die Erkenntnis von Regelmäßigkeiten und Strukturen zu verzichten. Wenn es solche regelmäßigen Muster in der sozialen Welt nicht gäbe, wäre wissenschaftliche Analyse ausgeschlossen. Dann müsste sie sich in Narration auflösen. Dann ließen sich aber auch keine Abweichungen erkennen. Die Erkenntnis von Kontingenz und Besonderheit ist an die Aufdeckung von Regelmäßigkeiten und Mustern geradezu gebunden. Wenn Wolfgang Knöbl trotz seines ausschließlichen Interesses am Aufweis von Abweichungen, Besonderheiten und Zufälligkeiten sich vorgeblich dann doch darum bemühen will, zur Theoriebildung beizutragen, so ist ein solcher Ansatz in sich selbst widersprüchlich. Den Vorwurf, die Modernisierungstheorie stelle den Prozess der Modernisierung als unausweichlich, irreversibel, einlinig und deterministisch dar, müssen die Vertreter dieser Theorie ernst nehmen, denn in vielen Abhandlungen aus den 1950er und 1960er Jahren bestand dazu tatsächlich eine unübersehbare Neigung. Inzwischen aber haben sich neuere modernisierungstheoretische Entwürfe von diesem Notwendigkeitsdenken gelöst. Zwei jüngere Modernisierungstheoretiker sagen: »Nothing in the social world is irreversible or inevitable« (Wallis/Bruce 1992: 27). Die Vertreter dieser neueren Modernisierungstheorie erkennen die Möglichkeit des Rückfalls hinter einen einmal erreichten Entwicklungsstand etwa im

Religion und Moderne: Theoretische Überlegungen und empirische Beobachtungen

Prozess der Demokratisierung an und verweisen dabei auf Beispiele wie Deutschland nach dem Ende der Weimarer Republik, Spanien oder Kambodscha. Ihre Behauptung lautet nicht, dass sich die Moderne zwangsläufig und notwendig durchsetze, sondern dass es für ihre Durchsetzung eine hohe Wahrscheinlichkeit gebe, die Rückschläge und Umwege nicht ausschließe. 1900 gab es etwa acht Demokratien, zu Beginn der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts war in rund 30 Ländern mit allgemeinen, gleichen und freien Wahlen das prozedurale Minimum demokratischer Systeme installiert, 1940 waren es wieder nur noch neun, die diesem Kriterium genügten. Heute ist die Zahl der Demokratien auf mehr als 100 angestiegen. Es sind Beobachtungen dieses Typs, die die Modernisierungstheoretiker dazu bringen, Wahrscheinlichkeitsaussagen über die Richtung der globalen Demokratieentwicklung und den säkularen Modernisierungstrend zu machen. Und was die Entstehung der Moderne betrifft, so ging die Modernisierungstheorie noch nie von einer unausweichlichen Entwicklung aus. Im Gegenteil, sie rechnet eher mit der hohen Unwahrscheinlichkeit der Emergenz von Modernisierungsprozessen. Schon Max Weber (1920) warf bekanntlich die Frage auf, welche Verkettung von Umständen dazu geführt hat, dass auf dem Boden des Okzidents und nur dort Kulturerscheinungen aufgetreten sind, die, wie wenigstens wir uns gern einbilden, von universeller Bedeutung sind. Auch andere Modernisierungstheoretiker vertreten die Überzeugung, dass sich die Moderne unter einzigartigen historischen Umständen herausgebildet habe – sie sprechen von Durchbruchsgesellschaften – und fragen nach den besonderen Bedingungen ihres Entstehens. Mit einem Automatismus in der Heraufkunft der Moderne rechnet heute keiner. Der Vorwurf des Ethnozentrismus – für einen Anthropologen zweifellos das härteste Wort, das er zur Bezeichnung eines moralischen Fehltritts vorzubringen vermag (Geertz 1987: 34) – ist nun unter allen Kritikpunkten der schwächste. Sofern damit gemeint sein sollte, dass modernisierungstheoretische Kategorien aufgrund ihrer westlichen Herkunft auf außerwestliche Länder nicht anwendbar seien, so ist mit Shalini Randeria (2009) und damit der Vertreterin einer explizit nichtwestlichen Perspektive darauf hinzuweisen, dass der Verzicht auf die Benutzung westlicher Kategorien und die Übernahme indigener Begrifflichkeiten wohl nur in begriffstechnische Konfusionen führen kann. Auch wenn der Sozialwissenschaftler die Eigenperspektive der Betroffenen nicht übergehen sollte, ist er gleichzeitig doch gut beraten, sich von dieser nicht abhängig zu machen.

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298

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Sofern mit dem Ethnozentrismus-Vorwurf die Kritik an der Behauptung eines westlichen Überlegenheitsanspruches gemeint sein sollte, so lässt sich dieser leicht entkräften, denn viele Modernisierungstheoretiker – man denke nur an Emile Durkheim, Max Weber oder Georg Simmel oder aber auch an Peter L. Berger, Jürgen Habermas oder Richard Sennett – sind sich der Ambivalenzen der Moderne vollkommen bewusst und stellen in ihren Analysen nicht nur die produktiven, sondern auch die destruktiven Züge der Moderne heraus. In den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts galten die USA vielfach noch als Zielgesellschaft der Modernisierung; das wird heute nicht mehr aufrechterhalten. Die These von der Überlegenheit des Westens wird heutzutage denn auch weniger von Proponenten der Modernisierungstheorie als von Repräsentanten nichtwestlicher Gesellschaften vertreten.1 In diesen Gesellschaften ist der Wunsch weit verbreitet, an den Leistungen der Moderne zu partizipieren. Nicht zuletzt legt die Richtung der internationalen Migrationsströme von diesem Wunsch beredtes Zeugnis ab. Selbst dort, wo die westliche Kultur als dekadent, als konsumistisch, gewaltbereit oder säkular kritisiert wird, schwingt in ihrer Abwehr noch häufig ein Gefühl ihrer Bewunderung mit. Man sollte sich von der um Selbstbehauptung bemühten Depotenzierung der westlichen Moderne, auf die man vor allem bei Intellektuellen außerhalb des Westens immer wieder stößt, nicht täuschen lassen; in den Ländern, die von der westlichen Moderne ausgeschlossen sind, besitzt diese, oft selbst unter ihren Kritikern, eine hohe Attraktivität. Wenn Ethnologen, Soziologen und Historiker aus dem europäischen Kulturkreis so großen Wert auf die Vermeidung eurozentrischer Vorurteile und Überlegenheitsansprüche legen und die Bewunderung für die Moderne nicht zu teilen vermögen, so kann man eine solche Haltung selbst noch als eine Manifestation der einzigartigen, im übrigen typisch modernen – dazu später mehr – Selbstrelativierungskompetenz der europäischen Kultur lesen. Das Zentrum der Modernisierungstheorie wird getroffen, wenn erklärt wird, dass sich die in ihr unterstellte Differenz zwischen traditional und modern nicht aufrechterhalten lasse, denn die Annahme von Prozessen der Modernisierung setzt die Behauptung einer Differenz zwischen Vormoderne und Moderne voraus. Bereits in den 1960er Jahren stellte Joseph R. Gusfield (1966) die These auf, dass Tradition und Moderne sich nicht ausschließen würden, zwischen beiden vielmehr ein Verflechtungszusam1 | So auch Bayly (2008: 78).

Religion und Moderne: Theoretische Überlegungen und empirische Beobachtungen

menhang bestehe und Traditionen vielfach sogar selbst Mittel der Modernisierung darstellten. Die von Marion J. Levy (1952) und anderen behauptete Antithese zwischen askriptiven, partikularistischen und funktional diffusen Normen in traditionalen Gesellschaften und leistungsbezogenen, universalistischen und funktional spezifischen Rollenmustern und Werten in modernen Gesellschaften lasse sich nicht durchhalten. Vormoderne Gesellschaften seien nicht statisch, homogen, undifferenziert, sondern flexibel, konfliktreich und differenziert; und moderne Gesellschaften definierten sich nicht einfach aus dem Gegensatz zur Tradition, vielmehr überlebten traditionale Verhaltensweisen, Normen, Werte und Institutionen auf vielfache Weise auch in der Moderne – ein Gedanke, der sich auch bei José Casanova (2008: 320), Friedrich Wilhelm Graf (2004) und vielen anderen findet. Auch wenn es zweifellos richtig ist, dass die Moderne vielfach traditionale Elemente enthält, so ist es doch wohl kaum bestreitbar, dass wir heute in einer Welt leben, die mit der vor – sagen wir – 300 Jahren nicht vergleichbar ist. Wenn wir an den Zugang zu sauberem Wasser, den Schutz vor Naturkatastrophen, Epidemien und Hungersnöten, das Niveau der medizinischen Versorgung, den Ausbau des Rechts- und Sozialstaates, die Gewährung von politischen und bürgerlichen Freiheiten, den Zugang zu Bildungsinstitutionen oder auch an die Verfügung über Konsumgüter und Luxusartikel denken, so ist evident, dass sich die Lebensbedingungen des Menschen in den letzten 300 Jahren radikal transformiert haben. An dieser Stelle neigen die Vertreter der Modernisierungstheorie zur Emphase. Für manche von ihnen ist keine soziale Veränderung so tiefgreifend und weitreichend wie der Umbruch von der Vormoderne zur Moderne, nicht einmal die neolithische Revolution oder die Erfindung der Schrift (Berger 2006: 201). Diese emphatische Einschätzung lässt sich mit wirtschaftswissenschaftlichen Zahlenreihen gut untermauern, denn eine Gegenüberstellung der ökonomischen Leistungskraft von vormodernen und modernen Gesellschaften macht schlaglichtartig klar, dass sich mit der industriellen Revolution das Wirtschaftswachstum um etwa das Dreißigfache erhöht hat. Das Pro-Kopf-Wachstum des BIP betrug vor 1820 weltweit jährlich etwa 0,04 %, zwischen 1820 und 1992 betrug es dagegen jährlich 1,21 %.

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Detlef Pollack

Tabelle 1: BIP pro Kopf 1000-2003, in internationalen Dollar von 1990 Jahr

Westeuropa

USA

Japan

China

Indien

1000

427

400

425

450

450

1500

771

400

500

600

550

1700

997

527

570

600

550

1820

1.202

1.257

669

600

533

1870

1.960

2.445

737

530

533

1913

3.457

5.301

1.387

552

673

1950

4.578

9.561

1.921

448

619

1973

11.417

16.689

11.434

838

853

2003

19.912

29.037

21.218

4.803

2.160

Quelle: Maddison 2007: 382

Nach den Berechnungen Angus Maddisons (2007) gab es bis 1000 nach Christus kaum ökonomische Entwicklungsunterschiede zwischen Westeuropa, Indien und China und überschritt die wirtschaftliche Produktivität zu dieser Zeit in keiner Region das Subsistenzniveau (vgl. Tabelle 1). Ein gewisses wirtschaftliches Wachstum setzte in Europa im Hochmittelalter ein, während die anderen Großräume damals keine aufwärts gerichtete Entwicklung zeigten. Gravierend traten die Entwicklungsprozesse nach 1820 auseinander. Während sich die Entwicklung in Europa und den USA beschleunigte, verharrten China und Indien trotz zeitlich begrenzter Wachstumsperioden bis 1950 mehr oder weniger auf dem gleichen Niveau und holen erst seit den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts schrittweise auf. Betrug der Abstand in der Produktivität zwischen China und Westeuropa 1950 noch 1 zu 10, ist er inzwischen auf ein Verhältnis von 1 zu 4 geschrumpft. Wenn es richtig ist, dass zwischen traditionalen und modernen Gesellschaften im wirtschaftlichen Niveau gravierende Unterschiede bestehen, dann muss sich die Moderne als ein abgrenzbares soziales Phänomen identifizieren lassen. Nur wenn Merkmale auszumachen sind, die mehr oder weniger auf alle als modern zu bezeichnenden Gesellschaften zutreffen und auf nichtmoderne nicht, lässt sich von Moderne überhaupt sprechen. Um die Einheit der Moderne auf den Begriff zu bringen, schlagen die Vertreter der Modernisierungstheorie unterschiedliche Begriffsschemata vor. Daniel Lerner (1968: 387) sieht als »salient characteristics of modernity« fünf Eigenschaften an: ein sich selbst tragendes Wirtschaftswachstum, ein

Religion und Moderne: Theoretische Überlegungen und empirische Beobachtungen

demokratisches Repräsentativsystem, die Verbreitung säkular-rationaler Normen, zunehmende Mobilität und die Ausprägung von empathischer Fremd- und individualistischer Selbstwahrnehmung. Talcott Parsons (1971: 72) knüpft den Eintritt in die moderne Welt an vier Errungenschaften: »bürokratische Organisationsformen zur Realisierung kollektiver Ziele, Geld und Marktsysteme, ein allgemeingültiges universalistisches Rechtssystem und die demokratische Assoziation mit gewählter Führung«. Anthony Giddens (1996: 75ff.) – um einen neueren Vertreter der Modernisierungstheorie zu zitieren – charakterisiert die Moderne durch Kapitalismus, Industrialisierung, Nationalstaat und das Machtmonopol des Staates. Wie auch immer die Bestimmung der notwendigen Elemente der Struktur moderner Gesellschaften ausfällt, die Behauptung der Modernisierungstheoretiker lautet, dass die einzelnen Elemente nicht unabhängig voneinander auftreten können, sondern einen intrikaten Verflechtungszusammenhang bilden. Gegen diese Vorstellung einer Einheit der Moderne wird die Idee der »multiple modernities« in Stellung gebracht, womit ein weiterer Einwand gegen die Modernisierungstheorie formuliert ist. Müssen Rechtsstaat, Demokratie und Marktwirtschaft Hand in Hand gehen? China hat seit Ende der 70er Jahre marktwirtschaftliche Elemente in seiner Wirtschaftspolitik zugelassen, aber weder Rechtsstaat noch Demokratie eingeführt, und es hat seitdem ein beispielloses Wirtschaftswachstum erzielt. Indien hat den Rechtsstaat und die Demokratie vom britischen Raj übernommen, ohne dass dies gleichzeitig zu wirtschaftlichem Wachstum geführt hätte (Wagener 2008: 32). Geht Modernisierung stets mit funktionaler Differenzierung, mit der Trennung von Religion, Politik, Wirtschaft, Recht und Wissenschaft einher? Sind die gesellschaftlichen Konstruktionen in den USA, in Deutschland und in Japan nicht ganz verschieden? Die Modernisierungstheorie, so Shmuel Eisenstadt (2000: 10f.), nehme an, dass »die im Westen entwickelten Hauptmerkmale der Moderne eng miteinander zusammenhängen« und sich das Projekt der Moderne, das ein Projekt des Westens sei, »auf der ganzen Welt durchsetzen werde«. Aber, so Eisenstadt weiter, »die Wirklichkeit erwies sich als ganz anders« (11). In den verschiedenen Gegenwartsgesellschaften würden die voneinander unabhängigen Merkmale der Moderne ganz unterschiedlich miteinander kombiniert. Die Entwicklungen in unserem Zeitalter sprächen nicht für Konvergenz, sondern »für die große Vielfalt moderner Gesellschaften« (11). Wären die Differenzen innerhalb moderner Gesellschaften tatsächlich größer als die Ähnlichkeit zwischen ihnen, wie Eisenstadt unterstellt,

301

302

Detlef Pollack

dann müsste man den Begriff der Moderne jedoch aufgeben. Es ist insofern wohl alles andere als ein Zufall, dass Eisenstadt nicht genau angeben kann, was er unter Moderne versteht und einen so weiten Modernebegriff verwendet, dass darunter auch Fundamentalismus, Staatssozialismus und Faschismus fallen (Eisenstadt 2000: 174ff.).2 Damit ist klar, worin die wesentlichen Aufgaben einer zu reformulierenden Modernisierungstheorie bestehen: Eine solche Theorie muss die zentralen Kennzeichen der Moderne ausfindig machen und zeigen, dass sie in diesen Hinsichten von vormodernen Gesellschaften differiert. Sie muss die Frage beantworten, ob die Verschiedenartigkeit unterschiedlicher moderner Gesellschaften gegenüber ihren Gemeinsamkeiten überwiegt, und sie muss in der Lage sein, den Übergang von der Vormoderne zur Moderne zu erklären. Eine angemessene Beantwortung dieser drei gewichtigen Fragen überfordert natürlich den hier gesteckten Rahmen bei Weitem. Konzentrieren soll sich die Argumentation im Folgenden daher auf die Skizzierung der Umrisse einer Theorie der Moderne sowie auf die Behandlung der Frage, ob die Tendenzen der Divergenz gegenüber denjenigen der Konvergenz dominieren. Erst im Anschluss an diese Bemerkungen zur Einheit und zur Struktur der Moderne sollen dann auch noch einige beobachtbare Konsequenzen der Modernisierung für das religiöse Feld aufgezeigt werden.

2 | Es ist ein weit verbreiteter Irrtum anzunehmen, dass Fundamentalismus, Faschismus oder das System des Staatssozialismus moderne Phänomene seien. Selbst wenn sich in diesen sozialen Formationen Elemente der Moderne finden – wie etwa die Benutzung oder sogar der Ausbau und die Weiterentwicklung moderner Techniken und Technologien –, macht sie dies noch nicht zu Repräsentanten der Moderne. Dominanter als die beobachtbaren Elemente der Moderne, die sie inkorporieren, ist ihre Ablehnung moderner Grundprinzipien wie etwa die Achtung der Menschenrechte, die Gewährleistung individueller Autonomie, die Akzeptanz von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit oder die Toleranz kultureller, religiöser und ethnischer Pluralität.

Religion und Moderne: Theoretische Überlegungen und empirische Beobachtungen

2. K ENNZEICHEN DER M ODERNE Um die Frage nach der Einheit der Moderne und ihren zentralen Merkmalen zu behandeln, sei zunächst auf einer empirischen Ebene argumentiert. Empirisch lässt sich feststellen, dass wichtige sozialstrukturelle Sachverhalte wie etwa Wohlstandswachstum, Industrialisierung, Urbanisierung, der Siegeszug der Demokratie, die zunehmende Gewährleistung politischer Freiheiten und bürgerlicher Rechte, der Anstieg des Bildungsniveaus sowie die Erhöhung die Lebenserwartung in sich modernisierenden Gesellschaften gemeinsam auftreten und die Unterschiede im Modernisierungsniveau zwischen den sich entwickelnden Ländern im Laufe der letzten Jahrzehnte nicht zu-, sondern abnehmen. Die empirische Evidenz für diese beiden Sachverhalte ist überwältigend, und sie sei an dieser Stelle wenigstens exemplarisch veranschaulicht. Tabelle 2: BIP pro Kopf nach Regionen, 1950-2003 1950

1973

1990

2003

19902003

Westeuropa

4.578

11.417

15.965

19.912

1,71

USA

9.561

16.689

23.201

29.037

1,74

Japan

1.921

11.434

18.789

21.218

0,94

»reiche« Länder

5.648

13.082

18.781

23.345

1,69

Osteuropa

2.111

4.988

5.440

6.476

1,35

Russland

3.086

6.582

7.779

6.323

-1,58

Lateinamerika

2.503

4.513

5.072

5.786

1,02

China

448

838

1.871

4.803

7,52

Indien

619

853

1.309

2.160

3,93

Übriges Asien

924

2.046

3.078

4.257

2,53

Afrika

890

1.410

1.449

1.549

0,52

1.094

2.072

2.718

3.816

2,64

»restliche« Länder

Quelle: Maddison 2007: 337

Tabelle 2 zeigt noch einmal, dass hinsichtlich des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf die ›ärmeren‹ Länder gegenüber den ›reicheren‹ aufholen. Dies gilt auch, wenn der Vergleich auf der Basis des kaufkraftbereinigten Brut-

303

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toinlandsprodukts vorgenommen wird (vgl. Tab. 3). Allerdings gibt es auch Ausnahmen: In Afrika, Osteuropa und Lateinamerika wächst das Bruttoinlandsprodukt langsamer als im Durchschnitt (Tab. 2). Tabelle 3: GDP based on purchasing power parity 2009 /1980

Country Group Name

1980

1990

2000

2009

Emerging and developing economies

4.481,61

9.199,79

15.463,48

31.644,58

7,06

Advanced economies

7.991,61

16.423,49

26.334,93

37.006,87

4,63

European Union

3.689,36

6.974,05

10.539,26

14.774,53

4,00

1.134,69

2.203,68

5,64

Africa

391,014

744,413

Quelle: International Monetary Fund, World Economic Outlook Database, April 2009

Der Anteil der Landwirtschaft am Sozialprodukt geht in allen sich modernisierenden Staaten zurück. In Westeuropa, Nord- und Südamerika liegt der Urbanisierungsgrad bei über 80 % (vgl. Tab. 4). In Südamerika und Ostasien stieg er in den letzten 60 Jahren auf das Doppelte, in Westasien und Afrika sogar auf das Dreifache. Auch wenn die ostasiatischen und afrikanischen Länder das Urbanisierungsniveau Westeuropas und Nordamerikas noch längst nicht erreicht haben, erfolgt doch auch bei diesem Modernisierungsindikator eine Verringerung der Unterschiede zwischen den Regionen. Die Bedeutung dieses Strukturwandels lässt sich schlechterdings kaum überschätzen, denn die Landwirtschaft war über Jahrtausende hinweg die dominante Produktionsweise. Nach Jahrtausenden, in denen die landwirtschaftliche Produktionsweise mit ihren eingespielten Gewohnheiten, Rollenzuweisungen, Geschlechterregimes und Arbeitsrhythmen vorherrschte, geht seit Jahrzehnten die Bedeutung der Agrarwirtschaft in mehr und mehr Regionen immer weiter zurück.

Religion und Moderne: Theoretische Überlegungen und empirische Beobachtungen

Tabelle 4: Urbanisierungsgrad in verschiedenen Großregionen (in Prozent) 1950

1970

2000

2010

Westeuropa

68

77

83

84

Nordamerika

64

74

77

80

Südamerika

43

60

80

83

Ostasien

18

25

39

43

Westasien

27

44

70

75

Afrika

15

23

38

44

Quellen: www.berlin-institut.org, Oesterdiekhoff, Georg W. 2006. Modernisierungstheorie und Wandel der Weltgesellschaft. Soziologie 35 (1): S. 26-41.

Auch die Lebenserwartung erhöht sich in den Entwicklungsländern deutlich schneller als in Westeuropa. Dies ist leicht zu erkennen, wenn man etwa die Zahlen für Frankreich und Großbritannien mit denen für Peru, Mexiko, China und Indien miteinander vergleicht (vgl. Tab. 5). Wiederum gibt es aber auch einige Ausnahmen: Bulgarien, Nigeria und Uganda holen nicht auf. Die wichtigste Ursache für die Erhöhung der Lebenserwartung besteht im Ausbau des medizinischen Systems. Insofern handelt es sich bei der Lebenserwartung um einen typischen Modernisierungsindikator.

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Tabelle 5: Life expectancy at birth (years)

Korea (Republic)

1960

1975

1987

2005

19602005

54

64

70

77,9

23,9

France

70

73

76

80,2

10,2

Japan

68

74

78

82,3

14,3

United States

70

72

76

77,9

7,9

United Kingdom

71

72

76

79

8,0

Peru

48

56

63

70,7

22,7

Mexico

57

64

69

75,6

18,6

Bulgaria

68

71

72

72,7

4,7

China

47

65

70

72,5

25,5

India

44

52

59

63,7

19,7

Bangladesh

40

46

52

63,1

23,7

Nigeria

40

46

51

46,5

6,5

Uganda

43

48

52

49,7

6,7

Quelle: Human Development Report 2007

Ebenso steigt auch die Bildungsbeteiligung, hier gemessen an der Alphabetisierungsrate, in Staaten außerhalb Westeuropas und den USA schneller als den Ländern des Okzidents (vgl. Tab 6). Die sinkende Geburtsrate, die in nichtwestlichen Staaten deutlich stärker zurückgeht als in den westlichen Staaten (vgl. Tab. 7), bedeutet eine unübersehbare Statusanhebung der Frau, denn mit rückläufiger Geburtenrate wird die Frau von der Last lebenslanger Kinderaufzucht befreit und eröffnet sich ihr die Möglichkeit zur Beteiligung am Erwerbsleben, zur Wahrnehmung von Bildungschancen, zur Erlangung eines höheren gesellschaftlichen Status und damit zu einem höheren Maß an Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung. Die damit verbundene Transformation des alltäglichen Lebens der Frauen bringt einen tiefen Einschnitt in der Entwicklung der Frauenrolle mit sich.

Religion und Moderne: Theoretische Überlegungen und empirische Beobachtungen

Tabelle 6: Regional Adult Literacy Rate  

1985

2005

1985-2005

Arab States

58,1

72,5

25 %

Central Asia

97,9

98,6

01 %

East Asia & the Pacific

82,3

93,4

13 %

Latin America & the Carribean

86,6

91,3

05 %

North America & Western Europe

98,1

99,1

01 %

South & West Asia

47,5

64,3

35 %

Sub Saharan Africa

53,4

62,1

16 %

Quelle: Unesco http://stats.uis.unesco.org/unesco/TableViewer/document.aspx

Tabelle 7: Fertility Rate (births per woman)  

1970-1975

2000-2005

Difference

Korea (Republic of)

4,3

1,2

-3,1

France

2,3

1,9

-0,4

Japan

2,1

1,3

-0,8

United States

2

2

0

United Kingdom

2

1,7

-0,3

Peru

6

2,7

-3,3

Mexico

6,5

2,4

-4,1

Bulgaria

2,2

1,3

-0,9

China

4,9

1,7

-3,2

India

5,3

3,1

-2,2

Bangladesh

6,2

3,2

-3,0

Nigeria

6,9

5,8

-1,1

Uganda

7,1

6,7

-0,4

Quelle: Human Development Report 2007 (Tabelle 5)

307

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Auf den Siegeszug der Demokratie, den Ausbau des Rechtsstaats sowie die wachsende Garantie von Menschen- und Bürgerrechten als charakteristischen Merkmalen der Modernisierung sei hier lediglich hingewiesen, ohne empirische Belege für diese Entwicklungstendenzen beizubringen. Die zunehmende Gewährleistung von demokratischen und rechtsstaatlichen Verfahren sowie von bürgerlichen und politischen Freiheiten verläuft offenbar parallel zur Ausbildung anderer Merkmale der Moderne wie dem Anstieg des ökonomischen Wohlstands-, des Bildungs-, des medizinischen Versorgungsniveaus. Dabei gleichen sich die Unterschiede zwischen den Regionen, wie die herangezogenen Daten zeigen, großteils an, auch wenn es einige Regionen gibt – hier ist besonders an die Länder Afrikas zu denken –, die von der Entwicklung weitgehend, wenn auch nicht vollständig ausgeschlossen sind. Moderne Gesellschaften sind also offenbar durch den gleichzeitig auftretenden und wahrscheinlich einander bedingenden Ausbau der Marktwirtschaft, der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, des Medizinsystems, des Bildungssystems, des Sozialsystems usw. gekennzeichnet und tragen insofern weitgehend einheitliche Züge. Darüber hinaus gilt: Nicht wachsende Divergenz scheint das Merkmal der Modernisierung, wo sie denn zustande kommt, zu sein, sondern zunehmende Konvergenz. An diese empirischen Beobachtungen seien nunmehr einige theoretische Überlegungen angeschlossen, die danach fragen, was diese empirisch beobachtbaren Zusammenhänge sozialstrukturell bedingen könnte. Damit nähern wir uns der Frage nach der Einheit der Moderne und ihren Kennzeichen nunmehr auf einer theoretischen Ebene. Um die Frage nach den zentralen Merkmalen der Moderne zu behandeln, seien im Anschluss an klassische soziologische Theorieangebote drei Thesen aufgestellt: 1) Moderne Gesellschaften zeichnen sich, so lautet die erste der drei Thesen, durch Prinzipien der funktionalen Differenzierung aus. Dies meint, dass sich im Unterschied zu vormodernen Gesellschaften in der Moderne unterschiedliche gesellschaftliche Funktionsbereiche – Recht, Wissenschaft, Ökonomie, Politik, Bildung – herausbilden, die sowohl durch ein hohes Maß an Eigendynamik als auch durch wechselseitige Abhängigkeit voneinander charakterisiert sind. Der Umbau der gesellschaftlichen Struktur von Stratifikation auf funktionale Differenzierung hat eine traditionssprengende Kraft und wirkt hierarchieauflösend. Die einzelnen Bereiche

Religion und Moderne: Theoretische Überlegungen und empirische Beobachtungen

folgen nicht mehr gesellschaftsübergreifenden Normen, Weltbildern und Werten. Sie unterscheiden sich durch je spezifische Codes voneinander. Was bereits Friedrich Schiller (1967: 593) für das Verhältnis von Politik und Kunst bzw. Politik und Wissenschaft feststellte, gilt prototypisch für alle Beziehungen zwischen den Funktionssystemen moderner Gesellschaften: »Der politische Gesetzgeber kann ihr Gebiet sperren, aber darin herrschen kann er nicht.« Im Verhältnis der Funktionssysteme zueinander kann es, so drückt Luhmann (1997: 753) den Sachverhalt aus, Destruktion geben, nicht aber Instruktion. Die Politik kann nicht vorgeben, was wissenschaftlich wahr ist, die Wissenschaft nicht, was als schön empfunden wird, die Kunst nicht, was man glauben soll, Religion nicht, was als moralisch geboten zu betrachten ist. Schon gar nicht kann die Moral bestimmen, wie wirtschaftlich gehandelt wird. Aber auch Geld regiert nicht die Welt. Geld kann weder bestimmen, wer als liebenswürdig angesehen wird, noch, wer vor Gott Gnade finden wird, noch auch, welcher wissenschaftliche Befund methodologischen, begriffstechnischen und theoretischen Validitätsansprüchen Genüge tut. Wenn ein Funktionssystem dem andern die Kernoperationen vorschreiben würde, würde das in diesem zu Leistungseinbußen führen. Eigendynamik und Leistungskraft entwickeln die einzelnen gesellschaftlichen Sphären nur, wenn sie ihren jeweils eigenen Codes und Rationalitätsprinzipien folgen und sich darin nicht von äußeren Einflüssen bestimmen lassen. Dennoch besitzen die einzelnen Funktionssysteme keine aus sich heraus begründete Autonomie. Die Wissenschaft muss auf Grundlagensicherheit verzichten. Ob ihre Erkenntnisse mit den Dingen übereinstimmen, dafür gibt es keine Gewissheit. Sie kann Methoden entwickeln und klare Begrifflichkeiten und Modelle, die die wissenschaftlich gewonnenen Erkenntnisse intersubjektiv überprüfbar machen. Aber ob sie wahr sind, darüber geht der wissenschaftliche Streit, der nie an ein Ende kommen kann. Was wahr ist, unterliegt dem interaktiven Aushandlungsprozess, der sich durch Zeitschriftenveröffentlichungen, Reviewverfahren, Evaluationen, Begutachtungen, Diskussionen institutionalisieren lässt (Popper 1993). Es gibt jedoch nicht den archimedischen Punkt, von dem her Wahrheit zu begründen wäre, wie Descartes noch gemeint hatte. Ebenso lebt aber auch der demokratische freiheitliche Staat von Voraussetzungen, die er nicht selbst garantieren kann (Böckenförde 1967). Anders als der absolutistische Staat kann er die Loyalität seiner Bürger nicht autoritativ erzwingen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben. Zugleich

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ist er auf die demokratische Gesinnung seiner Bürger angewiesen, wenn er nicht Gefahr laufen will, durch seine eigenen Verfahren abgeschafft zu werden. Da die Bürger in einer Demokratie diese auch abwählen können, besitzt eine demokratische Staatsordnung, die das Selbstbestimmungsrecht seiner Bürger zur Voraussetzung hat, keine sicheren Grundlagen. Ebenso ist auch die auf Profit und Rentabilität abzielende ökonomische Kernoperation nicht in der Lage, sich selbst zu sichern. Auch der kapitalistische Markt beruht auf einer Reihe von Umweltbedingungen, die er nicht selbst zu garantieren vermag. Dazu gehören die Garantie von Eigentumsrechten, die Gründung von Kartellaufsichtsbehörden, die Gewährleistung politischer Stabilität und vielleicht sogar der Aufbau einer Kultur der Fairness und des Vertrauens. Es ist genau diese Unfähigkeit zur selbstreferenziellen Selbstbegründung, die die einzelnen Funktionssysteme für religiöse Legitimationen bis in die Neuzeit hinein anfällig macht. Letztendlich stehen die einzelnen Funktionsbereiche auf tönernen Füßen. Sie setzen eine kulturell und sozial geborgte Anerkenntnis voraus, die gleichzeitig nur zustande kommen kann, wenn sie selbst effizient operieren; ihre Effizienz wiederum ist aber von eben diesen Umweltbedingungen abhängig. Die Integration funktional differenzierter Gesellschaften beruht also auf der Leistung, die die einzelnen Funktionssysteme füreinander erbringen, auf ihrem Ressourcentransfer, obschon ihre Effektivität diese Integration voraussetzt. Erforderlich sind insofern sowohl die Konsumgüterproduktion der Marktwirtschaft als auch die politischen Partizipationsmöglichkeiten der Demokratie, sowohl die Rechtssicherheit des Rechtssystems als auch die technischen Innovationen der Wissenschaft. Nur wenn die Funktionssysteme zusammenwirken, kann Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der modernen Gesellschaft entstehen. Wie bedroht dieses Vertrauen ist, zeigt sich, sobald die unterstellte Leistungsfähigkeit der einzelnen Bereiche, etwa des Finanzsystems oder des Arbeitsmarktes, als nicht gesichert wahrgenommen wird. Auf der individuellen Ebene hat die funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft die Compartmentalization des Selbst zur Folge (Dobbelaere 2002). So wie auf der Makroebene in modernen Gesellschaften die Möglichkeiten und sogar der Bedarf abnehmen, Integration durch allgemeinverbindliche Normen und Werte sicherzustellen, so wird es in modernen Gesellschaften auch für die Individuen schwerer und unnötiger, ihre Lebensführung noch von einem Gesichtspunkt, etwa einer religiösen Weltsicht, her zu steuern.

Religion und Moderne: Theoretische Überlegungen und empirische Beobachtungen

2) Quer zur funktionalen Differenzierung vollzieht sich in modernen Gesellschaften eine Entwicklung, die die Komplexität der Gesellschaft nicht horizontal, sondern vertikal wachsen lässt. In modernen Gesellschaften treten nicht nur die Funktionsbereiche, sondern auch die sozialen Konstitutionsebenen zunehmend auseinander, so dass Gesellschaften nicht mehr auf Interaktionen (gefasst als Kommunikation unter Anwesenden), Gruppen (gefasst als Aufrechterhaltung der Kommunikation über einen längeren Zeitraum hinweg) oder Organisationen (verstanden als Zweckverband mit Ein- und Austrittsmöglichkeiten) zurückgeführt werden können. Die Folge dieser zunehmenden Ebenendifferenzierung zwischen Interaktion, Gruppe und Organisation ist dann auch eine Steigerung der Differenz zwischen Individuum und Gesellschaft, weshalb den mittleren Ebenen, insbesondere der Organisationsebene (man denke etwa an Gewerkschaften, Parteien, Freiwilligenorganisationen, Betriebe, Kliniken, Universitäten, Schulen usw.), in hohem Maße Aufgaben der Vermittlung zwischen Individuum und Gesellschaft zukommen. Organisationen sind es, die einerseits gesellschaftliche Erwartungen an den Einzelnen adressieren und andererseits in der Lage sind, individuelle Wünsche und Bedürfnisse aufzunehmen und gesellschaftlich zu prozessieren. Anthony Giddens (1996: 40ff.) stellt insbesondere die Bedeutung von Expertensystemen (wie Telefonnetze, Wasserversorgungssysteme, Straßenverkehrsnetze, Kliniken, Fluggesellschaften, Eisenbahnen usw.) für die Vermittlung von Individuum und Gesellschaft heraus. Meist fehlt dem Einzelnen das Wissen, wie diese Systeme funktionieren und wie ihre Funktionstüchtigkeit aufrechterhalten werden kann. Aufgrund der Ebenendifferenzierung hat der Einzelne – anders als in einfachen Gesellschaften, in denen er mit den Lebensgrundlagen seiner Gesellschaft oft gut vertraut ist – meist keinen direkten Zugang zu den Techniken, die sein Leben bestimmen (Lübbe 1990: 45f., 48). Stattdessen ist er darauf angewiesen, den Experten zu vertrauen. Dieses Vertrauen ist in der Regel unpersönlich, da die Experten gewöhnlich im Verborgenen, auf der Hinterbühne des Geschehens, arbeiten, und es ist ambivalent. Wir wissen nicht, inwieweit wir uns auf das Funktionieren der Expertensysteme verlassen können und haben zugleich doch keine andere Wahl, als auf ihr Funktionieren zu vertrauen. Respekt ist so mit Skepsis vermischt und für Kritik, Misstrauen und Infragestellung stets anfällig. Manchmal treffen wir mit den Experten der technischen Systeme persönlich zusammen. Dies sind Treffpunkte, die unser Vertrauen in die Expertensysteme bestärken können, aber auch

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Gelegenheiten der Verletzbarkeit des Vertrauens. Wie wir sehen, ist die Vermittlung der unterschiedlichen Ebenen wiederum vor allem von der Effektivität der auf den einzelnen Ebenen erbrachten Leistungen sowie dem daraus resultierenden Vertrauen abhängig, das sich allerdings auch verfestigen und insofern eine gewisse Performanzunabhängigkeit gewinnen kann. Für das Individuum hat die Auseinanderziehung der gesellschaftlichen Konstitutionsebenen zur Folge, dass es aus gesellschaftlichen Bindungen zunehmend freigesetzt wird und von gesellschaftlichen Strukturen weniger abhängig ist als in vormodernen Gesellschaften. Die damit aufgenommene Individualisierungsthese von Ulrich Beck (1983; 1986) besagt bekanntlich, dass sich das Individuum aus vorgegebenen Sozialformen wie Nachbarschaft, Region, Milieu, Stand und Klasse zunehmend herauslöst und mehr und mehr selbst über sein Leben bestimmt, dass es in diesem Freisetzungsprozess traditionale Sicherheiten verliert und durch seine Einbindung in moderne Institutionen wie den Arbeitsmarkt, das Sozialsystem oder das Bildungssystem eine neue Unmittelbarkeit von Individuum und Gesellschaft oder, wie Beck (1986: 118) auch sagen kann, zwischen sozialer Krise und individueller Krankheit, aber auch eine neue Individuumsabhängigkeit sozialer Institutionen entsteht (Beck 1991: 42). Legt man das Modell der Ebenendifferenzierung zugrunde, erkennt man sofort, dass diese Beschreibung insofern richtig ist, als die zunehmende Ebenendifferenzierung in der Tat den Einzelnen mehr und mehr aus gemeinschaftlichen Bindungen herauslöst, diese Herauslösung aber eben gerade nicht zu einer neuen Unmittelbarkeit zwischen Individuum und Gesellschaft führt. Die Einbindung in den Arbeitsmarkt, die an die Stelle der Abhängigkeit von Herkunft und Familie tritt, bedeutet nicht, dass der Arbeitsmarkt das berufliche Schicksal des Einzelnen festlegt. Vielmehr vermag der Arbeitsmarkt nur die Rahmenbedingungen zu bestimmen, unter denen der Einzelne operiert, und es ist dann zu einem erheblichen Teil dem Einzelnen selbst überlassen, wie er sich in diesen Bedingungen bewährt, wie er sie zu nutzen weiß und welche er für sich selbst überhaupt akzeptiert. Die modernen Institutionen haben gerade keinen Direktzugriff mehr auf das Individuum, was dem Einzelnen ein höheres Maß an individueller Autonomie garantiert. Zugleich bedeutet die zunehmende Ebenendifferenzierung moderner Gesellschaften aber auch eine Limitierung der Möglichkeiten des Individuums zur Direktbeeinflussung gesellschaftlicher Prozesse.

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Wenn das Auseinanderziehen der sozialen Konstitutionsebenen ein entscheidendes Charakteristikum moderner Gesellschaften ist, dann sind Beschreibungen, die von einem Bedeutungsverlust der Gemeinschaftsebene ausgehen (Tönnies), die Kolonisierung der Lebenswelt durch die funktionalen Steuerungssysteme der Gesellschaft wie Politik und Wirtschaft behaupten (Habermas) oder die zunehmende Anonymisierung des Einzelnen in der Moderne beklagen, unangemessen. Die Moderne hält gemeinschaftliche Lebensformen ebenso bereit wie vormoderne Gesellschaften, nur drängt sie sie dem Einzelnen nicht auf. Gemeinschaftliche Bindungen müssen vielmehr zunehmend individuell selbst gewählt werden. Das ist nicht jedermanns Sache, aber doch jedem prinzipiell möglich. Die moderne Stadt zum Beispiel treibt Individuum und Gesellschaft nicht nur auseinander, sondern kreiert auch neue Formen der Solidarität. Zwischen Individuum und Gesellschaft besteht in modernen Gesellschaften also nicht – wie der frühe und mittlere Foucault oder die Kritische Theorie annehmen (Schroer 2001) – ein Ausschließungs-, sondern ein Steigerungsverhältnis (Luhmann 1993; 1995: 130). Das heißt, die Erhöhung der Komplexität der Gesellschaft muss nicht auf Kosten des Einzelnen gehen, sondern der Einzelne kann von diesen Komplexitätssteigerungen auch profitieren. 3) Es scheint, dass die einzelnen gesellschaftlichen Funktionssysteme vom Prozess der funktionalen Differenzierung in unterschiedlicher Weise betroffen sind. Manche Systeme wie Familie, Erziehung oder Religion sind diesem Prozess eher reaktiv ausgesetzt und nehmen allenfalls in der Initialphase ermöglichende Funktionen wahr, andere wie Wirtschaft, Politik oder Wissenschaft treiben ihn voran. Entscheidend für die Unterscheidung von ermöglichenden und mobilisierenden Systemen ist anscheinend die Tatsache, ob die gesellschaftlichen Systeme Foren des Wettbewerbs, also Märkte, eingerichtet haben, in denen die unterschiedlichen Anbieter um Akzeptanz ringen.3 Märkte stellen einen Anreiz zur Leistungssteigerung und wechselseitigen Überbietung dar und sind insofern die Motoren der gesellschaftlichen Dynamisierung. Nichts findet um seiner selbst willen Anerkennung, vielmehr besitzt alles lediglich den Status eines vorläufig besten Angebots, das nur darauf wartet, vom nächst besseren Angebot 3 | Der dynamisierende Motor der Modernisierung liegt also nicht in der wechselseitigen Herausforderung durch die Komplexitätssteigerungen in den einzelnen Funktionssystemen, wie Luhmann annimmt, sondern in den Wettbewerbsarenen.

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überholt zu werden. Wie bereits erwähnt, ist die Entstehung von Märkten durchaus nicht voraussetzungslos. Ihre Herausbildung ist an die Garantie von fairen Wettbewerbsbedingungen und den Abbau von Privilegien gebunden. Sind sie aber installiert, dann sind damit wichtige Bedingungen für einen sich selbst tragenden Aufschwung gegeben. Die Einrichtung von Wettbewerbsforen in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik hat für moderne Gesellschaften zwei unübersehbare Konsequenzen. Einmal werden soziale Praktiken der permanenten Überprüfung ausgesetzt und immer wieder im Lichte neuer Informationen reformiert. Keine Institution, keine soziale Praxis, kein Wissensbestand kann sich dem Prozess der permanenten Veränderung entziehen. In dem Prozess der fortgesetzten Umgestaltung kann es ein letztes Ziel, auf das hin die gesellschaftliche Umgestaltung erfolgen soll, nicht geben. Die Ergebnisse der demokratischen Willensbildung sind prinzipiell unbestimmbar. Die Moderne ist insofern eben gerade kein Projekt, wie Habermas (1990) behauptet, sondern ein prinzipiell ergebnisoffener Prozess. Die Anwendung der modernen Praktiken auf sich selbst schließt die Formulierbarkeit letzter Ziele aus. Das selbstreflexive Konstitutionsprinzip der Moderne setzt eine Prämie auf Innovation, macht die Weiterführung des Alten legitimationspflichtig, treibt über den gerade erreichten Zustand stets hinaus und erhebt damit Beschleunigung zu einem Grundprinzip des Wandels (Rosa 2005). Zweitens tragen die Wettbewerbsforen die Tendenz in sich, sich auszubreiten. Es ist die Effektivität der auf dem offenen Markt erbrachten Leistungen, die wahrnehmbare Reste von Traditionen, Routinen, Gewohnheiten und gemeinschaftlichen Bindungen abschmelzen. »Die wohlfeilen Preise der Waren der Bourgeoisie«, sagt Marx (Marx/Engels 1848: 466), »sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt.« Aufgrund ihrer enormen Effektivität eignet modernen Institutionen eine Tendenz zur Expansion. Immer mehr wird in den Erfassungsbereich der modernen Gesellschaft einbezogen und ihrer Kontrolle unterworfen. Dieser Drang zur Expansion schließt allerdings die Offenheit für das ganz Andere, das Fremde nicht aus, sondern ein, denn aufgrund ihrer Selbstreflexivität sind die modernen Institutionen wie Recht, Wissenschaft, Politik oder Wirtschaft in der Lage, sich affirmativ auf Ausgegrenztes, Unbedachtes, Ungeregeltes, Unbekanntes zu beziehen und der systeminternen Verarbeitung auszusetzen. Die Selbstkritikbereitschaft der Moderne ermöglicht die Hochschätzung des Fremden. Moderne Gesellschaften sind mithin umweltoffene Systeme, die eine hohe Verarbeitungs-

Religion und Moderne: Theoretische Überlegungen und empirische Beobachtungen

kapazität von Umweltinformationen besitzen und diese systemintern zu prozessieren vermögen. Ihre Responsivität gegenüber dem Anderen beruht geradezu auf ihrer strukturellen Geschlossenheit. Mit der Selbstreflexivität moderner Institutionen hängt ihre Fähigkeit zur Selbstbegrenzung zusammen. Das wissenschaftliche Denken ist bereit, die Grenzen seiner eigenen Zulänglichkeit anzugeben, sofern es diese selbst bestimmt. Modernes Recht kann sich selbst ändern, sofern die Verfahren der Gesetzesänderung selbst rechtsförmig sind. Wirtschaftliches Handeln vermag ökologische Gesichtspunkte zu berücksichtigen, sofern diese in ökonomische Kosten/Nutzen-Rechnungen überführbar sind. Nicht alles, was wissenschaftlich denkbar, was technisch herstellbar und was medizinisch machbar ist – man denke an den Ausstieg aus der Atomenergie, das Rauchverbot, die Schuldenbremse, an das Embryonenschutzgesetz und bioethische Diskussionen –, wird auch realisiert. Der modernen Steigerungsdynamik eignet eine Tendenz zur intelligenten Selbstbeschränkung (Offe 1989), die allerdings daran gebunden ist, dass sie nicht heteronom erzwungen wird, sondern in der Hand der modernen Institutionen selbst liegt und dass sie der Steigerungslogik der modernen Institutionen – Gewährleistung eines besseren, sichereren, reicheren, gesünderen und längeren Lebens – nicht widerspricht. In die Wandlungsdynamik der Moderne ist eine Entschleunigungsschleife eingebaut, die zum Tragen kommt, wenn sie sich demselben Prinzip verdankt wie die Beschleunigungsbewegung selbst: dem Prinzip der kompetetiven Leistungssteigerung und Überbietung. Für den Einzelnen bedeutet die Einrichtung von Wettbewerbsforen die Herausforderung zum persönlichen Engagement, zur Steigerung der eigenen Wettbewerbsfähigkeit, zur Bereitschaft zum lebenslangen Lernen und zum Streben danach, besser und besser zu werden. Dieses rastlose Streben geht einher mit dem Zwang zur Mäßigung, zur Selbstdisziplinierung und Selbstzurücknahme, da es sonst selbstschädigend wäre. Die Spannung von Aktivierung und Moderierung scheint das moderne Subjekt und seine Kultur zu charakterisieren, wie Andreas Reckwitz (2006) herausgearbeitet hat. Dem Streben nach Erweiterung der individuellen Möglichkeiten des Erlebens und Handelns steht die Mäßigung und die Domestizierung dieses individuellen Strebens gegenüber, der auf die Welt ausgreifenden Bewegtheit im Innern des Individuums die rationale Selbstkontrolle, der Zügellosigkeit des Wollens das bindende Maß der Mitte. Der bürgerliche Geist ist nicht einfach durch die Methodisierung des Arbeitslebens, durch

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Selbstdisziplinierung und Kontrolle der individuellen Lebensführung geprägt, sondern auch durch Erfolgsstreben, Welt- und Selbstbemächtigungsanstrengung, Transzendierung des Erreichten und Ausweitung der Möglichkeitshorizonte. Was ihn charakterisiert ist die Bändigung dieser Energien, ihre Zähmung und ihre gleichzeitige Nutzung. Ohne die Leidenschaft des wissenschaftlichen Forschens, ohne Neugier und Innovationsstreben verlöre die wissenschaftliche Arbeit ihren Antrieb, so wie sie ohne die Selbstdisziplinierung, Kontrolle und Methodisierung des Forschens ihre Erfolgsbasis preisgäbe. Der bürgerliche Geist hat eine weltgestaltende Kraft, die bei aller Eigendynamik sich selbst Grenzen zu setzen weiß und genau dadurch und nur dadurch Taten hervorzubringen vermag.

3. F OLGEN DER M ODERNISIERUNG FÜR DAS RELIGIÖSE F ELD Abschließend seien einige wichtige Folgen, die die Prozesse der Modernisierung für die soziale Akzeptanz religiöser Inhalte und Formen haben, erläutert. Ob Religion und Moderne problemlos miteinander vereinbar sind und religiöse Sinnformen ebenso aus der Moderne hervorgehen wie die Moderne durch religiöse Ideen und Institutionen mitkonstituiert ist, lässt sich auf diese Weise vielleicht wenigstens ansatzweise erkennen. 1) Eine unübersehbare Konsequenz funktionaler Differenzierung besteht darin, dass der Einfluss, den Religion und Kirche in vormodernen Gesellschaften auf andere gesellschaftliche Teilbereiche ausübten, stark zurückgegangen ist. Politische Herrschaft wird nicht mehr durch religiöse Formeln und Inszenierungen legitimiert, wissenschaftliche Wahrheit nicht mehr durch Rekurs auf das Absolute begründet, die Gültigkeit rechtlicher Normen nicht mehr aus theologischen Denkfiguren hergeleitet, und selbst die Moral hat sich von ihren religiösen Motiven weitgehend unabhängig gemacht. Die Ausdifferenzierung des Religiösen aus den Bereichen von Politik, Recht, Wissenschaft, Ökonomie, Medizin und Kunst auf der makrosoziologischen Ebene wirkt allerdings auch auf die Akzeptanz des Religiösen auf der Mikroebene ein. Es ist empirisch nicht haltbar und soziologisch übrigens auch völlig unplausibel, wenn Casanova (1994) behauptet, dass der Prozess der funktionalen Differenzierung vom Prozess der Marginalisierung des Religiösen abzuheben sei und beide entkoppelt ablaufen könnten. Wenn Religion auf der Makroebene zu einem differen-

Religion und Moderne: Theoretische Überlegungen und empirische Beobachtungen

zierten Teilsystem neben anderen wird, dann vermindert dies das Maß der Bestätigung, die das Individuum in seinen religiösen Einstellungen in außerreligiösen Gesellschaftsbereichen erfahren kann.4 War in vormodernen Gesellschaften das ganze Leben vom Einfluss religiöser Institutionen und Normen durchzogen, so kommen die meisten institutionalisierten Verfahren und Operationen heute ohne religiöse Interpretation und Unterstützung aus. Die Folge dieser Ausdifferenzierung des Religiösen ist ein teilweise dramatischer Bedeutungsrückgang von Formen der traditionalen Religiosität und Kirchlichkeit, wie er sich in den letzten 50 Jahren in den modernen Gesellschaften Westeuropas vollzogen hat. Da Kirche und Religion heute weniger in den Gesamtzusammenhang des sozialen und politischen Lebens integriert sind, als dies früher der Fall war, und eine geringere Bedeutung für die politischen Entscheidungsfindungen, die öffentlichen Diskussionen und die kulturellen Orientierungen haben als vor 50 Jahren, als die Kirchen in den politisch-moralischen Grundkonsens vieler westeuropäischer Staaten noch eingebunden waren und ihn mitbestimmen konnten, sinkt das Niveau der gelebten Religiosität. Doch nicht nur der Verlust der politischen, sozialen, moralischen und rechtlichen Zentralstellung übt einen Einfluss auf das rückläufige Religiositätsniveau aus. Es wird auch dadurch beeinflusst, dass aufgrund der Differenzierung der einzelnen Systeme der Gesellschaft der Einzelne in den unterschiedlichen Lebensbereichen nach unterschiedlichen Gesichtspunkten handeln muss und die einheitliche Ausrichtung der Lebensführung an religiösen Maßstäben in modernen Gesellschaften immer unwahrscheinlicher wird. Auch diese Compartmentalization des individuellen Handelns 4 | Das höhere Religiositätsniveau in den USA im Vergleich zu den meisten Ländern Westeuropas hat viel damit zu tun, dass sich die Angehörigen vieler religiöser Gemeinschaften, etwa evangelikaler Gruppierungen oder teilweise auch der katholischen Kirche, in einer relativ homogenen Lebenswelt mit fest geprägten Wert- und Weltvorstellungen bewegen. Ob in der Schule oder im College, im Sportverein oder im Diskutierclub, in der Nachbarfamilie oder in der Kommune, in den Massenmedien oder in Wohltätigkeitseinrichtungen – immer wieder sind die Angehörigen der religiösen Gemeinschaften mit denselben religiösen und sozialen Normen und Werten konfrontiert, und selbst wenn sie in den Urlaub fahren, verbringen sie ihn in einem von evangelikalen Gruppen geführten Sommercamp (Bruce 2002: 226). Sie leben in einer Art religiöser Subkultur, die von ihrer gesellschaftlichen Umgebung weitgehend abgeschottet ist.

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und Erlebens (Dobbelaere 2002) hat einen die Bedeutung des Religiösen abschwächenden Effekt. In ihrer sozialen Bedeutung abgenommen haben aber nicht nur die Zugehörigkeit zu religiösen Gemeinschaften und die Beteiligung am kirchlichen Leben, etwa am sonntäglichen Gottesdienst, sondern auch der Glaube an Gott, an Himmel und Hölle, an die Auferstehung von den Toten, an die Erbsünde sowie die Bereitschaft, sich als religiösen Menschen zu definieren (vgl. Grafik 1 und 2). Die oft vertretene These von der Wiederkehr des Religiösen ist, sofern dabei Westeuropa in Betracht gezogen wird, ein Mythos, der durch die empirisch erhebbaren Daten kaum Bestätigung erfährt. Auch wenn die Rückgänge nicht linear verlaufen, ist die Richtung der über einen längeren Zeitraum verlaufenden Entwicklungen doch eindeutig. Selbst ein so hochkirchliches Land wie Irland ist vom Trend der rückläufigen Kirchenbindung betroffen (vgl. Grafik 1). Und auch die außereuropäischen Ausnahmen wie die USA oder Südkorea weisen inzwischen wachsende Anteile von Konfessionslosen und Areligiösen auf.5 Gewiss stellen Prozesse der Modernisierung nur einen Faktor unter vielen dar, die den religiösen Wandel in der Gegenwart beeinflussen. Die Wirkung, die dieser Faktor ausübt, ist freilich weltweit signifikant (vgl. Grafik 3 und 4).

5 | In den USA etwa ist der Anteil derer, die sagen, sie würden sich mit keiner Religion identifizieren, von 2 % im Jahr 1967 über 8 % im Jahr 1990 auf heute 15 % gestiegen (Putnam 2000: 70; Kosmin/Keysar 2009: 20); ebenso stieg der Anteil derer, die sagen, sie würden niemals am Gottesdienst teilnehmen, seit 1990 von 13 % auf 22 %; das Vertrauen in religiöse Führungspersönlichkeiten hingegen ging im gleichen Zeitraum zurück (Kosmin/Keysar 2009: 20). In Südkorea wiederum flacht sich das beachtliche kirchliche Wachstum seit einigen Jahren ab und beginnt zu stagnieren; unter den jungen Hochgebildeten, etwa den Studierenden, unter denen die kirchlich Gebundenen bislang überrepräsentiert waren, geht der Anteil der Kirchenmitglieder seit den 90er Jahren sogar leicht zurück (Kern 2007: 14).

Religion und Moderne: Theoretische Überlegungen und empirische Beobachtungen

Grafik 1: Kirchgangshäufigkeit (in %) in ausgewählten Ländern Europas

Quellen: 1947, 1968, 1975 Gallup Opinion Index, 1981-2001 World Value Survey, Mannheimer Eurobarometer Trend File 1970-1999

Grafik 2: Glaube an Gott im Zeitverlauf in ausgewählten Ländern Westeuropas 1947-2008

Quellen: 1947, 1968, 1975 Gallup Opinion Index, 1981-2008 World Value Survey, Mannheimer Eurobarometer Trend File 1970-1999

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Grafik 3: Gottesglaube und Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in ausgewählten Ländern Westeuropas (1998)

Quelle: World Value Survey (WVS) 1998. Länderkürzel: Bel = Belgien, Fin = Finnland, Fra = Frankreich, Au = Österreich, It = Italien, E = Spanien, No = Norwegen, Dan = Dänemark, Por = Portugal, Swd = Schweden, Irl = Irland, Ndl = Niederlande, WD = Westdeutschland, GB = Großbritannien, Nirl = Nordirland, Swz = Schweiz.

2) Die zunehmende Differenzierung der sozialen Konstitutionsebenen eröffnet auch für das religiöse Feld einen weiten Raum für das gleichzeitige Ablaufen von Institutionalisierungs- und Individualisierungsprozessen. Auf der einen Seite haben die Kirchen in den letzten Jahrzehnten auf die Herausforderungen der Moderne durch einen Ausbau ihrer organisatorischen Verfassung, durch funktionale Spezialisierung, Bürokratisierung, Professionalisierung der kirchlichen Berufsrollen, Qualitätskontrolle und Ökonomisierung der kirchlichen Managementaufgaben reagiert, so dass aus einer mittelalterlich geprägten Institution ein modernes Dienstleistungsunternehmen mit einer Vielzahl funktionaler Dienste, effektiver Öffentlichkeitsarbeit, professionellen Managementmethoden und marktbewusster Kundenorientierung geworden ist (Ebertz 1997: 83ff.; Hermelink 2007: 289ff.). Das Auseinanderziehen der gesellschaftlichen Konstitutionsebenen bedeutet für die Kirche durchaus einen Zuwachs an institutioneller

Religion und Moderne: Theoretische Überlegungen und empirische Beobachtungen

Autonomie und Selbststeuerungsfähigkeit, an effektiver Professionalität und Rationalität. Grafik 4: Religiosity by Type of Society (agrarian, industrial and postindustrial)

Quelle: Norris/Inglehart 2004: 58 (World Value Survey, pooled 1981-2001).

Gerade aufgrund der Ebenendifferenzierung wirken sich diese Prozesse der Effektivierung, Professionalisierung und Rationalisierung aber nicht mehr unmittelbar auf der Individualebene aus. Die beobachtbaren Prozesse der Rationalisierung auf der Institutionsebene bedeuten nicht, dass auch das religiöse Individuum rationaler und funktionaler entscheidet. Die religiösen Vorstellungen und Praktiken werden nicht kirchenförmiger, sondern unabhängiger von den institutionellen Vorgaben. Parallel zum Ausbau der kirchlichen Organisationsfähigkeit vollzieht sich daher ein Prozess der religiösen Individualisierung, der die Autonomie des religiösen Subjekts stärkt und die Entscheidung über die dominanten Formen und Inhalte der gelebten Religiosität mehr und mehr von der Institution zum Individuum hin verlagert (Knoblauch 2009). Dabei besteht eine viel diskutierte Folge dieser Schwerpunktverlagerung in der zunehmenden Akzeptanz außerkirchlicher und nichtchristlicher religiöser Sinnelemente, die auf individuell unterschiedliche Weise mit christlichen Inhalten und Formen vermischt und zu individuell spezifischen Amalgamierungen zusammengesetzt werden.

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Verstärkt wird dieser Prozess der religiösen Individualisierung dadurch, dass die gewachsenen konfessionellen Milieus abschmelzen und aufgrund der zunehmenden regionalen Mobilität der Bevölkerung die Bedeutung von Nachbarschaft, Kommune und Gemeinschaft zurückgeht. Diese Relativierung des sozialen Nahbereichs stellt das Individuum in seinen religiösen Bezügen zunehmend auf sich selbst. Seine religiösen Haltungen und Verhaltensweisen sind nicht mehr durch ein gleichförmig agierendes Umfeld und eine homogene Plausibilitätsstruktur abgestützt, innerhalb derer die einzelnen Individuen ähnliche Überzeugungen und Haltungen teilen. Vielmehr entscheidet das Individuum nun zunehmend selbst über die religiösen Vorstellungen, Praktiken und Symbole, die es zu akzeptieren bereit ist. Das heißt nicht, dass die Einbindung des Einzelnen in religiöse Gemeinschaften ausgeschlossen wäre, wohl aber, dass diese Gemeinschaften mehr und mehr selbstgewählt und daher intern pluraler und fragmentierter und mit den Positionen des Einzelnen nur noch lose verkoppelt sind. Die religiösen Gemeinschaften zeichnen sich durch ein hohes Maß an interner Heterogenität als auch durch ein geringes Maß an sozialer Kontrolle aus. Allerdings sollte man die Reichweite der ausgemachten Institutionalisierungs- und Individualisierungsprozesse nicht überschätzen. Inwieweit Kirchen sich organisationsförmig institutionalisieren können, ist in der Literatur umstritten (Hermelink/Wegner 2008). Auch wenn sich die Institution Kirche zunehmend in eine Organisation umbildet, stößt diese Tendenz offenbar auf in der kirchlichen Tradition und Dogmatik liegende Barrieren (Luhmann 1972). Die in der Bindung an dogmatische Lehrentscheidungen und theologische Traditionen liegende Begrenztheit der institutionellen Variabilität bedeutet eine Beschränkung der Anpassungsfähigkeit der Kirche an die Herausforderungen ihrer sozialen Umwelt. Ebenso scheinen aber auch dem Prozess der religiösen Individualisierung eng definierte Grenzen gesetzt zu sein. Jedenfalls ist der Zuwachs an außerinstitutionellen, hochindividualistischen Religiositätsformen nicht in der Lage, die Verluste der traditionellen Kirchlichkeitsindikatoren zu kompensieren. Nach wie vor stellt die konventionelle kirchendistanzierte Christlichkeit das dominante Muster der westeuropäischen Religiosität dar. In Deutschland ist es nur eine Minderheit, die sich eine größere Vielfalt der religiösen Angebote wünscht, um aus ihnen individuell wählen zu können (vgl. Grafik 5). Ebenso handelt es sich nur um eine Minderheit, die aus unterschiedlichen religiösen Traditionen ein eigenes Religionskonzept zusammenbastelt (vgl. Grafik 6).

Religion und Moderne: Theoretische Überlegungen und empirische Beobachtungen

Grafik 5: Wunsch nach religiöser Vielfalt

Quelle: Projekt »Kirche und Religion im erweiterten Europa« (2006). Frage: »Ich würde mir wünschen, dass es in meiner Nachbarschaft eine größere Vielfalt an religiösen Gruppen/Organisationen gäbe, so dass ich zwischen verschiedenen Angeboten wählen könnte.«

Grafik 6: Religiöser Synkretismus

Quelle: Projekt »Kirche und Religion im erweiterten Europa« (2006). Frage: »Ich greife für mich selbst auf Lehren verschiedener religiöser Traditionen zurück.«

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3) Die Installierung von Wettbewerbsforen, wie sie für moderne Gesellschaften charakteristisch ist, bringt eine bislang nicht gekannte Leistungssteigerung in allen gesellschaftlichen Bereichen, eine Erhöhung des Komplexitätsniveaus der Gesellschaft und eine Entgrenzung ihrer Horizonte mit sich. Nicht nur steigt in modernen Gesellschaften das Wohlstandsniveau, es erhöht sich auch der Grad sozialer Sicherheit, das Versorgungsniveau mit medizinischen Leistungen, das Ausmaß politischer und bürgerlicher Freiheiten, die Zugänglichkeit attraktiver Unterhaltungs- und Freizeitangebote sowie die Möglichkeit der Nutzung von Massenmedien und öffentlichen Informationskanälen. Die durch die Einrichtung von Wettbewerbsforen ermöglichte Erweiterung der sozialen Erfassungskapazitäten hat für Religion und Kirche vor allem die Konsequenz, dass die für religiöse Sinnformen so charakteristische Gleichzeitigkeit von Immanenz und Transzendenz, Bestimmtheit und Unbestimmtheit, Anschaulichkeit und Unzugänglichkeit immer weniger gewährleistet werden kann. Das Bedürfnis nach Religion geht aufgrund des gestiegenen Niveaus ökonomischen Wohlstands, sozialer Sicherheit und medizinischer Versorgung zurück (Norris/Inglehart 2004). Die Attraktivität religiöser und kirchlicher Veranstaltungen schwächt sich mit der zunehmenden Verfügbarkeit alternativer Unterhaltungs-, Freizeit- und Medienangebote ab (Hirschle 2010). Religiöse Vorstellungen und Überzeugungen werden aufgrund der beachtlichen Horizonterweiterung moderner Gesellschaften mehr und mehr vage und unkonkret oder aber in negativer Reaktion auf diesen Trend überkonkret und partikularistisch. Die dadurch ausgelöste Tendenz zur Verflüssigung religiöser Sinnformen lässt sich am Wandel der dominanten Gottesvorstellungen gut illustrieren, die immer stärker ihre personale Struktur verlieren und stattdessen einen unpersönlich-diffusen Charakter annehmen (vgl. Tab. 8). Demgegenüber stellen die Gegenbewegungen hin zur Verfestigung religiöser Formen und Inhalte, wie sie in fundamentalistischen, evangelikalen und charismatischen Gemeinschaftsformen beobachtet werden kann, zwar eine in der Öffentlichkeit breit beachtete, aber sozial durchaus nicht dominante Tendenz dar. Strukturprägend ist vielmehr die Verflüssigungstendenz. In Zusammenfassung der hier präsentierten empirischen Forschungsergebnisse lässt sich sagen: Auch wenn das Christentum für die Entbindung der Moderne aus dem Schoß des Mittelalters wichtige Hebammendienste geleistet hat, sind Religion und Kirche von den Folgen der Modernisierung insgesamt doch eher negativ betroffen. Bei der Behauptung, dass Religion und Moderne kompatibel seien, handelt es sich um eine neue Meister-

Religion und Moderne: Theoretische Überlegungen und empirische Beobachtungen

erzählung der Sozial- und Geisteswissenschaften, die ihre Faszination vor allem aus der Umkehrung klassischer soziologischer und historischer Annahmen bezieht, in den empirischen Daten jedoch nur eine schwache Abstützung besitzt. Eine bloße Umkehrung bekannter Basisannahmen führt aber über diese nicht hinaus, sondern bleibt ihnen auch noch in der Negation verhaftet. Neues zu denken erfordert stets, auch das Alte zu achten. Tabelle 8: Wandel der Form des Gottesglaubens 1981-1999 in ausgewählten europäischen Ländern (in %) Land

Glaube an Gott als Person

Glaube an Gott als höheres Wesen

1981

1990

1999

1981

1990

1999

Frankreich

28

22

22

28

34

32

Großbritannien

32

33

31

40

41

40

Niederlande

37

28

24

32

42

49

Belgien

45

32

30

27

22

36

Spanien

57

52

43

23

28

28

Nordirland

72

66

61

19

20

26

Irland

77

67

64

15

24

25

Dänemark

27

21

25

26

33

38

Schweden

20

18

16

41

45

52

Ungarn

39

45

9

15

Polen

79

82

6

10

Tschechien

12

6

38

50

Slowakei

36

38

27

41

Lettland

12

8

54

67

Slowenien

22

24

43

51

Quelle: European Value Survey 1981-1999.

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Detlef Pollack

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Amerika ist keine Ausnahme Steve Bruce

1. E INLEITUNG Der Zusammenhang zwischen Modernisierung und Säkularisierung ist nicht schwach, er ist nicht kurzlebig, und er ist nicht eng begrenzt. Unter Berufung auf eine sehr große Zahl von Erhebungsdaten schrieb David Voas: »Von den 20 modernsten Nationen in der Welt […] werden 19 zunehmend säkular. Diese Länder haben jeweils eine sehr unterschiedliche Geschichte, sprechen 11 verschiedene Sprachen und befinden sich auf vier verschiedenen Kontinenten.« (Voas 2008: 29)

Die Ausnahme sind die Vereinigten Staaten von Amerika. Bei Amerikanern ist es wahrscheinlicher als bei Europäern, dass sie von sich behaupten, sie seien religiös, gingen zur Kirche und beteten. Um die Behauptung aufrechterhalten zu können, es gäbe einen allgemeinen kausalen Zusammenhang zwischen Modernisierung und Säkularisierung, müssen wir entweder nachweisen, dass die Religion in den USA an Macht, Popularität und Prestige verliert, oder dass die Einzigartigkeit sich mit Prinzipien erklären lässt, die mit der Säkularisierung vereinbar sind, oder aber beides. Im Folgenden wird es um vier Punkte gehen. Erstens gibt es deutliche Belege dafür, dass das Christentum in den USA an Macht, Prestige und Popularität einbüßt. Zweitens gibt es darüber hinaus deutliche Belege dafür, dass das Christentum in den USA immer säkularer geworden ist. Drittens findet trotz des aktuellen Einflusses der Christlichen Rechten im öffentlichen Leben keine signifikante Umkehrung des Haupttrends statt, dass die Religion für das Funktionieren des sozialen Systems zunehmend an Bedeutung verliert. Schließlich lassen sich, insofern sich

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die USA von Europa unterscheiden, diese Unterschiede größtenteils auf eine Weise erklären, die mit dem Paradigma der Säkularisation im Einklang steht.

2. M USTER KIRCHLICHER B INDUNG Obwohl die Kennziffern für die Kirchenverbundenheit der Bevölkerung in den USA höher sind als in den meisten europäischen Ländern, sind diese Ziffern inzwischen rückläufig. 1948 gaben nur 2 % der Befragten an, sie hätten keine Religion, sechzig Jahre später hingegen lag die Zahl zwischen 12 und 16 %.1 Jahrzehntelang hatten US-amerikanische Sozialwissenschaftler kein Problem damit, Erhebungsziffern für bare Münze zu nehmen, die zeigten, dass etwa 40 % der Amerikaner behaupteten, »in den letzten sieben Tagen« in der Kirche gewesen zu sein (Greeley 1989: 56). In den frühen 1990ern wurde C. Kirk Hadaway, ein von einer der großen Glaubensgemeinschaften beschäftigter Soziologe, sich der Tatsache bewusst, dass die Quoten des Gottesdienstbesuchs, die in den Umfragen behauptet wurden, nicht mit dem in Einklang zu bringen waren, was die Kirchen über ihre eigenen Gemeinden wussten (Hadaway u.a. 1993). Die eigenen Daten der Gallup Organisationen bargen ein Rätsel: Obwohl die Leitziffer des wöchentlichen Gottesdienstbesuchs gleich blieb, war die Zahl derjenigen, die angaben, sie gingen heute »weniger häufig« zur Kirche als früher, immer höher als die derjenigen, die jetzt »häufiger« die Kirche besuchen (Bezilla 1993: 33). Um ihrem Verdacht nachzugehen, dass die selbst-berichteten Kirchgängerquoten aufgebläht waren, nahmen Hadaway und seine Kollegen außerordentliche Mühen in Kauf, die tatsächliche Rate der Gottesdienstbesucher in allen bekannten Kirchen in Ashtabula County, Ohio, zu ermitteln. Sie konsultierten Gemeindelisten in Registern und Kirchenjahrbü1 | Die Werte von 1948 und die 12 % für 2008 stammen von F. Newport, »This Easter, Smaller Percentage of Americans are Christian«, 10. April 2009, www. gallup.com//poll/117409/Easter-Smaller-Percentage-Americans-Christian (abgerufen am 10.08.2009). Die 16 % für 2007 stammen vom Pew Forum on Religion and Public Life, Faith in Flux: Changes in Religious Affiliation in the U.S., www. pewforum.org (abgerufen am 15.07.2008). Siehe auch Condran/Tamney 1985.

Amerika ist keine Ausnahme

chern und suchten im County nach nicht aufgelisteten Kirchen. Dort, wo es ihnen nicht gelang, Geistliche zu dem Versprechen zu bewegen, ihnen eine ungefähre Zahl der Kirchenbesucher zu nennen, zählten sie während des Gottesdienstes die Autos auf den Parkplätzen und glichen das Ergebnis mit der mutmaßlichen Anzahl der Fahrgäste ab. Nachdem sie anhand der Angaben des Klerus und ihrer eigenen Zählungen eine realistische Schätzung der Ziffer der Kirchenbesucher ermittelt hatten, bedienten sich die Forscher einer Standard-Telefonumfrage, um eine Auswahl von Ashtabulanern zu fragen, ob sie in die Kirche gegangen seien. Dabei stellten sie fest, dass die behauptete Zahl der Kirchenbesuche um 83 % höher lag als ihre höchsten Schätzungen bezüglich der tatsächlichen Besuche. Anschließend wiederholten Hadaway und Marler die Studie mit einer bestimmten Gemeinde, einer Baptistenkirche in einer Großstadtregion in Alabama. Sie stellten fest, dass 984 Personen (etwa 40 % der Mitglieder) an einem bestimmten Sonntag den Gottesdienst besucht hatten. Im Lauf der darauf folgenden Woche wurde eine Auswahl von 300 erwachsenen Mitgliedern der Gemeinde zu verschiedenen Dingen befragt, unter anderem, ob sie in der Woche davor in der Kirche gewesen seien: 70 % sagten, sie hätten den Gottesdienst besucht. Auf alle Mitglieder übertragen hätten dafür 1.710 Leute in der Kirche gewesen sein müssen, also fast zweimal so viele wie tatsächlich da waren! Noch zwingendere Beweise für übertriebene Angaben lieferte ein Vergleich zwischen der tatsächlichen Besucherzahl der Sonntagsschule für Erwachsene (wo die Namen der Anwesenden festgehalten wurden) mit den Angaben der Gemeindemitglieder, als sie in der darauf folgenden Woche in einer Telefonumfrage hierzu befragt wurden: »In dieser Kirche übertraf die Zahl der gemeldeten Besucher der Sonntagsschule die tatsächliche um 58,8 %« (Marler/Hadaway 1999: 182). Obwohl die anfänglichen Reaktionen auf die Untersuchung bemerkenswert feindselig waren, ist ihre allgemeine Stoßrichtung inzwischen weithin akzeptiert, und es besteht Einigkeit darüber, dass die Zahl der wöchentlichen Kirchgänger durchschnittlich bei 20 % liegt. Ein ähnlicher Anteil sagt von sich, dass er nie in die Kirche geht (Norris/Inglehart 2004: 92). D.h., auch wenn die US-amerikanischen Kirchen weiter populärer sind als die in Europa, hat die Kirchentreue in den USA seit den 1950ern erheblich nachgelassen.

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3. D IE VER ÄNDERTE N ATUR DER US- AMERIK ANISCHEN R ELIGION 1996 formulierte Bryan Wilson einen Kontrast, der sich als bemerkenswert zutreffend erweisen sollte. Seine These lautete, Europäer säkularisierten sich, indem sie ihre Kirchen aufgäben, Amerikaner hingegen säkularisierten ihre Kirchen (Wilson 1966: 122). Natürlich bedarf es einer erheblichen Simplifizierung, um den Glauben von Millionen von Menschen über ein Jahrhundert hinweg zu beschreiben. Ich werde mit einigen erläuternden Daten aus Sozialerhebungen beginnen und dann die aktuelle Geschichte des Christentums in den USA einer näheren Betrachtung unterziehen. Obwohl der Wandel nicht annähernd so groß war wie in Großbritannien oder Australien, hat die Bindung an ehemals orthodoxe christliche Glaubensüberzeugungen nachgelassen. So ist etwa die Prozentzahl derjenigen, die glaubten, die Bibel sei »buchstäblich wahr« von 65 % im Jahr 1964 auf 37 % im Jahr 1984 und auf 26 % im Jahr 2009 gesunken.2 2007 berichtete das Pew Forum, 74 % der Amerikaner glaubten an den Himmel, doch nur 59 % an die Hölle. Außerdem fand es heraus, dass zwar 92 % der Amerikaner an Gott glaubten, doch fast ein Drittel die Formulierung »unpersönliche Kraft« gegenüber »persönlicher Gott« bevorzugten.3 Ein entscheidender Gradmesser sind die Alterskorrelate verschiedener Praktiken und Glaubensüberzeugungen. 2007 sagten 57 % der 65-Jährigen oder älteren Befragten, sie hätten einen absolut sicheren Glauben an einen persönlichen Gott, doch nur 45 % derjenigen in der Altersgruppe 1829 sagten von sich dasselbe. Noch steiler war das Gefälle bei denjenigen, die von sich behaupteten, wöchentlich eine Andachtsstätte zu besuchen; 54 % der 65-Jährigen und älteren, doch nur 33 % der Unter-29-Jährigen. Diejenigen, die sagten, sie beteten täglich außerhalb von Gottesdiensten,

2 | Die ersten beiden Zahlen stammen von Wuthnow (1988: 165). Die dritte entstammt www.barna.org/barna-update/article/12-faithspirituality/317-newresearch-explores-how-different-generations-view-and-use-the-bible (abgerufen am 01.11. 2009). 3 | Pew Forum on Religion and Public Life, US Religious Landscape Survey, http://religions.pewforum.org/pdf/report2religious-landscape-study-chapter1. pdf, 5 (abgerufen am 05.09.2009).

Amerika ist keine Ausnahme

reichten von 68 % bei den 65-Jährigen und älteren bis zu 48 % bei den Unter-29-Jährigen.4 Am einfachsten lassen sich die inhaltlichen Veränderungen eines Großteils der amerikanischen Religion mit der Formulierung beschreiben, das Übernatürliche habe abgenommen und sei psychologisiert oder subjektiviert worden. In der Religion ging es früher um das Göttliche und unsere Beziehung dazu. Gott war eine reale Person, die Bibel war sein geoffenbartes Wort, Wunder ereigneten sich wirklich, Christus war wirklich der Sohn Gottes, und er starb tatsächlich, um für unsere Sünden zu büßen, Himmel und Hölle waren reale Orte. Und der Hauptzweck der Religion bestand darin, Gott zu dienen und ihn zu verherrlichen. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts ging ein Großteil der regulären Christenheit zu einer ziemlich anderen Version des Glaubens über. Gott war keine tatsächliche Person mehr, sondern eine Art unbestimmte Kraft oder, in letzter Konsequenz, unser eigenes Gewissen. Die Bibel war nicht mehr das geoffenbarte Wort Gottes, sondern eine allmählich angehäufte Sammlung nützlicher ethischer und moralischer Lebensrichtlinien. Wunder wurden zu Mythen oder Missverständnissen erklärt. Christus war nicht wirklich Gottes Sohn, sondern ein beispielhafter Prophet und Lehrer. Himmel und Hölle waren keine realen Ziele, sondern psychologische Zustände. Harry Fosdick Emerson, ein führender protestantischer Geistlicher der 1930er Jahre, sagte, der Ausgangspunkt des Christentums sei nicht ein objektiver Glaube, sondern der Glaube an die menschliche Persönlichkeit. Die Folge der zunehmenden Irreligiosität sei nicht, dass die Menschen in die Hölle kämen, sondern dass »Unmengen von Menschen nicht schlechte, sondern verzettelte Leben führten – aufgespalten, zerstreut, unkoordiniert«. Die Lösung sei eine Religion, die eine »innere spirituelle Dynamik für eine glänzende und triumphale Lebensweise zur Verfügung stellt« (Bruce 1990: 84). In der Religion ging es nicht mehr um die Verherrlichung Gottes, sondern um das persönliche Wachstum. Diese grundsätzliche Veränderung im Mainstream-Christentum begann in den 1930er Jahren und erreichte ihren Höhepunkt mit der Popularität von Norman Vincent Peale. Peale war ein liberaler presbyterianischer Geistlicher, Pastor einer der größten Kirchen in New York und der Urheber dessen, was er als »die Macht des positiven 4 | Pew Forum on Religion and Public Life, US Religious Landscape Survey, http://religions.pewforum.org/pdf/report2religious-landscape-study-chapter1. pdf, 29, 38 und 46 (abgerufen am 05.09.2009).

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Denkens« bezeichnete (George 1994). In den ersten beiden Jahren nach seiner Veröffentlichung verkaufte sich das Buch gleichen Titels über zwei Millionen Mal. Für Peale reduzierte sich die christliche Botschaft auf eine Schlacht zwischen Gut und Böse, doch diese waren keine uns äußerlichen Wirklichkeiten mehr. Böse war ein Mangel an Selbstvertrauen, gut das positive Denken. Menschen, die positiv denken und sich dabei an die Normen der spießigen amerikanischen Mittelschicht der 1950er halten, werden Erfolg haben: Darin besteht das Heil. Diejenigen, die dies nicht tun, werden verdammt werden – sprich, sie werden unglücklich sein. Zur gleichen Zeit, da der Glauben seines Supranaturalismus entkleidet wurde, büßte er auch die für ihn typischen Verhaltensweisen ein. Askese war nicht mehr angesagt. Kirchgänger verzichteten nicht mehr darauf, zu rauchen, zu trinken, zu tanzen oder ins Theater zu gehen. Sie trugen dieselbe Kleidung wie andere Leute, lebten in den gleichen Häusern und hatten dieselben zunehmend liberalen moralischen und ethischen Standards. So ließen sie sich etwa scheiden. Als Wilson erstmals sein Argument der »inneren Säkularisation« präsentierte, schwebten ihm dabei die regulären Kirchen vor. Der konservative Flügel des Protestantismus schien relativ immun dagegen. Ja, Evangelikale und Fundamentalisten definierten sich über ihre Weigerung, ihren Glauben zu modernisieren. Teilweise waren sie imstande, neuen Ideen und Haltungen zu widerstehen, weil sie nicht so unmittelbar von dem Wohlstand profitierten, der die Innovationen begünstigte. Sie blieben arm, und ihr Puritanismus half ihnen, sich mit ihrer Armut zu versöhnen. Das Fernsehen war nicht annehmbar, da es satanische Botschaften verbreitete, doch die meisten Fundamentalisten konnten sich ohnehin keinen Fernseher leisten. Als der Wohlstand des industriellen Amerika in die Gemeinschaften durchzusickern begann, in denen der Fundamentalismus und die Pfingstbewegung stark waren, flaute der Puritanismus ab. Da immer mehr Menschen sich Fernseher kaufen konnten, wurde weniger darauf gedrängt, nicht fernzusehen. Ausgefallene Kleidung und persönlicher Schmuck waren sündig, bis die Anhänger der Pfingstbewegung sie sich leisten konnten, und anschließend verschoben sich die Grenzen. Tammy Faye Bakker (später Messner), die in den späten 1970ern eine der führenden Fernsehpredigerinnen wurde, berichtete anrührend davon, welche Schwierigkeiten sie als Teenagerin in den 1950ern hatte, ihr Interesse an Mode und Make-up mit den Lehren ihrer Kirche unter einen Hut zu bringen (Messner 1996). 1988 versöhnte sich die Vollversammlung der Church

Amerika ist keine Ausnahme

of God, die älteste Sekte der Pfingstbewegung in den USA, mit dem Status quo und beschloss in einer Abstimmung, einzelne Bestandteile ihres Moralkodexes zu ändern: »Es missfällt Gott nicht, wenn wir uns gut anziehen und ein gepflegtes Auftreten haben« (Tamney/Johnson 1998: 219). Solange die Mitglieder der Pfingstbewegung so arm waren, dass der Zerfall der Familie sie ins Elend getrieben hätte, war Scheidung völlig inakzeptabel. Als es ihnen dann wirtschaftlich besser ging, verschob sich auch diese Grenze: Eine Erhebung aus dem Jahr 2000 zeigt, dass bei »wiedergeborenen« Erwachsenen die Wahrscheinlichkeit, dass sie geschieden waren, größer war als bei anderen (Barna 2000: 3). Auf überzeugende Weise veranschaulicht den Niedergang des Puritanismus eine Umfrage von 1982 bei jungen Evangelikalen, in der Fragen wiederholt werden, die erstmals in den 1950er Jahren und dann nochmals in den 1960ern gestellt wurden (Hunter 1987: 59). 1951 fanden nahezu alle Befragten, dass Gesellschaftstänze (Tango, Walzer usw.) »moralisch grundsätzlich verwerflich seien« und Volkstänze kaum annehmbarer. 1982 hatte niemand etwas gegen das eine oder das andere einzuwenden. Praktisch alle in der 1950er Gruppe betrachteten den Genuss von Alkohol als Sünde, während 1982 nur 17  % der Ansicht waren, dieser sei moralisch falsch. 1951 meinte fast die Hälfte, es sei moralisch verwerflich, sich Filme vom »Typ Hollywood« anzusehen, 1982 hingegen niemand mehr. Interessant sind die Fragen zum Thema Sex. Der evangelikale Konsens hinsichtlich der Ablehnung von »Petting« und Geschlechtsverkehr war so stark, dass die Frage 1951 nicht einmal gestellt wurde. In den frühen 1960ern betrachteten 81  % der Evangelikalen »heftiges Petting« als moralisch stets verwerflich. 20 Jahre später war weniger als die Hälfte der Befragten dieser Ansicht. Es gibt keine aktuelle Version dieser Erhebung mit genau denselben Fragen, doch die Barna-Organisation, die regelmäßige Umfragen zu religiösen und moralischen Themen durchführt, sieht deutliche Hinweise auf eine immer entspannter werdende Haltung. 2003 meinte fast die Hälfte der wiedergeborenen Christen, »mit einem heterosexuellen Partner zusammenzuleben, ohne verheiratet zu sein«, sei moralisch akzeptabel. Seltsamerweise meinte ein geringerer Teil (doch immerhin noch 35  %), außerehelicher Sex sei annehmbar.5 Sofern sie dabei nicht an zölibatäre 5 | Barna Organzation, »Morality Continues to Decay«, www.barna.org/barna-up date/article/5-barna-update/129-morality-continues-to-decay (abgerufen am 01.11.2009).

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Mitbewohner dachten, müssen wir davon ausgehen, dass die Befragten unter »außerehelich« den Betrug an einem Partner meinten. Der Niedergang des Puritanismus wurde von einer positiveren Bewertung des Ich begleitet, die ein deutliches Echo auf Peales positives Denken war. Die Konservativen hatten die Liberalen erbittert dafür kritisiert, dass sie das Seelenheil nicht mehr als jenseitiges Ziel, sondern als diesseitige Privattherapie behandelten. Doch zwei Generationen später schrieben die Evangelikalen die Heilsbotschaft auf dieselbe Weise um. Die häufigen Verweise auf Jesus und die Bibel sowie die charismatische Bewegung, die Popularität des In-Zungen-Sprechens, ließ die Beobachter ziemlich blind für die Tatsache werden, dass ein großer Teil des konservativen Protestantismus eine affirmative Haltung gegenüber der Welt einzunehmen begann.6 Hunter verdeutlicht dies auf ökonomische Weise, indem er die Titel der evangelikalen Bestseller der 1980er aufzählt: You Can Become the Person You Want to Be, How to Become your own Best Self und Self-Esteem: The New Reformation [»Du kannst die Person werden, die du sein willst«, »Wie man sein eigenes bestes Ich wird« und »Selbstachtung: Die neue Reformation«] (Hunter 1987: 69f.). Zu den Bestsellern des Jahres 2009 auf den Listen von Zondervan, dem größten evangelikalen Verlag in den USA, zählt Pure Pleasure: Why Do Christians Feel so Bad about Feeling Good? [»Reine Lust: Warum fühlen Christen sich so schlecht, wenn sie sich gut fühlen?«].7 Eine andernorts gegebene Erklärung für die Säkularisierung (Bruce 2011: Kap. 2, 24-56 [Anm. des Übers.]) lenkt die Aufmerksamkeit auf die Zunahme des praktischen Relativismus. Ein verbreitetes Merkmal von Religionen in kulturell vielfältigen Demokratien ist ihre abnehmende Reichweite. Gebote, die ehemals für Gottes Schöpfung insgesamt bindend waren, gelten nun nur noch für diejenigen, die sie freiwillig akzeptieren. Es gibt deutliche Anzeichen dafür, dass ein solcher Relativismus unter amerikanischen Christen üblich wird. In den 1920ern untersuchten Robert und Helen Lynd das Leben in einer amerikanischen Stadt namens Middletown. Zahlreiche Middletown-Folgestudien ermöglichen es uns, den Veränderungen nachzuspüren. 1924 baten die Lynds um Reaktionen auf die Aussage »Das Christentum ist die einzige wahre Religion, und alle Menschen 6 | Die Veränderung ist auf überzeugende Weise dokumentiert in Quebedeaux (1980) und Shibley (1996; 1998). 7 | w w w.zonder van.com/Cultures/en-US/Produc t /Book/index.htm?Quer y StringSite=Zondervan (abgerufen am 01.11.2009).

Amerika ist keine Ausnahme

sollten zu ihr bekehrt werden« (Lynd/Lynd 1929: 316). 94 % der Befragten, also nahezu jeder, stimmte zu. Als 1977 eine Auswahl junger Kirchgänger mit dieser Aussage konfrontiert wurde, stimmten ihr nur noch 41 % zu. Die Folgeuntersuchung kam zu dem Schluss: »Die Hälfte von Middletowns Jugendlichen, die Angehörige der Kirche sind und diese besuchen und an Jesus, die Bibel und das Jenseits glauben, beanspruchen keine universelle Gültigkeit für ihre christlichen Glaubensüberzeugungen und empfinden keinen Ehrgeiz, Nicht-Christen zu bekehren.« (Caplow u.a. 1983: 98)

Hunters Untersuchung junger Evangelikaler legte selbst für diesen Kreis ähnliche Veränderungen nahe. Während ihre Ansichten darüber, was sie tun und glauben müssten, um das Seelenheil zu erlangen, orthodox blieben, waren sie hinsichtlich der Chancen anderer Menschen, errettet zu werden, erheblich nachsichtiger geworden. 2008 stimmten 70 % der Amerikaner, die von sich behaupteten, eine religiöse Identität zu haben, der Aussage zu, dass »viele Religionen zum ewigen Leben führen können«. Noch bemerkenswerter ist, dass dies auch nahezu die Hälfte der weißen Evangelikalen tat.8 Die sektiererische Gewissheit, dass es nur einen Weg in den Himmel gibt, war dahin. Eine Middletown-Folgeuntersuchung enthielt eine faszinierende Beobachtung, die gut zu Wilsons Ansicht passt, dass es eine signifikante Veränderung bei den Gründen für die Kirchentreue gab. Als die Lynds fragten, warum Menschen in die Kirche gingen, lautete die populärste Antwort, der Gehorsam gegenüber Gott verlange dies. In einer Folgestudie von 1977 wurde als häufigster Grund für den Gottesdienstbesuch »Lust« bzw. »Vergnügen« (pleasure) angegeben (Caplow u.a. 1983). Um das bisher Gesagte zusammenzufassen: Wilsons Auffassung, dass die anhaltende Popularität des Kirchenbesuchs in den USA durchaus wichtige Veränderungen hinsichtlich der Substanz der amerikanischen Religion widerspiegeln könnte, wirkt heute weitsichtig. Wenn die Frontfrau der Pussycat Dolls (eine für ihre laszive Tanzweise bekannte Girl Group) im Covertext ihrer ersten CD schreibt »An allererster Stelle möchte ich meinem Herrn und Erlöser dafür danken, dass er mir die Stimme, 8 | Pew Forum on Religion and Public Life, »Many Americans Say Other Faiths Can Lead to Eternal Life«, 18. Okt. 2008, http://Pewforum.org/docs/?DocID =380 (abgerufen am 01.03.2008).

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Demut, Stärke, Hilfe und Gnade geschenkt hat, meinen Traum zu leben«, und wenn ein Mitglied von Megadeth (wie der Name nahelegt eine mit Leder und Nieten bewehrte Heavy Metal Band) erklärt »Mein Glaube ist der Grund dafür, dass ich jetzt so gut spiele und meine Dämonen loswurde«, so kann man sich leicht durch die anhaltende Popularität der religiösen Rhetorik in die Irre führen lassen und vermuten, die Amerikaner seien genauso religiös, wie sie dies schon immer waren.9 Abgesehen von dem Befund des nachlassenden Kirchenbesuchs muss man sich darüber klar sein, in welchem Ausmaß der Inhalt des amerikanischen Christentums säkularisiert wurde. Wade Clark Roof, der dreißig Jahre lang Veränderungen im religiösen Leben Amerikas dokumentiert hat, beschloss eine umfassende Untersuchung von Veränderungen seit den 1960er Jahren mit der Feststellung: »Die religiöse Grundhaltung heute ist eher innerlich als äußerlich, eher individuell als institutionell, eher erfahrungsbezogen als geistig, eher privat als öffentlich« (Roof 1996: 153).

4. D IE E INSCHR ÄNKUNGEN FÜR DEN F UNDAMENTALISMUS Ein Merkmal des religiösen Lebens Amerikas, das Europäern ungewöhnlich vorkommt, ist die Rolle, die die Religion in der Politik spielt. Aus der Religion abgeleitete moralische Argumente sind in einem im heutigen Europa unbekannten Ausmaß politisiert, und von christlichen Werten inspirierte Lobbygruppen erfreuen sich eines ungewöhnlich starken Einflusses auf die Partei der Republikaner. Ich habe nicht vor, das, was Hunter als »Kulturkriege« bezeichnet hat (Hunter 1992), herunterzuspielen, doch bevor wir diese allzu bereitwillig als Beweis für überzogene Frömmigkeit akzeptieren, müssen wir zunächst die ungewöhnlichen Merkmale des öffentlichen Lebens in Amerika und die Grenzen, die die amerikanische Kultur der Theokratie setzt, richtig einschätzen. Es gibt Parallelen hinsichtlich der Ursachen, die dem protestantischen Fundamentalismus in den USA und seinem islamischen Pendant zugrunde liegen, aber die Unterschiede hinsichtlich ihrer Zielsetzung und der Art und Weise, wie sie versuchen, diese Ziele zu erreichen, sind erheblich größer (siehe Riesebrodt 1993 und Bruce 2008). 9 | Pussycat Dolls, PCD, A & M Records, 2005; »Welcome back Megadeth«, Classic Rock, Oktober 2009, S. 12.

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4.1 Gelegenheitsstruktur Was man mit einem Phänomen anfängt, hängt stark von den eigenen Erwartungen ab. Einige der ausgefalleneren Beurteilungen der Christlichen Rechten verdanken sich der Verkennung der Tatsache, wie offen das politische System der USA für gut organisierte Minderheiten ist. Soziomoralische Fragen sind in den Vereinigten Staaten umstrittener als etwa in Großbritannien oder Australien, weil es in Amerika mehr konservative Christen gibt. Aber sie sind auch umstrittener, weil es die politische Struktur der USA konservativen Christen erheblich leichter macht, eine öffentliche Wirkung zu erzielen. Erstens werden wesentlich mehr Ämter per Wahl vergeben als durch Ernennung. Die Wähler sind häufig aufgefordert, »ein halbes Dutzend Staatsbeamte außer dem Gouverneur zu wählen, Staatskommissare und Richter, den Kämmerer und Staatsanwalt ebenso wie ihren Bürgermeister, ihre Regierungsräte, die Mitglieder der örtlichen Schulbehörde, die Richter am städtischen Gericht, ihre Finanzbeamten und viele mehr« (Finer 1982: 227f.). Wenn auch die Wahlbeteiligung bei den Kongresswahlen zwischen den alle vier Jahre stattfindenden Präsidentschaftswahlen häufig nur 35 % beträgt, dann hat doch jede engagierte Interessengruppe reichlich Gelegenheit, Sitze zu gewinnen oder Druck auf Kandidaten auszuüben. Zweitens ist die US-amerikanische Politik insofern ungewöhnlich, als innerhalb der Parteien ein Mangel an Zusammenhalt herrscht. Obwohl die meisten Wahlen nominell zwischen Republikanern und Demokraten ausgefochten werden, hat eine Partei selten dasselbe Gewicht wie in Europa. Im Vereinigten Königreich sucht die Partei die Kandidaten aus, übernimmt ihre Wahlkampfausgaben, bestimmt die Politik, entscheidet Gesetzgebungsfragen und kontrolliert das Abstimmungsverhalten der gewählten Repräsentanten. Die Wähler erkennen die Vorherrschaft der Partei an und wählen eher diese als einzelne Personen. In den USA hingegen müssen Kandidaten nicht einmal loyale Mitglieder der Partei sein, die sie zu vertreten vorgeben. Sie werden von denjenigen Mitgliedern der Wählerschaft ausgewählt, die sich als Republikaner oder Demokraten registrieren lassen wollen und bereit sind, zu einer Vorwahl zu erscheinen. »Folglich ist die Entscheidung darüber, wer, und daher auch, was ein Republikaner ist […], den Parteibossen aus den Händen genommen, ob auf lokaler, bundesstaatlicher oder nationaler Ebene, und der örtlichen Bevölkerung überant-

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wortet; und das bedeutet, dass ›demokratisch‹ oder ›republikanisch‹ einfach das bedeutet, was diese oder jene Örtlichkeit, in diesem oder jenem Jahr oder unter diesen oder jenen Umständen beschlossen hat. Und das unterscheidet sich im ganzen Land von Wahl zu Wahl.« (Finer 1982: 228f.)

Auf lokaler, bundesstaatlicher und nationaler Ebene haben US-amerikanische Politiker beachtliche Möglichkeiten, Gesetzgebungsinitiativen einzubringen. Obwohl aus Gesetzesvorschlägen nur dann Gesetze werden, wenn sie breite Unterstützung finden, wird es Eiferern durch die Möglichkeit, Vorschläge einzubringen und für sie Stimmabgaben zu gewährleisten, erleichtert, ihre Themen öffentlich zu machen und andere dazu zu zwingen, Stellung zu beziehen. Bei der nächsten Wahl können dann Abgeordnete, die sich weigern, irgendein schlecht formuliertes Haustiergesetz zu unterstützen, als gott- und familienfeindlich hingestellt werden. Obwohl sie von den Parteimanagern weitgehend als Ärgernis betrachtet werden, wurden konservative christliche Pressure-Groups von Republikanern umworben, weil ihre Netzwerke ihnen Zugang zur Zeit und zum Geld Millionen ›kleiner Leute‹ verschaffen können. Sie sind das Pendant der Rechten zu Gewerkschaften und ethnischen Interessengruppen. Darüber hinaus bot ihnen die Christliche Rechte eine neue Möglichkeit, die ›einfachen Leute‹ anzuwerben. Da offener Rassismus als Grundlage für einen populären Konservatismus nicht mehr in Frage kam, boten soziomoralische Themen sowohl eine Alternative als auch in gewissem Maße Schutz. Eines der Vermächtnisse des amerikanischen Sezessionskriegs von 1861-65 war eine ungewöhnliche Parteienausrichtung. Obwohl weiße Südstaatler wenig mit Demokraten aus dem Norden gemein hatten, die dem linken Flügel zugehörten und für die Rechte der Arbeiter und ethnischer Minderheiten eintraten, unterstützten sie die demokratische Partei, weil sie nicht die republikanische Partei Abraham Lincolns war. Doch mit der Zeit ließ die Abneigung der Südstaatler gegenüber den Republikanern allmählich nach. In den 1960er Jahren wurden Anzeichen für eine Neuausrichtung sichtbar, und die Mobilisierung der soziomoralischen Konservativen durch Organisatoren der Christlichen Rechten trug das Ihre dazu bei, diesen Prozess voranzutreiben. Weil der konservative Protestantismus in jenen Teilen der USA stark war, die traditionell den rassistischen Flügel der Demokratischen Partei unterstützt hatten, war es eine bequeme Form der sogenannten »Dog-Whistle«-Politik, für die Werte der Familie einzutreten und Privilegien für Minderheiten anzugreifen, sprich verschlüsselte

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Nachrichten auszusenden, die formal den Anforderungen an eine höfliche Rede genügen, aber von der intendierten Zielgruppe dennoch so verstanden wurden, wie sie eigentlich gemeint waren.

4.2 Mobilisiert durch Ohnmacht Doch wenn wir die öffentliche Präsenz der Christlichen Rechten als Beleg für die Macht der konservativen Religion auffassen, entgeht uns möglicherweise der wichtigere Aspekt von Protestbewegungen: Gewinner protestieren nicht. In den 1940ern und 1950ern waren die Gruppen der christlichen Rechten sehr klein und unbedeutend, weil nur wenige Menschen ein Bedürfnis nach ihnen verspürten (Lipset/Raab 1978). Die »Moral Majority«, die 1978 von dem Fernsehprediger Jerry Falwell gegründet wurde, sowie eine Fülle ähnlicher Organisationen traten in den Vordergrund, weil die konservativen Christen die Auseinandersetzungen verloren. Frauen wurden zunehmend unabhängiger. Die Sexualmoral wurde immer freizügiger. Die christliche Vorherrschaft über den öffentlichen Raum wurde durch die Ausbreitung neuer religiöser Bewegungen und die Zunahme nicht-christlicher Religionen ausgehöhlt sowie durch Gerichtsurteile in Frage gestellt, die die Trennung von Kirche und Staat erzwangen. Homosexualität wurde akzeptabel, Scheidungen waren nichts Ungewöhnliches mehr. Hedonismus und Promiskuität wurden nicht von den Hippies der 1960er erfunden, vielmehr schwächte der Wohlstand der Nachkriegszeit die öffentliche Scheinheiligkeit gravierend. In zweierlei Hinsicht bedeutete das Auftauchen der Christlichen Rechten zunehmende Stärke: Ihre Anhängerschaft wurde wohlhabender, und sie nahm in relativen Zahlen zu. Von den 1960er Jahren an ging die Zahl der liberalen Glaubensgemeinschaften zurück und die der konservativen stieg. Dies war jedoch nicht, wie einige Leute meinten, eine Frage ihrer relativen Attraktivität. Wenige Episkopale und noch weniger Kongregationalisten wurden Mitglieder der Southern Baptists. Die Unterschiede waren primär demografischer Natur, sprich Konservative hatten größere Familien.10 Konservative Protestanten kamen durch eine wichtige Verschiebung 10 | Hout u.a. 2001. Eine prägnante Zusammenfassung der Debatte über die Quellen des konservativen Wachstums findet sich in J. A. Mathisen, »Tell Me Again: Why Do Churches Grow?«, Books and Culture: A Christian Review, 2004, www.ctlibrary.com/12135/2005 (abgerufen am 09.07.2008).

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innerhalb des ökonomischen Fundaments der USA zu Wohlstand: den Aufstieg neuer Industrien und Dienstleistungsunternehmen im Süden und Westen und den Niedergang der alten metallverarbeitenden Industrien des Nordens. Indem sie immer zahlreicher wurden, trugen sie zur Verbreitung von Schulen, Colleges, Universitäten und massenkommunikativen Medien bei. Und sie verloren ihr kulturelles Minderwertigkeitsgefühl. Diese Kombination aus einer amerikanischen Kultur, die liberaler wurde, und konservativen Protestanten, die selbstbewusster wurden, bildete die Grundlage für den Aufstieg der Christlichen Rechten. Während sie den konservativen Flügel der republikanischen Partei gestärkt hat, ist es der Christlichen Rechten bemerkenswerterweise nicht gelungen, irgendeines ihrer spezifischen Ziele zu erreichen. Behördliches Handeln und Gerichtsurteile haben die Durchführung von Abtreibungen erschwert, doch Abtreibungen sind weder verboten noch verfassungswidrig geworden. Und sämtliche gesetzgeberischen und richterlichen Entscheidungen seit der Gründung der »Moral Majority« 1978 haben das Leben von Homosexuellen keineswegs schwieriger gemacht, sondern gingen in die liberale Richtung. 2003 kassierte der Oberste Gerichtshof ein texanisches Gesetz, das homosexuellen Geschlechtsverkehr zu einem Verbrechen erklärte, und hob ausdrücklich eine ältere Entscheidung auf, die den generellen verfassungsmäßigen Schutz der sexuellen Intimsphäre nicht anerkannt hatte.11 Das Urteil von 2003 stellte fest, dass intimes konsensuelles Sexualverhalten Teil der Freiheit sei, die durch das rechtsstaatliche substantive due process-Prinzip unter dem 14. Verfassungszusatz geschützt sei, und setzte effektiv ähnliche Gesetze überall in den Vereinigten Staaten außer Kraft, die Geschlechtsverkehr zwischen einwilligenden gleichgeschlechtlichen Erwachsenen, die privatim handelten, unter Strafe stellten. Es hat keine signifikanten Veränderungen hinsichtlich der verschiedenen staatlich/kirchlichen Auseinandersetzungen gegeben, die die Christliche Rechte so erregen. Obwohl sie regelmäßig die Grundlagen ändert, auf denen der Fall aufbaut (und den Namen: vom Kreationismus über die Schöpfungswissenschaft bis hin zum Intelligenten Design), ist es der Christlichen Rechten nicht gelungen, ihre Forderung durchzusetzen, dass neben der Evolutionslehre zum Ausgleich auch die biblische Schöpfungsgeschichte vom Ursprung der Arten an den Schulen unterrichtet wird. Ebenso bezeichnend ist das Schicksal des Richters Roy Moore, dem Obers11 | Lawrence vs. Texas, 599 US 558 (2003).

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ten Richter des Obersten Gerichtshofs von Alabama, und seines im Gerichtssaal errichteten Denkmals der Zehn Gebote. Seine Weigerung, einer Anweisung des Bundesgerichts Folge zu leisten und das Denkmal zu entfernen, führte dazu, dass er 2003 durch eine einstimmige Entscheidung des Court of Judiciary seines Amts enthoben wurde. Das Denkmal wurde in einen anderen Raum gebracht, wo jeder Christ, der unter Gedächtnisschwäche litt, die Gebote nachlesen konnte. Noch aufschlussreicher als die gescheiterte Änderung der Gesetzgebungsagenda ist jedoch das Scheitern des Versuchs, die Vorlieben gewöhnlicher Amerikaner grundlegend zu revidieren. Seit 1978 hat der Anteil von Müttern kleiner Kinder, die außerhalb von Zuhause Vollzeit arbeiten, zu- statt abgenommen. Scheidungen sind etwas Gewöhnliches und das »In-Sünde-Leben« so normal geworden, dass die Formulierung passé ist. Frauen treten im öffentlichen Leben stärker, nicht weniger in Erscheinung. Man mag sich über das jeweilige Ausmaß des Patriarchats heute oder 1978 streiten, doch man kann sicher sein, dass es heute weniger ausgeprägt ist als damals. Es gibt eine leichte Abnahme der Zahl der Abtreibungen, doch dies liegt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit an einer verbesserten Verhütung und nicht an einem Rückgang der sexuellen Aktivität oder einer Konversion zur »Pro-Leben«-Position. Und Homosexuelle sind keineswegs wieder zur Heimlichtuerei verdammt, sondern so stark integriert, dass es in populären Fernsehserien homosexuelle Männer und Frauen in positiven Rollen geben kann, Wähler schwule Politiker wählen und offen schwule Kleriker zu Bischöfen der Episcopalian Church gewählt werden können. Bis zur Schwulenehe mag es noch etwas dauern, doch die meisten Großunternehmen und Regierungseinrichtungen dehnen Rechte von Ehepartnern inzwischen auch auf schwule Lebensgefährten aus. Kurzum, die Kulturkriege zeigen uns, dass die Polarisierung bezüglich dieser Themen bei den Amerikanern stärker ist als bei den Europäern und dass die diffuse Struktur der US-amerikanischen Politik Interessengruppen erhebliche Möglichkeiten gibt, ihre jeweiligen Agenden voranzutreiben, doch diese Schlachten enden auf dieselbe Weise wie die weniger dramatischen europäischen Versionen.

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4.3 Säkulare Regeln des Engagements Schließlich sollten wir ein wichtiges Merkmal der Art und Weise beachten, in der die Kulturkriege ausgefochten werden. Kritiker des Säkularisierungsparadigmas verweisen manchmal auf die Christliche Rechte als Beleg dafür, dass die soziale Differenzierung die Religion nicht marginalisiert habe. Ich gelange aufgrund derselben Daten zu dem gegenteiligen Schluss. Möglicherweise ist die Tatsache, dass die Organisationen der Christlichen Rechten ihre Anliegen heute in einer säkularen Sprache präsentieren, der überzeugendste Beleg dafür, dass die Theokratie in einer liberalen Demokratie keine Option ist. Diese Organisationen können nicht sagen, die Schöpfungsgeschichte solle in den Schulen unterrichtet werden, weil Gott dies verlangt. Sie müssen das Primat der säkularen Wissenschaft anerkennen und argumentieren, dass die Darstellung des Ursprungs der Arten in der Genesis genauso mit den wissenschaftlichen Belegen vereinbar ist wie jede andere Erklärung. Sie können nicht geltend machen, ihr Gott missbillige die Scheidung, sondern sie müssen argumentieren, die Scheidung sei in gesellschaftlicher Hinsicht dysfunktional. Die rechtlichen Auseinandersetzungen über die Abtreibung werden auf der Grundlage des ganz und gar säkularen Prinzips ausgefochten, dass Abtreibungen das allgemeine Recht auf Leben beeinträchtigen. Die meisten konservativen Christen akzeptieren, dass sie für ihre Kultur keine privilegierte Stellung mit der Begründung beanspruchen können, Gott sei auf ihrer Seite. Stattdessen argumentieren sie im Sinne ihrer Rechte als legitime Minderheit. Ein Teil dieser Rhetorik mag zynisch sein, aber der Umstand, dass eine solche Unaufrichtigkeit erforderlich ist, ist ein deutlicher Beweis für die Marginalisierung der Religion. Mehr oder weniger bewusst scheinen die meisten Amerikaner die praktischen Vorteile von Liberalismus und Toleranz zu schätzen. Einige setzen sich ganz bewusst für eine Trennung von Kirche und Staat ein. Frank Buona ist ein konservativer Katholik, der den Fall eines Kreuzes in dem Mojave-Reservat in Südkalifornien (Land, das vom National Parks Service verwaltet wird) durch mehrere Instanzen amerikanischer Gerichte verfolgt: »Ich möchte das Kreuz in jeder katholischen Schule, ich möchte das Kreuz bei mir zuhause. Aber ich möchte nicht, dass das Kreuz dauerhaft auf dem öffentlichen Grund und Boden der Bundesregierung steht. […] Mir geht es darum, dass der Grund und Boden, der sich im gemeinsamen Besitz der Vereinigten Staaten be-

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findet, nicht zum Schauplatz sektiererischer religiöser Äußerungen wird, selbst wenn es meine eigenen religiösen Äußerungen sind.« 12

Im Hinblick auf die Verfolgung seiner Prinzipien ist Buono ungewöhnlich, doch viele Amerikaner haben ein vages Gefühl, dass die Trennung von Kirche und Staat nützlich ist. Man sieht dies an den Reaktionen auf Meinungsumfragen nach der Schicklichkeit der politischen Tätigkeit von religiösen Führern. Erhebungen zeigen regelmäßig, dass 66-70  % dagegen sind, dass Kirchen Kandidaten bei Wahlen den Rücken stärken. Ironischerweise, in Anbetracht der großen Aufmerksamkeit, die der Christlichen Rechten geschenkt wird, sind vor allem schwarze Protestanten dafür, dass Kirchen bestimmte Kandidaten unterstützen. Unter den weißen Protestanten sind 68 % der Evangelikalen dagegen und liegen damit nur knapp hinter den moderaten Mainline-Protestanten mit 73 %; diese Ablehnung ist auf allen Ebenen des religiösen Engagements konstant.13 Befragt nach ihrer Meinung, ob Wohlfahrtsorganisationen, die auf einem Glauben basieren, für ihre Programme eine Unterstützung der Regierung erhalten sollten, stimmten 44 % der Befragten zu, doch ein Viertel der Befragten fand dies nur gut, wenn sich derartige Programme jeglicher religiöser Botschaften enthielten. Fast ein Drittel war der Meinung, es sei eine schlechte Idee, dass der Staat religiöse Organisationen bei irgendwelchen Projekten unterstützt. Am aufschlussreichsten waren die Reaktionen auf Fragen zum öffentlichen Gebet in Schulen. Nur 12 % der Evangelikalen meinten, dass solche Gebete spezifisch christlich sein sollten, und 53 % der Evangelikalen (dies entspricht dem Prozentsatz der Allgemeinheit) vertraten die Ansicht, dass ein Augenblick gemeinsamer Stille die beste Lösung für das Problem sei.14

12 | Public Broadcasting Service, »Mojave Cross«, Religion and Ethics News Weekly, 2. Okt. 2009, www.pbs.org/wnet/religionandethics/episodes/october2-2009/mojave-cross/4424 (abgerufen am 10.10.2009). 13 | Pew Forum on Religion and Public Life, »Americans Wary of Church Involvement in Partisan Politics«, http://pewforum.org/docs/?DocID=358 (abgerufen am 07.06.2009). 14 | Pew Forum on Religion and Public Life, »It’s Wrong to Base Voting on Religion, Say Most Americans« (2001), www.pewtrusts.com (abgerufen am 08.07. 2002).

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5. W ARUM DIE USA ANDERS SIND Ungeachtet der oben suggerierten Richtigstellungen trifft es zweifelsohne zu, dass die USA religiöser sind als andere Industriegesellschaften. Wenn das Säkularisierungsparadigma Bestand haben soll, muss es in der Lage sein, diesen Unterschied auf eine Weise zu erklären, die mit derjenigen vereinbar ist, in der sie den Rückgang anderswo erklärt. Ich meine, das kann es.

5.1 Migranten und kultureller Wandel Ein offensichtlicher Grund für die religiöse Vitalität der USA wird überraschend selten erwähnt, nämlich die in großem Stil erfolgende Einwanderung aus nicht-industriellen Ländern mit ausgeprägt konservativen religiösen Traditionen. 1998, so schätzt man, war jeder zehnte Amerikaner außerhalb der USA geboren worden. Seit den 1970ern sind die häufigsten Herkunftsregionen Mexiko, die Karibik und Asien.15 Nur sehr wenige Migranten kamen aus Europa. Sofern die Einwanderer nicht untypisch für die religiösen Kulturen ihrer Heimatländer waren, waren sie in der Regel erheblich frommer als typische in den Vereinigten Staaten geborene Amerikaner. Dabei beschränkt sich die Wirkung der Immigration nicht auf die Übertragung vorhandenen religiösen ›Kapitals‹. Wie bereits an anderer Stelle erwähnt (vgl. Bruce 2011: passim [Anm. des Übers.]), besteht eine der wichtigen sozialen Funktionen der organisierten Religion darin, Migranten dabei zu helfen, den Übergang von der alten in die neue Welt zu vollziehen. Kirchen bilden wichtige Verbindungspunkte, die es Migranten ermöglichen, Kontakt mit Elementen ihrer alten Kultur – ihrer Religion und ihrer Sprache – zu wahren und sich gleichzeitig mit früheren Migranten zu vermischen, die in dem neuen Territorium bereits stärker zuhause sind. Kirchen profitieren auch durch die Rolle, die die Religion dabei spielen kann, die Anomie oder das Verlustgefühl zu mildern, unter dem viele Migranten leiden. Um den Vergleich mit dem Vereinigten Königreich und Europa zu vervollständigen, genügt es festzustellen, dass es in den meisten europäischen Gesellschaften wenig Einwanderung gab, und die 15 | S. A. Camarota, »Immigrants in the United States 1999: A Snapshot of America’s Foreign-Born Population« (Center for Immigration Studies, 1999), www.cis.org (abgerufen am 04.05.2001).

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Einwanderer, die man dort erlebt, Muslime und Hindus sind, die diesen Gesellschaften zwar religiöses Kapital hinzufügen, aber die lokalen religiösen Traditionen eher schwächen als stärken.

5.2 Lokaler Konsens und nationale Vielfalt Der zweite große Unterschied zwischen den USA und anderen industriellen Demokratien wurde bereits erwähnt, nämlich die föderale und diffuse Struktur ihres Gemeinwesens. Um mit ihrer Größe und inneren Vielfalt zurechtzukommen, haben die Vereinigten Staaten Regulierungssysteme für Angelegenheiten wie Bildung und das öffentliche Radio und Fernsehen – zwei Felder, die für die Bewahrung der Weltsicht einer Minderheit entscheidend sind – entwickelt, die erheblich offener und diffuser sind als die extrem zentralisierten Strukturen des Vereinigten Königreichs oder Frankreichs. In den USA ist es relativ leicht und billig, eine eigene Schule aufzumachen. Privatschulen dürfen mehr oder weniger unterrichten, was sie wollen, und selbst staatliche Schulen verfügen über beträchtliche Autonomie. Mit Ausnahme der von der katholischen Kirche und der Church of England geleiteten Schulen (und von letzteren gibt es auf der Sekundarstufe nicht viele), hat das Vereinigte Königreich nur einen sehr kleinen und teuren elitären Privatschulsektor. Außerdem werden Lehrer in säkularen öffentlichen Universitäten ausgebildet, von öffentlichen Agenturen zugelassen und entsprechend den nationalen Tarifen bezahlt. Die vom Staat finanzierten Schulen (zu denen auch die von der Kirche verwalteten zählen) sind durch einen nationalen Lehrplan eingeschränkt, und selbst die Ähnlichkeit der Privatschulen bleibt aufgrund der gleichen Schichtzugehörigkeit und des gleichen Bildungshintergrunds ihrer Mitarbeiter sowie der Anforderungen der Prüfungsausschüsse, die ihre Qualifikation bewerten, gewahrt. Die Fähigkeit, Informationen und Ideen zu kontrollieren, ist für die Bewahrung jedweder markanten Weltsicht und Lebensweise unverzichtbar. Bis zur Erfindung des Satellitenfernsehens und zur seitens der konservativen Regierung von 1979-94 durchgeführten Liberalisierung waren die britischen Massenmedien extrem eingeschränkt. Es gab lediglich vier nationale Radiosender, die alle von der staatlichen British Broadcasting Corporation (BBC) kontrolliert wurden. Bis 1982, als einem Vierten die Lizenz erteilt wurde, hatte Großbritannien nur drei Fernsehsender, von denen zwei von der BBC betrieben wurden. Selbst die kommerziellen Sender wurden

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stark kontrolliert. Individuen und Organisationen konnten keine Sendezeit kaufen, um ihre eigenen Programm zu zeigen, und weltanschauliche Werbung war nicht erlaubt. Die BBC und die kommerziellen Unternehmen mussten religiöse Sendungen ausstrahlen, doch deren Inhalt war stark reguliert, so dass er einen breiten Konsens in den christlichen Kirchen fand. Mit der zunehmenden kulturellen Vielfalt Großbritanniens weitete sich dieser Konsens aus. Die Gelegenheit, im Rahmen von Thought for the Day oder Songs of Praise auf Radio Four (BBC) eine Sendung auszustrahlen, wird unter verschiedenen religiösen Organisationen und Traditionen nach dem Rotationsprinzip und etwa im Verhältnis zu ihrer jeweiligen Präsenz in der Bevölkerung insgesamt vergeben, und es herrscht eine sehr klare Übereinkunft, dass die jeweiligen Sprecher niemanden provozieren oder kritisieren und keine Bekehrungsversuche unternehmen. Seit den 1970er Jahren hat der den Religionen zugebilligte Raum abgenommen, und die Sender erfüllen ihre satzungsmäßige Pflicht, religiöse Programme zu produzieren, indem sie Programme über Religion bei säkularen Programmmachern in Auftrag geben. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das britische Fernsehen und Radio während des größten Teils des 20. Jahrhunderts konsensuelle religiöse Programme mit einem im Wesentlichen ökumenischen Charakter produzierte. Doch sie gestatteten bestimmten religiösen Organisationen oder Gemeinschaften nicht, Programme zu produzieren, die deren Ansichten repräsentierten. Man erkennt die Wichtigkeit dieser unterschiedlichen Regulierungssysteme, wenn man die Fähigkeit US-amerikanischer Sektierer betrachtet, ihre eigene Welt zu konstruieren. Das Folgende ist die Kompositionskizze einer fundamentalistischen Familie in Lynchburg, Virginia, die aus der Kombination von dreien solcher Familien besteht, die ich in den frühen 1980ern kennen lernte. Nennen wir sie Fred und Wilma. Fred war zweiter Pfarrer in Jerry Falwells Liberty Baptist Church, Wilma unterrichtete in der unabhängigen christlichen Schule der Kirche. Ihre beiden Kinder besuchten diese Schule. Nach dem Schulabschluss studierte ein Kind an Falwells Liberty University, das andere besuchte eine andere religiöse Einrichtung, die Oral Roberts University in Tulsa, Oklahoma. Während der Semesterferien halfen die Studenten der Liberty University bei der Durchführung eines fundamentalistischen Sommerlagers. Die Kirche unterstützte außerdem ein Entbindungsheim und eine Adoptionsagentur für unverheiratete Mütter, ein Programm für trockene Alkoholiker sowie ein Gefangenenbesuchsprogramm. Wilmas Mutter hatte eine Wohnung in einem

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von der Kirche geleiteten Komplex für »Senior Saints«, die im kirchlichen Buchladen und bei der Versandaktion aushalfen, mit denen Mittel für die Fernsehausstrahlung von Falwells The Old Time Gospel Hour aufgebracht wurden. Die Familie sah sich christliche Programme auf evangelikalen Kabelsendern an. Die Kinder hörten christliche Rock- und Countrymusik. Die Familie las keine säkulare Zeitung, abonnierte aber eine Reihe christlicher, wöchentlich oder monatlich erscheinender Zeitschriften. Fred besaß eine Publikation mit dem Titel Christian Yellow Pages, um sicherzugehen, dass er Waren und Dienstleistungen von gleichgesinnten Fundamentalisten bezog. In der Regel verbrachte die Familie ihre Urlaube in einem von Fundamentalisten betriebenen Freizeitkomplex an der Küste von South Carolina. Was mir an diesem Leben auffiel, war nicht, dass engagierte Christen viel Zeit mit kirchlichen Tätigkeiten zubrachten, sondern dass sie auch ganz profane Aktivitäten wie Wassersport in einem fundamentalistischen Umfeld betrieben. Fundamentalisten in Lynchburg konnten in einer Welt leben, die fast im selben Ausmaß fundamentalistisch war, wie England im Mittelalter christlich war. Sie schufen eine kulturell homogene Gesellschaft, um ihre fundamentalistische Subkultur zu unterstützen. Sie stellten sicher, dass die Außenwelt nur durch die fundamentalistische Brille wahrgenommen wurde. Sie versorgten sich selbst mit fundamentalistischen Alternativen zu säkularen Institutionen. Und sie hatten praktisch keinen positiven Umgang mit Leuten, die keine Fundamentalisten waren. Dies ist das Paradox, das die Theoretiker der rationalen Entscheidung übersehen haben (vgl. Bruce 2011: 141-156 [Anm. des Übers.]). Wenn Vielfalt eine pluralistische Struktur in der öffentlichen Verwaltung und Regierung hervorbringt, dann gibt sie den Menschen erhebliche Freiheit an die Hand, Vielfalt zu vermeiden. Während britische Christen ein nahezu unausweichliches Programmspektrum angeboten bekommen, das ihren Glauben offen in Frage stellt oder auf heimtückische Weise unterminiert, ist es den US-amerikanischen Evangelikalen gelungen, ein System zu schaffen, das es ihnen ermöglicht, das zu vermeiden, was sie nicht mögen, und zu produzieren, was sie mögen. Die Parallelwelt US-amerikanischer fundamentalistischer Institutionen ermöglicht es einem jungen Fundamentalisten, an einer qualitativ guten konservativen protestantischen Institution Jura zu studieren. Der schottische Evangelikale, der eine juristische Karriere anstrebt, wird hingegen von Ungläubigen in einer säkularen Institution unterrichtet werden.

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6. S CHLUSSFOLGERUNG Die Vereinigten Staaten sind säkular in dem Wilson’schen Sinne, dass Religion kaum eine Rolle für die Kernfunktionen des sozialen Systems spielt: »Weder Individuen noch Institutionen agieren primär, um übernatürliche Ziele zu erreichen« (Wilson 1985: 19). Man kann noch weiter gehen und sagen, dass es in den USA auch Anzeichen dafür gibt, dass Religion an Popularität verliert. Und innerhalb der Kirchen gibt es deutliche Belege für die Säkularisierung des Christentums. In der Art und Weise, in der Peales der Macht des positiven Denkens den Weg bereitet hat, sind entscheidende Glaubensüberzeugungen aufgegeben oder subjektiviert worden. Der Fokus des Glaubens hat sich aus der nächsten Welt auf diese verschoben und von der Verherrlichung Gottes auf die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse. Autoritäre dogmatische Glaubensüberzeugungen sind einem weicheren Relativismus gewichen, der den Ungläubigen nicht mehr zur Hölle schickt. Eine beiläufige Beschreibung der Christlichen Rechten als fundamentalistisch verkennt den entscheidenden Punkt, nämlich dass es nicht mehr möglich ist, eine Agenda mit der Begründung zu propagieren, Gott verlange dies so. Jene Christen, die die Säkularisierung ihrer Kultur bedauern, haben keine Wahl, als die säkularen Regeln politischer Bindung und öffentlicher Argumente zu akzeptieren. Wären die USA im Lauf des 20. Jahrhunderts religiöser geworden, hätten wir Anlass zum Zweifel am Säkularisierungsparadigma. Doch wir müssen lediglich erklären, warum die Religion in Amerika länger benötigt hat, um Zeichen der Säkularisierung aufzuweisen als ihre europäischen Pendants, und wir können dies anhand von Begriffen tun, die mit den Grundthemen des Säkularisierungsansatzes absolut vereinbar sind. Übersetzung aus dem Englischen: Nikolaus G. Schneider

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Die neuen religiösen Konstellationen im Rahmen gegenwärtiger Globalisierung 1 und kultureller Transformation Shmuel N. Eisenstadt

I. Gegenwärtig finden viele neue Entwicklungen in den religiösen Arenen statt. Diese Entwicklungen führen zu Veränderungen und Transformationen des Ortes von Religion auf der Weltbühne, die eine neue kulturelle Konstellation ankündigen. Diese Entwicklungen gehen weit über das gewöhnliche Bild von ›Religion‹ hinaus und stellen eine überaus große Herausforderung für die weithin akzeptierten Annahmen des bisher vorherrschenden akademischen und öffentlichen Diskurses dar, in dem die Ausbreitung der Moderne, die Modernisierung von Gesellschaften, gleichsam auf natürliche Weise zu den folgenden Ergebnissen führt: der Säkularisierung der Welt, der Schwächung der Vorherrschaft von Religion im hegemonialen Weltbild und ihrer zentralen Stellung im öffentlichen Raum – vor allem in den bedeutenden modernen revolutionären und Nationalstaaten, dem institutionellen Inbegriff des Moderne-Programms – sowie der sich gewissermaßen gleichzeitig vollziehenden Verweisung der Religion in den privaten Raum. In der Frühphase der Herausbildung der sozialen und politischen Landschaft nach dem Zweiten Weltkrieg schien es so, als lieferten die bedeutenden Entwicklungen in den religiösen Arenen der meisten moder1 | Die HerausgeberInnen möchten an dieser Stelle darauf hinweisen, dass Shmuel N. Eisenstadt die Arbeit an dem Manuskript für diesen Beitrag vor seinem Tod im September 2010 nicht mehr abschließen konnte.

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nen Gesellschaften tatsächlich den Beweis für die wesentlichen Annahmen über eine kontinuierliche Tendenz zur Säkularisierung als Ausdruck von Modernisierung. Zu den wichtigsten dieser Entwicklungen zählten erstens die zunehmende Herausbildung der religiösen Sphäre als nur eine unter vielen institutionellen Sphären in der modernen Welt, zweitens – im Vergleich zu anderen Zeiträumen – die Schwächung oder gar der Verlust der dominierenden Rolle von Religion bei der Konstitution hegemonialer Weltanschauungen und schließlich drittens die Schwächung religiöser Autoritäten sowie religiöser Praktiken und damit einhergehend die scheinbar zunehmende De-Ritualisierung oder De-Sakralisierung sowohl zentraler öffentlicher Arenen als auch des Privatlebens. Diese Situation, die den Höhepunkt des klassischen Zeitalters oder klassischer Modelle der Moderne verkörperte, hat in den letzten zwei oder drei Dekaden des 20. Jahrhunderts – zunächst langsam, dann sehr viel intensiver – begonnen sich zu verändern. Diese Veränderungen verbanden sich – zunächst im Westen und dann in der ganzen Welt – eng mit der Entwicklung verschiedener Prozesse, die sich weltweit in unterschiedlichen Konstellationen niederschlugen und ebenfalls zu weitreichenden Veränderungen in den religiösen Arenen führten.

II. In allen – vor allem, aber nicht ausschließlich in den ›großen‹ – Religionen entwickelte sich in der Gegenwart, wenn auch natürlich in unterschiedlichen konkreten Formationen, eine neue religiöse Konstellation. Diese Konstellation zeichnete sich einerseits durch die Vervielfachung und Privatisierung von religiösen Orientierungen, Gefühlen und Praktiken, durch den Niedergang institutionalisierter Religion sowie durch die Entwicklung einer Vielfalt an neuen ›informellen‹ Formen religiöser Orientierungen, Aktivitäten, Bewegungen und Organisationen in den bis dato bedeutenden offiziellen religiösen Institutionen und Organisationen sowie deren Mitgliedschaft aus. Sie verband sich andererseits mit der Bewegung und Verlagerung verschiedener religiöser Aktivitäten und Orientierungen in unterschiedlichen Formen politischer Aktivität bei der Gestaltung von kollektiven Identitäten. Religiöse Identitäten und religiöse Praktiken, die nach der Theorie des klassischen Nationalstaat-Modells – auch wenn dies in der Praxis weit weniger der Fall war – in private oder untergeordnete, se-

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mi-öffentliche Sphären verwiesen oder auf diese begrenzt wurden, werden Bestandteil von teilweise zentralen nationalen, transnationalen und internationalen öffentlichen Arenen. In der Tat war eine der wichtigsten Entwicklungen in der Konstituierung gegenwärtiger politischer Arenen und kollektiver Identitäten das ›Wiederaufleben‹ von religiösen – häufig verbunden mit national-ethnischen – Komponenten, die sich gleichsam in die Zentren nationaler und internationaler politischer Aktivität sowie in die Konstituierung kollektiver Identitäten bewegten. Gleichzeitig veränderten sie in hohem Maße die Beziehungen zwischen ›lokalen‹ und ›globalen‹ Schauplätzen sowie jene zwischen umfassenden Groß-Erzählungen und stärker lokalisierten sozialen und kulturellen Vorstellungen. Derartige Verschiebungen brachten jedoch nicht einfach eine Wiederkehr von traditionellen Formen religiöser Organisationen, Autoritäten oder Praktiken mit sich, sondern führten vielmehr zu einer weitreichenden Re-Konstituierung der religiösen Komponenten in den umfassenden kulturellen und institutionellen Formationen. Eng damit verbunden waren die Veränderungen in der Struktur religiöser Autorität, was sich in der Schwächung der bedeutenden kirchlichen Institutionen, in zunehmenden Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen religiösen Organisationen, Bewegungen und Funktionseliten über die Verortung religiöser Autorität und deren Legitimation sowie über die angemessene Interpretation der grundlegenden Prämissen ihrer jeweiligen Religionen und deren Beziehung zu der modernen Welt manifestierte. Solch mannigfaltige Herausforderungen entwickelten sich vor allem durch eine große Bandbreite an neuen populären religiösen Anführern, die gegen die älteren, vor allem gegen die ›traditionellen‹ religiösen Autoritäten insbesondere mit Hilfe der neuen elektronischen Medien neue religiöse Konzeptionen und Interpretationen der grundlegenden Prämissen ihrer jeweiligen Religionen sowie eine Vielfalt an neuen Praktiken verbreiteten. Dadurch wurden neue nationale und internationale religiöse Öffentlichkeiten geschaffen, die weder von den bisher vorherrschenden Religionen noch von neuen politischen Autoritäten reguliert wurden. Parallel dazu entwickelten sich in allen Religionen – wenn auch natürlich in unterschiedlichem Maße – Veränderungen hinsichtlich der Beziehungen zwischen religiösem Glauben und Praktiken einerseits und ›offiziellen‹ autoritären religiösen Codes andererseits. Wie Daniele Hervieu-Leger (2009: 451) es formuliert hat:

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»Today’s believers are increasingly emancipated from normative codes established by institutions and feel free to cobble together smaller systems of signification to give meaning to their experience. They are just as free in defining the ties they are prepared to maintain with particular religious faiths, without necessarily feeling bound by the spiritual and moral obligations normally associated with adherence to their traditions. The link between believing and belonging is clearly becoming increasingly loose, as the British sociologist G. Davie (1994) has shown. More than this, the ways in which these believers demonstrate their adherence – insofar as it requires to be demonstrated – tend to be at variance with the canonical forms prescribed by the institutions themselves. Beliefs break down or reemerge according to the expectations, aspirations, dispositions and interests of the individuals that profess them. In much the same way practices are abandoned here and taken up elsewhere. This tendency is now an established part of the contemporary religious scene, cutting across different faiths and different countries’ religious, political and cultural belief systems. Ideal typically at least, it reflects the key features of globalized religiosity, confirming as it does (here as in other fields) that the individual has finally come of age, that interaction has primacy over commitment, and that networked sociability has triumphed. This cultural mutation is clearly at work in contemporary Catholicism, whatever the difficulty the religious authorities might have in appreciating its scale and implications.«

Somit haben sich tatsächlich weitreichende Veränderungen in den Beziehungen zwischen unterschiedlichen Dimensionen bzw. deren Komponenten ergeben – zwischen dem Kosmologischen und Dogmatischen, zwischen individuellen religiösen Gefühlen und institutionell-organisierten Praktiken, in der Struktur religiöser Autorität und ihrem Verhältnis zu den größeren politischen und institutionellen Formationen sowie zur Konstitution von Kollektiven und kollektiven Identitäten, schließlich auch in den Beziehungen zwischen den großen Religionen. Alle diese Entwicklungen markierten nicht unbedingt das Verschwinden starker transzendenter und religiöser Orientierungen aus dem kulturellen und politischen Spektrum gegenwärtiger Gesellschaften. Vielmehr brachten sie eine Vielfalt an Orientierungen zur Transzendenz mit sich und ließen häufig neue religiöse Gefühle, Praktiken und Bindungen entstehen. Ebenso wenig führten diese Entwicklungen notwendiger Weise dazu, dass Religion aus den öffentlichen Arenen ihrer jeweiligen Gesellschaften verschwand oder für die Konstitution kollektiver Identitäten keine

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Rolle mehr spielte. Genau genommen waren sie eng verbunden mit dem gleichsam kraftvollen Wiedereintritt der Religion in die Zentren dieser Arenen – aber eben auf neuartige Weisen, die weitreichende neue kulturelle Formationen ankündigten.

III. Eng damit verbunden ist eines der interessantesten Charakteristika der zeitgenössischen globalen religiösen Landschaft: die weltweite Zunahme vieler neuartiger religiöser Bewegungen, Gemeinschaften und Organisationen sowie verschiedener informeller Beziehungen. Solche neuartigen religiösen Formen bildeten die fundamentalistischen Bewegungen, die sich insbesondere in den monotheistischen Kulturen entfalteten, sowie die gemeinschaftlich-nationalen oder ethnischen Bewegungen, die sich vor allem in den nicht-weltlichen, insbesondere den buddhistischen und hinduistischen Gemeinschaften entwickelten. Beide Formen zielten, wenn auch auf unterschiedliche Weise, auf eine Re-Konstituierung grundlegender Konturen der politischen Regime und nationalen Kollektive sowie neuartiger religiöser Arenen. Zweitens entwickelten sich in der ganzen Welt konfessionelle und semikonfessionelle Gruppen und Aktivitäten, von denen die sichtbarsten wahrscheinlich die pfingstlerischen Gruppen und Bewegungen waren, die sich über die ganze Welt verbreiteten – in Südamerika, Korea und anderen asiatischen Ländern. Viele solcher konfessionellen Gruppen, Bewegungen oder informellen Formationen, seien es z.B. verschiedene sufistische Orden oder buddhistische Gruppen, entwickelten sich – auf der internationalen Bühne nicht immer sichtbar – auch in vielen anderen, vor allem in den ›großen Religionen‹, und entfalteten sich zeitgleich mit vielen Kulten in der ganzen Welt. Parallel dazu entstand etwas, das man als neue Religionen oder ›spirituelle‹ Orientierungen bzw. Richtungen bezeichnen kann, wie etwa die Bewegung des »New Age«. Diese Bewegungen, Gruppen und Richtungen waren zwar nicht in übergreifenden nationalen oder internationalen Strukturen organisiert. Trotzdem entwickelten sich zwischen ihnen verschiedene trans-›nationale‹ Netzwerke, die ein gänzlich neues Element im gesamten globalen Geschehen darstellten. Drittens stellt die Herausbildung von virtuellen transnationalen religiösen sowie ethnischen Gruppierungen und Gemeinschaften, einschließ-

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lich derjenigen in der Diaspora, eine der wichtigsten Entwicklungen im gegenwärtigen globalen Geschehen dar. Tatsächlich existieren ›diasporische‹ Gemeinschaften bereits seit langer Zeit. Dies gilt für die ›überseeischen‹ chinesischen oder indischen Gemeinschaften in ähnlicher Weise wie für transnationale oder transimperiale Religionen wie die katholische Kirche, die ›orthodoxen‹ christlichen Kirchen sowie die buddhistische und natürlich die jüdische Gemeinde. Allerdings entstand unter dem Einfluss umfangreicher Migrationsbewegungen im Zuge von Globalisierungsprozessen und der eng damit verbundenen Entwicklung der neuen elektronischen Medien nicht nur eine Vielzahl solcher – häufig neuartiger – diasporischer Netzwerke, Gemeinschaften und Organisationen. Es fanden auch weitreichende Transformationen im Hinblick auf deren Konstitution, die Formen der Partizipation in ihnen, die Art und Weise ihrer Partizipation in nationalen und internationalen Öffentlichkeiten sowie die Konstitution kollektiver Identitäten statt. All dies bewirkte weitreichende Veränderungen in der Struktur der transnationalen religiösen Organisationen, deren Beziehungen zum Staat und zur Zivilgesellschaft sowie in den interreligiösen Beziehungen. In den meisten dieser Gemeinschaften bildeten sich zwar Orientierungen an so etwas wie einer ›Heimat‹-Basis heraus, im Kern aber gingen sie alle über diese hinaus. In den meisten Gemeinschaften entwickelten sich starke Tendenzen, verschiedene lokale Traditionen abzulehnen und neue universalistische, translokale Identitäten zu verbreiten, welche in erster Linie von zahlreichen translokalen Netzwerken befördert wurden. Diese bildeten sich direkt – ohne die Vermittlung durch die ›Heimat‹-Zentren, in der Tat ohne Vermittlung oder Regulierung durch irgendein territoriales Zentrum – zwischen ähnlichen ›ideologischen‹ Religionen und Gemeinschaften oder Netzwerken. Gleichzeitig entstanden viele neue transstaatliche religiöse Organisationen, und die Beziehungen zwischen den großen Religionen erfuhren weitreichende Veränderungen. Alle diese Gemeinschaften und Netzwerke – durchaus sowohl der fundamentalistischen, gemeinschaftlich-nationalen als auch der verschiedenen Kulte – zeichneten sich dadurch aus, dass die Strukturen religiöser Autorität und ihrer Rechtfertigung wie der Partizipation innerhalb der jeweiligen religiösen Kontexte im Großen und Ganzen dezentralisiert waren. Die beschriebenen Entwicklungen waren eng mit zunehmenden Kontroversen innerhalb jeder Religion über die richtige Interpretation ihrer grundlegenden Prämissen, über ihre Beziehung zur modernen Welt und

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über die Verortung von Autorität in ihnen selbst verbunden. Diese Kontroversen wurden auch zwischen den verschiedenen religiösen Organisationen, Bewegungen und Funktionseliten ausgetragen. Alle diese neuen globalen Gemeinschaften, Netzwerke und Organisationen stellten nicht nur ein neuartiges organisatorisches oder strukturelles Element im gegenwärtigen Weltgeschehen dar, sondern bildeten zugleich wichtige Zentren für die Re-Konstituierung kollektiver Identitäten und neuer kultureller Perspektiven.

IV. Diese Netzwerke, Bewegungen oder Gemeinschaften, einschließlich der fundamentalistischen, formulierten auch weitreichende Forderungen nach einer Re-Definition von Bürgerschaft und damit verbundenen Rechten und Ansprüchen. Sie sehen sich selbst nicht an die stark homogenisierenden kulturellen Prämissen des klassischen Nationalstaatsmodells gebunden, insbesondere nicht an die ihnen zugewiesenen Orte im Bereich der Öffentlichkeit. Es ist nicht so, dass diese Bewegungen oder Gemeinschaften in ihren jeweiligen Gesellschaften nicht ›beheimatet‹ werden wollen, aber sie wollen dies unter neuen Bedingungen. In der Tat besteht ein Teil ihrer Anstrengungen darin, nicht nach den klassischen Assimilierungsmodellen, sondern vielmehr auf neue, stärker pluralistische, facettenreiche und multinationale Weisen in ihren jeweiligen Ländern beheimatet zu werden. Sie möchten in der Öffentlichkeit, in der Konstitution der Zivilgesellschaft und deren Beziehung zum Staat als kulturell distinkte Gruppen anerkannt werden, die ihre kollektiven Identitäten öffentlich geltend machen und nicht bloß auf den privaten Raum beschränken. Sie erheben in der Tat Ansprüche – wie es unter anderem die neue Debatte über Lawcité in Frankreich veranschaulicht – auf eine Re-Konstitution der öffentlichen Symbole kollektiver Identität in den betreffenden Staaten. Alle diese neuen und besonders die weltweiten Gemeinschaften und Netzwerke stellten nicht nur vielfältige, neuartige organisatorische oder strukturelle Elemente im gegenwärtigen Geschehen dar, die weit über jene Vielfalt hinausgingen, die man etwa unter den Religionen der Achsenzeit finden konnte. Sie bildeten auch bedeutende Zentren für die Re-Konstituierung neuer kultureller Vorstellungen, die eine Antwort auf die großen Veränderungen im Gefüge der Moderne darstellten. Diese Veränderungen

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waren zwar in der ursprünglichen Kultur der Moderne verankert, gingen jedoch weit darüber hinaus und erzeugten tatsächlich eine neue globale, moderne kulturelle Konstellation.

V. Der gemeinsame Kern der Transformationen der bis dahin vorherrschenden hegemonialen Muster sozialer Beziehungen und institutioneller Rahmen besteht erstens in der zunehmenden Loslösung der wichtigsten (sozialen, ökonomischen, politischen, familiären und Gender-)Rollen, Organisationen und Beziehungen von umfassenderen Makro-Formationen. Hierzu zählen insbesondere die hegemonialen Formationen der Nationalstaaten und revolutionären Staaten sowie die mit der ›klassischen‹ Klassen-Formierung verbundenen Charakteristika der prägenden wie der späten Entwicklungsstufe des industriellen Kapitalismus. Zweitens sind den Transformationsprozessen weitreichende Veränderungen und Verschiebungen in der Herausbildung von übergreifenden sozialen Formationen, von Klassen- und Statusbeziehungen, gemeinsam. Drittens zeichnen sie sich durch Entkopplungen zwischen politischen Zentren und den großen sozialen und kulturellen Kollektiven aus; viertens durch die Entwicklung zahlreicher Netzwerke und Verbunde, die über die Grenzen vieler Organisationen und ›Gesellschaften‹ hinausgehen. Gleichzeitig ereigneten sich unter dem Einfluss intensiver Globalisierungsprozesse weitreichende Veränderungen in der Konstitution einer Vielzahl sozialer Grenzen (was eine Schwächung und Diversifizierung der bis dato hegemonialen Kollektive und sozialen Arenen zur Folge hatte); zugleich bildeten sich neue kulturelle und soziale Identitäten heraus, welche über die existierenden politischen und kulturellen Grenzen hinausgingen. Eng damit verbunden war die ReKonstituierung der Rolle von Territorialität hinsichtlich der Strukturierung von sozialen Rollen und kollektiven Identitäten sowie eine Abkopplung der bisher vorherrschenden Beziehungen zwischen lokalen und globalen Kontexten. Parallel dazu nahmen kontinuierliche Auflösungsprozesse in den relativ kompakten Bildern von Lebensstilen, in der Konstitution der Lebenswelten von verschiedenen sozialen Sektoren und Klassen, und in den Konzepten des ›zivilisierten Menschen‹, wie er im klassischen Nationalstaat verkörpert war, ihren Lauf. Damit eng verknüpft waren die Herausbildung einer Vielfalt, einer Pluralisierung und Diversifizierung von

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semantisch-ideologischen und institutionellen Verbindungen zwischen bedeutenden Lebensbereichen – zwischen öffentlichen und privaten Bereichen, zwischen Arbeit und Kultur, Beschäftigung und Wohnort. Dies ging zugleich einher mit einer Neukonfiguration der Beziehung zwischen primordialen und/oder heiligen (religiösen) Komponenten und staatsbürgerlichen Komponenten. Im Zusammenhang damit entstanden vielfältige, sich ständig verändernde Kombinationen kultureller Motive und Bilder, die aus verschiedenen Kulturen der ganzen Welt zusammengeführt wurden, sowie neue Formen der Vermischung zwischen verschiedenen kulturellen Traditionen, deren Muster treffend etwa von Ulf Hannerz analysiert wurden (Hannerz 1996; 1999). All diese Entwicklungen kulminierten in der Regel in der Herausbildung von sich verschiebenden ›alternativen‹ Modernen, die die bestehenden hegemonialen herausforderten, da sie neue Formen von Exklusion und Inklusion beinhalteten.

VI. Die Herausbildung von Mustern sozialer Beziehungen sowie institutionellen Strukturen war eng verbunden mit neuen kulturellen Entwicklungen, die zunächst im Westen entstanden sind und sich dann über die ganze Welt verbreiteten. Diese neuen kulturellen Trends enthielten eine weitreichende Kritik des kulturellen Programms der Aufklärung – sowie zu einem überaus hohen Maß auch der romantischen Kritiken dieses Programms –, das als hegemonialer Diskurs des klassischen Zeitalters der Moderne verbreitet und institutionalisiert war. Die Definition der ontologischen Realität, wie sie in der Aufklärung verkündet wurde und während des klassischen Zeitalters der Moderne hegemonialen Status hatte, wurde geschwächt. Dies betraf insbesondere die Fokussierung auf die Erforschung von kontinuierlich sich ausweitenden menschlichen und natürlichen Lebenswelten und des Schicksals sowie die Überzeugung, dass diese tatsächlich durch die bewusste Anstrengung des Menschen und der Gesellschaft beherrscht werden könnten. Kognitive Rationalität (insbesondere wie sie in den extremen Formen des Szientismus ihren Ausdruck fand), die häufig gar als der Inbegriff der Aufklärung wahrgenommen wurde, wurde ihrer weitgehend hegemonialen Position enthoben. Das gleiche Schicksal ereilte die Idee der ›Eroberung‹ oder der ›Herrschaft‹ über die Lebenswelt, ob nun Gesellschaft oder Natur. Die Gültigkeit der angenommenen Vorherrschaft der

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wissenschaftlichen Weltsicht sowie einer der ganzen Menschheit gemeinsamen Zukunft, die auf Vorstellungen von Fortschritt und Freiheit basierte und anhand derer unterschiedliche Gesellschaften verglichen oder bewertet werden könnten, wurde in Frage gestellt oder abgelehnt. Eng damit verbunden war die Schwächung der bisher vorherrschenden großen Erzählungen der Moderne mit ihrer überaus starken Betonung des historischen Fortschrittsprozesses, welcher in vielen Versionen der Aufklärung und in revolutionären Theorien eine säkulare Transformation der eschatologischen Vorstellungen vieler der konfessionellen Bewegungen enthielt. Dadurch wurde vermehrt pluralistischen, ›multikulturellen‹ und postmodernen Orientierungen mit einer stark relativistischen Tendenz Vorschub geleistet. Somit entwickelte sich in der ganzen Welt eine kontinuierlich wachsende Tendenz zu einer Unterscheidung oder gar Entkopplung zwischen Zweckrationalität und Wertrationalität sowie zur Anerkennung einer großen Vielzahl unterschiedlicher Wertrationalitäten. In diesem Zusammenhang wurde auch die mögliche Pluralität kosmologischer Vorstellungen sowie unterschieldicher – ästhetischer, sozialer oder moralischer – Wege betont, eine ›ausgeklammerte‹ Zweckrationalität mit verschiedenen Formen von Wertrationalität zu verbinden.

VII. Diese Veränderungen in der Struktur der hegemonialen Muster sozialer und institutioneller Beziehungen sowie in den kulturellen Prämissen, die sich in der ganzen Welt verbreitet haben – angefangen im Westen und dann darüber hinaus – waren eng verbunden mit den Transformationen der Prämissen und institutionellen Ordnungen der Nationalstaaten – tatsächlich der politischen Konstellationen insgesamt –, der Grenzen von politischen und ›nationalen‹ Gemeinschaften, von bedeutenden, vor allem politischen und ›makro-gesellschaftlichen‹ ›nationalen‹ Rahmen und schließlich der Beziehungen – um mich hier an Saskia Sassen zu halten – zwischen Autorität, Rechten und Territorium (Sassen 2006). Während die politischen Zentren der Nationalstaaten und revolutionären Staaten weiterhin die vorrangigen Organe der Verteilung von Ressourcen sowie überaus starke und bedeutsame Akteure in den großen internationalen Arenen darstellten, wurde die Kontrolle des Nationalstaates als

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des hegemonialen Zentrums hinsichtlich seiner eigenen ökonomischen und politischen Angelegenheiten – trotz kontinuierlich stärker werdender ›technokratischer‹ und ›rationaler‹ säkularer Politiken in verschiedenen Bereichen wie z.B. Bildung oder Familienplanung – durch viele mächtig werdende globale (vor allem wirtschaftliche) Akteure reduziert. Die Nationalstaaten und revolutionären Staaten verloren auch – wenngleich nie vollständig – Teile ihres internen und internationalen Gewaltmonopols an eine Vielzahl lokaler und internationaler Gruppen von Separatisten oder Terroristen, ohne dass irgendein Nationalstaat oder gemeinsame Maßnahmen von Nationalstaaten in der Lage waren, das kontinuierlich wiederkehrende Auftreten derartiger Gewalt zu kontrollieren. Sie verloren ebenfalls ihre zentrale Stellung und ihr Semi-Monopol bei der Gestaltung der internationalen Handlungsfelder sowie ihrer Regulierung. Vor allem wurde die zentrale ideologische und symbolische Rolle der Nationalstaaten und revolutionären Staaten geschwächt, indem sie in der allgemeinen Wahrnehmung ihren Status als die Hauptträger des kulturellen Programms der Moderne, als die elementaren Rahmen kollektiver Identität sowie als die hauptsächlichen Regulatoren vielfältiger untergeordneter Identitäten einbüßten. Ganz sicher waren sie nicht länger eng mit einem bestimmten kulturellen und zivilisatorischen Programm verbunden. Die meisten bisher ›unterdrückten‹ Identitäten – ethnische, lokale, regionale und religiöse – erlangten in der Tat eine neue prominente, in einigen Fällen sogar zentrale Rolle in den gegenwärtigen nationalen und internationalen Öffentlichkeiten und bewegten sich gleichsam – wenn auch natürlich auf eine stark veränderte Weise – in die Zentren ihrer jeweiligen Gesellschaften und in die internationalen Arenen hinein. Dabei ging es ihnen um ihre Orte der Selbstbestimmung in den zentralen symbolischen und institutionellen Räumen – sei es im Rahmen von Erziehungsprogrammen oder in öffentlichen Diskussionen und in den Medien – und um weitreichende Ansprüche auf die Neudefinition von Bürgerschaft und die damit verbundenen Rechte und Ansprüche. Diese Entwicklungen führten zur Herausbildung neuer Formen von kollektiver Identität, die einerseits in kleineren, kontinuierlich rekonstituierten ›lokalen‹ Kontexten und andererseits in transstaatlichen und nationalen Rahmen wurzelten. Zudem entstanden gleichzeitig neue politische, transnationale oder transstaatliche Strukturen und Organisationen – von denen die weitestreichenden der Europäischen Union gleichen. Ein weiterer Aspekt war die oben bereits erwähnte Neukonfiguration der Bezie-

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hung zwischen primordialen und/oder heiligen (religiösen) Komponenten einerseits und staatsbürgerlichen Komponenten andererseits im Zusammenhang mit der Konstitution kollektiver Identitäten, mit denen neue Formen von Exklusion und Inklusion einhergingen. Diese neuen kollektiven Identitäten, die tatsächlich vor allem durch verschiedene ›neue‹ soziale Bewegungen verbreitet wurden – und zwar sehr oft in neuen sozialen, insbesondere den diasporischen Milieus –, fochten die Hegemonie der älteren, homogenisierenden Programme der Nationalstaaten und revolutionären Staaten an. In vielen dieser Milieus wurden die lokalen und die transnationalen Orientierungen, die sich häufig in universalistischen, transstaatlichen Themen ausdrückten – etwa den neuen europäischen oder jenen, die in den großen Religionen wie dem Islam, dem Buddhismus oder unterschiedlichen Zweigen des Christentums wurzelten und auf moderne Weise rekonstruiert worden waren –, auf neuartige Weisen zusammengeführt.

VIII. Darüber hinaus implizierte eine weitere Komponente in der Herausbildung der neuen kulturellen Formationen, die sich in dieser Phase herauskristallisierten, Verschiebungen in der internationalen Ordnung, die Entwicklung von neuen Machtbeziehungen zwischen verschiedenen Staaten sowie das Aufkommen neuer Akteure, Institutionen und neuer regulativer Arenen und Regeln in der internationalen Arena. Sie alle sind ein Beleg für die Desintegration der ›Westfälischen‹ internationalen Ordnung und trugen zu der Entwicklung einer »New World Disorder« (Ken 1993) bei. Das Entstehen von Unordnung wurde durch den Niedergang der Sowjetunion intensiviert: durch das Verschwinden der bipolaren, relativen Stabilität des ›Kalten Krieges‹ und der eklatanten ideologischen Konfrontation zwischen dem Kommunismus und dem Westen. Mit nur einer Supermacht, den Vereinigten Staaten, gab es stärkere Autonomie innerhalb regionaler und transstaatlicher Rahmen sowie neue Kombinationen geopolitischer, kultureller und ideologischer Konflikte über die Beziehungen, die Stellung und die Hegemonie der Vereinigten Staaten und aufkommender Weltmächte: die Europäische Union, das post-sowjetische Russland und China. Gleichzeitig wurden die internationalen Finanzorganisationen, die nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet worden waren – die Weltbank und

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der Internationale Währungsfonds –, bedeutsam. Sie verfolgten zwar häufig amerikanische Interessen und Ideologien, entwickelten sich aber auch zu relativ unabhängigen Akteuren und Regulatoren der internationalen Wirtschaftsentwicklungen, die diese Interessen letztlich in Frage stellten. Darüber hinaus agierten neue internationale Nichtregierungsorganisationen jenseits der Reichweite jedes einzelnen Nationalstaates und sogar jenseits der formaleren internationalen Organisationen. Auf der internationalen Bühne bedeutsam waren in erster Linie wichtige internationale Organisationen – die Vereinten Nationen oder regionale Organisationen, hier vor allem jene der Europäischen Union. Zweitens gab es eine Fülle an neuen rechtlichen Institutionen, wie etwa den Internationalen Gerichtshof und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, und eine Vielzahl an neuen internationalen berufsständischen, rechtlichen und ökonomischen regulativen institutionellen Netzwerken. Parallel dazu entwickelte sich eine Fülle an neuen internationalen Nichtregierungsorganisationen, Assoziationen, Bewegungen und politischen Akteuren, die jenseits der Reichweite jedes einzelnen Nationalstaates und sogar jenseits der formaleren internationalen Organisationen agierten und ihren Fokus auf die Gestaltung von neuen institutionellen Räumen, auf den Zugang zu internationalen Organisationen und Arenen sowie auf die Möglichkeiten richteten, die Politik dieser Institutionen sowie die der verschiedenen Staaten zu beeinflussen. Drittens entstanden auch neue Arenen und Organisationen einer internationalen Regulierung oder Schlichtung – bestehend aus Juristen, Anwälten, Gesetzgebern, Wirtschaftsprüfern –, die viele regulative Funktionen der Staaten sowie der stärker formalisierten internationalen Institutionen gleichsam übernahmen. Gleichzeitig kamen neue Legitimationsprinzipien auf, die die Prämissen staatlicher Souveränität, wie sie seit dem Wiener Kongress 1815 vorherrschten, unterminierten. Die wichtigsten unter ihnen waren die Prinzipien der Menschenrechte, die über bestehende Staatsgrenzen hinauswiesen und staatliche Organisationen zur Verantwortung zogen. Koalitionen verschiedener transstaatlicher und nationalstaatlicher politischer Akteure mit neuen sozialen Bewegungen, die nach diesen Prinzipien agierten, hatten Einfluss auf die politischen Dynamiken der Staaten, die autoritären eingeschlossen. Diese Entwicklungen wurden von einigen Akteuren als Arenen dargestellt, die eine neue internationale, politische Grenzen überwindende Zivilgesellschaft begründen.

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Alle diese Entwicklungen beinhalteten weitreichende Veränderungen der Machtverteilung in den nationalen und vor allem in den internationalen Arenen. Einerseits enthielten sie einen weitreichenden Machttransfer von dem bis dato hegemonialen Nationalstaat zu neuen hegemonialen Zentren, d.h. zu verschiedenen globalen politischen Institutionen und Organisationen, was zu einer Vervielfachung neuer, stärker verstreuter Machtzentren führte. Diese waren häufig mit den neuen Akteuren auf internationaler Ebene verbunden, die allesamt kontinuierliche Herausforderungen für die bestehende internationale Ordnung und die hegemonialen Institutionen darstellten. All diese Entwicklungen auf der internationalen Bühne haben in großem Maße – sofern sie mit den Veränderungen in den internen institutionellen Organisationen unterschiedlicher Staaten verbunden waren – zur Instabilität des internationalen Systems, somit zu der »New World Disorder«, beigetragen. Diese Unordnung wurde weiter gefördert durch die Unfähigkeit der verschiedenen internationalen Akteure und Organisationen, mit vielen jener Probleme umzugehen, die den sich in jener Zeit entfaltenden Globalisierungsprozess begleiteten – seien es ökologische oder soziale Probleme, seien es die Herausforderungen durch Epidemien oder die Atomkraft.

IX. Alle diese Veränderungen waren in der Tat sehr eng mit den neuen Mustern der Globalisierung verbunden, die sich zur gleichen Zeit entwickelten und eine zentrale Komponente der neuen kulturellen Rahmen darstellten. Das am stärksten ausgeprägte Charakteristikum der Prozesse gegenwärtiger Globalisierung, verglichen mit den früheren, waren nicht bloß das Ausmaß der globalen Bewegung von unterschiedlichen, insbesondere ökonomischen Ressourcen und die parallele Herausbildung von neuen Formen globalen Kapitals und ökonomischer Formationen, auf die wir uns oben bereits bezogen haben – so wichtig diese natürlich auch waren. Tatsächlich hatten die globalen Ströme insbesondere von ökonomischen Ressourcen, die sich in dieser Zeit entwickelten, nicht unbedingt ein größeres Ausmaß als einige des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Die spezifischen Charakteristika gegenwärtiger Globalisierung waren vielmehr, erstens, die Vorherrschaft neuer Formen des internationalen Kapitalismus, die ältere Formen, welche weitgehend auf ›Fordistischen‹ Annahmen

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basierten, verdrängten. Dies beinhaltete den Übergang von Industrie zu Dienstleistungen, entweder im Bereich der Finanzdienstleistungen oder in der Verwaltung, die Loslösung verschiedener Segmente der Arbeitnehmerschaft – insbesondere jener mit Hochtechnologie und Finanztätigkeiten verbundenen – von bestehenden wirtschaftlichen Organisationen wie zum Beispiel Firmen sowie die wachsende Autonomie und weitgehende Vorherrschaft von ›de-nationalisierten‹, ›de-territorialisierten‹, ›globalen‹ kapitalistischen, insbesondere finanzwirtschaftlichen Kräften. Ein zweites Charakteristikum der Globalisierung kann in Tendenzen zu einer globalen wirtschaftlichen, neo-liberalen Hegemonie gesehen werden, die unter anderem von den großen internationalen Organisationen – der Weltbank, dem IWF und der Welthandelsorganisation – vorangetrieben wurden und vollständig im Washington Consensus verkörpert waren. Zu den Charakteristika gehörten drittens internationale Migrationsprozesse, womit die Loslösung vieler gesellschaftlicher Sektoren von zuvor weitgehend stabilen ökonomischen – wenn auch nicht hoch entwickelten – sowie kulturellen Nischen verbunden war. Gleichzeitig waren kontinuierliche Bewegungen von bisher nicht-hegemonialen, untergeordneten oder peripheren Gesellschaften und gesellschaftlichen Sektoren in die Zentren der jeweiligen nationalen und internationalen Systeme zu beobachten. Dabei wurden sowohl die bestehenden nationalen als auch die transstaatlichen Institutionen häufig umgangen. Viertens war ein kontinuierliches Anwachsen von Diskrepanzen und Ungleichheiten zwischen verschiedenen zentralen und peripheren Sektoren innerhalb von Gesellschaften sowie zwischen diesen zu beobachten. Von besonderer Bedeutung waren in diesem Kontext erstens die Kombination von Diskrepanzen zwischen einerseits den gesellschaftlichen Sektoren, welche in die hegemonialen Finanz- und ›High Tech‹-ökonomischen Strukturen eingebunden waren, und andererseits jenen, die außen vor gelassen wurden. Damit war eine weitreichende Entwurzelung vieler der letztgenannten Sektoren, die unter einer Verschlechterung ihres Lebensstandards zu leiden hatten, eng verbunden. Dadurch wurde akuten Gefühlen von Entwurzelung und Enteignung Vorschub geleistet. Die sichtbarsten unter solch entwurzelten oder enteigneten Gruppen waren nicht unbedingt – und sicher nicht ausschließlich – jene der untersten ökonomischen Stufen, wie etwa arme Bauern oder städtisches ›LumpenProletariat‹ – so wichtig sie in solchen Situationen auch waren. Die hervorstechendsten unter den entwurzelten Sektoren waren vielmehr, erstens,

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Gruppen der mittleren oder unteren Stufen der traditionelleren Sektoren, die zuvor in weitgehend stabile, wenn auch nicht sehr wohlhabende soziale und wirtschaftliche Rahmen oder Nischen und kulturelle Strukturen eingebunden waren und die nun überwiegend auf niedrigere Stufen neuer urbaner Zentren transferiert wurden. Zweitens gehörten hierzu unterschiedliche, höchst mobile, ›moderne‹ gebildete Gruppen wie etwa Fachkräfte, Absolventen moderner Universitäten und dergleichen, denen ein selbstbestimmter Zugang zu den neuen politischen Zentren oder eine Partizipation in diesen Zentren vorenthalten wurde – was in immensem Widerspruch zu den Prämissen derselben stand. Drittens schließlich fielen große soziale Sektoren, die aus der Erwerbstätigkeit ausgeschlossen wurden, unter die entwurzelten Sektoren. Ein wesentliches Moment dieser Entwicklungen bestand in der Tatsache, dass viele der Ungleichheiten und Entwurzelungen, die sich im Zuge der Globalisierungsprozesse sowohl innerhalb verschiedener Staaten als auch zwischen diesen entwickelten, mit religiösen, ethnischen oder kulturellen Spaltungen und mit kontinuierlich zunehmenden wechselseitigen Übergriffen in der Welt – zwischen verschiedenen Gesellschaften, Kulturen, gesellschaftlichen Sektoren ›peripherer‹ Gesellschaften und Sektoren unterschiedlicher Zentren der Globalisierung – zusammenfielen. Diese Konstellationen von Entwurzelungsprozessen und der gleichzeitigen Bewegung von ›peripheren‹ Sektoren oder Gesellschaften in unterschiedliche hegemoniale Zentren wurden insbesondere in der Diaspora unter den religiösen, ethnischen und nationalen virtuellen Gemeinschaften sichtbar, die zu einer überaus wichtigen neuen Komponente im internationalen Geschehen wurden. Sie belegten, um Arjun Appadurais gelungener Formulierung zu folgen, »the power of small numbers« (Appadurai 2006), die einen wichtigen Bestandteil der neuen sozialen Bewegungen darstellte – insbesondere, aber nicht ausschließlich, der verschiedenen Anti-Globalisierungs-Bewegungen.

X. Es sind diese Entwicklungen in den Mustern sozialer Beziehungen, institutioneller Formen und kultureller Kombinationen in grundlegenden Prozessen der politischen Formierung sowie der Ausbildung kollektiver Identitäten im Zuge von Globalisierungsprozessen, welche die elementaren

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Komponenten des neuen globalen kulturellen Rahmens darstellten – eines neuen, die ganze Welt umfassenden Rahmens. Innerhalb dieses Rahmens erzeugten diese Entwicklungen große lokale Variationen, die jedoch alle in gewisser Weise durch die neuen Formationen geprägt waren, welche in der klassischen Kultur der Moderne wurzelten, aber weit darüber hinausgingen, da sie die Herausbildung neuer interkultureller Orientierungen und neue Muster interkultureller Beziehungen beinhalteten. Diese Veränderungen waren mit der Herausbildung der bedeutenden religiösen Konstellationen, die oben analysiert wurden, nicht nur verbunden, sondern in der Tat aufs Engste mit ihnen verwoben, insbesondere mit der ›Rückkehr‹ der Religion in die nationalen und internationalen Öffentlichkeiten, die in gewisser Weise jene Veränderungen verkörperte. Eine der wichtigsten Manifestationen solch einer engen Verflechtung der neuen religiösen Konstellationen mit den aufkommenden kulturellen Rahmenwerken war die Entwicklung neuer Formen von Protestbewegungen in der ganzen Welt, von denen Anti-Globalisierungs-Bewegungen, die sich in dieser Zeit bildeten, ein wichtiger Bestandteil waren. Diese Bewegungen waren mit weitreichenden Transformationen von Protestbewegungen und Protestideologien, die sich seit den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in der ganzen Welt entwickelt haben, aufs Engste verknüpft.

XI. Eine der bedeutendsten Manifestationen des neuen kulturellen Rahmens, der sich im Zuge all dieser Prozesse, die oben untersucht wurden, entwickelte, war die enge Verflechtung der zahlreichen neuen religiösen Konstellationen mit den neuen Formen von Orientierungen und Protestbewegungen, die sich seit den späten 60er Jahren des 20. Jahrhunderts herausgebildet haben. Protestbewegungen mit potenziell revolutionären Visionen stellten zwar weiterhin wichtige Komponenten der sozialen und politischen Landschaften dar, aber ihre Strukturen sowie ihre visionären Ziele wurden durch die Globalisierungsprozesse kontinuierlich bestärkt und radikal transformiert. Bewegungen und Symbole des Protests spielten in der Tat weiterhin eine sehr wichtige, zentrale Rolle in den politischen und kulturellen Arenen – wie es auch während der Herausbildung und Entwicklung der modernen Staaten der Fall war. Die wichtigsten unter diesen Bewe-

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gungen waren die neuen Studenten- und Anti-(Vietnam-)Bewegungen der späten 1960er Jahre – die berühmten ›Bewegungen von 1968‹, die sich in immens transformierter Form in der großen Vielfalt an Bewegungen, die sich seitdem entwickelt haben, fortsetzten. Diese Bewegungen und Orientierungen gingen über das ›klassische‹ Modell des Nationalstaats und die ›klassischen‹ liberalen, nationalen und sozialistischen Bewegungen hinaus und entwickelten sich in zwei große, scheinbar gegensätzliche, aber tatsächlich häufig überlappende oder sich überschneidende Richtungen. Einerseits entstanden verschiedene ›post-moderne‹, ›post-materialistische‹ Bewegungen, wie beispielsweise die Frauen-, die Umwelt- und die Anti-Globalisierungs-Bewegungen, und andererseits viele äußerst ideologische, oft durchsetzungsfähige und aggressive, partikularistisch-lokale, regionale, ethnisch-kulturelle autonome Bewegungen sowie verschiedene religiös-fundamentalistische und religiös-gemeinschaftliche, die unterschiedliche Identitäts-Konzeptionen verbreiteten und sich vor allem, aber nicht ausschließlich, in verschiedenen von den Globalisierungsprozessen ausgeschlossenen Sektoren entfalteten und überaus bedeutend wurden. Die Themen, für die diese Bewegungen öffentlich eintraten, wurden häufig als Vorboten der weitreichenden Veränderungen in der gegenwärtigen kulturellen und institutionellen Landschaft bzw. möglicherweise auch einer Erschöpfung des gesamten Programms der Moderne wahrgenommen. Sie führten sowohl in innerstaatlichen als auch in internationalen Arenen zu weitreichenden Transformationen der Orientierungen und Themen des Protests sowie des revolutionären Imaginären, welche für die Entwicklung der modernen sozialen Ordnung und vor allem für die Entwicklung der modernen und revolutionären Staaten konstitutiv waren (Mann 1997). Der gemeinsame Kern der spezifischen Charakteristika dieser neuen Bewegungen – und dies belegt ihre Differenz zu den ›klassischen‹ Bewegungen – bestand erstens in einem Transfer des zentralen Fokus von Protestorientierungen: weg von den Zentren der Nationalstaaten und revolutionären Staaten sowie der Konstitution ›nationaler‹ und revolutionärer Kollektive als der charismatische Träger der Vision der Moderne hin zu verschiedenen, breit gefächerten Arenen, von denen die nunmehr transformierten Nationalstaaten lediglich noch eine unter anderen darstellten. Zweitens bestand der gemeinsame Kern in einer gleichzeitigen Schwächung des ›klassischen‹ revolutionären Imaginären als Hauptkomponente des Protests und drittens in der Entwicklung neuer institutioneller Struk-

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turen, in denen diese Möglichkeiten praktiziert wurden. Viertens schließlich ist die Herausbildung von neuen Visionen interkultureller Beziehungen als eine solche Kernkomponente zu nennen. Im Gegensatz zu den grundlegenden Orientierungen der früheren, ›klassischen‹ Bewegungen, die vor allem die Konstitution und mögliche Transformationen der sozio-politischen Zentren, der Zentren der Nation oder des Staates oder der Grenzen von bedeutenden Makro-Kollektiven fokussierten, orientierten sich die neuen Protestbewegungen an etwas, das als die Ausweitung der systematischen Reichweite von sozialem Leben und sozialer Partizipation definiert wurde. Diese hat sich in Forderungen nach vermehrter Partizipation bei der Arbeit, in verschiedenen kommunalen Kontexten, in Bürgerbewegungen und dergleichen manifestiert. Die grundlegende Manifestation einer Veränderung in diesen Orientierungen war vielleicht die Verschiebung von der Betonung einer Steigerung des Lebensstandards, welche als Verkörperung des kontinuierlichen, technologisch-ökonomischen Fortschritts so charakteristisch für die 1950er Jahre war, zu einer Betonung von ›Lebensqualität‹ – eine Transformation, die in den 1970er Jahren als eine von materialistischen zu post-materialistischen Werten bezeichnet wurde. Um es in den Worten von Habermas (1981: 33) zu sagen: Diese Bewegungen verschoben ihren Fokus von Verteilungsproblemen auf die »Strukturen der Lebenswelt«. Ein zentraler Aspekt dieser Bewegungen – insbesondere jener, die in von Globalisierungsprozessen ausgeschlossenen Sektoren entstanden – war die wachsende Bedeutung der Identitätspolitik, d.h. der Konstitution neuer religiöser, ethnischer und lokaler Kollektive, die für enge, partikulare Themen häufig unter Bezug auf eine exklusive kulturelle Identität öffentlich eintraten und diese auf äußerst aggressive Weise formulierten. Eng mit diesen Prozessen verbunden war die Transformation der utopischen, insbesondere der transzendenten Orientierungen, und zwar sowohl der totalitär ›jakobinischen‹ utopischen Orientierungen, die für viele der revolutionären Bewegungen charakteristisch waren, als auch der eher statischen utopischen Vorstellungen, die eine Flucht aus verschiedenen Zwängen und Spannungen der modernen Gesellschaft verkündeten. Der Fokus der transzendenten utopischen Orientierungen verlagerte sich von den Zentren des Nationalstaates und umfassenden politisch-nationalen Kollektiven auf stärker heterogene oder zerstreute Arenen, auf verschiedene ›authentische‹ Formen von Lebenswelten – und dies häufig in unterschiedliche ›multikulturelle‹ und ›post-moderne‹ Richtungen.

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In dem Diskurs, der diese Entwicklungen begleitete, bildete sich – vor allem im Westen, aber sehr schnell auch darüber hinaus – eine starke Betonung des Multikulturalismus als einer möglichen Ergänzung oder als eines Ersatzes für die Hegemonie des homogenen modernen Nationalstaat-Modells heraus, der letzteres möglicherweise sogar verdrängen könnte.

XII. Unter dem Gesichtspunkt kultureller Orientierungen stechen die wesentlichen Unterschiede zwischen den großen ›klassischen‹ nationalen und religiösen, insbesondere den reformerischen Bewegungen, auf der einen und den neuen gemeinschaftlichen, religiösen, vor allem den fundamentalistischen Bewegungen, auf der anderen Seite – von denen alle eng mit der Konstitution der neuen virtuellen Gemeinschaften verbunden waren – in erster Linie hinsichtlich ihrer Haltung zu den Prämissen des kulturellen und politischen Programms der Moderne und des Westens hervor. Diese Entwicklungen ließen weitreichende Veränderungen der früheren reformerischen und religiösen Bewegungen erkennen, die sich seit dem 19. Jahrhundert in nichtwestlichen Gesellschaften entwickelt haben. Die Konfrontation der zeitgenössischen Anti-Globalisierungs-Bewegungen mit dem Westen ist nicht dergestalt, dass diese danach streben würden, nach den bestehenden Maßstäben in die moderne hegemoniale Kultur integriert zu werden, sondern besteht vielmehr darin, dass die Bewegungen sich das neue internationale, globale Geschehen und die Moderne selbst aneignen, und zwar gemäß ihrer eigenen, ihren Traditionen folgenden Bedingungen. Die neuen Bewegungen streben danach, das Programm der Moderne nach den Maßgaben ihrer eigenen kulturellen Prämissen gleichsam zu übernehmen, welche – ihrem Verständnis zufolge – in den fundamentalen, in der Tat stark reformulierten Bildern und Symbolen kultureller und religiöser Identität wurzeln, die sie sehr oft als die universalistischen Prämissen ihrer jeweiligen Religionen oder Kulturen definiert haben. Sie verfolgen das Ziel, die Weltbühne nach diesen Bedingungen zu transformieren. Sie sind Teil einer Reihe viel umfangreicherer Entwicklungen, die sich überall in der Welt vollziehen – in muslimischen, indischen und buddhis-

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tischen Gesellschaften – und setzen scheinbar die Konflikte zwischen verschiedenen früheren reformerischen und traditionell religiösen Bewegungen, die sich in der nichtwestlichen Welt entwickelt haben, fort, wenn auch auf merklich andere Weise. Diese Bewegungen zeigen tatsächlich eine deutlich konfrontative Haltung gegenüber dem Westen – bzw. gegenüber dem, was als Westen wahrgenommen wird – und versuchen, sich die Moderne und das globale System nach ihrem eigenen, nichtwestlichen und häufig anti-westlichen Verständnis anzueignen. Diese hoch konfrontative Haltung gegenüber dem Westen bzw. dem, was als Westen wahrgenommen wird, ist in diesen Bewegungen eng verbunden mit Bestrebungen, die Moderne auf radikale Weise von Verwestlichung zu entkoppeln und dem Westen das Moderne-Monopol zu entreißen. Sie versuchen, sich das zeitgenössische Geschehen, die gegenwärtige Moderne nach den Maßgaben von Vorstellungen anzueignen, die in ihren eigenen Traditionen verwurzelt sind. Zur gleichen Zeit werden die in diesen Traditionen gründenden Perspektiven jedoch unter dem Einfluss ›moderner‹ Programme kontinuierlich rekonstituiert und in Begriffen des Moderne-Diskurses formuliert, ja sogar – was paradox genug erscheint – verstärkt. In der Tat ähneln diese Diskurse und die sie umgebenden Diskussionen in vielerlei Hinsicht dem Diskurs der Moderne, wie er sich von Anfang an in den europäischen Zentren der Moderne entwickelte, die ja gerade weitreichende Kritiken des vorherrschenden Aufklärungsprogramms der Moderne samt seiner Spannungen und Widersprüchlichkeiten einschlossen. So ähneln beispielsweise viele Kritiken am Projekt der Aufklärung, wie sie von Qutub, dem vielleicht berühmtesten fundamentalistischen Theologen, formuliert wurden, in vielerlei Hinsicht stark den großen religiösen und ›säkularen‹ Kritiken der Aufklärung seit ihren frühen Anfängen und sind häufig auch mit diesen verbunden. Hierzu zählen etwa de Maistre, die Romantiker und viele der populistischen Kritiker (Slavophile und dergleichen) in Zentral- und Osteuropa, vor allem, wenn auch nicht ausschließlich, in Russland. Des Weiteren sind hier generell jene zu nennen, die – um es mit Charles Taylors Worten (Taylor 2007) zu sagen – die expressive Dimension menschlicher Erfahrung betont haben. Von dort aus erstreckt sich die Kritik natürlich über Nietzsche weiter bis zu Heidegger. Oder anders ausgedrückt: Diese unterschiedlichen anti-globalen und anti-westlichen Bewegungen und Ideologien bestärken auf ihre eigene Art und Weise die grundlegenden Spannungen und Widersprüchlichkeiten der Moderne, was – auf vielleicht

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paradoxe Weise – bestätigt, dass sie Komponenten eines neuen gemeinsamen globalen, kulturellen Rahmens darstellen, der zwar im Programm der Moderne wurzelt, aber dieses auch überschreitet. Eine weitere überaus wichtige Komponente des gegenwärtigen religiösen Geschehens, welche die Tatsache belegt, dass verschiedene Religionen jetzt in einem gemeinsamen kulturellen Umfeld handeln, sind die Veränderungen in den Beziehungen zwischen den unterschiedlichen – insbesondere den ›großen‹ – Religionen. Konkurrenz und Kämpfe zwischen Religionen nahmen häufig grausame Formen an, dennoch bildeten sich gleichzeitig starke Tendenzen einer Entwicklung hin zu gemeinsamen, wechselseitig ermutigenden interreligiösen Treffen und Begegnungen heraus, die ihre Beziehungen zu einigen der Prämissen des neuen kulturellen Rahmens sowie die Möglichkeit einer Kooperation zwischen ihnen fokussierten.

XIII. Die Analyse der Entwicklungen in den religiösen Arenen, die oben ausgeführt wurde, legt nahe, dass diese nicht nur wichtige Veränderungen in verschiedenen Aspekten oder Dimensionen von religiösem Handeln, religiösen Praktiken, Glauben und Organisationen darstellen. Sie sind auch eine überaus bedeutsame Komponente einer weitreichenden Transformation von kulturellen Rahmen und Prämissen sowie des Ortes von Religion innerhalb dieser Rahmen, die weit über jene Dynamiken hinausreicht, die sich in der klassischen Achsenzeit und der Frühmoderne entwickelt haben. Übersetzung aus dem Englischen: Manon Westphal

L ITER ATUR Appadurai, Arjun. 2006. Fear of Small Numbers: An Essay on the Geography of Anger. Durham. Davie, Grace. 1994. Religion in Britain since 1945. Believing without Belonging. Oxford; Cambridge. Habermas, Jürgen. 1981. New Social Movements. Telos 49: 33-37.

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Vor gut zehn Jahren wurde in der Zeitschrift Current Anthropology eine Kontroverse darüber ausgetragen, ob, und wenn ja, wie sich Ethnologen an der Untersuchung von Modernität beteiligen sollen. Zwei kürzlich in Manchester promovierte Ethnologen, Harri Englund und James Leach, stellten die provozierende These auf, dass die ethnologische Beschäftigung mit »multiple modernities« die für das Fach spezifische Produktion ethnografischen Wissens durch ein »Meta-Narrativ« der Moderne ersetzt habe (Englund/Leach 2000). Sie sahen davon die »Einzigartigkeit« der Einsichten bedroht, die reflexive ethnografische Langzeitforschung in einer kulturell fremden Welt ermögliche. Auf Basis ihrer Feldforschungen in Neu Guinea und Malawi bestimmten sie die Besonderheit der ethnografischen Methode damit, dass sie den Erforschten die Autorität zugestehe, den Kontext ihrer Glaubensüberzeugungen und Praktiken in ihren eigenen Termini zu beschreiben und damit selbst zu definieren. Wenn aber ethnografische Realitäten mit Begriffen aus der Soziologie wie Individualisierung oder Entzauberung der Welt beschrieben werden, behaupteten Englund und Leach, dann hat man den Erforschten diese Autorität genommen. Im Diskussionsteil der Zeitschrift nahmen zahlreiche Ethnologinnen Stellung zu Englund und Leach und wiesen vor allem darauf hin, dass Modernität eine Angelegenheit ist, die Menschen überall in der Welt bewegt. Joel S. Kahn lieferte in einer Entgegnung unter dem Titel Anthropology and Modernity zudem die Begründung dafür, warum Ethnologen heutzutage dazu gezwungen seien, sich mit Modernität und Sozialtheorie auseinanderzusetzen (Kahn 2001). Da die Wirkungen von Kommodifizierung, Bürokratisierung und Rationalisierung im Zeitalter der Globalisierung in den entferntesten Winkeln der Welt spürbar sind und die ethnografische

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Forschung tangieren, argumentierte Kahn, bedürfe es eines neuen Verständnisses des ethnologischen Projekts: »no longer as an anthropology of premodernity but as an anthropology of modernity« (Kahn 2001: 654). Die innerhalb der Ethnologie geführte Kontroverse um den Gegenstand des Faches brachte ein altes Problem auf die Tagesordnung, das man längst überwunden glaubte: die Frage nach der Positionierung der Ethnologie gegenüber soziologischen Theorien der Modernisierung. Englund und Leach begründeten ihre Kritik an der ethnologischen Beschäftigung mit der Moderne durch den aus der Modernisierungstheorie bekannten Gegensatz zwischen westlicher Moderne und traditionellen, nichtwestlichen Kulturen. Die Modernisierungstheorie hatte Kahn jedoch nicht gemeint, als er die Sozialtheorie ins Feld führte: »In Anglophone social science in particular, the term [to modernize] derives much of its meaning from a source that has come to be widely despised by anthropologists – modernization theory« (Kahn 2001: 657).

Im Zusammenhang mit der gegenwärtigen »interdisziplinären Wende« in der deutschen akademischen Landschaft gibt es aber Bestrebungen, die scheinbar zu Unrecht ins Abseits geratene Modernisierungstheorie zu rehabilitieren bzw. sie zurück ins Zentrum sozialtheoretischer Debatten zu holen. Damit sind auch Ethnologinnen gefordert, sich mit neuem Blick der Verankerung des Faches in den Sozialwissenschaften zuzuwenden. Ich werde daher in diesem Aufsatz von einer der Fragestellungen ausgehen, die in der interdisziplinären Zusammenarbeit Anlass zu intensiven Diskussionen bot und die auch diesen Band leitet:1 ob Moderne durch strikte Abgrenzung von Tradition, durch Verbindungen von traditionellen und modernen Elementen oder durch Konstruktionen ihres Nebeneinanders wahrgenommen wird. Im Folgenden werde ich zeigen, dass Ähnlichkeiten und Unterschiede in der Konstitution von Modernität daraus erwachsen, dass sie mit Konstruktionen von Tradition und Geschichte einhergehen. Modernität bedeutet somit die Identifikation bzw. Aneignung von soziokulturellen Traditionen, die selbst schon Resultat von Modernisierungsprozessen sind. Da diese Prozesse kulturell und lokal unterschiedlich 1 | An dieser Stelle möchte ich den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der AG »Multiple Modernities« des Exzellenzclusters »Religion und Politik« in Münster für die vielen anregenden Diskussionen danken.

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konfiguriert sind, manifestiert sich Modernität auf vielfältige Weise. Die Ethnologie untersucht genau solche Konfigurationen und wird deshalb mit einer Pluralität von Modernität konfrontiert (z.B. Comaroff/Comaroff 1998; Geschiere 1997). Ein Beispiel für diese unterschiedliche Konfiguration von Modernität ist die unterschiedliche Wahrnehmung von Religion in der Gegenwart, deren Beschreibungen je nach Standort wechseln. Während in Europa die ›Wiederkehr der Religionen‹ diskutiert wurde, sah man sich in Indien mit einer ›Krise des Säkularismus‹ konfrontiert. Die unterschiedlichen Betonungen machen deutlich, dass man sich in ein und demselben Diskursuniversum befindet: dem der Moderne. Sie zeigen aber auch, dass die Wahrnehmung des zentralen Problems – der Beziehung zwischen Religion und Staat bzw. Politik – mit dem Standort wechselt, von dem aus man es betrachtet. In Europa nahm man die sichtbarer werdende Präsenz des Islams und seiner fundamentalistischen Erscheinungsformen zunehmend als Bedrohung wahr, während in Indien der Aufstieg des Hindu-Nationalismus Anlass zur Sorge gab. Dieser bezieht sich zwar auch mit einer Rhetorik der Bedrohung auf Muslime, betrachtet außerdem aber ›indische Säkularisten‹ als zu bekämpfende Gegner. Die Erklärungen, die man in Europa und Indien für die jeweils konstatierte Krise findet, ähneln und unterscheiden sich zugleich voneinander. In Europa neigen manche Wissenschaftler dazu, im Islam eine traditionsverhaftete Religion zu sehen, die die entscheidenden Entwicklungen Europas, die historische Trennung von Staat und Kirche und die Aufklärung, nicht mitgemacht hat bzw. sich diesem vernünftigen Fortschritt nachhaltig verweigert. In Indien sehen manche Wissenschaftler dagegen im Säkularismus die Ideologie einer Minderheit, die ihren Willen (mehr oder weniger erfolglos) einer Mehrheit aufzuzwingen sucht und damit maßgeblich zur Schaffung fundamentalistischer religiöser (hinduistischer und islamischer) Identitäten beiträgt. Im ersten Fall wird Traditionalität als Ursache angeführt, im zweiten Fall Modernisierung. Diese unterschiedlichen Erklärungsmuster resultieren nicht nur aus diversen Geschichten des Modernwerdens, sondern sie verweisen auch auf divergierende Erfahrungen von Modernität in der Gegenwart. Warum aber »verschmähen« (Kahn) Ethnologinnen und Ethnologen gerade die Modernisierungstheorie? Dieser Beitrag versteht sich als eine Archäologie des ethnologischen Diskurses ihrer Alternative: »multiplen«, »parallelen«, »alternativen« oder »verwobenen« Modernitäten, die im Zeichen der Dezentrierung eurozentrischer Konzepte von Modernisierung

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und Moderne stehen.2 Anders als manchmal angenommen, handelt es sich dabei nicht um moralische Argumente, sondern um ein Paradigma, das aus der kritischen Selbstbetrachtung des Faches hervorgegangen ist. Die Auseinandersetzung mit den Kategorien, Werten sowie den wissenschaftlichen und politischen Praktiken der Moderne ist der Geschichte der Ethnologie seit ihren Anfängen als eigenständige wissenschaftliche Disziplin eingeschrieben.3 Ich werde hier der Frage nachgehen, auf welchen fachgeschichtlichen Grundlagen die Ethnologie dazu kommt, von Modernität im Plural zu sprechen. Dabei muss daran erinnert werden, dass es nicht zu den Aufgaben der Ethnologie gehört, alternative Meistererzählungen von Gesellschaft zu entwerfen. Vielmehr geht es ihr um die Theoretisierung ihrer Befunde. Diese sind mit einem Paradox behaftet: Einerseits definiert die Ethnologie ihren Gegenstand in Kontrast zur modernen euro-amerikanischen Gesellschaft – im Laufe der Geschichte verschiedentlich als »primitive«, »schriftlose«, »traditionelle«, »nicht-moderne« oder »nichtwestliche« Gesellschaften oder Kulturen bezeichnet –, andererseits haben ihre Befunde die Prämissen dieser Oppositionen regelmäßig in Frage gestellt. Mit Eisenstadt teilen Ethnologinnen zwar die Kritik an einem singulären Konzept der Moderne (Eisenstadt 2000; Eisenstadt 2006), aber sie wollen nicht die multiplen Ursprünge der Moderne in verschiedenen Zivilisationen finden. Vielmehr entspringt ihr Verständnis der Vervielfältigung von Modernität einem spezifischen Traditionsbezug. Die Ethnologie studiert Traditionen immer in der Gegenwart, in welcher Vergangenheit als Erinnerung, Konstruktion oder Erfindung aufscheint, und zwar nicht nur in Vorstellungen, sondern vor allem in Praxisformen. Ob die Moderne ursprünglich in Europa entstanden ist oder nicht, ist nicht Gegenstand der Ethnologie. Für sie stellt vielmehr der Traditionsbegriff das Problem dar. Er erscheint in der Soziologie, speziell in ihrer modernisierungstheoretischen Variante, als essenzialisiertes Konstrukt, von dem Modernität abgegrenzt 2 | Viele Ethnologinnen halten es mit einem Perspektivismus im Sinne Nietzsches und betrachten Moderne nicht als objektiv bestimmbare Wesenheit mit spezifischen, inhärenten Merkmalen (Nietzsche 2007), sondern als fluide, in allen Winkeln der Welt zirkulierende ökonomische, politische usw. diskursive Praxisformen (z.B. Appadurai 1996; Inda 2005). 3 | Meine Verwendung des Begriffs ›Ethnologie‹ schließt die Sozial- und Kulturanthropologie ein, die aus unterschiedlichen nationalen Traditionen hervorgegangen sind (vgl. Barth u.a. 2005).

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wird. Damit stellt sich das Problem nach der theoretischen Perspektive, aus der sich Ethnologen ihrem Gegenstand nähern. Wenn die Ethnologie heute ihren Gegenstand in multiplen Modernitäten findet, dann ist darin vor allem eine Kritik an dichotomisierenden Konstruktionen von Tradition und Moderne impliziert, wie sie etwa Bruno Latour formuliert (Latour 2008). Die ethnologische Verwendung von »multiple modernities« erhält ihre Bedeutung aus der Kritik an fundamentalen modernen Dichotomien wie sie in den Trennungen von Natur und Sozialität, Subjektivität und Objektivität, Körper und Geist sowie ›Modernen‹ und ›Traditionellen‹ zum Ausdruck kommt. Davon ausgehend versteht die Ethnologie das Konzept der »multiple modernities« als multiplen Umgang von Gesellschaften mit ihrer Vergangenheit in der Gegenwart – wobei die europäische Vergangenheit weder als Maßstab noch als Gegensatz behandelt wird. An dieser Stelle geht es mir um den Weg, auf dem die Ethnologie von der ›primitiven‹ über die ›traditionelle‹ zur vielfältig modernen Gesellschaft gelangt ist. Im 19. Jahrhundert und damit am Anfang der Wissenschaft der Ethnologie stand der Gegensatz von ›zivilisierten‹ und ›primitiven‹ Gesellschaften, den ich speziell in Bezug auf die viktorianisch-evolutionistische Konstruktion von Religion in einem ersten Schritt behandeln werde. Wie dieses Modell durch Techniken des Regierens von der britischen Kolonialmacht in Indien praktisch umgesetzt wurde, ist Thema des zweiten Abschnitts. Der Gegensatz ›zivilisiert-primitiv‹ wurde Mitte des 20. Jahrhunderts von ›traditionell-modern‹ abgelöst. Der dritte Abschnitt befasst sich mit der Modernisierungstheorie der 1950er und 1960er Jahre und den Beiträgen von Ethnologen, speziell von Clifford Geertz. Daran schließt sich im vierten Abschnitt die Behandlung des Gegensatzes ›traditionell-modern‹ durch indische Ethnologen und Soziologen an. Sie haben Übersetzungen und eine Verlagerung der Perspektive vorgenommen, die nicht mehr Moderne als Ideal, sondern Tradition als wandel- und formbar in den Mittelpunkt rückt. Damit hat man die wesentlichen theoretischen Fragestellungen und Begründungen für die ethnologische Konzeption von pluralen Modernitäten beisammen: ›Traditionen‹ oder ›traditionelle Kulturen‹ stehen nicht in Opposition zur Moderne, sondern werden in Prozessen der Modernisierung produziert. Sie führen zu regionalen Konfigurationen von Modernität, die mit dem westlichen Muster teils konvergieren und teils divergieren. Dies zeigt sich z.B. im gegenwärtigen Indien.

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1. P RIMITIVE G ESELLSCHAF T UND R ELIGION Die Ausdifferenzierung der Sozialwissenschaften im 19. Jahrhundert führte zur Trennung von Soziologie und Ethnologie als eigenständigen Wissenschaften: die Soziologie bestimmte sich durch ihren Gegenstand der modernen Gesellschaft, die Ethnologie durch ihre Antithese, die in jener Zeit als »primitive Gesellschaft« definiert wurde. Auch heute noch aber berufen sich beide Disziplinen am Beginn ihrer Gabelung auf mindestens einen gemeinsamen Ahnen: Émile Durkheim. In der Soziologie zählt Durkheim als Begründer einer funktionalistischen Theorie der Entwicklung von »mechanischen« zu »organischen« (modernen) Gesellschaften neben Tönnies, Weber und Simmel zu den Klassikern der Theorie der Moderne (Durkheim [1893] 1988). In der Ethnologie gilt Durkheim, neben Tylor, Frazer und Boas, wegen seiner vergleichenden Methode, die das menschliche Denken und seine Kategorien im Sozialen verankert, als Klassiker der Kulturtheorie (Durkheim [1912] 1983; Durkheim/Mauss [1909] 1969). Trotz unterschiedlicher Schwerpunktsetzungen in den theoretischen Modellen der soziologischen und ethnologischen Klassiker teilten sie (mit Ausnahme von Franz Boas) die wissenschaftliche Weltanschauung ihrer Zeit. Im 19. Jahrhundert, als die Menschen in Europa ihre Gesellschaft von raschem Wandel und stetigem Fortschritt durch Urbanisierung, Industrialisierung und technische Erfindungen erfasst erlebten, als England zur führenden Kolonialmacht aufgestiegen, die Religion ihre Macht verloren hatte und ein säkulares Zeitalter angebrochen war, entwickelte sich gleichzeitig ein wachsendes Interesse an ›primitiver‹ Gesellschaft und Religion. Die ›primitive Gesellschaft‹ wurde zum Gegenstand einer eigenen Wissenschaft – der Anthropology.4 1859 war Darwin’s Origin of the Species erschienen und der Evolutionismus war die Theorie der Zeit. Im Gegensatz zu Darwins Beschreibung der biologischen Evolution der Arten aber, 4 | 1896 übernahm Edward B. Tylor den ersten Lehrstuhl für Anthropologie an der Universität von Oxford. Bis dahin hatte das Studium der »primitiven Gesellschaft« als Zweig der Rechtswissenschaften gegolten. Die führenden Wissenschaftler der primitiven Gesellschaft jener Zeit, Johann Jakob Bachofen in der Schweiz, Henry Maine und Sir John Lubbock in England sowie Lewis Henry Morgan in den USA waren Juristen und gründeten ihre Modelle der menschlichen Gesellschafts- und Kulturentwicklung auf evolutionistische Ideen.

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die keinen Plan und keine vorgegebene Richtung und somit auch keinen Fortschritt kannte, konstruierten Edward B. Tylor und andere Theoretiker der sozio-kulturellen Evolution einen unilinearen, stufenförmigen Entwicklungsgang (Tylor [1871] 2002; Tylor [1871] 1903). Diesen sollten alle menschlichen Gesellschaften irgendwann durchlaufen. Den Höhepunkt, so glaubte man, hätten die europäischen Zivilisationen im 19. Jahrhundert bereits erreicht (Kuper 1988: 2-5). Ein zuerst von Adam Ferguson entwickeltes Dreistufenmodell – Wildheit, Barbarei, Zivilisation – fand weithin Eingang in evolutionistische Theorien der Entwicklung menschlicher Gesellschaften und Kulturen (z.B. Morgan 1877). Im 19. und frühen 20. Jahrhundert teilten Ethnologen und Soziologen ein starkes Interesse an der Frage nach Ursprüngen – von Staat, Familie, Religion (und später bei Weber: nach dem Ursprung des Kapitalismus). Damit bildeten jene Institutionen den Fokus des Interesses, die in den europäischen Gesellschaften jener Zeit im Zeichen radikaler Veränderungen standen: Der Staat war jetzt ein Nationalstaat, die Familie war monogam, religiöse Weltbilder waren von der Wissenschaft abgelöst und die Religion zu einer Privatangelegenheit geworden. Diese Transformationen galten entsprechend dem unilinearen, stufenförmigen Modell einer fortschreitenden Entwicklung als Beweis dafür, dass europäische Nationen, besonders aber England und Frankreich, die höchste Stufe der Zivilisation bereits erreicht hatten. Von anderen Gesellschaften nahm man an, dass sie diese Entwicklung entweder gerade auf einer niedrigeren Stufe nachvollzogen oder zukünftig durchlaufen würden (Kuper 1988: 2-5). So diente die Rekonstruktion der ›primitiven Gesellschaft‹, zu diesem Schluss kam der britische Sozialanthropologe Adam Kuper und mit ihm viele andere Ethnologen, als Zerrspiegel, in dem die Moderne ihre Antithese erblickte (Kuper 1988: 5): Die primitive Gesellschaft kannte keine politische Ordnung und keinen Staat unabhängig von Verwandtschaft (»Herrschaft der Blutsbande«) (Maine 1871; Morgan 1877), sie war sexuell promisk und polygam (Lubbock 1870), und das Denken der Primitiven war animistisch, fetischistisch, magisch (Frazer 1890; Tylor [1871] 1903). Edward B. Tylor zufolge führte die Entwicklung der Religion vom Animismus, der primitivsten Stufe, über Polytheismus zum Monotheismus (Tylor [1871] 2002; Tylor [1871] 1903). Unter Animismus verstand Tylor einen doppelten Glauben, den an Geister und an die Seele, die nach dem Tod als Geist fortlebt. Mit dem Begriff des »Überbleibsels« (survival) erklärte Tylor sowohl die Kontinuität des Geisterglaubens in polytheistischen

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und monotheistischen Religionen als auch die Konzeption Gottes, in der er das Fortleben primitiver Unwissenheit in der Gegenwart erblickte (s. auch Strenski 2006: 99). Obgleich Tylor den Animismus – wie jede Religion – als Phantasma betrachtete, so hielt er ihn gleichwohl nicht für irrational, sondern billigte ihm seine eigene rationale Logik zu (vgl. Evans-Pritchard [1950] 1968): 48; 60). Auch die Magie, eng verwandt mit dem Animismus, enthält rationale Elemente, da sie auf der Beobachtung der Natur beruht. Nur die Schlussfolgerungen, zu der sie führen, sind falsch. Sir James Frazer, Tylors Schüler, baute diesen Gedanken weiter aus. Sein Interesse galt der Entwicklung des menschlichen Denkens bzw. der menschlichen Intelligenz vom »primitiven Stadium der Wildheit« bis zur »Zivilisation«. Anstelle des Animismus betrachtete er die Magie als »Vorläufer« der Religion. »Primitive Völker«, behauptete Frazer, könnten im Gegensatz zu den »fortschrittlichen« noch nicht zwischen dem Natürlichen und dem Übernatürlichen unterscheiden. Frazer sah in der Magie die primitivste Form des Denkens, damit aber auch eher eine Vorstufe zur Wissenschaft als zur Religion. Denn Magie und Wissenschaft ist gemeinsam, dass sie die Natur als von mechanischen Wirkkräften gesteuert begreifen. Auch wenn die Magie auf irrtümlichen Schlussfolgerungen beruht, während die Wissenschaft wahre Erkenntnisse liefert, unterscheiden sich beide dennoch prinzipiell von Religion, die die Natur als abhängig vom Willen eines höheren Wesens (Gott) setzt. In Frazers Modell beinhaltet das Stadium »Religion« eine Zwischenstufe in der Entwicklung des menschlichen Denkens – vom primitiven zum modernen bzw. wissenschaftlichen Denken. Denn auf der höchsten Stufe der europäischen Zivilisation erkennen intelligente Denker (wie die Philosophen der Aufklärung), dass auch die von der Religion bereit gestellten Erklärungen der Natur falsch sind. Auch Durkheim dachte evolutionistisch, jedoch sah er nicht nur fundamentale Differenzen, sondern auch Gemeinsamkeiten zwischen modernen und archaischen Gesellschaften. Anders als Tylor und Frazer betrachtete Durkheim Religion prinzipiell – ob archaisch oder monotheistisch (d.h. christlich) – als von sozialen Kategorien konstituiert, in denen sich die Gesellschaft selbst zum Ausdruck bringt (Durkheim [1912] 1983). Der Ursprung der Gesellschaft, des menschlichen Denkens und der Religion sind daher nicht voneinander zu trennen. Durkheim entwarf auch eine andere Theorie der Magie, indem er Magie und Religion als verschiedene Modi rituellen Handelns auffasste. Religion bedarf »positiver« Riten, die

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auf die Kontinuität, Stabilität und das Gleichgewicht der ganzen Gesellschaft (des Kollektivs) gerichtet sind, Magie operiert mit »negativen« Riten, die das Begehren des Einzelnen befriedigen und meistens im Geheimen und mit Geheimwissen ausgeführt werden (Durkheim 1983: 399-404; vgl. auch Mauss [1902/03] 1974). Nicht Magie, sondern Religion verfolgt nach Durkheim dieselben Ziele wie die Wissenschaft: Beide produzieren Klassifizierungen und Systematisierungen. Daher ist für Durkheim »das wissenschaftliche Denken […] nur eine vollkommenere Form des religiösen Denkens« (1983: 574). In der modernen Gesellschaft aber tritt das religiöse gänzlich hinter das wissenschaftliche Denken zurück – und ein »Kult des Individuums« tritt an die Stelle kollektiver Religiosität. Viele Annahmen über primitive Gesellschaft und Religion, auf denen evolutionistische Modelle basierten, wurden von Ethnologen im 20. Jahrhundert als falsch zurückgewiesen oder mindestens relativiert.5 Eine zentrale Rolle spielten dabei die Methoden der Feldforschung und der Teilnehmenden Beobachtung (Boas 1966; Malinowski 1979). Evolutionistische Theoretiker hatten (mit Ausnahme von Morgan in den USA) keine eigenen Forschungen in den sogenannten primitiven Kulturen durchgeführt, sondern verließen sich auf Reiseberichte und Beschreibungen von Missionaren. Der ethnografische Fundus ihrer Zeit war daher begrenzt. Als Ethnologen damit begannen, die sogenannten primitiven Kulturen systematisch und mit einer eigenen Methode zu erforschen, stellte sich schnell heraus, dass die Konstrukte der Evolutionisten auf reinen Vermutungen beruhten. Der britische Sozialanthropologe Evans-Pritchard kritisierte die Modelle der Evolutionisten als conjectural history und bezeichnete sie ironisch als »Wenn-ich-ein-Pferd-wäre-Spekulationen« (Evans-Pritchard [1950] 1968: 58). Er sah die Aufgabe der Ethnologie in der Erforschung der primitiven Gesellschaft mit der als holistisch bezeichneten Methode der Feldforschung: 5 | Schon im 19. Jahrhundert hatten Rudolf Virchow, Adolf Bastian u.a. Begründer der deutschsprachigen Ethnologie einen Gegenentwurf zum Evolutionismus vorgelegt, den Diffusionismus. Auch Diffusionisten glaubten, dass menschliche Kulturen grundsätzlich einen gemeinsamen Ursprung haben, aber sie wiesen die These zurück, dass alle dieselbe Entwicklung durchlaufen (Gingrich 2005; Köpping 1995: 89). Mit Franz Boas fanden diese Ideen Eingang in die Grundlagen der amerikanischen Kulturanthropologie des 20. Jahrhunderts (Stocking 1974; Lowie [1924] 1952).

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»The social anthropologist studies societies as wholes – […] their ecologies, their economics, their legal and political institutions, their family and kinship organizations, their religions, their technologies, their arts etc., as parts of general social systems« (Evans-Pritchard 1951: 11).

Mit dieser Methode hatten Ethnologen – bzw. britische Sozialanthropologen – seit den 1920er Jahren eine Fülle neuer Erkenntnisse über menschliche Gesellschaften in Australien, Afrika und Melanesien gewonnen. Gleichwohl aber beschäftigte sich die Religionsethnologie noch lange mit den Fragen der Evolutionisten, wenngleich es ihr nicht mehr um die Frage nach dem Ursprung von Religion ging. Dafür aber übernahmen ihre Vertreter manche ihrer Einsichten sowie die Methode des Vergleichs. So knüpfte Evans-Pritchard in seiner Studie Hexerei, Orakel und Magie bei den Zande an Edward B. Tylors Idee der Rationalität an. Er arbeitete die rationale Logik heraus, die den Glaubensvorstellungen und Praktiken der Zande zugrunde liegt und den Umgang dieser afrikanischen Gesellschaft mit dem Zufall und den Imponderablen des Lebens (Krankheit, Tod) strukturiert (Evans-Pritchard [1937] 1988). Mary Douglas gründete ihre Studie über religiöse Klassifikationsweisen und soziale Ordnung auf Durkheims Theorie der Verankerung der Kategorien des Denkens im Sozialen (Douglas [1966] 1985). Und Stanley Tambiah griff u.a. Frazers Idee von der Affinität zwischen Magie und Wissenschaft wieder auf. Er betrachtet Wissenschaft und Magie als verwandte, aber distinkte Systeme der Kommunikation und Wirklichkeits-Orientierungen (Tambiah 1990). Anstelle der Einordnung fremder religiöser Systeme in ein stufenförmiges Entwicklungsmodell sahen Ethnologen ihre Aufgabe nun in der »Übersetzung« ihrer Kategorien in die der modernen Weltanschauung. Mit dem Verstehen des »native point of view« wuchs die Erkenntnis, dass viele der Vorstellungen, die »wir Modernen« uns von »den Primitiven« bzw. den »Anderen« gemacht haben oder machen, weniger etwas über diese als über uns aussagen. Weder denken und handeln sie irrational, noch verfügen sie über eine geringere Geisteskraft als die Modernen – trotzdem unterscheiden sich »ihre« sozialen Wirklichkeiten von »unseren« (Lévi-Strauss 1977). Von diesem Standpunkt aus betrachtet erscheint die moderne Konstellation nicht mehr an der Spitze der menschlichen Kulturentwicklung, sondern nur noch als ein Fall – wenn auch ein Sonderfall – in einer Vielzahl von Möglichkeiten menschlicher Sozialität und Kultur. Louis Dumont erfasste dies mit den Worten:

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»Wir selbst sind auf unsere eigene moderne Kultur und Gesellschaft als eine besondere Form der Menschheit zurückverwiesen, die darin außergewöhnlich ist, dass sie sich im Universalismus, zu dem sie sich bekennt, als solche verleugnet.« (Dumont 1991: 220-221)

2. R ELIGION IN DER INDISCHEN K OLONIALE THNOLOGIE Die theoretische, methodische und institutionelle Entfaltung der Ethnologie fand in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Kontext europäischer Kolonialherrschaft und damit vorzugsweise in europäischen Kolonien statt. Wissenschaftshistorisch betrachtet zeichnet sich die Ethnologie dadurch aus, dass die Abfolge ihrer Problemstellungen und zentralen theoretischen Debatten stark von den Regionen beeinflusst wurde, in denen Ethnologen forschten. So ist Afrika mit der Theorie der Lineage, Melanesien mit Theorien des Austauschs und Indien mit dem Kastensystem assoziiert (Fardon 1990: 26). In Afrika und Melanesien gewannen Ethnologen ihre Erkenntnisse mit der von Evans-Pritchard skizzierten ganzheitlichen Methode der Feldforschung. In Indien dagegen, der bedeutendsten britischen Kolonie, entstand eine andere Ethnologie, die sogenannte »Census-Ethnography«. Sie war eng mit den Techniken von Quantifizierung und Klassifizierung der kolonialen Administration verbunden (z.B. Appadurai 1997; Cohn 1987). Die Census-Ethnografie stand im Dienste der kolonialen Administration und Wissensproduktion, und ihre Vertreter hielten im Prinzip an den Kategorien des unilinearen evolutionistischen Stufenmodells fest. Sie operierte hauptsächlich mit Fragebögen, die Kolonialbeamte erstellten und von »natives« in Befragungen der Bevölkerung durchgeführt wurden. Bis zur Unabhängigkeit dominierte die Census-Ethnografie die ethnologische Praxis in Indien und blieb auch danach eine wichtige Technik des Regierens durch ihre staatliche Institutionalisierung im »Anthropological Survey of India« (Vidyarthi [1975] 2011). Historisch orientierte Ethnologen haben in den letzten Jahrzehnten eine Vielzahl von Studien vorgelegt, die die Rolle der Census-Ethnografie in der Produktion einer kolonialen Moderne in Indien belegen. Sie gründete in Konstruktionen von Alterität in den Kategorien einer »barbarischen« indischen Kultur und einer »fortschrittlichen« britischen Zivilisation. Nicholas Dirks bezeichnete den kolonialen Staat als einen »Ethnographic State« (Dirks 2001: 42-52). In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

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hatten Kolonialautoren mit der These, dass die vorkolonialen indischen Staaten keine feudale, sondern eine tribale Organisation (oder auch eine »asiatisch despotische«) aufgewiesen hätten, die zivilisatorische Überlegenheit Europas (bzw. Englands) und seine kolonialisierende Mission begründet (Inden 1990: 165-176). Nach der gescheiterten Rebellion gegen die Errichtung der britischen Kolonialherrschaft (»Indian Mutiny« 1857), die mit der Übernahme der Regierung durch die britische Krone endete, verlagerte sich das europäische Interesse von der Geschichtsschreibung auf die Ethnografie. Census-Ethnografen legten ihre eigenen Kategorien (die vielfach von christlichen Konzeptionen geprägt waren) zugrunde und ihre Forschungserhebungen orientierten sich an dem Wissensbedarf des kolonialen Staates. Nachdem sich christliche Missionierungsaktivitäten als einer der Faktoren herausgestellt hatten, die zur Rebellion gegen die Briten 1857 geführt hatten, wurde die Nichteinmischung in die religiösen Angelegenheiten der kolonialen Untertanen sowie in ihre Sitten und Gebräuche (customs) zum Prinzip kolonialer Gesetzgebung erklärt (Dirks 2001: 149). Um aber zu wissen, was ›Nichteinmischung‹ bedeutete, musste Ordnung in die verwirrende Vielfalt von Stämmen, Kasten und Religionsgemeinschaften und ihre jeweiligen »customs« gebracht werden, denen sich die Kolonialadministration gegenübersah. Als Ordnungsschema bot sich das evolutionistische Stufenmodell an. Dieses ließ sich überdies gut mit der Kategorie der ›Rasse‹ verbinden. So fragt sich der Autor in einem der ersten ethnografischen Census-Berichte »What is a Hindoo? […] [How] to define the real Hindoo from the semi-Hindooized aboriginal?« (Plowden 1883: 20). In den folgenden Jahren fand man die Antwort, indem man Brahmanen befragte, die u.a. auf sanskritische Texte verwiesen. In der Gazetteer von 1901 schien das Problem der Klassifikation und Definition der »Hindoos« gelöst: Der Ursprung des klassischen Hinduismus liegt in den Veden; mit dem Entstehen des Buddhismus und Jainismus als Kritik an der vedischen Opferreligion reorganisierte sich der Hinduismus unter der Vorherrschaft der priesterlichen Brahmanenkaste und verzweigte sich im Laufe der Jahrhunderte in zahllose Sekten (The Imperial Gazetteer of India. The Indian Empire 1901: 402-445). Dies stellte zugleich eine Degeneration der ursprünglichen vedischen Religion dar, insofern der Hinduismus nun in eine ›philosophische‹ und eine ›abergläubische‹ (populäre) Seite gespalten war (zur Komplexität der kolonialen Konstruktion des Hinduismus, vgl. Malinar 2009; zur Rolle Hindu-Gelehrter in

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seiner Konstruktion, vgl. Pennington 2005; zur Frage seiner Vereinheitlichung, vgl. Lorenzen 2006). Damit ließ sich nun auch der Hinduismus als Religion der »Kastenhindus« vom Animismus der »Stämme« abgrenzen, wobei ›Religion‹ zugleich mit ›Rasse‹ verschmolzen wurde. Im Census-Bericht vom 1903 sprachen Risley und Gait von der »primitivsten« Religion im Sinne Tylors, der »animistische Rassen«, »Dschungel-Menschen« und »Wilde« (»Adivasi« oder »Stammesgesellschaften« im heutigen Sprachgebrauch) anhängen (Risley/Gait 1903: 352). Mit Frazers Theorie der Magie kann überdies der gemeinsame Ursprung der Religion der »Wilden« und der »Hindus« in der Magie erklärt werden (Risley/Gait 1903: 356). Denn »vedic ritual is full of imitative or sympathetic magic which almost everywhere appears as a palpable survival from older modes of worship« (Risley/Gait 1903: 354). Mit einer Definition des Animismus als »that exceedingly crude form of religion in which magic is the predominant element« wird es nun möglich, Kontinuität mit dem ›populären Hinduismus‹ zu postulieren. Dieser besteht nicht nur aus den Riten, Glaubensvorstellungen, Mythologien und Schriften, die von Brahmanen sanktioniert und gelehrt werden, sondern auch aus Magie. Nach Ansicht der Census-Ethnografen handelt es sich bei der Religion des Hinduismus daher um »animism more or less transformed by philosophy, or, to condense the epigram still further, as magic tempered by metaphysics« (Risley/Gait 1903: 357). Das kolonialisierte Indien brachte in dieser Sichtweise das evolutionistische Stufenmodell der Entwicklung von Animismus, Religion und Wissenschaft empirisch in einer Rangfolge der Rassen zur Anschauung: Auf der untersten Stufe standen die primitiven Stämme, auf der nächsthöheren barbarische (polytheistische) Hindus und auf der höchsten monotheistische (christliche) bzw. wissenschaftliche Briten. Auch der indische Islam konnte diesem Schema subsumiert werden, der den Census-Ethnografen durch die Vielzahl synkretistischer Elemente aus indischen religiösen Formen kontaminiert erschien: »The fundamental religion of the majority of the people – […] even Musulman – is mainly animistic« (The Imperial Gazetteer of India. The Indian Empire 1901: 432). Über die Konsequenzen der kolonialen Werturteile und ihre Konstruktionen des Hinduismus als einer zwar gespaltenen (›echt/degeneriert‹), aber dennoch vereinheitlichten ›ewigen‹ Religion existiert ein unüberschaubarer Korpus an Literatur. Es muss an dieser Stelle genügen, auf die Entstehung eines reformierten »Neo-Hinduismus« durch Ram Mohan

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Roy, Swami Vivekananda u.a. hinzuweisen. Der Neo-Hinduismus trug viel zum späteren Bild Indiens als Land der Spiritualität und der Religion bei, das in der Unabhängigkeitsbewegung im 20. Jahrhundert durch Mahatma Gandhi zugleich eine anti-koloniale Konnotation annahm. Entsprechende Reformbestrebungen kennzeichneten den Islam, dessen Führer sich im frühen 20. Jahrhundert pan-islamischen Bewegungen zuwandten (Khilafat-Bewegung) (Robinson 2008). Schon Evans-Pritchard hatte nach den Intentionen gefragt, die Gelehrte im 19. Jahrhundert nach den Ursprüngen der Religion hatte suchen lassen, und führte diese auf deren eigenen säkularen bzw. atheistischen Standpunkt zurück: »[Sie] suchten und fanden in den primitiven Religionen eine ihrer Meinung nach tödliche Waffe gegen das Christentum« (Evans-Pritchard [1950] 1968: 48). Die Anwendung ihrer Theorien in kolonialen Techniken des Regierens macht deutlich, wie eng sie zugleich mit den Gegebenheiten in der ›Metropole‹ (Säkularisierung) und der Legitimierung kolonialer Herrschaft an der ›Peripherie‹ verknüpft war. Die »Ethnologie des Kolonialismus« von Dirks und anderen teilt mit der postkolonialen Geschichtsschreibung und im Anschluss an Edward Said die Kritik an orientalistischen Gegensätzen wie ›zivilisiert-primitiv‹ oder ›religiös-säkular‹, mit denen die Logik des modernen Selbstverständnisses operiert. Sie bringen zum Verschwinden, dass sich das moderne Europa durch jahrhundertelange Kontakte, Begegnungen, wechselseitige Aneignungen, Unterwerfungen, Ausbeutung und Kolonialisierung, d.h. im Austausch – und damit in Verflechtung – mit den Völkern Asiens, Afrikas und den anderen Weltregionen, herausgebildet hat (Conrad/Randeria 2002; Mintz 1985; Werner/Zimmermann 2006). Anstatt als empirische Oppositionen sind solche Dichotomien vielmehr als Diskurse historischer Beziehungen zu verstehen. So gesehen treten wechselseitige Verflechtungen von Prozessen zutage, die ansonsten der Aufmerksamkeit als unverbunden entgehen. Darauf zielen auch rezente Ansätze in den Sozialwissenschaften wie die »kosmopolitische Soziologie«, die die Verwobenheit der Moderne mit nicht-europäischen Gesellschaften in den Fokus rückt (Randeria u.a. 2004). Speziell in Bezug auf Religion argumentierte Peter van der Veer, dass die stereotype Gegenüberstellung von Indien als Land der ewigen Religion und England als Land des modernen Säkularismus die gemeinsamen Wurzeln ihrer jeweiligen modernen nationalen Kultur in der Erfahrung des Kolonialismus maskiere (Veer 2001: 3-5). Damit wird ein weiteren Gegensatz

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aufgelöst, nämlich der zwischen geschichtsloser – d.h. unwandelbarer – Tradition und historischer – d.h. sich in dauernder Veränderung befindlicher – Moderne. So werden parallele Geschichten sichtbar, die im klassischen Modernisierungs-Narrativ von der traditionellen Gesellschaft, die durch die koloniale Intervention in die Geschichte und die Moderne katapultiert wird, nicht vorgesehen sind.

3. TR ADITION UND P OLITIK : M ODERNISIERUNG IN DER ›D RIT TEN W ELT‹ Als sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs herausgestellt hatte, dass die evolutionistische Entfaltung von Zivilisation keinen Naturgesetzen folgt, wurde dieses Schema von sozialevolutionistischen Theorien der Modernisierung abgelöst. Diese trugen u.a. der Vorstellung Rechnung, dass Entwicklung aktiv herbeigeführt werden müsse. Mit den anschließenden Wellen der Entkolonialisierung verloren Großbritannien und die anderen europäischen Kolonialmächte ihre Vormachtstellung in der Welt. Die USA stiegen in Konkurrenz zur Sowjetunion auf und die Bildung von Nationen in der ›Dritten Welt‹ spiegelte den Wettlauf um die Vorherrschaft von Kapitalismus und Kommunismus. Die Erforschung der politischen Veränderungen in den entstehenden Staaten lieferte den Sozialwissenschaften neue theoretisch und praktisch anzugehende Probleme. Selten wurde in den USA so viel Geld in die Sozialwissenschaften investiert wie in den 1950er und 1960er Jahren. »A new empiricist social science«, schreibt Dirks, »felt itself freed from the shackles of a colonial past, and combined positivist method with a vaguely developmentalist agenda« (Dirks 2001: 53). Sie löste die evolutionistisch-koloniale Konstruktion von der zivilisatorischen Überlegenheit Europas durch den Maßstab wirtschaftlich-politischen Fortschritts ab, dessen höchsten Entwicklungsstand jetzt die USA beanspruchten. An ihm gemessen waren die Völker Asiens, Afrikas und Lateinamerikas rückständig. Damit änderten sich auch die Rahmenbedingungen der Ethnologie. Die von Dirks als »vage entwicklungsorientiert« bezeichnete Tendenz der Sozialwissenschaften erweist sich jedoch bei genauerer Betrachtung als durchaus eindeutig formulierte Agenda, die in der Zeit des Kalten Krieges auf Gegenentwürfe zu marxistischen Theorien der gesellschaftlichen Entwicklung zielte. Diese kristallisierten sich in einem neuen Konzept der

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Modernisierung heraus. Damit waren Prozesse sozialer, besonders aber politischer Veränderung gemeint.6 Das Verständnis von sozialer Veränderung, das Sozialwissenschaftler zur Erforschung von Modernisierungsprozessen in der gerade unabhängig gewordenen ›Dritten Welt‹ trieb, beruhte auf der Idee, dass Fortschritt allein gemäß westlichen Normen bestimmt werden könne. Ebenso wie die Kolonialethnologie zielten die Modernisierungstheorien und Forschungsprogramme der 1950er Jahre nicht allein auf das Verständnis der Welt, sondern sie waren zugleich mit politischen Zielen – jetzt: des Kalten Krieges – verbunden. Daher erstaunt es nicht, dass sich sozialwissenschaftliche Arbeiten zu Modernisierung in jener Zeit mit Religion nur am Rande befassten, dafür aber umso mehr mit Politik, speziell mit Nationalismus und Prozessen der Bildung von Nationen in der ›Dritten Welt‹. Die US-Regierung investierte so massiv in die Sozialwissenschaften, damit diese alternative Konzepte zu marxistischen Entwicklungsideen – von denen sich schon anti-koloniale Bewegungen und zahlreiche postkoloniale Staaten (z.B. Vietnam, Tanzania, Kuba usw.) beeinflusst zeigten – schaffen konnten (Cullather 2010, 2011; Simpson 1998). Als nachhaltig einflussreich erwies sich vor allem die Theorie des mittlerweile zum Klassiker der Moder-

6 | Der Chicagoer Ethnologe Robert Redfield hatte erstmals das Konzept der »Modernisierung« in den 1930er Jahren in der Ethnografie eines mexikanischen Dorfes verwendet (Redfield [1930] 1973). Seine Erfahrungen in der ländlichen Gesellschaft Mexikos hatten ihn an der methodischen Fokussierung der Ethnologie auf »primitive Gesellschaften« als holistische (Sozialanthropologie) oder begrenzte Kulturen (Kulturanthropologie) zweifeln lassen. Das Konzept schien sich für die Untersuchung großer und heterogener sozialer Formationen wie die mexikanische nicht zu eignen, in der Schriftkultur und Analphabetismus, städtische Eliten und bäuerliche Bevölkerung, universelle christliche Dogmen und parochiale Kulte koexistierten. Auch beobachtete Redfield, dass das Leben bäuerlicher Gemeinschaften nicht statisch war, sondern dass es sich durch Prozesse veränderte, die er als Modernisierung bezeichnete und mit den Variablen der klassischen Theorie der Moderne als Industrialisierung, Urbanisierung, Literalisierung, Säkularisierung und die Auflösung familiärer Bande erfasste. Die Kultur der bäuerlichen Gemeinschaft sah er von »kleinen«, d.h. lokalen und parochialen Traditionen geprägt, im Gegensatz zur »großen« Tradition der Städte, universalistischer Religionen und der Bildungselite (Redfield 1956).

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nisierungstheorie avancierten Kommunikationswissenschaftlers Daniel Lerner (1958). In The Passing of Traditional Society entwarf Lerner ein simplifizierendes Schema sozialer Veränderung, das auf der idealtypischen Gegenüberstellung einer starren, unveränderlichen Tradition, die einer äußerst begrenzten Weltsicht Vorschub leistet, und einer weltoffenen, fortschrittlichen Moderne beruhte. Als Kommunikationswissenschaftler schrieb Lerner den Massenmedien eine zentrale Rolle in seinem Modell des Modernisierungsprozesses zu, deren Gebrauch das Verhalten von Individuen veränderte. Soziale Veränderung ist denn auch bei Lerner allein das Ergebnis individuellen Verhaltens. »In Lerner’s world«, schreibt die amerikanische Kommunikationswissenschaftlerin Karin Wilkins, »modern men rely more on media than on family for information, more on scientific explanations than religious interpretations, […] with more interest in national than local issues« (Wilkins 2009: 4). Von zentraler Bedeutung in Lerners Model ist die Entwicklung nationaler politischer Gemeinwesen, die er als »secular evolution of a participant society« bezeichnete. Diese beginnt mit Urbanisierung, entfaltet sich mit der Entwicklung des Mediums der Schrift und gipfelt schließlich in einer dritten Phase »when the elaborate technology of industrial development is fairly well advanced, […] a society begin[s] to produce newspapers, radio networks, and motion pictures on a massive scale. This, in turn, accelerates the spread of literacy. Out of this interaction develop those institutions of participation (e.g. voting) which we find in all advanced modern societies« (Lerner 1958: 60). Lerner zufolge behindern kulturelle Traditionen die Entwicklung des Fortschritts und der Partizipation am politischen Leben der Nation. Sein Modernisierungsmodell erscheint jedoch weniger als eine eigenständige Theorie der Moderne denn als eine »Entwicklungsdoktrin« (Cullather), die politischen Zwecken, insbesondere aber der Einflussnahme auf die ›Dritte Welt‹, diente. Im Vergleich dazu ging es der Schule von Talcott Parsons mehr um das Verständnis des Verlaufs von Modernisierungsprozessen. Damit beschäftigte man sich in den 1950er und 1960er Jahren in dem von Parsons geleiteten interdisziplinären »Department of Social Relations«, wo neben Sozialwissenschaftlern und Psychologen auch Ethnologen forschten. Parsons funktionalistische Handlungstheorie gründet in einem fortschrittsgerichteten Modell der Modernisierung sozialer Systeme, dessen integrative Ordnung durch die Ausrichtung des Verhaltens der Akteure an gemeinsamen Normen stabilisiert wird (Joas/Knöbl 2004:60-66). In den USA

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bezeichnete man die Sozialwissenschaften daher auch als Verhaltenswissenschaften (Behavioural Sciences). Diese unterteilte Parsons in mehrere Systeme sozialer Handlung entsprechend bestimmter Spezialgebiete verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen: 1. soziale Systeme (Soziologie, Wirtschafts- und Politikwissenschaft), 2. Psyche und Persönlichkeit (Psychologie) und 3. Kultur (Ethnologie) (Kuper 2000: 15). Der Kulturanthropologe Clyde Kluckhohn aus dem Umfeld von Franz Boas übernahm die von Parsons als »Wissenschaft der Kultur« bezeichnete Sektion. Im Auftrag von Parsons erstellte Kluckhohn gemeinsam mit A. L. Kroeber in Berkeley eine umfassende Typologie von Kulturkonzepten mit dem Ziel, eine geeignete definitorische Grundlage für Parsons’ Wissenschaft der Kultur zu finden. Die meisten Ethnologen hatten sich bis dahin im Prinzip an der ursprünglich von Edward B. Tylor formulierten Definition von Kultur orientiert, die besagte: »culture is that complex whole which includes knowledge, belief, art, morals, law, custom, and any other capabilities and habits acquired by man as a member of society« (Tylor [1871] 1903: 1). Nach dieser Auffassung waren soziale Systeme untrennbar mit Kultur verbunden. Trotzdem stießen Kluckhohn und Kroeber in ihrer Recherche auf mehr als 150 Definitionen, die von beschreibenden, historischen, normativen, psychologischen, strukturellen bis hin zu genetischen reichten (Hammel 2007; Kroeber/Kluckhohn 1952: 5). Keine davon entsprach Parsons Zielsetzung. Er führte eine neue Definition ein, die Kultur als einen »kollektiven symbolischen Diskurs« verstand, der von »Wissen, Glaubensvorstellungen und Werten« handelte (Kuper 2000: 16). Damit trennte Parsons Kultur von Gesellschaft bzw. dem Sozialsystem – das Kulturelle wurde autonom. Die ›Autonomisierung‹ von Kultur hatte weit über die Ethnologie hinausreichende Konsequenzen (»Cultural Turn«). Clifford Geertz, der aufgrund seiner Theorien über Religion, Kunst oder den common sense als eigenständige kulturelle, d.h. symbolische Systeme zu den bekanntesten Ethnologen der symbolischen Richtung zählt (Geertz 1987, 1988, 1995; Parker 1985; Shweder/Good 2002), begann seine Karriere jedoch als »Parsonianer« (Kuper 2000: 79). Geertz hatte an Parsons’ »Department of Social Relations« in Harvard promoviert. Seit 1960 arbeitete er in dem von Edward Shils geleiteten »Committee for the Comparative Study of New Nations«, einem Ableger des Parsons’schen Programms in Chicago. Es diente der Untersuchung der politischen Veränderungen, die die »neuen Staaten« in unabhängige Nationen transformierten. Ergebnisse dieses

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Programms finden sich u.a. in dem von Geertz herausgegebenen Sammelband Old Societies, New States – The Quest for Modernity in Asia and Africa (Geertz 1963b). In der Einleitung erläutert Shils das Ziel: der Vergleich der Prozesse, durch die sich die neuen Staaten zu Nationen entwickeln, soll die Gründe für ihre Verschiedenheit zutage fördern (Shils 1963). Dabei ging Shils, anders als Lerner, nicht von einer bewegungslosen Tradition aus, die Individuen einfach nur abstreifen müssen, um modern zu werden. Shils und seine Mitstreiter wollten stattdessen die Art und Weise verstehen, »in which the traditional patterns of belief and action penetrate into the modern sector of society, the ways in which the traditional and the modern fuse« (Shils 1963: 6). Mit Max Weber und Parsons ging Shils davon aus, dass den Eliten in »traditionellen Gesellschaften« auf der Schwelle zur Moderne jetzt die Aufgabe zukam, eine Regierung, einen rationalen Verwaltungsapparat und ein Parteiensystem in einem »präpolitischen« Umfeld sowie eine neue Wirtschaftsordnung aufzubauen. Daher müssten die »einfachen Mitglieder der Gesellschaft überzeugt oder gezwungen werden«, die neue Ordnung des modernen Nationalstaates anzuerkennen (Shils 1963: 2). Methodisch orientierten sich die vergleichenden Untersuchungen an der Trennung von Kultur und Sozialsystem. Sie schien von dem Umstand bestätigt zu werden, dass sich die postkolonialen Eliten von Marokko bis Indonesien einerseits als modern verstanden, andererseits aber Wert auf die Respektierung ihrer eigenen Kulturen (z.B. Sprache, Religion) legten. Als besondere Herausforderung für die Integration eines einheitlichen Nationalstaates aber galten die sogenannten »primordialen« Bindungen (Stämme, Kasten, ethnische Gruppen, religiöse oder linguistische Gemeinschaften usw.). Fast alle neuen Staaten boten das Bild äußerster soziokultureller Heterogenität. Geertz verglich neun neue Staaten (Indonesien, Malaysia, Burma, Indien, Ceylon, Libanon, Marokko, Nigeria), in denen ganz verschiedene primordiale Loyalitäten die Integration der Nation gefährdeten (Geertz 1963a). In der Föderation Malaya war es z.B. Rasse, in Indien Sprache und Regionalismus, in Sri Lanka Ethnizität usw. Politische Modernisierung, so stellte Geertz fest, führte offenbar nicht automatisch zum Verschwinden primordialer Loyalitäten (Geertz 1963a: 119). Denn die »neuen Staaten« bildeten Nationen, ohne dass die Bevölkerung damit automatisch die Normen des Rechtsstaates und der Staatsbürgerschaft annahm. Geertz betrachtete dies jedoch nicht als Ausdruck beharrlicher Traditionsverhaftung, sondern führte das Phänomen auf eine grundsätz-

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lich dem Konzept der ›Nation‹ innewohnende Ambiguität zurück. Diese entsprang dem Spannungsverhältnis zwischen primordialen Bindungen und staatsbürgerlicher Zugehörigkeit. Anstelle einer »evolution of secular participation« (Lerner) war eine »Modernisierung des Ethnozentrismus« zu konstatieren (Geertz 1963a: 154). Die Zusammenführung von diversen primordialen Identitäten unter dem gemeinsamen Dach eines pluralistischen Nationalstaats – mit entsprechenden Klassifikationen von Mehrund Minderheiten – führte eben nicht zu ihrem Verschwinden, sondern vielmehr zu ihrer »Totalisierung«. Damit war der Umstand gemeint, dass Angehörige verschiedener ethnischer Kategorien nicht mehr als zufällige Repräsentanten einer bestimmten Gruppe interagierten, sondern ihre Beziehungen jetzt am Maßstab eines pluralistischen Nationalstaates und seiner aus verschiedenen Identitäten zusammengesetzten Struktur wahrgenommen wurden (Geertz 1963a: 154). Geertz schloss daraus, dass die Bildung primordialer Identitäten weniger als Fortleben traditioneller Bindungen zu verstehen war denn als Resultat von sozialen Veränderungsprozessen: »Though they rest on historically developed distinctions, some of which colonial rule helped to accentuate (and others of which it helped to moderate), they are part and parcel of the very process of the creation of a new polity and a new citizenship« (Geertz 1963a: 121).

Mit dieser Einsicht wies Geertz auch die Thesen über den Wandel von Gesellschaften zurück, die die soziologischen Klassiker als gesetzmäßig angesehen hatten: von der Gemeinschaft zur Gesellschaft (Tönnies) oder von mechanischer zu organischer Solidarität (Durkheim) (Geertz 1963a: 155). Die Geschichte ihrer Entwicklung, so Geertz, »besteht nicht einfach aus der Expansion des Einen auf Kosten des Anderen«. Damit formulierte Geertz bereits in den 1960er Jahren eine Idee, die nachfolgende Ethnologen Jahrzehnte später zu einem zentralen Argument gegen Modernisierungstheorien ausbauten (ohne sich allerdings dabei auf Geertz zu beziehen): dass nämlich ›Traditionelles‹, wovon sich ›Modernes‹ abhebt, selbst schon ein Produkt von Modernisierungsprozessen ist. Von hier aus war es nur noch ein kleiner Schritt zur Formulierung alternativer Konzepte von Modernität, die nicht mehr mit dem westlichen Muster konvergierten.

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4. Ü BERSE T ZUNG UND P ERSPEK TIVENWECHSEL : M ODERNE UND TR ADITION IN I NDIEN Wendet man sich der Debatte um Moderne bzw. Modernisierung in den Sozialwissenschaften in Indien zu, dann wechselt man den Standort und damit die Perspektive, von der aus man auf den Prozess der Modernisierung blickt. In Indien hatte sich das British Empire durch die Teilung des Subkontinents mit einer Woge von Vertreibung und Gewalt verabschiedet. Die führenden Figuren der anti-kolonialen Unabhängigkeitsbewegung und anschließenden Staatsgründung, Mahatma Gandhi, Jawaharlal Nehru und Mohammad Ali Jinnah, differierten besonders in ihrer Auffassung von Religion, während sie in der Befürwortung der Trennung von Religion und Staat durch die Bildung einer säkularen Regierung übereinstimmten. Auch Jinnah bekannte sich zu Beginn seiner politischen Karriere im Indian National Congress und der indischen Unabhängigkeitsbewegung zu einer säkularen Einstellung. Viel ist geschrieben worden über die Philosophie Gandhis und seine Neuinterpretation des Hinduismus, über Nehrus ablehnende Haltung gegenüber Religiosität und über Jinnahs politische Taktik, eine eigene Interessenvertretung für indische Muslime zu fordern (Muslim League) und schließlich den Islam als Nation zu deklarieren. Es muss an dieser Stelle genügen, auf die bekannte Tatsache hinzuweisen, dass die Differenzen zwischen den Führern der indischen Unabhängigkeitsbewegung im Wechselspiel der Verhandlungen mit der britischen Kolonialregierung schließlich zur Teilung des Subkontinents in einen säkularen Staat in Indien und einen islamischen Staat in Pakistan führten. Millionen von Hindus, Muslimen und Sikhs verließen daraufhin ihre angestammten Regionen oder wurden gewaltsam daraus vertrieben, um sich auf der jeweils anderen (der ›richtigen‹) Seite der Grenze neu anzusiedeln. Hunderttausende wurden dabei getötet (Das 1990). Die Gründung der neuen Nationen führte zu jener ›Totalisierung‹ der Beziehungen zwischen Hindus und Muslimen, die in Indien communalism genannt wird. Obwohl gewaltsame Zusammenstöße zwischen Hindus und Muslimen schon in vorkolonialen und kolonialen Perioden vorgekommen waren (z.B. Baily 1985; Freitag 1996), wurden communal conflicts durch den Diskurs der Nationsbildung modernisiert (vgl. Dumont 1980b). Edward Shils’ Charakterisierung der Rolle der Elite in den neuen Staaten schien ziemlich genau der Vorstellung zu entsprechen, die diese sich in Indien von sich selbst als Modernisierer ihrer ›traditionellen‹ Gesell-

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schaften gemacht hatten. Indische Sozialwissenschaftler, die sich in den 1950er und 1960er Jahren mit Fragen sozialer Veränderung und aktuellen Theorien der Modernisierung befassten, übernahmen nicht einfach die in den USA entworfenen Modelle. Sie suchten nach eigenen Ansätzen, die der indischen Gesellschaft und den dort stattfindenden Transformationen entsprechen sollten. Eine wegweisende Rolle kommt dabei dem indischen Ethnologen M. N. Srinivas zu. Er hatte Ende der 1940er Jahre in Oxford bei A. R. Radcliffe Brown und Evans-Pritchard studiert. Srinivas setzte sich mit den Modernisierungstheorien der Zeit auseinander, darunter auch mit Lerner. In Social Change in Modern India bezieht er sich auf Lerners Überlegungen, welcher der beiden Begriffe – »Verwestlichung« (Westernisation) oder »Modernisierung« – sich besser eigne, um die Veränderungen zu beschreiben, die in nichtwestlichen Ländern durch den Kontakt mit westlichen Ländern stattfänden (Srinivas 1966: 53-55). Lerner entschied sich für den Begriff Modernisierung, den er für universeller hielt, da er stärker als Verwestlichung soziale Mobilität als zentralen Ausdruck westlicher Lebensweise betonte. Ein wichtiger Grund für Lerners Entscheidung lag, in der Lesart von Srinivas, in dem Umstand begründet, dass »educated people in the Middle East […] while wanting the modern package reject the label ›made in USA‹ (or, for that matter, ›made in U.S.S.R.‹)« (Srinivas 1966: 53). Lerner betrachtete die Zurückweisung westlicher Ideologie als Ausdruck des »extremen mittelöstlichen Nationalismus« und Ergebnis des »vom Antikolonialismus gesäten Hasses« (Srinivas 1966: 53). Er warf den mittelöstlichen Führern vor, den Westen leidenschaftlich zurückzuweisen und gerade jene »institutionellen und verhaltensmäßigen Zwänge zu ignorieren, die allen modernen Ländern (Europa, USA und UDSSR) zur Modernisierung verholfen haben« und stattdessen »new routes and risky bypasses« einzuschlagen (Srinivas 1966: 53). Für Srinivas ist dies eine verständliche Folge des Aufstiegs einer Elite auf Grundlage vorangegangener kolonialer Erfahrungen und langer Kontakte mit dem Westen, die eben dadurch eine ambivalente Haltung gegenüber dem Westen entwickelt haben. Die Attraktivität, die der Kommunismus in jener Zeit für nichtwestliche Länder besaß, sieht Srinivas in erster Linie in seiner Feindseligkeit gegenüber dem Westen, seiner anti-kapitalistischen und anti-imperialistischen Haltung begründet (Srinivas 1966: 53): »It […] enables the non-Western intellectual to reject, in the name of science and humanity, not only the aggressive West but also his own society and its traditi-

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ons. It enables him to identify himself with the future, with progress, science and humanitarianism« (Srinivas 1966: 54).

Mit diesen Worten bringt Srinivas die Ambivalenz der Elite in den neuen Staaten auf den Punkt. Denn diese wird sowohl aus der Übernahme westlicher Werte und des kolonialen ablehnenden Blicks gegenüber den Traditionen der eigenen Gesellschaft und Geschichte gespeist als auch aus der Zurückweisung hegemonialer Ansprüche des Westens. Srinivas entscheidet sich daher für die Verwendung des Begriffs »Westernisation«, den er, anders als Modernisierung, für »ethisch neutral« hält (Srinivas 1966: 54). Dieser umfasst diverse Bedeutungsebenen: den Gebrauch von Technologien, Veränderungen von sozialen Praktiken (z.B. Ess- und Tischsitten sowie Diäten), Bildung, hohes Einkommen, städtische und säkulare Lebensweisen usw. Aber, so Srinivas weiter, die verschiedenen Aspekte von Westernisation korrelieren nicht automatisch und es besteht keine wechselseitige Abhängigkeit zwischen ihnen. Als Beispiel führt er eine Begegnung aus seiner Feldforschung in Südindien an. Ein Mann, der in einer Großstadt lebte und bei der Regierung als Fahrer eines hochmodernen Baggers arbeitete, praktizierte gleichzeitig schwarze Magie. Zwischen dem Umgang mit westlicher Technologie und einer (nach westlichen Maßstäben) rationalen, wissenschaftlichen Weltanschauung besteht also keine automatische Korrelation (Srinivas 1966: 57). Srinivas’ Konzept der Westernisation beruht – ähnlich wie Geertz’ Schlussfolgerung – auf der Erkenntnis, dass Phänomene, die aus Sicht der Modernisierungstheorie als traditionell erscheinen (Kastenbewusstsein, communalism oder Regionalismus), Resultate und nicht Gegensätze oder Vorläufer von Veränderungsprozessen sind. Damit hatte Srinivas den Begriff »Modernisierung« in »Westernisation« übersetzt, der die sozialen Veränderungen der indischen Gesellschaft unter Berücksichtigung ihrer Geschichte der Kolonialisierung beschreiben sollte. Westernisation meint nicht die ungebrochene Bewunderung und Nachahmung des Westens (wie ›Verwestlichung‹ alltagssprachlich oft gebraucht wird). Vielmehr impliziert der Begriff die Aneignung westlicher Ideen, Ideale, politischer und anderer sozialer Praktiken durch die Elite, die aber von der Ambivalenz gegenüber westlichen Lebensweisen und den Neuerfindungen der ›eigenen Kultur‹ (z.B. in Form des »NeoHinduismus«) gebrochen wird. Westernisation bezieht sich auf Prozesse, die soziale Phänomene hervorbringen, die nur dann als ›traditionell‹ be-

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zeichnet werden können, wenn man durch Anlegung des Maßstabs eines westlichen Idealtypus der Moderne übersieht, dass diese selbst schon ein Resultat von Modernisierung sind. Anders als die klassischen Modernisierungstheoretiker, die das Konzept der Moderne in Gegensatz zur ›Tradition‹ konstruierten, verzichtete Srinivas auf eine solche Dichotomisierung. Er sah vielmehr Westernisation als einen Prozess sozialer Veränderung an, dessen Spezifik von seiner Orientierung auf westliche Formen vor dem Hintergrund der kolonialen Vergangenheit geprägt wird. Mit dem Begriff »Sanskritisierung« lenkte Srinivas den Blick auf einen zweiten Prozess, der sich durch seine Fokussierung auf indische Werte (varna, Kaste) und Praktiken von Westernisation unterscheidet. Dabei handelt es sich nicht um unveränderliche indische Traditionalität, sondern um Prozesse der sozialen Veränderung, die sich durch die gesamte indische Geschichte hindurch beobachten lassen (Srinivas 1966: 1-48). Westernisation und Sanskritization sind daher als verschiedene Orientierungen in Prozessen sozialer Mobilität zu verstehen, die mal konvergieren, mal voneinander abweichen können und daher keine sich gegenseitig ausschließende Gegensätze darstellen. Auf diese Weise übersetzte Srinivas auch die soziologischen Kategorien von exogenen und endogenen Faktoren sozialer Veränderungsprozesse in die indischen Gegebenheiten. In den 1970er Jahren hatten Modernisierungstheorien überall an Attraktivität eingebüßt. Soziologen und Ethnologen wandten sich anderen Fragen und komplexeren sozialtheoretischen Modellen zu, wobei die grundlegende Idee, dass die Moderne Tradition ersetzt, in der Soziologie weitgehend unangetastet blieb. In den 1990er Jahren und nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Welt entfaltete sich in den Sozialwissenschaften das Interesse an Globalisierung und transnationalen Bewegungen. In Indien führte die Globalisierung u.a. zur wirtschaftlichen Liberalisierung des Landes und zum politischen Aufstieg der hindu-nationalistischen Bewegung. Vor diesem Hintergrund wandten sich indische Soziologen und Ethnologen Ende der 1990er Jahre erneut der Frage nach den Dynamiken und Richtungen sozialer Veränderungsprozesse in Indien zu und griffen dabei auch die Paradigmen der Modernisierung wieder auf. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich marxistische Entwicklungs- und positivistische Modernisierungstheorien als gleichermaßen enttäuschend herausgestellt. Die antizipierten Entwicklungen waren nicht eingetreten: Die Bindungen der Kaste hatten sich nicht zugunsten individualisierter Staatsbürgerschaft gelöst, Kaste war nicht in Klasse übergegangen, Religion hat-

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te sich nicht aus dem Bereich der Öffentlichkeit in eine separate Sphäre zurückgezogen – obwohl Urbanisierung, Industrialisierung, Technisierung sowie die Massenmedien und eine säkulare Verfassung die indische Gegenwart prägten. Daher schien es an der Zeit, den Begriff der Tradition kritisch zu überdenken (Das u.a. 1999; Kaviraj 1997b). Der Soziologe Sudipta Kaviraj schlug folgende Neufassung des Traditionsbegriffs vor: »It seemed preferable to define tradition as a set of rules of social practice which adapted historically altered conditions through surreptitious adaptability, so that although they changed, they also typically tried to conceal the evidence, by an ideological rhetoric of immutability« (Kaviraj 1997a: 5).

Ein solches Konzept ging nicht mehr von der Erwartung aus, dass traditionelle Formationen notwendigerweise verschwinden. Anstatt ›Tradition‹ und ›Moderne‹ als Gegensätze zu behandeln, schreibt die indische Ethnologin Veena Das, gilt es nach ihren Metamorphosen zu fragen: »the knotting of traditional themes with modern concerns« (Das 1999: 14). Diese lassen sich vor dem Hintergrund einer idealtypischen Rekonstruktion des Kastensystems und seiner Selbstbeschreibung ausmachen, wofür Louis Dumonts Analyse der Hierarchie einen geeigneten Ausgangspunkt darstellt (Dumont 1980a). Kasten lassen sich nicht auf Weber’sche Statusgruppen reduzieren, so Dumont, sondern es handelt sich dabei um Elemente in einem komplexen sozialen System, das religiöse, politische, wirtschaftliche und verwandtschaftliche Dimensionen verbindet. Die Ordnung des Kastensystems ist hierarchisch und gründet damit in einer spezifischen »Ideologie«, womit Dumont ein System von Ideen meinte. Da Ideen aber nicht neutral sind, sondern stets ein Werturteil enthalten, spricht Dumont von Wert-Ideen. In diesem Sinne steht die Hierarchie der Kasten für eine Konfiguration von Werten, in der religiöse und politische Aspekte der Gesellschaft mit Werten behaftet sind, die ihren Ausdruck in unterschiedlichen sozialen Statuskategorien finden: Brahmanen (Priesterkaste) verkörpern die höchsten (»globalen«) Werte, während Kshatriyas (politische Machthaber) im Verhältnis dazu untergeordnete Werte vertreten: Macht, Herrschaft und Gewalt. Das traditionelle Kastensystem differenziert Religion und Politik, indem es Brahmanen und Kshatriya in eine hierarchische Beziehung bringt. In der Formulierung von Dumont trennt die indische Hierarchie Status und Macht. Das Religiöse wird höher bewertet als das Politische. Das Prinzip, dass dieses hierarchische Verhältnis

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generiert, ist aber nicht in dem Gegensatz von Transzendenz und Weltlichkeit zu finden, sondern in dem von Rein- und Unreinheit, d.h. es beruht auf kulturspezifischer Klassifikation. Mit diesem Prinzip können eine Vielzahl verschiedener sozialer Gruppen auf unterschiedlichen Statusebenen flexibel in eine gemeinsame hierarchische Ordnung inkludiert werden – wie dies die Geschichte von Christen und Muslimen in Indien jahrhundertelang bewiesen hat. Auch sie sind in Kasten unterschieden. Im hinduistischen Kontext wird die Hierarchie an ihren Polen von den Brahmanen an der Spitze und den »Unberührbaren« am untersten Ende begrenzt. Bei dem traditionellen Kastensystem handelt es sich also um eine Konfiguration von Werten, die historisch und empirisch in einer Vielzahl unterschiedlicher Konstellationen in Erscheinung treten konnte. In diesem System war soziale Identität nicht fixiert, sondern bestimmte sich relational und konnte mit dem Kontext wechseln. Davon zeugen u.a. die Probleme, auf die Kolonialethnografen mit ihrem Verständnis von Kaste als einer vorgegebenen, unveränderlichen und in einer abgrenzbaren Religion verankerten Identität stießen. Oftmals verzweifelten Census-Beamte daran, dass die Religionszugehörigkeit der von ihnen Befragten nicht eindeutig feststellbar war. Daher finden sich in ihren Berichten viele Referenzen auf Kasten, die (abfällig) als »half-Hindu, half-Muslim« charakterisiert werden. Auch nutzten viele Menschen den Anlass der Census-Erhebung dazu, den Namen einer höheren Kaste, der sie nicht angehörten, anzugeben und damit einen Anspruch auf Statuserhöhung zu formulieren (Cohn 1987). In vergleichbarer Weise, in der die indische Bevölkerung die Praktiken der kolonialen Administration in ihrem Sinne deutete und nutzbar zu machen suchte, wirkten auch die Änderungen, die der postkoloniale Staat einführte. Er beruft sich auf die westlichen Ideale der Gleichheit und führte eine säkulare Verfassung nach amerikanischem Vorbild ein, die im Prinzip den verschiedenen Religionsgemeinschaften gleiche Rechte auf Ausübung ihrer Religion gewährt. Dieser Staat bildet eine Handlungsarena, aus der Kaste nicht verschwindet, sondern an die sie sich anpasst und dabei ihre Gestalt verändert. So entstanden durch die Politik der positiven Diskriminierung neue kastenbasierte Identitäten, die früher nicht Teil der traditionellen Kastenordnung gewesen waren. Ein bemerkenswerter Fall dieser Art ist die Transformation der Identität der »Unberührbaren« in moderne »Dalit« (»Unterdrückte«) durch die Einführung einer neuen Kategorie in die Politik, die

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der »Scheduled Castes«. Diese soll den im Sinne des Gleichheitsprinzips seit Jahrhunderten Benachteiligten der indischen Gesellschaft zu Aufstiegschancen und gleichen Rechten verhelfen. Im traditionellen System der Kaste bildeten »Unberührbare« keine einheitliche Gruppe, sondern replizierten die Hierarchie untereinander, indem ihre Subkasten ebenfalls durch größere und geringere Grade der Reinheit differenziert waren (Moffat 1979). Die Verfassung des postkolonialen Staates »conferred on them a new possibility of identity-making, which they seized with enthusiasm. The modern identity of the Scheduled Castes has, as it has grown and matured, sought to create a separate iconography for itself through a long but rather haphazard tradition from Buddha to Guru Ravidas to Ambedkar« (Kaviraj 1997: 9). Ihre Dynamik beziehen solche Prozesse moderner Identitätskonstruktionen aus dem Zusammenhang von Kastenzugehörigkeit, politischer Mobilisierung und Wahlverhalten (Kothari 1997). So erscheint traditionell, was Ergebnis von politisch bewirkten Veränderungsprozessen ist, aber durch die Berufung auf ›erfundene Traditionen‹ verschleiert wird (s. auch Basu 2004).7 Ähnliches gilt auch für Religion. In den Ausbrüchen hindu-nationalistischer und islamisch-fundamentalistischer Bewegungen seit den 1980er Jahren, die sowohl gegeneinander als auch gegen den Säkularismus des Staates und die säkulare Ideologie generell antreten, sehen indische Sozialwissenschaftler keine genuin religiös fundierten Konflikte. Das Problem bestehe vielmehr in der Universalisierung der europäischen Geschichte, die Eingang in das Paradigma der Moderne gefunden hat. Der indische Ethnologe T. N. Madan hat schon früh erkannt, dass Säkularisierung untrennbar mit dem protestantischen Christentum und seinen Werten (Individualismus, Gleichheitsideal) verbunden ist (Madan 1987, 1997; Madan 2006; s. dazu auch Asad 2003). Mit Louis Dumont betrachtet Madan Säkularismus als eine Ideologie, »[which] has emerged from the dialectic of modern science and Protestantism, not from a simple repudiation of religion and the rise of rationalism« (Madan 1987: 754). Der springende Punkt dabei ist, dass Modelle der Modernisierung »den Transfer von Säkularisierung in nichtwestliche Gesellschaften vorschreiben, ohne den Charakter der dort vorherrschenden Traditionen zu berücksichtigen« (Madan 1987: 754). Denn die vielfältigen indischen Formen von Religiosität (hin7 | Vergleichbar sind Konstruktionen von »indigener Kultur« in der sogenannten »Vierten Welt« (Sahlins 2005).

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duistisch, islamisch usw.) entsprechen weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart jenen im frühneuzeitlichen Europa, als der Säkularismus als Staatsräson aus der Beendigung der Religionskriege und dem Westfälischen Frieden geboren wurde (Madan 1997). Daher sind die Gründe für die in der Gegenwart zu beobachtenden gewaltsamen Konflikte zwischen Hindus und Muslimen weder im Wesen der Religionen noch in vermeintlich vormoderner Undifferenziertheit der Sphären von Religion und Politik zu finden, sondern selbst Ergebnis und Ausdruck einer modernen Politik der Säkularisierung (Nandy 1999). Die ›Politisierung‹ der indischen Religionen und die Analyse der Ursachen für die Ausbrüche der Gewalt zwischen Hindus und Muslimen ist Gegenstand zahlreicher Studien (Hansen 1999; Tambiah 1996; Veer 1994; Veer/Lehmann 1999). Was diese Studien – bei aller Verschiedenheit der Argumentationslinien – deutlich machen, ist, dass Adaptionen traditioneller Religiosität, d.h. ihre modernen Transformationen, in Rationalisierungen bestehen (manche sprechen z.B. von der »Protestantisierung des Islam« oder der »Semitisierung des Hinduismus«). Die Rückbesinnung auf die ›ursprünglichen Fundamente‹ der jeweiligen Religion dient dabei ebenso der Verschleierung ihrer Veränderung wie die erfundenen Traditionen der modernen Kasten. Daraus folgt, dass aus Sicht indischer Sozialwissenschaftler, die vom Standpunkt der indischen Geschichte und Erfahrung der Gegenwart aus argumentieren, Säkularisierung kein unverzichtbares Merkmal der Moderne bildet. Die in Indien zu beobachtende Vervielfältigung von Modernität erweist sich somit als gleichermaßen von Dynamiken der Macht und unerwarteten Aneignungen von Rationalität und Säkularisierung vorangetrieben.

5. F A ZIT Wie die bisherigen Ausführungen deutlich gemacht haben, durchzieht die Geschichte der Ethnologie eine Auseinandersetzung mit Konstruktionen von Modernität, die sie in Opposition zu Primitivität oder Traditionalität definiert. Obgleich Ethnologen die Paradigmen der Evolutionisten und Modernisierungstheoretiker zunächst teilten, erwiesen sich diese immer dann als irreführend oder auch schlicht falsch, wenn sie mit Erkenntnissen aus der Feldforschung konfrontiert wurden. In den 1970er und 1980er Jahren wandten sich Ethnologen vielfach von soziologischen Fragestellungen und Modernisierung ab. Sie befassten

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sich mit strukturalistischen, symbol- und später praxistheoretischen Fragestellungen – oder aber mit der kritischen Hinterfragung der Entstehung der Ethnologie im Kolonialismus und Politiken der Repräsentation (Asad 1973; Clifford/Marcus 1986). Die Diskussion der »multiple modernities« aber hat neue Berührungspunkte mit der kritischen Sozialtheorie eröffnet. So bietet etwa die Kritik von Stichweh an der soziologischen Trennung von Tradition und Moderne Anknüpfungspunkte für die Befunde aus der Ethnologie: »In einer kommunikations- und ereignisbasierten Gesellschaft«, schreibt Stichweh, »lässt sich für moderne wie für traditionelle Arrangements behaupten, dass sie von Moment zu Moment zu zerfallen drohen und dass sie deshalb durch unablässige Akte der Reproduktion gegen Zerfall geschützt werden müssen. In dieser Hinsicht sind also traditionelle wie moderne institutionelle Arrangements prinzipiell gleichzeitig, d.h. sie unterscheiden sich in der sie bestimmenden Form der Zeitlichkeit nicht« (Stichweh 2000: 212). Auch Charles Taylors’ These von den »zwei Theorien von Modernität« lässt sich gut mit der ethnologischen Auffassung der Vervielfältigung von Modernität vereinbaren. Taylor unterscheidet eine »akulturelle« Theorie von Modernität – worunter die Entwicklungstheorie von Lerner fällt – von einer »kulturellen« Theorie von Modernität (Taylor 2001). Anstatt Prozesse der Veränderung als kulturneutral anzunehmen, trägt eine kulturelle Theorie von Modernität dem Umstand Rechnung, dass Transformationen prinzipiell von den Idiomen, Konzepten und Werten geprägt werden, auf die sie einwirken. Aus einer solchen Perspektive lassen sich z.B. die indischen Erfahrungen von Modernität sinnvoll erfassen. Dennoch unterscheidet sich die Ethnologie von der Soziologie nicht zuletzt dadurch, dass Ethnologinnen den Blickwinkel ihrer eigenen Gesellschaft zwangsläufig relativieren, wenn sie ihre Forschungssubjekte verstehen wollen. Darüber hinaus spielt der politische Kontext, innerhalb dessen Theorien entworfen werden, eine ebenso wichtige Rolle für ihre Befunde wie die Machtverhältnisse, die Repräsentationen zwischen ›Modernen‹ und ›Traditionellen‹ reflektieren. Politik, Perspektivenwechsel und die Berücksichtigung des Kontexts sind für Sozialwissenschaftler, die sich in einer anderen als der westlichen Gesellschaft mit dem paradigmatischen Gegensatz von Tradition und Moderne befassen, von ebenso grundsätzlicher Bedeutung. Von diesem Standort aus kann begründet werden, dass Modernität sich sowohl normativ als auch in ihren sonstigen Erscheinungsformen vervielfältigt. Die euro-amerikanische Moderne mag, von

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ihren Ursprüngen her gedacht, singulär sein. Modernität aber ist es nicht, wie man am Beispiel Indien sehen konnte. Modernitäten werden rund um den Globus auf unterschiedlichste – und oft widersprüchliche – Weise produziert. Daher konvergieren sie auch nicht unbedingt mit der europäischen Erfahrung. So will die Ethnologie weder die Besonderheit der euro-amerikanischen Moderne bestreiten, noch ihre pluralen Ursprünge beweisen. Vielmehr forschen Ethnologinnen in anstatt über Moderne – und damit jenseits des Gegensatzes von modern-traditionell.

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Die bloße Vernunft Charles Taylor

I Gibt es einen Mythos der Aufklärung? Zweifellos gibt es eine verbreitete Auffassung, wonach die Aufklärung ein Weg war, der von der Finsternis zum Licht führte, also ein absoluter, vollendeter Übergang von einem Denkrahmen voller Irrtümer und Illusionen zu einem, in dem die Wahrheit endlich in Reichweite ist. Dem muss man sogleich hinzufügen, dass es eine Gegenauffassung gibt, die das ›reaktionäre‹ Denken bestimmt, wonach die Aufklärung ein Schritt wäre, der nur zum Irrtum führt, zu einem gewaltigen Erinnerungsverlust, durch den heilsame und notwendige Wahrheiten über die conditio humana in Vergessenheit geraten. Im Zuge der polemischen Auseinandersetzung um die Moderne geschieht es leicht, dass eher nuancierte Auffassungen an die Wand gedrückt werden. Die beiden eben genannten Anschauungen geraten hart aneinander, wobei es schwerfällt, nicht an Matthew Arnolds Wort über die »ahnungslosen, bei Nacht aufeinanderprallenden Truppen« zu denken. Welches sind die nuancierteren Ansichten? Zunächst einmal umfassen sie jene Interpretationen der modernen Geschichte, die pluralische Versionen der Aufklärung zulassen (Pocock 1999; Himmelfarb 2004). Doch sie umfassen auch Interpretationen, die der Auffassung sind, die singulare oder plurale Aufklärung habe zu wichtigen Gewinnen geführt, etwa Entdeckungen der Wahrheit oder neuen und nützlichen Konzepten, die aber auch mit gewissen Verlusten einhergegangen seien und manche Einsichten oder Tugenden verdeckt hätten oder in Vergessenheit geraten ließen, die es in unserer Welt vorher gab. Dies schließt eine insgesamt positive Beurteilung der Veränderung(en) nicht aus, doch es wirft die Fra-

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ge auf, was wir tun können, um einen Teil dessen wiederzuerlangen, was wir verloren haben, ohne dabei das Gewonnene zu opfern. Ein gutes Beispiel hierfür sind Tocquevilles Gedanken zur Demokratie. Er betrachtet diese gewaltige Bewegung sozialer Angleichung als etwas Unvermeidliches und Lobenswertes. An einer Stelle bezeichnet er sie sogar als etwas von der Vorhersehung Gewolltes (Tocqueville 1981). Doch er ist sich auch durchaus im Klaren darüber, was mit der Lebensweise des vormaligen Adels verlorengegangen ist, nämlich ein heroisches Gefühl der eigenen Würde mit Freiheit und mutigem Einsatz als deren wesentlichen Bestandteilen. Dieses Bewusstsein eines Verlustes bleibt nicht auf der Ebene nostalgischer Empfindung stehen. Tocqueville sucht nach Möglichkeiten, im demokratischen Zeitalter etwas Analoges zu schaffen, und dies findet er genau im Leben eines aktiven bürgerlichen Engagements, der Ausübung dessen, was er als politische Freiheit bezeichnet. Analog zu Tocquevilles Haltung gegenüber der Demokratie kann man sagen, dass es eine Möglichkeit gibt, ›für‹ die Aufklärung zu sein, entweder ohne Einschränkung oder in einer ihrer Spielarten, die sie nicht als uneingeschränkten Fortschritt sieht, sondern sich vielmehr der Verluste bewusst ist, die in ihrem Fahrwasser erlitten werden, und daher die Frage auf die Tagesordnung setzt, wie sich einige dieser Verluste möglicherweise ausgleichen lassen. Dies entspricht auch meiner eigenen Ansicht. Doch statt diese zu erläutern, möchte ich zu erklären versuchen, was der Auffassung zugrunde liegt, die Aufklärung sei ein absoluter, uneingeschränkter Fortschritt gewesen. Darin liegt aus meiner Sicht der ›Mythos‹ der Aufklärung. (Dieser kleinen Stichelei kann man sich wirklich nicht enthalten, denn der ›Mythos‹ wird oft als dasjenige genannt, wovor uns die Aufklärung gerettet habe.) Nach meiner Überzeugung lohnt es sich, so vorzugehen, denn dieser Mythos ist weiter verbreitet, als man annehmen könnte. Sogar raffinierte Theoretiker, die ihn zurückweisen würden, wenn man ihn als allgemeine These unterbreitete, scheinen sich in anderen Zusammenhängen auf ihn zu berufen. Es gibt also eine Lesart, der zufolge die Aufklärung für das Verlassen eines Bereichs steht, in dem die Offenbarung – oder die Religion generell – als Quelle der Einsicht in menschliche Belange galt, und wir dafür ein Gebiet betreten hätten, in dem diese Belange nunmehr in ausschließlich diesseitigen, rein menschlichen Begriffen verstanden würden. Freilich,

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dass einige Menschen diesen Weg zurückgelegt haben, ist unstrittig. Fragwürdig ist hingegen die Vorstellung, wonach dieser Schritt offensichtlich einen Erkenntnisgewinn nach sich zieht, der beinhaltet, dass wir Überlegungen, deren Wahrheit und Relevanz zweifelhaft ist, beiseitegeschoben und uns stattdessen auf Dinge konzentriert haben, die wir selbst entscheiden können und die offensichtlich relevant sind. Dieser Übergang wird oft als Fortschritt von der Offenbarung hin zur bloßen Vernunft (im Sinne Kants) dargestellt. Diese Idee findet sich etwa in Mark Lillas Buch The Stillborn God, obwohl er in manchen Abschnitten den Anschein erweckt, als handele es sich dabei um eine Entscheidung, die wir treffen müssen, und nicht um etwas, das uns die Vernunft gebietet. Doch schon die Idee, dass es eine klare Unterscheidung gibt zwischen politischem Denken, bei dem theologische Überlegungen am Werk sind, und solchem, aus dem diese verbannt sind, erinnert stark an einen gewissen Mythos der Vernunft. Lilla vertritt die These, es gäbe eine tiefe Kluft zwischen einem von der politischen Theologie geprägten Denken und einem »Denken und Sprechen über Politik ausschließlich in menschlichen Begriffen« (Lilla 2007: 5). Den neuzeitlichen Menschen sei »die Befreiung, Isolierung und Klärung eindeutig politischer Fragen ohne Spekulationen über den göttlichen Zusammenhang« gelungen. »Die Politik wurde, intellektuell gesprochen, ein eigenständiger Bereich, der eine unabhängige Untersuchung verdient und dem begrenzten Ziel dient, den Frieden und die Fülle bereitzustellen, die für die menschliche Würde erforderlich sind. Das war die ›Große Trennung‹.« (Lilla 2007: 5)

Solche Metaphern einer radikalen Trennung implizieren, dass ein humanzentriertes politisches Denken eine verlässlichere Richtschnur bei der Beantwortung dieses Gebiet betreffender Fragen sei als von der politischen Theologie geprägte Theorien. Auf klarere Beispiele stößt man bei modernen politischen Theoretikern, beispielsweise bei Rawls und Habermas. Trotz aller Unterschiede scheinen sie der nicht religiös geprägten Vernunft (der sogenannten »bloßen Vernunft«) einen Sonderstatus vorzubehalten, (a) so als wäre sie dazu imstande, bestimmte moralisch-politische Fragen in einer Weise zu lösen, die jeden aufrichtigen, nicht konfusen, denkenden Menschen zu Recht befriedigen kann, wobei (b) religiös fundierte Schlussfolgerungen

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stets zweifelhaft sind und letztlich nur Leute überzeugen, von denen die betreffenden Dogmen bereits akzeptiert worden sind. Dies erklärt die eine Weile lang von Rawls vertrene Idee, in einer religiös und philosophisch vielfältigen Demokratie dürfe man erwarten, dass jedermann darin in einer Sprache der »bloßen Vernunft« räsoniere und seine oder ihre religiösen Ansichten im Vorraum der Öffentlichkeit ablege. Man muss Rawls zugutehalten, dass er die tyrannische Natur dieser Forderung rasch erkannte. Doch die Behauptung selbst ergibt keinen Sinn, sofern nicht so etwas wie das oben erwähnte (a) + (b) wahr ist. Rawls ging es bei dieser Einschränkung darum, dass jedermann sich einer Sprache befleißigen solle, von der er vernünftigerweise erwarten dürfe, dass seine Mitbürger mit ihr einverstanden seien. Dass diese Anforderung nur die »bloße Vernunft« zulässt, die Sprache der Religion hingegen ausschließt, ist die Substanz von (a) und (b). Habermas’ Position zum religiösen Diskurs indes hat sich erheblich weiterentwickelt, bis hin zu dem Eingeständnis, ihr »Potential mach[e] die religiöse Rede bei entsprechenden politischen Fragen zu einem ernsthaften Kandidaten für mögliche Wahrheitsgehalte«. Die grundlegende erkenntnistheoretische Unterscheidung gilt für ihn dennoch weiterhin. Wenn es etwa um die offizielle Sprache des Staates geht, müssen Verweise auf Religiöses getilgt werden: »Im Parlament muss beispielsweise die Geschäftsordnung den Präsidenten ermächtigen, religiöse Stellungnahmen und Rechtfertigungen aus dem Protokoll zu streichen« (Habermas 2005: 137).1 Ehe ich fortfahre, sollte ich anmerken, dass die von der These ›(a) + (b)‹ vorausgesetzte Unterscheidung zwischen religiösem und nichtreligiösem Diskurs in puncto rationaler Glaubwürdigkeit nach meinem Eindruck völlig unbegründet ist. Vielleicht stellt sich ja zu guter Letzt heraus, dass die Religion auf einer Illusion basiert und daher alles daraus Abgeleitete an 1 | Natürlich hat Habermas recht: Im offiziellen Sprachgebrauch verschiedener Demokratien müssen bestimmte religiöse Bezugnahmen vermieden werden (auch wenn man dies nicht auf parlamentarische Debatten ausdehnen sollte). Dabei geht es nicht darum, dass sie spezifisch religiös sind, sondern darum, dass sie nicht von allen geteilt werden. So wäre es etwa für die Gesetzgebung genauso inakzeptabel, wenn sie durch eine ›Angesichts dessen, dass‹-Klausel gerechtfertigt würde, die sich auf eine atheistische Philosophie, wie durch eine, die sich auf die Autorität der Bibel bezieht.

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Glaubwürdigkeit verliert. Doch ehe wir wirklich so weit sind, gibt es keinen apriorischen Grund, weshalb man der Religion mit mehr Argwohn begegnen sollte. Die Glaubwürdigkeit der Unterscheidung selbst hängt von der Auffassung ab, dass eine völlig ›diesseitige‹ Argumentation ausreicht, um bestimmte moralisch-politische Konklusionen zu erhärten. Dabei ist ›ausreicht‹ im Sinne von (a) gemeint: Die betreffende Aussage sollte jedes aufrichtige, nicht konfuse, denkende Wesen zu Recht überzeugen. Solche Aussagen gibt es tatsächlich, und sie reichen von ›2 + 2 = 4‹ bis hin zu einigen der besonders gut fundierten Äußerungen der modernen Naturwissenschaft. Aber die maßgeblichen Überzeugungen, die zum Beispiel nötig sind, um unsere politisch-moralischen Grundsätze zu untermauern, gehören nicht zu ihnen. Die beiden heutzutage am meisten verbreiteten diesseitigen philosophischen Theorien – der Utilitarismus und der Kantianismus – beinhalten in ihren verschiedenen Lesarten immer wieder Punkte, die von aufrichtigen und nicht konfusen Menschen nicht für überzeugend erachtet werden. Denken wir an einige maßgeblichen Aussagen der modernen politischen Moral wie zum Beispiel jene, die den Menschen als solchen bestimmte Rechte – etwa das Recht auf Leben – zuschreiben. Mit Bezug auf solche Aussagen kann ich nicht erkennen, inwiefern die Tatsache, dass wir begehrende, genießende und leidensfähige Wesen sind, oder die Einsicht, dass wir vernünftige und handelnde Wesen sind, eine sicherere Basis für dieses Recht abgeben als das Faktum, dass wir zum Bilde Gottes geschaffen wurden. Freilich, dass wir leidensfähige Wesen sind, ist eine jener unbezweifelbaren Grundaussagen im Sinne von (a), während die Behauptung, dass wir Geschöpfe Gottes sind, nicht zu diesen Aussagen gehört. Weniger sicher ist jedoch, welche normativen Folgerungen sich aus der ersten Aussage ergeben. Es fällt viel leichter, diese Unterscheidung zu befürworten, wenn man schon über eine stichhaltige ›säkulare‹ Argumentation für diese Rechte zu verfügen glaubt. Das gilt beispielsweise für Habermas und seine »Diskursethik« (die ich für meinen Teil leider gar nicht überzeugend finde). Die auf den moralisch-politischen Bereich angewandte (a) + (b)-Unterscheidung ist ein Ergebnis des Aufklärungsmythos oder, wie man vielleicht sagen sollte, eine der von diesem Mythos angenommenen Gestalten. Auf den folgenden Seiten werde ich versuchen, die Entstehung dieser Illusion nachzuzeichnen. Einige Schritte auf ihrem Weg waren zum Teil wohlbegründet, andernteils jedoch basierten sie ihrerseits auf Täuschungen. Hier nenne ich drei Schritte, von denen die ersten beiden verhältnis-

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mäßig gut erforscht sind. Daher werde ich sie eher knapp abhandeln und mein Augenmerk auf den dritten Schritt richten. Der Ansatzpunkt (1) ist der Fundierungsgedanke, der in seiner bekanntesten Form bei Descartes vorliegt. Diese Konzeption verbindet einen laut Annahme unbezweifelbaren Ausgangspunkt (die partikelartigen Ideen im Geist) mit einer unfehlbaren Methode (der Methode der klaren und deutlichen Ideen) und sollte dementsprechend Schlussfolgerungen liefern, die der These (a) gerecht werden. Dieses Unternehmen scheitert jedoch, und zwar an zwei Stellen. Der unbezweifelbare Ausgangspunkt lässt sich durch einen entschlossenen Skeptizismus à la Hume in Frage stellen; und die Methode verlässt sich in zu hohem Maße auf apriorische Argumente, ohne genügend empirische Daten heranzuziehen. Aber obwohl Descartes’ Fundierungsgedanke und seine apriorische Physik auf Ablehnung stießen, hinterließ er (i) den Glauben, es sei wichtig, die richtige Methode zu ermitteln, und (ii) die entscheidende Erklärung, auf die sich die Vorstellung von der bloßen Vernunft stützt. Er beansprucht, von allen äußeren Autoritäten abzusehen, einerlei, ob aus der Gesellschaft oder der Tradition übernommen, ob von den Eltern oder Lehrern eingeimpft, und behauptet, sich nur auf das zu verlassen, dessen Gewissheit die monologische Vernunft verifizieren kann. Der richtige Vernunftgebrauch wird scharf von den Dingen unterschieden, die wir von Autoritäten übernehmen. Im Rahmen der westlichen Tradition setzt sich die Auffassung durch, zu diesen von außen aufgepfropften Einflüssen gehöre auch, ja in erster Linie die religiöse Offenbarung. So schreibt Condorcet in seiner Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes: »Il fut enfin permis de proclamer hautement ce droit si longtemps méconnu de soumettre toutes les opinions à notre propre raison, c’est-à-dire d’employer, pour saisir la vérité, le seul instrument qui nous ait été donné pour la reconnaître. Chaque homme apprit, avec une sorte d’orgueil, que la nature ne l’avait pas absolument destiné à croire sur la parole d’autrui; et la superstition de l’Antiquité, l’abaissement de la raison devant le délire d’une foi surnaturelle disparurent de la société comme de la philosophie.« (Condorcet 1988: 225)2

2 | Eine sehr aufschlussreiche Erörterung habe ich bei Vincent Descombes (2007: 163-178) gefunden.

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(»Endlich durfte das so lang geleugnete Recht laut verkündet werden, jedwede Meinung der Prüfung durch unsere eigene Vernunft zu unterwerfen, das heißt, des einzigen Werkzeugs zur Auffindung der Wahrheit sich zu bedienen, das uns zu ihrer Erkenntnis gegeben ist. Jedermann erfuhr mit gewissem Stolz, daß die Natur ihn nicht unter allen Umständen dazu bestimmt hatte, anderen aufs Wort zu glauben; und die abergläubische Verehrung des Altertums, die Erniedrigung der Vernunft vor dem Wahn eines übernatürlichen Glaubens verschwanden aus der Gesellschaft so gut wie aus der Philosophie.« [Condorcet 1976: 157])

Hier wird unser Denkvermögen als etwas Autonomes und Unabhängiges gekennzeichnet. Die echte Vernunft nimmt nichts auf Treu und ›Glauben‹ an (egal in welcher Bedeutung des Wortes). Dies könnte man das ›Prinzip der unabhängigen Vernunft‹ nennen. Die Geschichte seines Aufstiegs und seiner Selbstemanzipation wird als eine Art Reifeprozess der Menschheit gesehen. Kurze Zeit nach Condorcet hat Kant es dann so formuliert: die Aufklärung sei der »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit«. Der Wahlspruch der Aufklärung sei »Sapere aude!« – »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!« (Kant 1912: 33) Der erste entscheidende Schritt ist der Übergang zur unabhängigen Vernunft. Er wurde von Descartes eingeführt, doch die von ihm vorgeschlagene Methode geriet sehr bald unter Beschuss. Stattdessen beherrschte die konkurrierende, bekanntlich von John Locke definierte Methode des Empirismus die Szene. Diese Methode fühlt sich faktisch berechtigt, den radikalen skeptischen Einwand gegen ihren Ausgangspunkt zu ignorieren. Einfache Ideen sind unhintergehbar: Der Geist kann nicht umhin, sie aufzunehmen, und daher sind sie die unvermeidlichen Ausgangspunkte. Es nützt nichts, sie weiter zu hinterfragen. Doch es lässt sich eine bessere Methode als die cartesianische entwickeln, eine, die die tatsächlichen in der Erfahrung vorgefundenen Korrelationen geduldig nachverfolgt. Hier findet der Empirismus eine gewisse Unterstützung in der (2) postgalileischen Naturwissenschaft, oder er hofft zumindest, dass dem so sei. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, es gäbe eine Methode, die ihre Schlussfolgerungen in beobachteten Tatsachen verankert, die jedermann außer radikalen Skeptikern als dem (a) Standard genügend akzeptiert. Gemäß einer sehr einfachen, empiristischen Version nimmt sie Korrelationen solcher Tatsachen einfach zur Kenntnis und zeichnet sie auf und/oder ordnet sie anhand komplexerer intervenierender Entitäten, die selbst nicht beobachtbar sind.

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An die Stelle dieses sehr naiven Wissenschaftsverständnisses traten angemessenere Formen, die die Tatsache berücksichtigen, dass der wissenschaftliche Umgang mit beobachtbaren Tatsachen durch ein umfassenderes Bild der Funktionsweise der Dinge und der Frage, wie die Tatsachen, die wir beobachten, sich kausal erklären lassen, geprägt wird. Dieses umfassendere Bild wird heute in Anlehnung an Thomas Kuhns einflussreiches Werk häufig als »Paradigma« bezeichnet. Bestimmte Fortschritte in der Wissenschaft sind nicht möglich, solange man mit einem unangemessenen Paradigma arbeitet, während umgekehrt ein Paradigmenwechsel ein neuerliches Anschwellen der Fortschritte möglich macht. So galt, um auf ein berühmtes Beispiel zurückzugreifen, in der aristotelischen Mechanik das Prinzip keine Bewegung ohne Beweger als zutreffend. Jede Bewegung musste eine in diesem Moment wirkende Ursache haben. Aus diesem Grund war es unmöglich, die Bewegung von Projektilen oder Kanonenkugeln zu begreifen. Was veranlasste diese, weiterzufliegen, nachdem sie die Hand oder die Kanone verlassen hatten? Solange das Paradigma intakt blieb, war eine Lösung dieser Frage nicht möglich. Aus Sicht der Theorie handelte es sich bei diesen Bewegungen um Normabweichungen. Erst als sich das Trägheitsparadigma änderte, war es möglich, diese Bewegungen, ihre Verlaufsbahn und die Frage, warum sie endeten, zu verstehen. In Anlehnung an dieses Verständnis der Rolle des Paradigmas ergibt sich das Bild einer Wissenschaft, die, indem sie sich selbst auf – im Sinne von (a) – unbestreitbare Elemente der Erfahrung stützt, versucht, wirksame Kausalerklärungen für diese Ereignisse anzubieten. Obwohl diese Wissenschaft nur voranschreiten kann, indem sie erläuternde Bezugssysteme entwickelt, in die sich die beobachteten Ereignisse einordnen lassen, kann man diese anhand ihrer Fähigkeit unterscheiden, mit den Punkten, die es zu erläutern gilt, zurechtzukommen, ohne dabei auf unlösbare Normabweichungen zu stoßen. Die Verdrängung des einen Paradigmas durch ein anderes lässt sich mit den Normabweichungen rechtfertigen, die durch diesen Schritt gelöst wurden. Wir sind weit von dem erkenntnistheoretischen Fundamentalismus eines Descartes entfernt, doch wir haben nach wie vor einen Bereich, von dem wir sagen können, dass wohlbegründete Schlussfolgerungen die in (a) beanspruchte Glaubwürdigkeit verdienen. Nun haben (1) und (2), und dabei vor allem (2), erhebliche Auswirkungen auf die neuzeitliche Vorstellungskraft. Die Naturwissenschaft ist für viele das Paradigma des erfolgreichen Wissenserwerbs geworden und befasst sich überdies nur mit diesseitigen Gegenständen. In gewis-

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ser Hinsicht bietet der Aufstieg der postgalileischen Naturwissenschaft ein Szenario, das dem Mythos der Aufklärung als eines uneingeschränkten Fortschritts vollkommen entspricht. Der Umstand, dass man die Erklärung der Phänomene der natürlichen Welt aus dem platonisch-aristotelischen Bezugssystem herauslöste, in dem die Formen das materielle Universum prägen, und in den Geltungsbereich der effizient-kausalen Beziehungen innerhalb dieses Universums übertrug, ermöglichte einen ›großen Sprung nach vorn‹, der bis heute anhält. Da die Formen, zumindest in ihrer platonischen Spielart, jenseitig sind (sich außerhalb der Zeit befinden), lässt sich dies als Schritt aus der Finsternis ins Licht darstellen, mit dem man den schattenhaften, jenseitigen Bereich verlässt und helles Licht auf die uns umgebende Welt wirft. Haben wir uns nicht das Recht verdient, von einer klaren erkenntnistheoretischen Überlegenheit der diesseitigen Vernunft über den jenseitigen Glauben zu sprechen? In einem gewissen Sinne ohne Zweifel: ja. Doch handelt es sich dabei nicht um dieselbe Dichotomie, mit der wir es weiter oben zu tun hatten, bei der es um die Begriffe Vernunft und Offenbarung oder Vernunft und Religion ging. Die Widerlegung der aristotelischen Physik ist eine Sache, die sämtlicher Religionen eine gänzlich andere. Diese Fragestellungen sind so unterschiedlich, dass man anmerken kann, dass die Widerlegung aristotelischer und platonischer Ansichten des Kosmos zumindest von christlichen Denkern einer gewissen Überzeugung angespornt und teilweise durchgeführt wurde. Man kann etwa Marin Mersenne anführen, der mit allen bedeutenden wissenschaftlichen Denkern seiner Zeit (der Mitte des 17. Jahrhunderts) korrespondierte und mit Descartes, der aus theologischen Gründen die aus der Spätrenaissance stammenden Theorien eines belebten Universums sehr skeptisch beurteilte, auf besonders vertrautem Fuße stand. Der Antrieb hier war derselbe wie der zur Entzauberung in den katholischen wie protestantischen Reformbewegungen jener Zeit, die bestrebt waren, eine Reihe von Praktiken zu untersagen, die im Rückblick als »magisch« verdammt wurden (daher der Weber’sche Begriff der »Entzauberung«). Der Grund in allen diesen Fällen war, dass durch die Zuschreibung derartiger Macht an weltliche Prozesse die souveräne Macht Gottes entweder geleugnet oder zumindest in Frage gestellt wurde. Ungeachtet dieser entscheidenden Facette unserer Geschichte ist die Verwirrung, die Verzauberung mit Religion allgemein zusammenwirft, weitverbreitet und Teil dessen, was der Behauptung zugrunde liegt, die ›Naturwissenschaft habe die Religion widerlegt‹. Von hier aus ist es viel-

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leicht ein leichter Schritt zu der Ansicht, dass die (a) + (b)-Unterscheidung, die für die postgalileische Naturwissenschaft im Verhältnis zur platonischaristotelischen Formentheorie eindeutig zutrifft, irgendwie auch für die moralische und politische gilt. Doch man kann diesen weiteren Schritt auch noch auf andere Weise aufnehmen, indem man für die Vorstellung einer reduktiven Erklärung eintritt, derzufolge die Methoden der Naturwissenschaft bereits ausreichen oder letzten Endes ausreichen werden, um die Phänomene des menschlichen Lebens zu erklären. Das wäre in der Tat der kürzeste Weg zu dieser Facette des Aufklärungsmythos. Ich werde darauf weiter unten zurückkommen.

II Diese Schritte liegen (3) der neuzeitlichen Vorstellung von einer moralischen Ordnung zugrunde.3 Besonders klar wird diese Vorstellung in den neuen, im 17. Jahrhundert aufkommenden Theorien des Naturrechts formuliert, und zwar weitgehend als Reaktion auf die von den Religionskriegen hervorgerufenen inner- und zwischenstaatlichen Unruhen. Die wichtigsten Theoretiker, auf die wir hier zum Zwecke unserer Untersuchung Bezug nehmen wollen, sind Grotius und Locke. Grotius leitet die der politischen Gesellschaft zugrunde liegende normative Ordnung aus dem Wesen der sie bildenden Mitglieder ab. Menschen seien rationale, gesellige Akteure, die in Frieden und zu ihrem wechselseitigen Vorteil miteinander zusammenarbeiten sollen. Seit dem 17. Jahrhundert prägt diese Auffassung in immer höherem Maße unser politisches Denken sowie die Vorstellungen, die wir uns von unserer Gesellschaft machen. In der von Grotius präsentierten Lesart stellt sich diese Auffassung zunächst als Theorie über das Wesen der politischen Gesellschaft dar, das heißt als Theorie über den Nutzen und die Entwicklung dieser Gesellschaft. Aber keine derartige Theorie kann umhin, ein Konzept der moralischen Ordnung vorzulegen. Jede derartige Theorie sagt etwas darüber aus, wie wir in der Gesellschaft zusammenleben sollten. Dieses Bild von der Gesellschaft ist ein Bild von Einzelwesen, die sich zusammenfinden, um sich vor einem bestimmten, bereits existierenden 3 | Diese Vorstellung erörtere ich sehr viel ausführlicher in meinem Buch Modern Social Imaginaries, Durham 2004.

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moralischen Hintergrund und im Hinblick auf gewisse Ziele an einem politischen Gebilde zu beteiligen. Der moralische Hintergrund ist durch natürliche Rechte gegeben, und diese Menschen haben einander gegenüber schon bestimmte moralische Verpflichtungen. Die angestrebten Ziele sind gemeinsame Vorteile, unter denen die Sicherheit als wichtigster hervorsticht. Die zugrunde liegende Vorstellung von der moralischen Ordnung betont die Rechte und Pflichten, die wir als Individuen gegenüber den anderen haben, und zwar schon vor Zustandekommen des politischen Verbands sowie außerhalb dieses Verbands. Die politische Autorität selbst ist nur deshalb legitim, weil sie von den einzelnen (durch den Urvertrag) abgesegnet wurde und dieser Vertrag schafft vermöge des vorgegebenen Prinzips, wonach Versprechen gehalten werden sollen, bindende Verpflichtungen. Wichtiger für unser heutiges Leben ist die Art und Weise, in der dieses Ordnungskonzept für unsere Vorstellungen von Gesellschaft und Staat immer wichtiger geworden ist und diese Vorstellungen gleichzeitig umgemodelt hat. Im Laufe dieses Entwicklungsprozesses hat sich das Konzept von einer die Debatten weniger Fachleute belebenden Theorie zu einem wesentlichen Bestandteil unseres Gesellschaftsbilds gemausert; das heißt, es prägt die Vorstellungen, die sich unsere Zeitgenossen von der Gesellschaft machen, in der sie leben und die von ihnen getragen wird. Ich möchte diesen Prozess später detaillierter beschreiben. Ein entscheidender Punkt, der angesichts der bisherigen Ausführungen auf der Hand liegen sollte, ist die Feststellung, dass der hier gebrauchte Begriff der moralischen Ordnung auf mehr hinausläuft als auf eine Zusammenstellung von Normen, die unsere Beziehungen zueinander und/oder das politische Leben bestimmen sollten. Sobald man sich ein bestimmtes Verständnis von der moralischen Ordnung zu eigen gemacht hat, kommt etwas zur Kenntnis und Bejahung von Normen hinzu, nämlich die Identifizierung von Merkmalen der Welt, des göttlichen Handelns oder des menschlichen Lebens, durch die bestimmte Normen sowohl richtig als auch (bis zum angegebenen Punkt) realisierbar werden. Mit anderen Worten: Das Bild der Ordnung bringt nicht nur eine Definition des Richtigen mit sich, sondern auch eine Bestimmung des Kontexts, in dem das Streben nach dem Richtigen und die Hoffnung auf (wenigstens partielle) Verwirklichung des Richtigen sinnvoll ist. Klar ist, dass die Bilder der moralischen Ordnung, die auf dem Weg über eine Reihe von Transformationen aus dem Konzept der Naturrechtslehren von Grotius und Locke auf uns gekommen sind, grundverschieden

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sind von den Gedanken, die in das soziale Vorstellungsschema der vorneuzeitlichen Periode eingebettet sind. Hier sollen zwei wichtige Formen der vorneuzeitlichen Ordnungsvorstellung herausgestellt werden, denn an ihnen kann man erkennen, wie sie während des Übergangs zur politischen Auffassung der Neuzeit allmählich von der Grotius-Locke-Theorie übernommen, verdrängt oder ins Abseits geschoben worden sind. Die erste Form beruht auf der Idee eines Volksgesetzes, von dem das betreffende Volk seit unvordenklicher Zeit regiert und in einem gewissen Sinne als Volk geprägt worden ist. Unter den indogermanischen Stämmen, die zu verschiedenen Zeiten in Europa eindrangen, scheint diese Idee weit verbreitet gewesen zu sein. Im 17. Jahrhundert war sie in England unter dem Namen »Ancient Constitution« sehr einflussreich und entwickelte sich zu einem der maßgeblichen Gedanken, die der Auflehnung gegen den König eine Rechtfertigung gaben (siehe Pocock 1987). Dieses Beispiel sollte genügen, um zu zeigen, dass solche Vorstellungen in ihrer Tragweite nicht immer konservativ sind. Aber außerdem sollten wir dieser Kategorie auch das Gefühl der normativen Ordnung zurechnen, das in bäuerlichen Gemeinschaften offenbar über viele Generationen hinweg bestanden hat und aus dem ein Bild der »moralischen Ökonomie« hervorgegangen ist, von dem ausgehend Bauern die Lasten beanstanden konnten, die ihnen von Gutsherren auferlegt wurden, oder die Steuern, die Staat und Kirche von ihnen forderten.4 Auch hier scheint stets die Idee wiederaufzutauchen, eine ursprünglich akzeptable Verteilung der Lasten sei durch widerrechtliche Anmaßung verdrängt worden und sollte eingeschränkt werden. Im Mittelpunkt der zweiten Form steht die Vorstellung von einer gesellschaftlichen Hierarchie, die einer kosmischen Hierarchie Ausdruck verleiht oder ihr entspricht. Theorien darüber wurden oft in einer Sprache artikuliert, die sich des platonischen oder aristotelischen Formbegriffs bediente, aber die Grundidee kommt auch in Theorien der Korrespondenz deutlich zum Vorschein, die beispielsweise besagen, dass der König in seinem Reich die gleiche Rolle spielt wie der Löwe im Tierreich oder der Adler im Reich der Vögel und so weiter. Daraus erwuchs die Vorstellung, Unordnung unter den Menschen werde in der Natur widerhallen, da sie die Ordnung der Dinge bedrohe. Die Nacht, in der Duncan 4 | Den Ausdruck »moralische Ökonomie« übernehme ich von Thompson 1971.

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ermordet wird, ist unruhig, es erschallt »ein Wimmern in der Luft; ein Todesstöhnen«, und es bleibt dunkel, obwohl der Tag hätte anbrechen müssen. Am Dienstag zuvor hat eine Eule auf Mäusejagd einen Falken getötet; und in der Nacht werden Duncans Rosse wild, »als wollten Krieg sie mit den Menschen führen« (Shakespeare [1623]: II, 3, 56; II, 4; Übers. Tieck 1986).5 In beiden Fällen – und ganz besonders im zweiten – haben wir es mit einer Ordnung zu tun, die durch den Lauf der Welt Wirklichkeit wird. Verstöße werden durch Reaktionen geahndet, die über den Bereich des bloß Menschlichen hinausgehen. In vorneuzeitlichen Vorstellungen von der moralischen Ordnung scheint dieser Gedanke sehr verbreitet gewesen zu sein. Anaximander vergleicht jede Abweichung vom Gang der Natur mit ungerechtem Verhalten und sagt, dass Dinge, die sich widersetzen, einander schließlich »Recht und Strafe für das Unrecht [leisten], gemäß der zeitlichen Ordnung« (zit. n. Dupré 1993: 19; Übers. in Mansfeld 1999: 73). Heraklit bedient sich ähnlicher Begriffe, wenn er von der Ordnung der Dinge spricht und sagt, dass die Sonne, sollte sie je von der ihr bestimmten Bahn abweichen, von den Furien gepackt und zurückgezerrt werden würde.6 Natürlich sind auch die Formen Platons wirksam und gestalten die Dinge und Ereignisse in der Welt des Wandels. In diesen Fällen wird ganz deutlich, dass eine moralische Ordnung mehr ist als bloß eine Menge von Normen – dass sie außerdem eine sozusagen ›ontische‹ Komponente enthält, die der Ermittlung von Merkmalen der Welt dient, mit deren Hilfe die Normen realisiert werden können. Die neuzeitliche, von Grotius und Locke stammende Ordnungsvorstellung ist nicht in dem von Hesiod oder Platon oder von den kosmischen Reaktionen auf Duncans Ermordung in Anspruch genommenen Sinn selbstverwirklichend. Daher ist es verlockend zu glauben, dass unsere neuzeitlichen Vorstellungen von moralischer Ordnung überhaupt keine ontische Komponente enthalten. Das wäre jedoch, wie ich weiter unten zu zeigen hoffe, ein Irrtum. Es gibt hier zwar einen wichtigen Unterschied, aber er liegt nicht im vermeintlichen Fehlen einer ontischen Dimension, sondern dar-

5 | Siehe mein Buch Sources of the Self (1989): 298 (Übers. Schulte 1996: 528). 6 | »Die Sonne wird die [ihr gegebenen] Maße nicht überschreiten; sonst werden sie die Erinnyen, die Helferinnen der Dike, ausfindig machen.« (Zit. n. Sabine 1961: 26; Übers. in Mansfeld [1999]: 267)

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in, dass diese Komponente jetzt ein Merkmal ist, das nicht Gott oder den Kosmos betrifft, sondern uns Menschen. Was unseren neuzeitlichen Ordnungsbegriff auszeichnet, wird besonders deutlich, wenn man sein Augenmerk auf die Frage richtet, inwiefern sich die Idealisierungen der Naturrechtslehre von denen unterscheiden, die vorher dominierten. Die vorneuzeitlichen sozialen Vorstellungsschemata – insbesondere jene der zweiten Art – wurden durch verschiedene Formen der hierarchischen Komplementarität strukturiert. Die Gesellschaft, so meinte man, bestehe aus verschiedenen Rängen oder Ständen, die einander brauchten und ergänzten. Das hieß allerdings nicht, dass die Beziehungen zwischen diesen Ständen wirklich auf Gegenseitigkeit beruhten, denn sie existierten nicht auf derselben Ebene. Vielmehr bildeten sie eine Hierarchie, in deren Rahmen einige Stände mehr Würde und Wert besaßen als andere. Ein Beispiel hierfür ist die oft genannte Idealvorstellung des Mittelalters, wonach die Gesellschaft aus den drei Ständen der oratores, bellatores und laboratores besteht: aus denen, die beten, denen, die kämpfen, und denen, die arbeiten. Klar ist, dass sie einander brauchten, aber es besteht kein Zweifel daran, dass wir es hier mit einer absteigenden Stufenleiter der Würde zu tun haben. Einige Aufgaben waren ihrem Wesen nach höher als andere. Ein besonders wichtiges Merkmal eines solchen Ideals liegt darin, dass die Verteilung der Aufgaben selbst ein maßgeblicher Teil der normativen Ordnung ist. Es geht nicht nur darum, dass jeder Stand eine charakteristische Funktion für die anderen zu erfüllen hat, sofern diese sich auf den Handel eingelassen haben, während die Möglichkeit einer völlig anderen Strukturierung besteht, wie sie beispielsweise in einer Welt gegeben wäre, in der jeder ein wenig betet, ein wenig kämpft und ein wenig arbeitet. Nein, hier wird die hierarchische Differenzierung selbst als richtige Ordnung der Dinge gesehen. Sie ist ein Bestandteil der Natur beziehungsweise des Gesellschaftstyps. Nach den eben erwähnten platonischen und neoplatonischen Lehren ist die entsprechende Form bereits in der Welt wirksam, so dass jeder Versuch einer Abweichung in einem Konflikt der Realität mit sich selbst resultiert. Ein solcher Versuch würde der Gesellschaft das Natürliche entziehen. Daher rührt die enorme Überzeugungskraft der Organismusmetapher in diesen alten Theorien. Der Organismus, der seine Wunden zu heilen und seine Krankheiten zu kurieren trachtet, ist offenbar der paradigmatische Ort der wirkenden Formen. Dabei ist die Anordnung der Funktionen, die er an den Tag legt, keine bloß willkürliche

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Angelegenheit, sondern sie ist ›normal‹ und richtig. Die Füße sind unter dem Kopf, und so sollte es sein. Das neuzeitliche Ordnungsideal geht in eine völlig andere Richtung. Nicht nur ist für wirksame Formen im platonischen Sinne kein Raum mehr. Der in einer Gesellschaft gegebenen Aufgabenverteilung kommt auch keine Notwendigkeit mehr zu. Wenn sie gerechtfertigt wird oder nicht, so geschieht das unter dem Gesichtspunkt der Zweckrationalität. Sie selbst kann das Gute nicht definieren. Freilich, das normative Grundprinzip besagt, dass die Angehörigen der Gesellschaft den Bedürfnissen der jeweils anderen entgegenkommen, dass sie einander helfen und dass sie sich, kurz gesagt, eben wie vernunftbegabte und gesellige Lebewesen benehmen. So gesehen, ergänzen sie einander. Aber die spezifische Differenzierung der Funktionen, die erforderlich ist, damit dieses Prinzip möglichst effizient umgesetzt wird, hat von sich aus keinen Wert. Sie entspringt dem Zufall und kann geändert werden. In manchen Fällen kann es vorkommen, dass sie nur kurzfristig Bestand hat, wie zum Beispiel in der antiken Polis, wo das Prinzip galt, abwechselnd Regierender oder Regierter zu sein. In anderen Fällen ist lebenslange Spezialisierung erforderlich, in der jedoch kein innerer Wert liegt: Alle Berufe sind in den Augen Gottes gleich. Ob so oder so – die neuzeitliche Ordnung billigt der hierarchischen Ordnung oder einer spezifischen Differenzierungsstruktur keinen ontologischen Rang zu. Somit ist das Grundlegende an der neuen normativen Ordnung die wechselseitige Achtung und das gegenseitige Entgegenkommen der Individuen, aus denen die Gesellschaft besteht. Die gegebenen Strukturen sollen diesen Zwecken dienen und werden im Hinblick darauf zweckrational beurteilt. Der Unterschied könnte dadurch kaschiert werden, dass auch die alten Ordnungen so etwas wie wechselseitiges Entgegenkommen garantieren: Der Klerus betet für die Laien, und die Laien kämpfen oder arbeiten für den Klerus. Aber das Entscheidende ist ebendiese Einteilung in Typen im Rahmen einer hierarchischen Anordnung. In der neuen Auffassung dagegen geht man von den Individuen und ihrer Verpflichtung zu gegenseitigem Entgegenkommen aus, während die Einteilungen so vorgenommen werden, dass die Verpflichtungen möglichst effizient erfüllt werden können. So beginnt Platon im zweiten Buch des Staats, indem er aus der Unselbstständigkeit des einzelnen auf die Notwendigkeit einer Ordnung wechselseitigen Entgegenkommens schließt. Aber schon bald wird klar,

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dass es eigentlich auf die Struktur dieser Ordnung ankommt. Der letzte Zweifel wird ausgeräumt, sobald wir erkennen, dass diese Ordnung der normativen Ordnung der Seele entsprechen und mit ihr in Wechselwirkung stehen soll. Dagegen geht es dem neuzeitlichen Ideal zufolge ausschließlich um die wechselseitige Achtung und das Entgegenkommen – ganz unabhängig davon, wie ihre Verwirklichung gelingt. Auf zwei Unterschiede, die dieses Ideal von der früheren, nach platonischem Vorbild strukturierten Ordnung der hierarchischen Komplementarität trennen, habe ich bereits hingewiesen: Es gibt erstens keine in der Realität wirksame Form, und zweitens ist die Aufgabenverteilung nicht von sich aus normativ. Es gibt jedoch noch einen dritten Unterschied, der damit einhergeht. Bei den aus dem Platonismus stammenden Theorien beinhaltet die gegenseitige Hilfe, welche die Stände, wenn sie im richtigen Verhältnis zueinander stehen, einander angedeihen lassen, dass sie dadurch in den Zustand der höchsten Tugend versetzt werden. Im Grunde ist dies die Hilfe, welche die Gesamtordnung sozusagen allen ihren Mitgliedern leistet. Dem neuzeitlichen Ideal zufolge geht es bei der wechselseitigen Achtung und dem Entgegenkommen darum, dass unseren normalen Zielen – Leben, Freiheit, Unterhalt der eigenen Person und der Angehörigen – gedient ist. Die Organisation der Gesellschaft wird, wie bereits gesagt, nicht nach ihrer inneren Form beurteilt, sondern unter dem Gesichtspunkt der Zweckrationalität. Dem können wir jetzt allerdings hinzufügen, dass der Zweck, dem diese Organisation dient, nicht die höchste Tugend ist, sondern es geht um die eigentlichen Grundlagen unserer Existenz als freie Akteure – was jedoch nicht die Einschätzung ausschließt, dass ein hohes Maß an Tugend nötig ist, um die eigene Aufgabe in diesem Rahmen zu erfüllen. Der wichtigste Dienst, den wir einander leisten, ist (um es in der Sprache einer späteren Zeit auszudrücken) die Herstellung kollektiver Sicherheit, die rechtliche Absicherung des Lebens und des Eigentums. Aber wir helfen einander auch durch wirtschaftlichen Austausch. Diese beiden Hauptziele – Sicherheit und Wohlstand – kennzeichnen nunmehr auch die geordnete Gesellschaft, die ihrerseits im Sinne des gewinnbringenden Austauschs zwischen den sie konstituierenden Mitgliedern begriffen werden kann. Die ideale soziale Ordnung ist ein Gefüge, in dem unsere Zwecke ineinandergreifen und in dem jeder den anderen hilft, indem er nach eigenem Vorteil strebt. Diese ideale Ordnung wurde nicht als bloß menschliche Erfindung aufgefasst. Vielmehr sei sie von Gott entworfen – eine Ordnung, in der

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alles in Übereinstimmung mit den Absichten Gottes zusammenhängt. Im ausgehenden 18. Jahrhundert wird das gleiche Modell auf den Kosmos projiziert. Man deutet das Universum als eine Menge perfekt ineinandergreifender Teile, in der die Zwecke jeder Art von Lebewesen mit denen aller übrigen Wesen verzahnt sind. Diese Ordnung bestimmt das Ziel unseres konstruktiven Handelns, insofern es in unserer Macht steht, sie zu erschüttern oder in die Tat umzusetzen. Freilich, wenn man das Ganze betrachtet, sieht man, wie viel von dieser Ordnung bereits verwirklicht ist. Doch wenn man den Blick auf menschliche Angelegenheiten richtet, erkennt man, wie weit wir uns von dieser Ordnung entfernt und inwieweit wir sie umgestürzt haben. Sie wird zur Norm, zu der wir uns zurückzukehren bemühen sollten. Diese Ordnung, so dachte man, trete in der Ordnung der Dinge zutage. Natürlich, wenn wir die Offenbarung zu Rate ziehen, werden wir dort ebenfalls auf die Forderung stoßen, wir sollten uns nach ihr richten. Aber nur die Vernunft könne uns Aufschluss über die Absichten Gottes geben. Lebewesen, zu denen auch wir selbst gehören, streben nach Selbsterhaltung. Das sei Gottes Werk. »Gott hat den Menschen geschaffen und ihm, wie allen anderen lebenden Wesen, einen starken Selbsterhaltungstrieb eingepflanzt. Er hat die Welt mit den geeigneten Dingen für Nahrung, Kleidung und andere Lebensbedürfnisse versehen, die alle seinem Vorhaben dienten, dass der Mensch leben und für einige Zeit auf der Oberfläche der Erde wohnen, nicht aber, dass ein so sorgfältiges und wunderbares Kunstwerk durch seine eigene Nachlässigkeit oder aus Mangel am Notwendigsten nach wenigen Augenblicken schon wieder umkommen sollte. […] Gott […] sprach zu ihm, das heißt, er zeigte ihm durch seine Sinne und die Vernunft […] den Gebrauch der Dinge, die für sein Dasein tauglich waren, und gab ihm die Mittel für seine Erhaltung. […] Denn da der überaus starke Trieb, sein Leben und sein Dasein zu erhalten, ihm von Gott selbst als ein Prinzip des Handels eingepflanzt worden war, konnte ihn die Vernunft, als die Stimme Gottes in ihm, nur lehren und überzeugen, dass er in der Befolgung dieser natürlichen Neigung, sein Dasein zu erhalten […], den Willen seines Schöpfers erfüllte« (Locke [1689]: I, 9. Kapitel, § 86; Übers. Hoffmann 1977: 136).

Da wir vernunftbegabte Wesen sind, erkennen wir, dass es nicht nur um die Erhaltung des eigenen Lebens geht; vielmehr soll das Leben aller Menschen erhalten werden. Außerdem hat uns Gott zu geselligen Wesen gemacht.

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»Wie ein jeder verpflichtet ist, sich selbst zu erhalten und seinen Platz nicht vorsätzlich zu verlassen, so sollte er aus dem gleichen Grunde, und wenn seine eigene Selbsterhaltung nicht dabei auf dem Spiel steht, nach Möglichkeit auch die übrige Menschheit erhalten« (Locke [1689]: II, 2. Kapitel, § 6; Übers. Hoffmann 1977: 203).7

Ebenso folgert Locke, Gott habe uns das Vermögen der Vernunft und der Disziplin gegeben, damit wir den Auftrag der Selbsterhaltung möglichst zielstrebig erfüllen. Daraus ergibt sich, dass wir »fleißig und verständig« sein sollen (Locke [1689]: II, 5. Kapitel, § 34; Übers. Hoffmann 1977: 289). Die Ethik der Disziplin und der Verbesserung ist ihrerseits eine Forderung der von Gott entworfenen natürlichen Ordnung. Dass der menschliche Wille diese Ordnung durchsetze, ist ein Gebot des göttlichen Plans. Aus Lockes Formulierungen ist zu ersehen, in welchem Maße er das wechselseitige Entgegenkommen als gewinnbringenden Austausch begreift. Das »ökonomische« (das heißt: geordnete, friedliche, produktive) Handeln ist zum Modell des menschlichen Verhaltens und zum Schlüssel des harmonischen Miteinanders geworden. Im Gegensatz zu den Theorien der hierarchischen Komplementarität ist hier vorgesehen, dass wir einander in einem Bereich der Eintracht und des wechselseitigen Entgegenkommens begegnen, und zwar nicht, indem wir über unsere normalen Ziele und Zwecke hinausgehen, sondern – ganz im Gegenteil – indem wir sie in Einklang mit dem göttlichen Plan verwirklichen. Anfangs stand diese Idealisierung gar nicht in Einklang mit dem wirklichen Gang der Dinge und daher auf praktisch jeder Ebene der Gesellschaft auch nicht mit dem gültigen sozialen Vorstellungsschema. Die hierarchische Komplementarität war das Prinzip, nach dem das Leben der Menschen auf allen Ebenen faktisch geführt wurde – von der Ebene des Königreichs über die Stadt, die Diözese, die Pfarrgemeinde, die Sippe, bis hin zur Familie. Anhand des Beispiels der Familie kann man sich ein anschauliches Bild von der Disparität machen, denn erst in unserer Zeit ist es wirklich soweit, dass die früheren Vorstellungen von hierarchischer Komplementarität zwischen Mann und Frau umfassend in Frage gestellt werden. Doch das ist ein spätes Stadium eines ›langen Marschs‹, in dessen Verlauf die entlang der drei genannten Achsen voranschreitende neuzeit7 | Siehe ferner II, 11. Kapitel, § 135; außerdem Some Thoughts concerning Edu cation, § 116.

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liche Idealisierung unser soziales Vorstellungsschema auf praktisch jeder Ebene erreicht und mit revolutionären Konsequenzen transformiert hat. Gerade das Revolutionäre der Konsequenzen sorgte dafür, dass die ersten Befürworter dieser Theorie deren Anwendbarkeit auf zahlreiche Gebiete, wo sie uns heute offensichtlich erscheint, verkannten. Da die hierarchisch-komplementären Lebensformen in der Familie, zwischen Herren und Dienern im Haushalt, zwischen Gutsherren und Bauern auf dem Lande, zwischen gebildeter Elite und Massen unangefochten in Geltung standen, wirkte es ›selbstverständlich‹, dass das neue Ordnungsprinzip im Rahmen gewisser Grenzen angewandt werden sollte. Das wurde häufig nicht einmal als Einschränkung wahrgenommen. Dass die Whigs im 18. Jahrhundert ihre oligarchische Machtstellung im Namen des ›Volkes‹ verteidigten, kommt uns heute wie ein eklatanter Widerspruch vor, aber die Führer der Whigs hielten es für reinen Common Sense. Eigentlich stützten sie sich auf einen älteren Begriff des ›Volkes‹, der auf eine vorneuzeitliche Ordnungsvorstellung des ersten Typs (im Sinne der obigen Einteilung) zurückgeht, wonach ein Volk als solches durch ein Gesetz konstituiert wird, das ›seit unvordenklicher Zeit‹ existiert. Dieses Gesetz kann einigen Elementen der Gesellschaft die Führung übertragen, weshalb es dann ganz natürlich wirkt, wenn diese Elemente für das ›Volk‹ sprechen. Sogar Revolutionen (oder was wir dafür halten) spielten sich im Europa der frühen Neuzeit nach den Regeln dieser Auffassung ab. Das gilt beispielsweise für die monarchomachischen Autoren zur Zeit der französischen Religionskriege, die den unorganisierten Massen kein Recht auf Rebellion zugestanden, wohl aber den ›untergeordneten Magistraten‹. Auf der gleichen Grundlage rebellierte das englische Parlament gegen Karl I. Vielleicht kommt dieser lange Marsch erst heute zum Abschluss. Womöglich sind auch wir Opfer einer gewissen Borniertheit, derentwegen uns die Nachwelt Inkonsequenz oder Heuchelei vorwerfen wird. Jedenfalls sind einige sehr wichtige Teilstrecken dieses Wegs erst vor Kurzem zurückgelegt worden. Hierhin gehören, wie gesagt, die Genderbeziehungen. Aber wir sollten auch bedenken, dass es noch gar nicht lange her ist, dass ganze Teile unserer vermeintlich modernen Gesellschaft noch außerhalb des sozialen Vorstellungsschemas der Neuzeit standen. Wie Eugen Weber gezeigt hat, sind viele bäuerliche Gemeinschaften in Frankreich erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts umgestaltet und in einen französischen Staat mit 40 Millionen individuellen Bürgern eingegliedert worden (siehe Weber 1979: 28. Kap.). Der Autor macht deutlich, in welchem Maße die bishe-

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rige Lebensweise der Bauern von komplementären Handlungsweisen abhing, die von Gleichheit weit entfernt waren. So verhielt es sich vor allem – aber nicht ausschließlich – zwischen den Geschlechtern. Ein weiteres Beispiel ist das Schicksal jüngerer Geschwister, die auf ihren Teil des Erbes verzichteten, um das Eigentum der Familie zusammenzuhalten, so dass es nutzbringend blieb. In einer Welt der Armut und der Unsicherheit sowie des ständig drohenden Mangels schienen allein die Regeln der Familie und der Gemeinschaft das Überleben zu gewährleisten. Moderne Formen des Individualismus wirkten da wie Luxus, wie eine gefährliche Marotte. Das vergisst man leicht, denn sobald das moderne soziale Vorstellungsschema fest eingebürgert ist, scheint es das einzig mögliche, das einzig sinnvolle zu sein. Sind wir denn nicht allesamt Individuen? Kommen wir nicht in der Gesellschaft zusammen, um gegenseitig davon zu profitieren? Welchen anderen Maßstab kann man denn an das Leben in der Gesellschaft anlegen? So geschieht es leicht, dass wir uns eine völlig verzerrte Vorstellung von diesem Prozess machen, und zwar in zweierlei Hinsicht. Erstens sind wir geneigt, den Vormarsch des neuen Ordnungsprinzips und dessen Verdrängung traditioneller Komplementaritätsformen als einen Aufstieg des ›Individualismus‹ auf Kosten der ›Gemeinschaft‹ zu deuten. Die unvermeidliche Kehrseite dieser neuen Auffassung des Individuums ist ein neues Verständnis des Gesellschaftlichen. Gemeint ist eine Gesellschaft wechselseitigen Vorteils, deren funktionale Differenzierungen letzten Endes kontingent und deren Mitglieder im Grunde gleich sind. Das habe ich hier mit Nachdruck betont, weil man es im Allgemeinen so leicht aus dem Blick verliert. Das Individuum erscheint vorrangig, weil wir die Verdrängung der älteren Komplementaritätsformen als Zersetzung der Gemeinschaft als solcher interpretieren. Dann sieht es so aus, als stünden wir fortwährend vor dem Problem, wie sich das Individuum in eine Art von sozialer Ordnung führen oder zwingen ließe – wie man es dazu bewegen kann, sich anzupassen und den Regeln zu gehorchen. Die Erfahrung der Zerrüttung wird allerdings tatsächlich immer wieder gemacht. Das sollte uns jedoch nicht den Blick dafür verstellen, dass die Neuzeit auch die Entstehung neuer Prinzipien des Gesellschaftlichen mit sich bringt. Zerrüttung kommt, wie man etwa am Beispiel der Französischen Revolution ablesen kann, tatsächlich vor, denn häufig werden die Menschen durch Krieg, Revolution oder rasanten ökonomischen Wandel aus ihren alten Lebensformen gedrängt, ehe sie sich in die neuen Struk-

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turen hineinfinden können, das heißt, ehe sie die transformierten Praktiken mit den neuen Prinzipien in Zusammenhang bringen können, um ein tragfähiges soziales Vorstellungsschema zu entwerfen. Damit ist aber keineswegs gezeigt, dass es im eigentlichen Wesen des neuzeitlichen Individualismus liegt, die Gemeinschaft zu zersetzen. Ebenso wenig ist damit gezeigt, dass die politische Problematik der Neuzeit der von Hobbes definierten Frage »Wie können wir die atomaren Individuen aus dem Gefangenendilemma befreien?« entspricht. Das eigentliche und ständig wiederkehrende Problem ist von Tocqueville – und in unserer Gegenwart von François Furet – besser definiert worden. Die zweite Hinsicht, in der wir uns eine verzerrte Vorstellung machen, kennen wir bereits: Das neuzeitliche Prinzip kommt uns so selbstverständlich vor, dass wir versucht sind, eine ›Subtraktionserklärung‹ der neuzeitlichen Entwicklung zu akzeptieren. Ja, sind wir denn nicht von Natur aus und unserem Wesen nach Individuen? Wir mussten uns doch nur von den alten Horizonten befreien; danach war das Ordnungskonzept des gegenseitigen Entgegenkommens die offenkundige Alternative, die noch blieb. Weder intuitive Erfindungsgabe noch konstruktives Bemühen waren dazu nötig. Die Idee des Individualismus und das Konzept des wechselseitigen Vorteils bleiben offenbar übrig, nachdem man die bisherige Religion und die alte Metaphysik abgestreift hat. Aber in Wirklichkeit ist das Umgekehrte der Fall. Die Menschen haben während des größten Teils ihrer Geschichte ein Leben geführt, das von Formen der Komplementarität unter Beimischung eines höheren oder geringeren Grades an Hierarchie bestimmt worden ist. Es hat zwar – wie im Fall der Bürger der Polis – Inseln der Gleichheit gegeben, aber auch sie lagen, wenn man sie ins umfassendere Bild einfügt, in einem Meer der Hierarchie. Ganz zu schweigen davon, wie fremd diese Gesellschaften dem neuzeitlichen Individualismus erscheinen. Überraschend ist vielmehr, dass es überhaupt möglich war, die Stufe des neuzeitlichen Individualismus zu erreichen, und zwar nicht nur auf der Ebene der Theorie, sondern so, dass das soziale Vorstellungsschema davon transformiert und durchdrungen wurde. Heute bringt man dieses Vorstellungsschema mit Gesellschaften in Verbindung, für deren Macht es in der Geschichte kein Beispiel gibt; und angesichts dessen scheint der Versuch, sich dagegen zu wehren, ausgeschlossen und aberwitzig zu sein. Wir dürfen aber nicht der anachronistischen Vorstellung anheimfallen, so sei es immer schon gewesen.

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Das beste Gegenmittel gegen diesen Irrtum besteht darin, dass man sich einige der Phasen des langen und häufig konfliktreichen Marschs, auf dem es dieser Theorie schließlich gelungen ist, unser Vorstellungsvermögen dermaßen zu beherrschen, in Erinnerung ruft. Dazu werde ich im Fortgang meiner Argumentation einiges beisteuern. Im jetzigen Stadium möchte ich jedoch zunächst die bisherige Erörterung zusammenfassen und die Hauptmerkmale dieser neuzeitlichen Auffassung der moralischen Ordnung skizzieren. Diese Skizze umfasst drei Punkte, denen ich noch einen vierten hinzufügen werde: (1) Die ursprüngliche Idealisierung dieser Ordnung des wechselseitigen Vorteils erfolgt durch eine Theorie der Rechte und der legitimen Regierung. Sie geht von Individuen aus und begreift Gesellschaft als eine, die um dieser Individuen willen eingerichtet worden ist. Hier wird die politische Gesellschaft als Werkzeug für etwas Vorpolitisches aufgefasst. Dieser Individualismus bedeutet eine Ablehnung der bisher vorherrschenden Hierarchievorstellung, der zufolge der Mensch nur dann im eigentlichen Sinne ein moralischer Akteur sein kann, wenn er in ein umfassenderes soziales Ganzes eingebettet ist, in dessen Wesen es liegt, hierarchische Komplementarität an den Tag zu legen. In ihrer ursprünglichen Form läuft die auf Grotius und Locke zurückgehende Theorie vor allem der aristotelischen Auffassung, aber auch allen übrigen Anschauungen zuwider, von denen bestritten wird, außerhalb der Gesellschaft könne es so etwas wie ein im vollständigen Sinne fähiges menschliches Subjekt geben. Während sich diese Ordnungsvorstellung durchsetzt und neue ›redigierte Fassungen‹ hervorbringt, verbindet sie sich erneut mit einer philosophischen Anthropologie, die den Menschen wieder als ein soziales Wesen definiert, das auf sich allein gestellt nicht als moralisches Wesen funktionieren kann. Frühe Beispiele hierfür sind Rousseau, Hegel und Marx, denen sich in der Gegenwart unzählige Theoretiker angeschlossen haben. Das sind jedoch meines Erachtens immer noch ›redigierte Fassungen‹ der neuzeitlichen Grundvorstellung, denn ein ausschlaggebender Bestandteil der von ihnen geforderten wohlgeordneten Gesellschaft sind die zwischen gleichen Individuen bestehenden Beziehungen des wechselseitigen Entgegenkommens. Dies ist das Ziel, selbst für diejenigen, die meinen, das ›bürgerliche Individuum‹ sei eine Fiktion und das Ziel lasse sich nur in einer kommunistischen Gesellschaft erreichen. Selbst in Verbindung mit ethischen Begriffen, die denen der Naturrechtstheoretiker

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widersprechen und eher den Vorstellungen des von diesen geschmähten Aristoteles ähneln, bleibt der Kern des neuzeitlichen Gedankens in unserer Welt in Kraft. (2) Die als Werkzeug aufgefasste politische Gesellschaft gibt den Individuen die Möglichkeit, einander zum gegenseitigen Vorteil entgegenzukommen, indem sie einerseits Sicherheit gewährleistet und andererseits Handel und Wohlstand fördert. Alle Differenzierungen innerhalb einer solchen Gesellschaft müssen mit Hilfe dieses Telos gerechtfertigt werden. Keine hierarchische oder sonstige Gesellschaftsform ist an und für sich gut. Die Bedeutung dieser Entwicklung liegt, wie wir gesehen haben, darin, dass nicht das Ziel der höchsten Tugend, sondern die Bedürfnisse des normalen Lebens im Mittelpunkt des wechselseitigen Entgegenkommens stehen. Es geht darum, Bedingungen herzustellen, in denen die Menschen als freie Akteure existieren können. Auch in dieser Hinsicht bringen spätere Fassungen eine Veränderung mit sich. Bei Rousseau zum Beispiel wird die Freiheit selbst zur Grundlage einer neuen Definition der Tugend, und die Ordnung des wahren wechselseitigen Vorteils ist nicht mehr zu trennen von einer Ordnung, die der Tugend der Unabhängigkeit dient. Doch Rousseau und seine Anhänger legen den höchsten Nachdruck immer noch auf die Durchsetzung von Freiheit und Gleichheit sowie auf die Erfüllung der Bedürfnisse des gewöhlichen Lebens. (3) Die Theorie geht von Individuen aus, denen die politische Gesellschaft dienen muss. Wichtiger ist, dass dieser Dienst im Sinne einer Verteidigung der Rechte des Individuums definiert wird. Und Freiheit ist ein für diese Rechte ausschlaggebender Faktor. Ein Beleg für die Wichtigkeit der Freiheit ist die Forderung, die politische Gesellschaft müsse auf die Zustimmung derjenigen gründen, die durch sie gebunden sind. Wenn man über den Kontext nachdenkt, in dem diese Theorie wirksam war, kann man erkennen, dass die entscheidende Betonung der Freiheit überdeterminiert war. Die Ordnung des wechselseitigen Vorteils ist ein Ideal, das zu verwirklichen ist. Es dient jenen als Richtschnur, die einen bleibenden Frieden durchsetzen und sodann die Gesellschaft umgestalten wollen, damit sie in höherem Maße den Normen dieser Ordnung entspricht. Die Befürworter der Theorie sehen sich bereits als Akteure, die durch distanziertes, diszipliniertes Handeln nicht nur das eigene Leben, sondern auch die umfassende soziale Ordnung reformieren können. Sie

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sind abgepufferte, disziplinierte Ichs. Frei handeln zu können ist von ausschlaggebender Bedeutung für ihr Selbstverständnis. Die Betonung der Rechte und des Primats der Freiheit rühren nicht nur von dem Prinzip her, die Gesellschaft solle um ihrer Mitglieder willen existieren, sondern sie spiegelt auch den Sinn für das eigene Handlungsvermögen und für die Situation, welche das Handlungsvermögen der Welt normativ abverlangt, nämlich Freiheit. Die Ethik, die hier am Werke ist, sollte also nicht nur entlang der Forderungen der idealen Ordnung definiert werden, sondern ebenso sehr auch im Hinblick auf diesen Zustand der Handlungsfähigkeit. Am besten wäre es, sie als eine Ethik der Freiheit und des wechselseitigen Vorteils aufzufassen. Beide Grundbegriffe dieser Formulierung sind wesentlich. Darin liegt auch der Grund, weshalb die Zustimmung in den aus dieser Ethik abgeleiteten politischen Theorien eine dermaßen wichtige Rolle spielt. Zusammenfassend lässt sich Folgendes sagen: (1) Die Ordnung des wechselseitigen Vorteils besteht zwischen Individuen (oder zumindest zwischen moralischen Akteuren, die von großen hierarchischen Ordnungen unabhängig sind). (2) Die maßgeblichen Vorteile sind das Leben und die Mittel zum Leben – einerlei welches Verhältnis zwischen der Sicherung dieser Mittel und einer tugendhaften Praxis bestehen mag. (3) Die Ordnung soll Freiheit gewährleisten und lässt sich ohne Weiteres in Form von Rechten ausdrücken. Dem können wir einen weiteren Punkt hinzufügen: (4) Diese Rechte, diese Freiheit und dieser wechselseitige Vorteil sollen allen Beteiligten gleichermaßen gewährleistet werden. Was im Einzelnen unter ›Gleichheit‹ zu verstehen ist, wird variieren, dass sie aber in irgendeiner Form bejaht werden muss, folgt aus der Ablehnung der hierarchischen Ordnung. Das sind die ausschlaggebenden Merkmale, die Konstanten, die in den unterschiedlichen ›redigierten Fassungen‹ der neuzeitlichen Vorstellung von einer moralischen Ordnung immer wieder vorkommen. Meine Behauptung hier lautet, dass diese Ordnungsvorstellung in das soziale Vorstellungsschema des modernen Westens, und in einem gewissen Maße darüber hinaus, Eingang gefunden hat. Insbesondere hat sie uns bestimmte Standardmethoden an die Hand gegeben, um eine Gesellschaft zu begreifen: als eine Wirtschaft, als eine Öffentlichkeit und als ein Staat, der von einem ›Volk‹ geschaffen wurde und ihm als sein Instrument dient. Ja mehr noch, diese und andere mit dieser Vorstellung verbundene analytische Kategorien erscheinen uns mittlerweile als ›natürlich‹: Sie sind

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mehr als die Korrelate einer bestimmten Weise, die Gesellschaft zu betrachten und zu imaginieren; sie sind Teil der Natur der sozialen Realität.

III Auf diese Weise wird ohne Weiteres verständlich, dass der von Grotius ausgehende, also der ›grotianische‹ Schritt von vielen Autoren als eine weitere Facette der Aufklärung begriffen wird. Das heißt, er wird als ein Schritt gesehen, der ohne Einschränkungen Erkenntnisgewinn bringt und von der Finsternis zum Licht führt. Die ›Finsternis‹ besteht darin, dass man sich auf sonderbare metaphysische Wesenheiten beruft, beispielsweise auf ein seit unvordenklicher Zeit geltendes Gesetz, das keine Rücksicht nimmt auf die miteinander unvereinbaren positiven Gesetze, die sich zeitweilig einschleichen, oder auf eine kosmische Ordnung, die verschiedene Seinsebenen in einer Hierarchie zusammenfügt. Das ›Licht‹ besteht in der klaren Analyse der irdischen Realität, in der die Gesellschaften nichts weiter sind als Ansammlungen einzelner Menschen. Diese Entwicklung führt, anders formuliert, von der geistigen Welt der ›großen Kette der Wesen‹ hin zu der Welt von Hobbes’ Leviathan.8 Da die neue Zeit nunmehr eine wissenschaftliche Art der Untersuchungen unserer Gesellschaft kennt (einerlei, wie sehr sich die Sozialwissenschaftler über die gebotenen Analysen und Erklärungen der Dinge streiten mögen), können wir mit all dem alten Kram über Götter, große Ketten und dergleichen aufräumen. Betrachten wir zum Beispiel Trevor-Ropers Einleitung zu seiner Ausgabe von Gibbons Verfall und Untergang des römischen Imperiums. Nach Trevor-Roper tritt Gibbon, indem er seine »philosophische Geschichtsschreibung« konzipiert, in die Fußstapfen seiner Vorgänger und wagt es, die »Kirchengeschichte in säkularer Gesinnung anzugehen und die Kirche nicht als Quelle der Wahrheit (oder des Irrtums) zu begreifen, sondern als menschliche Gesellschaft, die denselben sozialen Gesetzen unterworfen ist wie andere Gesellschaften« (Trevor-Roper 1963: S. x). Der Gegensatz ist klar. Auf der einen Seite die ›Sozialwissenschaft‹ mit ihren ›Gesetzen‹, auf der anderen Seite eine davon verschiedene Auffassung, ein anderer Diskurs, der wissenschaftlich nicht untermauerte Kriterien ins Spiel bringt, um Wahrheit von Irrtum zu scheiden. Die Äußerungen der Sozialwissenschaft können 8 | Siehe die Erörterung in Mark Lillas The Stillborn God.

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der These (a) gerecht werden, das heißt, sie können jedes aufrichtige, nicht konfuse, denkende Wesen zu Recht zufriedenstellen, während der andere Diskurs über Wahrheit und Irrtum unter die Einwände der Rubrik (b) fällt; die in diesem Rahmen gezogenen Schlussfolgerungen werden letztlich nur solchen Menschen überzeugend vorkommen, von denen die fraglichen Kriterien bereits akzeptiert wurden. Kurz, der hier (3) erhobene Anspruch auf eine (a) + (b)-Unterscheidung gleicht dem Anspruch, der im Namen der postgalileischen Naturwissenschaft (2) erhoben worden ist. Offenbar wirkt (3) noch überzeugender, wenn es die Unterstützung von (2) erhält. Aber sogar allein scheint (3) die Anwendung der (a) + (b)-Unterscheidung auf moralische und politische Angelegenheiten zu rechtfertigen. In diesen letzten Absätzen war von Ansprüchen die Rede, die im Namen der normalerweise so bezeichneten Sozialwissenschaft erhoben werden. Aber um dorthin zu gelangen, habe ich den Weg über eine Erörterung der grotianischen Wende eingeschlagen, denn nach meiner Überzeugung gehört diese als Schritt in die diesseitige Aufklärung begriffene Wende zu dem Hintergrund, der diesen Ansprüchen Glaubwürdigkeit verleiht. An einem bestimmten Punkt traten wir aus dem Schatten der jenseitigen Denkrahmen und erkannten die Wirklichkeit als das, was sie ist. Nun war es möglich geworden, Gibbon und Montesquieu als Mitbewohner unseres modernen Aufklärungsraums zu begreifen, und in Hobbes denjenigen zu sehen, der den entscheidenden Schritt getan hatte. Aber der in mancher Hinsicht ausschlaggebende Wandel war der Schritt hin zu einer Analyse der Gesellschaften als Formen eines unter Regeln fallenden Zusammenlebens menschlicher Personen ohne kosmische oder göttliche Hintergrundordnung. Freilich, wenn man den aus höheren Ordnungen herausführenden Schritt als ausschlaggebend ansieht, besteht kein Grund, warum man nicht Machiavelli an die erste Stelle setzen sollte – und genau so wird häufig verfahren. In der Tat hat Machiavelli ein Jahrhundert vor Grotius gewirkt, wenn auch in einem ganz andersartigen begrifflichen Rahmen, der einer auf antike Autoren zurückgehenden, am Stadtstaat orientierten humanistischen Tradition viel verdankt. Meines Erachtens ist jedoch die von Grotius herrührende Linie der entscheidende Faktor für die illusorische Vorstellung, die moderne Vernunft könne im Hinblick auf die politische Moral Ansprüche der Art (a) geltend machen. Es ist diese Analyse, die großen Teilen unserer heutigen, nachgerade unbezweifelten politischen Mo-

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ral – Menschenrechte, Gleichheit, Volkssouveränität – ihren spezifischen Hintergrund gibt. Ich möchte sogar behaupten, dass die grotianische Definition der prekären Situation des Menschen den Hintergrund liefert, der auf dem Weg über Rousseau für die moralische und politische Philosophie Kants maßgeblich geworden ist. Dass diese Definition den Rahmen für den Utilitarismus, also die zweite der beiden weitverbreiteten Moraltheorien säkularer Prägung, bereitstellt, liegt auf der Hand. Hier habe ich mich bemüht, eine Erklärung jener Facette des Aufklärungsmythos zu geben, die in der These zum Ausdruck kommt, die »bloße Vernunft« könne wahre Aussagen über moralphilosophische und politische Theorien liefern, die keine Ergänzung zulassen und die vielleicht sogar getrübt werden, wenn man vermeintliche Wahrheiten aus Religion oder Metaphysik ins Spiel bringt, einerlei, ob sie aus der ›Offenbarung‹ oder sonstigen Formen übernatürlicher Erkenntnis herstammen. Anders gesagt, es wird behauptet, dass die (a) + (b)-Unterscheidung, die im Bereich der Naturwissenschaft zweifellos eine Rolle spielt, auch im moralisch-politischen Bereich zum Zuge kommt. Ferner habe ich geltend gemacht, dass drei Entwicklungsschritte zusammenkommen und darauf hinwirken, dass diese These einleuchtend wirkt, nämlich: (1) das Prinzip der unabhängigen Vernunft; (2) das Vorbild der Naturwissenschaft; und (3) die moderne postgrotianische Auffassung von der Gesellschaft als einem aus Einzelpersonen bestehenden Gebilde, in dessen Rahmen eine gute Ordnung verlangt, dass die zwischenmenschlichen Beziehungen dem wechselseitigen Vorteil dienen sollen. Es gibt jedoch zwei Hauptvarianten dieser Auffassung; zwei Möglichkeiten, die Elemente so miteinander zu verbinden, dass man zum gewünschten Resultat gelangt. Die erste Variante kann man nach Condorcet benennen. Dabei kommen alle drei Schritte zum Einsatz. So gesehen ist die Naturwissenschaft eine Anwendung der unabhängigen Vernunft. Anschließend wird vorgeschlagen, die Methoden der Naturwissenschaft einzusetzen, um die normativen Fragen des sozialen und politischen Lebens zu lösen. Dieser Schritt kann unproblematisch erscheinen, da wir ja jetzt ›wissen‹, dass die Gesellschaft aus Individuen besteht, dass eine gute Gesellschaft die Rechte dieser Individuen schützt und Beziehungen zwischen ihnen herstellt, die ihnen zu wechselseitigem Vorteil gereichen. Durch welche Beziehungen diese Zwecke besonders wirksam erreicht werden, ist eine Frage der empirischen Sozialwissenschaft, in der die unabhängige Vernunft ebenso unproblematisch zum Einsatz kommt wie in der Physik.

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Allerdings sieht sich nicht jeder dazu imstande, diese sorglose Angleichung der Sozial- oder Geisteswissenschaft an die Naturwissenschaft mitzumachen. Der Gedankengang, der dieser Angleichung zugrunde liegt, kann an mehreren Punkten fehlgehen. Im Hinblick auf (2) haben wir gesehen, (i) dass sich der Aufklärungsmythos in der postgalileischen Naturwissenschaft bewahrheitet. Es mag zwar durchaus sein, dass die von dieser Wissenschaft abgehalfterten Systeme der platonischen oder aristotelischen Formen uns nach wie vor etwas Wichtiges über Ontologie, Moral oder Ästhetik zu sagen haben, aber die Loslösung eines in der Terminologie der Wirkursachen zu erklärenden Bereichs der materiellen Realität hat unsere Erkenntnis und unser Verständnis dieser Realität sehr gesteigert, ganz zu schweigen von den stark vermehrten Kontrollmöglichkeiten, die sich daraus ergeben haben. Wir haben jedoch (ii) außerdem gesehen, dass die Entthronung von Aristoteles durch Galileo keineswegs das Gleiche ist wie die Entmachtung der Religion durch die Wissenschaft. Überdies (iii) gibt es keinen Weg, der von (i) zu Gedankengängen des Grades (a) über moralische und politische Angelegenheiten führt – jedenfalls nicht, solange wir nicht über materialistisch orientierte, reduktionistische Erklärungen des menschlichen Lebens verfügen. Und von diesem (unterstellten) Zeitpunkt sind wir wenigstens noch einige Jahrhunderte entfernt. Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass Punkt (ii) oben ebenso viel von dem grotius’schen Schritt enthält wie von dem galileischen. So häufig wir auch von Zeitgenossen hören mögen, mit dem Aufkommen der Moderne hätten wir begriffen, dass es keine göttlich sanktionierte soziale Ordnung gibt und wir uns unsere Gesetze jetzt kraft unserer eigenen Autorität selber geben müssen, so wenig entsprach dies den Schlussfolgerungen, die man in früheren Jahrhunderten zog. Wie bereits weiter oben erwähnt, wurde das moderne Naturrecht entweder als etwas begriffen, das einer von der Vorsehung entworfenen conditio humana entströmte, oder aber als etwas, das sich Gottes Gebot verdankte. Letzteres scheint die Auffassung von Locke und Samuel von Pufendorf gewesen zu sein, während erstere Vorstellung offenbar einem Dokument wie der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung zugrunde liegt. Natürlich wurden die Gebote Gottes nicht zwangsläufig durch Offenbarung überliefert; für Locke reichte es aus, dass sich sein Wille aus seiner Schöpfung ablesen ließ. Doch wir sind weit davon entfernt, einen Schritt weg von allen religiösen Bezugssystemen getan zu haben.

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Doch mehr noch: Es ist nicht möglich, die oben im Hinblick auf die Naturwissenschaft aufgestellte These (i) im Namen der Sozialwissenschaft zu verfechten. Hier kann man keinen uneingeschränkten Erkenntnisfortschritt ins Feld führen. Richtig ist, dass etwas Derartiges für bestimmte partikulare Beobachtungen im sozialwissenschaftlichen Bereich in Anspruch genommen werden kann. Das Nachzeichnen der langfristigen Muster des Wählerverhaltens, die Feststellung der Armutsfälle und Berichte über den Zustand der öffentlichen Meinung – dies sind durchweg Dinge, im Hinblick auf die es grundsätzlich möglich ist, Sätze aufzustellen, die niemand bestreiten kann (obwohl es auch hier oft zu Streitigkeiten über Einzelthesen kommt). Aber eine Sozialwissenschaft, die diese Muster zu erklären versucht, kann sich mit derart partikularen Ergebnissen nicht zufriedengeben. Solche Ergebnisse müssen ihre Rolle in einem Erklärungsrahmen spielen und den Stoff liefern, der zur Beantwortung bestimmter Fragen (im Gegensatz zu anderen) dient. Sobald man sich auf die Ebene der Paradigmen begibt, gibt es allerdings keine Übereinstimmung mehr. Einerlei, ob man an das ursprüngliche grotianische Modell in der von Hobbes und Locke weiterentwickelten, im Grunde atomistisch ausgerichteten Form denkt oder an die kritischen Auseinandersetzungen mit diesem Modell, durch die man seit Montesquieu und Rousseau, Fichte, Hegel, Marx bis hin zu Durkheim und Weber versucht hat, die Probleme des Atomismus zu überwinden – klar ist, dass es die Annäherung an ein Paradigma nie gegeben hat und wahrscheinlich niemals geben wird. Natürlich könnte man den Einwand erheben, auch in den Naturwissenschaften seien Paradigmenwechsel vorgekommen; aber das läuft nicht auf das Gleiche hinaus. In den Naturwissenschaften gibt es tendenziell zu jedem Zeitpunkt die Annäherung an ein gemeinsames Paradigma. Dieses wird später vielleicht wegen der Anomalien, auf die es stößt, über den Haufen geworfen, doch dann wird die Krise im Regelfall beigelegt, sobald das in Schwierigkeiten geratene Paradigma von einem anderen abgelöst wird. In den Sozialwissenschaften hat es eine solche Annäherung nie gegeben; und es fällt schwer, Entwicklungen ausfindig zu machen, die man eindeutig als Schritte der Ablösung eines Paradigmas durch ein anderes bezeichnen kann. Der grotianische Schritt hat ebenso wenig wie vor ihm der machiavellische und später der ganze Schwarm groß angelegter Gesellschaftstheorien einen uneingeschränkten Erkenntnisgewinn nach sich gezogen – außer in den Augen der jeweiligen Parteigänger. Doch damit erhalten diese Ansätze genau den (b)-Status, der stets auch den religiös eingebun-

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denen Erklärungen zugeschrieben worden ist. Die Sozialwissenschaft hat nichts zu bieten, was sich davon abhöbe. Doch jetzt sind wir nahe daran, die Schwierigkeit zu lokalisieren. Die groß angelegten Theorien der Sozialwissenschaft sind durch ihre philosophischen Anthropologien voneinander geschieden: durch ihre Auffassung von der Art und Weise, in der sich die Menschen in der Gesellschaft zueinander verhalten; durch ihre Vorstellung von den grundlegenden Zielen menschlichen Strebens; durch ihre Unterscheidung zwischen Sakralem und Profanem usw. Aber dies sind zugleich die Überlegungen, die den verschiedenen Darstellungen der Ethik und Moral sowie der Vorzüge diverser Gesellschaften zugrunde liegen. Die Sozialwissenschaft kann kein auf den Bereich des Politisch-Moralischen bezogenes Denken der Stufe (a) begründen, denn dieses Gebiet haben konkurrierende Anthropologien mit jeweils eigener Interpretation der prekären politisch-sozialen Lage des Menschen unter sich aufgeteilt. Die oben angedeutete Frage bezüglich Punkt (iii) stellt sich nicht einmal. Um es nochmals ganz deutlich zu sagen: Bei diesem Konflikt konkurrierender Auffassungen genießen weltliche oder diesseitige Anthropologien auf der Erkenntnisebene keinen Vorteil gegenüber theologischen oder religiösen Theorien. Die ganze vermeintliche (a) + (b)-Unterscheidung zwischen religiösen Auffassungen und diesseitigem Denken erweist sich als Fata Morgana. Die offenkundigen Schwierigkeiten, die sich bei der Condorcet-Variante einstellen, haben zur Formulierung einer zweiten Variante geführt, die ich als neukantianische Variante bezeichnen werde (obwohl Rousseau und einige andere Autoren nicht unerwähnt bleiben sollten). Hier wird Schritt (2) fallen gelassen und eine neue Spielart der unabhängigen Vernunft konstruiert, die auf eigenständige Weise aus der grotianischen Wende abgeleitet wird: Gesellschaften bestehen aus Individuen mit Ansprüchen, ja mit gleichen Ansprüchen, denn es gibt keine Möglichkeit, einige Individuen als höherrangig oder würdiger hinzustellen. Und sofern es sich so verhält, scheint die bloße Vernunft zu sagen, dass eine Norm dann adäquat ist, wenn sie allen gleichermaßen dienlich ist. Es gibt verschiedene Weisen, diesen allgemeinen Gedanken zu konkretisieren. Zum Beispiel: Gültige Normen sind universalisierbare Maximen; es sind Normen, die wir alle hinter dem Schleier des Nichtwissens akzeptieren würden; es sind Normen, die alle Betroffenen akzeptieren könnten, wenn die ideale Bedingung freien Gedankenaustauschs gegeben wäre; es sind Normen, deren

Die bloße Vernunft

Akzeptierung man vernünftigerweise von anderen verlangen könnte, sofern wir auf der Suche nach solchen Normen sind; und so fort. Diese zweite Variante wirft eine Menge Ballast über Bord, der die Condorcet-Variante auf den Boden des seichten Meers der Nützlichkeit herabgezerrt hat. Sie ist völlig unabhängig von einer vermeintlichen Zurückführung der Sozialwissenschaft auf Naturwissenschaft. Sie verbindet die Schritte (1) und (3), um Prinzipien hervorzubringen, die, obwohl ihre Anwendung eine Sozialwissenschaft voraussetzen mag, unabhängig davon ausgesprochen werden können. Allerdings kann es leicht geschehen, dass diese Variante nicht überzeugend wirkt, denn sie ist in zu hohem Maße von der grotianischen Wende abhängig. Trifft es denn wirklich zu, dass die Hauptmerkmale einer guten oder gerechten Gesellschaft darauf beruhen, dass Rechte, Gleichheit und wechselseitig vorteilhafte Arrangements verteidigt werden? Es fällt immer noch schwer, diese Schlussfolgerung zusammen mit mathematischen und naturwissenschaftlichen Wahrheiten in die Kategorie (a) einzustufen. Die zweite Variante entpuppt sich ebenfalls als Fata Morgana. Aber wie jede Fata Morgana, so kann auch diese, aus der Ferne betrachtet, sehr solide aussehen, jedenfalls wenn man nicht genau untersucht, worauf sie stehen könnte. Sie zehrt vor allem von der Suggestivkraft der Erzählungen, die im Umkreis ihrer drei Zentralmotive gesponnen wurden. Hier seien diese Motive in der Reihenfolge zunehmender Überzeugungskraft genannt: (1) ein auf dem cartesianischen Fundierungsgedanken beruhender Rationalismus, (2) die Entstehung der postgalileischen Naturwissenschaft, (3) die grotianische Rekonstruktion der Gesellschaftstheorie und der von ihr geöffnete Bereich sozialwissenschaftlicher Diskussionen. Wenn man weit genug zurücktritt, kann es so aussehen, als habe die grotianische Wende, die im Verhältnis zu Theorien der ›großen Kette‹ tatsächlich diesseitig orientiert war, ein Zeitalter der Entzauberung eingeleitet, in dem sich die Menschen allein in einem indifferenten Universum befinden und dazu verdammt sind, ihre eigenen Regeln aufzustellen, während sie sich durchwursteln. Und dann kommt jene Erzählung zum Zuge, die uns etwas von den herrlichen Leistungen der bloßen Vernunft vorgaukeln kann. Übersetzung aus dem Englischen: Nikolaus G. Schneider und Joachim Schulte

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L ITER ATUR Condorcet. 1988 [1793]. Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain. Paris. Übers.: Condorcet. 1976. Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes. Hg. Wilhelm Alff. Frankfurt a.M. Descombes, Vincent. 2007. Le raisonnement de l’ours. Paris. Dupré, Louis. 1993. Passage to Modernity. New Haven. Übers. in Jaap Mansfeld. 1999. Die Vorsokratiker I. Stuttgart. Gibbon, Edward. 1963 [1776-88]. The Decline and Fall of the Roman Empire. Hg. Hugh R. Trevor-Roper. New York. Habermas, Jürgen. 2005. Zwischen Naturalismus und Religion. Frankfurt a.M. Himmelfarb, Gertrude. 2004. The Roads to Modernity: The British, French, and American Enlightenments. New York. Kant, Immanuel. 1912 [1784]. Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In Gesammelte Schriften. Hg. Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften Bd. VIII: 33-42. Berlin. Lilla, Mark. 2007. The Stillborn God. Religion, Politics, and the Modern West. New York. Locke, John. [1689]. Two Treatises of Government. Übers. Hans Jörn Hoffmann. 1977. Zwei Abhandlungen über die Regierung. Frankfurt a.M. Pocock, John G. A. 1987. The Ancient Constitution and the Feudal Law. Cambridge. Pocock, John G. A. 1999. Barbarism and Religion, Bd. 1, The Enlightenments of Edward Gibbon. Cambridge. Sabine, George. 1961. A History of Political Theory. New York. Übers. in Jaap Mansfeld 1999: Die Vorsokratiker I. Stuttgart. Shakespeare, William. [1623]. Macbeth. Übers. Dorothea Tieck. Macbeth. 1986. Stuttgart. Taylor, Charles. 1989. Sources of the Self. The Making of the Modern Identity. Cambridge. Übers. Joachim Schulte. 1996. Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität. Frankfurt a.M. Taylor, Charles. 2004. Modern Social Imaginaries. Durham. Thompson, E. P. 1971. The Moral Economy of the English Crowd in the Eighteenth Century. Past and Present 50 (1): 76-136. Tocqueville, Alexis de. 1981. La Démocratie en Amérique. Paris. Weber, Eugen. 1979. Peasants into Frenchmen. London.

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Komplexe Gesellschaften werden nicht normativ integriert, sondern durch die Ausdifferenzierung von Funktionssystemen. Die Reproduktion von Gesellschaften ist deshalb nicht »an die Bedingung einer gemeinsamen Orientierung an tragenden Idealen und Werten gebunden« (so aber Honneth 2011: 18). Aber dort, wo Gesellschaften sich normativ verhandeln, in den Bereichen der Moral und vor allem des Rechts, tun sie dies im Modus der Begründung von Normen.1 Moderne Gesellschaften rechtfertigen Normen anders als traditionale und werden nicht zuletzt durch diesen Umstand charakterisiert. Moderne ist auch ein normatives Unternehmen; deshalb verfehlen Theorien der Moderne, die diese Dimension nicht angemessen erfassen, ihren Gegenstand. Weil normativ gehaltvolle Botschaften schließlich nur in der Sprache des Rechts gesellschaftsweit zirkulieren (Habermas 1992: 78) und sich auch nur im Recht institutionell verfestigen können (Habermas 1992: 146-151; MacCormick 2008; La Torre 2010), muss

1 | Die folgenden Überlegungen wurden auf mehreren Tagungen zur Diskussion gestellt. Für kritische Rückfragen danke ich den Teilnehmern des Symposiums »Von der religiösen zur säkularen Begründung staatlicher Normen« (Münster 2009), der beiden Methodenworkshops und der Arbeitsgruppe »Multiple Modernities« des Münsteraner Exzellenzclusters »Religion und Politik«, der Sektion »Contingency and Directionality« des Research Committee on Conceptual and Terminological Analysis (COCTA) auf dem World Congress der International Sociological Association im Juli 2010 in Göteborg sowie des Workshops »Global Modernity« an der National University of Singapore im September 2010. Mein besonderer Dank gilt Volker H. Schmidt für einen lange währenden Gedankenaustausch.

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das Rechtssystem im Zentrum einer Analyse stehen, die dem Verhältnis von Moderne und Normativität – kurz: der Normativen Moderne – gilt. Die Skizze einer solchen Analyse muss den Kern der normativen Dynamik der (zunächst westlichen) Moderne, den egalitären normativen Individualismus, herausarbeiten (1.) und zeigen, inwieweit sich diese Dynamik als gerichteter Prozess verstehen lässt (2.). Dass ›normative Modernisierung‹ zugleich ein Prozess der Säkularisierung der Begründung von Normen ist, verweist sowohl auf den Standort der Religion in der Normativen Moderne (3.) als auch auf eine Krisenerfahrung, die letzterer zugrunde liegt (4.). Die Frage, wie sich die so verstandene Normative Moderne zu den Moderne-Konzeptionen in den Sozialwissenschaften in ein Verhältnis setzen lässt, wirft sodann methodische Fragen auf, die der Differenz von Faktizität und Geltung, von Deskription und Präskription geschuldet sind (5.). Einige Bausteine zu einer Theorie dieses Verhältnisses lassen sich benennen (6.). Sie legen es nahe, die Normative Moderne als historischen Lernprozess zu begreifen (7.).

1. D ER K ERN DER NORMATIVEN D YNAMIK DER M ODERNE Das Gravitationszentrum des seit dem 18. Jahrhundert ausformulierten Projekts der Moderne liegt in der Idee der Freiheit als Selbstbestimmung (Habermas 1988; vgl. Rosa, in diesem Band), die sich zweifach, nämlich als öffentliche und als private Autonomie ausbuchstabieren lässt (zur These der Gleichursprünglichkeit der beiden Momente Habermas 1992: 135ff.). Die beiden Formen der Autonomie haben, in je unterschiedlicher Gewichtung, Theoriefamilien politischer Philosophie (im weiteren Sinne) inspiriert, welche die normativen Ressourcen der sich modernisierenden Gesellschaft entweder vorrangig im politischen Prozess (der Volkssouveränität) oder aber in der Institutionalisierung rechtlicher Prinzipien (der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit) verorten. In beiden Traditionen wird in der Regel die Prämisse akzeptiert, dass moderne Gesellschaften von einer ebenso irreduziblen wie legitimen Pluralität von Wertorientierungen und Lebensweisen geprägt sind, und beide Lager thematisieren die Frage, wie sich politische Herrschaft unter diesen Bedingungen als legitim ausweisen lässt. Theorien deliberativer Demokratie (für viele: Habermas 1992; Gutmann/Thompson 1996 und 2004) setzen auf einen öffentlichen Diskurs in demokratischen Verfahren und damit auf den Austrag von

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Dissensen auf der Basis wechselseitig akzeptabler Gründe. Die heterogene Gruppe der Pluralismustheorien verschiebt diesen Fokus und plädiert für herrschaftslimitierende politische Strukturen und integrative Verhandlungslösungen oder aber für Verfahren, die zumindest einen modus vivendi der Koexistenz unterschiedlicher Gruppen mit je spezifischen Wertvorstellungen erlauben (etwa: Bellamy 1999 und 2007; Gray 1995 und 1998). Diesen beiden Spielarten ›politischer‹ Ansätze steht die Tradition liberaler Theoriebildung gegenüber, die sich nicht zuletzt als »das variantenreiche Werk einer Kantischen Erbengemeinschaft« (Kersting 1993: 19) verstehen lässt. Sie ist durch den Versuch gekennzeichnet, Grundsätze politischer Gerechtigkeit zu begründen, die für einen legitimen politischen Prozess nicht – jedenfalls nicht ohne Weiteres – zur Disposition stehen und in den normativen Grundlagen des Rechtssystems verankert sein sollen. Auch der vorliegende Beitrag verortet den Kern der normativen Dynamik der westlichen Moderne im Rechtssystem, genauer: in der rechtlichen Institutionalisierung eines egalitären normativen Individualismus. Er hebt beispielhaft auf die Entwicklung der Grund- und Menschenrechte sowie auf die Reflexion über ihre Begründung ab. Angesichts der Koevolution von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie und ihren Ideengeschichten nimmt er das normative Projekt der Moderne also nicht vollständig, sondern aus einer Selbstreflexion des gegenüber der Politik ausdifferenzierten Rechts in den Blick. Diese rechtsphilosophische Perspektive, in der für die Zwecke dieses Beitrags zudem die Diskursgeschichten der Anerkennungsverhältnisse sozialer Freiheit (hierzu Honneth 2011) und der sozialstaatlichen Solidarität ausgeblendet bleiben, reicht hin, um zu demonstrieren, dass und warum eine ihrem Gegenstand angemessene Theorie der Moderne (und des Verhältnisses von Moderne und Religion) einer normativen Analyse und insbesondere der Rechtstheorie bedarf.2 Die internationale Entwicklung der Grund- und Menschenrechte (der sogenannten »ersten Generation«, insbesondere der Freiheits-, Gleichheits- und justiziellen Rechte) erscheint als Fortschrittsgeschichte. Die Verfassungen der westlichen Staaten haben mit grundrechtlich garantierten Individualfreiheiten, den Prinzipien der Gleichheit, des Rechtsstaats, der Demokratie sowie (teilweise in expliziter Form auch) der Menschenwürde (Gutmann 2010b: 5-34 und 2011b: 309-330), die formalen und materialen 2 | Der vorliegende Beitrag greift im Folgenden auf Gedanken zurück, die an anderer Stelle entwickelt wurden (vgl. Gutmann 2011a: 221-248 und 2012).

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Gerechtigkeitsgehalte des neuzeitlichen Vernunftrechtsdenkens als leitende, d.h. mit dem Status der Prioriät auftretende (Alexy 1998: 252) Normen des positiven Rechts übernommen (Alexy 1992: 121; Dreier 1991a: 84 und 1991b: 105ff.).3 Gleiches geschah im Bereich der Europäischen Union (etwa in der Grundrechts-Charta [Jarass 2010] und in den Antidiskriminierungsrichtlinien [vgl. Agentur der Europäischen Union für Grundrechte 2011]) sowie in der Entwicklung des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes zu einem objektiven Rechtsregime (Schilling 2010; Walter 2012). Wir sind Zeugen einer seit dem späten 18. Jahrhundert anhaltenden Entwicklung des Rechts, die sich als fortlaufender Konstitutionalisierungs- und Institutionalisierungsprozess von Grund- und Menschenrechten, also der rechtlichen Sicherung fundamentaler individueller Interessen, darstellt. Die Idee der Menschenrechte ist nicht voraussetzungslos, sondern im Rahmen einer Modernisierung normativer Diskurse historisch entstanden. Ihre Generalisierung setzt rechtstheoretisch den Übergang von Konzepten, deren Grundbegriff der der Pflicht ist, zu Vorstellungen voraus, die das Verhältnis des Einzelnen zur Rechtsordnung von einem Begriff des subjektiven Rechts aus konstruieren und den Status, als Rechtsperson Träger solcher Rechte zu sein, in wechselseitigen Anerkennungsverhältnissen fundieren (Habermas 2009c: 307 und 2009b: 220). Man wird diesen Übergang trotz aller Vorarbeiten, zumal bei Thomas Hobbes und in der Naturrechtstheorie John Lockes (Brandt 2012; Siep 2012), nicht vor Kants initialer Setzung eines angeborenen Freiheitsrechts als fundamentales, absolutes individuelles Recht (vgl. Kant 1902: VI/230) verorten können. Der normative Grund der Entwicklung der Grund- und Menschenrechte liegt in der geistesgeschichtlich seit dem 17. und insbesondere seit dem 18. Jahrhundert vielfältig ausbuchstabierten Vorstellung, dass Rechtspersonen – in den Worten Ronald Dworkins – ein individuelles »Recht auf gleiche Achtung« (Dworkin 1984: 298ff. und 1985: 191) zukommt. Darin begründet liegt als erste Ableitung ein Recht, nicht rechtlich diskriminiert zu werden. Zwei Schlaglichter müssen hier genügen: In scharfer Wendung gegen alle früheren Naturrechtslehren stellt bereits Hobbes an den Anfang seiner Theorie den Grundsatz, dass der Mensch nicht primär durch Pflichten eingeschränkt, sondern Träger von subjektiven Freiheitsrechten 3 | Wie Wagner (in diesem Band) meinen kann, die in der philosophischen Debatte entdeckten oder geschaffenen universalen normativen Ansprüche seien »entweder ergebnislos oder unzureichend konkret«, ist vor diesem Hintergrund unverständlich.

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sei. Dieser fundamentale, von ›vormodern‹ inspirierten Autoren (etwa Strauss 1995: 188) kritisierte Wechsel hin zu einer Orientierung an den natürlichen Rechten begründet die spezifisch neuzeitliche Naturrechtslehre und ist das Gründungsdokument eines Rechtsdenkens, das aus vorstaatlichen Freiheitsansprüchen des Einzelnen nicht zuletzt den Anspruch des Bürgers ableitet, vor dem Gesetz als Gleicher zu gelten. Zugleich wird die Staats- und Rechtsordnung auf den Schutz basaler, aber irdischer Interessen der Einzelnen verpflichtet. Dieses substanzielle Moment des egalitären normativen Individualismus ist theoriegeschichtlich wie systematisch gleichursprünglich mit seiner prozeduralen Dimension: Die Begründung der leitenden Prinzipien von Recht und Staat wird seit Hobbes nicht mehr auf die objektiven Urteile einer (bis dahin primär theologisch angeleiteten) Vernunft überhaupt, sondern vielmehr vertragstheoretisch auf das Urteil und die Vernunft des jeweils handelnden Einzelnen (»his own judgement and reason« [Hobbes 1651: ch. 14]) gestützt. Damit ist nicht nur die Umstellung des Naturrechts von Seelenheils- auf Nutzenerwartungen (Luhmann 1989: 297) ratifiziert, sondern vor allem ausgesprochen, dass jede Einschränkung der primären, gleichen subjektiven Freiheitsrechte des Einzelnen diesem gegenüber rechenschaftspflichtig wird. Einer Rechtsperson die Gleichheit in der Freiheit zu verweigern, bedarf der Rechtfertigung durch gute Gründe, die nicht mehr einfach solche der Tradition oder Religion sein können, sondern Bedingungen der Reziprozität und Allgemeinheit erfüllen müssen. Diskriminierung steht damit unter Rechtfertigungszwang; gleichzeitig verlieren die Gründe, die zu ihrer Verteidigung vorgebracht werden können, ihr normatives Fundament. Dieser Gedanke wird im folgenden Jahrhundert in einem Diskurs ausdifferenziert, der über die politische und rechtliche Zähmung des Hobbes’schen Leviathan geführt wird, das von Hobbes gelegte begründungstheoretische Fundament aber nicht verlässt. Mit dem Kantischen Begriff des Rechts als »Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann« (Kant 1902: VI/230), werden positive Rechtsordnungen schließlich allein noch an dem Legitimitätskriterium des menschenrechtlichen Egalitarismus gemessen: der Frage nämlich, ob es ihnen gelingt, die individuellen Freiheiten der einander strikt als Gleiche begegnenden Rechtspersonen kompatibel zu halten. Der Kantische Rechtsbegriff garantiert damit den rechtlich nur durch das Kriterium der Universalisierbarkeit der Frei-

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heitssphären beschränkbaren Schutz der persönlichen Freiheit, die Kant als »das einzige, ursprüngliche, jedem Menschen, kraft seiner Menschheit, zustehende Recht« und im gleichen Atemzug als Recht von Gleichen begreift (Kant 1902: VI/230). Die Legitimität des Rechts wird hierdurch zugleich davon abhängig, ob es die rationale Zustimmung der Normunterworfenen finden kann: »Denn das ist der Probirstein der Rechtmäßigkeit eines jeden öffentlichen Gesetzes: Ist nämlich dieses so beschaffen, daß ein ganzes Volk unmöglich dazu seine Einstimmung geben könnte […], so ist es nicht gerecht« (Kant 1902: VIII/297). Menschenrechte sind nach alledem jene normativen Gehalte, »die gleichsam übrigbleiben, wenn die normative Substanz eines in religiösen und metaphysischen Überlieferungen verankerten Ethos durch den Filter posttraditionaler Begründungen hindurchgetrieben worden ist« (Habermas 1992: 129), die also übrigbleiben, weil sie unter den Rechtspersonen, die zugleich Autoren und Adressaten der von ihnen begründeten Normen sind, »niemand vernünftigerweise – also mit reziprok-allgemeinen Argumenten – zurückweisen kann« (Forst 2007: 306). Dieser Modus der Begründung, den man auch unter der Überschrift eines als Basisanspruch fungierenden »Rechts auf Rechtfertigung« (Forst 2007) rekonstruieren kann, bildet das Fundament der Normativen Moderne. Es ist vor allem Diskriminierung, die nun in den Fokus des Rechtfertigungszwangs gerät. Dieser setzt eine spezifisch moderne normative Dynamik in Gang, deren historische Realisierung sich als die Selbstverwirklichung einer Idee darstellen lässt, in der gute Gründe mit Notwendigkeit gute Gründe gebären: Das Recht auf gleiche Achtung wendet sich omniphor gegen die Strukturen seiner Missachtung. Seine Logik ist inklusiv, es zielt auf die Einbeziehung des anderen und damit aller anderen. Wenngleich die Entfaltung des Prinzips historisch nur schrittweise und nicht ohne Rückschläge erfolgt ist, hat der Anspruch des egalitären Universalismus doch von Anfang an die Standards definiert, an denen sich die je verbliebenen Verstöße gegen ihn auf eben seiner Grundlage kritisieren ließen. Die im 18. Jahrhundert, auch noch bei Kant (und umso mehr in den sklavenhaltenden Vereinigten Staaten von Amerika des Jahres 1776) explizit oder stillschweigend mitgedachte Beschränkung aller oder bestimmter Bürger- und Menschenrechte auf freie, männliche (und ökonomisch unabhängige) citoyens konnte angesichts der egalitären Geltungsansprüche, die mit der Menschenrechtsforderung erhoben wurden, zwar politisch noch einige Zeit durchgehalten, aber von vorneherein nicht mehr plau-

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sibel begründet werden. Wenn es keine guten Gründe dafür geben kann, Menschen wegen ihrer Hautfarbe in Sklaverei zu halten, gibt es auch keine dafür, Personen wegen ihres zweiten X-Chromosoms bürgerliche und politische (oder Menschen-)Rechte vorzuenthalten, sie von Schulen, Universitäten und freier Berufswahl auszuschließen. Das gleiche Verbot der freiheitsbeeinträchtigenden Ungleichbehandlung greift sodann im Hinblick auf religiöse und weltanschauliche Überzeugung, auf die ethnische Herkunft, die sexuelle Orientierung, Behinderung und Alter sowie potenziell auch im Hinblick auf jene diskriminierenden Formen von Exklusion und Ungleichheit, die von der sozialen Dynamik stets neu hervorgebracht bzw. von der Progression der Inklusionslogik neu ›entdeckt‹ werden. Dies benennt einen weltweiten Prozess, der weit davon entfernt ist, zum Abschluss gekommen zu sein. Die Geschichte der Menschenrechte ist eine Geschichte ihrer Extension (Menke/Pollmann 2007: 99ff.; Schmidt 2012a),4 weil und insoweit sich die Logik der Nichtdiskriminierung Bahn frisst. Diese Bahn mag schief sein, sie mag Brüche und Umwege – ja selbst dramatische Rückfälle wie den mörderischen Rassismus der Shoah – aufweisen, sie mag völkerrechtlich noch unter zahllosen nationalen Vorbehalten stehen, aber ihre Binnenlogik ist einsinnig.

2. K ONTINGENZ UND G ERICHTE THEIT Diese Einsinnigkeit, d.h. die Möglichkeit einer gerichteten Entfaltung normativer Prinzipien, liegt in der Natur von Normativität (siehe: Thomson 2008; Wedgwood 2007; Dancy 2000; Raz 2006; Korsgaard 1996), die im Modus guter Handlungsgründe existiert (Stemmer 2008: 87ff.; Raz 1999: 67), deren Binnenlogik durch den Zwang des besseren Arguments »necessitieren« (Kant) und Handlungsdruck generieren kann (dazu: Korsgaard 1996: 226). Die soziale Praxis der Rechtfertigung von Normen verweist auf die Einlösung von Geltungsansprüchen in der sozialen Praxis des Gebens und Forderns von Gründen (Brandom 1994). Geltung und Rechtfertigung (Begründung) moralischer und rechtlicher Normen hängen zusammen; 4 | Im internationalen Menschenrechtsschutz wird damit zugleich jene Modernisierung der Kultur verhandelt, die auf ein maximal inklusives Verständnis von Mitgliedschaft – die imaginierte Weltgemeinschaft aller Menschen als »Weltbürger« – Bezug nimmt (Schmidt 2012a).

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der präskriptive Sinn von »geboten« und »verboten« setzt den epistemischen Sinn von »gerechtfertigt« vs. »ungerechtfertigt« voraus (Habermas 1999: 272). Hierbei entzieht sich die Dimension der Sollgeltung von Normen ebenso der empirischen Beschreibung (Habermas 1999: 278) wie die immanente Entwicklung dessen, was als guter normativer Grund gelten kann. Normen lassen sich insoweit nicht an Tatsachen assimilieren. Dies ermöglicht es, die Frage nach der Struktur und der Gerichtetheit der Entwicklung normativer Begründungszusammenhänge zu stellen und zu beantworten: Wenngleich der Normenwandel kein intentionales Ziel hat, wenngleich kein Urteil über die Vernünftigkeit der Entwicklung des Rechts tout court zur Diskussion stehen kann, so lässt sich über das erkenntnistheoretische Verhältnis von Kontingenz oder Gerichtetheit der Entwicklung der Idee der Menschenrechte doch eine klare Aussage treffen: Wir können gar nicht anders, als diese Entwicklung, jedenfalls was die Ebene ihres leitenden Prinzips, der egalitären Logik der Nichtdiskriminierung, angeht, in normativer Hinsicht zumindest ex post als sinnhaft und kohärent und insofern als gerichteten Prozess zu interpretieren. Soweit die egalitäre Achtung vor den Einzelnen als Rechtspersonen heute reicht, ist sie, aus normativer Perspektive, d.h. mit Blick auf die Logik ihrer normativen Gründe, die Entfaltung eines einheitlichen, spezifisch modernen Prinzips und nur als solche intelligibel. Die historische Entwicklung der schrittweisen Verwirklichung des Prinzips egalitärer Grundrechte und Achtungsansprüche stellt sich retrospektiv als Fortschrittsgeschichte eines sich selbst korrigierenden Lernprozesses dar (Habermas 2009b: 224), der die Kriterien seiner Entfaltung von Anfang an besessen hat. Zugleich kann so begründet davon gesprochen werden, dass der entstandene internationale acquis an Grund- und Menschenrechten sowie an rechtsstaatlichen Standards sich heute nicht zuletzt der Unmöglichkeit verdankt, seine zentralen normativen Prämissen in konsistenter Weise argumentativ zurückzuweisen. Dies belegt nicht zuletzt die aporetische Struktur der kommunitaristischen Versuche, den als »Atomismus« (Taylor 1985) missinterpretierten normativen Individualismus durch Modelle zu ersetzen, die den Einzelnen wieder in substanzielle, ihm als ontologisch und normativ vorrangig gegenübertretende Gemeinschaften zurückdrängen (vgl. Gutmann 1997). Für die Normenbegründung stellt das Spannungsverhältnis zwischen den universalistischen – und damit tendenziell ahistorischen, jedenfalls ihre Genese ausblendenden – Begründungsfiguren des normativ Richtigen einerseits und dem Wissen um

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die Historizität und historische Kontingenz der Entwicklung dieser ›modernen‹ normativen Argumente andererseits insoweit also kein Problem dar. Dies alles will nicht in Abrede stellen, dass die Entwicklung normativer Ordnungen von immer kontingenten historischen Erfahrungen und politischen Opportunitätsstrukturen abhängt und dass diese Entwicklung ebenso wie auch der Wandel normativer Legitimitäts- und Begründungskriterien als agonale Prozesse verstanden werden müssen, die sich im Modus von Macht, Hegemonie und Widerstand, als Kampf um Interpretationen und um Anerkennung in praktisch und diskursiv umstrittenen Feldern realisieren. Dennoch wird man nicht umhin können, in der Logik der Nichtdiskriminierung, dem Fundament der Menschenrechtsidee, ein normatives Prinzip zu sehen, das in der Lage war und ist, seine eigene Verwirklichung voranzutreiben. Modernisierung kann in ihrer realhistorischen Dimension ein multifaktorieller, gradueller, unebener (und noch dazu oft gewaltsamer und für die Betroffenen – selbst wo sie deren ›Emanzipation‹ oder ›Befähigung zu autonomer Lebensführung‹ anstrebt – traumatisierender) sozialer Prozess mit kontingentem Ausgang sein. Die Dynamik ihres leitenden normativen Prinzips ist jedoch nur als gerichtete Entwicklung begreifbar.

3. S ÄKUL ARISIERUNG DER N ORMENBEGRÜNDUNG UND DER S TANDORT DER R ELIGION IN DER N ORMATIVEN M ODERNE Die seit etwa 1650 verstärkt einsetzende und noch anhaltende Modernisierung normativer Konzepte und der Modi der Normenbegründung ist zugleich ein Prozess ihrer Säkularisierung. Die historische Entfaltung der egalitären Logik der Nichtdiskriminierung hängt vom Erfolg dieses Prozesses ab und treibt ihn zugleich voran. Nicht nur die Entstehung des Staates5 (Böckenförde 1976), sondern auch jene des modernen Rechts war und ist wesentlich ein Vorgang der 5 | Luhmann (2000b: 189ff.) betont zu Recht, dass Herrschaftsformen, die heute mit dem Staatsbegriff erfasst werden, mit vormodernen Formen der Herrschaft wenig gemein haben und dass der Staat mithin als ein genuin modernes Phänomen zu fassen ist.

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Säkularisation. Wesentliche Bausteine des modernen Konzepts von Normativität wurden in christlich-theologischem Rahmen (wenngleich zu einem wesentlichen Teil vermittels einer ›Theologisierung‹, also Ent-Säkularisierung von Konzepten antiker Philosophie und römischen Rechtsdenkens) herausgebildet oder doch transformiert – darunter die Vorstellungen universal geltender Normen, einer fundamentalen Gleichheit aller Menschen, der Person und ihrer Würde, der Zurechnung individueller Verantwortung, des freiwilligen Handelns oder der Gerechtigkeit. In dem um 1650 systematisch einsetzenden Prozess der Umstellung von religiösen auf säkulare Begründungen staatlicher Normen (Siep u.a. 2012) zeigt sich exemplarisch ein universaler (wenngleich zunächst okzidentaler) Vorgang: Die Vernunftrechtstheorie hat ihre zentralen Konzepte in einem komplexen Prozess auf das neue Fundament eines Rechtsdenkens gestellt, das Transzendenz nicht länger als Begründungsressource benötigt. In einer Revolte gegen die politische Theologie des Christentums (Lilla 2008: 17) wurden die zentralen Sinnbezüge der Konzepte verändert oder ausgetauscht. Sie wurden auf den neuen Funktions- und Begründungszusammenhang der Handlungskoordinierung autonomer, sich als Rechtspersonen wechselseitig anerkennender Individuen umgestellt und hierdurch in ihren Fundamenten säkularisiert (für viele: Habermas 2009a: 404; Honneth 2011: 38; Gutmann 2011a). Diese Veränderung betraf die Art der Geltungsansprüche, der Begründungserwartungen und Begründungsressourcen und erschöpfte sich nicht in der Ersetzung einer theo- durch eine anthropozentrische Blickrichtung. Die Begriffe wurden gerade durch ihre veränderte Geltungsdimension von ihrem geschichtlichen Herkunftskontext getrennt. Die westliche Rechtswissenschaft hat sich von der Theologie auf ihrer Begründungsebene gelöst. Die rechtsphilosophische Analyse dieser Dynamik will eine historische, akteurstheoretische Perspektive nicht verdrängen, sondern ergänzen. Der Zusammenhang von Rechtfertigungsansprüchen und sozialer Kritik beruht immer auf individuellen und kollektiven Unrechtserfahrungen. Die Geschichte der Menschenrechte ist eine Geschichte der Erfahrung der Verletzung ebenjener Güter, die sie schützen sollen (vgl. Hunt 2007 und bereits Moore 1987). Dabei lag ein Moment der politischen Durchsetzung der Menschenrechtsidee auch in den aus religiösen Gründen geführten Kämpfen um die Religions- und Gewissensfreiheit (Jellinek 1895; vgl. Stolleis 2000). Ungeachtet der Motive der geschichtlichen Protagonisten und der unterschiedlichen politischen, theologischen und ethischen Kon-

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texte und Auseinandersetzungen, aus denen heraus Forderungen nach Menschenrechten laut wurden, sind der ›begründungsaktive‹ Kern dieser Rechte und ihre freiheits- und gleichheitsrechtliche Struktur aber strikt säkularer Natur. Historisch war es der Verlust der allgemeinen Verbindlichkeit und der öffentlichen Glaubwürdigkeit religiöser Prämissen und Bedingungen der Moral und des Rechts, der jenen Begründungsbedarf erzeugt hat, »der nur noch durch ›Vernunft‹, d.h. durch allgemein und öffentlich einsehbare Gründe«, also im Sinne einer universalistischen und egalitären Rechtsmoral, gedeckt werden konnte (Habermas 1999: 272). Die entscheidende Krisenerfahrung und Beschleunigungsphase waren die religiösen Bürgerkriege des 16. und 17. Jahrhunderts, in denen mit der Religion gerade jener Fluchtpunkt, an dem normative Integration sicher verankert sein sollte, selbst zum Grund für den gewaltsamen Zerfall normativer Ordnung wurde. Dieser clash of universalisms, das Urtrauma des normativen Diskurses der Moderne, gebiert zunächst den modernen Staat, dann den Rechtsstaat als Dompteur religiöser Gewaltbereitschaft (Beck 2008: 33, 207) und verpflichtet ihn zugleich darauf, seine normativen Ressourcen selbst zu generieren. Die »säkular ›freistehenden‹ Legitimationsgrundlagen von Politik und Recht« (Habermas 2009a: 399) müssen den auf ihnen errichteten Bau selbstständig tragen. Der systematische Abbau theologisch motivierter Restbestände in den Rechtsmaterien insbesondere der westlichen Staaten (am Beispiel des Strafrechts: Gutmann 2008), ratifiziert diese Entwicklung. Ebenso wichtig ist die umgekehrte Einsicht, dass die hier untersuchte Dynamik des Modus’ ›moderner‹, auf öffentliche Rechtfertigung abstellender Normenbegründung die Entkopplung politischer Herrschaft von religiösen und kosmologischen Weltbildern auch voraussetzt. Dort, wo die Behauptung, Recht und Moral seien ohne Bezüge auf Formen religiöser Transzendenz defizient und die Legitimität moralischer und (vor allem) rechtlicher Normen hänge von religiösen Kriterien ab, mit Aussicht auf Erfolg vorgebracht werden kann, hat dies für grammatisch universelle Normen und universalistische Prinzipien nicht nur »die Wirkung eines Brechungsmediums« (McCarthy 2001: 633), vielmehr stellt schon die Form religiöser (oder anderer Formen metaphysischer) Normenbegründung (d.h. schon der Begründungsmodus, unabhängig von den konkreten Inhalten) die Entwicklung und Anwendung einer autonomen Rechtsmoral still (vgl. hierzu knapp: Habermas 1992: 127f.). Die Umstellung von Moral und Recht auf postkonventionelle Begründungsniveaus setzt deshalb die

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Entzauberung religiöser Weltbilder zumindest in normativer Hinsicht voraus. Hierbei handelt es sich um einen langen, von Ungleichzeitigkeiten geprägten Prozess. Auch die Normative Moderne ist deshalb bei globaler Betrachtung durch die von Schmidt (in diesem Band) betonte (Ko-)Existenz unterschiedlicher Grade von Modernität gekennzeichnet, die gegebene soziale Entitäten auf unterschiedlichen Stufen jenes Wandlungskontinuums verorten, das die Moderne im Kern ausmacht. Die Säkularisierung der Normenbegründung in der Moderne ist von der Frage, ob die ›klassischen‹ religionssoziologischen Säkularisierungsthesen – darunter die Behauptungen, religiöser Glaube und religiöse Praktiken seien im Schwinden begriffen und/oder die Religion werde durchgehend privatisiert – zutreffen (zum Überblick: Pollack 2009 und in diesem Band; Casanova 2008), weitestgehend unabhängig. Das säkularisierte Recht ist historisch, in der Epoche der europäischen Bürgerkriege, als Antwort auf eine radikale religiöse Pluralisierung entstanden und gerade darauf angelegt, auch eine denkbare Wiederkehr des Religiösen in der Gesellschaft säkular zu verwalten. Soweit ›Säkularisierung‹ soziologisch jedoch den Prozess einer funktionalen Ausdifferenzierung und Trennung sozialer Sphären oder Systeme – der Politik, des Rechts, der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Erziehung, der Kunst etc. – und ihre Emanzipation von religiösen Institutionen und Normen meint, erhält sie von der Analyse der Säkularisierung der Normenbegründung in der Moderne Zuspruch. So verstanden bezeichnet ›Säkularisierung‹ auch hier die Folgen funktionaler Ausdifferenzierung mit Abgabe der religiösen Kontrolle anderer Systeme an diese selbst (Luhmann 2000a: 315): Religion kann die eigensinnige Entwicklung des Rechts (und der Moral) nicht länger steuern (Luhmann 1989: 259; Roellecke 2004: 109f.).

4. D IE K RISENERFAHRUNG MODERNER N ORMATIVITÄT Für die säkularisierte Normenbegründung in der Moderne, zumal auf der Ebene ihrer Kernkonzepte und Verankerungen, wird Krise zu einer Dauerkategorie, zum l’état de crise (Rousseau). Mit der Umstellung des Rechts (und der Moral) auf postkonventionelle Modi der normativen Rechtfertigung haben Religion und Tradition ihre legitimierende Kraft verloren. Es ist nun, in den Worten des konservativen Melancholikers Charles Taylor, »ein Zeitalter der Entzauberung eingeleitet, in dem sich die Menschen in

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einem indifferenten Universum alleine wiederfanden, dazu verdammt, sich im Weiterschreiten ihre Regeln selbst zu geben« (Taylor, in diesem Band). Die sakralisierten Überzeugungskomplexe zerfallen; zumindest aber wird ihr Orientierungspotenzial als eine Option unter mehreren unter den Vorbehalt der Dezision und damit der (möglichen) Reflexion des Einzelnen gestellt (Taylor 2009: 14ff., 35). Spätestens im 19. Jahrhundert setzt sich die Einsicht durch, dass sich die Gehalte der praktischen (auch der rechtlichen) Vernunft, »weder in der Teleologie der Geschichte, noch in der Konstitution des Menschen auffinden, noch aus dem zufälligen Fundus gelungener Überlieferungen begründen« (Habermas 1992: 17) lassen. Alles kann hinterfragt, jeder Geltungsanspruch kann überprüft werden. Die Moderne ist die Institutionalisierung des Zweifels (Anthony Giddens), der den Zusammenhang von Kritik und Krise auf Dauer stellt, alle historisch gewachsenen Sinngehalte unter Reflexionsdruck setzt und in diesem Prozess der Enttraditionalisierung systematisch Unsicherheit und ein gleichbleibend hohes Dissensrisiko erzeugt (Giddens 1995: 54ff.). In Jacob Burckhardts Worten: »Unbewegliches X allgemeine Beweglichkeit. […] Altes göttliches Recht X allgemeine Bestreitbarkeit der Macht. Alles außer Frage X lauter Discussion« (Burckhardt 2009: 8). Reflexivität als Strukturmerkmal der modernen Kultur impliziert auch im normativen Diskurs Kontingenz und Postkonventionalität, d.h. die Erwartung der Unbeständigkeit und dauernden Überprüfbarkeit der Geltungsgründe von Gegebenem nach Maßgabe verallgemeinerungsfähiger Prinzipien (Schmidt, in diesem Band: sub 4.2). Die Kulturkritik spricht, ein perennierendes Motiv des konservativen Antimodernismus aufgreifend, hier von der Verflüssigung aller institutioneller Geltungsgarantien (Bauman 2000) – allerdings regelmäßig, ohne den normativen Grund dieser Entwicklung zu benennen. Denn es ist der freiheitssichernde Charakter des Rechts selbst, der seiner Begründungskrise zuarbeitet. Rechtsordnungen, die dem Prinzip des normativen Individualismus folgen und den Einzelnen Freiheitsbereiche je individueller Lebensführung und Persönlichkeitsentwicklung garantieren, stellen notwendig normative Vielfalt her. Sie reproduzieren, in den Worten John Rawls’, das nicht hintergehbare »Faktum des vernünftigen Pluralismus« (Rawls 2003: 63ff.), d.h. normative Dissense, mit denen angesichts der Pluralisierung von Lebensformen und der Individualisierung von Lebensgeschichten der citoyens (Habermas 1992: 42, 51) aus strukturellen Gründen dauerhaft gerechnet werden muss. Normenbegründung, die durch das Nadelöhr subjektiver ratio et voluntas hindurch muss, kann

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sich dabei ohne religiöse und metaphysische Rückendeckung nur noch der Ressourcen bedienen, die sie selbst generiert: Normative Autopoiesis, oder: order from noise. Dieser Befund weist nicht nur die säkulare condition moderne als diejenige aus, die, anders als traditional oder religiös verfasste Gesellschaften, strukturell auf Ambiguitätstoleranz angewiesen ist, sondern führt notwendig zu der von John Rawls formulierten Frage, wie es denn überhaupt noch gelingen kann, »eine Gesellschaft freier und gleicher Bürger, die durch inkompatible religiöse, philosophische und moralische Lehren getrennt« sind, in einer stabilen konstitutionellen Ordnung zu integrieren (Rawls 1998: 14). Diese Krise rekurriert zu ihrer Selbststabilisierung und immer nur vorläufigen ›Lösung‹ auf eben jene Prinzipien, die sie hervorgebracht haben – die substanziellen und prozeduralen Momente des egalitären normativen Individualismus. Insofern wird sie ihrerseits legitimitätsstiftend: Sie produziert, fordert und fördert Theorien der Politik und des Rechts, die sich durch ihre Fähigkeit auszeichnen, die Krise der Normenbegründung zugleich zu repräsentieren und reflexiv abzuarbeiten. Auch die säkularisierte Normenbegründung in der Moderne ist damit eine Form der für die Moderne insgesamt typischen dynamischen Stabilisierung im Sinne Hartmut Rosas (in diesem Band). Die Idee des säkularen Rechtsstaats – also jene Hauptlinie der Normativen Moderne, die aus dem Binnendiskurs des gegenüber der Politik ausdifferenzierten Rechts entsteht – gewinnt nun ihre spezifische Dignität daraus, dass sie eine Lösung für das Rawls’sche Problem anbietet, die sich selbst mit einigem Grund als alternativlos darstellen kann. Ihre Reflexionsform ist die (seit 1650 in Arbeit befindliche) Theorie des politischen Liberalismus, als deren Repräsentant hier wiederum der späte John Rawls in den Zeugenstand gerufen werden soll: Normenbegründung im liberalen Rechtsstaat, so Rawls, ist an Bedingungen der public justification (vgl. Rawls 1992 und 1999: 593f.; Huster 2002: 85ff.; D’Agostino 2008) gebunden, die ihrerseits in der egalitären Logik der Nichtdiskriminierung wurzelt. Der weltanschaulich neutrale Staat, der seine Bürger mit gleicher Rücksicht und gleichem Respekt zu behandeln hat (Dworkin 1984: 298ff. und 1985: 191), muss sich auf Gründe beschränken, die im Prinzip jedermann diskursiv einsichtig gemacht werden können. Vor dem Hintergrund eines auf der kognitiven Ebene offensichtlich nicht zu schlichtenden Neben-, Mitund Gegeneinanders unterschiedlicher Weltbilder und religiöser Lehren können Rechtsnormen mit allgemeinem (innerstaatlichem) Geltungsan-

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spruch nicht auf partikuläre Vorstellungen des Guten gegründet werden (vgl. Huster 2002: 85ff., 633ff.; Rawls 2003: 63ff.; Habermas 2002: 61, 70ff.). Durch diese Prinzipien des öffentlichen Vernunftgebrauchs sind Begründungen, die in letzter Konsequenz auf die Kraft der Autorität und glaubensmäßige bzw. dogmatische Setzungen rekurrieren, als Begründungsressourcen, zumal für freiheitsbeschneidende Normen, gesperrt. Insbesondere kann eine mit Zwangsgewalt verbundene Gesetzgebung und Rechtsprechung nicht mehr auf religiöse Inhalte gegründet sein. Wo und soweit sie das de facto dennoch ist, wird man sie entsprechend dem in diesem Beitrag entwickelten Begriff der Normativen Moderne als nichtmodern ansehen müssen – und nicht einfach als ›anders‹. Das Recht auf Rechtfertigung als legitimitätserzeugendes »Prinzip der weltanschaulich neutralen Ausübung politischer Herrschaft« fordert, dass »alle mit staatlicher Gewalt durchsetzbaren politischen Entscheidungen in einer Sprache formuliert sein müssen und gerechtfertigt werden können, die allen Bürgern gleichermaßen zugänglich ist. Die Mehrheitsherrschaft verwandelt sich in Repression, wenn eine religiös argumentierende Mehrheit im Verfahren der politischen Meinungs- und Willensbildung der unterlegenen säkularen oder andersgläubigen Minderheit den Nachvollzug der ihr geschuldeten Rechtfertigungen verweigert« (Habermas 2005: 140). Der politische Liberalismus kann sich so als eine Theorie darstellen, die transzendentale, d.h. nicht ersetzbare Möglichkeitsbedingungen pluralistischer Rechtsstaatlichkeit und legitimer demokratischer Mehrheitsherrschaft beschreibt, und den Vorwurf, sie setze selbst nur eine partikulare moralische Tradition durch, mit Gründen zurückweist. Der liberale Rechtsstaat legitimiert sich seiner inneren Logik (wenngleich nicht immer seiner empirisch beobachtbaren Performanz) nach als schlechthin überlegenes Modell sowohl der Verwaltung als auch der Repräsentation der perennierenden Krise der Normenbegründung in der Moderne. Er tritt damit als eine hegemoniale Semantik (Koschorke, in diesem Band) auf – allerdings als eine, die ihre Sinnhaftigkeit mit Argumenten zu plausibilisieren versucht, die gerade auf die normative Inklusion weltanschaulicher Diversität zielen. Zugleich wird nochmals deutlich, dass moderne Normativität in einer doppelten Beziehung zu Säkularisierung qua funktionaler Differenzierung steht: Einerseits lassen sich die Entstehung und Institutionalisierung einer säkularen Ethik und eines von der Religion getrennten Rechtssystems und damit der gesamte Komplex einer säkularisierten, spezifisch modernen Normenbegründung auch aus der Perspektive der Normwissenschaften

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selbst als Differenzierungsprozesse analysieren. Umgekehrt wird die funktionale Differenzierung heute in wesentlichen Dimensionen normativ stabilisiert, verwaltet und in die Regie genommen. Rechtliche Institute wie der Grundsatz der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates (Huster 2002), das Rechtsstaatsprinzip und die säkularisierte Rechtsgutstheorie des Strafrechts (Seelmann 2012; Saliger 2012) wirken als normative Entdifferenzierungssperren (zum Begriff: Fateh-Moghadam/Atzeni 2009: 143) an der Grenze von Recht und Religion. Die Normative Moderne befestigt aus normativen Gründen bestimmte Formen gesellschaftlicher Modernisierung qua Differenzierung. Die Rolle der Religion im Konzept der Normativen Moderne lässt sich nach alledem klar umschreiben. Sie wird durch subjektive Rechte auf Religionsfreiheit geschützt, die den Einzelnen neben der eigentlichen Freiheit des Glaubens auch die äußere Freiheit garantieren, ihre religiösen Überzeugungen und Entscheidungen öffentlich zu bekennen und zu verbreiten und die den Gläubigen zugleich die rechtlich garantierte Möglichkeit zur Selbstorganisation als religiöse Gemeinschaft einräumen. Dieser Schutz ist nicht religiös motiviert, schon weil die egalitären normativen Grundlagen des spezifisch modernen Menschenrechtsdiskurses, zu dem auch der Schutz der Religionsfreiheit gehört, mit religiösen Formen rechtlicher oder moralischer Begründung nicht kompatibel sind (vgl. zum Beispiel der Menschenwürde als rechtlichem Konzept: Gutmann 2011a: 227-229). Zugleich hat sich das Recht auf der Ebene seiner normativen Geltungsansprüche von jenen partikulären Begründungen gelöst, zu denen notwendig auch Argumente gehören, die aus religiösen Traditionen und Erfahrungen oder aus theologischer Dogmatik hergeleitet werden.

5. F AK TIZITÄT UND G ELTUNG Die methodischen Ressourcen für eine Theorie der Normativen Moderne liegen nach alledem primär in der Philosophie, insbesondere der Rechtsphilosophie selbst. Sie erfordert hier die Zusammenführung der Befunde eines ideengeschichtlichen Ansatzes, der die performative Funktion politik- und rechtstheoretischer Texte in ihren je historisch bedingten Diskursen und Kontexten untersucht (Skinner 2009: 14ff.), mit dem systematischen Zugriff einer das anhaltende Begründungspotenzial normativer Argumente untersuchenden Rechtsphilosophie. Die Ausarbeitung dieses

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Ansatzes im Rahmen einer Theorie der Moderne ist jedoch nur als interdisziplinäres Unternehmen denkbar. Eine theoretische Verzahnung von Beobachtung und Begründung des Normenwandels sieht sich allerdings der für die interdisziplinäre Forschung eines Juristen (oder Moralphilosophen) spezifischen Problematik (van Klink/Taekema 2008 und 2011) gegenüber, dass zwischen Faktizität und Geltung, zwischen Deskription und Präskription ein Hiatus liegt und von der soziologischen Beobachtung bzw. der historischen Beschreibung zunächst kein Weg zum normativen Argument führt (und umgekehrt). Hieraus ergibt sich die methodische Forderung, diesen Hiatus allererst ernst zu nehmen, statt ihn kurzschlüssig von der Seite der Normativität aus zuzuschütten (wie dies aristotelisch inspirierte Ansätze seit jeher versuchen) oder ihn von der Seite der Gesellschaftstheorie aus zu verschleiern (wie dies beispielsweise die gerade in der Rechtstheorie anzutreffenden präskriptiven Deduktionen aus der Systemtheorie vorführen [z.B. Teubner 1989; kritisch Fateh-Moghadam 2012]). Erst das Bewusstsein von der irreduziblen Eigensinnigkeit der entia moralia erlaubt es, die Vermittlung normativer Diskurse mit ihrer sozialen und historischen Umwelt und die Frage nach möglichen Ko-Evolutionen theoretisch adäquat zu fassen. Projekt und Prozess der Moderne sind also zunächst (mit Rosa, in diesem Band) systematisch zu unterscheiden und analytisch voneinander zu lösen, bevor ihre wechselseitige Bezogenheit zu einer Forschungsfrage werden kann, die freilich (gegen Rosa, in diesem Band) mit empirischen Mitteln allein nicht beantwortet werden kann. Dies bedingt zunächst einen spezifischen analytischen Umgang mit Theorien der Moderne, der den in vielen Ansätzen enthaltenen oder doch implizierten normativen Gehalt des Modernebegriffs zunächst isoliert, um einen (genauer: den erklärungskräftigsten) beobachtenden Blick sowohl auf den sozialen Wandel als auch auf die condition moderne der Normativität herauszuarbeiten. Theorien der Moderne können − was sie seit Condorcet (1976 [1795]) regelmäßig tun − apologetische Bedürfnisse des Fortschrittsglaubens bedienen, umgekehrt lässt sich die aufgeklärte Moderne aber auch integral von Auschwitz her denken (Bauman 1989) bzw. als dialektische Entfaltung »triumphalen Unheils« (Adorno 2003: 19) begreifen, oder, wie von einer Vielzahl von Autoren, normativ ambivalent beschreiben, wie etwa, im Falle Webers, als Rationalisierungsprozess, an dessen Ende ein »stahlhartes Gehäuse« der Herrschaft zu stehen droht (Weber 1988: 203 und 1980: 835f.). Obgleich eine philosophische Analyse der Moderne diese Dimensionen nicht ausblenden kann, muss ein makrosoziologischer Be-

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griff sozialer Moderne, der als korrespondierende Röhre gerade für einen auf seine Voraussetzungen und Elemente reflektierenden und diese einzeln ausweisenden Begriff moderner Normativität dienen kann, auf solche Vorentscheidungen verzichten. Es darf an dieser Stelle zunächst also nur um die sozialwissenschaftlichen Aufgaben einer Theorie der Moderne und nicht im gleichen Schritt um ihre philosophischen gehen. Ein Versuch, das Konzept der Normativen Moderne gerade auch in ihrer Entwicklungsdimension gesellschaftstheoretisch zu verankern, d.h. dem Verhältnis einer Normativen Theorie der Moderne zu einer Theorie der (Normativität in der) Moderne nachzugehen, würde sodann zu folgenden Fragen führen: Wie lässt sich die normative Entwicklungsdynamik zum Begriff der Moderne in den – beschreibenden bzw. verstehenden – Sozialwissenschaften in ein Verhältnis setzen? Konkret: Wie verhält sich Normative Moderne zu den Vorstellungen der Moderne in soziologischen Makrotheorien und den dort beschriebenen Dimensionen des Modernisierungsgeschehens (Schmidt, in diesem Band)? Welche Korrespondenzen und ko-evolutiven Relationen bestehen zwischen funktionaler Differenzierung (Deskription) und den spezifisch ›modernen‹ Forderungen und Instituten moralischer und rechtlicher Normenbegründung (Präskription)? Wie verhält sich die Ausdifferenzierung ›moderner‹ Prinzipien der Moral und des Rechts (und ihre Trennung von der Religion) zur Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Subsysteme? Konkret: Ist die Säkularisierung der Normenbegründung als Aspekt der Systemdifferenzierung und der Autonomisierung des Rechts zu verstehen? (Wie gezeigt: ja.) Hängt das Verständnis des Prozesses der Säkularisierung der Normenbegründung in Recht und Moral von der empirischen Plausibilität soziologischer Theorien über den Rückgang der Religion ab? (Wie gezeigt: nein.) Wie verhält sich der normative Individualismus, der in der spätestens im 17. Jahrhundert einsetzenden Trennung der Rechts- und Moraltheorie von der Theologie gründet, zum institutionalized individualism (Parsons) und den (übrigens späten) Individualisierungsschüben der Moderne? Rekurrieren Normenbegründung unter modernen Bedingungen und plausible soziologische Analysen des Phänomens ›moderne Gesellschaft‹ auf ähnliche Begriffe von Reflexivität? Gibt es Moral- und Rechtsprinzipien − etwa bestimmte Formen subjektiver Grund- und Menschenrechte − die der funktional ausdifferenzierten Moderne ›angemessen‹ sind, und für welche normativen Prinzipien und Strukturen bildet letztere umgekehrt ein förderliches Umfeld? Wo genau liegen die Korrespondenzen, ko-evolutionären Entwicklun-

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gen, wechselseitigen Entsprechungen, Irritationen und Verstärkungen? Erst auf der Grundlage der Antworten auf diese Fragen kann mit Gründen darüber befunden werden, ob und auf welche Weise funktional differenzierte Gesellschaften auch die normativen Ressourcen befördern, in denen die Realisierung des spezifisch modernen Versprechens autonomer Selbstbestimmung gründet, oder ob Hartmut Rosas (in diesem Band) Vermutung zutrifft, dass die Steigerungsimperative des Prozesses der Moderne gleichsam flächendeckend zur Bedrohung für das Projekt der Moderne werden.

6. THEORIE ANGEBOTE Blickt man auf das Theorieangebot, mit dessen Hilfe die Rechtsphilosophie sich beim interdisziplinären Zugriff auf den Gegenstand ›Normative Moderne‹ der historischen und sozialwissenschaftlichen Einzeldisziplinen versichern könnte, fällt zunächst auf, dass bei den Klassikern nicht sehr viel zu holen ist. Dies gilt jedenfalls für Durkheim und Weber, obgleich beide einzelne Elemente der sozialen Institutionalisierung moderner Moral und modernen Rechts thematisiert haben (König 2002). Émile Durkheims Entgegensetzung archaischer und moderner Gesellschaften und sein Befund, dass der Übergang von (vormoderner) segmentärer sozialer Differenzierung zu (moderner) funktionaler Differenzierung von Lebensbereichen und Institutionen dem Übergang von einem repressiven zu einem vorrangig restitutiven, vertraglich-koordinierenden und auf der Arbeitsteilung als der Hauptquelle sozialer Solidarität ruhenden Recht entspricht (Durkheim 1991 und 2000), ist bei Weitem zu unspezifisch. Auch seine These, dass der »Kult« des Individuums in der Moderne Funktionen dessen übernommen habe, was vormals als Sakrales verhandelt wurde (Durkheim 1983: 381-97, 1986, 1991: 227 und 2007; vgl. dazu auch König 2002: 44ff.), ist methodisch wenig geeignet, die spezifisch modernen Geltungsansprüche, die durch das Prinzip des normativen Individualismus erhoben werden, zu erfassen – wiewohl Durkheim klar sieht, dass es eben diese Geltungsansprüche der »notwendigen Doktrin« des Individualismus sind, die die »moralische Ordnung der Neuzeit« als social imaginary (Taylor 2004 und 2009: 275ff., 703ff.) geformt haben:

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»Denn dieser Liberalismus des 18. Jahrhunderts, um den der ganze Streit im Grunde geht, ist nicht einfach […] eine philosophische Konstruktion, er ist eingeflossen in die Fakten, er hat unsere Institutionen und Sitten durchdrungen, er ist mit unserem ganzen Leben verwoben, und wenn wir uns wirklich von ihm befreien müßten, so müßten wir gleichzeitig unsere gesamte moralische Organisation umstürzen« (Durkheim 1986: 57f., 63).

Max Webers These der Rechtsevolution hingegen, seine Annahme einer »Säkularisation des Rechts«, verstanden als Prozess seiner »Herausdifferenzierung« (Weber 1980: 468, vgl. 504ff.) im Sinne einer universellen Entwicklung hin zu einem am Imperativ zweckrationalen Handelns und an formaler Legalität orientierten, professionell verwalteten und zunehmend positivierten Recht, gleitet über die hier interessierende Ebene der materialen Begründungsstrukturen modernen Rechts hinweg. Vor allem wird Webers Formalisierungsthese seit Langem durch massive Tendenzen einer Rematerialisierung des Rechts (Nonet/Selznick 2001) in Frage gestellt, unter die ja gerade auch die hier diskutierten menschenrechtlichen Konstitutionalisierungsschübe zu subsumieren sind. Auch der zutreffende Befund, dass ein Basisprozess der Modernisierung des Rechts in seiner zunehmenden Positivierung liegt, erfasst das uns interessierende Phänomen nicht. In der Tat war es der mit funktionaler Differenzierung einhergehende ›Möglichkeitsüberschuss‹ an Handlungsoptionen, vor allem aber der enorme Zuwachs an Entscheidungsproblemen, auf den das Recht seit dem 19. Jahrhundert mit einem dynamischen Modus seiner Selbststabilisierung (Rosa, in diesem Band), d.h. mit erhöhter Selektivität, zeitlicher und sachlicher Komplexität und Kontingenz antworten musste (Luhmann 1981b und 1987: 190ff.). Auch der Konstitutionalisierungsprozess von Grund- und Menschenrechten lässt sich als Teil dieses Positivierungsgeschehens begreifen; dieser Befund beantwortet jedoch nicht die hier interessierende Frage, was die Institutionalisierung der rechtlichen Legitimitätskriterien der staatlichen Normenproduktion, d.h. der eigensinnigen normativen Binnenlogik der Menschenrechte und der Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, vorangetrieben hat und weiter vorantreibt. Einfacher könnte die Beschreibung, ja die Engführung von Beschreibung und Bewertung der spezifisch modernen normativen Dynamik gelingen, wenn man sie in einem Begriff von Kultur verankert: nämlich in der Frage nach den Spezifika einer modernen Rechtskultur. Lawrence Friedman versucht sich an der deskriptiven Herausarbeitung eines sol-

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chen Konzepts, das auf ein Set normgenerierender kollektiver Vor- und Einstellungen abzielt, die in der (westlichen) Moderne in institutionell gefestigter Form idealtypisch zu beobachten seien und zugleich Grund und Randbedingungen der Rechtsentwicklung darstellten. Friedman nennt ein zusammenhängendes »System« von sechs solcher Charakteristika einer modernen Rechtskultur, darunter zwei materielle: (1.) eine durchgängige Umstellung auf institutionalisierte subjektive Individual(grund)rechte in Prozessen der Konstitutionalisierung des Rechts, und damit verbunden (2.) die grundlegende Vorstellung eines normativen Individualismus, der wiederum durch subjektive Rechte und Ansprüche abgesichert werde und insbesondere Freiheitsbereiche je individueller Lebensführung und Persönlichkeitsentwicklung garantieren solle (Friedman 1994, 2001: 8504 und 2011). Beide Momente umschreiben zusammen genau die Tradition der Grund- und Menschenrechte (der sogenannten »ersten Generation«), von der hier die Rede ist. Allerdings vermag auch der schillernde Begriff der Rechtskultur die von normativen Geltungsansprüchen und Gründen vorangetriebene innere Entwicklungsdynamik der Menschenrechtsidee nicht zu erklären. Versteht man mit Friedman die »Rechtskultur« als »Quelle des Rechts« (Friedman 1994: 118), handelt man sich jedenfalls ein analytisch unscharfes Konzept ein, in dem die Ebenen von Faktizität und Geltung theoretisch wenig kontrollierbar ineinander verlaufen. Gewinnbringender zeigt sich die Theorie selbstreferenzieller Systeme Niklas Luhmanns, die den historischen Prozess und gegenwärtigen Stand der funktionalen Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme und deren Umstellung auf eine jeweils eigene Rationalität thematisiert. Für die Suche nach der erklärungskräftigsten Theorie des Prozesses, der zur Herausbildung der Eigenlogiken des Rechts und der Politik im Verhältnis zur Sinnform Religion (Luhmann 2000a: 7ff.) geführt hat, scheint sie unter den soziologischen Makrotheorien die aussichtsreichste Kandidatin zu sein. Dies gilt gerade, weil die Systemtheorie als Theorie des Rechts der Gesellschaft Rechtssoziologie ist und keine Selbstreflexion des Rechtssystems. Sie ist second order observation, eine Fremdbeschreibung (Luhmann 1993a: 17, vgl. 24, 497) des Rechtssystems, eine Beobachtung von außen (Luhmann 1993a: 16; siehe auch Habermas 1992: 62ff.), nicht von innen (Luhmann 1993a: 12, 33, 502). Im Gegensatz zu theoretischen Reflexionsformen des Rechts, die selbst normative Geltungsansprüche erheben und deshalb dem Rechtssystem zurechenbar sind, will und muss die Luhmann’sche Systemtheorie qua soziologische Theorie normative

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Implikate ganz ausdrücklich vermeiden (Luhmann 1993a: 31). Die systemische »Autopoiesis ist kein politisches und auch kein ethisches Kriterium der Akzeptabilität von Recht« (Luhmann 1993a: 83). Gerade aus diesem Grund ist von Luhmann für den Versuch, das Konzept der Normativen Moderne auch in ihrer Entwicklungsdimension gesellschaftstheoretisch zu verankern, einiges zu lernen: Erstens eine theoretische Fundierung dafür, warum die Figur der subjektiven Rechte, die wir als Motor der normativen Dynamik der Moderne ausgemacht haben, auch in der soziologischen Beobachtung als die Errungenschaft des neuzeitlichen Rechts und seiner theoretischen Reflexion verstanden werden muss (Luhmann 1993a: 291). Funktionale Differenzierung und die Institutionalisierung subjektiver Rechte, die mit dem Schutz des Individuums (etwa seiner Religionsfreiheit) zugleich der Aufrechterhaltung der Ausdifferenzierung sozialer Systeme (im Beispiel: der Religion und der Politik) dienen, sind komplementäre, ko-evolutive historische Prozesse (Verschraegen 2002: 262; siehe bereits Luhmann 1965): Die simultane Teilnahme der Individuen an den verschiedenen systemischen Kommunikationen komplexer, funktional ausdifferenzierter Gesellschaften lässt sich nur noch über subjektive Rechte koordinieren; subjektive (Bürger-, Menschen-, Grund-) Rechte stabilisieren funktionale Differenzierung, indem sie individuelle Freiheiten garantieren. Zweitens bietet die Theorie selbstreferenzieller Systeme nicht-teleologische Konzepte der »sozialen Evolution«, der »Evolution des Rechts« (Luhmann 1993a: 239ff.) und der »Ideenevolution« im Sinne der Entwicklung sozialer Semantiken (Luhmann 2008a; sowie Luhmanns Untersuchungen zu »Gesellschaftsstruktur und Semantik«). Diese werden von Luhmann zwar vom Begriff der Kontingenz her entwickelt (Luhmann 1978: 421 und 1982: 155), enthalten aber die theoretischen Mittel dafür, die Selbststabilisierung der von der Religion geschiedenen rechtlichen Begründungsformen im Prozess der Ausdifferenzierung des Rechtssystems zu erklären (Luhmann 1981a und 1993a). Man wird von der Systemtheorie hierbei drittens darauf verwiesen, dass rechtliche Kommunikation in besonderer Weise auf die Forderung konsistenten Entscheidens und Begründens verwiesen ist (Luhmann 1993a: 18, 338ff., 356f.). Gerade dies kann die Logik der Inklusion erklären, mit der sich der fortschreitende Abbau von Diskriminierungen im Recht, den die Grund- und Menschenrechte verhandeln, vollzogen hat und vollzieht. Spätestens seit dem letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts ist die Einsicht formulierbar, dass sich die normativ ange-

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ordnete Schlechterstellung bestimmter Bevölkerungsgruppen vor dem Hintergrund des menschenrechtlichen Egalitarismus nicht mehr plausibel oder gar konsistent begründen lässt, und gerade die an rechtliches Entscheiden gerichtete Konsistenzanforderung begünstigt die schrittweise Durchsetzung normativer Inklusion. Dies alles wird viertens durch Luhmanns Hinweis ergänzt, dass unter Bedingungen funktionaler sozialer Differenzierung die Anstößigkeit bestimmter Diskriminierungen, d.h. der Zuschreibung von Rollenasymmetrien durch nicht disponible externe Referenzen (vor allem Rasse, aber auch Religion und sexuelle Orientierung) »strukturell bedingt« (Luhmann 1993a: 581) sei. Kategoriale Ungleichheit, typisches Kennzeichen vormoderner, stratifikatorischer sozialer Differenzierung, wird in modernen Gesellschaften dysfunktional – auch insoweit weisen die normativen Grundlagen der Moderne und die Dynamik funktionaler Differenzierung in dieselbe Richtung (vertiefend Schmidt 2012a). Dasselbe gilt für den eben dargestellten Befund, dass die simultane Teilnahme der Individuen an den verschiedenen systemischen Kommunikationen komplexer, funktional ausdifferenzierter Gesellschaften sich nur noch über subjektive Rechte koordinieren lässt. Das ist kein normatives Argument, aber für die sozialen Verwirklichungschancen der Normativen Moderne von Bedeutung. Diese theoretischen Befunde belegen, dass sich die Frage, wie sich die normative Entwicklungsdynamik ›moderner‹ Menschenrechte zum Begriff der Moderne in den Sozial- und Geschichtswissenschaften in ein Verhältnis setzen lässt, sinnvoll stellen und beantworten lässt. Fünftens schließlich bietet die Luhmann’sche Theorie ein Instrument, mit dem der für den Normenwandel wesentliche Befund thematisiert werden kann, dass die normativen Begründungen für einen Normenwandel (ja selbst seine politische Setzung) seiner sozialen Realisierung regelmäßig zeitlich vorausgehen, wie das gerade die Geschichte der Menschenrechte belegt. Luhmann analysiert dies mit dem Begriff der preadaptive advances, mit denen Errungenschaften bezeichnet werden, die im Rahmen eines älteren sozialen Ordnungstypus entwickelt und stabilisiert werden, die aber erst nach weiteren strukturellen Änderungen des (sozialen) Systems in ihre endgültige Funktion eintreten (Luhmann 1978: 433; Luhmann 2008b: 249). Gerade der systemtheoretisch-funktionale Begriff der Norm als einer kontrafaktisch stabilisierten Verhaltenserwartung erlaubt sodann die Analyse des Phänomens, dass Normen auf vielfache Weise ihre eigene Durchsetzung begünstigen und auch »gegen eine massiv andersgerichtete

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Realität durchgehalten werden können […]«. Luhmann kommentiert diese faktische Kraft des Normativen lakonisch mit dem Satz: »Die Geschichte der Menschenrechte, lanciert in einer Gesellschaft mit Sklaverei, mit massenhaften Enteignungen politischer Gegner, mit drastischen Einschränkungen der Religionsfreiheit, kurz: in der amerikanischen Gesellschaft um 1776, zeigt, daß es möglich ist« (Luhmann 1993a: 34f.).

Will man die von Luhmann angesprochene Frage, wie bestimmte normative Gehalte »in die Welt kommen« und sich in ihr ausbreiten, differenzierter beantworten, wird man die Systemtheorie – die der grundlegende soziologische Referenzpunkt auch einer Theorie der Normativen Moderne bleibt – allerdings verlassen müssen. Wesentliche Hinweise auf den für die Ausbreitung der Normativen Moderne zentralen kausalen Wirkmechanismus kulturell vermittelter, tendenziell globaler normativer Prinzipien finden sich in dem sich selbst als »makrophänomenologisch« (Meyer u.a. 2005b) bezeichnenden world polity-Ansatz des von John W. Meyer begründeten soziologischen Neoinstitutionalismus. Die Hauptlinie des von Meyer u.a. nicht zuletzt im Anschluss an Durkheim und Weber (Krücken 2005) entwickelten Arguments (zum Überblick: Meyer 2009) lässt sich folgendermaßen rekonstruieren: Die (im Sinne Webers verstandene) westliche Rationalisierung, insbesondere das Zurechnungssystem (system of cultural accounts – Meyer u.a. 2005a: 40) der westlichen Kultur, das die Vorstellung von Handlungsfähigkeit (agency) von Göttern und natürlichen Kräften abgelöst und in den Menschen sowie in die Gesellschaft selbst verlegt hat (Meyer/Jepperson 2005: 49ff.), habe dazu geführt, »Gesellschaft als Mittel zu kollektiven Zwecken« zu begreifen, die immanent auf die beiden Mythen Fortschritt und Gerechtigkeit bezogen seien (Meyer u.a. 2005a: 34). Hiermit werde zugleich die Möglichkeit, Notwendigkeit und Legitimität einer zweckgerichteten, rationalen Organisation dieses Unternehmens und, damit verbunden, die Vorstellung legitimierter, weil als zweckrational ausgewiesener Akteure vorausgesetzt. Die Kriterien des westlichen Gesellschaftsprojekts kristallisierten sich in Form globaler Modelle, die sich auf rationalisierte, insbesondere in den Wissenschaften ausdifferenzierte Begründungen stützten (Meyer u.a. 2005b: 91). »Verantwortungsbewusste« und damit rationale (individuelle und soziale) Akteure seien unter dem herrschenden Paradigma einerseits gehalten, wissenschaftliches Wissen zu berücksichtigen, und andererseits,

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ihre Verantwortlichkeit unter Bezugnahme auf universelle Moral- und Gerechtigkeitsprinzipien zu demonstrieren, wie dies beispielhaft etwa die Etablierung und Ausarbeitung eines weltweit gültigen Begriffs von Menschenrechten und seiner Implementierung in Rechtssystemen zeige (Meyer/Jepperson 2005: 54-58). Meyer u.a. arbeiten so die These der »globalen kulturellen Konstruktion des modernen Akteurs« (Meyer u.a. 2005b: 114) aus, der zufolge die beiden Prozesse (a) der dominanten (sowohl instrumentellen als auch normativen) Rationalisierung des Handelns und der Ausrichtung der legitimierten kollektiven Modelle an dieser Rationalisierung sowie (b) der Konstruktion von Einheiten, denen der Status des zweckorientierten Akteurs zugeschrieben wird, wechselseitig voneinander abhängen (Meyer u.a. 2005a: 19). Meyer rekurriert dabei auf die im neuen soziologischen Institutionalismus (Meyer u.a. 2005a; vgl. Hasse/Krücken 2005) ausgearbeitete Überlegung, der zufolge soziales Handeln in modernen Gesellschaften durch institutionalisierte Regeln und Handlungsmuster geprägt ist (Meyer u.a. 2005a: 17), die meist auf einer sehr allgemeinen (und regelmäßig auf globaler) Ebene liegen und im Medium der Kultur vermittelt werden. Dieser spezifische Kulturbegriff wird umgehend expliziert: Die »kulturell« vermittelten Modelle »manifestieren sich im wissenschaftlichen, professionellen und juristischen Wissen über das ordnungsgemäße Funktionieren von Staaten, Gesellschaften und Individuen und sind eher kognitiv und instrumentell als expressiv« (Meyer u.a. 2005b: 92). Dieses Wissen werde in einem von Experten dominierten (Meyer 2000) Prozess institutionalisiert, durch den bestimmte Handlungsmuster kognitive bzw. normative Gültigkeit erlangten und – etwa in Wissenssystemen oder im Recht – auf eine Weise als Selbstverständlichkeiten oder Gesetzmäßigkeiten etabliert und akzeptiert würden, dass Verstöße gegen sie Legitimationsprobleme der betreffenden Akteure nach sich ziehen könnten (Meyer u.a. 2005a: 18, 28). Kultur im Sinne solcher Wertegeneralisierungen sei in der Weltgesellschaft in Form von Organisationen präsent (Meyer u.a. 2005b: 89) und dränge auf den Ausbau von Strukturen. Die von Meyer u.a. beschriebenen weltkulturellen Modelle der funktionalen Anforderungen an moderne Gesellschaften, Organisationen und Individuen beziehen sich (in Jürgen Habermas’ Terminologie) also sowohl auf den pragmatischen als auch (was uns besonders interessiert) auf den moralischen (bzw. rechtlichen) Gebrauch der praktischen Vernunft (Ha-

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bermas 1991b: 100-118). Sie transportieren in beiden Bereichen Anleitungen zur sozialen – auch normativen – Modernisierung (Meyer u.a. 2005b: 112). Mit Hilfe der Analyse solcher globalen Konformitätsmuster, die nach Meyers Überzeugung nicht allein aus Machtbeziehungen und funktionalen Erfordernissen abgeleitet werden können (Meyer u.a. 2005b: 86), gelingt es seinem top down-approach auf plausible Weise, die insgesamt erstaunlich große Gleichförmigkeit institutioneller Strukturen sowohl in Nationalstaaten mit unterschiedlichen Traditionen als auch auf transnationaler Ebene aus »weltkulturell« vermittelten, externen, institutionalisierten Realitäts- und Wertdefinitionen zu erklären (Meyer u.a. 2005a: 32 und 2005b: 96ff.). Dabei begreift auch der Weltkulturansatz die kognitiven und normativen Regelkomplexe der »Weltkultur« im Anschluss an Weber als Säkularisierungsphänome der religiösen Modelle des westlichen Christentums (Meyer u.a. 2005b: 121; Meyer/Jepperson 2005: 52) und »die rationalisierte Moderne [als] eine universalistische und ungeheuer erfolgreiche Form des früheren religiösen und postreligiösen westlichen Systems« (Meyer u.a. 2005b: 131). Für den Versuch, das Konzept der Normativen Moderne gerade auch in ihrer Entwicklungsdimension gesellschaftstheoretisch zu verankern, ist der Weltkultur-Ansatz in verschiedener Hinsicht leistungsfähig. (1) Er ist zunächst empirisch breit abgesichert und hat seine explikative Kraft zur Erklärung einer Vielfalt von empirischen Phänomenen und Entwicklungen unter Beweis gestellt. Als Beispiele sind etwa die Entwicklung der rechtlichen und politischen Gleichberechtigung der Frauen (Berkovitch 1999; Ramirez u.a. 1997), die internationale Homogenisierung der Bildungspolitik (Meyer/Ramirez 2005; Meyer 2000: 242), die erstaunliche internationale Isomorphie bei der – wenngleich historisch langsamen – Beteiligung von Frauen an höherer Bildung (Bradley/Ramirez 1996; Meyer u.a. 2005b: 96) und die Entstehung eines globalen Umweltschutzregimes (Meyer u.a. 2005b) zu nennen. Meyers Doppelthese, dass globale Modelle es lokalen Akteuren erlaubten, sich auf sie zu berufen und die Modelle diese Akteure zugleich (mit) produzierten, lässt sich exemplarisch anhand eines der jüngsten Schritte in der Verwirklichung der rechtlichen Logik der Nichtdiskriminierung, der Liberalisierung des Rechts homosexueller Beziehungen, empirisch bestätigen: Schon für die 80er und 90er Jahre des 20. Jahrhunderts kann beobachtet werden, dass der Ausbau individueller Rechte auf Selbstbestimmung und Geschlechtergleichheit

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Opportunitätsfenster für soziale Gruppen und Bewegungen (zur Bedeutung internationaler Organisationen und non-governmental organizations vgl. Boli/Thomas 1997) geöffnet hat, die den Abbau der Pönalisierung und Diskriminierung homosexueller Lebensformen vorangetrieben und damit gleichzeitig auf nationaler und internationaler Ebene jene normativen Prinzipien gefestigt haben, deren Umsetzung sie als Akteure allererst möglich gemacht hat (Frank/McEneaney 1999). Dieser Prozess hat sich in den vergangenen beiden Jahrzehnten, in denen nach der Initialzündung Dänemarks die Mehrzahl der westlichen Staaten die Institution einer rechtlich anerkannten homosexuellen Lebenspartnerschaft oder Ehe geschaffen hat, in beschleunigter Form wiederholt und vertieft. (2) Wenngleich Meyer die überwiegend funktionalistischen Theorien und Ideologien der Weltkultur als »sowohl normativ als auch deskriptiv« begreift und beide Dimensionen für untrennbar hält (Meyer u.a. 2005a: 46; Meyer/Jepperson 2005 a.a.O.), vermeidet die Meyersche Analyse dieses Gegenstands doch systematisch Kurzschlüsse zwischen Erklärung und Rechtfertigung und erlaubt es so, den Unterschied von Faktizität und Geltung und die methodischen Grenzen der Normwissenschaften einerseits und der Sozialwissenschaften andererseits systematisch zu reflektieren. Meyer u.a. distanzieren sich auf vierfache Weise von einer normativen Apologie der »weltkulturell« vermittelten Modelle der Moderne. Sie betonen zunächst, (a) dass die kognitiven und normativen Modelle der Weltkultur zwar dynamisch, aber durchaus widersprüchlich, inhomogen und inkonsistent seien und ganz erhebliche Spannungsverhältnisse zwischen den und innerhalb der spezifisch modernen Leitbilder(n) – Freiheit und Gleichheit, Fortschritt und Gerechtigkeit, Standardisierung und Diversität, Effizienz und Individualität – bestünden (Meyer u.a. 2005b: 127).6 Hinzu kommt (b), dass der Ansatz reflektiert, dass die Diffusion dieser Modelle kein linearer Prozess ist. Eine dritte Dekonstruktion apologetischer Tendenzen liegt sodann (c) in der Feststellung, dass die weltkulturellen Modelle, die ohnehin in der Form nicht vollständig realisierbarer Ideale aufträten, dysfunktional für die jeweiligen Gesellschaften sein können, in denen sie umgesetzt werden sollen, weswegen Entkopplungserscheinungen – also Divergenzen zwischen den formalen Modellen (der politischen Programmatik bzw. Selbstdarstellung der Akteure) und der tatsächlichen 6 | Die Kritik von Wolfgang Knöbl (2007: 41ff.) an Meyer u.a. geht insoweit fehl.

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sozialen Praxis – eher die Regel als die Ausnahme darstellten (Meyer u.a. 2005b: 92-100).7 Mit diesem Befund hängt schließlich (d) zusammen, dass die Autoren im Rückgriff auf sozialpsychologische Theorien den dramaturgischen und symbolischen Charakter sozialen Handelns und damit die »Inszenierungsdimension« der weltgesellschaftlichen Normenentwicklung (Meyer u.a. 2005b: 94) sowie insbesondere die Dimension der Selbstinszenierung der Funktionsträger als rationale Akteure in den Vordergrund rücken: In einem kulturellen Umfeld, das den Status des rationalen Akteurs universell einfordere, präsentiere sich nicht nur der Einzelne als zurechenbares Individuum, sondern unterlägen auch die Funktionssysteme der Gesellschaft selbst dem Zwang zur »Inszenierung der institutionalisierten Theorie rationalen Verhaltens« (Meyer u.a. 2005a: 36). Gerade dieser Aspekt der »Inszenierung« ist von doppeltem theoretischem Interesse. Zum einen bietet er als kulturwissenschaftlicher Schlüsselbegriff Anschlussmöglichkeiten an die in den Literaturwissenschaften vorangetriebene Narrativitätsforschung, die der Frage nachgeht, wie Gesellschaften Erzählungen ihrer Identität entwerfen, aus denen sie ihre soziale Verfasstheit, ihre politische Ordnung und Legitimität sowie Geltungsgründe für soziale Regeln und Institutionen abzuleiten versuchen (Koschorke 2004 und in diesem Band; Frank u.a. 2007). Zweitens verweist der Meyersche Befund von einer theoretisch anderen Richtung her auf die auch von Luhmann untersuchten Gründe dafür, dass die Dynamik der normativen Moderne sich nicht als ›bloße‹ Semantik abtun lässt: Meyer versucht zu erklären, wie es möglich ist, dass die normativen Begründungen für einen Normenwandel seiner sozialen Realisierung zeitlich vorausgehen können, warum und auf welche Weise Normen also ihre eigene Durchsetzung begünstigen und auch gegen eine anders gerichtete Realität durchgehalten 7 | Hierbei darf nicht übersehen werden, dass Entkopplung bei Meyer u.a. auch als eine Funktion von Entwicklungsrückständen bzw. -defiziten verstanden wird. Man wird sie zudem als Grund von Entwicklungsblockaden begreifen müssen (Stichworte failed states, Korruption, Fassaden der Modernität). Der Umstand, dass der mismatch zwischen postulierter und realisierter Implementation von Weltmodellen global erheblich variiert, dürfte vor allem auch für die unterschiedlichen Grade der Aufgeschlossenheit für Postulate normativer Modernität in dem hier verstandenen Sinn mitverantwortlich sein. Dies belegen etwa die Befunde Ingleharts u.a. (vgl. Inglehart/Norris 2003 und Inglehart/Welzel 2005). Ich danke Volker H. Schmidt für diesen Hinweis.

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werden können. Die Theorie der Weltkultur thematisiert, wie sich Akteure durch die zunächst bloß symbolische Kommunikation und Inszenierung normativer Prinzipien selbst in ein Programm zu deren Realisierung verstricken können. In der Tat gilt gerade für kollektive Akteure: Wer sich auf die Logik der Menschenrechte einlässt, hat sich ihr ergeben. Es ist, um nur zwei Beispiele zu nennen, kein Zufall, dass selbst die Argumentation der muslimischen Staaten im UN-Menschenrechtsrat in Sachen Karikaturenstreit eine genuin menschenrechtliche war, die just den Vorwurf der Diskriminierung, also einen Verstoß gegen das right to equal concern and respect als Basisprinzip der westlichen Menschenrechtslogik, erhob (Walter 2012). Dasselbe gilt für die Erklärung, mit der 57 Staaten des afrikanischen und arabisch/islamischen Raums die United Nations declaration on sexual orientation and gender identity vom Dezember 2008 (UN 2008) abgelehnt haben. Auch dieser Vorstoß, der auf den ersten Blick eher als Ausdruck eines clash of civilizations im Sinne Huntingtons zu interpretieren sein könnte, rekurrierte auf (ihrem Anspruch nach) wissenschaftliche und vor allem auf völker- und menschenrechtliche Argumente und hielt sich insoweit im Rahmen jener gemeinsamen »weltkulturellen« Standards, deren Struktur die Plausibilität der konkreten Argumente, die für die Ablehnung der Deklaration vorgebracht wurden, untergraben muss. (3) Nach dem Übergang nicht nur westlicher Gesellschaften von stratifikatorischen zu funktionellen Modi der sozialen Differenzierung kann sich in systemtheoretischer Perspektive die Inklusion der Individuen in »die Gesellschaft«, also soziale Integration, nicht mehr vorrangig über das je geltende Moral- oder Wertsystem vollziehen (Luhmann 1993b: 377f. und 1981a: 94, 188). Die bei Meyer anklingende Vorstellung einer normativistischen Makrodetermination der Gesellschaft sollte deshalb nicht überspannt werden (ähnlich Knöbl 2007: 38). Soweit die Theorie der Weltkultur Weltgesellschaft als (auch) normativ integriertes Gebilde ausweisen kann, deren Funktionssysteme wenigstens partiell in einen Komplex übergreifender Wert- und Deutungsmuster eingelassen sind (Krücken 2005: 306), scheint eine Engführung der beiden Elemente der Doppelfrage, wie die Evolution moderner Normativität einerseits sozialwissenschaftlich beschrieben und andererseits normativ beurteilt werden kann, jedoch aussichtsreich. In dieser Perspektive wäre zu prüfen, an welchen Stellen sich die Weberianische Distanz des Meyerschen Ansatzes gegenüber den Inhalten der global vermittelten Normen mit Gründen auflösen lässt. Ähnlich

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wie Friedman konstatiert auch die Gruppe um Meyer, dass die leitenden normativen Regelstrukturen der »Weltgesellschaft« normativen Individualismus propagieren, d.h. dem Individuum und seinen individuellen Zwecken besondere Bedeutung und besonderes Gewicht verleihen (Meyer u.a. 2005a: 30) (wiewohl der über kulturelle Modelle vermittelte Begriff von Akteur und Individuum zugleich ein standardisierter und isomorpher sei [Meyer/Jepperson 2005: 71]). Soweit sich also die präskriptiven Geltungsansprüche des normativen Individualismus als begründet ausweisen lassen, kommen die empirische Beobachtung eines normativen Prinzips und seine Rechtfertigung zur Deckung und kann ein Element des rechts- und moralphilosophisch begründeten Konzepts der Normativen Moderne zugleich (und gerade auch in seiner Entwicklungsdimension) gesellschaftstheoretisch verankert werden. Und selbst dort, wo nach Meyer Spannungsverhältnisse zwischen den und innerhalb der spezifisch modernen Leitbilder(n) bestehen, ist doch gerade in dieser Perspektive mit der Möglichkeit zu rechnen, dass normative Diskurse zumindest bereichsspezifische Kohärenz- oder Abwägungsmodelle anbieten können, die langfristig in »weltkulturelle« Normen einfließen.

7. N ORMATIVE M ODERNE ALS HISTORISCHER L ERNPROZESS Die Normative Moderne besteht in der Durchsetzung posttraditionaler, im Kern universalistischer Formen der Normenbegründung. Dies legt es nahe, bei der Suche nach einem Leitbegriff für einen vermittelnden, interdisziplinären Zugriff auf das Phänomen der Entwicklung normativer Begründungsformen auf das Konzept eines historischen Lernprozesses abzustellen. Dafür, dass die Möglichkeit einer engeren theoretischen Verzahnung von Beobachtung und Begründung des normativen Wandels ein Faszinosum bleibt, steht Jürgen Habermas’ früher Gedanke, man könne phylo- und ontogenetische Prozesse parallelisieren, also Entsprechungen zwischen der Weltbildentwicklung des einzelnen Subjekts (im Sinne der Entwicklungspsychologie im Anschluss an Piaget und Kohlberg) und jener der Gattung annehmen (Habermas 1976a: 17-30 und 1991 und 2009: 220, 224, 227; vgl. Oesterdiekhoff 2000; Miller 1986). Dies würde die Annahme erlauben, dass die stufenweise Herausbildung eines postkonventionellen Normenbewusstseins (also die Normative Moderne) jedenfalls als

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gleichsam ›natürliche‹ (potenzielle) soziale Entwicklungsdynamik und insoweit zugleich als plausible Form eines normativen Naturalismus begriffen werden könnte. Es wäre zu zeigen, dass sich an der scheinbar ›unverschämten‹ These, dass die Menschheit in der okzidentalen Tradition der Menschenrechte normativ erwachsen wird, rettende Kritik üben lässt. Die »Form des modernen Rechts [kann] als eine Verkörperung postkonventioneller Bewusstseinsstrukturen begriffen werden« (Habermas 1976b: 266). Insbesondere ist das Konzept der Menschenrechte ein objektiver, ja paradigmatischer Ausdruck einer postkonventionellen Normenbegründung, die ihr ontogenetisches Korrelat in den von Schmidt (in diesem Band) skizzierten Tendenzen einer »Modernisierung der Person« im Sinne sich global verbessernder gesellschaftlicher Bedingungen für die Herausbildung von Formen postkonventionellen Normbewusstseins und reflexiver Identität der Bürger findet. Gesellschaften lernen evolutionär, »indem sie Rationalitätsstrukturen, die in kulturellen Überlieferungen bereits ausgeprägt sind, ›institutionell verkörpern‹, d.h. für die Reorganisation von Handlungssystemen nutzen« (Habermas 1976b: 260). Genau dies geschah und geschieht in der Dynamik der Konstitutionalisierungs- und Institutionalisierungsprozesse von Grund- und Menschenrechten im Recht (das, anders als die Moral, Lerneffekte in Institutionen speichern kann). Dabei gilt: Auch Lernprozesse sind reversibel. Man kann Gelerntes vergessen, auch im Kollektiv. Es ist nur nicht sehr wahrscheinlich. Dieser Lernprozess ist geografisch nicht beschränkbar. Die Normative Moderne hat ihre (partielle) Herkunft aus der christlichen Tradition durch ihre Säkularisierungsleistungen längst abgestreift. Weil Fragen der normativen Geltung nicht durch Verweise auf die historische Genese der vorgebrachten Gründe entschieden werden können, steht dem universellen Geltungsanspruch der Normativen Moderne ihre Herkunft aus der Kultur des Okzidents auch sonst nicht entgegen. Die Begründungen und Geltungsansprüche, die mit dem Konzept der menschenrechtlichen Gewährleistung von Freiheit und Gleichheit verbunden sind, sind nicht westlich, sondern eben: modern (Friedman 2002: 37). Hierbei entfaltet die Dynamik der Normativen Moderne ein einheitliches Prinzip. Sie kann deshalb nur im Singular vorkommen. Der Vorschlag, den Begriff der Moderne selbst zu pluralisieren (Eisenstadt 2000; Wittrock 2000) ist im Hinblick auf seine normative Dimension deshalb noch unplausibler als es das Multiple-Modernities-Konzept ohnehin ist (dazu Schmidt 2006, 2010).

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Die Heraufkunft der globalen Normativen Moderne ist allerdings, wie die der Moderne überhaupt (Schmidt, in diesem Band), relativ rezenten Datums. Wie nicht zuletzt die große Zahl nichtwestlicher Akteure zeigt, die in nationalen und internationalen Politikfeldern Menschenrechte einklagen, dürfte die fortschreitende Durchsetzung der Standards des universalistischen menschenrechtlichen Egalitarismus damit erklärbar sein, dass dieser in besonderer Weise auf die Herausforderungen einer global ausgebreiteten sozialen Moderne antworten kann (Habermas 2009c: 301) – auch wenn diese zunehmend zu einer polyzentrischen (Schmidt, in diesem Band) wird. Vieles spricht für die Annahme, dass sich komplexe, funktional ausdifferenzierte Gesellschaften nur noch über individuelle Rechte koordinieren lassen, die zugleich Freiheits- und Achtungsansprüche der Einzelnen sowohl gegenüber staatlicher und sozialer Macht als auch gegenüber den systemischen Logiken und Steigerungsimperativen der Moderne bewahren. Soweit es also zutrifft, dass dem Prozess der Moderne nur vermittels des Projekts der Moderne beizukommen ist, wäre es eine folgenreiche Fehlentscheidung, die Expansion der Normativen Moderne als Expansions- und Dominanzstreben des ›Westens‹ und der Formen ›seiner‹ Rationalität zurückzuweisen.

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Religion und Moderne bei Jürgen Habermas Ulrich Willems

1. E INLEITUNG Die vermeintliche oder wirkliche Wiederkehr oder Wiederentdeckung der Religion hat auch in der normativen politischen Theorie und in der politischen Philosophie eine intensive Beschäftigung mit der Frage nach dem Verhältnis von Politik und Religion ausgelöst. Im Zentrum dieser Beschäftigung standen und stehen vor allem zwei Themenkomplexe: zum einen die Frage nach der Rolle religiöser Argumente in modernen Demokratien, zum anderen die Frage nach der Ausgestaltung des Verhältnisses von Staat und Religionsgemeinschaften. Seit Ende der 1990er Jahre hat auch Jürgen Habermas begonnen, sich intensiver mit dem Verhältnis von Religion und Moderne zu beschäftigen.1 1 | Die Beschäftigung mit diesen Fragen ist bei Habermas jedoch keineswegs neu. Vielmehr bildet sie einen durchlaufenden, wenn auch bis jüngst keinen zentralen Themenstrang seines Werkes (vgl. u.a. Habermas 1981, 1969; Bahr 1975: 9-30; Habermas 1988: Teil I; Habermas 1991b, 1991a, 1997b, 1997a). Eine erste systematische Beschäftigung mit Religion erfolgt im Rahmen seiner Rekonstruktion der sozialevolutionären Logik der Genese moderner instrumenteller wie kommunikativer Rationalität in der Theorie kommunikativen Handelns in der Auseinandersetzung mit Webers Theorie der Rationalisierung (Habermas 1982: Bd. 1, Kap. II) sowie in den beiden Kapiteln über Durkheim, die in die These von der »Versprachlichung des Sakralen« münden (Habermas 1982: Bd. 2, 69-141). Vgl. auch die Überblicke zu bzw. Auseinandersetzungen mit Habermas’ Beschäftigung mit Religion bei Rothberg (1986), Meyer (1995), Shaw (1999), Cooke (1999), Dillon (1999) und Mendieta (2002) sowie – nach Werkphasen gegliedert – bei Mendieta (2011). Im Gegensatz zur medialen Wahrnehmung seiner Friedenspreisrede

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Den Anlass seiner nun intensiveren Beschäftigung mit dem Verhältnis von Religion und Moderne bildet eine Reihe von Herausforderungen, denen sich moderne Demokratien aufgrund einer veränderten religiösen Lage gegenübersehen. Der zentrale Ausgangspunkt ist die in vielen Teilen der Welt zu beobachtende und höchst ambivalente ›Rückkehr‹ der Religion in die politische Sphäre. Zu den bedeutsamen Elementen dieser Rückkehr zählt Habermas die Ausbreitung und das Wachstum vor allem der Weltreligionen in beinahe allen Teilen der Welt (mit Ausnahme Europas), die Zunahme fundamentalistischer Tendenzen in allen Weltreligionen sowie den Umstand, dass Religion wieder verstärkt eine Rolle in gewaltsam ausgetragenen Konflikten spielt (Habermas 2008a: 34-35; Habermas 2009a: 388-390). Das entscheidende Element bildet jedoch die Erkenntnis, dass Religion – überraschend, weil anders als von der klassischen Säkularisierungstheorie prognostiziert (Habermas 2005d: 7) – nicht nur nicht verschwunden ist, sondern religiöse Akteure zu den wichtigen Mitspielern in politischen Prozessen zählen und religiöse Traditionen in erheblichem Maße zur Formierung individueller wie kollektiver Identitäten beitragen. Daraus resultieren national wie international in erneuter und veränderter Weise Konflikte, und zwar zwischen unterschiedlichen religiösen Traditionen – dies vor allem durch die an vielen Orten gewachsene religiöse Pluralität –, aber auch zwischen religiösen Traditionen auf der einen und säkularen Kräften auf der anderen Seite. Im Zentrum dieser Konflikte steht nach Habermas der Streit um das Selbstverständnis der Moderne.2 Dieser Streit (2001b) sieht Habermas selbst trotz einzelner Korrekturen (vgl. z.B. 2009c: 433) eher Kontinuitäten zwischen seinen früheren und seinen jüngeren Beschäftigungen mit dem Gegenstand (2009b: 32; mit Verweis auf 1991a). 2 | Dass diese Konfliktkonstellationen auch die vielfältigen Prozesse einer Konstitutionalisierung globaler politischer Prozesse prägen, ist nach Habermas eine Folge der Amalgamierung von ›Tradition‹ und ›Moderne‹. Habermas teilt die Perspektive des Eisenstadt’schen Forschungsprogramms einer Vielfalt der Moderne, nach dem die großen religiösen Traditionen eine so starke kulturprägende Kraft hatten und haben, dass sie den strukturellen Charakteristika der sich herausbildenden Weltgesellschaft ein spezifisches Gepräge zu verleihen vermochten (Habermas 2010b: 3). Damit grenzt sich Habermas sowohl von systemtheoretischen Lesarten der modernen Weltgesellschaft ab, nach denen die Logik der ausdifferenzierten Funktionssysteme alle staatlichen und kulturellen Grenzen überwindet und zu einer einheitlichen Gestalt der Moderne führt, was kulturelle Differenzen

Religion und Moderne bei Jürgen Habermas

erstreckt sich sowohl auf die angemessene Interpretation der grundlegenden politischen Prinzipien moderner Demokratien, insbesondere auf die Interpretation von Menschen- und Bürgerrechten, als auch auf ihren säkularen Charakter, also die Prinzipien der Trennung von Staat und Kirche sowie die Neutralität staatlichen Handelns (vgl. u.a. Habermas 2009b: 30). Aber es sind nicht nur die Rückkehr der Religion und die dadurch hervorgerufenen politischen Probleme und normativen Fragen, es sind auch die ambivalenten Folgen der Moderne sowie die Grenzen der ›säkularen‹ Vernunft, die Habermas auf der anderen Seite veranlassen, religiöse Traditionen daraufhin zu untersuchen, ob sie kognitive wie motivationale Ressourcen für die Bewältigung von Problemen und Defiziten der Moderne bereitstellen können. Zu solchen ambivalenten Folgeproblemen der Moderne zählt Habermas unter dem Stichwort einer ›entgleisenden Modernisierung‹ vornehmlich die Dysbalancen zwischen System- und Sozialintegration, gegenwärtig vor allem das Eindringen ökonomischer Rationalität in immer mehr Bereiche menschlichen Zusammenlebens (Habermas 2001b: 23; vgl. auch Habermas 2005a: 247-148)3, aber auch die Gefahr einer Instrumentalisierung und Naturalisierung der Vorstellung von der menschlichen Person durch neuere Entwicklungen in den modernen Lebenswissenschaften (Habermas 2005b: 147-148). Habermas hat mit Blick auf diese Herausforderungen die Sorge, dass die »[…] reine praktische Vernunft […] zu bloßen Epiphänomenen werden lässt, als auch von essentialistisch-kulturalistischen Theorien à la Huntington, nach der es religiöse Traditionen sind, die den Kern von Zivilisationen bilden, die als quasi-handlungsfähige Akteure der internationalen Politik vorgestellt werden, was blind macht für den vereinheitlichenden Druck oder Sog der sich global ausbreitenden Funktionssysteme (Habermas 2009a: 394-396; mit Verweis auf Luhmann 1975; Stichweh 2000; sowie Huntington 1996). Mit einer solchen Bestimmung des Verhältnisses von Tradition und Moderne war und ist Religion immer zumindest auch ein Bestandteil der Moderne, nicht bloß ihr Gegenüber. 3 | »Märkte, die ja nicht wie staatliche Verwaltungen demokratisiert werden können, übernehmen zunehmend Steuerungsfunktionen in Lebensbereichen, die bisher normativ, also entweder politisch oder über vorpolitische Formen der Kommunikation zusammengehalten worden sind. Dadurch werden nicht nur private Sphären in wachsendem Maße auf Mechanismen des erfolgsorientierten, an je eigenen Präferenzen orientiertes [sic!] Handelns umgepolt; auch der Bereich, der öffentlichen Legitimationszwängen unterliegt, schrumpft« (Habermas 2005c: 112).

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sich nicht mehr so sicher sein [kann], allein mit Einsichten einer Theorie der Gerechtigkeit in ihren bloßen Händen einer entgleisenden Modernisierung entgegenwirken zu können. Dieser fehlt die Kreativität der sprachlichen Welterschließung, um ein ringsum verkümmerndes normatives Bewusstsein aus sich heraus zu generieren« (Habermas 2005a: 218), um nicht zuletzt auch solche sozialen Pathologien zu identifizieren, »die nicht einmal den kritischen Stachel eines Krankheitsbewußtseins hinterlassen« (Habermas 2008c: 95). Dementsprechend richten sich seine Hoffnungen auf religiöse Traditionen, weil diese – unter bestimmten Bedingungen – nach wie vor über »hinreichend differenzierte Ausdrucksmöglichkeiten und Sensibilitäten für verfehltes Leben, für gesellschaftliche Pathologien, für das Misslingen individueller Lebensläufe und die Deformation entstellter Lebenszusammenhänge« (Habermas 2005c: 115) verfügen (vgl. auch Habermas 2001a: 192; vgl. aber auch schon Habermas in Bahr 1975: 29). Grenzen der Vernunft werden etwa durch die Schwäche der modernen Vernunftmoral deutlich, von der allenfalls eine schwache motivationale Kraft, nämlich diejenige guter Gründe, ausgeht und die vor allem über keine oder doch nur begrenzte Ressourcen verfügt, das für die Abwehr von Gefahren sowie die Realisierung solidarischer gesellschaftlicher Zustände erforderliche kollektive Handeln ausreichend zu motivieren (Habermas 2008c: 97-98; vgl. auch Habermas 2009c: 436-438, 2008b: 30-31, 2009b: 29). Das ist nicht zuletzt eine Folge des Umstandes, dass »[d]ie säkulare Moral […] nicht von Haus aus in gemeinsame Praktiken eingebettet [ist]. Demgegenüber bleibt das religiöse Bewusstsein wesentlich mit der fortdauernden Praxis des Lebens in einer Gemeinde verbunden und im Falle der Weltreligionen mit der im Ritus vereinigten globalen Gemeinde aller Glaubensgenossen. Aus diesem universalistisch angelegten Kommunitarismus kann das religiöse Bewusstsein des Einzelnen auch in rein moralischer Hinsicht stärkere Antriebe zu solidarischem Handeln beziehen.« Habermas merkt jedoch skeptisch an: »Ob das heute noch der Fall ist, lasse ich dahingestellt« (Habermas 2008c: 97-98). Vor dem Hintergrund dieser Herausforderungen hat sich Habermas in seinen jüngeren Beiträgen 4 zum Verhältnis von Religion und Moderne vor allem mit drei Themenfeldern beschäftigt: mit der politiktheoretischen 4 | Vgl. u.a. Habermas 2001a, 2001b, 2005a, 2005b, 2005c, 2008a, 2008b, 2008c, 2009a, 2009b, 2010b; Habermas/Taylor 2011.

Religion und Moderne bei Jürgen Habermas

Frage nach der Rolle der Religion bzw. religiöser Argumente in der politischen Öffentlichkeit demokratischer Gesellschaften, mit der metaphilosophischen Frage nach der Stellung des nachmetaphysischen Denkens zur Religion und, wenn auch nur kursorisch, mit der aktuellen Debatte um die Gültigkeit der Reichweite und die Grenzen der Säkularisierungstheorie und ihrer Prognosen zum Schicksal der Religion in der Moderne. Der folgende Beitrag konzentriert sich auf die Rekonstruktion und Evaluation des Habermas’schen Vorschlags zur Debatte über die Rolle der Religion in der Öffentlichkeit demokratischer Gesellschaften (4). Zuvor jedoch sollen Habermas’ Kommentare zur Debatte um die Säkularisierungstheorie (2) sowie seine Überlegungen zum Verhältnis des nachmetaphysischen Denkens zur Religion (3) rekonstruiert und diskutiert werden.

2. S ÄKUL ARISIERUNGSTHEORIE UND DIE B ESCHREIBUNG DER GEGENWÄRTIGEN RELIGIÖSEN L AGE »Hegel hat die Errungenschaften der Moderne mit den Begriffen ›Selbstbewusstsein‹, ›Selbstbestimmung‹ und ›Selbstverwirklichung‹ charakterisiert. Das Selbstbewusstsein verdankt sich dem Zuwachs an Reflexivität im Zustand einer Dauerrevision verflüssigter Traditionen; die Selbstbestimmung verdankt sich der Durchsetzung des egalitär individualistischen Universalismus in Recht und Moral und die Selbstverwirklichung dem Zwang zur Individuierung und Selbststeuerung unter Bedingungen einer hoch abstrakten ich-Identität. Dieses Selbstverständnis der Moderne ist auch ein Ergebnis der Säkularisierung, also der Ablösung von den Zwängen politisch machthabender Religionen« (Habermas 2005a: 247).

Habermas’ Bestimmungen des Verhältnisses von Religion und Moderne müssen vor dem Hintergrund seiner Theorie der Genese sowie der Bestimmung zentraler Charakteristika der Moderne in den Blick genommen werden. Seine Theorie der Genese der Moderne besteht in der Rekonstruktion einer evolutionären Logik kultureller und gesellschaftlicher Differenzierung und Rationalisierung sozialer Interaktion und gesellschaftlicher Kooperation. Danach lässt sich die soziokulturelle Entwicklung von Gesellschaften als gerichteter Prozess einer strukturellen Differenzierung von Kommunikationsformen, Weltbezügen, Geltungsansprüchen und Wertsphären in der Verständigung über Bedingungen und Ziele gesellschaftlicher Kooperation dechiffrieren, die zugleich mit einem Gewinn an

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Rationalität verbunden ist (vgl. Habermas 1982: Bd. 2, 218). Der Rationalitätsfortschritt besteht dabei nicht in der Akkumulation von Wissen, sondern in der Veränderung der Art und Weise, wie Wissen erworben und verwendet wird bzw. wie die Zuverlässigkeit des Wissens organisiert und gesichert wird (Habermas 1982: Bd. 1, 25). »Je weiter die strukturellen Komponenten der Lebenswelt und die Prozesse, die zu deren Erhaltung beitragen, ausdifferenziert werden, umso mehr treten die Interaktionszusammenhänge unter Bedingungen einer rational motivierten Verständigung, also einer Konsensbildung, die sich letztlich auf die Autorität des besseren Arguments stützt« (Habermas 1982: Bd. 2, 218, Hervorheb. i. O.).

So werden etwa im Zuge dessen, was Habermas die ›Versprachlichung des Sakralen‹ nennt, frühe Formen einer rituellen und symbolischen Sicherstellung gesellschaftlicher Integration und einer sakral gestützten und vor Reflexion geschützten Normgeltung durch differenzierte kommunikative Formen der gesellschaftlichen Koordination ersetzt: »[…] die sozial integrativen und expressiven Funktionen, die zunächst von der rituellen Praxis erfüllt werden, [gehen] auf das kommunikative Handeln über[…], wobei die Autorität des Heiligen sukzessive durch die Autorität eines jeweils für begründet gehaltenen Konsenses ersetzt wird. Das bedeutet eine Freisetzung des kommunikativen Handelns von sakral geschützten normativen Kontexten. Die Entzauberung und Entmächtigung des sakralen Bereichs vollzieht sich auf dem Wege einer Versprachlichung des rituell gesicherten normativen Grundeinverständnisses; und damit geht die Entbindung des im kommunikativen Handeln angelegten Rationalitätspotentials einher. Die Aura des Entzückens und Erschreckens, die vom Sakralen ausstrahlt, die bannende Kraft des Heiligen wird zur bindenden Kraft kritisierbarer Geltungsansprüche zugleich sublimiert und veralltäglicht« (Habermas 1982: Bd. 2, 118-119, Hervorheb. i. O.).

Religion spielt in diesen Prozessen kultureller und gesellschaftlicher Rationalisierung eine vielfältige und ambivalente Rolle, weil sie zugleich ›Gegenstand der Kritik‹ wie ›Katalysator‹ dieser Entwicklung ist. Zum Gegenstand der Kritik wird Religion, wenn sie in ihren konkreten historischen Gestalten nicht mit dem jeweils möglichen Stand kultureller und gesellschaftlicher Differenzierung Schritt hält und in einer solchen Konstellation zugleich die ideologische Funktion übernimmt, unvernünftige,

Religion und Moderne bei Jürgen Habermas

nicht länger zu rechtfertigende Formen der gesellschaftlichen Integration zu legitimieren, also überflüssige Formen von Herrschaft gegen Kritik zu immunisieren. Zum Katalysator wird Religion, wenn sie den Prozess der Differenzierung und Rationalisierung mit vorantreibt. Vor allem die achsenzeitlichen religiösen Traditionen haben mit ihrer Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz eine entscheidende Rolle in der kulturellen Modernisierung des Westens gespielt (Habermas 2001a: 173): »Schon der Gottesgedanke, also die Idee des einen und verborgenen Schöpferund Erlösergottes, hatte gegenüber den anfänglichen Erzählungen des Mythos den Durchbruch zu einer ganz anderen Perspektive bedeutet. Damit hat nämlich der endliche Geist einen alles Innerweltliche transzendierenden Standpunkt gewonnen. Aber erst mit dem Übergang zur Moderne macht sich das erkennende und moralisch urteilende Subjekt den Gottesstandpunkt in der Weise zueigen, dass es zwei folgenreiche Idealisierungen vornimmt. Es objektiviert auf der einen Seite die äußere Natur zur Gesamtheit gesetzesartig verknüpfter Zustände und Ereignisse, und es expandiert auf der anderen Seite die bekannte soziale Welt zur grenzenlos-inklusiven Gemeinschaft aller zurechnungsfähig handelnden Personen. Damit ist in beiden Dimensionen das Tor zu einer vernünftigen Durchdringung der opaken Welt aufgestoßen – zur kognitiven Rationalisierung einer im Ganzen vergegenständlichten Natur und zur sozialkognitiven Rationalisierung des Ganzen moralisch geregelter interpersonaler Beziehungen« (Habermas 2001a: 173-174).

Moderne Gesellschaften zeichnen sich nach Habermas nun vor allem durch Reflexivität, die Umstellung auf Verfahrensrationalität und eine umfassende kulturelle und gesellschaftliche Differenzierung aus. Reflexivität bezeichnet den Umstand, dass alle Geltungsansprüche problematisiert und in Frage gestellt werden können. Die Umstellung auf Verfahrensrationalität bedeutet, dass die Gültigkeit von Wissen nur noch durch die Einhaltung bestimmter Prozeduren beim Umgang mit der Realität, wie etwa den wissenschaftlichen Methoden in den Erfahrungswissenschaften oder dem Gesichtspunkt der Universalisierung in der moralischen Reflexion, und nicht durch die Ordnung dieser Realität selbst verbürgt wird (Habermas 1988: 42-43). Umfassende Differenzierung schließlich zeigt sich in zwei Dimensionen. Die kulturelle Differenzierung von Weltbezügen (objektive, soziale und subjektive Welt), Rationalitätsdimensionen (kognitiv-instrumentell, moralisch-praktisch, ästhetisch) und zugehörigen

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Geltungsansprüchen (Wahrheit, Richtigkeit, Wahrhaftigkeit) führt zur Institutionalisierung spezifischer Handlungssphären wie Wissenschaft, Moral und Recht sowie Kunst. Die exponentiell zunehmende Komplexität und Pluralität moderner Gesellschaften erschwert bzw. verunmöglicht jedoch eine vollständige konsensuale Verständigung über problematisch werdende Aspekte der ausdifferenzierten Gegenstandsbereiche gesellschaftlicher Koordination. Spezifische Funktionen gesellschaftlicher Reproduktion erlauben und bedürfen daher einer Umstellung auf Formen der Koordination, die mit nichtsprachlichen Medien wie Geld und Macht operieren und an strategische Handlungsorientierungen von Akteuren anknüpfen, aber für eine grundlegende Orientierung oder Korrektur durch verständigungsorientierte, und das heißt letztlich: politische Formen der gesellschaftlichen Koordination zugänglich bleiben müssen. Diese grundlegenden Charakteristika der Moderne zeitigen jedoch Folgen für religiöse Traditionen. Zwar sind religiöse Traditionen in der Lage, sich auf die spezifischen Bedingungen moderner Gesellschaften einzustellen. Religiöse Traditionen haben sich dann erfolgreich auf die Bedingungen und Charakteristika einer modernen Welt eingestellt, wenn sie »aus eigener Einsicht auf eine gewaltsame Durchsetzung ihrer Glaubenswahrheiten und auf den militanten Gewissenszwang gegen die eigenen Mitglieder […] Verzicht leisten« (Habermas 2001b: 13-14). »Jene Einsicht verdankt sich einer dreifachen Reflexion der Gläubigen auf ihre Stellung in einer pluralistischen Gesellschaft. Das religiöse Bewusstsein muss erstens die kognitiv dissonante Begegnung mit anderen Konfessionen und anderen Religionen verarbeiten. Es muss sich zweitens auf die Autorität von Wissenschaften einstellen, die das gesellschaftliche Monopol an Weltwissen innehaben. Schließlich muss es sich auf die Prämissen des Verfassungsstaates einlassen, die sich aus einer profanen Moral begründen. Ohne diesen Reflexionsschub entfalten die Monotheismen in rücksichtslos modernisierten Gesellschaften ein destruktives Potential. Das Wort ›Reflexionsschub‹ legt freilich die falsche Vorstellung eines einseitig vollzogenen und abgeschlossenen Prozesses nahe. Tatsächlich findet diese reflexive Arbeit bei jedem neu aufbrechenden Konflikt auf den Umschlagplätzen der demokratischen Öffentlichkeit eine Fortsetzung« (Habermas 2001b: 14).

Auf der anderen Seite zeichnen sich religiöse Traditionen durch eine bleibende strukturelle Inkompatibilität oder Inkongruenz mit den grund-

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legenden Charakteristika der Moderne aus. Dazu zählt zunächst eine grundsätzliche Spannung zwischen Religion und Moderne, weil »[…] die metaphysischen und religiösen Grundbegriffe von einer Fusion von Geltungsansprüchen [zehren], die sich mit der heute nicht mehr hintergehbaren Differenzierung des Tatsachenwissens von moralisch-praktischen Einsichten und ästhetischen Urteilen aufgelöst hat« (Habermas 2009b: 21). Offenbarungsreligionen stehen in Spannung zum grundlegenden Charakteristikum der Reflexivität, die Geltungsansprüche, die einer vorbehaltlosen Reflexion nicht zugänglich sind, nicht akzeptieren kann.5 Umgekehrt verfügt ein nachmetaphysisches Denken auch nicht über die Möglichkeit, solche Wahrheitsansprüche grundsätzlich oder gar endgültig zu bestreiten, weil »[…] mit den metaphysischen Grundbegriffen auch ein metaphysisch behaupteter Atheismus unhaltbar geworden ist« (Habermas 2009c: 420). Auch der Anspruch auf eine umfassende Gestaltung von individueller Lebensführung wie ganzen Gesellschaften läuft an den Strukturen moderner Gesellschaften auf: »Jede Religion ist ursprünglich ›Weltbild‹ oder ›comprehensive doctrine‹ auch in dem Sinne, dass sie die Autorität beansprucht, eine Lebensform im Ganzen zu strukturieren. Diesen Anspruch auf Interpretationsmonopol und umfassende Lebensgestaltung musste die Religion unter Bedingungen der Säkularisierung des Wissens, der Neutralisierung der Staatsgewalt und der verallgemeinerten Religionsfreiheit aufgeben. Mit der funktionalen Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme trennt sich auch das Leben der religiösen Gemeinde von ihren sozialen Umgebungen. Die Rolle des Gemeindemitglieds differenziert sich von der des Gesellschaftsbürgers« (Habermas 2005c: 117, Hervorheb. i. O.). 6 5 | »Die religiösen Diskurse sind mit einer rituellen Praxis verschwistert, in der die Freiheitsgrade der Kommunikation im Vergleich zur profanen Praxis des Alltags auf eine spezifische Weise eingeschränkt sind. Wenn man eine funktionalistische Betrachtungsweise zulässt, wird der Glaube durch seine Verankerung im Kultus gegen eine radikale Problematisierung abgeschirmt. Diese tritt unvermeidlich ein, wenn sich die ontischen, normativen und expressiven Geltungsaspekte, die in der Konzeption des Schöpfer- und Erlösergottes, der Theodizee und des Heilsgeschehens fusioniert bleiben müssen, analytisch voneinander trennen« (Habermas 2009c: 428-429). 6 | Auch die von Habermas vorgenommene Auszeichnung des Zugangs zu rituellen Praktiken als Proprium religiöser Wirklichkeitserschließung zählt zu denjeni-

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Die Säkularisierungstheorie thematisiert die Folgen der modernen Welt für die Reproduktions- und die Zukunftsfähigkeit religiöser Traditionen. Habermas’ kursorische Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Debatte um die Säkularisierungstheorie sieht trotz der auch von ihm konstatierten Vitalität religiöser Traditionen überraschenderweise wenig Anlass zur Korrektur ihrer klassischen Form. Als Kerngehalte der Säkularisierungstheorie identifiziert Habermas vor dem Hintergrund seiner Überlegungen zu den Charakteristika von Religion und Moderne erstens die These von der Unvereinbarkeit von wissenschaftlich aufgeklärtem Bewusstsein mit theozentrischen oder metaphysischen Weltbildern sowie zweitens die funktionale Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Subsysteme. Durch diese Entwicklung büßen die Kirchen viele ihrer ehemaligen Funktionen ein. Sie werden auf die »genuine Funktion der Verwaltung von Heilsgütern« beschränkt und verlieren an gesellschaftlicher Bedeutung. Schließlich wird die Religion zur Privatsache (Habermas 2008a: 34). Drittens führten das wachsende Wohlstandsniveau sowie soziale Sicherheit zur Entlastung von Lebensrisiken und existenzieller Unsicherheit, womit »für den Einzelnen das Bedürfnis nach einer Praxis [schwindet], die unbeherrschte Kontingenzen durch die ›Kommunikation‹ mit einer ›jenseitigen‹ bzw. kosmischen Macht zu bewältigen verspricht« (Habermas 2008a: 34; vgl. auch Habermas 2009a: 387). Die Ausdifferenzierung unterschiedlicher (instrumenteller) Weltbezüge führe – so Habermas – auch zu einem Wandel der Formen des religiösen Bewusstseins. Während die traditionelle Volksfrömmigkeit zerfalle, entstünden gleichzeitig »moderne Formen des religiösen

gen Momenten, die zu Spannungen zwischen Religion und Moderne führen: »Rituelle Praktiken bezeugen ein frühes Stadium in der Entwicklungsgeschichte des menschlichen Geistes. Wahrscheinlich sind schon die mythischen Erklärungen, die den Riten einen Sinn beilegen, ein nachträglicher Versuch der Interpretation eines vorsprachlich symbolisierten Bedeutungspotentials. Diese Bewußtseinsformation ist uns Söhnen und Töchtern der Moderne unzugänglich geworden. Allein die Religionen wahren eine Verbindung zu jenen archaischen Anfängen, auch wenn sich der Sinn des religiösen Gemeindekults heute in begrifflich hochdifferenzierten Lehren ausspricht. Die Religion selbst kann ohne die Verwurzelung in einer rituellen Praxis nicht überleben. Dieser Umstand ist es, der die Religion – unerbittlicher noch als die Autorität der Offenbarung – von allen säkularen Gestalten des Geistes trennt« (Habermas 2009b: 32).

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Bewusstseins«: der religiöse Fundamentalismus7, der die Moderne und ihre charakteristischen Ausprägungen bekämpfe oder sich in eine Nische zurückziehe, sowie ein »reflektierter Glaube«, der sich durch die Verarbeitung und Akzeptanz von religiösem Pluralismus, moderner Wissenschaft und Menschenrechten auszeichne (Habermas 2010b: 5).8 Zugleich differenzierten sich jedoch auch die Formen religiösen Lebens aus, entstünden neben der im Gemeindeleben verankerten nun auch entinstitutionalisierte und individualisierte Formen der Religiosität (Habermas 2010b: 5). Mit Blick auf die gegenwärtige Lage der Religion sieht Habermas die Säkularisierungstheorie durch die von Norris und Inglehart (Norris/Inglehart 2004) erhobenen Daten und Befunde im Wesentlichen bestätigt (Habermas 2005b: 121; Habermas 2008a: 36). Er teilt zudem auch explizit die von Norris und Inglehart zur Interpretation ihrer Befunde vorgeschlagene Hypothese zum Zusammenhang von existenzieller Unsicherheit und religiösen Bedürfnissen (Habermas 2009a: 390; vgl. auch Habermas 2005b: 121, Anm. 6). Einen Bedarf zur Korrektur der Säkularisierungstheorie identifiziert er an zwei Stellen. Zum einen – so Habermas unter Verweis auf José Casanova (Casanova 1994) – habe sich die säkularisierungstheoretische Annahme als problematisch erwiesen, dass gesellschaftlicher Funktionsverlust und die damit einhergehende religiöse Individualisierung not7 | »Fundamentalistisch nennen wir die religiösen Bewegungen, die unter den kognitiven Beschränkungen moderner Lebensbedingungen gleichwohl die Rückkehr zur Exklusivität vormoderner Glaubenseinstellungen propagieren oder gar praktizieren. Dem Fundamentalismus fehlt die Unschuld der epistemischen Situation jener irgendwie als grenzenlos wahrgenommenen Alten Reiche, in denen sich die Weltreligionen zunächst ausgebreitet haben. Von diesem Bewusstsein imperialer Grenzenlosigkeit, das einmal den beschränkten ›Universalismus‹ der Weltreligionen begründet hat, mag China heute noch einen Geschmack geben. Aber die modernen Verhältnisse sind nur mit einem strikten, wenn sie wollen Kantischen Universalismus vereinbar. Deshalb ist der Fundamentalismus die falsche Antwort auf eine epistemische Situation, die die Einsicht in die Unausweichlichkeit religiöser Toleranz aufdrängt und damit den Gläubigen die Bürde auferlegt, die Säkularisierung des Wissens und den Pluralismus der Weltbilder unbeschadet eigener Glaubenswahrheiten auszuhalten« (Habermas 2001a: 177). 8 | Zu den »durch und durch moderne[n] Phänomene[n]« rechnet Habermas auch den »kalifornische[n] Synkretismus aus pseudowissenschaftlichen und esoterischen Lehren« (Habermas 2008c: 101).

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wendig den Verlust jeglicher politischer und kultureller Bedeutung sowie der Relevanz für die individuelle Lebensführung zur Folge habe (Habermas 2008a: 36; vgl. Habermas 2009a: 391). Zudem habe sich die Prognose vom Verschwinden der Religion unter modernen Lebensbedingungen (zumindest vorläufig) als falsch erwiesen, weil weltweit eine unverminderte Vitalität der Weltreligionen zu beobachten sei (Habermas 2009a: 399). Allerdings bleibt unklar, welche Ursachen nach Habermas für die fortdauernde Vitalität der Weltreligionen verantwortlich sind. Ist es – nach Inglehart und Norris – die in vielen Teilen der Welt nach wie vor fehlende ›soziale Sicherheit‹ und der damit einhergehende Mangel an ›Entlastung von Lebensrisiken und existenzieller Unsicherheit‹? Eine solche funktionale Erklärung für die überraschende Vitalität der Religion weckte eher Anklänge an Marx’ berühmte Ausführungen zur Religion.9 Ist es die Unersetzlichkeit der »ihrer Weltbildfunktion weit gehend beraubte[n] Religion« für den »normalisierenden Um9 | »Das Fundament der irreligiösen Kritik ist: Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen. Und zwar ist die Religion das Selbstbewußtsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat. Aber der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät. Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewußtsein, weil sie eine verkehrte Welt sind. Die Religion ist die allgemeine Theorie dieser Welt, ihr enzyklopädisches Kompendium, ihre Logik in populärer Form, ihr spiritualistischer Point-d’honneur, ihr Enthusiasmus, ihre moralische Sanktion, ihre feierliche Ergänzung, ihr allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund. Sie ist die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt. Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist. Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks. Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist« (Marx 1976: 378-379).

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gang mit dem Außeralltäglichen Alltag« (Habermas 1988: 60)? Ist es der existentielle Bedarf an »individueller Tröstung« (Habermas in Bahr 1975: 29)?10 Es ist zumindest irritierend, dass Habermas in seiner kursorischen Auseinandersetzung mit der Säkularisierungstheorie bei der Erklärung der unerwarteten Vitalität der Weltreligionen nicht zumindest auch auf jene Elemente zurückgreift, die religiöse Traditionen für das nachmetaphysische Denken – und Habermas selbst – nach wie vor interessant machen, wie ›moralische Intuitionen‹, ›kognitive Gehalte‹ oder die ›Kreativität religiöser Welterschließung‹. Der von Habermas als Signatur dieser veränderten Lage vorgeschlagene Begriff der »postsäkularen Gesellschaft« (Habermas 2001b: 12) bleibt trotz der jüngsten Erläuterungen (Habermas 2010b: 5-6) jedoch höchst unklar. Zum einen charakterisiert Habermas ihn als Konsequenz einer soziologischen Analyse, die darauf abstellt, dass sich die klassischen säkularisierungstheoretischen Erwartungen von der Privatisierung und dem letztlichen Verschwinden der Religion nicht erfüllt haben (Habermas 2008a: 37-38), die also mit der Weiterexistenz religiöser Gemeinschaften rechnet. Zum anderen legt er den Akzent nicht so sehr auf die (objektive) Verfassung der Religion, sondern verortet ihn vielmehr auf der Einstellungsebene in einem Wandel des ›säkularen‹ Bewusstseins in dem Sinne, dass es sich auf die Fortexistenz der Religion einstellt und sich ihr gegenüber zudem auch lernbereit zeigt. Eine solche Lernbereitschaft setzt jedoch voraus, dass das ›säkulare‹ Bewusstsein davon ausgeht, dass religiöse Traditionen nach wie vor relevant und bedeutsam für moderne Gesellschaften sein können und in Form eines Reservoirs kognitiver Gehalte und moralischer Intuitionen Ressourcen bergen, mit denen den Pathologien gesellschaftlicher Modernisierung sowie den Grenzen der Vernunft entgegengewirkt werden könne (vgl. Habermas 2005c: 116-118). Eine postsäkulare Gesellschaft in diesem Sinne zeichnet sich also dadurch aus, dass ihre (nicht religiösen) Mitglieder säkularistische Verhärtungen aufgeben (Habermas 2010b: 5-6). Wird der Begriff der postsäkularen Gesellschaft aber in dieser Weise zumindest auch an einen Bewusstseins10 | Religiöse Interpretationen, die diesen Bedarf stillen könnten, bedürfen jedoch einer kommunikativen Vermittlung – ohne eine solche Vermittlung würde man sie »mit Autorität ›reinhauen‹, und das kann jeder Verhaltenstherapeut besser« – sowie der Kopplung an einen Wahrheitsanspruch – denn es ginge ja nicht darum, dem »Gegenüber […] irgendetwas Beruhigendes [zu] geben; dann könnte man ihm auch einen Tranquilizer geben« (Habermas in Bahr 1975: 27).

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wandel geknüpft, dann schillert er zwischen einem empirischen und einem normativen Begriff. Dass es sich nicht um einen rein empirischen Begriff handeln kann, macht Habermas selbst mehr als deutlich, besteht eine Intention seiner Beschäftigung mit dem Verhältnis von Religion und Moderne doch gerade darin, die empirisch nach wie vor bestehenden säkularistischen Verhärtungen des säkularen Bewusstseins aufzulösen. Und die Auflösung dieser säkularistischen Verhärtung kann – so Habermas – nicht oder zumindest nicht allein in Form eines Lernprozesses organisiert werden (Habermas 2005b: 146-148, 151-152). Das aber bedeutet, dass dieser Bewusstseinswandel noch nicht vollzogen ist. Der von Habermas diagnostizierte Streit zwischen religiösen und säkularen Parteien über das Selbstverständnis der Moderne ist gerade Ausdruck des noch nicht erfolgten Bewusstseinswandels – und zugleich seiner Umstrittenheit. Dann aber wäre der Begriff der postsäkularen Gesellschaft weniger die Konsequenz einer soziologischen Analyse als vielmehr ein Kürzel für das Werben um einen Einstellungswandel, dessen Grundlage – die Überzeugung, dass religiöse Traditionen kognitive Gehalte und moralische Intuitionen bergen, die für moderne Gesellschaften produktiv sein können – zudem nach Habermas selbst höchst unsicher ist. Hinzu kommt, dass die von Habermas in seinen jüngeren Schriften präsentierten religionssoziologischen Befunde in einer gewissen Spannung zu der These stehen, Religion könne auch als eine »zeitgenössische Gestalt des Geistes« begriffen werden (Habermas 2008c: 100). Diese Spannung wiederum verweist auf eine Ambivalenz der Formulierung von der Religion als einer zeitgenössischen Gestalt des Geistes (s.u.).

3. D IE S TELLUNG DES NACHME TAPHYSISCHEN D ENKENS ZUR R ELIGION Wie oben schon erwähnt, bildet die Beschäftigung mit der Frage, ob die Religion eine vergangene oder gegenwärtige (zeitgenössische) Gestalt des Geistes ist, den Hintergrund der Überlegungen von Habermas zur Rolle religiöser Argumente in der Öffentlichkeit demokratischer Gesellschaften. Denn der nach Habermas in postsäkularen Gesellschaften den säkularistisch verhärteten Bürgern abgeforderte Bewusstseinswandel und erst recht die den säkularen Bürgern abverlangte Mitwirkung an der kooperativen Übersetzung religiöser Argumente (s. Abschnitt 4) macht nur dann Sinn

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und ist auch zumutbar, wenn ihnen gute Gründe für die Vermutung präsentiert werden können, dass religiöse Traditionen tatsächlich Wahrheitsgehalte und moralische Intuitionen geborgen haben und weiterhin bergen, von denen postsäkulare Gesellschaften profitieren könnten. Eine solche Bestätigung für die Überzeugung von der Religion als einer vergangenen Gestalt des Geistes sieht Habermas in der langen okzidentalen Geschichte wechselseitiger Lernprozesse zwischen Religion und Metaphysik. Nach Habermas sind Begriffe wie Person, Individualität, Freiheit und Gerechtigkeit, Solidarität oder Gemeinschaft Beispiele für die Übersetzung religiöser Gehalte in eine säkulare Sprache; gleiches gilt für zentrale Begriffe der Geschichtsphilosophie wie Emanzipation, Fortschritt oder Krise (Habermas 2011; vgl. auch Habermas 1988: 23, 1997c, insb. 101105 ; vgl. aber auch schon Habermas in Bahr 1975: 15).11 Ein weiteres Beispiel ist für ihn die im Moralbegriff der jüdisch-christlichen Religion bereits angelegte Differenzierung zwischen Gerechtigkeit und Solidarität als zwei miteinander verbundenen Aspekten (Habermas 1996: 19). Habermas verweist zudem auf den kognitiven Charakter der moralischen Regulierung in Judentum und Christentum: »Die biblisch überlieferten prophetischen Lehren hatten Interpretationen und Gründe bereitgestellt, die den moralischen Normen öffentliche Überzeugungskraft verliehen haben; sie hatten erklärt, warum Gottes Gebote nicht blinde Befehle sind, sondern in einem kognitiven Sinn Geltung beanspruchen können« (Habermas 1996: 17, vgl. auch 17-18).

Umgekehrt lassen sich auf Seiten des religiösen Bewusstseins ebenfalls Formen einer Rezeption oder Aneignung säkularer Gehalte beobachten. Dazu zählen vor allem die Lernprozesse in der Geschichte des lateinischen Christentums seit der Reformation, die Habermas heute von allen religiösen Traditionen fordert: die Anerkennung des religiösen Pluralismus, die Legitimität des säkularen Staates auf der Basis der Menschenrechte und das Monopol der institutionalisierten Wissenschaft über das weltliche Wissen (Habermas 2011: 299). Solche Lernprozesse auf Seiten des religiösen 11 | Ein Beispiel für eine bisher noch nicht gelungene Übersetzung religiöser Gehalte ist nach Habermas der Begriff des Bösen bzw. »die semantischen Differenz zwischen dem, was moralisch falsch, und dem, was zutiefst böse ist« (Habermas 2001b: 24).

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Bewusstseins sind zudem für die Lernbereitschaft nachmetaphysischen Denkens unerlässlich, denn es »[…] kann zeitgenössische Gestalten des Geistes […] nur in solchen religiösen Gemeinschaften erkennen, die wissen, dass ihre Botschaften innerhalb des differenzierten Gehäuses der Moderne Gehör finden müssen, und nur in den Theologien, die die Genealogie des nachmetaphysischen Denkens auch als einen Lernprozess anerkennen« (Habermas 2009b: 31). Diese aus Lernprozessen resultierende Reflexivität darf jedoch nicht dazu führen, dass religiöse Traditionen ihren Wahrheitsanspruch aufgegeben: »[…] ein Christentum, das im Dialog mit anderen Religionen zum eigenen Wahrheitsanspruch eine reflexive Einstellung einnimmt, darf es nicht bei einem ›beziehungslosen oder gönnerischen Pluralismus‹ bewenden lassen; vielmehr muss es, ohne Vereinnahmungstendenz und unter Verzicht auf alle Machtmittel, an der universellen Geltung seines Heilsangebotes festhalten« (Habermas 1997c: 107-108). Eine solche Rekonstruktion des Selbstverständnisses der Moderne als Resultat wechselseitiger Lernprozesse von religiösem und säkularem Bewusstsein12 begreift die Moderne in Absetzung von Schmitt und Blumenberg »weder [als] ein bloßes Säkularisat, das von den theologischen Wurzeln abhängig bleibt – sonst hätte man nichts gelernt –, noch verdankt sich das Denken, das seither unter der Prämisse des etsi deus non daretur steht, einer bloßen Ablösung von und der bleibenden Gegnerschaft zum theologischen Erbe – denn in das nachmetaphysische Selbstverständnis, dass sich als Resultat von Lernprozessen versteht, gehen die kritisch überwundenen Stufen dieser Genealogie als solche ein« (Habermas 2010b: 9, Hervorheb. i. O.). Eine solche Rekonstruktion hält zugleich an der Unterscheidung von Glauben und Wissen strikt fest: »Aus der Tatsache, dass sich das nachmetaphysische Denken von religiösen Inhalten hat inspirieren lassen, folgt also keine Aufweichung der Grenze zwischen Glauben und Wissen. Auch wenn semantische Gehalte diese Grenze unter veränderten Vorzeichen passieren können, bleiben davon die beiden Modi des Für12 | »Wenn aber religiöse und metaphysische Weltbilder ähnliche Lernprozesse in Gang gesetzt haben, gehören beide Modi, Glauben und Wissen, mit ihren in Jerusalem und Athen basierten Überlieferungen zur Entstehungsgeschichte der säkularen Vernunft, in deren Medium sich heute die Söhne und Töchter der Moderne über sich und ihre Stellung in der Welt verständigen« (Habermas 2008b: 29).

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wahrhaltens unberührt. Die Aussagen stützen sich jeweils auf eine andere Rechtfertigungsbasis und verbinden sich mit Geltungsansprüchen, die sich ihrer Art und Extension nach voneinander unterscheiden« (Habermas 2009a: 406).

Die für die Bestimmung und Ausgestaltung der Rolle religiöser Argumente in der Öffentlichkeit moderner Demokratien entscheidende Frage ist aber nun, ob dieser Prozess der Übersetzung religiöser Gehalte im Wesentlichen abgeschlossen ist oder nicht. Nach Habermas besteht darüber jedoch keine Sicherheit (Habermas 2011: 298; vgl. auch Habermas 2009b: 30). »Diese Frage muss aus der Sicht des rekonstruktiv verfahrenden Sozialwissenschaftlers, der sich hütet, Entwicklungstrends einfach linear fortzuschreiben, ebenso offenbleiben wie aus der Sicht des traditionsaneignenden Philosophen, der in performativer Einstellung die Erfahrung macht, dass sich Intuitionen, die längst in religiöser Sprache artikuliert worden sind, weder abweisen noch ohne weiteres rational einholen lassen […]. Der Prozess einer kritischen Aneignung wesentlicher Gehalte der religiösen Überlieferung ist noch im Gang, sein Resultat schwer vorherzusagen. Ich wiederhole es gerne: ›Solange die religiöse Sprache inspirierende, ja unaufgebbare semantische Gehalte mit sich führt, die sich der Ausdruckskraft einer philosophischen Sprache (vorerst?) entziehen und der Übersetzung in begründende Diskurse noch harren, wird Philosophie auch in ihrer nachmetaphysischen Gestalt Religion weder ersetzen noch verdrängen können« (Habermas 2009c: 433-434; das Zitat im Zitat stammt aus Habermas 1988: 60, Hervorheb. i. O.).13

13 | Die Philosophie kann sich auch aus empirischen und systematischen Gründen einer Auseinandersetzung mit der religiösen Tradition nicht entziehen: »Die moralischen Alltagsintuitionen sind in den profanen westlichen Gesellschaften noch durch die normative Substanz der gewissermaßen enthaupteten, rechtlich zur Privatsache erklärten religiösen Traditionen geprägt, insbesondere durch die Gehalte der jüdischen Gerechtigkeitsmoral des Alten und der christlichen Liebesethik des Neuen Testaments. Diese werden, wenn auch oft implizit und unter anderem Namen, über Sozialisationsprozesse weitergereicht. Eine Moralphilosophie, die sich als Rekonstruktion des alltäglichen Moralbewusstseins versteht, steht damit vor der Herausforderung zu prüfen, was von dieser Substanz vernünftig gerechtfertigt werden kann« (Habermas 1996: 16-17).

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Angesichts dieser Unsicherheit empfiehlt Habermas einen gewissermaßen risikoaversen, nachhaltigen Umgang mit dem möglichen semantischen Potential von Religionen, denn »[…] ohne eine sozialisatorische Vermittlung und ohne eine philosophische Transformation irgendeiner der großen Weltreligionen könnte eines Tages dieses semantische Potenzial unzugänglich werden; dieses muss sich jede Generation von neuem erschließen, wenn nicht noch der Rest des intersubjektiv geteilten Selbstverständnisses, welches einen humanen Umgang miteinander ermöglicht, zerfallen soll« (Habermas 1988: 23, Hervorheb. i. O.). Ob angesichts der grundsätzlichen Unsicherheit Habermas’ Plädoyer für einen risikoaversen, nachhaltigen Umgang mit dem möglichen semantischen Potential von religiösen Traditionen ausreicht, um säkularistisch verhärtete Bürger zu dem erwünschten Bewusstseinswandel zu bewegen und zur Mitwirkung am Unternehmen einer kooperativen Übersetzung religiöser Argumente zu motivieren, ist doch eher zweifelhaft. Nun stünde Habermas prinzipiell noch eine andere Argumentationsstrategie in seinem Werben für eine postsäkulare Gesellschaft zur Verfügung. Denn die Überlegungen zur Religion als einer zeitgenössischen Gestalt des Geistes zeichnen sich durch eine Ambivalenz aus, weil damit prinzipiell zwei Dinge gemeint sein können. Zum einen könnte die Bestimmung der Religion als einer zeitgenössischen Gestalt des Geistes bedeuten, dass das historisch akkumulierte Erfahrungs- und Interpretationspotenzial religiöser Traditionen noch nicht vollständig geborgen ist. Es könnte aber auch so verstanden werden, dass Religion in dem Sinne eine zeitgenössische Gestalt des Geistes ist, dass sie in ihrer aktuellen Gestalt immer noch ein kognitive Gehalte und moralische Intuitionen generierendes soziales Phänomen ist, also nicht nur eine gegenwärtige, sondern auch eine lebendige Gestalt des Geistes darstellt. Diese Unterscheidung ist deshalb wichtig, weil an ihr der Charakter der von Habermas geforderten symmetrischen Anerkennung der Beteiligten in der gegenwärtigen Debatte um das Selbstverständnis der Moderne hängt. Ist Religion eine zwar noch gegenwärtige, aber nicht länger lebendige Gestalt des Geistes, dann richtet sich das Interesse säkularer Bürger primär auf den religiösen Traditionsbestand, auch wenn dieser natürlich der interpretierenden Aktualisierung und Vergegenwärtigung bedarf. Die religiösen Mitbürger sind dann allenfalls Sachwalter und Interpreten dieses Traditionsbestandes. Eine andere Art von Symmetrie würde herrschen, wenn sowohl religiöse als auch säkulare zeitgenössische Praktiken und Lebensformen und ihre Re-

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flexion das Material für wechselseitige Lernprozesse generieren würden. Voraussetzung dafür, dass Religion nicht nur eine gegenwärtige, sondern zudem lebendige Gestalt des Geistes ist, wäre jedoch, dass sie auch unter den Bedingungen der Moderne noch ›religionsproduktiv‹ zu sein vermag. Betrachtet man aus dem Blickwinkel dieser Alternative nun noch einmal die von Habermas präsentierten religionssoziologischen Befunde zur Lage der Religion in modernen Gesellschaften und ihre Reflexion, dann finden sich jedoch kaum Anhaltspunkte für die Vermutung, sie könne unter den Bedingungen der Moderne auch noch eine lebendige Gestalt des Geistes sein.14 Um es noch einmal in Erinnerung zu rufen: Es blieb nicht nur unklar, welche Ursachen nach Habermas für die fortdauernde Vitalität der Weltreligionen verantwortlich sind; er unternahm noch nicht einmal den Versuch, als mögliche Erklärung auf diejenigen Elemente zurückzugreifen, die religiöse Traditionen für das nachmetaphysische Denken – und ihn selbst – nach wie vor interessant machen, wie etwa ›moralische Intuitionen‹, ›kognitive Gehalte‹ oder die ›Kreativität religiöser Welterschließung‹. Habermas selbst nährt die Zweifel an der Zukunftsfähigkeit religiöser Wirklichkeitserschließung ausgerechnet durch seine Bestimmung eines zentralen Elementes religiöser Wirklichkeitserschließung, nämlich durch rituelle Praktiken (Habermas 2009b: 32).15 Diese Form der Wirk14 | Interessanterweise betrachtet er gerade die gegenwärtig besonders erfolgreichen Fälle als wenig anschlussfähig: Kalifornischer Synkretismus und religiöser Fundamentalismus »sind durch und durch moderne Phänomene […] Auch die Missionserfolge eines wortgläubigen, aber liturgisch entgrenzten Spiritualismus sind unter soziologischen Gesichtspunkten gewiss interessant. Aber ich vermag nicht zu sehen, welche Bedeutung religiöse Bewegungen, die sich von den kognitiven Errungenschaften der Moderne abkoppeln, für deren säkulares Selbstverständnis haben könnten« (Habermas 2008c: 101). 15 | »Wesentliche Quellen für die solidaritätsstiftenden Energien der von Anthropologen beschriebenen Riten scheinen doch jene Vorstellungen und Erfahrungen zu sein, die sich einer ganz eigentümlichen Kommunikationsform verdanken. Diese zeichnet sich zum einen durch den fehlenden Weltbezug einer selbstreferentiellen und in sich kreisenden Gemeinschaftspraxis aus, zum anderen durch den holistischen Bedeutungsgehalt einer undifferenzierten, noch nicht propositional ausdifferenzierten Verwendung verschiedener ikonischer Symbole (wie Tanz und Gesang, Pantomime, Schmuck, Körperbemalung usw.). Ich möchte festhalten, dass heute nur religiöse Gemeinden über ihre kultische Praxis den Zugang zu

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lichkeitserschließung ist wesentlich auf ihre Einbettung in eine gemeindliche Praxis angewiesen (Habermas 2008c: 97-98; Habermas 2010b: 8).16 Die gegenwärtig gerade in den avanciertesten modernen Gesellschaften beobachtbaren Prozesse eines Abbruchs des Traditionstransfers sowie der Entkirchlichung und Individualisierung deuten jedoch darauf hin, dass es um die Reproduktionschancen dieser Voraussetzung nicht zum Besten bestellt ist (vgl. auch Habermas 2008c: 98). Man kann den säkularisierungstheoretischen Befund auch anders formulieren: Wenn selbst (ehemals) ›religiös musikalische‹ oder ›religiös sensible‹ Bürger in umfassend modernisierten Gesellschaften mit einem ausreichenden Maß an sozialer und existentieller Sicherheit in zunehmendem Maße immer weniger Gründe sehen, die sie dazu motivieren würden, in einer religiösen Lebensführung eine produktive Antwort auf die sozialen und existentiellen Herausforderungen gegenwärtiger Lebenswirklichkeiten zu sehen, wie will man dann säkularistisch verhärtete Bürger von der Notwendigkeit oder Sinnhaftigkeit des von Habermas empfohlenen Bewusstseinswandels und der damit verbundenen Praxis überzeugen?

4. R ELIGION IN DER Ö FFENTLICHKEIT DEMOKR ATISCHER G ESELLSCHAF TEN Jürgen Habermas bezieht sich in seinen Überlegungen zur Rolle und zum Status religiöser Argumente in der Öffentlichkeit demokratischer Gesellarchaischen Erfahrungen dieser Art offen halten« (Habermas 2010b: 11, Hervorheb. i. O.). 16 | »Religionen überleben nicht ohne die kultischen Handlungen einer Gemeinde. Das ist ihr ›Alleinstellungsmerkmal‹. Sie haben als einzige Gestalt des Geistes auch in der Moderne noch Zugang zur Erfahrungswelt des Ritus im strengen Sinne. Die Philosophie kann die Religion nur als eine andere, gleichwohl zeitgenössische Gestalt des Geistes anerkennen, wenn sie dieses archaische Element ernst nimmt, ohne es a fortiori abzuwerten. Immerhin ist der Ritus eine Quelle gesellschaftlicher Solidarität gewesen, für die die aufgeklärte Moral der gleichen Achtung für jeden kein wirkliches motivationales Äquivalent liefert […] Das schließt natürlich nicht aus, dass diese einstweilen von Religionsgemeinschaften gehütete und oft zu politisch zweifelhaften Zwecken genutzte Quelle eines Tages versiegt« (Habermas 2010b: 8).

Religion und Moderne bei Jürgen Habermas

schaften auf eine Diskussion, die seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre geführt wird. Die Grundfrage dieser Debatte, die auch Habermas umtreibt, lautet: »Was bedeutet die in liberalen Verfassungen geforderte Trennung von Staat und Kirche für die Rolle, die religiöse Überlieferungen und Religionsgemeinschaften in Zivilgesellschaft und politischer Öffentlichkeit, also bei der politischen Meinungs- und Willensbildung der Bürger spielen dürfen?« (Habermas 2005b: 123-124). Den Ausgangs- und fortwährenden Bezugspunkt in dieser Debatte bilden die grundlegenden Positionen von Robert Audi (vgl. 1997, 2000) und John Rawls (1998, 1999). Sowohl Audi als auch Rawls sind Repräsentanten eines Liberalismus des vernünftigen wechselseitigen Respekts. Nach dem Ideal eines vernünftigen wechselseitigen Respekts gebietet es die Anerkennung der Mitbürgerinnen und Mitbürger als freie, gleiche und vernünftige Wesen, Zwang nur in dem Fall als gerechtfertigt zu betrachten, in dem die Betroffenen diesen Maßnahmen selbst zustimmen könnten – womit der Zwangscharakter letztlich eliminiert wird. Damit rückt jedoch die Qualität der Gründe, mit denen solche Maßnahmen gerechtfertigt werden, in den Blickpunkt. Denn nur Gründe, die prinzipiell von allen akzeptiert werden können, vermögen politische Maßnahmen zu rechtfertigen. Dabei geht es sowohl bei Audi als auch bei Rawls um keine wie auch immer geartete rechtliche Beschränkung der Redefreiheit, sondern sie formulieren Empfehlungen für ein angemessenes Verhalten von Bürgerinnen und Bürgern pluralistischer Gesellschaften. Insofern handelt es sich um religionspolitische Tugend- oder Zivilitätszumutungen. Audi und Rawls sortieren das Reservoir der Gründe nach dem Kriterium der allgemeinen Akzeptabilität nun in sehr unterschiedlicher Weise.17 Nach Audi erfüllen alle ›säkularen‹ Gründe dieses Kriterium; allein religiöse Argumente erfüllen es nicht. Bei Rawls dagegen reicht der Kreis der Argumente, die dieses Kriterium nicht erfüllen, weit über religiöse Argumente und Überzeugungen hinaus und erstreckt sich auf alle partikularen ethischen, einschließlich der religiösen, Überzeugungssysteme – in seiner Terminologie ›umfassende Lehren‹. Audis zentrales Argument besteht in der Postulierung einer epistemischen Differenz zwischen ›religiösen‹ und ›säkularen‹ Gründen, die sich in einer unterschiedlichen ›Zugänglichkeit‹ und ›Zustimmungsfähigkeit‹ niederschlage, die religiöse Argumente als 17 | Vgl. zum Folgenden die Rekonstruktion bei Willems (2003: 93-95, 98-100). Ich greife zum Teil wörtlich auf die damaligen Analysen zurück.

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zureichenden Rechtfertigungsgrund öffentlicher Maßnahmen disqualifiziere. Als Kriterium für die Unterscheidung von religiösen und säkularen Gründen dient ihm der Gottesbezug bzw. ein Rekurs auf religiöse Autorität. Allerdings können Audis Unterscheidungen und Überlegungen nicht überzeugen. Denn eine besondere und durchgängige Unverständlichkeit und/oder Unzugänglichkeit religiöser Argumente lässt sich nicht erkennen (Grotefeld 2000: 71-72). Religiöse Überzeugungen und daraus abgeleitete Argumente sind in der Regel in den Kontext religiöser Gemeinschaften und Traditionen eingebettet, die zumeist eigene Kriterien ihrer Prüfung durch Kohärenz und Evidenz ausgebildet haben und die zudem häufig über Formen einer professionellen (theologischen) Reflexion verfügen, die allesamt mit den gleichen Mitteln der Logik operieren wie das ›säkulare‹ Denken. Diese Charakteristika machen es zumindest prinzipiell möglich, die Plausibilität religiöser Argumente im Sinne ihrer Anerkennung als reflektierte moralische Argumente nachzuvollziehen, auch wenn man sie nicht teilt (Perry 1993: 715; Perry 1997: 81; Greenawalt 1995: 4046). Ebensowenig lassen sich besondere und durchgängige epistemische Vorzüge der Kategorie der ›säkularen‹ Gründe erkennen, wenn man das Kriterium der prinzipiellen Zustimmungsfähigkeit in den Blick nimmt. So lassen sich z.B. Argumente auf der Basis des Utilitarismus oder anderer umfassender ethischer Theorien ohne Zweifel verstehen und diskutieren, ihre Prämissen und Folgerungen sind aber deswegen nicht weniger umstritten als diejenigen religiöser Argumente und daher auch nicht prinzipiell zustimmungsfähig (Quinn 1997: 145; McConnell 1999: 653). Rawls rechnet dagegen religiöse zusammen mit nicht-religiösen ethischen Theorien einer Klasse von Überzeugungen zu, die er als ›umfassende Lehren‹ bezeichnet und die sich dadurch auszeichnen, dass die Bürger über die Richtigkeit dieser Lehren mit guten Gründen verschiedener Ansicht sein können. Daher verläuft die zentrale Demarkationslinie seiner religionspolitischen Zivilitätszumutung auch nicht zwischen religiösen und säkularen Gründen, sondern zwischen einem öffentlichen und einem nicht-öffentlichen Vernunftgebrauch (Rawls 1999). Sofern es um die Ausübung von Zwangsgewalt geht und es sich um Fragen der Verfassung oder grundlegender Gerechtigkeit handelt, sollen Bürgerinnen und Bürger, vor allem jedoch politische Funktionsträger, Gründe vorbringen, die sich an der Idee eines öffentlichen Vernunftgebrauchs orientieren. Anders als bei Audi erstreckt sich die Forderung nach einem öffentlichen Vernunftgebrauch auch nicht auf alle Bereiche der Politik, sondern gilt nur für Ent-

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scheidungen zu Fragen der Verfassung und grundlegender Gerechtigkeit (Rawls 1998: 48) und vornehmlich für politische Funktionsträger (Rawls 1999: 545, 575), auch wenn idealerweise alle Bürger sich bei diesen Fragen an die empfohlenen Beschränkungen halten sollten. Ein öffentlicher Vernunftgebrauch rekurriert nur auf solche Gründe, die mit der Idee der konstitutionellen Sicherung und Aufrechterhaltung eines Systems fairer Kooperation zwischen gleichen und freien Bürgern vereinbar sind. Letztlich sind nur Gründe, die mit dem verfassungsmäßig gesicherten System von Menschen- und Bürgerrechten sowie der Produktion unumgänglicher kollektiver Güter vereinbar sind, zulässig. Rawls geht davon aus, dass die Bürgerinnen und Bürger einer liberalen Demokratie ein solches Reservoir an Grundsätzen und Prinzipien faktisch ›immer schon‹ teilen und sie diesen daher auch explizit zustimmen können.18 Rawls kommt 18 | Habermas hat zuletzt noch einmal darauf hingewiesen, dass Rawls in seinem politischen Liberalismus zwar auf einer freistehenden, auch von moralphilosophischen Auffassungen unabhängigen Konzeption der Gerechtigkeit beharrt, die jedoch der Zustimmung aller vernünftigen Religions- und Weltanschauungsgruppen bedürfe. Habermas führt dies auf Rawls’ Intuition zurück, dass sich moralische Überzeugungen, »wenn sie ihre existenziell tragende und motivierende Kraft nicht einbüßen sollen, vom dichten Kontext einer ›umfassenden‹ religiösen oder metaphysischen Lehre nicht abtrennen« lassen (Habermas 2010a: 333). Dementsprechend ist er – so Habermas – »[…] der Auffassung, daß die Rechtfertigung liberaler Verfassungsgrundsätze auf einen kognitiven Beitrag der Glaubensgemeinschaften angewiesen ist. Die allen Bürgern gemeinsame praktische Vernunft soll das Legitimationsproblem nur in der Arbeitsteilung mit religiösen und metaphysischen Lehren bewältigen können. Denn den Bürgern leuchtet ein vernünftig begründetes Konzept der Gerechtigkeit erst im Kontext ihres umfassenderen Selbst- und Weltverständnisses ein; es muss sich jeweils ihrem eigenen Weltbild wie ein Modul einsetzen lassen und in der Art eines überlappenden Konsenses allgemeine Zustimmung finden. Diese Idee bildet jetzt den Kern des Politischen Liberalismus« (Habermas 2010a: 334, Hervorheb. i. O.). Nach Habermas resultiert daraus jedoch eine grundlegende Unklarheit. Denn es »bleibt unklar, ob der überlappende Konsens der Glaubensgemeinschaften nur für die faktische Anerkennung, also die Stabilität einer in Kraft gesetzten Verfassung nötig ist – oder auch für die Anerkennungswürdigkeit, also die Geltung der Verfassungsprinzipien selbst […] So bleibt am Ende unentschieden, welche der beiden Autoritäten für die Rechtfertigung des politischen Konzepts der Gerech-

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religiösen Bürgerinnen und Bürgern in der Revision seiner Überlegungen zum öffentlichen Vernunftgebrauch insofern entgegen, als das Vorbringen religiöser Argumente durchaus gerechtfertigt werden kann, wenn in angemessener Zeit ausreichende säkulare Gründe gleichsam nachgeliefert werden (Rawls 1999: 591-594). Die Kritiken an Rawls’ Überlegungen kulminieren in dem Einwand, dass er das Ausmaß möglichen Konsenses über grundlegende Prinzipien und ihre Interpretation überschätzt bzw. das Ausmaß der moralischen Pluralität und Heterogenität unterschätzt. Je größer aber der Dissens über diese grundlegenden Prinzipien ist, desto weniger ist zu erwarten, dass Überlegungen auf dieser Basis »vernünftigerweise mit […] Zustimmung rechnen können« (Rawls 1998: 327). Die Frage der Zustimmungsfähigkeit stellt sich vor allem dann, wenn man wie etwa Charles Taylor davon ausgeht, dass die vermeintlich von allen geteilten politischen Grundsätze – wie etwa das Prinzip der Menschenwürde – nicht völlig von den umfassenden Lehren abgelöst werden können, sondern erstere ihren Sinn und ihre Bestimmtheit vielmehr erst durch den Rekurs auf letztere erhalten und daher tiefgreifende Differenzen auch über Gerechtigkeitsfragen unvermeidlich sind (Taylor 1996: 241, 244). Wenn aber ein Konsens über Prinzipien nicht existiert bzw. die geteilten Prinzipien unterschiedlich interpretiert werden, kann das Einbringen religiöser Ethiken weder einen existierenden noch einen erreichbaren Konsens zerstören (Adams 1993: 91). Ein weiterer Einwand richtet sich gegen das restriktive Verständnis des für liberale Demokratien grundlegenden Prinzips der Reziprozität und die daraus abgeleitete Vorstellung, der Respekt gegenüber anderen Bürgerinnen und Bürgern als Freie und Gleiche sei nur durch eine Präsentation solcher Gründe Genüge zu tun, die diese prinzipiell zu den ihren machen könnten (Grotefeld 2000: 83; Perry 1997: 64). Unter Bedingungen eines grundlegenden Pluralismus stellt dies weder die einzige oder plausibelste noch eine realisierbare Vorstellung dar. Eine Alternative zur Rawls’schen Fassung könnte etwa lauten »that we show others respect when we offer them, as explanation, what we take to be our best reasons for acting as we do« (Galston 1991: 108-109). Die Vielzahl und das Gewicht der hier nur ausschnittweise rekonstruierten Einwände gegen die von Audi und Rawls empfohlenen Beschränkungen für den Gebrauch religiöser Argumente tigkeit das letzte Wort behalten soll – Glauben oder Wissen« (Habermas 2010a: 335-336, Hervorheb. i. O.).

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hat eine ganze Reihe von Kritikern dazu veranlasst, die Forderung an religiöse Bürger, zumindest auch säkulare Argumente zu verwenden, zu ermäßigen oder gänzlich fallen zulassen (vgl. Weithman 2002; Wolterstorff 1997; Wolterstorff in Audi/Wolterstorff 1997; vgl. aber auch Walzer 1998; Bader 1999; Bellamy 1999). Vor dem Hintergrund dieser Kontroverse lautet nun die zentrale Frage von Habermas: »Bringen die Opponenten, die heute gegen die klassischen Vorstellungen der liberalen Grenzziehung in die Offensive gehen, nur die religionsfreundliche Pointe der weltanschaulichen Neutralisierung des Staates gegenüber einem beschränkten säkularistischen Verständnis der pluralistischen Gesellschaft zur Geltung oder verändern sie, mehr oder weniger unauffällig, die liberale Agenda von Grund auf? Bewegen sie sich schon im Horizont eines anderen Selbstverständnisses der Moderne?« (Habermas 2005b: 124, Hervorheb. i. O.).

Mit seinem eigenen Vorschlag will Habermas zwischen den restriktiven Auffassungen Audis und Rawls’ von der politischen Rolle der Religion und den von den Kritikern vorgebrachten Einwänden vermitteln (Habermas 2005b: 36). Allerdings erweist sich seine Position bei näherer Betrachtung nur scheinbar als Alternative, in gewisser Hinsicht sogar als erhebliche Verschärfung der restriktiven Position. Habermas wendet sich explizit von einer Lesart der Säkularisierung ab, nach der »religiöse Denkweisen und Lebensformen durch vernünftige, jedenfalls überlegene Äquivalente ersetzt« werden (Habermas 2001b: 12), in der das Verhältnis von Moderne und Religion also als Nullsummenspiel betrachtet wird. Vielmehr muss nach Habermas die Rolle der Religion in der postsäkularen Gesellschaft neu bestimmt werden, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil – wie oben bereits deutlich wurde – Religion ein Reservoir der Sinn- und Identitätsstiftung sowie moralischer Intuitionen bildet, auf die säkulare Gesellschaften vermutlich nicht verzichten können oder sollten (Habermas 2008a: 46). Habermas greift als Ausgangspunkt seiner Überlegungen aus dem Reservoir der in der Debatte vor allem gegen das Rawls’sche Konzept des öffentlichen Vernunftgebrauchs vorgebrachten Einwände letztlich nur einen heraus, nämlich das Argument, dass es sich bei der Forderung an religiöse Bürgerinnen und Bürger, zumindest auch säkulare Gründe vorzubringen, um eine Forderung handelt, die möglicherweise nicht nur nicht von allen

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Bürgern erfüllt werden kann, sondern auch normativ problematisch ist. Der empirische Einwand bezieht sich darauf, dass religiöse Bürger nicht über ausreichende kognitive Ressourcen verfügen könnten, um dieser Forderung genüge zu tun (Habermas 2005b: 132-133). Der normative Einwand beruht darauf, dass für Bürger, die ihr Leben in integraler und umfassender Weise als ein religiös orientiertes Leben führen, die Forderung nach dem Gebrauch säkularer Argumente auf die Aufforderung hinausläuft, ihr Leben eben nicht in allen Dimensionen, zumindest nicht im Feld der Politik, an religiösen Maßstäben zu orientieren. Eine solche Forderung steht aber zumindest in Spannung zum Prinzip der Religionsfreiheit, wenn sie nicht sogar gegen diese verstößt: »Der liberale Staat gewährleistet nämlich die gleichmäßige Freiheit der Religionsausübung nicht nur, um Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten, sondern auch aus dem normativen Grund, die Glaubens- und Gewissensfreiheit eines jeden zu schützen. Er darf deshalb von seinen religiösen Bürgern nichts verlangen, was mit einer authentisch ›aus dem Glauben‹ geführten Existenz unvereinbar ist« (Habermas 2008b: 33-34; vgl. auch Habermas 2005b: 132-133).19

Der Habermas’sche Vorschlag lautet nun, das Problem durch eine institutionelle Differenzierung zu lösen. In der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit darf es aufgrund der Garantie der Religionsfreiheit keine Beschränkungen für den Gebrauch religiöser Argumente geben. Gegen Rawls, der zwar religiöse Stellungnahmen in der weiteren Öffentlichkeit zulässt, sie jedoch an die Bedingung knüpft, dass in angemessener Zeit auch ein säkulares Argument vorgebracht wird, betont Habermas, »dass die Säkularisierung des Staates nicht mit der Säkularisierung der Bürgergesellschaft verwechselt werden darf« (Habermas 2010b: 15). Demgegenüber bedürfen religiöse Argumente dann, wenn sie zur Grundlage rechtlicher oder politischer Regulierung werden sollen, der Übersetzung in Gründe, die für 19 | »[…] [D]ie rechtsstaatliche Demokratie darf fromme Bürger, die sie ausdrücklich zu einer religiösen Lebensführung ermächtigt, nicht gleichzeitig in ihrer Rolle als demokratische Mitgesetzgeber diskriminieren. […] Der liberale Staat darf nicht schon in der politischen Öffentlichkeit, also an der Wurzel des demokratischen Prozesses, die Äußerungen seiner religiösen Bürger zensieren. Auch an der Wahlurne kann er deren Motive nicht kontrollieren« (Habermas 2010b: 15, Hervorheb. i. O.).

Religion und Moderne bei Jürgen Habermas

alle Bürger akzeptabel sind, weil sonst die Gefahr religiöser Mehrheitsherrschaft droht: »Jeder muss wissen und akzeptieren, dass jenseits der institutionellen Schwelle, die die informelle Öffentlichkeit von Parlamenten, Gerichten, Ministerien und Verwaltungen trennt, nur säkulare Gründe zählen« (Habermas 2005b: 136).

Darüber hinaus beharrt Habermas im Unterschied zu Taylor darauf, »dass die Beschlüsse des Gesetzgebers, der Exekutive und der Gerichte nicht nur in einer allgemein zugänglichen Sprache formuliert werden, sondern auch aus allgemein akzeptablen Gründen gerechtfertigt werden können. Das schließt religiöse Gründe für die Beschlussfassung über alle staatlich sanktionierten, also rechtlich zwingenden Normen aus« (Habermas 2010b: 12, Hervorheb. i. O.). Um eine religionsfreundliche(re) Ausgestaltung der weltanschaulichen Neutralität des Staates scheint es sich zunächst deshalb zu handeln, weil Habermas explizit betont, dass es darum gehe, die Übersetzung religiöser Gehalte in eine allen zugängliche Sprache zu ermöglichen. Dementsprechend hat diese institutionelle Schwelle »[…] weniger die Funktion eines Filters, der Traditionsgehalte ausscheidet, als die eines Transformators, der den Strom der Tradition umwandelt« (Habermas 2008b: 29-30, im Original bezogen auf die Funktion von Säkularisierung insgesamt). In die Richtung einer religionsfreundlichen Alternative weist auch, dass Habermas anders als Audi und Rawls die Übersetzung religiöser Gehalte in eine säkulare Sprache nicht als eine Leistung begreift, die von den religiösen Bürgerinnen und Bürgern allein zu erbringen ist. Vielmehr versteht Habermas diesen Prozess als kooperative Aufgabe. Anders als bei Audi ist schließlich nach Habermas die Grenze zwischen säkularen und religiösen Gründen fließend. Sie kann also nur im politischen Prozess von allen Bürgern gemeinsam festgelegt werden. (Habermas 2001b: 22). Das entspricht dem Prinzip, dass der Streit um ein säkulares Verständnis der Moderne, in diesem Fall die Interpretation und Ausgestaltung des Prinzips der Trennung von Staat und Kirche, ein Streit ist, der öffentlich, unter Beteiligung aller Betroffenen, ausgetragen werden muss (Habermas 2001b: 22).20 20 | Diese Prozeduralisierung hat aber dann zur Folge, dass die Ausgestaltung des Prinzips der Trennung von Staat und Kirche sehr unterschiedlich ausfallen kann und wird: »Die politischen Kulturen sind schon in unseren westlichen Ge-

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An einer Stelle verschärft Habermas jedoch aus Sorge um den säkularen Staat das Prinzip der Trennung von Staat und Kirche mit Blick auf den Umgang mit religiösen Argumenten. Während Audi und Rawls ihre Empfehlungen zum Umgang mit religiösen Argumenten nicht als Vorschlag für eine rechtliche Regelung, sondern als religionspolitische Zivilitätszumutung, also als eine Bürgertugend verstanden wissen wollen, formuliert Habermas mit Blick auf die Institutionen des politischen Entscheidungsprozesses deutlich restriktiver, nämlich im Sinne einer rechtlichen Regelung: »Im Parlament muss beispielsweise die Geschäftsordnung den Präsidenten ermächtigen, religiöse Stellungnahmen oder Rechtfertigungen aus dem Protokoll zu streichen« (Habermas 2005b: 137). Diese Verschärfung beruht nicht nur auf normativen Überlegungen, sondern auch auf der Überzeugung, dass es einen rationalen oder friedlichen Umgang mit religiöser Differenz nicht geben könne: »Die existentiellen Wertkonflikte zwischen Glaubensgemeinschaften eignen sich nicht für Kompromisse. Nur vor dem Hintergrund eines gemeinsam unterstellten Konsenses über Verfassungsgrundsätze können sie durch Entpolitisierung an Schärfe verlieren« (Habermas 2005b: 141).

Eine solchermaßen gegen säkularistische Verhärtungen religionsfreundlicher ausgestaltete Interpretation der weltanschaulichen Neutralisierung des Staates bedarf allerdings symmetrischer kognitiver Anpassungsleistungen sowohl der religiösen als auch der säkularen Bürger. Religionsgemeinschaften wie religiöse Bürger müssen die grundlegenden Charakteristika säkularer Gesellschaften, »die Tatsache des religiösen Pluralismus, die Zuständigkeit der institutionalisierten Wissenschaften für säkulares Wissen und die universalistischen Grundlagen des modernen Rechts anerkennen« (Habermas 2008d: 94). Die Anpassungsleistung der säkularen Bürger besteht darin, die Position eines verhärteten Säkularismus aufzugeben, der religiöse Argumente bloß als ›conversation stopper‹ – so hat Richard Rorty (Rorty 1994) einmal seine Überzeugung von der unumgänglichen Privatisierung des Religiösen zusammengefasst – wahrnimmt, wenn sellschaften so verschieden, dass diese allgemeinen Prinzipien für die öffentliche Rolle der Religion, überhaupt für das, was wir im Westen die ›Trennung von Staat und Kirche‹ nennen, in den entsprechenden lokalen Kontexten jeweils auf andere Weise spezifiziert und institutionalisiert werden müssen« (Habermas 2010b: 12).

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nicht sogar als bloße Illusion, und unter Anerkennung der Grenzen der Vernunft den Dissens mit religiösen Bürgerinnen und Bürgern als vernünftigerweise zu erwartenden Dissens zu begreifen. Säkulare Mehrheiten sollten daher den Dissens religiöser Bürger in politischen Streitfragen sogar als Anlass für ein aufschiebendes Veto betrachten, als Chance für die Initiierung von Lernprozessen (Habermas 2001b: 22). Die Vorschläge von Jürgen Habermas zu einer religionsfreundlicheren Ausgestaltung des Prinzips der Trennung von Staat und Kirche mit Blick auf die Rolle religiöser Argumente in der Öffentlichkeit moderner Demokratien sind inzwischen selbst zum Gegenstand einer intensiven Debatte avanciert.21 In den folgenden Überlegungen soll gezeigt werden, dass die beiden zentralen Innovationen von Habermas in der Debatte um den Status religiöser Argumente – die Betonung der institutionellen Schwelle zwischen politischer Öffentlichkeit und politischen Entscheidungsarenen einschließlich der Möglichkeit einer rechtlichen Verbannung religiöser Argumente aus letzteren sowie die Idee einer kooperativen Ausgestaltung der Übersetzung religiöser Argumente in eine säkulare Sprache – nicht überzeugend sind und das Problem einer asymmetrischen Lastenverteilung zwischen religiösen und säkularen Bürgern nicht lösen. Das strikte, gegebenenfalls ja sogar rechtlich institutionalisierte Verbot des Gebrauchs religiöser Argumente in politischen Entscheidungsarenen bedeutet letztlich, dass Parlamentarier, die ihre Lebensführung in einem umfassenden und integralen Sinne an religiösen Traditionen orientieren und dementsprechend ›einsprachig‹ sind, im Parlament letztlich zum Schweigen verurteilt werden. Das ist eine massive Einschränkung ihrer politischen Autonomie sowie derjenigen (religiösen) Bürger, die sie repräsentieren. Sie genügt jedenfalls nicht dem von Habermas selbst formulierten Kriterium, dass eine liberale Ordnung nicht so ausgestaltet sein darf, »dass sie mit einer »authentisch ›aus dem Glauben‹ geführten Existenz unvereinbar ist« (Habermas 2008b: 33-34; vgl. auch Habermas 2005b: 132133). Hinzu kommt, dass Habermas selbst konzediert, dass »die Grenze zwischen säkularen und religiösen Gründen […] fließend« ist (Habermas 21 | Vgl. u.a. die Beiträge in Constellations 14 (2), 2007, Philosophy and Social Criticism 35 (1-2), 2009, sowie in Langthaler (Langthaler/Nagl-Docekal 2007), Reder/Schmidt (2008) und Wenzel/Schmidt (2009); vgl. aber u.a. auch Audard (2011), Barbato/Kratochwil (2009), Baumeister (2011), Chambers (2010), Cooke (2006, 2010) und Dillon (2010).

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2001b: 22), und das heißt doch wohl: dass sie grundsätzlich umstritten ist. Dann aber fehlen klare Kriterien für das von Habermas geforderte rechtliche Instrument zur Streichung religiöser Argumente; zumindest jedoch fehlt eine Regelung, nach der im Zweifelsfall ein Argument, dessen Status umstritten ist, zuzulassen ist.22 Hinzu kommt, dass die vorgeschlagene Regelung noch in einer weiteren Hinsicht eine Ungleichbehandlung religiöser Bürger generiert. Das ist Folge einer Ambivalenz in der Bestimmung unzulässiger Gründe. Auf der einen Seite formuliert Habermas, dass nur solche Gründe legitim sind, »die nicht nur für Angehörige einer Glaubensgemeinschaft akzeptabel sind« (Habermas 2001b: 21) bzw. »allgemein« akzeptabel sind (Habermas 2010b: 12). Auf der anderen Seite formuliert er, dass »nur säkulare Gründe zählen« (Habermas 2005b: 136). Der Grund dafür, nur religiöse Argumente zu unzulässigen Gründen zu erklären, liegt in der Überzeugung von Habermas begründet, dass sie einen »opaken Kern« haben, der der vorbehaltlosen Reflexion unzugänglich bleibt. Nach dem ersten Kriterium, der ›allgemeinen Akzeptabilität‹, ist die Liste der Kandidaten unzulässiger Gründe deutlich größer. Rawls hatte deshalb anders als Audi die Grenze ja auch explizit nicht zwischen säkularen und religiösen, sondern zwischen öffentlichen und nicht-öffentlichen Gründen gezogen. Gerade weil Habermas in der Debatte um zulässige Gründe nicht bloß eine Zivilitätszumutung formuliert, sondern mit dem Instrument des rechtlichen Verbotes operiert, bedürfte es einer ausführlichen Begründung, warum Habermas letztlich Audi und nicht Rawls folgt, um den Verdacht einer Ungleichbehandlung religiöser Bürger auszuräumen. Eine solche Begründung fehlt jedoch. Auch die Idee einer kooperativen Ausgestaltung der Übersetzung religiöser Argumente in eine säkulare Sprache vermag letztlich nicht die Zweifel an einer systematischen Ungleichbehandlung religiöser Bürger auszuräumen. Denn es bleibt unklar, welche Konsequenzen es hat, wenn sich die von Habermas erwünschten Lernprozesse auf Seiten säkularer Bürger nicht einstellen, wenn also die Kooperation säkularer Bürger bei der Übersetzung der religiösen Gehalte religiös einsprachiger Bürger ausbleibt. Sanktionen für die Weigerung, säkularistische Vorbehalte gegenüber der Religion aufzugeben und sich an dem Unternehmen einer ko22 | Dass diese Frage nicht unerheblich ist, zeigt die Debatte um den Status und die Legitimität der von katholischer Seite vorgebrachten naturrechtlichen Argumente in den gegenwärtigen biopolitischen Debatten.

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operativen Übersetzung religiöser Gehalte zu beteiligen, kann es nicht geben, solange es eine offene Frage ist, ob es sich bei der Religion um eine zeitgenössische oder sogar lebendige Gestalt des Geistes handelt »[u]nd ob nicht […] ein szientistisch begründeter Säkularismus am Ende Recht behält gegenüber dem komprehensiven Vernunftsbegriff des nachmetaphysischen Denkens« (Habermas 2005b: 152). Es gibt aber auch umgekehrt keine Überlegung bei Habermas dergestalt, dass etwa die argumentativen Restriktionen religiöser Bürger in dem Fall ermäßigt werden, dass die Kooperationsbereitschaft säkularer Bürger auf breiter Front ausbleibt. Die Striktheit des Habermas’schen Vorschlages verwundert noch aus einem weiteren Grunde. Habermas selbst hatte seine Überlegungen zu der Frage, ob es sich bei dem von religiösen wie säkularen Bürgern geforderten Mentalitätswandel um einen »kognitiv gesteuerten gerichteten Prozess, der als Lernprozess beschrieben werden kann«, handelt, mit einem »beunruhigenden« Resümee geschlossen: »Wenn jedoch die politische Theorie offen lassen muss, ob die funktional notwendigen Mentalitäten [sowohl auf Seiten der säkularen als auch auf Seiten der religiösen Bürger, U. W.] überhaupt auf dem Wege von Lernprozessen erworben werden können, muss sie auch anerkennen, dass ihre normativ begründete Konzeption des öffentlichen Vernunftgebrauchs unter den Bürgern selbst ›wesentlich umstritten‹ bleibt. […] Aus dieser Selbsteinschränkung der politischen Theorie folgt natürlich nicht, dass wir, sowohl als Philosophen wie als Bürger, nicht davon überzeugt sein dürften, eine starke Lesart der liberalen und republikanischen Grundlagen des demokratischen Verfassungsstaates […] erfolgreich verteidigen zu sollen und zu können. Aber dieser Diskurs über das richtige Verständnis, selbst die Richtigkeit einer liberalen Ordnung im Allgemeinen und des demokratischen Staatsbürgerethos im Besonderen, erstreckt sich auf Bereiche, worin normative Argumente allein nicht ausreichen. Die Kontroverse erstreckt sich auch auf die epistemologische Frage des Verhältnisses von Glauben und Wissen, die wiederum wesentliche Elemente des Hintergrundverständnisses der Moderne berührt« (Habermas 2005b: 152).

Ob es sich angesichts einer solchen Beschreibung der Lage empfiehlt, drastische Maßnahmen wie ein rechtliches Verbot bestimmter Sorten von Argumenten zu fordern, dürfte mehr als fraglich sein. Was folgt aus dieser Kritik an dem von Habermas vorgelegten Vermittlungsvorschlag für die weitere Diskussion über die Rolle religiöser

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Argumente in der Öffentlichkeit moderner Demokratien? Eine erste Option besteht darin, sich weiterhin auf die Suche nach der Formulierung noch feiner justierter religionspolitischer Zivilitätszumutungen zu begeben. Einen solchen Vorschlag hat jüngst Christina Lafont vorgestellt (Lafont 2009). Sie schlägt vor, die Bürgerinnen und Bürger nicht darauf zu verpflichten, bestimmte Sorten von Argumenten zu verwenden oder zu meiden. Sie plädiert stattdessen dafür, Politikempfehlungen auf der Basis partikularer religiöser oder säkularer Überzeugungen nur in dem Fall Gesetzeskraft zu verleihen, dass es ihren Befürwortern gelingt, gegen diese Maßnahmen vorgebrachte Einwände auf der Basis von Werten oder Prinzipien wie Freiheit und Gleichheit, die sie als Bürgerinnen und Bürger teilen, überzeugend zurückzuweisen. Ein solcher Vorschlag hält am liberalen Legitimationsprinzip fest, ohne die Bürgerinnen und Bürger in ihrem Argumentationshaushalt einzuschränken. Angesichts des Umstandes, dass in der Situation eines tief greifenden Pluralismus es nicht unwahrscheinlich ist, dass über den Erfolg einer solchen Zurückweisung von Einwänden aufgrund geteilter demokratischer Prinzipien wie Freiheit und Gleichheit häufig Dissens bestehen wird, bietet es sich an, die Aufmerksamkeit stärker auf institutionelle Lösungen zu richten. Eine Option sind Verfahren und Institutionen, die es erlauben, die grundlegenden moralischen Überzeugungen aller Beteiligten in einer Weise einzubinden, dass ihr Charakter als ernst zu nehmende moralische Überzeugung anerkannt wird, auch wenn sie nicht geteilt werden. Der bundesdeutsche Kompromiss in der Frage des Schwangerschaftsabbruchs stellt einen solchen inklusiven Kompromiss dar: er erklärt den Schwangerschaftsabbruch für rechtswidrig, aber straffrei und richtet die verpflichtende Beratung auf das Ziel des Lebensschutzes aus; nach der Teilnahme an der Beratung besteht jedoch faktisch Entscheidungsfreiheit. Dadurch werden die konfligierenden Werte und Prinzipien der Konfliktparteien anerkannt und berücksichtigt. Eine andere Option besteht darin, die Durchschlagskraft von Politik auf eine Weise zu beschränken, dass die bruchlose Durchsetzung religiöser oder säkularer Mehrheiten erschwert und die Zwänge zu Verhandlung und Kompromiss erhöht werden, also in einer Aufteilung, Dispersion, Balancierung und Kontrolle von Macht. Angesichts des tief greifenden Pluralismus und des daraus resultierenden Konfliktpotentials dürfte es sich empfehlen, in der normativen politischen Theorie nicht nur auf eine Strategie zu setzen.

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Autorinnen und Autoren

Helene Basu (Prof. Dr. phil.) ist Professorin für Anthropologie am Institut für Ethnologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Veröffentlichungen u.a.: Brill’s Encyclopedia of Hinduism, Vol. I & II (2009/2010, hg. zus. mit K. Jacobson, A. Malinar); Journeys and Dwellings: Indian Ocean Themes in South Asia (hg. 2008); Embodying Charisma. Modernity, Locality and the Performance of Emotion in Sufi Cults (1998, hg. zus. mit Pnina Werbner). Steve Bruce (Prof. Ph.D.) ist Professor für Soziologie am Department of Sociology der University of Aberdeen. Veröffentlichungen u.a.: Secularization. In defence of an unfashionable theory (2011); God is Dead: Secularization in the West (2002); Religion in the Modern World: from Cathedrals to Cults (1996). Dipesh Chakrabarty (Prof. Ph.D.) ist Lawrence A. Kimpton Distinguished Service Professor am Department of History bzw. am Department of South Asian Languages and Civilizations der University of Chicago. Veröffentlichungen u.a.: Provincializing Europe: Postcolonial Thought and Historical Difference (2007); Habitations of Modernity: Essays in the Wake of Subaltern Studies (2002); Rethinking Working-Class History (2000). Christof Dipper (Prof. em. Dr. phil.) ist Professor emeritus für Neuere und Neueste Geschichte am Institut für Geschichte der Technischen Universität Darmstadt. Veröffentlichungen u.a.: Selbstmobilisierung der Wissenschaft. Technische Hochschulen im »Dritten Reich« (2010, hg. zus. mit N. Dinçkal und D. Mares); Deutschland und Italien 1860 – 1960. Politische und kulturelle Aspekte im Vergleich (hg. 2005); Deutsche Geschichte. 1648-1789 (1991).

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Shmuel N. Eisenstadt (Prof. em. Ph.D., † 2010), war zuletzt Professor emeritus für Soziologie an der Hebrew University in Jerusalem. Veröffentlichungen u.a.: The Great Revolutions and the Civilizations of Modernity (2006); Theorie und Moderne. Soziologische Essays (2006); Multiple Modernities (2002). Thomas Gutmann (Prof. Dr. iur.) ist Professor für Bürgerliches Recht, Rechtsphilosophie und Medizinrecht an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Veröffentlichungen u.a.: Iustitia Contrahentium. Zu den gerechtigkeitstheoretischen Grundlagen des deutschen Schuldvertragsrechts (2012); Von der religiösen zur säkularen Begründung staatlicher Normen. Zum Verhältnis von Religion und Politik in der Philosophie der Neuzeit und in rechtssystematischen Fragen der Gegenwart (2012, hg. zus. mit L. Siep, B. Jakl und M. Städtler); Freiwilligkeit als Rechtsbegriff (2001). Wolfgang Knöbl (Prof. Dr. phil.) ist Professor für Sozialwissenschaften und international vergleichende Soziologie am Institut für Soziologie der Georg-August-Universität Göttingen. Veröffentlichungen u.a. Die Kontingenz der Moderne. Wege in Europa, Asien und Amerika (2007); Sozialtheorie. Zwanzig einführende Vorlesungen (2004, zus. mit H. Joas); Spielräume der Modernisierung. Das Ende der Eindeutigkeit (2001). Albrecht Koschorke (Prof. Dr. phil.) ist Professor für Neuere Deutsche Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft am Fachbereich Literaturwissenschaft der Universität Konstanz. Veröffentlichungen u.a.: Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas (2007, zus. mit Th. Frank, S. Lüdemann und E. Matala de Mazza); Des Kaisers neue Kleider: Über das Imaginäre politischer Herrschaft. Texte, Bilder, Lektüren (2002, zus. mit T. Frank, S. Lüdemann, E. Matala de Mazza und A. Kraß); Die Heilige Familie und ihre Folgen (2000). Detlef Pollack (Prof. Dr. theol.) ist Professor für Religionssoziologie am Institut für Soziologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Veröffentlichungen u.a.: Rückkehr des Religiösen? Studien zum religiösen Wandel in Deutschland und in Europa II (2009); Säkularisierung – ein moderner Mythos? Studien zum religiösen Wandel in Deutschland (2003); Politischer Protest: politisch alternative Gruppen in der DDR (2000).

Autorinnen und Autoren

Hartmut Rosa (Prof. Dr. rer. soc.) ist Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Veröffentlichungen u.a.: Theorien der Gemeinschaft (2010, zus. mit L. Gertenbach u.a.); Soziologie, Kapitalismus, Kritik. Eine Debatte (2009, zus. mit K. Dörre und S. Lessenich); Beschleunigung. Die Veränderung der Temporalstrukturen in der Moderne (2005). Volker H. Schmidt (Prof. Dr. rer. pol.) ist Associate Professor am Department of Sociology der National University of Singapore. Veröffentlichungen u.a.: Modernity at the Beginning of the 21st Century (hg. 2007); Rationierung und Allokation im Gesundheitswesen (2002, hg. zus. mit T. Gutmann); Bedingte Gerechtigkeit. Soziologische Analysen und philosophische Theorien (2000). Ulrike Spohn (M.A.) ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politikwissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Ihre Dissertation behandelt Konzepte säkularer Staatlichkeit (›Säkularismus‹) aus politiktheoretischer Sicht und in vergleichender Perspektive. Charles Taylor (Prof. em. Ph.D.) ist Professor emeritus für Politische Philosophie und Philosophie des Geistes am Department of Philosophy der McGill University in Montreal. Veröffentlichungen u.a.: Dilemmas and Connections. Selected Essays (2011); A Secular Age (2007); Sources of the Self. The Making of the Modern Identity (1989). Peter Wagner (Prof. Dr. phil.) ist ICREA Research Professor an der Universität Barcelona. Veröffentlichungen u.a.: Moderne als Erfahrung und Interpretation. Eine neue Soziologie der Moderne (2009), Theorizing Modernity. Inescapability and Attainability in Social Theory (2001); Soziologie der Moderne (1995). Martina Wagner-Egelhaaf (Prof. Dr. phil.) ist Professorin für Neuere deutsche Literaturgeschichte am Germanistischen Institut der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Veröffentlichungen u.a.: Transkulturalität. Türkisch-deutsche Konstellationen in Literatur und Film, Literaturwissenschaft Theorie & Beispiele (2007, zus. mit H. Blumentrath, J. Bodenburg und R.Hillman); Einführung in die neuere deutsche Literaturwissenschaft. Ein Arbeitsbuch (2009, zus. mit J. H. Petersen); Autobiographie (2000).

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Ulrich Willems (Prof. Dr. phil.) ist Professor für Politische Theorie mit dem Schwerpunkt Politik und Religion am Institut für Politikwissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Veröffentlichungen u.a.: Politik und Kontingenz (2012, hg. zus. mit Katrin Toens); Politik und Religion (2003, hg. zus. mit M. Minkenberg); Entwicklung, Interesse und Moral. Die Entwicklungspolitik der Evangelischen Kirche in Deutschland (1998).

Abstracts

Volker H. Schmidt beschreibt als den Kern der Moderne ein »Wandlungskontinuum«, auf dem soziale Entitäten nach »Graden von Modernität« verortet werden können. Die Dynamik von »Vorreitern« und »Nachzüglern« ist in seinen Augen »ein permanentes Merkmal von Modernität«. Er konzipiert Modernisierung als einen gerichteten Wandlungsprozess in den vier Dimensionen »Gesellschaft«, »Kultur«, »Person« und »Organismus«, der weltweit zur Ausbildung gleicher Strukturmuster der Modernität führe und zu ihrer Erfassung einen methodologischen Globalismus erfordere. Diese modernen Strukturmuster erfassen nach Schmidts Phasenmodell in der noch jungen Ära der »globalen« und zugleich »polyzentrischen« Moderne, die ihre »westzentrische« Form ablöst, die ganze Welt, indem sie allerorten vormoderne Muster mehr und mehr überlagern. Im Zeitalter der globalen Moderne sieht Schmidt im Rahmen einer welthistorischen Zäsur die Vorreiterstellung des zuvor tonangebenden Westens schwinden. Wolfgang Knöbl plädiert in seinem Beitrag für die Historisierung der Modernisierungstheorie, die er als ein »amerikanisches Projekt einer ganz bestimmten welthistorischen und -politischen Epoche« und mit Weltbildcharakter verstanden wissen will. Er zeichnet die in seinen Augen schon vor langer Zeit massiv gewordene interne Kritik nach und argumentiert, dass die Theorie im Prinzip schon Ende der 1960er Jahre gescheitert sei. Knöbl zeigt auch die Schwierigkeiten auf, im Zuge der Krise der Modernisierungstheorie eine allgemeine Theorie der Säkularisierung aufrechtzuerhalten. Er weist auf die chronische Unklarheit der Großbegriffe ›Modernisierung‹ und ›Säkularisierung‹ hin und kritisiert, Modernisierungstheorien könnten weder die mittels dieser Begriffe bezeichneten Prozesse kausal erklären, noch könnten sie das Verhältnis der

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unter dem Begriff der Modernisierung üblicherweise gefassten Teilprozesse zueinander plausibel näher bestimmen. Knöbl argumentiert vor dem Hintergrund der Probleme der Modernisierungstheorie für einen handlungstheoretischen Ansatz und für »Bescheidenheit hinsichtlich der Theorieansprüche in der Makrosoziologie«. Hartmut Rosa rekonstruiert den Streit um die Moderne als Auseinandersetzung zwischen dem Konzept der Moderne als kulturellem Projekt mit normativen Geltungsansprüchen und als strukturellen Prozess, der sich im Wesentlichen gleichsam ›hinter dem Rücken der Akteure‹ vollzieht. Die Moderne ist in den Augen von Hartmut Rosa aber weder nur ein sich vor allem aus den Selbstbestimmungs- und Emanzipationsansprüchen der Aufklärung herleitendes Projekt noch ein nur durch Steigerung und Beschleunigung gekennzeichneter Prozess, sondern gewinnt die ihr eigentümliche Dynamik aus dem Wechselspiel zwischen beidem. Während die Heraufkunft der Moderne in Europa als Projekt vorangetrieben wurde, lassen sich heute auch Formen der Moderne beobachten, etwa in China, in denen die kapitalistischen und technologischen Dynamisierungsimperative vor der oder ohne die Übernahme des Projekts der Moderne Raum greifen. Die überlieferten Religionen scheinen in dieser Perspektive weniger als Strukturerfordernis für Innovation, Beschleunigung und Wachstum zu fungieren denn als Gegenpol zur Steigerungs- und Dynamisierungslogik der Moderne. Peter Wagner diskutiert in seinem Beitrag die Bedeutung einer Pluralität von Modernen für die normative Dimension der Moderne-Debatte. Wagners Ausführungen knüpfen an Johann Arnasons Idee der »sukzessiven Modernen« an, welche er als einen fruchtbareren Ausgangspunkt ansieht als Shmuel Eisenstadts Konzept der »multiplen Modernen«. In Anlehnung an Arnason erläutert Wagner seine Vorstellung von sukzessiven Transformationen »derselben Moderne«, die stets Reaktionen auf Krisen der jeweils vorangegangenen sozialen Konfigurationen seien. Eine vergleichende Analyse der europäischen Modernen führt Wagner zu einer komplexen Bewertung der modernen Idee des ›Fortschritts‹: Man könne unter Verweis auf bestimmte Errungenschaften durchaus von einem historischen Fortschritt sprechen – Wagner führt diesen auf die problemverarbeitende Funktion sukzessiver Transformationen zurück –, doch lasse sich kein linearer Weg in eine bessere Zukunft nachzeichnen, da jede

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Transformation wieder neue und unter Umständen sogar schwerwiegendere »normative Defizite« erzeugen könne. Ausgehend von der Diagnose, dass ein allgemeiner Vertrauensverlust in Bezug auf den Fortschritt zu einem Rückgang kollektiven, an der Lösung von Problemen orientierten politischen Handelns geführt hat, gelangt Wagner über eine Diskussion der Idee der »Rückschrittvermeidung« (Claus Offe) zu einer Skizzierung der normativen Aufgabe politischer Philosophie: Sie müsse als Ressource einer neuartigen Form von Kritik dienen, die das Potential der Institutionen der Moderne zur Anfechtung ihrer gegenwärtigen sozialen Realität lebendig hält und dabei die Erfahrungen der gewöhnlichen Gesellschaftsmitglieder in den Blick nimmt, anstatt von einer normativ überlegenen Erkenntnisfähigkeit des Theoretikers auszugehen. Dipesh Chakrabarty führt mit dem Topos der Verspätung einen theoretischen und kontextuellen Perspektivenwechsel vom Standpunkt des Historikers in die Problematik der Moderne ein. Der Historische Materialismus teilt mit sozialevolutionistischen Modernisierungstheorien die Idee eines ursprünglich in Europa generierten Fortschritts, die die Geschichten der ehemals Kolonialisierten als – stets verspätete – Wiederholung der europäischen Entwicklung erscheinen lässt. Mit den Kategorien der »Verschiebung« und »Verkleidung« zeigt Chakrabarty die Grenzen der von ihm und anderen indischen Historikern ins Leben gerufenen Subaltern Studies mit ihrem Fokus auf die bäuerliche Klasse als politisch-revolutionäres Subjekt gesellschaftlicher Veränderung auf. Die koloniale Konstruktion des indischen Volkes als »vorpolitisch« forderten die Subaltern Studies mit der »populistischen Prämisse« heraus, »dass der Bauer oder der Subalterne immer schon politisch war«. In nicht-westlichen Kontexten führt der »kontinuierliche Prozess des Durcharbeitens europäischer Kategorien« notwendig zur Verschiebung von »dem Ort ihrer ursprünglichen Bedeutung«. Verschiebung verbindet sich mit Verkleidung, so das Argument, in der das Neue getragen von dem verschobenen Subjekt der Geschichte, trotzdem stets als Wiederholung erscheint. Aus diesem Grunde scheinen marxistische Entwicklungsentwürfe und ihr Begriff des Politischen ihre Überzeugungskraft verloren zu haben. Martina Wagner-Egelhaaf nähert sich der Moderne-Thematik aus einer literaturwissenschaftlichen Perspektive unter dem Aspekt der ›Interdisziplinarität‹ als ›Transdisziplinarität‹. Sie argumentiert, dass die Wahr-

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nehmung des Prozesses der Ausdifferenzierung der Wissenschaften als ein modernes Phänomen »das Projekt der Inter- bzw. Transdisziplinarität zum Paradigma einer sich selbst thematisierenden und sich vielleicht auch selbst problematisch gewordenen Moderne« macht. Sie setzt in ihrem Beitrag literatur- und sozialwissenschaftliche Moderne-Konzepte in ein Verhältnis zueinander und zeigt dabei, dass Gemeinsamkeiten und Differenzen quer zu den Disziplingrenzen verlaufen. Der besondere Akzent liegt hier auf einem sprach- und zeichenkritischen Ansatz, der für »das dynamische Wechselverhältnis von sprachlicher Repräsentation und Objektkonstitution« sensibilisiert und die Anerkennung eines »konstitutive[n] entanglement von Erfahrungs- und Erkenntnisobjekt« zur Grundlage für die inter- und transdisziplinäre Zusammenarbeit macht. Albrecht Koschorke beschreibt und analysiert die Säkularisierungsthese der Modernisierungstheorie und die Rede von der ›Wiederkehr der Religion‹ als Narrative. Der Erfolg und die Stabilität des Narrativs der Säkularisierung beruht nach Koschorke auf zwei Faktoren: Erstens gestatte dieses Narrativ ein ambivalentes Selbstverhältnis der Moderne, insofern ›Säkularisierung‹ sowohl als Fortschritts- als auch als Verfallsprozess gedeutet werden könne. Zweitens erzeuge es eine Asymmetrie, durch die gegenläufige Entwicklungen als Randphänomene eines allgemeinen Säkularisierungstrends in das Narrativ inkorporiert würden. Die Begriffe ›Fundamentalismus‹ und ›Kompensation‹ liest Koschorke als Strategien, die Persistenz oder gar Intensivierung religiöser Orientierungen in der Gegenwart in das Narrativ der Säkularisierung zu integrieren. Koschorke argumentiert, dass die jüngere Ablösung des Narrativs der Säkularisierung durch das Narrativ der ›Wiederkehr der Religion‹ vor allem das Beharrungsvermögen des ersteren illustriere, da letzteres »auf dem Vorgängernarrativ gleichsam aufsattelt« und die in diesem »als Sedimentschicht abgelagert[e] eurozentrische Perspektive« reproduziere, insofern es auf die Wiederkehr der Religion in das öffentliche Bewusstsein westlicher Gesellschaften anspiele . Christof Dipper erörtert die Problematik des Verhältnisses von Moderne und Religion aus der Perspektive eines Historikers. Dementsprechend legt er einen historisierten Moderne-Begriff zugrunde, nach dem sich die »moderne Welt« in drei Epochen unterteilt: das »Zeitalter der Revolution«, die »Moderne« und die »Postmoderne«. Bei dieser Einteilung betont Dipper weniger bestimmte historische Ereignisse als vielmehr die Wahrnehmung

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und Deutung dieser durch die Menschen, die die Ereignisketten mit bestimmten Leitbegriffen belegen und zu steuern suchen. Im Hinblick auf das Verhältnis von Moderne und Religion stellt Dipper das Nebeneinander zweier unterschiedlicher Diskurse heraus, in denen die Religion im einen – dem katholischen – Fall lange Zeit als das Opfer der Moderne und im anderen – dem protestantischen – Fall als ihr Schöpfer dargestellt wurde. Den Begriff der ›Säkularisierung‹ untersucht Dipper von seinen Anfängen als ein aus den europäischen Kulturkonflikten des 19. Jahrhunderts hervorgegangener »ideenpolitischer Kampfbegriff« über seine Etablierung als Leitkategorie der Modernisierungstheorien der Nachkriegszeit bis hin zu seiner Dekonstruktion im Zuge der in den 1970er Jahren einsetzenden kulturalistischen Wende der Sozialwissenschaften. Schließlich konturiert Dipper die Grundlinien einer (möglichen) Religionsgeschichte der Moderne, die sich als eine Art »Gegendarstellung« zur klassischen Säkularisierungsthese versteht. Detlef Pollack entwirft nach einer Rekonstruktion der Kontroverspunkte, an denen sich der Streit um die Moderne immer wieder entzündet, die Umrisse einer Theorie moderner Gesellschaften. Diese sieht er durch Prozesse der funktionalen Differenzierung, durch Tendenzen der Abstandsvergrößerung zwischen unterschiedlichen Konstitutionsebenen des Sozialen (Individualität, Interaktion, Gemeinschaft, Organisation, Gesellschaft) sowie durch die Einrichtung bereichsspezifischer Wettbewerbsarenen charakterisiert. Mit der Institutionalisierung dieser spezifisch modernen Strukturen erhöhe sich nicht nur die Dynamik gesellschaftlicher Reproduktion, sondern bildeten sich auch reflexive Mechanismen zur Selbstbegrenzung moderner Steigerungslogiken heraus. Die Effekte der funktionalen Differenzierung, der Abstandsvergrößerung zwischen den sozialen Konstitutionsebenen und der Ausbildung von Wettbewerbsforen auf die Religion bestehen nach seiner Ansicht in einem Rückgang des Einflusses religiöser Gemeinschaften und Institutionen auf nichtreligiöse Bereiche, in einer Abschwächung ihrer Bindungskraft sowie im Wandel der dominanten Sinnformen des Religiösen, die mehr und mehr ihre konkrete Anschaulichkeit verlieren und flüssiger und abstrakter werden. Steve Bruce reagiert auf ein Gegenargument, das immer wieder gegen die Gültigkeit der Säkularisierungstheorien ins Feld geführt wird, indem er sich in seinem Beitrag mit der Frage auseinandersetzt, inwieweit das

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hohe Religiositätsniveau in den USA mit den Prinzipien der Säkularisierungstheorie vereinbar ist. Darüber hinaus wirft er die Frage auf, ob die Religion wie in Westeuropa auch in den Vereinigten Staaten an Macht, Popularität und Prestige verliert. Er kommt zu dem Ergebnis, dass Religion in den USA nicht nur an Integrationskraft einbüßt, sondern auch ihre Form verändert. Jenseitig ausgerichtete Glaubensvorstellungen werden zunehmend durch psychologisch interpretierbare und auf das diesseitige Wohlbefinden orientierte Glaubensaussagen ersetzt. Die Vereinbarkeit des dennoch beachtlichen Religiositätsniveaus in den USA mit den Grundannahmen der Säkularisierungstheorie hält er insoweit für gegeben, als religiöse Gemeinschaften in den USA wichtige Funktionen für die Integration der Immigranten erfüllen und die diffusere und offenere Regulierung des Gemeinwesens in den USA fundamentalistischen und evangelikalen Gruppierungen Raum für den Aufbau mehr oder weniger geschlossener Submilieus bietet. Shmuel N. Eisenstadt stellt der Annahme, die Moderne zeichne sich durch einen Säkularisierungsprozess aus, im Zuge dessen die Religion zunehmend eine politisch unbedeutende, in der Privatsphäre verortete Rolle erhalte, eine konträre Diagnose entgegen: Im Rahmen gegenwärtiger Globalisierungsprozesse seien vielschichtige Transformationen des Religiösen mit weitreichenden Konsequenzen für die Konfiguration des Politischen zu beobachten. Dazu gehören laut Eisenstadt insbesondere eine Diversifizierung religiöser Orientierungen und Praktiken sowie die Herausbildung von informellen Formen religiöser Organisation jenseits der im Rückzug begriffenen institutionalisierten Religionen. Anstatt sich auf die private Sphäre zu beschränken, nehmen die neuen religiösen Orientierungen und Gruppierungen Einfluss auf die Gestaltung der Öffentlichkeiten im globalisierten Raum, beanspruchen die Anerkennung ihrer Identitäten und machen weitreichende politische Forderungen geltend. In seinem Beitrag zeichnet Eisenstadt nach, warum er diese Transformationen als Komponente einer umfassenden »neuen globalen kulturellen Konstellation« wertet, die ihren Ursprung zwar im Programm der Moderne hat, jedoch jenseits des »Moderne-Monopols« des Westens auf verschiedenen Neuinterpretationen der Moderne fußt. Da der Autor im vergangenen Jahr verstorben ist und den Beitrag nicht abschließen konnte, sei an dieser Stelle bereits auf den an einigen Stellen nicht hinreichend überarbeiteten Stand des Textes, vor allem auf das nicht beendete Schlusskapitel, verwiesen.

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Helene Basu geht der Frage nach, wie und mit welchen Begründungen die Ethnologie von Modernität im Plural spricht. Dabei spielt die Beziehung zwischen soziologischen und ethnologischen Konstruktionen des Gegensatzes von »Tradition« und »Moderne« eine wichtige Rolle. Während der Gegenstand der Soziologie von jeher die Moderne ist, definiert sich der Gegenstand der Ethnologie seit Beginn ihres Bestehens als eigenständige Wissenschaft durch ihr Gegenteil. Der ethnologische Gegenstand machte jedoch zahlreiche Metamorphosen durch, die Basu von der »primitiven« über die »traditionelle« bis zur »vielfältig modernen« Gesellschaft mit besonderer Berücksichtigung Indiens rekonstruiert. In ihrem Untersuchungsfeld werden EthnologInnen mit diversen lokalen Konfigurationen von Religion und Sozialität in der Gegenwart konfrontiert. Ähnlichkeiten und Unterschiede in der Konstitution von Modernität und der Stellung von Religion und Säkularismus darin, so das Argument, erwachsen daraus, dass sie mit Konstruktionen von Tradition und Geschichte einhergehen. Insofern Modernität die Transformation von sozio-kulturellen Traditionen impliziert, sind diese selbst schon Resultat von Modernisierungsprozessen. So bringt die Ethnologie regionale Konfigurationen von Modernität zum Vorschein, wie etwa die indische, die mit dem westlichen Muster teils konvergieren und teils divergieren. Charles Taylor befasst sich in seinem Beitrag mit einem »Mythos der Aufklärung«. Dieser bestehe in der Auffassung, »die Aufklärung sei ein absoluter, uneingeschränkter Fortschritt gewesen«. Taylor illustriert diese Idee am Beispiel der (früheren) Positionen von Habermas und Rawls, die auf der Grundlage der Vorstellung einer »bloßen Vernunft« Einschränkungen des Gebrauchs religiöser Sprache in der öffentlichen politischen Auseinandersetzung forder(te)n. Er rekonstruiert und analysiert ausführlich die Entstehungsgeschichte der Vorstellung, dass der Übergang von religiösem zu diesseitigem Denken einen Erkenntnisfortschritt bedeute. Die Rekonstruktion erfolgt in einem Dreischritt, der von Descartes’ Fundierungsgedanken über die postgalileische Naturwissenschaft bis zu der grotianischen Vorstellung moralischer Ordnung führt. Im Zuge dieser Rekonstruktion entfaltet Taylor das Argument, dass die an dem modernen Vernunftbegriff orientierte Unterscheidung zwischen unbezweifelbaren Aussagen einerseits und zweifelhaften Spekulationen andererseits zwar im Bereich der Naturwissenschaften relevant, die Annahme ihrer Übertragbarkeit auf moralisch-politische Fragen allerdings fehlgeleitet sei.

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Thomas Gutmann begründet in seinem Beitrag »Religion und Normative Moderne«, warum eine angemessene Theorie der Moderne deren normative Dimension erfassen müsse. Im Zentrum einer Analyse, die dem Verhältnis von Moderne und Normativität – kurz: der Normativen Moderne – gelte, müsse das Rechtssystem stehen. Er arbeitet die Prinzipien eines egalitären normativen Individualismus als den Kern der normativen Dynamik der (zunächst westlichen) Moderne heraus und zeigt sodann, dass sich diese Dynamik als gerichtete und die Normative Moderne insgesamt als historischer Lernprozess verstehen lassen. Ausgehend von dem Befund, dass ›normative Modernisierung‹ zugleich ein Prozess der Säkularisierung der Begründung von Normen sei, skizziert er den Standort der Religion unter Bedingungen des weltanschaulich neutralen, aber Religionsfreiheit als Menschenrecht garantierenden Rechtsstaats. Gutmann geht sodann der Frage nach, wie sich die so verstandene Normative Moderne zu den Moderne-Konzeptionen in den Sozialwissenschaften in ein Verhältnis setzen lässt und behandelt die sich hier stellenden methodischen Probleme, die der Differenz von Deskription und Präskription geschuldet sind. Ulrich Willems rekonstruiert und diskutiert das Verhältnis von Religion und Moderne bei Jürgen Habermas unter besonderer Berücksichtigung von dessen neueren Schriften. Dabei geht Willems zunächst auf Habermas’ Beiträge zur aktuellen Debatte über die Säkularisierungsthese sowie auf seine Überlegungen zum Verhältnis des nachmetaphysischen Denkens zur Religion ein. Die Betrachtung dieser beiden Aspekte führt Willems zu der Feststellung, dass Habermas die Frage der Ursachen der auch von ihm konstatierten Vitalität der Religion in der Moderne irritierenderweise ganz offen lässt, wo er doch hinsichtlich einer möglichen Erklärung auf diejenigen Elemente zurückgreifen könnte, die die Religion aus seiner eigenen Sicht für »postsäkulare« Gesellschaften interessant machen, wie ›moralische Intuitionen‹, ›kognitive Gehalte‹ oder die ›Kreativität religiöser Welterschließung‹. Willems’ Hauptaugenmerk aber liegt auf einem dritten Themenfeld: Habermas’ Vorstellungen hinsichtlich der Rolle religiöser Argumente in der Öffentlichkeit demokratischer Gesellschaften. Diesbezüglich argumentiert er, dass Habermas’ Versuch, zwischen den Positionen Audis und Rawls’ auf der einen und der Position ihrer Kritiker auf der anderen Seite zu vermitteln, insofern scheitert, als sich seine eigene Position »bei näherer Betrachtung nur scheinbar als Alternative, in gewisser Hinsicht sogar als erhebliche Verschärfung der restriktiven Position« erweist.

Sozialtheorie Ullrich Bauer, Uwe H. Bittlingmayer, Carsten Keller, Franz Schultheis (Hg.) Bourdieu und die Frankfurter Schule Kritische Gesellschaftstheorie im Zeitalter des Neoliberalismus Juni 2013, ca. 350 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1717-7

Wolfgang Bonss, Oliver Dimbath, Andrea Maurer, Ludwig Nieder, Helga Pelizäus-Hoffmeister, Michael Schmid Handlungstheorie Eine Einführung Juni 2013, ca. 280 Seiten, kart., ca. 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1708-5

Silke Helfrich, Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.) Commons Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat 2012, 528 Seiten, Hardcover, 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2036-8

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Sozialtheorie Daniel Innerarity Demokratie des Wissens Plädoyer für eine lernfähige Gesellschaft Juni 2013, ca. 280 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2291-1

Nadine Marquardt, Verena Schreiber (Hg.) Ortsregister Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart 2012, 320 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1968-3

Rudolf Stichweh Inklusion und Exklusion Studien zur Gesellschaftstheorie (2., erweiterte Auflage) Juli 2013, ca. 250 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-2294-2

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