Erzählen vom Heiligen: Narrative Inszenierungsformen von Heiligkeit im 'Passional' 9783110408591, 9783110408577

The study examines the earliest – and with over 100,000 verses, the most extensive – vernacular legendary concerning its

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Erzählen vom Heiligen: Narrative Inszenierungsformen von Heiligkeit im 'Passional'
 9783110408591, 9783110408577

Table of contents :
1_Widmung
2_Vorwort
3_Inhalt
4_Chapter_1
5_Chapter_2
6_Chapter_3
7_Chapter_4
8_Chapter_5
9_Chapter_6
10_Chapter_7
11_Chapter_8
12_Chapter_9
13_Chapter_10
14_Literaturverzeichnis

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Andreas Hammer Erzählen vom Heiligen

Literatur | Theorie | Geschichte

Beiträge zu einer kulturwissenschaftlichen Mediävistik Herausgegeben von Udo Friedrich, Bruno Quast und Monika Schausten

Band 10

Andreas Hammer

Erzählen vom Heiligen Narrative Inszenierungsformen von Heiligkeit im Passional

ISBN 978-3-11-040857-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-040859-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-040868-3 ISSN 2363-7978 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Das Jahresbild im Fuldaer Sakramentar. Göttingen, Staats- und Universitäts­ bibliothek, 2° Cod. Ms. theol. 231, fol. 250v. Mit freundl. Genehmigung der SUB Göttingen Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

| Für Micha, Tuuli und Talvi

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde 2012 von der Philosophischen Fakultät der GeorgAugust-Universität Göttingen als Habilitationsschrift angenommen. Für die Drucklegung wurde sie leicht gekürzt und überarbeitet. Ohne die Hilfe zahlreicher Menschen wäre dieses Werk niemals entstanden. Mein erster Dank gilt Udo Friedrich, der mir nicht nur die nötigen Freiräume gewährt, sondern meine Arbeit in allen Phasen mit großem Interesse begleitet hat, und von dem ich nicht nur wissenschaftlich viel lernen durfte. Seine vielfachen Anregungen, seine Ermutigungen wie auch seine fundierte Kritik haben diese Studie enorm bereichert. Weiterhin danke ich herzlich Jan-Dirk Müller und Peter Strohschneider, in deren Projekt „Helden und Heilige“ diese Arbeit und meine Beschäftigung mit der mittelalterlichen Hagiographie ihren Ausgangspunkt genommen hat; der DFG sei für die Förderung dieses Projekts im Rahmen des Schwerpunktprogramms „Integration und Desintegration der Kulturen im mittelalterlichen Europa“ gedankt. Hartmut Bleumer, Peter Gemeinhardt, Jan-Dirk Müller und Stephan Müller danke ich für ihre Bereitschaft, Gutachten zu übernehmen und für manch kritische und produktive Diskussion während der Entstehung dieser Arbeit. Die wertvollen Gespräche mit Freunden und Kollegen haben mir immer wieder wegweisende Anregungen und Hinweise gegeben, von denen ich sehr profitiert habe. Besonders danken möchte ich Kathrin Bleuler, Elke Koch, Stephanie Seidl und Christiane Witthöft, die immer wieder einzelne Kapitel genau gelesen, korrigiert und mit mir diskutiert haben. Martin J. Schubert hat mir dankenswerterweise die Neuausgabe der ersten beiden Passionalbücher bereits sehr frühzeitig zur Verfügung gestellt, Susanne Kögler half bei der Einrichtung und Endkorrektur des Manuskripts; dies hat mir manchen Arbeitsgang erleichtert. Den Herausgebern der Reihe „Literatur – Theorie – Geschichte“, Monika Schausten, Bruno Quast und Udo Friedrich, sei für die Aufnahme des Buches in ihre Reihe herzlich gedankt. Der letzte, aber tiefste Dank gilt schließlich meiner Familie, ohne die all dies nicht möglich gewesen wäre: Meinen Eltern, die jederzeit und in jeder Lage für mich da sind und waren, meinen Schwiegereltern, die mehr als einmal Retter in der Not gewesen sind, und meinen Geschwistern; vor allem und am meisten aber meiner Frau Michaela und meinen Töchtern Veronika und Franziska: Sie haben mir oft genug gezeigt, wie viel wichtigere Dinge es noch gibt und mich vom Eremitentum des Schreibens in die wunderbare Wirklichkeit ihres Lebens zurückgeholt. Für ihre grenzenlose Geduld, wenn ich mal wieder keine Zeit hatte, und für ihre vorbehaltlose Unterstützung bin ich zutiefst dankbar. Ihnen soll darum dieses Buch gewidmet sein.

Inhalt 1

Einleitung: Heiligkeit und Erzählung | 1

2 2.1 2.1.1

Zum Passional als Textgrundlage | 33 Das Passional im Kontext mittelalterlicher Hagiographie | 33 Die Legenda aurea: Formgebend für spätmittelalterliches Legendenerzählen | 34 Das Passional als erstes deutschsprachiges Legendar | 37 Forschungsgeschichtlicher Überblick | 49 Die spezifischen Erzählverfahren des Passionals | 51 Aufbau und Gesamtkonzeption | 60

2.1.2 2.1.3 2.2 2.3 3 3.1 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.5 3.2.6 3.2.7 3.2.8 3.2.9

4 4.1 4.2 4.2.1 4.2.2 4.3 4.4 4.5

Exemplarische Heiligkeit: Jesus und Maria im I. Buch des Passionals | 69 Inhaltsübersicht, Quellen und Bearbeitungstendenzen | 69 Inszenierungsformen von Heiligkeit im I. Buch: Jesus und Maria als narrative Vorbilder für die Heiligen | 93 Finale Handlungsstrukturen und die Providenz des göttlichen Heilsplans | 94 Die Erfüllung des Heilsplans und das Christusbild in der Kompilation der Passionsgeschichte | 100 Unterbrechung der Handlung: Meditative Einschübe der compassio | 107 Symmetrien – Oppositionen | 115 Auflösung von Differenzen | 121 Heiligkeit als genealogisches Prinzip | 126 Jesus – Christus: Namensformen, Attribute und Semantisierungen | 131 Lyrik, Liturgie und Performanz | 136 Zusammenfassung: Die poetische Konzeption von Heiligkeit im ersten Buch | 146 Heiligkeit als imitatio Christi: Das „Buch der Boten“ | 153 Syntagma im Paradigma: Andreas | 158 Der Apostel Petrus: imitatio in miracula und figura | 167 Exkurs: Die Differenz von Wunder und Magie | 167 Petrus: Der Heilige und der Magier | 180 Der Apostel Johannes: Nachfolger Jesu und Mariae | 192 Die heilige Sünderin: Magdalenas Wandel zur Heiligen | 204 Fazit | 215

X | Inhalt

5 5.1 5.1.1 5.1.2 5.2 5.2.1 5.2.2 5.3 5.4 6

Basisoppositionen und Differenzsetzungen | 221 Inklusion – Exklusion | 223 Die heilige Christina: Eintritt in die Gemeinschaft der Heiligen als Austritt aus Familie und Gesellschaft | 230 Aegidius: Weltabkehr und Annäherung an die Heiligkeit | 236 Stigma und Charisma | 242 Umschlagsformen und das Konzept der Selbststigmatisierung | 242 Franziskus: Exemplarisches Modell des Selbststigmatisierers | 247 Extremformen der Stigmatisierung: Theodora und das Umschlagen von Schuld in Gnade | 257 Fazit | 265

6.2.4 6.3

Nachfolge bis in den Tod: Martyrium, Körperkonzeption und imitatio Christi | 271 Das Martyrium als vollkommene Form der imitatio | 271 Die Verwirklichung der imitatio Christi in den Märtyrerlegenden | 276 Das Martyrium als Zeichensystem: Körperkonzepte der Märtyrerlegende | 279 Christus nachsterben: Die poetische Konzeption von Tod und Martyrium in den Legenden des dritten Buches | 287 Signifikant oder Signifikat? Die Körperschrift des Martyriums in der Ignatiuslegende | 288 Geschlechterdifferenz und heilige memoria: Agatha und Agnes | 297 Vom Ritter zum Heiligen: Christusnachfolge, Stellvertretung und soziale Exklusion im Martyrium des Adrian | 308 Nachfolge ohne Märtyrertod: Martha | 316 Fazit | 328

7 7.1 7.2 7.3

Gegentypen: Unheilige und Antilegenden | 333 Pilatus | 336 Judas | 344 Die komplementäre Ordnung der Antilegenden | 353

8 8.1 8.2 8.2.1 8.2.2 8.2.3

Erzählstrategien und Erzählmuster | 359 Umschlagsmomente und Motivationsstrukturen | 361 Außerhagiographische Erzählmuster | 368 Der heilige Georg als Drachentöter | 370 Ursula und das Brautwerbungsschema | 375 Die pseudoklementinischen Recognitiones und der hellenistische Roman | 379 Fazit: Legendarische Narratologie | 387

6.1 6.1.1 6.1.2 6.2 6.2.1 6.2.2 6.2.3

8.3

Inhalt | XI

9.2.3 9.2.4 9.3

Legenden im Vergleich: Ein Blick über das Passional hinaus | 391 Christophorus: Märtyrer – Christusträger | 392 Silvester: Papst und Vorkämpfer des Christentums | 408 Silvester und Konstantin – Papst und Kaiser: Funktionalisierungen der Protagonisten | 413 Das Stierwunder: Triumphaler Höhepunkt oder Bestätigung des Christentums | 417 Der Drachenbann als Wunder und als Descensus ad infernos | 422 Zusammenfassung | 427 Ein kurzer Ausblick auf die Elisabethlegende | 431

10

Schlussbemerkung: Erzählen vom Heiligen | 441

9 9.1 9.2 9.2.1 9.2.2

Literaturverzeichnis | 453

1 Einleitung: Heiligkeit und Erzählung Als im Jahre 993 der Augsburger Bischof Ulrich nur zwei Jahrzehnte nach seinem Tod durch das päpstliche Konzil heiliggesprochen wurde, setzte dies einen im Laufe der Jahrhunderte immer ausgefeilter werdenden Verfahrensweg in Gang, der schließlich die Kanonisation nicht nur in die alleinigen Hände des Papstes legte, sondern auch die Voraussetzungen regelte, die für eine Heiligsprechung überhaupt gegeben sind. Dabei fällt jedoch auf, dass es vor allem die Verfahrensfragen sind, die im Laufe des Mittelalters immer genauer festgelegt werden, während die Kriterien, welche die Heiligkeit eines Menschen bestätigen, keine obligatorischen Regelungen im Sinne eines ‚Kataloges‘ erfahren, sondern vielmehr den einzelnen Kanonisationsprozessen zur Prüfung überlassen werden. Doch bereits im als solches noch nicht festgelegten Verfahren zur Kanonisation Ulrichs von Augsburg ist ein wesentlicher Punkt bemerkenswert: Gleichzeitig mit der Vita, die den tugendhaften und heiligmäßigen Lebenswandel des Bischofs darlegen soll, wird ein Bericht über die miracula vorgelegt, der die Wunder, die sich nach Ulrichs Tod vornehmlich an seinem Grab ereignet haben und dem Wirken des Heiligen zugeschrieben werden, schildert.1 Damit stellen sich zwei Kriterien als unabdingbar für eine Heiligsprechung heraus: Ein Mensch gilt erstens als heilig, wenn er einen frommen, tugendhaften und vorbildlichen Lebenswandel geführt hat, und zweitens, wenn nach seinem Tod mehrere durch ihn gewirkte Wunder nachgewiesen werden können (die späteren Verfahren fordern mindestens zwei). Diese ‚Mindestanforderungen‘ müssen in immer komplizierter werdenden Prozessabläufen durch Zeugen nachgewiesen, überprüft und eindeutig festgestellt werden, erst dann kann das für die Heiligsprechung beauftragte Kollegium dem Papst als obersten Vertreter der Kirche eine entsprechende Empfehlung unterbreiten. Dieser nimmt dann die formelle Heiligsprechung der betreffenden Person vor und stellt ihre Verehrungswürdigkeit per Dekret fest bzw. ruft zu deren Verehrung auf. Die im Laufe des Mittelalters steigende Komplexität der Verfahren resultiert nicht zuletzt aus dem Bestreben heraus, die Verehrung unwürdiger, gewissermaßen ‚falscher‘ Heiliger zu unterbinden, weswegen die Kriterien zur Feststellung der Verehrungswürdigkeit einer desto genaueren Überprüfung unterzogen werden mussten.2 Weil aber posthume Wunder im Nachhinein und von außen || 1 Die Entwicklung der Kanonisationsverfahren skizziert Renate KLAUSER, Zur Entwicklung des Heiligsprechungsverfahrens bis zum 13. Jahrhundert, in: Zeitschr. der Savigny-Gesellschaft für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung 71 (1954), S. 85–101. Vgl. bes. zu den diskursgeschichtlichen Hintergründen Marcus SIEGER, Die Heiligsprechung. Geschichte und heutige Rechtslage, Würzburg 1995. Zur Ulrichsvita vgl. die Ausgabe: Gerhard von Augsburg, Vita Sancti Uodalrici. Die älteste Lebensbeschreibung des heiligen Ulrich. Einleitung, kritische Edition und Übersetzung besorgt von Walter BERSCHIN u. Angelika HÄSE, Heidelberg 1993. 2 Vgl. dazu im Einzelnen Thomas WETZSTEIN, Heilige vor Gericht. Das Kanonisationsverfahren im Spätmittelalter, Köln u.a. 2004, hier bes. S. 203ff.

2 | Einleitung: Heiligkeit und Erzählung leichter zu beurteilen und durch Zeugen zu belegen sind als ein tugendhafter Lebenswandel der Kandidaten, rücken die miracula der Heiligen immer mehr in den Fokus, so dass im späteren Mittelalter nicht mehr die gläubige Verehrung, sondern die genaue Prüfung nach festgelegten Verfahren im Mittelpunkt steht.3 Darin offenbart sich ein grundsätzliches Problem: Sich dem Heiligen anzunähern ist nur retrospektiv möglich, die Heiligkeit einer Persönlichkeit kann erst nach ihrem Tod festgestellt werden, wie nicht zuletzt die Notwendigkeit postmortaler Wunder zeigt: Stets handelt es sich um die ‚Beweise‘ eines Kanonisationsverfahrens, das erst rückblickend Persönlichkeiten betrachtet, deren Heiligkeit zwar schon vorhanden, jedoch erst durch den Kanonisationsprozess festgestellt werden kann. Zweck dieser Verfahren war, „Zweifel an der heroischen Ausübung der christlichen Tugenden sowie an den berichteten Wundern aus[zu]räumen, was zu einer paradoxen Situation führte: Nur wer heilig war, hatte hiernach die Chance, ein Heiliger oder eine Heilige zu werden; und nur wer noch keine Verehrung genoss, konnte zum Gegenstand eines offiziell approbierten Kultes werden.“4 So sorgfältig also die Prüfungen der Kanonisationsprozesse auch waren, es zeigt sich hierin dennoch ein Paradox, das gleichermaßen für einen unabdingbaren Bestandteil solcher Verfahren gilt, nämlich für die Vita eines Heiligen, dessen Lebensbeschreibung im Heiligsprechungsverfahren vorgelegt und einer eingehenden Prüfung unterzogen werden musste. Jede Prozessform aber enthält narrative Elemente, und eine Lebensbeschreibung ist notwendigerweise narrativ. Narration ist prozesshaft, steht jedoch zugleich in Distanz zu ihrem Erzählgegenstand, auf historischer, auf kommunikativer Ebene usw. Heiligenviten sind in diesem Sinne Erzählungen, die, gleichermaßen rückblickend, die Heiligkeit ihrer Protagonisten narrativ darstellen wollen; Erzählungen von Leben und Wundertaten der Heiligen werden im weitesten Sinne unter dem Begriff der Legende subsumiert. Legenden berichten also von Personen, die, allgemein gefasst, zwischen Immanenz und Transzendenz vermitteln, deren Distanz sie zwar nicht aufheben, aber zumindest überbrücken können. Die Teilhabe an der Transzendenz, die Auserwähltheit, ihren Einbruch in die Welt zu vermitteln, kennzeichnet die Protagonisten der Legende als heilig. Heiligkeit ist ihnen dabei stets von Beginn an eingeschrieben und kann sich doch erst nach ihrem Tod erweisen. Während Legenden, zumal in der Form einer ein ganzes Leben überblickenden Heiligenvita, ein prozessuales Fortschreiten darstellen, ist Heiligkeit selbst gnadenhafte Erwählung und damit gerade kein Vorgang, gerade nichts, was als Werden, sondern nur als Sein erzählt werden kann. Legenden oszil|| 3 Vgl. SIEGER, Heiligsprechung, der für das 13. Jh. konstatiert: „Die Zusammengehörigkeit von Heiligkeit des Lebens und Wundern als den zwei wesentlichen Voraussetzungen für eine Heiligsprechung ist nun deutlicher als bisher, wobei dem Moment der Wunder immer noch ein größeres Gewicht zukam als der Heiligkeit der Lebensführung“ (S. 63). 4 Peter GEMEINHARDT, Die Heiligen. Von den frühchristlichen Märtyrern bis zur Gegenwart, München 2010, S. 85 (Hervorhebungen dort).

Einleitung: Heiligkeit und Erzählung | 3

lieren um den paradoxen Status des ‚noch nicht und zugleich schon immer heilig Sein‘ ihrer Protagonisten.

Methodische Vorüberlegungen Betrachtet man Heiligkeit als Einbruch der Transzendenz in die Immanenz, so liegt darin wie in allem Transzendenten gerade kein Vorgang. Transzendenz ist grundsätzlich nicht prozesshaft, während die Erzählung umgekehrt gerade eine prozessartige, zeitlich fortschreitende Ereignisfolge konstituiert. Peter Strohschneider fasst daher im Rückgriff auf Niklas Luhmann Heiligkeit als Distanzkategorie auf und zeigt darin den paradoxen Status einer Verfügbarmachung des Unverfügbaren: Heiligkeit liegt jenseits aller Ordnungen und außerhalb jeglicher Unterschiede; ein Erzählvorgang setzt dagegen gerade Differenzen, wodurch erst Handlung entsteht. Narration ist immer prozesshaft, sie läuft von einem Anfang auf ein Ende zu – Kategorien, die für Heiligkeit gerade nicht gelten. Die narrative Vergegenwärtigung ‚des‘ Heiligen steht damit in einem Spannungsfeld von Zeit und Zeitlosigkeit, Differenzierungen und Differenzlosigkeit.5 So richtungsweisend Strohschneiders Darlegungen sind, so befassen sie sich doch in erster Linie mit den Problemen, die das Erzählen von Heiligkeit und Heiligen grundsätzlich mit sich bringen; über deren Darstellung und Inszenierung innerhalb dieser Geschichten ist damit hingegen noch wenig gesagt. Daher gilt es, den Blick vom Erzählen verstärkt wieder auf die Erzählung zu richten. Hinzu kommt, dass die systemtheoretischen Operationen Luhmanns, auf die sich Strohschneider bezieht, eine Theoriebasis eröffnen, mithilfe derer das ‚System‘ Religion durch eine Beobachtung ihrer Selbstbeobachtung (eine Beobachtung zweiter Ordnung) beschrieben wird.6 Für den externen Beobachter Luhmann ist damit auch klar: Jede Beobachtung enthält einen ‚unmarked space‘, und die „damit alles Erfaßbare begleitende Transzendenz verschiebt sich bei jedem Versuch, die Grenze mit neuen Unterscheidungen und Bezeichnungen zu überschreiten. Sie ist immer präsent als

|| 5 Vgl. zu diesen narrativen Operationen der Legende aus systemtheoretischer Sicht Peter STROHSCHNEIDER, Inzest-Heiligkeit. Krise und Aufhebung der Unterschiede in Hartmanns „Gregorius“, in: Christoph HUBER (Hg.), Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters, Tübingen 2000, S. 105–133. Vgl. ferner Peter STROHSCHNEIDER, Textheiligung. Geltungsstrategien legendarischen Erzählens im Mittelalter am Beispiel von Konrads von Würzburg ‚Alexius‘, in: Gert MELVILLE u. Hans VORLÄNDER (Hg.), Geltungsgeschichten. Über die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen, Köln u.a. 2002, S. 109–147, hier bes. S. 117f. u. S. 140 und zuletzt ders., Höfische Textgeschichten. Über Selbstentwürfe vormoderner Literatur, Heidelberg 2014, S. 170ff. und S. 193ff. 6 Vgl. Niklas LUHMANN, Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2000, S. 15.

4 | Einleitung: Heiligkeit und Erzählung Gegenseite zu allem Bestimmten, ohne je erreichbar zu sein.“7 Genau dies jedoch führen die mittelalterlichen Legendenerzählungen vor: Wer jene Gegenseite eben doch erreichen kann, das sind die Heiligen. In der in den Legenden realisierten Textwelt zeigt sich die Tendenz, Heiligkeit entgegen der systemtheoretischen Überlegungen Strohschneiders in vielerlei Hinsicht dennoch verfügbar zu machen – die These einer prinzipiellen Unverfügbarkeit ist zumindest auf der Handlungsebene dieser Erzählungen zu hinterfragen. Dort nämlich kann der oder die Heilige immer wieder aufs Neue und scheinbar nach Belieben über die Transzendenz, über die Wirkmächtigkeit Gottes verfügen, seine virtus ermächtigt ihn sozusagen schon vorab, sich diese verfügbar zu machen, z.T. sogar gleich magischer Praktiken sich ihrer fast schon beliebig zu bemächtigen. Und umgekehrt führen die posthumen Mirakelerzählungen immer wieder vor, wie sich die Gläubigen der in den Reliquien eines Heiligen regelrecht ‚gespeicherten‘ virtus immer aufs Neue versichern und bemächtigen können. Es ist daher zu vermuten, dass dem Mittelalter ein anderer Umgang mit Heiligkeit zugesprochen werden muss, als dies in einer modernen, säkularen Welt der Fall ist, von der aus Luhmann seinen Entwurf erarbeitet hat. Bezeichnend ist daher seine Formulierung, „daß Religion als letzten Abschlussgedanken nur ein Paradox anbieten kann und als darauf bezogene Operationsweise nur das, was man gemeinhin ‚Glauben‘ nennt“.8 Dem Systemtheoretiker in einer säkularen Welt kann dies kein adäquater Zugriff sein, die mittelalterliche Kultur hingegen ist zutiefst von derartigen Operationsformen geprägt, ja, die Glaubensvorstellungen der christlichen Religion erweisen sich als die einzig möglichen Zugriffsweisen für das Verständnis von Welt.9 Festzuhalten bleiben allerdings die von Strohschneider skizzierten und literaturwissenschaftlich fruchtbar gemachten Schwierigkeiten, vom Heiligen zu erzählen, also den nicht-prozesshaften Gnadenakt der Auserwähltheit in einen Erzählvorgang zu überführen. Das hat Konsequenzen für alle Texte, die sich mit Heiligkeit befassen – gerade für solche, die anders als eine in Kanonisationsprozessen vorgelegte Vita keine eindeutige Zweckgebundenheit verfolgen und die noch weniger an einen historisch-chronologischen Verlauf einer umfassenden Lebensbeschreibung gebunden sind. Die unter dem Oberbegriff Hagiographie zusammengefassten Erzählungen stehen allesamt vor dem Problem, dass die Heiligkeit eines Menschen bereits

|| 7 Niklas LUHMANN, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1997, S. 232. Die Begriffe ‚unmarked space‘ und ‚re-entry‘, die für die differenzlogische Erfassung eines religiösen Systems wichtig sind, übernimmt LUHMANN von Spencer BROWN. 8 LUHMANN, Die Religion der Gesellschaft, S. 36. 9 Zwar sind die folgenden Überlegungen geprägt von Betrachtungsweisen innerhalb des Systems, die LUHMANN (ebd., S. 10ff.) deswegen auch kritisiert und was in der Diskussion stets mitbedacht werden muss, doch können nur dadurch die Voraussetzungen des mittelalterlichen (christlich geprägten) Denkens tatsächlich erfasst werden.

Einleitung: Heiligkeit und Erzählung | 5

von Beginn an unter dem Zeichen einer providentiellen Vorherbestimmtheit steht, welche sich jedoch erst mit seinem Tod, mit dem er in die communio sanctorum10 aufgenommen wird, letztgültig erweist und somit seine Vita retrospektiv als auf diesen Zielpunkt (z.B. das Erleiden des Martyriums) gerichtete Entwicklung erscheint: Der Heilige ist immer schon, was er erst sein wird. Die Nikolausvita beispielsweise stellt ihren Protagonisten von Geburt an unter das Signum der Heiligkeit und lässt ihn daher bereits als Säugling die Fastengebote einhalten. Die Legende der Maria Magdalena dagegen zeigt, wie sich die Protagonistin von ihrem zuvor so sündhaften Leben abwendet, die Gnade und Vergebung Jesu erhält und sich zur Heiligen wandelt. Märtyrerlegenden wiederum streben von Anfang an auf ein bestimmtes Handlungsziel zu, den Tod im Martyrium: entweder sofort und ohne Umschweife, oder aber die Erzählung stellt eine conversio ihres Protagonisten voran, welche dann ebenfalls im Martyrium mündet. Der Einbruch der Transzendenz in die Immanenz ist in jedem Fall gerade nicht als Entwicklung darstellbar, andererseits aber muss die narrative Präsentation einer Vita diese providentiell vorbestimmte, final ausgerichtete Aufnahme in die Gemeinschaft der Heiligen als prozesshafte Ereignisfolge darstellen, um sie mit einer zumindest oberflächlich an kausale Motivationen angelehnte Handlungslogik zu vereinbaren.11 Heiligkeit resultiert – und daran müssen sich Legendentexte immer wieder abarbeiten – dennoch gerade nicht aus der Summe von Wundern und Tugenden, sondern ist von Anfang an begründet. Eine solche Erzählung in Form einer Vita bzw. Legende unterscheidet sich fundamental von der Herangehensweise der Kanonisationsprozesse. Beide möchten die Heiligkeit eines Menschen fassbar machen, die Vita jedoch als narrative Lebensbeschreibung, der Prozess als retrospektive ‚Beweisaufnahme‘. Deren Aussage aber ist eschatologisch, nicht historisch: Das Heiligsprechungsverfahren stellt lediglich fest, dass der Kanonisierte am Ende seiner irdischen Existenz Aufnahme in die göttliche Herrlichkeit, in die Sphäre der Transzendenz erhalten hat. Die Verfahren bestätigen dabei zwar auch einen tugendhaften und vorbildlichen Lebenswandel, ohne aber || 10 Der Begriff einer ‚Gemeinschaft der Heiligen‘ umfasst eigentlich zweierlei: Zum einen jene Gruppe außergewöhnlicher und auserwählter Menschen, die aufgrund ihrer Tugenden und Verdienste nach ihrem Tod in einer besonderen Nähe zu Gott stehen und darum von den Menschen auch verehrt werden, also jene Heiligen, mit deren Erzählungen sich die folgende Studie befasst. Die Gemeinschaft der Heiligen erstreckt sich allerdings gerade im biblisch-theologischen Bereich daneben auf grundsätzlich alle Menschen, denn jedem Einzelnen kann prinzipiell die Teilhabe an der Heiligkeit Gottes möglich sein; vgl. zu dieser Spezifikation auch GEMEINHARDT, Die Heiligen, S. 14f. Mit der communio sanctorum bzw. der Gemeinschaft der Heiligen ist im Folgenden jedoch stets jene himmlische, transzendente Gemeinschaft der von Gott besonders Begnadeten gemeint, auch wenn klar ist, dass dies nur einen Teil des gesamten Bedeutungsspektrums umfasst. Vgl. dazu Arnold ANGENENDT, Der Heilige: Auf Erden – Im Himmel, in: Jürgen PETERSOHN (Hg.), Politik und Heiligenverehrung im Hochmittelalter, Sigmaringen 1994, S. 11–52, hier S. 18f. 11 Vgl. dazu nochmals die Ausführungen von STROHSCHNEIDER, Inzest-Heiligkeit.

6 | Einleitung: Heiligkeit und Erzählung das gesamte Leben und Wirken des Kanonisierten als heiligmäßig zu beurteilen.12 Legenden dagegen idealisieren, sie stellen das ganze Leben eines Menschen als heilig dar. In der Figur des Heiligen, so hat es bereits André Jolles in seinem grundsätzlichen Entwurf zu den ‚Einfachen Formen‘ formuliert, hat sich die „tätige Tugend […] vergegenständlicht“13. Die Legende ist daher zwar an einer Darstellung des Heiligenlebens als Geschehensverlauf gebunden, doch sie „muß für Hörer oder Leser genau das vertreten, was im Leben der Heilige repräsentiert, sie muß selbst ein imitabile sein.“14 Statt einen kontinuierlichen zeitlichen Verlauf aufzuzeigen, der von einem Anfang zu einem Ende strebt, ist die Legende allein an den Erzählmomenten interessiert, in denen sich die Heiligkeit des Protagonisten manifestiert, oder – um mit Jolles zu sprechen – sich das Tätigwerden der Tugenden erweist. Auf diese Weise entsteht jedoch gerade kein kontinuierlicher, kausaler Handlungsverlauf, sondern eine die gängigen Erzähllogiken unterlaufende, final ausgerichtete Aneinanderreihung von Wundern und Tugendberichten;15 die syntagmatische Ausrichtung wird paradigmatisch unterlaufen. Heiligkeit erweist sich somit als ein Gegenstand, von dem gerade nicht erzählt werden kann. Die Legende vergegenwärtigt zwar ‚das‘ Heilige in narrativer Gestalt, vermittelt es aber nur in symbolischer Verweisung. Sie versucht infolgedessen, das Unbeschreibbare zu beschreiben und muss daher narrative Anstrengungen unternehmen, um den (an sich nicht darstellbaren) Einbruch der Transzendenz in die Immanenz erzählerisch zu erfassen. Oder anders ausgedrückt: Die Legende erzählt „nicht nur vom Imitabile des Heiligen [...], sondern immer auch von dessen Inkommensurabilität.“16 Andere Bereiche und Vollzugsformen des religiösen Lebens wie Liturgie oder kultische Verehrung lassen hier eine größere Unmittelbarkeit zu. Die Fokussierung auf die sprachlich-narrativen Inszenierungsformen stellt dagegen in Rechnung, dass es sich bei Legenden, wie überhaupt beim Medium der Erzählung, um eine Vermittlungsinstanz handelt, wodurch die eben skizzierten Schwierigkeiten im Umgang mit dem Heiligen besonders deutlich hervortreten. Eine methodische Schwierigkeit besteht dabei darin, dass es „bisher nicht gelungen [ist], die Gestalt des H[eiligen] in einer befriedigenden Weise religionswiss[enschaftlich] zu definieren“17. Im Gegensatz zur modernen Religionswissenschaft, die eine Fülle von Herangehensweisen bietet, ohne freilich zu einem übergreifenden Er|| 12, Vgl. Wolfgang BEINERT, Wie wird man ein Heiliger und was ist man dann?, in: Stimmen der Zeit 220 (2002), S. 671–684, hier S. 682. 13 André JOLLES, Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz. Studienausgabe der 4. Aufl., Tübingen 1972 [zuerst Halle 1930], S. 31. 14 Ebd., S. 39. 15 Vgl. ebd., S. 39–41; vgl. auch STROHSCHNEIDER, Inzest-Heiligkeit, S. 105f. 16 Susanne KÖBELE, Die Illusion der einfachen Form. Über das ästhetische und religiöse Risiko der Legende, in: PBB 134 (2012), S. 365–404, hier S. 373. 17 Michael BERGUNDER, [Art.] Heilige/Heiligenverehrung, I. Religionsgeschichtlich, in: RGG 3, 2000, Sp. 1539f., hier Sp. 1539.

Einleitung: Heiligkeit und Erzählung | 7

gebnis zu gelangen, hat die mittelalterliche Theologie keine konkreten Überlegungen und Theorien entwickelt, um Heiligkeit zu erfassen und zu beschreiben. Thomas von Aquin etwa befasst sich mit dem Begriff der sanctitas direkt nur ein einziges Mal in der Summa theologica (II, q. 81), und hier auch nur im Verhältnis zur Frömmigkeit. Beides, Frömmigkeit wie Heiligkeit, ist für Thomas eine Tugend, Frömmigkeit leistet dabei jedoch nur den Gott geschuldeten Dienst, Heiligkeit dagegen umfasst alle Werke und Tugenden, die der Mensch auf Gott bezieht.18 Natürlich ist für den Scholastiker wie für die mittelalterliche Theologie insgesamt in erster Linie Gott als das Heilige schlechthin anzusehen. Da Gott selbst aber unergründbar ist, ist auch das Wesen des Heiligen nicht zu fassen. Zwar können die Menschen an Gottes Heiligkeit partizipieren, was nicht zuletzt mit bestimmten Tugenden und Werken verbunden ist, worin genau diese jedoch liegen, haben statt dessen im Einzelfall die Kanonisationsverfahren des Spätmittelalters genauer zu klären versucht. Die Heiligsprechungsverfahren stellen aber wie erwähnt nur rückblickend Phänomene fest, welche mit der Heiligkeit eines Menschen verbunden sind, über das Wesen von Heiligkeit selbst äußern sie sich nicht. Sie beschreiben also nicht den Einbruch des Heiligen in die Welt, sondern nur dessen Erscheinungsformen. Nicht zuletzt aus diesem Grund sind die Viten für die Kanonisationsprozesse so wichtig, da sie die dort festgestellten Phänomene in einen Lebenskontext verorten; sie erklären zwar ebensowenig die Partizipation des oder der Heiligen an der Heiligkeit Gottes, bewältigen aber den damit verbundenen Einbruch der Transzendenz narrativ. Erst in der Neuzeit ist man darangegangen, Heiligkeit systematisch zu erfassen. Als einer der wohl wirkmächtigsten theologischen Vorstöße der Moderne können die Überlegungen Rudolf Ottos gelten, der das Heilige als religiöses Apriori beschreibt: Gott und das Heilige fallen aus allen Relationen zwischen den Dingen heraus. Das Heilige ist rational nicht vollständig zu erfassen; es wird daher phänomenologisch beschrieben und erscheint auf diese Weise als zusammengesetzte Kategorie: Man kann zwar vom Göttlichen reden, ohne es selbst aber (adäquat) zu (be-) nennen. Das Irrationale ist unbegreiflich, es ist nur erfahrbar. Die rationalen wie irrationalen Momente der Kategorie des Heiligen sind gleichermaßen nicht analytisch zu fassen, sondern nur in der Erfahrung zu begreifen.19 Diesem Irrationalen versucht Otto sich im Begriff des ‚Numinosen‘ zu nähern, den er sowohl im Rahmen „einer eigentümlichen numinosen Deutungs- und Bewertungskategorie“ als auch „einer numinosen Gemütsgestimmtheit“20 sehen will. Das Numinose als das ‚Ganz Andere‘ zeichnet sich durch große Ambiguität aus und wird gefasst mit Begriffen wie Tremendum, Majestas, Fascinosum etc., wobei das Wesen des Heiligen nicht entweder das eine || 18 Vgl. Maximilian FORSCHNER, Thomas von Aquin, München 2006, S. 151–155. 19 Vgl. Rudolf OTTO, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München 1963 [zuerst Breslau 1918], S. 163, der von einer „Erkenntnis a priori des Göttlichen“ (ebd.) spricht. 20 Ebd., S. 7.

8 | Einleitung: Heiligkeit und Erzählung oder das andere ausmacht, sondern alles zusammen.21 In die Kritik geraten sind Ottos Beschreibungsmodelle jedoch nicht zuletzt, weil sie letztlich auf subjektivem Empfinden beruhen, sie geben daher keine wissenschaftlichen Kategorien wieder, sondern beschreiben lediglich Analogien des religiösen Erlebens.22 Bei allen methodischen Einschränkungen bleibt Ottos Einsicht, das Heilige als ambige, zusammengesetzte Kategorie zu begreifen, zentral: Heiligkeit ist nicht entweder das eine oder das andere, wie das Numinose eben nicht Mysterium Tremendum oder Mysterium Fascinans ist, sondern ist es stets zugleich.23 Dagegen betont seitens der Philosophie Ernst Cassirer, auf Ottos Begrifflichkeiten aufbauend, die symbolische Repräsentation des Heiligen zwischen Erfahrung und Erkenntnis innerhalb der Sprache der Mythen. Er begreift den Charakter des Heiligen für das mythisch-religiöse Bewusstsein (tatsächlich unterscheidet Cassirer hier nicht immer trennscharf zwischen mythisch und religiös) als ein Ineinander, als „Offenbarung, die zugleich Enthüllung und Verhüllung ist“24. Statt einer distinkten Trennung der Welt in Diesseits und Jenseits, in Immanenz und Transzendenz, vollzieht Heiligkeit eher eine qualitative Differenzierung: Aus der Koinzidenz25 der Objekte und Bewusstseinsinhalte ist es der Mythos, der Unterschiede einführt. Heiligkeit kann für das mythische Denken insofern prinzipiell auf alles und jeden bezogen sein; letztlich beruht somit alles auf dem Grundgegensatz zwischen heilig und profan.26. Auch Cassirer unterstreicht den Doppelcharakter des Heiligen: Indem das Heilige sich vom Profanen abhebt, sich gleichzeitig aber erst dadurch (durch die Dif|| 21 Zum Begriff des ‚Ganz Anderen‘, das für OTTO quasi gleichbedeutend mit dem Heiligen ist, vgl. ebd., S. 28ff. 22 Vgl. zur Kritik an OTTOS Theorie Carsten COLPE, Über das Heilige, Frankfurt a. M. 1990, S. 40ff. Indem das Heilige als das ‚Ganz Andere‘ beschrieben wird, als das Irrationale, Unbegreifliche, ist es gerade nicht differenzlogisch zu erfassen, denn dies würde die Möglichkeit einer rationalisierbaren Unterscheidung voraussetzen. 23 Vgl. ebd., S. 51. Dass das Heilige nur als zusammengesetzte Kategorie zu fassen ist, formuliert aus literaturwissenschaftlicher Sicht auch Hans Ulrich GUMBRECHT, Faszinationstyp Hagiographie. Ein historisches Experiment zur Gattungstheorie, in: Christoph CORMEAU (Hg.), Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Hugo Kuhn zum Gedenken, Stuttgart 1979, S. 37–84. 24 Ernst CASSIRER, Philosophie der Symbolischen Formen, Bd. 2: Das mythische Denken, Darmstadt 7 1977, S. 95. 25 CASSIRER spricht an anderer Stelle von einer ‚Einerleiheit‘ der Dinge und prägt in diesem Zusammenhang als eine der bedeutendsten Eigenarten des mythischen Denkens das Merkmal der Konkreszenz, vgl. ebd., S. 82. 26 In diesem Zusammenhang charakterisiert der Begriff des templum den abgegrenzten Bereich des Heiligen. Eben diese Unterscheidung von heilig und profan bzw. von ‚mana‘ und ‚tabu‘ bildet die Grundlage zur Beschreibung des Heiligen für den Soziologen Emile DURKHEIM, vgl. Emile DURKHEIM, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt a. M. 1994. Heiligkeit verweist nach dieser Auffassung nicht auf eine göttliche Offenbarung, es ist also kein theologischer Begriff, „sondern eine Kategorie des menschlichen Sozialverhaltens“ (William E. PADEN, [Art.] Heilig und Profan I: Religionswissenschaftlich, in: RGG 3, 2000, Sp. 1525–30, hier Sp. 1529). Aus der Sicht des Soziologen DURKHEIM ist es immer die Gesellschaft, die heilige Dinge schafft.

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ferenz) bestimmt, durchdringt das Heilige das Profane andauernd und wirkt gerade darum formgebend.27 Die hier zur Geltung gebrachten Bedingungen des mythischen Denkens haben aber auch Auswirkungen auf die Erzählung; sie sind für den christlich-jüdischen Erzählkosmos nicht zuletzt bestimmt durch eine spezifische Zeitauffassung, in der Mythos und Geschichte miteinander verbunden sind. Hier ergeben sich Erzählstrukturen, die Clemens Lugowski in Anschluss an Cassirer als ‚mythisches Analogon‘ bezeichnet hat und die stark auf Providenz und Finalität, auf eine ‚Motivation von hinten‘ ausgerichtet sind.28 Bereits diese äußerst knappe Skizzierung verschiedener Deutungsansätze der Neuzeit zeigt, dass eine grundlegende Theorie über ‚das‘ Heilige weder möglich noch zielführend für eine literaturwissenschaftliche Herangehensweise ist, um den narrativen Umgang legendarischer Erzählungen mit Heiligkeit zu erfassen und zu beschreiben.29 Die Diskussionen um das Heilige zeigen jedoch die grundsätzlichen Schwierigkeiten, mit denen diese Texte sich auseinandersetzen, sowie die methodischen Probleme, die sich dabei ergeben. Aufbauend darauf können methodische Prämissen erarbeitet werden, die es erlauben, die in einem Textcorpus wie dem Passional versammelten Legenden zu analysieren. Zwei Grundannahmen sind dabei schon vorausgesetzt: Das religiöse Bezugssystem ist stets das abendländische Christentum, und die Form der Symbolisierung ist die der Literatur, d.h. es geht um narrative, nicht um kultische Repräsentationen des Heiligen – Formen, die im Kontext der Rezeption allerdings stets mitbedacht werden müssen.30 Entscheidend dabei ist, zunächst nicht auf der phänomenologischen Ebene anzusetzen,31 denn eine phä|| 27 Vgl. CASSIRER, Philosophie der symbolischen Formen, S. 99f. 28 Vgl. Clemens LUGOWSKI, Die Form der Individualität im Roman. Mit einer Einleitung von Heinz Schlaffer, Frankfurt a. M. 1976 [zuerst 1932]. LUGOWSKIS Thesen sind durchaus problematisch und resultieren insbesondere aus einer „Analogie von Mythos und mythosanalogem Erzählverfahren“, wie Heinrich DETERING, Zum Verhältnis von „Mythos“, „mythischem Analogon“ und „Providenz“ bei Clemens Lugowski, in: Matias MARTÍNEZ (Hg.), Formaler Mythos. Beiträge zu einer Theorie ästhetischer Formen, Paderborn u.a. 1996, S. 63–79, hier S. 67, in seiner kritischen Auseinandersetzung bemerkt, weshalb im Folgenden auch auf DETERINGS modifizierte Perspektive verwiesen sein soll. 29 Zur weiteren Diskussion vgl. grundsätzlich COLPE, Über das Heilige sowie ders., Die Diskussionen um das Heilige, Darmstadt 1977; zur literaturwissenschaftlichen Herangehensweise vgl. auch den Forschungsüberblick bei Gabriel H. DECUBLE, Die hagiographische Konvention. Zur Konstituierung der Heiligenlegende als literarische Gattung; unter besonderer Berücksichtigung der AlexiusLegende, Konstanz 2002, S. 9–32. 30 Vgl. zu diesem Kontext umfassend Arnold ANGENENDT, Heilige und Reliquien, München 1994. 31 Neben der phänomenologischen Argumentation Rudolf OTTOS wären hier vor allem die Überlegungen des Religionswissenschaftlers Mircea ELIADE zu nennen (vgl. etwa Mircea ELIADE, Das Heilige und das Profane, Frankfurt a. M. ²1985), der die religionssoziologischen Aspekte des Gegenstandes mit mythentheoretischen Modellen zu vereinigen sucht, indem er in jeder Schöpfung einen Einbruch des Heiligen in der Welt, eine Hierophanie, erkennen will, womit sich die Dialektik des Heiligen in der „Aporie zwischen ontischem Sein und bloßem Bezeichnetsein“ zeige und „die Ambiva-

10 | Einleitung: Heiligkeit und Erzählung nomenologische Analyse erlaubt nur, die Erscheinungsweisen des Heiligen auf der Handlungsebene zu beschreiben, während die narrativen Strukturen dieser Texte ebenso ausgeblendet bleiben wie die damit verbundenen strukturlogischen Implikationen bei der narrativen Darstellung und Inszenierung von Heiligkeit. Umgekehrt ergibt sich aber aus den differenztheoretischen Überlegungen, wie sie nicht zuletzt Peter Strohschneider stark gemacht hat, das bereits angesprochene Problem, dass hierbei nur die Ebene des Erzählens erfasst wird, kaum jedoch die des Erzählten. Die Beschreibung einzelner Heiligkeitsphänomene wiederum würde über die eingangs skizzierten Verfahrensweisen der Kanonisationsprozesse kaum hinauskommen, nicht jedoch die narrativen Bedingungen und Eigenarten formulieren, die sich dabei ergeben, Heiligkeit in einen Erzählvorgang zu fassen. Phänomenologie und Erzählanalyse müssen darum gekoppelt sein. Anzusetzen ist dabei sowohl auf der histoirewie auf der discours-Ebene der Texte, auf der Ebene der Textoberfläche wie auch auf der Tiefenstruktur der Erzählungen: Die oberflächlichen Phänomene von Transzendenz und Immanenz müssen eingeordnet werden in einen Funktionszusammenhang der mit der Figur des Heiligen verbundenen narrativen und erzählstrukturellen Bedingungen. Fasst man als heilig grundsätzlich „das Unverfügbare, das dem direkten Zugriff menschlicher Aktivität entzogen ist“32, auf und alles Transzendente gegenüber der Welt und den Menschen, d.h. der Immanenz, als absolut und radikal unterschieden, so zeigt sich, wie prekär es ist, objektive Kriterien für eine solche Unterscheidung zu bestimmen, weshalb zu vermuten ist, dass auch die Erzählung spezifische Operationsformen dafür benötigt. Da jedoch die Differenzlogik, mit der eine solche radikale Unterschiedenheit vor allem seitens der Systemtheorie postuliert worden ist, ebenfalls zumindest für die mittelalterliche Literatur zu problematisieren ist, bleibt vor allem der Doppelcharakter des Heiligen festzuhalten, die transgressive Eigenart des ‚Sowohl – als auch‘: Heiligkeit muss aufgefasst werden als Ambiguitätskategorie. Jenen Doppelcharakter des Heiligen, der geprägt ist von Ambivalenz, gilt es auf narrativer Basis zu begreifen, und zwar im Rahmen formaler Beschreibungskategorien, nicht, wie bei Otto, als subjektive Kategorien menschlichen Erfahrens.33 Aus narratologischer Sicht entsprächen Legenden unter diesen Voraussetzungen eher paradigmatischen Erzählformen, um jene Ambiguität des ‚Sowohl - als auch‘ auszuführen – im Gegensatz zum Syntagma mit seinen ‚entweder – oder‘-Alternativen.34

|| lenz in der Phänomenologie des Sich-Zeigens“ darlege – so die Einschätzung COLPES, Über das Heilige, S. 73. 32 Ansgar PAUS, [Art.] Heilig, das Heilige (I), in: LThk 4, 1995, Sp. 1267–68, hier 1267. 33 Das ‚Ganz Andere‘, wie OTTO es formuliert, ist keine hinreichende, objektive Kategorie, sondern umschreibt nur eben diese Absolutheit und Radikalität des Numinosen, die Transzendenz von Immanenz trennt. 34 Zum Erzählen im Paradigma am Beispiel der Nikolaus-Vita vgl. auch Andreas HAMMER, Ent-Zeitlichung und finales Erzählen in mittelalterlichen Legenden und Antilegenden, in: Udo FRIEDRICH et

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Die Legende als Erzählform Damit rücken die Protagonisten solcher Erzählungen in den Fokus: die Heiligen. Als ‚heilig‘ werden im allgemeinen Persönlichkeiten bezeichnet, die in besonderer Weise Anteil an der Sphäre der Transzendenz haben bzw. mit dieser in Kontakt stehen. Wiewohl diese sich in der Immanenz befinden, weltverhaftet sind, sind sie gleichermaßen auch mit der Transzendenz verbunden; sie sind mithin nur in dem Modus in der Immanenz, dass sie zugleich immanent und in gewissem Maße transzendent sind. ‚Der‘ Heilige ist daher mit besonderem Charisma ausgestattet, welches ihn zu einem „religiösen Ausnahmemenschen“35 macht. Heiligkeit kann ein Mensch jedoch nicht allein aus sich heraus erlangen, sondern einzig durch die Gnade Gottes. Pointiert fasst dies George Hunsinger zusammen: „Da sie sich auf der Gnadenwahl gründet, ist jede kreatürliche Heiligkeit eine Sache der Partizipation, der Entsprechung und des Zeugnisses. Kreatürliche Heiligkeit bedeutet die Partizipation an der Heiligkeit Gottes, vermittelt durch die Heiligkeit Christi. Sie entspricht somit Christus, ohne mit ihm identisch zu werden, indem sie bezeugt, daß seine Heiligkeit zugleich einmalig und dennoch mitteilbar ist.“36 Legenden operieren stets mit dem ambigen Spielraum, dass Christus Abbild des Menschen und Urbild Gottes zugleich ist, sie sind jedoch selten am Herausarbeiten dieser Ambiguität interessiert, sondern arbeiten vielmehr daran, diese Unterscheidung auch für die Figur des/der Heiligen zu nivellieren.37 Partizipation und Vermittlung; Entsprechung, aber keine Identität: Das sind die entscheidenden Elemente, die die Figur des Heiligen kennzeichnen. Heilige sind exemplarische Gestalten: Vorbildhaft ist ihre religiöse Vollkommenheit für die Menschen (und mithin für die Rezipienten ihrer Legenden), Vorbild für die Heiligen ist die Exemplarizität Christi, in dessen Nachfolge sie sich in imitatio (als Entsprechung, ohne identisch zu sein) sehen: In der Figur des Heiligen „sind geschichtlich wechselnde Möglichkeiten der Aneignung göttlicher Gnade in der imitatio Christi nachahmenswert verwirklicht“.38 Für die Menschen zumal des christlichen Mittelalters sind Heilige freilich mehr als nur Vorbild: Als Mittler zwischen Mensch und Gott kommt ihnen kultische Verehrung zu, sie sind über Gebet und Fürbitte erreichbar und können dadurch in die Gegenwart der Menschen eingreifen.39 || al. (Hg.), Anfang und Ende – Kausalität und Finalität. Formen narrativer Zeitmodellierung in der Vormoderne, Berlin 2013, S. 179–204, hier S. 188–190, sowie unten, Kap. 8.1. 35 ANGENENDT, Heilige und Reliquien, S. 10. 36 George HUNSINGER, [Art.] Heilig und Profan (V), in: RGG 3, 2000, Sp. 1534–37, hier Sp. 1536. 37 Das zeigt nicht zuletzt die Analyse der Andreaslegende innerhalb des zweiten Buchs des Passionals (Kap. 4.2.1), in der das Martyrium des Heiligen der Kreuzigung Christi aus dem ersten Buch angeglichen wird. 38 Konrad KUNZE, [Art.] Heilige, in: EM 6, 1990, Sp. 666–677, hier Sp. 666. 39 Vgl. Karl HAUSBERGER, [Art.] Heilige/Heiligenverehrung (III–V), in: TRE 14, 1985, S. 646–660, hier S. 653.

12 | Einleitung: Heiligkeit und Erzählung Die Hagiographie schließt daher nicht nur Texte wie die für die Heiligsprechungsverfahren wichtigen Viten ein, die – idealerweise als umfassende Lebensbeschreibung von der Geburt bis zum Tod und darüber hinaus – die Heiligkeit eines Menschen narrativ darstellbar machen. Es existieren vielmehr zahlreiche Erzählformen, in denen der Einbruch der Transzendenz in die Welt verhandelt wird und die dabei die Partizipation eines Menschen an der Heiligkeit Gottes darlegen. Dass diese Texte notwendigerweise stark idealisierend und zumeist strengen inhaltlichen wie formalen Konventionen unterworfen sind, ist immer wieder konstatiert und beschrieben worden.40 Derartige Idealisierungen und Konventionalisierungen, welche nicht zuletzt die oft stereotyp wirkende Gleichförmigkeit von Legendenerzählungen bewirken, stellen jedoch lediglich Oberflächenphänomene dar, die auf ihre erzählstrukturellen Konsequenzen befragt werden müssen. Bei aller Typisierung ist die Vielzahl der Erzählformen ebenso vielfältig wie indifferent.41 Da viele dieser Texte zudem auch von weiteren, nichthagiographischen Erzähltraditionen überlagert werden, ist an die Stelle von Gattungszugehörigkeiten der Begriff des hagiographischen Diskurses getreten, um in Rechnung zu stellen, „daß die Hagiographie in ihrer Gesamtheit keine literarische Gattung bildet“.42

|| 40 Vgl. insbesondere Theodor WOLPERS, Die englische Heiligenlegende des Mittelalters. Eine Formengeschichte des Legendenerzählens von der spätantiken lateinischen Tradition bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, Tübingen 1964, S. 28–32, der die Darbietungsform der Legende als „erzählerisches Andachtsbild“ (S. 30) umschreibt. Zuletzt hat Susanne KÖBELE, Illusion, an den Legenden Konrads von Würzburg, Hugos von Langenstein und Rudolphs von Ems eine ausgesprochene Ästhetisierung legendarischer Erzählformen aufgezeigt, die sich in ihren rhetorischen Finessen dann von ihrer ‚einfachen‘ Form, wie sie André Jolles beschreibt, immer mehr entfernt. Sie zeigt, dass man „mit dem Etikett ‚gläubig-schlichter‘ Erbauung“ (ebd., S. 378) der hagiographischen Vielfalt und der z.T. ausgesprochen virtuosen Ästhetik mancher Legenden kaum beikommen kann. 41 Als Erzählformen können u.a. genannt werden: Vita und Legende, Mirakel und Translationsbericht, Märtyrerpassio, Apostelakten u.a.m., hinzu treten die Abgrenzungsprobleme zu benachbarten Erzählzusammenhängen wie Exempeldichtung oder Überschneidungen wie die sog. ‚Legendenepik‘. Die Gebrauchszusammenhänge solcher hagiographischer Erzählformen sind dementsprechend ebenfalls mannigfaltig: Kanonisationsprozess oder klösterliche lectio, laikale Unterweisung, Erbauung oder Unterhaltung usw. 42 Marc VAN UYTFANGHE, [Art.] Heiligenverehrung II (Hagiographie), in: RAC 14, 1988, Sp. 150–183, hier Sp. 155, zum hagiographischen Diskurs ebd. Zur problematischen Gattungsbestimmung vgl. auch KÖBELE, Illusion, S. 373f. Da selbst innerhalb dieses hagiographischen Diskurses eine Unterscheidung zwischen Vita und Legende oder anderen ‚hagiographischen Untergattungen‘ unklar ist, scheint es mir sinnvoller, den Begriff der Legende heuristisch zu verwenden und im Rahmen dieser Untersuchung solche z.T. nur künstlich aufrecht erhaltene Differenzierungen auch nicht weiter zu verfolgen, denn es geht nicht um Gattungsfragen, sondern um die narrativen Bedingungen und Eigenheiten legendarischen Erzählens, oder, wenn man so will, des hagiographischen Diskurses. Konkret heißt das, dass etwa Vita und Legende bewusst weitgehend synonym gebraucht werden, wobei der Begriff der Vita eher im Kontext solcher Erzählungen verwendet wird, die eine umfassende Lebensbeschreibung ihres Protagonisten geben, ohne dass dabei aber die Genese der Begriffe

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Unabhängig davon werden Erzählungen von Heiligen und über das Heilige meistens unter dem Begriff der Legende subsumiert. Er umfasst in der Regel deren schriftliche, literarisch fixierte Ausgestaltung (legenda – das zu Lesende); Einflüsse oraler Traditionen werden dagegen nur selten und unter Vorbehalt berücksichtigt.43 Einen Versuch, sich dieser gattungsmäßig nur sehr schwer einzugrenzenden Erzählkategorie anzunähern, hat zuletzt Hans-Peter Ecker aus kulturanthropologischer Sicht unternommen.44 Ihm geht es allerdings um eine umfassende Gattungstheorie, die analytische Kriterien zu schaffen versucht, um einen Text kultur- und epochenunabhängig als Legende einstufen zu können, dabei jedoch die narratologischen Konsequenzen, die darin liegen, vielfach nicht berührt, zumal die sinnbildenden Kennzeichen von Transzendenz und Heiligkeit hierbei keine Rolle spielen. Die Frage nach der gattungsmäßigen Bestimmung der einzelnen zu untersuchenden Texte kann hier jedoch vernachlässigt werden – die Frage nach Legende, Vita oder gar Überschneidungen über ‚Gattungsgrenzen‘ hinweg mit nichthagiographischen Textsorten spielt für diese Untersuchung insoweit keine Rolle, als es ihr darauf ankommt, wie in den jeweiligen Texten Heiligkeit poetisch realisiert wird, nicht aber, wie diese Texte insgesamt in einen Gattungsrahmen einzuordnen sind. Nicht auf die Frage der Gattung, sondern auf den literarischen Status der Legende als ‚kleine Erzählform‘ hat dagegen als einer der ersten bereits André Jolles aufmerksam gemacht, auch wenn seine Überlegungen, die Legende unter die Geistesbeschäftigung der imitatio zu stellen, vielfach Kritik hervorgerufen haben.45 Jolles versteht die Legende als einen Text, der für seine Rezipienten eine Imitabile-Funktion einnimmt: Die Leser und Hörer von Legenden sollen dazu angehalten werden, die Heiligen der Legenden (deren Taten, Glauben usw.) nachzuahmen, die Aussageinhalte und religiösen Sinnentwürfe als Vorbild anzunehmen. Die Innovation von Jolles’ Ansatz besteht nicht zuletzt darin, dass er als einer der ersten den Fokus auf die Pragmatik dieser Texte legt. Eine solche pragmatische Ebene ist beispielsweise

|| (Legende aus dem Kontext monastischen Lesegebrauchs, Vita aus den Kanonisationsverfahren) eine Rolle spielen würde. 43 Die oftmals erfolgende Eingrenzung aufs Christentum muss hier nicht weiter problematisiert werden; grundsätzliche Überschneidungen, die sich u.a. mit Judentum, Islam oder Buddhismus ergeben, berühren den vorliegenden Kontext (der sich ausschließlich auf Texte des christlichen Mittelalters bezieht) nicht. Weiterführende Hinweise dazu bei Hans-Peter ECKER, Die Legende. Kulturanthropologische Annäherung an eine literarische Gattung, Stuttgart 1993. 44 Vgl. ebd.; vgl. auch ders., Auf neuen Wegen zu einer alten Gattung. Was kann eine kulturanthropologisch orientierte Legendentheorie leisten?, in: Jahrbuch für internationale Germanistik 25 (1993), S. 8–29. Vgl. zur Gattungsfrage auch den Versuch von DECUBLE, Konvention, bes. S. 33–56. 45 Vgl. JOLLES, Einfache Formen. Zur Kritik an JOLLES’ Überlegungen in der Erzählforschung vgl. zusammenfassend Hermann BAUSINGER, [Art.] Einfache Form(en), in: EM 3, 1981, Sp. 1211–1226, hier bes. Sp. 1215. Kritisiert wurde nicht zuletzt, dass JOLLES eine zu einseitige Akzentuierung der imitatio sieht, er begreift das Heilige ausschließlich als Imitabile, vgl. zusammenfassend Felix KARLINGER, Legendenforschung, Darmstadt 1986, S. 84f. Vgl. zum Problem zuletzt KÖBELE, Illusion, S. 377f.

14 | Einleitung: Heiligkeit und Erzählung bei den Texten, wie sie die Legenda aurea präsentiert, in wesentlich höherem Maße zu beachten als in den Legenden des Passionals: Hier geht es verstärkt um eine Binnendifferenzierung der einzelnen Erzählmuster. Während die Legenda aurea nämlich hochgradig diskursive Texte präsentiert, die eher kommentierten Exempeln ähneln, macht erst die Bearbeitung des Passionals aus diesen Texten eigentliche Erzählungen, indem ihnen nun in weitaus höherem Maße Anschaulichkeit, Spannungsbögen usw. verliehen werden. Die Einengung des legendarischen Textstatus auf einen solcherart rezeptionsästhetisch verstandenen imitatio-Begriff, wie ihn Jolles versteht, übersieht daher, dass die erzählerischen Komponenten der Legenden (ihre ‚sprachliche Form‘, wie Jolles es ausdrückt) selbst ein Imitabile sind, nämlich der imitatio Christi entspringen, indem die Heiligen die Nachfolge Jesu antreten. Das imitatio-Modell ist daher nicht alleine auf der Rezipientenebene anzusetzen, sondern vor allem auf der Textebene: Imitatio lässt sich dann auch auf die narrativen Strukturen und Motive beziehen, mit denen Heiligkeit in der Erzählung inszeniert wird. Dies betrifft in erster Linie natürlich biblische Erzählmuster: Da für jeden Heiligen Christus die wichtigste imitatio-Figur ist, sind auch die Inszenierungsformen des Neuen Testaments vorbildhaft für die legendarischen Erzählungen von Heiligkeit; insbesondere ist hier natürlich der Kreuzestod Jesu als Imitabile des Märtyrertodes zu beachten. Für die Analyse und Interpretation hagiographischer Erzählungen und deren Inszenierungsformen von Heiligkeit ist somit herauszuarbeiten, inwieweit ihre heiligen Protagonisten einer Christoformitas angenähert werden und inwiefern dabei Erzählstrukturen und Motive nach dem Vorbild Christi bzw. den vorbildgebenden Erzählungen um Jesus aufgenommen und variiert werden. Die biblischen Erzählungen, vor allem die der Evangelien, die von den Wundertaten, Predigten und nicht zuletzt vom Tod Jesu Auskunft geben, sowie die apokryphen Lebensbeschreibungen, können dabei als besonders vorbildhaft für die narrativen Konstituenten – für bestimmte Erzählmotive ebenso wie für weiterreichende Strukturen – sein, da Jesus Christus exemplarisch für alle Heiligen ist, die figura, der alle nahezukommen suchen und dessen Sujet darum auch die Erzählungen über dessen Nachfolger möglichst nahekommen wollen.46 Es sind diese Erzählungen, die ihrerseits wiederum ein || 46 Dieser Ansatz geht damit über die von Theofried BAUMEISTER, Der Rekurs auf die Bibel als Mittel zur Darstellung heiliger Geschichte in der altchristlichen Hagiographie, in: Ders., Martyrium, Hagiographie und Heiligenverehrung im christlichen Altertum, Rom u.a. 2009, S. 217–230, festgestellten biblischen Bezüge hinaus. BAUMEISTER geht es darum, in den biblischen Bezugspunkten die theologischen Grundlagen für die in der Hagiographie zur Darstellung gebrachte Heiligenverehrung zu setzen. Indes ist für die vorliegende Studie entscheidend, dass mit solchen biblischen Rekursen auch narratologische Konsequenzen verbunden sind, da sie ebenso die Darstellungsebene und die narrativen Verfahren der hagiographischen Erzählungen betreffen. Es geht hier mithin um die Vorstellung der Bibel als kulturelles Narrativ, das einen Großteil der Erzählungen innerhalb der christlich geprägten Kultur des europäischen Mittelalters bestimmt, insbesondere natürlich solche mit per se religiösem Hintergrund. Vgl. zu diesen Überlegungen und zum Konzept des kulturellen Nar-

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imitatio-Modell für das Erzählen von den Heiligen in der Nachfolge Jesu bilden, wie ebenso Heiligenviten ihrerseits vorbildgebend für die Viten weiterer Heiliger sein können, die sich in der Nachfolge Christi an solchen Nachfolgern orientieren. Legenden sind Erzählungen der imitatio und der Nachahmung – und das auf allen Ebenen: Auf der Ebene der histoire ebenso wie der des discours und auch auf der von Jolles so stark gemachten pragmatischen Ebene der Rezeption. Legenden erweisen sich damit, so eine Grundthese dieser Arbeit, auch narrativ als imitatio Christi.47 Die an der imitatio Christi ausgerichtete paradigmatische Ebene48 der Erzählung wird dann syntagmatisch in den jeweiligen narrativen Realisierungen der einzelnen Legenden durch z.T. ganz unterschiedliche (hagiographische und nicht-hagiographische) Muster und Motive angereichert. Das imitatio-Element lässt sich damit als eine Art hagiographische conditio sine qua non verstehen, die in ganz unterschiedlichen Ausprägungen (strukturell, motivisch, intertextuell, allegorisch, typologsich usw.) erfüllt werden kann. Das zeigt sich besonders in solchen Legenden, die kein vollständiges Viten-Schema präsentieren, vor allem Märtyrerlegenden, die oftmals nur Folter und Tod ihres heiligen Protagonisten darstellen, dies aber stets (in ganz verschiedener Ausprägung) in der imitatio des Kreuzestodes Christi, als die sie auch inszeniert werden. Zum Moment der imitatio, die sich einerseits im Heiligen als Imitabile (rezeptionsästhetisch), andererseits in der imitatio Christi des/der Heiligen (handlungskonstituierend) zeigt, bilden Wunderhandlungen ein konstitutives Element legendarischen Erzählens. Anders als im Märchen bleiben sie hier jedoch nicht unhinterfragt und quasi selbstverständlicher Bestandteil der Erzählwelt, sondern fungieren geradezu als Signum der Heiligkeit: Im Wunder manifestiert sich die Partizipation des Heiligen an der Heiligkeit Gottes.49 Hans Ulrich Gumbrecht differenziert die Figur des Heiligen, gerade in Bezug auf die zusammengesetzte Kategorie von Heiligkeit, daher auch als ‚ethischen Virtuosen‘ einerseits und als ‚magischen Helfer‘ andererseits.50 Beides gehört jedoch zusammen; der Heilige ist für seine Mitmenschen einer-

|| rativs ausführlich Wolfgang MÜLLER-FUNK, Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung, Wien/ New York 2008. 47 Damit soll keineswegs unterschlagen werden, dass auch solche Strukturen, die gerade nicht einem derartigen Kontext entstammen, legendarische Erzählungen ordnen: außerhagiographische Erzählkerne, die aber für das Sujet eines jeweiligen Heiligen bestimmend sind (vgl. dazu unten, Kap. 8.2). Diese sind für einzelne Texte je verschieden eingesetzt, bestimmen jedoch nicht, wie die imitatio Christi, per se die narrative Grundgestalt der Legenden. 48 Vgl. zur Terminologie David E. WELLBERY, Literatursemiotische Anmerkungen zu Kleists ‚Das Erdbeben in Chili‘, in: Ders. (Hg.), Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists ‚Das Erdbeben in Chili‘, München 42001, S. 69–87. 49 Zu den narrativen Spannungen, die bei den Wundererzählungen innerhalb der Legenden auftreten, vgl. KÖBELE, Illusion, S. 379ff. u. 399. 50 Vgl. dazu GUMBRECHT, Faszinationstyp Hagiographie. Ich würde allerdings, anders als GUMBRECHT, hier gerade kein ‚Entweder – Oder‘ sehen: Heilige wirken in der Regel sowohl als ‚ethische

16 | Einleitung: Heiligkeit und Erzählung seits vorbildhaft durch seine christlichen Tugenden, andererseits können gerade deswegen durch ihn Wunder gewirkt werden – egal, ob nun (wie z.B. bei Antonius) der ethische Virtuose oder (z.B. bei Martin) der magische Helfer betont wird. Wie sich diese Kennzeichen von Heiligkeit in den hagiographischen Erzählverfahren niederschlagen, hat umfassend Theodor Wolpers in seiner beachtenswerten Studie zur englischen Heiligenlegende des Mittelalters untersucht. Dabei kann er zeigen, dass weniger von einem Geschehen her erzählt wird als vielmehr der als heilig verehrte Protagonist der Legende im Mittelpunkt steht. Das bedeutet aber nicht, dass es sich, zumal bei fast schon biographisch anmutenden Heiligenviten, um ausgeprägte Charakterstudien handele: „Das Interesse gilt weniger dem Menschen als dem verehrbaren, beispielgebenden und als Hilfsmacht anrufbaren Heiligen.“51 Bezogen auf die Erzählweise der Legenden konstatiert Wolpers eine Aneinanderreihung locker verknüpfter Einzelepisoden (d.h. also eine höchst paradigmatische Erzählweise), in denen die Erzählung keine Eigendynamik entfaltet; zwischen den einzelnen Episoden besteht meist kaum oder gar kein logisch-kausaler Zusammenhang, vielmehr ist jede für sich allein dazu angetan, die Heiligkeit ihres Protagonisten unter Beweis zu stellen, jede Einzelepisode spiegelt pars pro toto zugleich das Ganze wider.52 Zudem kann Wolpers für das legendarische Erzählen eine ausgeprägte Finalität konstatieren und erkennt in diesem Zusammenhang ein „gnadenvolles Umschlagen“53 hin zur Heiligkeit, das an die Stelle einer inneren Entwicklung tritt. Aus diesem Grund erfordert die narrative Darstellung jener Unverfügbarkeit des Heiligen, jenes Ununterscheidbarwerden (Konkreszenz im Sinne Cassirers), im Akt der Erzählung immer wieder derartige ‚Umschlagsmomente‘, die die Herausgehobenheit des Protagonisten und seine göttliche Begnadung narrativ herstellen.54 Die an sich unverfügbare Teilhabe am göttlichen Heil wird insbesondere den Protagonisten mittel|| Viruosen‘ als auch als ‚magische Helfer‘; sie sind auch für die Rezipienten der Legenden zugleich Vorbilder im Glauben (Aspekt der imitatio) und Helfer in der Not als Mittler zwischen Gott und den Menschen (Aspekt der invocatio). Bereits JOLLES, Einfache Formen, hebt die Bedeutung der „tätige[n] Tugend“ (S. 30) einerseits, und, als deren Bestätigung, die der Wunder andererseits hervor. Gerade in dem ‚Sowohl – als auch‘ wären die Ambivalenzen von Heiligkeit als zusammengesetzte Kategorie erst zu erfassen. 51 WOLPERS, Heiligenlegende, S. 24. 52 Vgl. ebd., S. 33f.; vgl. bereits JOLLES, Einfache Formen, S. 39f. 53 WOLPERS, Heiligenlegende, S. 24. WOLPERS nimmt damit z.T. Ergebnisse vorweg, die Edith FEISTNER dann ausführlicher für das legendarische Erzählen beschreibt, vgl. dazu unten. 54 An diesem Punkt trifft sich WOLPERS, aus ganz anderen Theorie-Diskussionen schöpfend, mit den systemtheoretischen Überlegungen von Peter STROHSCHNEIDER, für den sich Heiligkeit in nichtdifferentiellen Kategorien bewegt. Gott bzw. das Heilige ist für STROHSCHNEIDER jenseits aller Unterschiede (was im Übrigen OTTOS Formulierung des ‚Ganz Anderen‚ durchaus nahe kommt), die Legende jedoch, die davon erzählt, ist ein Erzählakt; erzählen hingegen bedeutet stets, Differenzen zu setzen. Derartige Umschlagsmomente führt STROHSCHNEIDER, Inzest-Heiligkeit, am Gregorius Hartmanns von Aue vor.

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alterlicher Legenden unmittelbar verfügbar gemacht, Immanenz schlägt um in Transzendenz und unterläuft so die Prozesshaftigkeit der übrigen Handlung. Das narrative Gesamtkonzept der Legende beschreibt aus germanistischer Sicht dann erstmals umfassend die Studie von Edith Feistner, die die Strukturbedingungen legendarischen Erzählens systematisch aufzeigt. Sie kommt im Kern zu dem Ergebnis, dass dieses entweder im Rahmen einer paradigmatischen Ereignisfolge in sich abgeschlossener Episoden unterschiedlicher Komplexität, oder aber einer syntagmatischen Verknüpfung variierbarer Teilelemente organisiert ist.55 Feistner bezieht in ihre Überlegungen gerade auch textexterne Bezüge mit ein, insbesondere die Frage nach den jeweiligen Trägern der Legendenkommunikation.56 Die Legenden unterteilt sie in zwei Gruppen, Märtyrer- und Bekennerlegenden, welche jeweils unterschiedliche Erzählverfahren nach sich ziehen; eine Unterscheidung, die nach den entsprechenden Typen von Heiligen auf der histoire-Ebene (Märtyrer und Bekenner) erfolgt.57 Für die Märtyrerlegenden konstituiert Feistner die drei Kernelemente Verhör, Haft und Hinrichtung, die „zusammen den Basisnexus des Märtyrerschemas“58 bilden. Daran angelagert können die Elemente Folter, Wunder und Bekehrung werden. Dieser Basisnexus bildet eine syntagmatische Verknüpfung der einzelnen Handlungsteile, die im Märtyrertod kulminiert. Die daran angelagerten Erzählelemente unterliegen dagegen keiner festen Abfolge, sind beliebig austauschbar, können erweitert oder ausgelassen werden. Sie sind also nicht syntagmatisch geordnet, sondern folgen innerhalb des Erzählsyntagmas einer paradigmatischen Reihung. Zu dieser in hohem Maße konventionalisierten Grundstruktur treten als Erweiterungen oft noch eine (meist relativ frei gestaltete) Vorgeschichte, die den jeweiligen Protagonisten bereits als Heiligen profilieren kann, sowie bisweilen eine Nachgeschichte, die Bestattung, Strafe der Richter und Folterer, Translation der Gebeine etc. beinhaltet; die ebenfalls nachgestellte, bisweilen fast endlos scheinende (paradigmatische) Aneinanderreihung posthumer Wunder sieht Feistner als „nicht mehr zum Erzählsyntagma selbst gehörenden Anhang“59, was zumindest in manchen Fällen, in de-

|| 55 Vgl. Edith FEISTNER, Historische Typologie der deutschen Heiligenlegende des Mittelalters von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis zur Reformation, Wiesbaden 1995, S. 45. Allerdings setzt sich FEISTNER implizit dem gleichen Vorwurf aus, den sie selbst (vgl. ebd., S. 14) Hellmut ROSENFELD anlastet: Für ihre Analysekriterien legt sie vielfach die Legenda aurea zugrunde, mithin also die Kurzversionen der Legendenstoffe, die so erst im 13. Jh. aufgekommen sind, ohne deren Langformen, auf denen sie basieren, ausreichend zu berücksichtigen – so jedenfalls die Kritik in der Rezension von Karl-Ernst GEITH, in: GRM 47 (1997), S. 463–466, hier. S. 464. 56 Vgl. FEISTNER, Historische Typologie, S. 23f. 57 Zu dieser heuristischen Herangehensweise vgl. ebd., S. 24. 58 Ebd., S. 27. 59 Ebd., S. 29.

18 | Einleitung: Heiligkeit und Erzählung nen wenigstens einige Mirakel einer solchen Wunderkette Bezug auf die vorhergehende Vita nehmen, zu diskutieren wäre.60 Die Bauformen der Bekennergeschichten sind dagegen in einer paradigmatischen Reihung konzipiert. Sie umfassen oftmals die komplette Lebensspanne der darzustellenden heiligen Persönlichkeit, oder zumindest einen großen Teil davon. Eine spezifische Gerichtetheit oder einen gemeinsamen ‚Basisnexus‘ wie bei den Märtyrererzählungen gibt es kaum, auch wenn bestimmte Stationen wie Geburt und Kindheit am Anfang oder Tod und Begräbnis am Ende mehr oder weniger festgelegt sind. Doch alles, was dazwischen liegt, ist in keiner Weise determiniert, sondern folgt einem lockeren Reihungsprinzip einzelner (z.T. in sich geschlossener) Episoden.61 Das heißt nicht, dass es nicht innerhalb dieser Reihung gewisse Binnenstrukturierungen geben könnte, trotzdem ist ein unmittelbarer Kausalzusammenhang untereinander damit kaum oder gar nicht gegeben.

Zur methodischen Erfassung narrativer Inszenierungsformen von Heiligkeit Die von Feistner getroffene Unterscheidung zwischen syntagmatischer Märtyrerlegende und paradigmatischer Bekennervita erweist sich näher betrachtet allerdings als zu grob und schematisch, weshalb sie anhand der erzählstrukturellen Bedingungen der zu untersuchenden Texte weiter differenziert werden muss, insbesondere da, wo – wie beispielsweise bei den Apostellegenden – Interferenzen paradigmatischer und syntagmatischer Erzählzusammenhänge vorliegen. Eine übergreifende Systematisierung wäre jedoch von vornherein zum Scheitern verurteilt, denn sämtliche Erzählprogramme, Sujets und Handlungskonstellationen sind einzig der sanctitas ihrer Legendenprotagonisten unterworfen und können sich zu diesem Zweck beliebig überlagern und kontaminieren, sie sind daher frei verfügbar und austauschbar.62 Deren Analyse muss also zunächst exemplarisch und am Einzeltext erfolgen, Verallgemeinerungen lassen sich, wenn überhaupt, erst in der Zusammenschau konstatieren. Basierend auf diesen Überlegungen möchte die vorliegende Arbeit daher keine Typologie legendarischen Erzählens entwickeln, sondern vielmehr ein Beschreibungsmodell, welches die narrativen Operationsformen für das Erzäh|| 60 Zumal eine solche Trennung auch sonst nicht immer erkennbar ist, vor allem in solchen Erzählungen, die sich von der religiösen Praxis schon weiter entfernt haben. So konstatiert KUNZE, [Art.] Heilige, Sp. 671, zumindest für das profane Erzählgut (insbesondere Legendenmärchen) „eine typische Vermengung der in der Hagiographie prinzipiell getrennten Bereiche von ‚diesseitiger‘ Vita und postmortalem Wirken aus dem Jenseits“. 61 Auch FEISTNER ist sich dessen bewusst, dass Heiligkeit dennoch gerade nicht aus der Summe von Einzelnachweisen (Wundern, Bekehrungen, Tugenden etc.) resultiert, sondern in jeder Episode von Anfang an begründet ist; vgl. FEISTNER, Historische Typologie, S. 34ff. 62 Nicht zuletzt daran scheitern immer wieder typisierte Gattungsbestimmungen der Legende, fallen die Abgrenzungen beispielsweise zu Legendenepik und -romanen so schwer.

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len von Heiligkeit erfasst, und zwar sowohl strukturell (Umschlagsmomente, finale Handlungslogiken und Motivierungen, paradigmatische und syntagmatische Durchdringung) als auch auf der Ebene der sprachlichen Realisierung (imitatio, Semantisierungen und Typisierungen, die axiologische Besetzung von Oppositionen usw.). Um solche Operationsweisen legendarischen Erzählens und der damit verbundenen Vermittlung von Heiligkeit zu bestimmen, benötigt man nicht allein textbezogene (z.B. narratologische), sondern auch textübergreifende, kontextbezogene bzw. textpragmatische Kategorien.63 Es ist somit nicht nur notwendig, phänomenologische Analysen unter Berücksichtigung ihres jeweiligen Rezeptionskontextes durchzuführen, sondern vor allem, diese in direkten Zusammenhang mit den narrativen Eigenarten, die damit einhergehen, zu stellen. Wenn sich Heiligkeit über die Vermittlungsinstanz der heiligen Persönlichkeit narrativ entfaltet, so müsste eine literaturwissenschaftliche Analyse dennoch nicht allein an der (je unterschiedlich realisierten) Darstellung dieser Figur an sich ansetzen (etwa ihrer Charakterisierung, ihren historischen Vorbildern usw.),64 sondern vielmehr an den daran angelagerten Transzendenz-Phänomenen und zugleich an den jeweiligen, in einem Funktionszusammenhang mit ihr stehenden narrativen und erzählstrukturellen Besonderheiten. Im Mittelpunkt dieser Untersuchung stehen daher weniger die (nicht zuletzt von Peter Strohschneider immer wieder beschriebenen) Schwierigkeiten, die mit der narrativen Vermittlung des Heiligen verbunden sind, sondern vielmehr die spezifischen Erzählverfahren und narratologischen Besonderheiten hagiographischer Erzählungen. Da es bei aller Stereotypie kein einheitliches Erzählprogramm der Legende gibt, bedienen sich die einzelnen Texte vollkommen heterogener Erzählverfahren, die anhand von Motivreihen, Handlungskonstellationen und Erzählkernen unterschiedlichster – auch nichtreligiöser, sogar paganer – Provenienz auf der Handlungsoberfläche realisiert werden. Anders als die (als Grundmuster stets vorhandene) imitatio Christi konstituieren solche Faktoren zwar nicht primär die Heiligkeit der Legendenprotagonisten, sind jedoch im Zusammenspiel mit dieser imitatio maßgeblich für deren Inszenierung, denn erst sie bilden die Konstituenten, über die die Geschichte der Heiligkeit jener Personen erzählt werden kann. Jede literarische Analyse hat darum auf der histoire- wie auf der discours-Ebene anzusetzen und die paradigmatische wie die syntagmatische Ebene zu betrachten. Auf der einen Seite ist nach den eigentümlichen Charakteristika zu fragen, die im Zusammenhang mit der Figur des Heiligen stehen, auf der anderen nach den narrativen und strukturellen Gegebenheiten. Sämtliche Erscheinungsformen auf der histoire-Ebene müssen auf ihre Aus|| 63 Vgl. auch die Forderung von STROHSCHNEIDER, Textheiligung, S. 119f., mit Anm. 32. 64 Dies würde schnell in eine andere Richtung führen, vgl. nur die historische, rhetorisch-poetologische Perspektive von Walter BERSCHIN, Biographie und Epochenstil, 5 Bde., Stuttgart 1992–2001, und die im Rahmen dieser Arbeitsgruppe entstandenen Untersuchungen, z.B. Stephanie HAARLÄNDER, Vitae episcoporum, Stuttgart 2000.

20 | Einleitung: Heiligkeit und Erzählung wirkungen auf der discours-Ebene hin befragt werden und umgekehrt: die Phänomenologie auf der Ebene der Handlung, die Inszenierung auf der der narrativen Tiefenstruktur. Hinzu kommen jedoch die kontextübergreifenden, außertextuellen Referenzen: Entstehungs- und Rezeptionszusammenhänge ebenso wie textübergreifende Diskursformationen (theologischer, historischer, liturgischer etc. Natur). Eine Analyse hagiographischer Texte muss daher stets zwei Beobachtungsräume einschließen: Textexterne Kategorien, die Diskurszusammenhänge, Entstehungs- und Rezeptionskontexte umfassen, sowie textinterne Kategorien, die wiederum in zwei Bereiche aufgeteilt sind, nämlich histoire und discours.65 Damit ergeben sich insgesamt drei Analyseebenen: Die discours-Ebene, die histoire-Ebene und eine dritte, textübergreifende bzw. textexterne, die ich vorläufig Kontext-Ebene nennen möchte. Die histoire bestimmt Handlung und Struktur der Erzählung; auf der Ebene der Tiefenstruktur sind hier Aneignungen und Adaptationen außerhagiographischer Erzählmuster, die mit der Legende und ihrem auf der imitatio Christi basierenden Erzählverlauf verbunden werden, zu untersuchen.66 Die discours-Ebene bestimmt die Inszenierung dieser Muster; hier wären neben der Analyse des Erzählvorgangs auch all jene Phänomene (und ihre symbolische Bedeutsamkeit) zu verorten, zu denen bereits eine Reihe von Einzeluntersuchungen vorliegen, sei es zu wunderbaren Duftund Lichterscheinungen, sei es zur Unverletzlichkeit der Heiligen während ihres Martyriums (die ‚Märtyrer von unzerstörbarem Leben‘), sei es zur Wundertätigkeit, zur Keuschheit oder der schier übermenschlichen eremitischen Askese.67 Auch die narrative Umsetzung mit all ihren sprachlichen Besonderheiten und differenztheo-

|| 65 Die aus dem französischen Strukturalismus hervorgegangene Unterscheidung zwischen histoire und discours ist allerdings ihrerseits weiter differenzierungsbedürftig. Bereits Karheinz STIERLE hat einerseits zwischen Geschehen und Geschichte, andererseits dem Text der Geschichte unterschieden, welchen er wiederum in einen Tiefendiskurs (discours I) und einem Oberflächendiskurs (discours II) differenziert. Ausgehend davon unterscheidet dann Wolf SCHMID vier narrative Ebenen, indem er wie STIERLE die histoire in Geschehen und Geschichte unterteilt, discours sodann in Erzählung und Präsentation der Erzählung. Vgl. Wolf SCHMID, Elemente der Narratologie, Berlin/New York 2008, S. 251ff.; zu STIERLES Modell S. 250. Diese Unterdifferenzierung soll im Folgenden mitbedacht werden, ohne dabei immer explizit zur Sprache zu kommen. Die hier als dritte (der übergeordneten Ebenen) angesprochene Kontext-Ebene hat Auswirkungen auf histoire- und discours-Ebene und alle ihrer jeweiligen Unterebenen. Zur Bedeutung des Kontextes auf die Narration vgl. ebd., S. 20f. 66 Nach der Unterteilung von SCHMID, Narratologie, wäre zu fragen, ob hier ausschließlich die Ebene der Geschichte, die SCHMID als „Auswahl aus dem Geschehen“ (ebd., S. 252) bezeichnet, betroffen ist, oder ob sich die Inanspruchnahme außerhagiographischer Erzählmuster nicht auf der Ebene des Geschehens auswirkt. 67 Für weitere Literatur sei verwiesen auf ANGENENDT, Heilige und Reliquien. Vgl. auch Arnold ANGENENDT, Der Leib ist klar, klar wie Kristall, in: Klaus SCHREINER (Hg.), Frömmigkeit im Mittelalter. Politisch-soziale Kontexte, visuelle Praxis, körperliche Ausdrucksformen, München 2002, S. 387–398; Bernhard KÖTTING, Wohlgeruch der Heiligkeit, in: Jenseitsvorstellungen in Antike und Christentum. Gedenkschrift für Alfred Stuiber, Münster 1988 (Jb. f. Antike u. Christentum, Erg.-Bd. 9), S. 168–175.

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retischen Problemen wäre, wenngleich diese auch auf die histoire übergreifen, hier zu verorten.68 All dies aber bleibt in der Regel bei einzelnen Aspekten, bleibt auf die Handlungsebene beschränkt und blendet die anderen Ebenen aus; selten finden sich Ansätze zu einer Systematisierung, werden weitere, übergreifende Faktoren einbezogen. Pragmatisch-kontextuelle ebenso wie narratologische, strukturelle oder typologische Konstituenten greifen jedoch bei der Konzeption einer Erzählung (und mithin erst recht bei der Inszenierung von Heiligkeit) ineinander und müssen daher auch gemeinsam betrachtet und für eine Analyse fruchtbar gemacht werden. Jenseits aller Systematisierungsversuche hat die hier nur grob nachgezeichnete Forschungsdiskussion grundlegende Kriterien zutage gefördert, die sich als konstitutiv für das Erzählen von Heiligkeit erweisen: Das imitatio-Modell als Oberflächenphänomen, das auf der paradigmatischen Ebene gleichwohl auch strukturell wirksam wird, sowie Finalität und Umschlagsmomente als grundlegende narratologische Kennzeichen. Da nach christlichem Verständnis heilig ist, wer an der Heiligkeit Gottes partizipiert, stellt sich Heiligkeit stets als Nachfolge Christi dar, welcher zugleich Vorbild ist für die Tugenden, die der Heilige in exemplarischer Weise ausfüllt, bis hin zum Tod für den Glauben im Martyrium als weitreichendste Form der imitatio Christi. Dies legt sich als konstituierendes Basismuster über die einzelnen Legendentexte, wobei davon eher kleinräumig Handlungskonstellationen und Motivreihen bestimmt sind; hinzu kommen typologische Verweise, die z.T. gar nicht mehr auf der Textebene festzumachen sind. Zu fragen ist also nicht zuletzt, wie Legenden diese Nachfolge inszenieren und inwieweit auf der narrativen Ebene diese größtmögliche Nähe zu Christus eine Christusidentität inszeniert, welche es diskursiv gerade nicht geben kann. Die Vorbildlichkeit und Exemplarizität Christi schlägt sich andererseits auch auf der Ebene der Erzählung nieder, Jesu Leben und Sterben erscheinen jedoch nicht als starre Strukturvorgabe, sondern bilden vielmehr den Bezugsrahmen, auf den die einzelnen Narrative innerhalb einer Legende ausgerichtet sind. So entsteht eine syntagmatische Erzählstruktur, die über die paradigmatischen Bezüge zu Jesus festgelegt ist; einzelne Stationen des Jesuslebens sind als Paradigma zu betrachten, das in den Legenden syntagmatisch jeweils unterschiedlich ausgeführt wird. Außerdem zeigen nicht zuletzt die Ergebnisse Feistners, dass weder Legenden des Märtyrertyps, noch solche von Bekennern – trotz ihrer z.T. vitenähnlichen Struktur – in ihrer Handlung eine konsequente Entwicklungsgeschichte abbilden. Der Heilige ist eben immer schon, was er erst sein wird: Das gilt nicht nur für diejenigen, deren Heiligkeit scheinbar schon von Beginn an beschlossen ist und sich womöglich bereits in der Kindheit oder sogar schon vor der Geburt zeigt, sondern (bei allen Dif|| 68 Dies entspräche der zusätzlichen Differenzierung des discours in récit und narration, wie sie vor allem Gérard GENETTE vorgenommen hat (vgl. Gérard GENETTE, Die Erzählung, hg. v. J. VOGT, München 1994) bzw. der Unterscheidung von Erzählung und Präsentation der Erzählung nach SCHMID, Narratologie, S. 253.

22 | Einleitung: Heiligkeit und Erzählung ferenzen) selbst für jene, die erst durch einen Akt der conversio von ihrem bisherigen (sündhaften) Leben ablassen und sich einem heiligmäßigen zuwenden.69 Auch wenn die Vorgeschichte in diesen Fällen bisweilen bereits auf den Vorgang der Bekehrung hin zugespitzt ist, so kann diese doch einzig durch einen Akt der Offenbarung – und das heißt: ein Umschlagsmoment – erreicht werden und resultiert jedenfalls nicht aus einer kausalen Entwicklung.70 Dieser Akt der Gnade und göttlicher Auserwähltheit aber ist der Legendenhandlung bzw. ihren Protagonisten von Anfang an eingeschrieben, deren narrative Struktur sich dadurch als zutiefst final erweist, vom Ende her motiviert, ihre Handlungsfolge ist bestimmt durch das gnadenvolle Umschlagen zur Heiligkeit, die jedoch von Anfang an darin angelegt ist. Die grundlegende Beobachtung eines handlungskonstituierenden Modells wie das der imitatio Christi oder struktureller Bedingungen wie Finalität und Umschlagsmomente geben jedoch noch nicht darüber Auskunft, welche Erzählverfahren sich hagiographische Texte aneignen und zunutze machen, nicht zuletzt, was die Inanspruchnahme außerhagiographischer Erzähltraditionen betrifft. Derartige Erzählmuster müssen nicht eine gesamte Legende bestimmen, sondern können sich auch auf Binnenstrukturen beschränken; eine solche Binnendifferenzierung muss allerdings für jede Legende einzeln erfolgen. Um Heiligkeit jedoch als markierte Kategorie innerhalb des Erzählaktes beschreiben zu können, bedarf es noch weitergehender Analysekriterien, die insbesondere an die spezifischen Bedingungen von Narrativität gekoppelt sind: Erzählen heißt, Oppositionen zu bilden und einen prozessualen (Handlungs-)Verlauf darzustellen.71 Anstatt die Untersuchung an einer wie auch immer gearteten Typologie auszurichten, scheint es sinnvoller, quer durch die Legenden exemplarisch zu beobachten, wo bestimmte Handlungskonstellationen und Sujetfügungen zwar gleich angelegt, jedoch unterschiedlich umgesetzt werden, Dichotomien also im Verhältnis von Oberfläche und Tiefenstruktur zu suchen. Entscheidend dabei ist jedoch, nicht einfache Oppositionen gegeneinander zu stellen, sondern Gegensatzpaare zu betrachten, die in einem dialektischen Verhältnis zueinander stehen, denn es ist nicht ihr Gegensatz an sich, der beschrieben werden soll, sondern ihr Verhältnis zueinander, ihr Aufeinanderbezogensein und die Relation von Ähnlichkeit und Gegensätzlich-

|| 69 Vgl. zu diesem Typus Eberhard DORN, Der sündige Heilige in der Legende des Mittelalters, München 1967. 70 Vgl. FEISTNER, Historische Typologie, S. 40f. Hans-Ulrich GUMBRECHT, Faszinationstyp Hagiographie, spricht in diesem Zusammenhang (in Anlehnung an Max SCHELER) von ‚Einmalgeborenen‘ und ‚Zweimalgeborenen‘: Die einen haben von Beginn an das Signum der Heiligkeit in sich geschlossen, die sich in der von FEISTNER so benannten paradigmatischen Reihung einzelner Episoden immer wieder manifestiert, für die anderen kann dies erst nach einem gleichsam liminalen Akt der Bekehrung geschehen, der gleich einer zweiten Geburt den Beginn ihres heiligmäßigen Lebens markiert, während alles zuvor Geschilderte als sündhaftes Leben mit diesem kontrastiert wird. 71 Zur Äquivalenz von Similarität und Opposition vgl. SCHMID, Narratologie, S. 22–26.

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keit, welche die Ambiguität des Heiligen unterstreicht.72 Hierbei wird gerade der phänomenologische Befund wieder wichtig, da es gilt, Heiligkeit auch auf der Ebene der Handlung zu beschreiben. Eine Analyse der einzelnen Legendentexte und deren narrativer Umgang mit Heiligkeit sollte deshalb das aus dem ambigen, zusammengesetzten Charakter von Heiligkeit resultierende Spannungsverhältnis einbeziehen, weshalb es nötig ist, zunächst auf der Textoberfläche, also der Gegenstandsebene der erzählten Welten anzusetzen, hierbei zwischen einer phänomenalen und einer diskursiven Weise der Präsentation zu differenzieren und deren Ineinandergreifen innerhalb der gesamten Erzählung zu beschreiben. Gemäß der Prämisse, Heiligkeit als zusammengesetzte Kategorie aufzufassen, lassen sich dabei – so die These –Analysekriterien als dialektisch aufeinander bezogene Basisoppositionen ansetzen, die das eben erwähnte Spannungsverhältnis illustrieren; diese müssen jedoch zugleich mit den entsprechenden Handlungskonstellationen und Struktureigenschaften der jeweiligen Texte verbunden werden, um Heiligkeit als narrative Kategorie im Gesamten beschreiben zu können. Es geht also nicht darum, derartige Oppositionspaare lediglich zu benennen, sondern ihre Dialektik, ihr Spannungsverhältnis im gesamten Handlungsverlauf der Legendenerzählung darzulegen. Solche semiotischen Oppositionspaare lassen sich nicht zuletzt aus kulturanthropologischer Perspektive ableiten, wobei darunter wie erwähnt gerade keine einseitigen Dichotomien wie z.B. Immanenz – Transzendenz, Leben – Tod etc. zu verstehen sind.73 Vielmehr muss berücksichtigt werden, dass der Gegensatz zwischen heilig und profan selbst kein eindeutiger, polarer ist, sondern ebenjene Formen eines liminalen Zwischen ausfüllt. Eine derartige Basisopposition stellt die Dialektik zwischen Inklusion und Exklusion dar, welche, obzwar eigentlich zunächst soziologische Kategorien, auch auf den Handlungsraum hagiographischer Texte bezogen werden können: Bedeutet Heiligkeit Abschied von der Welt und bedeutet Nachfolge Christi das Verlassen

|| 72 Vgl. nochmals die Ausführungen SCHMIDS (ebd., S. 22): „Die Vergleichbarkeit oppositioneller Elemente gründet aber auch immer in einer Identität auf tieferer Ebene, insofern nämlich die Opposition (etwa von Mann vs. Frau oder Geburt vs. Tod) in einem abstrakteren, tiefer liegenden Gattungsmerkmal (hier: Mensch bzw. Grenze des Lebens) neutralisiert ist. Similarität und Opposition lassen sich also darstellen als Bündel von Identitäten und Nicht-Identitäten bezüglich jener Merkmale, die die Geschichte aktualisiert.“ 73 Auch die für zahlreiche Legenden so wichtige Opposition von Wunder und Magie wäre hier zu nennen: Die Oberflächenphänomene von Wunder und Magie erscheinen gleich, es ist vielmehr die axiologische Besetzung, die narrativ hervorgehoben und zum Differenzkriterium gemacht werden muss. In der Hagiographie wird dieses Spannungsfeld jedoch sogleich wieder aufgelöst, indem die dem Heiligen zugesprochenen Wunder als alleiniges Werk Gottes betrachtet werden, die Zauberkünste des Magiers jedoch auf dämonische Beeinflussungen zurückgehen. Wunder und Magie stehen darum nicht in einem dialektischen Bezug zueinander, weswegen dieses für die Hagiographie ebenfalls enorm wichtige Oppositionspaar in dieser Arbeit in einem anderen Zusammenhang (vgl. Kap. 4.1.3) verhandelt werden soll.

24 | Einleitung: Heiligkeit und Erzählung sozialer und familiärer Ordnungen, so steht Exklusion stets in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Eintritt in die communio sanctorum. Der Heilige bewegt sich mit seinem Wirken in der Welt fortdauernd im Spannungsfeld dieser Oppositionen. In diesem Spannungsfeld ist nun ebenso die Dialektik von Stigma und Charisma, von Sünde und Gnade zu verorten: Begreift man den Heiligen als Selbststigmatisierer (zum Begriff s.u., Kap. 5.2), so exkludiert er sich gerade durch die freiwillige Annahme sozialer Stigmata (Armut, Keuschheit etc.) oder aber konkreter Wundmale wie die Märtyrer von der übrigen Gemeinschaft. Gerade in diesem Spannungsfeld stellt sich Heiligkeit dann als gnadenhaftes Umschlagen vom stigmatisierten Außenseiter hin in das Charisma des Heiligen dar; das Moment der Gnade ist besonders bedeutsam, da hierin die Unverfügbarkeit der göttlichen Erwählung zur Geltung kommt. Die Spannungsfelder von Inklusion und Exklusion, von Stigma und Charisma und, darauf aufbauend, auch das von Sünde und Gnade, erzeugen eine Dialektik, die in ein Umschlagsmoment mündet, der eine radikale Umwertung erzeugt, wie dies prototypisch im Kreuzestod Christi vorgeführt wird: Das Stigma des Kreuzes wird umgewertet zum Zeichen des Heils, der qualvolle Tod schlägt um in Erlösung, denn das Ostergeschehen, die Auferstehung, erfasst ja nicht nur Jesus allein, sondern die gesamte Menschheit. Dieses gnadenvolle Umschlagen resultiert aus dem Umstand, dass Heiligkeit selbst nicht-prozesshaft ist, in der narrativen Darstellung jedoch in einen (Erzähl-)Prozess überführt werden muss. Die Legenden können göttliche Gnade konstatieren, von ihren Effekten und Phänomenen erzählen, nicht aber von ihr selbst. Es bleibt eine Leerstelle, um die herum die Handlung konstruiert werden muss. Diese Umschlagsmomente sind auf ihre finalen Handlungs- und Motivationsstrukturen hin zu befragen, sie markieren den Punkt, an dem die oberflächlich kausal geordnete Handlungsfolge in ein finales, providentiell vorbestimmtes Erzählziel – die Heiligkeit des Protagonisten – überführt wird.74

Zur Textauswahl Angesichts der Fülle volkssprachiger wie lateinischer Textzeugnisse, die noch dazu den unterschiedlichsten kulturellen, sozialen, historischen usw. Rezeptionskontexten entstammen, wird von vornherein deutlich, dass auf diese Weise keine Erzähltheorie der Legende insgesamt eröffnet werden kann und soll. Vielmehr muss der zeitliche und sprachlich-kulturelle Rahmen dieser Untersuchung entsprechend ein|| 74 Vgl. zum Verhältnis von Finalität und Kausalität schon Roman JAKOBSON, Peirce, Bahnbrecher der Sprachwissenschaft. In: Ders., Semiotik. Ausgewählte Texte 1919–1982, hg. von Elmar HOLENSTEIN, Frankfurt a. M. 1988, S. 99–107, hier S. 106. Zum Begriff der Finalität vgl. nicht zuletzt auch die zahlreichen Bemerkungen bei Clemens LUGOWSKI, Individualität, sowie Heinrich DETERING, Verhältnis von Mythos.

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gegrenzt werden.75 Doch selbst bei einer weiteren Einschränkung des Textmaterials auf einen engen historischen Rahmen (z.B. des 13. Jahrhunderts) oder einen spezifischen Rezeptionshintergrund (z.B. nur ‚Legendenepen‘ oder ausschließlich Abbreviaturen in Prosalegendaren für den klösterlichen lectio-Gebrauch) ließen sich weder die methodisch-systematischen noch die materialen Schwierigkeiten zufriedenstellend lösen. Um dennoch eine Vergleichbarkeit einerseits der formalen und narrativen Ausgestaltung, andererseits innerhalb des Entstehungs- und Rezeptionskontextes zu gewährleisten, bietet sich das um oder kurz vor 1300 entstandene Passional an, denn in diesem Legendar, der ersten systematischen deutschsprachigen Legendensammlung, ist eine Fülle unterschiedlicher Texte unter gleichen rezeptionsästhetischen und historischen Voraussetzungen vereinigt und darüber hinaus in ein literarisches Gesamtkonzept eingebunden. Die in drei Bücher eingeteilten Texte stellen in wesentlichen Teilen eine Bearbeitung der lateinischen Legenda aurea in Versform dar; das Passional ist damit auch eine der frühesten volkssprachigen Rezeptionszeugnisse dieser für das gesamte Spätmittelalter formgebenden und einflussreichsten Legendensammlung des Genueser Bischofs Jacobus de Voragine. Auch den Legenden des Passionals, die sich vornehmlich an ein Laienpublikum richten, ist zumindest im 14. Jh. eine außerordentlich hohe Breitenwirkung zuzuschreiben, wobei die Wirkungsgeschichte des Legendars innerhalb des Deutschen Ordens, wo dem Passional auch stilbildende Nachwirkung zugestanden wurde, mittlerweile in einigen Punkten revidiert werden muss.76 Die Konzentration auf ein Werk mit einem festen Legendencorpus bietet den Vorteil, die kontextuellen Rahmenbedingungen ebenso wie die Frage der Vorlage, die bei der Analyse stets mitbedacht werden muss, nicht für jeden Text neu verhandeln zu müssen. Auf diese Weise können die Kriterien zur narrativen Inszenierung und poetischen Konzeption von Heiligkeit aus den Texten selbst extrapoliert werden; die auf der Grundlage der unterschiedlichen theoretischsystematischen Zugriffsmodelle auf das legendarische Erzählen entwickelten Ana-

|| 75 Schon allein aufgrund der Materialfülle ist es schließlich nicht möglich, auch nur einen Überblick über das gesamte deutschsprachige Mittelalter, setzt man es grob in den Zeitraum von ca. 900–1500 n. Chr., zu entwerfen, geschweige denn, die formalen Unterschiede, divergierenden Rezeptionshintergründe usw. vollständig zu erfassen. Die Unterschiede beispielsweise zwischen dem frühmittelalterlichen Annolied und den literarisierten Legendenerzählungen Konrads von Würzburg sind ebenso immens wie die divergierende Inanspruchnahme desselben Legendenstoffs wie z.B. der Silvesterlegende im Rahmen der Kaiserchronik oder des mutmaßlich für Frauenkonvente konzipierten spätmittelalterlichen Legendars Der Heiligen Leben. 76 Vgl. Hans-Georg RICHERT, [Art.] Passional, in: ²VL 7, 1989, Sp. 332–340, hier Sp. 338f. Dass die Nachwirkung im Deutschen Orden nicht so hoch angesetzt werden darf, stellt Martin J. SCHUBERT, Einleitung zu: Das Passional. Buch I und II, hg. v. Annegret HAASE, Martin J. SCHUBERT u. Jürgen WOLF, Berlin 2013, S. XXXIVff. u. XLVff. heraus. Wenngleich ein direkter Entstehungskontext im Orden daher abgewiesen werden muss, so ist doch die Nähe zu den Wertvorstellungen eines solchen Ritterordens bisweilen überdeutlich; vgl. dazu auch unten, Kap. 2.1.2.

26 | Einleitung: Heiligkeit und Erzählung lysekriterien sollen dabei die Perspektive vorgeben, anhand derer die Inszenierung von Heiligkeit innerhalb eines überschaubaren Legendencorpus zu erfassen und in einer Reihe von exemplarischen Einzeluntersuchungen abzubilden sind. Fasst man, wie einleitend dargestellt, Heiligkeit als zusammengesetzte Kategorie auf, so ist auch die Legende als zusammengesetzte Textsorte zu beschreiben. Die Interpretation der einzelnen Legenden in Bezug auf deren Inszenierungsformen von Heiligkeit muss daher in ihrer Analyse sowohl die oben beschriebenen Basisoppositionen und Spannungsverhältnisse erfassen, als auch die entsprechenden Umschlagsphänomene und deren je spezifischen Handlungs- und Begründungsmechanismen. Diese Kriterien gilt es in Zusammenhang zu bringen mit den die einzelnen Legenden bestimmenden Erzählstrukturen, dem imitatio-Modell und den narrativen Eigenheiten der jeweiligen Erzählungen. Dies ermöglicht es, textübergreifende Aussagen zur narrativen Inszenierung von Heiligkeit zu treffen, die phänomenologisch, narratologisch und kontextuell aufeinander bezogen werden können; erst in einer solch fokussierten Analyse, die die unterschiedlichen Erzählprogramme ebenso wie deren je spezifische Ausgestaltung berücksichtigt, können die Inszenierungsformen von Heiligkeit adäquat beschrieben werden. Dabei wird zu prüfen sein, inwiefern unterschiedliche Realisierungen eines solchen Narrativs (vgl. nur die programmatischen Differenzierungen von Märtyrern wie z.B. Agnes oder Adrian) dennoch die gleichen Ausdrucksmöglichkeiten für Heiligkeit nach sich ziehen. Erst die Zusammenschau der einzelnen Phänomene und ihrer jeweiligen narrativen Bedingungen lässt weiterführende Ergebnisse erwarten. Nur so ist es zudem möglich, die Erkenntnisse nicht isoliert und entkontextualisiert zu betrachten, sondern textübergreifende Bedingungen mit einzubeziehen. Dazu gehört der Umgang mit der Vorlage des Passionals, der Legenda aurea, die auffällige Höfisierung mancher Figurenzeichnung, die einem ‚ritterlichen‘ Rezipientenkreis im Bereich des Deutschen Ordens zumindest entgegengekommen sein dürften, außertextuelle Bezüge auf Liturgie und Reliquienverehrung und anderes. Gleichzeitig muss die Konzentration auf die Legenden des Passionals zwangsläufig andere Darstellungsformen von Heiligkeit, etwa die der Mystik oder solche, die sich mit weiteren literarischen Formen überschneiden, aus dem Blick nehmen – doch steht ohnehin zu vermuten, dass derartige Sonderformen legendarischen Erzählens auch gesonderte Inszenierungsformen von Heiligkeit beanspruchen, als sie die hier aus den Einzelanalysen gewonnenen Ergebnisse abbilden.77 || 77 Das betrifft nicht zuletzt die Gattungshybride der ‚Legendenepik‘, vgl. dazu grundsätzlich Klaus BRINKER, Formen der Heiligkeit, Bonn 1968, sowie Ulrich WYSS, Theorie der mittelhochdeutschen Legendenepik, Erlangen 1973, und daran anschließend zahlreiche Einzelstudien. Das weite Feld der Mystik würde noch einmal ganz andere Formen von Heiligkeit literarisch inszenieren, unterliegt aber auch ganz anderen Entstehungs- und Rezeptionsbedingungen; vgl. dazu exemplarisch Susanne KÖBELE, heilicheit durchbrechen. Grenzfälle von Heiligkeit in der mittelalterlichen Mystik, in: Berndt HAMM et al. (Hg.), Sakralität zwischen Antike und Neuzeit, Stuttgart 2007, S. 147–169.

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Die hier skizzierten Analysekategorien, die bei der Interpretation der einzelnen Legenden über alle drei Ebenen (histoire-, discours- und Kontext-Ebene) zu betrachten sind, und zwar im Syntagma und Paradigma der Erzählungen zugleich, lassen andererseits keine Art der Gliederung (ob typologischer oder sonstiger Art) zu. Da mit einer ständigen Überschneidung der Kategorien und einer Vielzahl von Kombinationen zu rechnen ist, gilt es, jede Legende gesondert und im Ganzen zu betrachten und auf diese Weise gerade das Zusammenspiel der einzelnen Kategorien und Ebenen am Einzeltext analytisch fruchtbar zu machen. Erst in einer Gesamtschau der Interpretationen lassen sich Rückschlüsse über die Inszenierungsformen von Heiligkeit ziehen, die über das Passional hinaus dennoch kaum verallgemeinerbar sind – auch und gerade, weil dabei weder eine Typologie legendarischen Erzählens noch eine bloße Phänomenologie des Heiligen erstellt werden kann und soll. Der übergeordnete Rahmen des Passionals, der die hier zu untersuchenden Texte als Legendar verklammert, sorgt hingegen dafür, dass alle Legenden dieser Untersuchung unter den gleichen Rezeptionsbedingungen perspektivierbar sind, was die Vergleichbarkeit der textübergreifenden Bedingungen (also die Kontext-Ebene) garantiert. Der Vergleich einzelner Passionallegenden mit ihren jeweiligen Versionen aus andere Rezeptionszusammenhängen, insbesondere natürlich der Legenda aurea als Vorlage, lässt zusätzlich auch eine kontextuelle Differenzierung der gewonnenen Erkenntnisse zu. Damit rückt zuletzt die Auswahl der einzelnen Legendentexte in den Blickpunkt. Die im Passional aufgeführten Legenden stehen mit Ausnahme des im ersten Buch präsentierten Jesus- und Marienlebens weitgehend ohne inneren Zusammenhang nebeneinander, sie sind im dritten Buch wie die Texte der Legenda aurea nach ihrer Stellung im liturgischen Kalender aneinandergereiht. Eine poetische Konzeption von Heiligkeit muss daher notwendigerweise in Einzelanalysen erarbeitet werden. Diese Einzeluntersuchungen bilden exemplarische Fallstudien, die sich an den systematischen Gesichtspunkten besagter Analysekriterien ausrichten; dementsprechend ist die Auswahl der einzelnen Legendentexte heuristisch. Dagegen sind frömmigkeitsgeschichtliche Gesichtspunkte oder überlieferungs- und rezeptionshistorische Belange von untergeordneter Bedeutung. So besitzt beispielsweise nicht nur im Deutschen Orden, sondern im gesamten mitteldeutschen Raum Elisabeth von Thüringen eine herausgehobene Stellung, was sich nicht zuletzt darin niederschlägt, dass der Passionaldichter bei ihrer Vita ausnahmsweise nicht auf die Legenda aurea, sondern auf die älteste Lebensbeschreibung Konrads von Marburg zurückgriff. Derartige Konstellationen sind allerdings für die übergreifende Frage nach einer Systematisierung der Inszenierungsformen nicht entscheidend, sie müssen zwar in den Einzeluntersuchungen selbst entsprechend berücksichtigt werden, bilden aber keine systematischen Kriterien zur Textauswahl der einzelnen Fallstudien. Eine Ausnahme stellt allerdings das erste Buch des Passionals mit seiner Darstellung des Jesus- und Marienlebens dar. Zwar ist auch dieses in Einzelepisoden der jeweiligen Lebensbeschreibungen untergliedert, diese folgen jedoch einer inne-

28 | Einleitung: Heiligkeit und Erzählung ren Einheit, so dass die narrativen Heiligkeitskonzeptionen des ersten Buchs in ihrer Gesamtheit untersucht werden sollen. Eine solch weitgehende Kohärenz kann dagegen für die beiden anderen Bücher nicht ohne weiteres gelten. Buch II des Passionals bildet zwar unter der Überschrift ‚Buch der Boten‘ thematisch eine Einheit, die darin präsentierten Legenden der Apostel und übrigen Boten bauen jedoch nicht aufeinander auf, sondern sind Einzeltexte mit nur gelegentlichen inhaltlichen Korrespondenzen (so z.B. Petrus und Paulus, Andreas und Matthäus). Dies gilt erst recht für das dritte Buch, das die darin versammelten Heiligenlegenden nicht mehr hierarchisch, sondern kalendarisch anordnet und so eine inhaltlich unverbundene Aneinanderreihung unterschiedlicher Einzeltexte darstellt. Kann für das erste Buch im Leben Jesu und seiner Mutter noch eine Art chronologischer Aufbau konstatiert werden, folgen Buch II und III, die von der Nachfolge Christi in den Heiligen handeln, vielmehr liturgischen Ordnungen als inneren Erzählzusammenhängen. Es ist jedoch weder möglich noch sinnvoll, sämtliche Legenden des zweiten und dritten Buches zu erfassen. Vielmehr sollen wie schon bei der Analyse des ersten Buches auch hier systematische Gesichtspunkte im Vordergrund stehen. Die jeweiligen Einzelanalysen sind dabei unter entsprechenden thematischen Bezügen der jeweiligen Analysekriterien gebündelt, die für die Interpretation der einzelnen Legenden entscheidend sind. Notgedrungen kann hier nur eine begrenzte Auswahl an Texten zur Interpretation kommen, die den Status exemplarischer Fallstudien einnehmen. Diese bilden modellhaft die entsprechenden systematischen Überlegungen ab, welche sich an den jeweiligen Legenden auf besonders beispielhafte Weise nachvollziehen lassen, wodurch bestimmte narrative Konzeptionen von Heiligkeit aufgezeigt werden können. Eine solch heuristische Auswahl, die sich nach den entsprechenden Vorüberlegungen richtet, steht natürlich immer in der Gefahr, als Ergebnis auszuweisen, was zuvor postuliert und dann gezielt in den Texten gesucht worden ist. Indes wäre eine Aneinanderreihung von Einzelanalysen in ihren Ergebnissen im Nachhinein kaum mehr systematisierbar; eine solche Systematisierbarkeit kann daher nur in einer Vorwegnahme der Beobachtungen bestehen, welche die Einzelanalysen entsprechend gliedern. Relevant für eine solche Auswahl sind deswegen weder Legenden oder Heilige mit großer Wirkmächtigkeit oder Verehrungstradition, noch exzeptionelle überlieferungsgeschichtliche Besonderheiten, sondern einzig die Möglichkeit, bestimmte Analysekriterien exemplarisch zu erörtern. In der Gesamtschau ergibt sich daraus die Bandbreite des ‚Spielraums‘ legendarischen Erzählens im Kontext dieses Legendars – andere Kontexte und Funktionszusammenhänge würden noch entsprechend weitere und andere Spielräume eröffnen. Bei den Einzelanalysen muss, wie bereits bei den Untersuchungen zum ersten Passionalbuch, die Legenda aurea als Vorlage mitbedacht und wo nötig auch vergleichend hinzugezogen werden. Es ist jedoch nicht Ziel der Untersuchung, einen umfassenden Vergleich zwischen beiden Legendaren vorzunehmen, erst recht keine quellen- oder motivgeschichtliche Zusammenschau. Im Vordergrund steht stets die Frage nach den Inszenierungsformen von Heiligkeit und deren narrativen Operatio-

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nen, worauf auch der Vergleich zur Vorlage ausgerichtet ist. Dabei können die spezifischen Erzählverfahren des mhd. Legendars aufgezeigt werden, das im Vergleich zur lateinischen Vorlage zwar vielfach auf ähnliche Inszenierungsformen zurückgreift, diese jedoch teilweise ganz unterschiedlich ausgestaltet. Die vorliegende Untersuchung gliedert sich in zehn Kapitel. Nach den eben dargelegten methodisch-systematischen Voraussetzungen, unter denen die narrative Inszenierung von Heiligkeit beleuchtet werden soll, werden zunächst die Textbasis, das Passional, und die damit zusammenhängenden kontextuellen Rahmenbedingungen vorgestellt (Kapitel 2). Unter besonderer Betrachtung stehen dabei die gestalterischen, vor allem aber konzeptuellen Eigenarten dieses Legendars. Denn dessen Gesamtaufbau unterscheidet sich erheblich von dem seiner Vorlage: Während nämlich die Legenda aurea die einzelnen Texte im Rahmen des liturgischen Jahreskreises anlegt, die somit ohne innere Kohärenz aufeinanderfolgen, ist das Passional in drei Bücher unterteilt, die auf diese Weise eine übergeordnete, heilsgeschichtliche Relevanz erlangen. Nicht zuletzt aus diesem Grund stellt das 3. Kapitel eine ausführliche Analyse des in der Forschung bisher so gut wie gar nicht beachteten ersten Passionalbuches dar. Denn gerade dieses präsentiert in beinahe chronologisch-historischer Abfolge eine in sich kohärente Darstellung der Leben Jesu und Marias. Diese können als vorbildhaft für die künftigen Heiligen und das Erzählen von ihnen gelten. Die Heiligkeit Jesu, in deren Nachfolge alle anderen Heiligen stehen, ist, so die These, dadurch auch in ihrer erzählerischen Anlage exemplarisch für die nachfolgend angeordneten Legenden der Apostel und übrigen Heiligen im zweiten und dritten Buch des Passionals. Die Kapitel 4–6 umfassen exemplarische Einzeluntersuchungen, in denen zunächst die Frage im Vordergrund steht, wie der imitatio-Gedanke über die Vorbildhaftigkeit der im ersten Buch präsentierten Erzählungen von Jesus und Maria auf die Ausgestaltung der Heiligenlegenden einwirkt. Aufbauend darauf sollen die spezifischen Analysekriterien – Basisoppositionen und Umschlagsmomente – beispielhaft herausgearbeitet werden. Das imitatio-Modell, dessen verschiedenen Facetten das umfassende 4. Kapitel gewidmet ist, durchzieht als Grundmuster alle Legenden: Christliche Heilige sehen sich stets in der Nachfolge Christi, die ersten und für das Christentum bedeutendsten Nachfolger allerdings sind die Apostel, die als Jünger Jesu ihm nicht nur bereits zu seinen Lebzeiten nachgefolgt sind, sondern auch darüber hinaus von ihm persönlich jenen bereits im Neuen Testament dargestellten Nachfolgeauftrag erhalten haben. Wie stark diese Nachfolgebereitschaft ausgeprägt ist, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass fast alle Apostel den Tod im Martyrium in imitatione Christi suchen. Dieses Kapitel konzentriert sich somit auf ausgewählte Legenden des zweiten Passionalbuches, um einerseits die direkte Nachfolgeschaft Christi unter den Aposteln (zu denen hier im weiteren Sinne auch Maria Magdalena zählt) zu untersuchen, andererseits aber um zu zeigen, inwieweit diese Legenden wiederum Nachfolge und imitatio Christi vorbildhaft für die Heiligen des dritten Buches

30 | Einleitung: Heiligkeit und Erzählung inszeniert, indem die im zweiten Buch versammelten Heiligen ihrerseits Vorbilder und Imitatiofiguren für die Heiligen des dritten Buches darstellen. Ausgehend von der Andreaslegende, in der die Narrativierung einer unmittelbaren Nachfolge Jesu in dem Apostel nicht allein im Kreuzestod, sondern auch über wörtliche Verweise zu beobachten ist, wird dann mit der Petrusvita eine Legende untersucht, die größtmögliche Christusähnlichkeit nicht allein über das Martyrium realisiert (dieses setzt eher einen Kulminationspunkt), sondern vor allem über die Differenzsetzung von Wunder und Magie, wobei es gerade das Negativbeispiel des Simon Magus ist, das umgekehrt Petrus als exemplarischen Christusnachfolger auszeichnet. Daran schließt sich mit der Johannesvita die Lebensbeschreibung des einzigen Apostels an, der nicht durchs Martyrium stirbt und dessen Legende somit eine andere Form der Nachfolge als den Märtyrertod präfiguriert. Die Legende der Maria Magdalena zeigt zuletzt die einzige weibliche Heilige des zweiten Buchs, bei der die Umkehr vom sündigen Leben zur Christusnachfolge im Mittelpunkt steht. Die beiden nachfolgenden Kapitel widmen sich dann den Legenden des dritten Buches, und hier können übergeordnete Erzählstrategien herausgearbeitet werden, die sich zumindest zu einem gewissen Grad verallgemeinern ließen. Dazu gehören insbesondere die mit dem Spannungsfeld von Heiligkeit verbundenen Basisoppositionen, wie sie das 5. Kapitel untersucht. Diese lassen sich selbstredend ebenso in den Apostellegenden finden, welche jedoch innerhalb der spezifischen Konzeption des Passionals in einem besonderen Zusammenhang zu den Texten des dritten und des ersten Buches, weshalb sie im vorherigen Kapitel auch gesondert besprochen werden. Die Legenden des dritten Buches dagegen sind konzeptionell wie formal noch viel stärker an der Vorlage der Legenda aurea ausgerichtet, was nicht heißen soll, dass ihren Erzählstrategien allein dadurch eine höhere Verallgemeinerbarkeit zukäme (auch wenn die Legenda aurea fürs Spätmittelalter ausgesprochen formgebend gewirkt hat). Doch lassen sich an den Texten dieses dritten, von den übrigen beiden Büchern nicht nur inhaltlich und konzeptionell, sondern auch überlieferungsgeschichtlich abgesonderten Buches Bedingungen und Erzählstrategien legendarischen Erzählens abbilden, die auch für andere, unter differierenden Rezeptionsund Entstehungskontexten stehende Narrativierungen von Heiligkeit übertragbar sind. Zunächst wird anhand der Legenden von Christina und Ägidius die ganz unterschiedliche Ausgestaltung des Spannungsverhältnisses von Inklusion und Exklusion verhandelt (Kap. 5.1): Zeigt sich bei Christina der Abschied von der Welt als stufenweise Exklusion zunächst von der Familie, dann von der gesamten sozialen Gemeinschaft und schließlich ganz radikal im Märtyrertod vom Leben und der Körperlichkeit, so bedeutet Weltabschied und Christusnachfolge bei Ägidius die schrittweise Entfernung von der Gesellschaft hin zum eremitischen Dasein, um zuletzt doch wieder in die Gesellschaft zurückzukehren. In beiden Fällen ist die Exklusion aus der weltlichen Gemeinschaft Voraussetzung für die Inklusion in die himmlische Gemeinschaft der Heiligen. Im Anschluss daran werden die Oppositionspaare Stigma

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und Charisma sowie Sünde und Gnade besprochen (Kap. 5.2 u. 5.3), die sich exemplarisch an den Legenden von Franziskus und Theodora aufzeigen lassen. Von Bedeutung sind hierbei insbesondere narrative Umschlagsmomente, das Umschlagen vom Stigma zum Charisma, von der Sünde zur Gnade und damit zur Auserwähltheit, zur Heiligkeit. Das 6. Kapitel soll im Anschluss an diese Überlegungen noch einmal den Aspekt der imitatio Christi aufgreifen, die sich am eindringlichsten im Tod durchs Martyrium zeigt. Es verbindet damit zugleich die Gedanken zur Nachfolge Christi, wie sie bereits im Rahmen der Apostellegenden diskutiert wurden, mit den grundsätzlichen Überlegungen zu den Basisoppositionen. Das Martyrium, das in Legenden ja stets ein Umschlagen vom Stigma ins Charisma bedeutet, ist in seiner narrativen Ausgestaltung mit einem spezifischen Körperkonzept verbunden, das es für sämtliche Märtyrerlegenden zu beachten gilt und das in der exemplarischen Analyse verschiedener Texte genauer dargelegt werden soll: Zunächst in der Ignatiuslegende, die einen Heiligen zeigt, dessen Nachfolge nurmehr indirekt, eben ausschließlich über den Martyriumsgedanken, vermittelt wird. Die dann folgenden Legenden von Agnes und Agatha sowie Adrian zeigen in den Elementen der Jungfräulichkeit bzw. der Ritterlichkeit einerseits differierende Inszenierungsformen einer imitatio Christi, andererseits aber ein deutliches Spannungsverhältnis von Inklusion und Exklusion bzw. Stigma und Charisma. Imitatio beschränkt sich jedoch nicht allein auf eine Christus-Nachfolge im Martyrium, weshalb diese Überlegungen zuletzt erweitert und ausgedehnt werden auf die Martha-Legende, in der wie auch schon in der Johannesvita die imitatio Christi als Inszenierungsform von Heiligkeit sich als Strukturelement nicht nur auf Märtyrer- sondern auch Bekennerlegenden übertragen lässt. Zuletzt sollen im 7. Kapitel keine Heiligenviten untersucht werden, sondern die Lebensbeschreibungen von Judas und Pilatus, um die zuvor erprobten narrativen Operationsformen auch auf solche Texte übertragen, die im Gegenteil Unheilige thematisieren und insofern antithetisch zu den Legenden heiliger Personen stehen. Es wird zu zeigen sein, ob hier die gleichen narrativen Inszenierungsformen, nur gewissermaßen mit umgekehrten Vorzeichen, gelten können. Derartige Erzählformen, insbesondere eine narrative Finalität sowie die in Kap. 5 beschriebenen Umschlagsmomente, sind auch entscheidend für die legendarischen Erzählstrukturen und Handlungsmotivationen, mit denen sich das 8. Kapitel beschäftigt. Hier sollen zum einen die narratologischen Besonderheiten von Umschlagsmomenten und Motivationsstrukturen kurz beleuchtet werden (Kap. 8.1), zum anderen außerhagiographische Erzählmuster und deren erzählstrukturelle ‚Nutzbarmachung‘ für die legendarischen Narrative (Kap. 8.2). Dabei wird untersucht, inwieweit eine finale Handlungssteuerung sowie entsprechende Umschlagsmomente auch durch Erzählmuster übernommen werden, die nicht primär einem hagiographischen Kontext entstammen, wie beispielsweise der antike Liebesroman, dessen Struktur in der Clemenslegende in ein entsprechend christlich-religiöses Syntagma überführt wird. Solche erzähllogischen Bedingungen gilt es in den Legenden von Georg, Clemens und Ur-

32 | Einleitung: Heiligkeit und Erzählung sula ebenso zu beschreiben wie die Inanspruchnahme nichthagiographischer Erzählmuster, welche vielfach eben jene finalen Logiken gerade bestätigen. Das 9. Kapitel schließlich versucht, noch einmal über den Textrahmen des Passionals hinaus zu blicken und eine größere Verallgemeinerbarkeit der hier erbrachten Ergebnisse zu erzielen. Daher sollen die Legenden von Christophorus, Silvester und Elisabeth von Thüringen des Passionals mit anderen Versionen verglichen werden, so dass die poetische Konzeption von Heiligkeit in unterschiedlichen Rezeptions- und Entstehungskontexten betrachtet werden kann: Es steht zu erwarten, dass die zuvor konstatierten Inszenierungsformen von Heiligkeit nicht ausschließlich an einen bestimmten Kontext wie das Passional gebunden sind, sondern in unterschiedlicher Ausprägung auch in anderen Überlieferungsträgern dieser Legenden zu finden sind – ohne dass dadurch freilich auf eine gänzliche Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse zu schließen wäre, wie nicht zuletzt die ganz anderen Maßstäben folgende lateinische Christophorusvita Walthers von Speyer vermuten lässt. Ein letztes, 10. Kapitel versucht, die Ergebnisse nochmals unter systematischen Bezügen zusammenzufassen.

2 Zum Passional als Textgrundlage 2.1 Das Passional im Kontext mittelalterlicher Hagiographie Die Anfänge der christlichen Hagiographie gehen zurück auf die frühen Märtyrerprozesse. Einzelne Heiligenkulte entwickelten zunächst nur lokale Bedeutung und waren meist auf den Begräbnisort einer als heilig erachteten Persönlichkeit beschränkt, so dass nur dort das Bedürfnis aufkam, das Leben, vor allem aber den gewaltsamen Märtyrertod der kultisch verehrten Persönlichkeiten zum Zwecke der memoria auch schriftlich festzuhalten. Dies geschah zum einen auf Grundlage der Verhörprotokolle, zum anderen anhand der Aussage glaubwürdiger (Augen-) Zeugen des Geschehens, wobei eine reine Wiedergabe der Prozessakten relativ selten gegeben ist; zumeist sind die schriftlich überlieferten Formen bereits redigiert, umgearbeitet und erweitert worden.1 Bereits zu diesem frühen Zeitpunkt zeigen sich erhebliche stilistische und formale Unterschiede in der Gestaltung der einzelnen Berichte, nicht zuletzt bedingt durch die Entstehung in unterschiedlichen Gemeinschaften und zu verschiedenen Zeiten. Mit der Etablierung des Christentums im römischen Reich stand die Heiligenverehrung und damit auch die Hagiographie unter besonderer Begünstigung, was wesentlich die Produktion von Vitensammlungen anregte, es entstanden „Martyrologien, Passionarien und Legendarien, in denen Texte vereinigt wurden, die sich zur öffentlichen Verlesung an den Jahresfesten der Heiligen eigneten“2. Neben diesen in der Regel noch relativ kurzen Darstellungen, die anfangs meist nur Verhör, Folter und Tod im Martyrium umfassten, vom übrigen Leben des betreffenden Heiligen jedoch wenig Auskunft gaben, entstehen außerhalb solcher Sammlungen auch immer mehr Einzelüberlieferungen von Le|| 1 Vgl. zu den Anfängen der christlichen Heiligenverehrung allgemein BROWN, Heiligenverehrung; vgl. zur Entwicklung der Hagiographie überblicksweise David Hugh FARMER, [Art.] Hagiographie (I), in: TRE 14, 1985, S. 360–364, hier 361f. Als ältestes schriftliches Zeugnis gilt das Martyrium Polycarpi, das vom Märtyrertod des Bischofs von Smyrna, Polykarp (ca. 166/177), berichtet. Zu den Quellen vgl. Theofried BAUMEISTER, Genese und Entfaltung der altkirchlichen Theologie des Martyriums, Berlin u.a. 1991. 2 FARMER, [Art.] Hagiographie I, S. 362. Die zunehmende Einbindung der Heiligenverehrung in die Liturgie einer mehr und mehr überregional agierenden, zentralistisch organisierten ‚Gesamtkirche‘ darf bei der Produktion volkssprachiger hagiographischer Textsammlungen nicht unterschätzt werden, auch wenn die römische Kirche sich eine derartige Praxis (im Gegensatz zur Ostkirche) erst relativ spät zu eigen gemacht hat; in der irischen Kirche ist dagegen vergleichsweise früh die Produktion volkssprachiger Sammlungen angeregt worden (z.B. das Martyrologium des Oénghus: Félirer Oenghusso). Martyrologien, ob volkssprachig oder lateinisch, bleiben gleichwohl relativ summarische, katalogartige Aufzählungen, hauptsächlich für den liturgischen Gebrauch bestimmt. Maßstäbe für das hagiographische Erzählen narrativ ausgeformter Legenden setzte im 6. Jh. nicht zuletzt Gregor d. Gr., dessen ‚Dialogi‘ nicht mit einfachen Legendensammlungen gleichzusetzen sind, sondern vornehmlich homiletischen und exegetischen Charakter besitzen.

34 | Zum Passional als Textgrundlage genden, die in breiter, beinahe literarischer Ausgestaltung eben dies tun: eine vollständige Lebensbeschreibung bieten, zu der z.T. noch die Schilderung der Translation der Gebeine, vor allem aber eine umfangreiche Mirakelsammlung der nach dem (leiblichen) Tod vollbrachten Wunder hinzukommt (wobei translatio und miracula bisweilen auch schon in den frühen Martyrologien erwähnt, kaum aber breiter ausgestaltet werden). Dies gewinnt an Bedeutung vor allem bei der Etablierung ‚neuer‘ Heiliger, nachdem der Martyriumsbegriff – nicht zuletzt mit dem Ende der Christenverfolgungen – sich grundlegend gewandelt hatte: Neben der direkten Blutzeugenschaft erfahren jetzt zunehmend die ‚Bekenner‘ (confessores) die Ehre der Erhebung zu den Altären; die Aufnahme in die communio sanctorum ist nun auch durch die besondere Ausübung christlicher Tugenden (besonders ein streng asketischer Lebenswandel) und nicht zuletzt Wundertätigkeit erreichbar.3 Eine der ersten dieser Art ist noch im 4. Jh. die von Athanasius verfasste Vita des hl. Antonius, die schon bald aus dem Griechischen ins Lateinische übersetzt wurde, und – im Bereich der römisch-lateinischen Kirche – die Vita des hl. Martin von Tours, aufgezeichnet durch dessen Schüler Sulpicius Severus.4 Auffallend ist auch, dass sich die Autoren dieser Viten explizit und selbstbewusst zu Wort melden; anders als bei größeren Legendensammlungen sind sie keine anonymen Redaktoren, sondern verbinden wie Sulpicius die Glaubwürdigkeit ihrer Aussagen nicht zuletzt mit ihrer individuellen Augenzeugenschaft oder indem sie ihre Quellen sorgfältig auswählen, benennen und kommentieren. Beachtung verdienen daneben auch die Biographien sog. ‚Adelsheiliger‘, die insbesondere in der Merowingerzeit aufkommen und dem herrschenden Hochadel die Möglichkeit verschafften, durch familiäre Anbindung an deren Patronate ihren exklusiven Status zu beglaubigen und zu festigen.5

2.1.1 Die Legenda aurea: Formgebend für spätmittelalterliches Legendenerzählen Überlieferung, Sujets und Erzählweise hagiographischer Texte weisen daher erhebliche Unterschiede auf, was nicht zuletzt am gänzlich heterogenen Entstehungsund Rezeptionskontext der einzelnen Legenden liegt, die noch dazu sowohl inner|| 3 Vgl. zu dieser Umdeutung vom ‚roten‘ zum ‚weißen‘ Martyrium Petra HÖRNER, Spiritualisierung und Konkretisierung des Martyriumgedankens in der deutschen Literatur des Mittelalters, in: Euphorion 97 (2003), S. 327–348, v.a. 331–339. 4 Vgl. ANGENENDT, Heilige und Reliquien, S. 55–68. 5 Das Zusammenwirken beider Teilaspekte ließe sich exemplarisch an der Ulrichsvita zeigen, vgl. dazu Werner WOLF, Von der Ulrichsvita zur Ulrichslegende. Untersuchungen zur Überlieferung und Wandlung der Vita Udalrici als Beitrag zu einer Gattungsbestimmung der Legende, München 1967. Den unterschiedlichen Umgang der einzelnen Fassungen mit dem Stoff, die jeweils andersgelagerten inhaltlichen Schwerpunkte, die Verwendung rhetorischer Stilmittel etc. charakterisiert treffend Walter BERSCHIN, Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter 4.1, Stuttgart 1999, S. 128–161.

Das Passional im Kontext mittelalterlicher Hagiographie | 35

halb größerer Sammlungen als auch in Gestalt teils sehr umfangreicher Einzelüberlieferungen tradiert werden. Formale wie inhaltliche und erzählerische Maßstäbe setzte nachhaltig dann der Dominikaner und spätere Bischof von Genua Jacobus de Voragine mit der Legenda aurea, eines der umfassendsten, vor allem aber erfolgreichsten Legendare des Mittelalters, das wahrscheinlich in den 50er oder 60er Jahren des 13. Jhs. verfasst worden ist.6 Denn während die bisherigen Kompendien ihre Legendenstoffe aus den unterschiedlichsten Quellen zusammenkompilieren, so dass diese meist formal und stilistisch uneinheitlich und im Textbestand zudem an den Gegebenheiten der lokalen Heiligenverehrung gebunden sind, unterzieht Jacobus alle seine Texte einer gleichförmigen Bearbeitung, die auf diese Weise sowohl nach formalen als auch inhaltlichen Gesichtspunkten stets eine einheitliche Gestaltung aufweisen. Grundlegendes Kennzeichen seiner Überarbeitung ist die abbreviatio, d.h. die Komprimierung des Geschehens zu kurzen Erzähleinheiten. Diese Bearbeitungstechnik lässt sich charakterisieren als „Zusammenfassung, […] Reduzierung der Handlung auf die zum Verständnis notwendigen Elemente und [ein] Verzicht[ ] auf Ausschmückungen“7. Indem die faktische Handlung dominiert, deren Abläufe lediglich knapp zusammengefasst werden, spielen inneres Geschehen, Motivierungen der Handlungsträger u.ä. so gut wie keine Rolle. Daher lassen sich für Jacobus erhebliche Eingriffe in seine Quellen (er benutzt Abbreviaturen anderer Kompilatoren wie Jean de Mailly, greift aber ebenso auf deren Vorlagen zurück) feststellen, die allesamt zu einer Gleichförmigkeit des Erzählens führen. Die Reduzierung der Erzählhandlung zugunsten eines sachlich-nüchternen Prosastils wirkt sich nicht zuletzt darauf aus, dass nurmehr wenige Partien direkter Rede zu finden sind, dafür werden immer wieder geistlich-gelehrte Diskurse, Quellenkommentare und predigthafte Einschübe dazwischengeschaltet; am signifikantesten ist die (pseudo-) etymologische Ausdeutung des Heiligennamens zu Beginn fast jeder Legende.8 Angeordnet sind die einzelnen Texte in liturgischer Reihenfolge nach dem jeweiligen Gedenktag im Heiligenkalender, woraus sich eine klare heilsgeschichtliche Konzeption ergibt: Die Lehre der Weltzeitalter spiegelt sich in den Heilszeiten wider, welche sich im Leben der einzelnen Heiligen offenbart. Hinzu kommen Kapitel zu den jeweiligen Kirchenfesten, in denen theologische und liturgische Grundlagen auch einem Laienpublikum verständlich gemacht werden können.9 Auf diese Weise || 6 Zur Datierung zwischen 1252 und 1260 vgl. Barbara FLEITH, Studien zur Überlieferungsgeschichte der lateinischen Legenda Aurea, Brüssel 1991, S. 12–16. Textgrundlage ist: Jacopo da Varazze, Legenda Aurea, hg. von Paolo Giovanni MAGGIONI, Florenz 21998 [= LA]. Die Übersetzungen folgen der Ausgabe von Richard Benz: Die Legenda aurea des Jacobus de Voragine, aus dem Lateinischen übersetzt von Richard BENZ. Mit einem Nachwort von Walter BERSCHIN, Gütersloh 152007. 7 Reglinde RHEIN, Die Legenda aurea des Jacobus de Voragine. Die Entfaltung von Heiligkeit in ‚Historia‘ und ‚Doctrina‘, Köln u.a. 1995, S. 31. 8 Zur Darstellung der Erzählverfahren, insbesondere der abbreviatio, sowie Jacobus’ Umgang mit seinen Quellen vgl. ebd., S. 21ff., insbes. S. 27–34. 9 Vgl. ebd, S. 32f.

36 | Zum Passional als Textgrundlage leistet Jacobus viel mehr, als eine bloße Legendensammlung zusammenzustellen: Die Legenda aurea stellt sich vielmehr als „hagiographische Enzyklopädie“10 dar, ähnlich dem Speculum historiale des Vinzenz von Beauvais, das Jacobus ebenfalls herangezogen hat. Es kann sowohl als Predigthandbuch wie als liturgisches Nachschlagewerk dienen, taugt für Tischlesungen in Klostergemeinschaften ebenso wie für den Schul- und Universitätsgebrauch und ist gerade aus diesem Grund nicht allein bei einer exklusiven Zahl hochgebildeter Kleriker in Gebrauch, sondern findet gleichermaßen Verwendung in Pfarrkirchen, zur Gottesdienst- und Predigtvorbereitung, besonders auch zur Ausbildung der Novizen innerhalb des Dominikanerordens. Die Nachwirkung dieses Werkes war enorm: Zum einen überrascht die erstaunliche Geschwindigkeit, mit der es überall in Europa innerhalb weniger Jahrzehnte verbreitet wurde (auch wenn die Dominikaner hier sicherlich keinen geringen Anteil haben);11 als älteste Handschrift jenseits der Alpen gilt clm 13029 (München: BSB) aus dem Jahr 1282.12 Doch nicht nur schnell, sondern auch besonders zahlreich wird die Legenda aurea weiterverbreitet, und die enorme Rezeption dauert über Jahrhunderte an, so dass sie bis zum Aufkommen des Buchdrucks als das meistgelesene Werk neben der Bibel gelten kann.13 Grund für die schnelle und immense Beliebtheit ist die ausgeprägte stilistische und inhaltliche Formalisierung der an sich äußerst heterogenen Stoffe und Einzelerzählungen sowie deren Anordnung in den Jahreskreis des Heiligenkalenders, der sämtliche Erzählungen in einen übergreifenden Kontext einfügt. Eines der wichtigsten Erfolgskriterien ist sicherlich die vielfältige Verwendungsmöglichkeit gewesen; vor allem aber bildet die Legenda aurea die bedeutendste Vorlage für volkssprachige Adaptionen. Noch in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts entsteht in Straßburg eine deutschsprachige Übersetzung, die Elsässische Legenda aurea, eine in weiten Teilen sehr getreue Übertragung des lateinischen Textes, die freilich auch eigenständige Teile hinzufügt.14 Doch schon das erste deutschsprachige Legendar, das um 1300 entstandene mhd. Passional, basiert weitgehend auf der Legenda aurea als Hauptquelle, aber hierbei handelt es sich weniger um eine direkte Übertragung denn um eine äußerst selbständige Bearbeitung der in der Legenda aurea präsentierten Legendenstoffe.

|| 10 Ebd., S. 18 11 Vgl. hierzu ausführlich FLEITH, Überlieferungsgeschichte, S. 406ff. 12 Vgl. zur Handschriftenbeschreibung Elisabeth KLEMM, Die illuminierten Handschriften des 13. Jahrhunderts deutscher Herkunft in der Bayerischen Staatsbibliothek, Wiesbaden 1998, S. 67–69. 13 Vgl. RHEIN, Legenda aurea, S. 17f. 14 Vgl. Werner WILLIAMS-KRAPP, Die deutschen und niederländischen Legendare des Mittelalters. Studien zu ihrer Überlieferungs-, Text- und Wirkungsgeschichte, Tübingen 1986, S. 35ff. Insgesamt wird die Legenda aurea im 14. und 15. Jh. achtmal im deutschsprachigen und zweimal im niederländischen Raum übersetzt, vgl. die Zusammenstellung ebd., S. 13.

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2.1.2 Das Passional als erstes deutschsprachiges Legendar Über den Verfasser dieses Legendars, das mit annähernd 110.000 Versen eines der umfangreichsten Erzählwerke des gesamten deutschsprachigen Mittelalters darstellt, ist so gut wie nichts bekannt. Er ist wahrscheinlich Geistlicher gewesen, was nicht allein aus der Fähigkeit, lateinische Werke ins Deutsche zu übertragen hervorgeht, sondern vor allem aus der geistlichen Bildung, der Vertrautheit mit liturgischen und kirchlich-sakralen Gegebenheiten sowie den predigthaften Einschüben innerhalb dieses Werkes, außerdem aus einigen, freilich spärlichen Selbstaussagen. Zugleich firmiert er auch als Verfasser des Väterbuchs, einer Sammlung von Eremitenviten, die noch vor dem Passional und in weiten Teilen noch ohne Heranziehung bzw. Kenntnis der Legenda aurea entstanden ist. Da der Verfasser des Väterbuchs die Legenda aurea erst im zweiten Teil als Vorlage hinzugezogen hat, sie ihm also erst im Verlauf der Entstehung dieses Werkes bekannt geworden zu sein scheint, er die Legenda aurea im Passional jedoch von Anfang an als Quelle verwendet, lässt sich als Entstehungszeit dieses Legendars in etwa die Jahrhundertwende, also ca. 1300 oder kurz davor, erschließen.15 Über die Herkunft des Verfassers und die Entstehungsumstände seines Werks ist nichts bekannt. Man hat früh Bezüge zum Deutschen Orden vermutet, die sich indes inhaltlich an keiner Stelle belegen lassen – hier fällt zwar das große Interesse an der Ordenspatronin Maria auf, andere für den Deutschen Orden maßgebliche Heilige dagegen fehlen – sondern hauptsächlich auf sprachlichen Kriterien beruhen.16 Die Zugehörigkeit des Verfassers zum Deutschen Orden bzw. überhaupt die Entstehung des Werkes in dessen Einflussgebiet oder gar Auftrag muss daher in Frage gestellt werden, da insbesondere die bisher als Hauptargument angeführten sprachlichen Merkmale sich als wenig stichhaltig erwiesen haben.17 Mit sprachlichen oder inhaltlichen Kriterien || 15 Vgl. sehr differenziert zu dieser Frage Martin J. SCHUBERT, Einleitung zu: Das Passional. Buch I und II, hg. v. Annegret HAASE, Martin J. SCHUBERT u. Jürgen WOLF, Berlin 2013, S. XXV–XXIX. Vgl. schon Karl HELM u. Walther ZIESEMER, Die Literatur des Deutschen Ritterordens, Gießen 1951, S. 50 (mit Nachweisen); Hans-Georg RICHERT, [Art.] Passional, in: ²VL 7, 1989, Sp. 332–340. 16 Im Reimgebrauch weist die Sprache md. Einflüsse auf; besonders auffällig ist der Wortschatz mit einer ganzen Reihe ausgeprägter nautischer Ausdrücke und Spezialbegriffe aus der Seefahrt, vgl. HELM/ZIESEMER, Literatur, S. 66; vgl. zum Entstehungskontext zuletzt SCHUBERT, Einleitung, S. XXX–XLIII, zum Deutschen Orden und einer Kritik an den dafür angeführten sprachlichen Kriterien ebd., S. XXXIV–XXXIX. 17 Vgl. Martin J. SCHUBERT, Das ‚Passional‘ und der Deutsche Orden, in: Ralf G. PÄSLER u. Dietrich SCHMIDTKE (Hg.), Deutschsprachige Literatur des Mittelalters im östlichen Europa, Heidelberg 2006, S. 139-155, hier S. 151ff., der auch darauf hinweist, dass die hs. Verbreitung zwar über den gesamten deutschen Sprachraum zu beobachten ist, sich jedoch „fast ausschließlich in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts abspielt“ (ebd., S. 141). Vgl. zu den sprachlichen Kriterien auch Martin J. SCHUBERT, Die neue Edition des Alten Passionals. Zur Reimsprache, in: Jarosław WENTA et al. (Hg.), Mittelalterliche Kultur und Literatur im Deutschordensstaat in Preußen: Leben und Nachleben, Toruń 2008, S. 411-421, hier S. 413; Jarosław WENTA, Die polnischen und deutschen Forschungen über die Geschichte Preußens

38 | Zum Passional als Textgrundlage lässt sich daher kein direkter Kontakt mit dem Deutschen Orden nachweisen, ebensowenig die Überlieferungssituation, doch zeigen intertextuelle Bezüge von eindeutig innerhalb des Deutschen Ordens verfassten Werken (bes. bei Nikolaus von Jeroschin), dass zumindest die Rezeption des Passionals durchaus in dessen Bereich stattfand. Beim Verfasser eines derart umfangreichen Werkes muss eine entsprechende institutionelle Anbindung vermutet werden, doch welche dies gewesen sein mag, bleibt unklar. Beachtlich sind sicherlich die immer wieder hervortretenden ritterlich-höfischen Wertvorstellungen, die zahlreiche Legenden des Passionals transportieren und die für eine zumindest oberflächliche Verbindung für den Deutschen Orden sprechen könnten. Zugleich aber fällt das Interesse an den Bettelorden, insbesondere aber Bezüge zum franziskanischen Gedankengut auf, ohne dass aber auch hier eine besondere Nähe eindeutig feststellbar wäre. Entsprechende Verbindungen sind vorhanden, bleiben aber zu vage, um konkretere Hinweise auf einen möglichen Entstehungskontext zu geben.18 Welche Vorlagen der Passionaldichter im Einzelnen herangezogen hat, ist noch weitgehend unerforscht. Sicher ist nur, dass seine Hauptquelle in den meisten Fällen die Legenda aurea gewesen sein muss; das Passional kann somit als die erste systematische Bearbeitung dieses Legendars gelten.19 Beim Gesamtkonzept seines Werkes weicht der Passionaldichter, wiewohl er Stoff und meist auch die spezifischen Handlungsfolgen von Jacobus de Voragine übernimmt, allerdings grundlegend von der Gliederung der Legenda aurea ab: Diese reiht die einzelnen Erzählungen einfach aneinander, deren Abfolge lediglich durch die Position bestimmt ist, die der jeweilige Heilige im liturgischen Kalender einnimmt (zwischengeschaltet Feiertage von hoher kirchlicher Bedeutung wie Ostern oder Weihnachten, Hochfeste wie Petri Ketten etc.), so dass die Legenden weitgehend unverbunden, ohne innere Kohärenz nebeneinander stehen; kohärenzstiftend ist vielmehr der äußere Rahmen || im Mittelalter: Bilanz und Perspektiven, in: JOWG 12 (2000), S. 241–258, hier S. 250ff. Zusammenfassend bewertet Schubert, Einleitung, S. XXX–XXXV die für einen solchen Entstehungskontext sprechenden Argumente äußerst kritisch, das gilt auch für die immer wieder ins Feld geführte handschriftliche Überlieferung, vgl. ebd., S. CLIV–CLVII. 18 Vgl. zur Überlieferungsgeschichte grundlegend Hans-Georg RICHERT, Wege und Formen der Passional-Überlieferung, Tübingen 1978, zu rezeptionsgeschichtlichen und literarischen Bezügen vgl. bes. S. 158ff. Kritisch und ergänzend dazu Kurt GÄRTNER, Zur Überlieferungsgeschichte des Passionals, in: ZfdPh 104 (1985), S. 35–69, sowie die Rezension von Werner WILLIAMS-KRAPP, in: AfdA 91 (1980), S. 116–120. Vgl. auch HELM/ ZIESEMER, Literatur des Deutschen Ritterordens, S. 64f. SCHUBERT, Einleitung, S. XLIII, zieht als Fazit, das Passional zeige „Entsprechungen zur Denkwelt des Deutschen Ordens sowie zu derjenigen der Franziskaner“. Die Dominanz ritterlich-höfischer Wertvorstellungen betont Silvia KEHREL, Möglichkeiten, Kindheit zu denken. Darstellungen von Kindheit und ihre ideale Rezeption im mittelhochdeutschen Passional, Würzburg 2013, im Fazit ihrer umfangreichen Analyse, S. 398–406, und sieht hierin eine besondere Nähe zur „Mentalität des Deutschen Ordens“ (S. 405). 19 Vgl. SCHUBERT, Neue Edition, S. 411. Zu den Quellen der ersten beiden Bücher vgl. SCHUBERT, Einleitung, S. CCX–CCXLVII.

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des Heiligenkalenders. Der unbekannte Verfasser des Passionals verfolgt hingegen ein gänzlich anderes Konzept, abgesehen davon, dass er sich auch formal und stilistisch in keiner Weise an der Legenda aurea orientiert (dazu unten). Er teilt sein Werk in insgesamt drei Bücher ein: Das erste Buch handelt in knapp 20.000 Versen von Jesus und Maria, also den grundlegenden, das Christentum konstituierenden Personen und Ereignissen, im Zentrum stehen Passion, Tod und Auferstehung Jesu, den größten Einzelkomplex bilden zum Abschluss eine Reihe von insgesamt 25 Marienmirakeln. Mit dem zweiten Buch werden dann die direkten Nachfolger Christi genannt, und zwar diejenigen, die ihm persönlich begegnet sind und dabei direkt von ihm selbst den Nachfolgeauftrag erhalten haben. Ihre Viten, in erster Linie sind es die der zwölf Apostel mit Paulus, werden darum auch in einer streng hierarchischen Reihenfolge gehalten. Das III. Buch schließt zuletzt alle diejenigen ein, die nicht mehr persönlich von Jesus beauftragt wurden, seine Nachfolge aber zu einem späteren Zeitpunkt erfüllt haben. Erst in diesem dritten Buch wird das Gliederungsprinzip der Legenda aurea nach der Anordnung des Heiligenkalenders vollständig übernommen.20 Die an sich unzusammenhängenden Einzellegenden werden in der Verknüpfung der drei Bücher allerdings in einen übergreifenden Zusammenhang gestellt: Die einzelnen Bücher sind mit Vor- und Nachreden untereinander verbunden, verschiedene Viten nehmen bisweilen auch direkt aufeinander Bezug. Vor allem aber wirkt die so präsentierte Stoffanordnung konsistent, indem eine Art chronologische und hierarchische Abfolge geschaffen wird. Die unterschiedliche Konzeption von Legenda aurea und Passional macht sich beispielhaft in der Darstellung der Petruslegende bemerkbar: Während die Legenda aurea hier insgesamt drei Erzählungen präsentiert, die sie nach den einzelnen liturgischen Feiern ordnet und demgemäß den Hochfesten von Petri Ketten (1. August) und Petri Stuhl (22. Februar) eigene Erzählabschnitte zuordnen muss, die infolge ihrer Plazierung im liturgischen Kalender auch weit von der eigentlichen Vita des Apostels (29. Juni) entfernt sind, fasst die innere Kohärenz stiftende Erzählhaltung des Passionals diese drei Texte ihrer Vorlage in einer Großerzählung zusammen. Dies geschieht wiederum in einer quasi chronologischen Reihung: Es beginnt mit der Erzählung um Petri Ketten, in der die Befreiung des Apostels aus dem Kerker des Herodes (samt der Wunderkraft der göttlich gelösten Ketten) erzählt wird, weil diese Ereignisse, die schon in der Apostelgeschichte Erwähnung finden und später legendarisch ausgebaut werden, unmittelbarem Anschluss an die neutestamentlichen Geschehnisse haben. Dann folgt die Erzählung um Petri Stuhl, da sie in Zusammenhang mit der ersten Missionsreise des Apostels in Antiochia steht, während der letzte und größte Abschnitt um die Auseinandersetzungen mit Simon Magus auch || 20 Der Passionaldichter übernimmt im dritten Buch allerdings nur eine Auswahl von insgesamt 75 Legenden der Legenda aurea; neben den für die Bücher I und II wichtigen Abschnitte fehlen zudem die bereits im Väterbuch behandelten Heiligen; eine Auflistung der Legenda aurea-Texte, die weder dort noch im Passional behandelt werden, gibt SCHUBERT, Einleitung, S. XXIIf.

40 | Zum Passional als Textgrundlage zeitlich den Abschluss bildet, da er zunächst Petrus’ Wirken in Jerusalem und danach in Rom beschreibt, schließlich seinen Tod im Martyrium. Somit setzt die Kompilation des Passionals die drei Texte ihrer Vorlage zu einem kohärenten Handlungsstrang zusammen, der einen annähernd vollständigen Bericht über das Wirken des Petrus nach dem apostolischen Sendungsauftrag abbildet.21 Ähnlich verfährt der Passionaldichter bei der Pauluslegende, wo er die in der Legenda aurea getrennt überlieferten Berichte von der Bekehrung des Apostels und seinem Damaskuserlebnis mit seiner übrigen Vita, die v.a. das Martyrium schildert, zusammenführt. Vor allem aber gilt diese Vorgehensweise für das gesamte erste Buch, das in einer zusammenhängenden Großerzählung alle Ereignisse um Leben und Tod von Jesus und Maria ausführt und dabei ganz andere Wege einschlägt als die Legenda aurea. Die sprachlichen und stilistischen Unterschiede gegenüber Jacobus de Voragine sind ebenfalls immens: Im Gegensatz zur lateinischen Prosa verwendet der Passionaldichter den aus der mhd. Epik bekannten vierhebigen Paarreim; allgemein lässt sich die Tendenz erkennen, die Kürze der Legenda aurea (abbreviatio) vielfach durch ausführlichere, detailliertere Schilderungen zu ersetzen, Motivierungen und Charakterisierungen auszuführen und indirekte vielfach in direkte Rede aufzulösen. Entscheidende Kürzungen betreffen dagegen vor allem die für die Legenda aurea so charakteristischen Namensetymologien zu Beginn jeder Legende, die gänzlich weggelassen werden, aber auch zahlreiche Exegesen und gelehrten Diskurse, die von der eigentlichen Handlung abweichen. Während Josef Wichner anhand eines genauen Vergleichs der Jakobus maior- und der Thomas-Legende aus dem zweiten Buch des Passionals mit der Legenda aurea gezeigt hat, dass bisweilen eine enge Abhängigkeit nicht nur inhaltlich, sondern auch in Redewendungen und Satzkonstruktionen besteht,22 hat Ernst Tiedemann in einer umfassenden Studie Gemeinsamkeiten und Unterschiede auf sprachlicher und stilistischer Ebene analysiert.23 Angesichts dieser hohen Übereinstimmungen muss jedoch festgehalten werden, dass der Passionaldichter auf der anderen Seite den von der Legenda aurea vorgegebenen Stoff sehr selbständig bearbeitet, und dies nicht nur, indem er gelehrte Einschübe und didaktische Sequenzen des Jacobus de Voragine streicht, wie (als Kritik an Wichner) bereits Friedrich Wilhelm für die Thomaslegende festgestellt hat. Wilhelms detaillierter Vergleich zwischen den Versionen der Thomaslegende in Passional und Legenda aurea gibt einen guten Eindruck von der Arbeitsweise des

|| 21 Zur äußeren Gliederung und zu den einzelnen Übergängen vgl. Wilbur Donald JOBE, Das gereimte Passional: Untersuchungen zu den Aufbauprinzipien, Lexington/KY 1977, S. 153–165. Die Schwierigkeiten, die sich durch die Stoffanordnung der Legenda aurea für die Bearbeitung des Passionaldichters hier auftun, beschreibt Friedrich WILHELM, Deutsche Legenden und Legendare. Texte und Untersuchungen zu ihrer Geschichte im Mittelalter, Leipzig 1907, S. 90–96, der auch verdeutlicht, dass dem Verfasser für die Petrusvita noch weitere Quellen vorgelegen haben müssen. 22 Vgl. Josef WICHNER, Die legenda aurea quelle des alten Passionals [sic], in: ZfdPh 10 (1878), S. 255–280. 23 Vgl. im einzelnen Ernst TIEDEMANN, Passional und Legenda aurea, Berlin 1909.

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Passionaldichters: Da die Thomaslegende des Passionals an der gleichen Stelle wie die Legenda aurea Lücken gegenüber der älteren Passio Thomae aufweist und Ergänzungen der Legenda aurea wie die Hinzufügung von Passagen der augustinischen Schrift contra Faustum ebenfalls übernimmt, ist Jacobus de Voragine ohne Zweifel als direkte Vorlage anzunehmen. Wilhelm kann dennoch plausibel machen, dass dem Dichter zusätzlich die Passio Thomae zumindest bekannt gewesen sein dürfte, da er in seinem detaillierten Vergleich der Texte Übereinstimmungen zwischen beiden gegen die Legenda aurea herausarbeiten kann.24 Wilhelms Ergebnisse vermitteln ein gutes Verständnis für den Umgang des Passionaldichters mit seiner Vorlage und möglicherweise weiteren Nebenquellen: Das Handlungsgerüst der Legende übernimmt der Passionaldichter z.T. bis in Einzelheiten übereinstimmend von der Legenda aurea, fügt jedoch immer wieder kleinere Erweiterungen ein. Das betrifft insbesondere solche Passagen, die zu einem Szenenwechsel überleiten. So ist beispielsweise der Übergang von der Predigtallegorese des Apostels vor Gericht hin zur Bekehrung von 9000 Menschen ein freier Zusatz.25 Auch die Predigt des Thomas vor dem königlichen Brautpaar, das er auf seiner Reise nach India bekehrt, ist erweitert, weist dabei jedoch die gleiche Lücke zur Passio auf wie die Legenda aurea. Die wenigen Worte der Legenda aurea zu Keuschheit und Virginität26 gibt das Passional in breiter Länge und mit wesentlichen Erläuterungen wieder; die ganze Stelle umfasst dort über hundert Verse, wobei es die jeweiligen Schlagworte seiner Vorlage durchaus übernimmt, ihnen aber weitere hinzufügt, so dass sich „deutlich das Bestreben des Dichters [zeigt], Symmetrie in die Rede des Apostels hineinzubringen.“27 Neben solchen inhaltlichen Erweiterungen werden auch Rezipientenhinweise eingefügt, so um klarzumachen, dass die Rede vom Palastbau, den Thomas für den König von India unternehmen soll, allegorisch zu deuten ist.28

|| 24 Vgl. WILHELM, Legenden, S. 59–105, mit zahlreichen Beispielen, die die Eigenständigkeit der Kompilation des Passionaldichters belegen und zugleich deutlich machen, dass diesem neben der Legenda aurea wohl noch andere Quellen zur Verfügung gestanden haben. 25 Vgl. ebd., S. 77. 26 Virginitas soror est angelorum, posessio omnium bonorum, uictoria libidinum, fidei tropheum, expugnatio demonum et eternorum securitas gaudiorum. De libidine autem corruptio gignitur, de corruptione pollutio nascitur, de pollutione reatus oritur, de reatu confusio generatur (LA 5, 56f.: Jungfräulichkeit ist eine Königin aller Tugenden und eine Frucht des ewigen Heiles, sie ist eine Schwester der Engel, eine Besitzung allen Gutes, eine Überwindung der Begierden, ein Sieg des Glaubens, ein Widerstehen den Teufeln, und eine Sicherheit der ewigen Freuden. Von leiblicher Begierde aber kommt eine Unordnung des Leibes, die ziehet zur Unreinigkeit, davon kommet die Sünde, aus der wird geboren Missfallen Gottes). 27 WILHELM, Legenden, S. 71. 28 Vgl. ebd., S. 73. Andere Zusätze oder Umstellungen dienen der Herstellung einer größeren Textkohärenz oder einer genaueren Beschreibung, sei es in der Darstellung der Örtlichkeiten, sei es im zeitlichen Kontext: So zeigt der Passionaldichter beispielsweise auf, Thomas’ Gebeine hätten me danne anderhalphundert jar (II 29492) in India gelegen, bis sie dann nach Edessa überführt worden seien –

42 | Zum Passional als Textgrundlage Neben zahlreichen Erweiterungen wird die Darstellung der Legenda aurea aber ebensogut auch gekürzt, beispielsweise bei der Rede des Thomas während seines Verhörs vor dem indischen König; hier übergeht der Passionaldichter eines der Exempel, mit denen Thomas seine Rede untermalt.29 Gerade solche predigtartigen Passagen scheinen immer wieder von Veränderungen betroffen zu sein; so sind z.B. bei der Doctrina des Apostels auf dem Berg Gazus die jeweiligen Tugenden zwar nicht verändert, doch in ihrer Reihenfolge umgestellt.30 Wo die Legenda aurea biblische Inhalte wiedergibt, hält sich das Passional grundsätzlich an die Vulgata, wie Wilhelm schon für die Einleitung der Thomaslegende klarmacht, in der als Exposition die Passage vom ‚ungläubigen Thomas’ nach dem Johannesevangelium referiert wird,31 besonders aber für die Pauluslegende, wo der Passionaldichter die Bekehrung des Paulus (in der Legenda aurea ein eigenes Kapitel: Cap. 28) nach der Apostelgeschichte wiedergibt, die er auch ausdrücklich als Quelle benennt.32 Dass nicht alle Änderungen glücklich sind, kann Wilhelm an jener Passage der Thomaslegende festmachen, die den von der Legenda aurea übernommenen Auszug aus Augustinus’ Schrift contra Faustum wiedergibt. Dem geht eine Szene voraus, bei der Thomas während einer Hochzeitsfeier von einem der Diener geschlagen wird und ihm prophezeit, die Hand, die ihn geschlagen habe, werde demnächst von Hunden hereingetragen werden, was kurz darauf auch geschieht, da der Diener von einem Löwen zerrissen worden ist. Die ausführliche Exegese, mit der Jacobus de Voragine diese Szene als apokryph erwiesen sieht, ihren theologischen Aussagewert jedoch anhand einer augustinischen Auslegung dennoch unterbreitet, hat der Passionaldichter ohnehin auf lediglich 30 Verse gekürzt. Dabei nennt er sogar Augustinus als Quelle, hat jedoch dessen Aussagegehalt derart missverstanden, dass „aus dieser Stelle eine Polemik gegen Augustin geworden“ ist.33 Diese vielfältigen Bearbeitungsstrategien sind symptomatisch für die Vorgehensweise des Passionaldichters. Die Bearbeitung schärft vielfach die Personenzeichnungen und ordnet seine Protagonisten in einen Motivationskontext ein, die ihre Handlungen wesentlich nachvollziehbarer und begründbarer machen, als dies in den knappen Schilderungen der Legenda aurea geschieht. Das Passional stellt auf diese Weise eine wesentlich höhere Anschaulichkeit her, als sie die Legenden der Legen|| offenbar hat er dies aus der Angabe der Legenda aurea, die für die Translation der Gebeine das Jahr 230 angibt, und unter Rückschluss auf das ungefähre Todesdatum des Apostels errechnet; vgl. ebd., S. 84. 29 Vgl. ebd., S. 81. 30 Vgl. ebd., S. 76. 31 In der Legenda aurea im Rahmen der Namensetymologie nur kurz zusammengefasst: Dicitur geminus eo quod resurrectionem Christi quasi geminate et in duplum quam alii cognouit; nam illi cognouerunt uidendo, iste uidendo et palpando (LA 5, 4f.: Er ist zwiefältig geheißen, da er die Auferstehung unsres Herrn zwiefältig bewährt hat, nicht nur mit dem Gesicht, wie die anderen, sondern durch Sehen und Greifen), im Passional erzählerisch in Handlung umgesetzt, vgl. II 28015–29. 32 Vgl. WILHLEM, Legenden, S. 63 u. 93. 33 Ebd., S. 69.

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da aurea erzeugen können. Diese haben, nicht zuletzt ihrem Duktus der abbreviatio und den zahlreichen diskursiven Einschüben geschuldet, wenig narrative Anteile und wirken vielfach eher wie kommentierte Exempel; erst die Bearbeitung des Passionals macht daraus tatsächlich auch Erzählungen. Zufügungen und Umarbeitungen richten sich natürlich besonders danach, den Text seinen volkssprachigen Rezipienten anzupassen. Dass der Verfasser darüber hinaus gerade im ersten Buch direkt auf biblische Texte zurückgriff, für die Kindheit Jesu auch auf Konrad von Fußesbrunnen, dass er außerdem noch eine Reihe weiterer Schriften zumindest gekannt haben muss, zeigt die außerordentliche Belesenheit dieses Autors. Die Legenda aurea ist jedenfalls keineswegs die einzige Quelle, an die sich der Verfasser auch nicht sklavisch gehalten hat.34 Wesentlich weitreichender als die inhaltlichen wirken in diesem Sinne die sprachlichen und stilistischen Umgestaltungen des Passionals gegenüber der Legenda aurea. Es ist auffällig, dass sich der Passionaldichter stets um eine wesentlich bildhaftere und lebendigere Ausgestaltung seines Stoffes und seiner Figuren bemüht. Wenn etwa gleich zu Beginn der Thomaslegende Jesus dem Apostel erscheint, so legt die Legenda aurea diesen Umstand einfach dar (Thomas apostulus cum esset apud Cesaream apparuit ei dominus dicens […]; LA 5, 12: Thomas der Apostel war zu Caesarea in der Stadt, da erschien ihm unser Herr und sprach), während der Passionaldichter zusätzlich eine Beschreibung der Gestalt Christi gibt:35 Dieser nämlich erscheint seinem Jünger mit sulcher forme, als er e/ uf erden was gewesen me,/ e er den tot truge an im (II 28039–41).36 Abgesehen davon, dass hier ein genauer Eindruck seines Erscheinungsbildes entsteht, ist es bemerkenswert, dass Jesus ausgerechnet dem ‚ungläubigen‘ Thomas ohne die für ihn signifikanten Wundmale erscheint, wie um klarzustellen, was der Dichter schon in der Exposition der Legende verdeutlicht hat, dass nämlich der Apostel derartige Zeichen nicht mehr benötigt. Noch stärker ist die bildhafte Ausgestaltung der Folgen von Thomas’ Kerkerhaft, aus der dieser durch das Wunder einer Totenerweckung wieder entlassen wird: Während die Legenda aurea ihn einfach aus dem Kerker gehen lässt, ist er im Passional sichtlich mitgenommen: do quam crenclich hervur/ der vil heilige Thomas (II 28730f.), außerdem ist er mager von der crancheit./ ouch waren im e sine cleit/ mit leide abe gerizzen (II 28742–43). Die Leiden des Apostels werden nachvollziehbarer und der Kontrast zu dem schönen Kleid, das ihm hernach angelegt wird, umso deutlicher.37

|| 34 Vgl. SCHUBERT, Einleitung, S. CCXLVII–CCL u. CCLVI–CCLX. 35 Vgl. WILHELM, Legenden, S. 63. 36 Die Zitate folgen immer den Ausgaben: Passional. Buch I und II, hg. v. Annegret HAASE, Martin J. SCHUBERT u. Jürgen WOLF, Berlin 2013; Das Passional, hg. v. Friedrich Karl KÖPKE, Quedlinburg u. Leipzig 1852; zur Unterscheidung sind die jeweiligen Bücher des Passionals (Buch I und II nach HAASE/SCHUBERT/WOLF, Buch III nach KÖPKE) vorangestellt. Abkürzungen sind aufgelöst, _ und s angeglichen; vgl. zu den Ausgaben ferner unten, Kap. 2.1.3. 37 Vgl. WILHLEM, Legenden, S. 75.

44 | Zum Passional als Textgrundlage Ebenfalls sehr zu einer lebendigeren Darstellungsweise tragen die zahlreichen Dialoge und wörtlichen Reden bei, die das Passional anstelle der nüchternen Darstellung der von indirekter Rede dominierten Legenda aurea einsetzt. Wenn Thomas in India im Verlies sein Martyrium erwartet, besucht ihn Migdonia, die Frau des Karisius, eines der wichtigsten Vertrauten des Königs, die von Thomas bekehrt worden war. Die Legenda aurea stellt diese Szene ganz knapp und lediglich in indirekter Rede dar: Ad quem ueniens Migdonia rogauit ut sibi ignosceret quod propter eam in carcerem missus esset; quam ille benigne consolans hec omnia se libenter pati asseruit (LA 5, 126f.: Migdonia ging zu ihm in den Kerker und bat ihn, er möge ihr vergeben, dass er um ihretwillen in den Kerker geschlossen wäre. Er aber tröstete sie mit sanftmütigen Worten und sprach ‚Ich leide es alles freiwillig‘). Im Passional entsprechen dem insgesamt 17 Verse mit Rede und Gegenrede (II 29066–29082), so dass aus dem knappen Bericht erzählte Handlung geworden ist. Ebenso die unmittelbar darauffolgende Szene, in der Karisius den König darum bittet, die Königin zu Migdonia zu schicken, um sie wieder vom Christentum abzubringen: Carisius autem regem rogauit ut reginam sororem sue uxoris ad ipsam mitteret si forte eam reuocare posset (LA 5, 128: Carisius bat den König, dass er die Königin zu ihr sende – die war die Schwester seiner Frau Migdonia –, ob diese sie in ihrem Sinn umstimmen könne). Die indirekte Rede der Legenda aurea wird entsprechend in direkte Rede umgewandelt:38 kunic herre, tu so wol und la durch kumftigen vrumen di kunigin in min hus kumen, di swester miner husvrouwen. wir suln dar an beschouwen, ob jene dise icht lieb habe und laze durch ir willen abe von der grozen irrekeit, di ir tummez herze treit nach jenes mannes predigat. (II 29086–95)

Damit wird auch klar, dass der Passionaldichter viel stärker an Motivationsstrukturen seiner Figuren interessiert ist, in deren Aussagen sich auch persönliche Charakterzeichnungen und subjektive Wertvorstellungen zeigen. So wird die Rolle des hier sprechenden Karisius als treibende Kraft von Thomas’ Martyrium bereits in Aussagen wie die von Migdonias groze[r] irrekeit/ di ir tummes herze treit (II 29093f.) deutlich, die ein beredtes Bild vom verstockten Heiden, der niemals Verständnis für das Christentum haben würde, gibt. Die so häufig eingesetzten direkten Reden schaffen also nicht nur einen flüssigeren, lebendigen Erzählstil gegenüber der sachlichen Prosa der Legenda aurea, sondern schärfen vor allen Dingen das Profil der handeln-

|| 38 Vgl. ebd., S. 78.

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den Personen, zeigen ihre Motivierungen auf und verleihen auf diese Weise der ganzen Erzählung Tiefe. Diesen Eindruck hat auch Edith Feistner in einem exemplarischen Vergleich mehrerer Legenden des Passionals mit der Legenda aurea bestätigt und erkannt, „daß das ‚Passional‘ trotz aller Tilgung von Etymologien und anderem gelehrten Beiwerk nicht als bloße Simplifizierung zu betrachten ist“39. Zusammenfassend kann daher festgestellt werden, dass der Passionaldichter nicht nur an manchen Stellen korrigierend und redigierend eingegriffen hat, sondern dass er vor allem eine wesentlich lebendigere und eindringlichere Darstellung des Geschehens schaffen kann. Er bemüht sich zudem um größere Konsistenz der einzelnen Handlungsteile und achtet stärker auf zumindest oberflächliche Begründungsstrategien der erzählten Handlung. Exegetische, lehrhafte und quellenkritische Kommentare und Einschübe von Jacobus übernimmt er selten oder nur stark verkürzt, wie er auch vollständig auf die Namensetymologien, die in der Legenda aurea jeder Legende vorausgehen, verzichtet. Zwischengeschaltet werden dagegen immer wieder predigthafte oder kontemplative Passagen, die den Erzählfluss unterbrechen, meist aber auf die Handlung abgestimmt sind.40 Deutsch statt Latein, Vers statt Prosa, Narrativität statt Diskursivität – mit diesen Schlagworten könnte man die wesentlichen Unterschiede zwischen Passional und Legenda aurea zusammenfassen. Als Zielpublikum für das Passional kommen daher in erster Linie Laien bzw. ein mit geistlicher Bildung nur rudimentär vertrautes Publikum in Frage, was nicht zuletzt aus der Benutzung der Volkssprache hervorgeht, da für einen geschulten klerikalen Rezipientenkreis zweifelsohne das Lateinische bevorzugt worden wäre. Im Hinblick auf sein Publikum verzichtet der Autor „auf die Zurschaustellung theologischer Gelehrsamkeit, über die [er] durchaus verfügt“.41 Es geht ihm eher um eine Unterweisung seiner Rezipienten in christlichen Lehr- und Moralvorstellungen, die die Heiligen in ihrer Vorbildhaftigkeit zudem in einen heilsgeschichtlichen Zusammenhang bringen. Besonders im ersten Buch dominiert die Kontemplation und wird insbesondere die Wirkmächtigkeit Marias herausgestellt. Immer wieder wird, ganz besonders in den Marienmirakeln, die wirkmächtige Hilfe für die Menschen durch Jesus und Maria betont, ähnlich im zweiten Buch durch die Apostel; diese Funktion übernehmen

|| 39 FEISTNER, Typologie, S. 223. Es ist immerhin evident, dass die meisten Legenden des Passionals wesentlich umfangreicher ausfallen als in der Vorlage (vgl. ebd.). 40 Vgl. HELM/ZIESEMER, Literatur, S. 59ff., sowie den exemplarischen Vergleich der Margarethenlegende von Passional und Legenda aurea bei FEISTNER, Typologie, S. 222–229, die dort außerdem „die Präsenz des Geschehens durch Ausmalungen und gestische Konkretisierungen“ (S. 225) verstärkt sieht, ein Befund, der durchaus verallgemeinerbar für die Vorgehensweise des Passionaldichters bei seiner Bearbeitung ist. Die allgemeinen Ausführungen zu Sprache und Stil des Passionaldichters von SCHUBERT, Einleitung, S. CLXXVIII–CCX, bestätigen diesen Befund. 41 RICHERT, [Art.] Passional, Sp. 334.

46 | Zum Passional als Textgrundlage im dritten vor allem die Mirakelerzählungen, die vielen der Legenden angefügt sind. Hier zeigt sich eine nachdrückliche Akzentsetzung: Neben den Mirakeln besitzen im dritten Buch insbesondere die Martyriumsdarstellungen eine herausgehobene Bedeutung, im Mittelpunkt stehen damit einerseits das standhafte Gottesbekenntnis, andererseits die Wirkmächtigkeit der Heiligen auch nach ihrem Tode.42 Dazu passt, dass praktisch alle Legenden des zweiten und dritten Buches mit einem Schlussgebet enden, die bisweilen nur ein paar allgemeine Verse zum Lob des Heiligen, meist aber längere, nicht bloß formelhafte Gebete darstellen43 und vielfach ganz konkret auf die individuellen Heilsleistungen des oder der jeweiligen Legendenheiligen abgestimmt sind, wodurch sie „den Erzähler im Wir einer religiösen Kommunität aufgehen und im aktuellen Vollzug der Legende zu Gott rufen“44 lassen. Der weiterhin ungeklärte Bezug zum Deutschen Orden kann allerdings nicht unbedingt mit der postulierten Gebrauchsfunktion der täglichen Tischlesung für die (in der Regel nicht klerikal gebildeten und meist auch lese- und schreibunkundigen) Ordensmitglieder in Verbindung gebracht werden.45 In preußischen Ordenshäusern sind mehrere Exemplare des Passionals bezeugt, und auch die Provenienz zahlreicher Handschriften könnte auf einen früheren Besitz im Orden bzw. seinen Balleien hinweisen.46 Ob das Werk nun primär für den Deutschen Orden geschaffen wurde, ist daher nicht die Frage, fest steht, dass es den Wertvorstellungen und der Gedankenwelt dieser Gemeinschaft offenbar in vielen Punkten nahekommt. Die Verbreitung des Legendars in der ersten Hälfte des 14. Jhs. ist enorm, sowohl in der Geschwindigkeit wie auch in der Anzahl; sie erfasst innerhalb weniger Jahrzehnte fast den gesamten deutschen Sprachraum. Die einzelnen Handschriften und Fragmente

|| 42 Vgl. ebd., Sp. 334f. 43 Der Umfang dieser Schlussgebete bewegt sich meist zwischen fünf und 30 Versen; sie sind jedoch fast immer explizit auf den zuvor behandelten Heiligen ausgerichtet – anders als die späteren Prosabearbeitungen, die diese regelmäßig zu konventionalisierten Formeln zum Lob des Heiligen (oder Gottes) und der Bitte um ewiges Leben reduzieren, vgl. die aufschlussreiche Gegenüberstellung bei FEISTNER, Typologie, S. 224, Anm. 492. Zum Stellenwert der Schlussgebete des Passionals vgl. auch Christian THELEN, Das Dichtergebet in der deutschen Literatur des Mittelalters, Berlin/New York 1989, S. 541f. 44 FEISTNER, Typologie, S. 223. 45 Eine solche lectio ist in den entsprechenden Ordensregeln konkret vorgeschrieben; vgl. dazu Kurt GÄRTNER, Marienverehrung und Marienepik im Deutschen Orden, in: Jarosław WENTA et al. (Hg.), Mittelalterliche Kultur und Literatur im Deutschordensstaat in Preußen: Leben und Nachleben, Toruń 2008, S. 395–410, hier S. 397ff., mit Nachweisen. Zur didaktischen Funktion der volkssprachigen Tischlesungen im Deutschen Orden am Beispiel der Martina Hugos von Langenstein vgl. auch Robert MOHR, Die Tischlesung im Deutschen Orden. Eine institutionsspezifische Lehrform, in: Das Mittelalter 17 (2012), S. 76–86. 46 Vgl. RICHERT, Wege und Formen, S. 159f., der u.a. die Bücherbestände preußischer Komtureien sowie Benutzervermerke einzelner Hss. heranzieht. Dagegen steht die differenzierte Überlieferungsgeschichte, die Jürgen WOLF in der Einleitung zur Ausgabe, S. CL–CLVII, bes. S. CLIVff., nachzeichnet und den Befund RICHERTS relativiert.

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weisen darüber hinaus eine hohe Textkonstanz auf, was für eine Verbreitung durch professionelle Skriptorien spricht.47 Dabei ist zu beachten, dass nie alle drei Bücher des Passionals zusammen überliefert worden sind, was aber aufgrund des immensen Umfangs nicht erstaunt, der eine Vereinigung in einen einzigen Kodex schon technisch fast unmöglich macht. Überlieferungsgeschichtlich wird daher mit getrennten Überlieferungseinheiten gerechnet, die zum einen Buch I und II (die zumindest nach Lage der vollständigen Hss. meist gemeinsam überliefert sind) umfassen, und zum anderen Buch III (eine Ausnahme bilden Sammelhandschriften, die einzelne Legenden der unterschiedlichen Bücher in Streuüberlieferung oder als Exzerpte beinhalten).48 Diese getrennte Überlieferung sollte allerdings nicht dazu verleiten, auch eine getrennte Entstehung oder Konzeption der drei Bücher anzunehmen. Alle drei sind mit Vor- und Nachreden versehen, die ihre konzeptuelle Verklammerung herausstellen. Zudem gibt es immer wieder Querverweise zwischen den einzelnen Büchern, in denen der Verfasser auf bereits zuvor Gesagtes oder noch später zu Erzählendes hinweist. Deutlichstes Beispiel ist die Marthalegende des dritten Buchs, in der immer wieder auf die Legende von Marthas Schwester Maria Magdalena verwiesen wird, aber auch in der Kreuzholzlegende weist der Verfasser am Anfang darauf hin, die Passion Christi bereits zuvor dargelegt zu haben. Die getrennte Überlieferung der einzelnen Bücher ist daher vor allem praktischen Erwägungen geschuldet, nicht konzeptuellen, wenngleich natürlich zugestanden werden kann, dass die einzelnen Bücher, v.a. das dritte, auch separat überliefert worden sind, wie auch nur Auszüge oder einzelne Legenden für sich allein aufgezeichnet wurden (insbesondere die Marienmirakel): Diese sind dann losgelöst vom eigentlichen Kontext des Passionals in andere Legendensammlungen oder gar in Sammelhandschriften mit ganz anderem Überlieferungshorizont eingefügt worden.49 Zwingend ist daher eine Gesamtüberlieferung aller drei Bücher von vornherein nie gewesen (einzelne Legenden oder Legendengruppen können auch losgelöst vom übrigen Kontext überliefert werden), dennoch sind alle drei Bücher als übergreifendes Legendar angelegt und folgen einer gemeinsamen Konzeption. Beachtenswert ist, dass die Überlieferung ab der Mitte des 14. Jhs. ebenso schnell wieder zurückgeht; im 15. Jh. findet eine Rezeption fast ausschließlich in Form von Exzerpten oder einzelnen, einem spezifischen Sammelinteresse zuzuschreibenden Überlieferungsformen statt.50

|| 47 Vgl. RICHERT, Wege und Formen, S. 9f.; die Ergebnisse RICHERTS kritisch zusammengefasst und erweitert bei SCHUBERT, ‚Passional‘, hier bes. S. 143. 48 Vgl. SCHUBERT, Einleitung, S. CLVIIIff., zusammenfassend RICHERT, Wege und Formen, S. 304. 49 Bestes Beispiel hierfür ist die Heidelberger Hs. cpg 341 (Heidelberg, UB), die eine umfangreiche Sammlung kleinepischer Texte, darunter auch der Arme Heinrich Hartmanns von Aue und zahlreiche Mären des Strickers enthält, aber eben auch Auszüge aus dem Passional. 50 Vgl. SCHUBERT, ‚Passional‘, S. 141f. u. SCHUBERT, Neue Edition, S. 412. Zu nennen wären beispielsweise die Marienlegenden, die immer wieder auch gesondert überliefert worden sind, oder die Hs. G (Brixen), welche nur das zweite Buch enthält.

48 | Zum Passional als Textgrundlage Gemessen an der gesamten handschriftlichen Überlieferung (nimmt man zu den wenigen vollständig erhaltenen Manuskripten die Zahl der erhaltenen Fragmente und Exzerpte hinzu), muss die Rezeption dennoch zahlreich gewesen sein. Insgesamt sind zehn Handschriften bekannt, die ausschließlich Passionaltexte enthalten, von denen jedoch einige verschollen oder verbrannt sind. Die ersten beiden Bücher sind in vier bzw. fünf (weitgehend) vollständigen Handschriften erhalten, während es für das umfangreichste dritte Buch nur noch eine, zwischenzeitlich verschollene Handschrift ist.51 Zudem können 15 Sammelhandschriften mit z.T. umfangreichen Ausschnitten aus dem Passional (zwei davon verschollen) und insgesamt 118 Fragmente nachgewiesen werden.52 Dies stellt die enorme Wirkung des Passionals auf die deutschsprachige geistliche Literatur des Mittelalters unter Beweis. Nicht zuletzt im Bereich des Deutschen Ordens hat es stilistisch und sprachlich großen Einfluss ausgeübt. Die direkte Übernahme von Passionaltexten ist aber auch außerhalb des Ordens vielfältig zu beobachten; besonders erwähnenswert sind die Prosaauflösungen in der Legendensammlung Der Heiligen Leben, das im 15. Jh. zum verbreitetsten und meistgelesenen deutschsprachigen Legendar aufsteigt und vor allem durch die vielfältigen Drucke bis zur Reformation zu Recht den Status eines ‚Volksbuches‘ erlangt. Dieses vermutlich an der Wende vom 14. zum 15. Jh. für ein Nürnberger Dominikanerinnenstift erstellte Legendar zeichnet sich dadurch aus, dass es, wo nur irgend möglich, volkssprachige Quellen für seine Prosaadaptionen verwendet, so dass das Passional zusammen mit dem etwa zeitgleich (noch im 13., spätestens Anfang des 14. Jhs.) entstandenen Märterbuch eine seiner wichtigsten Quellen wird.53 Doch auch in anderen Kontexten sind direkte Übernahmen oder Adaptationen keine Seltenheit: So flicht die Weltchronik Heinrichs von München zahlreiche Passagen aus dem Passional (und zwar aus allen drei Büchern) ein, die dann ihrerseits wiederum Eingang in viele Historienbibeln finden, und Hans Folz greift für sein Fastnachtsspiel ebenfalls auf das Passional zurück.54

|| 51 Für Buch I und II sind dies: Berlin, mgf 778 (Sigle A); München, BSB, cgm 7369 (B); Wien, cod. 2694 (C, durch Verlust fehlen die ersten 4852 Verse); Heidelberg, cpg 352 (D); Brixen, Bibl. des Pristerseminars, A 15 (G, enthält nur Buch II), Buch I war außerdem noch überliefert in Meiningen, Herzogl. Bibl. 66 (E; verschollen), Buch II in Straßburg, ehem. Johanniterbibl., Cod. B 110 (F; verbrannt). Buch III ist vollständig überliefert nur in den Hss. K (früher Königsberg, SB u. UB 889; jetzt Thorn, UB, Rps 50/IV) und S (Straßburg, StB, cod. 177; verbrannt). Den vollständigsten noch erhaltenen Text bietet nach K mit insgesamt 29 Legenden (Christophorus bis Katharina) dann noch L (vormals München, BSB, cgm 8043; jetzt Schwerin, Landesbibl., ohne Sigle; durch Mäusefraß stark beschädigt u. vielfach unlesbar geworden). Eine detaillierte Beschreibung der einzelnen Handschriften und Fragmente bietet SCHUBERT, Einleitung, S. LII–CXXXII; RICHERT, Wege und Formen, S. 19–157, sowie ergänzend die Rezension hierzu von Werner WILLIAMS-KRAPP, in: AfdA 51 (1980), S. 116–120 52 Vgl. das aktualisierte Verzeichnis bei SCHUBERT, Einleitung, Abschnitt II. 53 Vgl. WILLIAMS-KRAPP, Legendare, S. 188ff. Der terminus post quem ist 1384. 54 Vgl. zur Nachwirkung SCHUBERT, Einleitung, S. XLV–LI; RICHERT, [Art.] Passional, Sp. 338f.

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2.1.3 Forschungsgeschichtlicher Überblick Die bisherige Forschung zum Passional konzentriert sich im Wesentlichen auf stoffund überlieferungsgeschichtliche Fragen und soll daher im Folgenden nur knapp zusammengefasst werden.55 1845 erscheint eine erste Ausgabe der Bücher I und II durch Karl August Hahn,56 die jedoch lediglich einen diplomatischen Abdruck der Heidelberger Hs. D beinhaltet, eine Handschrift die unter den vorhandenen Textzeugen die wohl ungünstigste und zudem unvollständige Überlieferung bietet: Ihr fehlt nicht nur das Nachwort zum zweiten Buch, es sind auch einige Texte verkürzt überliefert (z.B. fehlen mehrere Mirakel der Jakobus-Legende), insbesondere sind die ans erste Buch anschließenden Marienmirakel in großen Teilen ausgespart. Trotz dieser aus editionsphilologischer Sicht problematischen Vorgehensweise (Hahns ohne jegliche Zeichensetzung präsentierter Text enthält zudem noch einige Fehler, falsche Lesarten u.ä.) stellte dies bis vor kurzem die bislang einzige, zumal lückenhafte Textausgabe der ersten beiden Bücher dar, bis 2013 endlich eine kritische Edition durch Annegret Haase, Martin J. Schubert und Jürgen Wolf erschien.57 Das umfangreiche dritte Buch ist dagegen noch immer nicht kritisch ediert, doch präsentiert die von Friedrich K. Köpke nach den Lesarten von zwei Handschriften herausgegebene Ausgabe eine wesentlich zuverlässigere Textgrundlage.58 Das etwas verworrene Bild der Editionslage bildet auch die eher randständige Behandlung der literaturwissenschaftlichen Forschung zum Passional ab, die der Stellung und Verbreitung dieses Werkes im Spätmittelalter kaum gerecht wird. Eine erste ausführlichere inhaltliche Untersuchung liegt in Friedrich Wilhelms stoffgeschichtlicher Arbeit zur Thomaslegende vor, die neben einigen Bemerkungen zum zweiten Buch, insbesondere zu Prolog und Aufbau, in einem längeren Kapitel auf die Thomaslegende des Passionals eingeht und diese auf mögliche Vorlagen überprüft.59 Ebenfalls stoff- und überlieferungsgeschichtlich orientiert ist die Arbeit von Ernst Tiedemann, der das Passional mit dessen Hauptquelle, der Legenda aurea,

|| 55 Die Forschungsgeschichte skizziert SCHUBERT, Einleitung, S. XVII–XXIV. Einen ausführlichen Überblick über die Forschung bis in die 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts bietet JOBE, Passional, S. 26–76. 56 Das Alte Passional, hg. v. Karl August HAHN, Frankfurt a. M. 1845. 57 Diese Edition schafft der unbefriedigenden Situation Abhilfe, dass aufgrund der Unvollständigkeit von HAHNS Ausgabe die dort fehlenden Abschnitte des Passionals durch weitere, oft nur schwer zugängliche Editionen ergänzt werden musste: Die Marienmirakel sind durch Hans-Georg RICHERT, Marienlegenden aus dem Alten Passional, Tübingen 1965 (ATB 64) bereits seit einer ganzen Weile gut ediert; die in Hs. D fehlende Nachrede zum II. Buch war bisher jedoch nur in dem Artikel von Rudolf LATZKE, Über Prooemien und Epiloge zum mittelhochdeutschen Passional, in: Schulprogramm Korneuburg 1903, S. 1–32, hier S. 28–32, zu finden. 58 KÖPKES Edition des dritten Buchs beruht auf der Hs. K mit Lesarten von Hs. S und Frgm. X. 59 Vgl. WILHELM, Legenden, s.o., Kap. 2.1.2.

50 | Zum Passional als Textgrundlage vergleicht.60 Seine Untersuchung beschränkt sich nicht nur auf sprachliche Merkmale, sondern umfasst auch inhaltliche Abweichungen, Kürzungen oder Zusätze. Die Ergebnisse sind vor allem beschreibend, doch immerhin setzt Tiedemann sich als erster mit dem divergierenden Aufbau und Konzept des Passionals auseinander. Neben den bereits erwähnten Änderungen gegenüber der Legenda aurea schreibt er dem Passionaldichter eine größere Einheitlichkeit in der Darstellung zu und versucht auch, die belehrende Funktion der variierenden Schlussformeln der einzelnen Legenden darzulegen. Vor allem aber begreift er das Werk erstmalig als durchgestaltete Einheit, die weitaus mehr als eine bloße Legendensammlung darstellt. In einer kaum zugänglichen, weil nicht publizierten Dissertation hat sich dann Gerhard Thiele erstmalig auch mit weitergehenden inhaltlichen Fragestellungen beschäftigt.61 Vor allem jedoch weist seine Untersuchung auf den handschriftlichen Überlieferungsbefund und die Sprache des Verfassers hin. Insbesondere letztere nimmt breiten Raum ein; Thiele gelangt, ausgehend von mundartgeographischen Spezifika, zu dem Ergebnis, dass der Dichter vermutlich aus dem (Ost-) Mitteldeutschen stamme, jedoch deutliche niederdeutsche Einflüsse erkennen lasse. Der immer wieder mit diesem identifizierte Rudolf von Ems kommt für Thiele aufgrund der sprachlichen Abweichungen nicht in Frage. Fragwürdig sind allerdings die Überlegungen zum Reimgebrauch, die zu vieles unberücksichtigt lassen.62 Thiele ordnet die Darstellungsweise des Passionals im Verhältnis zu einem höfischen Kontext ein und versucht, auch andere literarische Gemeinsamkeiten darzustellen. Sein Unternehmen, einen möglichen Rezeptionshintergrund zu erschließen, gelangt jedoch zu keinem klaren Ergebnis. Insgesamt kommt seiner Arbeit, so kritisch sie in manchen Punkten aus heutiger Sicht zu beurteilen ist, doch das wesentliche Verdienst zu, erstmalig sprachliche und stilistische Beobachtungen in einen geistesgeschichtlichen Kontext einzuordnen, der für das Passional bisher kaum erschlossen war.63 Zudem hat Thiele immense Vorarbeiten in sprach- und überlieferungsgeschichtlicher Hinsicht geleistet, auf die Hans-Georg Richert dann für seine umfassende Aufarbeitung der handschriftlichen Überlieferung zurückgreifen konnte.64 Richerts detaillierte Beschreibung des Handschriftenbestandes und ihrer Überlieferung sowie seine sprachgeographische Einordnung des Textes stellen einen entscheidenden Beitrag zur neueren Forschungsdiskussion dar. Ausführlich setzt sich Richert mit der Frage nach den Beziehungen zwischen Passional und Deutschem Orden

|| 60 Vgl. TIEDEMANN, Passional. 61 Vgl. Gerhard THIELE, Untersuchungen zum Passional, Diss (masch.), Berlin 1936 [benutzt wurde die Fotokopie des Manuskripts der Bibliothek für Deutsche Philologie, LMU München]. 62 Vgl. zur Kritik an THIELE bereits RICHERT, Wege und Formen (insbesondere zur Überlieferungsgeschichte), zu Sprache und Reim besonders SCHUBERT, Passional, S. 151ff., sowie SCHUBERT, Einleitung, S. CXCff. 63 Vgl. dazu auch die Zusammenfassung von THIELES Arbeit bei JOBE, Passional, S. 45–59. 64 Vgl. RICHERT, Wege und Formen.

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auseinander, die er vor allem sprachgeschichtlich und mundartgeographisch durch einen gezielten Vergleich mit anderen Deutschordensdichtungen untermauern will. Auch wenn diese These, wie bereits erläutert, nicht in allen Punkten stichhaltig ist, so bestimmt sie doch die weitere Forschungsdiskussion. Die bisher letzte Monographie zum Passional ist die (ebenfalls schwer zugängliche) Arbeit Wilbur Jobes zu Aufbau und Gehalt des zweiten Passionalbuches.65 Erstmals werden hierin einzelne Legendentexte nicht nur nach stoffgeschichtlichen, sondern zumindest oberflächlich auch nach inhaltlichen Gesichtspunkten untersucht, wobei Jobe diese immer wieder mit Aufbau und Gesamtkonzeption des Werkes in Verbindung bringt. Zuletzt hat Martin J. Schubert in der Einleitung zur neuen Ausgabe (ergänzt durch die Handschriftenbeschreibung und Überlieferungsdarstellung von Jürgen Wolf) auf knapp 300 Seiten die bisherigen Ergebnisse der Forschung zusammengefasst und neue Aspekte in die Diskussion eingebracht, die noch längst nicht beendet ist. Umfassend bereitet diese Einleitung die bisherige Forschung sowie sämtliche Fragen und Erkenntnisse auf; für den weiteren Stand der Forschung sei daher hierauf verwiesen.66

2.2 Die spezifischen Erzählverfahren des Passionals Textinterne Bemerkungen etwa über die Zielsetzung des Werkes, das intendierte Publikum, aber auch Aussagen zum Gesamtaufbau, zum Umgang mit dem Stoff, zum Selbstverständnis des Autors oder seiner Sichtweise auf den von ihm dargebotenen Gegenstand finden sich fast nur in solchen Abschnitten, in denen der Erzähler von der eigentlichen, narrativen Präsentation seines Stoffes abweichen kann. Dies ist vor allem in den Vor- und Nachreden zu den einzelnen Büchern der Fall, die Rezipientensteuerung lässt sich aber auch in den Erzähltechniken beobachten, mit denen der Verfasser versucht, den ‚roten Faden‘ seiner Erzählung aufrechtzuerhalten. Diese Erzählverfahren sollen daher im Folgenden genauer betrachtet werden, und zwar zum einen im Hinblick auf die Zielsetzung des Werkes hin, zum anderen auf den Umgang des Verfassers mit seinem Erzählgegenstand: Den (oder vielmehr: ‚dem‘) Heiligen. Die einzelnen Bücher des Passionals sind durch Vor- und Nachreden voneinander abgegrenzt, die die wichtigsten Gliederungsabschnitte bilden.67 Hier kann der Dichter seine Konzeption erläutern, die inhaltliche Einordnung der einzelnen Ab|| 65 Vgl. JOBE, Passional. 66 Vgl. SCHUBERT, Einleitung. 67 Eine Inhaltsübersicht der einzelnen Vor- und Nachreden findet sich bei LATZKE, Prooemien, S. 5-11, mit anschließender Besprechung einzelner Motive. Hier werden im Folgenden nur solche Aussagen berücksichtigt, die Aufschluss über Aufbau und Zielsetzung des Werkes erlauben, in denen der Verfasser seine Arbeit reflektiert bzw. Ziele und Gestaltungsabsichten formuliert.

52 | Zum Passional als Textgrundlage schnitte vorführen und Hinweise zu seiner Verfahrensweise und seinen Erzählabsichten geben. Die meisten Auskünfte diesbezüglich gibt der Prolog zum ersten Buch, der auch als Vorrede zum Gesamtwerk gelten kann. Es beginnt mit einer typischen invocatio, in der der Verfasser zunächst die Allmacht Gottes und dessen Schöpfung preist (in diesem Zusammenhang wird Gott, passend zum Prolog, als Anfang und Ende aller Dinge hervorgehoben, vgl. I 9f.). Dann setzt er nochmals neu an und bittet Gott bei seinem Unternehmen um Hilfe, denn ihm ist es ein Anliegen, dass er zu dute brechte/ ein teil diner heiligen leben (I 206f.). Offensichtlich hat er sich dabei auch mit einer Reihe von Kritikern auseinandersetzen müssen, gegen deren bosen wolves zan (I 233) er ebenfalls Gottes Unterstützung erbittet. Die Kritik richtet sich, folgt man den Ausführungen des Prologs, gegen das Vorhaben, dieses Buch in der Volkssprache zu verfassen (daz ich zu dutschem volke/ dis buches bin ein tolke; I 235f.); dem wird entgegengehalten, dass man Gottes Wunder predigen unde schriben/ den mannen und den wiben/ sule an allen zungen (I 242–243). Die Begründung, das Lob Gottes sei genauso auch in der Volkssprache zu verkünden, zieht bereits Otfrid von Weißenburg für sein Evangelienbuch heran;68 der Passionaldichter reklamiert dies für alle Arten der Verkündigung (schriftlich und mündlich) und für alle Empfänger solcher Worte (männlich und weiblich). Dies sollte allerdings nicht als Aussage über die tatsächlichen Rezipientenschichten missverstanden werden, sondern umfasst vielmehr die ganze Bandbreite der Verkündigung, die dadurch eben nicht nur lateinisch, sondern gegebenenfalls auch in der Volkssprache erfolgen kann. Für sein Werk habe er, so der Verfasser, die meistere an latin (I 330) herangezogen, er bezieht sich also ausdrücklich auf lateinisch-geistliche Quellen (dass es sich dabei in der Hauptsache um die Legenda aurea handelt, wird dagegen an keiner Stelle explizit gesagt). Wo diese jedoch Unterschiedliches zu berichten hätten, da wil ich einen sin sagen,/ der mir gevellet beste (I 335f.). Es geht somit darum, einem lateinunkundigen Publikum zur Belehrung und zur christlich-moralischen Unterweisung die Lebensbeschreibungen der Heiligen wiederzugeben, und zwar in einer Form, die diesem Rezipientenkreis auch verständlich ist. Darum wählt der Verfasser trotz offensichtlicher Anfeindungen die Volkssprache, und es ist für ihn auch klar, dass er das so Erzählte seinem Publikum ze dute bringen,69 also entsprechend auslegen und aufbereiten, muss. Da es sich bei seinen

|| 68 Vgl. Otfrid von Weißenburg, Evangelienbuch, hg. u. bearbeitet von Wolfgang KLEIBER unter Mitarbeit von Rita HEUSER, Bd. 2: Edition der Heidelberger Hs. P und der Hs. D, Tübingen 2006, Buch I, 31–34: Nu es fílu manno inthíhit Å in sína zungung scríbit / ioh ílit er gigáhe Å thaz sinaz io gihóhe / Vuánana sculun fránkon Å éinon thaz biuuánkon / ni sie in frénkisgon bigínnen Å sie gotes lób singen. 69 Diese Formulierung begegnet in der Vorrede zum ersten (I 206) und zweiten Buch (II 18929). Auch in der Vorrede zum zweiten Buch wendet sich der Dichter an seine Kritiker, ein weiteres Mal verteidigt er sich, sein Unterfangen nicht auf Latein zu vollbringen, in der Nachrede zum zweiten Buch.

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Rezipienten ganz augenscheinlich nicht um (klerikal) Gebildete handelt, ist es ebenso verständlich, dass er (anders als dies in lateinischen Gelehrtendiskursen womöglich der Fall wäre) seine Quellen, die lateinischen Meister, in den seltensten Fällen nennt oder kommentiert, sich erst recht nicht, wie dies z.B. Jacobus de Voragine immer wieder tut, kritisch mit divergierenden Angaben auseinandersetzt, sondern seinem Publikum einen klaren, für sie verständlichen Sinnzusammenhang und eine eindeutige Lehre vermitteln will. Ein solches Vorhaben bedarf neben der Übertragung in die Volkssprache einer entsprechenden narrativen Bearbeitung, in der ein klarer Geschehenszusammenhang wiedergegeben wird, ohne ihn durch unterschiedliche Versionen, Kritik an den Quellen u.ä. zu verunklären. Dass eine solche, in erster Linie narrative, und nicht (wie bei Jacobus) diskursive Verfahrensweise durchaus lehrhaften Charakter besitzt, beeilt sich der Dichter in der Nachrede zum zweiten Buch hervorzuheben: der gůten lúte andacht hofte ich raizen da mite und ir tugenthaften site sterken uf dem gotes wege. (II 42296–42299)

Am Ende des Prologs zum dritten Buch taucht diese didaktische Komponente nochmals auf: Jesus habe stets gelehrt, sich an seine Tugendlehren zu halten, und auch wenn er, der Verfasser, diesem Bild nicht gerecht werden könne, so muz ich doch wol wandern mit lere an die andern, die gute bilde suln uns wesen. Swer daz buch horet lesen durch got, der si genuge dran und gunne mir, des er im gan, als in die minne leret. (III 5, 89–91)

Erneut wird der Aspekt des Vorlesens hervorgehoben, durch den sich der lehrreiche Charakter des Werkes für die Rezipienten offenbare: Offensichtlich wird nicht nur mit Laien gerechnet, die des Lateinischen nicht mächtig sind, sondern auch mit einer großen Anzahl an Rezipienten, die die folgenden Texte nicht selbst lesen können; sie sind also auch (sicher nicht nur) an ein leseunkundiges Publikum gerichtet. Anders als die Legenda aurea, die eindeutig an ein literates und theologisch gebildetes Publikum gerichtet ist, ist für den Rezipientenkreis des Passionals eine solche Vorgehensweise nicht brauchbar. Hier sind vielmehr andere Formen der Didaxe erforderlich, wobei für die theologische Laienbildung immer noch die Predigt die wichtigste ist. Genau in dieser Tradition sieht der Passionaldichter sein Werk, allerdings mit dem Unterschied, dass jene mit dem gesprochenen Wort auch gleich wieder aus dem Gedächtnis gerate, während das Geschriebene hingegen dauerhaft sei und daher auch nútze úber manigen tac (II 42305) bringe. Der Vergleich mit der Pre-

54 | Zum Passional als Textgrundlage digt in der Nachrede des zweiten Buchs ist insofern bedeutsam, als das gesamte Werk damit das gleiche didaktische Ziel wie eine Predigt erfüllen soll: moralischreligiöse Unterweisung. Allerdings ist die Schriftform dafür geeigneter, da sie beständiger ist. Der Prediger kann jedoch, dies eine Parallele schon zum ersten Prolog, seine Worte nicht immer in Latein wählen, um sein Publikum zu erreichen; darum betont der Verfasser zum Eingang dieser Nachrede noch einmal, dass es ihm in erster Linie um den warhaften ummeswaif (II 42093) gehe, wenn er von Jesus, Maria und den anderen Heiligen nach tichtendem sinne (II 42095) erzähle: swer es horte lesen (II 42908), solle sich deren Vorbildhaftigkeit zu eigen machen und ihnen nachfolgen: dar nach solde ain ieglich jagen (II 42114). Noch einmal wird gegen Ende dieser Nachrede der nútze an lere (II 42403) betont, wenn sich der Verfasser nämlich dafür verteidigt, auch einige apokryphe Passagen eingefügt zu haben, die von den meistern keine Beglaubigung erfahren hätten. Der Nutzen der Lehre durch die Narration: das sind Nachfolge und imitatio, wie sie Jolles als ‚Geistesbeschäftigung‘ für die Legende konstatiert;70 dies ist Zweck der Predigt, und zu diesem Zweck hat auch der Dichter des Passionals seine Erzählungen verfasst, und zwar in der Volkssprache. Aus diesem Grund nimmt er – metaphorisch gesprochen – auch immer wieder seine Rezipienten gewissermaßen ‚bei der Hand‘ und führt sie regelrecht durch sein so umfangreiches Werk. Die Vor- und Nachreden sind dafür ein wichtiger Gliederungsaspekt, denn hier stellt der Dichter immer wieder vor, was er nachfolgend erzählen will und resümiert, wovon zuletzt die Rede war. Das ist nicht zuletzt deswegen wichtig, da er die einzelnen Texte ja nicht wie die Legenda aurea unverbunden nebeneinander stellt, sondern sie gerade in einen übergreifenden Zusammenhang setzt, der auf diese Weise einsichtig gemacht wird; gerade die Vorreden erläutern also die Konzeption des nachfolgenden Teils. Das wird vor allem im Prolog zum zweiten Buch ersichtlich. Zunächst wird nochmals die komplexe Darstellung des ersten Buchs rekapituliert: Geburt Jesu, Passion, Tod und Auferstehung usw., ebenso das Marienleben, dann wird das Erzählprogramm des zweiten Buchs vorgestellt, daz ander buch […]/ daz der boten ist genant (II 18974f.), das Buch der Apostel und himmlischen Boten. Neben solchen paratextuellen Verbindungen finden sich aber auch innerhalb der einzelnen Legenden immer wieder Hinweise, die dem Publikum die nächsten Erzählschritte verdeutlichen sollen. So greift eine Erzählinstanz wiederholt ins Handlungsgeschehen ein, um die einzelnen Abschnitte zu ordnen. Der Dichter ist darum sehr um die Einheit der einzelnen Erzählungen bemüht und versucht zu vermeiden, dass diese nicht in verschiedene Episoden zerfallen. So betont er in der Petruslegende ausdrücklich, dass die Teile darin, die von Paulus berichten, nicht hier, sondern in dessen Legende erzählt werden sollen, denn die Petruslegende solle unzustoret/

|| 70 Vgl. JOLLES, Einfache Formen, S. 34–38.

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von Paulus meren bliben (II 20424f.).71 Ähnlich werden im dritten Buch Ausschnitte der Legende des Hippolyt bereits in der Laurentius-Vita dargestellt. Im unmittelbaren Anschluss daran und mit explizitem Verweis auf den vorhergehenden Text der Laurentius-Legende wird dann die des Hippolytus ausführlich präsentiert und der Faden mit den Worten wieder aufgenommen: Ypolitum den guten man/ sal man nu wider grifen an,/ da man in vor gelazen hat (III 390, 1–3). Diese Verweise müssen nicht immer explizit sein: Wenn z.B. im ersten Buch von den Halbbrüdern Christi die Rede ist, den künftigen Aposteln Jacobus dem Großen und Johannes, dann weist die Beschreibung ihrer Auserwähltheit bereits auf deren entsprechende Viten des zweiten Buches voraus. Auf der anderen Seite lässt sich aber eine absolut stringente Handlungsführung auch nicht jederzeit durchhalten. Immer wieder werden einzelne Episoden eingeflochten, die von der eigentlichen Erzählung z.T. weit wegführen. Vielfach ist dies der Legenda aurea als Quelle zuzuschreiben, da Jacobus de Voragine immer wieder verschiedene Traditionsstränge bestimmter Legenden zusammenführt und dies auch entsprechend kommentiert. Das betrifft insbesondere das erste Buch, das ja eine einzige Großerzählung vom Leben Jesu und Mariae darstellt. Dieses teilt der Passionaldichter darum in thematische Blöcke ein (zur Konzeption s.u.), die jedoch mehrmals unterbrochen werden, z.B. vom Schicksal des Herodes, das im Zusammenhang mit dem Kindermord zu Bethlehem eingeflochten wird (ein weiteres Mal wird Herodes dann innerhalb der Vita von Johannes dem Täufer im zweiten Buch aufgenommen), oder von der Vita des Pilatus im Rahmen der Passionsdarstellung. Wie in der Legenda aurea werden dagegen die Judas-Vita und der Bericht von der Zerstörung Jerusalems (die als Strafe für die Schuld der Juden am Tode Jesu angesehen wird) im Rahmen der Matthias- bzw. der Jacobus minor-Legende im zweiten Buch erzählt. Konzeptuell werden sie damit als Folge der Ereignisse des ersten Buches eingebunden und infolgedessen im (chronologisch späteren) zweiten Buch geschildert. Da die Legenda aurea keine chronologische Präsentation der einzelnen Legenden darstellt, muss Jacobus de Voragine innerhalb seiner Auslegung der Passion Christi einen expliziten Verweis auf die entsprechenden Viten anführen. Ohnehin wird bei ihm das Passionsgeschehen nicht narrativ ausgestaltet, sondern nur in exegetischen und typologischen Kontexten reflektiert; im Zuge dessen führt Jacobus aus: Et quia Christum in mortem tradiderunt Iudas per auaritiam, Iudei per inuidiam, Pylatus per timorem, ideo uidendum esset de pena a deo hiis inflicta merito huius peccati; sed de pena et origine Iude inuenies in legenda sancti Mathie, de pena et excidio Iudeorum in legenda sancti Iacobi minoris. De pena autem et origine Pylati in quadam hystoria licet apocrypha sic legitur […]. (LA 51, 183–185)

|| 71 Vgl. zur Arbeitsweise des Passionaldichters bei der Stoffanordnung in der Petrus- und der Pauluslegende WILHELM, Legenden, S. 90–96; SCHUBERT, Einleitung, S. CCXLVI–CCXLIX.

56 | Zum Passional als Textgrundlage (Wenn nun unser Herr in den Tod ward verraten von Judas aus Habsucht, von den Juden aus Neid, von Pilatus auf Furcht; so sollen wir sagen, mit welcher Rache sie Gott dafür getroffen hat. Von Judas Lohn und wie er geboren wurde findest du geschrieben in der Legende von St. Mathias; von der Juden Strafe und ihrem Untergang in der Legende St. Jacobi des Minderen; darum sollen wir hier alleine sagen von dem Leben und dem Lohne des Pilatus)

Es folgt in der Legenda aurea dann die Pilatusvita, die den Abschnitt zur Passion beschließt. Hier zeigt sich deutlich die unterschiedliche Konzeption des Passionals, das diese drei Antilegenden zwar im gleichen Erzählzusammenhang verortet, den von Jacobus jedoch nur diskursiv aufgemachten Kontext narrativ gestaltet: Der Neid der Juden, die Habgier des Judas und die Furcht des Pilatus kommen in den Schilderungen des Passionsgeschehens immer wieder zum Tragen; dass die weiteren Schicksale der jeweiligen Beteiligten an verschiedenen Stellen nochmals einzeln ausgeführt werden, braucht aufgrund der quasi-historischen Ausgestaltung, die alle Geschehnisse in einen kohärenten Zusammenhang stellt, nicht mehr eigens betont werden. Obwohl der Passionaldichter immer wieder Querverweise zwischen einzelnen Legenden, besonders zwischen den jeweiligen Büchern seines Werks zieht, sind darüber hinaus auch Wiederholungen zu beobachten, die die gleiche Passage in einen jeweils anderen Erzählkontext einbetten – angesichts des gewaltigen Umfangs des Werkes nicht erstaunlich. Ein Paradebeispiel ist die Erzählung vom Tod des Julianus Apostata durch den aus seinem Grab erstandenen hl. Mercurius, die einmal innerhalb der Julianus-Episode im dritten Buch überliefert ist (III 159, 58 – 161, 60), daneben aber auch, und zwar z.T. in fast wörtlicher Übereinstimmung, im Rahmen der Legende von Johannes dem Täufer (II 39038–39234), die ebenfalls die gesamte Julianus-Erzählung mit zahlreichen Parallelstellen beinhaltet, jedoch mit Schwerpunkt auf dessen Teufelsbündnis (vgl. auch Kap. 7.3). Auch wird die Ausgangskonstellation der Magdalenenvita im zweiten Buch in der Legende ihrer Schwester Martha im dritten wiederaufgenommen, dort jedoch mit einem konkreten Rückverweis und unter völlig anderer Perspektive (vgl. auch Kap. 6.2.4).72 Dies scheint einmal mehr ein Hinweis darauf zu sein, dass das Passional sowohl als Erzählganzes konzipiert war, als auch zur Einzellektüre bestimmter Legenden oder sogar nur einzelner Abschnitte (sei es kontemplativer, predigthafter oder sonstiger Natur); das zeigt sich an der Anlage der meisten Handschriften, deren Seitenüberschriften das Werk differenziert untergliedern und so das Auffinden einzelner Texte und Passagen erleichtern. Dass dies offenbar der gängige Rezeptionsmodus gewesen ist, wird aus der Überlieferungssituation des Passionals ersichtlich: Nicht nur ist das dritte Buch stets getrennt von den ersten beiden überliefert, auch sind einzelne Passionallegen-

|| 72 Auch das Motiv einer Frau, die als Mann verkleidet in ein Mönchskloster eintritt und dort der Vergewaltigung bezichtigt wird, taucht in insgesamt drei Legenden mit teilweise deutlichen Gleichförmigkeiten auf (Marina, Theodora und Eugenia). Vgl. dazu LATZKE, Prooemien, S. 14f., mit weiteren Doppelungen.

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den in kleineren oder größeren Verbünden losgelöst vom Kontext des Gesamtwerkes in verschiedenen Handschriften erhalten. Umso wichtiger ist es, dass die unterschiedlichen Erzähleinheiten deutlich voneinander abgegrenzt werden und die Wiederaufnahme des Erzählfadens ebenso deutlich markiert wird. In den Handschriften selbst sind die jeweiligen thematischen Abschnitte durch Zwischen- oder Seitenüberschriften sowie durch farbige Initialen und Lombarden entsprechend kenntlich gemacht. Für Zuhörer jedoch bedarf es anderer Markierungen, und auch hier unterscheidet sich das Passional stark von seiner Vorlage, der Legenda aurea. Deiktisch wirkt insbesondere die immer wieder eingesetzte direkte Publikumsanrede, Floskeln wie z.B. ich wil uch sagen die warheit (III 14, 24), oder nu horet alle, die hie sin (I 12625; zum Auftakt der Marienmirakel), welche die Aufmerksamkeit des Publikums auf einen bestimmten Gegenstand oder einen neuen Gedanken lenken sollen. Besonders häufig wird dabei die visuelle Imaginationskraft des Publikums mit dem Leitwort seht angesprochen: seht wie ein wunder da geschach (III 14, 39); seht, wie Nicolaus erschein (III 16, 40); seht, wa zwene engel quamen (III 601, 89); secht, do quam vil drate/ Paulus und gestunt vor im (II 22458f.); seht, do wart er getoufet (II 21545 – nach Hs. BCDG73) usw. – es ließen sich Hunderte solche Beispiele finden.74 Seltener sind dagegen didaktische Einwürfe wie zu Beginn eines predigthaften Exkurses zu Pfingsten, der eingeleitet wird mit den Worten: Merket nu dar under/ ein teil albesunder,/ als ich hi zu dute uch sage (I 10619–10621). Hier sollen die Zuhörer darauf aufmerksam gemacht werden, dass das Folgende als Deutung des Geschehens aufzufassen ist. Besonders wichtig sind Aussagen zur Handlungssteuerung. Handlungssprünge, Exkurse usw. müssen einem Zuhörer ebenso klargemacht werden wie die Wiederaufnahme zuvor geknüpfter und unterbrochener Handlungsstränge, was besonders für das durchkomponierte erste Buch von Bedeutung ist. Dafür setzt der Passionaldichter verschiedene feste Wendungen ein: Der Übergang zu einem neuen Handlungsabschnitt wird beispielsweise mit Formulierungen wie Wir lazen dise rede ligen (I 3575; Übergang von der Flucht nach Ägypten zum Schicksal des Schächers) oder Wir lazen diz nu bliben (I 853; Abschluss der Genealogie der Heiligen Sippe und Fortführung des Lebens Marias) gekennzeichnet. Besonders deutlich ist diese Technik beim Einschub der Pilatusvita zu beobachten: Diese wird zwischen Passionsgeschichte und Auferstehungserzählung eingeflochten und provoziert einen harten Bruch im Handlungsgefüge. Nachdem er berichtet hat, wie Christus am Kreuz gestorben und begraben worden ist, setzt der Erzähler noch einmal völlig neu an:

|| 73 Die Edition folgt an dieser Stelle der Hs. A, die hier wie an vielen anderen Stellen, diesen deiktischen Verweis getilgt hat – die Publikumsanrede seht ist in A gegenüber den anderen Hss. häufiger zurückgenommen, gleichwohl aber ebenfalls noch vorhanden. 74 Vgl. auch weitere Referenzen bei TIEDEMANN, Passional, S. 99; SCHUBERT, Einleitung, S. CLXXXVII.

58 | Zum Passional als Textgrundlage Wir lazen Cristum hi ligen eine wile verswigen, daz ir durch gut sult liden, wan man sal hi sniden in di materien, des man darf; so grifen aber anderwarf an der materien ummesweif, da uns wiset hin der reif, daz horet als wir da bekumen (I 7483–7491).

Der Dichter begreift seinen Erzählstoff als materia, in die eingegriffen, geschnitten werden darf, und daher lässt er nicht Christus, sondern die Rede von ihm liegen, er schweigt von ihm und greift statt dessen einen anderen Strang (warf; wörtl.: Gewebe) auf, wohin ihn der Faden oder das Seil (reif) der umfassenden materia lenkt. Nicht zufällig sind mit diesen Signalwörtern zugleich Metaphern der Webetechnik aufgerufen, denn so versteht der Dichter offenbar seine Arbeit, wobei natürlich gleichzeitig die aus der lateinischen Rhetorik stammende Bedeutung der materia mitschwingt. Die gleichen Signalwörter (mit dem Reim reif – materien ummesweif) begegnen auch in I 6113f. am Ende einer längeren Reflexion zum Kreuzigungsgeschehen, um die Erzählung wieder aufzunehmen. Wenn die Handlung dann von der Pilatusvita wieder zum biblische Geschehen der Grablegung Jesu und der Auferstehung zurückkehrt, wird dies in den Handschriften jeweils durch Zwischen- oder Seitenüberschriften markiert, im Text fährt der Erzähler mit den Worten fort: Wir legen diese rede nider/ und erheben aber wider/ di rede von dem guten gote (I 8261–8263). Vergleichbare Erzählerbemerkungen gibt es immer wieder, besonders bei Einschüben wie z.B. der Geschichte von Herodes nach dem Kindermord zu Bethlehem (I 3863ff.),der Vita des Judas innerhalb der Matthias-Legende (II 34480ff. u. 35029ff.) oder in der Petruslegende nach einem Exkurs zu Nero (man laze disen keiser ligen,/ mit aller rede me verswigen; II 22681f.) und zum Fest Petri Ketten (man laze hi di keten ligen; II 19791), aber auch beim besonders bemerkenswerten Sprung von der Kindheit Jesu zur Passionsgeschichte (man laze daz alhi bestan; I 5113), um nur ein paar Beispiele zu nennen. Ebenso möglich sind auch Quer- oder Rückverweise auf schon behandeltes oder noch zu erzählendes Geschehen. Sowohl die Erzählung von Christi als auch die von Mariae Himmelfahrt beginnt jeweils mit einer Rückschau (Als ich da vor han gesaget; I 9463 – Ir habet da vor wol vernumen; I 11099). Ähnliche Verweise, jedoch seltener, finden sich auch im dritten Buch (z.B. III 355, 74 u. 362, 95). Im Rahmen des Ostergeschehens muss der Dichter zunächst klarmachen, dass er zuerst von der Auferstehung Christi berichten will (vgl. I 8286ff.), der Descensus also nachgereicht wird; an anderer Stelle verweist er bereits auf die spätere Himmelfahrt, von der er jedoch erst nach Abschluss der Auferstehungshandlung berichten kann:

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als ich her nach baz wil sagen. ich muz ein teil hi verrer jagen di rede von der urstende, wand ir ist noch nicht ende (I 8773–8776).

All diese Aussagen, denen noch etliche hinzugefügt werden könnten, zeigen, dass ein umfassendes Erzählprogramm dahinter steckt, das nicht nur das erste Buch, sondern in der Gesamtanlage alle drei Bücher umfasst.75 Dies macht eine Konzeption ausschließlich für Tischlesungen oder zum liturgischen Gebrauch eher unwahrscheinlich. Dass einzelne Texte oder Textabschnitte in der Rezeption durchaus einem solchen Gebrauch zugeführt werden konnten, ist damit nicht ausgeschlossen (und ließe sich auch aus der Anlage der einzelnen Handschriften erschließen, die mit Seiten- und Zwischenüberschriften den Inhalt des Textes sehr genau gliedern).76 Die Gesamtkonzeption aller drei Bücher aber kann schwerlich allein darauf angelegt sein. Das Werk zielt auf die geistliche Unterweisung und fromme Belehrung eines lateinunkundigen (und wohl meist ebenso leseunkundigen) Publikums ab, das sich die Exemplarizität der dargestellten Personen innerhalb der Heilsgeschichte zum Vorbild nehmen soll. Zu diesem Zweck ist es möglich (aber nicht zwingend notwendig), zumindest das erste, vielleicht sogar die ersten beiden Bücher durchgängig zu rezipieren (als Lese- wie als Vorlesetext), doch auch hier lassen sich natürlich genauso nur einzelne Ausschnitte herausgreifen, ohne den Gesamtzusammenhang aus den Augen zu verlieren, zumindest wenn der biblisch-heilsgeschichtliche Rahmen soweit bekannt ist. Der Dichter begreift sein Werk vielmehr als ein umfassendes Gewebe verschiedener Handlungsfäden, wie noch einmal gegen Ende des zweiten Buchs, in der Vorrede zu den Engeln (die vom ‚Buch der Boten‘, also der

|| 75 Einschränkend hierzu jedoch SCHUBERT, Einleitung, S. XXII: „Es ist festzuhalten, dass Buch I/II als geschlossene Werkeinheit angesehen werden kann und eigenständig ist. Dass später Buch III hinzukam und so ein Werkkomplex entstand, ändert daran nichts.“ 76 Vgl. zur Praxis der Tischlesungen Volker MERTENS, Verslegende und Prosalegendar. Zur Prosafassung von Legendenromanen in ‚Der Heiligen Leben‘. In: Volker HONEMANN et al. (Hg.), Poesie und Gebrauchsliteratur im deutschen Mittelalter. Würzburger Colloquium 1978, Tübingen 1979, S. 265-289, hier bes. S. 282ff., der die Umgestaltung vom Vers in Prosa bei den spätmittelalterlichen Legendaren eben darauf zurückführt, dass die Tischlesungen nicht mit normaler Sprechstimme, sondern ähnlich den liturgischen Lesungen im Accentus vorgetragen worden seien, welcher bei Versformen nur mit Schwierigkeiten zu realisieren gewesen sei. Tischlesungen sind auch für den Deutschen Orden belegt, was genau und ob dort ebenfalls nur im Accentus vorgetragen worden ist, bleibt allerdings unklar, vgl. Arno MENZEL-REUTERS, Arma spiritualia. Bibliotheken, Bücher und Bildung im Deutschen Orden, Wiesbaden 2003, S. 76–82. Eine Konzeption des Passionals zum Zwecke der lectio bezweifelt anhand des handschriftlichen Befundes auch Irina DENISSENKO, Deutschordenshagiographie und Hagiographie im Deutschen Orden, in: Ralf G. PÄSLER u. Dietrich SCHMIDTKE (Hg.), Deutschsprachige Literatur des Mittelalters im östlichen Europa, Heidelberg 2006, S. 125–138, hier S. 134f.

60 | Zum Passional als Textgrundlage Apostel, konzeptionell noch einmal getrennt werden) deutlich wird.77 Der Verfasser erklärt, dass er das Buch der Boten tichten wolde in einen knoten (I 36410), und zwar nach miner willekur (II 36408). Er rekapituliert die vorangegangenen Legenden von den Aposteln und bemerkt dazu: do duchte mich, daz iren vliez/ di materie und iren knoten/ wol neme an die zwelfboten (II 36440–36442): Nach seiner Auffassung vom Gesamtwerk als Gewebe stellen sich die Apostel als Knoten im Stoff dar, der mit den folgenden Erzählungen weitergewebt werden soll.

2.3 Aufbau und Gesamtkonzeption Diese Gesamtkonzeption, das ‚Gewebe‘ aus unterschiedlichen Erzählfäden zu einer heilsgeschichtlichen Großerzählung, offenbart ein ganz eigenständiges Konzept legendarischen Erzählens. Die im ersten Buch präsentierten Leben Jesu und Marias bilden dabei eine Präfiguration für die übrigen Heiligenleben: Die Erzählungen von Jesus und Maria sind Vorbild und Idealtyp, das die in der Nachfolge Christi stehenden Apostel und Heiligen, von denen anschließend erzählt wird, in imitatio selbst nachleben. Dass eine solche imitatio implizit immer vorausgesetzt ist, darf dabei als selbstverständlich betrachtet werden: Die Heiligen sind in ihren Tugenden wie in ihren Leiden im Martyrium stets an der Exemplarizität Christi ausgerichtet, ein Vorbild, dem sie dennoch nie ganz gleich, sondern nur möglichst nahe kommen können, handelt es sich bei ihnen doch stets um Menschen, nicht wie Christus um Gott und Mensch zugleich. Zu überlegen ist jedoch, ob die ausführliche Gestaltung des Jesusund Marienlebens auf ein dementsprechend idealtypisches legendarisches Erzählprogramm verweist, indem beispielsweise Christi Marter oder Marias Keuschheit in exemplarischer Manier auf Martyrium oder Tugenden der künftigen Heiligen verweisen bzw. diese umgekehrt auf Jesus und Maria rückbezogen sind. Das erste Buch gibt damit die Paradigmen vor, die die nachfolgenden Legendenerzählungen prägen. Der paradigmatische Status legendarischen Erzählens ist auch daraus zu begründen, dass das Syntagma der Legendenerzählungen im Paradigma der Heilsgeschichte aufgehoben ist – mithin also in jenen Ereignissen, die das erste Buch narrativ darstellt. Die Serialität der einzelnen Legenden insbesondere des dritten Buchs beruht nicht zuletzt darauf, dass sie alle auf die gleichen paradigmatischen Bezüge zur christlichen Heilsgeschichte und zum Leben Jesu zurückgehen. In der Vorrede zum ersten Buch und damit zum Gesamtwerk wird eine solche inhaltliche Zielsetzung expliziert. Einen ersten Hinweis gibt die Einteilung der Heiligen in vier Gruppen: Erzählt werden soll von Märtyrern, Predigern, Asketen und den

|| 77 Zum Textus als Gewebe vgl. umfassend Hedwig RÖCKELEIN, Vom webenden Hagiographen zum hagiographischen Text, in: Ludolf KUCHENBUCH u. Uta KLEINE (Hg.), ‚Textus‘ im Mittelalter. Komponenten und Situationen des Wortgebrauchs im schriftsemantischen Feld, Göttingen 2006, S. 77–110.

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Keuschen (Jungfrauen). Diese bilden eine Art himmlischen Hofstaat vor dem Thron Gottes und sind durch ihre ‚Kleiderordnung‘ klar voneinander unterschieden: Gelb sind die Asketen gekleidet, rot die Märtyrer, grün die Prediger und weiß die Keuschen (vgl. I 261–306).78 Die Untergliederung der Heiligen in diese vier Gruppen lässt jedoch keinerlei Hierarchie erkennen (höchstens in der Reihenfolge der Aufzählung). Hier sind vier Grundtypen von Heiligen genannt, verschiedene Möglichkeiten, zur Heiligkeit zu gelangen, alle jedoch in gleicher Weise vorbildhaft und beispielgebend. Dies kann zugleich als Aufforderung an die Rezipienten aufgefasst werden, sich diese ‚Grundkonstellationen‘ selbst zum Vorbild zu nehmen. Eine solche Einteilung der Heiligen ist für die weitere inhaltliche Gliederung des Legendars und seiner einzelnen Viten aber offensichtlich kaum von Belang, erst ganz am Ende, im mit 74 Versen sehr kurzem Nachwort des dritten Buches wird diese ‚Kleiderordnung‘ noch einmal aufgegriffen.79 Die einzelnen Legenden werden jedoch nicht in derartige Gruppen eingeteilt, die Anordnung der Heiligen im Zuge dieser Farbsymbolik ist also kein konzeptioneller Aspekt. Vielmehr rät der Autor im Epilog seinen Rezipienten, selbst eines dieser Kleider zu erlangen, bevor er sein Werk mit einem Gotteslob beschließt. Nicht als Gliederungsprinzip, sondern als unterschiedliche Realisierungsformen von Heiligkeit muss also die Kleidermetaphorik gelten, Realisierungsformen, die sämtlich auf die vorgelebte Heiligkeit Christi und Marias zu beziehen sind, welche alle diese auf sich vereinigt haben. Das mit dem ersten Buch an den Beginn gestellte Jesus-

|| 78 Die Farben rot und weiß für Martyrium und Askese sind schon seit altkirchlicher Tradition gebräuchlich, die Bezüge zur Liturgie sind hier offensichtlich: Nach dem von Innozenz III. festgelegten Farbenkanon sind die Feste der Apostel und Märtyrer mit der liturgischen Farbe rot, die der Bekenner und Jungfrauen mit der Farbe weiß belegt (vgl. auch den Hinweis auf Hugo von St. Victor im Apparat der Ausgabe von HAASE/SCHUBERT/ WOLF). Grün als Farbe der Zwischenzeiten hat dagegen nur untergeordnete Bedeutung, gelb spielt gar keine Rolle und muss vielleicht auch deswegen im Passional noch kurz ausgedeutet werden: Die Tugendhaftigkeit eines asketischen und abstinenten Lebenswandels nämlich verdrucket wol des blutes vluz (I 284). Vgl. auch Angelus A. HÄUßLING, [Art.] Farben/Farbsymbolik. 3. Liturgische Farben, in: TRE 11, 1983, S. 26–29, hier S. 28. Betont wird somit noch eine Unterdifferenzierung zwischen Keuschheit und Askese, die eigentlich zusammengedacht werden. Dem Aspekt der Keuschheit kommt im Passional jedoch eine große Bedeutung zu, weshalb hier den Jungfrauen, die sich als Bräute Christi bekennen, ein besonderer Stellenwert eingeräumt wird. Den Bezug zu den liturgischen Farbenregeln für diese Stelle erläutert Robert STROPPEL, Liturgie und geistliche Dichtung zwischen 1050 und 1300, Frankfurt a. M. 1927, S. 191f. Vgl. zur Farbensymbolik noch Mihai-D. GRIGORE, Weiße Pilger, rote Verdammte. Farben und Heilsordnungen am Beispiel der mittelalterlichen Hagiografie, in: Ingrid BENNEWITZ u. Andrea SCHINDLER (Hg.), Farbe im Mittelalter. Materialität –Medialität – Semantik, Berlin 2011, S. 681–691; zur Entwicklung der liturgischen Farben und deren Zuordnung zu verschiedenen Heiligengruppen vgl. den Beitrag von Hanns Peter NEUHEUSER, Auf dem Weg zum liturgischen Farbenkanon. Die Farbbedeutungen im liturgischen Zeichensystem des Mittelalters, im selben Band (S. 727–748, hier S. 738f.). 79 Die Farbsymbolik taucht bisweilen auch an anderer Stelle noch auf, so ist z.B. vom roten MärtyrerGewand Valentins (III 187, 11) die Rede, nicht aber von der damit im Prolog verbundenen Ordnung.

62 | Zum Passional als Textgrundlage und Marienleben präfiguriert damit die in den nachfolgenden Büchern beschriebenen Heiligenleben, wie der anschließende Erzählerkommentar verdeutlicht: Nu vuget sich daz harte wol, sit ich von heiligen sprechen sol, als ichz mich vorsinne, daz ich an dem beginne, der mit hoer werdekeit ein houbt ist aller heilekeit an gotlicher mitewist: daz ist min herre Jesus Crist. idoch wen sine muter ist daz reine vaz, in die er quam und di menscheit von ir nam, so wil ich grifen an den stam, von dem sich wite hat zuspreit unser aller selikeit […] (I 307–320).

Zwei Formulierungen lassen darin aufhorchen. Zum einen wird Christus als das ‚Haupt aller Heiligkeit‘ bezeichnet, er steht der Gemeinschaft der Heiligen vor. Darin zeigt sich die grundsätzliche Tendenz (nicht nur des Passionals), Heiligkeit über verschiedene Metaphernfelder narrativierbar zu machen. Das Bild von Christus als das Haupt der Kirche und der Heiligen und damit letztlich allen Gläubigen als seine Glieder ist dabei nur ein, wenngleich wirkmächtiges, Beispiel. Ein weiteres Bild im eben zitierten Zusammenhang ist das von Maria als daz reine vaz (I 316, ähnlich in I 846), als Gefäß, das mit der Heiligkeit Christi gefüllt wird – eine Metapher, die immer wieder auch auf andere Heilige übertragen wird (vgl. etwa den Beginn der Pauluslegende: Paulus daz erwelte vaz; I 21335). Im negativen Sinne wird beispielsweise das Bild von Judas, der schanden vaz (I 9263; ebenso Simon Magus in der Petruslegende: I 20597; vgl. auch die Formulierung im Marienmirakel vom Teufel als Kämmerer, I, 14495) bemüht. Ebenso beliebt ist dem Passionaldichter die Metapher des gärtnerischen Pfropfens: Die Heiligen werden auf den Stamm des Glaubens, den Stamm Christi aufgepfropft, um umso reichere Frucht zu bringen und den Glauben weiter zu vermehren. So heißt es vom heiligen Paulus: er was gepfropfet uf den stam Jesum Cristum den herren sin, di vrucht wart stete an im schin, di im gab des stammes saf. (II 21700–21703)

All diese Metaphernfelder profilieren das Erzählen vom Heiligen und von Heiligkeit, sie bilden ein Verweisungssystem, das den Rezipienten noch einmal auf andere, eben nicht allein narrative, sondern bildhafte Weise den Sinn des Erzählten nahebringt. Zugleich, und dies ist die zweite Auffälligkeit neben der Metaphorik des Hauptes, wird mit der Erwähnung Marias im obigen Zitat Christi Menschlichkeit betont,

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und damit die Exemplarizität für diejenigen, die ihm nachfolgen, hervorgehoben: Christus ist das Oberhaupt aller Heiliger, deren Heiligkeit gründet nicht zuletzt auf der imitatio Christi; er ist die figura, die es zu erfüllen gilt. Dies kann aber nur deshalb gelingen, weil Jesus als Mensch auf der Erde gewirkt hat, und auch, wenn niemand seiner göttlichen Vollkommenheit gleichkommen kann, so liegt das Vorbildhafte doch gerade in der Menschlichkeit seiner Taten und Handlungsweisen. Dass die o.a. Untergliederung der Heiligen in Gewänderfarben auch und gerade auf Christus anzuwenden ist, wird indes an einer ganz anderen Stelle deutlich, nämlich im Zusammenhang mit dem Himmelfahrtsgeschehen, wo es heißt, daz Crist diz selbe rote cleit – gemartert an der menscheit vur unse schult ein riche lon – wolde uf in den hosten tron brengen […] (I 9525–9529).

Mit dieser Bezugnahme auf den Prolog und die Gewänderfarben der Heiligen im Paradies rückt das märtyrerhafte Leiden Christi in den Mittelpunkt, das der Heiland aus Liebe zur Menschheit auf sich genommen hat und welches sein eigentliches Erlösungswerk darstellt. Die Martern sind das tatsächlich Nachahmenswerte an Christus, und die eben zitierte Aussage etabliert ihn, wie es der Prolog bereits formuliert hat, als den ersten, den vornehmsten der Märtyrer, eben das houbt […] aller heilekeit (I 312). Im gleichen Zusammenhang wird sein rotes Gewand noch dreimal hervorgehoben, (I 9714 u. 9747 sowie 9824ff.); beim dritten Mal wird er zusätzlich noch mit einem weißen Kleid bedacht: das rote, weil er sein Blut für die Menschen vergossen habe, das weiße, weil er keusch gezeugt worden sei. Mit diesem Rekurs auf den Prolog erfüllt Christus nicht mehr nur allein für die Blutzeugen eine imitatio-Funktion, sondern auch für die Keuschen (und man könnte hinzufügen – auch wenn dies nun nicht mehr ausdrücklich unterschieden wird – gleichfalls für die Asketen), d.h. er ist beispielhaftes Vorbild für alle Heiligen, für das rote wie das weiße Martyrium. Dieses Moment der imitatio kann ebenso für Maria gelten, deren außergewöhnlicher Stellenwert darauf beruht, die Verbindung Gottes zu den Menschen bzw. zur Menschlichkeit erst hergestellt zu haben. Der Dichter will mit dem Stamm beginnen, von dem die Seligkeit der Menschen ihren Ausgang genommen hat (so wil ich grifen an den stam; I 318), und mit dieser beachtenswerten Formulierung werden jene imitatio-Figuren für die gesamte Menschheit aufgerufen, die in den Heiligen auf besondere Weise verwirklicht sind; von ihnen soll – und eben das macht den konzeptionellen Unterschied zur Legenda aurea aus – in einer chronologisch-historischen, hierarchisierten Reihung erzählt werden. Deswegen beginnt das erste Buch mit der Geburt Marias und ihrer Jugend, dann folgen der Reihe nach Verkündigung, Geburt und Kindheit Jesu. Erst am Schluss, nach der Auferstehung und dem Pfingstwun-

64 | Zum Passional als Textgrundlage der, kehrt die Erzählung erneut zu Maria zurück, um von ihrem Tod und den darauffolgenden Mirakeln zu berichten. Mit einer solchen, quasi historisch geordneten Ereignisfolge hebt das Passional nicht nur ausdrücklich die Menschlichkeit, sondern auch die Geschichtlichkeit Christi hervor. Das erste Buch wird mit dem Stammbaum Marias eröffnet, wobei der Verweis auf den alttestamentlichen König David die Mittlerposition Christi zwischen Gott und den Menschen verdeutlichen soll. Auf diese Weise werden Jesus und Maria als gleichsam historische und (in Christi Göttlichkeit) zugleich transhistorische Vorbilder für die künftigen Heiligen ebenso wie für die Rezipienten betrachtet. Jesus erfüllt dies zum einen durch seine vorgelebten Tugenden, die er als christliche erst eigentlich begründet, zum anderen durch sein Leiden am Kreuz; sein Leben und Sterben soll Vorbild für alle Menschen sein, wobei die Heiligen dieser Exemplarizität am nächsten kommen. Maria ist als figura insbesondere für die weiblichen Heiligen wichtig, welche sich an Marias Keuschheit und Jungfräulichkeit als gerade für Frauen erstrebenswerte Tugenden halten sollen.80 Daran orientieren sich implizit praktisch alle Heiligenlegenden: Sie erzählen vom Leben und vom Tod ihrer Protagonisten, in einem Mirakel-Anhang oft noch von ihrem ‚Nach-Leben‘, ihrem Heilswirken in der Welt; all dies ist grundsätzlich ausgerichtet am biblischen Muster der entsprechenden Stationen Christi und Marias, auf die vielfach über typologische Muster und Verweise auch direkt Bezug genommen wird. Die Aussagen des Prologs sind daher programmatisch zu verstehen: Wenn von den Heiligen erzählt werden soll, so muss dem die Erzählung über Jesus und Maria vorangehen, als Inbegriff von Heiligkeit, von denen alle Heiligkeit erst ihren Ausgang nimmt. Dies zeigt, wie stark die drei Bücher aufeinander bezogen sind, es handelt sich keineswegs nur um Einzeltexte wie in der Legenda aurea, die über einen liturgischen Rahmen miteinander verbunden sind. Das erste Buch des Passionals erzählt zuletzt vom Tod Marias, worauf eine erhebliche Anzahl Marienmirakel aufgeführt werden; es endet mit einem Lob an die Himmelskönigin Maria. Auf dieses Marienlob folgt unmittelbar das zweite Buch, das von einer nur kurzen (87 Verse umfassenden) Vorrede eingeleitet wird. Darin lässt der Verfasser zunächst nochmals die Stationen des vorangegangenen Buches Revue passieren und verkündet dann, sich nun dem aposteln buch (II 18934) zuzuwenden: ir leben und ir ende wil ich uch zu dute sagen und nicht di ordenunge jagen, als sie des jares sin gelegen,

|| 80 Daher kann auch die Rolle Marias als Patronin des Deutschen Ordens außer acht gelassen werden, ein Bezug, der ohnehin unklar bleiben muss. Entscheidend ist einzig der innertextuelle Stellenwert der Marienfigur hinsichtlich der Gesamtkonzeption des Passionals, wobei gerade der Gedanke der virginitas eine tragende Rolle spielt.

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ich wil der ordenunge pflegen, als man in canone da vint. (II 18938–18943)

Es folgt eine Aufzählung der Apostel in der nachfolgend dargebotenen Reihenfolge (beginnend mit Petrus, dann Paulus, Andreas usw. bis zuletzt Matthias), sowie die Bemerkung, dass auch Paulus nachträglich in die Reihe der Apostel (oder besser: Boten) gezählt worden sei, ebenso Barnabas; dazu gehörten auch die Evangelisten Lukas und Markus. Zusätzlich werden in dieses zweite Buch auch noch die Legenden von den Engeln, von Johannes dem Täufer und abschließend von Maria Magdalena hinzugenommen. Die Engel und Magdalena sind jedoch zudem durch eigens hervorgehobene Vorreden von den übrigen Teilen abgetrennt.81 Diese Zusammenstellung ist zumindest ungewöhnlich. Zwar wird deutlich, dass hier keine kalendarische Reihenfolge wie die Legenda aurea angestrebt ist (als sie des jares sin gelegen; I 18941), doch das Gefüge dieser als ‚kanonisch‘ bezeichneten Ordnung bleibt zunächst unklar. Die Zusammenstellung der einzelnen Legenden erhellt sich aber vor dem Hintergrund des bereits in der Vorrede zum ersten Buch deutlich gewordenen Historizitätsanspruches des Werkes. Erzählt werden soll eine Geschichte der Heiligen, die mit dem Stifter und Begründer aller Heiligkeit beginnt, der in einzigartiger Weise das Heilige für die Menschen vermittelbar gemacht hat, denn die Gottmenschlichkeit Christi verbindet auf einmalige Weise Transzendenz und Immanenz und ist darum an die Geschichtlichkeit der Menschen ebenso anbindbar wie an die Transhistorizität des Göttlichen. Während sich die Legenda aurea über die Einteilung der Legenden in den liturgischen Kalender an diese transhistorische Ordnung hält, richtet sich das Passional nach der für die Menschen nachvollziehbaren Geschichtlichkeit des göttlichen Wirkens. Darum müssen die Menschlichkeit Christi und sein Stammbaum so herausgestellt werden, darum muss im Folgenden zunächst von den Aposteln erzählt werden: Diese haben als erste den neuen Glauben verkündet, wozu sie von Christus persönlich aufgerufen worden sind. Zusammen mit den anderen im zweiten Buch besprochenen Figuren (allesamt boten) sind sie in direktem Kontakt mit der Heiligkeit Christi gestanden oder haben diese (so kann man es für die Evangelisten formulieren) zumindest in unmittelbarer Weise weitergegeben.

|| 81 In den meisten Hss. deutlich gemacht durch rubrizierte Überschriften und Seitenüberschriften. WILHELM, Legenden, S. 88f., hebt in einer genauen Untersuchung der Verweise auf dieses zweite Buch in den einzelnen Vor- und Nachreden hervor, dass der Passionaldichter ebenso mit der Bezeichnung der boten operiert, worin ein erweitertes Konzept der Apostel und der Christusnachfolge zu sehen sei, in das dann auch die Evangelisten oder Maria Magdalena eingepasst werden könnten. Hs. A unterschlägt hingegen die Zugehörigkeit der Magdalenenlegende zum zweiten Buch, indem in der Vorrede die entsprechende Passage ausgespart wird und vor der Legende ein Randvermerk das Ende des zweiten Buches ankündigt, vgl. SCHUBERT, Einleitung, S. CLXXIIIf. Zur Unterscheidung der Begriffe zwelfbote und apostel im Passional vgl. ebd., S. CCLIV.

66 | Zum Passional als Textgrundlage Das zweite Buch behandelt auf diese Weise eine Art „Hierarchie der frühen Christen“82, die Macht und Wirken Gottes historisch nachvollziehbar macht. Die vom Dichter als ‚kanonisch‘ (I 18943) bezeichnete Reihenfolge der einzelnen Gestalten entspricht gleichwohl nicht der der biblischen Aufzählung in den Evangelienberichten. Stattdessen kann man vielmehr einen Messkanon, der in Zusammenhang mit der Allerheiligenlitanei steht, als mutmaßliches Vorbild für die Anordnung der Apostellegenden ausmachen.83 Vereint man diesen mit einem weiteren Kanongebet, das auch noch die Evangelisten Markus und Lukas anhängt, so wird die Anordnung der Legenden des zweiten Buchs nach einem Vorbild aus dem liturgischen Gebrauch deutlich. Erst die darauf folgenden Legenden von den Engeln, Johannes dem Täufer und Maria Magdalena fallen aus diesem Kontext heraus, sind jedoch durch eine eigene Vorrede zu Michael und den Engeln auch davon abgesetzt; ebenso erhält Magdalena einen gesonderten Prolog. Wiederum einen, wenngleich viel undeutlicheren Zusammenhang, könnte die Allerheiligenlitanei bieten, die neben den Aposteln und Evangelisten eine Vielzahl weiterer wichtiger Heiliger umfasst, nicht zuletzt die Erzengel und Maria, die Altväter und Propheten, Märtyrer, Bekenner, heilige Jungfrauen etc. Indem Jobe die einzelnen Heiligen des 2. Buches den entsprechenden Gruppen der Allerheiligenlitanei zuordnet, kann er auch die verbleibenden drei Figuren darin einordnen.84 Daraus ließe sich folgern, dass auf diese Weise der „historisch-hierarchische Sinn der liturgischen Formel“85 erhalten bliebe, was der Gesamtkonzeption des Passionals, nämlich eine Anordnung der Erzählteile, die eine historisch-chronologische Darstellung des Wirkens der göttlichen Heiligkeit auf der Erde bzw. in der Menschheit ermöglicht, entspricht. Die historische Ereignisfolge wird demnach im zweiten Buch mit einer liturgischen Ordnung verbunden, zeitliche und überzeitliche Kriterien bestimmen nun gleichermaßen den Aufbau. Die Geschichte wird zur Heilsgeschichte, Jesus, der als Mensch in die Geschichte eingetreten ist, hat als zugleich göttliches Wesen eine heilsgeschichtliche und damit transhistorische, überzeitliche Ordnung geschaffen, eine Ordnung, die durch die Kirche aufrechterhalten wird und die präsent gemacht wird in der Liturgie und dem gottesdienstlichem Vollzug – beides spiegelt sich in der Konzeption des Passionals wider. Das zweite Buch bildet dabei die Zeitstruktur des Christentums ab, indem es den Übergang von der geschichtlichen zur heilsge-

|| 82 JOBE, Passional, S. 139. 83 Vgl. ebd., S. 141f. Diese, und nicht die früher vermutete Abdiassammlung, (ein aus dem 6./7. Jh. stammendes Apostellegendar) gibt zumindest exakt die gleiche Anordnung wieder. Das Gebet des Communicantes im lateinischen Hochgebet, dem Canon Missae, führt die Apostel ebenfalls in eben dieser Reihenfolge aus, vgl. genauer STROPPEL, Liturgie, S. 44–52; SCHUBERT, Einleitung, S. CCLIIIf. 84 Zu diesem ganzen Komplex eines Zusammenhangs mit der Allerheiligenlitanei, die als Gemeinschaftsgebet nicht nur am benannten Feiertag eine Rolle im Gottesdienst gespielt hat, vgl. JOBE, Passional, S. 145ff. 85 Ebd., S. 149.

Aufbau und Gesamtkonzeption | 67

schichtlichen Ordnung vollzieht: Noch angebunden an die Geschichte und an Jesus Christus, werden dessen Nachfolger bereits in ein überzeitliches, nicht mehr nur Vergangenheit, sondern ebenso Gegenwart und Zukunft umfassendes Programm überführt.86 Das drückt auch die Nachrede zum zweiten Buch noch einmal aus, die resümierend den Lesern empfiehlt, diu edelen bilde grifen, swaz ir da beschriben si: zGm ersten Jesu Cristi, der da waz alze gGter, dar nach siner mGter unde der andern heiligen, der lutern, der unmailigen, die in vil sch=ner milde so wol gestalte bilde mit tugenden uns han vor getragen. (II 42104–13)

Gerade der Terminus bilde betont die Vorbildhaftigkeit der Heiligen für die Rezipienten, diese Vorbilder sind jedoch ihrerseits an die imitatio Christi angelehnt. Je mehr sich diese Vorbilder zeitlich von Christus entfernen und der Gegenwart der Rezipienten annähern, desto stärker muss auch jene heilsgeschichtliche, überzeitliche Ordnung betont werden. So ist für die Heiligenlegenden des 3. Buchs eine chronologische Reihenfolge nicht mehr aufrechtzuerhalten, weshalb deren Anordnung gänzlich der transhistorischen Ordnung des liturgischen Kirchenjahres folgt. Die Rückbindung an liturgische Vollzugsformen reagiert auf das Wesen von Heiligkeit, das einerseits ein überzeitliches, d.h. Gegenwart Stiftendes und Präsenz Schaffendes ist, zugleich jedoch immer auch in einer (mythischen) Vergangenheit begründet und aus ihr hervorgebracht ist. Während in den meisten Kulturen diese Begründung selbst ebenso eine mythische und damit transhistorische ist, zeichnet es das Christentum gerade aus, diesen Anfang als geschichtlichen zu betrachten, ihn nicht in illo tempore einer mythischen Vorzeit, sondern anno domini einer geschichtlichen zu sehen.87 Zum Erzählen über die Heiligen in Form der Legende gehört ihre Vergegenwärtigung im Kult; beide Aspekte sind im religiösen Vollzug der christlichen Heiligenverehrung verklammert. Dies gilt es bei der Untersuchung der Inszenierungsformen von Heiligkeit in den jeweiligen Erzählabschnitten des Passionals zu berücksichtigen. Da Christus, wie schon der Prolog formuliert, als Ursprung aller || 86 Solche ‚Mischformen‘ sind generell typisch für das mittelalterliche Geschichtsbewusstsein, wie Arnold ANGENENDT, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 1997, S. 233, feststellt, der hagiographische Merkmale in historiographischen Texten und umgekehrt erkennt. Zur zyklischen und linearen Zeitauffassung, die das mittelalterliche Denken gleichermaßen geprägt haben, vgl. ebd., S. 422–427. 87 Dass auch das Christentum dennoch nicht frei ist von mythischen Denkformen und Rationalitäten, ist wiederum eine andere Frage, vgl. dazu nur STOLZ, Der mythische Umgang.

68 | Zum Passional als Textgrundlage Heiligkeit zu sehen ist, die durch ihn auf die Erde und zu den Menschen gekommen ist und von ihm aus durch diese weitergegeben werden kann, soll die nun folgende Untersuchung des ersten Buchs in exemplarischen Ausschnitten zeigen, inwieweit nicht nur die Heiligkeit Jesu (und ebenso Marias), sondern auch deren Darstellung als Vorbild für die nachfolgenden Legendenerzählungen dienen kann. Vor allem das Jesusleben ist ja primäres Vorbild für die übrigen Heiligenleben – die imitatio gilt sowohl auf narrativer wie auch auf der Ebene des tatsächlichen Vollzugs. Mit der Präsentation biblischer und außerbiblischer Berichte, die (in quasi chronologisch-historischer Anordnung) die entscheidenden Stationen von Geburt und Tod, Auferstehung und Himmelfahrt ins Zentrum rückt, wird für Jesus, aber ebenso auch für Maria eine homogene Viten-Struktur geschaffen, die gleichermaßen vorbildhaft für die nachfolgend präsentierten Viten ist.

3 Exemplarische Heiligkeit: Jesus und Maria im I. Buch des Passionals 3.1 Inhaltsübersicht, Quellen und Bearbeitungstendenzen Das erste Buch des Passionals umfasst das Leben Jesu und Marias, von der Geburt und Kindheit über die Passionsgeschichte hin zu Tod und Auferstehung Christi, der Himmelfahrt und Pfingsten sowie Geburt, Tod und Himmelfahrt Marias; abgeschlossen wird es durch eine umfangreiche Sammlung von Marienmirakeln. Auf diese Weise wird wie erläutert eine Art historia von der Menschwerdung Christi präsentiert, in der die entscheidenden Stationen in geschichtlich-chronologischer Reihung narrativ dargeboten werden. Dabei verfährt das Passional durchaus selektiv und trägt nicht einfach alle Informationen zusammen, die im Rahmen biblisch-legendarischer Erzählungen oder theologischer Diskussionen und Kontexte im Umlauf sind. Die Konzentration liegt mit Jesus und seiner Mutter Maria ganz auf den zentralen Gestalten des christlichen Glaubens, anderes und andere werden bis auf wenige Ausnahmen weitgehend ausgeblendet. Das Legendar erhebt zudem nicht den Anspruch, ein Äquivalent zu den kanonischen Büchern des Neuen Testaments zu sein, sondern bietet vielmehr eine Ergänzung, indem es vorwiegend die außerbiblischen, apokryphen Berichte wiedergibt. Die folgende kurze Auflistung der einzelnen Abschnitte des ersten Buches soll einen möglichst genauen Eindruck von dessen Gesamtzusammenhang vermitteln. Die hier dargestellte Einteilung findet sich (mit wenigen Abweichungen) in allen vier vollständig erhaltenen Handschriften, entweder durch Kapitel- oder Seitenüberschriften entsprechend gekennzeichnet oder zumindest durch große Initialen abgegrenzt. In wenigen Fällen vollziehen die Hss. A und C keine gesonderte Kapitelgrenze; die hier wiedergegebene Kapiteleinteilung erfolgt daher auf Grundlage von B und D, die die einzelnen Abschnitte stets durch entsprechende Überschriften kennzeichnen und selbst in der Formulierung wenig voneinander abweichen.1 Nach dem Prolog werden die einzelnen Abschnitte folgendermaßen eingeteilt: 1. Geburt Marias (V. 365–1136) 2. Verkündigung (V. 1137–1438) 3. Christi Geburt (V. 1439–2094) 4. Die Heiligen Drei Könige (V. 2095–2350) 5. Mariae Kirchgang (V. 2315–2476) 6. Kindheit Jesu (V. 2477–3862) || 1 Die Kapiteleinteilung und ihre Überschriften sind von den jeweiligen Hss. übernommen, auf ähnliche Weise präsentiert sie auch die Edition von Haase/SCHUBERT/WOLF. Um einen Eindruck von der Länge der einzelnen Abschnitte zu geben, sind in Klammern jeweils die Versangaben der Ausgabe zu finden.

70 | Exemplarische Heiligkeit: Jesus und Maria im I. Buch des Passionals 7. Kindermord zu Bethlehem, mit einem Einschub zur Bosheit des Herodes und dessen späteren Tod; anschließend kehrt der Text ohne gesonderte Überschrift zur Kindheitserzählung Jesu zurück (V. 3863–5112)2 8. Passionsgeschichte (V. 5113–7482) 9. Pilatusvita (V. 7483–8260) 10. Auferstehung und Descensus (V. 8261–9462) 11. Himmelfahrt (V. 9463–10230) 12. Pfingsten (V. 10231–11098) 13. Tod und Himmelfahrt Marias (V. 11099–12624) 14. 25 Marienmirakel (V. 12625–17932)3 15. Marienlob (V. 18013–18904)

Diese tabellarische Aufstellung verdeutlicht die Bemühungen, im ersten Buch eine klare Abfolge der Ereignisse einzuhalten. Diese werden weitgehend chronologisch erzählt, sind aber teilweise in thematischen Blöcken angeordnet, was vor allem die zwischengeschalteten Viten der beiden Anti-Heiligen Pilatus und Herodes betrifft, wie gerade an der Kindheitserzählung deutlich wird: Die Flucht nach Ägypten wird unterbrochen, um das gleichzeitige Geschehen vom bethlehemitischen Kindermord zu berichten, das Anlass gibt, noch einmal weiter zum Schicksal des Herodes auszuholen. Die Rückkehr der Heiligen Familie aus Ägypten erfolgt schließlich nach dem Tod des Herodes, so dass die Erzählung dann automatisch wieder zur Kindheitsgeschichte Jesu zurückkehren kann. Diese Vorgehensweise nach thematischen Einheiten neben einer gewissen Chronologie der Ereignisse wird auch daran ersichtlich, dass über Herodes und seine ebenso böse Tochter noch ein weiteres Mal innerhalb der Vita von Johannes Baptista berichtet wird. Inhaltlich fällt an dieser Zusammenstellung besonders auf, dass die biblischen Berichte weitgehend beiseite gelassen werden, vielmehr wird um diese ‚herum erzählt‘: Die drei wichtigsten Kirchenfeste Weihnachten, Ostern und Pfingsten bilden den Kern, um den herum all jene Informationen in einen narrativen Zusammenhang gebracht werden, die die Bibel gerade nicht gibt. Es werden damit Leerstellen gefüllt, die die Evangelien im Hinblick auf die Lebensbeschreibungen der beiden Figuren Jesus und Maria hinterlassen: die Kindheitserzählungen beispielsweise oder die Höllenfahrt, aber auch die Vita des Statthalters Pilatus als eine Art Anti-Legende.4 Bei einem Großteil dieser Erzähleinheiten ist das Passional inhaltlich von der Legenda aurea abhängig, die auch hier als hauptsächliche Vorlage gedient hat. Auffällig

|| 2 Nur in der Hs. B, fol. 38–43, ist der Abschnitt zu Herodes und der Wechsel zurück zur Kindheitsgeschichte jeweils durch entsprechende Seitenüberschriften markiert (von der kindeline tode – von deme kunige herodi – von unsers herren kintheit). 3 Die der Hs. D folgende Ausgabe HAHNS enthält nur die ersten fünf dieser Mirakel, knapp 900 Verse (I 12625–13483). Die anderen Hss. bieten demgegenüber einen wesentlich umfangreicheren Mirakel-Teil von rund 5400 Versen (damit den größten Einzelabschnitt des gesamten Werkes). Im Anschluss an das letzte Mirakel folgt noch eine kurze Paränese zum Mariengruß (I 17933–18012). 4 Zum Begriff der Antilegende vgl. JOLLES, Einfache Formen, S. 51–55; zur Diskussion unten, Kap. 7.

Inhaltsübersicht, Quellen und Bearbeitungstendenzen | 71

ist aber, dass sich der Passionaldichter bei der Beschreibung solcher Szenen, die direkt auf die kanonischen Evangelienberichte zurückgehen, sehr genau an die Bibel hält und dort kaum apokryphes Beiwerk hinzufügt. Das ist ganz besonders im Rahmen der Passion der Fall, wo der Dichter harmonisierend zwischen den einzelnen Evangelien hin und her wechselt (z.T. mit Quellenberufungen), mit dieser Kompilation aber eine völlig eigenständige Präsentation des Passionsgeschehens bieten kann. Diese Eigenständigkeit ist bei der Weihnachtsgeschichte wesentlich schwächer ausgeprägt, wo der lukanische Evangeliumsbericht im Zentrum steht und vor allem die außerbiblischen Wunderberichte (Wunder, die sich angeblich während der Geburt ereignet haben, um die Göttlichkeit Jesu und die mit seiner Geburt eingeleitete Zeitenwende unter Beweis zu stellen) von der Legenda aurea übernommen werden. Für die Marienerzählungen, bei denen der Passionaldichter kaum aus biblischen Vorbildern schöpfen kann, ist eine sehr enge Abhängigkeit zur Legenda aurea festzustellen, wobei das Passional hier insbesondere beim Transitus-Bericht auch stark redigierend eingreift. Dass er sich dabei nicht auf biblische, sondern nur zahlreiche apokryphe Erzählungen stützen kann, verwundert den Dichter und veranlasst ihn zu etlichen Kommentaren. Die eingeschobene Pilatusvita und die Darstellung von Herodes Bösartigkeit beruht ebenfalls weitgehend auf der Legenda aurea. Ganz anders dagegen die Vorgehensweise bei der Kindheitsgeschichte Jesu: Hier hält sich der Verfasser ausdrücklich nicht an die Legenda aurea und die apokryphen lateinischen Kindheitsevangelien, sondern kann bereits auf eine volkssprachige Quelle zurückgreifen: Die Kindheit Jesu des Konrad von Fußesbrunnen, die ihrerseits auf apokryphe Überlieferung beruht und die der Passionaldichter streckenweise fast wörtlich für seine Erzählung benutzt (s.u.). Diese kurze Zusammenfassung gibt schon ein recht genaues Bild vom eigenständigen Umgang des Passionaldichters mit seinen Quellen, die eben nicht allein die Legenda aurea, sondern gerade für das konzeptionell wichtige erste Buch eine Reihe weiterer Vorlagen mit einschließt. Die folgende Inhaltsübersicht soll nicht nur einen Überblick über die einzelnen Erzähleinheiten geben, sondern diesen Umgang noch genauer verdeutlichen. Sie bleibt dabei allerdings beschränkt auf die Hauptquellen des Passionals, insbesondere die Legenda aurea, um die Unterschiede (auch in der Frage der Erzählanlage) zu verdeutlichen. Eventuelle Nebenquellen, die der Passionaldichter darüber hinaus noch benutzt haben könnte, werden dagegen nicht mit einbezogen. Denn bei der Frage nach Inszenierungsformen von Heiligkeit geht es nicht um quellengeschichtliche Details, sondern um die Frage nach dem Umgang mit den entsprechenden Erzählstoffen, deren Anordnung und narrative Präsentation; gerade hierin gilt es die narrativen und konzeptionellen Besonderheiten des Passionals gegenüber seiner hauptsächlichen Vorlage, der Legenda aurea, zu beurteilen.

72 | Exemplarische Heiligkeit: Jesus und Maria im I. Buch des Passionals

Geburt und Verkündigung Marias Die apokryphen Berichte zur Vorgeschichte Marias, ihrer Geburt und Jugend gehen bis in die Spätantike zurück; zu nennen ist hier in erster Linie das auch für die apokryphen Geburts- und Kindheitserzählungen Jesu vorbildgebende Protevangelium des Jakobus, von dem allerdings nur griechische, keine lateinischen Fassungen überliefert sind. Der Stoff wird im lateinischen Westen dagegen über die Kompilation des Ps.-Matthäus bekannt, die die Kindheitsgeschichte aus dem Protevangelium Jacobi übernimmt. Die breite apokryphe Tradition hat bereits früh den Weg in die Volkssprache gefunden; als frühestes Beispiel eines ausgearbeiteten deutschsprachigen Marienlebens gilt das um 1172 entstandene Driu liet von der maget des (wohl Augsburger) Priesters Wernher.5 Der Passionaldichter hält sich bei der Vorgeschichte um die Geburt Marias und die Verkündigung weitgehend an die Legenda aurea, die wiederum auf der Historia de navitate Mariae fußt, einer Überarbeitung des apokryphen Evangeliums des Ps.-Matthäus.6 Die Handlung setzt mit einer Darstellung des Geschlechts Davids an, von dem die bedeutendsten biblischen Herrscher ausgegangen seien, um dann auf Kinderlosigkeit von Anna und Joachim, die diesem Geschlecht entstammten, zu sprechen zu kommen. Bereits mit diesem Einstieg setzt sich das Passional von der Legenda aurea ab, die die genealogischen Zusammenhänge gar nicht erörtert. Die Tugendhaftigkeit, aber auch die hohe Abkunft des Ehepaars wird hervorgehoben, nicht zuletzt weil beide wegen ihrer (scheinbaren) Unfruchtbarkeit Erniedrigungen zu erdulden haben. Die Trauer über die fehlenden Nachkommen und damit einen bevorstehenden Abbruch der Genealogie wird dann aber durch die Ankündigung einer Tochter in Freude verwandelt, wobei der Engel, der Joachim die Botschaft überbringt, einen typologischen Bezug zum Alten Testament herstellt, indem er (wie in der Legenda aurea) u.a. an die Kinderlosigkeit Sarahs und weiterer Gestalten des Alten Testa-

|| 5 Das wohl verbreitetste lateinische Marienleben im Mittelalter stellte allerdings die Vita beatae virginis Mariae et salvatoris rhythmica (kurz Vita rhythmica) dar, eine anonyme Kompilation des 13. Jahrhunderts in lateinischen Hexametern, die Grundlage zahlreicher volkssprachiger Bearbeitungen wurde, so z.B. dem zu Beginn des 14. Jahrhunderts entstandenen Marienleben des Karthäusers Bruder Philipp. Vgl. dazu auch Sven LÜKEN, Die Verkündigung an Maria im 15. und frühen 16. Jahrhundert. Historische und kunsthistorische Untersuchungen, Göttingen 2000, S. 34; Achim MASSER, Bibel, Apokryphen und Legenden. Geburt und Kindheit Jesu in der religiösen Epik des Mittelalters, Berlin 1969, S. 58. Zu den einzelnen Motiven und Erzählsträngen der apokryphen Tradition vgl. ebd., S. 106ff., zum Einfluss der Vita rhythmica auf den Passionaltext, der zumindest nicht direkt nachweisbar ist, vgl. SCHUBERT, Einleitung, S. CCXXXIX–CCXLI. 6 Vgl. MASSER, Bibel, S. 113 u. Anm. 37. Inwieweit das Passional allerdings ausschließlich die Legenda aurea herangezogen oder nicht auch noch deren apokryphe Quellen gekannt hat, bedürfte noch einer genaueren Untersuchung. Der Erzähler selbst spricht lediglich von einem mere [...]/ daz ich latinesch virnam (I 9, 4f.); mit solchen Quellenberufungen ist meist indirekt die Legenda aurea gemeint, vgl. SCHUBERT, Einleitung, S. CCXIV.

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ments erinnert. Zudem gibt er zu bedenken: ie seltsener ist di vrucht,/ die got alsus den luten git,/ ie grozer wunder dar an lit (I 600–602). Der Passionaldichter übernimmt die Handlung dann weitgehend von der Legenda aurea, seine Erzählung ist aber von Anfang an viel stärker auf die Auserwähltheit Marias ausgerichtet, deren herausragende Rolle noch vor ihrer Geburt präfiguriert ist (von einer unbefleckten Empfängnis Annas ist keine Rede). Indem zu Beginn die Genealogie des Hauses Davids ausgebreitet wird, die mit der Kinderlosigkeit der beiden abzubrechen droht, bekommt das von der Legenda aurea und der apokryphen Tradition übernommene Motiv der Verkündigung an Joachim (und nicht bzw. erst sekundär auch an Anna als Mutter) eine zusätzliche Bedeutung, denn es ist nun der Stammhalter, dem das Kinderglück prophezeit wird. Die Geburt selbst wird nicht weiter ausgestaltet; Maria wächst im Tempel auf, wie es die Eltern gelobt haben, wobei die dort erzogenen Mädchen allesamt höfischen Beschäftigungen nachgehen (Nähen, Seidengewänder fertigen usw.). Viel wichtiger scheint dem Erzähler, dass Gott den Namen Maria persönlich bestimmt habe (ir name, der ir was erkorn/ von gote [...]; I 678f.). Dieser Eingriff gegenüber der Legenda aurea hebt einmal mehr die Auserwähltheit Marias hervor, was den Erzähler auch zu einem kurzen Lobpreis auf den Namen Marias und ihre künftige Rolle veranlasst. Obwohl sich der Passionaldichter inhaltlich sehr eng an die Legenda aurea hält, wird durch entsprechende Akzentuierungen immer wieder deutlich, dass er nicht einfach die dort präsentierte Handlung ausführlicher und ausgeschmückter nacherzählt, sondern durchaus ein eigenes Erzählprogramm verfolgt. Das betrifft zum einen die Genealogie: Nach Joachims Tod wird Anna wiederverheiratet und bekommt noch zwei Töchter, die sie ebenfalls Maria nennt, so dass über den Aspekt des Namens die genealogische Konstanz der heiligen Sippe auf jeden Fall gewahrt bleibt (vgl. dazu unten, 3.2.6). Neben der genealogischen Herkunft wird zum anderen Virginität als hagiographisches Programm etabliert und in Maria exemplarisch vorgeführt, das Motiv der Christusbrautschaft erhält dadurch den Status einer imitatio Mariae. Die Ehe mit Joseph wird von vornherein als keusch inszeniert (Joseph wird als alter Mann gezeichnet, der die Freiersprobe nur widerwillig auf sich nimmt; wie Maria, die ebenfalls von Beginn an keusch bleiben will, fügt er sich bei der Heirat allein dem Willen Gottes).7 Marias Keuschheit ist im Passional darüber hinaus mit zahlreichen Schönheitstopoi gekoppelt (sie ist lustic unde wol gestalt; I 875), hier wird also deutlich ein || 7 Diese apologetische Darstellungsweise Josephs als alter Mann, der unwillig und auch unfähig scheint, die Ehe tatsächlich zu vollziehen, ist ein wesentlicher Zug schon des Protevangeliums Jacobi, v.a. aber des Ps.-Matthäus, vgl. MASSER, Bibel, S. 110–112. Die ebenfalls darin aufgeführten zahlreichen Keuschheitsproben, die die schwangere Maria über sich ergehen lassen muss, um den Verdacht des Ehebruchs zu widerlegen, führt das Passional hingegen nicht aus (anders als Konrads von Fußesbrunnen Kindheit Jesu): Eines externen Beweises der Keuschheit bedarf es, bei aller Überbetonung, für den Passionaldichter offenbar nicht.

74 | Exemplarische Heiligkeit: Jesus und Maria im I. Buch des Passionals – wiederum besonders die mittelalterliche Adelskultur bestimmendes – Kalokagathieideal aufgenommen, das mit dem alten Mann Joseph kontrastiert. Obendrein kommt Maria gar nicht in den Haushalt ihres Mannes, sondern mit sieben weiteren Jungfrauen vorerst zurück zu ihrer Mutter; ausdrücklich dort erscheint ihr dann auch der Verkündigungsengel.8 Auch die Verkündigungsszene, in den Handschriften durch Seiten- oder Kapitelüberschrift herausgehoben, ist nach den herkömmlichen Mustern gestaltet und basiert im Wesentlichen auf der Legenda aurea. Allerdings ist die Darstellung der Legenda aurea kaum narrativ zu nennen, da dort jedem Handlungsschritt, ja beinahe jedem Satz des Gesprächs zwischen Maria und dem Engel eine umfangreiche Auslegung beigegeben ist. Die Begegnung zwischen Maria und Elisabeth wird dort nicht auserzählt, sondern lediglich der entsprechende Satz aus dem Lukas-Evangelium zitiert; das reicht offensichtlich, um den biblisch geschulten Lesern die ganze Szene ins Gedächtnis zu rufen. Mit den konventionellen Formeln (vgl. die Ave-Maria-Formel I 1204) überbringt im Passional der Engel Gabriel der mit Handarbeiten beschäftigten Maria die Botschaft, den Heiland Jesus auf die Welt zu bringen und verkündet ihr zugleich auch die Schwangerschaft Elisabeths. Die Handlung ist narrativiert und ausgeschmückt, die Empfängnis erfolgt erst, nachdem Maria sich mit ihrem (an sich ja bereits festgelegten) Schicksal einverstanden erklärt, was zeigt, dass sie sich ihrer wichtigen Rolle vollends bewusst ist. Die Begegnung der schwangeren Maria mit Elisabeth ist, angelehnt an die biblische Schilderung (Lk. 1, 39–56), auserzählt; zentraler Bestandteil dieses Abschnittes bildet die Einführung der Magnificat-Formel (vgl. I 1359–1363). Hier zeigt sich, dass sich der Passionaldichter soweit als möglich an die kanonischen Bibeltexte hält, da er lediglich ausführt, Joseph habe, als er von ihrer Schwangerschaft erfährt, Maria verlassen wollen; ein Engel kann ihn dann jedoch von der keuschen Empfängnis durch den Heiligen Geist überzeugen. Damit folgt der Dichter strikt der Legenda aurea und mit ihr Mt. 1, 18–25, nicht den apokryphen Quellen (Ps.-Matthäus), die zusätzlich alle möglichen Wunder und Prozeduren schildern, mit denen Maria auch vor der Öffentlichkeit ihre Jungfräulichkeit unter Beweis stellen muss. Der Rekurs auf die Bibel zeigt, dass die kanonischen Schriften einen besonderem Stellenwert für das Erzählen vom Heiligen besitzen – ihrer Autorität wird voraussetzungslos gefolgt, während weniger autoritative Texte nur dann herangezogen werden, wenn sie einen narrativen oder argumentativen Mehrwert besitzen; es findet keine amplificatio des Stoffes statt.

|| 8 Nach der Zwischenüberschrift setzt der Text noch einmal neu an mit den Worten: Maria was zur muter kumen,/ als ir e habet vernumen (I 1137f.).

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Geburt und Kindheit Jesu Auch die Erzählungen von Geburt und Kindheit Jesu können auf eine lange apokryphe Tradition zurückblicken. Zu nennen sind als ältestes Zeugnis das schon erwähnte Protevangelium des Jacobus, für das Mittelalter bedeutend waren neben anderen auch hier das darauf basierende Kindheitsevangelium des Ps.-Matthäus sowie die Kompilation des lateinischen Evangelium infantiae. Alle diese Texte ergänzen die biblischen Berichte, schmücken sie aus und führen sie weiter, indem Leerstellen (beispielsweise die in der Bibel nicht behandelte Frage nach der Hebamme Marias) aufgefüllt werden. Während die kanonischen Evangelien die Geschehnisse um die Geburt nur knapp zusammenfassen, bemühen sich die apokryphen Kindheitserzählungen um eine breite Auserzählung, die insbesondere die Göttlichkeit Christi in der Welt, das Eindringen der Transzendenz in die Immanenz narrativ entfaltet. Gleiches gilt für die Ereignisse während der Flucht nach Ägypten und vor allem für die Beschreibung der Kindheit Jesu, über die die kanonischen Evangelien keinerlei Auskünfte geben.9 Dagegen kann die Darstellung der Legenda aurea kaum narrativ genannt werden, vielmehr handelt es sich um eine diskursive Zusammenstellung der verschiedenen Wunderzeichen, welche die Geburt Christi begleitet hätten (und über die auch eine zeitliche Einordnung der Geschehnisse erfolgen kann), sowie eine exegetische Ausarbeitung der verschiedenen Nutzen und Zeugnisse der Geburt. Diese umfangreichen Auslegungen bilden den Rahmen für eine äußerst knappe Wiedergabe des Weihnachtsgeschehens, die sich aber nicht auf die Bibel, sondern namentlich auf die historia scholastica stützt, wie es Jacobus selbst ausführt (vgl. LA 6, 78). Das Passional, dem vielmehr an einer umfangreichen Auserzählung des Stoffes gelegen ist, kann daher auf die Präsentation der Legenda aurea nur in wenigen Teilen zurückgreifen. Bei der Schilderung der Geburt Christi verzichtet der Passionaldichter weitgehend auf apokryphes Beiwerk, sondern hält sich maßgeblich an die biblische Weihnachtsgeschichte, wobei er sich an einer Stelle (Anbetung der Hirten; diese Szene unterschlägt die Legenda aurea vollständig) auch konkret auf das Lukasevangelium bezieht (I 1746). Erneut wird deutlich, dass der Autorität der biblischen Berichte der Vorzug gegeben wird, während auf außerbiblische, apokryphe Quellen vor allem dann zurückgegriffen wird, wenn die Evangelien dazu keine Auskunft geben. Entsprechend ‚unspektakulär‘ fällt auch die Geburtserzählung aus: Während die apokryphen Kindheitsevangelien auf eindrucksvolle Weise die Göttlichkeit des neugeborenen Kindes inszenieren,10 wird dies im Passional vor allem || 9 Vgl. zur Harmonisierung der Berichte MASSER, Bibel, S. 150–167; zur Kindheitsgeschichte ebd., S. 249–304. 10 Das betrifft in erster Linie jene Schilderungen, die die als wunderbar herausgestellte Geburt begleiten. So stellt das Evangelium infantiae die Szene in beinahe gnostischer Manier als eine Art Lichtgeburt dar: Aus dem Licht erst formt sich das Kind. Der auf das Protevangelium des Jacobus

76 | Exemplarische Heiligkeit: Jesus und Maria im I. Buch des Passionals anhand typologischer Ausdeutungen, Prophezeiungen und Wunderberichten gewährleistet – also ganz anderen narrativen, z.T. auch diskursiven Verfahren. Ein Großteil der Themen und Motive findet sich dabei auch in der Legenda aurea, die Zusammenstellung ist im Passional aber anders gestaltet und kommt vor allem weitgehend ohne zusätzliche exegetische Kommentare, quellenkritisches Beiwerk etc. aus. Der Verfasser des Passionals folgt also dem biblischen Bericht, indem er ihn zwar ausführlicher und lebendiger darbietet, ihm jedoch nichts hinzufügt, vor allem nicht solche Punkte, die die apokryphen lateinischen Kindheitsevangelien breit darstellen. Wie die Legenda aurea beginnt er seine Schilderung mit einer Ankündigung des Friedensfürsten, dann wird, nunmehr auf Grundlage der Bibel, die Volkszählung des Augustus erläutert, die zur Geburt im Stall zu Bethlehem führt. Die Ankündigung des Gottessohnes wird typologisch durch die Heranziehung der alttestamentlichen Propheten Jesaja und Habakuk untermauert, ebenso wird mehrfach die Verdammnis der ungläubigen Juden vorhergesagt. Die eigentliche Geburt ist mit etwas Detailrealismus,11 ansonsten aber sehr schlicht erzählt. Emphatisch preist der Erzähler die Geburt des Gottessohnes (wol uns der geburt, wol uns,/ wol uns des seldenrichen suns,/ wol uns an Marien zucht, […] usw.; I 1673ff.). Wie sich an den aufgeführten Typologien zeigt, rechnet offenbar auch der Passionaldichter mit einem Publikum, das sich über die religiöse Bedeutung der Szene völlig im Klaren ist, dem das Geschehen aber nochmals narrativ vergegenwärtigt werden soll. Damit zeigt sich gleichzeitig die Problematik, die beim Erzählen von Heiligkeit zum Tragen kommt: Die Erzählung hat einen Anfang und ein Ende, Transzendenz hingegen nicht. Wenn mit Jesus aber das Göttliche zum Menschen wird und damit auch in die Zeitlichkeit eintritt, ist beides zusammengeklammert. Daher schaffen typologische Verweise und Prophezeiungen erneut einen Rahmen, der diese Zeitlichkeit wieder aufhebt, indem Vergangenes bereits auf Zukünftiges verweist und umgekehrt das Gegenwärtige typologisch in Bezug auf die Vergangenheit gesetzt wird und zugleich schon auf die

|| zurückgehende Ps.-Matthäus schildert vor allem die Ereignisse um die Geburt, insbesondere die Hebammensuche Josephs. Im Moment der Geburt bemerkt demnach Joseph, dass die Zeit einen Augenblick stillsteht; wenn Joseph dann mit der Hebamme zurückkommt, ist der Stall von einer Wolke aus Licht verhüllt, die erst allmählich den Blick auf das an der Brust liegende Christuskind freigibt. Außerdem erzählt Ps.-Matthäus von der ungläubigen Salome, die die Jungfräulichkeit Marias überprüfen will, wobei ihr die Hand verdorrt, die das Christuskind nach ihrer Glaubensbeteuerung wieder heilt. Damit entfalten die apokryphen Kindheitsevangelien die Gottmenschlichkeit Jesu und die Jungfrauengeburt auf geradezu mythische Weise, wie Bruno QUAST, Ereignis und Erzählung. Narrative Strategien zur Darstellung des Nichtdarstellbaren am Beispiel der virginitas in partu, in: ZfdPh 125 (2006), S. 29–46, erörtert. Eine solche Erzählweise liegt jedoch nicht in der Absicht des Passionaldichters, der sich soweit als möglich an die kanonischen Evangelien halten möchte. 11 Ochs und Esel seien z.B. von Joseph zum Verkauf bzw. als Tragtier mitgeführt worden; die Beschreibung des Stalles zwischen zwei Häusern findet sich ebenso in der Legenda aurea, die als Quelle hier die historia scholastica anführt; vgl. im einzelnen den Apparat der Ausgabe des Passionals von HAASE/SCHUBERT/WOLF zu dieser Stelle.

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Zukunft am Kreuz verweist, wodurch eine immerzeitliche Geltung dieses fundamentalen Ereignisses der Menschwertung Christi in der Zeit und außerhalb der Zeit entsteht. Im Gegensatz zur Legenda aurea, die sich einzig auf die Deutung des Geburtsereignisses konzentriert und das dazugehörige Geschehen nur andeutungsweise referiert, kommt es dem Passional verstärkt auf die Imaginationskraft der Ereignisse an, die darum auch entsprechend narrativiert werden. Nicht die Göttlichkeit Christi, über die sich die Rezipienten im Klaren sind, soll herausgestellt werden, sondern die aus Christi Kommen resultierende Heilswirkung für die Menschen, die immer wieder bestätigt werden muss. Nicht die Geburt an sich, sondern die damit einhergehenden Begleiterscheinungen sind als wunderbar und damit als eine solche Bestätigung einzuordnen. Die Wunderzeichen, die die heilsgeschichtliche Bedeutung dieses Ereignisses bestätigen, hat das Passional wiederum von der Legenda aurea übernommen, allerdings in anderer Reihenfolge und nicht vollständig. Denn die Legenda aurea erwähnt durchaus die apokryphe Tradition des Beweises der Jungfräulichkeit Marias durch die beiden Hebammen, über die sich das Passional jedoch ausschweigt – bei der Quellenauswahl ist die Autorität der Bibel bindend.12 Bei den Zeichen, die tatsächlich angeführt werden (Prophezeiungen, Himmelserscheinungen und andere Beglaubigungen, zuletzt ein in der Christnacht angesiedeltes Mirakel), beruft sich der Verfasser neben nicht näher benannten Chroniken auf die Autorität des pabest […] Innocencius der hiez (I 1811f.): Die Legenda aurea nennt an der entsprechenden Stelle präziser Innozenz III.; eine genauere Angabe wird auch von Jacobus de Voragine nicht gemacht. Das Passional hingegen bleibt bei derartigen Aussagen eher vage; es ist meist nur von Chroniken oder Geschichten, von (lateinischen) Büchern oder alten Meistern die Rede. Allerdings liegt Jacobus wesentlich daran, seine Erzählungen und Kommentare durch Exegese zu untermauern, für die er natürlich auf die Nennung kirchlicher Autoritäten angewiesen ist, während sich der Passionaldichter auf die narrative Darstellung seines Stoffes beschränkt, die er nur gelegentlich mit kommentierenden Erläuterungen oder kontemplativen Reflexionen versieht.13 Deutlich wird die Vorgehensweise des Passionals gegenüber seinen Quellen: Die Informationen, die die Legenda aurea (in diskursiver Weise) bietet, werden zwar in Teilen übernommen, aber einer narrativen Präsentation des Gesamtgeschehens

|| 12 Über die Bibel hinaus wird nur von Ochs und Esel, die sich vor dem Kind niederknien, berichtet, zum Zeichen, dass alle Kreaturen es anbeten. 13 Dass das Passional, das ansonsten sehr sparsam mit Quellenangaben ist, ausgerechnet Innozenz erwähnt, dem eine solche Chronik jedoch gar nicht zuzuschreiben ist und der weniger für scholastisch-theologische als vielmehr für seine kirchenpolitischen Schriften bekannt ist, mag ein Indiz für die Nähe zum Deutschen Orden sein, deren Ritter dieser Papst 1215 zum Kreuzzug gegen die Pruzzen aufforderte. Innozenz III. bestätigte hingegen 1204 den Schwertbrüderorden, der später im Deutschen Orden aufging, und segnete deren Missionierung Livlands ab.

78 | Exemplarische Heiligkeit: Jesus und Maria im I. Buch des Passionals unterworfen. Höchste Autorität kommt dabei der Bibel zu, die Erzählung wird streng nach den Evangelienberichten (nicht nach der von der Legenda aurea angeführten historia scholastica) gestaltet. Was aus der Legenda aurea übernommen wird, dient nur dazu, die Bedeutung des Heilsgeschehens zu untermauern. Die Kompilation des Passionals erweist sich damit als eigenständige Darstellung, die sorgfältig aus ihren Vorlagen auswählt, diese entsprechend gewichtet und den Erzählstoff neu gestaltet und anordnet. Die gleiche Vorgehensweise zeigt sich auch in den darauffolgenden Abschnitten zu den Heiligen Drei Königen und Epiphanias, die ebenfalls vor allem darauf ausgelegt sind, die Messianität Jesu zu bestätigen. Im Gegensatz zu Legenda aurea, die ein riesiges exegetisches Gebäude um die Gestalten der drei Weisen, deren Namen, Herkunft, Geschlecht, Gaben usw. aufbaut und damit jeglichen Handlungsfaden abschneidet, erzählt das Passional die Szene aus, und zwar so, wie sie sich in der Bibel darstellt, vom Aufbruch der Weisen über den Besuch bei Herodes bis hin zur Anbetung des Jesuskindes. Nur ein kurzer außerbiblischer Abschnitt wird von der Legenda aurea übernommen, der sich aber nahtlos ins übrige Handlungsgeschehen einfügt, indem die Magier nämlich beim Anblick des Sterns eine Vision vom Jesuskind im Strahlenkranz mit Kreuz haben (vgl. LA 14, 39ff.). Noch stärker gilt dies für den mit 125 Versen kürzesten Abschnitt des ersten Buchs zur Beschneidung Jesu. Hier bietet die Legenda aurea einen rein diskursiven Text, voll von theologischen Ausdeutungen, auch hier ist das Passional bemüht, statt dessen ein Handlungsgeschehen aufzuzeigen, das sich aber ganz konventionell am biblischen Bericht orientiert. Dem (entgegen dem Evangelium blinden) Simeon öffnen sich durch den Messias die Augen und er sagt er nach seinem Lobpreis auch noch die Auferstehung Christi voraus,14 womit die bestätigenden Zeichen erneut in einen zukünftigen, überzeitlichen und heilsgeschichtlichen Zusammenhang gestellt werden. Der Evangelientext wird dadurch zwar nicht grundlegend verändert, aber den zentralen Aussagen des Passionals, nämlich die heilsgeschichtliche Bedeutung des Geschehens immer aufs Neue zu bestätigen, angepasst. Zugleich wird die Überzeitlichkeit des Kommens Jesu ein weiteres Mal hervorgehoben: Das Ende seiner irdischen Existenz ist bereits in der Heilsgeschichte festgelegt, verweist aber zugleich auf die Ewigkeit des Göttlichen, des Heiligen, in das einzutreten auch die Menschen nach seinem Kreuzestod ebenfalls die Möglichkeit haben. Dadurch werden die Zeitstrukturen eines geschichtlichen Verlaufs aufgehoben, der Tod Jesu am Kreuz markiert eben kein Ende, sondern wird aufgehoben in einen neuen Anfang in der Auferstehung und dem Versprechen des ewigen Lebens.15

|| 14 Vgl. Lk. 2, 21–40; die bei Lukas berichtete zweite Bestätigung durch die alte Witwe Hanna ist indessen weggelassen. 15 Vgl. zum im Ende begründeten Anfang durch Kreuzestod und Auferstehung sowie die dadurch entstehenden Implikationen für legendarisches Erzählen HAMMER, Ent-Zeitlichung, S. 176–181.

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Ganz anders stellt sich die Situation bei der Flucht nach Ägypten und der Kindheit Jesu dar. Über die Flucht gibt die Bibel nur wenig, über die Kindheit überhaupt keine Auskunft, und die Legenda aurea behandelt beide Themen mit Ausnahme einiger Andeutungen ebenfalls nicht. Will der Passionaldichter jedoch auch hierüber berichten, so muss er sich des apokryphen Materials der lateinischen Kindheitsevangelien bedienen. Ein Wechsel der Vorlage ist also unumgänglich, doch anstatt direkt die apokryphen Quellen heranzuziehen, verwendet er erneut eine Bearbeitung, diesmal jedoch keine lateinische, sondern mit der etwa hundert Jahre zuvor entstandenen Kindheit Jesu Konrads von Fußesbrunnen eine volkssprachige. An diese Vorlage hält er sich so genau, dass Achim Masser im Passionaltext weniger eine Bearbeitung sieht denn eine schlichte Nacherzählung ohne innere Selbständigkeit, die der Vorlage Konrads genauestens folgt, bis hin zur direkten Übernahme einzelner Formulierungen und Phrasen.16 Erzählt wird mit Konrad von Fußesbrunnen zunächst die Flucht nach Ägypten, die Joseph im Traum von einem Engel befohlen wird und auf der sich zum ersten Mal die Göttlichkeit des neugeborenen Jesuskindes erweist: Das Kleinkind zähmt in einer Höhle wilde Drachen, es kann einem Baum in der Wüste befehlen, Maria Schatten und Früchte zu spenden (und dem Baum dafür das Paradies versprechen), und bei der Ankunft in Ägypten bewirkt seine göttliche virtus, dass die Götzenbilder der heidnischen Tempel zerbrechen. Besonders ausführlich aber geht die Erzählung, ebenfalls Konrads Text folgend, auf die Begegnung mit den Räubern in der Wüste ein. Einer der Räuber – er wird

|| 16 Vgl. MASSER, Bibel, S. 98ff. Der Passionaldichter folgt erst ab diesem Punkt Konrads Vorlage, greift zuvor aber auf Bibel und Legenda aurea zurück und nicht einmal andeutungsweise auf Konrad von Fußesbrunnen, obwohl auch dieser eine ausführliche Kindheitsgeschichte Marias und eine (an Ps.-Matthäus angelehnte) Geburtserzählung Jesu präsentiert. Dies hält MASSER für ein Indiz dafür, dass der Verfasser auf die volkssprachige Vorlage nicht in Ermangelung einer genaueren lateinischen zurückgegriffen habe, sondern umgekehrt vermutlich nur eine bestimmte Redaktion der Kindheit Jesu zur Verfügung hatte, in der das vorangeschaltete Marienleben gefehlt hat. Dem kann SCHUBERT, Einleitung, S. CCXIX, allerdings eine durch Reimbindung gesicherte Stelle zur Geburt Marias und ihrer beiden Schwestern (vgl. I 811f.) entgegenstellen, die nahelegt, dass dem Passionaldichter doch eine vollständige Hs. der Kindheit Jesu vorgelegen haben dürfte. Höchste Autorität haben für ihn, wie sich gerade an der Weihnachtsgeschichte zeigen lässt, freilich die Aussagen der Evangelien. Für die Abschnitte, an denen die biblischen Berichte keine Auskunft geben (z.B. das Marienleben) oder in irgendeiner Form ergänzt werden können (z.B. die Wunderzeichen bei der Geburt Christi) wird die Legenda aurea herangezogen, die quasi als Kompilation kirchlicher Autoritäten und Lehrmeinungen gelten kann, jene meistere an latin (I 330), deren Aussagen Jacobus zusammenführt und die in einen sin (I 335) gebracht werden müssen, in eine Gesamterzählung. Erst wo auch dort keinerlei Informationen mehr gegeben sind, muss auf alternative Quellen zurückgegriffen werden, deren Glaubwürdigkeit und Autorität jedoch geringer eingestuft wird. Zwar benennt der Verfasser wie auch sonst seine Vorlage an keiner Stelle direkt, sondern spricht lediglich von einem buchelin, daz mir seit/ von unsers herren kintheit (I 2525f.). Immerhin setzt aber die Hs. B zur Kapitelüberschrift noch hinzu: v] daz ist apocriphum (S. 25), was zumindest an einen niedrigeren Grad an Glaubwürdigkeit denken lässt.

80 | Exemplarische Heiligkeit: Jesus und Maria im I. Buch des Passionals später mit dem Schächer identifiziert, der neben Jesus ans Kreuz geschlagen und dem jener das Paradies verspricht – erweist sich jedoch als barmherzig und nimmt die Heilige Familie bei sich auf, bekehrt sich und lässt sie weiterziehen. An dieser Stelle wird die Erzählung für einige hundert Verse unterbrochen, um die Ereignisse zu synchronisieren und berichtet nun (mit neuer Kapitelüberschrift und erneutem Erzähleinsatz, s.o.) vom Kindermord zu Bethlehem. Das Hauptinteresse liegt jedoch bei Herodes und seinen Untaten, die ebenso wie sein unschöner und unehrenhafter Tod in drastischer Weise geschildert werden. Dieser Abschnitt folgt nun wieder ganz der Legenda aurea, und zwar dem X. Kapitel über die unschuldigen Kinder (De innocentibus). Auch hier gilt, dass der Erzähler die Szene wesentlich farbiger und detailreicher, vor allem aber deutlich emotionaler ausgestaltet, mit extremer Negativierung des Herodes und ausdrücklichem Mitleid mit den unschuldigen Kindern, die als Märtyrer bezeichnet werden (vgl. I 3972 u. 3990). Nach dem Abschnitt über Herodes kehrt die Erzählung (in den Hss. ohne erneute Zwischenüberschrift) wieder zur Kindheitsgeschichte zurück und berichtet von der Rückkehr der Heiligen Familie aus Ägypten, der neuerlichen Rast beim nun geläuterten Schächer; daran schließen sich (weiterhin auf Konrad basierend) in paradigmatischer Reihung verschiedene Episoden der Taten des heranwachsenden Jesuskindes an. Diese stellen immer wieder die Wunderkräfte und göttliche Begabung des heranwachsenden Jesuskindes unter Beweis.17 Berichtet wird einerseits von simplen übernatürlichen Kräften des Kindes, andererseits von der neuerlichen Bestätigung seiner Göttlichkeit: Während die Juden diese gerade nicht anerkennen wollen, begreifen sogar die Löwen seine wahre Natur und dienen ihm (ähnlich die Zähmung der Drachen auf der Flucht nach Ägypten). Ebenso ist die letzte Episode zu werten, die Jesus als puer senex zeigt, der im Unterricht seinen (jüdischen) Lehrer um ein vielfaches übertrifft. Bisweilen scheut die Erzählung auch vor Drastik nicht zurück, wenn etwa Jesus einem Spielkameraden das Leben nimmt, der ihn wegen der Nichteinhaltung der Sabbatruhe denunziert hat. Das zeigt nicht nur, dass Jesus an die jüdischen Gesetze nicht gebunden ist, sondern auch, dass er sich seiner Kräfte zwar bewusst ist, sie aber noch nicht immer maßvoll zu kontrollieren weiß; erst auf Intervention Marias – das verweist schon auf die Marienmirakel – holt er das Kind ins Leben zurück. Eben diese göttlichen Vollmachten, Leben zu nehmen und zu schenken, verhandeln weitere Episoden: Jesus kann Vögel aus Lehm formen und sie lebendig werden lassen (eine Replik auf den Schöpfungsbericht), andererseits einem Spielkameraden, für dessen Tod er verantwortlich gemacht wird, das Leben wieder geben und mit dessen Aussage dann seine Unschuld beweisen; auch gibt er Joseph die Macht, einen Toten zu erwecken. Hier klingt schon die künftige Übertragung der göttlichen Vollmachten auf die Apostel und die späteren Heiligen an, deren Wunderberichte vielfach in der Beschreibung von Totenerweckungen kulminieren.

|| 17 Vgl. zu den Quellen MASSER, Bibel, S. 287–293.

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Passion und Auferstehung Daran anschließend geht der Text fast übergangslos zum Passionsgeschehen über. Der Bruch von der außerbiblischen Kindheitserzählung zum Tod Jesu ist sehr auffällig, und es kostet den Erzähler eine lange Überleitung, in der er sein Vorgehen erläutert und für die weiteren Berichte über Jesu Taten und Tugenden auf die Evangelien verweist, denen er nicht vorgreifen will. Nur die Passionsgeschichte soll erzählt werden, diese dafür mit insgesamt 2369 Versen sehr ausführlich; damit bildet sie (mit Ausnahme der über 5000 Verse umfassenden Marienmirakel) den weitaus längsten Abschnitt des ersten Buchs. Die Schilderungen des Passionals gehen nicht auf die Legenda aurea zurück – Jacobus de Voragine behandelt die Passion nicht narrativ, sondern nur aus exegetisch-kommentierender Perspektive – sondern sind aus den vier Evangeliumsberichten, vornehmlich Johannes, zusammenkompiliert.18 Diese ungewöhnliche Vorgehensweise wirft ein grelles Licht auf die Eigenheiten, Heiligkeit (insbesondere göttliche Heiligkeit) narrativ zu erfassen. Jesus nämlich besitzt keine Geschichte, lediglich eine Heilsgeschichte. Eine Entwicklung ist darin aber ebensowenig zu sehen wie ein zeitlicher Verlauf, so dass die Episoden der Kindheitserzählung, die sich an die Geburt anschließen, eine rein paradigmatische Aneinanderreihung darstellen. Statt kausaler Entwicklungslinien dominiert von Beginn an die auf das heilsgeschichtliche Ereignis ausgerichtete Finalität: So erweist sich bereits bei der Geburt und im Kind Jesus immer wieder die göttliche Natur, werden immer wieder allegorische oder typologische Bezüge aufs Heilsgeschehen am Kreuz eröffnet. Christus ist Anfang und Ende zugleich, es gibt aber nichts dazwischen, erst recht nichts, von dem erzählt werden könnte. Und so leitet auch die Erzählung des Passionals sogleich vom Anfang (Geburt und Kindheit) über zum Ende, der Passion, vom Leben in den Tod, ohne Zwischen, ohne Übergang. Wegen seiner zentralen Bedeutung im Gesamtkontext des Legendars, aber auch, weil die Forschung diesen Abschnitt bisher nicht beachtet hat, soll dem Passionsgeschehen unten ein eigener Abschnitt gewidmet werden (Kap. 3.2.2), weshalb an dieser Stelle auf die inhaltlichen Aspekte dieses Abschnittes nur kurz eingegangen werden soll. Die Handlung setzt unverzüglich mit dem letzten Abendmahl ein, dem die Ankündigung des Verrats des Judas vorausgeht. Danach wird die Gefangen|| 18 Ob der Passionaldichter dafür eine bereits bestehende Evangelienharmonie als Vorlage benutzt hat, ist nicht klar. Ein Vergleich mit der historia scholastica des Petrus Comestor wie mit der Harmonie des Tatian zeigt jedoch Abweichungen in so vielen Punkten, dass beide nicht als unmittelbare Vorlage in Frage kommen. Es ist jedoch durchaus möglich und sogar wahrscheinlich, dass die Passionsdarstellung des Passionals auf eine bereits vorliegende Evangeliensynopse zurückgeht. Die Vielzahl dieser unterschiedlichen, z.T. erheblich von der des im Mittelalter an sich so geschätzten Tatian abweichenden Evangelienharmonien ist gut dokumentiert, vgl. etwa Rolf KLEMMT, Eine mittelhochdeutsche Evangeliensynopse der Passion Christi. Untersuchung und Text, Leipzig 1964, bes. S. 29–86; Petra HÖRNER, Passionsharmonien des Mittelalters. Texte und Untersuchungen, Berlin 2012, die jedoch fast nur spätmittelalterliche Beispiele erfasst hat.

82 | Exemplarische Heiligkeit: Jesus und Maria im I. Buch des Passionals nahme geschildert (aber ohne die Gethsemane-Szene, die Angst und Zweifel Jesu aufkommen lassen würde), sodann das Verhör vor dem Hohen Rat, die Verleugnung des Petrus und schließlich Jesus vor Pilatus, dessen Rolle wie die des Herodes und des Judas äußerst negativ gezeichnet wird. Es folgt die Geißelung, die Forderung der Juden nach Jesu Blut und schließlich die in aller Ausführlichkeit geschilderte Kreuzigung, zuletzt der Tod mit den bekannten Begleiterscheinungen und die Grablegung. Unterbrochen wird die Schilderung immer wieder – und das ist eine der auffälligsten Besonderheiten dieses Abschnittes – von kontemplativen Passagen, in denen die Leiden Christi vergegenwärtigt werden, Marienklagen und meditative Reflexionen, die zu einer Verinnerlichung des Geschehens beitragen sollen (dazu ausführlich Kap. 3.2.3). Inhaltlich bietet der Abschnitt nichts Neues gegenüber den Evangelienberichten, dagegen lässt die Art und Weise der Kompilation erneut einen konsequenten Bearbeitungswillen erkennen. Der Verfasser folgt zwar hauptsächlich der Darstellung des Johannesevangeliums, auf das er sich (als einzige konkrete Quellenangabe) auch mehrfach beruft, schaltet jedoch immer wieder Ausführungen der anderen Evangelien ein (z.B. das Motiv des Händewaschens von Pilatus nach Mt.), so dass der Text auf engem Raum vielfach zwischen den einzelnen Evangelien hin und her wechselt. Dadurch und durch Umstellungen und Auslassungen wird eine ganz eigenständige Bearbeitung des Passionsgeschehens geschaffen, die gleichwohl nichts verändert oder hinzufügt, einige Aussagen sogar wörtlich aus dem Vulgata-Text übersetzt. So entsteht ein eindringliches Bild des leidenden, aber dennoch erhabenen Christus, der seine Qualen schweigend hinnimmt, um das göttliche Erlösungswerk zu vollenden und damit als Vorbild und imitatio-Figur für die Menschen, insbesondere aber für die Märtyrer unter den Heiligen gezeigt wird. Auch bei der Darstellung des Ostergeschehens hält sich das Passional zunächst an die biblischen Vorlagen: Die drei Marien am Grab, der Engel, der den Stein wegwälzt, die Wächter, die fliehen und später durch Bestechung vom Diebstahl des Leichnams berichten, während die Frauen sich vom leeren Grab überzeugen können. Diese beiden Motive des Matthäusevangeliums kommen dem Passionaldichter insofern entgegen, als die Graböffnung durch den himmlischen Engel eine erneute und entsprechend eindrucksvolle Demonstration der göttlichen Macht darstellt, gegen die die weltlichen Machthaber mit ihren Soldaten nichts auszurichten vermögen; die fliehenden Grabwächter sind überdies auch in den spätmittelalterlichen Osterspielen ein beliebtes Element. Zum anderen sind die Bestechungs- und Lügenvorwürfe gegenüber den Juden ein weiterer Seitenhieb auf das jüdische Volk, dem die Mitverantwortung für den Tod Jesu gegeben wird. Der anschließende Jüngerlauf von Petrus und Johannes ans leere Grab (ebenfalls ein in den Osterspielen bekanntes Motiv) sowie die Begegnung Maria Magdalenas mit dem auferstandenen Jesus ist dagegen wieder nach dem Johannesevangelium gestaltet (Joh. 20, 1–18). Der weitere Evangelienbericht, wie oft Christus am Ostertag erschienen sei und auf welche Weise er sich den Jüngern gezeigt habe, wird nur noch in sehr geraffter

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Form wiedergegeben, und hier kehrt das Passional dann auch zur Legenda aurea als Vorlage zurück. Während das Ostergeschehen des Passionals die biblischen Berichte immerhin noch narrativ ausgestaltet, wenngleich knapper und mit wesentlich weniger Intensität und vor allem ohne kontemplative Expressivität, kommt es nun nicht mehr auf einen direkten erzählerischen Nachvollzug des weiteren Geschehens an, sondern es wird lediglich auf die Bibel verwiesen, die darüber genauer Auskunft gebe, sowie auf weitere Quellen (andere buch; I 8780): Die Legenda aurea nämlich legt im Kapitel zur Auferstehung ausführlich die zehn Erscheinungen Christi unter den Menschen aus; das Passional übernimmt diese Passage in der exakt gleichen Reihenfolge, ohne freilich die gesamte Auslegungstradition wiederzugeben (bleibt also, wenn auch gerafft, narrativ, nicht diskursiv) und spezifiziert die außerbiblischen Quellen noch durch die Angaben der buche meister Josephus/ und dar zu Jeronimus (I 8785f.). Die dann anschließende Schilderung der Höllenfahrt richtet sich wiederum ganz nach der Legenda aurea als Vorlage. Der im Spätmittelalter vor allem durch die aus dem liturgischen Spiel hervorgegangenen Osterspiele bekannte Stoff des Descensus gründet auf dem apokryphen Nikodemusevangelium, das auch Jacobus de Voragine als direkte Quelle seiner Schilderung benennt.19 Dessen Zusammenfassung in der Legenda aurea übernimmt auch das Passional weitgehend übereinstimmend.20 Von Joseph von Arimathia als wichtigen Zeugen des Geschehens, dem Christus nach seiner Gefangennahme im Kerker erschienen sei, leitet die Erzählung nun über zu Carinus und Leutius, jenen beiden Augenzeugen der Höllenfahrt Jesu, deren Glaubwürdigkeit nach dem Zeugnis der apokryphen Texte vor allem deswegen so hoch einzuschätzen ist, da sie unabhängig voneinander einen Wort für Wort exakt über|| 19 Das spätantike Nikodemus-Evangelium ist vermutlich unter gnostischen Einflüssen bereits im 5. Jh. überliefert und gibt zusammen mit den noch älteren Pilatusakten genauere Auskunft über den Prozess Jesu und den Geschehnissen zwischen Tod und Auferstehung. Über verschiedene griechische und lateinische Vermittlungsstufen ist der Stoff auch in die Volkssprache gelangt, wo er in der mhd. Bibelepik, nicht zuletzt in der urstende Konrads von Heimesfurt, breit auserzählt worden ist. Den gesamten Abschnitt der Höllenfahrt übernimmt der Passionaldichter jedoch weitgehend von der Legenda aurea, auf die er sich ja schon vorher bezogen hat, nicht von Konrad von Heimesfurt. Es ist also eine absolute Ausnahme, dass er bei den Kindheitserzählungen auf eine volkssprachige Quelle zurückgreift, was dort auch eigens markiert ist. Zum Nikodemusevangelium und den verschiedenen lat. Fassungen als Vorlage von Konrads urstende vgl. Werner J. HOFFMANN, Konrad von Heimesfurt. Untersuchungen zu Quellen, Überlieferung und Wirkung seiner beiden Werke ‚Unser vrouwen hinvart‘ und ‚Urstende‘, Wiesbaden 2000, S. 93–121. 20 Zuvor bezieht sich Jacobus de Voragine immer wieder auf die historia scholastica, insbesondere was die Rolle der Gottesmutter Maria betrifft, über die sich die Evangelien bekanntlich ausschweigen, was zu einer expliziten Kritik des Passionaldichters an den Evangelisten führt. Zu überlegen, aber schwerlich beweisbar wäre, ob dem Passionaldichter neben der Legenda aurea zusätzlich auch die historia scholastica vorgelegen haben könnte, deren Begründungsstrategie für die Abwesenheit Marias hier übernommen wird. Vgl. zur (nicht nachweisbaren) Quellenfrage SCHUBERT, Einleitung, S. CCXLIV, mit Anm. 295.

84 | Exemplarische Heiligkeit: Jesus und Maria im I. Buch des Passionals einstimmenden schriftlichen Bericht über den Descensus verfertigt hätten.21 Die Glaubwürdigkeit dieser beiden Zeugen wird im Passional – übereinstimmend mit der Legenda aurea – jedoch gerade nicht über ein derartiges Wunder der wörtlichen Übereinstimmung legitimiert. Carinus und Leutius gelten als uf von dem tode erstan/ mit dem reinen Cristo (I 8976f.) und besitzen allein dadurch offenbar die Glaubwürdigkeit, das Geschehen um den Descensus nach ihrem Augenzeugenbericht zu schildern. Die Höllenfahrt Jesu mit dem Aufbrechen der Höllentore, der Fesselung Satans und der Überführung der Seelen ins Paradies folgt den im Mittelalter bekannten Darstellungen. Carinus und Leutius schildern, wie sie zusammen mit den Altvätern in der Finsternis der Gehenna plötzlich einen hellen Lichtstrahl wahrgenommen hätten, der mit Freude und Klarheit zu ihnen gekommen sei.22 In quasi ‚chronologischer‘ Reihung wird dieses Licht nacheinander von Adam, Jesaja, dem alten Simeon sowie Johannes dem Täufer gedeutet und mit der unmittelbar bevorstehenden Erlösung durch Christus in Verbindung gebracht.23 Während das Passional solche Typologien recht konventionell von der Legenda aurea übernimmt, erweisen sich in der erzählerischen Darbietung, vor allem dem spektakulären Zerbrechen der Höllentore, erneut gestalterische Unterschiede. Dass Satan einer List aufgesessen sei, indem er sich von der menschlichen Gestalt Jesu habe täuschen lassen, lässt die alte Täuschungstheorie, wenn auch versteckt, wieder aufkommen, die auch im Spätmittelalter (namentlich im Zusammenhang mit den Osterspielen) weiterhin populär war, wenngleich theologisch längst überholt.24 Die darstellerischen Effekte eines Streits

|| 21 Vgl. dazu detailliert Peter STROHSCHNEIDER, Reden und Schreiben. Interpretationen zu Konrad von Heimesfurt im Problemfeld vormoderner Textualität, in: Joachim BUMKE (Hg.), Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur, Berlin 2005, S. 309–344. Die wörtliche Übereinstimmung der beiden schriftlichen Berichte wird als Wunder angesehen, was ihren Wahrheitsgehalt entscheidend untermauert. 22 Die Namen Karinus und Leutius tauchen erst in den lat. Bearbeitungen des Evangelium Nicodemi auf, die in zwei Gruppen zerfallen, wobei sich Jacobus de Voragine (und ihm folgend der Passionaldichter) offensichtlich der ersten Gruppe bedient (zum einen fehlen in Legenda aurea wie Passional die zusätzlichen Berichte der zweiten Gruppe, zum anderen ist die veränderte Reihenfolge der Begebenheiten nicht übernommen: Die zweite Gruppe lässt Jesu Kommen nämlich gleich mit dem Tollite portas-Ruf beginnen, nicht mit dem Licht, das die Hölle erfüllt). Vgl. zum Text des Nikodemusevangeliums und den verschiedenen Fassungen Felix SCHEIDWEILER, Nikodemusevangelium. Pilatusakten und Höllenfahrt Christi, in: Wilhelm SCHNEEMELCHER (Hg.), Neutestamentliche Apokryphen, Bd. 1: Evangelien, Tübingen 61990, S. 395–424. Im Nikodemusevangelium treten in dieser Szene nur Jesaja und Johannes auf, in der Legenda aurea (LII, 178 u. 183) und im Passional kommen noch Adam und Simeon hinzu. 23 Johannes der Täufer ist im Rahmen der Erzählung des Jesuslebens im ersten Passionalbuch nicht bzw. nur sehr knapp (Mariä Heimsuchung) aufgeführt, all seine Bezüge zu Jesus werden erst in seiner Vita im zweiten Buch analog der Evangelien nachgereicht. 24 Nach der Täuschungstheorie hat Satan so lange ein Anrecht auf die sündigen Menschen, bis er sich an einem Unschuldigen vergreift – nämlich Jesus als Gottessohn in menschlichem Gewand; als

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Satans mit der Hölle, wer durch wen getäuscht werde, sind offenbar zu reizvoll, um im geistlichen Spiel, aber ebenso auch der narrativen Inszenierung vollständig darauf zu verzichten. Es sind solche Ausführungen, die das Passional gestalterisch immer wieder weit über die Legenda aurea hinausführen, welche an dieser Stelle die Handlung lediglich knapp referiert. Nicht nur, dass der deutsche Bearbeiter das höllische Personal mit entsprechenden pejorativen Attributen und negativen Semantisierungen belegt, Christus und seine Engelschar hingegen in ihrer ganzen Göttlichkeit und mithilfe einer ausgeprägten Lichtmetaphorik darstellt (dazu unten, Kap. 3.2.7), auch das Eindringen Christi in die Hölle, der mit blutigen Wundmalen die Höllentore zerbricht, ist äußerst effektvoll inszeniert. All dies, der Streit Satans mit der Hölle, der Lobpreis der geretteten Seelen und die Klage der Teufel, besitzt szenische Qualität und eine performative Dynamik, die der nüchternen Aneinanderreihung von Fakten in der Legenda aurea erzählerisch weit überlegen ist. Das gilt auch für die Szene mit dem Schächer, den die vom Erzengel Michael ins Paradies geführten Seelen dort schon antreffen. In einer kleinen, aber auffälligen Änderung gegenüber der Legenda aurea und ihrer Vorlage des Evangeliums Nikodemi weist dieser im Passional nicht sein Kreuz vor, um ins Paradies zu gelangen, sondern ausdrücklich die Kreuzesmale, was vor allem im Vergleich zur zuvor geschilderten Erstürmung der Höllentore eine auffällige Parallele ist (vgl. dazu Kap. 3.2.5). Indem Leutius und Carinus, nachdem sie ihren Bericht beendet haben, vor aller Augen verschwinden, wird der Wahrheitsgehalt ihres Berichtes im abschließenden Erzählerkommentar untermauert, der Gott als letztgültige Autorität des eben Dargestellten erweist, das durch die Zeugen nur vermittelt worden sei: got wolde ot machen offenbar/ mit in, daz ich gesprochen habe,/ vnde alsus schieden si her abe (I 9460–9462). Dies offenbart eine ganz andere Beglaubigungsstrategie als in der Legenda aurea, die sich vielmehr auf die Aussagen kirchlicher Autoritäten (in diesem Falle Augustinus und Gregor von Nyssa) beruft.

|| der Teufel seinen Irrtum schließlich bemerkt, ist es bereits zu spät und das Erlösungswerk nimmt seinen Lauf. Seitens der Theologie ist diese Vorstellung seit Anselms von Canterbury Schrift Cur Deus homo? durch die sog. Satisfaktionstheorie ersetzt worden; in der Literatur und dem geistlichen Spiel (zumal der Volkssprache) bleibt sie freilich noch bis ins Spätmittelalter weiter präsent. Zum literarischen Fortleben der soteriologischen Täuschungstheorie und eines christologischen Doketismus vgl. ausführlich Bruno QUAST, Vom Kult zur Kunst. Öffnungen des rituellen Textes in Mittelalter und Früher Neuzeit, Tübingen/Basel 2005, S. 65f. u. 77–86 (auch mit entsprechenden diskursgeschichtlichen Angaben zur Debatte innerhalb der mittelalterlichen Theologie).

86 | Exemplarische Heiligkeit: Jesus und Maria im I. Buch des Passionals

Himmelfahrt und Pfingsten Die beiden kürzeren Abschnitte zur Himmelfahrt Christi und dem Pfingstgeschehen schließen die Darstellung des Jesuslebens im Passional ab. Da die Legenda aurea in beiden Fällen einen rein diskursiven Text bietet, der eine genaue Kenntnis des in der Bibel geschilderten Geschehens voraussetzt, um die umfangreichen Exegesen, hierzu zu verstehen, gestaltet der Passionaldichter diese Passagen wieder nach den biblischen Berichten. Sie sind jedoch wesentlich handlungsärmer als die vorausgehenden Partien und mit zusätzlichen Exkursen, Lobpreisen und homiletischen Einschüben versehen – wie bereits beim abrupten Wechsel von der Kindheits- zur Passionsgeschichte zeigt sich auch hier, dass die ‚Übergänge‘ kaum narrativierbar sind: Nach dem Tod Jesu als finalem heilsgeschichtlichem Ereignis ist die Erzählung eigentlich am Ende angelangt. Was danach kommt, ist nur mehr bedingt erzählerisch fassbar und wird daher auch viel stärker auf die Zukunft der Menschen und der Institution Kirche bezogen. Dabei zeigt sich, dass das Passional für seine Himmelfahrtserzählung Bibel und Legenda aurea kompiliert: Die Grunderzählung, Jesu Aufstieg auf den Berg, sein Segen an die Jünger und die Aufnahme in den Himmel durch eine Wolke, folgt dem Schluss des Lukasevangeliums bzw. dem Beginn der Apostelgeschichte. Vor allem die eigentliche Aufnahme in den Himmel erfährt eine breitere Ausgestaltung, auch durch erzählerische Mittel wie die unvermeidliche Lichtmetaphorik, die den von der Wolke emporgehobenen Christus begleitet. Während der Missionsauftrag an die Jünger unterschlagen und auf das Pfingstgeschehen verlagert wird, reicht das Passional noch die Einsetzung des Matthias als Ersatz für Judas in den Kreis der zwölf Apostel nach. Die Schilderung der Himmelfahrt nimmt aber zusätzlich Informationen auf, die nicht der Bibel, sondern der Legenda aurea entnommen sind: So reflektiert der Erzähler zu Beginn über das rote Kleid Christi, das dessen blutigen Märtyrertod sichtbar mache. Diese Kleidermetaphorik wird wieder aufgenommen, wenn die Engel im Himmel ihren Herrn aufnehmen und dabei mehrere Fragen (untereinander und an Jesus) zu Natur und Auftrag Christi stellen. Die Zwiegespräche sind direkt aus der Legenda aurea übernommen (vgl. zur Auslegung des roten Kleids I 9776ff. mit LA 67, 105f.). Jesu rotes Gewand wird dreimal hervorgehoben (I 9714; 9746 u. 9824– 9840); beim dritten Mal wird er zusätzlich noch mit einem weißen Kleid bedacht: diz ist der durch wize/ und der rote; (I 9824f.) – das rote Kleid, weil er sein Blut für die Menschen vergossen habe, das weiße, weil er keusch gezeugt worden sei. Die Farben weiß und rot, die auch in der Legenda aurea mit Jesus verbunden werden, bezieht der Passionaldichter allerdings auf seine eigene Konzeption und Farbensymbolik im Prolog (s.o., Kap. 2.3). Indem diese exegetische Passage der Legenda aurea thematisch vom Passional übernommen wird, kann die Himmelfahrtserzählung nicht nur ausgebaut werden, sondern erhält auch eine weiterreichende theologische Fundierung sowie eine neuerliche konzeptionelle Anbindung ans Gesamtwerk. Die diskursiven Elemente der Legenda aurea werden aber nicht einfach übernommen, sondern

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gezielt ausgewählt (von den übrigen Exegesen der Legenda aurea sind nur manche verwendet, wie z.B. die Deutung von Jesaja 63, 1–6 im Gespräch mit den Engeln, vgl. I 9722–9772 u. LA 67, 76ff.), um in einen narrativen Zusammenhang und auf die konzeptionelle Deutungsebene des Passionals gebracht zu werden. Das eigentliche Handlungsgeschehen ist nur äußerst knapp ausgestaltet, die biblische Schilderung (zunächst Markusevangelium, dann Apg. 1) lediglich kurz referiert, die erwähnten Einschübe stellen Christi Taten und Leiden für die Menschheit resümierend in den Mittelpunkt und betonen, dass Christus am Jüngsten Gericht mit all seinen Wundmalen wiederkehren werde, um mit den Zeichen seiner Leiden die Niederlage der höllischen Mächte und den Sieg Gottes endgültig zu besiegeln. Die Himmelfahrt markiert damit für die Menschen wie auch für Christus den Beginn einer Zwischenzeit: zwischen bereits geoffenbarter Heilsgewissheit und noch nicht erfüllter eschatologischer Heilserwartung.25 Das Material der Legenda aurea dient hier offensichtlich nur als Ergänzung der Erzählung nach biblischer Vorlage und wird dann, wie es scheint, für die Darstellung des Pfingstgeschehens gar nicht mehr benötigt. Dieses erweist sich im Passional, obwohl es immerhin einen Umfang von über 850 Versen besitzt, noch handlungsärmer als die Himmelfahrt und mit noch mehr exegetischen und predigthaften Einschüben. Das eigentliche Pfingstwunder, die feurigen Zungen des Heiligen Geistes, die auf die Apostel niederkommen und sie befähigen, in allen Sprachen zu predigen, ist schließlich schnell erzählt. Hier scheint es dem Passional ausnahmsweise weniger auf eine narrative Ausgestaltung anzukommen, vielmehr ist der Text an der Konstituierung der Kirche, die mit diesem Ereignis ihren Anfang nimmt, interessiert. Daher schaltet sich immer wieder der Erzähler ein, mit einer langen homiletischen Einleitung, die unter anderem das Pfingstwunder allegorisch mit dem Paradiesbrunnen vergleicht, oder einer weitläufigen Exegese der feurigen Zungen am Ende, die in ein langes Gebet an Christus mündet, mit dem dieser Abschnitt abgeschlossen wird. Vor allem die herausragende Rolle der Apostel, die hier den Grundstein für die Kirche gelegt hätten, wird der Erzähler nicht müde zu betonen. Als Begründer der Kirche in der Nachfolge Christi legt er ihnen, zusammen mit einer typologischen Auslegung des Pfingstwunders, im zentralen Teil dieses Kapitels das christliche Glaubensbekenntnis in den Mund. Diese liturgische Formel ist es, die das Zentrum des Abschnittes bildet, nicht der erzählte Handlungsverlauf, die damit über sich hinausweist: Auf die Bedeutung der Kirche im Allgemeinen, aber auch auf das dann folgende zweite Buch von den Aposteln, den Nachfolgern Christi (vgl. dazu auch Kap. 3.2.8). || 25 In diesem Sinne ist auch der lange Lobpreis auf die Menschwerdung Christi zu verstehen (I 9909– 10056): Die Menschwerdung ist Voraussetzung für das Heilsgeschehen, aber, so führt das Passional weiter aus, die Menschen müssten nun das ihre dazutun, die göttlichen Gebote einhalten und dem Beispiel Jesu folgen: daz ist daz wunnecliche cleit,/ in dem sich got hat undersniten/ mit dir an menschlichen siten (I 10040–10042).

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Tod und Himmelfahrt Marias Mit der Himmelfahrt ist die Darstellung des Jesuslebens abgeschlossen, mit dem Pfingstereignis seine Nachfolge durch die Apostel und die christliche Kirche angestoßen worden. Nun wendet sich die Erzählung wieder der Gestalt Marias zu, von deren Tod und Aufnahme im Himmel berichtet werden soll. Hier kann sich der Passionaldichter allerdings wiederum keiner biblischen Auskünfte bedienen, was der Erzähler am Schluss seiner Darstellung auch erneut verwundert bemerkt. Überliefert ist dieser Stoff im sog. Transitus Mariae, ein erst im 5. Jh. (evtl. schon im 4. Jh.) entstandener Bericht, dessen verbreitetste Fassung dem (Pseudo-) Melito zugeschrieben wird, dessen Glaubwürdigkeit aber von Anfang an nicht unumstritten war.26 Auf dieser apokryphen Tradition beruht auch der Abschnitt zu Mariae Himmelfahrt in der Legenda aurea, der allerdings vor allem durch eines auffällt: Die Begebenheiten um Marias Tod, Begräbnis und Himmelfahrt werden insgesamt gleich dreimal dargestellt. Zunächst nach dem erwähnten Transitus-Bericht, den Jacobus de Voragine dem Evangelisten Johannes zuschreibt; dann, unterbrochen von zahlreichen Marienmirakeln, Exegesen und quellenkritischen Anmerkungen – der apokryphe Bericht wird nach der Lehre des (Pseudo-) Hieronymus zwar in Frage gestellt, aber nicht gänzlich verworfen –, wird das Gleiche noch einmal geschildert, diesmal unter Berufung auf eine Predigt des Cosmas Vestitor, die in Details zwar Änderungen enthält und insgesamt kürzer, weniger ausschmückend ist, ansonsten jedoch das zuvor Geschilderte weitgehend wiederholt. Unmittelbar darauf wird noch eine dritte, etwas gerafftere Version nach Johannes Damascenus wiedergegeben, die ebenfalls bis auf Details mit den anderen beiden übereinstimmt.27 Diese äußerst auffällige dreifache Darstellung scheint einer besonders eindringlichen Beglaubigungsstrategie geschuldet zu sein. Jacobus, der sehr sorgfältig mit seinen Quellen umgeht, scheint hier (trotz aller Kritik und Zweifel an dem dargestellten Geschehen) viel daran gelegen, die Glaubwürdigkeit zumindest der darin getroffenen Kernaussagen zu untermauern. So stellt er den kritischen Bemerkungen zum apo|| 26 Vgl. Monika HAIBACH-REINISCH, Ein neuer „Transitus Mariae“ des Pseudo-Melito. Textkritische Ausgabe und Darlegung der Bedeutung dieser ursprünglicheren Fassung für Apokryphenforschung und lateinische und deutsche Dichtung des Mittelalters, Rom 1962, hier S. 9f., die eine genaue Überlieferungsgeschichte des Transitus-Berichtes und dessen Nachwirkungen in der mhd. Dichtung nachzeichnet (zum Passional vgl. S. 290–94). Vgl. auch Achim MASSER, [Art.] Himmelfahrt Mariae: IV. Literaturgeschichte, in: ML 3, 1991, S. 203–205. Die liturgische Bedeutung für den Deutschen Orden, in dessen Umfeld ja das Passional immer wieder vermutet worden ist, hebt GÄRTNER, Marienverehrung, S. 402f. hervor. 27 Zu den Quellen der Legenda aurea vgl. HAIBACH-REINISCH, „Transitus Mariae“, S. 188–200, bes. S. 193ff. Während Jacobus hierbei die apokryphen Johannes-Akten angibt, handelt es sich tatsächlich um den ‚Transitus B‘ des Pseudo-Melito, der (neben anderen Redaktionen) hauptsächlich verwendet wurde. Dem zweiten Bericht, der sich auf Cosmas Vestitor beruft, liegt dagegen die Redaktion des ‚Transitus C‘ zugrunde, er beinhaltet jedoch auch fremde Motive, vgl. ebd., S. 192.

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kryphen Status des zuerst präsentierten Transitus-Berichts nach Ps.-Hieronymus eine Aufzählung an die Seite, welche Punkte darin dennoch als glaubwürdig zu gelten haben. Am wichtigsten scheint dabei die leibliche Auferstehung Marias zu sein, da dieser Aspekt wieder und wieder anhand der Exegesen und Aussagen höchster Autoritäten verbrieft wird, unter ihnen keine geringeren als (Ps.-)Augustinus und der hl. Bernhard sowie eine Marienvision der hl. Elisabeth. Einige Mirakel untermauern dies noch zusätzlich. Bei den danach präsentierten Versionen, die den gesamten Stoff erneut referieren, kann Jacobus sich auf Predigten kirchlicher Persönlichkeiten berufen; gerade weil diese sich von der zuerst dargelegten Version nur wenig unterscheiden, müssen die darin getroffenen Aussagen offenbar umso zuverlässiger erscheinen. Solch große Anstrengungen zeigen, dass hier theologisch höchst umstrittene Fragen verhandelt werden. Jacobus greift eine Diskussion auf, die in der Scholastik seit der Mitte des 12. Jh.s virulent war: ob nämlich die Personenhaftigkeit des Menschen allein durch die Seele konstitutiv sei, wie es z.B. Hugo von St. Victor oder Robert von Melun vertreten, oder aber durch die Einheit von Leib und Seele, wie es u.a. Gilbert von Poitiers behauptet. Dessen Position, dass nämlich die Trennung von Leib und Seele im Tod ein ihrem Wesen widersprechender Zustand sei, hat dann auch Auswirkungen auf Fragen der Marienverehrung, wie sie nicht zuletzt Bonaventura und Thomas von Aquin, immerhin Zeitgenossen des Jacobus, aufwerfen. Demnach müsse Maria ganz und ungeteilt bei Christus weilen, da bei einer Trennung von Leib und Seele ihre Vollendung apersonal und somit nicht vollständig wäre.28 Die mehrfache Wiederholung des Transitus-Berichtes stellt sich damit nicht als blindes Wiedererzählen dar, sondern folgt einem planvollen Aufbau: Darstellung des Geschehens – Auslegung, Mirakel und ausführliche Diskussion des Wahrheitsgehaltes – zweifache Wiederholung des zuerst Dargestellten aus dem Mund kirchlicher Autoritäten. Jacobus kann sich so auf eine apokryphe apostolische und zugleich auf eine homiletische Tradition stützen, um den Wahrheitsgehalt insbesondere der umstrittenen leiblichen Aufnahme in den Himmel, trotz aller theologischer Bedenken zu bestätigen – ein geradezu philologisches Verfahren des Nebeneinanderstellens unterschiedlicher Quellen und ihres Aussagegehalts inklusive einer Diskussion der Kritik daran.

|| 28 Vgl. zusammenfassend Franz COURTH, [Art.] Aufnahme Marias in den Himmel (I/II), in: LThK 1 (1993), Sp. 1216–20, bes. Sp 1218. Vgl. ferner Rachel FULTON, ‚Quae est ista quae ascendit sicut aurora consurgens?‘: The Song of Songs as the Historia for the Office of the Assumption, in: Mediaeval Studies 60 (1998), S. 55–122, sowie Michael SCHMAUS, Die Unsterblichkeit der Seele nach Bonaventura, in: L’Homme et son destin d’après les pensours du moyen Âge. Actes du premier Congrès international de philosophie médiévale, Paris 1960, S. 505–519. Zur Diskursgeschichte insbesondere des 12. und 13. Jahrhunderts vgl. Caroline Walker BYNUM, The Resurrection of the Body in Western Christianity, 200–1336, New York 1995, bes. S. 137ff., 163–186 u.229ff.

90 | Exemplarische Heiligkeit: Jesus und Maria im I. Buch des Passionals Derartige Legitimierungsprobleme berühren den Passionaldichter nur insofern, als er sich, wie schon in anderen Zusammenhängen des Marienlebens, die Frage stellt, weshalb die Evangelien über diese Gegebenheiten überhaupt nichts berichten. Er stellt daher die Vermutung an, die Evangelisten hätten diese Tatsachen zum gesteigerten Lob Christi verschwiegen (vgl. I 12504–12511). Da er also nur außerbiblische Vorlagen zur Verfügung hat, muss er sich wieder auf eine lateinische Quelle berufen (als mir daz latin kunt tut; I 11133), und dabei handelt es sich erneut um die Legenda aurea.29 Aus den drei dort präsentierten und in weiten Teilen übereinstimmenden Versionen formt das Passional eine einheitliche Erzählung auf der Grundlage der in der Legenda aurea zuerst präsentierten und dort den Johannes-Apokryphen zugeschriebenen Darstellung. Diese ist die ausführlichste und detailreichste Version, zusätzlich mag die behauptete Autorität des Apostels den Passionaldichter dazu veranlasst haben, seine Erzählung hauptsächlich darauf aufzubauen und nur einige Details nach den Versionen des Cosmas Vestitor und Johannes Damascenus hinzuzufügen.30 Der Inhalt der so zusammengestellten Erzählung stellt sich folgendermaßen dar: Der immer noch um ihren Sohn trauernden Maria (sie lebt bei den Freunden des Johannes, dem sie ja von Jesus an Mutter Stelle anvertraut ist) erscheint ein von Christus gesandter Engel und verkündet ihr in einer Wiederholung der Ave-MariaFormel die Aufnahme ins Himmelreich. Sie erhält einen Palmzweig und ein Seidenkleid, außerdem das Versprechen, im Angesicht des Todes keine Dämonen zu sehen. Dies soll in Gegenwart aller Apostel geschehen: Zunächst wird Johannes zu ihr entrückt; der Apostel predigt gerade in Ephesus, als ihn mit einem Donnerschlag und einem blendenden Licht eine Wolke aufnimmt und vor der Tür des Hauses der Maria absetzt, danach werden auch die übrigen Apostel (inklusive Paulus) auf die gleiche Weise dorthin entrückt. Unter legendentypischen Begleiterscheinungen (Donnerschlag, süßer Duft) erscheint schließlich Christus höchstpersönlich bei Maria und den in Trauer um sie versammelten Aposteln (der Rest des Haushaltes ist eingeschlafen), in seinem Gefolge Engel und alle Heiligen, Märtyrer und vor allem Jungfrauen. Jesus ruft seine Mutter zu sich, und nach einem Dialog zwischen den beiden wird ihre Seele unter dem Gesang der Engel und Heiligen in den Himmel geleitet: ir sele von dem libe quam,/ di Jesus Cristus selber nam/ uf sinen arm (I 11977–11979). Jesus gibt seinen Jüngern Anweisungen für das Begräbnis und heißt sie drei Tage am Grab zu wachen und auf || 29 HAIBACH-REINISCH, „Transitus Mariae“, stellt zum Umgang des Passionals mit der Legenda aurea fest, der Dichter habe vor allem am Anfang und am Ende seiner Darstellung „die beiden Legendentexte des Jacobus de Voragine (Transitus B² und Pseudo-Cosmas) besonders stark“ verzahnt (S. 291), folge im Hauptteil aber mit nur geringen Abweichungen und Ausschmückungen „ziemlich genau dem Haupttext der Legenda aurea“ (ebd.). 30 Zu den quellenkritischen Einzelheiten der vereinheitlichenden Kompilation des Passionals vgl. ebd., S. 292f.

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ihn zu warten. Strahlendes Licht und Duft umgeben den rosen- und lilienfarbenen Leichnam, und in einer großen Prozession, deren Reihenfolge zugleich die Stellung der einzelnen Apostel reflektiert, wird die Totenbahre durch die Stadt getragen, wo sie sogleich die Aufmerksamkeit der Juden erregt. Diese wollen sich an des trugeneres muter (I 12215) rächen, denn durch Christus (dessen Auferstehung die Juden in der mittelalterlichen Hagiographie ja nur als Blendwerk begreifen) hätten sie viel Leid und Schmach zu erdulden. Die Juden greifen also die Prozession an, doch der erste, der die Bahre berührt, bleibt daran haften und die Arme verdorren ihm; die übrigen erblinden auf der Stelle. Alle werden erst wieder gesund, wenn sie sich zu Christus als Gottes Sohn bekennen, wobei die Blinden mit dem (von dem Engel überreichten) Palmzweig, der der Prozession vorangetragen wird, berührt werden. Maria wird in ein noch unbenutztes Felsengrab gelegt und die Jünger halten Wache, bis am dritten Tag erneut Jesus erscheint und auch den Leib Marias in den Himmel holt; im Grab bleiben nur die Kleider zurück. Das veranlasst den Erzähler immerhin, sich kurz mit dem für die spätere Marienverehrung fehlenden Begräbnisort auseinanderzusetzen, wobei er einige scholastische Argumente zur leiblichen Aufnahme Marias in den Himmel anführt. Erklärungsbedürftig scheint die Assumptio-Schilderung dem Passionaldichter also auch, ihre Glaubwürdigkeit rechtfertigen muss er hingegen nicht. Insgesamt hält sich das Passional bei seiner Darstellung eng an seine Vorlage. In der Legenda aurea viel stärker betont wird jedoch die Lichtmetaphorik: Wenn dort Marias Körper nach ihrem Tod gewaschen wird, geht ein solcher Glanz von ihr aus, dass man den Körper zwar berühren und waschen kann, aber nicht mehr sehen. Ebenso werden die Apostel beim Leichenzug in eine Wolke gehüllt; diese Inkonsistenz tilgt der Passionaldichter, da der Leichenzug für die Juden dann ja doch sichtbar zu sein scheint. Hingegen ist in dieser ersten Version der Legenda aurea die auffällige Parallelisierung zu Christi Himmelfahrt bei der Assumptio Marias nicht ausgeführt; bei der Cosmas Vestitor zugeschriebenen zweiten Schilderung (die auf der ‚Transitus C‘-Redaktion basiert) ist dagegen zwar von einer Wolke die Rede, die am dritten Tag auf das Grab niedersinkt, ebenso von Engelsgesang und süßem Duft, dort fehlen aber die anderen Darstellungsmotive. Der Passionaldichter scheint aus beiden Beschreibungen eine eigene Schilderung gestaltet zu haben, die er mit dem von ihm zuvor wiedergegebenen Himmelfahrtsgeschehen in Bezug setzen kann. Diesem zweiten Transitus-Bericht des Cosmas Vestitor ist auch der abschließende Wahrheitsbeweis anhand der Graböffnung und der darin gefundenen Kleider entnommen, die wiederum Parallelen zur Auferstehungsszene des ersten Buches ermöglicht. Die mit Jesu Tod korrespondierenden Worte Marias vor ihrem Tod (‚mein Kind, in Deine Hände befehle ich meinen Geist‘) finden sich in der Legenda aurea dagegen nur im dritten, dem Johannes Damascenus zugeschriebenen TransitusBericht. Das Passional schafft auf diese Weise eine Kompilation, welche durch die direkten Bezugnahmen auf zuvor Erzähltes und die dadurch entstehende historischchronologische Kohärenz eine wesentlich eindrucksvollere Christomimesis schafft,

92 | Exemplarische Heiligkeit: Jesus und Maria im I. Buch des Passionals als es die Legenda aurea, die Himmelfahrt und Auferstehung ohnehin nicht auserzählt, je erreichen könnte (zu diesen Parallelführungen vgl. ausführlich Kap. 3.2.4). Die Wirkmächtigkeit Marias in der Welt wird im Anschluss an den TransitusBericht in einer fulminanten Reihe von Mirakeln unter Beweis gestellt. Es handelt sich um insgesamt 25 Wundererzählungen von z.T. erheblichem Umfang, die zusammen eine Erzähleinheit von weit über 5000 Versen bilden (nur die Hs. D überliefert lediglich die ersten fünf dieser Reihe). In unverbundener Reihung nacheinander erzählt haben alle gemeinsam, von der wunderbaren Hilfe Marias für diejenigen zu berichten, die sie verehren und sich im Gebet an sie wenden. Mit diesem Umfang (dem mit Abstand größten aller Erzähleinheiten des gesamten Passionals) ist eine Dimension erreicht, die aus den Marienmirakeln einen nahezu separaten Teil des Gesamtwerkes macht, der die außerordentliche Bedeutung der Marienfigur auf eindrucksvolle Weise hervorhebt und an die Gegenwart der Rezipienten anbindet – egal, ob darin nun die sich selbst Marienritter nennenden Mitglieder des Deutschen Ordens zu sehen sind oder nicht.31 Der Passionaldichter schöpft dabei nicht alleine aus der Legenda aurea, die nur einen Teil der Mirakel überliefert, sondern offenbar noch aus anderen, evtl. sogar mündlichen Quellen; lateinische Überlieferungen einzelner Erzählungen sind auch unabhängig von Jacobus de Voragine bekannt. Die einzelnen Erzählungen erfreuten sich offenbar so großer Beliebtheit, dass viele von ihnen auch außerhalb des Passionals überliefert sind, teils einzeln, teils im Verbund. Von den zahlreichen Exzerpt-Hss., die sich in die Überlieferung des Passionals einreihen, beinhaltet ein Großteil Marienmirakel. Der Zusammenhang mit dem Werk und die Anbindung an den Gesamtkontext des Passionals scheint somit nicht sonderlich ausgeprägt gewesen zu sein.32 Das gilt auch für den Abschluss des ersten Buches, dem Marienlob, das in fast 900 Versen die heilsgeschichtliche Rolle Marias und deren Wirkmächtigkeit für die Menschheit emphatisch preist: Hier geht die Narration in hymnische Vollzugsformen über.

|| 31 Vgl. dazu nochmals GÄRTNER, Marienverehrung. Besonders aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist das vierte Mirakel von der wunderbaren Turnierhilfe Marias für einen sie verehrenden Ritter. 32 Zur Quellenfrage der einzelnen Mirakel vgl. zusammenfassend Schubert, Einleitung, S. CCXXIIIff., bes. S. CCXXVff.; zu den Exzerpt-Hss. ebd., S. CLIIIf. Der Sonderstatus der Marienmirakel und ihr großer Umfang machen es unmöglich, im Rahmen dieser Untersuchung genauer darauf einzugehen. Es sei darum an dieser Stelle auf die Untersuchung von Beatrice KÄLIN, Maria, muter der barmherzekeit. Die Sünder und die Frommen in den Marienlegenden des Alten Passionals, Bern u.a. 1994, verwiesen, die einen größeren Teil der Mirakel analysiert.

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3.2 Inszenierungsformen von Heiligkeit im I. Buch: Jesus und Maria als narrative Vorbilder für die Heiligen Anstatt die einzelnen Erzähleinheiten des ersten Buches durchgehend am Text entlang zu analysieren, soll im Folgenden anhand systematischer Gesichtspunkte, die an die Vorüberlegungen des vorangegangenen Kapitels anknüpfen, die narrative Umsetzung von Heiligkeitskonzeptionen aufgezeigt werden. Dabei werden zunächst Beobachtungen zur narrativen Konzeption getroffen, die sich hier weniger in Umschlagsmomenten als vielmehr in Finalitätskonstruktionen zeigen, welche im Gegensatz zu einer kausalen Handlungsführung stehen. Darin spiegeln sich nicht zuletzt konzeptuelle, das Erzählverfahren des ersten Buchs bestimmende Eigenheiten der Handlungskonstitution, die stets einem göttlichen Heilsplan unterworfen ist. Derartige Entwürfe lassen sich beispielsweise in dem scharfen Übergang von der Kindheits- zur Passionsgeschichte festmachen; finale Erzähllogiken treten ebenso in dem Zusammenspiel der Antiheiligen Judas, Pilatus und Herodes auf, sind jedoch gleichermaßen in den prophetischen und typologischen Bezügen verschiedener Akteure, seien es die Heiligen Drei Könige oder Simeon bei der Beschneidung Jesu, zu beobachten. Der Aufbau von Oppositionen und die Herstellung von Symmetrien in der Handlungs- und Figurenkonzeption bestimmt insbesondere das Verhältnis von Jesus- und Marienleben: Verschiedene Darstellungskonventionen, Motive und Handlungsmuster lassen sich entweder konträr oder symmetrisch aufeinander beziehen, so z.B. die Verkündigung der Geburt Marias und der von Jesus. Dazu gehört als weiterer Punkt die Einebnung von Differenzen, welche Heiligkeit als Vermittlungsform zwischen Gott und Menschen sichtbar macht. Denn die in Kap. 1 vorgestellte These von Basisoppositionen bildet ja gerade keine bloßen Dichotomien ab, sondern vielmehr ein Spannungsverhältnis unterschiedlicher (axiologischer, semantischer) Besetzungen. Die Einebnung bestimmter Differenzen führt dabei zu einer Auflösung dieser Spannungsverhältnisse und etabliert dahingehend die oder den Heiligen als Vermittler. Neben solchen grundsätzlichen konzeptionellen Überlegungen bedarf es auch der Analyse bestimmter Einzelaspekte, die in besonderer Weise die Erzählungen des ersten Buches prägen. Dazu gehört zum einen eine genaue Analyse der Passionsdarstellung, welche nicht nur die kompilatorische Arbeitsweise des Passionaldichters aufzeigt, sondern insbesondere die Inszenierung des Kreuzestodes als exklusives heilsgeschichtliches Ereignis, dessen Vorbildhaftigkeit für künftige Heilige und Heiligkeitsdarstellungen maßgeblich ist. Des Weiteren müssen die Beobachtungen innerhalb der einzelnen Erzählungen im Hinblick auf die Inszenierung von Heiligkeit systematisiert und kontextualisiert werden, die sich insbesondere für das Passional als konstitutiv erweisen. Das betrifft zum einen den besonderen Stellenwert genealogischer Zusammenhänge, vor allem in Bezug auf die Geburt Marias. Ebenso erfahren die Namen und Bezeichnungen Christi insbesondere im Rahmen der Passi-

94 | Exemplarische Heiligkeit: Jesus und Maria im I. Buch des Passionals onsgeschichte eine offenbar spezifische Gewichtung. Überhaupt ist das Erzählen vom Heiligen durch Semantisierungen bestimmt, die sich besonders, aber nicht nur, in Namensformen zeigen. Ein letzter, aber besonders wichtiger Punkt sind jene narrativen Eigenheiten, die das Passional, und vor allem dessen erstes Buch, immer wieder bestimmen und von anderen Legendaren abheben: Es handelt sich zum einen um performative Aspekte, die in dialogischen Inseraten von geradezu szenischer Qualität zu beobachten sind; hier ist nicht zuletzt an die Darstellung der Höllenfahrt zu denken, die Parallelen zu den Inszenierungsformen der mittelalterlichen Osterliturgie und den Osterspielen aufweist. Zum anderen, und daran anschließend, ist die Aufnahme liturgischer Bekenntnisformen in die narrative Darstellung hervorzuheben, was sich einerseits darin äußert, dass Vollzüge von Liturgie in die Erzählung eingestreut werden (z.B. das letzte Abendmahl), dass aber auch liturgische Formeln das Erzählen bestimmen (Ave-Maria und Magnifikat in der Verkündigungsszene, das Credo als gestaltendes Prinzip des Pfingstgeschehens). Darin zeigt sich nicht so sehr der geistliche Verfasser des Passionals als vielmehr sein intendiertes Publikum, dem die Liturgie offensichtlich zu einem gewissen Grad vertraut, aber dennoch erklärungsbedürftig erscheint. Und als drittes und herausragendstes Merkmal müssen in diesem Zusammenhang die kontemplativen Einschübe insbesondere im Rahmen der Passionsgeschichte genannt werden. Diese für ein umfangreiches Legendar untypischen Passagen der meditatio und compassio erzeugen auf eine andere Art eine Unmittelbarkeit, welche die erzählerische Darstellungsweise des Passionals in besonderem Maße von seiner Vorlage, der diskursiven und belehrenden Legenda aurea, abhebt.

3.2.1 Finale Handlungsstrukturen und die Providenz des göttlichen Heilsplans Die signifikanteste Eigenart in der erzählerischen Darstellung des Jesuslebens weist das Passional in dem scharfen Übergang von der Kindheits- zur Passionsgeschichte auf. Denn in der Überleitung zur Passionsgeschichte offenbart sich am deutlichsten der Anspruch, die biblischen Berichte nicht ersetzen oder nacherzählen zu wollen, sondern sie zu ergänzen, zusätzliche Informationen um sie herum zu erzählen, dabei aber die heilsgeschichtlich relevanten Ereignisse in den Vordergrund zu stellen. Diese Vorgehensweise, gerade nicht vom eigentlichen Leben und Wirken Jesu zu berichten, von seinen Lehren und Wundern, die seine Göttlichkeit unter Beweis stellen, sondern auf Geburt und Kindheit gleich den Tod folgen zu lassen, begründet der Erzählerkommentar an dieser Schnittstelle ausdrücklich mit einem Verweis auf die Evangelien: wi [Jesus] in der genaden zit, als di schrift urkunde git, predigete unde lerte

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und den gelouben merte, daz haben die ewangelia ordenlich geschriben da; des wil ich ez lazen bliben (I 5123–5129).

Die Evangelienberichte sollen in diesem Kontext also nicht eigens wiederholt werden, sind gleichwohl Voraussetzung und Grundlage zum Verständnis der ausgeführten Erzählungen. Nur wo dies nicht der Fall ist (bei der Kindheit und beim Descensus beispielsweise oder den Berichten um Maria, vgl. Kap. 3.1) wird dementsprechend ergänzt. Damit gleicht die Erzählung von Jesus und Maria im ersten Buch strukturell den üblichen Formen legendarischen Erzählens, indem sie zwar ebenso an eine bestimmte Chronologie gebunden ist, welche Geburt und vor allem den Tod eines Heiligen einschließt, ansonsten aber aus mehr oder weniger frei verfügbaren Erzähleinheiten besteht: entweder als paradigmatische Episodenreihung zwischen Geburt und Tod des Protagonisten (oder sogar darüber hinaus), oder aber als auf den (Märtyrer-) Tod zulaufendes Syntagma, bei dem eine eventuelle Vorgeschichte dann fakultativ und meist kursorisch ist. Die Inszenierung von Heiligkeit erfolgt dabei stets nach einem bereits festgelegten Heilsziel, es ist von Beginn an vorbestimmt und bedarf daher keiner durchgängigen kausalen Ereignisstruktur, ja verweigert sich einer solchen regelrecht. „Die Ereignisse werden nicht […] als Folge kleiner Zeitquantitäten verstanden, sondern als Manifestation göttlichen Wirkens.“33 Daher können selbst in einem syntagmatischen Handlungsverlauf bestimmte Teilbereiche ausgeblendet, verschoben oder je nach Bedarf neu arrangiert werden – entscheidend ist allein die heilsgeschichtliche Vorherbestimmtheit, welche die erzählten Ereignisse final anordnet und zum eigentlichen Handlungsziel, der Heiligkeit, führt. Das Jesusleben zeigt eine solche Erzählstruktur geradezu prototypisch auf: An die markanten Stationen von Geburt (der Niederkunft des Göttlichen, Heiligen, in die Welt) und Tod (dem Zielpunkt der göttlichen Erlösungstat für die Welt) herum wird nur angelagert, was entweder in unmittelbarem Zusammenhang mit der Geburt bereits auf das heilsgeschichtliche Ziel verweist (Prophezeiungen, typologische Verweise etc.), oder was zusätzlich zu den biblischen Berichten an weiteren Informationen ausgeführt werden kann, wobei auch die Kindheitserzählungen wie schon die Geburt immer wieder das Göttliche in der Welt in der Gestalt Jesu erweisen. Was nach der Passion erzählt wird, ist dagegen nur eine neuerliche, nachträgliche Bestätigung des finalen Handlungsziels des heilsgeschichtlichen Erlösungswerkes, bei der Höllenfahrt noch in unmittelbarem, bei Himmelfahrt und Pfingsten bereits in weiterem Zusammenhang mit Christi Tod stehend. Von den zahlreichen Prophezeiungen, die die Geburtsgeschichte Jesu begleiten, beruht der Großteil auf bekannten gelehrten oder apokryphen Traditionen. Die Wun|| 33 WOLPERS, Heiligenlegende, S. 30.

96 | Exemplarische Heiligkeit: Jesus und Maria im I. Buch des Passionals derzeichen und Himmelserscheinungen, die die Göttlichkeit des neugeborenen Christus ein ums andere Mal erweisen, finden sich in zahlreichen Darstellungen der Weihnachtsgeschichte; aus dieser Tradition schöpft die Legenda aurea und ihr folgend auch das Passional. Angehängt an die Schilderung des Weihnachtsgeschehens, z.T. auch eingegliedert in die Erzählung von den Heiligen Drei Königen, erfüllen sie eine ähnliche Funktion wie die an herkömmliche Legenden hinzugefügten Mirakelerzählungen; stets geht es darum, die Heiligkeit der zuvor dargestellten Persönlichkeit und deren Wirken in der Welt zu erweisen. Stellen die Kindheitserzählungen und die darin vollbrachten Wunder den Anfangspunkt der christlichen Heilsgeschichte dar, so vollendet sich in der (unmittelbar darauffolgenden) Passion nun diese Bestimmung; Christus strebt auf diese Weise geradlinig seiner Erfüllung zu. Demgegenüber nehmen die Ereignisse bei der Darbringung Jesu im Tempel, die ganz nach ihrer biblischen Vorlage gestaltet sind, in der Konzeption des Passionals einen anderen Stellenwert ein. Das dort geschilderte Geschehen ist nicht nur allein auf die Göttlichkeit Jesu bezogen, sondern weist bereits explizit auf die Vollendung seiner heilsgeschichtlichen Aufgabe im Kreuzestod voraus. Dies bestimmt auch die gestalterischen Eingriffe, die der Passionaldichter trotz seiner Quellentreue am biblischen Text vornimmt. Das Gewicht liegt hier ganz auf dem Zeugnis des Simeon, dem prophezeit wurde, er werde nicht sterben, bevor er den Messias erblickt habe. Dies wird noch insofern verstärkt, als Simeon hier als Blinder dargestellt ist, dem beim Anblick des Messias plötzlich die Augen geöffnet werden (zwei liechte ougen er gewan,/ den allez schimen gar gebrach; I 2438f.), woran die Wahrheit der Prophezeiung erst recht erkennbar wird. Doch zu der Freude über den Anblick des göttlichen Kindes und das damit verbundene Heil mischt sich bei Simeon die Erkenntnis über den künftigen Kreuzestod, den er bereits voraussieht: groz jamer, daz an in geschach (I 2454). Er kündigt daher Maria an, dass din sele sal ein swert/ durch gen (I 2468f.), sagt also ihre zukünftigen Leiden unter dem Kreuz voraus (vgl. Lk. 2, 35). Zur Freude über die Geburt tritt sogleich das Leid des künftigen Kreuzestodes, der ja der eigentliche Zweck und die Erfüllung von Jesu Menschwerdung ist; wie in der späteren Passionsdarstellung mischt sich Freude mit Leid, hier überwiegt das eine, dort das andere (vgl. Kap. 3.2.3). Zusätzlich und ohne biblische Vorlage sagt Simeon jedoch auch noch die Auferstehung Christi voraus, womit die bestätigenden Zeichen erneut in einen zukünftigen heilsgeschichtlichen Zusammenhang gestellt werden. Denn nicht der Tod allein, sondern die darauf folgende Auferstehung und die Erlösung der Menschen sind der heilsgeschichtliche Zielpunkt. Es zeigt sich, dass alle Schilderungen und Aussagen diesem Ziel untergeordnet sind und in der narrativen Darstellung des Passionals trotz ihrer Form einer gewissen Chronologie final darauf zulaufen. Die gesamte Erzählung ist von dieser so ausgerichteten Finalität durchdrungen; das zentrale Ereignis der christlichen Religion steht damit im Mittelpunkt auch der Geburtserzählung, welche dieses für das christliche Heilsgeschehen so bedeutsame Moment nur rahmt, vorbereitet und bestätigt.

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Die heilsgeschichtliche Bedeutung Christi entfaltet ihre Wirkung somit zukünftig und in der Vergangenheit. Sie ist, wie die Wunderzeichen und Prophezeiungen zeigen, bereits wirksam (in der Erzählung, in der Welt), noch bevor sie mit Kreuzigung und Auferstehung tatsächlich in Erfüllung geht. Vorher-Nachher-Relationen sind ebenso wie kausale Ereignisfolgen stets dem göttlichen Heilsplan nachgeordnet, das zukünftige Ereignis ist bereits für die Gegenwart der erzählten Handlung bestimmend. Dies gilt aber auch in umgekehrter Richtung, wenn etwa im TransitusBericht um den Tod Marias die Gottesmutter von Jesus und allen seinen Heiligen empfangen wird. Dabei ist bedeutsam, dass der Passionaldichter an dieser Stelle eine umfangreiche Beschreibung der unterschiedlichen Gruppen von Heiligen gibt, die der im Prolog erfolgten Aufzählung sehr nahesteht: Maria empfangen neben den Engeln und Altvätern die heiligen merterere/ die guten bichtigere sowie die himelische[n] juncvrouwen (I 11877f. u. 11880). Die Ordnung der Heiligen und ihre Einteilung in unterschiedliche Gruppen, wie sie der Prolog propagiert, scheint hier bereits Wirkung zu entfalten, auch wenn das dargestellte Ereignis, der Tod Marias, den Beschreibungen der nächsten beiden Passionalbücher, in denen von all diesen Heiligen erst noch erzählt wird, vorausgeht und man sich ohnehin fragen müsste, ob bei Tod und Himmelfahrt Marias, der ja auch noch alle Apostel beiwohnen (von denen dann erst im zweiten Buch berichtet wird), bereits so eine Anzahl von Heiligen auf sie im Himmel warten kann. Zusätzlich zu solchen erzählerischen Merkmalen wird jedoch immer wieder eine typologische Verweisstruktur eingeflochten, die nach bekannter scholastischer Manier das Erlösungswerk Christi aufeinander bezieht und untermauert. Anders als in der Legenda aurea, die solche Bezüge stets diskursiv herausstellt, sind derartige Typologien im Passional oft in die erzählte Handlung integriert. Dies soll nur an zwei kurzen Beispielen illustriert werden, die im Text relativ weit auseinander liegen. Zum einen eine Szene aus der Kindheitsgeschichte Jesu, die der Passionaldichter von Konrad von Fußesbrunnen übernommen hat: Auf der Flucht nach Ägypten machen die ermüdeten und hungrigen Reisenden an einem Baum Rast, der voller Früchte hängt, die jedoch unerreichbar sind. Da erhebt sich das Jesuskind im Schoß seiner Mutter und bittet den Baum um die Früchte, der darauf gehorsam seine Äste niederneigt, bis man ihm wieder erlaubt, sie zu heben.34 Auf diese Weise können die Eltern und das Gesinde mit den Äpfeln des Baumes versorgt werden, der zum Lohn dafür ins Paradies gepflanzt wird: Ein von Gott gesandter Engel kommt und brach von dem boume ein ris, daz er brachte inz paradis und pflantztez durch di werdikeit,

|| 34 Außerdem bittet das Jesuskind den Baum mit worten vil unkintlich (I 2725), eine Quelle hervorzubringen, um den Durst der Reisenden zu stillen, womit sich ein weiteres Mal die übernatürlichen Eigenschaften des puer senex erweisen.

98 | Exemplarische Heiligkeit: Jesus und Maria im I. Buch des Passionals daz sin boum dienstez was gereit dem edeln gotes kinde, der muter und dem gesinde. (I 2747–2752)

Die Bezüge zur Vertreibung aus dem Paradies sind natürlich augenfällig. Hier ist es der Baum, der bereitwillig und auf Gottes Geheiß seine Früchte Maria spendet; anders als im Text Konrads von Fußesbrunnen, der nur allgemein von Früchten spricht, handelt es sich zudem explizit um gut apfel vrucht (I 2719). Das verweist auf den Sündenfall durch das Essen der verbotenen Früchte vom Baum der Erkenntnis sowie Jesus und Maria als Antitypen von Adam und Eva; Bezüge, die an dieser Stelle nicht mehr eigens erläutert werden müssen. Lohn für den Gehorsam gegenüber Jesus ist statt der Vertreibung aus dem Paradies durch den Ungehorsam der Menschen nun der Einzug dorthin; dies demonstriert die Macht Jesu, die bisherigen Verhältnisse von Versuchung, Schuld und Sühne außer Kraft zu setzen und allen, die ihm folgen, das Paradies zu ermöglichen.35 Auf ähnliche Weise in einen typologischen Zusammenhang eingebunden ist der Descensus-Bericht, in dem Adam, Jesaja, Simeon und Johannes der Täufer das in die Hölle eindringende Licht als das Kommen des Erlösers deuten; auch hier sind diese Typologien traditioneller Stoffbestand z.T. schon des apokryphen Nikodemusevangeliums. Mit dem Urvater Adam ist derjenige aufgerufen, der überhaupt erst für die Vertreibung aus dem Paradies verantwortlich ist und in der mittelalterlichen Exegese infolgedessen stets typologisch auf Christus bezogen wird. Jesaja ist derjenige der alttestamentlichen Propheten, der am deutlichsten das Kommen des Messias ankündigt; er erkennt sogleich: diz liecht ist werlich gotes sun/ an siner schonen clarheit (I 9040f.) und zitiert daraufhin seine eigenen Worte (vgl. Jes. 9, 1): ein volc daz in der vinstere gienc/ wart grozes lichtes gewar (I 9046f.), womit deren ursprünglich metaphorischer Sinn nun zusätzlich eine unmittelbare, realistische Bedeutung erhält. Mit Simeon und Johannes d. Täufer sind den beiden Gestalten des Alten Testaments zwei des Neuen an die Seite gestellt, die bereits vor Jesu unmittelbarem Wirken dessen Heilsbedeutung verkündet haben: Simeon bei der Beschneidung, Johannes bei der Taufe – er, der schon im Mutterleib gegenüber der schwangeren Maria seine Freude über den kommenden Messias zum Ausdruck gebracht hat, begreift sich in den Evangelien ja als letzter Bote vor dem Messias. In diese prophetische Reihe fügt sich zuletzt noch Seth ein, der von seinem Gang zum Paradies berichtet, || 35 Viel deutlicher noch wird dieser Zusammenhang bei Konrad von Fußesbrunnen dargelegt, wo Jesus höchstpersönlich befiehlt, einen Ast in mînem paradîse/ dâ ander mîne boume stânt (Konrad von Fußesbrunnen, Die Kindheit Jesu, hg. v. Hans FROMM u. Klaus GRUBMÜLLER, Berlin/New York 1973, V. 1486f.) zu pflanzen und dem Baum fortan den Namen palmâ victoriê (ebd., V. 1496) zu geben. Hier wird direkt auf den Baum der Erkenntnis und die Vertreibung aus dem Paradies angespielt, die rückgängig zu machen Jesus angetreten ist; der Baum kommt als erster in diesen Genuß. Der Ausdruck Siegespalme wiederum erinnert stark an den Palmzweig, der besonders in der Ikonographie den Märtyrern beigegeben ist (biblischer Bezug auf Ps. 92, 13 und Offb. 7, 9).

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wo er für seinen kranken Vater Adam das Öl der Barmherzigkeit holen will, jedoch von Michael, dem Führer der Seelen ins Paradies, nur die Auskunft erhält, dass dieses erst in 5500 Jahren (nämlich durch Christus) wieder für die Menschen bereit wäre; diese Zeit sei, so erkennt Seth, nun vorüber. Überdies sind ausgerechnet die beiden Gewährsmänner des Höllenfahrt-Berichtes, Carinus und Leutius, welche die Geschehnisse des Descensus als Augenzeugenbericht verfasst haben sollen, die Söhne des Simeon, womit sich der Kreis von Voraussage und Bestätigung auch genealogisch schließt. Die unbedingte Erfüllung des göttlichen Heilsplans als finales Ziel der narrativen Ordnung kann zuletzt auch an jenen Figuren festgemacht werden, denen darin eine äußerst negative Rolle zukommt – eben weil sie aktiv die Erfüllung dieses Ziels, die Kreuzigung Jesu, betrieben haben. Die Frage nach der Providenz des göttlichen Heilsplanes wirft zugleich die Frage nach der Schuld am Tode Jesu auf, und diese wird abgewälzt auf Judas, den Verräter, Pilatus, den ungerechten Richter, und die Gruppe der Juden als treibende Kraft im Hintergrund. Die Kompilation des Passionaldichters konturiert jedoch die Verantwortung dieser Personen besonders intensiv und negativ (das zeigt sich nicht zuletzt in ihren Viten), so dass gegenüber dieser Folie die Erhabenheit Christi, der aus Liebe zur Menschheit (auch wenn diese noch so schwach und böse scheint) in den Tod geht, umso deutlicher erscheint. Die Darstellung des Passionals schafft dabei so etwas wie eine Konvergenz des Bösen: In der Passionsgeschichte treffen alle, die Anteil am Tod Jesu haben, aufeinander. Judas’ Verrat liefert Jesus den Häschern aus, Pilatus schickt Jesus zunächst zu Herodes (hier folgt der Passionaldichter, der in der Passionsdarstellung hauptsächlich dem Johannesevangelium verpflichtet ist, ausnahmsweise lukanischem Sondergut), um ihn anschließend dann doch auf Druck der Juden hin zum Kreuz zu verurteilen. Auf engstem Raum sind hier die drei großen Gegenspieler Christi in Jerusalem versammelt, deren Lebenswege sich in der hagiographischen Überlieferung immer wieder kreuzen und miteinander verwoben sind: Herodes, der Jesus schon mit dem Kindermord zu Bethlehem zu töten versucht hatte, hat auch Pilatus nach Jerusalem geholt (das führt die ans Passionsgeschehen angehängte Pilatus-Vita aus, vgl. Kap. 7.1), Pilatus hat Judas in seine Dienste genommen (so die Darstellung der JudasVita, Kap. 7.2). An dem Punkt, an dem alle drei das scheinbar gleiche Ziel beinahe erreicht haben, nämlich Christus zu töten, werden sie auch im Passional narrativ zusammengeführt. Das freilich erschließt sich nur in Vorkenntnis aller Zusammenhänge, denn bisher ist vom Leben des Pilatus und des Judas noch keine Rede gewesen, nur von Herodes Ende hat das Passional im Zusammenhang mit dem Kindermord zu Bethlehem schon berichtet. Der handlungslogisch eigentlich retardierende Einschub aus dem Lukasevangelium, der zu Pilatus auch noch Herodes treten lässt, ist demnach vor dem Hintergrund der komplexen Komposition dieses Legendars

100 | Exemplarische Heiligkeit: Jesus und Maria im I. Buch des Passionals erklärbar.36 Die finale Erzählordnung zeigt sich hier vielleicht am deutlichsten: Für die Passionshandlung ist zunächst nur entscheidend, dass die entsprechenden Figuren sie vorantreiben, ihnen kommt dabei eine entscheidende narrative Funktion zu. Diese sie einigende Funktion führt sie nicht nur auf der Handlungsebene zusammen, sondern erzeugt Konvergenzen auch in anderen Erzählzusammenhängen, indem ihre Viten, wie Kap. 7 zeigen wird, ebenfalls zusammengeführt werden. Finale Handlungsstrukturen, so zeigt sich, sind also im Großen und im Kleinen stets präsent. Auf das christliche Heilsereignis der Kreuzigung und Auferstehung steuern typologische Verweise und Prophezeiungen ebenso zu wie spezifische Erzählstrukturen, die Kausalitäten, Chronologien und Vorher-Nachher-Relationen z.T. auflösen und dem göttlichen Heilsplan nachordnen. Nicht umsonst werden die drei Negativfiguren der Heilsgeschichte in der Passionsdarstellung zusammengeführt, sind sie es doch, die das finale Ziel der Kreuzigung nun aktiv erreicht haben, womit sie sich zwar einerseits der Verdammung ausgesetzt sehen, andererseits aber die entscheidenden Schritte zur Erfüllung des Heilsplanes geleistet haben. Nicht zuletzt liegt eine solche Finalität aber vor allem in der Konzeption dieses ersten Buches selbst begründet, das das Leben Jesu von der Geburt und Kindheit Jesu unmittelbar zu Tod und Auferstehung überleitet und damit die Erfüllung der Heilsgeschichte ins narrative Zentrum stellt.

3.2.2 Die Erfüllung des Heilsplans und das Christusbild in der Kompilation der Passionsgeschichte Auf der Ebene der Erzählung wird diese finale Ordnung göttlicher Providenz in eine nachvollziehbare Handlungslogik überführt. Die Heilsgeschichte kann nicht einfach ohne weiteres erfüllt werden, sie muss begründet sein, begründet auch im Handeln der Menschen. Deswegen muss die Schuld derer, die am Tod Jesu unmittelbar beteiligt sind, in jeder Hinsicht verdeutlicht werden. Seine eindringliche Kompilation des Passionsgeschehens richtet der Passionaldichter nicht zuletzt darauf aus, Jesu Unschuld und sein freiwilliges Opfer auf der einen Seite, die Schuld der Juden, des Pilatus und Judas auf der anderen herauszustellen. Der konsequente Bearbeitungswille bezüglich der Evangelienberichte lässt sich vor allem dann erkennen, wenn der Passionaldichter signifikant von der Darstellung des Johannesevangeliums, das er als einziges konkret als Quelle benennt, abweicht. Deutlich wird dies schon gleich zu Beginn bei der Schilderung des letzten Abendmahls, das den Verrat des Judas bereits ankündigt. Auf die Vorausdeutung durch den Erzähler folgt zunächst die

|| 36 Zur Beziehung zwischen Pilatus und Herodes gibt der Text nur einen kryptischen Hinweis auf eine alde vede (I 5819), von der aber erst noch berichtet werden soll: als ich uch wil bescheiden/ her nach als di zit kumt (I 5822.): Eine Vorausdeutung auf die Pilatusvita.

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Ankündigung der Verleugnung des Petrus (eine kleine Umstellung gegenüber dem Johannesevangelium), bevor Judas von Jesus explizit als Verräter identifiziert wird. Der Passionaldichter beeilt sich zu betonen, dass in diesem Moment der Teufel in Judas gefahren sei (vgl. Joh. 13, 27) und fügt hinzu, dass jener Judas den willen stercte (I 5389), während die darauffolgende Aufforderung Jesu im Evangelientext (quod facis fac citius – „was du tust, das tue bald“; Joh. 13, 27), weggelassen wird. Während also der erste Teil des Johannes-Verses übernommen und mit einem Kommentar versehen wird, der die teuflischen Verstrickungen des Judasverrats noch hervorhebt, wird der zweite Teil weggelassen, in dem gleichsam eine Art ‚Billigung‘ des (heilsnotwendigen) Tuns Judas’ durch Jesus gelesen werden könnte. Die Schuld des Judas muss eindeutig und vor allem unentschuldbar bleiben; dies zeigen auch die anderen Kommentare in diesem Zusammenhang und insbesondere innerhalb der viel später präsentierten Judas-Vita.37 Der Verrat des Judas wird begründend erläutert und gewertet: Judas hat Christus an die Juden um dreißig Pfennige verraten als im und in ir valsch geriet (I 5280); notwendig aber ist seine Rolle, denn nur er kann Jesus von dessen Cousin Jacobus (die Genealogie der Heiligen Familie ist im Passional bereits im Zusammenhang mit Marias Geburt erläutert worden, vgl. dazu unten, Kap. 3.2.6) auseinanderhalten, da beide gleich aussähen (vgl. I 5283ff.). Es bedarf also auch hier wieder einer oberflächlichen Begründungslogik, die letztlich aber doch nur die final ausgerichtete Heilsgeschichte erfüllt. Das ist insofern wichtig, als Judas dadurch zu einem Hauptschuldigen am Tod Jesu avanciert, der, auch wenn er dadurch den göttlichen Heilsplan erfüllt, mit seinem Verrat eine ungeheure Tat begeht. In der narrativen Darstellung schlägt sich das immer wieder nieder: Bei der valschen juden rote (I 5393 – auch der Anteil der Juden am Kreuzestod kann nicht genug negativiert werden) ist Judas aller untugende ein sat (I 5395), der Plan des Judaskusses als Erkennungszeichen wird in perfiden Zügen ausgemalt, und eben dieser Judaskuss ist in der ansonsten nur nach Johannes gestalteten Szene der Gefangennahme nach Markus/Matthäus eingefügt, wo Judas nach ungetruwer lust (I 5431) Jesus küsst, als in sin valsch herze twanc (I 5433): Der Verräter wird stets im denkbar ungünstigsten Licht gezeigt. Dies setzt sich beim Prozess vor Pilatus fort, wo nun die drei Negativgestalten des Neuen Testaments, Judas, Pilatus und Herodes, narrativ zusammengeführt werden (s.o.). Abweichend vom Johannesevangelium wird zu Beginn des Prozesses das Ende des Judas schon vorweggenommen (I 5732ff., nach Mt. 27, 3–10), ebenso eingebaut ist die schon erwähnte Übersendung Jesu zu Herodes durch Pilatus (nach Lk. 23, 2–16). Judas’ Tod wird zwar im Rahmen seiner Vita ein weiteres Mal wiedergegeben, fügt sich hier jedoch in die Konzeption des Passionsabschnitts: Der Verräter, || 37 Vgl. zur Schuld des Judas und ihrer quasi-mythischen Entlastungsfunktion innerhalb der narrativen Darstellungen des Mittelalters Christian KIENING, Arbeit am Absolutismus des Mythos. Mittelalterliche Supplemente zur biblischen Heilsgeschichte, in: Udo FRIEDRICH u. Bruno QUAST (Hg.), Präsenz des Mythos, Berlin/New York 2004, S. 35–58.

102 | Exemplarische Heiligkeit: Jesus und Maria im I. Buch des Passionals der stets in den düstersten Farben gemalt und mit den negativsten Eigenschaften belegt ist, kann auf diese Weise sogleich und im unmittelbaren Handlungszusammenhang seiner Strafe zugeführt werden, bzw. führt er sich selbst dieser Strafe zu, da er sich erhängt. Während bei Matthäus immerhin noch davon die Rede ist, dass er die dreißig Silberlinge aus Reue über seine Tat zurückgebracht habe, heißt es hier lediglich: sin herze wart im in vorchte biben/ in ungeordenter ruwe (I 5734f.). Der Selbstmord aus Verzweiflung spricht das endgültige Urteil über ihn, Stichworte sind in drei aufeinanderfolgenden Versen (I 5753–5755) torlich, torecht sin und zwivel; sein Selbstmord freut den Satan. Zugleich jedoch bestätigt selbst der untreue Verräter, dessen Verdammungswürdigkeit gegenüber den Evangeliumsberichten so stark hervorgehoben ist, dass er mit Jesus einen Unschuldigen verraten habe; die Schuld wird damit weitergereicht an die jüdischen Priester und Gelehrten, die ihn dazu angestiftet haben. Gerade die Schuld der Juden am Tod Jesu aber wird das Passional in zahlreichen antijüdischen Attacken nicht müde zu betonen.38 Das Pilatusbild wird einer ähnlichen Negativierung zugeführt. Auch hier ist charakteristisch, dass die Gerichtssitzung vor dem Statthalter aus unterschiedlichen Evangelien zusammenkompiliert ist, die so zusammengestellt sind, dass Pilatus wie auch Jesus eine eindeutige Konturierung erfahren. Die Erhabenheit des Gottessohnes als fast schon entrückter Dulder wird nicht zuletzt dadurch hervorgehoben, dass der Passionaldichter Jesus dabei kein einziges Wort sprechen lässt – er erträgt die Anschuldigungen, den Spott und die Leiden stets schweigend, der Welt offenbar schon enthoben. Selbst die in allen Evangelien überlieferte Frage des Pilatus, ob er der König der Juden sei, wird übergangen, obwohl Christus damit noch einmal die Gelegenheit erhielte, seine Gottessohnschaft zu verkünden und seinen Anspruch auf eine, freilich transzendente, Herrschaft zu betonen (vgl. auch Joh. 18, 36: regnum meum non est de mundo hoc; „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“). Anders als in den zahlreichen hagiographischen Schilderungen der Märtyrerprozesse, in denen sich die Angeklagten zumeist wortreich verteidigen und zu ihrem Glauben bekennen, hat es Jesus im Passional gerade nicht mehr nötig, auch nur ein Wort an seine Feinde zu verschwenden. Der Prozess folgt zunächst Lk. 23, 13–16, wenn Pilatus mit Jesus vor das Volk tritt und verkündet, er habe nach ausführlichem Verhör keine Schuld an ihm befunden. Ein weiteres Mal wird somit die Unschuld Christi hervorgehoben, zumal die Erzählung das ungleiche Verhältnis zwischen Richter und Angeklagtem (z.B. der lewe bibete vor der mus; I 5836) wortreich ausgestaltet. Die ‚wahre‘ Hierarchie wird damit stets in Erinnerung gerufen. Das gilt ebenso für die Barrabas-Episode, bei der erneut besonders die Juden in die Verantwortung genommen

|| 38 Tobias A. KEMPER, Die Kreuzigung Christi. Motivgeschichtliche Studien zu lateinischen und deutschen Passionstraktaten des Spätmittelalters, Tübingen 2006, konstatiert bereits für die Passionsberichte der Evangelien „ein apologetisches Interesse, Jesus als objektiv unschuldig und die Juden als für seinen Tod verantwortlich darzustellen“ (S. 23).

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werden, die vehement die Freilassung des Verbrechers und die Kreuzigung des Unschuldigen fordern. Pilatus lässt daraufhin eine Schale Wasser bringen und wäscht seine Hände in Unschuld (das Motiv ist Sondergut von Matthäus), woraufhin die Menge der Juden schreit: laz uf uns besten sin blut/ und dar zu uf unse kint (I 5936f.). Diese Szene dürfte nicht nur aufgrund ihres sicherlich hohen Bekanntheitsgrades eingefügt worden sein, sondern auch um zu zeigen, dass Pilatus sich eben nicht seiner Verantwortung entziehen kann (entsprechend thematisiert dies die Passionserzählung eingeschobene Pilatus-Vita), dass daneben aber ebenso die Juden in der Verantwortlichkeit zu sehen sind, und zwar nicht nur persönlich, sondern auch in den nachfolgenden Generationen (vgl. Mt. 27, 25). Die judenfeindlichen Äußerungen und Kommentare des Passionals sind wie gesagt zahlreich und für die Zeit auch nicht auffällig; über die Bestrafung der Juden berichtet das Legendar innerhalb der Vita des Jacobus Minor mit der ausführlichen Schilderung der Zerstörung Jerusalems. Züge, die den Anti-Heiligen Pilatus womöglich entlasten oder zumindest in ein günstigeres Licht rücken könnten, werden dagegen weggelassen: So fehlt der Traum seiner Frau, aufgrund dessen sie Pilatus warnt, sich an jenem Unschuldigen zu vergreifen (Mt. 27, 19), und wodurch die Bedenken des Statthalters noch größer werden.39 Auch die ‚Ecce homo‘-Geste (vgl. Joh. 19, 5) fehlt. Andererseits ist auch die Geißelung Jesu nicht, wie sie Johannes darstellt, durch Pilatus ausgeführt; die Beschreibung erfolgt hier eher nach Matthäus. Die Verurteilung Jesu ist wiederum z.T. fast wörtlich nach dem Johannesevangelium gestaltet, aber auch hier gibt es einige prägnante Abweichungen. So wird Pilatus’ Ausspruch ‚secht, uwer kunic stet alhi!‘ (I 6148), der im Evangelientext (Joh. 19, 14) eigentlich der Achtung des klaglos leidenden Christus gilt, vorgezogen, was an dieser Stelle so wirkt, als schließe der Statthalter sich dem Spott seiner Soldaten an. Dass Pilatus Jesus am Ende auf Druck der Juden doch noch verurteilt, obwohl er erklärtermaßen keine Schuld an ihm finden kann, lässt das Unrecht dieser Handlung sowohl für ihn als auch für die Juden umso belastender hervortreten. Pilatus erschrickt und will Jesus befragen, dieser aber schweigt weiter (jetzt konform mit dem Evangeliumstext). Nur ein einziges Mal antwortet Jesus ihm doch, nämlich auf die Frage, ob er wisse, dass ihm, Pilatus, als Richter das Urteil über sein Leben in der Hand liege. In Joh. 19, 11 antwortet Jesus darauf: „Du hättest keine Macht über mich, wäre sie dir nicht von oben gegeben; darum liegt größere Schuld bei dem, der mich dir ausgeliefert hat.“ Das Passional variiert allerdings: hi von ist groz sine mis|| 39 In der lat. Bibelexegese des Mittelalters wird dieser Traum vielfach als vom Teufel gesendet angesehen, um Verurteilung und Tod Jesu im letzten Moment doch noch zu verhindern, vgl. Andreas SCHEIDGEN, Die Gestalt des Pontius Pilatus in Legende, Bibelauslegung und Geschichtsdichtung vom Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit. Literaturgeschichte einer umstrittenen Figur, Frankfurt a. M. u.a. 2002, S. 47ff.. Hier steht noch die alte Täuschungstheorie im Hintergrund, vgl. Anm. 24 in diesem Kapitel.

104 | Exemplarische Heiligkeit: Jesus und Maria im I. Buch des Passionals setat,/ der mich untz her verraten hat (I 6199f.) und legt dadurch die Hauptschuld auf den Verräter.40 An dieser Stelle wird somit neben dem ungerechtfertigten Richteramt des Pilatus zusätzlich der Verrat (des Judas und der Juden) ausdrücklich kritisiert und damit alle Feinde des Messias noch einmal explizit verdammt, zumal die Juden erneut vehement Jesu Verurteilung fordern, mit Verweis auf den Kaiser und Jesu Anmaßung, sich König genannt zu haben. Pilatus’ unrechtmäßiges Urteil steht somit in denkbar ungünstigem Licht. Judas als Verräter, die Juden als Hetzer und Pilatus als ungerechter Richter, der ein offensichtlich falsches Urteil aus Angst dennoch fällt: Diese Tendenzen sind in der Bibel zwar schon vorgezeichnet, hier aber besonders grell ausgemalt. Die Verschärfungen, die erst dadurch entstehen, dass einige Züge gezielt wegfallen, bestimmte Motive aus verschiedenen Evangelien dagegen hinzugefügt und bisweilen verstärkt werden, fallen besonders bei Pilatus auf, da seine in der Bibel durchaus vorhandene, eher nachdenkliche Seite getilgt wird, gerade der berühmt gewordene Ausspruch ‚Ecce homo‘; ebenso fehlt bei der Kreuzigungsszene das – nach den Evangelienberichten auf sein Geheiß angefertigte – Schild mit der Aufschrift INRI. Beides sind Momente, in denen es scheint, als würde Pilatus zumindest erahnen, wen er vor sich hat, er soll jedoch in diesem Zusammenhang offenbar als besonders blind und verstockt erscheinen. Die gleichen Tendenzen, nur mit umgekehrter Axiologie, lassen sich in der Figurenzeichnung Jesu beobachten. Die Schilderung der Gefangennahme kommt ohne die Gethsemane-Szene aus. Das ist zwar konform mit dem Johannesevangelium, an das sich der Passionaldichter ja erklärtermaßen halten will, da diese nur bei den Synoptikern überliefert ist (das johanneische Sondergut der Abschiedsreden und des hohepriesterlichen Gebets, Joh. 14–17, ist, weil nicht narrativ, gleichfalls weggelassen). Da ansonsten jedoch Einschübe aus den synoptischen Evangelien, wie beim Prozess zu zeigen war, keine Seltenheit darstellen, ist zu vermuten, dass die Schilderung nach Johannes dem Dichter hier entgegengekommen ist. Denn dadurch können alle Zweifel und Ängste Jesu vor seiner Gefangennahme bewusst herausgehalten werden. Die Konzentration auf die Darstellungsweise des Johannes mag daher auch mit der Tendenz dieses Evangeliums zusammenhängen, die weltenthobene, göttliche Herrschaft Christi zu betonen.41 Die Gefangennahme ist z.T.

|| 40 Der Wortlaut der Vulgata ist weniger wertend: Propteria qui me tradidit tibi maius peccatum habet. Obwohl der Passionaldichter in der Darstellung des Passionsgeschehens oftmals wörtliche Übertragungen des Vulgata-Textes bietet, zeigt die kleine, aber pointierte Veränderung hier deutlich seine Bearbeitungstendenzen und Wertungen auf. 41 Vgl. zum Johannesevangelium allgemein Hartwig THYEN, [Art.] Johannesevangelium, in: TRE 17, 1988, S. 200–225, bes. 218–222; zur Darstellung Jesu in diesem Evangelium vgl. auch ausführlich Rudolf SCHNACKENBURG, Das Johannesevangelium, Bd. 4: Ergänzende Auslegungen und Exkurse, Freiburg u.a. 1984, sowie ders., Jesus Christus im Spiegel der vier Evangelien, Freiburg u.a. 1998, hier S. 294f.

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unter fast wörtlicher Bezugnahme auf den Johannes-Text gestaltet,42 hinzugefügt ist allerdings der Judaskuss, wie er bei Mk./Mt. erzählt ist, um den Verräter im ungünstigen Licht erscheinen zu lassen (s.o., Kap. 3.1). Das Verhör vor dem Hohen Rat ist – wiederum z.T. fast wörtlich – nach Johannes gestaltet,43 die Verleugnung des Petrus dagegen nach Lukas 22, 55–62. Die beschriebenen Bearbeitungstendenzen lassen sich fortführen: Johannes zeigt Jesus am deutlichsten von allen Evangelisten in seinem Bekenntnis zur Gottessohnschaft, stets freimütig seine Würde bezeugend und im Verhör gerade die Offenheit und Öffentlichkeit seiner Lehren immer wieder betonend: swa man daz volc mich leren sach,/ daz ist gewesen al offenbar (I 5524f., vgl. Joh. 18, 20). Jesus als der aufrechte Vertreter Gottes, der den Glauben öffentlich, nicht im Geheimen predigt, den zu erkennen die Menschen aber zu blind sind – dieses Bild des Johannesevangeliums übernimmt das Passional immer wieder. Bei der Verleugnung des Petrus hingegen hat der Dichter mit dem Lukasevangelium gleichsam die ‚dramatischste‘ Version ausgewählt: Petrus, im Hof bei den Knechten des Hohepriesters wartend und damit Jesus am nächsten, verleugnet seinen Herrn dreimal, wie dieser es ihm angekündigt hat, ja er schwört sogar (dieser Zug aber nach Mt. 26, 72), ihn nicht zu kennen. Doch genau in dem Moment, als der Hahn kräht, blickt Jesus ihn an (vgl. I 5610ff.) und Petrus versteht; er geht fort und weint in Reue. Dieser dramatische Effekt eines letzten Blickes Jesu findet sich nur bei Lk. 22, 61, und er unterstreicht die Größe des Gottessohnes gegenüber der Kleinmütigkeit seiner Jünger, selbst seines getreuesten Nachfolgers.44 Diese Größe zeigt sich zuletzt auch in der Kreuzigung selbst, deren Darstellung den Kontrast zwischen Leiden und erhabenem Dulden ausbreitet.45 Das Leiden nämlich ist entnarrativiert, ausgelagert in die kontemplativen Passagen, auf die noch zurückzukommen sein wird und die die Schilderung teilweise sogar ganz ersetzen. Auf diese Weise werden die Schmerzen Christi nicht auserzählt, dem Leser/Zuhörer aber keineswegs vorenthalten, sie werden vielmehr durch die compassio immer wieder selbst in den Nachvollzug dieser Leiden mithineingenommen. Durch diese Aus-

|| 42 Die Häscher führen vakeln und laterne[n] (I 5410) sowie Waffen mit sich (vgl. Joh. 18, 3); Jesus ermahnt Petrus, das Schwert einzustecken, wand ich sal in dirre zit/ den tranc nemen, den mir hat/ gebruwen mines vater rat (I 5452–5454; vgl. praktisch wörtlich Joh. 18, 11). Die Frage des Petrus (‚herre‘, sprach er, ‚sal ich slan?‘; I 5442), bevor dieser dem Knecht Malchus das Ohr abhaut, das Christus anschließend wieder heilt, folgt allerdings Lk. 22, 49. Dies zeigt erneut, wie eng am Text des Johannesevangeliums der Passionaldichter bisweilen vorgeht, so dass Abweichungen davon als umso bewusster und gezielter zu beurteilen sind. 43 Vgl. die wörtliche Übernahme von Joh. 18, 23 in I 5548–5553. 44 Verstärkt wird dies im Passional noch durch den Einschub von I 5480–5488, wo in Anlehnung an Mt./Mk. geschildert wird, wie die übrigen Jünger nach der Verhaftung Jesu in Panik fliehen und sich zerstreuen. 45 KEMPER, Kreuzigung, S. 245f., bezeichnet die Kreuzesbesteigung im Passional als unabhängige und selbständige Beschreibung, die einzige erzählende der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters.

106 | Exemplarische Heiligkeit: Jesus und Maria im I. Buch des Passionals gliederung gelingt es, innerhalb der Erzählung die Figur Christi bis zuletzt in ihrer göttlichen Erhabenheit darzustellen. Jesus stirbt mit den Worten: consumatum est. swaz geschriben ist gewest, als sin lange was gedacht von mir, daz ist vollenbracht an dirre note volleist. nu bevele ich minen geist, vater got, in dine hant. (I 7139–7145)

An dieser entscheidenden Stelle findet sich eines der seltenen lateinischen Direktzitate aus der Vulgata (Joh. 19, 30), das aber sogleich in der Volkssprache noch erläutert wird. Diese (außerbiblische) Auslegung zielt darauf ab, auch aus Christi Mund selbst zu bestätigen, dass dieser mit dem Kreuzestod lediglich den schon lange festgelegten göttlichen Heilsplan erfüllt, was durch das abschließende Lukas-Zitat (Lk. 23, 46: Pater in manus tuas commendo spiritum meum) nochmals unterstrichen wird.46 Die besonders im Johannesevangelium immer wieder betonte Weltabgewandtheit Jesu tritt hier ganz deutlich zum Vorschein: Trotz aller zuvor beschriebenen Leiden und Qualen scheint er bereits ein weit Entrückter, der über den Tod triumphiert und sich als über allem Menschlichen Erhabener darstellt. Das Passionsgeschehen stellt zweifelsohne das Zentrum des ersten Buches dar, nicht nur, weil Passion und Auferstehung auch das Zentrum des christlichen Heilsgeschehens bilden, sondern auch, weil diese wohl eigenständige Kompilation einer Evangelienharmonie sich an Eindringlichkeit, Anschaulichkeit und Verdichtung von den anderen Teilen abhebt, zumal die kompassionalen Einschübe (dazu ausführlich unten, 3.2.3) die Leiden Christi auch für die Rezipienten nachvollziehbar machen sollen.47 Der Kreuzestod Jesu weist dabei weit über sich hinaus: Heilsgeschichtlich bedeutet er die Erlösung für die Menschen, zugleich ist er aber auch imitatio-stiftend für die künftigen Märtyrer. Für den narrativen Vollzug, heißt das, die Leiden Jesu sind programmatisch für die Inszenierung von Heiligkeit. Auf der anderen Seite muss sich die Erzählung auch stets an der Gottmenschlichkeit Jesu ‚abarbeiten‘: Jesus nimmt die Leiden auf sich, gerade weil er als Mensch in die Welt gekommen ist, zugleich zeigt die Evangelienharmonie bereits die göttliche Weltabgewandtheit des schweigend duldenden Erlösers, ein Bild, das nicht zuletzt durch die starke Orientierung am Johannesevangelium entsteht. Die Auslagerung der Leiden in meditative

|| 46 Die Kompilation der beiden Bibelstellen erfährt durch die Parallele beim Tod Marias noch eine zusätzliche Bedeutung; vgl. weiter unten, Kap. 3.2.4. 47 Gewissermaßen ein zweites Zentrum bilden die umfangreichen Marienmirakel, sie stehen jedoch außerhalb der (quasi historischen) Erzählung von Jesus und Maria, in denen das Göttliche, das Heilige, in die Welt gesetzt wird, sondern sie berichten von der Gegenwärtigkeit des durch diese Figuren initiierten Heilsgeschehens auch für die Nachwelt bis hin zu den Rezipienten.

Inszenierungsformen von Heiligkeit im I. Buch | 107

Passagen sowie der unterschiedliche Gebrauch der Namensformen Christi (Kap. 3.2.7) sind weitere Merkmale einer literarischen ‚Bewältigung‘ der an sich nicht fassbaren Gottmenschlichkeit Jesu.

3.2.3 Unterbrechung der Handlung: Meditative Einschübe der compassio Wie eben angesprochen wird die Handlung innerhalb der Passionsgeschichte immer wieder unterbrochen, jedoch nicht für eine weiterführende Didaxe, wie dies so häufig in der Legenda aurea der Fall ist, sondern zugunsten reflexiver Passagen der compassio und des meditativen Innehaltens. Neben zahlreichen kürzeren Einschüben reflektieren insgesamt drei umfangreichere Abschnitte in meditativer Weise das Geschehen: Zur Anklage und Verspottung Jesu (I 5623–5706), zur Geißelung und dem Aufdrücken der Dornenkrone (I 6047–6112) und zum Gekreuzigten und seinen Worten, dass er dürste (I 7023–7116).48 Diese meditativen Zusätze markieren damit zugleich klare Gliederungspunkte: Der erste befindet sich zwischen dem Verhör vor dem Hohen Rat und dem Gericht vor Pilatus. Hier wird zunächst Jesu Milde hervorgehoben, der den Spott seiner Feinde über sich ergehen lässt; er muss nun das bittere Los der Menschlichkeit ertragen, was aber nur mit göttlicher Kraft geschehen könne. Jener Schimpf wird nochmals detailliert vor Augen geführt, um dann den Schmerz Marias über die Leiden ihres Sohnes zu beschreiben. Auch die kürzeren Reflexionen, die in der Passion eingeschoben werden – nach der Verurteilung und vor der Kreuzigung sowie in mehreren Schritten zum Leiden Jesu am Kreuz – zielen auf das Leiden Jesu in seiner Menschlichkeit und auf Marias ‚Mit-Leiden‘ ab. Die weiten Begriffsfelder von Meditation und compassio sind in Zusammenhang mit den entsprechenden mittelalterlichen Vorstellungen zu sehen, allerdings sind beide weder klar umrissen noch systematisch erfasst. Ziele der Meditation sind letzten Endes Gottesschau und unio mystica, jedoch ist das lateinische Begriffsfeld der meditatio sehr ausgedehnt, es umfasst Bibellektüre, Privatgebet, Betrachtung und Reflexion. Neben Anselm von Canterbury hat die Meditation im Mittelalter ganz besonders durch Bernhard von Clairvaux eine Weiterentwicklung erfahren, und in diesem Sinne ist hier ein affektives Einleben in Leben und vor allem Leiden Christi zu verstehen, ein intensives Miterleben und Mitleiden mit dem Gekreuzigten. Bei Wilhelm von St. Thierry nimmt die Passionsmeditation sogar eine der Eucharistie gleichkommende Stellung ein, besonders intensiv weitergeführt wurde diese Form der meditatio jedoch innerhalb des Franziskanerordens, wo noch um die Wende zum 14. Jh., von Italien ausgehend, eine Dramatisierung des Passionsgeschehens in den sog. || 48 Diese Passagen sind auch in den Handschriften z.T. eigens hervorgehoben. So ist der Beginn des ersten dieser längeren Einschübe in der Münchner Hs. B beispielsweise durch eine achtzeilige Initiale gekennzeichnet; auch die nachfolgenden compassio-Passagen beginnen meist mit einer farbigen Lombarde.

108 | Exemplarische Heiligkeit: Jesus und Maria im I. Buch des Passionals Meditationes vitae Christi stattfand, die schon bald (jedoch erst nach Entstehung des Passionals) in die Volkssprache übertragen wurden, zu nennen sind an erster Stelle Ludolph von Sachsen und Heinrich von St. Gallen.49 Während der Begriff der Meditation also eher die Verfahrensweisen beschreibt, drückt compassio vielmehr den eigentlichen Akt des Nachvollzugs und der affektiven Verinnerlichung aus; auch hier ist eine präzise Begriffsbestimmung bisher kaum getroffen worden. Zu unterscheiden wäre hier mit Katharina Mertens Fleury50 einerseits eine praktisch-ethische Grundform, welche in einer konkreten Passionsnachfolge eine Leidensgemeinschaft mit Christus eröffnet, d.h. das eigene Leiden in der Welt führt zur Partizipation mit den Leiden Christi; hier ist nicht zuletzt die Askese als unblutiges, inneres Martyrium zu nennen.51 In diesem Zusammenhang entscheidend ist jedoch die zweite, affektive Grundform, nämlich die erinnernde Betrachtung und Versenkung in die Leiden Christi. Und eben hier ist Bernhard von Clairvaux die entscheidende Figur, indem er „den ethischen Nachfolgegedanken mit der erinnernden und affektiven Vergegenwärtigung des Leidens Christi“52 verband. Es geht somit um die Erfahrung und Erfahrbarkeit der Leiden Christi, das Mitleiden durch die meditative Vergegenwärtigung der Passion. Zu einer solchen compassio fordern die meditativen Einschübe der Passionsschilderung im Passional immer wieder implizit oder explizit auf. Nach der Beschreibung der Verspottung und Misshandlung durch die Soldaten und dem ungewöhnlich drastisch dargestellten Aufdrücken der Dornenkrone folgt mit der zweiten längeren compassionalen Passage eine der wohl innigsten Meditationen des gesamten Werkes (I 6047–6112), eine Reflexion auf die Leidensgestalt des Himmelskönigs, die den Leser, ja allgemein den Menschen und Christen, persönlich anspricht: O mensche, der ein mensche bist/ […] / tu uf din ougen unde sich,/ wie din schepfer minnet dich || 49 Vgl. Peter DINZELBACHER, [Art.] Meditation, in: LexMA 6, 2002, Sp. 450–452. Martin NICOL, [Art.] Meditation II, in: TRE 22, 1992, S. 337–353, hier S. 340, benennt systematisierend ein vierstufiges Schema: lectio, meditatio, oratio und contemplatio. Während die ersten drei Schritte menschliche Bemühungen charakterisieren (intensive Auseinandersetzung mit der Heiligen Schrift, Verinnerlichung des Memorierten und Gebet um Zueignung dieses Heils) ist die vierte Stufe, die contemplatio, einzig als gnadenhafte Erfahrung möglich, die nur von Gott erbittet, aber nicht garantiert werden kann. Vgl. auch Ulrich KÖPF, Die Passion Christi in der lateinischen und theologischen Literatur des Spätmittelalters, in: Walter HAUG u. Burghart WACHINGER (Hg.), Die Passion Christi in Literatur und Kunst des Spätmittelalters, Tübingen 1993, S. 21–41, bes. S. 34ff., zu Bernhard von Clairvaux S. 28–30. 50 Vgl. Katharina MERTENS FLEURY, Leiden lesen. Bedeutungen von compassio um 1200 und die Poetik des Mit-Leidens im ‚Parzival‘ Wolframs von Eschenbach, Berlin/New York 2006, S. 6–47, an deren umfangreichen Ausführungen sich die folgenden Bemerkungen orientieren. 51 Vgl. ebd., S. 13–20; KÖPF, Passion Christi, S. 26. Diese Vollzugsform wäre z.B. für die franziskanischen Ideale der Christusnachfolge kennzeichnend, wie sie KÖPF, ebd., S. 30–34, eingehend darlegt. 52 MERTENS FLEURY, Leiden lesen, S. 22; zu Bernhards Überlegungen vgl. ausführlich ebd., S. 20–28. Parallelen der meditativen Passagen des Passionals zum Bernhardstraktat sind im Apparat der Ausgabe von HAASE/SCHUBERT/WOLF aufgeführt und können an dieser Stelle nicht einzeln aufgeführt werden; vgl. auch SCHUBERT, Einleitung, S. CCXLIIf.

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(I 6047–6050). Der gläubige Christ soll sich die Leiden, die schließlich für jeden Menschen erduldet worden seien, vor Augen halten und in seinem Herzen regelrecht verinnerlichen: tu uf, tu uf dinen sin! tu uf, tu uf din herze, daz dirre grobe smerze din innekeit erquicke (I 6062–6065).

Die scharfen Dornen der Dornenkrone sollten dabei durch der minne burnde glut (I 6080) unter dem Herzen getragen werden, um so, innerlich, die Schmerzen Christi nachempfinden zu können. Interessanterweise spricht der Passionaldichter in diesem Zusammenhang von des keiseres mort (I 6097), der hier begangen werde, und bindet damit die Reflexion an das Handlungsgeschehen an, das ja beim Aufdrücken der Dornenkrone unterbrochen wurde. Die Kreuzigung Christi allerdings als Kaisermord zu bezeichnen, dürfte dagegen vor allem das Standesbewusstsein eines (mutmaßlichen) ritterlichen Laienpublikums angesprochen haben, dem die Ungeheuerlichkeit des Vorganges damit umso deutlicher vor Augen treten musste. Je stärker sich das Geschehen nun auf die Kreuzigung zu bewegt, desto mehr häufen sich die meditativen Einschübe. Sie geben dem Rezipienten nicht nur eine Anleitung zur Meditation über das Kreuzigungsgeschehen, sie sind selbst als Meditation über die Passion Christi zu sehen. Dadurch wird eine Verdichtung nicht durch die Auserzählung des Geschehens erzielt, sondern durch die intensive Verinnerlichung des Erzählten. Die meditatio ersetzt gar die Schilderung des Kreuzweges, statt dessen führt der Erzähler zuerst einen Exkurs zum Lamm Gottes aus und setzt sich dann zwar intensiv mit der Last des Kreuzes und den Qualen Jesu auseinander, die tatsächliche Handlung setzt aber erst wieder unmittelbar bei der Kreuzigung ein. So gelingt es, die eigentliche Kreuzigung (die beispielsweise im Johannesevangelium nur 25 Verse ausmacht, vgl. Joh. 19, 17–42) auf einen Umfang von über tausend Versen (I 6221–7380) regelrecht zu ‚zerdehnen‘. Die so gestaltete Verinnerlichung des Geschehens für den Rezipienten führt auch wieder auf die äußere Handlung zurück, etwa wenn bei der minutiösen Beschreibung der Kreuzigung die Zerdehnung der snewizen hende (I 6464) ausgebreitet wird. Auf diese Weise wird die Leidensgeschichte zum Ende hin immer mehr in die Länge gezogen, denn es gilt, jeden einzelnen Moment erfahrbar zu machen. Setzt man mit André Jolles den Aspekt der imitatio als ein zentrales rezeptionsästhetisches Kriterium für hagiographische Texte an, so kann das für die Leiden Christi am Kreuz (gerade angesichts ihrer enormen theologischen Bedeutung: Jesus leidet für alle Menschen) nur heißen, dass diese für keinen Menschen vollständig nachvollziehbar sind, die religiösen Menschen jedoch danach trachten sollten, ihnen möglichst nahe zu kommen, Christus möglichst ähnlich zu

110 | Exemplarische Heiligkeit: Jesus und Maria im I. Buch des Passionals werden.53 Am ehesten gelingt dies noch den Märtyrern, die in imitatio des Kreuzestodes für ihren christlichen Glauben Christus nachsterben. Doch für die meisten Rezipienten des Passionals wird dies eine unerreichbare Möglichkeit gewesen sein. Daher zeigt der Passionaldichter mit der meditativen Annäherung an die Passion Christi eine andere, alternative Form des Nachvollzugs auf, die Verinnerlichung, den meditativen Nachvollzug der Leiden. Die imago Christi wird auf diese Weise allen Menschen zugänglich gemacht und ermöglicht eine imitatio seiner Leiden. In der Franziskus-Vita des dritten Passionalbuchs wird sich dieses Mit-Leiden dann auch wieder äußerlich konkretisieren und in den Stigmata des Heiligen sichtbare Zeichen seines Nachvollzugs der Leiden hervorbringen (vgl. Kap. 5.2.2).54 Wenn die Erzählung schließlich beim ans Kreuz geschlagenen Jesus angelangt ist, tritt ein weiterer Aspekt der Meditation hinzu, nämlich die Marienklage unterm Kreuz (I 6668–6735) sowie Jesu Antwort darauf, in der er seine Mutter dem Jünger Johannes anbefiehlt. Hier fallen narratio und meditatio, erzählte Handlung und ihre Verinnerlichung zusammen, die compassio wird in einem geradezu performativen Akt der Gottesmutter selbst in den Mund gelegt. Die Szene unterm Kreuz ist die einzige, in der sie überhaupt zu Wort kommt. Die Marienklage führt die Verinnerlichung der Leiden Christi auf exemplarische Weise vor; auch hier kann die Figur Marias vorbildhaft für die Menschen und vermittelnd zwischen ihnen und Gott tätig sein.55 Das Mitleiden Marias unter dem Kreuz (bereits von Simeon vorausgesagt) ist im hochmittelalterlichen Denken stellvertretend für die gesamte Christenheit gedeutet worden. Über Maria wird so die gesamte Glaubensgemeinschaft mit dem leidenden Christus verbunden, sie wird durch die compassio aktiv in das Erlösungswerk mit einbezogen.56 || 53 Vgl. JOLLES, Einfache Formen, S. 37: Der Heilige „vereinigt sich, soweit es einem Menschen möglich ist, mit dem Unnachahmbaren, er wird zum aemulus Christi, er wird oben in der Kirche, die wiederum ein imago Chrsiti ist, in Christus aufgenommen.“ 54 Umso erstaunlicher mag es daher scheinen, dass sich dieses frühe Beispiel volkssprachiger mittelalterlicher Passionsfrömmigkeit ausgerechnet in einem Werk findet, das mit dem Deutschen Orden in Verbindung gebracht wird, während derartige Meditationen eher im Bereich der Zisterzienser oder Franziskaner zu finden sind, während innerhalb der geistlichen Ritterorden diese Form der Passionsfrömmigkeit weit weniger Raum fand. Dass der Passionaldichter jedoch dem Franziskanerorden offenbar durchaus nahestand, zeigt sich nicht nur an seiner, von der Legenda aurea abweichenden Version der Franziskusvita (dazu Kap. 5.2.2), sondern auch in der Intensität der darin präsentierten Stigmatisierung des hl. Franziskus, welche mit der hier dargelegten meditativen Betrachtung der Wunden Christi durchaus korrespondiert. Zu den franziskanischen Bezügen vgl. auch SCHUBERT, Einleitung, S. XXXV–XXXVII. 55 Zur Marienklage vgl. MERTENS FLEURY, Leiden lesen, S. 28–36. 56 Vgl. Hannelore BÜHLER, Die Marienlegenden als Ausdruck mittelalterlicher Marienverehrung, Köln 1965, S. 34f. Die Marienklage ist als selbständige Form erst im 12. Jh. aus der Liturgie erwachsen und findet dann Ausdruck u.a. in kürzeren ‚Klagespielen‘, wovon sie dann auch in die Passionsspiele übernommen wurden. BÜHLER sieht einen der Gründe dafür in dem Wandel der Vorstellung vom siegreichen Christus hin zum leidenden Schmerzensmann, vgl. ebd., S. 30–35: ein Wandel, der

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Die exemplarische Verinnerlichung der Leiden deutet der Erzähler schon an, wenn er unter Bezugnahme auf Simeons Prophezeiung Maria mit dem Schwert im Herzen darstellt, dieses aber als geistliches Schwert in ihrer Seele auslegt: in ir sele wart gestochen/ ein [geistlich]57 swert, daz in ir sneit (I 6624f.). Das unaussprechliche Leid muss Maria lazen sinken/ in ir sele und trinken/ ir ungemach alleine (I 6657–6659), so dass sie ihrem Schmerz nur in ihrem Herzen Ausdruck geben kann, den Christus dennoch vernimmt. Ihre Klage, immer wieder durch Ausrufe unterbrochen (allein sechsmal findet sich owe), spricht zuerst Jesus direkt an, um dann seinen Tod auf Maria und ihre mütterliche Liebe zu richten, die am liebsten mit ihm sterben würde (klangvoll zum Ausdruck gebracht in der Formel owe tot, todes not,/ wes zuhestu dich hin von mir?; I 6690f.). Maria bezieht sein körperliches Leiden auf ihr inneres Leiden, das sie in ihrem Herzen spürt: ey, wi bistu so vaste min armez herze, daz du macht dise grimmecliche slacht so menlich erliden? brich, la dich zusniden […] (I 6702–6706).

Zuletzt wendet sich Marias Klage vom Herzensleid direkt an die Zuhörer, die mit der für das Passional ganz typischen Zeigegeste secht (I 6714) angesprochen werden, Christus selbst anzuschauen und sein Leiden nachzuvollziehen. Damit wird in der gesamten Klage geschickt der Fokus von Christus über Maria als Mittlerin hin zu den Rezipienten gelenkt, die die Leiden Christi wie Marias in ihrem Herzen schauen und nachvollziehen sollen, verdichtet in der Aussage secht in alle, secht in an,/ die mich durch in lieb han./ nu secht, wi er ist behaft (I 6719–6721) – eine wahrhaft programmatische Aussage, die alle drei Ebenen umfasst und die nicht nur für die Passion, sondern für die Gesamtkonzeption des Passionals gelten kann: Die Heiligkeit Christi, vermittelt durch Maria, kann auf alle Menschen ausstrahlen – dies führt aber unmittelbar über Leiden, Tod und Auferstehung Jesu. Jesus antwortet auf die Marienklage, indem er seine Mutter Johannes anbefiehlt, und klagt anschließend selbst über seine Leiden, eingeleitet mit dem biblischen Ausruf heloy heloy (I 6825; vgl. Mk. 15, 34). Dabei bittet er seinen göttlichen Vater, sein Leid anzuerkennen, das er aus Gehorsam erdulde und als martere schure und

|| sich ja auch in der Darstellung des Passionals abzeichnet, das aber insbesondere in der Beschreibung der Passion Christi betont beide Seiten aufzeigen will. MERTENS FLEURY, Leiden lesen, S. 31, konstatiert für den lateinischen Planctus ante nescia: „Compassio äußert sich in der Sehnsucht nach unio im Leiden und Sterben, nach einer Simultaneität in absoluter Leidenspartizipation und Leidensangleichung“. Soweit sollte man für das Passional zwar nicht gehen, doch führen die Ausdrucksformen dort durchaus in die gleiche Richtung. 57 Die Lesart geistlich fehlt in Hs. A, nach der sich die zitierte Edition richtet, wird aber von den anderen Hss. BCD gedeckt, weshalb sie hier gegen die Ausgabe in das Zitat aufgenommen wird.

112 | Exemplarische Heiligkeit: Jesus und Maria im I. Buch des Passionals martere hitze (I 6835 bzw. 6853) bezeichnet. Der Erzähler kommentiert die Reaktionen von Johannes und Maria unterm Kreuz, wobei seine anschließende meditatio, in der er über das Leid Marias reflektiert, unmittelbar in eine weitere Marienklage übergeht: sagan, edele vrouwe gut, sagan, wi dir were, do der merterere, din kint, da hienc unde schre? owi, mir was also we, so we, so we mir da was [...] (I 6918–6923).

Erzählerrede und Figurenrede überlagern sich regelrecht, es entsteht fast eine Art Zwiegespräch zwischen Erzähler und Maria, die ihm auf seine Frage mit einer neuerlichen Klage antwortet (ab I 6923).58 Auffällig an dieser zweiten, über achtzig Verse langen Marienklage, die nochmals das von Simeon prophezeite Motiv des Schwertes, gestochen durch min herze (I 6963) aufnimmt, ist allerdings, dass am Schluss das Leid bereits von der Freude über die bevorstehende Auferstehung abgelöst wird: nu secht, welch ougeweide wol im wart dem reinen, der mir da hilfet weinen und den spiegel dicke treit in sines herzen jamerkeit; der sal von sulchen sachen mit mir ouch wol lachen nach disme ellende der vreuden urstende (I 6994–7002).

Die Ausdrücke weinen (I 6996) und lachen (I 7000) sowie jamerkeit (I 6098) und vreuden (I 7002) stehen in konträrer Verschränkung gegeneinander: Die Antonyme stehen sich gegenüber, so dass die semantische Aufladung der Handlung bis in die Ebene der sprachlich-rhetorischen Anlage des Textes reicht. Mit dem diesen Abschnitt einleitenden nu secht (I 6994) sind aber erneut die Zuhörer/Leser angesprochen, denn sie sind es, die Teil an Marias Jammer haben sollen, aber eben genauso an den Freuden der Auferstehung. Der Tonfall der später folgenden kontemplativen Einschübe verändert sich dementsprechend. Zu dem Aspekt der Leiden tritt nun der der Liebe Jesu zu den Menschen hinzu, um derentwillen er all dies erduldet. Die Worte Jesu, mich durstit (I 7021), geben Anlass für eine weitere Reflexion über fast hundert Verse, in der der Erzähler || 58 Eine auffällige „Durchdringung der Erzählebenen durch den Affekt“ erkennt MERTENS-FLEURY, Leiden lesen, S. 37, auch für die lateinischen Marienklagen. TIEDEMANN, Passional, S. 98, macht auf die chiastische Stellung der Formulierung in I 6922f. aufmerksam: Das Kreuz wirkt bis auf die Stilebene.

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ein Gespräch mit Jesus führt.59 Christus erläutert darin, dass es ihn nach der Menschheit dürste, die sich von ihm abgewandt hätte, doch ane minnen vuwer/ da ist min trinken tuwer (I 7672f.). Darum ermahnt er die Menschen, sich seine Wunden zu vergegenwärtigen, die er um derentwillen erlitten habe (sich an mine vuze – sich ouch an mine hende – sich minen lib uberal – sich, wi min houbt zustochen/ ist mit dem scharfen dorne: I 7052; 7056; 7062 u. 7064f.). Damit sind erneut typische Motive mittelalterlicher Passionsfrömmigkeit aufgerufen. Schon Bernhard von Clairvaux befürwortet eine Meditation über die Wunden Christi, in der franziskanischen Leidensmystik kommt den Wundmalen eine besondere Bedeutung zu. Vor allem aber erinnert die im Passional stark gemachte Verbindung von Minne und Passion, von der Liebe Christi zu den Menschen und seinem darum erlittenen Leiden, die beide vergegenwärtigt werden sollen, an die bereits bei Bernhard zu findende Konzeption von amor carnalis und memoria passionis.60 Diese Verknüpfung stellt der Passionaldichter erneut her, wenn er die Anschauung der Leiden in einen neuerlichen Aufruf zur Meditation wendet, die diesmal dem Gekreuzigten selbst in den Mund gelegt ist und das Motiv des Dürstens (nämlich des Durstes nach Minne) wieder aufgreift: o ja, durstet mich so starc nach dir, lieber mensche, nach dir, daz du kumest her zu mir in luters herzen andacht und bedenkest, wi ich vacht vur dich in hoer swere. (I 7092–7097)

Der schon bei Bernhard von Clairvaux angewandte Kunstgriff des Erzählers, Jesus selbst zur meditatio aufrufen zu lassen (Leitworte sind andacht und bedenken) erzeugt größtmögliche Unmittelbarkeit und nimmt den Rezipienten direkt ins Geschehen mit hinein. Dementsprechend beendet der Erzähler denn auch das Zwiegespräch mit einer Selbstanklage, in der er sich über die falschen Freunde beklagt, die ihm (erneut wird das Motiv aufgegriffen) Galle in den lutertranke an minne (I 7116) mischen.

|| 59 Zum Motiv des Durstes in der Passionsfrömmigkeit des Mittelalters vgl. eingehend KEMPER, Kreuzigung, S. 391–411. KEMPER unterscheidet dabei zwischen dem leiblichen und dem geistlichen Durst Christi, wobei hier vor allem der geistliche Aspekt im Vordergrund steht. Die Deutung, Christus dürste es nach dem Heil der Menschen, stammt von Bernhard von Clairvaux, bei dem auch schon das fiktive Gespräch mit dem gekreuzigten Christus vorgebildet ist; vgl. ebd., S. 394. 60 Vgl. Kurt RUH, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 1, München 1990, S. 229–249. Der compassio der Leiden Christi kommt in Bernhards Christusmeditationen allerdings eine eher untergeordnete Rolle zu, vielmehr spiegelt sich darin die Gottesliebe, die zu erwidern die Menschen aufgerufen sind, vgl. ebd., S. 234f. Zur imitatio als memoria passionis bei Bernhard vgl. auch Hans Jürgen MILCHNER, Nachfolge Jesu und Imitatio Christi, Münster 2002, S. 296–298: „Die compassio – als imitatio innerhalb der memoria passionis – veranschaulicht einen Weg, der zur Teilhabe an Christi Herrschaft und somit zum ewigen Leben führt“ (ebd., S. 297). Zu den Kreuzesworten vgl. motivgeschichtlich die ausführliche Darstellung bei KEMPER, Kreuzigung, S. 316ff.

114 | Exemplarische Heiligkeit: Jesus und Maria im I. Buch des Passionals Auf diesen Höhepunkt der meditativen compassio folgt Jesu Tod und eine weitere Erzählerreflexion auf die Minne Jesu, die ihm den Tod gebracht habe (das scharfe Schwert der Minne solle in sein Herz stechen, die Minne sich als Erlöserin erweisen): Nun wenden sich die Gedanken von der meditativen Vergegenwärtigung und dem inneren Nachvollzug wieder didaktisch-reflektierenden Erzählerpassagen zu. Eingeleitet nicht mehr mit einem Zeigegestus, sondern einer typischen Höreranrede (ey, mensche, nu vernim/ alhi min wort, daz ich dir sage; 7234f.) sind diese denn auch wieder verstärkt mit typologischen Verweisen, insbesondere zum Kreuzesholz, durchsetzt. Mit Christi Tod sind seine Leiden vorbei und damit auch die Grundlage der compassio; nun geht es nicht mehr um die Vergegenwärtigung, sondern darum, die theologische Tragweite des Geschehens zu verdeutlichen und den schon angedeuteten Sieg im Tod vollends zu erweisen. Waren die Rezipienten zuvor durch die kontemplativen Einschübe und die Aufrufe zur Vergegenwärtigung mitten ins Geschehen hineingenommen worden, so stellt die abschließende didaktische Passage61 nun wieder eine deutliche Distanz zwischen Erzähler und Publikum her. Es geht dem Erzähler dabei vor allem darum, das Kreuz als Zeichen des Sieges herauszustellen; in Christi Tod liegt der eigentliche Sieg über den Tod, und damit wird die Auferstehung schon vor dem Begräbnis bereits vorbereitet. Die kontemplativen Einschübe ins Passionsgeschehen stellen eine Besonderheit dar, denn vergleichbare Vergegenwärtigungsstrategien finden sich im Passional ansonsten nur ausgelagert in die Schlussgebete am Ende der einzelnen Heiligenlegenden oder z.B. in den Passagen zum Mariengruß, die deutlich abgegrenzt vom eigentlichen Erzählinhalt sind. Die meditativen Passagen sind aber weit mehr als ein frühes volkssprachiges Beispiel bernhardinischer Passionsmystik, die das Leiden Christi intensivieren, verinnerlichen und zum (geistigen) Nachvollzug auffordern. Indem sie die eigentliche Handlung teilweise vollständig ersetzen, werden narratio und compassio zusammengeführt; hier kommt Maria (das einzige Mal) zu Wort, die nicht nur die Leiden ihres Sohnes beschreibt, sondern mehr noch ihre eigenen bei diesem An-

|| 61 Das Kreuz wird, unter Bezugnahme auf König David zunächst als Harfe, auf dem die Glieder Christi gespannt sind, dann als Baum der Minne, der den Teufel in Schande stürzt, als Siegesfahne der Minne und schließlich als Buch, in dem man die Minne lesen könne, bezeichnet. Auffällig ist die an 1. Kor. 13, 13 gemahnende Schlusswendung: swer rechte wisheit wil erlesen,/ der muz vor allen buchen/ sie an dem cruce suchen./ gelouben, hoffen, minne,/ die stecken aldarinne (I 7368–7372). Zum Motiv der Harfe und des Zerdehnens der Glieder vgl. KEMPER, Kreuzigung, S. 275–294; zur entsprechenden Stelle im Passional S. 284–87. Erneut gesteht KEMPER dem Passional eine selbständige Ausarbeitung der bekannten Motive zu und macht klar, dass die Bildlichkeit der Harfe bereits bei der Darstellung der Kreuzigung aktiviert wird, wenn man nach Jesu Ausruf ‚heloy, heloy!‘ (I 6825) seine stimme sich erbrechen (I 6827) hört, was mit dem Reißen der Harfenseiten (wofür ebenfalls der Terminus brechen gebraucht wird; vgl. I 7261) gleichgesetzt wird; vgl. auch die nach dem Zerreißen der Harfenseiten verwendete Formulierung, dass Jesus sin jungez herze brach (I 7265) sowie den umgekehrten Bezug zum Harfenspiel bei der Kreuzesannagelung: in den nageln er sich spien/ als ein gedente seite (I 6818f.).

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blick. Sie fordert daher die Rezipienten zur imitatio, zum Nach- und Mit-Leiden auf, in dem sie selbst eine exemplarische Figur ist, und gleichermaßen tut dies dann auch Christus, der sich zuletzt selbst an Erzähler und Rezipienten wendet und ihn geradezu zur meditativen imitatio seiner Leiden auffordert. Zugleich liegt in dieser Erzählstrategie der Überblendung von Leidenserzählung und ihrem kontemplativen Nachvollzug auch eine Auseinandersetzung mit der Problematik der Gottmenschlichkeit Jesu: Die menschliche, leidende Seite wird gleichsam ausgelagert, sie wird übertragen auf den meditativen Nachvollzug der Rezipienten und damit aller Menschen, für die Christus am Kreuz gestorben ist.

3.2.4 Symmetrien – Oppositionen Die Heiligkeit Christi, die sich am deutlichsten bei seinem Tod, aber auch in der Geburt offenbart, ist beispielgebend für alle anderen Heiligen, die ja in imitatio Christi leben sollen und – zumindest die Märtyrer – auch sterben. Gleiches gilt aber auch für das Erzählen von dieser Heiligkeit. Die Darstellung von Christi Geburt und Tod ist stets Vorbild für die Erzählung von denjenigen, die ihm nachfolgen; die imitatio dehnt sich auf das Erzählprogramm aus. Während die Heiligen jedoch Jesus möglichst nahe, ihm aber nie gleich kommen können, es also auch in der Darstellung immer noch eine gewisse Differenz geben muss, gelten für die Figur Marias andere Voraussetzungen. Marias Heiligkeit resultiert zumindest nicht ausschließlich aus einer imitatio Christi, sondern vielmehr aus ihrer Auserwähltheit als Gottesmutter, die sie selbst zur imitatio-Figur werden lässt. Und dennoch: Auch die Darstellung ihrer Geburt und ihres Todes ist ausgerichtet an derjenigen Jesu, ihre Heiligkeit fügt sich somit in die Beschreibungsmuster der Heiligkeit Jesu, denen sie entweder direkt entgegenstehen, um die Differenzen zu wahren, oder praktisch unmittelbar entsprechen, um die gemeinsame Partizipation an der Heiligkeit Gottes darzulegen. Dies zeigt sich bereits bei der Ankündigung der Geburt. Symmetrien ergeben sich dadurch, dass die Umstände der Geburt Marias diejenigen bei Jesus eine Generation später abbilden, jedoch komplementär: Maria gebiert in Jesus einen Sohn, der das Geschlecht Davids für alle Zeiten krönt, Joachim und Anna bekommen eine Tochter. Komplementär auch räumlich: Während Joseph mit Maria von Nazareth nach Bethlehem zieht, wo das Kind auf die Welt kommt, holt Joachim umgekehrt Anna von Bethlehem nach Nazareth. Ist es bei Jesus Maria, der der Engel die Geburt verkündet, so ist es in Joachim der Stammhalter, dem ein Engel die Geburt einer Tochter prophezeit: Zu Joachim kommt ein engil liechtunde clar (I 560), dessen Glanz ihn in grozen vorchten stan lässt (I 562), so dass der Engel ihn mit den Worten erkume nicht (I 564) anspricht, um ihm dann zu eröffnen, dass Gott seine und Annas Bitten erhört habe und ihnen eine Tochter schenke. Sodann preist der Engel die künftige Rolle dieses Kindes, das er zunächst in eine alttestamentliche Reihe besonderer Geburten

116 | Exemplarische Heiligkeit: Jesus und Maria im I. Buch des Passionals stellt, die dieses Kind nun alle übertreffen soll (ie seltsener ist di vrucht,/ die got alsus den luten git,/ ie grozer wunder daran lit; I 600–602). Betrachtet man parallel dazu die (natürlich noch wesentlich reicher ausgestaltete) Verkündigung an Maria, so zeigen sich auffällige Gemeinsamkeiten: Hier tritt der Engel mit der herkömmlichen Ave-Maria-Formel an die Jungfrau, die ebenfalls zunächst erschrickt (di juncvrouwe hart erschrac; I 1209), so dass auch hier der Engel beruhigend fortfährt: o Maria, wis erlost/ von vorchte in allen stunden (I 1220f.), um sodann die Erlöserkraft Jesu zu preisen, den Maria gebären soll. In beiden Fällen, bei Anna wie bei Maria, ist die Schwangerschaft unerwartet und wunderbar, auch wenn hier noch nichts über eine unbefleckte Empfängnis Annas gesagt wird. Beide Male handelt es sich um göttliche Gnade, beidesmal gibt Gott den Namen des Kindes vor, da beide Kinder besonders von ihm auserwählt sind.62 Diese Komplementarität ist Programm, zeigt sie doch die enge Beziehung zwischen Jesus und Maria, ja gesteht Maria eine ähnlich gewichtige Rolle zu wie Jesus, die ihm an Heiligkeit fast gleichkommt; eine Rolle, wie sie nicht zuletzt in der gesamten Konzeption des ersten Passionalbuchs auch verdeutlicht wird. Die ähnliche Gestaltung der Verkündigungsszenen kommt durch die ‚chronologische‘ Anordnung des Passionals allerdings wesentlich deutlicher zur Geltung, als dies beispielsweise in der Legenda aurea der Fall ist, wo die beiden Szenen gemäß dem kirchlichen Festtagskalender extrem weit auseinander liegen. Noch wesentlich deutlicher treten derartige Symmetrien allerdings in Tod und Himmelfahrt Marias hervor, wo sich eine narrative Engführung von Jesus und Maria zeigt. In der Ankündigung ihres Todes durch einen Engel wiederholt sich die AveMaria-Formel, mit der der Engel der Gottesmutter ihren nahenden Tod und die Aufnahme ins Paradies ankündigt: ave, vrouwe genaden vol, gebenediet in aller zucht bistu an der edeln vrucht, di von diner kuscheit der himel in grozen eren treit, wand er im gar ist undertan. (I 11224–11229)

Während in der weit zurückliegenden Verkündigungsszene mit der Begrüßungsformel63 durch den Erzengel Gabriel eine Ankündigung und Vorausschau des kommenden Heils erfolgt, das durch Maria auf die Welt kommen wird, stellt die Formulierung hier vielmehr ein Resümee dar. Denn in den fast 10.000 Versen zwischen beiden Formeln wird im ersten Passionalbuch eben das erzählt, was die Heilswirkung der || 62 Vgl. I 609f.: Maria sal ir name sin./ daz gotes erwelte kindelin, und 1227f.: des name Jesus sal wesen./ Jesus quit ein heilant. 63 Die Ansprache des Engels lautet dort: ave, genaden vol./ got ist mit dir zaller vrist,/ vor allen wiben du bist/ gesegent in gotes segene (I 1204–1207).

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jungfräulichen Geburt Jesu durch Maria ausmacht, insbesondere die Passion und Auferstehung. So ist die Anrede des Engels auch im Rückblick auf die vorangegangenen Schilderungen des Passionals zu verstehen, und als deren Bestätigung. Hier schließt sich der Kreis: Das erste Mal markiert die Formel Marias Eintritt in die Heilsgeschichte, das zweite Mal ihren Austritt. Hebt der marianische Gruß bei der Verkündigung ihre Auserwähltheit als jungfräuliche Mutter des Heilands hervor, so gilt er nun ihrer Auserwähltheit als Himmelskönigin an der Seite ihres Sohnes. Wird der Jungfrau dort die besondere Gnade verkündet, dem Gottessohn zur Menschlichkeit zu verhelfen, so wird ihr nun die Gnade zugesichert, an der Göttlichkeit Christi zu partizipieren: kum, vil liebe muter min,/ in daz groze riche din,/ daz du mit mir besitzen salt (I 11247–11249). Jesus, so sagt der Engel, möchte auf Erden ein wunder uz dir machen (I 11301), denn die Menschen sollen durchs Gebet zu ihr Hilfe erlangen können, da sie durch ihre Keuschheit ihm das Leben gegeben habe. Was aber an der Erzählung von Tod und Himmelfahrt Marias besonders hervorsticht, ist die nun überdeutlich werdende narrative Engführung zu Christus. Schon die Apostel, die sich um ihr Sterbebett versammeln, bezeichnen sie ausdrücklich als spigel dines suns,/ unsers herren Jesu Cristi,/ rechte als er uns were bi (I 11776–11778). Dies erscheint zum einen syntagmatisch, auf der Ebene der Handlung, denn es ist Jesus persönlich, der seine Mutter (bzw. ihre Seele) abholt und in den Himmel geleitet. Er trägt ihre Seele in seinen Armen (vgl. I 11977–11979), was gleichsam die Mutterrolle, die Maria bei der Geburt Christi innehatte, umkehrt: Bei der Geburt in die Welt hält die Mutter das Kind in den Armen, bei der gleichsam ‚zweiten‘ Geburt, als die ja der Tod für die Heiligen mit der Aufnahme ins Himmelreich gilt, hält der Sohn nun die Mutter in den Armen; nicht umsonst ist bereits zuvor in der Ave-Maria-Formel der Konnex zur Geburtsgeschichte angeklungen. Das unterstreicht erneut den außerordentlichen Stellenwert Marias, zumal Jesus im Gefolge aller Heiligen erscheint, um Maria nicht nur in deren Mitte aufzunehmen, sondern sie sogar noch über alle diese Heiligen zu setzen, wie Jesus ausdrücklich anmerkt: dir suln wesen undertan/ alle, die bi mir nu sint (I 11972f.). Ein mit typologischen Verweisen auf die Eva-Figur gestalteter Dialog mit den Engeln, die im Himmel auf Maria warten, unterstreicht dies zusätzlich. Die ‚Prozession‘ der Engel und Heiligen, die mit Jesus an der Spitze die Seele Marias in den Himmel führen, spiegelt sich anschließend in der Prozession der Jünger, die den Leichnam zum Grab bringen; die Auserwähltheit des unbefleckten und heiligen Leichnams zeigt sich in den beschriebenen Wundern an den Juden, die nicht allein deshalb bestraft werden, weil sie die Messianität Christi nicht (an-)erkennen, sondern vor allem, weil sie sich an dem reinen, unbefleckten, jungfräulichen Körper vergreifen wollen. Die Juden in ihrer Verstocktheit verkörpern damit das Gegenteil des Reinen, Heiligen; der Unreine jedoch kann den reinen Körper nicht berühren: ihm verdorren die Arme. Noch viel deutlicher ist aber diese Engführung von Jesus und Maria auf der paradigmatischen Ebene zu erkennen. Denn in vielem sind Marias Tod und Himmelfahrt Christus, dem Imitabile schlechthin, nachgebildet. In ihrer Sterbestunde, wenn

118 | Exemplarische Heiligkeit: Jesus und Maria im I. Buch des Passionals Christus mit seinem Gefolge seine Mutter zu sich ruft, beschließt Maria ihre Antwort an ihn mit den Worten: liebez kint, minen geist/ bevele ich dir in dine hant (I 11920f.). Dies wird vom Passionaldichter nicht zufällig mit fast den gleichen Worten inszeniert, die Jesus selbst als letzte am Kreuz gesprochen hatte (vgl. oben, Kap. 3.2.2: nu bevele ich minen geist,/ vater got, in dine hant; I 7144f.). Wie Christus in der Gewissheit stirbt, dass sein Tod göttlicher Wille ist, so erwartet auch Maria in dieser Gewissheit den ihren; wendet sich Christus an den Vater, so Maria an den Sohn. Ihr Tod und die zugleich damit verbundene Heilsgewissheit werden in der Wiederholung dieser Worte dem Tod Christi nachgeformt. Nur durch Christus kann Maria diese Heilsgewissheit haben, als dessen Mutter aber ist sie letztlich erst Voraussetzung dafür: Ursache und Wirkung sind nicht voneinander zu trennen. Ebenso deutlich sind auch die weiteren Parallelen. Die Grablegung erfolgt in einem noch unbenutzten Felsengrab, und als ob dies allein nicht schon offensichtlich wäre, fügt der Erzähler noch hinzu: daz geliche dem erschein/ do Cristus in wart geleit (I 12378f.). Tod und Grablegung werden damit exakt parallel zu Christus inszeniert, und so ist es nicht verwunderlich, dass auch Marias Himmelfahrt in imitatio Christi erzählt wird. Christus befiehlt den Jüngern, an dem Grab zu wachen und erscheint des dritten tages (I 12389) mit strahlendem Licht, Engelsgesang und süßem Duft persönlich vor den Aposteln. Auf sein Gebot hin werden vereinet an der muter sin/ in den liechten wolken schin/ lib und sele beide (I 12413–12415); Maria wird unter Engelsgesang in den Himmel geführt und sitzt nun zur Linken Jesu. Die Vereinigung von Leib und Seele und die leibliche Aufnahme in den Himmel erfolgt wie in der Erzählung von Christi Himmelfahrt unter Engelsgesang in einer Wolke aus Licht und Glanz (vgl. dort I 9859: in eime wolken clar). Wie bei der Auferstehung Christi ersteht auch der Leib Marias am dritten Tage aus dem Grab, nur dass die Grabwächter hier die Apostel sind, die die göttliche Macht erkennen und ihren Herrn Jesus Christus anbeten und verehren. Und wie nach der Auferstehung Christi bleiben Zweifel, es kommt der Verdacht auf, der vrouwen licham si verstoln/ und durch swinde list verholn (I 12483f.). Als man dann erneut das Grab öffnet, ist es wie Jesu Grab an Ostern leer: do was da nicht niwan die cleit,/ swaz der vor was geleit/ um den heiligen licham (I 12491–12493). Auch hier bleiben lediglich die Kleider zurück als Zeichen, alles Irdische vom in den Himmel eingegangenen Körper förmlich abgestreift zu haben. Vor allem das Motiv der im Grab Jesu zurückbleibenden Kleider begegnet bereits im Zuge der Ostergeschichte; es wird in der Bibel (Jh. 20, 4–8; Lk. 24, 12) erzählt und auch im Passional wiedergegeben (vgl. I 8466ff.; die Erzählung folgt an dieser Stelle fast wörtlich dem Johannesevangelium), wo es den Jüngern als unumstößliches Zeichen der Wahrheit und des Beweises der Auferstehung Christi gilt (vgl. I 8484ff.). Es ist nochmals hervorzuheben, dass all die genannten Beschreibungselemente im Passional unabhängig von der Vorlage der Legenda aurea in den Zusammenhang mit Christi Tod, Auferstehung und Himmelfahrt gestellt werden, und zwar z.T. sogar mit den gleichen Formulierungen, d.h. der Passionaldichter setzt hier selbst auf der Wortebene ganz bewusste Parallelisierungen zur imitatio-Figur Chris-

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tus, welche durch die historisch-chronologische Anlage seines Werkes zudem größere Kohärenz beanspruchen können als in der Legenda aurea. Auf diese Weise wird der wesentlich höhere Status der Himmelskönigin Maria, die über allen anderen Heiligen steht, durch die größtmögliche Engführung mit Christus in den zentralen Gegebenheiten der christlichen Heilsgeschichte (nämlich Tod und Auferstehung) nachhaltig bestätigt – und zwar rein narrativ, nicht, wie es Jacobus de Voragine tut, durch eine fortwährende Diskursivierung des Erzählten. Keinem anderen Heiligen kann eine derartige imitatio gelingen wie hier Maria: sie kommt Christus fast gleich und ist darum, wie es die Jünger im Passional ausdrücken, der Spiegel ihres Sohnes (vgl. nochmals I 11776). Diese komplementäre Engführung von Jesus und Maria stellt Virginität als besonderes Signum der Heiligkeit Marias neben die Göttlichkeit ihres Sohnes. Die Jungfräulichkeit erlangt dabei gerade im Mittelalter enorme Bedeutung und bekommt ab dem 12. Jh. bisweilen sogar einen höheren Stellenwert zugeschrieben als das Martyrium, das doch eigentlich als höchste und wertvollste Form der imitatio Christi gilt.64 Auch das Passional stellt dies immer wieder als eine der wichtigsten Tugenden seiner Heiligen heraus, wobei Virginität in Maria geradezu als hagiographisches Programm etabliert und exemplarisch vorgeführt wird; gerade das Motiv der Christusbrautschaft erhält dadurch den Status einer imitatio Mariae. Dementsprechend wird die Jungfräulichkeit Marias in der Kindheitsgeschichte (nicht nur des Passionals) regelrecht überdeterminiert: Maria will, als einzige von den jungen Tempeldienerinnen, von vornherein nicht heiraten, sondern ihr Leben (wie es ihre Eltern bei ihrer Geburt auch gelobt hatten) in Keuschheit ganz Gott widmen. Besonders an der Gestalt Josephs wird die Überbetonung der Keuschheit deutlich gemacht, da er sich ebenso wie Maria einer Heirat verweigern will. Er wird als bereits alter Mann dargestellt, der noch nie eine Frau hatte und auch keusch bleiben will. Gerade weil er gra und alt/ und di juncvrouwe junc (I 1038f.) ist, schämt er sich umso mehr. Dementsprechend verweigert Joseph sich zunächst der Freiersprobe (und damit erst einmal auch dem göttlichen Willen), indem er die jedem Mann ausgehändigte Rute unter dem Gewand versteckt; die Stimme Gottes und das Wunder der grünenden Rute müssen ihn regelrecht in seine vorgesehene Rolle zwingen, obwohl Maria vorerst gar nicht Teil seines Haushalts wird. Auf diese Weise ist die jungfräuliche Empfängnis narrativ mehrfach überdeterminiert, Marias Heiligkeit resultiert nicht allein aus ihrer Rolle als Gottesmutter an sich, sondern zugleich aus ihrer Keuschheit, welche sie für diese Rolle erst prädestiniert. Genau das begründet die imitatio, die Möglichkeit zur Nachfolge für künftige

|| 64 Eine solche Aufwertung der Jungfräulichkeit vollzieht Thomas J. HEFFERNAN, Sacred Biography. Saints and their Biographers in the Middle Ages, New York/Oxford 1988, besonders S. 252–255, vorwiegend anhand englischer religiöser Texte nach.

120 | Exemplarische Heiligkeit: Jesus und Maria im I. Buch des Passionals (v.a. weibliche) Heilige.65 Fast alle heiligen Frauen des dritten Buches sind in erster Linie durch ihre virginitas ausgezeichnet, die sie vor allen anderen Tugenden als Heilige heraushebt; zusätzliche Erzählerkommentare bestätigen dies immer wieder.66 Das Motiv der Christusbrautschaft, derentwegen diese Frauen jegliche weltliche Eheangebote ablehnen und dafür meist das Martyrium in Kauf nehmen, ist denn auch für die meisten Viten weiblicher Heiliger kennzeichnend; auf diese Weise wird ihre Keuschheit besonders deutlich markiert. Signifikant zeigt sich dies u.a. in den Viten von Agnes und Lucia, die sogar ins Bordell geschickt werden, von Cäcilia und Ursula, die zwar verheiratet werden, dies aber nur unter der Maßgabe einer keuschen Ehe tun, oder an Marina und Theodora, die sich gar in ein Männerkloster flüchten, wo sie zu Unrecht der Anschuldigung der Vergewaltigung ausgesetzt sind. Jesus- und Marienleben werden also im Passional regelrecht synchronisiert, wobei die Anlage des ersten Buches entscheidend dazu beiträgt, die entsprechenden Bezugspunkte zu exponieren. Entweder werden komplementäre Gegensatzpaare gebildet (Verkündigung an den Stammhalter Joachim vs. Verkündigung an die Gottesmutter Maria), oder aber direkt aufeinander bezogene Parallelen (Himmelfahrt und Transitus). In der Setzung solcher Symmetrien und Oppositionen zeigt sich ein regelrechter ‚re-entry‘:67 Immer wieder werden Differenzen eröffnet zwischen Jesus und Maria, zwischen Mensch und Gott, auch zwischen der Namensform Jesus und Christus (s.u., 3.2.7). Der Text macht immer neue Unterscheidungen, wodurch die Grenzen immer neu verhandelt werden. Auf diese Weise werden Erzählmöglichkeiten produziert, Strategien, die Ununterscheidbarkeit des Heiligen zu beschreiben, zugleich aber an diesen Unterschieden weiter zu arbeiten, sie in Spannung zu bringen. Es zeigt sich jedoch, dass diese Unterscheidungen vor allem syntagmatisch sind, auf der paradigmatischen Ebene jedoch ist immer wieder die Einebnung von Differenzen zu beobachten, wie das folgende Kapitel zeigt: Jesus ist Mensch und Gott, eine Differenz, die aufgemacht und zugleich immer wieder zum Verschwinden gebracht wird. Maria ist nicht Christus, hat aber als Gottesmutter gleichermaßen An-

|| 65 Vgl. zur Entwicklung und Bewertung der Virginität Marias in Frühem Christentum und Mittelalter sowie den Auswirkungen auf narrative Traditionen (insbesondere der legendarischen Erzählformen) nochmals ausführlich HEFFERNAN, Sacred Biography, Kap. 6: „Virgin Mothers“, S. 231–299. 66 Nur von zwei heiligen Frauen – Theodora und Elisabeth von Thüringen – werden im Passional überhaupt sexuelle Kontakte berichtet. Die eine war vor ihrer conversio Ehebrecherin, die andere musste sich durch ihre Heirat mit Ludwig IV. der Staatsräson beugen; Elisabeth ist darum auch die einzige weibliche Heilige im Passional, bei der die Keuschheit (auch später als Witwe) kaum betont wird. Auch für die männlichen Heiligen betont das Passional auffällig häufig den Aspekt der sexuellen Enthaltsamkeit, neben dem Apostel Johannes (nicht zuletzt in der Darstellung vom Tod Marias) insbesondere bei Bischofs- und Ordensheiligen, die nicht selten sexueller Versuchung widerstehen müssen; gleichwohl kann bei ihnen Virginität nicht als das beherrschende hagiographische Programm bezeichnet werden. 67 Der Begriff nach LUHMANN, Religion der Gesellschaft, S. 24ff., und ders., Gesellschaft der Gesellschaft, S. 232f.

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teil an seiner Heiligkeit; Johannes ist als Jünger Christi wiederum von diesem unterschieden, ist aber über das paradigmatische Element der virginitas wiederum Maria und deren Heiligkeit angeglichen, wie das folgende Kapitel erweist.

3.2.5 Auflösung von Differenzen Heiligkeit steht, der Transzendenz verhaftet, jenseits aller Unterschiede.68 Die Figur des Heiligen ist deshalb so bedeutsam, da diese zwischen Gott und den Menschen, zwischen Transzendenz und Immanenz vermittelt, dass also mithilfe des Heiligen die Differenz zwischen Immanenz und Transzendenz, die Kluft zwischen Mensch und Gott, überbrückbar gemacht wird. Eine narrative Darstellung dieser Vermittlungsinstanz muss jedoch der Differenzlosigkeit des Transzendenten Rechnung tragen, so dass in der Erzählung vom Heiligen selbst immer wieder Unterscheidungskriterien auf paradoxe Weise aufgelöst werden. Das zeigt sich am radikalsten in der Person Jesu Christi: In ihm sind göttliches und menschliches Wesen vereint; während der Gott von Anfang an vollkommen ist, muss der Mensch eine Entwicklung durchlaufen. Dies auszuerzählen ist Gegenstand der apokryphen Kindheitsevangelien, wobei auch hier die Entwicklung nur eine äußerliche ist, während der göttliche Kern Jesu einer solchen gerade nicht bedarf. Die Gottmenschlichkeit Jesu jedoch ist für alle Menschen prinzipiell unerreichbar. Es bedarf daher weiterer Vermittlungsinstanzen, die einmal die Heiligen erfüllen, die aber ganz besonders in der Figur Marias zu sehen ist, der, wie nicht zuletzt die narrative Engführung zu Jesus insbesondere im Transitus-Bericht zeigt, ein herausragender Stellenwert und eine exklusive Annäherung an Christus zukommt, die aber gleichzeitig als Muttergottes immer noch ein Mensch ist. Bei Jesus bemüht sich das Passional um eine Darstellung, die die göttliche wie die menschliche Seite gleichermaßen betont. Die Beschreibung der Geburt ist, wie bereits dargelegt, strikt nach den schlichten biblischen Berichten gestaltet; den aus den apokryphen Kindheitsevangelien bekannten Schilderungen (beispielsweise einer Lichtgeburt u.ä., vgl. oben, Anm. 10), welche in erster Linie die Göttlichkeit des Jesuskindes betonen, wird kein Platz eingeräumt. Das betrifft wie gesehen ebenso die Passionsdarstellung, wo die Menschlichkeit Christi ja am stärksten zum Vorschein tritt, wie die Bekräftigung des Passionaldichters hervorhebt: Jesus ein war mensche was,/ als sin sin muter genas,/ beide vleisch unde bein I 6581–6583. Dies betont einerseits den leidenden Christus, lagert seine Leiden aber weitgehend in die kontemplativen Passagen aus und fokussiert so den erhabenen Dulder, dessen Göttlichkeit und heilsgeschichtlicher Auftrag ihn fast schon aller menschlichen Belange enthebt. Und zuletzt zeigt sich dies auch in der Auferstehungsszene, wo der aufer-

|| 68 Vgl. STROHSCHNEIDER, Weltabschied, S. 144.

122 | Exemplarische Heiligkeit: Jesus und Maria im I. Buch des Passionals standene Christus Maria Magdalena begegnet. Abweichend vom Evangelientext erläutert der Erzähler, dass Maria Jesus an den minneclichen ougen sin (I 8690) erkennt (womit das charakteristische Motiv der Gottesminne nochmals eigens herausgestellt ist). Auffälligerweise fehlt hier das auch in zahlreichen Osterspielen charakteristische Verbot Jesu, ihn zu berühren (‚noli me tangere‘; vgl. Joh. 20, 17), das die Liminalität des bereits Auferstandenen, aber noch nicht endgültig in den Himmel Aufgefahrenen andeutet.69 Der Unterschied zwischen menschlichem und göttlichem Leib Christi wird an dieser Stelle also gerade nicht markiert, er ist allenfalls erkennbar in der jeweils unterschiedlichen Benennung Jesus oder Christus (vgl. dazu ausführlich Kap. 3.2.7). Die Einebnung von Differenzen schlägt sich nicht nur in der Überblendung von Gott und Mensch in Jesus nieder, sondern wird im ersten Buch des Passionals auch auf andere Weise narrativ wirksam: So ist beispielsweise in der Himmelfahrtserzählung die Aufnahme Christi in den Himmel als ein didaktisierendes Zwiegespräch unter den Engeln gestaltet; die ihn im Himmel erwartenden Engel fragen dabei die Jesus Begleitenden, wer es denn sei, der da in den Himmel komme. Die Engel legen dabei die Gestalt und Person Jesu in ihrer Menschlichkeit und Göttlichkeit dar, z.T. unter Bezugnahme auf Jes. 63, 1–6, und betonen immer wieder dessen Leiden für die Menschheit am Kreuz. Indem Christus dabei die bereits im Prolog ausgelegten Kleiderfarben rot und weiß zukommen (s. oben, Kap. 3.1), erfüllt Christus nicht allein für die Blutzeugen eine absolute imitatio-Funktion, sondern auch für die Keuschen (und man könnte hinzufügen für die Asketen), d.h. er ist beispielhaftes Vorbild für das rote wie das weiße Martyrium, die in ihm exemplarisch überblendet sind. Narrativ besonders eindrucksvoll demonstriert wird die Einebnung der Unterschiede durch die Heiligkeit Jesu und seine Vermittlerposition zwischen Immanenz und Transzendenz an dem Schächer, der zusammen mit Jesus gekreuzigt wird und dem jener noch am Kreuz das Paradies verspricht. Nach dem Descensus und der Erstürmung der Hölle werden die dort verharrenden Seelen von Michael ins Paradies geführt, wo ihnen jener Schächer bereits entgegen kommt. Er trägt ein zeichen crucewis (I 9415) und erklärt, dass ihm Christus aufgetragen hätte, zum Paradies zu gehen, den Engeln davor zu sagen, er sei von Christus gesandt und ihnen die Zeichen des Kreuzes (die Wundmale) zu zeigen, woraufhin er umstandslos ins Paradies eingelassen worden sei. Zum Abschluss der Auferstehungs- und Descensuserzählung könnte kein deutlicheres Bild stehen, um das christliche Erlösungswerk zu charakterisieren: Durch Christus kommt selbst ein zu Recht zum Tode Verurteilter noch ins Paradies, gewissermaßen seine ‚Eintrittskarte‘ sind die Kreuzesmale, die eben jenen Kern der Erlösung, das Leiden Christi für die Menschheit, ‚be-zeichnen‘.

|| 69 Vgl. zu den Osterspielen QUAST, Vom Kult zur Kunst, S. 114–119; vgl. auch David C. FOWLER, The Meaning of „Touch me not“ in John 20,17, in: The Evangelical Quaterly 47 (1975), S. 16–25.

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Es ist dabei signifikant, dass der Passionaldichter gegenüber der Legenda aurea und dem Nikodemusevangelium eine kleine, aber auffällige Änderung vornimmt: Trägt der Schächer dort sein eigenes Kreuz auf den Schultern und beruft sich lediglich auf das in der Passionsgeschichte gegebene Versprechen Christi, so ist es hier zum einen ausdrücklich das zeichen des Kreuzes (vgl. oben, I 9415): das Kreuz bezeichnet die Erlösung und ist die Erlösung, ist Signifikat und Signifikant zugleich. Zum anderen sind die Worte auffällig, die Christus dem Schächer nach dessen Angaben mit auf den Weg gegeben hat (man fragt sich allerdings, wann eigentlich? Jedenfalls nicht am Kreuz; in der Descensuserzählung gibt es ebenfalls keinen Hinweis): Wenn er an die Pforte des Paradieses komme, so sprich: Cristus hat mich her gesant,/ den daz merterliche bant/ gebunden an daz cruce hat (I 9447–9449). Damit ist es Jesu Marter am Kreuz, die entscheidend für die Aufnahme ins Paradies ist, nicht die zuvor in der Descensuserzählung, aber auch bei anderer Gelegenheit zumindest anzitierte Täuschung Satans. Es muss daran erinnert werden, dass auch Christus blutig und mit seinen Wundmalen gezeichnet vor der Hölle erscheint, um die Tore zu zerbrechen und die Seelen herauszuführen – beide Szenen sind direkt aufeinander bezogen. In beiden Fällen ist die Differenz zwischen Zeichen und Bezeichnetem aufgehoben; während eine Erzählung normalerweise ein Auseinandertreten von Signifikant und Signifikat bewirkt, löst das jenseits aller Unterscheide stehende Heilige eine solche Differenz fortwährend auf.70 Die besondere Auserwählung, die Maria über alle andere Heiligen stellt und in einen Rang hebt, der beinahe dem ihres Sohnes gleicht, wird vor allem in ihrer Himmelfahrtserzählung herausgestrichen. Dies geschieht nicht nur durch die Ankündigung, dass sich selbst die Engel vor ihr verneigen sollen, sondern vor allem durch die größtmögliche Nähe zu Christus, einmal, indem der göttliche Sohn seine Mutter persönlich ins Paradies geleitet, vor allem aber über die Engführung zu Jesu Auferstehung. Wie bereits gezeigt wurde, lassen die immer wieder betonten Symmetrien von Jesus und Maria gerade im Rahmen dieses Abschnittes die Differenzen zwischen dem göttlichen Sohn und seiner menschlichen (aber jungfräulichen) Mutter fast verschwinden. Damit tritt Maria neben Christus selbst als exemplarische Vermittlungsfigur zwischen Gott und den Menschen auf. || 70 In der bereits angesprochenen Himmelfahrtsszene wird die Zeichenhaftigkeit der Wundmale Christi ebenfalls konkretisiert und ein Zusammenfall von res und signum vorgeführt, wenn die ihn empfangenden Engel betonen, Jesus fahre mit vrischen wunden (I 9853) in den Himmel auf, um sie dort seinem Vater zu zeigen und damit Erbarmen für die Menschen zu erwirken. Und auch zum Jüngsten Gericht wolle Jesus seine Wunden herbeibringen, durch daz die bosen an im haben/ ein zeichen, daz sie billich snaben/ in der ewigen helle grunt (I 9879–9881). Alle Requisiten der Kreuzigung (Nägel und Kreuz, Speer und Dornenkrone, Geiselsäule etc.), insbesondere aber die wunden blutvar (I 9893) bleiben bestehen, um sie als zeichene siner marterat (I 9898) öffentlich auszustellen (uf daz sie offenlichen sehen; I 9899), damit jeder ihre Heilswirkung schauen und begreifen kann: Die Zeichen des Kreuzes stehen nicht nur symbolhaft für die Erlösung der Menschen, sie sind zugleich ihre Erlösung.

124 | Exemplarische Heiligkeit: Jesus und Maria im I. Buch des Passionals Die Auflösung von Differenzen zeigt sich im Zuge dieses Abschnittes zuletzt auch bei den Aposteln. Dass Maria im Kreise der Apostel stirbt, bestätigt deren Exklusivität; schließlich nehmen sie nun die Nachfolge und Stellvertretung Christi auf Erden ein. Eine Sonderstellung kommt dabei Johannes zu, der stellvertretend für Jesus die Sohnesrolle an Maria übernommen hat. Und so ist die Transitus-Erzählung auch eine Erzählung über die herausgehobene Bedeutung der Apostel (zu denen darum auch Paulus gehört), die bei der Grablegung, besonders in der Diskussion um die ‚Prozessionsordnung‘ beim Begräbnis, narrativ verhandelt wird; insofern ist sie auch schon eine Vorbereitung auf das zweite Buch, das deren Legenden erzählt. Es ist nämlich gerade nicht der Apostelfürst Petrus, der den Leichenzug anführt (obwohl seine Stellung eigens betont wird; vgl. I 12108ff.), sondern Johannes, der dem Zug vorangeht. Die Begründung dafür wiederum ist nicht dessen Stellvertreterrolle, in der er Maria als Mutter angenommen hat, sondern ausgerechnet sein Rang als Lieblingsjünger Jesu (sin geminneter hieze du I 12137), eine Nähe, die ihm auch eine größere Weisheit als allen anderen habe zukommen lassen. Neben dieser Erklärung wird jedoch nicht zuletzt seine Keuschheit angeführt. So betont Petrus bei der Aufstellung der Prozessionsordnung, di kuscheit sal der kuscheit/ mit dienste billich sin bereit (I 12125f.). Johannes zeichnet sich also einerseits durch seine vertraute Nähe zu Christus aus, weswegen dieser ihm auch Maria anvertraut hatte, zugleich erweist sich in ihm aber nicht nur eine ebenso vertraute Nähe auch zu Maria, sondern zeigt sich in einer Einebnung der Geschlechterdifferenz gar eine regelrechte Wesensgleichheit mit ihr. Da Johannes wie sie sein ganzes Leben in Keuschheit verbracht habe, formuliert Petrus in Analogie zu Maria: du bist ein juncvrouwe (I 12128). Auch der Erzähler positioniert beide auf diese Weise: Maria unde der gute man,/ die beide juncvrouwen,/ daz sie sich solden schouwen (I 11540– 11542). Natürlich werden hier zunächst Keuschheit und Virginität als zentrale Tugenden, die zur Heiligkeit führen, positioniert. Doch gerade indem die Keuschheit des Johannes rückbezogen auf Maria ist (beide stehen gerade nicht in einem geschlechtlichen Mutter-Sohn-Verhältnis), wird die Differenz, die Geschlechter ganz grundsätzlich generieren, eingeebnet. Die auf der paradigmatischen Ebene angelegte Symmetrie zwischen Jesus und Maria setzt sich fort in einer Symmetrie zwischen Maria und Johannes. Heiligkeit vervielfältigt sich auf diese Weise geradezu, so dass immer mehr Mittler hervorgebracht werden, welche die Differenzen zwischen Mensch und Gott, zwischen Leben und Tod, Mann und Frau überbrücken. Mit der Engführung von Johannes und Maria und der faktischen Aufhebung einer Geschlechterdifferenz wird erneut Virginität als überragendes Heiligkeitsideal herausgestellt, durch das sich sowohl Maria als auch Johannes in besonderer Weise auszeichnen.71 Das hier beinahe überbetonte Ideal der Keuschheit wird auf diese

|| 71 Die virginitas des Johannes wird bereits in den spätantiken apokryphen Johannes-Akten stark hervorgehoben, auf die dann der später entstandene Transitus-Mariae-Bericht ebenfalls Bezug nimmt.

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Weise zu einem exklusiven Kennzeichen von Heiligkeit, das als Imitabile zwar vor allem Frauen betrifft, wobei die enge paradigmatische Verknüpfung zwischen Maria und Johannes zeigt, dass das Keuschheitsideal gleichermaßen auch für männliche Heilige von Bedeutung ist. Der himmlische Palmzweig, den Johannes der Begräbnisprozession voranträgt, ist ein Zeichen der Huldigung, wie es gleichermaßen Jesu Einzug in Jerusalem war, vor allen Dingen aber schon in der Antike ein Symbol des Sieges, das ikonographisch häufig auch Märtyrern beigegeben wird.72 Indem der Palmzweig von dem Engel überbracht wird, der Maria vor ihrem Tod erscheint, findet eine Überschreitung der Transzendenzgrenze statt. Der göttliche Palmzweig sanktioniert geradezu die heilsgeschichtlichen Bezüge, die durch ihn aufscheinen. Gerade die Ikonographie des Palmzweiges, die sowohl auf den Palmsonntag als auch auf die Märtyrerheiligen verweist, verbindet erneut übergreifende Kategorien von Heiligkeit mit Maria, die als jungfräuliche Märtyrerin, als Königin der heiligen Jungfrauen in dieser Prozession erscheint. Die Bezüge zum Palmsonntag stellen darüber hinaus eine Huldigung Marias (und mit der Mutter auch ihres Sohnes Christus) dar und unterlegen (das Passionsgeschehen eröffnend) zugleich dessen Sieg über den Tod – erneut erweisen sich die außerordentlichen Parallelen zwischen Christus und Maria, die in der abschließenden leiblichen Aufnahme Marias in den Himmel und ihrem leeren Grab einen eindrucksvollen Höhepunkt finden. Erzählen heißt, Unterscheidungen zu machen, und so muss auch die narrative Inszenierung von Heiligkeit Differenzen setzen, um überhaupt von ihr erzählen zu können. Zugleich aber ergibt sich eben daraus die Tendenz, Unterschiede sogleich wieder einzuebnen, da Heiligkeit jenseits aller Differenzen ist. Das betrifft in besonderem Maße die immer wieder virulente Gottmenschlichkeit Christi, der immanent und transzendent zugleich ist und damit Heiligkeit als Ambiguitätskategorie in herausragender Weise aufzeigt. Auf diese Weise aber können auch die übrigen Menschen an der Heiligkeit Christi partizipieren, allen voran Maria, aber auch die anderen Heiligen. Exemplarisch zeigt sich das an der Gestalt des Johannes, dessen virginitas mit der Jungfräulichkeit Marias überblendet wird, wodurch Keuschheit eben mehr ist als nur eine herausragende Tugend und Imitabile für die Heiligen. Derartige Überblendungen lassen sich ebenso in der Figur des Schächers erkennen, der mit den Wundmalen des Kreuzes ausgestattet ins Paradies gelangt – auf der Ebene der

|| Hinzu kommt jedoch, dass nach den Johannes-Akten Johannes als einziger der Jünger Jesu ebenfalls eine leibliche Aufnahme in den Himmel erfahren durfte – eine noch weitaus bedeutendere Parallele zu Maria, erst recht innerhalb der chronologischen Anordnung des Passionals, durch die sich eine historische Abfolge von Vorbild und imitatio ergibt. Es sollte aber auch nicht vergessen werden, dass Maria aufgrund ihres Leides um Jesus unterm Kreuz selbst als Märtyrerin gilt, vgl. ANGENENDT, Heilige und Reliquien, S. 219. Zur Johannes-Legende vgl. unten, Kap. 4.2.3. 72 Vgl. Johanna FLEMMING, [Art.] Palme, in: LCI 3, 1971, Sp 365f.; zur ikonographischen Umsetzung des im Transitus-Bericht erwähnten Palmzweiges vgl. auch Friederike TSCHOCHNER, [Art.] Palmzweiglegende, in: ML 5, 1993, S. 73f.

126 | Exemplarische Heiligkeit: Jesus und Maria im I. Buch des Passionals Erzählung eine Differenz zu Christus, auf der Ebene der Zeichen gerade nicht, und genau daran wird die Teilhabe der Menschen am Erlösungswerk Christi deutlich. Nicht zuletzt ist die Engführung zwischen Jesus und Maria auf der paradigmatischen Ebene Zeichen jenes narrativen Umgangs mit Heiligkeit.

3.2.6 Heiligkeit als genealogisches Prinzip Vor allem zu Beginn des ersten Passionalbuchs, bei der Erzählung von Geburt und Verkündigung Marias, fällt eine starke Betonung genealogischer Aspekte auf. Die Handlung setzt ja mit der Kinderlosigkeit von Anna und Joachim ein, wodurch ein Abbrechen der Genealogie droht. Daher fängt das Passional nach dem Prolog nicht gleich mit der eigentlichen Erzählung an, sondern beginnt mit David als Stammhalter des jüdischen Volkes, aber eben auch des Christentums: David ein grozer kunic was,/ als ichz an den buchen las (I 365f.). David sei von Gott selbst als König über Israel eingesetzt worden, und seinem Geschlecht habe Gott versprochen, stets die Herrschaft zu besitzen: sines samen lebende vrucht solde in steter wernder zucht mit kuniclichen witzen des riches stul besitzen (I 379–382).

Obzwar schon lange keine Nachkommen Davids mehr die Königswürde bekleideten, zeige sich die Erfüllung des göttlichen Versprechens gerade an Jesus, dem größten aller Fürsten, der ebenfalls aus dem Geschlecht Davids stammt, und zwar durch seine Mutter Maria, di an kuniclicher vrucht/ von Davites linien vloz (I 406f.). Wie bereits in der Bibel wird auch hier die königliche Linie des Hauses David betont und mit der ‚Himmelskönigin‘ Maria in Verbindung gebracht, die Heilige Familie gründet folglich auf dem Geschlecht Davids und ist von Anfang an an die Genealogie der alttestamentlichen Größen angebunden. Auch die mittelalterlichen lateinischen Versionen des Marienlebens leiten, wie schon deren apokryphen Quellen, die davidische Genealogie Jesu über Maria bzw. ihre Eltern Joachim und Anna ab. In deren überdeutlichen Akzentuierung setzt das Passional jedoch eine auffällige Differenz insbesondere zu den auf diese Traditionen zurückgreifenden Ausführungen der Legenda aurea: Während es dort auf die Exegese der Geschehnisse ankommt, setzt die Konzeption des Passionals auch hier historische Bezüge. Vor diesem Hintergrund ist die Kinderlosigkeit Joachims und Annas umso schwerwiegender, da sie fürchten müssen, dass ihr ungeluckiger name (I 493) zerstört wird und die bis auf David zurückreichende Genealogie abbricht. Die betonte Herausstellung der genealogischen Zusammenhänge hat vor allem eine theologische Tragweite: Die Stammbäume der Evangelien stellen Jesus in die Linie Davids, um seine Rolle als Messias (nach den Prophetenworten des Alten Te-

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staments) unter Beweis zu stellen; diese Genealogie ist jedoch patrilinear, richtet sich also nach Joseph. Gemäß der jungfräulichen Empfängnis Christi, die ja eines der wesentlichsten Elemente des antiken und mittelalterlichen Christentums darstellt, ist dieser jedoch gar nicht der (leibliche und damit genealogisch wirksame) Vater.73 Indem der Stammbaum Davids nun aber ausdrücklich auch auf die Abkunft Marias ausgedehnt wird, und zwar gerade über den männlichen Stammhalter Joachim, wird dieses Problem zwar nicht gelöst, aber doch elegant umschifft.74 Die entscheidende theologische Schwierigkeit nämlich liegt in der jungfräulichen Geburt bzw. der Zeugung durch den Heiligen Geist: Jesu Erscheinen in der Welt stellt einen exzeptionellen Anfang dar, dessen Exorbitanz in der Zeugung durch den Heiligen Geist liegt, die jedoch zugleich die patrilineare Ordnung stört. Aus diesem Grund müssen die Erzählungen über die Geburt Jesu zugleich auch eine Anbindung an das genealogische Denken gewährleisten.75 Diese Anbindung kann aber nur über die Gottesmutter Maria geschehen, während die Abstammung Josephs, der ja gerade nicht blutsverwandt mit Jesus sein kann, in den Hintergrund rückt. Das genealogische Beziehungsgeflecht wird im Passional aber noch weitergeführt: Nach dem Tod Joachims wird Anna noch zweimal wiederverheiratet und be-

|| 73 Dieses ‚genealogische Dilemma‘ zwischen jüdischer Messianität und christlichem Messias fasst pointiert Albrecht KOSCHORKE, Die Heilige Familie und ihre Folgen, Frankfurt a. M. ²2000, S. 33–35, zusammen, vgl. auch ausführlich Christoph BURGER, Jesus als Davidssohn, Göttingen 1970. Die Problematik, dass – vor allem unter Heranziehung der Stammbäume zu Beginn des Mt.- und Lk.Evangeliums – nur Joseph als Stammhalter in das Haus Davids eingeordnet werden kann, begegnet schon im frühen Protevangelium des Jacobus, weshalb bereits dort Maria ebenfalls dem Stamm Davids zugeordnet wird, vgl. MASSER, Bibel, Apokryphen und Legenden, S. 107f. Zur herausragenden Funktion genealogischer Reihen in der Bibel vgl. die Studie von Thomas HIEKE, Die Genealogien der Genesis, Freiburg u.a. 2003. HIEKE macht klar, dass das Haus Davids und damit auch das israelitische Königtum über die alttestamentlichen Genealogien „in der Entstehungsgeschichte des Volkes genealogisch verankert“ ist (S. 239). Es ist zudem evident, dass in den bei Matthäus (und Lukas) überlieferten Genealogien Jesu vier Frauenfiguren des Alten Testaments angeführt sind, die das genealogische System an entscheidenden Schnittstellen besetzen; alle machen „durch ungewöhnliche Taten […], die sich im Nachhinein als Heilsgeschichte erweisen“ (ebd., S. 291) auf sich aufmerksam. Dies zeige, so HIEKE weiter, dass der Messias nicht allein einer ‚normalen‘, patrilinearen Abkunft entstammt, sondern ebenso der herausragenden Stellung besonderer Frauen, vor allem aber im Zusammenhang mit ungewöhnlichen Ereignissen steht, die letztlich auf das unverfügbare Wirken Gottes zurückgehen, vgl. ebd., S. 288–292. Auch das Passional benennt vier alttestamentliche Frauen, denen durch Gott die Gnade einer besonderen Mutterschaft zugekommen wäre: Sarah und Rachel sowie die Mütter von Samuel und Samson, vgl. I 580–597. 74 Die auffällige Betonung des Stamms Davids in der Genealogie Joachims und Marias hat der Passionaldichter nicht aus der Legenda aurea übernommen; ein über den Stammbaum metaphorisiertes Teilhabe-Konzept findet sich dagegen u.a. in den Predigten Bertholds von Regensburg. 75 Vgl. Jan-Dirk MÜLLER, Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik, Tübingen 2007, S. 67f. Vgl. zur Bedeutung genealogischen Denkens für das Mittelalter allgemein Beate KELLNER, Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter, München 2004, hier bes. S. 48f. zum Vorbild der biblischen Genealogien.

128 | Exemplarische Heiligkeit: Jesus und Maria im I. Buch des Passionals kommt zwei weitere Töchter, die sie, wie um sicherzugehen, dass die Prophezeiung unter allen Umständen erfolgt, ebenfalls beide Maria nennt (vgl. I 779ff.). Diese seit Haimo von Halberstadt bekannte Lehre des Trinubiums, die im Mittelalter zwar überaus umstritten war, aber gerade durch die Legenda aurea weite Verbreitung fand und bis ins Spätmittelalter, z.B. noch in der Schedelschen Weltchronik auftaucht, schließt auch noch die nachfolgende Generation ein.76 Denn während Maria, die Tochter Joachims, ausersehen ist, Jesus zur Welt zu bringen, bekommen die anderen beiden insgesamt sechs Kinder (die zweite Maria vier, die dritte zwei), von denen fünf Apostel, also direkte Nachfolger Christi werden.77 Damit stellt sich eine regelrechte Genealogie der Heiligkeit heraus, die nicht nur die Heilige Familie im Kern (Jesus – Maria – Joseph) erfasst, sondern über drei Generationen ausgebreitet wird, angebunden an den königlichen Stammhalter David und zuletzt heilsgeschichtlich rückgebunden an den Sündenfall, den aufzuheben ja Jesus auf die Welt kommt.78 Indem überdies fast die Hälfte der Apostel zugleich direkt mit Jesus verwandt ist, partizipieren sie an Christi Heiligkeit nicht allein über die direkte Nachfolge und den unmittelbaren Kontakt mit ihm, sondern auch über

|| 76 Zum umstrittenen Trinubium vgl. Matthias ZENDER, [Art.] Anna, Heilige, in: TRE 2, 1978, S. 752– 755, hier S. 752f., sowie Klaus SCHREINER, Maria. Jungfrau, Mutter, Herrscherin, München/Wien 1994, S. 25f. 77 Es sind dies Jacobus minor, Simon und Judas Thaddäus sowie Jacobus maior und Johannes; der sechste, Barsabas, soll nach biblischem Zeugnis (Apg. 1, 21f.) einer der ältesten Gefolgsleute Jesu von der ersten Stunde an und Augenzeuge seiner Auferstehung gewesen sein; nach dem Selbstmord des Judas soll er neben Matthias (auf den dann das Los fällt) als Ersatzkandidat für dessen Platz im Kreis der Zwölf aufgestellt worden sein. 78 Auch das Matthäus- und das Lukas-Evangelium stellen die Abstammung Jesu in eine lineare Genealogie, die der Identitätsbildung und der Sicherung des Autoritätsanspruches dient. Wie Robert OBERFORCHER, Die jüdische Wurzel des Messias Jesus aus Nazaret. Die Genealogien Jesu im biblischen Horizont, in: Markus ÖHLER (Hg.), Alttestamentliche Gestalten im Neuen Testament. Beiträge zur biblischen Theologie, Darmstadt 1999, S. 5–26, ausführt, wird der Stammbaum Jesu bei Mt. über Abraham vermittelt und akzentuiert damit die innerjüdische Herkunftsgeschichte des Messias, während sie bei Lk. von Adam ausgeht, der ja selbst von Gott stammt, und das wiederum heißt in letzter Konsequenz: Jesus ist Gottes Sohn; hier wird also der universale Zusammenhang mit der Menschheit betont. Für beide Evangelisten kommt dabei David eine zentrale Rolle zu, besonders aber bei Mt.: „Mit dem Königtum Davids signalisiert die Genealogie eine heilsgeschichtliche Wende“ (ebd., S. 10). Auffällig ist nicht zuletzt, dass David als einziger mit dem Titel des Königs belegt ist: Hier wird die königliche Salbung akzentuiert, der königlich Gesalbte jedoch bedeutet im Hebräischen nichts anderes als ‚Messias‘, im Griechischen ‚Christos‘; somit wird die Messianität Jesu über diese Akzentuierung nochmals eigens herausgestrichen, vgl. ebd., S. 14f. Der Passionaldichter wird diese Zusammenhänge nicht bis ins Detail reflektiert haben, zeigt jedoch eine Sensibilität dafür, wenn auch er das davidische Königtum so stark hervorhebt, freilich in einer Umakzentuierung: Die Gottessohnschaft Jesu wird in Verkündigungs- und Geburtserzählung mehrfach hervorgehoben, während ansonsten eine Anbindung an die alttestamentlichen, jüdischen Vorfahren gerade vermieden wird. Indem David an den Anfang gestellt wird, kann vielmehr das Gotteskönigtum Christi besonders betont werden.

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das System der Verwandtschaft. Die Nähe zur Heiligkeit ist somit auch als eine genealogische beschreibbar, eine Denkweise, in der sich durchaus die Mentalität adelig-höfischer Feudalsysteme widerspiegelt und die für den vermuteten Rezipientenkreis der aus (z.T. hoch-) adeligen Verhältnissen stammenden Deutschordensritter durchaus naheliegend gewesen sein mag. Die Heilige Familie wird zur Heiligen Sippe erweitert, deren Mitgliedern die Heiligkeit nachgerade ‚im Blut liegt‘. Das drückt auch das Resümee des Passionaldichters aus: nu secht, welch ein gesinde hi wuchs mit gotes kinde in aller tugende wunne; diz was ein heilic kunne.(I 849–852)

Mit diesem genealogischen Prinzip von Heiligkeit reagiert die Erzählung auf die exzeptionelle Hervorhebung der Jungfrauengeburt und die Exorbitanz des darin sich ereignenden Anfangs: Die Ereignishaftigkeit der Menschwerdung wird im Sinne genealogischer Auszeichnungen überformt. Dabei sind Verkündigung und Zeugung von Jesus selbst durch den Heiligen Geist – der eigentliche Einbruch von Transzendenz in die Zeit – als Gegenstand des Evangelienberichtes dem interpretatorischen Zugriff entzogen. Daher wird die Umdeutung auf Maria verschoben, deren Zeugung einerseits an die Jesu heranrückt, andererseits aber als außerordentlich säkulares Ereignis modelliert wird.79

Damit einher geht eine regelrechte Nobilitierung Marias und der heiligen Familie.80 Nicht nur Joseph, auch Maria stammt demnach aus einem Geschlecht von Königen, Joachim wird als reicher Gutsbesitzer aus dem Hause Davids dargestellt. Das entspricht einer Darstellungstradition, die bereits mit dem Protevangelium Jacobi einsetzt, besonders aber in der karolingischen Adelsgesellschaft stark gefördert worden ist. Gerade ein dem fränkischen Hochadel entstammendes Reichsepiskopat hatte aus theologischen wie gesellschaftspolitischen Gründen Interesse an einer adeligen Herkunft Marias, die damit eine Figur ihres eigenen Standes repräsentieren konnte. So streicht bereits Otfrid von Weißenburg diese nobilitas in seinem Evangelienbuch heraus: Der Engel Gabriel kommt Zí édiles fróuuon sélbun sc$ máriun / thie fórdoron bi bárne uuarun kúninga alle.81 Dazu passt auch, dass der Verkündigungsengel Maria im Psalter lesend und mit Hand- und Webarbeiten beschäftigt antrifft, eine Tradition, die in zahlreichen Text- und Bildquellen des Mittelalters bekannt ist. Hierbei

|| 79 MÜLLER, Höfische Kompromisse, S. 70. 80 Vgl. dazu ausführlich Klaus SCHREINER, Nobilitas Mariae. Die edelgeborene Gottesmutter und ihre adeligen Verehrer: Soziale Prägungen und politische Funktionen mittelalterlicher Adelsfrömmigkeit, in: Claudia OPITZ et al. (Hg.), Maria in der Welt. Marienverehrung im Kontext der Sozialgeschichte. 10.–18. Jahrhundert, Zürich 1993, S. 213–242, hier bes. S. 218–221. 81 Otfrid von Weißenburg, Evangelienbuch, Buch I, Kap. 5, 7f.

130 | Exemplarische Heiligkeit: Jesus und Maria im I. Buch des Passionals handelt es sich um typische Beschäftigungen adeliger Frauen des Mittelalters; bereits die junge Maria wird im Tempel mit anderen jungen Frauen erzogen, die allesamt höfischen Beschäftigungen nachgehen.82 Diese besondere Herausstellung einer adeligen Königsgenealogie im Passional ist vor allem im Zusammenhang mit dem Deutschen Orden, dessen Mitglieder sich ja als ‚Marienritter‘ begriffen, zu beachten.83 Dazu passt, dass das Passional die Heilige Familie auf der Flucht nach Ägypten nicht etwa wie Landlose fliehen lässt, sondern Maria und Joseph zumindest eine halbwegs standesgemäße Begleitung mitgibt: Man macht sich immerhin mit drei Knechten, einer Magd und Vieh auf den Weg (vgl. I 2533ff.; Ochs und Esel in der Weihnachtsgeschichte werden ja auf ähnliche Weise erklärt). Das Jesuskind kann demnach wenigstens über eine minimale Zahl an Dienstpersonal verfügen und gerät so (nach mittelalterlichen Vorstellungen) zumindest nicht in den Ruf der Verarmung. Auserwähltheit durch Genealogie bestimmt zentral das mittelalterliche Denken in einer Adels- und Feudalkultur und ihrem auf genealogischen Bezügen basierenden Herrschaftssystem. Dieses kulturelle Denken macht sich auch in anderen Bereichen bemerkbar: Sowohl die Exzeptionalität des Adels als auch die der Heiligen ist von Gott begründet, und so nimmt es nicht Wunder, dass für das Mittelalter eine hohe Geburt zwar beileibe keine Voraussetzung für Heiligkeit ist, dass Hochgeborene jedoch besonders begünstigt sind, da sich die göttliche Auserwähltheit bei ihnen auch in anderen Zusammenhängen offenbart. Man muss nicht erst an die Adelsheiligen der Merowinger und Karolinger denken, genealogische Vorzüge und adelige Herkunft sind für das gesamte Mittelalter ein prägendes Heiligkeitsideal. Aus diesem Grund sind der davidische Stammbaum Marias und ihre genealogische Vorzüglichkeit nicht nur aus theologischer Sicht bedeutsam, sondern zeigen zugleich an einer Idealfigur ein auch für das Passional besonders gewichtiges Heiligkeitsmerkmal auf, ja begründen es geradezu. Adeligkeit und höfische Beschreibungstraditionen dürften damit gerade für Maria und die Heilige Sippe dem Erwartungshorizont des Publikums des Passionals in besonderer Weise entsprochen haben.84 Die auffällige Betonung einer hohen Abkunft ist für zahlreiche Legenden des Passionals kennzeichnend und wird bei einigen sogar ganz besonders herausgestellt. Genannt seien nur Martin von Tours (ein herre herren gelich; III 592, 8), der sich aber gerade nicht von seinen Knechten bedienen lassen will, Bernhard (rich un|| 82 Ausführlich beschrieben werden besonders Näharbeiten: twelen, stolen, borten/ mit golde an allen orten/ sie worchten unde neten./ mit sidinen geweten/ konden sie wol umme gan. (I 757–761). 83 Vgl. nochmals SCHREINER, Nobilitas Mariae, S. 229ff. Vgl. besonders zum Motiv der im Psalter lesenden Maria der Verkündigungsszene auch ders., Marienverehrung, Lesekultur, Schriftlichkeit. Bildungs- und frömmigkeitsgeschichtliche Studien zur Auslegung und Darstellung von ‚Mariä Verkündigung‘, in: FMSt 24 (1990), S. 314–368, hier S. 318–31. Ein Argument für eine Entstehung des Passionals im Orden ist diese Beobachtung freilich nicht, nur ein möglicher Rezeptionshinweis. 84 Vgl. GÄRTNER, Marienverehrung, S. 398, der als Publikum „mit der klassischen höfischen Versdichtung vertraute[ ] adelige[ ] Laienbrüder, auch wenn sie wohl in der Mehrzahl Analphabeten waren“, annimmt.

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de wol geboren; III 395, 15), Leonardus, der zu Vrancrichen edel (III 557, 18) und in des Königs Rat ist, Mauricius (ein herzoge; III 485, 2), besonders natürlich der Ritterheilige Georg (von edeler vrucht; III 253, 7), der im Passional fortwährend mit höfischen Beschreibungsmerkmalen belegt wird. Edler Herkunft sind ferner u.a. auch Sebastian, Laurentius, Adrian, Fabianus, Clemens und sogar Christophorus, bei dem trotz seiner Riesenhaftigkeit die fürstliche Abstammung hervorgehoben wird. Das gleiche trifft genauso, vielleicht sogar noch stärker, auf weibliche Heilige zu, wie z.B. Cäcilia (hoher lute vrucht; III 629, 8); auch Lucia ist von edelem kunne (III 25, 7), Ursula gar eine Königstochter und dazu sere ein schone kint (III 566, 34), desgleichen Katharina (auch ihr Vater ist ein richer kunic; III 669, 6) sowie – aus für Verfasser und Rezipienten sehr naher Vergangenheit – Elisabeth von Thüringen: hochadelig, Frau des Landgrafen Ludwigs IV. und von Ungeren geborn,/ eines richen kuniges kint (III 618, 6f.). Adel und höfisches Benehmen kennzeichnen gleichermaßen Agatha, Agnes, Euphemia, Martha und Maria Magdalena, Margarethe, Christina, Justina sowie Petronilla (bei letzterer ist es die genealogische Verbindung zu Petrus, die sie auszeichnet). Sie alle sind neben ihrer vornehmen Herkunft auch mit deutlich höfischen Beschreibungsmustern belegt und zeigen, dass ihre edle Abstammung sie nicht per se als Heilige qualifiziert, dass sich darin aber eine Erwähltheit manifestiert, die sie in besonderer Weise vor Gott auszeichnet. Denn wer sich trotz der weltlichen Vorzüge des Adels statt dessen den geistlichen Idealen von Armut, Keuschheit und Gottesfürchtigkeit zuwendet, kommt dem Ideal der Heiligkeit durch diesen Verzicht einen großen Schritt näher und kann sich – wie Maria – der göttlichen Auserwähltheit auf andere Weise versichern. Eben darum wird im Passional auch die Genealogie der Heiligen Familie so sorgfältig dargelegt: Die finale Logik zeigt, dass die Heiligkeit Marias bereits in ihrer Abstammung festgelegt ist, dass Christus, der König, auch aus königlichem Geschlecht stammt, umgekehrt leitet sich daraus aber auch die nobilitas Marias ab. Genealogisches Denken ist nicht zuletzt auch eine mythische Denkform, und so können die über mehrere Generationen ausgebreiteten Mitglieder der Heiligen Sippe schon über ihre Abstammung an der Heiligkeit Jesu teilhaben, ihre Abstammung entfaltet nicht nur adelige, sondern sogar heilige Qualitäten.

3.2.7 Jesus – Christus: Namensformen, Attribute und Semantisierungen Genealogie wird nicht zuletzt fortgeführt durch den Namen. Dieser ist sowohl bei Maria als auch bei Jesus göttlicher Herkunft, die jeweilige Namensgebung göttliches Gebot. In diesem Zusammenhang verdienen daher die Benennungen des leidenden Christus besondere Aufmerksamkeit. Während der Passionaldichter die Bezeichnungen Christus und Jesus ansonsten weitgehend synonym gebraucht und relativ ausgewogen verwendet, ist in der Passionsdarstellung ein auffälliges Übergewicht der Namensform Jesus zu beobachten, die gleichermaßen auch die Kindheitserzählun-

132 | Exemplarische Heiligkeit: Jesus und Maria im I. Buch des Passionals gen dominiert. Der insgesamt 23 mal verwendeten Benennung Christus steht innerhalb des gesamten Passionsgeschehens 67 mal der Name Jesus gegenüber, dreimal wird er mit der Doppelung Jesus Christus angesprochen.85 Dahinter scheint Programm zu stehen, denn bei der Bezeichnung Jesus Christus gehören Name und Titel eng zusammen: Während die gräzisierte Form des jüdischen Namens Jeschua soviel wie ‚Gott schafft Heil‘ bedeutet, verweist der messianische Titel Christus auf den von Gott gesalbten ‚König der Endzeit‘.86 Der Name Jesus, so könnte man es ausdrücken, bezeichnet also vornehmlich die weltlich-menschliche, der Titel Christus hingegen eher die göttlich-transzendente Komponente.87 Entsprechend wird in den narrativen Abschnitten der Verurteilung und Kreuzigung ausschließlich der Name Jesus verwendet, außer an zwei prominenten Stellen: Am Kreuz, wenn er dem einen Schächer das Himmelreich verspricht, und bei der Einleitung der Marienklage wird er vom Erzähler mehrfach Christus genannt.88 Die Benennung Christus taucht hingegen besonders häufig vor dem eigentlichen Passionsgeschehen innerhalb der Gründonnerstagsszene sowie nach der Kreuzigung bei der Grablegung auf. Dazwischen sind es fast ausschließlich die meditativen Einschübe abseits des Handlungsgeschehens, in denen Christus anstelle von Jesus verwendet wird. Dieser Kontrast untermauert die theologisch wichtige Aussage, dass Jesus als Mensch ans Kreuz geschlagen wurde, als Mensch leiden musste, um die übrige Menschheit zu erlösen. Die Kontemplationen (vgl. Kap. 3.2.3) rekurrieren wiederum auf den Umstand, dass er dieses Opfer als Gott, der er ja zugleich ist, eigentlich nicht erbringen müsste, und spielen dadurch nicht zuletzt auf die Unerhörtheit des Leidens und der Erniedrigung Gottes an. Ebenfalls dominant gebraucht wird der Name Jesus gegenüber Christus innerhalb der Kindheitserzählungen, wo zu vermuten steht, dass es gerade die Menschlichkeit des künftigen Heilands ist, die betont werden soll, während seine Göttlichkeit sich erst noch vollends zeigen wird; im Zuge der Auferstehung und Höllenfahrt

|| 85 Die einzelnen Hss. weichen hierin kaum untereinander ab, wie ein Blick in den Apparat der Edition von HAASE/SCHUBERT/WOLF zeigt. 86 Vgl. zur Christologie des Mittelalters und der scholastischen Anschauung der zwei Naturen Christi auch zusammenfassend Rowan WILLIAMS, [Art.] Jesus Christus III, in: TRE 16, 1984, S. 745–759. 87 Über die Auslegung der verschiedenen Bezeichnungen gibt auch Jacobus de Voragine im Kapitel XIII zur Beschneidung Jesu Auskunft: Vocatur autem filius dei in quantum est de deo deus, Christus in quantum est homo a persona diuina quantum ad humanum naturam assumptus, Ihesus in quantum est deus humanitati unitus (LA 13, 20: Er ist aber Gottes Sohn genannt darum, dass er Gott vom Gott geboren ist, Christus ist er genannt, als er Mensch ist, den die göttliche Person zu menschlicher Natur an sich genommen hat, Jesus, als er Gott ist, der der Menschheit geeint ist). Zur Semantik und Entwicklung der Christusbezeichnung als Name und Titel vgl. grundsätzlich Martin KARRER, Der Gesalbte. Die Grundlagen des Christustitels, Göttingen 1990, bes. S. 48–80. 88 Das betrifft die Erzählerkommentare zum guten Schächer, der ouch bi Cristes siten hienc. (I 6551) und zu Maria, die zwar schweigend und in ihrem Herzen leidet, aber doch so sehr, daz Cristus allez horte, (I 6666).

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ist hingegen mit einer Ausnahme nur von Christus die Rede. Eine derartige Ausdifferenzierung der beiden Bezeichnungen hat kein Vorbild im Text der Vulgata; auch in außerbiblischen Quellen wird meistens nur der Titel Christus oder die Kombination Jesus Christus verwendet.89 Auf diese Weise wird die Namensform zur Kippfigur, die eine doppelte Perspektive auf Jesus/Christus eröffnet, die je nach Situation wechseln kann. Einmal wird von der Immanenz, einmal von der Transzendenz her erzählt, Gott und Mensch, die beide in Jesus Christus vereinigt sind, erscheinen so als je unterschiedliche Lektüreoptionen. Dadurch wird aber auch die Nivellierung von Differenzen, die in der Gottmenschlichkeit des Messias liegt und (nach den systemtheoretischen Prämissen) allem Heiligem eigen ist, zugleich wieder ein Stück weit zurückgenommen. Diese Beobachtung setzt sich in der Schilderung von Auferstehung und Höllenfahrt fort: Während der gesamten Auferstehungserzählung verwendet der Passionaldichter fast ausschließlich die Bezeichnung Christus; letztmalig taucht der Name Jesus in der Einleitung dieses Abschnittes auf, wenn es um das Begräbnis seines Leichnams geht.90 Es ist die menschliche Hülle Jesu, die im Grab liegt, Christus aber ersteht wieder auf: Der göttliche Aspekt seines Wesens besiegt den Tod. Der menschliche Aspekt tritt erst wieder hinzu, wenn Maria Magdalena am offenen Grab den Leichnam sucht und den Auferstandenen zunächst irrtümlich für den Gärtner hält (vgl. auch Joh. 20, 14–17). Hier kehrt der Erzähler kurzzeitig zur Anrede Jesus zurück, da Maria Magdalena einzig darauf fixiert ist, die sterblichen Überreste Jesu zu finden, ohne seine Auferstehung zu realisieren. An dieser Stelle wird dadurch der Unterschied zwischen menschlichem und göttlichem Leib Christi zum Verschwinden gebracht, was seine Heiligkeit nur umso mehr betont (vgl. oben, Kap. 3.2.5). Das gleiche Bild zeigt sich in der Descensus-Szene. Hier charakterisieren auffällig viele gegensätzliche Epitheta die jeweiligen Parteien, vor allem die überproportional vielen pejorativen Attribute der Schande und der Untugend, welche Satan und die Teufel charakterisieren, denen die besonders leuchtenden und ehrenvollen Attribute Christi entgegengesetzt werden. Der Kontrast wird besonders deutlich, indem diese Attribute ausgerechnet den Jesu Ankunft schreckerfüllt erwartenden Teufeln in den Mund gelegt werden: Selbst für sie ist Christus der starke (I 9231), der prisant (I 9242), der mit luchtender clarheit (I 9237) und unervorcht (I 9235) in die Hölle eindringt: er ist gewaldic unde rich (I 9256). Solche Charakteristika müssen ein höfisch geschultes Publikum besonders ansprechen, wie gleichermaßen auch die pejorati|| 89 Vgl. KARRER, Der Gesalbte, S. 53ff., der für das Frühchristentum feststellt, „daß die Appelativverbindung Jesus Christos / Christos Jesus (Jesus der Gesalbte / Gesalbter Jesus), der titulare Gebrauch von (der) Christos (Gesalbte) und die Setzung von (der) Christos (Gesalbte) in Vertretung des Eigennamens bzw. die von Jesus Christos / Christos Jesus als eine Art Doppelname weitgehend spannungsfrei nebeneinander bestehen und öfter sogar ineinander übergehen“ (S. 53). 90 Hier redet der Passionaldichter ausdrücklich von Jesus: Jesus[ ] wart in daz grab geleit, (I 8265); im gleichen Zusammenhang heißt es noch einmal I 8825 Jesus, nicht Christus.

134 | Exemplarische Heiligkeit: Jesus und Maria im I. Buch des Passionals ven Benennungen des höllischen Personals.91 Satan selbst hält Jesus, getreu der althergebrachten Täuschungstheorie (die im Passional gleichwohl ins Leere läuft), nicht für ein göttliches Wesen, sondern nur für einen Menschen: er hat sich berumet vil her und dar der mere, wi got sin vater were. er ist ein mensche, vleisch und bein, daz offenlich an im erschein, wand er den tot vorchte; daz sine menscheit worchte. (I 9148–9154)

Diese Überzeugung zeigt sich nicht zuletzt darin, dass Satan ihn auffälligerweise stets Jesus nennt (vgl. I 9146 u. 9187). Schon in dieser Anrede wird klar, dass er sich täuschen lässt und allein den menschlichen Aspekt erkennt, die Göttlichkeit Christi dagegen nicht begreift – im Unterschied zur personifizierten Hölle (infernus in der Legenda aurea), die im Dialog mit Satan diesem vorwirft, Jesus zu unterschätzen, dessen Göttlichkeit mit Verweis auf die Auferweckung des Lazarus enthüllt und jenen dabei erstmals Crist nennt (I 9199). Neben den einzelnen Namensformen und den auffallenden ritterlich-höfischen Epitheta im Rahmen der Höllenfahrtszene sticht innerhalb der Passionsdarstellung, aber auch an anderen Stellen (z.B. der Himmelfahrtserzählung) ein besonderes Attribut immer wieder heraus: der gepeinigte und gekreuzigte Jesus wird wiederholt als Märtyrer bezeichnet. Insgesamt fällt der Ausdruck Märtyrer im Zusammenhang mit Jesus viermal, so z.B. Jesus der merterere (I 6489) oder o heiliger merterere (I 5982), vgl. außerdem I 6871 und I 6920.92 Die Ausführlichkeit der Leidensgeschichte, die zahlreichen Einschübe, die die Qualen Jesu und die dadurch erbrachte Erlösung der Menschheit immer wieder aufs Neue in Erinnerung rufen, markieren somit auch sprachlich und narrativ das Martyrium als Mittelpunkt des christlichen Heilsgeschehens. Gerade Bezeichnungen wie heiliger merterere betonen das Märtyrertum als Imitabile und exemplarische Figur, wie es bereits im Prolog geschehen ist; die Menschen, die zur Nachfolge Christi berufen sind, sollen hierin ihre Erfüllung finden. Die christlichen (künftigen) Märtyrer werden nominal bereits mit Jesus gleichgestellt, das Martyrium der Heiligen in imitatio Christi wird damit selbst auf der Wortebene mit dem Kreuzestod Jesu zur Deckung gebracht – auch hier werden Differen|| 91 Mit Satan (und den Teufeln) werden Ausdrücke verbunden wie valscheit (I 9136) und schande (I 9139; ebenso ist Judas der schanden vaz: I 9263), vntugende[ ] (I 9212 u. 9218) unselde (I 9144 u. 9272; I 9269: vil unseliger), sowie laster (I 9259): All dies Attribute, die einem ritterlich-höfischen Ehrverständnis gerade entgegenstehen und für ein entsprechend geschultes Publikum gleichermaßen Signalwörter dargestellt haben dürften. 92 Darüber hinaus wird sein Leiden insbesondere in den Meditationen unter dem Kreuz immer wieder als martere bezeichnet, so I 6802 (martere gewalt); 6835 (martere schure), 6853 (martere hitze) und 7263 (martere grimme). Vgl. weitere Belege in I 8894, 9448 u. 9470 sowie 9526, 9797 u. 9898.

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zen eingeebnet. Aus diesem Grund ist die explizite Herausstellung der Menschlichkeit Jesu so bedeutsam gerade im Rahmen der Kreuzigungsszene, die sich – im Kontrast zu der aus dem Johannesevangelium übernommenen Charakterisierung eines weltenthobenen Messias – deutlich von jenem Christus triumphans abhebt, wie er besonders aus der bildenden Kunst der Romanik, aber auch zahlreichen diskursiven wie narrativen Schriften des frühen Mittelalters bekannt ist. Kein Vergleich etwa zur Schilderung des Passionsgeschehens der Evangelienharmonie Otfrids von Weißenburg oder im Leben Jesu der Frau Ava und dem bei ihr präsenten Doketismus, die Christus am Kreuz von vornherein unter der Maßgabe des Siegers über den Tod, als Gott im menschlichen Gewand darstellen. Die Hervorhebung der Menschlichkeit Christi ist charakteristisch für das spätere Mittelalter. Das betrifft nicht nur die narrativen Darstellungen, sondern ebenso die Ikonographie und das Geistliche Spiel – überall werden in z.T. drastischem Detailreichtum die Martern und Leiden Christi ausgemalt, „[z]ugleich machen diese Martern aber auch kontrastiv die Unzerstörbarkeit des Körpers Christi und damit dessen Göttlichkeit sichtbar.“93 Christus triumphiert gerade deshalb in seinem Leiden, weil er sich der Menschlichkeit ausliefert und erst dadurch seine Göttlichkeit erweist. Im Passional lässt sich dies noch nicht so eindrücklich beobachten wie beispielsweise in den Passionsspielen des ausgehenden 15. Jahrhunderts. Das Leiden und die Marter Jesu werden weniger narrativ, sondern vor allem in der Kontemplation und den meditativen Einschüben vergegenwärtigt, Jesu Menschlichkeit vor allem auf der Wortebene betont. Drastische Marterbeschreibungen fallen (anders als in den Heiligenlegenden) nur selten auf, so z.B. bei der Schilderung der Geißelung und dem Aufdrücken der Dornenkrone; analog zur Darstellungsweise des Johannesevangeliums ist hier eher noch eine (dem Hochmittelalter eigentümliche) Weltabgewandtheit spürbar. Es gilt vor allem zu zeigen, dass Christus sich widerstandslos in seine Rolle als Erfüller der Heilsgeschichte einfügt, nicht zuletzt deshalb ist der Gehorsam gegenüber dem Vater mehrfach betont. Zudem kommt dem eingangs angesprochenen Moment der Zeugenschaft Bedeutung zu: Der Kreuzestod Christi ist Zeugnis für die Liebe Gottes zu den Menschen, die Märtyrer legen als Nachfolger Christi Zeugnis ab für ihren Glauben. Das Martyrium der Christusnachfolger wird unmittelbar rückbezogen auf das Martyrium am Kreuz, ist somit wahre Christoformitas – und darum wird Christus auch wiederholt ein marterere genannt: Er ist der erste und höchste der Heiligen und Märtyrer, sein Martyrium vorbildhaft für alle, die ihm hierin nachfolgen, so setzt es bereits der Prolog. Diese imitatio Christi ist aber auch, wie sich zeigen wird, narrativ exemplarisch, das Martyrium Christi wird im Passional als narratives Vorbild vorangestellt.

|| 93 Christian KIENING, Christologische Medialität und religiöse Differenz, in: Michael BORGOLTE und Bernd SCHNEIDMÜLLER (Hg.), Hybride Kulturen im mittelalterlichen Europa, Berlin 2010, S. 125–139, hier S. 132.

136 | Exemplarische Heiligkeit: Jesus und Maria im I. Buch des Passionals So kann sich die poetische Konzeption von Heiligkeit bis in die Namensformen und Benennungen hinein erstrecken. Zwischen den Formen Christus und Jesus wird eine Differenz eröffnet, die einen narrativen Spielraum zwischen seiner göttlichen und seiner menschlichen Abstammung eröffnet, welche jedoch nur in der Passionsgeschichte mit ihrer Betonung der menschlichen Leiden wirklich zum Tragen kommt. Ansonsten wird eine solche Unterscheidung durch die quasi synonyme Verwendung bzw. Doppelung der beiden Formen sogleich wieder nivelliert: Die Grenze zwischen Gott und den Menschen wird in Jesus zugleich aufgezeigt und zum Verschwinden gebracht; dieser ‚re-entry‘ schafft auf diese Weise eine Möglichkeit, von der Ununterscheidbarkeit des Heiligen dennoch erzählen zu können.

3.2.8 Lyrik, Liturgie und Performanz Zuletzt soll die Frage nach lyrischen und liturgischen Versatzstücken aufgeworfen werden. Sie beginnt mit der Überlegung, wie das umfangreiche Marienlob zum Abschluss des ersten Buches zu beurteilen ist (I 18013–18904). Es ist als Exzerpt auch in zahlreichen unterschiedlichen handschriftlichen Zusammenhängen überliefert, sollte aber ebenso auch im Rahmen des Gesamtkontextes des Passionals eingeordnet werden. Hier nämlich tritt die Erzählung zugunsten einer beinahe hymnischen Vollzugsform zurück. Im Unterschied zu den vorher besprochenen kontemplativen Einschüben wird jedoch nicht die erzählte Handlung immer wieder zugunsten einer das Geschehen verinnerlichenden compassio unterbrochen, vielmehr wird umgekehrt der Erzählteil des ersten Buches mit einem umfassenden lyrischen Abschnitt zu Ende gebracht, in dessen Mittelteil jedoch umgekehrt narrative Passagen zu finden sind. Dieses Marienlob kann insgesamt in drei Teile gegliedert werden:94 Der erste, umfänglichste Teil ist ein Lobpreis, der in zahlreichen Bildern die heilsgeschichtliche Bedeutung Marias und ihre Verehrungswürdigkeit rühmt. Der Mittelteil (I 18525– 18693) lässt dagegen Maria selbst zu Wort kommen, die ihren Aufstieg durch die Engelschöre beschreibt, während der abschließende dritte Teil in eine invocatio mündet, die Maria um Beistand und Fürbitte für die Menschen bei ihrem Sohn anruft. Die Einbindung lyrischen Sprechens in die Erzählung sorgt dafür, dass die für die Paradigmatik der Narration notwendigen Oppositionen aufgelöst werden: Im lyrischen Sprechen sind Harmonisierungen von Oppositionen möglich, die in der Narration nicht einfach verbunden werden können.95 Ähnlich wie die kontemplativen Einschübe der Passion, die eine Vergegenwärtigung des an sich übermenschli|| 94 Vgl. Werner J. HOFFMANN, [Art.] Passional, in: ML 5, 1993, S. 114–116, hier S. 115. 95 Vgl. für diese Dialektik von Lyrik und Narration konzeptionell Hartmut BLEUMER u. Caroline EMMELIUS, Generische Transgressionen und Interferenzen. Theoretische Konzepte und historische Phänomene zwischen Lyrik und Narrativik, in: Diess. (Hg.), Lyrische Narrationen – Narrative Lyrik. Gattungsinterferenzen in der mittelalterlichen Literatur, Berlin/New York 2011, S. 1–39, bes. S. 15–23.

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chen Leidens Christi für die Menschen, ja eine Vereinigung mit Jesu Leiden ermöglichen, hebt auch das Marienlob die Opposition Mensch – Gott auf, indem die Gedanken ständig darum kreisen, dass Maria an der Seite Christi sitzen kann. Diese extreme Engführung ist, wie auch die vorigen Kapitel immer wieder gezeigt haben, narrativ nur schwer darstellbar, lyrisch hingegen schon (nicht umsonst existieren zahlreiche Formen des Marienlobs, von Hymnen bis hin zu Großformen wie Konrads von Würzburg Goldene Schmiede). Die narrativen Elemente sind daher in Zusammenhang mit lyrischem Sprechen zu sehen: Marias Stellung bei Gott kann nicht als Vorgang erzählt werden, andererseits muss der Vorgang des Dorthin-Gelangens (als Gang durch die verschiedenen Chöre wie durch verschiedene Stufen hin zu Gott) dennoch wiedergegeben werden. Dies geschieht als Teil lyrischen Sprechens, jedoch aus der Perspektive Marias, deren Stellenwert und Bedeutung im ersten Teil deutlich gemacht worden ist und die darum im letzten Teil auch um Hilfe angerufen werden kann. Der Mittelteil aber schafft in seiner Verbindung von Lyrik und Narration genau das, was ansonsten höchst paradox erscheint: Die Verbindung von Gott und Mensch, von Jesus und Maria, die damit erneut zu den herausragendsten Mittlerfiguren werden. Mit herkömmlicher Sprache und Narration kann nur von Maria auf Erden erzählt werden, Erzählungen von ihrem transzendenten Wesen bedürfen lyrischer Formen. Nicht umsonst leitet Maria ihre Rede ausgerechnet mit den Worten ein: si sprach vil wol an einer stat:/ ‚in omnibus requiem quesivi‘ (I 18537f.). Dieses lateinische Zitat ist angelehnt an die lectio des Festes zu Mariä Himmelfahrt. Ihre Rede bzw. ihr Bericht über den Aufstieg durch die Engelschöre schließt damit direkt an das Himmelfahrtsgeschehen an (im Passional zuvor präsentiert, dazwischengeschaltet jedoch die lange Reihe der Marienmirakel)96 und erzeugt damit ebenfalls eine Anbindung an die Erzählung, jedoch über die Vollzugsform von Liturgie und Gottesdienst. Dass solche liturgischen Formen und Formeln jedoch auch für den narrativen Teil insbesondere des ersten Buches eine wesentliche Rolle spielen, fällt nicht nur in Zusammenhang mit Maria auf. Immer wieder inseriert das Passional liturgische Formeln in den Erzählzusammenhang. Das hat zum einen den Grund, dass diese Formeln hier, in der Erzählung von Jesus und Maria, ihre Einsetzung erfahren, ihre Berechtigung im gottesdienstlichen Gebrauch. Dass diese den Rezipienten offenbar sehr vertraut gewesen sein müssen, zeigt nicht zuletzt der Umstand, dass sie vielfach im lateinischen Wortlaut zitiert werden, eine Übertragung in die Volkssprache aber gerade nicht notwendig ist und statt dessen die lateinische Formelhaftigkeit bereits für Wiedererkennung sorgt. Die Einführung der Ave-Maria- und der Magnifikat-Formel ist dabei narrativ eingebunden, beide erhalten somit ihre Berechtigung || 96 Vgl. HOFFMANN, [Art.] Passional, S. 115, der den Beginn der auf Sir. 24, 11 Bezug nehmenden lectio folgendermaßen wiedergibt: In omnibus requiem quaesivi, et in heriditate Domini morabor. Die Ordnung der Engelschöre, die Zuordnung der Menschen zu den einzelnen Chören und die Stellung Marias über allen Chören, wird dann im zweiten Buch im Abschnitt zu Michael und den Engeln (ab II 36915) ausführlich erläutert.

138 | Exemplarische Heiligkeit: Jesus und Maria im I. Buch des Passionals durch das erzählte Geschehen. Ave Maria wird vom Verkündigungsengel nur als Anrede gebraucht, der Rest der Rede erfolgt in Volkssprache und in freier Übertragung. Es ist Elisabeth, die die Formel bei der Begegnung mit der schwangeren Maria dann nochmals in andere Worte fasst: gebenediet saltu wesen, vor allen wiben uz gelesen in voller tugentlicher zucht! gebenediet si di vrucht di din reiner lib treit! (I 1359–1363).

Der Text fährt fort, Maria habe darauf mit vrolichem sinne/ den heiligen magnificat,/ als der dort geschriben stat (I 1366–1368) gesprochen, ohne dass diese Formel, die offenbar als allgemein bekannt vorausgesetzt wird, wiedergegeben wird. Es geht hier also primär darum, diese gottesdienstlichen Vollzugsformen in die historia von Jesus und Maria einzubinden und aus ihr abzuleiten. Das gilt ähnlich auch für die Abendmahlsliturgie: In der Gründonnerstagsszene, die den Auftakt des Passionsgeschehens im Passional bildet, fehlen die Einsetzungsworte des Abendmahls, statt dessen wird die liturgische Bedeutung des Gedächtnismahls für die Rezipienten gleich einleitend verdeutlicht, wenn der Erzähler ausführt, Jesus gab sin vleisch und sin blut under eime schine an brote und an wine, da von wir di messe haben (I 5318–5321).

Die Worte der Messliturgie müssen an dieser Stelle gar nicht wiederholt werden, es reicht ein Hinweis auf die Messe, deren zentraler Bestandteil hier seine Begründung findet. Auffallend anders verfährt die Erzählung dagegen im Rahmen des Pfingstereignisses. Hier legt der Erzähler dar, dass die Apostel im Pfingstgeschehen den Grundstein für die Kirche gelegt hätten – genau darin liegt ja nicht zuletzt das Verständnis der christlichen Kirche, die sich in der Nachfolge der Apostel sieht, mit Petrus als Oberhaupt und erstem Papst. Auf diese Weise wird die große Bedeutung der Apostel erneut entscheidend herausgegriffen.97 Diese herausragende Stellung rechtfertigt es, dass ihnen innerhalb der Gesamtkonzeption des Passionals ein eigenes Buch zusteht: Sie stehen in der direkten Nachfolge Christi, hatten persönlichen Kontakt mit ihm und seiner Heiligkeit und führen sein Werk fort, indem sie jene Kirche institutionalisieren, die selbst die Nachfolgerin Christi ist und unter deren Schirm sich auch der Passionaldichter wie seine Rezipienten als Nachfolger der Apostel und somit Christi bezeichnen können. Nicht zuletzt wenn man sich diese Zusammenhänge vor Augen hält, wird klar, weshalb die hierarchisierte Reihenfolge der Apos-

|| 97 Vgl. schon WILHELM, Legenden, S. 87f.

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telviten des zweiten Buchs ebenfalls einer liturgischen Ordnung folgt (vgl. Kap. 2.3): Diese Hierarchie ist Folge eines kirchlichen Ordnungsverständnisses, das seine Begründung in der hier präsentierten Heilsgeschichte findet. Dieser entscheidende Stellenwert der Apostel als Begründer der Kirche in der Nachfolge Christi drückt sich vor allem in dem ihnen gemeinsam in den Mund gelegten Credo aus: Nach einer neuerlichen Auslegung des Pfingstwunders bezieht der Erzähler die zwölf Apostel als der ecclesien vesten grunt (I 10716) ganz direkt auf das kirchliche Glaubensbekenntnis, da unse geloube credo (I 10718) ebenfalls aus zwölf Teilen bestehe.98 Es folgt eine mhd. Übertragung des Glaubensbekenntnisses, die sich genau an den traditionellen Text der Liturgie hält, wobei jeder der Zwölf einen Abschnitt dieser Formel spricht (vgl. I 10726–10781; die Apostel jeweils im Zitat hervorgehoben, A.H.) Petrus sprach: ‚ich geloube in den alweldigen got, der mit gewaldes gebot geschuf himel und erde‘. Andreas der werde sprach: ‚und in Jesum Crist, der sin einborner sun ist und dem wir sin undertan‘. do sprach Jacob, der gute man […] Mathias wolde ouch sin teil geben: ‚und daz ewige leben. amen, des helfe uns gotes kint.‘ (I 10726ff.).

Auf diese Weise wird nicht nur der Inhalt des Glaubensbekenntnisses, sondern ebenso die liturgische Formel des Credo unmittelbar auf die Apostel selbst zurückgeführt und erhält damit einen zumindest vergleichbaren Stellenwert wie das von Christus im Evangelium persönlich eingesetzte Vaterunser. Darin äußert sich nicht zuletzt das Selbstverständnis einer Kirche, die sich in den Glaubensinhalten, in ihrer rituellen Tradition und in ihrem Amtsverständnis auf die direkten Nachfolger Christi beruft und sich in jedem liturgischen Vollzug immer wieder bestätigend ihrer selbst

|| 98 Die Einfügung lateinischer Ausdrücke wie ecclesia oder credo lässt erneut darauf schließen, dass der Passionaldichter (zumindest an diesen Stellen) zwar mit einem illiteraten, aber durchaus liturgisch geschulten Publikum rechnet. Zur Liturgiegeschichte des Credo vgl. Josef Andreas JUNGMANN, Missarum Sollemnia. Eine genetische Erklärung der römischen Messe, Bd. 1, 51962, S. 591-606. Die Kenntnis nicht nur der liturgischen Formeln, sondern aus der Liturgie bekannter lateinischer Hymnen und Sequenzen kann auch für die Laienbrüder des Deutschen Ordens vorausgesetzt werden, vgl. Anette LÖFFLER, Die Liturgie des Deutschen Ordens in Preußen, in: Zeitschr. f. Ostmitteleuropa-Forschung 47 (1998), S. 371–382, hier bes. S. 372f. Zum Apostelcredo und seinen Quellen vgl. SCHUBERT, Einleitung, S. CCXXIIf.

140 | Exemplarische Heiligkeit: Jesus und Maria im I. Buch des Passionals vergewissert.99 Indem der Passionaldichter diesen Abschnitt dann mit einem Gebet an Christus beschließt, das angesichts des Elends auf der Erde der Hoffnung auf das Himmelreich Ausdruck verleiht und mit den Worten amen, des hilf mir, guter got/ durch diner truwe gebot (I 11097f.) endet, zeigt er die Gültigkeit der kirchlichen Ordnung und ihre Heilskraft für die gegenwärtigen Menschen auf. Ähnlich wie die compassio-Abschnitte in der Passion schafft das Gebet damit einen Gegenwartsbezug des Geschehens für die Rezipienten, die eben darum, weil die Apostel als Nachfolger Christi auf Erden in der Kirche bis heute wirken, auf ihr Heil hoffen können. Eine besondere Häufung liturgischer Formeln findet sich außerdem in einer an sich recht knapp gehaltenen Erzählpassage, nämlich der im Rahmen des Descensus geschilderten Erstürmung der Hölle. Die Inszenierung der Höllenfahrt Christi weist einen derart performativen Charakter auf, dass sie eine gesonderte Betrachtung verdient. Die ganze Szenerie ist bereits sehr dialoglastig, da getreu dem Vorbild der Legenda aurea bzw. des Nikodemusevangeliums sich zunächst die Altväter angesichts des in die Hölle dringenden Lichts nacheinander zu Wort melden und ihre Prophezeiungen zum Kommen des Messias verkünden. Auch das Gespräch zwischen personifizierter Hölle und Satan über den göttlichen oder menschlichen Status Jesu, der die Täuschungstheorie anzitiert, findet sich bereits in der Legenda aurea vorgebildet, verkürzt nach dem Nikodemusevangelium. Das Passional inszeniert diese Szene jedoch wesentlich dramatischer und lebendiger, der ganze Abschnitt besteht fast ausschließlich aus wörtlicher Rede zwischen Satan und Hölle, in der klar wird, dass sich Satan (der sich, abweichend von der Legenda aurea, auch noch rühmt, Jesus mit Judas’ Hilfe ans Kreuz gebracht zu haben) von Jesu menschlichen Schmerzen hat täuschen lassen, denn, so führt die Hölle aus: dem tut er ungeliche./ er wil in dime riche/ dich vahen und betouben (I 9169–9171). Das Verständnis, dass Christus Mensch und Gott zugleich ist, fehlt Satan naturgemäß völlig, dessen Täuschung spätestens dann klar wird, wenn Jesus vor den Höllenpforten blutig und mit offenen Wunden erscheint. Christi Wundmale, Zeichen der Erlösung und des kommenden Triumphes über den Satan, zeichnen ihn zugleich eindeutig auch als Menschen aus. Es ist diese Anschaulichkeit, die zugleich entscheidende theologische Implikationen eröffnet, welche das Passional gegenüber der einfachen Schilderung der Legenda aurea auszeichnet. Die Inszenierung gewinnt zusätzlich an Dynamik, wenn die Teufel in der Hölle, die der luchtende schone blic (I 9227) Jesu zutiefst erschreckt, in eine laute Klage ausbrechen, in der sie zunächst den kommenden Messias beinahe wider Willen preisen, um dann Satan anzuklagen, der mit seinem Handeln die Macht der Hölle preisgegeben habe. Ihren Höhepunkt erreicht die Theatralität der || 99 Die Reihenfolge, in der die Apostel die Credo-Formel einsetzen, entspricht im übrigen exakt der Reihenfolge ihrer Viten im zweiten Buch des Passionals (mit Ausnahme des Paulus, dessen Vita dort – was auch besonders begründet werden muss – ja nach der des Petrus folgt), was die Überlegungen einer liturgischen Begründung der Anordnung des zweiten Buchs nachhaltig unterstützt (s.o., Kap. 2.3).

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Szene jedoch bei der Erstürmung der Höllentore, die dem auch in den Osterspielen bekannten paraliturgischen100 Muster folgt. Wie ein Donnerschlag ist eine Stimme vor der Höllentür zu vernehmen, ein stimme, di sprach schone: „tut uf, ir vursten, uwer tor! der eren kunic ist hi vor. entwichet, ir helle porten!“ (I 9280–9283).

Die Teufel versuchen in Panik, die Höllentore zu verriegeln, während David sich noch einmal zu Wort meldet, da er genau dies prophezeit habe. Da ist die Stimme ein zweites Mal zu hören und befiehlt erneut, die Tore dem eren kunic (I 9306) aufzutun, worauf die Teufel fragen: quis est iste rex glorie (I 9310), und David (gleichfalls auf Latein) antwortet: dominus virtutum (I 9315). Mit diesen Formeln, die vor allem durch die zweimalige Verwendung des Lateinischen hervortreten, wird bekanntlich nicht nur Ps. 24, 7 u. 8 zitiert (auf den der ursprüngliche Aufbau dieser Szene im apokryphen Nikodemusevangelium rekurriert), das zweifache Tollite portas (das hier wiederum in volkssprachiger Übersetzung erscheint) mit der entsprechenden (lateinischen) Gegenfrage ist dem Kirchweihritus entlehnt, womit die Vertreibung des Teufels aus dem zu weihenden Sakralbau betrieben wird.101 Ausgehend hiervon und unter Bezugnahme auf die Darstellung des Nikodemusevangeliums bilden diese Formeln (meist mit einer Trigemination des Tollite portas, nicht wie hier nur einer zweifachen) den zentralen Bestandteil der mittelalterlichen Osterspiele, die im deutschen Sprachraum ab dem 13. Jh. auch in der Volkssprache bezeugt sind. Entwickelt haben sich diese Spiele allerdings aus der lateinischen Messfeier am Ostertag, von der sie neben dieser zentralen Passage auch eine große Anzahl weiterer liturgischer Elemente übernommen haben.102 Die auffällige Theatralisierung gerade dieser Szene im Passional erfährt durch eine ausdrucksvolle Lichtmetaphorik zusätzliche Anschaulichkeit und ersetzt fast vollständig die Narrativierung des Zerbrechens der Höllentore: Cristus mit sulchem liechte quam daz di macht gar benam der ewigen vinstern. sin wunneclichez glinstern

|| 100 Zum Begriff des Paraliturgischen und der Verbindung von Liturgie und geistlichem Spiel in diesem Zusammenhang vgl. Christoph PETERSEN, Ritual und Theater. Meßallegorese, Osterfeier und Osterspiel im Mittelalter, Tübingen 2004, S. 78, Anm. 7. 101 Vgl. Rainer WARNING, Funktion und Struktur. Die Ambivalenzen des geistlichen Spiels, München 1974, S. 70ff. Fast alle Spiele haben allerdings eine dreifache Aufforderung mit entsprechender Gegenfrage; die Dreizahl ist aus der Version B des Nikodemusevangeliums übernommen; WARNING führt nur zwei Spiele auf, die die Aufforderung lediglich einmal wiederholen (ebd., S. 69, Anm. 131). 102 Vgl. dazu die ausführliche Studie von PETERSEN, Ritual und Theater.

142 | Exemplarische Heiligkeit: Jesus und Maria im I. Buch des Passionals an luchtendem blicke durch sluc di vinster dicke, daz si wart an liechte clar. (I 9319–9325)

Das eigentliche Eindringen Christi in die Hölle wird gar nicht erzählt, sondern durch den Kontrast von Licht und Finsternis veranschaulicht. Ein solches Dramatisieren und In-Szene-Setzen ist insofern bemerkenswert, als das Passional ja gerade in die Zeit fällt, in der sich die Osterspiele auch in der Volkssprache präsentieren und sich von der eigentlichen liturgischen Handlung abzulösen beginnen.103 Natürlich ist das Passional auch an dieser Stelle Erzählung und kein Spiel, doch scheinen die zentralen liturgischen Versatzstücke ganz bewusst auf ein Verständnis solcher paraliturgischer Inszenierungen zu rekurrieren. Vor diesem Hintergrund sollte darum nochmals der Stellenwert der Höllenfahrtsszene innerhalb des ersten Passionalbuches hinterfragt werden. In den Spielen nimmt der Descensus unter Bezugnahme auf das apokryphe Nikodemusevangelium mit seinem gnostisch beeinflussten Dualismus einen äußerst breiten Raum ein und rückt an die Stelle der neutestamentlichen Verkündigung der Auferstehung. Die Osterspiele wenden sich damit gegen eine auf das Ende der Welt gerichtete Heilsgeschichte und setzen stattdessen eine ereignishafte Gegenwärtigkeit, die das heilsgeschichtliche Ende vorverlegt. Besonders aber bewahren sie mit dem Descensus jenen Dualismus, den die Theologie mit dem Traktat Cur deus homo Anselms von Canterbury schon längst abgelegt zu haben glaubte: Die eigentliche heilsgeschichtliche Bedeutung kommt in der Konzeption der Osterspiele dem Sieg Gottes gegen die Mächte der Hölle zu, deren Niederlage ausdrücklich als Täuschung Satans über die wahre Gestalt Jesu inszeniert wird. Auf diese Weise ignorieren die Spiele Anselms Satisfaktionslehre und halten stattdessen weiterhin an der Redemptionstheorie und ihrem Doketismus fest.104 Die Besonderheit der Spiele besteht darin, dass sie die Auferweckung vorziehen, nicht aber jene dieses Ereignis bezeugende Szenen am leeren Grab (die drei Marien, die Jünger etc.), so dass der bereits Auferstandene die Hölle stürmt. Durch den Bezug zur Liturgie, die neben den erwähnten Bestandteilen des Kirchweihritus (tollite portas – quis est iste rex gloriae) immer wieder im Zitieren der Antiphone der lateinischen Osterfeier anklingt, schiebt sich die Entlastungsfunktion eines dualistischen Exorzismus in den Vordergrund und verdrängt das Kerygma der Auferstehung der in den Spielen erst anschließend in Szene gesetzten Visitatio Sepulchri.105 || 103 Vgl. QUAST, Vom Kult zur Kunst, S. 119–124. QUAST betont zudem die besondere Qualität von zugleich lateinischer und (in ihrer Übersetzung) volkssprachiger Präsentation des rituellen Textes für das Osterspiel: „Die Duplizität des rituellen Textes, die Reprise in der Volkssprache, bekundet eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: das Noch und Nichtmehr einer rituellen Repräsentationsform des geistlichen Spiels“ (ebd., S. 110). 104 Vgl. ebd., S. 121. 105 Vgl. WARNING, Funktion, S. 60f., der im Descensus damit die Kardinalfunktion der Spiele sieht, welche diesen gegenüber der liturgischen Feier der Visitatio Sepulchri einen „heterogene[n] Charak-

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Formal gesehen geht das Passional genauso vor, anders als in den Osterspielen ist dort jedoch nicht allein die Auferstehung Christi, sondern ebenfalls, und zwar in aller Eindrücklichkeit, die Visitatio-Szene am leeren Grab vor der Höllenfahrt inszeniert, der dadurch ein ganz anderer Stellenwert zugeschrieben wird. Der Schwerpunkt liegt hier eindeutig auf dem Zeugniswert des leeren Grabes, der anders als im Osterspiel durch die Voranstellung gerade nicht funktionslos wird,106 sondern dem im Gegenteil die zentrale Gewichtung der Beglaubigung zukommt, die ja auch sonst die eigentliche Funktion des Legendenerzählens ist: Die Heilstaten Christi durch die Heiligen zu beglaubigen und zu bezeugen. Im Passional wird zwar ebenfalls an einigen wenigen Stellen auf die Täuschungstheorie angespielt, diese bleibt jedoch ihrerseits narrativ funktionslos. Der Passionaldichter unterbricht für den Descensus bewusst die von ihm eigentlich geschätzte Chronologie der Ereignisse (des wil ich uch nicht verdagen,/ idoch wil ich zum ersten sagen,/ wi Cristus sich bewisete; I 8287–8289) und stellt damit in Übereinstimmung mit den kanonischen Evangelien das heilsgeschichtlich relevante Ereignis voran. Das liturgisch-rituelle Substrat, das in der Höllenfahrtszene anzitiert wird, erzeugt zwar gerade durch ihre Theatralität wie in den Osterspielen jene ereignishafte Gegenwärtigkeit, hält aber am Kerygma der Auferstehung fest, das als das entscheidende heilsgeschichtliche Ereignis inszeniert wird. Der Descensus kann somit nur erzählt werden, weil zuvor die Passion und die Auferstehung erzählt und bezeugt worden sind. Diese Schwerpunktsetzung zeigt sich nicht zuletzt in der bildhaften Inszenierung der Befreiung der Seelen aus der Hölle: Jesus der losere, der in zu troste was gesant, sin durch stochene hant racte kein Adame hin und ergreif mit vreuden in (I 9352–9356).

Hier wird die tatsächliche heilsgeschichtliche Dimension der christlichen Erlösung deutlich: Nicht die Täuschung Satans, sondern die Wundmale Christi sind es, die || ter“ verleihe: „Denn indem das Spiel die in der Surrexit-Kündigung manifeste Ereignishaftigkeit der Feier geschehnishaft ausweitet, setzt es unmittelbar ins Bild, was jene nur bezeugt: Das Auferstehungsmysterium selbst“ (S. 60). Auch die frühe Bibelepik bewahrt solch dualistische Vorstellungen, besitzt allerdings auch einen geringeren zeitlichen Abstand zu Anselms Lehre; zu nennen wäre beispielsweise die an die Wiener Genesis angelehnte Höllenfahrtsbeschreibung im Leben Jesu der Frau Ava; dort fehlt zwar die Trigemination des Tollite portas, während das ebenfalls für die Osterliturgie charakteristische Advenisti desiderabilis anzitiert wird. Vgl. Die Dichtungen der Frau Ava. Das Leben Jesu, hg. v. Friedrich MAURER, Tübingen 1966, Str. 160–162. 106 Vgl. WARNING, Funktion, S. 60. Zu beachten ist außerdem der narrative Status des Legendars im Gegensatz zur theatralen Inszenierung der Spiele: Im Passional wird die Erstürmung der Hölle zwar vor der Auferstehung, aber als Bericht der beiden Zeugen Carinus und Leucius gewissermaßen rückblickend erzählt.

144 | Exemplarische Heiligkeit: Jesus und Maria im I. Buch des Passionals Adam aus der Hölle führen. Die blutigen Hände Christi werden bereits bei seinem Erscheinen vor dem Höllentor in den Vordergrund gerückt (s.o.), und zwar ausgerechnet aus der Sicht des höllischen Personals. Die Teufel nämlich sehen, wie der eren kunic, der gute,/ berunnen quam mit blute/ und mit offenen wunden (I 9221–9223). Diese explizite Herausstellung der Wundmale beim Eindringen in die Hölle und dem Herausführen der Seelen ins Paradies lässt keinen Zweifel, dass das Passional die wahre Heilstat Jesu in seiner Passion sieht. Indem der Tod Christi am Kreuz als die eigentlich heilswirksame Tat in Szene gesetzt ist, erzeugt die anzitierte Täuschung Satans zwar ähnlich wie in liturgischer Feier und geistlichem Spiel eine gewisse Gegenwärtigkeit der Ereignisse für die Rezipienten, besitzt jedoch gerade keine relevante heilsgeschichtliche Bedeutung. Nicht nur die Stellung des Descensus, eingeschoben zwischen Auferstehung und Himmelfahrt, sondern auch der Stellenwert dieser vergleichsweise kurz gehaltenen Passage (die innerhalb des Abschnittes von der Auferstehung Christi auch keine gesonderte Zwischenüberschrift erhält) gegenüber der breit ausgestalteten Passion offenbart also das eigentliche kerygmatische Zentrum in der Inszenierung des Passionals. Die Inserate liturgischer Formeln und der damit einhergehende performative Gegenwartsbezug für die Rezipienten scheint gerade für das erste Buch des Passionals ein charakteristisches Merkmal zu sein, die Heilsdimension des erzählten Geschehens immer wieder zu vergegenwärtigen. Blickt man noch einmal auf die Legenda aurea, so fällt bei der Anlage des Passionals erneut auf, dass dort nur wenig exegetisch-didaktische, jedoch verstärkt predigthafte Abschnitte und Gebete die erzählenden Passagen ergänzen. Statt dessen bestimmt, wie bereits angemerkt (vgl. Kap. 2.1.2) ein anderes signifikantes Element die einzelnen Legenden (insbesondere des zweiten und dritten Buches): Am Ende jeder Erzählung folgt stets eine Art Schlussgebet, jede Legende wird mit einer expliziten invocatio an den jeweiligen Heiligen beschlossen, die (anders als später z.B. in dem Legendar Der Heiligen Leben) durchaus nicht formelhaft ist, sondern oft individuell auf den jeweiligen Heiligen und seine Vita bezogen. Die einzelnen Abschnitte des ersten Buches sind zwar in sich geschlossene Erzähleinheiten, die Konzeption als quasi fortlaufende Erzählung verhindert jedoch, jeden dieser Abschnitte ebenfalls mit einer invocatio zu beenden. Zum Abschluss des Pfingstgeschehens und vor allem am Ende des Marienlobes stehen derartige Gebete daher in entsprechend herausgehobener Position. Innerhalb der einzelnen Abschnitte des ersten Buchs finden sich jedoch bisweilen (wenn auch selten) lateinische Formeln inseriert, die einen ähnlichen Zweck zu erfüllen scheinen, und zwar in den beiden Himmelfahrtserzählungen. Wenn Christus Maria vor ihrem Tod erscheint und ihr die Aufnahme in den Himmel verspricht, singen die ihn begleitenden Engel hec est que nescivit/ thorum in delicto (I 11950f.; vgl. LA 115, 51). Dabei handelt es sich um ein auf Weish. 3, 12 zurückgehendes Zitat eines gregorianischen Antiphons, und zwar eines der bedeutendsten Marienanti-

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phone zum Vespergebet zu Ps. 121 am Festtag von Mariae Himmelfahrt.107 In der Erzählung von Christi Himmelfahrt werden (nach der Vorlage der Legenda aurea und unter Bezugnahme auf Jes. 63, 1–6, ein Prophetenwort, das im Mittelalter stets auf die Kreuzigung Christi bezogen worden ist) in einem Dialog mit den ihn erwartenden Engeln im Himmel nochmals Jesu Heilstaten, insbesondere der Tod am Kreuz, aufgeführt. In explizitem Bezug auf Jesaja und damit zugleich die im Prolog herangezogene Kleidermetaphorik aufgreifend fragen die Engel: quis est iste, qui venit de Edom,/ tinctis vestibus de Bosra? (I 9726f.); eine relativ genaue Wiedergabe des Vulgatatextes, den der Erzähler dann noch paraphrasierend erläutert. Jesu Antwort ist, ebenfalls in Übereinstimmung mit der Vulgata, etwas später torcular calcavi solus (I 9752). Auch hier handelt es sich nicht einfach um eine Übernahme des Bibeltextes, dieser findet sich vielmehr ebenfalls in liturgischem Kontext wieder.108 Das Anzitieren solcher (offenbar zumindest für einen Teil des Publikums als bekannt vorausgesetzter) liturgischer Sequenzen erzeugt wie die Credo-Formel und ebenso die kontemplativen Einschübe eine besondere Form der Unmittelbarkeit. Die erzählte Handlung erweist sich (besonders natürlich in Bezug auf die zentralen Bestandteile des Gottesdienstes) als unmittelbar wirksam in der Gegenwart der Rezipienten, die gerade über die liturgischen Vollzugsformen (insbesondere dem Messopfer) eine Partizipation an dem heilsgeschichtlichen Geschehen der Vergangenheit erwirken. Die Inserate lyrischen Sprechens wiederum dienen ebenfalls der Inszenierung von Heiligkeit, wie es insbesondere im ausdrucksvollen Marienlob deutlich wird. Die Heiligkeit Marias an der Seite Christi im Himmel kann nicht mehr narrativ dargestellt werden, an deren Stelle treten nun hymnische Formen, Heiligkeit entzieht sich hier vollends der Verlaufsform eines Erzählprozesses. Während vom Himmel also gerade nicht mehr erzählt werden kann, ist die Erstürmung der Hölle dagegen umso theatraler inszeniert: Die auch aus den Osterspielen bekannte Einsetzung liturgischer Versatzstücke sorgt neben anderen Formen der Theatralität für eine große Unmittelbarkeit des Erzählgeschehens, so dass das christliche Erlösungswerk von den Rezipienten vergegenwärtigt werden kann; die Theatralität des Descensus bildet damit gewissermaßen einen Gegenpol zur kontemplativen Verinnerlichung des Passionsgeschehens.

|| 107 Vgl. STROPPEL, Liturgie, S. 185. 108 Genannt sei u.a. ein Antiphon zum Hochfest der Kreuzeserhebung (In Exaltatione s. Crucis; 11. Jh.), vgl. AH 50, Nr. 277. In den Prosen der einflussreichen Abtei St. Martial findet sich (im Prosa Dominicalis, 10. Jh.) ebenfalls dieser Vers wieder, vgl. AH 7, Nr. 249. Für weitere Belege (z.T. freilich erst in später Überlieferung) vgl. auch AH 48, Nr. 175 u. 262; AH 64, Nr. 603; AH 5, Nr. 29; AH 9, Nr. 103; AH 13, Nr.1.

146 | Exemplarische Heiligkeit: Jesus und Maria im I. Buch des Passionals

3.2.9 Zusammenfassung: Die poetische Konzeption von Heiligkeit im ersten Buch Die poetische Konzeption von Heiligkeit wird im ersten Buch des Passionals an Jesus und Maria geradezu prototypisch vorgeführt. Beide sind gleichermaßen imitatioFiguren; ihre Lebensbeschreibungen (von denen allerdings nur die entscheidenden Stationen präsentiert werden: Geburt und Kindheit, Tod und Auferstehung, Himmelfahrt) bieten in der Konzeption des Passionals narrative Imitabile für die Inszenierung von Heiligkeit in den nachfolgenden Legenden des zweiten und dritten Buchs, die ja erklärtermaßen die Geschichten der Nachfolger Jesu vorführen. Diese Inszenierung von Heiligkeit umfasst dabei sowohl die Makro- als auch die Mikroebenen der Erzählung: Finale Handlungsstrukturen prägen die einzelnen Erzählstränge, die von Beginn an auf ihr heilsgeschichtliches Ziel hin angelegt sind; das entscheidende Heilsereignis des Christentums, Kreuzigung und Auferstehung Jesu, steht nicht umsonst im Zentrum des ersten Buches. Das bildet sich auch in der Gesamtstruktur dieses Buches ab, das auf die Kindheitsgeschichte Jesu unmittelbar dessen Passion und Kreuzigung folgen lässt. In den Kindheitsgeschichten Jesu und der Flucht nach Ägypten, wo das (eigentlich noch viel zu junge) Jesuskind immer wieder bereits in der Rolle des göttlichen Wundertäters und Erlösers gezeigt wird, ist dies ebenso deutlich wie innerhalb der Passionsdarstellung, die in ihrer Evangelienharmonie Christus als bereits göttlich erhabenen Leidenskönig zeichnet, dessen letzten Worte am Kreuz eben jene heilsgeschichtliche Erfüllung ausdrücken. Bestätigung erlangt die heilsgeschichtliche Bedeutung des Erzählten nicht nur durch das Geflecht aus Prophezeiungen und Typologien, das sich bei der Geburt und insbesondere bei der Darbringung Jesu im Tempel zeigt, wobei Simeons Vorhersagen des Kreuzestodes ergänzt werden durch die Schilderung der Ereignisse während der Höllenfahrt ausgerechnet durch seine Söhne, die den Kreis von Voraussage und Bestätigung auch genealogisch schließen. Ebenso erweist sich dies jedoch in der Reihe der Gegner Christi und des Christentums, in Judas, Pilatus und Herodes: Alle drei Negativfiguren arbeiten auf den Tod Jesu hin und erfüllen gerade in diesem Bestreben die entscheidenden Voraussetzungen zur Erfüllung der Heilsgeschichte: Oberflächlich kausale Motivationen erweisen sich als eigentlich finale, heilsgeschichtliche Erzählkonstruktionen. Das Passional lässt darum auch alle drei Figuren ausgerechnet an der Konvergenz der heilsgeschichtlichen Zusammenhänge, der Passion Christi, an eben diesem Ort sich versammeln: Judas, Pilatus und Herodes werden in der Passionsgeschichte, aber auch im Rahmen ihrer Viten in Jerusalem zusammengeführt. Heiligkeit manifestiert sich innerhalb solcher Erzählstrukturen in Symmetrien und Oppositionen, aber ebenso in der Auflösung solcher Oppositionen und Differenzen: Das Heilige als jenseits aller Unterschiede Stehendes lässt diese geradezu kollabieren. Besonders die Darstellung des Lebens Marias, deren Heiligkeit vor allem in ihrer Auserwähltheit als Gottesmutter zu sehen ist, ist an die Darstellungskonventionen der Beschreibungen Christi gekoppelt. Symmetrien zwischen Jesus

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und Maria ergeben sich schon bei der Schilderung der Geburt und ihrer Ankündigung: Wie Maria durch den Engel Gabriel von dem auserwählten Kind erfährt, das sie bekommen soll, erfährt Joachim von einem Engel die Geburt seiner Tochter und künftigen Gottesmutter – die Parallelen reichen hier bis auf die Ebene der Beschreibungen. Noch wesentlich stärker sind die Symmetrien bei Tod und Himmelfahrt Marias gestaltet, wo direkt Bezug auf Begräbnis und Auferstehung Christi genommen wird (das unbenutzte Felsengrab, die einzig zurückbleibenden Kleider etc.). Die narrative Engführung zu Tod, Auferstehung und Himmelfahrt ist überdeutlich. Parallel auch die Ankündigung des Todes Marias, die in Symmetrie zur Verkündigungsszene mit dem marianischen Gruß durch einen Engel eingeleitet wird und die besondere Auserwähltheit Marias als Himmelskönigin betont. Der Passionaldichter hat diese Symmetrien zu großen Teilen bereits in der apokryphen Erzähltradition vorgefunden, forciert, verstärkt und ergänzt sie jedoch bis hin zu direkt parallelen Darstellungen und Formulierungen. Auffallend ist, dass der Text immer wieder neue Unterscheidungen eröffnet, um andernorts Unterschiede wiederum einzuebnen. Die Setzung von Differenzen (Mensch – Gott, Jesus – Christus, Maria – Jesus, aber auch Satan – Infernus, vgl. 3.2.8) evoziert einen ‚re-entry‘, der Spielräume des Erzählens ermöglicht, um die Grenzen zwischen Immanenz und Transzendenz, zwischen Mensch und Gott immer wieder neu zu verhandeln. Erzählen vom Heiligen erfordert Strategien, Ununterscheidbarkeit zu beschreiben und zugleich an den so geschaffenen Unterschieden zu arbeiten, sie in Spannung zu bringen oder aufzulösen. Christus als Mensch und Gott, aber auch Maria als jungfräuliche Mutter sind dabei höchst ambige Figuren, die die so gesetzten Grenzen und Unterschiede immer wieder überschreiten und damit das transgressive ‚Sowohl – als auch‘ von Heiligkeit ein ums andere Mal bestätigen. Im Gegensatz zur Heiligkeit Christi, dessen imitatio-Funktion für künftige Heiliger vor allem im Kreuzestod liegt, gründet sich die Vorbildhaftigkeit Marias nach der Darstellung des Passionals besonders in ihrer Keuschheit. Virginität, die in der Erzählung mehrfach überdeterminiert ist, stellt im Vergleich zum Martyrium damit einen alternativen Weg zur Heiligkeit dar: Kann sich letztere auf die Exemplarizität der Leiden Christi berufen, so gründet erstere auf einer imitatio der Jungfräulichkeit Marias. Beide stehen freilich nicht in direkter Opposition zueinander, sondern in gewissermaßen komplementärer Verschränkung. Es zeigt sich, dass der Rolle Marias im Passional eine außerordentliche Bedeutung zugesprochen wird, die an die ihres göttlichen Sohnes heranreicht, ja fast schon darüber hinaus. Unklar muss zwar bleiben, ob sich hierin die außerordentliche Marienverehrung des Deutschen Ordens widerspiegelt, doch erhalten die konzeptionellen Erwägungen zusätzliches Gewicht durch die außerordentlich zahlreichen Marienmirakel, die sich an die Erzählung von Tod und Himmelfahrt Marias anschließen und zusammen mit dem ausführlichen Marienlob etwa ein Drittel des Gesamtumfanges dieses ersten Buches ausmachen.

148 | Exemplarische Heiligkeit: Jesus und Maria im I. Buch des Passionals Die Heiligkeit Marias, die selbst als imitatio-Figur gelten darf, ist damit in erster Linie ausgerichtet an der Heiligkeit Christi: Wie von Christus erzählt wird, so muss auch von Maria erzählt werden, ihre Heiligkeit gleicht sich der seinen an. Dies zeigt sich nicht nur an der so überdeutlich präsentierten Angleichung Marias an Jesus, die Einebnung von Differenzen wird besonders deutlich an Christus selbst, der sowohl Mensch als auch Gott zugleich ist. Diese Überblendung wird im Passional auf ganz verschiedene Weise inszeniert: In Verkündigung und Geburt als zentrales Mysterium des Christentums, das jedoch nicht (wie es die apokryphen Berichte bieten) die Göttlichkeit Christi etwa durch eine Lichtgeburt in den Vordergrund stellt, sondern überwiegend anhand typologischer Verweisstrukturen. In Jesu Heiligkeit kollabieren daneben Unterschiede auch in der Passionsdarstellung: Nicht nur, dass seine menschlichen Leiden mit dem göttlichen Stellenwert kontrastiert werden, hier wird besonders Jesu Vermittlerposition zwischen Immanenz und Transzendenz deutlich. Erzählt wird dies nicht zuletzt an der Figur des Schächers, der mit den gleichen Wundmalen wie Christus ge- und bezeichnet Eingang ins Paradies findet. Die Zeichen der Erlösung werden in der Erzählung von ihnen direkt zur Erlösung, die Differenz zwischen Zeichen und Bezeichnetem ist in der christlichen Erlösungstat aufgehoben. Ohnehin stellt das Passional Christus als Vorbild sowohl des roten als auch des weißen Martyriums dar: Sein Kreuzestod lässt ihn bei der Himmelfahrt das rote Gewand der Märtyrer tragen, seine jungfräuliche Geburt zugleich das weiße der Keuschen. Auch hier sind Differenzen zum Verschwinden gebracht worden, eingeebnet im didaktisierenden Gespräch der beiden Engelsscharen, die die Himmelfahrt begleiten. In der Erzählung vom Tod Marias findet sich zudem in kühner Weise eine Aufhebung der Geschlechterdifferenz: Die Virginität Marias, herausragendste Qualität ihrer Heiligkeit und die exemplarische Größe ihrer Vorbildhaftigkeit, wird übertragen auf den Lieblingsjünger Jesu, Johannes. Indem dieser selbst als Jungfrau qualifiziert wird, überträgt sich nicht nur die marianische Tugend der Keuschheit auf diesen selbst, sondern er erlangt (zumindest in der Schilderung des Passionals) gar eine Wesensgleichheit mit ihr, bei der die Unterschiede der Geschlechter nicht mehr zu bestehen scheinen. Somit vervielfältigt sich Heiligkeit geradezu: Die Symmetrien zwischen Jesus und Maria, die sich auf der paradigmatischen Ebene zeigen, setzen sich in einer Symmetrie und Wesensgleichheit von Johannes und Maria fort. Gleichermaßen erfasst die poetologische Konzeption von Heiligkeit auch die Mikrostrukturen der Erzählung. Das beginnt bei den äußeren Beschreibungen: Auffallend ist die ständige Betonung genealogischer Zusammenhänge bei der Geburt Marias; Zusammenhänge, die vor allem für die nächste Generation in Jesus Bedeutung erlangen. Betont wird vor allem die Abkunft von David und damit aus königlichem Geschlecht, diese ist jedoch an der mütterlichen Seite ausgerichtet, da in ihr Maria als Mutter Gottes und künftige Himmelskönigin erfasst werden soll; durch die jungfräuliche Empfängnis ist die patrilineare Genealogie, die ja für das mittelalterliche Denken die eigentlich wichtige ist, kaum bedeutsam. Diese Konstellation sorgt da-

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für, dass das Geschlecht Marias in den Vordergrund rückt, da es allein die menschliche Abstammung Christi repräsentiert. Daraus wird eine über mehrere Generationen übergreifende Heilige Familie konstruiert, deren Mitglieder in der Generation Christi unmittelbar an dessen Heiligkeit partizipieren (fast die Hälfte der Apostel ist dadurch direkt mit Jesus verwandt). Einher mit dieser Vorstellung von Heiligkeit als genealogischem Prinzip geht eine weitere Denkform, die für das Mittelalter, insbesondere aber wohl für das Passional und seine Rezipienten charakteristisch zu sein scheint: Die Nobilitierung Marias. Damit wird die Gottesmutter in eine adelige Königsgenealogie eingepasst, deren Auserwähltheit auf diese Weise dem kulturellen Denken einer mittelalterlichen Adelskultur besonders einsichtig gewesen ist, für die genealogische Vorzüglichkeit und adelige Abstammung stets Grundvoraussetzungen herausgehobener Exemplarizität waren – eine Vorbildhaftigkeit, die sich gleichermaßen auf ritterliche wie heilige Tugenden beziehen ließe. So kann es auch nicht verwundern, dass das Passional für zahlreiche seiner Heiligen des dritten Buches ebenfalls die hohe Abkunft in auffälliger Weise betont: Adel ist ein besonderes Merkmal ihrer Heiligkeit. Auf der Ebene des Erzählens charakterisieren weitere Eigenarten die Inszenierung von Heiligkeit im ersten Buch: Besonders auffallend ist jene Eigentümlichkeit der Passionsdarstellung, entgegen der ansonsten durchaus drastisch ausfallenden Martyriumsschilderungen des zweiten und dritten Buches die Darstellung des am Kreuze leidenden Christus auszulagern in Passagen der compassio, welche den Rezipienten zum Nachvollzug der Leiden auffordern. Diese meditativen Abschnitte reflektieren nicht nur das Geschehen am Kreuz, sie intensivieren und verinnerlichen das Erzählte, ja sie ersetzen streckenweise sogar die eigentliche Handlung. Bei dem ans Kreuz geschlagenen Christus angelangt fallen schließlich narratio und compassio zusammen, Christus wendet sich zuletzt selbst an den Erzähler und damit an alle Rezipienten; der Erzähler führt mit ihm wie mit Maria Zwiegespräche, in denen sich Erzähler- und Figurenrede mehrfach überlagern. Gerade indem Jesus am Kreuz selbst zur compassio seiner eigenen Leiden aufruft, wird eine größtmögliche Unmittelbarkeit hergestellt, welche den Rezipienten direkt ins Geschehen mit hinein nimmt. Die darin hergestellte Verbindung von Liebe und Passion nimmt dabei das Konzept einer memoria passionis auf, das sich bereits in der Mystik des Bernhard von Clairvaux findet und macht die Passionsdarstellung des Passionals damit zu einem frühen Zeugnis mystischer Verinnerlichung in der Volkssprache, eingebettet allerdings in einen umfassenden Erzählrahmen. Ebenfalls eine größere Unmittelbarkeit und Einbindung der Rezipienten ins Handlungsgeschehen wird durch die Inserate liturgischer Formeln erzielt. Deren Einführung in der Erzählung stellt nicht allein eine narrative Erklärung ihrer Herkunft dar, vielmehr wird ja im gottesdienstlichen Vollzug der Liturgie das darauf bezogene heilsgeschichtliche Geschehen vergegenwärtigt, ja in der Wandlung beim Abendmahl werden die Ereignisse förmlich reaktualisiert. Die Erzählungen geben daher nicht allein deren Begründung (und zwar im Wortsinne: Be-Gründung), sie

150 | Exemplarische Heiligkeit: Jesus und Maria im I. Buch des Passionals wiederholen sie bisweilen selbst und lassen sie damit zum Bestandteil der Erzählung werden. Nicht zuletzt die Herleitung der Credo-Formel durch die Apostel weist auf das Amtsverständnis der mittelalterlichen Kirche hin, das sich auf die Apostel als direkte Nachfolger Christi beruft. Wie die kontemplativen Einschübe der Passion schaffen auch die Gebete einen Gegenwartsbezug der erzählten Handlung für die Rezipienten, da in ihnen die Heilswirksamkeit des Geschehens weiterhin präsent gehalten wird. Zuletzt ist auch die Wortebene selbst als Inszenierungsform von Heiligkeit zu betrachten. Während Jesus im ersten Buch durchgehend sowohl mit Christus als auch Jesus angesprochen wird und beide Benennungen offenbar weitgehend synonym gebraucht werden, findet sich in der Schilderung der Passion eine auffällige Häufung der Namensform Jesus, wohingegen Christus selten, und auch dann nur innerhalb jener Passagen der meditatio verwendet wird. Offensichtlich wird im Passional zumindest im Kontext der Passion mit dem Namen Jesus besonders die menschliche Seite, mit dem Titel Christus dagegen vorwiegend dessen göttliche, transzendente betont. Die einzelnen Komponenten wären demnach Spiegel seiner gottmenschlichen Natur, wobei innerhalb der Passionsszene die menschliche Seite des Leidens im Vordergrund steht. Demgegenüber ist bei der Schilderung der Auferstehung und der Höllenfahrt überwiegend von Christus die Rede, Jesus hingegen nur an wenigen Stellen, und zwar ausgerechnet solchen, die seine menschlichen Attribute betonen (bei Maria von Magdala, die den Leichnam im Grab sucht, bei Satan, der unmittelbar vor der Höllenerstürmung die Menschlichkeit Jesu betont und dessen Göttlichkeit verkennt). Neben den Namensformen sind aber auch die jeweiligen Benennungen, die mit Christus verbunden sind, sprachliche Ausdrucksform seiner Heiligkeit: So wird er bei der Erstürmung der Hölle mit zahlreichen ritterlichen und höfisch-tugendhaften Epitheta belegt, die mit den pejorativen Bezeichnungen der Teufel kontrastieren. Denkt man erneut an ein Publikum aus einem laikal-ritterlichen Kontext, so dürften derartige Charakteristika die heilsgeschichtliche Bedeutung Christi auf eine sprachliche Ausdrucksform bringen, mit der dieses wohl vertraut gewesen ist und die es daher umso deutlicher zu bewerten verstand. Noch auffälliger ist in dieser Hinsicht freilich die wiederholte Bezeichnung Christi als merterere im Rahmen der Passion, die ohnehin beinahe stereotyp als marter bezeichnet wird: Christus als ImitatioFigur wird mit den späteren Märtyrern, die ihm nachfolgen, enggeführt. Die Betonung der Menschlichkeit Jesu und die Vorbildhaftigkeit seiner Leiden und Martern für künftige Heilige, die hier zutage tritt, ist charakteristisch für das späte Mittelalter. Es stellt das Motiv der Zeugenschaft in den Mittelpunkt, die als wahre imitatio Christi die Nachfolge des Martyriums am Kreuz erkennt. Finale, auf ein heilsgeschichtliches Ziel ausgerichtete Handlungsmuster sowie die parallele bzw. komplementäre Gestaltung der Jesus- und Marienleben kennzeichnen die strukturellen Gegebenheiten der Erzählungen von Jesus, dem Heiligen schlechthin, und (daran ausgerichtet) Maria. Heiligkeit präsentiert sich oberfläch-

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lich als genealogisches System einer Heiligen Sippe, deren Nobilitas für ein Adelspublikum des Mittelalters beinahe selbstverständlicher Bestandteil des kulturellen Denkens war. Dieses Publikum, die Rezipienten der Erzählungen, wird jedoch immer wieder auch direkt in die erzählte Handlung förmlich mit hinein genommen: Christus als Märtyrer führt vor, was die Heiligen des zweiten und dritten Buches in imitatione erfüllen, um an seiner Heiligkeit teilhaben zu können; in vergleichbarer Weise ist auch Maria besonders in ihrer Keuschheit Imitatio-Figur, wobei die imitatio wie gesehen auch die Ebene des Erzählens betrifft, wie ja überhaupt alle Erzählungen von künftigen Heiligen an den exemplarischen Narrativen von Jesus und Maria ausgerichtet sind. Für die Rezipienten vergegenwärtigt sich darin die Heiligkeit Jesu immer aufs Neue, doch die Vergegenwärtigung geht für sie im ersten Buch noch weiter: Die meditativen Einschübe der compassio lassen sie die Leiden Christi am Kreuz selbst vergegenwärtigen und verinnerlichen, rufen zur Nachfolge wenn schon nicht direkt, so wenigstens im inneren ‚Nachvollzug des Herzens‘ auf. Gleichermaßen schaffen auch die Inserate liturgischer Formeln einen Gegenwartsbezug, in dem die heilsgeschichtliche Vergangenheit wieder und wieder reaktualisiert werden kann. Auch diese liturgischen Handlungen stehen in der Nachfolge Christi und sind von ihm eingesetzt; um nochmals mit André Jolles zu sprechen: In dieser Weise können die höchsten Handlungen und Personen des Christentums begriffen werden, ohne daß damit ihre religiöse Bedeutung ganz erschöpft wird, das Meßopfer, Maria und Jesus selbst. Jesus bedeutet gewiß noch anderes, aber er ist auch der ‚höchste Heilige‘, dessen aemuli ihrerseits wieder die anderen Heiligen sind.109

Christus ähnlich werden: Das ist gleichsam das Programm der im Anschluss an das erste Buch dargelegten Legenden, das ist es, was alle Heiligen auszeichnet, die sich als Nachfolger Christi verstehen. Wie dies geschehen kann, erzählen das zweite und dritte Buch des Passionals, worauf dies gründet, bereitet das erste Buch vor. Christus erscheint als Vorbild aller Heiligen, die Erzählung von ihm als Vorbild aller weiteren Erzählungen. Das gilt nicht zuletzt für die narrativen Strategien, die Heiligkeit Christi zu erfassen, die bei der Darstellung der Heiligen als seine Nachfolger ebenso zu beachten sein werden.

|| 109 JOLLES, Einfache Formen, S. 37f.

4 Heiligkeit als imitatio Christi: Das „Buch der Boten“ Dass gegenüber den übrigen Heiligen gerade die Lebensbeschreibungen der Apostel, die als direkte Nachfolger Christi verstanden werden, in außerordentlicher Wiese an einer narrativen Umsetzung der imitatio Christi ausgerichtet sind, liegt auf der Hand. Für die Inszenierung von Heiligkeit sind daher die Apostel schon aufgrund ihrer direkten Beziehung zu Christus stets unter gesonderten Bedingungen zu betrachten, die das Passional nicht umsonst in einem eigenen Buch abhandelt. Als Nachfolger der ‚ersten Stunde‘, die ihren Nachfolgeauftrag direkt von Christus persönlich erhalten haben, kommt ihnen ein besonderer Stellenwert zu, den es auch in seiner narrativen Ausprägung zu erfassen gilt. Nach der Exposition des Lebens und Sterbens von Jesus und Maria im ersten Buch des Passionals werden im zweiten, dem aposteln buch (so die Überschrift des Prologs in Hss. BCD) bzw. dem ‚Buch der Boten‘ (vgl. V. 18974f.) die Viten der zwölf Apostel einschließlich Paulus, der Evangelisten Lukas und Markus (Matthäus und Johannes werden ja direkt mit den entsprechenden Aposteln identifiziert), Johannes d. Täufer und den Engeln, v.a. Michael, sowie Maria Magdalena dargelegt. Es handelt sich somit um jene Heilige, die in direktem Kontakt zu Jesus gestanden haben, was auch für die Evangelisten gilt, die sein Wort in besonderem Maße weiterzugeben imstande sind; Magdalena und die Apostel haben sogar direkt von Jesus den Auftrag zur Nachfolge erhalten.1 Es kann an dieser Stelle nicht der Platz sein, auf die theologischen Implikationen und die frömmigkeitsgeschichtlichen Vollzugsformen, die mit der imitatio Christi verbunden sind, ausführlich einzugehen.2 Vielmehr ist in Anlehnung an Peter Strohschneider zunächst ein sehr eng gefasster Nachfolge-Begriff vorzuziehen, der in diesem Sinne „ein historisch distinktes kulturelles Wissen über eine spezifische Struktur von Weltabschied und Christomimesis“ bezeichnet und der „in den hagiographischen Erzähltexten gespeichert scheint“.3 Zu unterscheiden ist dabei jedoch einerseits zwischen einer innerhalb der Erzählung dargestellten imitatio, d.h. also der Erzählung von der Nachfolge Christi, die jenes kulturelle Wissen immer voraussetzt, sowie – textextern – die Wirkungsintention der hagiographischen Erzähltexte, || 1 Wenn SCHUBERT, Einleitung, S. VII, von den „Heiligen des Neuen Testaments“ spricht, so unterschätzt das die im zweiten Buch liegende Wertigkeit einer solch unmittelbaren Christus-Nachfolge. Es ist immerhin beachtlich, dass die heilige Martha – obwohl biblische Gestalt – erst einen Platz im dritten Buch beanspruchen kann. 2 Vgl. theologie- und frömmigkeitsgeschichtlich dazu Hans Jürgen MILCHNER: Nachfolge Jesu und Imitatio Christi, Münster 2004; für die Bedeutung der imitatio im mittelalterlichen Denken vgl. vor allem Dina DE RENTIIS, Die Zeit der Nachfolge. Zur Interdependenz von ‚imitatio Christi‘ und ‚imitatio auctorum‘ im 12.–16. Jahrhundert, Tübingen 1996, bes. S. 33–46. 3 Peter STROHSCHNEIDER, Weltabschied, Christusnachfolge und die Kraft der Legende, in: GRM 60 (2010), S. 143–163, hier S. 148, Anm. 13.

154 | Heiligkeit als imitatio Christi ihre Rezipienten selbst zur Nachfolge aufzurufen.4 Liegt der Fokus der Analyse allerdings auf der narrativen Umsetzung einer solch enggefassten imitatio in den einzelnen hagiographischen Texten, so lassen sich textexterne, rezeptionsbedingte Eigenheiten dieser Erzählungen insoweit ausblenden, wenn sie nicht maßgeblich Einfluss auf die narrative Umsetzung nehmen (indem z.B. bestimmte Tugenden als besonders exemplarisch herausgestellt werden, um damit eine bestimmte Rezipientenschicht anzusprechen). Der Aspekt der imitatio Christi ist bei den Aposteln also in der besonderen Konstellation der unmittelbaren Christusnachfolge zu sehen. Ihr Leben wie auch ihr Sterben sind in höchstem Maße am Leben und Sterben Christi orientiert, gerade auch in narrativer Hinsicht: Die Erzählungen des ersten Buches sind beispielgebend für die Legenden der Apostel, teilweise mit direkten Bezügen, wie sie in der Andreasvita feststellbar sind. Zugleich sind aber die Figuren des zweiten Buches wiederum in ihrer Nachfolge exemplarisch für alle Heiligen des dritten Buches, ihnen kommt so eine wichtige Verbindungsrolle zu, da sie zwischen Christus (und Maria) sowie den übrigen Heiligen eine Verbindung herstellen. Das zweite Buch schließt darum einerseits an die quasi-historische Chronologie des ersten an, ist in seinem Aufbau jedoch bereits hierarchisch-liturgisch geordnet und leitet damit zur überzeitlichen Ordnung der Heiligen des dritten Buches über (vgl. Kap. 2.3). Die nachfolgenden Einzelanalysen folgen vorerst weiter dem Aufbau des Passionals und untersuchen zunächst exemplarisch vier Legenden des zweiten Buches auf ihren je eigenen Umgang mit dem Konzept der Nachfolge und imitatio. Die Reihenfolge der besprochenen Texte weicht jedoch geringfügig von der des Passionals ab, um aufgrund des kaum vorhandenen inneren Zusammenhangs der einzelnen Legenden systematischen Gesichtspunkten den Vorzug zu geben. Angesichts der Bedeutung, die Passion und Auferstehung Jesu nicht allein im ersten Buch des Passionals zugemessen wird, ist es wenig überraschend, wie stark die imitatio Christi formgebend für die narrative Inszenierung von Heiligkeit insbesondere im Rahmen von Martyriumsschilderungen ist. Viel stärker noch als den späteren Märtyrerheiligen ist den ehemaligen Jüngern Jesu eine solche imitatio nachgerade eingeschrieben und geht sogar soweit, dass bei manchen (Andreas, Petrus, Philippus) selbst die Todesart am Kreuz mimetisch nachvollzogen wird. Die Apostellegenden stehen daher ganz im Zeichen dieser Nachfolge und weichen in mancher Hinsicht von den üblichen hagiographischen Erzählmustern ab. Erzählt wird nämlich kaum eine Vita im eigentlichen Sinne (auch Feistners Typologie der BekennerViten greift hier höchstens ansatzweise), da lediglich ein Ausschnitt aus ihrem Le|| 4 Vgl. Rolf SCHULMEISTER, Aedificatio und Imitatio. Studien zur intentionalen Poetik der Legende und Kunstlegende, Hamburg 1971, S. 47: „Die Handlung der Legende, ihre Motive, meinen immer ein exemplum virtutis, von dem die Erbauung ausgeht und auf das sich die imitatio richtet. Die Übereinstimmung in den konkreten Details des Exempels ist nur akzidentiell, substantiell dagegen ist die spirituelle Koinzidenz von Heiligem und Christus im tropologischen Gehalte des Exempels.“

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ben dargestellt wird, nämlich der ihrer Wundertaten, Missionierungsversuche sowie ihres Todes, jedoch erst nach der Auferstehung Christi und ihrem Sendungsauftrag. Dennoch umfasst dieser Ausschnitt auch wesentlich mehr, als in den meisten Märtyrerlegenden geschildert wird, denen Feistner den Basisnexus Verhör – Haft – Hinrichtung zuweist.5 Zu diesem Basisnexus können eine Nachgeschichte mit z.T. paradigmatisch aneinandergereihten Mirakelerzählungen hinzutreten sowie eine Vorgeschichte, die einen großen erzählerischen Spielraum lässt, sich bei den meisten Märtyrerlegenden jedoch auf knappe Angaben zur Person des Heiligen und dem Verhaftungsgrund beschränkt.6 Bei den meisten Apostellegenden ist hingegen neben der Martyriumsschilderung gerade die Vorgeschichte sehr breit auserzählt, in der sich ein ums andere Mal der Nachfolgeauftrag Jesu erfüllt, und zwar in den verschiedensten Formen: über Wunderheilungen, Totenerweckungen und Exorzismen bis hin zu großangelegten Predigten und Massenbekehrungen. All dies hat seine Vorbilder nicht zuletzt in den biblischen Evangelienberichten; die Apostel ahmen die Taten Jesu (deren Augenzeugen sie ja selbst gewesen sind) nach und erfüllen so ihren Sendungsauftrag, imitatio Christi umfasst für sie also nicht allein Nachsterben, sondern auch Nachleben. Legt man Feistners Strukturmuster an, so erweisen sich die Apostellegenden vielfach als eine Mischform: Die (z.T. fast eigenständige) Vorgeschichte besteht aus einer paradigmatischen Reihung von Einzelepisoden, der Martyriumsbericht folgt dann dem syntagmatischen Aufbau des von ihr beschrieben Basisnexus. Die Hagiographen sehen sich bei den Lebensbeschreibungen der Apostel insofern vor größere Herausforderungen gestellt, als diesen aufgrund ihres unmittelbaren Kontaktes zu Jesus und der direkten Christusnachfolge eine herausgehobene Stellung innerhalb der communio sanctorum zukommt, andererseits jedoch außerhalb der biblischen Berichte (die meist nur den jeweiligen Namen überliefern) kaum gesicherte Informationen über sie existieren. Ausgeprägt wurde das Apostelbild durch die im 2./3. Jh. entstandenen acta apostolorum, die jedem der Jünger Jesu eine eigene Geschichte zuwiesen, ebenso jedem von ihnen eine Region der missionarischen Tätigkeit.7 Wie meist in der Hagiographie haben sich auch an die Apostelakten immer mehr Wunder- und Mirakelberichte angelagert, die in manchen Fällen derart zu wuchern begannen, dass sie beinahe eigenständige Erzählformen bildeten.8 Das || 5 Vgl. nochmals FEISTNER, Typologie, S. 27ff. 6 Vgl. ebd., S. 29. 7 Die Apostelakten sind ausführlich erschlossen bei Wilhelm SCHNEEMELCHER (Hg.), Neutestamentliche Apokryphen [=NA], Bd. 2: Apostolisches, Apokalypsen und Verwandtes, Tübingen 61997. Eine Übersicht mit Inhaltszusammenfassungen bietet Hans-Josef KLAUCK, Apokryphe Apostelakten, Stuttgart 2005; vgl. außerdem bereits die Untersuchung von Richard Adelbert LIPSIUS, Die apokryphen Apostelgeschichten und Apostellegenden. Ein Beitrag zur altkirchlichen Literaturgeschichte, 2 Bde., Braunschweig 1883. 8 Zu erwähnen wären etwa die unzähligen Wunderberichte über den hl. Petrus, die z.T. sogar liturgische Relevanz erlangten; entsprechend sind etwa den Erzählungen zu den Festtagen von Petri

156 | Heiligkeit als imitatio Christi bedeutet für Jacobus de Voragine eine sorgfältige Verifizierung der einzelnen Berichte in der Legenda aurea; dementsprechend finden sich in den Apostellegenden seiner Sammlung auffallend viele Quellenberufungen und Kritik an bestimmten Überlieferungen. Der Passionaldichter braucht sich um derlei Quellenkritik wie immer nicht zu kümmern, da er sich an die glaubhafte Zusammenstellung der Legenda aurea halten kann, zu den meisten Apostellegenden werden nur sehr selten konkrete Quellenangaben gegeben. Die im Folgenden vorgestellten Analysen von vier ausgewählten Legenden des zweiten Buches können sicherlich nur einen Querschnitt der unterschiedlichen Formen von imitatio im zweiten Buch abbilden und nicht alles erfassen. Von besonderer Bedeutung ist jedoch die Nachfolge im Martyrium, die besonders exemplarisch an der Andreas-Legende gezeigt werden kann, denn in ihr verwirklicht sich geradezu prototypisch apostolische Nachfolge und imitatio Christi, die für die Darstellung der Lebensbeschreibung der Apostel formgebend wirkt, indem sie konstitutive Elemente des Christuslebens aufnimmt: Der Apostel zieht wie Jesus mit einer Schar seiner Anhänger durch die Länder, um das Wort Gottes zu verbreiten und zuletzt das Martyrium am Kreuz zu erleiden. Beide Elemente lassen sich auch in den anderen Apostellegenden beobachten: Alle betätigen sich gemäß der Weisung Christi als Missionare, und bis auf Johannes erleiden alle das Martyrium. Die Andreaslegende vereint diese imitatio-Aspekte jedoch in herausragender Weise: Einzelne Stationen seines missionarischen Wirkens lassen sich direkt auf die biblischen Berichte von Jesus beziehen, sein Tod am Kreuz treibt die Parallelen – auch in sprachlicher Hinsicht – auf die Spitze. Der Tod am Kreuz gilt gleichermaßen auch für die Petruslegende, braucht dort aber nicht ein weiteres Mal besprochen werden. An der Figur des Apostelfürsten lässt sich vielmehr zeigen, dass das imitatio-Modell nicht allein im Rahmen des Martyriums literarisch produktiv gemacht werden kann, sondern ebenso im Bereich der vom Apostel vollbrachten Wunderhandlungen und seinem Kampf gegen den Zauberer Simon Magus. Denn auch hierin stehen die Apostel in direkter Nachfolge Christi, der ihnen die entsprechende Wirkmächtigkeit direkt verliehen hat. Wunder sind in praktisch jeder Legende Gegenstand der Erzählung, und auch Wunderhandlungen unterliegen in gewissem Sinne einer imitatio, die jedoch weniger auf der Ebene des Erzählens als auf der Handlungsebene der Texte liegt. Wunder kennzeichnen die Auserwähltheit eines Heiligen und unterstreichen seine Nähe zur || Ketten oder Petri Stuhl in der Legenda aurea eigene Kapitel gewidmet. Besonders umfangreich sind die Mirakel, die im Zusammenhang mit Jacobus major berichtet werden, was nicht zuletzt mit der Bedeutung des Wallfahrtsortes Santiago de Compostela, an dem seine Reliquien verehrt werden, zusammenhängt. Während die Überlieferung des Passionals sich ansonsten durch eine relativ hohe Textkonstanz auszeichnet, lässt beispielsweise die Heidelberger Hs. D, die ja bereits bei den Marienmirakeln ausgeprägte Kürzungstendenzen aufweist, auch bei diesem Apostel insgesamt sechs Mirakel komplett weg.

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Transzendenz; legendarische Wundererzählungen sind jedoch vielfach ebenso an der Vorbildhaftigkeit Jesu ausgerichtet, dessen Wundertaten die Heiligen gewissermaßen ‚imitieren‘. Solcherart ist das Erzählelement ‚Wunder‘ natürlich auch nicht auf Märtyrerlegenden beschränkt, es ist im Gegenteil gerade für Bekennerheilige besonders wichtig und häufig. Das wird bei den in diesem Kapitel besprochenen Bekennerlegenden von Maria Magdalena und Johannes auf je unterschiedliche Weise realisiert, denen eine mehr oder minder lange Kette von Wundern gemeinsam ist, die ihren Protagonisten zugesprochen werden (bei Magdalena ist der weitaus umfänglichere Teil als Mirakel nach dem Tod ausgelagert). Zugleich aber ist Wundertätigkeit ein essentielles Kennzeichen aller Heiligen, weshalb gerade die Bemerkungen zu Wunder und Magie auf die Heiligenkonzeption nicht nur des Passionals übertragbar sind; in Bezug auf die Wundertätigkeit des Heiligen ist die Analyse der Petruslegende darum ebenfalls als grundsätzlich für das Erzählen vom Heiligen zu betrachten. Mit der Vita des Apostels Johannes wird dann das Martyrium als Nachfolgekonzept endgültig verlassen; hier verschiebt sich der Akzent auf die narrative Spiegelung der Himmelfahrt. Imitatio ist bei dieser Figur einerseits in Missions- und Wundertätigkeit angelegt; in diesen Punkten gleicht seine Vita denen der übrigen Jünger Jesu. Hinzu kommt aber noch der Aspekt der Keuschheit, der bei ihm in besonderer Weise hervorgehoben wird. Johannes’ Nachfolge besteht daher vor allem aus einer imitatio der Tugenden, und zwar sowohl derjenigen Jesu als auch Marias, mit der er ja in einzigartiger Weise verbunden ist. Und so ist sein Tod eben auch keine imitatio des Kreuzestodes, sondern der Himmelfahrt, welche das Passional z.T. bis auf die Beschreibungsebene parallel inszeniert. Die Legende der Maria Magdalena, der einzig weiblichen Heiligen des zweiten Buchs, nimmt dieses Modell noch einmal anders auf: Hier steht die conversio am Anfang, die die Umkehr von der reuigen Sünderin zur Nachfolgerin Christi bewirkt. Christusnachfolge besteht in der außerordentlichen Liebe zu Jesus, die nicht zuletzt aus dem gnadenvollen Umschlagen von der Sünderin zur Auserwählten resultiert. Magdalena steht daher auch exemplarisch für die Sünder, denen die bei ihrer Umkehr die Nachfolge Christi ebenso offensteht. Zugleich ist in ihr nicht nur über die Namensanalogie auch eine imitatio Mariae zu sehen, deren Tugenden sie nicht zuletzt in den zahlreichen Mirakeln, die ihrer Legende folgen, Ausdruck verleiht. So wird das spätere Wirken der Heiligen in der Welt wie bei Maria in einer großen Anzahl von Mirakeln fortgesetzt, hier aber auch bezogen auf die Disposition der Sünderheiligen, denn Magdalenas Nachwirken zeichnet sich vor allem dadurch aus, sündige Menschen zurück zu Christus zu führen. Die hier aufgeführten Fallstudien haben daher in erster Linie das Ziel, die unterschiedlichen Möglichkeiten einer Christusnachfolge der unmittelbar von Jesus Berufenen aufzuzeigen. Dass dabei nicht das ganze Spektrum der imitatio erfasst werden kann, steht außer Frage, doch lassen sich in den meisten der anderen Apostelviten vor allem Variationen der hier besprochenen Aspekte aufzeigen; die Auswahl der

158 | Heiligkeit als imitatio Christi hier besprochenen Legendentexte erfolgt daher aufgrund ihrer besonders exemplarischen Opazität der darin liegenden Nachfolgemöglichkeiten. Es zeigt sich bereits bei den Legenden des zweiten Buches, dass das gleiche Programm (Leben und Sterben Jesu, wie es das erste Buch beschreibt) in je unterschiedlichen Realisationsformen erscheint, die Akzentuierung liegt mal auf dem einen, mal auf dem anderen Element. Dabei weichen die Darstellungen des Passionals immer wieder von der Vorlage der Legenda aurea ab, meist nur in einzelnen Details, die jedoch durchaus bedeutungstragend sind.9 Auch das unterscheidet die Legenden des zweiten Buches von denen des dritten, die oftmals sehr eng an die Texte der Legenda aurea angelehnt sind. Anders als dort ist bei den nun folgenden Analysen also immer wieder auch ein Blick in die lateinische Vorlage nötig, um die spezifischen Inszenierungsformen des Passionals zu erfassen. Umgekehrt zeigt aber die vielfach enge Übereinstimmung der jeweiligen Legenden des dritten Buchs zwischen Legenda aurea und Passional die größere Übertragbarkeit dieser Ergebnisse in Bezug auf legendarisches Erzählen im Allgemeinen.

4.1 Syntagma im Paradigma: Andreas Unter den Lebensbeschreibungen der Apostel zählt die Andreaslegende sicherlich zu den eher unspektakulären Texten. Sein Martyrium ist längst nicht so bemerkenswert wie etwa das des Bartholomäus, und sein Kult ist in der Westkirche auch weniger verbreitet als z.B. der des Jacobus, des Petrus oder Paulus. Doch sind dies eben keine Auswahlkriterien für eine narratologische Untersuchung, die sich vor allem an der Vermittlung bestimmter erzählkonzeptueller Eigenarten der hagiographischen Texte ausrichtet, nicht an der Verehrungsgeschichte, der theologischen Diskurstraditionen oder der überlieferungsgeschichtlichen Besonderheiten. Insbesondere für die Darstellung des Martyriums als Christomimesis bietet sich daher die in der Forschung weitgehend unbeachtet gebliebene Andreaslegende an, die das Passional im zweiten Buch im Anschluss an die Legenden von Petrus und Paulus überliefert. Grundlage hierfür ist der Text der Legenda aurea, der wiederum auf apokryphen Überlieferungen beruht.10 || 9 Vgl. nur die oben (Kap. 2.1) vorgestellte Analyse der Thomaslegende durch WILHELM, Legenden. 10 Die Andreasakten zählen zum ältesten Bestand der apokryphen Apostelakten aus dem 2. und 3. Jh., von denen insgesamt fünf bekannt sind (Thomas, Andreas, Johannes, Petrus und Paulus). Ab dem 4. Jh. entstehen die Jüngeren Apostelakten, welche die früheren Texte bearbeiten und auch den anderen Aposteln entsprechende Berichte zuweisen. Zu den apokryphen Andreasakten vgl. den Überblick von Jean-Marc PRIEUR, in: NA, Bd. 2, S. 93–108, sowie KLAUCK, Apostelakten, S. 125ff. Zur Bedeutung des Apostels Andreas in der Ostkirche vgl. Andrew LOUTH, Apostolicity and the Apostle Andrew in the Byzantine Tradition, in: Theresia HAINTHALER (Hg.), Heiligkeit und Apostolizität der Kirche, Innsbruck 2010, S. 235–240. Jacobus de Voragine gibt als Quelle für den Martyriumsbericht die Presbyter und Diakone von Achaia an und bezieht sich damit auf die älteste lateinische Umar-

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Die Legende des Apostels ist zweigeteilt: Erzählt werden zunächst in loser Abfolge die einzelnen Stationen seines Wirkens, denn wie alle Jünger Jesu erfüllt auch Andreas seinen Sendungsauftrag, indem er sich auf die Wanderschaft macht, um verschiedene Völker zu missionieren. Danach wird in großer Ausführlichkeit das Martyrium am Kreuz in Achaia geschildert, wobei hier weniger den einzelnen Foltern, sondern deren theologischem Hintergrund während des Verhörs Platz eingeräumt wird. Da der Passionaldichter allerdings immer wieder weiter reichende Eingriffe in den Text seiner Vorlage macht,11 sollen zunächst Inhalt und Erzählstrategien der Legenda aurea skizziert werden, um daran die unterschiedliche Herangehensweise des Passionals besser zu illustrieren. Jacobus de Voragine, bei dem die Andreasvita nach einer Auslegung des Adventsgeschehens den eigentlichen Legendenzyklus eröffnet, beginnt seine Erzählung mit der Berufung der Jünger durch Jesus, die somit auch beispielgebend für alle in diesem Legendar versammelten Heiligen gesehen werden kann. Es wird berichtet, wie die Jünger sich nach der Himmelfahrt in der Welt verstreuen, um zu predigen und zu missionieren. Andreas gelangt zunächst nach Scythia, Matthäus aber nach Murgundia, wo er in den Kerker geworfen wird und geblendet wird. Er kann erst von Andreas auf das Gebot eines Engels hin wieder befreit und geheilt werden; Andreas bekehrt darauf das ganze Volk. Diese vorgeschaltete Episode, die das Wirken zweier Apostel zusammenführt, stößt jedoch bei Jacobus auf heftige Kritik, denn schließlich hätte der Apostel Matthäus selbst um sein Augenlicht bitten können und als auserwählter Jünger Jesu die Hilfe seines Apostelkollegen eigentlich nicht nötig gehabt: Hoc autem quod dicitur de huiusmodi orbatione Mathei et restitutione duorum luminum per Andream non puto dignum fide ne in tanto euangelista minoratio infima denotetur, quasi sibi non potuerit obtinere quod Andreas ei tam facile impetrauit (LA 2, 22). (Ich meine aber, was hier von der Blindheit des Matthäus und der Heilung durch Andreas erzählt wird, ist man nicht schuldig zu glauben; auf dass der große Evangelist und Apostel Matthäus nicht so klein gemacht werde: als sollte er sich von Gott nicht selbst haben erbitten können, was Andreas ihm so leicht erwarb.)

Es folgt eine Reihe lose aneinandergefügter Wunderberichte, die sich während der Missionstätigkeit des Apostels ereignet haben. Die Episoden lassen sich aber immerhin räumlich gliedern, da sie das predigende Herumziehen von Andreas abbilden: Die ersten Wunder ereignen sich in Antiochien, der nächste Block handelt in Nicea, zuletzt folgt die Handlung dem Apostel nach Achaia, wo er das Martyrium

|| beitung der Andreasakten aus dem 6. Jh. Zur Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte der Andreasakten vgl. LIPSIUS, Apostelgeschichten, Bd. 1, S. 543–622 u. KLAUCK, Apostelakten, S. 125–127. 11 Für eine genaue Gliederung auch der einzelnen Abschnitte sowie eine ausführliche Inhaltsangabe vgl. auch JOBE, Passional, S. 176–181.

160 | Heiligkeit als imitatio Christi erleidet. Kohärenzstiftend wirken zudem Elemente, die einzelne Episoden verbinden, denn die ersten fünf Wunderhandlungen stehen allesamt im Zusammenhang mit Konversionsereignissen: Ein vom Apostel bekehrter Jüngling kann sich zusammen mit diesem aus einem brennenden Haus retten, indem er mit einem kleinen Wasserfläschchen des Heiligen das ganze Feuer löscht. Halten die Eltern des bekehrten Jünglings dessen wunderbares Entkommen zunächst für Zauberei und erblinden zur Strafe, so heilt sie der Apostel und bekehrt sie dadurch ebenfalls. Es folgt der Bericht von der Frau eines Mörders, die ihr Kind nicht gebären kann, die Erzählung eines Mannes, der durch Andreas’ Gebet und Mitleid von seiner Unkeuschheit loskommt, sowie eine Episode, die das Interesse der Forschung in Zusammenhang mit Inzest-Erzählungen geweckt hat: Eine Mutter bezichtigt ihren Sohn, der sich ihr nicht hingeben will, nun ihrerseits des versuchten Inzests und den Apostel, der vor Gericht eingreift, der Homosexualität; ein göttliches Wunder überzeugt jedoch den Richter und führt ihn zum Glauben. Die nächsten drei, nun in Nicea angesiedelten Episoden stellen dagegen in einer klaren Steigerung nicht mehr das Bekehrungswirken des Apostels, sondern sein wunderbares Eingreifen für die Menschen als Exorzist und Totenerwecker heraus. Zunächst verbannt Andreas sieben Dämonen aus der Stadt und in die Gestalt von Hunden. Als diese dann jedoch einen Jüngling töten, erweckt der davon erschütterte Andreas diesen wieder zum Leben; das Volk bekennt sich daraufhin zu Christus. Zuletzt gelingt ihm das gleiche gar bei vierzig durch ein Schiffsunglück ertrunkenen Männern, die sich ihm als Jünger anschließen wollten (der Ruf seiner Heiligkeit hat sich inzwischen verbreitet), und er kann erneut durch sein Gebet Gott zu einem Wunder bewegen. Alle Episoden des zweiten Abschnitts seines Wirkens stellen das wunderbare Eingreifen Gottes durch seinen Heiligen heraus. Andreas tritt nicht als eigenständig handelnder Thaumaturg auf, sondern wirkt stets durchs Gebet, was seine künftige Fürsprecherfunktion unterstreicht. Hier lassen sich zahlreiche Parallelen zu Jesus ziehen, dessen Vorbild die Apostel nacheifern: Das Umherziehen aller Apostel, die sich in sämtliche Himmelsrichtungen verteilen und missionarisch umherwandern, entspricht dem von den Evangelien gezeichneten Bild Jesu. Wie Jesus wandern auch die Apostel umher, predigen und wirken Wunder, so dass sich die Menschen zu Christus bekennen, der ihnen erst die Macht verliehen hat, Wunder zu wirken. Mit dieser Fähigkeit ausgestattet, in Verbindung mit dem Nachfolgeauftrag, heben sich die Apostel von allen anderen Heiligen ab: Sie haben von Christus persönlich und in direktem Kontakt diese virtus und Heilsoffenbarung erhalten. Auch die Handlungen des Andreas spiegeln auf der paradigmatischen Ebene die biblischen Taten Jesu wider. Besonders deutlich wird dies in den drei in Niceae angesiedelten Episoden: Wie Christus als Exorzist auftritt und über Dämonen gebietet, hat auch Andreas Macht über Dämonen (wenn auch nicht so vollkommen, denn diese töten dennoch einen Menschen). Wie Christus hat er die Fähigkeit, Tote wieder zum Leben zu erwecken, und dies wird zweimal, in gesteigerter Form vorgeführt: Erst den einen Jüngling, dann gleich vierzig Schiffbrüchige. Und wie Jesus gewinnt er

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durch seine Predigt viele Nachfolger, pflanzt also den Nachfolgeaufruf erfolgreich fort. So ist es nur folgerichtig, dass die Apostel ihrem Herren nicht nur im Leben (in den Werken, den Wundern, der Predigt usw.) nachfolgen, sondern auch im Sterben. Diese endgültigste Form der imitatio Christi wird von Andreas insofern besonders erfüllt, als er gleich Christus am Kreuz stirbt. Zusätzlich zu diesem mimetischen Nachvollzug der Leiden Christi birgt die Andreaslegende an dieser Stelle jedoch noch zusätzliche Reflexionen zur heilsgeschichtlichen Bedeutung des Kreuzestodes: Vor dem Martyrium setzt ein längeres Streitgespräch mit dem Fürsten Egeas ein. In der Darstellung der Legenda aurea gibt diese Szene Jacobus de Voragine Gelegenheit, mit großer Gelehrsamkeit das Mysterium des Kreuzes unter typologischen Gesichtspunkten darzulegen und zuvor noch einmal unter Heranziehung verschiedener Bibelzitate den klaren Willen Jesu ersichtlich zu machen, das Leid des Kreuzes freiwillig und zur Erfüllung der Heilsgeschichte auf sich genommen zu haben. All das wird dem Apostel predigthaft in den Mund gelegt, der sich selbst als Zeuge dieses ganzen Geschehens benennen kann. Christliche Heilsvermittlung führt bei Andreas von der Augenzeugenschaft zur Blutzeugenschaft, und zwar in mimetischem Nachvollzug am Kreuz – eine engere Koppelung von Heiligkeit und imitatio ist kaum möglich. Eine solche Verdichtung ist freilich nur erreichbar, wenn zur narrativen Ebene (der Schilderung der Kreuzigung Andreas’) noch eine diskursive hinzutritt, die erst jenen Kontext explizit entfaltet, der sämtlichen Martyriumsdarstellungen ansonsten nur implizit inhärent ist. Um also dem apostolischen Modell der Nachfolge entscheidend Ausdruck verleihen zu können, wird in der Legenda aurea die Ebene der Erzählung verlassen: Oberflächlich gesehen handelt es sich um eine Diskussion zwischen dem Apostel und seinem Ankläger, tatsächlich ist es aber der typologische, allegorische und exegetische Duktus der Predigt, welche erst die Vermittlung schafft. Auf diese Weise wirkt die Erzählung an dieser Stelle besonders statisch, da es selbst durch die momenthaften Wechselreden keinen Handlungsfortschritt gibt: Der Preis der diskursiven Vermittlung ist ein Stillstand der Narration. Handlung setzt dann erst wieder mit der Schilderung des Martyriums ein, das relativ rasch zum Tod des Protagonisten führt. Zwei Tage lang predigt der Apostel noch ohne Unterlaß am Kreuz, so dass das Volk Egeas unter Druck setzt, ihn wieder freizulassen, doch der Apostel weigert sich und bittet Gott in einem langen Gebet, seinen Nachfolgeauftrag zu Ende führen zu können und ihn von der Bürde des Leibes und des Lebens zu befreien. Darauf erscheint ein helles Licht, das den Heiligen eine halbe Stunde lang umgibt und zum Verschwinden bringt, denn keiner kann mehr hindurchsehen, was geschieht. Sobald das Licht verschwunden ist, ist auch Andreas tot und seine Seele zum Himmel gefahren; Egeas aber stirbt kurz darauf, von bösen Geistern besessen. Die Legenda aurea lässt noch zwei Mirakel folgen, von denen eines fast eine selbständige Erzählung darstellt, nämlich die Disputation des Heiligen mit dem Teufel vor einem Bischof um die Geheimnisse Gottes.

162 | Heiligkeit als imitatio Christi Der Passionaldichter greift bei seiner Übertragung vielfach in den Text der Legenda aurea ein, hauptsächlich in Form von Kürzungen und Auslassungen. Diese betreffen insbesondere die Mirakel, von denen das Passional kein einziges überliefert, möglicherweise schon allein aufgrund des großen Umfangs. Aber auch drei der in der Legenda aurea überlieferten Wunderberichte zu Lebzeiten fehlen, und zwar jene, die das Wirken in Antiochien beschreiben, von denen nur eines, die Rettung des Jünglings aus dem Feuer, dargestellt wird, die anderen drei, allesamt mit der Thematik sexueller Verfehlung verbunden, hingegen nicht. Ob dem Verfasser die Materie zu heikel war oder ob es andere Gründe dafür gibt, muss Spekulation bleiben.12 Ebenfalls entgegen der Legenda aurea setzt das Passional auch unmittelbar mit der eigentlichen Handlung ein, reflektiert also nicht wie Jacobus de Voragine (bei dem mit Andreas allerdings auch der Kreis der Heiligenlegenden eröffnet wird) zunächst die Berufung der Jünger durch Jesus nach den Evangelienberichten. Erneut lässt sich die Tendenz beobachten, dass der Passionaldichter nichts wiedergeben möchte, was nicht schon anderswo oder in der Bibel vermittelt wird. Statt also nochmals die Erwählung der ersten Jünger nach den Bibelberichten zu resümieren, charakterisiert das Passional – wieder unabhängig von der Legenda aurea – den Apostel als besonders sanftmütig und als kune[n] predigere (II 23249), der den Verkündigungsauftrag Christi vrolich vntz an sin endes zil (II 23231) erfüllt habe.13 Die Handlung setzt also gleich mit der Hilfe des Andreas für Matthäus in Burgundia (Legenda aurea: Murgundia) ein, wobei der Passionaldichter die Kritik der Legenda aurea an der Glaubhaftigkeit dieser Episode durchaus aufgreift. Er schiebt darum die Begründung nach, Gott habe auf diese Weise die beiden Apostel zusammenführen wollen, weshalb Matthäus eine Zeitlang blintlich ungemach (II 23335) habe erleiden müssen. Erneut erweist sich damit die Tendenz, gegenüber der Legenda aurea Begründungszusammenhänge zu verstärken, kausale Motivationen zu schaffen und die rein berichtende Wiedergabe erzählerisch aufzuwerten.14 Nach der Rettung des Matthäus droht Andreas das gleiche Schicksal wie diesem, aber er betet zu Gott um Erleuchtung dieser Menschen, und der erhört die Bitten: sinen willen er karte/ nach Andreas willen (II 23396f.) – das Volk bekehrt sich. Der Glaube und der Wille des Heiligen sind so stark, dass sich selbst Gott danach richtet. Seine Auserwähltheit, die Macht des Gebets, ist so groß, dass Gott seinem Willen stets entspricht; das ist Signum seiner Heiligkeit. Was jede Legende für ihren Protagonisten implizit voraussetzt, wird hier ganz ausdrücklich dargelegt und in den folgenden Episoden immerzu zur Geltung kommen. Vor allem in den anschlie|| 12 Zur hagiographischen Überlieferungsgeschichte der Andreasakten vgl. Francis DVORNIK, The Idea of Apostolicity in Byzantium and the Legend of the Apostle Andrew, Cambridge/ MA 1958, S. 223– 264; Peter M. PETERSON: Andrew, Brother of Simon Peter, Leiden 1958, S. 40–43. 13 Vgl. zu dieser Stelle TIEDEMANN, Passional, S. 54, Anm. 1. 14 Vgl. JOBE, S. 179f.

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ßenden Wunderberichten, den Exorzismen und Totenerweckungen in Nicea, profiliert das Passional Andreas als einen Heiligen, der scheinbar nach Belieben über die charismatische Begabung göttlicher Wundertätigkeit verfügen kann. Zwar ist es selbstverständlich Gott, der die Wunder erst eigentlich vollbringt, doch dies geschieht einzig auf Andreas Fürbitte hin. Eben darin unterscheidet sich die Darstellung des Passionals von seiner Vorlage, die Andreas viel weniger als eigenständig Handelnden zeigt. Nach der Wiedererweckung der vierzig Ertrunkenen führt die Legenda aurea sogleich einen entsprechenden lateinischen Hymnus an (Vnde in quodam hymno ipsius legitur: ‚Quaterdenos iuuenes submersos maris fluctibus uite reddidit usibus‘; LA 2, 89: Daher liest man in einem Hymnus auf den Heiligen: ‚Vierzig Jünglinge / versunken in Meeres Fluten / gab er dem Leben wieder‘) den das Passional weglässt und statt dessen kommentiert: got alle sinen willen tet (II 23648). Statt also den volkssprachigen Rezipienten ein lateinisches Hymnenzitat zuzumuten, das die Größe und Wunderkraft Gottes preist, wird hier Andreas als eigentliche Wirkinstanz herausgestellt, dem Gottes Macht problemlos zur Verfügung steht. Besonders auffällige Unterschiede in der Erzählweise zeigen sich jedoch in der Schilderung des Martyriums, weswegen diese Szene eine genauere Betrachtung verdient. Das betrifft vor allem die diskursive Vermittlung der Legenda aurea in Form der langen Exegese, die in der Rede des Apostels zu seinem Ankläger die Handlung stillstellt. Der Passionaldichter versucht an dieser Stelle zwar, seiner Vorlage soweit wie möglich treu zu bleiben, kann seinen weniger gebildeten Rezipienten jedoch kaum die gelehrten Allegoresen und Typologien ohne weiterführende Auslegungen nahebringen. Er behält darum zwar die predigthaften Ausführungen des Apostels im Kern bei, gestaltet sie jedoch in einer Weise um, die beispielhaft für die Bearbeitungstendenzen des Passionals gegenüber der Legenda aurea ist. Den ersten Teil der Ausführungen, dass nämlich Jesus den Kreuzestod freiwillig auf sich genommen habe, obwohl er unschuldig gewesen sei, verkürzt er um die entsprechenden Bibelzitate und baut ihn statt dessen wesentlich stärker als historia, nämlich als persönlichen Augenzeugenbericht auf, in der Andreas auch durchaus von sich selbst in der ersten Person (ich was in den selben tagen; II 23822) bzw. dem ‚Wir‘ der Jüngerschar redet (do Jesus alda mit uns gaz; II 23836). Der persönliche Bericht durchbricht den strengen und eintönigen Duktus der Predigt, so dass das Heilsgeschehen wieder verstärkt narrativ, nicht diskursiv vermittelt wird. Zudem schließt Andreas als entscheidende Neuakzentuierung nicht nur das Leiden, sondern auch noch die Auferstehung Christi in seinen Bericht ein. Damit gibt er nicht nur zu verstehen, dass er sein Zeugnis vom Kreuzestod Jesu mit einem Blutzeugnis zu bestätigen bereit ist, sondern dieses Blutzeugnis kraft der Heilsdimension, die es ja gerade bezeugt, zur Auferstehung und zum ewigen Leben führt; dies begründet seine eigene Sehnsucht zum und sein Lob auf das Kreuz wesentlich. Das Zeugnis des Andreas, das noch einmal die Geschehnisse um Tod und Auferstehung Jesu referiert, bereitet auf diese Weise anhand paradigmatischer Bezüge das vor, was das Erzählsyntagma einfordert: Die Kreuzigung des Apostels. Im zwei-

164 | Heiligkeit als imitatio Christi ten Teil der Ausführungen – Mysterium und Lob des Kreuzes – kommt der predigthafte Gestus auch im Passional stärker zur Geltung. Von den fünf Ursachen des Mysteriums des Leidens, die die Legenda aurea Andreas in typologisch-allegorischer Ausdeutung nennen lässt, nimmt der Passionaldichter zwar einige Elemente auf, ordnet sie jedoch allgemein dem nutzhaften sin (II 23894) des Kreuzes unter, nämlich die Wiedergewinnung des Paradieses für die Menschen durch die Aufhebung der adamitischen Erbsünde im Kreuzestod Christi. Der zuvor gefasste Fokus wird auf diese Weise konsequent beibehalten: Christus schließt den Menschen das Himmelreich auf, das den Heiligen und Märtyrern als Lohn winkt. In diese Richtung geht auch der letzte Gedanke, nämlich die Vergegenwärtigung des Todes Christi in der Eucharistie, die jedem Menschen die Teilhabe an diesem Heilsgeschehen ermöglicht15 – ein Gedanke, der dem heidnischen Richter so unverständlich ist, dass der die Diskussion an dieser Stelle abbricht und Andreas in den Kerker werfen lässt. Das dann folgende Martyrium ist konsequent ausgerichtet an den Elementen des biblischen Passionsberichtes. Andreas wird zunächst entkleidet und mit scharfen besmen (II 24019) gegeißelt; um ihn aber besonders stark zu quälen, befiehlt Egeas, ihn nicht anzunageln, sondern anzubinden – seine Leiden werden somit noch überhöht. Diese Hyperbolik der Marter wird jedoch sogleich wieder etwas zurückgenommen, wenn Andreas daran denkt, dass Jesus sein Kreuz auch noch hatte tragen müssen (vgl. II 24044–24052), fügt also einen erneuten Rückverweis auf die Kreuzigung Jesu ein. Daher trägt er seine Pein klaglos und schweigend (und er nindert schrei ‚och‘; II 24064), ein Umstand, den der Passionaldichter auch im Zuge der Passionsschilderung Christi immer wieder betont (vgl. oben, Kap. 3.1). Zwei weitere Elemente schaffen weitere Bezüge zur Kreuzigung Christi, eines durch direkte motivliche Entsprechung, indem nämlich Andreas seine Gewänder an die Schächer, die ihn kreuzigen, verteilt, das andere durch den Aufbau einer Antithese: Denn während im Passionsgeschehen die Menge der Juden dadurch negativ belastet wird, dass sie das Blut des Unschuldigen fordert und statt dessen einem Verbrecher die Freiheit schenkt, ist das Volk hier angesichts der Sanftmut Andreas’ (schon eingangs als Charakterzug des Heiligen beschrieben) äußerst aufgebracht, daz man unschuldigez blut/ in des todes ungut/ an disem manne guzet (II 24071–24073). Nur diese letzten beiden Elemente und das Motiv, nicht ans Kreuz genagelt, sondern gebunden zu werden, hat der Passionaldichter bereits in der Legenda aurea vorgebildet gefunden, die anderen fügt er selbständig hinzu, um die Gleichschaltung von Christi Tod und Märtyrertod, die in den diskursiven, homi|| 15 Auch hier spricht Andreas explizit seine Nachfolge an: Statt den heidnischen Götzen zu opfern will er lieber Gott durch das Messopfer ehren als ich von im daz amt nam (II 23945). Zum Amtsverständnis des Apostels gehört es jedoch nicht nur, das Messopfer darzubringen (als ich von im daz amt nam,/ daz ist sin heiliger licham; II 23946), sondern eben zuletzt auch sich selbst zu opfern. Das Passional fügt zuvor schon ein: der hirte vor die schaf sich bot/ kein dem wolve an den strit (23723f.). Der Apostel als guter Hirte nimmt ebenfalls eine gängige Christusallegorie auf.

Syntagma im Paradigma: Andreas | 165

letisch anmutenden Passagen zuvor bereits angeklungen ist, nun auch noch narrativ zu entfalten. An dieser Stelle ist nun aber die Finalität der Handlung nicht mehr aufzuhalten. Andreas stimmt noch einmal ein geradezu hymnisches Lob auf das Kreuz an (II 24112– 24146) und verleiht seiner Freude darüber Ausdruck, auf die gleiche Weise Christus in den Tod – und damit ins ewige Leben – nachfolgen zu können wie jener selbst (vgl. auch den Lobpreis des Erzählers auf das Kreuz nach dem Tod Christi, I 7272ff.). Die aufgebrachte Menge will ihn zwar wieder befreien und kann sogar Egeas dazu drängen, doch der Apostel, der noch vom Kreuz herab predigt, weigert sich: Er fühlt sich Gott nun schon so nahe, dass er betet, dieser möge ihn nicht mehr fortlassen von dem cruce und me leben (II 24249). Damit verändert sich die Axiologie, die irdischen Rahmenbedingungen sind aufgehoben. Keiner vermag, sich ihm zu nähern, ihn zu berühren oder gar vom Kreuz zu lösen, das Martyrium, die imitatio Christi, muss jetzt erfüllt werden. Hier kommt das Konzept des Auferstehungsleibes zur Geltung, der Körper ist durch die so dezidiert ausgefüllte imitatio bereits so stark der Transzendenz verhaftet, dass er gleichsam unberührbar geworden ist (ähnlich auch der auferstandene Christus). Äußerliches Zeichen dieser auf Andreas gleichsam herabkommenden Transzendenz ist in einem für die Hagiographie gängigem Motiv das glänzende Licht, das seinen ganzen Körper im Moment des Todes umgibt, bis seine Seele zum Himmel aufgefahren ist. Noch einmal jedoch schiebt das Passional gegen die Legenda aurea eine Parallele zur Passion Christi ein: Jesus dürstet am Kreuz, und er bekommt noch einen Schwamm mit Galle; ebenso hat Andreas Durst, doch ist es der Durst nach dem lebendigen Quell Christi: du lebendiger brunne/ min durst mich immer nach dir quelt (II 24284f.). Dies nimmt thematisch exakt die meditative Reflexion zur entsprechenden Passage im ersten Buch auf (vgl. I 7023–7116; s. Kap. 3.2.3), in der der gekreuzigte Jesus selbst als lebende[r] brunnen (I 7025) bezeichnet wird, dem nach den Menschen dürstet, die er erlösen will. Mit dem erneuten Anzitieren dieser meditatio wird markiert, dass Andreas genau das erfüllt, was Christus am Kreuz präfiguriert, jedoch gewissermaßen ‚umgekehrt proportional‘, denn ohne das Vorbild Christi, nach dem es den Apostel nun dürstet, wäre eine Nachfolge niemals möglich, durch die er zwar Christus entsprechen (im vorliegenden Falle sogar fast deckungsgleich) und an seiner Heiligkeit partizipieren, ihm jedoch nie identisch sein kann. Bestätigende Wunderzeichen dieser Christusnachfolge lassen bei Andreas’ Tod auch nicht auf sich warten, jedoch kein Erdbeben und keine Finsternis, sondern im Gegenteil legt sich ein strahlendes Licht um ihn, bis seine Seele in den Himmel aufgenommen ist; diese deutliche Antithese zum Tode Christi zeigt schon das Lob des Kreuzes, das nun zum Heilssymbol geworden ist, das gerade ins Licht, nicht in die Finsternis führt. Der ungerechte Richter Egeas stirbt noch am selben Tag, das Grab des Apostels soll jedoch (vor der translatio der Reliquien nach Konstantinopel) regelmäßig Öl und Manna hervorgebracht haben – Wunderzeichen, die die Heiligkeit des Apostels und seines Todes bestätigen.

166 | Heiligkeit als imitatio Christi Betrachtet man abschließend noch einmal die Gesamtstruktur dieser Legende, so zeigt sich, dass Feistners Strukturmodell hier zu kurz greift. Rechnet man die Andreaslegende zu dem Typus der Märtyrerlegenden, so umfasst der entsprechende Basisnexus nur die Schlussepisode, die die Kreuzigung schildert. Der Gesamttext erweist sich dagegen als eine paradigmatische Episodenreihung, deren letzte eben das Martyrium schildert, während die übrigen bereits immer wieder die Auserwähltheit des Heiligen (die ihm als Apostel ohnehin in besonderem Maße zukommt) darlegen. Nichts darin führt jedoch auf das künftige Martyrium hin, die Legende hat insofern eine rein paradigmatische Struktur und lässt oberflächlich gesehen kein Handlungssyntagma erkennen. Dass die Handlung dennoch klar syntagmatisch auf das Ziel der Kreuzigung ausgerichtet ist, wird erst klar, wenn man sich die – in dieser Legende, vor allem in der Fassung des Passionals explizit gemachten – Verweise auf Leben und Tod Jesu vor Augen hält. Die Finalität der Erzählung ergibt sich aber vielmehr aufgrund der paradigmatischen Bezüge: Indem Andreas die apostolische Nachfolge Christi antritt, ist sein Leben wie sein Sterben, und damit auch seine Lebensbeschreibung, seine Vita, einzig auf die imitatio Christi ausgerichtet. Wie Christus wandert er predigend umher, vollbringt verschiedene Wunder, die z.T. ihr Vorbild in den Evangelienberichten haben (bezeichnenderweise lässt der Passionaldichter diejenigen Episoden aus, bei denen eine solche Anbindung am schwächsten ausgeprägt ist), und endet folgerichtig wie Christus auch am Kreuz.16 Syntagmatisch ist die Struktur des Weges, der von einem Ausgangspunkt zu einem Ziel führt, austauschbar sind darin jedoch die einzelnen Wunder- und Predigtepisoden. Sie sind Bausteine eines übergeordneten Narrativs, nämlich des Lebens Jesu. Nicht austauschbar allerdings bleibt der Tod: Er ist das Handlungsziel, und doch ist die Erzählung damit nicht zu Ende, denn der Tod Christi wie des Apostels weist auf das ewige Leben voraus, wie es nicht zuletzt die abschließende invocatio formuliert (II 24352–58). Ein solches Handlungssyntagma lässt sich jedoch nur über die paradigmatischen Bezüge auf Christi Leben und Sterben erkennen, die im Passional nicht nur auf die Motiv-, sondern teilweise bis auf die Wortebene zurückgehen. Kristallisationspunkt ist das Kreuz, das nicht nur als Symbol, dem das Lob des Apostels gilt, zu sehen ist, sondern das eine metonymische Verbindung zum Tod Christi und der daraus resultierenden Heilstat herstellt. So unspektakulär diese Legende innerhalb des Passionalkorpus auch sein mag, lässt sich doch an kaum einem Text so deutlich herausstellen, dass das Syntagma der Legendenhandlung nur im Paradigma der Nachfolge Christi aufgeht, oder anders ausgedrückt: Das Paradigma der Kreuzigung schreibt sich ins Syntagma der Vita ein, Syntagma und Paradigma werden im Kreuz zusammengeführt. || 16 Da das Syntagma der Erzählung hier bereits vollständig durch die Passion Christi vorgegeben ist, ist es auch nicht erstaunlich, dass die Kreuzigung des Andreas auf keinen Fall mehr aufgehalten werden kann, selbst wenn die Erzählung mit der unzufriedenen Volksmenge ein solch retardierendes Element noch einführt.

Der Apostel Petrus: imitatio in miracula und figura | 167

4.2 Der Apostel Petrus: imitatio in miracula und figura Auch der Apostelfürst Petrus erleidet wie sein Bruder Andreas das Martyrium in imitatione Christi am Kreuz. Das Martyrium macht allerdings nur einen kleinen Teil seiner umfangreichen Legende im Passional aus, wesentlich ausführlicher wird dagegen das Wirken des Apostels zunächst in Jerusalem, dann aber vor allem in Rom geschildert, wo er ja als erster Papst gilt. Nirgendwo wird die Gegenüberstellung von Wunder und Magie so deutlich verhandelt wie in der Auseinandersetzung des Apostels Petrus mit dem Zauberer Simon Magus. Anders als bei Andreas steht hier also die Vermittlungsleistung im Vordergrund. Der betreffende Abschnitt der Petruslegende soll daher eine umfangreiche Untersuchung erfahren, während eine detaillierte Analyse des Vorspanns und des Martyriums am Kreuz nur die grundlegenden Ergebnisse zur Andreaslegende im vorangegangenen Kapitel wiederholen würde. Die Konzentration auf die Konfrontation von Petrus und Simon Magus lässt die Nachfolge Christi in Petrus einerseits als Figuraltypologie erscheinen – indem der Magier als figura des Teufels dem Apostel als figura Christi gegenübergestellt wird –, andererseits in der Differenz von Wunder und Magie. Da jedoch gerade das Element des Wunders maßgeblich für die narrative Inszenierung von Heiligkeit ist (und zwar auch durchaus losgelöst vom imitatio-Gedanken), soll vor der eigentlichen Untersuchung der Petruslegende diesem Aspekt und der Opposition von Magie ein ausführlicher Exkurs gewidmet werden. Die darin formulierten Überlegungen sind somit nicht allein auf die nachfolgende Untersuchung der Petruslegende bezogen, sondern beschreiben allgemeine Konstituenten legendarischen Erzählens. Entsprechend allgemein sind die folgenden Ausführungen gehalten, bewusst werden anschließend einzelne Beispiele aus dem Passional bzw. der Legenda aurea lediglich kursorisch zur Verdeutlichung herangezogen, um die zuvor getroffenen Feststellungen zu verdeutlichen und deren Übertragbarkeit auch auf die hagiographische Inszenierung von Heiligkeit im Allgemeinen zu untermalen.

4.2.1 Exkurs: Die Differenz von Wunder und Magie Kein Heiliger ohne Wunder: „Die Wunder demonstrieren die charismatische Verbindung des Heiligen mit dem Numinosen und bilden als ‚Bestätigungswunder‘ einen integralen und unverzichtbaren Bestandteil der Heiligkeitskonzeption.“17 In || 17 Eberhard DEMM, Zur Rolle des Wunders in der Heiligkeitskonzeption des Mittelalters, in: AKG 57 (1975), S. 300–344, hier S. 300. Die Literatur zum Thema ist beinahe unüberschaubar, eine systematische Begriffsbestimmung kaum möglich. Vgl. zur Wunderkonzeption umfassend schon Gustav MENSCHING, Das Wunder im Glauben und Aberglauben der Völker, Leiden 1957; genauer Arnold ANGENENDT, Das Wunder – Religionsgeschichtlich und christlich, in: Martin HEINZELMANN et al. (Hg.), Mirakel im Mittelalter. Konzeptionen, Erscheinungsformen, Deutungen, Stuttgart 2002, S. 95-113;

168 | Heiligkeit als imitatio Christi der Wunderkraft des Heiligen offenbart sich erst sein Charisma, erweist sich die charismatische Begabung und Begnadung, die ihn von den übrigen Menschen bereits zu Lebzeiten absetzt, weshalb das Wunder als wohl „eindrucksvollste Bestätigung“18 der Heiligkeit, der Nähe zum Göttlichen, qualifiziert werden kann. So spielen für die kirchlichen Kanonisationsprozesse die von Heiligen gewirkten bzw. ihnen zugesprochenen Wunder bis heute eine elementare Rolle. Allerdings haben die Heiligsprechungsverfahren erst im Mittelalter eine konkrete Form angenommen: War die Erhebung der Gebeine zu den Ehren der Altäre zuvor allein Sache der Ortsbischöfe, reklamierte zuerst Alexander III. 1171 das Vorrecht der Päpste zur Heiligsprechung. Konkrete Regelungen und Verfahrensordnungen stellte zunächst Innozenz III. auf, die prozessuale Vorgehensweise mit Zeugenbefragungen, strenger Prüfung von Lebenswandel und Wunderberichten etc. sorgte dabei zusätzlich dafür, die miracula immer mehr in den Vordergrund zu rücken.19 Zur Feststellung der Heiligkeit in den Heiligsprechungsverfahren waren jedoch vor allem die miracula post mortem, also die Wunderzeichen nach dem Tode entscheidend, an denen sich die Fürsprache des Heiligen bei Gott erweisen konnte. Die Vita des Heiligen wurde dagegen vor allem auf einen untadeligen Lebenswandel und religiöse Vorbildhaftigkeit geprüft; bereits zu Lebzeiten vollbrachte Wunder dagegen eher mit Skepsis betrachtet.20 || David BASINGER u. Randall BASINGER, Philosophy and miracles: the contemporary debate, Lewiston/ ID 1986; Gerd THEIßEN, Urchristliche Wundergeschichten. Ein Beitrag zur formgeschichtlichen Erforschung der synoptischen Evangelien, Gütersloh 1974. Eine ausführliche Diskussion der Forschung und eine konzeptuelle Gegenüberstellung von Wunder- und Magieauffassung des mittelalterlichen Denkens bietet der Beitrag von Torsten FREMER, Wunder und Magie. Zur Funktion der Heiligen im frühmittelalterlichen Christianisierungsprozess, in: Hagiographica 3 (1996), S. 15–88. Vgl. zur Beziehung von Magie und Religion grundsätzlich auch Olof PETTERSON, Magie – Religion. Einige Randbemerkungen zu einem alten Problem, in: Leander PETZOLDT (Hg.), Magie und Religion. Beiträge zu einer Theorie der Magie, Darmstadt 1978, S. 313–324. 18 Karl HOHEISEL, [Art.] Heilige I: Religionsgeschichtlich, in: LThK 4, 1995, Sp. 1274–75, hier 1275. 19 Vgl. zusammenfassend GEMEINHARDT, Die Heiligen, S. 78–85, bes. S. 82; ANGENENDT, Heilige und Reliquien, S. 179–182 sowie DEMM, Rolle des Wunders, S. 317–321; ausführlich WETZSTEIN, Heilige, S. 203ff. Zur Ausbildung der Prozessordnungen vgl. zudem KLAUSER, Entwicklung, die in diesem Zusammenhang bemerkt, dass Vita und Mirakelberichte für die Kanonisierung gleichermaßen bedeutend gewesen seien, „eines ohne das andere kann den Anforderungen nicht genügen […]: die Heiligkeit eines Menschen manifestiert sich in seinen Wundern; bezeugte Wunder sind daher Grundvoraussetzung für die Aufnahme eines Kanonisationsverfahrens“ (S. 93). 20 Die Vorstellung einer uneingeschränkt wundergläubigen mittelalterlichen Gesellschaft gilt zumindest nicht für deren geistige Elite, wie Klaus SCHREINER, „Discrimen veri ac falsi“. Ansätze und Formen der Kritik in der Heiligen- und Reliquienverehrung des Mittelalters, in: AKG 48 (1966), S. 1-53, hier bes. S. 20–33, an einer Fülle von Beispielen aufzeigt: Bereits im Frühmittelalter gab es eine kritische Reflexion legendarischer Wunderberichte oder angeblicher Reliquienwunder. Beredtes Beispiel dafür ist nicht zuletzt das Decretum Gelasianum, aber auch Jacobus de Voragine äußert sich in der Legenda aurea z.B. immer wieder kritisch zu bestimmten Stoffen und Überlieferungen. Doch das betrifft vor allem die geistliche Bildungselite der Hagiographen; die Übertragung in die Volkssprache für ein Laienpublikum dürfte, wie auch das Passional immer wieder zeigt, häufig

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Während die Kanonisationsprozesse die Heiligkeit einer Person nach ihrem Tod festzustellen versuchen, kommt es der hagiographischen Erzähltradition des Mittelalters vor allem darauf an, bereits in der narrativen Darstellung des Lebens einer solchen Person dessen Heiligkeit aufzuzeigen. Mirakelberichte von posthumen Wundern konnten diese weiter bestätigen und dazu dienen, Kult und Verehrung des oder der jeweiligen Heiligen zu festigen.21 Die Wunder sind Zeichen ihres Charismas, sind von Gott verliehene charismatische Begabungen. Der Heilige erfüllt seine Wunder im Namen Gottes, seine Kraft ist Charisma im direkten Sinne des Wortes: Gnadengabe Gottes und Ausdruck seiner Erwählung.22 Für das mittelalterliche Wunderverständnis ist die Auffassung zentral, dass kein Mensch, auch kein Heiliger, Wunder aus sich selbst heraus hervorbringen kann, sondern es stets Gott ist, der durch sie wirkt: Wie ja die gesamte Schöpfung, so gehen auch alle Wunder letztlich allein auf Gott zurück. „Sie sind fester Bestandteil der ‚Weltanschauung‘, und keiner fühlt sich genötigt, Wunder anders denn als Signum göttlichen Eingreifens zu interpretieren.“23 Bereits Augustinus hatte festgestellt, dass Wunder keinesfalls wider die Natur geschähen, sondern lediglich wider die uns bekannte Natur. Er betont ausdrücklich, dass auch in der Gegenwart noch Wunder im Namen Christi geschehen könnten, durch das Andenken der Heiligen, aber ebenso durch Gebete oder Sakramente.24 Für das Mittelalter hat die Scholastik dieses Verständnis weiter differenziert. Thomas von Aquin unterscheidet zwischen Ereignissen supra naturam, praeter naturam und contra naturam, wobei es vor allem letztere sind, die Wunder als göttliches Wirken in der Welt aufzeigen.25 Im Zusam-

|| deutlich unkritischer mit solchen Berichten umgegangen sein: Die Diskurse einer gelehrten lateinischen Legendenkommunikation können nicht in gleicher Weise auf die einer laikal-volkssprachigen abgebildet werden. 21 Vgl. FREMER, Wunder und Magie, S. 41f. 22 Vgl. John H. SCHÜTZ, [Art.] Charisma IV, in: TRE 7, 1981, S. 688–693. In dieser Bedeutung wird der grch. Ausdruck cavrisma schon in der paulinischen Tradition verwendet; im Korintherbrief findet sich ein regelrechter Charismenkatalog. Vgl. dazu in Bezug auf das christliche Wunderverständnis Bernd KOLLMANN, Jesus und die Christen als Wundertäter, Göttingen 1996, S. 340ff. 23 Rebekka HABERMAS, Wunder, Wunderliches, Wunderbares. Zur Profanisierung eines Deutungsmusters in der Frühen Neuzeit, in: Richard VAN DÜLMEN (Hg.), Armut, Liebe, Ehre. Studien zur historischen Kulturforschung, Frankfurt a. M. 1988, S. 38–66, hier S. 48. 24 Vgl. Augustinus, De civitate dei, 21, 8 und 22, 8 (Sancti Avrelii Avgvstini Episcopi, De civitate dei, hg. v. Bernhard DOMBART u. Alfons KALB, Stuttgart 1981); ebenso De utilitate credendi 34, (Sancti Avrelii Avgvstini, De vtilitate credendi, hg. v. Joseph ZYCHA, Prag u.a. 1891). Zur augustinischen Wunderauffassung vgl. genauer FREMER, Wunder und Magie, S. 48–51. 25 Vgl. Thomas von Aquin, Summa contra gentiles III, 100–103, vgl. besonders die Aussagen in c. 100: Quod ea quae deus facit praeter naturae ordinem non sunt contra naturam, sowie in c. 101: Haec autem quae praeter ordinem communiter in rebus statutum quandoque divinitus fiunt, miracula dicit solent [...] Horum autem miraculorum diversi sunt gradus et ordines, nam summum gradum inter miracula tenent in quibus aliquid fit a deo quod natura nunquam facere potest [...] Secundum autem gradum in miraculis tenent illa in quibus deus aliquid facit quod natura facere potest, sed non per

170 | Heiligkeit als imitatio Christi menhang mit dieser Ausdifferenzierung wird die das mittelalterliche Wunderverständnis prägende Unterscheidung von miraculum und mirabilium, dem Wunder und dem Wunderbaren, getroffen. Das eine sind Wunder, die durch das direkte Eingreifen Gottes in die Welt zustande kommen (contra naturam), alles andere ist etwas natürlicherweise Verwunderliches, Wunder der Natur, die jedoch, weil letztlich alles Gottes Schöpfung ist, selbst auch wieder auf Gott zurückgehen.26 Vorbildhaft für die hagiographischen Wunderberichte sind in erster Linie die biblischen Wunderberichte des Neuen Testaments; Jesus erweist sich auch als Wundertäter als exemplarisch für die in seiner Nachfolge stehenden Heiligen, zumal er die Apostel explizit dazu ermächtigt hat (vgl. vor allem Mk. 16, 17f.; auch Lk. 9, 28f.; Mt. 17, 19f.; Apg. 1, 8). Einen Großteil der Themen und Motive teilt die Hagiographie daher mit den Wunderberichten über Jesus: Jesus heilt Kranke, treibt Dämonen aus, nimmt Einfluss auf die Elemente, vermehrt Speisen und ruft sogar Tote zurück ins Leben.27 Ähnliche Wunder werden auch den Heiligen zugeschrieben, nicht erst nach ihrem Tod, sondern vielfach bereits zu Lebzeiten. Das Modell der imitatio umfasst auf diese Weise auch Wunderhandlungen: Die Heiligen in der Nachfolge Christi haben durch diesen die virtus, die charismatische Begabung erhalten, wie er Wunder zu vollbringen. Das aber rückt ihre Taten zwangsläufig in die Nähe zu magischen

|| illium ordinem [...] Tertius autem gradus miraculorum est cum deus facit quod consuetum est fieri operatione naturae, tamen absque principiis naturae operantibus (Thomas von Aquin, Summa contra gentiles. Autographie deleta. Summa theologiae, hg. v. Robert BUSA, Stuttgart 1980). Zum Wunderbegriff bei Thomas vgl. besonders Alois VAN HOVE, La doctrine du miracle chez Saint Thomas et son accord avec les principes de la recherche scientifique, Louvain 1927. Vgl. zum Wunderverständnis und seiner Diskussion im Mittelalter auch zusammenfassend Bernhard BRON, Das theologische Wunderverständnis im Horizont des neuzeitlichen Natur- und Geschichtsbegriffes, Göttingen 1975, S. 14–21. 26 Vgl. ANGENENDT, Wunder, S. 104; vgl. zur Unterscheidung von miraculum und mirabilium auch Jutta EMING, Funktionswandel des Wunderbaren, Studien zum Bel Inconnu, zum Wigalois und zum Wigoleis vom Rade, Trier 1999, S. 27–33. 27 Eine Einteilung der entsprechenden Themen nimmt u.a. THEIßEN, Wundergeschichten, S. 94–120 vor. Auch Friedrich LOTTER, Methodisches zur Gewinnung historischer Kenntnisse aus hagiographischen Quellen, in: Historische Zeitschrift 229 (1979), S. 238–256, versucht eine entsprechende Systematisierung anhand frühmittelalterlicher hagiographischer Texte; vgl. die Beschreibung, aber auch Kritik an dieser Einteilung bei FREMER, Wunder und Magie, S. 39f. u. S. 63f. DEMM, Rolle des Wunders, S. 300, setzt für das Mittelalter systematisch zwei verschiedene Wunderkonzeptionen an: miracula corporalia und spiritualia, verkürzt gesagt also körperlich-gegenständliche Wunder (Krankenheilungen, Nahrungswunder etc.), und solche, die auf geistige Wirkung abzielen wie Bekehrungswunder u.ä. Je nach Erkenntnisinteresse und systematischem Zugriff bieten sich zahlreiche Klassifizierungsmöglichkeiten an, die jedoch nur einen phänomenologischen Zugriff erlauben und auf das ‚Was‘ des Wunders statt auf das ‚Wie‘ und das damit zusammenhängende Abgrenzungsproblem zur magischen Handlung blicken.

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Handlungsweisen; in den frühchristlichen Diskussionen mussten selbst die Wundertaten Jesu gegen den Vorwurf der Magie verteidigt werden.28 Die Parallelen christlicher Wunderhandlungen mit magischen Praktiken sind bereits mehrfach beschrieben worden,29 weshalb auf eine umfassende Darstellung hier ebenso verzichtet werden kann wie auf eine Diskussion der Grundzüge von Magie bzw. magischem Handeln.30 Eine knappe Skizze soll daher genügen: Magisches Denken beruht auf der Vorstellung, dass die Welt durch übernatürliche, nicht rationalisierbare und daher letztlich transzendente Mächte oder Kräfte bestimmt wird, welche durch spezifische Handlungen (wozu insbesondere auch Wort-Handlungen gehören) beeinflussbar sind. Dem liegt eine sympathetische Weltsicht zugrunde, in der praktisch alles mit allem verbunden ist, so dass eine bestimmte Handlung auch eine bestimmte Reaktion auslöst. Eine solche allgemeine Herleitung ist zunächst völlig unabhängig von einem religiösen Kontext zu sehen, vielmehr ist die Vorstellung von Magie Bestandteil des mythischen Denkens,31 darf dabei jedoch keinesfalls als ausschließlich vormodern oder gar vorkulturell abqualifiziert werden. Entscheidend ist, dass sich die Beeinflussung dieser Mächte gewissermaßen als Automatismus darstellt: Die richtige Beschwörungsformel, das korrekte Ritual, die mit entsprechender Bedeutsamkeit aufgeladenen Artefakte erzeugen praktisch zwangsläufig eine Steuerung dieser Mächte nach dem Willen des Handelnden, sei es nun zur unmittelbaren Einflussname auf Menschen, Dinge oder auf die Umwelt, sei es zum Nutzen oder zum Schaden Dritter.32 Es ist gerade dieser Automatismus, der insbesondere die hagiographischen Wunderberichte eng an die hier skizzierten Vorstellungen von Magie rückt. Vor allem aber darf nicht vergessen werden, dass gerade im Mittelalter die Grenzen zwischen religiösen und magischen Praktiken, zwischen Segen und Beschwörung, Gebet und Zauberformel bisweilen völlig verschwinden, ja dass die Amtskirche immer wieder Mühe hatte, die in ihren Augen allzu großen Auswüchse ‚abergläubischer‘ Praktiken einzudämmen.33 Gebet und Zauberei bieten gleichermaßen Zugriffsmöglichkeiten auf die Sphäre der Transzendenz; Wirkungs- und Redeweise beider sind zu|| 28 Vgl. Richard KIECKHEFER, Magie im Mittelalter, München 1992, S. 47. Hier ist vor allem der alexandrinische Platoniker Celsus aus dem 2. Jh. zu nennen. Zu Celsus vgl. auch Christa HABIGER-TUCZAY, Magie und Magier im Mittelalter, München 1992, S. 52f. 29 Vgl. besonders FREMER, Wunder und Magie, S. 49–55, mit weiterer Literatur. 30 Vgl. dazu KIECKHEFER, Magie im Mittelalter, außerdem Christoph DAXELMÜLLER, Zauberpraktiken. Eine Ideengeschichte der Magie, Zürich 1993, und Monika SCHULZ, Beschwörungen im Mittelalter, Heidelberg 2003. 31 Vgl. dazu auch CASSIRER, Philosophie, Bd. 2, S. 265ff. 32 Vgl. zusammenfassend FREMER, Wunder und Magie, S. 44–46. 33 Vgl. KIECKHEFER, Magie im Mittelalter, S. 71–79, der besonders den medizinischen Aspekt betont. Die schwierige Abgrenzung zwischen Magie und Religion beschreibt für das christliche Mittelalter Christa HÄSELI, Magische Performativität. Althochdeutsche Zaubersprüche in ihrem Überlieferungskontext, Würzburg 2011, S. 36–47; vgl. auch FREMER, Wunder und Magie, S. 17.

172 | Heiligkeit als imitatio Christi mindest in Teilen ununterscheidbar, da beide die Kluft des Zeichenbegriffes überwinden.34 Auch in der kirchlichen Verehrungspraxis zeigen sich Parallelen: So wurde Reliquien vielfach eine ähnliche Wirksamkeit zugeschrieben wie magischen Gegenständen, z.B. Amuletten.35 Diese Gemeinsamkeiten sind nicht zuletzt darin begründet, dass christlichem Wunder wie magischer Handlung der gleiche zeichenhafte Verweiszusammenhang innewohnt. Das lässt sich beispielhaft am Kreuz als Zeichen bzw. Requisit aufzeigen, in dem Harald Haferland einen spezifischen Wahrnehmungsmodus des Heiligen erkennt, den er als metonymisch bezeichnet: Zwischen dem Kreuz und dem darauf bezogenen christlichen Heilsereignis bestehe eine Kontiguitätsbeziehung, die, genauso wie bei Reliquien, den arbiträren, z.T. sekundären Zeichenstatus von Heiligkeit aufzeige. Denn das Kreuz ist nicht nur einfach ein Symbol, es stellt vielmehr, wie Harald Haferland bemerkt, eine „metonymische Präsenz“ des Heiligen her, das Träger benötigt, „in denen es sich in dem Maße konkretisiert, wie sie an ihm partizipieren“36. Heiligkeit manifestiert sich demzufolge in dem Kreuz (wie es sich auch in jeder heiligen Persönlichkeit und deren Reliquien manifestiert), doch geschieht dies, so Haferland, über Metonymien, die den jeweiligen Gegenstand (in diesem Falle: das Kreuz) über die Ebene als bloßen Zeichenträger hinausführt, indem es Heiligkeit unmittelbar präsent mache: Wenn es [das Heilige, A. H.] aber je in dem erscheint, was seine Erfahrung auslöst, und wenn die Zuschreibung auch durch diese Erfahrung auf seine Manifestationen gelenkt wird, dann gibt es einen Bereich, in dem die vielen Nuancen seiner Erfahrung und die Vielfalt seiner Manifestationsformen kurzgeschlossen werden. […] Gegenstände können es aufnehmen und in gewissem Sinne metonymisch für es ‚stehen‘, und in heiligen Personen tritt es so zutage, dass es sich überall in ihrem Lebensumfeld noch metonymisch zu konkretisieren vermag.37

|| 34 Vgl. ECKER, Legende, S. 124, der dabei die unten (Kap. 4.2.2) ausführlich besprochene Auseinandersetzung zwischen Petrus und Simon Magus als Beispiel heranzieht. Der Zauberspruch zeichnet sich durch ein zeichenrealistisches Sprachverständnis aus, bei dem res und signum zusammenfallen. In der richtigen Weise gebraucht, entfaltet das gesprochene Wort ein eigenes Sein, das wirklichkeitsbestimmend werden kann. Vgl. hierzu grundsätzlich SCHULZ, Beschwörungen, bes. S. 12f., vgl. auch Verena HOLZMANN, „Ich beswer dich wurm vnd wyrmin…“: Die magische Kunst des ‚besprechens‘, in: LiLi 130 (2003), S. 25–47. Vergleichbares gilt aber auch für die im Gebet herbeigeflehten Wundertaten der Heiligen: Das heilige Wort verspricht in der Legende den unmittelbaren Zugang zur Heilsbedeutung. Nicht zuletzt bezeichnet Max WEBER den Heiligen nicht nur als ‚ethischen Virtuosen‘, sondern ebenso als ‚magischen Helfer‘. 35 Vgl. FREMER, Wunder und Magie, S. 42f., mit entsprechenden Beispielen. 36 Harald HAFERLAND, Metonymie und metonymische Handlungskonstruktion. Erläutert an der narrativen Konstruktion von Heiligkeit in zwei mittelalterlichen Legenden, in: Euphorion 99 (2005), S. 323–364, hier S. 334. 37 Ebd., S. 332. Zum hier verwendeten, erweiterten Metonymie-Begriff vgl. daneben auch Harald HAFERLAND u. Armin SCHULZ, Metonymisches Erzählen, in: DVjs 84 (2010), S. 3–43.

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Metonymie als Element der discours-Ebene wird auf diese Weise also auf die histoire übertragen, aus einem rhetorischen Verfahren somit ein poetisches. Was Haferland als ‚metonymische Präsenz‘ beschreibt, zeigt tatsächlich nichts anderes als die Ausdrucksformen, wie sie gleichermaßen für Wunder und Magie beschrieben werden können. Das Kreuzzeichen zur Abwehr von Bösem, zum Segen oder zur Unterstützung von Wunderhandlungen wie der Auferweckung eines Toten wirkt (wie auch andere geweihte Gegenstände oder Reliquien) praktisch auf gleiche Weise wie magische Artefakte, indem die dahinterstehende transzendente Macht in ihnen präsent wird. Während für die magische Handlung ein solcher Kontiguitätsbezug jedoch einen quasi technischen Automatismus darstellt, ist das Wunder mehr als nur eine zeichenhafte Verweisung, sondern ein Akt unmittelbarer Präsenzstiftung, ein Präsenzeffekt, dessen Medium nicht das Kreuz, sondern vielmehr der Heilige ist, in den quasi als ‚Gefäß‘ Gottes Heiligkeit, jene heilige virtus, ‚eingegossen‘ wird. Das Zeichen des Kreuzes entfaltet Wirksamkeit, weil es nicht nur auf das christliche Heilsereignis verweist, sondern dieses unmittelbar präsent macht, entscheidend bleibt dabei jedoch die Figur des Heiligen als Vermittler mit seiner besonderen Begnadung. Mithin greifen hier also letztlich Kategorien des mythischen Denkens, wie sie Ernst Cassirer beschrieben hat. Die mythische Indifferenz bzw. ‚Konkreszenz‘, die zwischen res und signum nicht klar trennt, sorgt für die Präsenz Gottes bzw. seiner Heiligkeit im Augenblick des Wunders. Und es ist (ähnlich wie bei der Transsubstantation im Abendmahl) eben eine Realpräsenz und keine symbolische Verweisung.38 Ein ebensolcher Zusammenhang scheint in Haferlands Metonymie-Konzept durchaus mitzuschwingen, ließe sich jedoch nicht mit Cassirers Symbolbegriff in Einklang bringen, weshalb es mir problematisch erscheint, eine an sich narratologische Kategorie so weit auf die Handlungsebene auszudehnen, zumindest wenn die Kategorien des mythischen Denkens für das Wunder- und Magieverständnis des Mittelalters einen wesentlich präziseren Zugriff bieten. Es geht hier gerade nicht um die Arbitrarität von Zeichen, sondern um die Präsenzlogik von Heiligkeit, wie sie Cassirer für das mythische Denken beschrieben hat: „Für das mythische Denken, dem sich alle Inhalte in eine einzige Seinsebene zusammendrängen, dem alles Wahrgenommene als solches schon Realitätscharakter besitzt“, treten die Zeichen gar nicht auseinander, es gibt keine strikte „Trennung zwischen den Formen des ‚abbildlichen‘ und denen des ‚urbildlichen‘ Seins“.39 Eine solche Trennung nämlich würde erfordern, „dass die Einzelinhalte, statt in ihrer bloßen Präsenz erfasst zu werden, vielmehr auf die Bedingungen ihrer Entstehung im Bewusstsein und auf || 38 Vgl. diesbezüglich CASSIRERS Auffassung zum Magiedenken: „Denn wo wir ein bloßes Zeichen und eine Ähnlichkeit des Zeichens sehen, da ist für das magische Bewusstsein und sozusagen für die magische Wahrnehmung vielmehr der Gegenstand selbst gegenwärtig“ (CASSIRER, Philosophie, Bd. 2, S. 53). 39 Beide Zitate ebd., S. 56 bzw. S. 57.

174 | Heiligkeit als imitatio Christi das kausale Gesetz, das diese Entstehung beherrscht, zurückgeführt würden“.40 Das Teil ist das Ganze, das Kreuz fungiert gerade nicht als Medium, sondern lediglich als Ausdrucksform der Heiligkeit seines Trägers. Die Eröffnung metonymischer Relationen rekurriert somit ähnlich wie die Systemtheorie auf differenzlogischen Vermittlungsinstanzen, die es auf der Ebene des Erzählten gar nicht gibt. Dennoch zeigt sich gerade hierin, wie schwierig die Trennung zwischen Wunder und Magie, Zauber und Gebet sich gestalten kann. Wenn man sich zusätzlich klarmacht, dass zumindest im Frühmittelalter „auch das Credo und das Paternoster teilweise als incantationes, also als Zaubergesänge bezeichnet und zusammen mit magischen Formeln verwendet wurden“41, verschwimmen auch Rezeptions- bzw. Verwendungszusammenhang von Zauber und Gebet zusehends. Gleiches gilt aber auch für das Wirken der Heiligen in den mittelalterlichen Legendenerzählungen: „Der Heilige ist Träger einer numinösen Kraft, welche auch ohne seinen Willen zum Tragen kommen konnte, zumeist aber willentlich eingesetzt wurde.“42 Beides hängt eng miteinander zusammen, denn die Fähigkeit, Wunder wirken zu können, erfordert ein Charisma, das dem Heiligen gemäß der religiösen Überzeugung aufgrund seiner Verdienste und Tugenden zukommt.43 Eben hier muss eine theologische Differenzierung ansetzen: Denn gemäß der scholastischen, schon bei Augustinus vorgebildeten Lehrmeinung können Wunder ausschließlich von Gott gewirkt werden; werden sie von einem Heiligen vollbracht, so handelt Gott durch ihn, der ihn mit dieser charismatischen Begabung ausstattet. Gregor der Große stellt fest, Wunder vollbringen könnten „mali und reprobi so gut wie Heilige; wahre Heiligkeit beweisen allein die spiritualia miracula der Liebe und Gottergebenheit“44. Während aber „der Magier seine Wunder durch Zaubermittel, magischen Zwang und Kontakt mit den Dämonen bewirkt, wobei eine religiöse Beteiligung des Wunderempfängers völlig ausgeschaltet ist, vollziehen sich die christlichen Wunder in einem persönlichen Dreiecksverhältnis zwischen Gott, dem Thaumaturgen und dem Wunderempfänger.“45 Diese grundlegende Aussage, mit der Eberhard Demm eigentlich den Unterschied vom heidnisch-antiken, magisch bestimmten Wunderbegriff und dem des Christentums charakterisiert, lässt sich auch auf das Mittelalter und die angesprochene Problematik übertragen. Wer dabei Wunder (scheinbar) aus sich heraus bewirkt und damit einen auf magischen Zwang || 40 Ebd., S. 57. Auch DETERING, Mythos, S. 65, betont, dass für das mythische Denken „im Unterschied zur kasuellen ‚Magie‘ […] die geschehenssteuernde Absicht einer welttotalitätsstifenden Instanz“ im Zentrum steht. 41 HÄSELI, Performativität, S. 41; zur problematischen Abgrenzung von Segen, Gebet und Beschwörungen vgl. ebd., S. 45f. 42 FREMER, Wunder und Magie, S. 16. 43 Vgl. zu diesem Verständnis von Charisma und dem Verhältnis zur Magie auch LIPP, Was ist Charisma, S. 208–211. 44 SCHREINER, Discrimen, S. 21, hier in Bezug auf Gregors Homilie Nr. 29. 45 DEMM, Rolle des Wunders, S. 302.

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beruhenden Automatismus auslöst, bedient sich auf zauberische Art und Weise der Kräfte von Teufeln und Dämonen.46 Zu beachten ist aber auch, dass die Vorstellung einer Beeinflussung der Naturgesetze mittels sprachmagischer Handlungen nicht uneingeschränkt vorherrschte, Zauberei im frühen Mittelalter z.T. auch als bloße Illusion, als Täuschungsmanöver von Dämonen erklärt wurde.47 Vergleichbare Vorstellungen finden sich gerade in hagiographischen Texten (nicht zuletzt, wie zu sehen sein wird, auch in der Petruslegende), da hiermit ‚weiße‘ und ‚schwarze‘ Magie voneinander abgegrenzt werden können und die gewünschte Differenzierung zwischen Wunder und Magie erfolgen kann. Damit zeigt sich aber auch, dass das christliche Wunderverständnis dem des Mythos gleicht, begreift man Mythos mit Ernst Cassirer als „Anschauungsform einer universellen Weltordnung im Unterschied zur kasuellen Magie“.48 Während magische Handlungen von einem Einzelnen ausgehen, der ganz für sich und je nach Umstand die Naturgesetze aushebelt, ist der Mythos bzw. mythisches Denken durch „die geschehnissteuernde Absicht einer welttotalitätsstiftenden Instanz“49 bestimmt. Dies gilt gleichermaßen für das christliche Wunderverständnis: Heilige wirken Wunder niemals selbst, vielmehr wirkt Gott Wunder durch sie bzw. auf ihre Bitte hin. Die heilige Persönlichkeit zeichnet sich dadurch aus, dass sie mit bestimmten Charismata, virtutes, begnadet ist, anders aber als die Vorstellung eines qeiÀo" ajnhvr etwa der Antike, welcher von sich aus göttlich ist, kommt dem Heiligen diese virtus oder duvnami" ausschließlich aufgrund der Gnade Gottes zu, und erst dies ermöglicht es ihm, Wunder in seinem Namen zu wirken. Der Heilige wird wie ein geistliches Gefäß dargestellt, in das Gott seine ihm eigene dynamis eingießt und auf den Menschen (je nach Verdienst) gewissermaßen überträgt; dem Wesen nach freilich sind diese Wunder (Totenerweckungen, Heilungswunder etc.) sowohl bei dem christlichen Heiligen wie auch dem antiken Gottesmenschen gleich;50 das christliche Wunder-

|| 46 Ausformuliert haben dies, unter Bezug auf Augustinus, im Frühmittelalter erstmals Isidor von Sevilla und Hrabanus Maurus; vgl. KIECKHEFER, Magie im Mittelalter, S. 207–215; FREMER, Wunder und Magie, S. 51f. Die Wunderwirksamkeit der Heiligen resultiert dagegen ausschließlich aus der Gnade Gottes – diese aber ist, wie Heiligkeit selbst, mit dem die göttliche Gnade kategorial zusammenfällt, unverfügbar. 47 Vgl. HÄSELI, Performativität, S. 42f., mit Verweis auf Augustinus’ De divinatione daemonum. 48 Heinrich DETERING, Zum Verhältnis von „Mythos“, „mythischem Analogon“ und „Providenz“ bei Clemens Lugowski, in: Matias MARTÍNEZ (Hg.), Formaler Mythos. Beiträge zu einer Theorie ästhetischer Formen, Paderborn u.a. 1996, S. 63–79, hier S. 65 unter Bezug auf CASSIRER, Philosophie, Bd. 2, S. 137. 49 DETERING, Mythos, S. 65. 50 Vgl. ANGENENDT, Heilige und Reliquien, S. 69f. u. S. 76–80, der insbesondere die Koppelung der virtus an die sittliche Qualität des Menschen betont, die dann vor allem im scholastischen Tugendsystem manifestiert wurde; vgl. auch ders., Wunder, S. 100f., unter Bezugnahme auf Marc VAN UYTFANGHE, [Art.] Biographie II (spirituelle), in: RAC, Suppl.-Bd. 1, 2001, Sp. 1088–1364.

176 | Heiligkeit als imitatio Christi verständnis ist ein genuin mythisches, als es sich stets aus der göttlichen Weltordnung ableitet und von dort aus auch die Differenz zur Magie betont. Ein Umstand, der die Grenze zwischen Wunder und Magie auf der Ebene der Erzählung jedoch prekär macht, ist der, dass in einer Vielzahl von Legenden die heilige Persönlichkeit über ihre Wunderkraft nahezu beliebig zu verfügen scheint; oft reicht ein kurzes Gebet, das Kreuzzeichen o.ä., um ein Wunder zu vollbringen. Auf diese Weise zeigt die Legendenerzählung die außerordentliche Partizipation ihrer Protagonisten an der Heiligkeit Gottes, die so groß ist, dass sie bisweilen beinahe autonom darüber verfügen können – von einer Unverfügbarkeit transzendenter virtus kann auf der Handlungsebene daher keine Rede sein. Und eben darum muss in der Hagiographie eine kategoriale Differenz gesetzt werden, die das Wunder von jeglicher Form magischer Praktiken abgrenzt, welche dann stets als Nekromantie, als Einfluss dämonischer Mächte, die dem Göttlichen diametral entgegenstehen, gilt. Damit bleibt freilich die Aporie bestehen, dass diese Wunderhandlungen in vielfacher Weise fast ununterscheidbar von magischen Praktiken sind. An einer Reihe von Beispielen kann Torsten Fremer zeigen, dass die von ihm untersuchten Viten „keinesfalls den Eindruck erwecken, dass die Heiligen lediglich als ‚Spielzeuge Gottes‘ fungierten“.51 Sie handeln vielmehr im eigenen Interesse, ihre Gebete gleichen vielfach Beschwörungen, die zwingenden Charakter haben und eine automatische Wirksamkeit entfalten; das betrifft gleichermaßen auch von ihnen hergestellte oder verwendete Gegenstände wie auch ihre Reliquien nach ihrem Tode. Dies gilt im übrigen für die tatsächliche Kultpraxis genauso wie für die Darstellung der Heiligen und ihrer Handlungsweisen in ihren jeweiligen Viten. Eben darum aber ist es für die hagiographischen Erzähler umso dringlicher, die Differenzierungen nicht nur implizit vorauszusetzen, sondern auch immer wieder ganz direkt zu betonen: Vom religiösen Standpunkt fiel es leicht, bestimmte heidnische Praktiken als magisch zu verurteilen. Die Problematik lag aber darin, dass auch der christliche Kult im rituellen Handeln der Priester, aber insbesondere in der Heiligenverehrung, ähnliche Angriffspunkte bot, die offenbar nicht abzuschaffen waren, sondern sich eher im Widerspruch zur kirchlichen Dogmatik ausbreiteten.52

Die Theologie füllt die an sich gleichen Phänomene anders aus und bewertet sie entsprechend, sie sind aber de facto (in den Heiligenviten wie in der religiösen Praxis) oft kaum zu unterscheiden: Der Heilige kann zwar nominell nicht einfach über die göttliche virtus verfügen, sondern Gott nur um seine Kraft, das Charisma, bitten, die Legenden aber setzen (wie auch die mittelalterliche Volksfrömmigkeit) die Erfüllung beispielsweise eines Gebets als selbstverständlich, die erbetene Wirkung tritt automatisch ein und lässt den Heiligen so erscheinen, als ob er über diese Kräfte

|| 51 FREMER, Wunder und Magie, S. 81. 52 Ebd., S. 84.

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unabhängig verfüge. Dass ein Heiliger versagt, ist nicht vorgesehen und wäre mit der finalen, providentiellen Ordnung der Legendenerzählung nicht vereinbar. Hinzu kommt zudem die Nähe der narrativen Darstellungen zu magischen Praktiken. Torsten Fremer hat dies ausführlich anhand der von ihm analysierten Beispiele frühmittelalterlicher lateinischer Viten gezeigt,53 aber auch in den Legenden der Legenda aurea und des Passionals ließen sich zahlreiche Beispiele aufzeigen: So wird in der Legende von Johannes dem Almoser erzählt, wie Peter der Zöllner einen Taubstummen heilt, indem aus seinem Mund eine Flamme hervorkommt, die Ohren und Zunge des Kranken berührt, worauf dieser wieder hören und sprechen kann (vgl. III 143, 2–6; LA 27, 55–60). Der heilige Benedikt befiehlt einem Mitbruder, ein Kind vor dem Ertrinken zu retten, was diesem gelingt, indem er auf dem Wasser läuft (vgl. III 223, 58–64, ebenso LA 48, 50–53): die dynamis des Heiligen hat sich auf ihn übertragen. Anders der hl. Bernhard: Er kuriert einen Spielsüchtigen, indem er sich zu ihm an den Tisch setzt, in der Folge jedes Würfelspiel gewinnt und durch ein Wunder sogar die Höchstpunktzahl noch überbieten kann, indem ein Würfel entzweibricht und zu den 3 Sechsern noch ein zusätzliches Auge kommt. Vor allem der hl. Martin, dem selbst Tiere, Pflanzen und Dämonen gehorchen, scheint mit einer absoluten Selbstverständlichkeit über seine Wunderkräfte zu verfügen und kann gar Fernheilungen vornehmen, indem einem kranken Kind – da er persönlich nicht greifbar ist – einfach ein von Martin verfasstes Schriftstück aufgelegt wird (vgl. III 602, 48ff.).54 Und bei dem Apostel Andreas geht das Passional sogar soweit zu behaupten, Gott richte seinen Willen nach dem des Apostels.55 Der Apostel Matthäus wiederum erweckt unwillkürlich einen Toten, wie auch die Reliquien Martins bei der Translation zwei Krüppel gegen ihren Willen heilen: Die heilige virtus scheint sich zu verselbständigen. Der hl. Christopherus schließlich rät im Martyrium seinem durch einen Pfeil erblindeten Peiniger, er solle das von ihm vergossene Blut auffangen, mit Erde vermischen und auf das erblindete Auge verreiben; die Heilung vollzieht sich augenblicklich nach dem Tod des Heiligen. In der Legende des Julianus (des dritten Heiligen dieses Namens, Bruder des hl. Julius) vollzieht sich ein Strafwunder: Da der Heilige für den Bau einer Kirche alle Vorübergehenden zur Mithilfe verpflichten kann, behaupten drei Männer, sie würden auf ihrem Karren einen Toten überführen; die Lüge aber bewahrheitet sich sogleich, da der Dritte, der den Toten vorgibt, daraufhin tatsächlich tot ist. Diese – bewusst völlig unterschiedlich gehaltenen – Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen, sie alle jedoch zeigen: Es ist in den Erzählungen keine Rede davon, || 53 Vgl. ebd., S. 63–80; besonders hervorzuheben sind die Beispiele der Eugendus-Vita (vgl. ebd. S. 67 u. 69). 54 Vgl. auch ebd., S. 65f. Desgleichen kann die virtus des hl. Ägidius über dessen Mantel weitergegeben werden, der bei anderen eine heilkräftige Wirkung entfaltet. 55 Vgl. unten, Kap. 4.2.1: sinen willen er karte/ nach Andreas willen (II 23397f.); got alle sinen willen tet (II 23648); hier geht der Passionaldichter über die Darstellung der Legenda aurea hinaus.

178 | Heiligkeit als imitatio Christi dass diese Wunder eigentlich einzig durch Gott gewirkt werden, selbst der Zusammenhang von Verdienst und charismatischer Begabung des wundertätigen Heiligen ist oftmals kaum zu erkennen. Vielmehr wirkt es in all diesen Fällen so, als verfüge der Heilige ganz selbstverständlich über seine virtus. Damit zeigt sich eine deutliche Diskrepanz zwischen dem religiös begründeten Vertrauen auf göttliche Gnade, Macht und Hilfe und dem Automatismus der hier vorgeführten Handlungsweisen, zumal diese, wie insbesondere die Heilungswunder von Martin, Christophorus oder Peter vorführen, nicht selten in die Nähe von magischen Praktiken rücken. Bei diesen Ähnlichkeiten muss es der Hagiographie erst recht immer wieder darauf ankommen, die Wunder der Heiligen von zauberischen Fähigkeiten und magischen Handlungen abzugrenzen. Die meisten Texte lassen diesen Umstand wie bei den oben genannten Beispielen zumeist unkommentiert oder deuten durch stereotype Verweise (Anrufung Gottes, Ausführung des Kreuzzeichens etc.) lediglich oberflächlich die göttliche Macht hinter dem Wunderhandeln des Heiligen an. Manche Legenden aber setzen die Wunder ihrer Heiligen explizit von Magie ab, konfrontieren sie ganz direkt mit Zauberern und magischen Handlungen oder setzen den Heiligen umgekehrt dem Vorwurf des Zaubers aus. Die zentrale Bedeutung des Wunders für die Heiligenlegende und die in diesem Zusammenhang notwenige Abgrenzung zur Magie wird dabei narrativ durch ihre unterschiedliche axiologische Besetzung auf der Textoberfläche bestimmt. Dies geschieht, um auch hier nur einige wenige Beispiele zu nennen, u.a. in der Sebastianlegende, wo der Heilige den römischen Präfekten Cromatius heilen will. Nachdem dieser vom Götzendienst abgelassen hat, muss er zuletzt auch noch ein heidnisches Bett (in der Legenda aurea ist es ein Gemach), das den Lauf der Sterne abbildet und zur Wahrsagerei dient, zerstören lassen; erst als dies geschehen ist, erscheint ein Engel und verkündet das Ende der Krankheit. Die heidnische Wahrsagerei (die Fähigkeiten des Bettes werden III 107, 18 gar als große heilikeite bezeichnet) werden mit dem Götzendienst gleichgestellt und damit als Teufelsglaube abqualifiziert; erst wenn sich der Präfekt von solchen magischen Accessoires trennt, kann er auch von Gott Heilung erwarten. Freilich geht es hier eher um die Ablehnung von Magie und die Demonstration göttlicher, durch den Heiligen vermittelter Macht. Eine Konfrontation des Heiligen mit einem Zauberer bietet die Silvesterlegende (vgl. dazu ausführlich unten, Kap. 8.2) am Ende der Disputation des Heiligen mit den zwölf Juden: Hier wird vor allem demonstriert, dass das Gebet dem Zauberspruch überlegen ist, dass göttliche Hilfe nicht durch magisches Geheimwissen, sondern durch öffentliches Bekenntnis und Fürbitte möglich ist. Eine direkte Auseinandersetzung mit heidnischen Priestern wird in der Vita des Apostels Johannes geschildert, wobei die Heidenpriester wie Magier erscheinen (vgl. Kap. 4.3). Hier geht es zunächst darum, die Stärke Gottes über die falschen Götzen zu erweisen (Johannes lässt den Diana-Tempel durch sein Gebet einstürzen), dann muss Johannes einen Giftbecher trinken, dessen Wirksamkeit zuvor an anderen ausprobiert und nachgewiesen worden ist. Nachdem Johannes diese Machtprobe für

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sich entschieden hat, lässt er den Toten sein Gewand auflegen und den Heidenpriester folgende Worte sprechen: in Jesu Cristi namen stet uf, ir toten, unde gat, wand mich des zwelfboten rat durch daz zu uch hat gesant. (II 27562–27565)56

Der Heide soll die Worte sprechen, um den Apostel vom möglichen Vorwurf zu entlasten, die Toten seien aufgrund irgendwelcher magischer (und das hieße dann: dämonischer) Fähigkeiten wiederauferstanden. Vielmehr wird durch diese Wortwahl klargestellt, dass dies einzig durch die Gnade Gottes geschieht, deren Vermittler Johannes ist. Die direkte Rede des Spruchs, den das Passional relativ wortgetreu von der Legenda aurea übernimmt, hebt genau diese beiden Komponenten hervor: Die Toten sollen im Namen Jesu Christi auferstehen (dessen Wirkmächtigkeit nicht zuletzt von seiner österlichen Auferstehung abgeleitet wird), als Vermittlungsinstanz fungiert der Apostel, der als ‚Gefäß‘ der göttlichen virtus diese gleichsam ausgießt und sie auch über Dritte, die nach des zwelfboten rat handeln, wirksam werden lässt. Dass der Heide dabei Johannes’ Gewand über die Toten breiten soll, narrativiert diese Heilsvermittlung anhand einer Metonymienkette: Das Gewand steht metonymisch für den Heiligen, dieser metonymisch für die göttliche virtus; wie der Heilige die göttliche Wirkmächtigkeit vermittelt, vermittelt sein Gewand diese weiter an die eigentlichen Empfänger; der Heide bleibt dabei bloß Sprachrohr und ausführendes Organ – was seinen Zweck, ihn zu bekehren, nicht verfehlt. Auf diese Weise soll verhindert werden, dass dem Apostel irgendwelche magischen Handlungen nachgesagt werden könnten, wobei hier offenbar die heilige virtus in dem Mantel des Apostels quasi ‚gespeichert‘ ist. Noch deutlicher wird die Problematik in der Dionysius-Legende verhandelt (vom Passional fast wörtlich aus der Legenda aurea übernommen), wo der Apostel Paulus den Protagonisten selbst die Worte formulieren und sprechen lässt, die einen Blinden gesund machen, um dem Vorwurf der Zauberei zu entgehen; erstaunlicherweise gelingt die wunderbare Heilung, obwohl mit Dionysius ein (noch) ungläubiger Heide den Blinden im Namen Gottes dazu aufgefordert hat, wieder sehen zu können – erst aufgrund dieses Wunders bekehrt sich Dionysius zum Christentum.57 Und dass sich ein Heiliger mit einem Zauberer direkt auseinandersetzen muss, betrifft neben der weiter unten ausführlich besprochenen Petrus-Legende ebenso den Apostel Jacobus, der sich nicht nur (wie Petrus || 56 Vgl. fast wörtlich LA 9, 90–91; Vade et mitte eam super copora defunctorum dicens: ‚Apostulus Christi me misit ad uos ut in Christi nomine exurgatis.‘ 57 Vgl. zu diesem Beispiel ausführlicher Andreas HAMMER, Zwischen ratio und Erleuchtung: Religionsgespräche und Konversionserlebnisse in der mittelalterlichen Literatur, in: Nine MIEDEMA et al. (Hgg.), Sprechen mit Gott: Redeszenen in mittelalterlicher Bibeldichtung und Legende, Berlin 2012, S. 329–349, hier S. 337–342.

180 | Heiligkeit als imitatio Christi und Simon Magus) eine Art Wettstreit mit dem Magier Hermogenes liefert, sondern sich auch gegen dessen zauberische Anschläge erwehren muss. Hermogenes erscheint als eine Art Geisterbeschwörer, der Heilige jedoch hat Gewalt über die vom Zauberer gesandten Dämonen und kann Hermogenes schließlich sogar zum Christentum bekehren.58 In der Mehrzahl der Legenden geschehen die Wunder freilich selbstverständlich, werden weder hinterfragt noch als potentielle Magie problematisiert. Die hagiographischen Rollenzuweisungen sind von vornherein auf Eindeutigkeit ausgelegt, die axiologische Besetzung immer klar: Als Heiliger kann der Protagonist im Namen Gottes Wunder vollbringen, alle anderen übernatürlichen Erscheinungen werden damit zwangsläufig zu dämonischer Zauberei. Für die Inszenierung von Heiligkeit, so lässt sich abschließend festhalten, ist daher zwar die Herausstellung der Wunderkraft der heiligen Protagonisten unabdingbar, ein klarer Dualismus zwischen Wunder und Magie wird jedoch eher selten direkt thematisiert. In der Regel setzen die Legenden zwar eine solche Unterscheidung voraus, die dann aber in der eigentlichen narrativen Darstellung allzu oft wieder nivelliert wird. Die explizite Differenzsetzung zwischen Wunder und Magie dient daher vor allem darum, diese Axiologie zu stabilisieren und den Heiligen im Sinne des imitatio-Konzepts als Nachfolger Christi, von dem er seine Wunderbegabung erhalten hat, explizit auszuweisen; wo diese Differenzierung fehlt, erhält der Heilige einen Überschuss an Unmittelbarkeit. Der charismatischen Begabung des Heiligen wird die teuflische schwarze Magie gegenübergestellt, um anhand dieses Gegentypus die Wirkmächtigkeit des Heiligen in der Nachfolge Christi umso eindrucksvoller zu erweisen. Insbesondere gilt dies für Petrus, dem als Apostelfürst und erster Papst in herausragender Weise die Rolle des Stellvertreters Christi zukommt; umso mehr muss seine Legende bemüht sein, die Ähnlichkeit mit Christus in der Nachfolge herauszustellen und damit einerseits eine größtmögliche Nähe zu erreichen, andererseits eine zu große Unmittelbarkeit gerade zu vermeiden.

4.2.2 Petrus: Der Heilige und der Magier Die Legende des Apostelfürsten Petrus eröffnet gemäß seiner Stellung das zweite Passionalbuch, das Buch der Boten; mit über 2300 Versen bildet sie zugleich die umfangreichste Einzellegende des Legendars. In ihr vereinigt der Passionaldichter drei in der Legenda aurea eigentlich selbständige Erzählungen, nämlich die von Petri Ketten, welche die Gefangennahme durch Herodes und die wundersame Befreiung des Apostels aus dem Kerker sowie die spätere Wunderkraft der durch göttliche

|| 58 Vgl. auch HABIGER-TUCZAY, Magie und Magier, S. 60–65, mit weiteren Beispielen aus dem mittelalterlichen Erzählgut.

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Kraft gelösten Ketten wiedergibt, die Legende von Petri Stuhl, welche das frühe Wirken des Apostels in Antiochien und dessen dortige Inthronisation auf den Bischofsstuhl umfasst, und zuletzt und am ausführlichsten dann die Auseinandersetzungen zwischen Petrus und dem Magier Simon in Rom, welche dann ins zusammen mit Paulus erlittene Martyrium führen. Während die ersten beiden Abschnitte eher später entstandene legendarische Ausformungen darstellen,59 die einerseits Anlagerungen an die Apostelgeschichte umfassen, welche zusätzlich die Gottlosigkeit des Herodes und dessen Tod betonen, andererseits die ersten Missionierungserfolge des Apostels und dessen erstes Episkopat, geht der umfangreiche dritte Teil auf die vermutlich bereits im 2./3. Jh. entstandenen Petrusakten zurück, die zu den apokryphen Apostelgeschichten des Frühchristentums gehören.60 Nur dieser letzte Abschnitt, die Auseinandersetzung mit Simon Magus, ist für die folgenden Überlegungen von Belang, während die anderen Teile weitgehend konventionellen hagiographischen Mustern entsprechen, wie sie bereits im Rahmen der Andreaslegende diskutiert worden sind. Die Figur des Simon Magus taucht im hagiographischen Kontext als beständige Gegenfigur zu den Aposteln und den Heiligen der ‚ersten Stunde‘ auf, als Zauberer und falscher Prophet, der die christlichen Missionierungserfolge immer wieder hintertreibt und sogar bereits Bekehrte wieder vom christlichen Glauben abfallen lässt. Erwähnt wird er in der Apostelgeschichte als einer, der sich als göttlich inspirierten Menschen verehren lässt und die Gaben des Heiligen Geistes zu kaufen versucht (Apg. 8, 9–25). Bei den spätantiken christlichen Theologen wird er schon bald eine der Hauptgestalten der Gnostiker, d.h. Anhänger jener abweichender Strömungen, mit denen die frühchristlichen Autoritäten erbitterte Auseinandersetzungen geführt haben. So wird Simon Magus immer mehr zum Häretiker stilisiert und mit größter Polemik überzogen, Projektionsfläche und Negativbeispiel gefährlicher Irrlehren.61 Der mittelalterlichen Hagiographie gilt Simon Magus als der Erzhäretiker schlechthin und begegnet nicht nur in der Petruslegende, wo ihm der Apostel sein Ende bereitet, sondern auch in anderen Zusammenhängen, insbesondere spielt er in der Clemensvita eine größere Rolle. Wie Herodes oder Julianus Apostata, die innerhalb des Passionals gleichermaßen in verschiedenen Legendenzusammenhängen auf|| 59 Vgl. JOBE, Passional, S. 153f. 60 Vgl. zur Textgeschichte zusammenfassend Wilhelm SCHNEEMELCHER, Petrusakten, in: NA, Bd. 2, S. 243–255, sowie KLAUCK, Apostelakten, S. 93ff. Zur unterschiedlichen Ausgestaltung und Figurenzeichnung der Acta Petri und der unter Verwendung der apokryphen Akten im 5./6. Jahrhundert entstandenen Passio Sanctorum Apostolorum Petri et Pauli, welche Grundlage für die spätere Überarbeitung der Legenda aurea gewesen ist, vgl. Alberto FERREIRO, Simon Magus in Patristic, Medieval and Early Modern Traditions, Leiden/Boston 2005, Kap. 4, S. 55–81. Zu den Vorlagen der Legenda aurea vgl. Willibrord HUG, Quellengeschichtliche Studie zur Petrus- und Pauluslegende der Legenda aurea, in: Historisches Jb. d. Görres-Gesellschaft 49 (1929), S. 604–624. 61 Zu Simon Magus vgl. KOLLMANN, Jesus und die Christen, S. 98–101; Alastair H. B. LOGAN, [Art.] Simon Magus, in: TRE 31, 2000, S. 272–276; HABIGER-TUCZAY, Magie und Magier, S. 43–51.

182 | Heiligkeit als imitatio Christi tauchen, zieht sich damit auch Simon als Negativgestalt, insbesondere als Gegenfigur zu Petrus und den Aposteln, durch das ganze Legendar, ohne dass ihm allerdings eine eigenständige Vita zukommt wie den deutlich als Anti-Heilige abqualifizierten Judas und Pilatus oder eben Julianus; überdies besteht praktisch keine innere Kohärenz zwischen den Berichten der einzelnen Legenden. Simon Magus behauptet in der Petruslegende mehrfach von sich, selbst Gottes Sohn zu sein und verlangt darum von den Menschen in Jerusalem seine Anbetung. Bezeichnend ist dabei schon, wie der Passionaldichter diese Figur in die Legendenhandlung einführt: Bi den geziten was ein man dem tuvele gentzlich undertan, als im ouch der tuvel was. an zouber buchen er las und was ein meister da von, er was geheizen Symon. nigromancien di kunst hete er in tiefer vernunst, da mite er wunder machte. (II 20133–20141)

Simons Machenschaften werden also von Beginn an entsprechend negativ qualifiziert: Als Zauberei, als Teufelswerk und Nekromantie.62 Problematisch ist allerdings, dass Simon mit seinen Künsten offenbar dennoch Wunder wirken kann: In Jerusalem lässt er sich wie ein Gott verehren, da er steinerne Bilder zum Lachen, eiserne Schlangen sich bewegend machen kann. Erst als Petrus eingreift und dem Volk zeigt, daz er die lute blante/ […]/ mit listekeit (II 20151 u. 20153), womit er Simon als Zauberer entlarvt, flieht dieser aus Jerusalem nach Rom, wo er durch seine Künste schon bald ein Vertrauter des Kaisers Nero wird. Damit verklammert die hagiographische Tradition erneut die Feinde des Christentums miteinander, gilt Nero doch im Mittelalter als der übelste Christenverfolger unter den römischen Kaisern.63 Da Petrus nicht zulassen kann, dass der Magier weiter sein Unwesen treibt, folgt er diesem unverzüglich nach Rom. Dort kommt es schließlich zu weiteren Auseinandersetzungen zwischen den beiden, die in einem finalen ‚Wettkampf‘ gipfeln, bei dem sie vor Nero und dem Volk antreten und gewissermaßen ihre Wunderkräfte messen. Natürlich entpuppen sich die Fähigkeiten Simons schon bald als buchstäblich ‚fauler Zauber‘, gegen den die durch Petrus’ Gebet erflehten Wunder Gottes nicht || 62 Auf einen direkten Vergleich mit der Legenda aurea kann hier weitestgehend verzichtet werden, da das Passional die Handlung sehr getreu, teilweise bis auf die Beschreibungsebene und mit wörtlichen Zitaten übernimmt. 63 Vgl. zur historischen Gestalt und ihrer Rezeption Richard KLEIN, [Art.] Nero, in: RGG 6, 2003, S. 196f., einen ersten Überblick über die Darstellungsweisen bietet immer noch die (mittlerweile veraltete) Studie von Hans FLUCH, Nerodarstellungen, insbesondere in der deutschen Literatur, Gießen 1924.

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bestehen können. Das Ende kommt damit zwangsläufig: Simon, der sich weiterhin als Gott anbeten lässt, stürzt, als er seine eigene Himmelfahrt inszenieren will, zu Tode, da auf den Befehl des Apostels hin die Dämonen, die ihn in der Luft tragen, fallen lassen. Nero, der sich seines kunstreichen und nützlichen Vertrauten beraubt sieht, lässt daraufhin Petrus sowie Paulus, der jenem zur Unterstützung nach Rom gefolgt war, hinrichten, so dass die beiden Apostel zusammen das Martyrium erleiden. Auf diese Weise wird an den Figuren von Petrus und Simon Magus der narrative Umgang mit dem ambivalenten Verhältnis von Wunder und Magie opak, da beide einerseits als direkte Gegenfiguren auf einander bezogen, andererseits praktisch gleichgeschaltet sind. Denn beide können – oberflächlich gesehen – Wunder vollbringen, es kommt jedoch auf die axiologische Besetzung an,64 die durch die Erzählweise der Legende (discours) für deren Rezipienten an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig lässt, denn Simon wird, wie die oben zitierten Verse zeigen, bereits von Beginn an als Zauberer, der mit dem Teufel im Bunde ist, dargestellt. Damit zeigt sich an ihm beispielhaft die im obigen Exkurs dargelegte Differenz, welche die Wunder des Zauberers auf magischen Zwang und teuflischen Einfluss zurückführt, während Petrus als christlicher Heiliger Wunder nur durch seinen engen Kontakt zu Gott, durch seine heilige virtus vollbringen kann. Entsprechend pejorative Beschreibungen begleiten den zouberer Symon (II 20196) durch die gesamte Erzählung hindurch, er ist ein trugenere (II 20192) und goukelere (II 20283, ebenso 20463 u. 20851), der seine Taten nur mit Kunst und List vollbringen kann und bei seiner Flucht aus Jerusalem alle seine Zauberbücher ins Meer wirft, uf daz nimanne offenbar/ wurde von im, so daz er/ solde wesen ein goukeler (II 20256–20258). In Rom setzt sich dies fort, denn das Vertrauen Neros gewinnt er auf die gleiche Weise, do der keiser hete entsaben,/ wi er mit listsachen/ vil wunders konde machen (II 20266–20268). Dem steht der Apostelfürst Petrus diametral entgegen. Schon die einführende Kettenlegende charakterisiert ihn in Analogie zu Christus: Von Herodes, der ja auch dem neugeborenen Jesuskind nach dem Leben trachtete und dem selbst in der Passionsgeschichte eine Nebenrolle zugestanden worden ist (vgl. I 5801ff.), wird Petrus in den Kerker geworfen, um ihn nach dem Osterfest zu erschlagen; bei Jesus wird bekanntlich darauf geachtet, dass er noch vor Ostern hingerichtet wird. Wie Jesus aus dem Grab, so gelangt auch Petrus, von einem göttlichen Engel geleitet aus dem Kerker, während die Wächter schlafen. Bereits hier wird also eine imitatio inszeniert, die sich im darauffolgenden Abschnitt um Petri Stuhl erneut erweist, der das Wirken des Apostels ähnlich wie bei Andreas nach dem Vorbild des predigend her|| 64 So konstatiert Gerd THEIßEN, Simon Magus – die Entwicklung seines Bildes vom Charismatiker zum gnostischen Erlöser. Ein Beitrag zur Frühgeschichte der Gnosis, in: Axel VON DOBBELER et al. (Hg.), Religionsgeschichte des Neuen Testaments (FS Klaus Berger zum 60. Geburtstag), Tübingen/Basel 2000, S. 407–432, hier S. 407: „Wenn bei Simon von Magie die Rede ist, bei Jesus von Wundern, so sind das nur verschiedene Namen für dasselbe Phänomen“.

184 | Heiligkeit als imitatio Christi umziehenden Jesus gestaltet. Hier wird seine thaumaturgische Macht erläutert, indem Petrus den Sohn des Statthalters Theophilus wieder zum Leben erweckt und so den Fürsten und sein Land zum Christentum bekehrt; ausdrücklich gelingt ihm dieses Wunder aber nur, indem er zu gote sin gebet (II 19997) spricht.65 Auf der anderen Seite, und das lässt für die Differenzierung von Wunder und Magie durchaus aufhorchen, gelingt ihm auch die Totenerweckung eines Jüngers, indem er dessen Gefährten einzig seinen Stab mitgibt, den dieser dem Toten auflegen soll. Der Stab wirkt hier analog zu einem magischen Gegenstand, der die dynamis des Heiligen weiterzugeben imstande ist. Aber es kommt eben nicht darauf an, ständig klarzumachen, dass der Heilige nur kraft des Gebets wirken kann, um als Fürsprecher vor Gott diesen zu Wundern zu veranlassen. Der Heilige kann mit der ihm verliehenen virtus durchaus eigenständig Wunderhandlungen vollbringen, entscheidend bleibt jedoch, dass ihm diese virtus einzig von Gott verliehen ist. Simons dämonische Zauberkräfte werden besonders in Rom allenthalben offensichtlich und dem christlichen Thaumaturgen Petrus gegenübergestellt. Im Gegensatz zu Simon, der sich auf die Macht der Dämonen verlässt, wird Petrus von Christus persönlich nach Rom gesandt und bekommt dafür noch Paulus an die Seite gestellt. Während die beiden Gottes Wort predigen und die Menschen vom Heilsversprechen des christlichen Glaubens überzeugen, versucht der valsche man Symon (II 20469), sich mit seinen Zauberkräften beim Kaiser Vorteile zu verschaffen, den er entsprechend beeindruckt: ‚ennumenamen‘, er do sprach,/ ‚waz dirre wunders kan getun!‘/ er ist uber ein gotes sun (II 20480–20482). Simon nutzt seine Kräfte ausschließlich zum eigenen Vorteil, während Petrus Wunder entweder zum Beweis der göttlichen Allmacht (so bei Theophilus, den er dadurch mitsamt seinem Volk bekehren kann), oder aber selbstlos zur Hilfe anderer Menschen einsetzt (so die Auferweckung des Jüngers). Simon gibt sich als falscher Messias aus, während Petrus stellvertretend für Christus gerade die durch diesen erwirkten Heilsgarantien und künftige Erlösung verbreitet. So macht die Legende zwischen Petrus und Simon eine direkte Homologiebeziehung auf: Hier der Diener Gottes, der von Christus predigt, dort der zauberische Teufelsbündner, der sich selbst zum Gott erklärt. Durch seine Zauberkünste beginnt schon das Volk von Jerusalem zu glauben, daz er heilic were (II 20167), worauf Simon erklärt, daz er werlich were ein got (II 20173), ja mehr noch, er setzt sich in luziferischer superbia gar mit Christus gleich: ‚ich bin der gotes sun‘ (II 20176). Damit wird eine direkte Analogie zum Christentum hergestellt, so dass Simon weniger als extremer Vertreter eines der heidnisch-antiken Kulte erscheint, sondern vielmehr || 65 Die äußerst skeptische Bemerkung der Legenda aurea, dieser Wunderbericht sei doch zweifelhaft, da der Jüngling angeblich bereits seit vierzehn Jahren tot gewesen sei (wie ebenso die Rolle des Paulus bei der Befreiung Petri in Zweifel gezogen wird), übergeht das Passional, das einer Problematisierung allerdings auch insoweit aus dem Wege geht, als nirgendwo gesagt wird, wie lange der Sohn des Theophilus schon tot ist.

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als expliziter Gegenspieler der christlichen Religion. Als Zauberer und Nekromant ist er nach der Anklage des Petrus nichts anderes als des tuvels knecht (II 20565) und damit auch ein schanden vaz (II 20597) – wohl nicht zufällig wird hier der selbe Negativausdruck gebraucht wie für den Verräter Judas im ersten Buch (vgl. I 9263), den wohl verdammungswürdigsten Antiheiligen. Damit wird die Opposition von Wunder und Magie nicht einfach durch eine bloße Kontrastierung von christlich-thaumaturgischer und magisch-dämonischer Macht zur Anschauung gebracht, die Petruslegende zeichnet sich vielmehr dadurch aus, deren axiologische Besetzung in den jeweiligen Figuren unmittelbar zur Geltung zu bringen: Wenn sich Simon und Petrus in Rom ihren ‚Wunderwettkampf‘ liefern, geht es eben nicht primär darum, wer die größere Wirkmacht besitzt – dass dies Petrus ist, der mit Gottes Wort die Kraft des Teufels besiegen kann, ist für die Legende selbstverständlich. Vielmehr wird hier förmlich eine Art Stellvertreterkrieg auserzählt: Der Stellvertreter Christi (der er als Papst ja auch nominell ist) bekämpft den zauberischen Stellvertreter Satans – nirgendwo ist diese Konstellation der hagiographischen Auseinandersetzung mit Wunder und Magie so deutlich ausgeprägt. Wie enggeführt zugleich jedoch die Oppositionen sind, wie stark sich Wunder und Magie oberflächlich ähneln (auch Simons Künste werden ja als Wunder wahrgenommen), das zeigt sich nicht zuletzt an den Namen der beiden Figuren: Simon Petrus und Simon Magus. Der eine ist der erste Jünger Jesu, den jener mit seiner Nachfolge beauftragt hat und ihm den Beinamen gegeben hat als der Fels, auf den er seine Kirche bauen wolle (Mt. 16, 18). Der andere erscheint in der Apostelgeschichte als derjenige, der nicht nur kirchliche Ämter zu kaufen versucht, sondern insbesondere die virtus der Heiligen, kraft derer sie Wundertaten bewirken können; diese jedoch ist einzig durch die prinzipiell unverfügbare Gnade Gottes verliehen worden. Während daher Simon Petrus seine alte (sündhafte) Existenz mit der Erwählung durch Jesus überwunden und dadurch seinen Beinamen verdient hat, kann Simon Magus als Erwählter des Teufels gelten; damit wird klar, dass es nicht allein auf die göttliche Auserwähltheit ankommt, sondern dass die Entscheidung dem Menschen obliegt, ob er diese Nachfolge auch antreten möchte oder nicht. Permanent versucht Simon Magus, sich auf die gleiche Stufe wie Jesus zu stellen, ist also nicht Nachfolger, sondern beansprucht diese Rolle für sich selbst. Ausgerechnet in Jerusalem behauptet er: ich bin daz ware gotes wort,/ zu troste in di werlt gesant (II 20184f.). Er entlarvt sich jedoch, wenn er verlangt, angebetet zu werden und mit seinen Künsten prahlt, er könne in der Luft fliegen und unbeschadet im Feuer sitzen, vor allem aber kan ich brot wol machen/ von steinen, als mir daz behaget (II 20218f.). Steine in Brot zu verwandeln ist allerdings genau das, was der Teufel bei der Versuchung Jesu in der Wüste von diesem als erstes gefordert hat (vgl. Mt. 4, 1–11 u. Lk. 4, 1–13). Während Jesus dem Versucher standgehalten hat, selbst als der ihm alle Macht und Herrlichkeit der Welt versprochen hatte, bestätigt Simon Magus damit implizit, vom Teufel mit der entsprechenden Macht ausgestattet worden zu sein. Diese Analogien setzen sich immer weiter fort: Um Nero davon zu überzeugen,

186 | Heiligkeit als imitatio Christi daz ich werlichen bin/ des alweldigen gotes sun (II 20492f.), schlägt Simon vor, sich das Haupt abschlagen zu lassen, so wil ich vrolich erstan/ des dritten tages (II 20496f.). Er will also gleich Christus am dritten Tage auferstehen, freilich als Machtdemonstration, nicht als Erlösungstat, und dass auch hier einzig Blendwerk (goukel spil; II 20523) dahinter steckt, ist klar: Es scheint nur so, als werde Simon erschlagen, während es in Wirklichkeit ein Widder ist, dessen Blut fließt.66 Die Differenz zwischen dem selbsternannten und dem wahren Gottessohn wird hier vielleicht am deutlichsten, opfert sich Jesus doch selbst zum Heil der Anderen, während Simon andere für sich erschlagen lässt, zum eigenen Vorteil. Ja, Simon verhöhnt regelrecht das Opfer des Märtyrerblutes und dessen reliquiaren Status, wenn er Nero erläutert, das vom getöteten Widder stammende Blut sei min heilic bluot./ heiz ez behalden, das ist gut (II 20535f.). Auf diese Weise schafft es Simon, in Rom als göttlich verehrt zu werden, nicht nur von Nero, sondern auch vom übrigen Volk. Ihm gelingt sogar das Phänomen der Bilokation, doch während er im Palast beim Kaiser weilt, ist es lediglich sin bilde (II 20551), das öffentlich zum Volk spricht, und der Erzähler stellt sogleich klar: daz von deme tuvele geschach,/ wand in twanc sin zouberlist (II 20552f.). Oberflächlich gesehen präsentiert Simon damit die gleichen Wunder, wie sie auch durch Jesus und seine Heiligen geschehen, jedoch muss die Erzählung dabei immer erläutern, dass diese Fähigkeit nicht von Gott, sondern vom Teufel kommt, dass sie nicht durch Gnade verliehenes Charisma, sondern durch Zauberkunst erzwungene Dämonenlist ist. Erst auf diese Weise erfahren die auf den ersten Blick gleichen Wunderzeichen eine entsprechende axiologische Besetzung und damit eine eindeutige Wertung. Und genau darum, weil es sich scheinbar um die gleichen Phänomene handelt, deren magischer Ursprung nicht nur verschleiert, sondern vom Verursacher Simon im Gegenteil noch als göttliche Zeichen dargestellt werden, ist seine Vorgehensweise aus der Sicht der christlichen Religion gleichermaßen verwerflich wie gefährlich. Darum erhält Petrus von Christus den Auftrag, nach Rom zu kommen, Simons Machenschaften aufzudecken und das Volk zum wahren Glauben zu führen, wie es Jesus in seinem Sendeauftrag direkt gegenüber Petrus formuliert (vgl. II 20376ff.). Die Auseinandersetzung zwischen Petrus und Simon Magus steigert sich, wobei der auf das öffentliche Rededuell vor Nero folgende Zaubererwettkampf durchaus biblische Vorbilder beanspruchen kann.67 Nach dem Vorwurf, er verdanke seine Zauber|| 66 Süffisant kommentiert der Erzähler: hi muget ir wunder schouwen/ von sinen zouberlisten (II 20510f.), und stellt damit unmissverständlich klar, wie die angeblichen Wunder des Simon tatsächlich einzuordnen sind. 67 Vgl. KIECKHEFER, Magie im Mittelalter, S. 45f. und 48. Zu nennen wären z.B. der Streit zwischen Aaron und den ägyptischen Zauberern in Ex. 7, 8–13 oder Elias Kampf gegen die heidnischen Baalspriester (1. Kön. 18), dem man Daniel 14, 1–23 an die Seite stellen könnte. Während die Erzählung um Simon Magus in der Apostelgeschichte keine derartige Ausgestaltung erfährt, bekämpfen an

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kraft einzig dem Teufel, muss Simon einem ersten ‚Test‘ zustimmen. Hier werden Simon zum ersten Mal die Grenzen seiner Macht aufgezeigt: Er kann die Gedanken seines Gegenübers nicht erkennen, Petrus schon; die von Simon zu seiner Verteidigung angekündigten ‚Engel‘ entpuppen sich als Höllenhunde (sin engele die sint hundin; II 20722),68 welche Petrus nicht einmal durch ein Wort, sondern einzig durch das Zeigen der geweihten Brote besänftigen kann: Es reicht die sakramentale Qualität der Hostie, um die Teufelsboten in die Schranken zu weisen – denn es ist die Eucharistie, durch die im Gottesdienst als Gedächtnismahl die Erlösungstat Jesu vergegenwärtigt wird (wobei die mittelalterliche Vorstellung von einer tatsächlichen, mythischen Präsenz geprägt ist), und genau durch diese Erlösungstat hat der Teufel seine Macht auf Erden verwirkt.69 Damit aber weist die Handlungsweise des Petrus eben doch weit über magische Praktiken hinaus, er ist gerade nicht derjenige, der die ‚höhere Magie‘ beherrscht, den mächtigeren Zauber kennt, vielmehr verweist er lediglich auf die allumfassende Macht Gottes, in deren heilsgeschichtlichem Zentrum die Erlösung der Menschen durch den Kreuzestod steht. Dessen zeichenhafte Vergegenwärtigung wird zu einem unmittelbaren Präsenzeffekt, durchaus analog zu magischen Praktiken,70 dieses Präsentischwerden zu bewirken gelingt kraft der heiligen virtus, kann jedoch einzig auf Gottes Macht selbst zurückgeführt werden. Auf ähnliche Weise entkommt Petrus auch einem Anschlag des Magiers, der einen wilden Hund auf ihn hetzen will. Erneut werden die Unterschiede von heiliger virtus und dämonischer Zauberkraft offenbar, denn Petrus sieht dem Tier sofort die zauberisch-bösartige Absicht an: sin heilige wisheit wol vernam/ die valschlistigen art (II 20874f.), so dass er den Hund mit einem einfachen Kreuzzeichen zähmen kann; der richtet sich statt dessen gegen seinen früheren Meister und fällt Simon Magus an, Petrus jedoch gebietet dem Hund, ihn zu verschonen. Damit wird bereits zum Ausdruck gebracht, dass Simon nicht durch andere gerichtet werden soll, er wird sich vielmehr selbst zu Fall bringen. Der Hund zerreißt ihm daher lediglich die Kleider, so dass Simon zuletzt völlig nackt dem Spott der Menge ausgesetzt ist und vor Scham aus der Stadt flieht, die er erst ein Jahr später wieder betritt. || anderer Stelle (Apg. 19, 13–19) die Apostel z.B. die Magier von Ephesos und verbrennen deren Zauberbücher. Dass Berichte über solch magische Machtdemonstrationen ein gängiges, auch außerbiblisches Erzählmotiv darstellen, zeigt ein Blick in die Motivindizes, vgl. etwa die in Mot. V350ff. aufgeführten Motivgruppen. 68 Zur allegorischen Ausdeutung der Figur des Hundes als Sinnbild für den kirchenfernen Häretiker vgl. – wiederum mit Blick auf die Passio und die Acta Petri – FERREIRO, Simon Magus, Kap. 9: „Simon Magus, Dogs, and Simon Peter“, S. 147–200. 69 Zur quasi-magischen Kraft der eucharistischen Gegenstände, insbesondere der Hostien zugeschriebenen Wunder- und Heilungskräfte im Rahmen mittelalterlicher Gebets- und Beschwörungsformeln vgl. Christa HÄSELI, Sprachmagische Texte des Clm 536 (11./12. Jh.), in: Cornelia HERBERICHS u. Christian KIENING (Hg.), Literarische Performativität, Zürich 2008, S. 63–81. 70 Vgl. SCHULZ, Beschwörungen, bes. S. 13–28.

188 | Heiligkeit als imitatio Christi Es zeigt sich, dass die Wunder, die Petrus vollbringt, völlig verschieden von denen des Simon sind. Es gibt nur eine Situation, in der seine Wunderkraft mit der seines Kontrahenten unmittelbar verglichen werden kann und Petrus tatsächlich in einer Art Wettstreit auf ein Wunder Simons reagieren und es überbieten muss; dabei handelt es sich um das für hagiographische Erzählungen beinahe stereotype Motiv der Totenerweckung.71 Ausgangspunkt ist erneut Simon, der behauptet, ein solches Wunder vollbringen zu können und damit gezielt Petrus herausfordert, da die Öffentlichkeit nun von beiden einen Beweis solcher Wunderkraft an einem kürzlich Gestorbenen fordert. Hier werden Simons Künste am deutlichsten als Blendwerk und fauler Zauber entlarvt, denn der Magier bewirkt lediglich mit zouber sachen (II 20767), dass der Tote den Kopf auf und ab bewegt, was der Menge freilich schon als Bestätigung seiner Fähigkeiten genügt. Nur Petrus hat Zweifel und verlangt, der angeblich Auferweckte solle doch sprechen, essen und trinken, also jene zivilisatorischen und kulturellen Eigenschaften zeigen, die ihn als eigenständig handelndes Lebewesen kennzeichnen. Damit wird Simons goukelspil (II 20794) offenbar, so dass es jetzt am Apostel ist, den Toten zu erwecken. Und erneut erweist sich dessen Kraft als ganz anders gelagert als die Simons. Petrus wendet sich erst im Gebet an Gott und spricht dann mit offenlichen worten, daz sie ez alle horten, die da gesamt waren bi: ‚in dem namen Jesu Cristi, der an des cruces not sin leben in den tot hat ergeben und erstunt von tode sit, des man im lob billich git [...] so gebiete ich dir, jungelinc, daz du uf von tode erstest‘ (II 20813–20823).

Auch hier könnte man auf den ersten Blick wieder eine sprachmagische Handlung konstatieren, wie sie Ursula Schulz beschreibt: Analog einer historiola, wie sie mittelalterliche Beschwörungsformeln üblicherweise enthalten, erinnert Petrus zunächst an ein göttliches Ereignis der Vergangenheit (Jesu Tod und Auferstehung), um dieses durch die Sprachhandlung präsentisch werden zu lassen und auf den Toten in der Gegenwart zu übertragen, der nun seinerseits wieder ins Leben zurückkehrt.72 Die Konvergenz alt- und mittelhochdeutscher Segensformeln und Zauber|| 71 Vgl. FERREIRO, Simon Magus, S. 78. 72 In Beschwörungsformel und historiola verbinden sich damit Narration und Gegenwartshandlung; vgl. zu diesem Prinzip ausführlich SCHULZ, Beschwörungen, S. 30, die von einer ‚Fusion‘ des präteritalen und des präsentischen Anliegens spricht. Dass das Gebet phänomenologisch auch als Beschwörungsformel angesehen werden kann, bemerkt auch FREMER, Wunder und Magie, S. 64f.

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sprüche lässt darüber hinaus den Schluss zu, dass ein solches Denken in der kulturellen Praxis des Mittelalters durchaus seinen Raum gehabt hat, oder vielmehr: dass dort gerade keine strikte Trennung von magischen Sprechakten und Segenssprüchen, von Heilzauber und Heilungsgebeten, vorgenommen worden ist – freilich oft zum Missfallen der Amtskirche.73 Auf der anderen Seite lassen sich bei genauerem Hinsehen ganz gezielte Unterschiede erkennen, die die Darstellungsweise dieses Wunders von magischen Sprachhandlungen eindeutig abheben. Zwar wird auch hier die Unmittelbarkeit des Wortes zum Ereignis, doch Petrus spricht seine Worte ausdrücklich öffentlich, damit alle sie hören können und demonstriert dadurch, dass es sich gerade nicht um irgendein Geheimwissen handelt (dagegen stehen die Bücher, die Simon Magus auf seiner Flucht nach Rom vernichtet hat, um sein Wissen zu verheimlichen und mit niemanden zu teilen).74 Das göttliche Heil, das hier erbeten und nicht etwa durch magischen Zwang befohlen wird, ist grundsätzlich allen zugänglich, und damit offenbart sich die zweite große Differenz: Das Wunder geschieht im Namen Jesu Christi (II 20816), er ist der wahre Wundertäter, Petrus nur der Mittler. Die unmittelbare Wirksamkeit seines Wortes ist dabei ausschließlich von der Kraft und Gnade Gottes abhängig. Dass Petrus dabei nochmals an Tod und Auferstehung Christi erinnert, scheint zunächst an die historiola bestimmter Zauberformeln zu erinnern, denen ja ein Vertrauen auf das analogische Fortwirken göttlicher Kraft- und Heilstaten zugrunde liegt. Doch wird hier nicht einfach irgendeine Heilstat Gottes aufgerufen, sondern das zentrale Ereignis der christlichen Heilsgeschichte, denn Kreuzestod

|| 73 Vgl. nur die Beispiele bei KIECKHEFER, Magie im Mittelalter, S. 70ff., bes. S. 85–91. Andererseits darf nicht übersehen werden, dass ein Großteil der uns heute überlieferten Zauber- und Segensformeln in medizinischen Handschriften tradiert worden ist, die wiederum Bestandteil von Klosterbibliotheken waren, da die Klöster ein wichtiger Ort für die Aufbewahrung medizinischen Wissens waren. Gerade in diesem Zusammenhang ist zu bedenken, dass die wohl berühmtesten deutschsprachigen Zauberformeln, die sog. Merseburger Zaubersprüche, auf dem Vorsatzblatt eines Sakramentars aus dem 10. Jh. überliefert sind. Zum kaum vorhandenen Funktionsunterschied von Zauber- und Segenssprüchen vgl. Brian MURDOCH, Drohtin, uuerthe so! Funktionsweisen der altdeutschen Zaubersprüche, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 32 (1991), S. 11–37. 74 FREMER, Wunder und Magie, S. 70f., kommt bei der Analyse verschiedener hagiographischer Berichte von Totenerweckungen (u.a. in der Martins- und der Severinsvita) zu dem Schluss, dass derartige Wunder stets unter Ausschluss der Öffentlichkeit vollzogen würden, allenfalls sei noch eine begrenzte Anzahl kirchlicher Amtsträger zur Unterstützung der Gebete des Heiligen zugelassen; den oftmals konstatierten Kontrast zwischen sich eher im Geheimen abspielenden magischen Handlungen und öffentlich vollzogenen Wundern kann er damit nicht bestätigen. Hingegen zeigt nicht nur die hier angeführte Episode der Petruslegende, dass es durchaus auch Gegenbeispiele gibt: Der Öffentlichkeitscharakter der Wunderhandlung im Gegensatz zur geheimen Zauberkraft wird beispielsweise auch im Stierwunder der Silvesterlegende explizit betont (Kap. 8.2), ebenso erweckt der hl. Benedikt einen toten Mitbruder vor dem gesamten Konvent, und auch bei den Totenerweckungen von Martha, Andreas, Thomas oder Matthäus ist zumindest in der Version des Passionals jeweils die Öffentlichkeit zugegen.

190 | Heiligkeit als imitatio Christi und Auferstehung haben die Menschen vom ‚ewigen‘ Tod durch die Sünde erlöst, und es ist die Macht jenes Ereignisses, das den Menschen in dieser Legende vom physischen Tod erlöst. Damit wird das bloße Zeichen, das Wort, zum Ereignis, das wiederum über sich hinausweist: Die Totenerweckung im Namen Christi wird selbst zum Zeichen, zum signum, das in der Überwindung des physischen Todes durch den Heiligen als Mittler die Überwindung des ‚geistigen‘ Todes durch Christus verspricht – ein Versprechen, das Simon Magus nie einzulösen imstande wäre, so sehr er sich auch den Anschein eines Gottes geben mag. Genau hierin ist die qualitative Differenz von Wunder und Magie in der hagiographischen narratio zu betrachten. Das mythische Denken, das den sprachmagischen Handlungen zugrunde liegt, wird in gewisser Weise integriert und zugleich distanziert. Die ‚Auferstehung‘ wird in der Totenerweckung operationalisierbar, bleibt zugleich aber rückgebunden an das zentrale, sie begründende Ereignis der Heilsgeschichte. Es ist eben dieses Verhältnis, das das ‚Finale‘ dieser Auseinandersetzung mit einem Crescendo beendet: Wenn Simon nach einem Jahr Absenz wieder nach Rom kommt, will er das versammelte Volk endgültig auf seine Seite ziehen, indem er seine eigene Himmelfahrt inszeniert. Nachdem er vor Nero bereits erfolgreich seine Auferstehung vorgetäuscht hat, versucht er nun eine weitere göttliche Tat Christi nachzuahmen, um sich selbst als Gott auszugeben. Während sich Simon vor aller Augen tatsächlich in die Luft erhebt, drängt Paulus Petrus, einzuschreiten. Der wendet sich – und zwar wiederum in dem namen Jesu Christi (II 21035) – an die engele von Sathana (II 21031), die den Zauberer unsichtbar für alle anderen in die Lüfte heben, daz ir wichet so hin bi und lat den menschen vallen vor disen luten allen, uf daz sin nackeit werde erkant (II 21036–21039).

Die Dämonen müssen dem Heiligen gehorchen, sie lassen Simon fallen, der auf dem Boden aufschlägt und auf der Stelle tot ist. Auf diese Weise werden jedoch nicht nur die eigentlichen, teuflischen Helfer offenbar, die hinter Simons Zauberkünsten stekken, vielmehr wird dieser mit dem Teufel direkt gleichgesetzt. Wie Luzifer hat sich auch Simon angemaßt, Gott gleich zu sein; die darin gründende Todsünde der superbia wird in der Legende als Simons hochvart (II 20738) ebenso benannt wie seine Verwerflichkeit durch den Terminus nackeit (II 21039; ebenso 20937).75 Simons Sturz zur Erde wird dadurch zu einer Figuration des Luzifersturzes, und Simon zur figura

|| 75 Zu diesem Begriff, der im Passional ausschließlich den von der göttlichen Gnade ausgeschlossenen, heilsgeschichtlich verdammungswürdigen Anti-Heiligen (Judas, Pilatus, Herodes) zukommt, vgl. Kap. 7.

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des Antichrist. Dieses Verhältnis bringt Petrus schon am Anfang seiner Auseinandersetzungen mit dem Magier vor Nero zum Ausdruck: […] daz wir predigen sunder schamen Jesum Cristum den waren got. von der gotheit gebot sint an im zwo nature in einer figure, daz ist mensche unde got. also hat des tuvels spot vereinet sich an disem man, daz ich wol nu sprechen kan, daz er mensch und tuvel ist (II 20600–20609).76

Simon Magus, der mit teuflischen Künsten Christus nachahmen (und eben nicht: nachfolgen) will, wird diesem damit diametral gegenübergestellt. Während das Mysterium der Natur Christi darin gründet, dass Jesus Mensch und Gott zugleich ist, ist der Zauberer Simon umgekehrt Mensch und Teufel in einem. Damit bringt die Legende implizit die ganze theologische Tragweite ins Spiel, die die Differenz zwischen Wunder und Magie, zwischen Gebet und Zauberei mit sich führt. Über die immer wieder herausgestellte Figuralität Simons mit dem Antichrist erweist sich umgekehrt wiederum Petrus als figura Christi. Der Heilige ist ein Mensch, jedoch mit der Kraft und dem Charisma Gottes begnadet, genau das macht seine Heiligkeit aus und lässt ihn im Namen Jesu Wunder wirken. Wie scharf Petrus als figura Christi Simon Magus gegenübergestellt wird, zeigt sich nicht zuletzt in der Darstellung seines Martyriums, das er (zusammen mit Paulus, der geköpft wird) in imitatione Christi am Kreuz erleidet, jedoch umgekehrt daran hängend, da er sich unwert der ere (II 21263) betrachtet, auf die genau gleiche Art wie sein Herr zu Tode zu kommen. Die imitatio im Martyrium bedeutet, Christus ähnlich, aber nicht identisch zu werden, und um dies auch äußerlich klarzustellen, bittet Petrus darum, kopfüber ans Kreuz genagelt zu werden und damit den Unterschied zwischen Jesus und ihm als dessen Nachfolger zu markieren, erneut ein Kontrast zu Simon Magus, der mit seinem Blendwerk ja Gott ausdrücklich gleich kommen möchte.77 Ebenso im Gegensatz zu diesem steht die bekannte ‚Quo-vadis-Szene‘, wenn Petrus vor seinen Häschern aus Rom flieht und am Stadttor Christus begegnet, der ihm eröffnet, dass er, wenn Petrus die Stadt verlasse, nun ein weiteres Mal ans Kreuz genagelt werden müsse. Während Simon bei der Vortäuschung seiner eigenen Auferstehung ein anderes Lebewesen sterben lässt, erleidet Petrus sein Marty|| 76 Vgl. hier den Wortlaut in LA 84, 82: Addiditque Petrus quod sicut in Christo sunt due substantie, scilicet dei et hominis, sic et in isto mago sunt due substantie, scilicet hominis et dyaboli. 77 Eine weitere Parallele zu Christus ist die Bezeichnung von Petrus und Paulus vor Gericht als zwei arme schefelin. (II 21169), die an Christus als Lamm Gottes erinnert.

192 | Heiligkeit als imitatio Christi rium selbst, um so die Auferstehung zum ewigen Leben zu erlangen, welche Christus, der für alle anderen gestorben ist, erwirkt hat. Dies wird untermauert, indem Christus dem Apostel am Kreuz persönlich und für alle sichtbar erscheint und seine Seele in den Himmel geleitet. Im Gegensatz zu Simon, der mit seinen Zauberkünsten seine Himmelfahrt nur vortäuscht und dafür einen Höllensturz erfährt, wird Petrus tatsächlich der Aufstieg in den Himmel zur Gemeinschaft der Heiligen zuteil. Dass es dabei Jesus persönlich ist, der zu dem am Kreuz hängenden Petrus kommt und ihn in den Himmel geleitet, unterstreicht diese Bezüge noch: Petrus erscheint als der exemplarische Nachfolger Christi – im Leben und in seinen Wundern wie im Tod.

4.3 Der Apostel Johannes: Nachfolger Jesu und Mariae Auf gänzlich andere Weise stellt sich Nachfolge in der Vita des Apostels Johannes dar. Die Gleichsetzung des Apostels mit dem im Johannesevangelium beschriebenen ‚Lieblingsjünger‘ Jesu ist schon in der Alten Kirche von Irenäus aufgebracht worden und besitzt auch für das Mittelalter noch uneingeschränkte Gültigkeit. Damit verbunden ist Johannes’ Identifizierung als vierter Evangelist, Verfasser der drei Johannes-Briefe und der Apokalypse.78 Gerade letztere beinhaltet einzigartiges visionäres Wissen, das, so die Vorstellung, Johannes durch seine besondere Beziehung und Nähe zu Jesus zuteil geworden sei; der ihm zugeschriebene Evangeliumsbericht erhält aus dem gleichen Grund besonderen Zeugniswert, da Johannes als engem Vertrauter Jesu ein herausragender Stellenwert als Augenzeuge zugesprochen wird. Auch das Passional betont diese Zusammenhänge, indem in der Darstellung des Passionsgeschehens Johannes mehrfach namentlich genannt wird (vgl. etwa I 5365ff. in der Gründonnerstagsszene oder I 6635ff. in der Szene unterm Kreuz); die besondere Stellung des Apostels wird außerdem im Bericht von Marias Ende betont. Die Gestalt des Apostels ist durch die Schriften des Neuen Testaments in mannigfacher Weise belegt. Darüber hinausgehende Informationen über sein weiteres Leben und seinen Tod schildern die frühchristlichen Apostelakten.79 Diese Johannesakten haben noch in der Spätantike offenbar erhebliche Umarbeitungen erfahren, erst Ende des 4. Jh.s sind sie auch in lateinischer Überlieferung nachweisbar (unter anderem in der Verwendung durch Augustinus). Einzelne Stücke wurden schließlich im ausgehenden 6. Jh. in den sog. Virtutes Johannis zusammengefasst, von wo aus sie Eingang ins hagiographische Schrifttum gefunden haben.80 Auch die || 78 Vgl. Hartwig THYEN, [Art.] Johannesevangelium, in: TRE 17, 1988, S. 200–225, hier S. 200. 79 Vgl. Knut SCHÄFERDIEK, Johannesakten, in: NA, Bd. 2, S. 138–193, hier S. 139; dort auch zur komplizierten Überlieferungsgeschichte der griechischen und lateinischen Johannesakten. 80 Vgl. ebd., S. 141f. u. 148. Die Johannesakten und die Virtutes Johannis sind ediert und mit einem umfangreichen Kommentar versehen von Eric JUNOD u. Jean-Daniel KAESTLI (Hg.), Acta Iohannis,

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Legenda aurea greift auf Kompilationen zurück, die den Stoff der Virtutes verarbeiten; Jacobus de Voragine nennt als Quelle Miletus von Laodicea und die Zusammenfassung dessen Werks durch Isidor von Sevilla, für einzelne Abschnitte führt er außerdem die pseudo-klementinische Historia Ecclesiastica an.81 Das Passional wiederum hält sich weitgehend an die Zusammenstellung der Legenda aurea, weitet aber wie so oft einzelne Passagen z.T. sehr stark aus. Der Passionaldichter leitet seine Legende mit einem von der Legenda aurea unabhängigen, fast 150 Verse langen Prolog ein, der die außerordentliche Bedeutung dieses Heiligen unterstreicht und zwei wesentliche Punkte fokussiert: Der Vergleich des Apostels mit dem Adler82 sowie ein Lob der Eigenschaften des Heiligen, von denen besonders die Keuschheit hervorgehoben wird. Dieses Lob mündet dann in die Anrufung Johannes als Verfasser des vierten Evangeliums, wodurch die einzigartige Sonderstellung des Apostels begründet ist, wobei der Passionaldichter den bekannten Anfang des Johannesevangeliums (‚in dem beginne was daz wort,/ und daz wort waz bi gote‘; II 26422f.) zitiert und damit zugleich herausstellt, dass die Lehren des Johannes nicht allein seiner Augenzeugenschaft als Jünger Jesu entspringen, sondern zugleich Wort Gottes, göttliche Inspiration sind.83 Die mit insgesamt 1671 Versen sehr umfassende Legende gliedert sich in mehrere Abschnitte (da auch diese Legende im Handlungsaufbau weitgehend der Legenda aurea folgt, kann auf einen ausführlichen Vergleich mit der Vorlage erneut verzichtet werden): Nach dem langen Prolog wird zuerst die Missionstätigkeit des Apostels in Ephesus und später in Rom beschrieben, wo er von Kaiser Domitian in siedendem Öl gemartert werden soll, was jedoch scheitert; Johannes wird statt dessen auf eine Insel verbannt, wo er die Apokalypse verfasst (II 26479–26672). Zusätzlich zur Legenda aurea || 2 Bde., Turnhout 1983 (Bd. 1: krit. Text der grch. Akten, Bd. 2: weitere Texte und Kommentar; die Edition der Virtutes dort auf S. 799–834). Zu den Virtutes Johannis in der sog. ‚Abdiassammlung‘ und der Passio S. Johannis vgl. umfassend bereits LIPSIUS, Apostelakten, S. 408ff., zu den einzelnen Rezensionen der Virtutes S. 138f., außerdem KLAUCK, Apostelakten, S. 58f. 81 Die Passio Johannis des Miletus von Laodicea ist Grundlage der Virtutes, welche diese um weitere Elemente anreichern; vgl. zum Verhältnis der beiden Knut SCHÄFERDIEK, Die Passio Johannis des Miletus von Laodicea und die Virtutes Johannis, in: Analecta Bollandiana 103 (1985), S. 368–382. Zu den Quellen des (Ps.-) Isidor vgl. auch LIPSIUS, Apostelakten, S. 431f. 82 Der Adler als ikonisches Symbol des Apostels ist dem Evangelisten bereits in der Alten Kirche zugewiesen, vgl. Gregor Martin LECHNER, [Art.] Johannes der Evangelist, in: LCI 7, 1974, Sp. 108–130, hier 114. 83 Zum Aufbau des Prologs vgl. JOBE, Passional, S. 186–188. Das Lob auf die Tugenden des Johannes mit dem Adlersymbol zu verbinden, ist offenbar ebenso Eigenleistung des Passionaldichters wie die Reflexionen auf den Beginn des Johannesevangeliums. Die Legenda aurea hebt die Leistungen des Johannes dagegen in der Auslegung des Namens am Eingang der Legende hervor und nennt dabei die außerordentliche Beziehung zu Jesus, seine Keuschheit, sein Offenbarungswissen und die Tatsache, dass ihm Maria anvertraut wurde. Das Passional streicht neben der Jungfräulichkeit noch Weisheit und Mut heraus; Eigenschaften, die ebenso den Adler betreffen, erwähnt aber auch Johannes Rolle in der Passionsgeschichte und als Evangelist.

194 | Heiligkeit als imitatio Christi fügt das Passional danach zwei Abschnitte hinzu (II 26673–26816). Einer erklärt, warum die Römer den christlichen Glauben damals nicht angenommen hätten, der zweite berichtet von Johannes Mutter (nach der Lehre des Trinubiums ja auch die Mutter des Jacobus und Schwester der Gottesmutter Maria, s.o.). Auf diese Exkurse folgen dann in einem zweiten Block, wieder ganz der Legenda aurea folgend, verschiedene Wunderberichte um den Apostel: Die Erweckung der Drusiana (II 26817–26930), das Steinwunder in der Auseinandersetzung mit dem Philosophen Krathon und der Frage nach der Weltverachtung, das in ein Predigtexempel und einen bestätigenden Visionsbericht eines Wiederauferweckten mündet (II 26931–27364). Es schließt sich ein weiterer Block von Wunderberichten um die Auseinandersetzung mit den Götzendienern in Asia an: Johannes bringt den Tempel der Abgötter zum Einsturz, leert unbeschadet einen Giftbecher und bekehrt den Oberpriester schließlich durch eine Totenerweckung (II 27365–27586); zuletzt folgt die Bekehrung eines Räubers (II 27587–27788). Einige weitere, eher exemplarische denn mirakulöse Abschnitte der Legenda aurea überliefert das Passional dagegen nicht. Es geht stattdessen gleich zur Metastasis des Johannes über, der Schilderung seiner Entrückung im Augenblick des Todes (II 27789–27847). Das Mirakel vom Ring König Edmunds beschließt die Legende. Der Aufbau dieser Legende zeigt ähnliche Merkmale, wie sie bereits für die Andreas- und die Petruslegende festgestellt wurden. Die Abschnitte lassen sich zum einen räumlich gliedern: 1. Ephesus – Rom – Verbannung auf die Insel, 2. von Ephesus nach Asia, und 3. wieder zurück in Ephesus, wo Johannes stirbt. Die Schilderungen von der Missions- und Wundertätigkeit des Apostels sind paradigmatisch aneinander gereiht; syntagmatische Ansätze gibt es nur in dem ersten Block, in dem ein kaiserlicher Brief den Apostel von Ephesus nach Rom zitiert, von wo aus er dann verbannt wird. Ist dort wenigstens ansatzweise eine Art fortlaufender Handlung zu erkennen, so folgen die Episoden des zweiten Abschnitts ohne äußeren Zusammenhang aufeinander. Die beiden Blöcke werden durch den Einschub des Passionals getrennt, der versucht, Kohärenzen zum ersten Buch herzustellen, indem z.B. das Trinubium nochmals aufgegriffen wird oder in Zusammenhang mit dem Unglauben der Römer ein Brief des Pilatus (dessen Vita innerhalb des Passionsgeschehens erzählt wird) an Kaiser Tiberius erwähnt wird; offenbar versucht der Passionaldichter hier erneut, einzelne, weit entfernte Handlungskomplexe miteinander zu verklammern. Besonders der zweite Block zeigt die einzelnen Wunder und Fähigkeiten des Heiligen in den unterschiedlichsten Facetten auf, die freilich alle untereinander austauschbar sind. Sie führen die Handlung in keiner Weise zum Tod des Heiligen hin, stattdessen wird am Ende einfach ein großer Sprung in der Erzählung gemacht, die zuletzt den Apostel als alten Greis darstellt. Da es keinen vollständig kohärenten Handlungsverlauf gibt, bietet es sich bei der Analyse an, nicht einfach nach der Erzählfolge vorzugehen, sondern nur solche Abschnitte herauszugreifen, an denen spezifische Inszenierungsformen von Heiligkeit deutlich gemacht werden können. Betrachtet man die thematische Untergliede-

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rung, so beschreiben der kürzere erste sowie der letzte Abschnitt zu Johannes Tod Wunder, die Gott an dem Heiligen vollbringt, während der zweite, längere Abschnitt verschiedene Wunder durch den Apostel darstellt. Gerade die verschiedenen Wunderepisoden dieses Abschnittes decken sich in den meisten Beobachtungen mit denen, die im vorigen Kapitel anhand der Petruslegende gemacht worden sind, insbesondere die bereits erwähnte Auseinandersetzung mit den heidnischen Priestern des Dianatempels in Asia. Da vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse eine genauere Analyse dieses Abschnittes kaum neue Aufschlüsse erbringen würde, kann auf eine eingehende Betrachtung an dieser Stelle verzichtet werden. Im Fokus sollen vielmehr solche Formen der imitatio liegen, die weder durch Wunderhandlungen noch durch das Martyrium eine direkte Nachfolge Christi inszenieren, insbesondere die Darstellung des Todes, bei dem Johannes nicht als Märtyrer die Nachfolge Christi, sondern als keuscher Bekenner eine imitatio Mariae ausfüllt. Der erste, mit knapp 200 Versen sehr kurze Abschnitt schildert allgemein, wie der Apostel herumreist und in Ephesus viele Menschen zum Christentum zu bekehren versucht, zum Ärger des heidnischen Landesherren, der darum den römischen Kaiser einschaltet, so dass Johannes nach Rom gebracht wird. Kaiser Domitian will Johannes den Märtyrertod bereiten, aber dies gelingt nicht: Nicht etwa, weil das Urteil nicht vollstreckt würde oder weil der Heilige sich durch Flucht entziehen könnte, sondern weil die Folter, wie es auch bei anderen Martyriumsdarstellungen zu beobachten ist, nicht anschlägt. Johannes entsteigt dem Fass mit siedendem Öl, ohne dass ihm auch nur ein Haar gekrümmt wäre. Im Gegensatz zur Legenda aurea, die einen solchen Zusammenhang nur unbestimmt setzt, wird im Passional das Eingreifen Gottes beim Martyrium, das den Heiligen vor Verletzungen bewahrt, ausdrücklich mit dessen herausragendster Tugend, der Keuschheit, in Verbindung gebracht: ey, nu schouwet dar an,/ waz got ane sine kuscheit/ grozer crefte hat geleit! (II 26604–26606).84 Damit wäre ein Körperkonzept zu erschließen, das dem des in Kap. 6.1.2 näher beschriebenen Auferstehungsleibes entspricht, jenem transzendierten Körper, der völlig unempfindlich ist gegenüber irdischen Schmerzen oder anderen Bedürfnissen, und der sich an Johannes bereits zu diesem Zeitpunkt offenbart. Demgegenüber wird Nachfolge im Martyrium in dieser Legende gerade abgewiesen. Folgt in den herkömmlichen Märtyrerlegenden in einer solchen Situation vielfach eine Reihe weiterer vergeblicher Fehlversuche, bis der oder die Heilige endlich doch stirbt, so wird bei Johannes nach diesem einen erfolglosen Versuch die Folter sogleich abgebrochen und das Todesurteil in eine Verbannung umgewandelt. Keuschheit und Askese ist offenbar Johannes Weg zur Gemeinschaft der Heiligen, nicht das blutige Martyrium, wobei zugleich klargemacht wird, dass er sich diesem keineswegs verweigert hätte. Dass er dann in der Verbannung die Apokalypse ver-

|| 84 Vgl. dagegen die vage Aussage in LA 9, 16, Johannes wäre unbeschadet geblieben, sicut a corruptione carnis exiterat alienus (als ob er ohne alle leibliche Befleckung auf Erden gegangen war).

196 | Heiligkeit als imitatio Christi fasst, mag nun nicht mehr verwundern, steht er doch in so engem Kontakt zur Sphäre der Transzendenz, dass eine visionäre Schau, wie sie dieser Offenbarung zugrunde liegt, darin eingeschlossen ist. Der gleiche Konnex zwischen Keuschheit und heiliger virtus wird (ebenfalls als Explikation des Passionals gegenüber der Legenda aurea) in einer Episode des zweiten Wunderzyklus hergestellt (vgl. auch oben Kap. 4.2.1): In Asia lässt sich der heidnische Oberpriester auf einen Machtkampf ein, wer den Tempel des jeweils andern zerstören könne; natürlich ist es der Heidentempel, der auf Johannes Gebet hin einstürzt. Das genügt aber nicht, Johannes soll einen Giftbecher trinken, der ihm nach dem Segen mit dem Kreuzzeichen nicht schaden kann. Während die Legenda aurea das Geschehen unkommentiert lässt und damit implizit auf das (metonymisch wirkende) Kreuzzeichen zurückführt, ist es wiederum eine Eigenart des Passionals, die Unschädlichkeit des Trankes mit der Keuschheit des Johannes in Verbindung zu bringen: sinen heiligen munt/ und ouch sin kusche herze/ vloch alles leides smerze (II 27530–27532). Die Unverletzlichkeit des Johannes, der – anders als die beiden Opfer, an denen die Wirksamkeit des Giftes zuvor ausprobiert worden ist – keinen Schaden daran nimmt, wird in direkten Bezug zu seiner heiligen virtus gesetzt, die wiederum unmittelbares Verdienst seiner Keuschheit ist.85 Auf diese Weise kann Johannes den Nachfolgeauftrag Jesu, dessen Lieblingsjünger er schließlich gewesen ist, umso eindrücklicher antreten. Schon der Prolog stellt ja die Ausnahmestellung des Apostels fest, das Passional beginnt die Legende mit den Worten Johannes hogelobter bote,/ geminnet sunderlich von gote (II 26343f.). Wird im ersten Abschnitt der Legende, der seine Missionstätigkeit in Ephesus und Rom beschreibt, die besondere Auserwähltheit des Apostels dargelegt, zeigt der zweite Abschnitt, der sein Wirken in Ephesus behandelt, explizit die Christusnachfolge: Wie Andreas stellt auch Johannes seine Auserwähltheit in mehreren Totenerweckungen unter Beweis, zu denen die Apostel im Sendeauftrag Jesu ja auch ausdrücklich bevollmächtigt sind. Die erste ereignet sich gleich nach seiner Rückkehr aus dem Exil in seine alte Wirkungsstätte Ephesus, wo man ihm den Leichnam der Drusiana entgegen trägt, welche Johannes seinerzeit zum Christentum bekehrt hatte und die nichts sehnlicher gewünscht hat, als diesen noch einmal zu sehen. Ausführlich gibt das Passional die Klagen der Trauergesellschaft wieder, so dass auch für die Rezipienten die Tragik der Situation, dass Drusiana just zu dem Zeitpunkt gestorben ist, da Johannes tatsächlich zurückkehrt, nachvollziehbar gemacht wird. Erneut lässt sich gegenüber der Legenda aurea eine Rezipientensteuerung hin zur || 85 Es entspricht durchaus der theologischen Anschauung, dass die göttliche virtus verdient werden muss: „Zur Voraussetzung aber hat die Virtus die persönliche Askese und Heiligkeit“, konstatiert ANGENENDT, Heilige und Reliquien, S. 70. Der vir dei ist (wie das weibliche Pendant der famula dei) aufgrund seiner asketischen Tugenden mit Gotteskraft erfüllt; die mittelalterliche Scholastik unterscheidet zwischen gnadenhaften und natürlichen Tugenden, aufgrund derer Gott den Heiligen die Fähigkeit verleiht, Wunder zu wirken (vgl. ebd., S. 74–80).

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Affektivität konstatieren. Die Auferweckung ist dagegen sehr schlicht gestaltet, Johannes betet lediglich (und zwar öffentlich, wie betont wird), Jesus Christus möge Drusiana ihr Leben wiedergeben, und befiehlt ihr aufzustehen; die Frau erhebt sich wie aus einem Schlaf und geht nach Hause. Eine solche darstellerische Schlichtheit ist insofern programmatisch zu verstehen, als auch Christus derartige Wunder (vor allem an Lazarus) ohne weitere, quasi-magisch erscheinende Hilfsmittel, vollbringt.86 Weniger mirakulöse als vielmehr Züge eines Exemplums trägt die darauf folgende Episodenreihe um die jungen Anhänger des Philosophen Krathon, denen Johannes mit etlichen Wundern die Gebote von Weltabkehr und Armut näher bringt, eine Thematik die sich durch den ganzen Abschnitt zieht: Johannes beobachtet den Philosophen, wie er seinen beiden Schülern, reichen Jünglingen, befiehlt, zum Zeichen ihrer Weltabkehr all ihren irdischen Besitz zu zerstören; die beiden zerbrechen auf dem Marktplatz öffentlich ihre Edelsteine. Ein solches Verhalten kann der Apostel nicht gut heißen, wobei es ihm weniger um die öffentliche Tugenddemonstration geht als vielmehr darum, dass mit den Schätzen den Armen hätte geholfen werden können. Johannes stellt daher Krathon zur Rede, der umgehend von Johannes einen Wunderbeweis verlangt: hat dich ein war got gesant, des ewikeit ist unvolant, als du predigest uberes lant, daz la werden hi bekant! (II 27001–27004)

Krathon fordert von Johannes, die zerbrochenen Edelsteine wieder ganz zu machen: tustu daz, so bistu recht (II 27011), um unter Beweis zu stellen, dass er die Wahrheit verkündet. Handelt es sich bei der Erweckung der Drusiana also um ein Hilfswunder, so wird von dem Heiligen nun ein Erweis-Wunder verlangt, d.h. Johannes soll sich kraft dieses Zeichens als Gesandter Gottes ausweisen und damit die Wahrheit seiner Botschaft legitimieren. Natürlich kann er diesen Erweis mithilfe eines Gebets sogleich erbringen, so dass Krathon erkennen muss, daz Johannes were/ recht und unwandelbere/ an siner heiligen lere (II 27021–27023). In der Auseinandersetzung mit Krathon werden also zwei verschiedene Askese-Programme mit ihren jeweiligen ‚Schulen‘ gegenübergestellt: Das philosophische des Krathon und das christlichreligiöse des Johannes. Das Passional gibt dabei deutlich der Religion den Vorzug gegenüber der Philosophie, der Philosoph muss sich dem Apostel schließlich geschlagen geben. Eine derartige Konkurrenz baut das Passional auch in anderen || 86 Ganz anders z.B. die Erweckung eines Katechumen durch den hl. Martin, die in Legenda aurea wie Passional analog einer alttestamentarischen Episode von dem Propheten Elia erzählt wird: Hier legt sich der Heilige, nachdem er sämtliche Umstehenden aus dem Zimmer geschickt hat (die Erweckung geschieht also gerade nicht in der Öffentlichkeit) auf den Leichnam und betet so lange, bis diesem wieder Leben eingehaucht ist. Prompt wird daraufhin auch die Heiligkeit Martins öffentlich bekannt: vur heilic wart er ouch dar na/ benant genugen, der des iach (III 597, 66f.).

198 | Heiligkeit als imitatio Christi Legendenzusammenhängen auf, u.a. in der Augustinus- und der Dionysiuslegende, am deutlichsten wohl in der Katharinenlegende des dritten Buches, wo die Protagonistin (im Mittelalter selbst als Patronin der Philosophen und Universitäten verehrt) sich mit den fünfzig weisesten Philosophen auseinandersetzen muss. Anders als in der Legenda aurea und den übrigen Ausformungen dieses Stoffes wird die Auseinandersetzung jedoch nicht über gelehrte Reden bewältigt, sondern über lyrischhymnische Sprechakte der Heiligen, die sich auch formal völlig von der übrigen Rede abheben und die man daher als göttlich inspiriertes Sprechen bezeichnen könnte.87 Alle weiteren in diesem Zusammenhang stehenden Wunder des Apostels haben bestätigende Funktion und unterstützen die von Johannes gegenüber Krathon geäußerten Lehren. Zunächst müssen die zwei reichen Jünglinge, die Krathon nachgefolgt waren, überzeugt werden. Die beiden geraten nämlich in einen Konflikt, als sie ihre ehemaligen Knechte wol becleidet (II 27061) erblicken, während sie selbst nach Art der christlichen Asketen mit harte cranken vugen/ cleidere bose genuc (II 27066f.) tragen. Die Kleidung gibt nach mittelalterlichem Verständnis Auskunft über die Identität einer Person,88 und hier treten die vormaligen Knechte nun wie ihre früheren Herren auf, während diese wiederum vollkommen ärmlich gekleidet sind. Es zeigt sich darin eine Statusumkehr, die ganz dem christlichen Verständnis entspricht, das Demut und die Aufgabe weltlicher Hierarchien fordert (exemplarisch in den Fußwaschungen Jesu am Gründonnerstag verwirklicht). Johannes macht aber aus Kieselsteinen in einem weiteren Wunder Edelsteine und schickt die beiden so begütert wieder in ihre früheren Verhältnisse zurück, freilich nicht ohne eine Predigt darüber zu halten, dass sie mit dem Reichtum der Welt nun den Reichtum des Himmels verloren hätten. Gegenüber der Legenda aurea stellt das Passional eine größere Kohärenz her, da es die beiden Jünglinge eindeutig mit den eben bekehrten Schülern des Krathon gleichsetzt (in der Legenda aurea handelt es sich um verschiedene Personen). Auf diese Weise kann sowohl der Gegenstand der johanneischen Lehre (Weltabkehr, Armut und Mildtätigkeit führen ins Himmelreich) mit den handelnden Personen verbunden werden, als auch die Mittel, diese Lehre zu untermauern (nämlich die wunderbare Schaffung von Edelsteinen aus zerbrochenen oder wertlosen Steinen). || 87 Vgl. HAMMER, ratio, S. 342ff. Die Wechselrede zwischen Johannes und Krathon zeigt überdies ebenso formale Auffälligkeiten: Beginnend mit den üblichen einfachen Paarreimen geht sie unmittelbar in einen zwölffachen Reim über, auf den ein Sechser- und dann zwei Dreierreime folgen. Die Reimwechsel befinden sich jedoch mitten im Gespräch und sind daher interpretatorisch nicht belastbar, anders als in den vergleichbaren Passagen der Katharinenlegende, wo zudem noch ein anderes Versmaß und z.T. verändertes Reimschema vorliegt, die Katharinas Rede eine hymnische Prägung verleihen. Johannes überzeugt vielmehr durch göttliche Wunderkraft. 88 Vgl. Peter VON MOOS, Das mittelalterliche Kleid als Identitätssymbol und Identifikationsmittel, in: ders. (Hg.), Unverwechselbarkeit, Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft, Köln u.a. 2004, S. 123–146.

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Mit dieser Verknüpfung ist die Paradigmatik der Legende aufgehoben zugunsten einer kohärenten Fortsetzung des Disputs mit Krathon, die sich auch in der Wahl der Mittel spiegelt: Werden dort die zerbrochenen Edelsteine auf wunderbare Weise wieder heil, so werden nun aus wertlosen Kieseln kostbare Gemmen (auch dies eine metaphorische Statusumkehr, die Gott den Gläubigen verspricht: wer sein Leben weltabgewandt und in irdischer Armut verbringt, wird im Himmel desto reicher belohnt). In der Legenda aurea sehen die beiden nur ihre ehemaligen Knechte in schönen Kleidern und werden darauf traurig, das Passional eröffnet statt dessen einen Gegensatz zwischen dem gutem Gewand und den cleidere[n] bose genuc (II 27067), obwohl doch diese Leute ihnen vor des waren undertan (II 27062) waren, und expliziert damit die Problematik der Statusumkehr. Da das Passional häufiger höfische Beschreibungs- und Identifikationsmuster heranzieht, scheint diese Verschärfung ein Rezipientensignal zu sein, das einem so stark an äußerlich sichtbare höfische Standesmerkmale gewöhnten Publikum umso auffälliger die christlichen Tugendund Wertevorstellungen verdeutlichen soll. All diese Wunder – zuletzt eine Totenerweckung, bei der der Auferstandene von seiner Vision über die Trauer der Engel um die Seelen der beiden Jünglinge berichtet – dienen weniger einem weiteren Erweis der Heiligkeit, sondern haben vielmehr Exempelcharakter. Es geht nicht darum, Johannes erneut als Thaumaturgen zu zeigen und damit seine außerordentliche charismatische Begabung unter Beweis zu stellen, sondern darum, eine belehrende Wirkung für die Rezipienten zu entfalten: So wie die Jünglinge sich durch den Jenseitsbericht des Auferweckten zuletzt bekehren lassen, sollen auch die Rezipienten die Folgen ihrer Sünden nach dem Tod bedenken. Die Episoden sind – und dies dürfte die eigentliche Bearbeitungsleistung gegenüber der Legenda aurea sein – leitmotivisch miteinander verknüpft, der Passionaldichter vernetzt die einzelnen Stationen von Johannes’ Wirken zu einem narrativen Zusammenhang. Die paradigmatisch nebeneinanderstehenden Passagen werden auf diese Weise zu einem Syntagma verbunden. Dies zeigt nicht zuletzt die Inszenierung der Predigt des Johannes zur Armut, in deren Folge er die Totenerwekkung vollbringt. Während die Legenda aurea an dieser Stelle nur exegetisch sechs theologische Lehrsätze wider den Reichtum einflicht und dabei u.a. das Gleichnis vom reichen Prasser und dem armen Lazarus (Lk. 16, 19–31) anzitiert, lässt das Passional, das um die Narrativierung von Geschehnissen und Handlung bemüht ist, den Heiligen seine Predigt an die beiden Jünglinge in wörtlicher Rede ausführen und gibt dabei das Gleichnis vollständig wieder; es bestätigt sich also erneut die Bevorzugung einer veranschaulichenden anstatt belehrenden Rezipientensteuerung, die entweder narrativiert oder in performativen Rede- bzw. Predigteinheiten dargeboten wird. Die dann folgenden Wunderhandlungen des Apostels während der Missionierung Asias sind ebenfalls miteinander verknüpft, dies allerdings bereits in der Vorlage der Legenda aurea. Im Mittelpunkt steht hier die Bekehrung der Bevölkerung im Rahmen der Auseinandersetzung mit den heidnischen Priestern, die durch spezi-

200 | Heiligkeit als imitatio Christi fische Wunder vom Christentum überzeugt werden können. Darin wird einerseits ein expliziter Heiligkeitserweis erbracht, der die Begnadung des Apostels als Mittler göttlicher Kraft (und das bedeutet: als Mittler ‚des‘ Heiligen selbst) demonstriert, andererseits offenbart sich in diesen Episoden wiederum die Differenz von Wunder und Magie (vgl. zur Episode der Totenerweckung durch Johannes auch Kap. 4.2.1). Darin zeigt sich aber auch, dass neben der Betonung der Keuschheit verschiedene Narrative in einer hagiographischen Erzählung verarbeitet werden können: Einerseits die Gegenüberstellung von Philosophie und Religion, andererseits die Opposition von Wunder und Magie; beide werden im Passional nicht als paradigmatische Episodenreihung, sondern als syntagmatisch aufeinander abgestimmte, leitmotivisch verknüpfte Narrative in die Legende eingespeist. Johannes wird in all diesen Episoden als Heiliger gezeichnet, der mit nahezu uneingeschränkten göttlichen Vollmachten ausgestattet ist. Das Passional inszeniert jedoch einen expliziten Zusammenhang zwischen dieser virtus und seiner Keuschheit, die als herausragendste Tugend des Apostels dargestellt wird; ein Zusammenhang, den die Legenda aurea höchstens implizit setzt. Doch ist gerade dieser entscheidend für den abschließenden Bericht vom Tod des Heiligen, seiner Heimrufung in die communio sanctorum. Auffällig ist ja, dass bei Johannes immer wieder das Konzept eines transzendierten Körpers, eines Auferstehungsleibes, zum Tragen kommt. Dies ist normalerweise für bestimmte Märtyrerlegenden konstitutiv, zeigt es doch das Hineinragen der Transzendenz, von der der Heilige bereits ‚erfasst‘ ist. Der anhand eines solchen Körpermodells inszenierte Märtyrer ist allerdings zumeist völlig passiv; er lässt die einzelnen Foltern über sich ergehen, die ihm ohnehin nichts (mehr) anhaben können. Johannes dagegen wird mit diesem Körpermodell nicht durch hypermone, durch Leidensfähigkeit im Martyrium ausgestattet, sondern ausdrücklich aufgrund seiner Keuschheit und Askese (vgl. schon vorausgreifend zu Kap. 6.1), und er wird bezeichnenderweise genau ab dem Punkt, ab dem diese Konzeption greift, zum aktiv Handelnden in der Erzählung. Eine solche narrative Durchdringung durch die Transzendenz, die den Heiligen hier auszeichnet, macht sich daran bemerkbar, dass die Einwohner von Ephesus buweten eine kirchen gote/ in sente Johannis ere (II 27582f.). Hier wird die spätere Verehrungspraxis antizipiert: dem Heiligen eine Kirche bauen, ihn zu den Ehren der Altäre erheben. Diese Ehre kommt jedoch niemandem schon zu Lebzeiten zu, sondern wird erst den Verstorbenen entgegengebracht, die man als heilig und als wirksame Helfer und Mittler zwischen Gott und den Menschen betrachtet; sie ist Bestätigung kirchlicher Kanonisationsprozesse, die erst nach dem Tod der betreffenden Persönlichkeiten in Gang kommen.89 In der Erzählung wird also bereits hier vorweg|| 89 Vgl. GEMEINHARDT, Die Heiligen, S. 78f. ANGENENDT, Heilige und Reliquien, S. 167–182, beschreibt die Praxis der Erhebung zur Ehre der Altäre und ihre kirchengeschichtliche Entwicklung detailliert: Demnach ist es für Märtyrer (und ebenso Asketen) ab der Mitte des 2. Jhs. üblich gewesen, bei bzw. über ihren Gräbern Basiliken zu errichten; ab Ambrosius entwickelt sich dann die Praxis, die Gebei-

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genommen, was eigentlich erst zu einem Zeitpunkt nach dem Tod des Johannes erfolgen dürfte. Damit stellt die Legende ihre finale Handlungsstruktur offen aus, denn aus Sicht der Rezipienten handelt es sich bei Johannes ohne Frage um einen vielverehrten Heiligen, dem unzählige Kirchen geweiht sind; da die Heiligkeit ihres Protagonisten von vornherein außer Frage steht (anders als in solchen Viten, die einen ‚neuen‘ Heiligen im Rahmen von Kanonisationsverfahren erst noch bekunden müssen, z.B. die Viten Elisabeths von Thüringen, Ulrichs von Augsburg oder Heinrichs II.), ist es für diese Legende kein Widerspruch, die stets aufs Neue inszenierten Zeichen der Heiligkeit (insbesondere in den Wunderhandlungen) bereits mit der auf der Ebene der Handlung eigentlich erst nachgeordneten Verehrungspraxis gleichzuschalten, was denn auch der Erfahrungswirklichkeit der Rezipienten entspricht; die Legende überlagert so histoire- und Kontextebene.90 Diese Finalität zeigt sich gleichermaßen beim Tod des Heiligen, den die Erzählung nun als alten, hundertjährigen Greis darstellt. Ihm erscheint Christus im Kreis der anderen Apostel, denn Johannes ist inzwischen der letzte der Jünger, der noch auf Erden weilt – alle anderen sind durchs Martyrium schon gestorben und im Himmel Teil der Gemeinschaft der Heiligen. Christus ruft in Johannes nun auch den letzten seiner Jünger zu sich, auf dass er seinen Lohn empfange und ezzest ob dem tische min/ mit den andern brudern din (II 27863f.). Damit wäre die Abendmahlsgemeinschaft des Gründonnerstaggeschehens wiederhergestellt, und es ist bezeichnend, dass Johannes als letzter dieses Kreises gerade nicht wie die anderen die Nachfolge Christi im Tod durchs Martyrium antritt, sondern dass ihm eine andere Form der imitatio zukommt. Indem Christus persönlich erscheint und ihn zu sich ruft, wird (ähnlich wie bei Martha, s.u., Kap. 6.4) nochmals von höchster Autorität der heilige Lebenswandel des Apostels bestätigt, der ihm den Platz im Himmelreich einträgt. Es bedarf keiner translatio späterer Generationen, um Johannes zu den

|| ne in eine Kirche zu überführen und am Altar neu zu bestatten, so dass es im Mittelalter (und in der katholischen Kirche bis heute) verpflichtend wurde, dass jeder Altar Reliquien enthalten musste (zur Begründung wird auf Offb. 6, 9 verwiesen). „Erneut zeigt sich ein Vordringen der Heiligen in einen ursprünglich Jesus Christus vorbehaltenen Bereich: War zunächst der Altar der Thron von Leib und Blut Jesu Christi und als solcher Symbol für ihn selbst, wird demgegenüber im 6. Jahrhundert die Dominanz der Reliquien so geläufig, dass ‚Altar‘ manchmal einfach die Kurzbezeichnung für Heiligtum, Heiligengrab ist“ (ebd., S. 168f.). 90 Erklärbar ist dieses Motiv überlieferungsgeschichtlich: Während die frühen Rezensionen der Johannesakten den Apostel zu einer Begräbnisstätte außerhalb der Stadt gehen und sich dort sein Grab schaufeln lassen (wie es nach spätantikem Brauch üblich gewesen ist), erwähnen die Virtutes der Abdiassammlung, dass die Assumptio selbst in der Johannesbasilika erfolgt sei, ein Anachronismus, da hier offenbar die nachträglich über dem (mutmaßlichen) Grab errichtete Kirche gemeint ist. Die Rezension des Ps.-Melito (Passio S. Johannis) tilgt solche Inkongruenzen und verlegt gleich die gesamte Handlung in die Kirche. Doch auch wenn die Herkunft des Motivs textgeschichtlich zu erschließen ist: Entscheidend ist, dass die mittelalterlichen Legenden sich an der Unvereinbarkeit nicht zu stören scheinen, im Gegenteil, sie stellen damit die Finalität der Narration explizit heraus.

202 | Heiligkeit als imitatio Christi Ehren der Altäre zu erheben, vielmehr bestätigt Christus in einem direkten Sprechakt innerhalb der Vita das, was die Legende bereits zuvor ausgeführt hatte. Diese Bestätigung erfolgt aber nicht allein durch den christlichen Sprechakt, sondern wird anschließend sogleich narrativiert. Johannes erfährt, dass er am nächsten Sonntag ins Paradies aufgenommen werden soll; sein Heimgang wird also mit dem Tag Gottes und des Gottesdienstes, vor allem aber mit dem Tag der Auferstehung Christi verbunden. An diesem Tag predigt Johannes noch einmal in ‚seiner‘ Kirche zur versammelten Gemeinde, bevor er sich neben dem Altar ein Grab schaufeln lässt: ein grab hiez er im da graben bi dem altare. daz geschach. do er messe gesprach, do gienc der gotes erwelte man in daz grab so hin dan. (II 27884–27888)

Was einem Heiligen eigentlich nach seinem Tod zukommt, nämlich in der ihm zu Ehren geweihten Kirche am Fuß des Altares begraben zu werden, das inszeniert die Legende somit in einer aktiven Handlung des Heiligen selbst: Sie lässt Johannes sich selbst zur Ehre der Altäre erheben. Johannes schafft sich seine eigene Kirche, sein eigenes Grabmal und nimmt die künftige Verehrungspraxis – legitimiert durch das göttliche Wort – bereits vorweg; kausal-chronologische Ereignisfolgen werden außer Kraft gesetzt zugunsten einer Finalität der Handlung, die das Resultat (die Heiligkeit des Protagonisten) von Beginn an nurmehr bestätigen, nicht aber begründen muss. Die einzelnen Wunderberichte, Johannes Tugenden und sein unmittelbarer Kontakt zur Transzendenz haben einen solchen Heiligkeitserweis ein ums andere Mal inszeniert, die endgültige Bestätigung erfolgt dann in der abschließenden Beschreibung, die nicht den Tod, sondern die Entrückung des Protagonisten darstellt: Als Johannes betend in seinem Grab steht und darauf wartet, endlich zu Christus zu kommen, do quam von himele ein liecht groz uf in, daz in gar umme sloz und sin niman wart gewar. do dirre schin von gote clar uber eine wile verswant, […] do was Johannes hin abe alsam daz liecht verswunden. die gruben sie vol vunden manna, daz ist himel brot. (II 27909–27919)

Die Inszenierung dieser Entrückung ist einerseits parallel zur Himmelfahrt Christi im Passional zu sehen, wo Jesus auf dem Berg Olivet ebenfalls noch einmal zu seinen Jüngern spricht, bevor ihn ein göttliches Licht umfängt und in den Himmel ent-

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rückt (vgl. I 9625ff.; die Himmelfahrt Christi enthält in der Legenda aurea dagegen kaum narrative Elemente). Mehr aber noch ist diese Beschreibung in Bezug zum Tod Marias zu setzen, denn auch ihr kündigt Christus persönlich die baldige Aufnahme in den Himmel an, ihre Grablegung ist wie die seine inszeniert, und sie erfährt am dritten Tag die leibliche Aufnahme in den Himmel, auch hier einhergehend mit einem himmlischen Licht, in dem Christus seine Mutter heimholt, der in den liechten wolken schin/ lib und sele beide (I 12414f.) vereinigt. Zurück bleiben nur ein edler Duft und (wie im Grab Christi) die Kleider. Ähnliches passiert mit Johannes: Auch er wird in einem strahlenden Licht entrückt, und zwar, wie es scheint, mit Leib und Seele zugleich, denn zurück bleiben gerade keine verehrungswürdigen Reliquien, sondern allein Manna als einzig wahrnehmbare Spur der Transzendenz, vergleichbar dem himmlischen Duft, wenn auch etwas handgreiflicher. Sie bleiben die einzige Hinterlassenschaft des Heiligen, der schon zu Lebzeiten so stark von der Transzendenz durchdrungen ist, dass sein mit der Konzeption des Auferstehungsleibes verbundener Körper keinerlei weitere Reliquien mehr hinterlässt. Auch darin gleicht er Maria, die gleichfalls in der Spannung von Immanenz und Transzendenz steht, was sich gerade in der paradoxen Konfiguration der Jungfrauengeburt erweist, und auch von ihr existieren keine körperlichen Reliquien. Die Durchdringung mit der Transzendenz lässt beide auch leiblich in den Himmel entrückt werden. Erzählerisch wirksam und begründet wird dies jeweils durch das zentrale Motiv der Keuschheit. Für die Heiligkeit Marias ist dies der wesentliche Faktor, offenbart sich in der Jungfrauengeburt doch gerade die Paradoxie des Heiligen (sie ist beide muter unde maget; I 12446), das Spannungsfeld der Gottmenschlichkeit zwischen Immanenz und Transzendenz. Auf gleiche Weise wird die asketische Tugend der Keuschheit auch für Johannes in Anspruch genommen. Bereits in der Erzählung vom Tod Marias, die das Passional ja bewusst davor, ins erste Buch, plaziert, ist eine größtmögliche Annäherung zwischen Johannes und Maria zu beobachten, wie sich vor allem beim Begräbnis Marias zeigt (vgl. Kap. 3.2.5). Diese besondere Stellung wird ihm ausdrücklich aufgrund seiner Keuschheit (durch kuschliche reine; I 12122), die ihm Maria angleicht, zugesprochen. Wird Johannes bereits im ersten Buch über die Tugend der Keuschheit in engen Bezug zu Maria gesetzt, so dominiert dieser Aspekt, wie gesehen, auch seine Vita im zweiten Passionalbuch. Mehrfach nennt der Passionaldichter, abweichend zur Legenda aurea, explizit Joannes Virginität als Moment seiner virtus und Begründung der göttlichen Heilsvermittlung. So ist es auch nicht überraschend, dass Tod und Entrückung ebenfalls dem beispielgebenden Vorbild aller Jungfräulichkeit, Marias, angeglichen ist. Johannes ist damit nicht nur Nachfolger Christi, sondern steht ebenso in der Nachfolge Marias; seine schon im langen Prolog der Passionallegende hervorgehobene Sonderstellung unter den Aposteln drückt sich in einer imitatio Christi et Mariae aus.

204 | Heiligkeit als imitatio Christi

4.4 Die heilige Sünderin: Magdalenas Wandel zur Heiligen Die Legende der bekehrten Sünderin Magdalena bildet den Abschluss des zweiten Buches, das Magdalena somit explizit noch zu den ‚Boten‘, also zum erweiterten Kreis der Apostel und direkten Nachfolger Christi rechnet und ihr dadurch als einzige weibliche Heilige eine derartige Sonderstellung zubilligt. Die Erzählung ist durch eine 49 Verse umfassende Vorrede von den übrigen Texten getrennt (davor findet sich die umfangreiche Legende Johannes d. Täufers); zuvor schon hat das zweite Buch die Legende von den Engeln mit einer eigenen Vorrede ausgestattet, was diese letzten Abschnitte nochmals von den Apostelviten davor abgrenzt. Begründet wird die Zurechnung Magdalenas zum zweiten Buch damit, dass sie mit tugentlicher craft/ unsers herren botschaft/ zu den aposteln warb (II 39665–39667). Nicht zuletzt wird Magdalena ja bereits im ersten Buch erwähnt, wo sie in der Ostergeschichte dem auferstandenen Christus begegnet; auch dort wird ihre außerordentliche Liebe zu Jesus intensiv beschrieben (vgl. oben, Kap. 3.2.5). So wird die bedeutende Stellung Maria Magdalenas klar, die bereits bei den frühen Kirchenvätern zur ersten Osterbotin wird.91 Auf diese Weise wird Magdalena aber auch zu einer Art Übergangsfigur, zu einer Scharnierstelle zwischen den Heiligen des zweiten und denen des dritten Passionalbuches (zu denen beispielsweise auch ihre Schwester Martha gezählt wird). Magdalena ist kein Apostel gewesen und hat nicht wie diese von Christus nach dessen Auferstehung persönlich einen Nachfolgeauftrag erhalten, doch ihr wird direkter Kontakt und persönlicher Umgang mit Jesus zugeschrieben, von dem sie das göttliche Geschenk der Gnade und Vergebung erhalten hatte, und sie ist die erste Zeugin seiner Auferstehung. Auch formal sichtbar durch die Abgrenzung von den übrigen Viten des zweiten Buchs durch die eigene Vorrede, stellt sie die Verbindung zu den übrigen Heiligen in einer ‚indirekten‘ Nachfolge Christi her, von denen im dritten Buch berichtet wird. In der Vorrede legt der Dichter den imitatio-Aspekt aber auch viel stärker auf die Ebene der Rezipienten, denn er möchte ihre Geschichte erzählen zu troste uns sunderen,/ uf daz wir bi den meren/ mit gantzer hoffenunge uns laben (II 39671–39673). Damit wird Magdalena nicht nur ein Bindeglied zwischen erstem und zweitem Buch, sondern schafft gerade durch die in ihrer Vita so betonte

|| 91 Vgl. Regina RADLBECK-OSSMANN, [Art.] Maria Magdalena, in: LThK 6, 1997, Sp. 1340; demnach bezeichnet bereits Hippolyt von Rom sie als „Apostelin der Apostel“. Spätestens in den Homilien Gregors d. Gr. verschmilzt die am Grab Jesu den Auferstandenen erblickende Maria Magdalena mit Maria von Bethanien, der Schwester Marthas und des Lazarus. Zur Motiv- und Quellengeschichte der Legende vgl. ausführlich Hans HANSEL, Die Maria-Magdalena-Legende, Greifswald 1937, zur Stoffgeschichte dort S. 81ff. Einen Überblick über die theologischen Diskurse des Mittelalters gibt Madeleine BOXLER, „ich bin ein predigerin und appostlorin“. Die deutschen Maria Magdalena-Legenden des Mittelalters (1300–1550), Untersuchungen und Texte, Bern u.a. 1996, S. 42–53.

Die heilige Sünderin: Magdalenas Wandel zur Heiligen | 205

Opposition von Schuld und Gnade92 viel mehr noch als die schier übermenschlichen, unerreichbaren Jesusnachfolger der Apostel eine Verbindung zu den ‚normalen‘ Menschen und zu den Rezipienten. In der Figur Magdalenas ist eine imitatio Christi nicht übers Leiden im Martyrium, sondern über die Liebe und Gnade erreicht, Magdalena stellt gleichermaßen ein imitatio-Modell für die Menschen dar, indem sie Hoffnung auf Vergebung schafft, wie es ihr als Sünderin von Christus gewährt worden ist: Dies ist als die eigentliche Exemplarizität dieser Gestalt anzusehen. Das Passional übernimmt die Gliederung der Erzählung in vier Teile schon von der Legenda aurea, der es auch ansonsten weitgehend folgt:93 Zunächst wird von Magdalenas Bekehrung erzählt: nu horet wi si gerufen wart (II 39764). Die der Sündhaftigkeit verfallene Magdalena begegnet im Haus eines Pharisäers zufällig Jesus, dem sie sich ihrer Sünde wegen nicht zeigen will und dem sie daher mit ihren Tränen der Reue die Füße wäscht, woraufhin sie Gnade vor ihm findet, sich bekehrt und fortan Jesus dient. Der zweite Teil berichtet von ihrem Leben nach Jesu Tod und Auferstehung: Sie gelangt mit ihrer Schwester Martha nach Südfrankreich, wo sie wie diese zu missionieren beginnt. Hier wird eine lange Wundererzählung eingeschoben, die von der Rettung und Bekehrung des Fürsten, seiner Frau und deren Kind berichtet. Der dritte Teil erzählt dann von Magdalenas eremitischem Leben in der Wüste und von ihrem Tod. Es schließt sich viertens ein umfangreicher Mirakelteil an, der Magdalenas Hilfe für die Gläubigen, die sich an sie wenden, in vielfacher Hinsicht unter Beweis stellt.94 Dennoch werden andere Schwerpunkte als in der Legenda aurea gesetzt; schließlich ist die Legende durch ihre Einordnung ins zweite Buch auch in einem anderen Erzählzusammenhang präsent, der sich nicht zuletzt im Vorhandensein einer Vor- und Nachrede zeigt. Bei ansonsten weitestgehend gleichem Handlungsaufbau und der Übernahme selbst einzelner Details aus der Legenda aurea ist es jedoch unnötig, einen direkten Vergleich des Passionialtextes mit seiner Vorlage zu erstellen. Sieht man von der üblichen Narrativierung und breiteren Ausgestaltung der Handlung ab, zeigt sich jedoch noch eine bemerkenswerte Differenz in der Darstellung des Passionals, auf die hier besonders eingegangen werden soll, nämlich die Gestaltung des Umschlagsmomentes in der conversio. Hervorgehoben wird bereits in der Vorrede jener Umschlagspunkt, der die Lebensbeschreibung Magdalenas bestimmt: Sie darf als Sünderin die barmherzekeit (II 39693) Gottes empfangen, auf die auch die Rezipienten vertrauen sollten; ihre Vita steht damit beispielhaft für die || 92 Die narrativen Kennzeichen der verschiedenen Oppositionspaare werden in Kap. 5 verhandelt, zur Opposition von Schuld und Gnade s. Kap. 5.3. 93 Vgl. JOBE, Passional, S. 199–210, bes. S. 203, der den Aufbau allerdings noch weiter untergliedert. 94 Erneut überliefert die Hs. D nur einen Teil, und zwar insgesamt fünf solcher Wundererzählungen, während die andern Hss. noch zusätzliche Mirakel enthalten; auch die Reihenfolge variiert; vgl. eine Gegenüberstellung der Mirakel in den Hss. D und A mit der Legenda aurea bei JOBE, Passional, S. 200–202.

206 | Heiligkeit als imitatio Christi Vergebung Gottes, der selbst noch so große Sünder zu Heiligen machen kann.95 Dies führt als entscheidende Änderung gegenüber der Legenda aurea ein genau hundert Verse langer Einschub innerhalb der eigentlichen Handlung vor (II 40005–40104), der über Magdalenas Reue reflektiert und sie selbst mit einem Sündenbekenntnis zu Wort kommen lässt, das die biblische Szene der Fußwaschung Jesu, welche die Umkehr Magdalenas beschreibt, noch in einer Art Innenschau ausbreitet. Ein 38 Verse langes Lob an die Heilige schließt die Legende ab; es folgt die (in Hs. D nicht überlieferte) Nachrede des zweiten Buches. Magdalenas Bekehrung, den Umschlag von Sünde in Gnade, erzählt das Passional nach der Exposition ähnlich wie die Legenda aurea: Beschrieben wird anfangs (wie auch in der Marthalegende, s.u.) die vornehme Herkunft der Heiligen, ein für das Passional charakteristischer Zug, das betont, Magdalena, Martha und ihr Bruder Lazarus seien nach geburt edel (II 39772) und von rechter kuniclicher art (II 39775).96 Zugleich wird aber auch die Weltverfangenheit Magdalenas und ihres Bruders kritisiert: Nicht nur, dass der ritter Lazarus/ uf werltlichen pris gewant (II 39830f.) ist, vor allem Magdalenas Sündhaftigkeit wird als exzessiv beschrieben: Sie hat sich der wollust (II 39850) ergeben, auch dem zorn (II 39865), womit bereits zwei Todsünden genannt sind,97 so dass der Erzähler konstatiert: si viel von vrier unart/ in der sunden gebot./ die tuvele heten iren spot (II 39872–39874). Selbst Martha, die als einzige der Geschwister von Anfang an ein gottgefälliges Leben führt, kann sie nicht zur Umkehr bewegen, so sehr sie ihr auch di schande und di unere (II 39885) vorhält. So sorgt Magdalenas Sündhaftigkeit dafür, daz si verlos iren rechten namen (II 39901) und fortan nur noch ein sunderinne (II 39903) genannt wird. Ihre Sündhaftigkeit ist damit so groß, dass sie einen Identitätsverlust bewirkt, Magdalena tritt hinter ihrer Schuld zurück und ist nicht mehr zu erkennen – außer für Christus, der das wahre Wesen eines jeden Menschen zu durchschauen vermag. || 95 Vgl. auch die Aussage des Erzählers in II 39734–39763: Magdalena sei von Christus gesatz [...] zeinem bilde/ uns armen sunderen (II 39736), um daran zu zeigen, dass jeder Mensch, sei er noch so tief in Sünden verstrickt, durch Reue den Weg zu Gott finden könne; Christus zeige damit, daz er zu troste was gesant/ [...]/uns armen sunderen (II 39753 u. 39755). 96 Diese Leitworte fallen im Verlauf der Beschreibung wiederholt: edelkeit (II 39779), rich und edel (39781), außerdem werden ihre verzweigten weltlichen Besitztümer aufgezählt, neben der Burg Magdalum auch eine weitere in Bethanien. Dies sind alles Elemente, die auch die Legenda aurea herausstellt, die Beschreibung des Passionals aber akzentuiert wesentlich stärker Adel und hohe Geburt der Protagonistin. 97 Das Passional spricht anschließend nochmals konkret von den siben houbtsunden (II 39898), während die Legenda aurea nach der conversio Magdalenas berichtet, Jesus habe sieben böse Geister aus ihr ausgetrieben, was direkt auf Lk. 8, 2 zurückgeht. Indem die Passional-Version diese sieben Dämonen als die sieben Todsünden umdeutet (obwohl eine derartige Auslegung eher für die Legenda aurea zu erwarten wäre), wird die Heilige in gewisser Weise entlastet: Magdalena macht sich zwar aller möglichen Vergehen schuldig und ist dadurch ein herausragendes Exempel für die Gnade und Vergebung Gottes bei entsprechender Reue und Bußbereitschaft, dämonische Besessenheit kann dieser überragenden Heiligen dagegen nicht nachgesagt werden.

Die heilige Sünderin: Magdalenas Wandel zur Heiligen | 207

Die Umkehr wird nun jedoch kaum begründet oder motiviert, es wird zwar gemäß biblischer Vorlage erzählt, wie Magdalena eher zufällig mit ihrer Schwester in das Haus des Simon gelangt, in das auch Jesus einkehrt, dann aber fährt der Erzähler lediglich fort: ein wunder muget ir warten/ an dirre sunderinne (II 39924f.), dass nämlich Magdalenas Herz durch Christus mit göttlicher Liebe angefüllt worden sei. Der Umschlagspunkt wird also nicht auserzählt, vielmehr ereignet sich unvermittelt und ohne Begründung ein Umdenken durch das gnadenhafte Einbrechen der Liebe Christi, welche keiner Begründung bedarf. Magdalena wird sich plötzlich ihrer Sünden bewusst und ist voller ruwe (II 39949), sie ist angesichts ihres Lebenswandels traurig und beschämt, hofft aber, daz si genade vunde (II 39965), und so geht sie zu Jesus und salbt ihm die Füße. An dieser Stelle folgt nun jene lange Reflexion über Magdalenas Sünde und Reue, die zu einem Großteil aus einem Sündenbekenntnis Magdalenas und ihrer Bitte um Gnade besteht. Die Intensität dieses Bekenntnisses erinnert wiederum stark an die meditativen compassio-Passagen des Passionsgeschehens im ersten Buch und könnte als beispielhaftes Bekenntnis für alle Sünder gelten, es lehnt sich stilistisch zudem an die Marienklagen in Buch I an, wobei auch hier Erzähler- und Figurenrede z.T. kaum noch unterscheidbar sind: Jesu, Jesu, herre min, des lebendigen gotes sun, laz min armez herze run an diner heiligen minne! als ich mich versinne, so bistu, herre, uns gesant sam ein gewaldec heilant. heile mich, Jesu, heile und nim zu dime teile, swaz mir noch lebens ist erkorn [...] (II 40070–40079).

Dieser Verinnerlichung der gnadenhaften Erkenntnis, die zur Umkehr führt, folgt die Beschreibung von Jesu Reaktion, der den Umstehenden auf Simons Einwand, er könne doch mit solch einer Sünderin keinen Umgang pflegen, gemäß der biblischen Überlieferung das Gleichnis von den zwei Schuldnern erzählt (vgl. Lk. 7, 40–42). Jesus spricht gar nicht zu Magdalena, sondern erläutert statt dessen dem Pharisäer, weshalb er sehr wohl auch einer so großen Sünderin vergeben könne, während seine Antwort an Magdalena nur drei Verse umfasst: ‚der geloube din/ sal dir ein heilunge sin./ ganc und habe nu guten vride.‘ (II 40181–40183; fast wörtlich nach Lk. 7, 50). Erneut muss der Erzähler kommentierend eingreifen, indem er Magdalenas Umkehr und Cristes minne (II 40204) preist, denn Magdalenas schemde sei ihr nun zu vreuden [...] gewant (II 40186f.). Diese radikale Umwertung von Scham in Freude, von Sünde in Gnade kann hier offenbar weder narrativ noch diskursiv vollständig eingefangen werden. Die Erzählung an sich bleibt begründungslos, kann nur den vorherigen Zustand der Sündhaftigkeit beschreiben oder die spätere Begnadung, die sich, wie zu sehen ist, in Magdalenas Charisma niederschlägt, nicht jedoch den

208 | Heiligkeit als imitatio Christi eigentlichen Gnadenakt. Diskursiv ist dem erst recht nicht beizukommen, denn auch Jesus muss, um Simon die göttliche Gnadenhaltung zu erläutern, wieder auf eine Erzählung, auf ein Gleichnis, zurückgreifen. Die Legenda aurea lässt das Gleichnis weg und spricht nur davon, dass Jesus Simon deswegen tadelt. Das Passional wendet also mithilfe des Gleichnisses einen narrativen Argumentationstyp an, im Sinne der Rhetorik handelt es sich hier nicht um eine historia, sondern um ein argumentum. Auf diese Weise, mithilfe von Gleichnissen, ist es somit möglich, metaphorisch von Heiligkeit zu erzählen. Demgegenüber versucht die Legenda aurea, die Spende von Gnade in ein konkretes Handeln Jesu zu überführen, wenn sie erwähnt, er habe sieben böse Geister aus Magdalena ausgetrieben (vgl. dagegen erneut die eher metaphorische Sprechweise von den sieben Todsünden im Passional).98 Hinzu kommt neben der metaphorischen Rede im Passional die Meditation, die Innenschau, in der Magdalena um die Gnade Gottes fleht und ihre Sünden bekennt – auch diese kann nicht den Gnadenakt an sich zeigen, füllt aber die daraus entstehende Leerstelle in der Erzählung aus. Im weiteren Verlauf kann daher auch nur von den Folgen der Gnade die Rede sein: Sus wart di vrouwe do bekart (II 40207). Magdalena lässt von ihrem früheren sündhaften Leben ab und folgt Christus nach; hier wird nochmals kurz der Unterschied zur Schwester Martha unter Heranziehung der entsprechenden biblischen Passage als der im Mittelalter geläufige Unterschied zwischen vita activa und vita contemplativa dargelegt (mit fast wörtlicher Übereinstimmung zur Marthalegende, vgl. dazu unten, Kap. 6.2.4). Die Folgen ihrer Begnadung erweisen sich schon bald in der Auferweckung ihres Bruders Lazarus, ein Wunder, das Jesus durch iren willen (II 40301) vollbracht habe – hier deutet sich bereits die künftige Fürbittfunktion der Heiligen an, jedoch noch in direktem Kontakt zu dem auf Erden weilenden Christus.

|| 98 In der großangelegten Erzählung Der Saelden Hort, die etwa im gleichen Zeitraum wie das Passional entstanden sein dürfte und die in weiten Teilen eine breit ausgeführte, jedoch in einen heilsgeschichtlichen Horizont gestellte Magdalenenlegende präsentiert (gerahmt u.a. vom Sündenfall, Szenen aus dem Jesusleben, der Vita Johannes des Täufers), wird dagegen der Versuch unternommen, Magdalenas Umkehr deutlicher zu motivieren: Nach einer Beschreibung ihres lasterhaften Lebens wird die Bergpredigt und die Erzählung von der Bekehrung des Zachäus eingefügt, es wird also zunächst das ethische Grundgerüst christlichen Verhaltens und die generelle Möglichkeit zur Umkehr für Sünder beispielhaft erläutert. Dann schildert die Erzählung, wie Magdalena Jesus predigen hört und reumütig zu ihrer Schwester zurückkehrt, der sie ihre eigenen Verfehlungen klagt. Die Begegnung mit Jesus wird dadurch intensiv vorbereitet und motiviert, der eigentliche Gnadenakt fällt jedoch ebenfalls durch eine narrative Leerstelle auf. Auch hier erzählt Jesus, ganz nach dem biblischen Vorbild, das Gleichnis der zwei Schuldner, anschließend gibt der Text jedoch eine Homilie Gregors d. Gr. wieder, welche den Reueschmerz Magdalenas auslegt. Vgl. Der Saelden Hort, hg. v. Heinrich ADRIAN, Berlin 1927, V. 7685–8438. Auch hier also kann das Moment der Gnade wiederum nicht narrativ erfasst werden, an Stelle der Erzählung tritt nun aber die diskursive Exegese.

Die heilige Sünderin: Magdalenas Wandel zur Heiligen | 209

Gerade im zweiten Erzählabschnitt kommt eine solche Finalität deutlich zum Vorschein. Es wird berichtet, wie die beiden Schwestern nach der Auferstehung Jesu unter der Obhut des von Petrus eingesetzten Maximus vor der Verfolgung durch die Juden auf ein führerloses Schiff fliehen, das Gott an die Küste Südfrankreichs lenkt, wo sie sogleich ihre Missionstätigkeit aufnehmen. Magdalena gelingt es, vom Heiligen Geist erfüllt, die Frau des Landesfürsten zu bekehren, indem sie ihr mehrfach im Traum erscheint und den Abriss der heidnischen Tempel sowie die Aufnahme der gestrandeten Christen fordert. Dass sie in diesen Visionen als ein vuwer (II 40579) erscheint, als ob ihr Antlitz brenne, unterstreicht ihre Partizipation an der Transzendenz. Vor allem aber ist auffällig, dass sich die Erzählung in den folgenden fast 750 Versen (II 40493–41254) gar nicht mehr um die Heilige selbst dreht, im Mittelpunkt steht vielmehr die Fürstin und ihr Schicksal. Die ganze Passage erweckt dadurch den Eindruck einer vorgezogenen Mirakelerzählung,99 die das Wirken der Heiligen aus der Ferne unter Beweis stellt. Dadurch wird die schon jetzt an der Heiligkeit teilhabende Magdalena zwar noch nicht aus der Welt exkludiert (der Rückzug von der Gesellschaft geschieht erst im dritten Abschnitt der Legende), wohl aber bereits aus der Handlung herausgenommen, es ist eine vorläufige Exklusion aus der Erzählung. Die Handlung konzentriert sich stattdessen ganz auf das Fürstenpaar, dem Magdalena zu einem Kind verhilft, indem sie bei Gott Fürbitte einlegt: an got si ir gebet do sprach,/ der si nach willen horte/ und di not zustorte (II 40692–40694); erneut wird die künftige Fürsprache der Heiligen vor Gott vorweggenommen. Damit aber nicht genug: Als der neubekehrte Fürst nun ins Heilige Land pilgern will, besteht seine schwangere Frau darauf, ihn zu begleiten. Sie lassen sich von Magdalena segnen und machen sich auf die Reise, geraten jedoch schon bald in ein Unwetter, das so schrecklich tobt, dass die hochschwangere Frau auf Hoher See niederkommt und bei der Geburt stirbt. Der trauernde Fürst kann immerhin bewirken, dass die Seeleute, die aus abergläubischer Furcht die Leiche ins Meer werfen wollen, eine karge Insel ansteuern, auf die der Fürst seine tote Frau bringen lässt. Da auf der felsigen Insel kein Grab geschaufelt werden kann, muss er die Tote unbestattet liegen lassen; das wimmernde Kind, das ohne seine Mutter ebenfalls zum Tode verurteilt ist, legt er ihr unter ihren Mantel auf die Brust. Als der Fürst, der in Jerusalem Petrus begegnet, der ihm Trost spendet, nach zwei Jahren auf der Rückreise seiner Pilgerfahrt wieder an jener Insel vorbeikommt, lässt er dort erneut anlanden. Zu seinem Erstaunen erblickt er ein kleines Kind: Es ist sein eigenes, das vor ihm flieht und sich wieder unter den Mantel seiner (toten) Mutter zurückzieht; als man den Mantel aufdeckt, sieht man das Kind an ihren Brüsten saugen. In diesem Moment begreift der Fürst, dass in Magdalenas Predigten tatsächlich der Heilige Geist gesprochen hat, und er erkennt ihr Charisma und ihre

|| 99 Vgl. JOBE, Passional, S. 210.

210 | Heiligkeit als imitatio Christi heilige virtus, denn ihm ist klar, dass das kleine Kind nur dank ihrer Hilfe hatte überleben können: ich wil nu wizzen unde weiz,/ daz din gebet sich vor mich vleiz/ zu unsem lieben herren gote (II 41091–41093). Nur aufgrund Magdalenas Fürsprache habe Gott das Kind bewart, und darum bittet er sie darum, doch auch seine Frau wieder zum Leben zu erwecken: eya, heilige vrouwe, ob ich genuzze din so vil, daz ouch nu in disme zil diz tode wib vil ebene wurde bracht zu lebene, di hi lit gar ungenesen, so muste ich immer vro wesen. (II 41102–41108)

Daraufhin wacht die Frau tatsächlich wie aus tiefem Schlaf geweckt auf und preist ebenfalls Magdalena, die ihr Leben bewahrt habe, ja mehr noch: Wie ihr Mann sei auch sie in Jerusalem und den anderen Stätten des Heiligen Landes gewesen, denn was Petrus ihrem Mann dort gezeigt habe, daz hat gewiset ouch mir vil gar Maria Magdalena, wand si was mit mir alda und liez mir leides nicht geschen. (II 41144–41147)

Zur Bestätigung nennt sie ihrem Mann all jene Orte, die er selbst auch besucht hat, und die Familie kehrt glücklich vereint wieder in ihre Heimat zurück. Dort werden sie schon von Magdalena erwartet, die in der Zwischenzeit das ganze Volk zum Christentum bekehrt hat. Angesichts der ihnen offenbarten Wunder fallen die beiden ihr in einer Geste der Anbetung zu Füßen: sie vieln andechteclichen do/ vur Magdalenen vuze (II 41200f.). Gleichsam in einer Prolepse nimmt diese Handlung die künftige Heiligenverehrung schon zu Lebzeiten vorweg. Schon in der wunderbaren Rettung der Fürstin und ihres Kindes wird die Anrufungs- und Fürbittfunktion Magdalenas antizipiert. Die Anrufung ist wirksam, obwohl die Heilige gar nicht präsent ist, Magdalena ist ja in Massilia, wo das Paar sie nach der Rückkehr antrifft, zugleich aber scheint sie mit der toten Frau in Jerusalem gewesen zu sein.100 Raum|| 100 Dieses Erlebnis der Auferweckten wird zumindest weder in der Legenda aurea noch im Passional ausdrücklich nicht als Vision bezeichnet. Wenn aber zugleich beide, die Heilige wie die tote Frau, an anderen Orten gewesen sind, kann dies nur bedeuten, dass hier nicht von einem immanenten, ‚realen‘ Raum- und Zeitverständnis ausgegangen werden kann, dass also immanente Ordnungssysteme nicht mehr greifen; vielmehr müsste man mit Ernst CASSIRER eine mythische Raumkonzeption annehmen, in der die Zerdehnung von Raum und Zeit, Bilokation und Kontiugitäten zwischen Räumen und Personen auftreten (vgl. Ernst CASSIRER, Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum, in: Jörg DÜNNE u. Stephan GÜNZEL (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt/Main 2006, S. 485–499; vgl. auch CASSIRER, Philosophie,

Die heilige Sünderin: Magdalenas Wandel zur Heiligen | 211

und Zeitkonzeption der Geschichte werden zusehends diffus, ebenso wie der Status dieser Passage, die, wie bereits bemerkt, eher den Eindruck einer vorgezogenen Mirakelerzählung erweckt. Dies ist in Zusammenhang mit dem doppelten Status aller Legendenprotagonisten zu sehen, die zwar stets als Menschen in der Welt agieren, zugleich aber schon an der Transzendenz partizipieren und das Charisma des Heiligen besitzen; sie handeln damit in einer finalen Vorwegnahme ihres zukünftigen Status als Heilige. Auch Magdalenas Wirken kommt auf diese Weise bereits dem einer Heiligen gleich, die aus der Transzendenz heraus, als Bestandteil der himmlischen Gemeinschaft, ihr Wirken entfaltet. Sie scheint schon jetzt nicht an Orte gebunden zu sein, auch nicht an Zeit, sie agiert nicht mehr aus der Welt heraus, sondern aus der Sphäre des Göttlichen, wie jene, die nach ihrem Tod Aufnahme in die Gemeinschaft der Heiligen gefunden haben. Die antizipierte Wirkungsweise der Heiligen als Fürbitterin innerhalb der communio sanctorum hat narrativ die Zurücknahme aus der Handlung zur Folge, bis dahin, dass die Anrufung der Heiligen offenbar von jedem Ort der Welt aus zum Erfolg führen kann, wie es am Ende der Legende ja auch die zahlreichen Mirakel nochmals eindrucksvoll unter Beweis stellen. Die Vorwegnahme der Inklusion in die Gemeinschaft der Heiligen erscheint hier vorläufig als eine Exklusion aus der Erzählung. Der endgültige Rückzug aus der Welt wird erst anschließend in der Legendenhandlung nachgeholt. Nach der Rückkehr des Fürstenpaares, das alle heidnischen Tempel niederreißen lässt und Lazarus und Maximus mit Bischofsämtern betraut, beginnt sich Magdalena nach der Liebe zu Christus zu verzehren (viermal ist innerhalb von 30 Versen von minne die Rede, vgl. II 41264–41293), daher zieht sie sich in eine wilde wuste (II 41301) zurück, um dort allein mit Christus der werlde vri (II 41303) zu sein. Wie bei den Anachoreten üblich und ähnlich wie in der Aegidiuslegende (s.u.) vollzieht sich nun die Exklusion aus der Gesellschaft als radikale Weltflucht. Während aber Aegidius in die Wildnis des Waldes flieht und dort von einer

|| S. 127ff.). Darin gleicht die Magdalenenlegende der Nikolauslegende, denn auch dort kann der Heilige bereits zu Lebzeiten um Hilfe gebeten werden: Die Besatzung eines in Seenot geratenen Schiffes erinnert sich in ihrer Not an die vielen Wundertaten des Bischofs und ruft ihn darum an, nun auch ihnen zu helfen: si daz war, so laz sehen,/ daz du uns ouch gehelfen macht (III 11, 62f.). Tatsächlich kommt Nikolaus persönlich, um das Schiff vor der Küste zu retten, zumindest scheint es der Heilige zu sein, denn der Text drückt sich betont vage aus: einer quam, der in erschein/ an grozer helflicher gewalt/ als Nicolaus gestalt,/ der sprach ‚nu seht, alhie bin ich,/ wand ir gerufen hat an mich‘ (III 11, 70–74; praktisch wörtlich nach LA 3, 40–42). Ähnliches geschieht drei unschuldig Verurteilten, von denen einer dazu rät, sich an Nikolaus zu wenden, der schon oft in Not geholfen habe, daher solle man nun an in schrien mit gebete,/ daz er dort vor uns trete,/ got unsern herren vor uns bite (III 16, 23–25); darauf erscheint Nikolaus dem ungerechten Herrscher und erwirkt die Freilassung der Unschuldigen. Es wird deutlich, dass die Legende Raum- oder Zeitangaben nicht nach realen Maßstäben behandeln muss, denn auch Nikolaus kann schon zu Lebzeiten als Heiliger angerufen werden und erscheint bei Anrufung gar an mehreren Orten gleichzeitig.

212 | Heiligkeit als imitatio Christi Hirschkuh wunderbar ernährt wird, zieht sich Magdalena in die unbebaute Wüste zurück, in der es kein Wasser, erst recht keine Möglichkeit zur Landwirtschaft gibt: da nindert lief ein wazzer bi./ di stat was gentzlich ouch vri/ vruchtiger obzboume (II 41315–41317): Sie hat sich nicht nur von der Gesellschaft, sondern von der gesamten Kulturlandschaft abgewandt und findet eine Stätte, die geworcht mit engelischer hant, (II 41306) ist und wo sie von Christus mit himels spise (II 41312) ernährt wird. Die Weltflucht Magdalenas wird auf diese Weise erzählt als Hinwendung zu einem fast schon transzendenten Raum, zwar gerade noch in dieser Welt, aber ein Ort jenseits aller menschlichen Behausungen, von transzendenten Wesen geschaffen, mit himmlischer Nahrung versehen. Der Eindruck eines Aufenthalts gewissermaßen am Rande der Transzendenz wird entscheidend verstärkt, indem Magdalena zu allen Gebetszeiten des klösterlichen Tageslaufes wie Elias im Alten Testament in einem feurigen Wagen von Engeln in den Himmel gebracht wird, um zuzuhören, wi suze und wi lobesam/ die heiligen singen vor gote (II 41336f.). Sieben Stunden am Tag, so erfährt man, hat sie bereits Teil an der communio sanctorum und wird dann wieder zurück in ihre Zelle in der Wüste gebracht. Sie nimmt eine wahre Zwischenstellung zwischen Immanenz und Transzendenz ein, die bereits in der Raumstruktur angelegt ist: Sie ist bereits inkludiert in die heilige Gemeinschaft, aber trotzdem immer noch in der Welt, sie befindet sich an einem von Engeln gestalteten Ort, der sich zwar noch im Diesseits befindet, an dem aber bereits ihre fortwährende Entrückung ins Jenseits geschieht. Der Umschlag von der Sünde zur Gnade, von der Sünderin zur Heiligen, hat jedoch schon längst stattgefunden, und so kann die Erzählung im Vorgriff auf ihre künftige Stellung bereits ihre teilweise Partizipation an der Gemeinschaft der Heiligen ausführen. Magdalenas Zugehörigkeit zur Transzendenz, ihre totale Exklusion aus der Welt, wird in einem weiteren Motiv, das ebenfalls in der Aegidiuslegende auftaucht, noch einmal verdeutlicht: Sie habe, so heißt es, insgesamt dreißig Jahre in der Wüste verbracht. Dann aber bemerkt ein sich ebenfalls in die Einsiedelei zurückgezogener Priester den Engelsgesang, mit dem die Heilige in den Himmel geführt und von dort zur Erde zurück gebracht wird. Da es sich offenbar um ein heiligez wunder (II 41437) handelt, macht er sich auf, um diese seltsame Stätte zu inspizieren. Kurz vor dem Ziel jedoch ergreift ihn eine engestliche vorchte (II 41449), so dass ihm die Beine versagen, er weder vor noch zurück kann und sich in solcher Not befindet, daz er wante ligen tot (II 41464). Die Macht der Heiligkeit ist so immens, dass sie hier Furcht und Schrecken verbreitet, und der Einsiedler beginnt zu erkennen, dass an der vorbenanten stat were eteliche heilikeit, wand im der zuganc was verseit, durch daz er ein mensche was. (II 41474–41477).

Die Aura der Heiligkeit ist zu mächtig, als dass ein ‚normaler‘ Mensch bis zu dem Ort vordringen kann, an dem sich die Heilige aufhält (vgl. die Aegidiuslegende, Kap. 5.1.2:

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auch dort ist die Grenze einen Steinwurf entfernt). Hier offenbart sich jene von Ernst Cassirer für das mythische Denken beschriebene Differenz zwischen heiligem und profanem Raum, eine Differenz, die ans Göttliche gebunden ist, sich jedoch auf die Heilige ausdehnt, die damit nicht nur an den mythischen Erscheinungsformen der Transzendenz partizipiert, sondern sie vollständig verkörpert. Erst ein Gebet, mit dem er die Erlaubnis der Heiligen erhält, lässt den Priester diese Schwelle überschreiten und die Heilige hoch über sich erblicken. Besonders augenfällig ist jedoch die in den oben wiedergegebenen Versen aufgemachte Differenz zwischen Mensch und Heiliger: Der Priester erkennt, dass ihm der Zugang verwehrt bleibt, durch daz er ein mensche was (II 41477). Magdalena ist nicht mehr von dieser Welt, sie unterscheidet sich von den übrigen Menschen kategorial, und dies kommt nicht nur im verwehrten Zugang und in der Furcht (mit Rudolf Otto gesprochen: dem Mysterium Tremendum) des Menschen bei der Annäherung ans Numinose zum Ausdruck, sondern ebenso darin, dass er der Heiligen nicht ins Gesicht schauen kann, sondern uf kein ir enpor (II 41504): Magdalena schwebt buchstäblich zwischen Himmel und Erde, es ließe sich daher von einer heiligen Liminalität sprechen. Dieser annähernd transzendente Status wird dem Priester zudem durch Magdalenas Stimme klar, denn si sprach, als ob ez were/ ein engel an dem done (II 41582f.). Die Heilige setzt ihm auseinander, dass sie nun dreißig Jahre in dieser völligen Abgeschiedenheit alhi verborgen (II 41546) gewesen sei, von himmlischer Speise ernährt und täglich für sieben Stunden ins Paradies geführt, da ich mit vollen vreuden bin,/ wand allez leit lit mir da nider (II 41554f.). Sie offenbart sich ihm, da Gott ihr nun ihren Tod angekündigt habe, oder vielmehr ihre endgültige Exklusion aus der Welt und die vollständige Eingliederung in die Gemeinschaft der Heiligen, wo Christus sie wil von irdeschen tagen/ und von disme lebene/ ledigen nu vil ebene (II 41562– 41564), damit sie dort obene bi im sin/ in der ewigen vreuden hove (II 41566.) könne. Darum soll jener Priester nun zu Maximus, ihrem einstigen Gefährten und jetzigen Bischof gehen, um ihm ihren Tod anzukündigen. Maximus wird aufgefordert am Ostertag alleine in die Kirche zu gehen und auf sie zu warten; sie werde dann von den Engeln dorthin gebracht. Auf diese Weise inszeniert Magdalena nicht nur ihre eigene translatio, indem zusätzlich die ganze Sterbeszene auch noch auf den Ostermorgen verlegt ist – Maximus kommt an Ostern explizit alle vru zur kirchen (II 41599) – wird ihr Tod mit der Auferstehung Christi gleichgeschaltet, und genau darauf kommt es ja auch an: Der Tod ist für sie nur das endgültige Verlassen der Welt und des irdischen Lebens, er führt zum dauerhaften, nicht wie zuvor nur temporären Aufenthalt im Paradies, zum ewigen Leben; all dies ist aber nur durch Tod und Auferstehung Christi überhaupt möglich für die Menschen. Mit dem Tod an Ostern, dem Tag der Auferstehung Christi, ist Magdalena komplementär zu ihrer Schwester Martha gesetzt, die zwar nicht an Karfreitag, aber im Nachvollzug des Todes Jesu, beim Verlesen seiner Sterbeszene aus dem Evangelium, stirbt (vgl. unten, Kap. 6.2.4). Magdalena dagegen, schon partiell der himmlischen Gemeinschaft zugehörig, geht an Ostern endgültig

214 | Heiligkeit als imitatio Christi in diese über, dem Tag, an dem das Versprechen des ewigen Lebens durch die Auferstehung Christi gefeiert wird, und damit auch das Versprechen auf Gnade und Vergebung für alle Menschen, für das Magdalena exemplarisch steht. Das transzendente Wesen Magdalenas, das gegenüber dem Priester bereits zum Ausdruck gebracht wird, kommt in der Narrativierung ihres Todes vollends zu Geltung: Als Maximus die Heilige inmitten von Engeln förmlich einschweben sieht, geschieht mit ihm dasselbe wie mit dem Priester in der Wüste: do er alsus di vrouwen sach in der grozen ere, secht, do betwanc in sere ein vorchte an starker hitze, wan ir heilic antlitze was schone unde sunnen var. (II 41612–41617)

Auch ihn befällt also zunächst das Tremendum des Heiligen, zumal Magdalena offenbar bereits so transzendent geworden ist, dass ihr Gesicht durch den strahlenden Glanz der Heiligkeit nicht mehr angeschaut werden kann: vil kum mochte er daz liecht erdoln,/ daz von ir antlitze gie (II 41633f.). Magdalena, das erweist sich in all diesen Beschreibungen, ist schon längst heilig und schon längst Bestandteil der himmlischen Gemeinschaft – nur dass sie eben noch nicht tot ist. Sie kann bereits zu Lebzeiten angerufen werden, geht im Himmel aus und ein, sorgt gar selbst für die Überführung ihrer heiligen Gebeine, von denen nun wirklich nicht mehr gesagt werden kann, ob sie schon heilig sind, wenn Magdalena inmitten der Engel in die Kirche kommt, oder erst, nachdem sie tatsächlich gestorben ist. Ihren Tod inszeniert die Legende mit den hagiographisch bekannten Motiven: Nach dem Empfang der Kommunion legt sich Magdalena crucewis/ vor den alter hin beneben (41656f.), dann fährt die Seele zu Gott, wobei ein wunderbarer Geruch, suze unde wol gesmac (41663) sich sieben Tage lang in der Kirche ausbreitet.101 Maximus jedoch schätzt die Heiligkeit Magdalenas so hoch ein, dass er sich später selbst neben ihrem Grab bestatten lässt, um daran zu partizipieren. Auf diese Weise akzentuiert die Vita des Passionals, wenngleich sie inhaltlich nur an wenigen Stellen von der Legenda aurea abweicht, durch die Nuancen ihrer Beschreibung Magdalena viel schärfer in jener Doppelexistenz im Himmel und auf Erden.102 Erzählerisch auffällig ist, dass Magdalenas Weg zur Heiligkeit gerade nicht als Verlauf, als Entwicklung narrativiert wird, sondern als Umschlag von Sünde in Gnade. Mit ihrer an den Beginn der Legende gestellten conversio, die die Erkenntnis || 101 Zu den verbreiteten Motiven von Glanz und Duft vgl. nochmals KÖTTING, Wohlgeruch, S. 173ff. und ANGENENDT, Heilige und Reliquien, S. 115ff. 102 Vgl. ANGENENDT, ebd., S. 114f.: „Dass der Heilige im Himmel und zugleich auch auf Erden präsent war, bildete den wahren Kern der Heiligenverehrung. Auf diese Weise schufen die Heiligen eine heilsmächtige Verbindung zwischen dem Diesseits und dem Jenseits“.

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der eigenen Sünde und die gnadenvolle Vergebung durch Jesus als zentrale Elemente breit ausgestaltet, präsentiert die Legende Magdalena bereits als Heilige, was sich im weiteren Erzählverlauf fortwährend bestätigt, aber nie weiter entwickelt. Ein zeitlich-kausaler Erzählverlauf wird nicht eingehalten, Magdalena wirkt bereits bei ihrer Ankunft in Frankreich Wunder, die Geschichte um das Fürstenpaar geriert sich gar wie eine vorgezogene Mirakelerzählung: Die Heilige wird immer mehr aus der Handlung herausgenommen, ist zuletzt, in der Wüste, nurmehr partiell Teil der menschlichen Gesellschaft und zugleich, aber ebenfalls nur partiell, Teil der himmlischen Gemeinschaft. Statt also wie in einer traditionellen Erzählung einen prozessualen Handlungsverlauf zu zeichnen, wird die Heilige mit dem Umschlagsmoment von Sünde zu Gnade am Beginn schrittweise aus der Welt, aus der Erzählung exkludiert und in die Gemeinschaft der Heiligen inkludiert. Dass dies kein Prozess ist, der mit Magdalenas Tod einen endgültigen Abschluss erreicht, zeigen die zahl- und umfangreichen Mirakel, die das Passional im Anschluss daran erzählt. Und so sind auch die abschließend präsentierten Mirakelketten lediglich eine Fortsetzung dessen, was keinen konkreten Anfang, vor allem aber überhaupt kein Ende hat, nämlich der Heiligkeit Magdalenas. Das, was man als ‚Beginn‘ der Heiligkeit bezeichnen könnte, die Bekehrung Magdalenas, ist ein Umschlagsmoment, das eine Leerstelle produziert, die gefüllt wird durch die Reflexion und Innenschau der Reue und der Gnade Jesu – dies ist die deutlichste erzählerische Weiterentwicklung des Passionals gegenüber der Legenda aurea. Auch nennt die Legende einen konkreten Endpunkt, den Ostertag als Zeitpunkt ihres Todes. Doch gerade Ostern ist eingebunden in die liturgische Zeitrechnung, transhistorisch als immer wiederkehrende Vergegenwärtigung des christlichen Heilsereignisses und der christlichen Gnade, die ewig währt und stetig dauert – wie es ja auch die Legende in einer theoretisch ewig weiterführbaren Mirakelkette verwirklicht. Die Gnade und Heiligkeit Gottes ist ewig und ohne Anfang und Ende; solches kann sie allenfalls in der Vergegenwärtigung für die Menschen haben. Aus diesem Grund sind in der ganzen Legende Zeit- und Wirkungsverhältnisse aufgehoben, wenn es um Magdalenas Heiligkeit geht: So wirkt der Abschnitt um das Fürstenpaar wie eine vorgezogene Mirakelerzählung, so ist Magdalena in der Wüste schon längst Mitglied der himmlischen Gemeinschaft. Heiligkeit besitzt keinen Anfang und kein Ende, keine Ursache oder Wirkung, sie unterliegt keinem zeitlichen Verlauf. Eine Erzählung hingegen hat all dies – und doch gelingt es der Legende, von Heiligkeit zu erzählen.

4.5 Fazit Das zweite Buch des Passionals, so zeigen die hier erfolgten Analysen, kann in zweifacher Hinsicht in den Gesamtkontext des umfangreichen Legendars eingeordnet werden. Einmal (geht man vom Überlieferungskontext aus, könnte man sagen: primär) stellt es die direkte ‚Fortsetzung‘ des ersten Buchs dar, in dem die Apostel

216 | Heiligkeit als imitatio Christi und anderen Boten als Nachfolger Christi und Marias eben jenes Werk fortführen, das diese begonnen haben. Die Legenden des zweiten Buches stehen damit ganz besonders im Zeichen der imitatio, die paradigmatischen Bezüge zu Christus und Maria aus dem ersten Buch sind hier besonders ausgeprägt. Diese Form der Nachfolge, wie sie die Apostel im zweiten Buch ausfüllen, kann aber auch exemplarisch für die Heiligen des dritten Buches gesehen werden. Dies ist die andere Funktion dieses Buches und seiner Mittelstellung zwischen erstem und dritten Buch des Passionals: Die darin erzählten Legenden weisen bereits auf die übrigen Heiligen voraus, die ebenfalls in der Nachfolge von Christus und Maria stehen, aber nicht mehr direkten Kontakt zu ihnen hatten. Die Apostel und die Heiligen des zweiten Buches sind somit auch Mittler und Vermittler der Heiligkeit Christi, an der sie auf besondere Weise partizipieren. Diese Herausgehobenheit von Nachfolge und imitatio schlägt sich im Passional nicht nur formal in der Einordnung in das zweite Buch ein, sondern vor allem auch narrativ, wie sich insbesondere an der Andreas-Legende beobachten lässt. Der Apostel, im Evangeliumsbericht bereits als einer der ersten von Christus persönlich zur direkten Nachfolge aufgerufen, wird in jeder Hinsicht an Christus angeglichen: Seine Predigertätigkeit, das Herumwandern und die dabei gewirkten Wunder haben sämtlich Vorbilder in den Lehr- und Wundergeschichten Jesu aus den Evangelien. Vor allem aber ist sein Tod in besonderer Weise dem Christi gleichgesetzt.103 Nicht nur, dass auch Andreas am Kreuz stirbt (die Variation des sog. ‚Andreaskreuzes‘ kennen Passional und Legenda aurea noch nicht), sein Kreuzestod erfährt in mehreren Punkten die gleiche Darstellung wie die Christi in der Passionserzählung des ersten Passionalbuches. Alle weiteren Handlungsschritte sind auf diesen Passionsbericht bezogen, von der Entkleidung über die Geißelung bis zur Kreuzigung selbst. Und hier werden erneut Elemente des ersten Buches aufgerufen, wenn die Metapher des Dürstens wieder aufgenommen wird, hier jedoch als Durst nach dem lebendigen Christus, während die Passionsschilderung des ersten Buches Christus nach den Menschen dürsten lässt, die er erlösen will – damit wird die Nachfolge am Kreuz unter die Folgerichtigkeit der bereits vollbrachten Erlösung durch Christus gestellt. Hinzu kommt, dass die Passion Christi durch die Figurenrede ebenfalls vergegenwärtigt wird, wenn der Apostel am Kreuz selbst in einer langen Rede an die Kreuzigung Jesu erinnert, zugleich aber auch an die Auferstehung, womit er seinen Tod in der Nachfolge Jesu bereits als Erlösung von der Welt und Weg ins himmlische Paradies begreift. Insgesamt hat dies bedeutende erzählstrukturelle Konsequenzen: Als Märtyrerlegende müsste man eigentlich von einer syntagmatischen Handlungsstruktur ausgehen, die mit dem von Feistner beschriebenen Basisnexus auf den Tod || 103 Abgesehen von der Johannes- und Magdalena-Legende, der etwas aus den Rahmen fallenden Erzählung von den Engeln sowie der Lukasvita, die aber kaum einen substantiellen Informationsgehalt bietet, wie der Erzähler II 35649f. selbst zugibt, führen alle anderen Legenden des zweiten Buches zum Tod im Martyrium.

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im Martyrium zuläuft. Die Legende zeigt jedoch eine Struktur paradigmatisch aneinandergereihter Einzelepisoden, deren letzte (beinahe unvermutet) den Märtyrertod beinhaltet. Das dahinterstehende Erzählsyntagma wird erst über die paradigmatischen Bezüge zu Leben und Sterben Jesu ersichtlich, welche das Passional nicht zuletzt über die Verweise zum ersten Buch, das Jesus- und Marienleben beinhaltet, herstellt. Die apostolische Christusnachfolge schließt somit Leben, Wirken und Sterben von Christus und Andreas zusammen, erst dadurch ergibt sich eine finale Erzählstruktur, die den Apostel zwangsläufig ans Kreuz führt, in dem nun syntagmatische und paradigmatische Bezüge zusammenführen. Auf ganz unterschiedliche Weise zeigen Christusnachfolge ebenso die Legenden von Petrus und Magdalena. Der Apostelfürst erweist seine Heiligkeit vor allem in der Auseinandersetzung mit dem Magier Simon, in der stellvertretend der Sieg Christi über die höllischen Mächte verhandelt wird. Überhaupt ist die Stellvertreterfunktion des Petrus besonders betont, führen doch gerade die Apostellegenden des zweiten Buchs den heiligen Status ihrer Protagonisten nicht zuletzt auf deren direkten Kontakt mit Jesus zurück. Der direkte Nachfolgeauftrag gerade des ersten unter den Aposteln findet auf diese Weise Ausdruck in dessen Wunderhandlungen, die sich als wahrhaftig von Gott, der durch ihn wirkt, erweisen, während Simon Magus mit seinem dämonischen Zauber ein ums andere Mal scheitert: Der, der wie Jesus zu sein vorgibt, kommt ihm niemals nahe, derjenige, der dagegen Jesus aufopfernd nachfolgt, figuriert ihn förmlich und wird nach seinem Martyrium von Christus persönlich ins Paradies geleitet. Noch einmal anders wird die große Sünderin Magdalena inszeniert, deren Vita – im Vorgriff auf das folgende Kapitel – den Umschlag vom Stigma der Sünde ins Charisma der Gnade voranstellt. Magdalenas Heiligkeit resultiert aus der gnadenvollen Annahme der Nachfolgebereitschaft, die sich aber nicht im Martyrium, sondern in der übergroßen Liebe zu Christus als besonders vorbildhaft erweist. Die Anlage dieser Legende lässt sich als ausgesprochen final beschreiben, denn sowohl in ihren Wunderhandlungen, bei denen die Heilige bereits zu Lebzeiten angerufen und verehrt werden kann, als auch in ihrer bereits partiellen Aufnahme in die Gemeinschaft der Heiligen ist ihre sanctias schon lange vor dem Tod manifest – und mit dem Tod endet die Vita auch keineswegs, vielmehr führen die dann folgenden zahlreichen und ausführlichen Mirakel die Exemplarizität und die Wunder der Heiligen noch quasi bis zur Gegenwart der Rezipienten fort (zu finalen Erzählstrukturen vgl. auch unten, Kap. 6). Gerade diesbezüglich bildet aber die Magdalenenvita auch eine wichtige Scharnierstelle zwischen zweiten und dritten Buch des Passionals: Sie verbindet die Apostel und direkten Nachfolger Christi mit denjenigen Heiligen, die den Nachfolgeauftrag nurmehr indirekt erfüllen und denen gerade die Heiligen des zweiten Buches dafür ebenso große Vorbilder sein können. Inszenierung von Heiligkeit als Erzählung von Nachfolge und imitatio – dies gilt zuletzt auch für die Johanneslegende, und doch ist darin imitatio nicht nur als Nachfolge Christi, sondern gleichermaßen als imitatio Mariae präsent. Die Nachfol-

218 | Heiligkeit als imitatio Christi ge Christi erfüllt Johannes gemäß dem apostolischen Sendungsauftrag, und sie wird erzählt als Kette von Wundern und Bekehrungen, von Predigtgleichnissen und Lehren, aber nicht als ein Tod im Martyrium, der sich dem christlichen Kreuzestod angleicht. Solches wird ganz an den Anfang der Erzählung gesetzt, um sogleich wieder abgewiesen zu werden. Das Martyrium wird ‚abgebrochen‘, weil die imitatio nicht durch das rote, sondern durch das weiße Martyrium erzählerisch fassbar gemacht wird, und das Passional setzt gerade an diese Schnittstelle explizit die Tugend der Keuschheit ein, die statt dessen maßgeblich für die heilige virtus des Apostels ist. Diese doppelte Form der Nachfolge, eine imitatio Christi et Mariae, führt nicht zuletzt an eine Angleichung an die exemplarische Figur der Gottesmutter über das Motiv der Keuschheit, so wie sich im Märtyrertod eine Christoformitas erweist. Die Angleichung des Johannes an Maria wird bereits im ersten Buch im Rahmen des Transitus-Mariae-Berichtes vorbereitet, wo jenem der gleiche Status als iuncvrowe zugesprochen wird. Narrativ vollzogen wird sie schließlich in der Engführung der Entrückung des Johannes mit der Himmelfahrt Marias, welche wiederum enggeführt ist mit Tod und Himmelfahrt Christi. Die Heiligkeit des Johannes wird zugleich über das Vorbild Christi und Marias erzählt, die ihren Ausdruck findet in einer besonderen Körperkonzeption, welche dem Heiligen beinahe einen Status zwischen Immanenz und Transzendenz verleiht und die in eine Schilderung eines Endes mündet, das schon in den apokryphen Johannesakten als Metastasis bezeichnet wird: Es ist kein Tod, sondern eine pure Verwandlung, die den Heiligen endgültig in die Transzendenz überführt. Imitatio, so ließe sich abschließend konstatieren, ist im Passional somit nicht allein als aktiver Nachvollzug zu fassen, sondern zeigt sich hier nicht zuletzt als narrativer Nachvollzug. Erzählelemente und -strukturen werden immer wieder aufgenommen, um die Angleichung nicht nur an Christus, sondern ebenso an Maria herauszustellen; das gilt nicht allein für die Apostel, sondern für die hagiographische Inszenierung von Heiligkeit insgesamt, weshalb die Ergebnisse dieses Kapitels durchaus übertragbar auf die nachfolgenden Analysen sind. Der besondere Stellenwert der Heiligen des zweiten Buches zeigt sich darin, dass es sich bei ihnen vielfach nicht allein um eine mimetische, sondern eine narrative Angleichung handelt, wie sich exemplarisch in den Viten der Apostel Andreas und Johannes zeigt, wo sich die Annäherung an Christus bzw. Maria nicht nur über paradigmatische Bezüge, sondern metaphorisch und z.T. bis auf die Wortebene zurückverfolgen lässt. Dies stellt umso mehr die durchgängige Komposition des Passionals unter Beweis, das derartige Bezüge teils über tausende von Versen aufbaut, von der Passion Christi und der Himmelfahrt Marias im ersten Buch hin zum Martyrium des Andreas und der Metastasis des Johannes im zweiten. Die vorangegangenen exemplarischen Analysen von vier Legenden des zweiten Passionalbuchs haben bereits einige grundlegende Konstituenten hagiographischen Erzählens aufgezeigt. Insbesondere lässt sich das Konzept von imitatio und Nachfolge auch auf die übrigen Legenden des Passionals, insbesondere des dritten Bu-

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ches, übertragen, wenngleich für die Protagonisten des zweiten Buchs das Motiv der Christusnachfolge natürlich besonders profiliert wird. Doch insbesondere die erzählerischen Konsequenzen einer imitatio Christi und mit ihren paradigmatischen Bezügen zu Leben und Tod Jesu, wie sie in den vorangegangenen Analysen immer wieder zu beobachten waren, gelten für die Inszenierung von Heiligkeit ganz allgemein, nicht nur für die Legenden der Apostel als unmittelbaren Nachfolgern Christi. Die Legenden des zweiten Buchs sind dennoch stets im besonderen Kontext des Passionals zusehen und daher in besonderer Weise auf das erste Buch rückbezogen, wie sich an allen vier Beispielen zeigen ließ: Die Andreaslegende nimmt wörtliche Bezüge zur Passion Christi auf, die Johanneslegende Darstellungselemente der Himmelfahrt; zusätzlich ist die Erzählung mit dem Transitus Mariae des ersten Buches verschränkt. Die Petruslegende nimmt nicht nur biblische Motive des Wirkens Jesu auf, sondern in der Figur des Gegenspielers Simon Magus auch paradigmatische Bezüge zum im ersten Buch dargelegten Tod und Auferstehung Christi; typologisch kann auf diese Weise Petrus als figura Christi dargestellt werden, während sein Gegenspieler den Teufel figuriert. Und auch die Magdalenenlegende greift nicht allein auf die Evangelienberichte zurück, sondern kann das prägende Motiv der übergroßen minne Magdalenas zu Jesus bereits in der Osterszene des ersten Buchs präfigurieren. Die Analysen der folgenden beiden Kapitel befassen sich mit Legenden des dritten Buches, das, wie bereits erwähnt, die hierarchische Ordnung der ersten beiden Bücher verlässt und in die heilsgeschichtliche des liturgischen Jahreskreises überführt. Die Ergebnisse dieser exemplarischen Untersuchungen können daher nicht nur stellvertretend für die übrigen Legenden des dritten Buches gesehen werden, sondern bilden darüber hinaus grundlegende Konstituenten hagiographischen Erzählens. Die Überlegungen der nachfolgenden Kapitel arbeiten somit durchaus Merkmale der Inszenierung von Heiligkeit heraus, die nicht nur für die Legenden des dritten Passionalbuches gelten, sondern durchaus verallgemeinerbar sind, zumindest in dem bestimmten hagiographischen Kontext der Legendensammlungen mit ihren narrativen Verdichtungen, Abbreviaturen und Kurzformen legendarischen Erzählens.

5 Basisoppositionen und Differenzsetzungen Gemäß der Überlegung, Heiligkeit als zusammengesetzte Kategorie zu beschreiben, die verschiedene Spannungsbereiche umfasst, disparate Einheiten, die eigentlich unvermittelbar sind, kann dieses Spannungsverhältnis narrativ in der Anlage dialektisch aufeinander bezogener semiotischer Oppositionspaare dargestellt werden. Auf diese Weise wird die Ambivalenz des Heiligen, das ‚Sowohl – als auch‘, in der Erzählung abgebildet, wobei sich die darin enthaltenen Dichotomien erst durch ihre axiologische Besetzung ergeben: Erst der oder die Heilige bringt Gegensätze auch dort zum Vorschein, wo oberflächlich besehen gar keine bestehen. Im folgenden Kapitel soll an einigen Legenden exemplarisch untersucht werden, wie Heiligkeit darin anhand derartiger Basisoppositionen narrativ inszeniert werden kann. Solche Oppositionspaare lassen sich – in unterschiedlicher Ausprägung – in fast allen Legenden finden; auch die Analysen des vorherigen Abschnitts haben dies bereits implizit gezeigt, beispielsweise in der Opposition von Schuld und Gnade bei Magdalena, vor allem natürlich im Umschlagen von Stigma und Charisma in der Kreuzigung Christi und, daran angelehnt, im Martyrium von Andreas und Petrus. Lag im vorherigen Kapitel jedoch der Schwerpunkt auf dem Modell der imitatio, sollen die folgenden Analysen die Perspektive nun konkret auf jene Oppositionspaare richten und die signifikantesten in ihrer narrativen Realisierung erfassen: Inklusion und Exklusion, Stigma und Charisma sowie Schuld und Gnade. Dabei wird zu zeigen sein, dass zwischen diesen vielfach ein direkter Zusammenhang besteht. Auf den ersten Blick scheint die Opposition von Inklusion und Exklusion nur eine bloße Dichotomie zu sein.1 Und doch ist dieser Gegensatz gerade in hagiographischen Erzählungen auf ganz bestimmte Weise besetzt: Heiligkeit erfordert einen Rückzug aus der Welt.2 Heilige Persönlichkeiten müssen sich von einer der Immanenz verhafteten Gesellschaft lösen, um schließlich in die Gemeinschaft der Heiligen eintreten zu können. Die Inklusion in die Sphäre der Transzendenz erfordert notwendigerweise eine Exklusion aus der Sphäre der Immanenz, was zu radikalen Brüchen mit der sozialen Gemeinschaft führt: Der oder die Heilige verlässt Familienund Sippenverbände wie Standeszugehörigkeiten, sondert sich zuletzt auch räumlich von allen Menschen ab und folgt dann kaum mehr sozialen Regeln wie die der Kommunikation und sozialen Interaktion, der gesellschaftlichen Hierarchien, ja selbst der (im Mittelalter hochgradig sozial besetzten) Nahrungsaufnahme. Hier erweist sich die für Heiligkeit beschriebene Eigenart des ‚Sowohl – als auch‘, welche

|| 1 Die Terminologie stammt von Niklas LUHMANN, Inklusion und Exklusion, in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 6, Wiesbaden ²2005, S. 226–251; die Konzeption ist freilich entscheidend weiterentwickelt worden, s. dazu unten, Kap. 5.1. 2 Vgl. die exemplarischen Analysen von Julia WEITBRECHT, Aus der Welt. Reise und Heiligung in Legenden und Jenseitsreisen der Spätantike und des Mittelalters, Heidelberg 2011.

222 | Basisoppositionen und Differenzsetzungen das Verhältnis von Inklusion und Exklusion in Spannung hält. Eine besonders radikale Exklusion aus der menschlichen Gemeinschaft stellt natürlich der Märtyrertod dar, mit dem der oder die Heilige endgültig der Welt entflieht, um in die Gemeinschaft der Heiligen zu gelangen. Dargelegt werden soll diese Spannung an den Legenden des Eremiten Aegidius, der der Gesellschaft, ja der ganzen Welt entflieht, um in der Wildnis einzig Gott zu dienen, sowie der Märtyrerin Christina, welche die soziale Gemeinschaft ihrer adeligen Familie verlässt und sich der menschlichen Gesellschaft zuletzt durchs Martyrium entzieht. In enger Relation zum Spannungsfeld von Inklusion und Exklusion ist die Dialektik von Stigma und Charisma zu sehen, die insbesondere in der Figur des ‚Selbststigmatisierers‘ zum Tragen kommt: Indem Menschen eine Stigmatisierung freiwillig auf sich nehmen, verändern sie deren Bedeutung, da diese zunehmend positiviert wird und schließlich charismatische Wirkung entfaltet. Exklusionsmechanismen, die soziale Stigmata mit sich bringen, werden dadurch ins Gegenteil verkehrt, die Träger der Stigmata gelangen durch den Umschlag des Stigmas ins Charisma vom Rand der Gesellschaft mit einem Mal in deren Zentrum. Geradezu idealtypisch ist dies an der Figur des hl. Franziskus zu zeigen, dessen Legende im Passional eine herausgehobene Stellung zukommt; sie soll exemplarisch für jenen Umschlag von Stigma in Charisma betrachtet werden, der Heiligkeit in der Erzählung charakterisiert. Eng verbunden mit den Aspekten des religiösen Charismas ist zuletzt die Dialektik von Schuld und Gnade. Denn es sind nicht nur die Exklusionsmechanismen von Martyrium oder Askese, die die Heiligkeit eines Menschen herausstellen, sondern auch die Erkenntnis individueller Schuld, einhergehend mit Scham bzw. Reue darüber. Die Vollkommenheit eines Lebens ohne Sünde ist nur Christus, nicht aber den Menschen möglich. Darum muss zur menschlichen Sündhaftigkeit das Moment der göttlichen Gnade hinzutreten, um das Charisma eines Heiligen zu verwirklichen.3 Als Mensch hat auch der Heilige per se Schuld auf sich geladen, durch Reue und Buße kann er sich ihrer zwar nicht vollständig entledigen (dafür bedarf es der Erlösungstat Christi am Kreuz), doch ist er durch die Gnade der Vergebung herausgehoben von den übrigen sündhaften Menschen, zumal er sein Leben ja möglichst so gottgefällig gestaltet, dass er selbst kaum weitere Sünden auf sich lädt.4 Exem-

|| 3 Dies betrifft nicht zuletzt die Figur des ‚Sünderheiligen‘, der seine menschliche Schuld hinter sich lässt und durch göttliche Offenbarung zur Umkehr und schließlich zur Heiligkeit gelangt. Die mit Konversionen verbundenen Umschlagsmomente entwickeln erzählstrukturelle Charakteristika, die einer gesonderten Betrachtung bedürfen (vgl. Kap. 8.1). Erneut erweist sich das Zusammenspiel der einzelnen Kategorien und Analysekriterien als entscheidend, um die narrativen Eigenarten legendarischer Heiligkeitsentwürfe umfassend zu beschreiben. 4 Sieht man erneut von der Figur des Sünderheiligen ab, bei der es ja der Moment der Umkehr, der conversio ist, der durch eine übermäßige Form der Scham und Buße jenen Zustand herstellt, der den übrigen Heiligen scheinbar schon von Anbeginn ihres Lebens zu eigen ist.

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plarisch soll hierfür die Legende der Theodora besprochen werden, die durch die radikale Annahme von Schuld, sogar solcher, die ‚unverdient‘ ist, eine größtmögliche Stigmatisierung und Exklusion auf sich nimmt, welche zuletzt umgewertet wird in das gnadenhafte Charisma der Heiligen. Erneut ist die axiologische Besetzung des Begriffspaares entscheidend: Das Spannungsverhältnis von Schuld und Gnade mit dem Eingeständnis von Sünde und der darauf folgenden göttlichen Gnade bewirkt, scheinbar paradox, eine Statuserhöhung der Heiligen, ihrer ‚Be-Gnadung‘. Die Heilige ist gegenüber ihren Mitmenschen durch ihre charismatische Begabung und durch den Umgang mit der Schuld ermächtigt, doch darf sie die daraus resultierende Gewalt weder erstreben noch für sich ausnutzen, vielmehr muss sie sich demütig zeigen gegenüber Gott, dem sie sie verdankt. Durch den Umschlag von Schuld in Gnade, durch die Umwertung von Sünde in eine charismatische Begabung, werden gerade Heilige als „Figuren des ‚Zwischen‘, als ‚Mittlerfiguren‘ dargestellt“5. Daher spiegelt dieses Begriffspaar vielleicht am deutlichsten die Ambivalenzen und Spannungsverhältnisse in der Darstellung von Heiligkeit wieder.

5.1 Inklusion – Exklusion Die Debatten über Identitäts- und Gruppenbildungsmechanismen haben in der Soziologie einen entscheidenden Impuls durch das von Niklas Luhmann erstmals konsequent eingeführte und aufeinander bezogene Begriffspaar der Inklusion und Exklusion erhalten, um die systembildenden Mechanismen zur Ausdifferenzierung von Gesellschaften zu beschreiben.6 Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe wird durch Inklusionsmechanismen geregelt, die Abgrenzung zu anderen wie auch die Exklusivität der eigenen Gruppe durch Operationen der Exklusion. Auf diese Weise bilden Inklusion und Exklusion kein einfaches Gegensatzpaar im Sinne einer strikten Dichotomie, sondern aufeinander bezogenen Operationsformen gesellschaftlicher Systembildungsprozesse: „Von Inklusion kann man also sinnvoll nur sprechen, wenn es Exklusion gibt.“7 Dabei macht bereits Luhmann bedeutende Unterschiede aus zwischen modernen, funktional differenzierten Gesellschaften und Gesellschaftsordnungen, wie sie für das Mittelalter bestimmend sind, welche Luh-

|| 5 Wolfgang LIPP, Charisma – Schuld und Gnade, in: Winfried GEBHARDT et al. (Hg.), Charisma. Theorie – Religion – Politik, Berlin/New York 1993, S. 15–32, hier S. 27. 6 Vgl. grundsätzlich LUHMANN, Inklusion und Exklusion. Vgl. zum neueren Forschungsstand Cornelia BOHN, Inklusion, Exklusion und die Person, Konstanz 2006, S. 7–27, sowie Alois HAHN, Theoretische Ansätze zu Inklusion und Exklusion, in: Cornelia BOHN u. Alois HAHN (Hg.), Processi di Inclusione ed Esclusione: Identità ed Emarginazione/Prozesse der Inklusion und Exklusion: Identität und Ausgrenzung. Annali di Sociologia/Soziologisches Jahrbuch 16 (2002/03), Mailand/Berlin 2006, S. 67–88. 7 LUHMANN, Inklusion und Exklusion, S. 229.

224 | Basisoppositionen und Differenzsetzungen mann als stratifizierte Gesellschaften bezeichnet.8 Die Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft definiert sich über die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schicht (Kaste, Stand etc.), welche über Inklusion und Exklusion (insbesondere sind hier endogamische Regelungen zu nennen) festgelegt wird; Individualität entspringt damit sozialer Inklusion, wobei man stets nur einem Teilsystem zugehören kann.9 Luhmanns Überlegungen sind nicht zuletzt in Hinblick auf die mittelalterlichen Gesellschaftsformen weiter ausdifferenziert worden. Dabei wird deutlich, dass in stratifizierten Gesellschaften (um bei der Terminologie zu bleiben) Exklusionspraktiken deutlich ausgearbeiteter und ausdifferenzierter sind, eben weil diese Gesellschaften von Inklusion ausgehen und Exklusionsmuster daher entsprechend legitimieren und codifizieren müssen.10 Zur Beschreibung von Identität und Individualität in vormodernen (stratifizierten) Gesellschaften ist daher der Begriff des Inklusionsindividuums sowie der partizipativen Identität aufgebracht worden.11 Das bedeutet, dass Identität statusabhängig ist und Individualität sich auf Äußerlichkeiten und Oberflächenphänomene beschränkt, die eine tiefere Wahrheit verdecken. „Das Wesen des Einzelnen wird in dem gesehen, was ihm mit Seinesgleichen gemeinsam ist. […] Was man ist, ist man folglich durch Inklusion in eine Statusgruppe und durch die Exklusion aus allen anderen.“12 Als eine der wichtigsten Statusgruppen gilt dabei die Familie, denn die Sippenzugehörigkeit ist ein wesentliches Identifikationsund Identifizierungsmerkmal im Mittelalter. Es ist auffallend, dass in diesem Zusammenhang Religion, insbesondere die christliche, eine Ausnahme bildet. Das göttliche Heilsversprechen umfasst jeden, und zwar statusunabhängig: Jeder kann ins Paradies gelangen – aber auch zur Verdammnis: man hat, wie es nicht zuletzt Dantes Divina Commedia eindrucksvoll vorführt, selbst Kaiser und Päpste in der Hölle gesehen. Die christliche Semantik schließt alle ein (und zwar als Individuen) und entwickelt dabei eigene Exklusionsmuster; || 8 Zum Terminus der Stratifikation und zu stratifizierten Gesellschaften vgl. ausführlich Niklas LUHMANN, Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1980. 9 Vgl. LUHMANN, Inklusion und Exklusion, S. 230. BOHN, Inklusion, S. 21, konstatiert, dass dabei all das, was in modernen, funktional differenzierten Gesellschaften Individualität ausmacht, also Einzigartigkeit, Unähnlichkeit, Unterschiedenheit, nach vormodernem Verständnis im Gegenteil als Mangel aufgefasst wird. Vgl. in Bezug auf die mittelalterliche Literatur hierzu auch Jan-Dirk MÜLLER, Identitätskrisen im höfischen Roman, in: Peter VON MOOS (Hg.), Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft, Köln u.a. 2004, S. 297–323. 10 Vgl. BOHN, Inklusion, S. 18f. 11 Vgl. Alois HAHN u. Cornelia BOHN, Partizipative Identität, Selbstexklusion und Mönchtum, in: Gert MELVILLE u. Markus SCHÜRER (Hg.), Das Eigene und das Ganze. Zum Individuellen im mittelalterlichen Religiosentum, Münster 2002, S. 3–25; weiterhin Peter VON MOOS, Vom Inklusionsindividuum zum Exklusionsindividuum. Persönliche Identität in Mittelalter und Moderne, in: Cornelia BOHN u. Alois HAHN (Hg.), Processi di Inclusione ed Esclusione: Identità ed Emarginazione/Prozesse der Inklusion und Exklusion: Identität und Ausgrenzung. Annali di Sociologia/Soziologisches Jahrbuch 16 (2002/03), Mailand/Berlin 2006, S. 253–265. 12 HAHN/BOHN, Partizipative Identität, S. 5.

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als statusunabhängige Individuierung greift das Christentum damit modernen Inklusions- und Exklusionsverhältnissen vor.13 Der adeligen Selbstthematisierung, die Statuszugehörigkeit, genealogische Abstammungsverhältnisse und Standesmerkmale fokussieren, wird eine ‚spirituelle Selbstthematisierung‘ an die Seite gestellt, „in der sich, zumindest vom Anspruch her, ein Individuum aus seiner Familie löst […], um als Einzelner um sein Heil zu ringen.“14 Der menschliche Status erweist sich als ein doppelter: Die partizipative Identität eines Einzelnen umfasst einerseits das konkrete Mitglied einer Familie, zugleich aber die unverwechselbare Singularität der Seele, die alle Bindungen überwindet; durch eine spezifische Form der Selbstexklusion kann diese Doppeltheit im Mönchtum (zumindest symbolisch) überwunden werden.15 In besonderer Weise betrifft dies aber die Person des Heiligen. Heiligkeit lässt sich nur als überindividuell fassen. Dies ist insofern bedeutsam, als sich der Mensch durch die eigene Sündhaftigkeit gerade seine Unverwechselbarkeit, seine Eigenheit, sein Ich erhalten hat. „Erlösung bedeutet zunächst Erlösung vom Ich, der regio dissimilitudinis oder selbst verschuldeten Gottunähnlichkeit“.16 Doch die Gottesschau, die paradoxerweise kollektiv und zugleich als persönliches Sehen gedacht ist, vollzieht sich erst nach dem Jüngsten Gericht, wenn die im Tod getrennten Körper und Seele wieder vereint werden.17 Einzig den Heiligen ist es möglich, schon vorzeitig in diese Gemeinschaft, eben der Gemeinschaft der Heiligen, einzutreten. Sie erfahren zwar nach ihrem Tod in der Regel ebensowenig eine sofortige Vereinigung von Körper und Seele, doch geht ihre Seele unmittelbar ins Paradies ein und kann das Angesicht Gottes schauen, wie es nicht zuletzt zahlreiche Visionsschilderungen darlegen – genau das macht ja ihre Heiligkeit aus. Ihr Körper bleibt nach dem Tod noch auf Erden zurück, doch die Reliquien tragen gewissermaßen die ‚Aura des Heiligen‘, die göttliche virtus mit sich, sind erfüllt vom Charisma der Heiligkeit und entfalten somit gleichermaßen Wunderkraft wie der Heilige vor Gott durch seine Fürbitte.

|| 13 Vgl. ebd., S. 15; BOHN, Inklusion, Exklusion, S. 38f. Zum Inklusions-Exklusionsmuster von Heil und Verdammnis innerhalb der christlichen Jenseitsvorstellungen vgl. auch ebd., S. 19. 14 HAHN/BOHN, Partizipative Identität, S. 10. Das bestätigt u.a. auch die unten in Kap. 6.2.3 zitierte Aussage aus der Adrianlegende (III 462, 53–57), in der Adrians Frau Natalia betont, dass weltliche Standesmerkmale und Sippenzugehörigkeit gerade keine Heilsmöglichkeiten eröffnen. 15 Vgl. HAHN/BOHN, Partizipative Identität, S. 13f. Ähnlich auch VON MOOS, Inklusionsindividuum, S. 257: „Dem Anspruch nach tritt in der christlichen Botschaft das entindividualisierende Potential stärker hervor als das individualisierende.“ 16 VON MOOS, Inklusionsindividuum, S. 258. Jede Sünde ist individuell und bestimmt insofern ebenso die Individualität, die Einzigartigkeit der Seele. Vgl. auch Alois HAHN, Zur Soziologie der Beichte und anderer Formen institutionalisierter Bekenntnisse: Selbstthematisierung und Zivilisationsprozess, in: Jürgen FRIEDRICHS (Hg.), Soziologische Theorie und Empirie, Opladen 1997 (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie; zum 50jährigen Jubiläum des Westdeutschen Verlages), S. 150–177. 17 Vgl. VON MOOS, Inklusionsindividuum, S. 258.

226 | Basisoppositionen und Differenzsetzungen Heilige sind jedoch keine Individuen mehr, die Inklusion in die communio sanctorum ist betont entindividualisierend, sie ist überindividuell und differenzlos. Es kann keine ‚Steigerungsform‘ von heilig geben, vor Gott sind alle gleich, verlieren aber dennoch nicht ihre Einzigartigkeit, woran sich der eigentümliche Status des Heiligen einmal mehr erweist.18 Unterschiede können nur von den Menschen gemacht werden, die in ihrer Verehrungsform dem einen Heiligen eine größere Wirkmächtigkeit zusprechen mögen als dem anderen, doch innerhalb der Sphäre der Transzendenz, innerhalb der Gemeinschaft der Heiligen sind Differenzen nicht mehr möglich. Aus diesem Grunde ist es für die Heiligen nötig, sich schon zu Lebzeiten von der übrigen, menschlichen Gesellschaft zu exkludieren, um die Inklusion in die himmlische vorzubereiten. Die radikale Abkehr von der Welt spiegelt schon zu Lebzeiten ihre eigentliche Zugehörigkeit zur transzendenten Gemeinschaft der Heiligen wieder.19 Diese Exklusion erfordernde Inklusion, die die Aufgabe von Identität und Individualität nach sich zieht, zeigt sich bekanntermaßen am deutlichsten in der Selbstexklusion der Eremiten, deren Weltflucht in den jeweiligen Viten meist als direkte Voraussetzung für ihre Heiligkeit dargestellt wird.20 Die prominentesten und wohl auch eindrücklichsten Beispiele hierfür sind die Antoniusvita und die Legende des Alexius. Antonius, der Prototyp des Eremiten, entzieht sich der Gesellschaft durch seinen Rückzug in die Wüste, wo er sein Leben nun in extremer Askese und Gebet führt.21 Dies gilt als idealtypische Lebensweise, um bereits jetzt – gewissermaßen vorzeitig – an der communio sanctorum zu partizipieren. Zwar muss sich gerade

|| 18 Vgl. auch ebd., S. 257: „Dennoch wird vor dem Vollkommenheitsideal radikaler Christomimetik schon die Frage nach persönlicher Identität sinnlos.“ 19 Vgl. zu diesen legendarischen Inklusions- und Exklusionsstrategien Marina MÜNKLER, Sündhaftigkeit als Generator von Individualität. Zu den Transformationen legendarischen Erzählens in der ‚Historia von D. Fausten‘ und den Faustbüchern des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Peter STROHSCHNEIDER (Hg.), Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFGSymposion 2006, Berlin/New York 2009, S. 25–61, hier S. 36–39, sowie Andreas HAMMER u. Stephanie SEIDL, Die Ausschließlichkeit des Heiligen. Narrative Inklusions- und Exklusionsstrategien im mhd. ‚Passional‘, in: PBB 130 (2008), S. 272–297. 20 HAHN/BOHN, Partizipative Identität, S. 16, weisen darauf hin, dass die Selbstexklusion vielfach nur von begrenzter Dauer ist. Der Einsiedler bzw. Heilige kann nach einer gewissen Zeit außerhalb der Gesellschaft wieder in diese zurückkehren, um dort weiter zu wirken, wie ja auch Jesus nach vierzig Tagen in der Wüste zurückgekehrt ist und seine Jüngerschar versammelt hat. Vgl. genauso BOHN, Inklusion, Exklusion, S. 34. Es wäre zu überlegen, ob diese Rückkehr dann tatsächlich noch als Re-Inklusion in die Gesellschaft betrachtet werden kann oder ob nicht vielmehr die Exklusion dauerhaft ist und der Heilige bereits als Teil der himmlischen Gemeinschaft noch eine Zeitlang auf Erden wirken kann, bevor er mit dem Tod endgültig in die communio sanctorum eintritt, wobei er andererseits ja auch danach noch (posthum) Wunder wirken kann, wie die zahlreichen Mirakelerzählungen zeigen. Damit befassen sich genauer die Überlegungen zur Aegidius-Vita, Kap. 5.2.2. 21 Zur Antoniusvita und ihrer religionsgeschichtlichen Einordnung vgl. Peter GEMEINHARDT, Antonius: Der erste Mönch. Leben – Lehre – Legende, München 2013.

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Antonius auch immer wieder dämonischer Angriffe erwehren, die z.T. sogar stellvertretend für ein Martyrium gewertet werden, letztlich jedoch vor allem seinen eigentlichen Status immer wieder bestätigen. Einbrüche der Transzendenz zeigen sich hingegen immer wieder in Visionen, in direktem Kontakt mit dem Göttlichen, sei es durch himmlische Speisung oder gar Teilhabe an einer himmlischen Messfeier, bei der die Hostie direkt vom Himmel gesandt wird, sei es im persönlichen Gespräch mit Gott. Auf diese Weise hat der von der sozialen Umwelt exkludierte Einsiedler bereits zu Lebzeiten Teil an der himmlischen, transzendenten Gemeinschaft; die vollständige Exklusion von der Welt ist Voraussetzung für seine Inklusion in die heilige Gemeinschaft. Ein solch paradoxer Status von in die Immanenz hineinragender Transzendenz begegnet ebenso in Form des Auferstehungsleibes in den Märtyrerlegenden (vgl. unten, Kap. 6.1). Die Legenden schaffen es auf diese Weise, eine Doppelexistenz des Transzendenten in der Immanenz, des Heiligen zu Lebzeiten, narrativ zu konstituieren, selbst wenn hier ein Widerspruch zur vorherrschenden theologischen Auffassung besteht. Besonders deutlich tritt eine derartige literarische Konzeption in der Gestalt des hl. Alexius auf, dessen Legende jedoch nicht im Passional, sondern im Väterbuch zu finden ist. Alexius gehört einem aristokratisch-ritterlichen Status an und wird dementsprechend erzogen. Typischerweise ist das inkludierende und stabilisierende Merkmal dieses System die Endogamie,22 doch der Heirat entzieht sich Alexius, indem er die Ehe nicht vollzieht, seine Frau zur Keuschheit überredet und schließlich ganz seine Familie verlässt zugunsten eines christlich-tugendhaften Lebenswandels. Seine Exklusion von der Gesellschaft vollzieht sich stufenweise: Er verschenkt seinen Besitz und begibt sich als Landfremder nach Syrien, gibt also seinen adeligen Status ebenso wie die Bindung an die Sippe auf und lebt ausgeschlossen, als Fremder in Armut. Seine strenge Askese führt (wie bei anderen Eremiten auch) gleichzeitig zu einer Abkehr von den natürlichen körperlichen Bedürfnissen, die seine Exklusion auch auf der physischen Ebene unterstreicht. Dies geht soweit, dass er für seine Außenwelt praktisch nicht mehr identifizierbar ist.23 Alexius’ Selbstexklusion und Entindividualisierung ist so absolut, dass er erst nach 17 Jahren und auch nur durch göttliches Eingreifen (nämlich durch die Worte einer Marienikone) identifiziert wird; Gott will den Menschen nun diesen seinen Heiligen zeigen. Es folgt die letzte Stufe der Selbstexklusion: Unerkannt von allen verbringt Alexius als Bettler weitere 17 Jahre im Haus seiner Eltern; die Exklusion ist so vollkommen, dass selbst die eigene Familie ihn nicht als den verschwundenen Sohn wahrnimmt, seine Identität ist praktisch ausgelöscht. Seine Weltabkehr zeigt sich nicht zuletzt in der asketischen Enthaltsamkeit, die alles körperlich-weltliche

|| 22 Vgl. LUHMANN, Inklusion und Exklusion, S. 230. 23 Vgl. STROHSCHNEIDER, Textheiligung, S. 131f., dem es auch hier wieder um die Beobachtung des Nichtbeobachtbaren geht.

228 | Basisoppositionen und Differenzsetzungen abtöten soll. Identifiziert werden kann Alexius nämlich erst nach seinem Tod, also erst, nachdem er vollständig in die communio sanctorum inkludiert ist, und auch dies gelingt erst durch einen von ihm selbst verfassten Brief, den der Tote in seiner Hand hält. Heiligkeit als Kategorie des Nichtunterscheidbaren entzieht sich jeder Wahrnehmung,24 so dass sich in Alexius die Transzendenz bereits in der Immanenz zu manifestieren beginnt; dies jedoch bedeutet totale Exklusion nicht nur aus der eigenen Gesellschaft, sondern aus der Welt schlechthin. Die wohl radikalste und absoluteste Form von Weltflucht und Selbstexklusion ist sicherlich der Tod.25 Mit dem Tod findet die vollständige Inklusion des Heiligen in die himmlische Gemeinschaft statt, die durch die eremitische Selbstexklusion bereits exemplarisch vorbereitet sein kann. Dies gilt in gleicher Weise für den Märtyrer, der sich im selbstgewählten, freiwilligen Tod von der Welt und ihren Gesellschaftsordnungen abwendet zugunsten der Gemeinschaft der Heiligen.26 Dieser totalen Exklusion im Tod geht aber auch bei den Märtyrerheiligen zumeist eine gestufte Abkehr von der Gesellschaft voraus, die z.T. in der den Basisnexus bildenden Verhör- und Folterhandlung lediglich angedeutet, teilweise aber auch durch die Verknüpfung mit einer etwaigen Vorgeschichte ausführlich thematisiert wird. All dies greift bereits über in den Bereich der Selbststigmatisierung: Das freiwillige Aufnehmen der Stigmata geht einher mit Exklusionsmechanismen, die im Zuge der radikalen Umwertung zum Charisma des Heiligen einen Umschlag zu Inklusionsmechanismen erfahren. Der Märtyrer tritt ein in die Gemeinschaft der Heiligen; für die Gesellschaft, aus der er stammt und von der er sich ausgeschlossen hat, wird er nun zum verehrungswürdigen Heiligen. Nicht zuletzt deshalb berichten zahlreiche Legenden auch von Massenbekehrungen der Zeugen, die dem Martyrium beiwohnen. Aus den von weltlichen Freiern umworbenen Jungfrauen Christina oder Agnes wird eine Braut Christi, aus dem adeligen Ritter Adrian ein miles christi (s.u., Kap. 6.2): Die Exklusion aus der Welt zeigt sich komplementär zur Inklusion in den himmlischen ‚Stand‘, Inklusion und Exklusion sind somit direkt aufeinander bezogen, die Oppositionspaare bilden keinen schlichten Gegensatz, keine eindeutigen Dichotomien, sondern ergänzen sich vielmehr bei der narrativen Konstruktion von Heiligkeit. Der Tod im Martyrium ist in der Hagiographie dabei stets als Wahlmöglichkeit dargestellt: Den künftigen Heiligen werden (zumindest potentiell) Alternativen in Aussicht gestellt, um Folter und Tod noch zu vermeiden, und es ist ebenso klar, dass die Heiligen all dies selbstverständlich ablehnen. Die abgewiesenen Alternativen zum Martyrium erweisen sich dabei allesamt als Versuche, den Heiligen wieder in die Gesellschaft, in die Welt, zu inkludieren: So soll dieser beispielsweise die

|| 24 Vgl. ebd., S. 136. 25 Vgl. dazu auch HAHN/BOHN, Partizipative Identität, S. 7–9. 26 Zum Martyrium als exklusives Exklusionsmerkmal vgl. HAHN, Theoretische Ansätze, S. 70.

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heidnischen Götter verehren und damit dem Konsens jener Gemeinschaft beitreten, die zu missionieren er angetreten ist, oder eine weibliche Heilige soll zur Ehe mit ihrem (heidnischen) Widersacher und Folterer gezwungen werden und sich damit den geschlechtsspezifischen Erwartungen einer hierarchisch organisierten Gesellschaft unterwerfen. Damit zeigt sich jedoch, dass der Weg zur Heiligkeit die Protagonisten der Legenden immer weiter von ihrer gesellschaftlichen Ordnung und den damit verbundenen Lebensentwürfen entfernt, bis zur totalen Exklusion im Märtyrertod. Die Abkehr vom heidnischen Glauben, aber auch gesellschaftlichen Lebensentwürfen wie der Ehe und die Hinwendung hin zum Christentum sind stets inszeniert als Abkehr von der Welt – ein Ideal, das in der volkssprachigen Literatur des Mittelalters auch außerhalb des hagiographischen Kontextes bestimmend ist, denkt man z.B. an das Erzählmotiv des moniage, des Rückzugs eines weltlichen Protagonisten ins Kloster.27 In den Eremitenviten ist diese Abkehr ganz direkt als Weltflucht, als Ab- und Ausgrenzung von jeglicher sozialer Ordnung in einem einzig auf Gott und das Jenseits gerichteten Leben dargestellt, in Märtyrerlegenden ist sie mit dem Tod auf die denkbar größte Weise radikalisiert. Die beiden im Folgenden besprochenen Legenden von Christina und Aegidius stellen eine solche Weltabkehr und die mit der Exklusion aus der menschlichen Gesellschaft einhergehende Inklusion in die himmlische Gemeinschaft exemplarisch vor. Die Christina-Legende zeigt dabei die schrittweise Abkehr von der eigenen Sippe und die Hinwendung zur himmlischen Familie, die konsequent ins Martyrium führt. Noch stärker als in anderen Märtyrerlegenden (vgl. beispielsweise die unten besprochenen von Adrian oder Agnes) lässt sich hier sowohl die Abkehr von spezifisch weiblichen Inklusionsmerkmalen markieren, wie auch die Exklusion von ständischen Ordnungen und verwandtschaftlich organisierten Systemen. Für Aegidius lässt sich demgegenüber eine dem eremitischen Lebensentwurf entsprechende Weltflucht, die sich ebenfalls gestuft vollzieht, konstatieren. Die als geradezu prototypisch geltenden Legenden um Antonius und Alexius sind nicht Bestandteil des Legendenkorpus des Passionals und können daher nicht berücksichtigt werden; sie finden sich im sog. Väterbuch, jener Vitensammlung von Eremiten und Mönchen, die quasi qua Programm die Praktiken religiöser Selbstexklusion narrativiert. || 27 Der Begriff des moniage ist entlehnt aus der afrz. Chanson de geste-Dichtung und konterkariert dort das heldenepische Modell eines heroischen Kriegers, der sich am Ende seines Lebens ins Kloster zurückzieht, dabei jedoch vielfach seinen heroischen Lebensentwurf nicht ablegen und mit der klösterlichen Ordnung vereinbaren kann. Insbesondere in der mhd. Literatur ist dieses Motiv auch über die Heldenepik hinaus präsent, vgl. die Studie von Corinna BIESTERFELDT, Moniage – der Rückzug des Helden aus der Welt als Erzählschluß. Untersuchungen zu ‚Kaiserchronik‘, ‚König Rother‘, ‚Orendel‘, ‚Barlaam und Josaphat‘, ‚Prosa-Lancelot‘, Stuttgart 2004; zum Problemkomplex vgl. Stephan MÜLLER, Das Ende der Werbung. Erzählkerne, Erzählschemata und deren kulturelle Logik in Brautwerbungsgeschichten zwischen Herrschaft und Heiligkeit, in: Andreas HAMMER u. Stephanie SEIDL (Hg.), Helden und Heilige. Kulturelle und literarische Integrationsfiguren des europäischen Mittelalters, Heidelberg 2010, S. 181–196.

230 | Basisoppositionen und Differenzsetzungen

5.1.1 Die heilige Christina: Eintritt in die Gemeinschaft der Heiligen als Austritt aus Familie und Gesellschaft Fast idealtypisch und in größter Deutlichkeit zeigt eine solche radikale Weltabkehr im Tod die Christina-Legende des Passionals auf. In der typischen Manier einer Märtyrerlegende wird hier eine Heilige präsentiert, die sich lieber zur Christusbrautschaft bekennt als zur weltlichen Ehe und dafür den Märtyrertod erleidet (vgl. auch Agnes und Agatha, Kap. 6.2.2). In der Christina-Legende allerdings wird auf besondere Weise – und hier geht das Passional deutlich über seine Vorlage in der Legenda aurea hinaus – die Exklusion von der Familie und der bestehenden sozialen Ordnung schrittweise inszeniert. Dabei ist es zunächst Christinas Vater, der sich gegen diese Ordnung stellt: Er sorgt dafür, dass seine Tochter nach richlicher art/ zu allen zeiten wol behut ist (III 340, 14f.) und stellt ihr zwölf Jungfrauen an die Seite, die ir an hute pflegen sollen (III 340, 22), sorgt also für das, was im Kontext des Minnesangs als huote bezeichnet würde. Ist im Konzept der Minnelyrik die gesellschaftliche huote dafür verantwortlich, dass einander Liebende nicht zueinander finden können, so gilt das für diese Legende gleich in doppelter Hinsicht. Es findet sich zwar manic knappe […]/ der um die iuncvrowen bat/ und bot ir ere unde gut (III 340, 23–25), es gibt also genügend potentielle Kandidaten für eine standesgemäße Ehe, doch der Vater lehnt alle Werber ab und verweigert sich der gesellschaftlichen wie familiären Verpflichtung, seine Tochter zu verheiraten. Die sperrt er statt dessen in einen Turm, wo sie ganz den heidnischen Göttern dienen soll, wand sie unmazen schone was (III 340, 31). Indem die Erzählung mit einem Vater einsetzt, der seine Tochter wegsperrt anstatt sie zu verheiraten, baut sie eine Konstellation auf, die zunächst an Elemente der gefährlichen Brautwerbung erinnert, wie sie im europäischen und mhd. Erzählgut weit verbreitet ist.28 Allerdings wartet Christina gar nicht auf die Hochzeit mit einem weltlichen Bräutigam, vielmehr ist sie bereits jetzt einzig auf die gotes minne (III 340, 51) ausgerichtet, woran klar wird, dass die angedeutete Ausgangskonstellation von vornherein nicht erfüllt wird – zumindest nicht im klassischen Sinne des Brautwerbungsschemas, wie es etwa in der literarisch ausgearbeiteten mhd. Version der Oswald-Legende, dem Münchner und dem Wiener Oswald, der Fall ist. In doppelter Hinsicht soll das Einsperren im Turm Christina daher von weltlichen und geistlichen ‚Freiern‘ abgrenzen, doch während die jungen Knappen das Nachsehen haben, kann die Christusminne durch kein Gefängnis aufgehalten werden. Die explizite Erwähnung von Christinas Schönheit (die zwar auch in der Legenda aurea genannt wird, dort aber nicht als Begründung für die Handlungsweise des Vaters

|| 28 Vgl. zum Brautwerbungsschema genauer Christian SCHMID-CADALBERT, Der Ortnit AW als Brautwerbungsdichtung. Ein Beitrag zum Verständnis mittelhochdeutscher Schemaliteratur, Bern 1985; s. auch ausführlich die Bemerkungen zur Ursula-Legende, Kap. 8.2.2.

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dient) ist somit ebenfalls zweifach codiert, nämlich weltlich und geistig: Äußerlich zeigt die körperliche Schönheit, dass Christina prädestiniert wäre für eine weltliche Ehe, sich also in die gesellschaftliche Ordnung entsprechend einfügen könnte. Das mittelalterliche Kalokagathieideal weist andererseits äußeren Merkmalen stets auch innere Eigenschaften zu, und gemäß den Vorgaben der Hagiographie kann dies wie auch bei Agnes oder Agatha nur heißen, dass Christina geistige Schönheit, d.h. Glaubensstärke und religiöses Charisma besitzt und damit ausersehen ist als Braut Christi.29 So ist Christina bereits von der übrigen Gesellschaft exkludiert, an der ihr Vater sie durch die Verweigerung der Heirat nicht teilhaben lassen will. Das an sich käme der Jungfrau sogar entgegen, hat sie sich doch Christus als Bräutigam erwählt und damit zur Keuschheit verpflichtet. Doch eben dieser Umstand wird in Frage gestellt, da Christina den heidnischen Göttern dienen soll, was für sie ebensowenig in Frage kommen kann wie die weltliche Ehe und erst recht ein Verrat an ihrem himmlischen Bräutigam darstellen würde. Daher ignoriert sie den väterlichen Willen und weigert sich, den Götzen zu opfern. Was in anderen Legenden heiliger Jungfrauen als gesellschaftlicher Ungehorsam inszeniert wird, nämlich die Weigerung zur Ehe, erscheint hier als Ungehorsam gegenüber der familiären Autorität des Vaters, ihre Hinwendung zu Christus vollzieht sich als Exklusion aus dem Sippenverband. Die Version des Passionals zeichnet sich gegenüber der der Legenda aurea dadurch aus, die Abwendung vom Vater und der Familie stufenweise darzustellen und damit einen regelrechten Exklusionsprozess in Gang zu setzen, an dessen Ende erst die völlige Weltabkehr im Märtyrertod und damit die Aufnahme in die himmlische Gemeinschaft steht. Als dem Familienoberhaupt zu Ohren kommt, dass Christina die heidnischen Götter nicht verehren will, versucht der Vater zunächst, sie im Guten zu überzeugen. Er spricht sie mit liebe tochter min (III 341, 9) an und argumentiert nicht zuletzt mit dem unstandesgemäßen Armutsgebot der Christen, das seiner edlen Tochter so gar nicht anstehe (wiederum greifen Mechanismen der Selbststigmatisierung, s.u.). Christina entgegnet ihm zunächst noch gemäß ihrer sozialen Stellung mit ey, vater min (III 341, 27), erkennt also ihrer beiden Rollen innerhalb des Sozialverbandes noch an. Um dieses fast fünfzig Verse lange Gespräch hat das Passional seine Vorlage selbständig erweitert; die Legenda aurea dagegen lässt Christina sich bereits hier und ohne Umschweife von ihrem Vater lossagen: Noli me uocare filiam tuam, sed eius quem sacrificium laudis decet (LA 94, 9: Nenne mich

|| 29 Vgl. dagegen aber Rüdiger SCHNELL, Wer sieht das Unsichtbare? Homo exterior und homo interior in monastischen und klerikalen Erziehungsschriften, in: Katharina PHILIPOWSKI u. Anne PRIOR (Hg.), anima und sêle. Darstellungen und Systematisierungen von Seele im Mittelalter, Berlin 2006, S. 83– 112. Differenziert betrachtet auch KEHREL, Möglichkeiten, S. 266, das Kalokagathieideal: Die im Passional überwiegend für weibliche Heilige beschriebenen Schönheitsmerkmale seien lediglich als Ergänzung der charakterlichen Eigenschaften zu sehen, nicht aber durch diese bedingt; im Gegenteil könne Schönheit auch ein Gefahrenpotential von Versuchung und Begehren bergen.

232 | Basisoppositionen und Differenzsetzungen nicht deine Tochter, sondern die Tochter dessen, dem aller Ehren Opfer gebührt). Dort wird die künftige Heiligkeit Christinas durch die sofortige und endgültige Exklusion von der weltlichen Familiengemeinschaft vor Augen gestellt; Exklusion schlägt hier unmittelbar in Inklusion zur Heiligkeit um. Das Passional zeichnet dagegen eine langsame Entwicklung nach. Da der Vater sich nicht vom Christentum überzeugen lassen will, macht Christina ihm klar, dass sie seiner Autorität nicht mehr folgen werde: ich wil leben hie zu lobe minem herren dar obe und gerne sinen willen tun. daz ist der vater und der sun und der vil heilige geist. (III 341, 53–57)

Mit der Nennung der Trinität bezeichnet sie zunächst implizit (und nicht wie in der Legenda aurea schon direkt) ihren ‚wahren‘ Vater, dessen Willen sie einzig erfüllen möchte; er ist es, den sie als ihren Herren anerkennt, nicht ihren leiblichen Vater. Damit vollzieht Christina einen ersten Schritt zur Absonderung aus dem Sippenverband, der zugleich die ausdrückliche Hinwendung zu Gott ist. Ihren Worten lässt sie Taten folgen und zerstört alle heidnischen Götzenbilder. Darauf reagiert ihr Vater nun seinerseits mit einer Exklusion: Er lässt Christina die Kleider ausziehen als ob si were al unwis (III 342, 9) und lässt sie öffentlich auspeitschen. Anders als z.B. bei Agnes, bei der die Entblößung zugleich eine Zurschaustellung ihrer Sexualität darstellt und die deshalb durch ein Haarwunder sogleich wieder verdeckt werden muss (s.u., Kap. 6.2.2), ist die Entkleidung Christinas dagegen als Ausstoßung aus dem Sippenverband zu bewerten und darum erst recht anschaulich zu machen. Geht es bei Agnes darum, ihre Keuschheit und Ablehnung der Ehe durch die öffentliche Nacktheit zu brechen und muss dies demgemäß durch ein göttliches Wunder verhindert werden, ist die Entblößung Christinas zugleich eine Entäußerung, das Ablegen der Kleider als Ablegen der sozialen Bindung zu sehen, deshalb muss ihre Nacktheit im Gegensatz dazu gerade öffentlich zur Schau gestellt werden, um die Abkehr von der Sippe vor aller Augen zu demonstrieren.30 Christinas Exklusion von der Familie manifestiert sich gleichermaßen beim Besuch ihrer Mutter im Kerker, die sich der Tochter weinend zu Füßen wirft und sie mit

|| 30 Devestitur und Investitur sind weit verbreitete Zeichen zur Kenntlichmachung sozialer Zugehörigkeiten, wie ja überhaupt Kleidung im Mittelalter Gruppenidentitäten festgelegt hat. Nicht zuletzt ist der Übertritt ins Kloster, der Wechsel vom weltlichen in den geistlichen Stand, durch einen Kleidungswechsel gekennzeichnet. Vgl. zu diesem Komplex die zahlreichen Beispiele von KRAß, Geschriebene Kleider, sowie Peter VON MOOS, Das mittelalterliche Kleid als Identitätssymbol und Identifikationsmittel, in: ders. (Hg.), Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft, Köln u.a. 2004, S. 123–146. Zum Bruch Christinas mit dem Vater vgl. auch KEHREL, Möglichkeiten, S. 231f.

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min liebez kint, daz ich gebar (III 342, 33) beschwört, sich wieder in die Gesellschaft und Familie einzufügen. Sie hält an Christinas Sippenzugehörigkeit fest und möchte die Tochter wieder in die Familie inkludieren. Christinas Reaktion könnte jedoch deutlicher nicht sein, sie sagt sich nach dem Vater auch von der Mutter los: do sprach sie zu ir ey, durch waz/ nennestu mich vurbaz/ din dochter, des ich nicht enbin? (III 342, 41–43; fast wörtlich aus LA 94, 24f.). Statt der weltlichen Familie hat sie die himmlische Gemeinschaft gewählt, statt der leiblichen Mutter ist es Jesus: sin tochter wil ich sin genant (III 342, 48). Mit der Exklusion von der irdischen Gesellschaft beginnt zugleich die Inklusion in die transzendente, himmlische. Diese Haltung wird vor dem Vater, der als gesellschaftliches Oberhaupt die Familie repräsentiert, ein weiteres Mal mit aller Vehemenz verdeutlicht. Der verlegt sich nun nämlich nicht mehr aufs Zureden, sondern auf Gewaltandrohung, vor allem aber führt er aus: du salt nicht me, sprach er do,/ als min tochter sin genant (III 342, 70f.), wenn sie ihren Widerstand nicht aufgebe. Damit aber kann er Christina nicht beeindrucken, im Gegenteil: Dass er sich umgekehrt von ihr öffentlich lossagt, empfindet sie fast schon als groz ein genade (III 342, 75), denn sie wolle schließlich nicht ein Kind des Teufels sein. Ihrem Vater nämlich, der nun zu ihrem Richter und Peiniger wird, erklärt sie: du bist des tuvels und er din; ir zwei muget wol vereinet sin. swaz von dem tuvele ist geborn, dem wirt billich der name erkorn, daz er des tuvels kint wese. hievon ich gerne genese, daz ich sin kint icht heize. (III 342, 79–85)

Die Gottesminne, die religiöse Gemeinschaft mit Gott, löst alle anderen sozialen Ordnungen auf, sogar die natürlichen Verwandtschaftsverhältnisse. Wer gegen Gott ist, ist für den Teufel; die Gemeinschaft der Gläubigen repräsentiert eine übergesellschaftliche, ja (wie sich noch zeigen wird) eine überindividuelle Gemeinschaft, wer ihr nicht angehört, ist automatisch der teuflischen Gesellschaft zugehörig, und das macht aus Christina kein Kind des Teufels mehr, sondern ein Kind Gottes.31 Mit der Exklusion aus der Welt und ihren Ordnungen beginnt die Inklusion in die Sphäre des Göttlichen, des Heiligen. Christinas Abkehr von der Welt und ihren Ordnungssystemen geht nun sehr schnell. Es ist der eigene Vater, der ihre Folterungen be-

|| 31 In der Legenda aurea tituliert Christina ihren Vater sogar als Satans Vater (Tu es pater ipsius Sathane; LA 94, 32) und löst damit noch konsequenter die Verwandtschaftsverbindungen mit ihm. Auch im oben zitierten Vers III 342, 82 ist vom Namen des Teufels die Rede, der dem Vater zufalle, womit zugleich der Kontrast zum Namen der Protagonistin eröffnet wird, der als von Christus inspiriert quasi das direkte Gegenprogramm eröffnet; die Etymologie der Legenda aurea leitet den Namen Christina allerdings vom Chrisam ab.

234 | Basisoppositionen und Differenzsetzungen fiehlt, doch keine der Martern schlägt an. Im Gegenteil, der Jungfrau wird zwar die Haut abgezogen, doch sie schleudert ihrem Vater ein Fleischstück ins Gesicht und ruft: nu vriz, du valschafter man,/ daz vleisch, daz von dir ist geborn! (III 343, 8f.). Damit macht sie auf die Widernatürlichkeit seines väterlichen Verhaltens aufmerksam, denn er ist es, der diese radikale gesellschaftliche Exklusion forciert, die andererseits doch notwendig ist, um in die Gemeinschaft der Heiligen zu gelangen. Diese rückt umso näher, je stärker die Abkehr von der Welt erfolgt. Dem Vater gelingt es nicht, sie umzubringen – Christina erweist sich als Märtyrerin von unzerstörbarem Leben – nicht einmal durch Ertränken: Ein Engel hält sie über Wasser, schließlich erscheint Christus persönlich, um sie zu taufen; ein selbst für hagiographische Verhältnisse höchst ungewöhnlicher Vorgang exklusiver Gnade. Beachtenswert sind wiederum die Taufworte, zumal von Christus selbst gesprochen, der die Taufe ja erst eingesetzt hat; sie bedeuten die Inklusion in eine neue Gemeinschaft: in minem vatere touf ich dich nach der cristenlicher gir, und in sime sune, in mir, und in deme heiligen geiste. (III 343, 80–83)

Die Gemeinschaft mit Gottvater, Sohn und Heiligem Geist, die Gemeinschaft der Gläubigen ist es, worin Christina nun aufgenommen wird, dies stellt ihre neue Familie dar. Durch die Taufe gehört sie nun endgültig der christlichen Gemeinde an, noch jedoch nicht vollständig der transzendenten communio sanctorum. Das Versprechen, dieser bald anzugehören, kann man bereits in der Taufe durch Christus persönlich sehen, doch die Inklusion darin ist noch nicht abgeschlossen: Die Jungfrau muss wieder zurück zu ihrem weltlichen Vater (in der Legenda aurea führt sie bezeichnenderweise der Erzengel Michael persönlich), der ihr Überleben voller Zorn einem Zauber zuschreibt und den in der Nacht noch der Schlag trifft. Mit dem Tod des Vaters ist nun aber die familiäre Bindung endgültig zerstört, die Exklusion aus der sozialen (heidnisch-weltlichen) Gemeinschaft ist mit der Taufe abgeschlossen, es fehlt zuletzt nur die radikale Abkehr von der Welt, um auch die Inklusion in die himmlische abzuschließen. Dafür muss ein neuer Richter her, der das Martyrium fortsetzt, aber ebensowenig Erfolg dabei hat.32 Auch dieser Richter stirbt, ein dritter soll die Sache zu Ende bringen, vermag dies aber erst recht nicht: Wie die drei biblischen Jünglinge im Feuerofen Nebukadnezars (Dan. 3) stehen ihr im Feuer Engel bei, und ein Zauberer, der Nattern auf sie hetzt, wird selbst von den Schlangen getötet und || 32 Ein Gefäß mit heißem Pech und Öl zeigt keine Wirkung, Christina dankt sogar Gott, daz er nu anderweide/ sie toufen wolde sus alhie (III 344, 26f.), spielt also auf die Bluttaufe an. Deutlicher drückt sich an dieser Stelle die Legenda aurea aus, die explizit von der Taufe als einer Neugeburt spricht: Tunc Christina deum laudat quod eam nuper renatam denuo uolebat ut infantulam incunabulis agitari (LA 94, 48: Aber Christina lobte Gott, dass er sie, die kürzlich nachgeboren sei, wie ein Kind in einer Wiege lasse wiegen).

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von Christina wieder auferweckt. Zuletzt geschieht ihr das gleiche wie der heiligen Agatha, man schneidet ihr die Brüste ab.33 Dies offenbart einen weiteren Schritt der Exklusion, denn mit dem Abtrennen der äußeren Geschlechtsmerkmale ist zumindest oberflächlich eine Ununterscheidbarkeit des Geschlechts markiert, es ist eine Aufgabe der menschlichen Identität. Entdifferenzierung jedoch kann als hervorstechendes Merkmal von Heiligkeit konstatiert werden. Somit stellt der Verlust der persönlichen Geschlechteridentität zugleich eine weitere Stufe zur Teilhabe an der communio sanctorum dar. Zuletzt wird Christina auch noch die Zunge herausgerissen, sie aber wirft diese ihrem Richter ins Gesicht und spricht dennoch weiter (vergleichbar der Longinusund Lucia-Legende): Sie ist zuletzt bereits so von Transzendenz quasi ‚erfüllt‘, dass sie die körperlichen Sprechwerkzeuge nicht mehr benötigt, es ist Gott, der durch sie spricht und der dafür keiner Zunge bedarf. Nicht von ungefähr ist diese Form der ‚Inspiriertheit‘ der letzte Schritt einer Inklusion in die Transzendenz, in die Gemeinschaft der Heiligen, die als Exklusion von der Gesellschaft, von der eigenen Familie begann, und die zuletzt mit der radikalsten Abkehr von der Welt, dem Märtyrertod, vollendet ist. Während jedoch die Legenda aurea abschließend lediglich den Tod durch drei Pfeile unter Nennung der Datumsangabe konstatiert, führt der Passionaldichter die endgültige Aufnahme Christinas in die Gemeinschaft der Heiligen genauer aus: der tot hie mite ouch vollen gie/ an des vleisches lebene (III 345, 50f.) – das ist die Weltabkehr, die Exklusion von den weltlichen Lebensentwürfen – und er fährt fort: got gab ir dort vil ebene/ bi der iuncvrowen lone/ eine wunnecliche krone (III 345, 52–54): Erst mit dem Tod ist die Inklusion in die Transzendenz, die göttliche Gemeinschaft, endgültig vollzogen. Die Christinenlegende führt somit auf exemplarische Weise vor, dass der Weg zum Martyrium mit einer stufenweisen Exklusion aus der Welt, aus Gesellschaft und Sozialverbänden, einhergeht. Die Besonderheit darin ist, dass auf diese Weise die Erlangung der Heiligkeit und die Aufnahme in die Gemeinschaft der Heiligen weniger als Umschlagsmoment (dazu Kap. 8.1), sondern als Inklusionsprozess erzählt werden kann. Dass Heiligkeit dennoch, wie mehrfach betont, gerade kein Werden, nicht prozesshaft ist, wird an kleineren Brüchen innerhalb der Legendenerzählung deutlich, so Christinas von Anfang an feststehender, begründungsloser Entschluss zur Gottesminne, die Auserwähltheit und Taufe durch Christus und besonders ihre Unempfindlichkeit gegenüber den Martern, die bereits auf den transzendenten Auferstehungsleib hinweist. Doch nicht zuletzt darin wird deutlich, dass die Legende es || 33 Dass daraus Milch statt Blut fließt, überliefert nur die Legenda aurea; eine solche Negierung von Körperlichkeit stellt bereits den Auferstehungsleib der Jungfrau (s.u., Kap. 6.1) unter Beweis. Dies ist insofern konsequent, als die Legenda aurea ja schon zu Beginn die Exklusion aus der weltlichen und die Inklusion in die himmlische Gemeinschaft als Sprung inszeniert; die Teilhabe an der Transzendenz zeigt sich bei Christina jedoch in beiden Versionen nicht zuletzt durch die Unverwundbarkeit bei den einzelnen Foltern.

236 | Basisoppositionen und Differenzsetzungen zumindest auf erzählerische Weise schafft, dies als Vorgang zu inszenieren. Während die Inklusion in die Sphäre des Heiligen nämlich nicht prozesshaft sein kann, kann es die unmittelbar darauf bezogene Exklusion von der Familie durchaus. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass nur die allererste Marter die Jungfrau tatsächlich verletzen kann, diese jedoch bildet den Abschluss des Exklusionsprozesses vom Vater und der Sippe; alle Foltern danach zeigen dann keine Wirkung mehr.

5.1.2 Aegidius: Weltabkehr und Annäherung an die Heiligkeit Heiligkeit als Weltflucht wird auch in der Aegidiusvita inszeniert. Hier wird der Heilige von Anfang an als von Gott besonders ausgezeichnet und mit Wundergaben begnadet dargestellt (genade an grozem wundere; III 453, 35). Während jedoch die Legenda aurea unverzüglich mit einem Bericht über die zahlreichen Wundertaten einsetzt, die Aegidius vollbracht habe, stellt das Passional eine längere Exposition voraus, die seine Tugenden und Frömmigkeit betont. Dass sein Weg zur Heiligkeit ein Weg aus der Welt hin zu Gott ist, wird so am Ende dieser Exposition entsprechend deutlich formuliert. So wie sich bei Christina jedoch die Exklusion aus der Welt in gleichem Maße als Annäherung zu Gott und Inklusion in die himmlische Gemeinschaft erweist, so bewirkt bei Aegidius die Hinwendung zu Gott und die damit einhergehende Abkehr von der Welt ihrerseits ein Entgegenkommen Gottes: do ouch got der gute sach, wie Egidius hie brach von im die werlt vollen swach und durch sie hin zu im dranc, do was ouch gegen im sin ganc deiswar, vruntlich genuc. (III 453, 24–29)

Erst dann wird von verschiedenen Wundern erzählt, die Aegidius, schon mit dem Charisma des Wundertäters begnadet, zu vollbringen vermag. Bereits jetzt ist seine virtus so groß, dass Aegidius’ Heiligkeit sogar an seinem Mantel anhaftet, der (gleich einem magischen Artefakt) Heilkräfte überträgt und einen Kranken gesund macht. Auch hier zeigt sich Heiligkeit als etwas schon immer Dagewesenes, das vom Erzähler nur umschrieben werden kann als Weg aus der Welt, bei dem Gott dem Heiligen ein Stück weit entgegenkommt. Sie ist damit für Aegidius bereits klar exponiert, es wird aber auch deutlich, dass der von ihm beschrittene Weg noch zu Ende gegangen werden muss. Daher bleibt es nicht bei einer Aneinanderreihung verschiedener Wundertaten,34 vielmehr flieht Aegidius schon bald vor den Menschen und zieht sich in die einsame || 34 Dies würde einem Aufbau entsprechen, wie ihn beispielsweise die Legende von Johannes dem Almoser aufweist: Nach dem Entschluss, sein frommes Leben in selbstgewählter Armut und unter

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Wildnis zurück. Die Vita wird auf diese Weise als eine ständige Flucht erzählt, denn Aegidius will vor allem deme lobe entwichen (III 454, 38), das ihm die Menschen aufgrund seiner Hilfe und des ihm vorauseilenden Rufes der Heiligkeit zusprechen. Während bei Christina die Inklusion in die communio sanctorum an eine schrittweise Exklusion aus der Welt und ihrer sozialen Gemeinschaft gekoppelt ist und dementsprechend auch erst am Schluss der Legende mit dem Märtyrertod vollendet ist, so ist die Teilhabe an der Transzendenz und der Heiligkeit Gottes bei Aegidius schon von Anfang an herausgestellt, während die Abkehr des Heiligen von der Welt erst nachträglich inszeniert wird. Dass sich Aegidius gerade dem Lob der Menschen entziehen will, bestätigt nicht zuletzt seinen Status als Heiliger, denn er stellt als eine der wichtigsten heiligen Tugenden Demut unter Beweis (konkret benannt in III 454, 76), die ihn – wie Alexius – von den Menschen förmlich wegtreibt. Auch hier geschieht die Entfernung aus der Gesellschaft in mehreren Stufen: Zunächst begibt sich Aegidius an den Meeresstrand, um seiner Heimat zu entfliehen. Fast nebenbei rettet er dabei ein Schiff aus Seenot, das ihn mit fort nimmt, so dass er anstatt nach Rom, wie ursprünglich geplant, nach Arles gelangt, wo ihn der dortige Bischof aufnimmt. Dort bleibt er drei Jahre, aber auch hier verbreitet sich durch eine Wunderheilung sein Ruf, so dass er erneut flieht: Egidius vloch aber do/ zu eime einsidelen gut (III 454, 74f.). Mit diesem verbringt er nun ein gänzlich eremitisches Leben zum Lobpreis Gottes, aber auch jetzt noch ist die Selbstexklusion nicht vollkommen, denn selbst hier kann er sich den Mitmenschen nicht gänzlich entziehen, was nicht zuletzt am Ruch der Heiligkeit liegt, der den beiden Einsiedlern durch ihr asketisches Leben, ihre vollkommenen Tugenden, vor allem aber durch etliche Wunder zukommt: ir beider name wart do breit/ durch sumeliche wundere (III 454, 90f.). Von überall her kommen die Leute und bitten um Rat oder Heilung. Also muss Aegidius sich noch weiter zurückziehen, vurwart begonde er strichen/ in eine wiltnusse uzem wege (III 455, 4f.). Er sucht sich eine Lichtung mit einer Quelle und lebt fortan in einer Höhle weitab von allen Menschen: ey, wie des vreute sich sin mut,/ daz er alleine muste wesen! (455, 14f.). Er wird nur von einer Hirschkuh auf wunderbare Weise versorgt, die sein einziges gesinde (III 455, 24) ist und ihm Nahrung bringt. Nun also scheint er von der Welt vollkommen ausgeschlossen zu sein, scheint seine Selbstexklusion vollständig. Die einzelnen Stufen dieser Exklusion lassen sich im Text entsprechend nachvollziehen: Er zieht sich erst aus der eigenen Gemeinschaft (Familie, Heimat) zurück, bleibt aber weiter in einer menschlichen Sozialordnung, indem er dem Bischof von Arles dient. Von dort zieht er sich weiter zurück zu dem Eremiten Veredemius, wobei diese Exklusionsstufe markiert ist als Wechsel vom Kulturraum der Stadt hin in den Naturraum des Waldes (in einem wilden walde; III 454, 83). Von der menschlichen Gemeinschaft exkludiert leben die beiden jedoch

|| Verteilung seiner Reichtümer an die Armen zu beschließen, folgt eine paradigmatische Aneinanderreihung von Exempeln und Wundern, ohne je eine kohärente Handlungsstruktur aufzubauen.

238 | Basisoppositionen und Differenzsetzungen immer noch in einer religiösen Gemeinschaft, und trotz des Wechsels von der Kultur in die Natur scheint die weltliche Gesellschaft noch nicht allzu weit entfernt zu sein, da offenbar wahre Pilgerströme zu den beiden Eremiten gelangen. Den Grad der Exklusion, gewissermaßen das ‚Niveau‘ der Weltabkehr kann die Legende narrativ als ein Distanzverhältnis darstellbar machen. Dass die Exklusion noch nicht vollständig ist, zeigt sich nicht nur daran, dass Aegidius nicht völlig allein ist, sondern auch, dass die Wildnis, in die er sich zurückgezogen hat, offensichtlich durchdringbar ist, da die Menschen sich sogar Straßen zu den Einsiedlern bahnen (doch machten zu in strazen/ die lute und quamen dar; III 454, 96f.), also der die Inklusion in die Gesellschaft symbolisierende Kulturraum in den Exklusion symbolisierenden Naturraum ‚wuchert‘: Straßen sind kuturelle Errungenschaften, die Wildnis und Naturräume begeh- und beherrschbar machen; in diesem Falle überbrücken sie die Distanz zwischen den Einsiedlern und der übrigen Gesellschaft. Es bedarf daher eines letzten Schrittes, um die Exklusion zu vollenden. Aegidius’ Aufenthaltsort ist nun abseits der Wege (uzem wege), also jenseits jeglicher Zivilisation, abseits auch aller menschlichen Gesellschaft, diese leistet ihm statt dessen ein Tier. Dass jene Hindin ihn mit dem Notwendigsten versorgt, bestätigt wiederum den Status seiner Heiligkeit oder auch: seiner Teilinklusion in die himmlische Gemeinschaft.35 Wie weitreichend diese jedoch ist, zeigt sich zu dem Zeitpunkt, an dem erneut ein Kontakt mit der menschlichen Gesellschaft erfolgt. War die noch nicht abgeschlossene (Teil-) Exklusion des Aegidius durch eine Überwindung räumlicher Distanzen bzw. der Trennung von Kultur und Natur gekennzeichnet, so stellt sich seine Selbstexklusion in der absoluten Wildnis nun als totale Distanznahme nicht nur zu gesellschaftlichen Bezugssystemen dar, sondern zugleich als räumliche Distanzierung jedweder externer Einflüsse. Auch wenn Aegidius sich von allen weltlichen Bindungen und Bezügen losgemacht hat: Noch ist er selbst in der Welt, denn noch lebt er in ihr. Aus diesem Grund können trotz allem Menschen zu ihm gelangen – oder zumindest in seine Nähe. Wie lange Aegidius allein in der Einsiedelei verbracht hat, wird nicht gesagt und spielt insofern keine Rolle, als mit der Abkehr von der menschlichen Gesellschaft auch die entsprechenden (kulturellen) Zeiteinteilungen verloren gehen.36 || 35 Der Hirsch ist ein oft wiederkehrendes Attribut von Eremiten in der Hagiographie. Im Physiologus wird er als Gegenspieler der Schlange bezeichnet und ist damit ein Bild für Christus (oder den Christen) im Kampf gegen das Böse. Unter Bezugnahme auf Ps. 42 erfüllt der Hirsch ebenso das Bild des nach Gott dürstenden Menschen. Beides trifft auf eine eremitische Lebensweise besonders zu: Die Abkehr von der Welt auf der Suche nach Gott und der Kampf gegen die Dämonen in der Einsamkeit sind Grundelemente von Eremitenviten; die Hirschkuh ist auf diese Weise auch zum Attribut des hl. Aegidius geworden. 36 Vielmehr übernimmt ein anderes Zeitsystem bei den Eremiten wie auch den Mönchen ganz allgemein die Regie, auch wenn die Aegidiusvita hierzu nichts explizit sagt: Es ist die Liturgie, die den Tagesablauf wie auch das Kalenderjahr bestimmt – nicht mehr eine auf Immanenz, sondern auf die Transzendenz ausgerichtete Zeiteinteilung.

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Daher geschieht es, dass irgendwann, zu einen ziten (III 455 30), etliche Jäger des Königs in die Nähe der Klause von Aegidius gelangen und dabei auf die Hirschkuh stoßen, die sie verfolgen. Erneut bricht sich damit die menschliche Kultur (kaum etwas ist stärker kulturell codiert als das Motiv der Jagd) Bahn zum Ort des Heiligen. Anders als zuvor jedoch, wo es den Menschen gelungen war, Straßen zu Aegidius und seinem Gefährten durch die Wildnis zu bahnen, bleibt hier plötzlich ein deutlicher Abstand zum Heiligen: Während sich nämlich die Hirschkuh zu Aegidius flüchtet und zu seinen Füßen Schutz sucht, gelingt es weder den sie verfolgenden Hunden noch den Jägern selbst, den Ort zu erreichen: doch mochten in der stunde/ nicht neher im die hunde/ dan eines steinwurfes wit (III 455, 63–65). Die Aura des Heiligen strahlt förmlich eine Kraft aus, die wie eine Art Bannkreis wirkt, der nicht zu durchdringen ist. Aegidius’ Teilhabe an der Gemeinschaft der Heiligen ist schon so groß, seine Exklusion aus der Welt bereits so fortgeschritten, dass er für alle anderen unerreichbar bleibt. Damit präsentiert sich Aegidius erneut als ein bereits Heiliger in der Welt, es zeigt sich auch bei ihm das Hineinragen der Transzendenz in die Immanenz. Die Sphäre der Transzendenz ist sogar räumlich greifbar, ist abgetrennt von der übrigen Welt und ist dennoch in dieser Welt. Dass der Weg zu Gott allerdings, um beim Bild der Exposition dieser Legende zu bleiben, für Aegidius noch nicht zu Ende gegangen ist, erweist sich daran, dass der Ort seines Aufenthaltes teilweise doch durchlässig gemacht wird – allerdings nur für exklusive Personen und auch nur aufgrund des ausdrücklichen Willens des Heiligen. Denn als sich am nächsten Tag der Vorgang wiederholt, wenn die Jäger an den Ort zurückkehren und erneut die Hunde wie von Feuer verbrannt zurückschrecken und keiner weiter vordringen kann, werden am dritten Tage der König und der örtliche Bischof zu Rate gezogen, denen die Angelegenheit ein michel wunder (III 455, 92) scheint. Sie lassen mit Äxten einen Weg zu dem Ort bahnen und gelangen tatsächlich zu dem Heiligen – allerdings zu vuze alterseine (III 456, 35), d.h. es ist nur ihnen, und zwar ohne Statusmerkmale wie Pferde oder Gefolgschaft erlaubt, zu dem Heiligen persönlich vorzudringen. Sie finden ihn mit der Hirschkuh zu Füßen vor, jedoch verletzt durch einen Pfeil, den einer der Jäger in den ‚Bannkreis‘ geschossen hat – auch dies ein Zeichen dafür, dass Aegidius eben noch nicht vollständig aus der Welt exkludiert ist. Die Heiligkeit des Mannes wird den beiden sofort klar, zumal Aegidius eine ärztliche Versorgung ablehnt, denn es genügt ihm, gesunt in gotes namen (III 456, 65) zu sein: Wie bereits die asketische Lebensweise vorführt, geht für ihn wie für alle Eremiten die Selbstexklusion mit einer extremen Negierung alles Körperlichen (und das heißt letztlich: alles Immanenten) einher. Umso erstaunlicher mutet daher der letzte Schritt des Aegidius an: Der König besucht den Heiligen öfters und kann ihn schließlich sogar überreden, Abt eines von ihm gestifteten Klosters zu werden. Wie bei vielen Eremiten ist auch seine Selbstexklusion nicht von Dauer und Aegidius kehrt schließlich wieder in die Gesellschaft zurück; auch hier kann Christus als Vorbild gesehen werden, der nach seinem 40-tägigem Aufenthalt in der Wüste nach Jerusalem zurückkehrt und nun

240 | Basisoppositionen und Differenzsetzungen seine Jünger um sich schart und sein Wirken beginnt, kurz: der danach seinen messianischen Auftrag zur Erlösung der Welt erfüllt.37 Die Rückkehr in die Welt ist damit nicht als Abkehr von der Weltabkehr zu werten. Vielmehr ist Aegidius’ Inklusion in die himmlische Gesellschaft zuvor als radikale Exklusion von der Welt narrativ zum Ausdruck gebracht worden, die sich am deutlichsten in der Unerreichbarkeit des Heiligen durch die übrigen Menschen manifestiert hat. Hier wird ein Distanzkriterium – die Unerreichbarkeit des Ortes des Heiligen – übertragen auf das Ideal der Heiligkeit, die für den gewöhnlichen Menschen an und für sich ebenfalls unerreichbar ist. Aegidius kehrt daher auch nicht einfach in die Gesellschaft zurück, aus der er sich exkludiert hat, sondern er geht in ein Kloster. Das Mönchtum aber ist das Musterbeispiel einer Selbstexklusion aus der Gesellschaft in die Gesellschaft: „So wie das Kloster in der Welt außerhalb ihrer ist, so ist der Mönch der esoterische Mensch im exoterischen Menschen.“38 Die Exklusion scheint, systemtheoretisch gesprochen, nur die Ausdrucksform der Inklusion zu sein; die Inklusion wird sichtbar durch Exklusion. Inklusion und Exklusion müssen daher stets zusammen betrachtet werden. Sie ergeben, so Luhmann, „eine Form, deren Innenseite die Inklusion und deren Außenseite die Exklusion ist. Oder nocheinmal anders: die Markierung von Inklusion lässt einen unmarked space übrig, den man, soweit er die Personen betrifft, als Exklusionsbereich bezeichnen kann.“39 Darin erweist sich nicht zuletzt die Ambiguität des Heiligen in der Welt, der Transzendenz in der Immanenz. Erkennbar ist die einleitend festgestellte Ambivalenz von Heiligkeit und die daraus resultierende Notwendigkeit, keine dichotomen Gegensatzpaare, sondern dialektisch aufeinander bezogene Basisoppositionen zu ihrer narrativen Darstellung heranzuziehen. Aegidius ist als Heiliger in der Welt und aus der Welt zugleich. Die radikale Weltabkehr, die im Zentrum der Legende steht, wird daher gerahmt von Aegidius’ Wirken in der Welt, von dem am Anfang mit der Darstellung verschiedener Wunder die Rede war und das ebenso am Ende mit zahlreichen Wunderberichten steht. Dass Aegidius nun Totenerweckungen vollbringt, dass er sich in Rom aufhält und Kirchentüren in den Tiber wirft, die von selbst zu seinem Kloster schwimmen: All das unterstreicht nur sein Charisma und ist möglich ob seiner (wenn auch zu Lebzeiten noch partiel|| 37 Vgl. HAHN/BOHN, Partizipative Identität, S. 16. BOHN, Inklusion, S. 34, bezeichnet mit Verweis auf Jesu Aufenthalt in der Wüste eine „auf Zeit begrenzte Selbstexklusion geradezu [als] die Voraussetzung für bestimmte charismatische Karrieren“. Zu beachten ist jedoch, dass mit dieser Form der zeitlich begrenzten Selbstexklusion stets eine Statusänderung der betreffenden Person einhergeht: Jesus hat, nach der Versuchung durch den Teufel, nun die Möglichkeit, sein Erlösungswerk zu beenden, der aus der Exklusion zurückgekehrte Aegidius hingegen wartet im Kloster nur noch auf seine endgültige Aufnahme in die Gemeinschaft der Heiligen – dieses letzte Zurückkommen in die Welt dient einzig der Vorbereitung auf ihr endgültiges Verlassen. 38 HAHN/BOHN, Partizipative Identität, S. 14. 39 Niklas LUHMANN, Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2000, S. 233f., zitiert nach: HAHN, Theoretische Ansätze, S. 79.

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len) Teilhabe an der communio sanctorum; an seinem Status hat sich nichts geändert. Als Heiliger vollführt er nicht nur für sich selbst ein tugendhaftes, asketisches Leben, er ist auch für die übrigen Menschen stets ein Helfer. Dies aber dürfte eine der zentralsten Botschaften der Legende, ja der Hagiographie überhaupt sein: Den Heiligen als Vorbild, aber eben auch als Fürbitter und Helfer für die Menschen zu präsentieren. Folgerichtig präsentiert die Legenda aurea zum Abschluss der Aegidius-Legende noch eine Mirakelerzählung, die Aegidius als Beichtvater Karls des Großen in Szene setzt. Als dieser habe er es geschafft, bei Gott Vergebung selbst für eine so große Sünde zu erwirken, dass der Kaiser allein Gott zu beichten imstande gewesen sei; die Vergebung wird durch eine von göttlicher Hand selbst auf einen Altar hinterlegte Schriftrolle verdeutlicht. Dieses relativ ausführliche Mirakel fehlt im Passional, wohl jedoch weniger aus Rücksicht auf den Ruf des herausragenden Kaisers. Vielmehr hat sich in der Version des Passionals Aegidius bereits hinlänglich nicht nur als vorbildlicher, tugendhafter Heiliger, sondern ebenfalls als Helfer in der Not für die Gläubigen erwiesen, wie seine schrittweise nachvollziehbare Selbstexklusion gezeigt hat. Die abschließende, wenn auch nur dreizeilige invocatio, die wie üblich die Legende im Passional beschließt, unterstreicht diese Funktion nochmals und zeigt dem Publikum die Notwendigkeit, sich auf einen Heiligen wie Aegidius nachhaltig berufen zu können. Die beiden hier exemplarisch besprochenen Legenden von Christina und Aegidius untermauern die Funktionen von Inklusions- und Exklusionsmechanismen und deren direkten Bezug aufeinander für die Erzählung von Heiligkeit. Die Inklusion in die himmlische Gemeinschaft der Heiligen bedingt eine Exklusion aus der menschlichen Gemeinschaft: Erst mit dem Tod, mit dem physischen, existentiellen Verlassen der menschlichen Gesellschaft ist die Aufnahme in den Himmel auch tatsächlich vollzogen. Der Tod freilich ist ein Umschlagspunkt, die Erzählungen aber führen vor, dass es eben nicht bei dieser letzten, endgültigen Wendemarke bleibt: In den vorliegenden Fällen können sie Inklusion bzw. Exklusion als Prozess inszenieren und schaffen es auf diese Weise, Heiligkeit und Heiligung (die eigentlich nichtprozesshaft sind) zumindest oberflächlich als Vorgang darzustellen. Da die eigentliche Inklusion in die communio sanctorum nicht beschreibbar ist, wird diese ausgelagert in die ‚Außenseite‘, die Exklusion, und damit in jenen unmarked space, der durch die Markierung der Inklusion entsteht. Diese wiederum kann als Prozess beschrieben werden, so dass sich nun tatsächlich nicht nur von einem bloßen Umschlagen, sondern einer regelrechten Heiligwerdung erzählen lässt. Bei Christina sind Inklusion und Exklusion dabei unmittelbar aufeinander bezogen: Je stärker sie sich von ihrem Gesellschaftsraum, ihren sozialen Bindungen exkludiert, desto stärker erscheint die Inklusion in die himmlische Gemeinschaft. Bei Aegidius ist eine solche (wenn auch partielle, da erst mit dem Tod wirklich vollständige) Inklusion bereits von Anfang an gegeben, sie wird jedoch durch eine stufenweise Exklusion aus der Gesellschaft an einen Prozess gekoppelt, an dessen Ende zwar die Rückkehr

242 | Basisoppositionen und Differenzsetzungen aus der Wildnis in den Kulturraum, aus der Einsamkeit in die Gemeinschaft erscheint, die jedoch keine wirkliche Rückkehr, keine Re-Inklusion darstellt, vielmehr tritt der ambige Status des Heiligen als zugleich in der Welt und aus der Welt nun vollends zutage. Am deutlichsten macht diesen Umstand vielleicht wiederum die Alexiuslegende, wo der Heilige zuletzt ebenfalls in seine Familie zurückkehrt – und doch ständig außerhalb von ihr lebt. Er ist der Bettler unter der Treppe, hat sämtliche sozialen Bindungen abgelegt und ist bereits so weit in die transzendente ‚Sippschaft‘ inkludiert, dass er für die immanente Familie gleichsam durchsichtig geworden ist. Mehr noch als Aegidius erweist sich Alexius damit als Heiliger, der zugleich inkludiert und exkludiert ist und damit den transgressiven Charakter des Heiligen als ein ‚Sowohl – als auch‘ narrativ verdeutlicht.

5.2 Stigma und Charisma 5.2.1 Umschlagsformen und das Konzept der Selbststigmatisierung Ganz eng mit der im vorangegangenen Kapitel aufgezeigten Dialektik von Inklusion und Exklusion ist die Beziehung von Stigma und Charisma mit ihren wechselseitigem Dynamiken und Spannungsverhältnissen verbunden, wie sie der Soziologe Wolfgang Lipp eingehend beschrieben hat.40 Lipp nähert sich dem Komplex von der Frage nach Devianz, nach sozialem Grenzverhalten her. Es geht ihm damit um das bewusste Unterlaufen von Normen, der öffentlichen und offensichtlichen Demonstration von Normbrüchen und deren Umschlag nicht nur zu akzeptiertem Verhalten, sondern sogar als für gesellschaftliches Handeln zentralen und positiv bewerteten Handlungsweisen, somit Umkehrpunkten normativer Vorstellungen, die an Stigmatisation und Charisma gekoppelt sind. „‚Stigma‘ und ‚Charisma‘ stehen [...] für die Dynamik, Spannung und Wechselbezüglichkeit des Handelns überhaupt; sie werden als die End- und Umkehrpunkte, zwischen denen das Dasein sich bewegt, verstanden; sie erscheinen als die Wendemarken, die Passagen und Passagenstrukturen bestimmen.“41 Zentrale These ist, dass soziales Handeln über die beiden Pole Stigma – d.h. Verhaltensweisen und Phänomene im peripheren Bereich sozialer Gesellschaften – und Charisma – Handlungsmodi im Zentrum einer Gesellschaft – beschrieben werden können, dass hier jedoch Transgressionen beobachtbar sind: Stigma schlägt um in Charisma. Auf dieses Umschlagen kommt es im Wesentlichen an, und hier ist auch ein entscheidender Ansatzpunkt zur Beschreibung von Heiligkeit zu sehen. Besonderer

|| 40 Vgl. Wolfgang LIPP, Stigma und Charisma. Über soziales Grenzverhalten, Würzburg ²2010 [zuerst Berlin 1985]. 41 Ebd., S. 5.

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Stellenwert kommt dabei der Dimension des Symbolischen zu, die eine gewissermaßen ‚doppelte Übersetzung‘ erfährt: Während auf der Bedeutungsebene zunächst ein von der Gesellschaft vorgegebenes Sinnsystem die Dimension der Stigmata als negativ erfahren lässt, wird das Handeln über die eigentliche Bedeutungsebene hinaus auf ein „zweites, latent freilich mitimpliziertes“42 Sinnsystem übertragen, das umgekehrt eine Positivierung ermöglicht. Lipp beschreibt die entsprechenden Symbolkomplexe als „ambivalent [...] insofern, als sie [im Sinne der doppelten Übersetzung, A. H.] implizieren, dass sie in ihre Sinngehalte, ihre zutage liegenden sozialen Signifikanzen hier, ihre Neben- und Hintergrundbedeutungen dort, wechselweise in sich selbst übersetzt und vexierbildartig umgeschaltet werden können“43. Als eines der signifikantesten Beispiele nennt Lipp das Kreuz, das vom antiken Symbol für Folter und Verbrechen in der christlichen Kultur eine Umdeutung zum Zeichen der Erlösung und des Heils erfahren hat. Der Begriff des Stigmas ist dabei relativ einfach zu fassen:44 Er kennzeichnet soziale Devianz, beispielsweise körperliche Defekte oder Merkmale, die zum Ausschluss aus einem sozialen System führen bzw. diesen Ausschluss kenntlich machen. Dies können für mittelalterliche Gesellschaften z.B. die Kennzeichen von Krankheiten sein (wie die Lepriosen des Mittelalters) oder auch die körperlichen Male, mit denen Verbrecher gezeichnet worden sind und die diese dadurch von der übrigen Gesellschaft ab- und ausgrenzen. Es muss sich jedoch nicht zwangsläufig um sichtbare Merkmale handeln, soziale Stigmatisierung kann auch durch Handeln erfolgen, wie das Beispiel der Exkommunikation zeigt, das eine extreme Form der religiösen (und im Mittelalter zugleich kulturellen) Stigmatisierung darstellt und für das die Bezeichnung von Stigmata als „Schuldsignaturen“45 in besonderem Maße zutrifft. Letztlich können alle Kennzeichen einer Abweichung Stigmatisierung bedeuten (zerschlissenen Kleidern haftet z.B. das Stigma der Armut an); wie stark solche Abweichungen wahrgenommen und vor allem negativiert werden, hängt von den Normen und Werten einer Gesellschaft ab und ist demzufolge durchaus ein wandelbarer gesellschaftlicher Prozess. Es zeigt sich aber schon jetzt, wie eng Stigmatisierung mit Exklusion verbunden ist: Der Stigmatisierte ist von seiner Gemeinschaft, seinen sozialen Systemen exkludiert, er ist an den Rand gedrängt, in die Peripherie der Gesellschaft. Mit dem Begriff des Stigmas und der Stigmatisierung ist der des Charismas dialektisch verbunden. Lipp definiert Charisma mit Max Weber zunächst als übernatürliche oder übermenschliche Qualität einer Person, wodurch diese mit bestimmten Eigenschaften begabt sind, die als vorbildlich, ja sogar als gottgesandt aufgefasst

|| 42 Ebd., S. 7 43 Ebd., S. 8. 44 Vgl. dazu ebd., S. 60–65. 45 Ebd., S. 61.

244 | Basisoppositionen und Differenzsetzungen werden.46 Diese Eigenschaften, Fähigkeiten oder Attribute gelten somit „als gnadenhaft schlechthin, als heilsbringend“47, und damit zeigt sich auch schon die Nähe zum religiösen Führer, für den Webers Charisma-Konzept am deutlichsten greifbar ist (ohne dass damit die Dimension des politischen, gesellschaftlichen Charismatikers vernachlässigt werden soll, die hier jedoch weniger von Belang ist). „Charisma ist etwas Paradoxes: ‚Nicht von dieser Welt‘ greift es gleichwohl ins irdische Geschehen ein“48. Es ist die ambivalente Wirkung transzendenter Fähigkeiten und Attribute in der Immanenz, die den Heiligen, nicht zuletzt in seiner Eigenschaft als Wundertäter, stets auch als Charismatiker erscheinen lässt. Und hier zeigt sich das dialektische Verhältnis zur Stigmatisation: Lipp beschreibt nach Weber die charismatische Herrschaft als das „Außeralltägliche“, sie erscheint für ihn „als höchst unwahrscheinlicher, marginal-extremer Fall sozialer Ordnung; sie steht nicht mehr im Zentrum sondern an der Peripherie, ja Außenseite des gesellschaftlichen Geschehens“, und es sind dementsprechend „Außenseiter, die in charismatische Positionen einrücken“.49 Entscheidend dabei ist, dass diese Außenseiter von der Peripherie ins Zentrum rücken können, dass Charisma im Sinne der alten Ordnungs- und Sinnsysteme zwar vom Rand der Gesellschaften her wirksam wird, dass es aber umschlagen kann, sich institutionalisiert und neue Ordnungssysteme hervorbringt, aus deren Zentrum heraus es nun handelt.50 || 46 Zum auf Max WEBER zurückgreifenden Charisma-Begriff vgl. ebd., S. 53–60; vgl. genauer Wolfgang LIPP, Was ist Charisma, wer oder was hat Charisma, und wie kommt es zustande? Das Konzept der Selbststigmatisierung, in: Arnold ZINGERLE (Hg.), Charisma. Dynamiken des Ursprungs und der Veralltäglichung. Annali di Sociologia / Soziologisches Jahrbuch 9 (1993), Mailand/Berlin 1995, S. 201–231, bes. S. 204–207. Zum Komplex vgl. außerdem den Sammelband von Winfried GEBHARDT et al. (Hg.), Charisma. Theorie – Religion – Politik, Berlin/New York 1993. Anders und weitgehend abgekoppelt von religiösen Implikationen fassen die Beiträge in New German Critique (Jg. 38, 2011) das Thema Charisma auf, um den Begriff literaturwissenschaftlich fruchtbar zu machen. Vgl. besonders die Einführung von Petra HORN, Introduction, in: New German Critique 38 (2011), S. 1–16, die eine diskursgeschichtliche Analyse des von WEBER geprägten Charisma-Begriffes eröffnet und das paulinischen Charisma-Verständnis beschreibt: „[...] charisma is clearly a personal quality, but a quality that has both a spiritual and a social function: it binds the qualified individual both to God and to other Christians“ (S. 6), anschließend jedoch Charisma in ein ästhetisches Konzept überführt. In diese Richtung zielen auch die Überlegungen von C. Stephen JAEGER (Aura und Charisma: Two Useful Concepts in Critical Theory, ebd., S. 17–34), der den Zusammenhang von Charisma und Aura diskutiert, ohne aber explizit auf die Figur des Heiligen einzugehen. 47 LIPP, Stigma und Charisma, S. 6. 48 LIPP, Was ist Charisma, S. 204. 49 Sämtliche Zitate aus LIPP, Stigma und Charisma, S. 55. Wie das Stigma ist auch das Charisma „wesentlich an Deutungsmuster – nicht selten mythologisierender, hintergründig archetypischer – Art gebunden“, doch „es verläuft als nicht nur transitorischer Prozess [...], sondern als langfristiger angelegter, mehrphasiger, geschichtlich wirksamer Vorgang“ (ebd., S. 58). 50 Vgl. dazu Götz HARTMANN, Selbststigmatisierung und Charisma christlicher Heiliger der Spätantike, Tübingen 2006, hier S. 24–27. Diese soziologische Perspektive darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Heiligkeit aus theologischer Sicht voraussetzungslos ist, da von göttlicher Gnade und

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Dieses grenzdialektische Umschlagen, das Lipp beschreibt, ist für die folgenden Überlegungen entscheidend, und es verstärkt sich, wenn man es auf den Typus der Selbststigmatisierung fokussiert.51 Gemeint ist damit die „entscheidende, handlungspraktische Potenz […] Sie ist die Wirkkraft, die soziales Handeln auf der Ebene sozialer Abweichung erst zu wahrnehmbaren, gestalthaften Typen, sc. realen Typen steigert“.52 Selbststigmatisierer sind also Personen, die vornehmlich freiwillig bestimmte Stigmata auf sich nehmen, diese jedoch bisweilen fast demonstrativ zur Schau stellen und (anhand der sozialen Mechanismen von Provokation, Exhibitionismus, aber auch Askese und Ekstase) eine radikale Umwertung ihres gesellschaftlich als negativ angesehenen, eben stigmatisierten Verhaltens in ein positiv besetztes, charismatisches erreichen: Stigma schlägt um in Charisma. Damit ergibt sich eine ähnliche Dynamik wie beim oben beschriebenen Verhältnis von Inklusion und Exklusion: Es sind die Außenseiter, die zum Charismatiker werden, der Prozess bewegt sich von der Peripherie ins Zentrum. Selbststigmatisierung bedeutet Selbstexklusion; um zum Charisma zu gelangen, muss die Gesellschaft verlassen werden, erst dann ist eine Umwertung der überkommenen Normen möglich, die das Stigma ins Positive verkehrt und nun als Charisma erscheinen lässt. Die Begriffe Stigma und Charisma lassen sich auf diese Weise beschreiben „als Bedeutungskerne, die dem Fluß des Handelns erst Richtung geben“.53 Als solche aber können sie nicht nur für die Beschreibung sozialer, sondern ebenso literarischer Sinnsysteme produktiv gemacht werden, wie das im Anschluss an Lipps Studien insbesondere für religiöse Modelle und deren narrative Ausdrucksformen geschehen ist.54 Die christlich-religiösen Texte, um die es hier geht, operieren dabei allerdings zumindest implizit mit zwei Systemen, die miteinander in Beziehung gesetzt werden: eine irdische, immanente und eine jenseitige, himmlisch-transzendente Gemeinschaft und deren Ordnungen. Dies lässt sich am Beispiel des Märtyrers demonstrieren, dessen radikale Christusnachfolge im Hinblick auf die Transgression von Stigma und Charisma in Kap. 6 noch genauer beleuchtet werden soll: Hier

|| Erwählung abhängig. Charismata und Stigmatisierungen sind daher nicht als Voraussetzung von Heiligkeit zu sehen, sondern als gesellschaftliche Reaktion, diese Herausgehobenheit zu beschreiben und begründen; gerade deshalb aber sind sie auch für Erzählungen von Heiligen so bedeutsam. Zum Spannungsfeld von Stigma und Charisma im Martyrium vgl. auch unten die Überlegungen in Kap. 6.1. 51 Zu den wesentlichen Zügen von Selbststigmatisierung vgl. LIPP, Stigma und Charisma, S. 107-183. Die dort vorgenommenen Differenzierungen und Fallbeispiele können hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden. 52 Ebd., S. 108. 53 Ebd., S. 52. 54 Vgl. nur den im Anhang zur zweiten Auflage von LIPPS Studie publizierten Beitrag von Helmut MÖDRITZER, Stigma und Charisma im Neuen Testament und seiner Umwelt. Zur Rezeption des Konzeptes der Selbststigmatisierung von Wolfgang Lipp in der Theologie, in: LIPP, Stigma und Charisma, S. 287–301. Zum Begriff des ‚Umschlagsmoments‘ vgl. nochmals unten, Kap. 8.1.

246 | Basisoppositionen und Differenzsetzungen schlagen die Stigmata der Marter um in das Charisma des Heiligen, der qualvolle Tod, ein mimetischer Nachvollzug des Kreuzestodes Jesu, in den Triumph des ewigen Lebens. Der Heilige, insbesondere der Märtyrer, folgt Christus nach, er wird zum Selbststigmatisierer, und er wird von der irdischen Gesellschaft als Heiliger, als charismatische Persönlichkeit verehrt, ist selbst jedoch nicht mehr Teil dieser Gesellschaft, sondern Teil der himmlischen, der communio sanctorum.55 Der Umschlag von Stigma in Charisma zeigt somit auch ein Umschlagen von Immanenz in Transzendenz an. Soziologisch betrachtet sind mit dem Umschlag von Stigma in Charisma vor allem gesellschaftliche Veränderungen verbunden: die Umwertung der Foltermale in Heilsmale, die den Märtyrer zum Heiligen werden lassen, als der er künftigen Menschen Vorbild und Helfer sein kann. Andererseits sind Märtyrer jedoch nicht Selbststigmatisierer, um charismatische Führer zu werden, sondern um Teil einer transzendenten Gemeinschaft zu sein – es ist zunächst diese Gesellschaft, für die ihre Stigmata ‚Siegeszeichen‘ darstellen; dies wiederum schlägt sich auch auf die irdische Gemeinschaft nieder, für die Heilige stets Vorbild (und damit eben: Charismatiker) sind. Heiligkeit, und daran arbeitet sich die hagiographische Literatur immer wieder ab, ist sowohl individuell als auch überindividuell; heilig wird stets der Einzelne, der in der Gemeinschaft der Heiligen als solcher wiederum aufgeht, womit seine Heiligkeit auf das Kollektiv, auf die gesamte Menschheit, zurückfällt. Diese Überlegungen treffen auf gleiche Weise auch für solche Figuren zu, deren Heiligkeit nicht im Martyrium begründet liegt. Auch bei ihnen lässt sich eine Umwertung vom Stigma ins Charisma beobachten, wobei dieser Umschlag oft als besonders gnadenhaft herausgestellt wird. Heilige erweisen sich damit stets als Selbststigmatisierer, und hier ist es vor allem die Askese, welche die Dialektik von Stigma und Charisma besonders eindringlich verdeutlicht.56 Die Stigmata der Asketen (der von Hunger, Entbehrung und Krankheit gezeichnete Körper) werden dabei als Zeichen ihres heiligen Charismas gesehen. Selbststigmatisierung bedeutet somit zugleich Selbstexklusion – und umgekehrt: Der Ausschluss von allen sozialen Bindungen ist per se schon Stigmatisierung, auch wenn dies für manche Heilige wie z.B. Aegidius nicht direkt zu beobachten ist, da dieser bereits von Beginn an mit dem Charisma des Heiligen begabt ist, seine Selbstexklusion in die Einsiedelei also nur Folge dieses (in der Legende gar nicht erzählten) Umschlags ist. Heiligkeit erweist sich meist jedoch ganz explizit im Umschlagen dieser vorgängig negativen Werte, der Teilhabe an der communio sanctorum und der damit einhergehenden charismatischen Begabung, das zeigen nicht zuletzt die Legenden von Alexius und || 55 Vgl. nochmals LIPP, Stigma und Charisma, S. 224–227, für den sich die Dialektik von Stigma und Charisma in der Figur des Heiligen in ihrer deutlichsten Ausformung zeigt: „[D]ie erlösende Kraft, die Opferhandlungen innewohnt, [muss] ihren Trägern und Bewirkern in der Tat charismatischen Glanz verleihen. Jesus, der Geschundene, ist auch Christus, der Verklärte“ (ebd., S. 225). 56 Vgl. ebd., S. 130–138; zum religiösen Aspekt der Askese bes. S. 136ff.

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Antonius mit ihren radikalen Formen von Selbstexklusion und Weltflucht (s.o.). Beides bedingt sich gegenseitig, doch während die Erzählungen Inklusion und Exklusion zumindest teilweise als Prozesse wiedergeben können, ist die narrative Vermittlung des Umschlagsmomentes vom Stigma zum Charisma schwerer zu fassen. Darüber hinaus lassen sich Lipps Überlegungen einer Dialektik von Stigma und Charisma auf solche Bekennerlegenden übertragen, die nicht von einer expliziten, auch räumlich manifestierten Weltflucht ihrer Protagonisten in die Einsiedelei berichten. Als geradezu Paradebeispiel des Selbststigmatisierers gilt Lipp dabei ausdrücklich Franz von Assisi, und zwar nicht allein wegen der diesen Heiligen kennzeichnenden Wundmale Christi, welche ihn ja ganz konkret und augenscheinlich mit bestimmten Stigmata auszeichnen, sondern viel mehr noch wegen seiner asketischen Lebensführung in völliger Armut sowie der daraus resultierenden sozialen Umbrüche, die die Bettelorden im 13. Jahrhundert erwirkt haben.

5.2.2 Franziskus: Exemplarisches Modell des Selbststigmatisierers Die Franziskus-Vita nimmt innerhalb des Passionalkorpus eine Sonderstellung ein: Sie geht nämlich in weiten Teilen nicht auf die Leganda aurea zurück, die der Verfasser ansonsten ja vor allem im dritten Buch als Hauptquelle benutzt hat, wenngleich die Benutzung oder zumindest Kenntnis weiterer (Neben-) Quellen nirgends ausgeschlossen und in manchen Fällen auch nachgewiesen werden kann. Franziskus allerdings stellt für Verfasser wie Rezipienten des Passionals gewissermaßen einen ‚neuen‘ Heiligen dar, denn er ist erst rund 70 Jahre vor der mutmaßlichen Entstehung dieses Werks kanonisiert worden. Er kann damit (wie auch Elisabeth von Thüringen) beinahe noch als Zeitgenosse des Passionaldichters gelten, und die Erinnerung an ihn als historische Gestalte dürfte noch lebendig gewesen sein,57 die Armutsbewegung des Franziskanerordens war inzwischen institutionell tief verankert und erreichte im 14. Jh. den Höhepunkt ihrer Popularität.58 Die gesellschaftlichen und institutionellen Umbrüche, die mit der Gestalt des Ordensgründers und der von ihm zwar nicht ausgelösten, aber entscheidend vorangetriebenen religiösen Bewegung der Mendikanten verbunden sind, bleiben für das gesamte Spätmittelalter von absolut prägender Bedeutung – so sehr, dass sich ihr auch die Gemahlin des Landgrafen Ludwig IV. von Thüringen nicht entziehen konnte, denn auch die hl. Elisabeth ließ sich wohl maßgeblich von den Idealen der Franziskaner beeinflussen. || 57 Man könnte mit Jan ASSMANN von einer kollektiven Erinnerung noch im kommunikativen Gedächtnis sprechen, wobei dann zu prüfen wäre, ob hagiographische Typisierungen innerhalb der Heiligenviten etwa einer Differenzierung zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis zuzuschreiben wäre; zum Unterschied zwischen kommunikativen und kulturellen Gedächtnis vgl. Jan ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis, München 1992, S. 48–66. 58 Zur Nachwirkung vgl. Jacques LE GOFF, Franz von Assisi, Stuttgart ²2007, S. 195–110.

248 | Basisoppositionen und Differenzsetzungen Dass von Franziskus schon sehr früh eine größere Anzahl verschiedener Lebensbeschreibungen existiert haben, erstaunt angesichts des Nachwirkens und der großen Bedeutung des von ihm gegründeten Ordens keineswegs; schließlich wurde er bereits knapp zwei Jahre nach seinem Tod im Jahr 1228 heiliggesprochen. Im Zuge der Kanonisation beauftragte Papst Gregor IX. den Franziskaner Thomas von Celano mit der Abfassung einer ersten Vita, die 1229 offiziell vom Papst anerkannt wurde. In Stil und Sprache viel gerühmt, hebt sich diese Vita durch „die Konturierung eines zumindest im Ansatz tatsächlich schon individuell zu nennenden Persönlichkeitsbildes“59 von den ‚üblichen‘ hagiographischen Schriften ab. Um 1246/47 verfasste Thomas eine zweite Lebensbeschreibung, um weitere Lebenszeugnisse zu erfassen, und zwischen 1250 und 53 entstand zudem ein Mirakelbuch, da besonders die Vita secunda das große Interesse an Wunderberichten nicht befriedigen konnte.60 Was jedoch an dieser zweiten Vita ebenfalls hervorsticht, ist die unverhohlene Kritik an Missständen im Orden, die sich an der Frage nach der Umsetzung des von Franziskus vorgelebten Armutsideals entzündete.61 Als 1260 der Generalminister des Ordens, Bonaventura, mit einer neuen Vita beauftragt und diese 1266 zur allein gültigen erklärt wurde, verfügte Bonaventura die vollständige Vernichtung sämtlicher Legenden des Thomas von Celano, obwohl Bonaventuras Legenda maior in großen Teilen selbst auf Thomas zurückgriff.62 Bei der Ausgestaltung der Franziskuslegende in der Legenda aurea hat Bonaventuras Legenda maior möglicherweise noch gar nicht vorgelegen; der Dominikaner Jakobus de Voragine orientierte sich an Thomas von Celano, dessen Lebensbeschreibung er im typischen Stil der abbreviatio so stark zusammenfasst, dass sie in zahlreiche Einzelepisoden zerfällt. Demgegenüber ist es auffällig, dass der Passionaldichter seine Version dieser Legende nicht nur ganz anders aufbaut, sondern die Legenda aurea als Vorlage insbesondere bei der zentralen Schilderung der Stigmatisation, welche Jacobus in nur einem Satz abhandelt, verlässt und statt dessen direkt

|| 59 FEISTNER, Typologie, S. 195. 60 Vgl. Ruth WOLFF, Der Heilige Franziskus in Schriften und Bildern des 13. Jahrhunderts, Berlin 1996, S. 95–100. Für die zweite Vita wurden Zeugnisse derer gesammelt, die direkten Umgang mit dem Heiligen hatten; eines der wichtigsten ist die sog. Dreigefährtenlegende, die eine eigenständige Ausgestaltung einer frühen Franziskus-Biographie darstellt. Inwieweit allerdings die heute vorliegende Fassung mit jener übereinstimmt, die Thomas benutzt haben dürfte, ist nicht mehr nachzuvollziehen, vgl. LE GOFF, Franz von Assisi, S. 38ff. Die älteste mhd. Fassung ist eine zwischen 1237 und 1239 entstandene Übertragung von Thomas’ Vita prima durch Lamprecht von Regensburg. 61 Zu den Schwierigkeiten des Institutionalisierungsprozesses des Ordens vgl. auch Gert MELVILLE, Der geteilte Franziskus. Beobachtungen zum institutionellen Umgang mit Charisma, in: Joachim FISCHER u. Hans JOAS (Hg.), Kunst, Macht und Institution. Studien zur philosophischen Anthropologie, soziologischen Theorie und Kultursoziologie der Moderne, Frankfurt/New York 1993, S. 347–363. 62 Vgl. FEISTNER, Typologie, S. 195–199, die diese drastische Maßnahme u.a. mit dem Pariser Mendikantenstreit zu erklären versucht, im Zuge dessen derart selbstkritische Äußerungen wie die des Thomas von Celano „den Gegnern willkommene Angriffspunkte geboten hätte[n]“ (S. 197).

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auf Thomas von Celano wie auch Bonaventura zurückgreift. Auffällig ist zudem, dass er die Legende (im Unterschied zu fast allen anderen des dritten Buches) mit einem umfangreichen, 112 Verse umfassenden Prolog beginnt, „in dem enkomiastische Franziskus-Apostrophen und vertraute Zwiesprache zwischen dem Erzähler und dem Heiligen miteinander abwechseln“63 und der zudem ein enthusiastisches Lob auf den Franziskanerorden und dessen Armutsideale anbringt. Überdies teilt der Dichter mit, er habe zur Gestaltung der Legende nicht die vollen mere (III 515, 61) zur Hand gehabt und bedauert, dass ihm Teile seiner Quellen fehlten, um ein zufriedenstellendes Gesamtbild des Heiligen zu zeichnen.64 Im Zusammenhang mit dem Stigma- und Charisma-Komplex sind nicht nur die Stigmata des Heiligen von Bedeutung, auch wenn diese in herausragender Weise insbesondere das Bildprogramm zu Franziskus bestimmt haben. Im devianzsoziologischen Sinne ist hier zugleich auch Franziskus als Selbststigmatisierer zu betrachten, der ganz bewusst seinen höfisch-luxuriösen Lebensstil zugunsten einer radikalen Weltablehnung aufgibt und dadurch zum charismatischen Vorbild einer epochalen Bewegung wird. Es ist also zu unterscheiden zwischen dem Phänomen der Stigmatisation auf der einen und der Stigmatisierung (im Sinne der Selbststigmatisierung wie sie Lipp beschreibt) auf der anderen Seite.65 Die übrigen Wundererzählungen, die das Passional in einer langen Reihe präsentiert, brauchen dabei nur insoweit zu interessieren, als sie sich auf diesen Zusammenhang beziehen lassen; immerhin versucht der Passionaldichter durch einige Umstellungen und Zusammenziehungen der einzelnen Episoden, der äußerst paradigmatischen Reihung der Legenda aurea etwas mehr Kohärenz zu verleihen.

|| 63 Ebd., S. 232. 64 Aus diesen Umständen möchte FEISTNER, ebd., S. 233–236, die These einer Verbindung des Passionaldichters zum Deutschen Orden erhärten: Dass der Verfasser als Geistlicher in der Nähe der ‚neuen‘ Orden zu suchen wäre, ist plausibel, dass er jedoch schwerlich Dominikaner gewesen sein kann, ist dagegen trotz Benutzung der Legenda aurea ebenfalls wahrscheinlich – zu farblos und standardisiert präsentiert sich die Legende des Ordensgründers Dominikus im Passional, erst recht im Vergleich zum euphorischen Lobpreis der franziskanischen Armut, auch fehlt die für die Dominikaner wichtige Legende des Petrus Martyr. Auf der anderen Seite erscheint es fast undenkbar, dass ein Franziskaner den Verlust von Quellen ausgerechnet der Lebensbeschreibung seines Ordensgründers zu beklagen hätte. Für einen Bezug zum Deutschen Orden spräche zwar, dass der Passionaldichter bei der Legende der dort hochverehrten Elisabeth von Thüringen ebenfalls von der Legenda aurea als der üblichen Vorlage abweicht zugunsten der als authentischer geltenden Vita Konrads von Marburg. Doch eine direkte Verbindung zum Deutschen Orden ist, wie gesehen, ebenfalls zumindest zweifelhaft, und die Vorgehensweise bei der Franziskus- und Elisabethvita könnte auch schlicht den Grund haben, sich für diese ‚neuen‘ Heiligen bewusst aktuelleren Materials bedienen zu wollen. Alles in allem zeigt sich darin einmal mehr, dass das Passional äußerst sorgfältig angelegt ist und keinesfalls nur eine stereotype Kompilation der Legenda aurea darstellt. 65 Vgl. Otto LANGER u. Hartmann TYRELL, Stigma und Charisma: Franz von Assisi, in: Wolfgang LIPP, Stigma und Charisma, Würzburg ²2010, S. 303–328, welche die frühen Lebensbeschreibungen des Franziskus nach diesen von LIPP angestoßenen devianzsoziologischen Gesichtspunkten untersuchen.

250 | Basisoppositionen und Differenzsetzungen Franziskus’ selbststigmatisierendes Verhalten ähnelt in Wesen und Darstellung der Exklusion Christinas, mit dem Unterschied, dass Christina sich von ihrer Familie lossagt, um das Martyrium zu erleiden, während Franziskus ganz bewusst die sozialen Stigmata der Armut annimmt. Dazu bedarf es zunächst eines Sinneswandels, der den reichen und verschwenderischen Jüngling zur christlichen Tugend bekehrt, denn zunächst tritt Franziskus nicht die Nachfolge Christi, sondern die seines Vaters an: nach werltlicher saze/ was sin vater riche (III 515, 74f.). Franziskus ist ein mit typisch höfischen Merkmalen (schone, starc unde iunc; III 5151, 89) gekennzeichneter Jüngling und schuf sines vater dinc/ nach loufe disses gutes (III 515, 80f.). In den oben angesprochenen franziskanischen Legenden des Ordens wird im Zusammenhang mit der Konversion des Franziskus immer wieder die „Gnadenhaftigkeit der Bekehrung“ betont, die „als unverfügbares Geschehen erfahren“ wird.66 Zentrales Motiv stellt dabei die Begegnung mit einem Aussätzigen dar, dessen Anblick und Leiden Franziskus so berühren, dass er sein gesamtes Leben überdenkt und neu ordnet: Er erkennt, dass sein Platz innerhalb dieser Randgruppe zu sein hat, nicht in der Gesellschaft seines familiären Umfelds, und dies ist es, was zu seiner Selbststigmatisierung führt. Dabei bleibt allerdings festzuhalten: „Das ausschlaggebende Motiv der conversio ist nicht das Ideal der Armut, sondern das Mitleid mit dem Leprosen.“67 In der Legenda aurea ist dagegen die Episode mit dem Leprakranken fast schon versteckt inmitten der zusammenhanglosen Aneinanderreihung verschiedener Wunder- und Tugenderweise des Heiligen. Der Umschlag von einem Leben in Sünde zu einem vorbildhaften Leben in Armut und Buße wird überhaupt nicht narrativiert, sondern lediglich am Eingang der Legende nüchtern konstatiert (et in uirum alterum subito transformauit; LA 145, 15: und er verwandelte sich plötzlich in einen anderen Menschen). Das Passional nimmt diese Aussage auf und betont Franziskus’ Willen zur Weltabkehr: uf eine ander straze/ begonde er vaste merken (III 516, 14f.). Auch hier hat die Veränderung also keinen konkreten Auslöser außer eben die Gnade Gottes, doch inszeniert das Passional danach die Begegnung mit dem sprechenden Christusbild in einer Kirche als Bestätigung des neu eingeschlagenen Lebensweges und endgültigen Wendepunkt. Franziskus wird dabei nicht nur der Auftrag Christi (erhebe und mache wider/ min hus, daz du sist vallen nider; III 516, 51f.) konkret vor Augen geführt, indem ihm nämlich jetzt die Baufälligkeit der Kirche, in der er betet, bewusst wird, welche sinnbildlich für den Gesamtzustand der Institution steht. Darum ist es dem Passional so wichtig zu betonen, dass er nicht nur Geld für eine Sanierung auftreiben will, sondern dass diese erste direkte Begegnung mit Christus, der aus dem Bild zu ihm spricht, auch in seinem Inneren eine Veränderung auslöst: Auch hier ist es nämlich nicht die Armut, durch deren Vobildhaftigkeit Franziskus dann tatsächlich einen institutionellen Wandel herbeiführen kann, sondern eben-

|| 66 Beide Zitate ebd., S. 316. 67 Ebd., S. 317.

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falls das Mitleid, das für den entscheidenden Umschlag sorgt, nicht jedoch Mitleid mit einem Kranken wie in den Ordenslegenden, sondern das Mitleid mit dem Gekreuzigten, das somit bereits auf das die spätere Stigmatisation bedingende ‚MitLeiden‘ vorausweist: so muste er ie sin herze holn/ uf ein stete mitedoln/ des, der an dem kruze hienc (III 517, 1–3). Erst dieser innere Wandel führt in der Lesart des Passionals nun konsequent und unverzüglich zur Exklusion von der Familie und der Gesellschaft.68 Franziskus übergibt all sein Geld nun dem Priester der Kirche, denn den vormals für ihn so wichtigen Reichtum achtet er jetzt nicht mehr, Silber und Gold sind ihm alsam ein unvlat (III 517, 28). Sein Vater allerdings betrachtet diesen Umschwung kritisch, ihm ist es leit genuc,/ daz sin kint so ummesluc/ und volgete der armekeit (III 517, 31–33) – hier ist das Umschlagsmoment der conversio direkt im Text benannt. Dass er seinen eigenen Sohn dann gefesselt vorführen lässt und mit ihm verfährt als mit einem diebe (III 517, 46), zeigt die gleichen narrativen Exklusionsmuster wie bei den Märtyrern Adrian oder Christina; ebenfalls Franziskus’ Reaktion, der warf vor im nider/ alle die kleidere, die er truc (III 517, 50f.). Auch er demonstriert also öffentlich die Abkehr von der Sippe, mit dem Unterschied allerdings, dass er nicht das Martyrium auf sich nehmen will (bzw. kann), sondern volgen arm den armen (III 517, 56). Ihn stigmatisieren nicht die Wunden der Marter, sondern die Zeichen der Armut; infolgedessen verlässt er das Haus seines Vaters in herinem gewete (III 517, 59): Selbststigmatisierung als Wandel vom prächtigen Kleid zum Büßergewand, von der höfischen Gesellschaft zum Ärmsten der Armen. Die Exklusion, der Bruch mit der Familie wird als endgültig inszeniert, da sich sein Vater offenlichen (III 517, 65) von ihm lossagt und Franziskus einen guten Menschen bittet, ihm statt seiner den väterlichen Segen zu geben (so wis min vater du durch got; III 517, 91), wobei Franziskus sich nun vor allem von Gott als Kind angenommen weiß.69 Sein Status als künftiger Heiliger wird bestätigt durch eine Reihe von Wundererzählungen: Teufelsaustreibungen, Vogel- und Tierpredigten, vor allem aber wird

|| 68 Genau dieser Bezug geht in der Legenda aurea verloren, die zwar die Episode ebenfalls mit der dann folgenden Lossagung vom Vater verbindet, aufgrund der extrem verkürzten Darstellung wie auch der wenig kohärenten Einbindung bleibt ein solcher Zusammenhang jedoch unklar. Nicht zuletzt darauf aber dürfte die Bearbeitungsstrategie des Passionals abzielen, das beide Episoden auf insgesamt über 150 Verse ausdehnt und entsprechend am Anfang der Legende plaziert. Einen detaillierten Vergleich zwischen beiden Versionen bietet Manfred ZIPS, Franziskus von Assisi, vitae via, Wien 2006, S. 62–81, blendet allerdings den Einfluss weiterer Quellen, der ja für das Passional in dieser Vita entscheidend ist, praktisch aus. Er kommt im Kern zu dem Fazit, die Legenda aurea stelle „Franziskus in einen weitgehend zeitlosen Erzählzusammenhang“ (S. 78), indem Jacobus hier wie insgesamt eine „Tendenz zur Abstraktion realer Geschehnisabläufe“ (S. 79) schaffe. Der Passionaldichter sei dagegen viel stärker an der Darstellung historischer Zusammenhänge interessiert. 69 Passional wie Legenda aurea schieben anschließend noch eine weitere Szene zur Verdeutlichung des exkludierten Status von Franziskus nach, indem dieser sich als Bettler sogar vom leiblichen Bruder geduldig verspotten lässt.

252 | Basisoppositionen und Differenzsetzungen Franziskus als Vorbild für die sich um ihn scharenden Anhänger des neuen Ordens gezeigt, der das Armutsideal in vollkommener Weise erfüllen kann; die einzelnen Episoden, die in der Legenda aurea unterschiedlich plaziert sind, werden im Passional dabei thematisch zusammengeführt. Insbesondere sieht er in einer visionären Schau einen prächtigen Stuhl im Himmel, der vormals dem durch Hochfahrt gefallenen Engel gehört habe (vgl. III 524, 16ff.) und nun von ihm besetzt werden soll. Denn, so verkündet es die göttliche Stimme, wie [...] die hochvart ienen warf, daz er viel mit schanden nider[,] dar wil die demut hin wider disen brengen, der hie gat und sich also gedrucket hat in ein demutic leben. (III 524, 44–49)

Hier wird der Umschlag vom Stigma zum Charisma vollends ausgedrückt: Es ist gerade das demütige und gedemütigte Verhalten des Franziskus, das ihn zu einem Heiligen macht, humilitas siegt über die superbia. Was Franziskus in der Welt zum sozialen Außenseiter abstempelt, gereicht ihm im Himmel zu den höchsten Ehren. Darin ist die exemplarische imitatio Christi zu sehen, die Franziskus zum Vorbild seiner Mitbrüder wie der gesamten Menschheit macht. „Die Selbststigmatisierung, die Franziskus durch seinen Übertritt zu den Armen vollzog, ist Nachfolge Christi, conformatio mit dem nudus Christus, ein Prozess der Verähnlichung, in dem er, sichtbar für alle in der leiblichen Stigmatisation, zum ‚alter Christus‘ wird.“70 Es ist daher nur konsequent, wenn das Passional (wieder gegen die Legenda aurea) den Empfang der Christus-Stigmata als Endpunkt dieser Annäherung, als vollkommenes Erreichen der christomimetischen imitatio inszeniert. Und es ist somit auch nicht verwunderlich, dass der Passionaldichter hier nun vollständig die Legenda aurea als Vorlage verlässt, welche diese Szene weder direkt in einen solchen Zusammenhang stellt, noch überhaupt ausführlich beschreibt; das Passional schafft hingegen über die Narrativierung eine Art ‚Verähnlichungsprozess‘, wobei der (gerade nicht prozesshaft zu fassende) Umschlag vom Stigma zum Charisma nun zeichenhaft überhöht wird. Die Darstellung vom Empfang der Wundmale Christi folgt dabei zunächst Bonaventura, die Beschreibung der Wundmale ist jedoch an der Vita secunda des Thomas von Celano orientiert.71

|| 70 LANGER/TYRELL, Stigma und Charisma, S. 318. 71 Vgl. FEISTNER, Typologie, S. 231f. Die Legenda aurea stellt die Stigmatisierung des Franziskus in gerade einmal zwei Sätzen mitten innerhalb die paradigmatische Wunderkette dar; ein nüchterner Tatsachenbericht, mehr nicht: In uisione dei seruus supra se seraphin crucifixum aspexit qui crucifixionis sue signa sic euidenter ei impressit ut crucifixus uideretur et ipse. Consignantur manus et pedes et latus crucis caractere, sed diligenti studio ab omnium oculis ipsa stigmata abscondebat (LA 145, 125f.: Der Diener Gottes sah einst in einer Vision einen Seraphim über sich, der gekreuzigt war: der

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Die Schilderung beginnt mit einer Meditation: Franziskus sieht mit seinem Herzen in die luteren gotheit,/ wie tief, wie lanc, wie ho, wie breit/ ist sin gotelicher rat (III 529, 95 – 530, 1). Die mystische Versenkung in Gott ist so innig, dass sich ein Einbruch der Transzendenz ereignet, denn ein sechsflügeliger Seraphim kommt uz deme hohsten kore (III 530, 12) zu ihm. Dieser Engel jedoch ist gekreuzigt, die Hände sind ihm angenagelt alsam Cristo deme suzen (III 530, 29), seine Füße sind gebrochen und auch die Seite durchstochen. In dem Moment, wo Franziskus den mit den Wundmalen Christi versehenen Engel erblickt, ereignet sich jener gnadenhafte Umschwung, der für das Erzählen vom Heiligen so charakteristisch ist: do wart Franciscus ouch von gote/ belucht mit genaden vil (III 530, 34f.), und dieser Moment kann auch als Umschlagspunkt vom Stigma zum Charisma festgemacht werden. Denn die gnadenhafte Erleuchtung bewirkt, dass sich Franziskus nun völlig in die Leiden Christi am Kreuz versenkt, vor allem aber – und dieser Gedanke eröffnet einen neuen Kontext – in die minne, die dich hat gebogen/ und an daz kruze gezogen (III 530, 51f.), wie es Franziskus an Jesus gewandt formuliert. Es geht ihm in seiner Meditation also nicht nur ums Mit-Leiden, sondern auch um das Mit-Lieben, denn durch die Liebe zur Menschheit hat Christus seine Leiden ja auf sich genommen. Erneut zeigt sich damit der konzeptuelle Bearbeitungswille des Passionaldichters: Wenn Franziskus nach dieser bittern suzekeit (III 530, 55) verlangt, dann erfüllt er hier genau jene Leitmotive, die in den compassio-Abschnitten der Passionsbeschreibung des ersten Buches herausgestellt werden (s. Kap. 3.2.3). Fordert dort der Gekreuzigte selbst die Zuhörer zur compassio auf und hebt der Erzähler immer wieder in Bernhardinischer Tradition die meditative Verbindung von Minne und Passion hervor, so ist dies in Franziskus in idealer und exemplarischer Weise verwirklicht. Es ist, und dies mag zunächst erstaunen, nicht das Mitleiden, sondern die Verinnerlichung der Christusminne, die zum Empfang der Stigmata führt: den grozen engel er ansach mit so voller innekeit, daz in die minne gar durchsneit an libe unde an herzen. sunder vleisches smerzen wart er ein merterer vor gote. im wurden gar in gotes gebote vumf zeichen, die man an im vant. ein ieglich vuz, ein ieglich hant was im rechte als ez were ein gekruziget merterere, idoch nicht blutes drabe ran. (III 530, 60–71) || drückte ihm die Male seiner Kreuzigung so sichtbar ein, dass es schien, dass Franziskus selber gekreuzigt wäre: seine Hände und Füße und seine Seite waren mit dem Zeichen des Kreuzes gezeichnet. Doch verbarg er die Wundmale vor aller Augen mit Fleiß, dennoch sahen sie etliche zu seinen Lebzeiten). Vgl. zu der Episode auch ZIPS, Franziskus, S. 75f.

254 | Basisoppositionen und Differenzsetzungen Der Bezug zur Christusminne wird einerseits klar im Hinblick auf den compassioAuftrag des ersten Buches, jedoch auch wenn man bedenkt, dass die Verinnerlichung des Leidens von Franziskus ja bereits erfüllt wird, indem er die Christusnachfolge in der Armut nachlebt. Dieser Selbststigmatisierung folgt nun die Stigmatisation durch Gott, denn die imitatio Christi besteht in einem Nachvollzug der Leiden und der Liebe, und dieses ‚Zugleich‘, das in der oben genannten bitteren Süße liegt, macht aus Franziskus nun einen alter Christus, wie es die Wundmale auch durch äußere Merkmalsgleichheit erweisen. Die Stigmata als „Zeichen der inneren Identifikation und mystischen Einheit“ mit Christus markieren „augenfällig den dialektischen Umschlag des Stigmas eines randständigen Lebens in das Charisma der Christusähnlichkeit.“72 Dadurch wird auch Franziskus zuletzt zu einem Märtyrer, wie es die oben wiedergegebene Stelle auch gleich zweimal ausdrücklich bezeugt, zu einem Märtyrer des Mitleidens und Mitliebens. Dabei ist hervorzuheben, dass es stets bei einem inneren Geschehen bleibt: Der innere Nachvollzug der Liebe und Leiden Christi führt zu den äußerlichen Wundmalen am eigenen Körper, und zwar unmittelbar und nicht, wie in den meisten franziskanischen Legenden, durch den Seraph, der sich dort auf den Heiligen niedersenkt und ihm seine Stigmata einprägt.73 Es sind also nicht die vleisches smerzen, sondern der seelische, innere Nachvollzug der Liebe, der ihn mit diesen in der Tat heiligen Wunden zeichnet, und daher rinnt aus Händen und Füßen auch kein Blut, nur die fünfte, die Seitenwunde, ist blutig. Zugleich stellt das Passional die Zeichenhaftigkeit der Stigmata heraus. Die Wunden an Händen und Füßen scheinen wie durch einen Verband durch,74 aus seinem Fleisch bilden sich darin schwarze Fortsätze, als ob ez ein nagel were (III 530, 81). Die Wundmale sind Zeichen, Signum der Heiligkeit und der imitatio: Der Seraphim vertritt zeichenhaft Christus, Franziskus vertritt zeichenhaft die Märtyrer – und damit ebenfalls Christus. Die imitatio und Christoformitas ist bei Franziskus beinahe vollkommen, aber sie bleibt zeichenhaft, denn gleichkommen kann auch er Christus nicht. Und doch weisen die Zeichen, gerade weil es die Stigmata des Gekreuzigten sind, über sich hinaus, wie eben die fünfte Wunde an der Seite doch blutet und damit den Zeichencharakter der Stigmata wiederum aufhebt zugunsten einer konkreten Wunde. Die Konkretion der Zeichen, welche den Umschlag vom Stigma ins Charisma erst eigentlich erweist, ist dabei jedoch in die darauffolgenden Mirakelberichte ausgelagert, in denen sich die virtus der Wundmale bewahrheitet: Die Aufhebung des Zeichencharakters zeigt sich an der unmittelbaren Wirkung dieser Signifikanten. || 72 Beide Zitate LANGER/TYRELL, Stigma und Charisma, S. 319. 73 Dieses Motiv fehlt dagegen auch in der ersten Vita des Thomas von Celano, vgl. Oktavian SCHMUCKI, Die Wundmale des hl. Franziskus von Assisi nach den ältesten Quellenzeugnissen, in: ders., Beiträge zur Franziskusforschung, Kavelaer 2007, S. 465–492, hier S. 473–479. 74 im was rechte als einem man,/ dem uf vrischen wunden/ were ein vel gebunden,/ dunne unde luter gar,/ durch daz man sehe aloffenbar/ die stat enbinnen sin verwunt (III 530, 72–77).

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Wand nun sumelich tummer gief/ wirfet den gelouben schief/ uf diz schone wunder (III 531, 17–19), bringt der Erzähler zur Untermauerung des Wahrheitsanspruches zwei endeliche mere (III 531, 21) bei, die in dieser Form auch in der Legenda aurea, jedoch bereits bei Thomas von Celano vorgebildet sind. Das erste Mirakel thematisiert sogleich die Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Stigmatisierung des Franziskus: Ein als Rogerius von Apulien benannter Mann habe an die seligen wunden (III 531, 27) Franziskus’ nicht recht glauben wollen und daher Gott vor einem auf einem Altar aufgebauten Bildnis des Heiligen darum gebeten, ihm zu bedeuten, ob dieses Wunder war oder gelogen (III 531, 41) sei. Die Bestätigung folgt sogleich: Zwar hört er das Sirren eines Pfeils und das Geräusch einer Armbrust, allein er sieht nichts, sondern fühlt bloß einen Schmerz in der linken Hand, ohne dass jedoch der Handschuh darüber beschädigt wäre. Er streift seinen Handschuh ab und erkennt eine schmerzende Wunde: do was im in der wile/ als mit einem pfile/ were gar hindurch getriben (III 531, 69–71). Erst nach drei Tagen, in denen er seine Wunde öffentlich zeigen muss und zum heiligen Franziskus um Vergebung fleht, wird ihm dieser Schmerz wieder genommen. Dem Ungläubigen, der an den göttlichen Zeichen an diesem Heiligen zweifelt (der Text betont ausdrücklich, dass die Stigmata von Gott selbst stammen, vgl. III 531, 29), widerfährt nun genau das gleiche, allerdings erleidet er im Gegensatz zu Franziskus tatsächlichen Schmerz. Der Wahrheitsgehalt dieses Wunders wird somit durch direkten Nachvollzug erbracht, doch anders als Franziskus, der die Leiden Christi innerlich nachvollzieht und diese compassio so eindringlich erfüllt, dass sie sogar äußerliche Zeichen hervorzubringen vermag, geht es bei der imitatio, die der Zweifler erlebt, um einen direkten, körperlichen und damit auch schmerzlichen Nachvollzug. Erst über das äußerliche, schmerzhafte Mitleiden kann für ihn schließlich auch innere Überzeugung hergestellt werden. Zu beachten ist dabei nicht nur der Kontrast zwischen innerlichem Nachvollzug, der äußere Zeichen produziert, dabei aber ohne Blut und Schmerz auskommt und insofern einen durchaus prekären Zeichenstatus aufruft, und dem äußerlichen Nachvollzug, der, gerade weil ihm aufgrund der Zweifel das innere Mitgefühl fehlt, mit körperlichem Schmerz verbunden ist. Tangiert wird hier ebenso der Kontrast zwischen öffentlich und ‚privat‘: Während Franziskus nämlich seine Stigmata verbirgt, sie für ihn eben gerade nicht stigmatisierend wirken, sondern bereits Zeichen seines gnadenhaften Charismas sind, das jedoch erst nach dem Tode vollkommen offenbart wird (erst dann ist seine Inklusion in die communio sanctorum abgeschlossen), bewirken sie bei Rogerius dem Zweifler genau dies: Sie sind Stigmata seines Unglaubens, als solche auch den öffentlichen Blicken ausgesetzt, und verschwinden erst nach seinem öffentlichen Bekenntnis an den Glauben der Wundmale des Franziskus (genauer gesagt spricht der Text immer nur vom Ende seiner not, was sich aber auch nur auf den Schmerz, nicht die Male an sich beziehen ließe). Eine ganz andere Form der Bestätigung bietet dagegen das zweite Mirakel. Es geht nicht um Zweifel, sondern im Gegenteil um einen besonders eifrigen Verehrer des Heiligen, der ausgerechnet auf dem Weg zur Komplet bei den franziskanischen

256 | Basisoppositionen und Differenzsetzungen Ordensbrüdern in einen Hinterhalt gerät und von Räubern erschlagen wird; man findet ihn mit durchstoßener Kehle im Sterben liegen. Als ihn aber seine Frau jammernd anspricht, er solle doch aufstehen, um die Messe nicht zu versäumen, nehmen die Umstehenden plötzlich wahr, wie dem Sterbenden durch eine unsichtbare Hand das Schwert aus der Kehle gezogen wird. Sogleich richtet sich der Mann völlig gesund auf und lobt Franziskus. Der Heilige habe nämlich, so erklärt er den Leuten, ihm beigestanden, indem er sine heiligen wunden leite [...] uf mine und darabe entweich mir vil der ungehabe die ich vor des entpfangen han. (III 532, 72–75)

Da er aber nicht habe sprechen können, habe er Franziskus mit Gesten aufgefordert, auch das Schwert aus seiner Kehle zu entfernen, was der Heilige ebenfalls sogleich getan und auch diese Wunde auf die gleiche Weise geheilt hätte: sine vil heiligen wunden/ dructe er uf die mine (III 532, 86f.). Die Stigmata des Franziskus entfalten nun das Gegenteil: Die Heiligkeit seiner Wundmale heilt die realen (und eigentlich tödlichen) Verletzungen des Gläubigen. Es stellt sich eine mimetische Gleichheit ein, denn die innerlich hervorgerufenen Wundmale des Franziskus werden auf die äußerlich/körperlich verursachten Wunden des Gläubigen gelegt, deren Heilung aber erneut nicht nur als rein äußerliche aufzufassen ist, sondern gleichermaßen über sich hinausweist: Die Wundmale des Franziskus sind die gleichen wie die des Gekreuzigten, und so, wie in diesem Mirakel die zeichenhafte Präsenz Christi in der imitatio seiner Wunden sich konkret manifestiert (die realen Wunden werden geheilt), so verweisen sie zugleich (zeichenhaft) wieder zurück auf die eigentliche Dimension des Kreuzestodes Christi, nämlich die ‚innere‘ Erlösung, die Heilung der Seele. Die Stigmata des Heiligen sind Zeichen seines Charismas, stellvertretend für Christus zur Erlösung zu führen. Dies geschieht christomimetisch durch die imitatio seiner Leiden und Wunden – Stigmata, die durch den Kreuzestod selbst ins Charisma der Erlösung umgeschlagen sind. Dass Franziskus eine derartige zeichenhafte Stellvertreterfunktion zugesprochen werden kann, betont der Passionaltext unmittelbar nach der Schilderung dieses Mirakels. Der Erzähler resümiert, er habe nun die rechten warheit (III 532, 94) darüber gesagt, wie Gott seinem Heiligen die Ehre zukommen ließ, daz er die vumf wunden habe (III 532, 97). Zur letzten Verdeutlichung fügt er noch die Vision eines Mitbruders des Franziskus an: Dieser habe, als er Franziskus nachgegangen sei, ein Kruzifix erblickt, das vor diesem in der Luft geschwebt habe, dies aber liege daran, wand im was in sin herze ergraben/ der gekruzegete Crist (III 533, 10f.). Daraus, so könnte man schließen, resultiert die Heiligkeit Franziskus’, dessen radikale Nachfolge und imitatio Christi so groß sind, dass sie sogar körperliche Präsenz erzeugen, seine Christoformitas geht so weit, dass Franziskus den Umschlag vom Stigma zum Charisma ebenfalls vollständig nachvollzieht, indem an ihm nicht nur die Wundma-

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le, die Stigmata des Gekreuzigten, erscheinen, sondern indem es eben diese Stigmata sind, die charismatische Heils- und Erlösungskräfte vermitteln können. Auf diese Weise erscheint Franziskus im Passional wohl als einer der vollkommensten Heiligen überhaupt, was sich nicht zuletzt in der besonderen Anlage seiner Vita zeigt, die neben dem ausgesprochen umfangreichen Prolog die sehr umfassende Mirakelsammlung am Ende in ein epilogartiges Schlussgebet überführt, das im Bild vom richen betelere (III 539, 24) noch einmal die Paradoxie des Umschlagens vom Stigma zum Charisma verdeutlicht und damit jene eingangs beschriebenen Spannungsverhältnisse, die Heiligkeit charakterisieren, in einzigartiger Eindringlichkeit narrativ zur Entfaltung bringt.

5.3 Extremformen der Stigmatisierung: Theodora und das Umschlagen von Schuld in Gnade In den eben dargelegten Spannungsfeldern von Stigma und Charisma bzw. von Inklusion und Exklusion können weitere Oppositionspaare verortet werden. Das betrifft neben dem Verhältnis von Demut und Macht vor allem das von Schuld und Gnade. Die Narrativierung dieser Oppositionen erfolgt aus der Perspektive des Stigmas bzw. der Stigmatisierung: Wer Schuld auf sich lädt (im christlichen Sinne ist von Sünde die Rede), ist ein in sozialer Hinsicht Stigmatisierter; ihm haftet das Stigma der Sünde an, die bis zu seinem Ausschluss aus der Gesellschaft führen kann. Schuld aber, Sünde, muss abgebüßt werden: durch auferlegte Strafen, durch Bußrituale, durch Mechanismen, welche die Schuld (auch auf kollektive Weise) zu mindern, zu bewältigen in der Lage sind. Im sozialen Sinne, innerhalb gesellschaftlicher Gemeinwesen, wären hier an erster Stelle die Gerichte zu nennen, die Strafen auferlegen und vollziehen können, um gesellschaftliche Ordnung und Stabilität wiederherzustellen und zu gewährleisten. Im religiösen Sinne erfüllen dies u.a. jene sakramentalen Bußrituale, mit denen Schuld unter bestimmten Voraussetzungen gemindert oder getilgt, und das heißt in der christlichen Terminologie: vergeben werden kann. Doch auch hier kann es zu Umschlagsmomenten kommen: Das Stigma der Schuld verkehrt sich ins Gegenteil, es wird zur Gegenstigmatisierung und schlägt um in Gnade. Es geht hier weniger um die (sicherlich dennoch zentrale) Vorstellung, dass der Mensch im christlichen Sinne per se sündig und Vergebung damit stets ein Akt göttlicher Gnade ist, vielmehr geht es um den gnadenhaften Umschlag von persönlicher Schuld in eine besondere Begnadung. Damit ist ein Kernthema der die o.a. Überlegungen von Wolfgang Lipp berührt: Bestimmte Persönlichkeiten nehmen ihre Schuld in so radikaler Weise an, ja geradezu vorweg, stigmatisieren sich selbst, so

258 | Basisoppositionen und Differenzsetzungen dass ihre Schuld sich in Charisma, in Gnade und Begnadung wandelt; sie werden regelrecht zu „Schuldumschuldnern“75: Sie bewältigen Schuld nicht nur dadurch, daß sie sie neutralisieren, internalisieren oder ablassen durch Ventile, sondern dadurch, daß sie Schuld in ‚Gnade‘ wandeln. Charismatiker stellen Personen dar, die ‚begnadet‘ sind – und Gnade spenden –, weil sie schwer an Schuld selber trugen; sie lassen Stigmata, für die sie büßten – Wundmale sozialer Züchtigung – nicht als Mängel und Makel, sondern als Zeichen des ‚Heils‘ – als ‚Vollkommenheit‘ – erscheinen und erlangen die Eigenschaft, von Schuld auch mitbetroffene Dritte – ‚Gefolgschaften‘, das ‚Publikum‘ – freizusprechen.76

Das Stigma der Sünde verwandelt sich ins Charisma der Gnade – diese Dialektik ist unübersehbar und lässt sich gerade für Heilige immer wieder erkennen, am häufigsten und deutlichsten wohl in der Figur des ‚Sünderheiligen‘, für den die conversio nach seinem früheren Leben in Sünde einen Umschlagspunkt einnimmt, der den Wandel zum charismatisch begabten, ‚begnadeten‘ Heiligen bestimmt.77 Exemplarisch kann hier Maria Magdalena (Kap. 4.4) hervorgehoben werden, in deren Legende das Passional jenen Umschlag von Sünde in Gnade als Leerstelle markiert hat, die narrativ nicht zu füllen ist. Indem Magdalena ihre Sündhaftigkeit bekennt und Christus als Erlöser erkennt, kann sie teilhaben an der göttlichen Gnade, die für sie ins Charisma der Heiligen führt. Während die Magdalenenlegende des Passionals ganz im Zeichen der direkten Nachfolge Christi steht, wie sie im zweiten Buch dargestellt wird, geht es im Folgenden um die Beschreibung dieser Basisopposition und einer Extremform einer solchen ‚Schuldumschuldung‘, des gnadenhaften Umschlags vom Stigma der Sünde zum Charisma des Heiligen, wobei die narrativen Problemfelder eines solchen Umschlags zunächst noch im Hintergrund bleiben; diese werden eingehender in Kap. 8.1 thematisiert. Die Dialektik von Inklusion und Exklusion, Stigma und Charisma sowie das Umschlagen von Sünde in Gnade und Erwählung lässt sich in exemplarischer Weise an der Theodora-Legende herauspräparieren. Diese Vita gehört in die Riege der ‚Kleidertauschlegenden‘, denn sie berichtet davon, dass Theodora sich als Mönch verkleidet habe, um in einem Männerkloster Gott möglichst vorbildlich zu dienen. Damit gleicht ihre Legende in vielen Punkten der der hl. Marina, die ebenfalls als Mann verkleidet in einem Kloster Aufnahme findet; beiden wird dort fälschlicherweise vorgeworfen, ein uneheliches Kind gezeugt zu haben und beide nehmen, anstatt die Unrichtigkeit der Anschuldigung aufzuklären, demütig den Ausschluss

|| 75 LIPP, Charisma – Schuld und Gnade, S. 22. 76 Ebd. 77 Vgl. HUNSINGER, [Art.] Heilig und Profan, Sp. 1535, der betont, dass „die Kategorien ‚Sünde‘ und ‚Gnade‘ […] jede vorgängige Unterscheidung zw[ischen] ‚heilig‘ und ‚profan‘ transzendieren und sie aufheben.“ Narrativ herausgearbeitet hat einen solchen Umschlag am Beispiel des Gregorius Hartmanns von Aue STROHSCHNEIDER, Inzest-Heiligkeit.

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aus der Klostergemeinschaft auf sich und ziehen den vermeintlichen Bastard allein auf, während die Wahrheit erst nach ihrem Tode ans Licht kommt. Die MarinaLegende ist nur wenige hundert Verse vor der Theodoras im Passional plaziert, was bei zwei thematisch so verwandten Texten erstaunt, da der Verfasser bei seiner Auswahl aus der Legenda aurea ja auch leicht eine der beiden Legenden hätte weglassen können, er hat dem Stoff jedoch offensichtlich eine entsprechend hohe Bedeutung zugemessen. Im Unterschied zu Marina allerdings, die lediglich ihrem Vater ins Kloster folgt und von der außer ihrer demütigen Anerkennung der falschen Vaterschaft kaum etwas Nennenswertes erzählt wird, holt die Theodora-Legende weiter aus. Zunächst wird eine klare Begründung für Theodoras Entscheidung zum Klostereintritt gegeben: Sie geht als verheiratete Frau ein ehebrecherisches Verhältnis mit einem anderen Mann ein, worauf sie ein harte groze ruwe (III 319, 13) befällt; es wird also ganz klar schon zu Anfang ihre individuelle Schuld dargelegt. Dieses Vergehen wird im Passional aber kaum weiter ausgeführt, womit der Text auffallend von seiner Vorlage abweicht, denn in der Legenda aurea wird ausführlich geschildert, wie Theodora zunächst die Avancen des Nebenbuhlers zurückweist, dann sich von einer Zauberin blenden lässt und schließlich den Ehebruch begeht; alles geschieht im übrigen auf Betreiben des Teufels, der ihren zuvor so vorbildlichen Lebenswandel stören will. Auf diese Weise schafft die Legenda aurea von Beginn an eine ‚Ent-Schuldigung‘ der Protagonistin, deren sündhaftes Verhalten zwar bleibt, aber immerhin durch die Fallstricke des Teufels und seiner Handlanger erklärbar ist. Solche Erläuterungen macht das Passional nicht, zwar wird auch hier die nackeit (III 319, 8) des Teufels erwähnt, über Theodora ansonsten aber lapidar bemerkt: die brach/ ir e mit eime. diz geschach (III 319, 10f.). So betont das Passional weniger das Vergehen als vielmehr die anschließende Reue – Theodora erkennt ihre Schuld an, verlässt heimlich ihren Mann und zieht sich als Mann verkleidet in ein Kloster zurück. Diese Handlung ist deutlich nicht nur als Akt der Buße gekennzeichnet, sondern die De- und Investitur markiert zugleich ihre Exklusion aus der Gesellschaft: Aus Theodora, der jungen, schönen und zudem adeligen Frau (vgl. III 319, 2 u. 27) wird der Mönch Theodorus, denn sie legete abe ir wiblich gewant/ und zoch an sich do zuhant/ mannes mut und mannes kleit (III 319, 37–39). Dabei geht es um mehr als nur den von üblichen Ex- und Inklusions-Ritualen begleiteten Klostereintritt, die Devestitur macht aus der adeligen Frau nicht nur eine weltabgewandte Klosterinsassin, sondern schafft einen radikalen Identitätswechsel: Mit den weiblichen Kleidern legt sie zugleich auch ihre Weiblichkeit ab, sie nimmt mannes mut an und damit nicht nur eine Scheinidentität, sondern eine tat-

260 | Basisoppositionen und Differenzsetzungen sächlich andere.78 Die Auslöschung ihrer Identität wird sogar auf der Erzählerebene vollzogen, denn der Erzähler nennt sie fortan nur noch Theodorus und bestätigt damit, dass es sich nicht um einen bloßen Rollenwechsel, sondern einen Identitätswechsel handelt: Wir lazen hie den wibesnamen. si truc do an ir sunder schamen beide munchlichez kleit und darzu sulche manheit, daz sie wol heizen mochte ein man. (III 320, 7–11)

Zugleich stellt der Erzähler damit auch explizit den Identitätswechsel in Zusammenhang mit Theodoras Sünde. Fortan redet er nur noch von dem iungelinc (III 320, 12) und zeigt Theodora als Selbststigmatisiererin, die zugunsten eines bußfertigen Lebens im Kloster nicht nur ihren Mann, ihre Familie und ihren Stand aufgibt, sondern sogar sich selbst. Die Stigmata ihrer Schuld werden auch äußerlich sichtbar, nämlich in den gängigen Anzeichen der Askese, die an ihr beschrieben werden (vgl. III 320, 26ff.): Das einst schöne Gesicht verfällt, die Wangen fallen ein, die Augen treten in die Höhlen usw. Ist Askese grundsätzlich mit einer Negierung des Körpers und seiner Bedürfnisse verbunden, so zeigt sich dies an Theodora auf außerordentliche Weise: Nicht nur, dass ihre vormalige Schönheit verfällt, es ist vor allem die Negierung der Geschlechterdifferenz, die sie kennzeichnet. Wie vollständig sie dabei ihre Identität und ihren weiblichen Körper zum Verschwinden gebracht hat, zeigt sich daran, dass noch nicht einmal ihr eigener Ehemann sie erkennt. Dieser hat, von Trauer über den Verlust seiner Frau erfüllt, über deren Verbleib er im Ungewissen ist, von einem Engel den Rat erhalten, sich an eines der Stadttore zu stellen, um seine Frau zu sehen. Der Mönch ‚Theodorus‘ kommt denn, vom Abt in die Stadt geschickt, auch tatsächlich an ihm vorbei und beide grüßen sich sogar, doch während sie ihren Ehemann sogleich erkennt, jedoch schnell vorbeigeht, wartet ihr Mann scheinbar vergeblich den ganzen Tag am Tor und muss erst erneut vom Engel aufgeklärt werden, dass er seiner Frau doch schon längst begegnet sei. Wie beim Apostel Johannes lässt auch hier Heiligkeit die Geschlechterdifferenzen kollabieren, bei Theodora jedoch ist dies Folge ihres selbststigmatisierenden Verhaltens, welches den Umschlag von Sünde in Gnade bereits vorwegnimmt und diesen zunächst als Umschlag von Weiblichkeit in Männlichkeit inszeniert. Textextern wird dieses Umschlagen vom Erzähler bestätigt, textintern dadurch, dass nicht einmal ihr eigener Mann sie noch erkennt.79 Insofern ist es nur folgerichtig, dass der || 78 Das Ablegen der Weiblichkeit symbolisiert vor allem das Abscheiden der Haare, die als exklusives weibliches Schönheitsmerkmal gelten können, vgl. Valerie HOTCHKISS, Clothes Make the Man. Female Cross Dressing in Medieval Europe, New York 1996, S. 23. 79 Dieses Nicht-Erkennen ist auch nicht allein der ‚Verkleidung‘ Theodoras in einer Mönchskutte zuzuschreiben, obwohl die mittelalterliche Literatur Identität und Kleidung stets zusammenblen-

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Text im Anschluss auch von ihren charismatischen Begabungen berichtet und neben dem tugendhaften Lebenswandel dieses außerordentlichen Mönches von mehreren Wundern zu berichten weiß: Theodora heilt einen von einem wilden Tier Verletzten und verflucht zudem das böse Tier, das daraufhin tot umfällt. Vor allem aber sind es immer wieder Versuchungen des Teufels, denen die Heilige nun aber problemlos widerstehen kann: Der Teufel nennt sie als einziger bei ihrem Frauennamen und droht, ihre frühere Identität aufzudecken, sie aber verscheucht ihn durchs Gebet. Daran zeigt sich jedoch auch, dass der Umschlag vom Stigma zum Charisma, von der Schuld zur Gnade noch nicht gänzlich erfolgt ist, noch ist ihre weibliche Identität weiterhin zumindest latent (in der Rede des Teufels) vorhanden, zugleich auch als abzuwehrende Bedrohung. Daher bedarf es einer Steigerung sowohl der Exklusion als auch der Selbststigmatisierung. Eine Dirne beschuldigt den Mönch Theodorus, ihr ein Kind gezeugt zu haben, ein Vorwurf, der sich auf Theodoras Situation spiegelbildlich beziehen lässt: Sie hatte durch Ehebruch, also aufgrund ihrer (weiblichen) Sexualität gesündigt, die Figur der Dirne aber verkörpert gerade diese negativ-sexuell konnotierte Weiblichkeit. Und nicht zuletzt spiegelt sich dies in dem unehelichen Kind, in dem die Fähigkeit zur sexuellen Reproduktion zum Ausdruck kommt, welche Theodora durch den Eintritt ins Kloster ja gerade abzulegen versucht hatte.80 Und so nimmt sie die Schande sofort und mit grozer gedult (III 322, 26) auf sich: ich bin ein mensche also swach,/ daz ich gesundet sere habe/ wider got (III 322, 30–32). Diese Formulierung ist umso geschickter, als sie den Mönch noch nicht einmal lügen und sich fälschlich bezichtigen lässt, indem der zwar bekennt, ein Sünder zu sein, ohne jedoch den konkreten Fall zuzugeben. In der angesprochenen Sünde wäre zunächst Theodoras Ehebruch zu sehen, den sie mit ihrem Klosterleben abzubüßen bereit ist, sie bezieht sich freilich zugleich auf die allgemeine Sündhaftigkeit der Menschheit insgesamt. Theodora nimmt damit auch die Erbsünde auf sich, denn nach mittelalterlichem Verständnis ist es die Frau, der die Hauptschuld an der Erbsünde zugesprochen wird.81 Auch insofern ist das Zum-Verschwinden-Bringen der Weiblichkeit Theodoras in diesem || det, vgl. dazu VON MOOS, Kleid als Identitätssymbol. Dass es hier jedoch um mehr als nur eine Rollenidentität geht, macht der Text nicht zuletzt mit dem oben zitierten Erzählereinschub deutlich. So hat Armin SCHULZ, Schwieriges Erkennen, Tübingen 2008, anhand zahlreicher Beispiele aus der Heldenepik gezeigt, dass sich auch unter solch prekären Bedingungen Verwandte in der Regel einander dennoch erkennen können, wenn nicht Störungen im Verhältnis der Figuren zueinander dies verhindern. Inwieweit solche Überlegungen auch auf hagiographische Texte ausgedehnt werden können, bliebe zwar zu fragen, fest steht jedoch, dass Theodoras Exklusion und die Stigmata ihrer Askese so vollständig sind, dass sie ihre vormalige Identität praktisch auslöschen. 80 Vgl. HOTCHKISS, Clothes, S. 28. 81 Vgl. Edith FEISTNER, Manlîchiu Wîp, Wîpliche Man. Zum Kleidertausch in der Literatur des Mittelalters, in: PBB 119 (1997), S. 235–260, hier S. 238. FEISTNER spricht in diesem Zusammenhang von „Figuren, die in monastisch-klerikaler Zuspitzung das klassisch männliche Frauenklischee (nicht nur) des Mittelalters mit seiner ganzen Polarität verkörpern“ (ebd.).

262 | Basisoppositionen und Differenzsetzungen Zusammenhang von Bedeutung, war es doch gerade die Geschlechtlichkeit, die sie zur Sünde des Ehebruchs verleitet hat. Die Legenda aurea macht einen solchen Bezug dagegen nicht explizit auf, da hier der fälschlich beschuldigte Theodorus lediglich darum bittet, man möge ihm verzeihen, was den Zusammenhang von individueller und kollektiver Schuld zumindest teilweise zurücknimmt.82 Es folgt der tiefe Fall des Mönches Theodorus, dessen charismatische Begabung und vor allem die vom Erzähler so eindringlich gepriesene Tugendhaftigkeit mit diesem (vermeintlichen) Schuldeingeständnis in Frage gestellt werden: der convent grobelich erschrac/ der velschlichen heilikeit (III 322, 36f.) und verbannt ihn aus dem Kloster. Man wirft dem Mitbruder somit nicht nur (im wahrsten Sinne des Wortes) Scheinheiligkeit vor, sondern stellt die Redlichkeit seiner charismatischen Begabungen zumindest in Frage und setzt ihn damit indirekt nicht nur des Vorwurfes sexueller Verfehlungen aus. Indem nun aber Theodora die Exklusion aus der Klostergemeinschaft gleichmütig hinnimmt, indem sie also erneut, und diesmal in noch radikalerer Weise als Selbststigmatisiererin erscheint, erweist sich hierin ihre Heiligkeit, d.h. ihre Auserwähltheit und Begnadung, nur umso mehr. Hatte sie sich zuvor schon aus der sozialen, weltlichen Gesellschaft entfernt, so ist sie nun auch aus der geistlichen ausgeschlossen, jedoch nicht als asketischer Eremit wie Aegidius, sondern indem sie sieben Jahre lang mit andern beteleren (III 322, 71) vor der Klosterpforte um Nahrung bettelt. Mit Wolfgang Lipp wäre hier von einer extremen sozialen Stigmatisierung zu sprechen, die Theodora freiwillig und nicht zuletzt öffentlich auf sich nimmt. Dass sie jedoch vor der Klosterpforte lebt und damit im Sicht- und Wahrnehmungsbereich der früheren Mitbrüder, erinnert an Alexius und seinem Leben unerkannt unter der eigenen Familie. Auch hier geht es darum, zwar im Kontakt mit der früheren Gemeinschaft zu sein, doch eben mit dieser Nähe zugleich zu demonstrieren, nicht mehr daran teilzuhaben, ähnlich der Begegnung Theodoras mit ihrem Mann, der sie nicht erkennt. Auf diese Weise erst schlagen die Stigmata vollends in Charisma um, wird die Schuld in Gnade umgewertet. Indem Theodora Schuld auf sich nimmt, die ihr gar nicht zugehört, indem sie für eine Sünde büßt, die sie gar nicht begangen hat, eröffnet sich eine weitere Form der imitatio Christi: Auch Jesus hat am Kreuz sündenlos für die Sünden der Menschheit gelitten, erst dadurch ist die Erlösung der Menschen ermöglicht worden; Theodoras freiwillige Buße kann in diesem Sinne auch als Nachfolge Christi verstanden werden, um so auf besondere Weise an der Erlösungstat Christi zu partizipieren. Der Erzähler wertet Theodoras Verhalten bereits von Anfang an als Tugend der gedult (III 322, 57 u. 83), welche sie zu der vollenkumenheit (III 322, || 82 Die ganze Szene ist dort wie so oft sehr lakonisch dargestellt: Natum igitur puerum ad abbatem monasterii transmiserunt qui, cum Theodorum increparet et ille sibi indulgeri peteret, scapulis eius puerum imposuit et de monasterio proiecit (LA 88, 46: Also schickte man den Jungen nach der Geburt zu dem Abt des Klosters, der, nachdem er Theodorus beschimpfte und jener bat, man möge ihm verzeihen, ihm das Kind auf den Rücken lud und aus dem Kloster warf).

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61) führen könne, und er preist sin demut (III 322, 87), sei der Mönch Theodorus doch gar ane schult/ in die smaheit bekumen (III 322, 84f.). Gerade in solchen Formulierungen zeigt sich schon eine prinzipielle Aufhebung der Schuld (auch der, die Theodora eingestanden hat, sei es nun die individuelle des Ehebruchs oder die Kollektivschuld der Erbsünde), denn ihre Selbststigmatisierung wird umgewertet in Demut und Geduld: Tugenden, die unmittelbar zur Heiligkeit führen. Dennoch muss sich eine solche auch in Theodora immer wieder noch erweisen, und so ist sie ständig den Versuchungen des Teufels ausgesetzt, denen sie jedoch stets standhalten kann. Es handelt sich dabei nicht nur um die üblichen Tugendproben, die auch aus verschiedenen Eremitenviten bekannt sind, so z.B. der Schrecken wilder Tiere oder das Angebot guter Speise in Zeiten des Hungers (all dies verschwindet sogleich auf Theodoras Gebet), auch lässt sie sich nicht täuschen, den als Fürsten erscheinenden Teufel anzubeten, wofür sie von dessen Gefolgschaft halbtot geschlagen wird. Was unter all den Anfechtungen allerdings heraussticht (und es ist kein Zufall, dass diese gleich als erste erzählt wird) ist die Begegnung mit ihrem vermeintlichen Ehemann, als der der Teufel sich ihr gegenüber ausgibt. Er sucht sie zu überreden, wieder zu ihm zurückzukommen, würde ihr einen Ehebruch auch verzeihen, und zunächst vermeint Theodora tatsächlich, ihren Gemahl vor sich zu haben. Doch auch wenn sie die Täuschung zunächst glaubt, so lässt sie sich von ihrem vermeintlichen Mann doch nicht verlocken, bei ihm wieder ere und werdekeit noch me (III 323, 17) zu gewinnen, denn derartige weltliche Werte sind für sie längst bedeutungslos. Sie erklärt ihm, sie sei in sulche sunde kumen,/ daz ich wil nimmer underdrumen/ min buzen al die wile ich lebe (III 323, 27–29) und zeigt damit an, dass eine Rückkehr für sie nicht mehr möglich ist; die Exklusion ist nicht mehr rückgängig zu machen. Erst als der Mann weiter insistiert, kommen ihr Zweifel, und der Teufel in falscher Gestalt muss auf ihr Gebet hin unverrichteter Dinge wieder abziehen. Es ist bezeichnend, dass das Scheitern der Reintegration in die weltliche Gesellschaft nicht nur eigens narrativ markiert werden muss, sondern dass dies zusätzlich als Versuchung des Teufels vorgeführt wird. Ebenso bezeichnend ist jedoch, dass der Erzähler, der zuvor die demütige Tugendhaftigkeit des Mönches Theodorus gepriesen und auch dessen Leben unter den Bettlern stets in der männlichen Form, im Maskulinum, beschrieben hat, nach dieser gescheiterten Rückführung in die Welt plötzlich wieder von Theodora als einer Frau spricht: Die Aufhebung der Geschlechterdifferenz, die Auslöschung ihrer weiblichen Identität, unter der sie ihre Tugenden im Kloster erworben hatte, fällt nun wieder weg, Theodora erscheint in der Erzählung fortan wieder in ihrer ‚wahren‘ Gestalt.83 Das aber kann nur bedeuten, dass der entscheidende Umschlag von Schuld zur Gnade vollzogen ist, so dass es auf Geschlechterdifferenzen, überhaupt auf jegliche Unterschiede, nicht mehr wirklich

|| 83 Die Legenda aurea bleibt dagegen fast durchgängig bei der weiblichen Namensform und markiert damit gerade die noch bestehende Geschlechterdifferenz.

264 | Basisoppositionen und Differenzsetzungen ankommt. Ähnlich wie bei Aegidius zeigt sich auch der paradoxe Status des Heiligen als ‚aus der Welt in der Welt‘. Und vergleichbar den Märtyrern, deren Auferstehungsleib gewissermaßen unverwundbar für weltliche Folterwerkzeuge geworden ist, könnte man auch für Theodora, die ja ein weißes Martyrium erleidet, einen solchen Status konstatieren.84 Wie Aegidius kehrt schließlich auch Theodora in die Klostergemeinschaft zurück; der Abt erkennt die Buße des Mitbruders an und holt ihn zurück, doch bleibt ihr Status prekär, denn sie ist mit dem Kind, dem sichtbaren Zeichen der Sündhaftigkeit, stigmatisiert und weiterhin von der Gemeinschaft exkludiert, den brudern ein gesinde/ und doch versmet und vertreten (III 324, 58f.). Wie bei Aegidius dient die Rückkehr in die Gemeinschaft nur dem Schlusspunkt der Erzählung, mit dem öffentlich ihre Heiligkeit bestätigt werden soll; wie bei Alexius kann dies aber erst nach dem Tod geschehen. Und so gibt es von den letzten beiden Jahren Theodoras als Mönch im Kloster auch nichts mehr zu erzählen, außer dass erneut die Tugend der gedult (III 324, 69) und ihre Buße ohne eigentliche Schuld erwähnt werden. Erst ihr Tod ist wieder erzählenswert: Theodora nimmt, als sie ihr Ende nahen fühlt, ihr gleich einem Sohn aufgezogenes Kind zu sich und ermahnt ihn, nach ihrem Tode Gott als Vater zu erkennen, sein Leben aber getreu der Mönchsregel mit vastene und mit gebete (III 325, 13) zu verwirklichen; sie gibt ihm damit einen klaren Nachfolgeauftrag. Das aus der Sünde geborene Kind erfüllt diesen Auftrag auch getreulich und wird, wie es die Legende am Schluss verrät, später selbst zum Abt des Klosters gewählt. Erst in Theodoras Tod aber kann ihre wahre Identität aufgedeckt werden, das aber ist ihre Identität als Heilige, und der einzige, der diese enthüllen kann, ist Gott selbst. Der Abt des Klosters nämlich hat in Theodoras Todesstunde eine Vision, die ihn direkt in den Himmel schauen lässt. Was er dort erblickt, ist eine brutlouft (III 325, 29): er bemerkt zuerst die Engel, die ihre Aufstellung nehmen, dann in hierarchischer Reihenfolge weiter die Propheten, die heiligen Märtyrer, die bichtere unde iuncvrowen (III 325, 44) sowie die reinen Witwen (man fühlt sich an die Aufzählung

|| 84 Die mit derartigen Legenden wie der Verkleidung Theodoras oder auch Marinas verbundenen Geschlechterdiskurse müssen hier weitgehend unberücksichtigt bleiben, vgl. dazu ausführlich FEISTNER, Manlîchiu Wîp. Mit ihr bleibt zu konstatieren, dass der hier dargestellte Rollentausch die Geschlechterhierarchien paradoxerweise nicht unterlaufen, sondern im Gegenteil noch untermauern kann; Theodora fügt sich freiwillig ganz unten in der Klosterhierarchie ein, der Text weist jegliche Aufstiegsambitionen von vornherein ab, vgl. ebd., S. 238f. Für die poetische Konzeption von Heiligkeit sind die Überlegungen zum weiblichen und männlichen Rollenverständnis jedoch nicht entscheidend, wenn man nicht das hier beschriebene ‚cross-dressing‘ als eine erste Form der Selbststigmatisierung betrachten will. Eher jedoch ließen sich die Geschlechterrollen mit den Körperkonzeptionen verbinden: Der Weg zur heiligen Identität führt über eine Auslöschung der eigenen Identität, Zwischenstufe ist eine männliche Identität, als ob der Auferstehungsleib nur über die Vermittlung eines männlich codierten Körpers zu erlangen sei. Die Abwertung des weiblichen Körpers würde so zunächst aufgehoben im (scheinbar) männlichen Körper, während später, nach dem Umschlag von Sünde in Gnade, Körper- und Geschlechterdifferenzen keine Rolle mehr spielen.

Fazit | 265

des Prologs erinnert). Sodann aber quam ein schonez wibesnam (III, 325, 47), das vor allen anderen heraussticht, da ihr Gewand mit geluchte alumme sluc./ sin schin hete groze macht (III 325, 50f.). Diese offenbar hervorragende Heilige wird in ihrer Glorie von allen anderen mit vruntlichen eren (III 325, 59) aufgenommen. In diesem Augenblick hört er eine Stimme, die ihm deren Identität eröffnet: Es ist Theodora, und die göttliche Stimme deckt auch ihre schuldlose Buße auf. Nach der Vision eilen Abt und Mitbrüder zur eben verstorbenen Theodora und müssen jetzt erkennen, dass sie tatsächlich eine Frau war, wodurch ihre Heiligkeit endgültig offenbar wird. Es ist dabei weniger erstaunlich, dass nur Gott ihre Identität aufdecken kann; das ist u.a. ja auch bei Alexius so. Was der Abt in visionärer Schau miterlebt, ist ja nichts anderes als die Aufnahme in die communio sanctorum, und nur Gott kann seine Heiligen identifizieren. Indem aber Theodora die Stigmata der schuldlos an sie gerichteten Beschuldigungen auf sich genommen und demütig ertragen hat, ist ihre Schuld in Gnade umgeschlagen, in die gnadenhafte Aufnahme in die Gemeinschaft der Heiligen. Und so strahlt sie auch wieder in ihrer Schönheit, ja in der Glorie der Heiligen, ist nicht mehr gezeichnet von Askese und Entbehrungen, die ihren Körper so ausdrücklich entstellt hatten – der immanente Leib, der zum Verschwinden gebracht wurde, ja sogar regelrecht zur Auslöschung der Geschlechterdifferenz und der Identität, ist nun dem transzendenten Auferstehungsleib gewichen. Eine solche Gnade aber ist, wie schon oft betont, prinzipiell unverfügbar, und sie kann nur von Gott kommen, folglich muss auch Gott derjenige sein, der wie bei Alexius diese Gnade für die anderen Menschen bezeichnet und bestätigt. Darum wird auf diese Weise nicht ihre Geschlechteridentität, sondern gewissermaßen ihre ‚Heiligenidentität‘ aufgedeckt. Denn dass die Mönche bei der Entkleidung des Leichnams nun feststellen, dass es sich um einen Frauenkörper handelt, ist lediglich eine Bestätigung ihrer Heiligkeit, die Geschlechterdifferenz ist nach ihrem Tod ansonsten unwichtig geworden. Die radikale Umwertung von Schuld in Gnade, von Stigma in Charisma bewirkt bei Theodora also nicht zuletzt eine Umwertung der eigenen (Geschlechter-) Identität, die bis zum gnadenhaften Umschlagen in einen strahlenden, transzendenten Auferstehungsleib führt.

5.4 Fazit In der Kap. 1 wurde die These aufgestellt, dass Heiligkeit als zusammengesetzte Kategorie erzählerisch erst dann fassbar ist, wenn sie in ihrem gesamten Spannungsfeld dargestellt wird. Erzählen vom Heiligen heißt demnach, dieses Spannungsfeld je neu auszuloten und auf eine spezifische Figur zu übertragen, welche die von ‚dem‘ oder ‚der‘ Heiligen eröffneten Oppositionen in sich birgt, ja nachgerade ‚verkörpert‘. Auf diese Weise ist es möglich, Heiligkeit in einen narrativen Verlauf zu überführen; das, was eigentlich nicht prozesshaft ist, wird über die Figur des Heiligen in einen Erzählvorgang versetzt, der Differenzen setzen muss, um überhaupt einen Hand-

266 | Basisoppositionen und Differenzsetzungen lungsfortgang zu erzielen. Die Figur des Heiligen ist somit auch für die Narration eine Mittlerfigur, denn erst über sie wird Heiligkeit als Erzählvorgang vermittelbar. Zur Charakterisierung dieses Spannungsfeldes ließen sich spezifische Oppositionspaare ableiten, dialektisch aufeinander bezogene Basisoppositionen, die die Ambivalenz des ‚Sowohl – als auch‘, jenes eigentümliche Zwischen, das die Sphären von Transzendenz und Immanenz in der Figur des Heiligen verbindet, narrativierbar machen. Während es sich jedoch bei der Dichotomie zwischen Immanenz und Transzendenz um (zunächst) unvereinbare Gegensätze handelt, stellen die hier dargelegten Basisoppositionen eine Dialektik her, die zwischen diesen Gegensätzen zu vermitteln weiß; wiederum ist es die Figur des Heiligen, über die diese Vermittlung geschieht, und wiederum ist es die Ebene der Erzählung, auf der diese realisiert werden kann. Derartige Oppositionspaare könnten in vielerlei Hinsicht bestimmt werden, unter den beschriebenen narrativen Gestaltungsweisen sticht allerdings das dialektische Verhältnis von Inklusion und Exklusion besonders hervor: Heiligkeit bedeutet eine Annäherung an die Transzendenz und damit automatisch eine Abkehr von der Welt, von der Immanenz. Diese Weltabkehr kann, wie bei Aegidius, als konkreter Rückzug aus der Welt und ihren sozialen Gemeinschaften, deren kulturellem Umfeld sowie Wert- und Hierarchievorstellungen inszeniert werden. Idealtypisch erzählen dies jene Eremitenviten, in denen die Exklusion aus der Gemeinschaft zugunsten einer Eingliederung in eine andere, nämlich heilige Gemeinschaft, erfolgt: Der Eremit lebt losgelöst von allen Menschen und gesellschaftlichen Ordnungen, losgelöst auch von körperlichen Bedürfnissen, die er in strenger Askese von sich fern hält, zuletzt auch von zeitlichen Ordnungen, da sich sein Leben nach liturgischen Gebetszeiten richtet, die bereits auf eine transzendente Ordnung hinweisen, nicht aber nach sozial vorgegebenen Zeitabläufen. Institutionalisiert ist diese Form der Exklusion und Weltflucht in den Klostergemeinschaften, quasi als Gemeinschaft außerhalb der Gemeinschaft. Weltabkehr in ihrer radikalsten Form stellt freilich das Martyrium dar: Wer als Märtyrer in der Nachfolge Christi stirbt, vollzieht die Exklusion aus der Welt und die Inklusion in die Gemeinschaft der Heiligen unverzüglich und endgültig. Hier schlagen Folter und Tod unmittelbar in Glorie und ewiges Leben, kurz: in Heiligkeit, um. Doch auch hier gelingt es, dieses als Verlauf nicht fassbare Umschlagen wiederum als Prozess zu erzählen. Exemplarisch zeigt sich dies an der Christinenlegende: Christina distanziert sich sukzessive von ihrer Familie, die Erzählung setzt einen regelrechten Exklusionsprozess in Gang, im Zuge dessen sich die Heilige in ihrem Beharren auf die Christusbrautschaft (und damit auf die Zugehörigkeit zu einer anderen als der weltlichen Ordnung) zunächst vom Vater lossagt, dann von der Mutter, nach dem Sippenverband auch von den übrigen Menschen, um schließlich im Martyrium zu sterben, die Welt zu verlassen und in die Gemeinschaft der Heiligen aufgenommen zu werden. Dabei ist der schrittweisen Exklusion aus der Welt komplementär eine allmähliche Inklusion in die himmlische Gemeinschaft zugeordnet; auch der

Fazit | 267

Übertritt in die communio sanctorum wird als ein sukzessiver erzählt: So machen sich die Foltern zunächst noch körperlich bemerkbar, nach der Taufe durch Christus persönlich, die nicht nur die nominelle Inklusion in die Gemeinschaft der Gläubigen bedeutet, sondern ihre Zugehörigkeit zur himmlischen Gemeinschaft vorausdeutet, erweist sich Christina fortan als Märtyrerin von unzerstörbarem Leben, ihr Familienverband ist mit dem Tod des Vaters vollends aufgelöst, während sie durch den eigenen Tod endgültig Aufnahme in der communio sanctorum findet. In geradezu idealtypischer Manier wird dagegen die asketische Weltflucht des Eremiten Aegidius narrativiert, die sich aber ebenfalls in Etappen vollzieht: Zunächst exkludiert aus der Heimat, dann von den übrigen Menschen und zuletzt von jeder Zivilisation, ist der Heilige nun unerreichbar selbst für diejenigen, die in seinen Bezirk eindringen wollen. Die Rückkehr ins Kloster stellt zuletzt keine Re-Integration zurück in die Welt dar, sondern lässt Aegidius’ Mittlerposition erst offenbar werden: Exkludiert aus der Gemeinschaft und doch mit ihr lebend vollbringt der Heilige seine letzten Tage als Abt im vom König gestifteten Kloster und verkörpert damit die eigentümliche Zwischenstellung des Heiligen in der Welt und zugleich ihr nicht mehr wirklich zugehörend. Eng mit dieser Opposition von Inklusion und Exklusion ist das Spannungsfeld von Stigma und Charisma verbunden. Der Heilige erscheint in diesen Kategorien als Selbststigmatisierer, denn er nimmt freiwillig soziale Stigmata (z.T. als tatsächliche Körperzeichen sichtbar) auf sich, welche ihn aus seiner herkömmlichen Gemeinschaft exkludieren, ihn an den Rand der Gesellschaft bringen. Askese wie Martyrium sind in diesem Zusammenhang nicht nur Formen der Selbstexklusion, sondern ebenso der Selbststigmatisierung; kennzeichnend ist jedoch, dass diese Stigmata umschlagen in das Charisma eines Heiligen, der damit von der Peripherie der Gesellschaft in ihr Zentrum rückt. Das muss nicht unbedingt erst nach dem Tod erfolgen, in der Verehrung und dem Kult an seinem Grabe, wie es bei den meisten Märtyrern der Fall ist, sondern kann durchaus bereits zu Lebzeiten geschehen, was ebenfalls an Aegidius zu beobachten ist, wie überhaupt einer großen Zahl von Heiligen schon zu Lebzeiten eine hohe Verehrung entgegengebracht wird, wenngleich diese sie (toposgemäß) zunächst ablehnen müssen – entsprechend sucht sich Aegidius ja noch weiter von der menschlichen Gesellschaft zu entfernen. Als Paradebeispiel des Selbststigmatisierers kann dabei Franz von Assisi gelten, bei dem Exklusion und Selbststigmatisierung einander wechselseitig bedingen: Indem Franziskus seine Familie verlässt und sich von seinem Vater wie von allen seinen Reichtümern lossagt, nimmt er die Stigmata der Armut auf sich, um gerade so den christlichen Nachfolgeaufruf zu erfüllen (wobei ja Christus selbst eine Abkehr von der Familie in seiner Nachfolge gefordert hat, vgl. nicht nur Lk. 9. 23–27, sondern v.a. Mt. 19, 16ff.). Hier zeigt sich der Umschlag vom Stigma ins Charisma besonders eindringlich, so dass Franziskus gerade durch das von ihm vorgelebte und regelrecht verkörperte Armutsideal selbst zum alter Christus wird, zum imitationswürdigen Vorbild, das seinerseits zahlreiche Nachfolger findet. Dieses Prinzip wird

268 | Basisoppositionen und Differenzsetzungen nicht zuletzt zeichenhaft verdichtet im Empfang der Wundmale Christi, die ihrerseits charismatisch umgewertete Stigmata sind, welche die intensive Nähe, ja fast schon Einheit des Heiligen mit Christus verdeutlichen. Hervorzuheben ist allerdings, dass das Passional diesen Umschlag nicht der compassio, dem Mitleiden mit dem Gekreuzigten, zuschreibt, diese erweist sich vielmehr bereits in der gelebten Armut und all ihren damit einhergehenden Stigmata. Statt dessen resultieren die Wundmale aus der idealen Form der Verinnerlichung der Christusliebe, ein Umstand, der den Text zu einer Gleichstellung Franziskus’ mit den für ihren Glauben gestorbenen Märtyrern veranlasst, womit die Franziskusvita einmal mehr aus den übrigen Heiligenlegenden des Passionals deutlich heraussticht. Als eine spezifische Ausformung dieses Umschlagens von Stigma in Charisma ist die Dialektik von Schuld und Gnade zu sehen, die an der Theodora-Legende zu erkennen ist. Hatte Aegidius’ Heiligkeit sich in seiner fortwährenden Abkehr vom Kulturraum, von der zivilisierten Welt und im Rückzug in die Wildnis gezeigt, so zeigt sich Theodoras Heiligkeit in der Exklusion zunächst aus der Familie und der weltlichen, dann auch noch aus der geistlichen Gemeinschaft des Klosters. Hier wird vorgeführt, wie eine maximale Selbststigmatisierung, das unschuldige auf sich Nehmen von Schuld, sich in maximale Gnade und Heilsgewissheit wandelt; in der Figur Theodoras findet eine radikale Umwertung von Schuld in Charisma, in Heiligkeit statt. Erneut gelingt es der Legendenerzählung, dies als prozesshaften Vorgang zu inszenieren, auch wenn das eigentliche Umschlagsmoment als Leerstelle narrativ nicht dargestellt werden kann. Die komplexen Zusammenhänge dieser dialektisch aufeinander bezogenen Oppositionspaare lässt sich besonders eindrücklich in der bereits zuvor besprochenen Magdalenenvita feststellen (Kap. 4.4): Magdalena zeigt zu Beginn der Legende eine größtmögliche Inklusion in die menschliche Gesellschaft, der sie sich mit exzessiver Vergnügungssucht zuwendet; für die Hagiographie ist dieses Verhalten als Sündhaftigkeit zu werten, da es zugleich größtmögliche Gottesferne, vollständige Exklusion aus der Gemeinschaft der Heiligen darstellt. Die Begegnung mit Christus ist dann ein Umschlagspunkt, jener Moment, an dem die Exklusion von Gott erkannt und das bisherige Verhalten als Sünde, als Devianz und Stigma aufgefasst wird. Zugleich mit dieser Stigmatisierung als Sünderin greift die (voraussetzungslose und damit unverfügbare) Gnade Gottes, welche das Stigma der Sünde zuletzt ins Charisma der Heiligen überführt. Dies geht einher mit einer Exklusion aus der Gesellschaft, vergleichbar der der Eremitenviten, die jedoch so vollständig ist, dass Magdalena am Ende fast schon gänzlich in die himmlische Gemeinschaft inkludiert ist, an der sie zumindest partiell bereits teilhat, während sie von der menschlichen Gesellschaft schon so weit exkludiert ist, dass selbst der Eremit, der sie besuchen will, sich ihr räumlich und körperlich nicht mehr nähern kann. Die Dialektik von Inklusion und Exklusion, das Umschlagen von Sünde in Gnade und vom Stigma ins Charisma ließe sich damit an der Figur Magdalenas ebenfalls gut veranschaulichen. Für die übrigen Heiligen des zweiten Buchs, insbesondere die Apostel, gelten freilich andere Bedingungen:

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Sie sind als Jünger Jesu bereits eingegliedert in die himmlische Gemeinschaft, in die sie mit dem Tod, der imitatio und Nachfolge Christi nochmals betont, endgültig eingehen. Die Apostel haben sich ja bereits mit der Berufung durch Jesus von ihrer sozialen Gemeinschaft exkludiert, um dem Messias nachzufolgen, was die Evangelienberichte auch explizit so formulieren. Eine Ausnahme bildet einzig der Apostel Paulus, der eben nicht in direkter Nachfolge als Jünger Jesu steht: Hier inszeniert die Legende entsprechend deutlich das Umschlagen von Schuld in Gnade im Bekehrungserlebnis vor Damaskus. Die hier beschriebenen Oppositionspaare liegen stets auf derselben Grenze, markieren sie aber auf ganz unterschiedliche Weise. Das Begriffspaar Stigma und Charisma umschreibt das Spannungsverhältnis zwischen der Weltflucht des Heiligen, die ihn aus der Sünde zur Idealität führt, und seinem charismatischen Wirken in der Welt, das ihn vor den Mitmenschen erst als Heiligen auszeichnet. Auf ähnliche Weise wäre beispielsweise auch das Verhältnis von Demut und Macht aufzufassen: Obgleich ihnen ihre charismatische Begabung Macht über Menschen, Dämonen, sogar über den Tod verleiht, darf sie der oder die Heilige gerade nicht dafür einsetzen, ihre Heiligkeit zu demonstrieren, selbst wenn paradoxerweise eben das geschieht: Da die virtus des Heiligen ihm ausschließlich durch Gott verliehen und er somit lediglich Mittler göttlicher Kräfte ist, darf er sie nicht zur Schau stellen; wo sie jedoch zum Vorschein kommt (gerade in den Wundern) erweist sich darin seine Heiligkeit, wo er sie demütig zu verbergen sucht, wird er als ethischer Virtuose erkannt und stellt damit ebenfalls seine Heiligkeit unter Beweis. Demut wird umgewertet in das Charisma des Heiligen, dessen von Gott verliehene Verfügungsgewalt ihn durchaus mit Macht ausstattet, einer Macht jedoch, die nicht erarbeitet, sondern nur gnadenhaft geschenkt werden kann. Schuld und Scham, Sünde und Gnade, die als Basisopposition für Figuren wie Theodora oder Magdalena besonders entscheidend sind, lassen sich wiederum klarer in der Gegenüberstellung von Idealität und Sündhaftigkeit fassen, die eben jenes Spannungsfeld der heiligen Persönlichkeit umreißt, welche trotz der generellen menschlichen Sündhaftigkeit eine religiöse Vollkommenheit erlangt, die in ihrer Idealität vorbildhaft für die Mitmenschen ist. Dies kann jedoch nur aufgrund eines (nicht-prozesshafen, nicht-diskursiven) Umschlagsmomentes im Zuge einer gnadenhaften Offenbarung geschehen. Es zeigt sich daneben, dass die hier skizzierten Oppositionen und Spannungsverhältnisse gleichermaßen auch auf die narrativen Darstellungen des Martyriums abbildbar sind; das Martyrium vereinigt all diese das Heilige erzählerisch fassbarmachenden Basisoppositionen und erweist sich damit einmal mehr als konsequenteste und radikalste Form der imitatio Christi, die einen unmittelbaren Zugang zur Heiligkeit eröffnet.

6 Nachfolge bis in den Tod: Martyrium, Körperkonzeption und imitatio Christi 6.1 Das Martyrium als vollkommene Form der imitatio Die Dialektik von Inklusion und Exklusion konnte im vorangegangenen Kapitel exemplarisch an der Christina-Legende nachgezeichnet werden. Die dort getroffenen Beobachtungen können ebenso wie das Umschlagen von Stigma ins Charisma für Martyriumsdarstellungen im Allgemeinen getroffen werden, die allerdings in der ihr eigenen Inszenierung von Heiligkeit neben dieser spezifischen Ausgestaltung jener Basisoppositionen noch eine Reihe weiterer narrativer Eigenarten besitzen. Wohl nirgendwo deutlicher als am weiten Feld der Märtyrerlegenden (etwa die Hälfte aller in der Legenda aurea und im Passional behandelten Heiligen sind Märtyrer) lässt sich der serielle Charakter hagiographischer Texte beobachten. „Im Sinne einer so frommen wie erzählfreudigen bricolage werden die einzelnen Teile der Heiligen und ihrer Viten je neu zusammengesetzt, variiert, gesteigert, gedeutet und den konkreten Bedürfnissen folgend adaptiert.“1 Für die meisten Märtyrerlegenden lässt sich daher eine hohe, aber letztlich doch begrenzte Anzahl von Motiven und Erzählbausteinen bestimmen, die in immer neuen Variationen innerhalb eines relativ schematischen Erzählverlaufes arrangiert werden. Eine solche „‚Grammatik‘ der Legende“2 umfasst u.a. die folgenden Handlungsstationen: Zunächst wird der Konflikt des Protagonisten und seines Glaubens mit der traditionellen (heidnischen) Ordnung konstituiert, auf die einige Versuchungen (z.B. Angebote sozialen Aufstiegs oder sexuelle Verführung) folgen können, oftmals in Verbindung eines Streitgesprächs mit dem Richter/Ankläger, bis dann das eigentliche Martyrium beginnt. Auch hier ist eine Steigerung zu beobachten, die mit der Demütigung der Protagonisten (und damit ihrer Herausnahme aus der traditionellen Sozialordnung, vgl. die Überlegungen zur Exklusion im Rahmen der Christina-Legende, Kap. 5.1.1) eröffnet wird: Fesseln, Haarescheren, öffentliche Nacktheit und, bei Frauen, Androhung der Vergewaltigung. Es folgen Foltern, die wie die anfänglichen Versuchungen vor allem den Zweck haben, die Standhaftigkeit der Protagonisten zu erschüttern, die aber allesamt misslingen, da die Gemarterten ihren Glauben im Gegenteil noch stärker unter Beweis stellen, bis hin zu vergeblichen Tötungsversuchen, bei denen die Marterwerkzeuge versagen. Vielfach erfahren die Protagonisten dabei externen Beistand, entweder durch Mitmenschen (die sich dann aufgrund der Glaubensfeste des Märtyrers bekehren) oder von Gott bzw. Christus selbst oder seinen Engeln und Hei-

|| 1 Hans-Jürgen BACHORSKI u. Judith KLINGER, Religiöse Leitbilder und erzählerisches Spiel, in: Karl E. GRÖZINGER u. Jörg RÜPKE (Hg.), Literatur als religiöses Handeln?, Berlin 1999, S. 99–133, hier S. 128. 2 Ebd., S. 111; zum Folgenden vgl. ebd., S. 112–124.

272 | Nachfolge bis in den Tod ligen; hier offenbart sich die Heiligkeit der Protagonisten in ihrer Nähe und Kontakt zur transzendenten Macht. Am Ende steht der Tod, oft erst nach Einwilligung der Gemarterten oder Gottes Gebot; in den meisten Fällen, da alle anderen Methoden versagen, durch Enthauptung. Während die Folterer und die ungerechten Ankläger oftmals einen elenden Tod erleiden, sich bisweilen die Folterwerkzeuge auch gegen sie richten, ist der Leichnam der Märtyrer so von Heiligkeit erfüllt, dass er gerade nicht die üblichen Zeichen des Todes erkennen lässt, der transzendente Status zeigt sich vielmehr in Unverwestheit, süßem Duft u.a.m. Die Reliquien erweisen selbst ihre Wunderkraft, und zahlreiche Mirakel wissen von postumen Wundern am Grab des oder der Heiligen zu berichten, die durchaus auch noch gegenwärtig immer wieder persönlich auf Erden auftreten können. Einem ähnlichen schematischen Aufbau, wie er hier in Erweiterung des von Edith Feistner erarbeiteten Basisnexus (vgl. Kap. 1) skizziert worden ist, folgen mit gewissen Variationen fast alle Märtyrerlegenden. Entscheidend ist jedoch, wie dieses Handlungsmuster im einzelnen umgesetzt wird, um – bei gleichem Aufbau, begrenztem Motivrepertoire und serieller Anlage – die Heiligkeit der einzelnen Protagonisten zu inszenieren. Der deutlichste Heiligkeitserweis aller Märtyrer ist dabei ihre Standhaftigkeit, die sie trotz größter Foltern nicht von ihrem Glauben abkommen lässt. Es ist gerade ihr Leiden und ihre Leidensfähigkeit, die sie ausgerechnet im Tod erhöht, der dadurch für sie zum Leben, und zwar zum ewigen Leben, wird, worin sich besonders eindringlich der ambige Charakter von Heiligkeit zeigt. Daher sind nicht die Varianten eines immergleichen Schemas herauszuarbeiten, und erst recht nicht die darin verarbeiteten Motive (denn damit käme man über eine phänomenologische Beschreibung nicht hinaus), sondern vielmehr die oben (Kap. 5) beschriebenen Analysekriterien – spezifische Umschlagsmomente, insbesondere aber jene Spannungsfelder und Ambiguitäten, die Heiligkeit nicht zuletzt in ihrer narrativen Entfaltung kennzeichnen – auf der Folie der imitatio Christi zu betrachten, welche, wie bereits die Analysen des 4. Kapitels gezeigt haben, als wesentliches Element hagiographischer Erzählungen gelten kann. Ganz besonders kann dabei das Leiden und Sterben der Märtyrer im Nachvollzug des Kreuzestodes Jesu als wohl herausragendstes Kriterium gelten, Heiligkeit narrativ zu ‚produzieren‘.3 Der Nachvollzug von Leiden und Sterben Christi wird bereits seit dem Urchristentum als besonders wertvolle Form der imitatio betrachtet. „Das Martyrium macht den Märtyrer christusförmig: Wie Christus wird er als Opfer hingegeben.“4 Dies liegt nicht nur daran, dass es diese Märtyrer nicht nur beim Wortzeugnis belassen, d.h. als Zeugen (gr. mavrtu") das Wort Gottes nicht nur nach außen hin vertreten, sondern es auch – wie der wichtigste Zeuge Jesus – bis in den Tod hinein und selbst || 3 Anders verhält es sich mit der meditativen compassio, die imitatio nicht als Nachvollzug, sondern vielmehr als eine memoria passionis versteht. Zur Bedeutung dieser Form der imitatio für das Passional vgl. Kap. 3.2.3. 4 GEMEINHARDT, Die Heiligen, S. 21.

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angesichts höchster Qualen bekennen.5 Denn die Blutzeugenschaft als Nachvollzug des Leidens Jesu ist vor allem deshalb von entscheidender Bedeutung, weil der Kreuzestod das (kulturell wie religiös) bedeutsamste Moment des Christentums ist, das das Verhältnis zwischen Gott und der Menschheit neu ordnet und in dem sich die christliche Religion erst gründet. „Der M[ärtyrer] stirbt nicht für eine bloße Idee, er stirbt mit jemandem, der schon vorweg für ihn gestorben ist.“6 Das Martyrium stellt in diesem Sinne eine zweite Taufe, eine Bluttaufe dar, und der Todestag des Märtyrers gilt in der liturgischen Verehrung als dessen eigentlicher Geburtstag. Für den Passionaldichter haben die Märtyrer wie für die gesamte christliche Kirche den Status besonderer Auserwähltheit, wie nicht zuletzt die mehrfache Bezeichnung des leidenden Christus als merterere im Rahmen der Passionsschilderung zeigt (s.o., Kap. 3.2.7). Die Märtyrerlegenden imaginieren daher nicht nur einen Nachvollzug des Kreuzestodes Christi, auf der paradigmatischen Ebene der Erzählung wird die heilsgeschichtliche Bedeutung dieses Kreuzestodes aufs Neue aktualisiert. So, wie Christi Tod die Menschen vom ewigen Tod erlöst und ihnen die Möglichkeit zum ewigen Leben schafft, wandelt der Märtyrer im Nachvollzug dieses Todes seinen eigenen Tod ebenfalls um in den Triumph des ewigen Lebens, das er mit der Märtyrerkrone erlangt. Insofern ist der Märtyrertod paradigmatisch also nicht nur Wiederholung, sondern Reaktualisierung, manifestiert sich doch dadurch auf besondere Weise die Heiligkeit Gottes in der Welt.7 Das Stigma der Wundmale, der Marter, schlägt um in das Charisma des Heiligen, wie es der Soziologe Wolfgang Lipp formuliert: Bedeutet Stigma einerseits Schuld, Verfallensein in Sünde – und bringen Charismatiker Erlösung: vergeben sie Sünden und strahlen sie Gnade aus –, impliziert das Phänomen zum anderen Defektivität, den Mangel an Vollkommenheit. Charisma, in das Stigma voropfernd um-

|| 5 Vgl. ANGENENDT, Heilige und Reliquien, S. 35ff., der auch darauf hinweist, dass „zum neutestamentlichen Begriff des Zeugen nicht notwendig das Martyrium“ gehört (S. 35); vielmehr entwickelt sich die Blutzeugenschaft als Signum der Heiligkeit und die Verehrung der Märtyrer erst in den folgenden Jahrhunderten (u.a. mit Origines). Zur religionsgeschichtlichen Entwicklung des Martyriumsgedankens vgl. Theofried BAUMEISTER, Die Anfänge der Theologie des Martyriums, Münster 1980. Vgl. auch ders., Die Entstehung der Märtyrerverehrung, in: Ders., Martyrium, Hagiographie und Heiligenverehrung im christlichen Altertum, Rom u.a. 2009, S. 260–268. 6 Manfred SCHEUER, [Art.] Martyrer, Martyrium IV/V, in: LThK 6, 1997, Sp. 1441–44, hier Sp. 1441. – Indes geht es im Folgenden nicht um die ideengeschichtliche Bedeutung des Martyriumsgedankens im Mittelalter, ebensowenig wie um die historische und theologische Entwicklung des Märtyrertums. Vgl. zu diesen Fragen grundsätzlich BAUMEISTER, Anfänge; zur religionsgeschichtlichen Entwicklung auch GEMEINHARDT, Die Heiligen, S. 18–24. Die folgenden Ausführungen befassen sich dagegen mit den literarischen Darstellungskonzepten, also mit der Frage, wie darüber erzählt wird; die diskursgeschichtlichen Implikationen sind hierfür zwar auch von Bedeutung, bedürfen aber keiner genaueren Ausführung. 7 Vgl. SCHEUER, [Art.] Martyrer, Sp. 1443: Der Märtyrer wird zum „‚Prototyp‘ des chr[istlichen] Heiligen“; andere Heiligkeitstopoi wie Askese oder Jungfräulichkeit gehen aus diesem Verständnis hervor.

274 | Nachfolge bis in den Tod schlägt, bringt Heil in dieser zweiten Hinsicht insofern, als es Ganzheit neu herstellt: Es geht weniger dabei auf alte, immer verlorene Vollkommenheit, als auf Unvollkommenheit zu, die es aktuell antrifft; eben sie verklärt es zu reifer, in sich selber geltender Fülle, zu lebendigem Heil. […] Heilige aber, Heilbringer: das sind Figuren, durch die, an und in denen sich […] Unvollkommenheit in Vollkommenheit vollendet.8

Damit aber muss sich die narrative Darstellung mit jenen Ambivalenzen auseinandersetzen, die mit der Vergegenwärtigung von Heiligkeit stets einhergehen: dem Umschlagen von Unvollkommenheit in Vollkommenheit, von Immanenz in Transzendenz.9 Die Überlegungen zur Basisopposition von Stigma und Charisma im vorangegangenen Kapitel (5.2) haben gezeigt, dass sich bereits in der ‚Urszene‘ des christlichen Martyriums, dem Kreuzestod Christi, ein Spannungsverhältnis zwischen zerstörtem, stigmatisiertem Körper offenbart, der zugleich ein als charismatisch, als heilig Herausgestellter ist, wie nicht zuletzt die kultische Kreuzesverehrung des Christentums eindrucksvoll unter Beweis stellt. In einem ersten Schritt soll im folgenden Abschnitt daher zunächst dargelegt werden, auf welche Weise die imitatio Christi im Martyrium inszeniert wird, um sodann die literarischen Darstellungsstrategien, die derartige narrative Symbolisierungen erfordern, zu erläutern, wobei insbesondere die Körperkonzepte, die dem oben dargelegten Spannungsverhältnis unterliegen, von Bedeutung sind. Dies soll möglichst allgemein gehalten und nur unter ausschnitthafter Heranziehung einzelner Legenden(motive) erarbeitet werden, um in einem zweiten Schritt anhand exemplarischer Fallstudien die dargestellten Konzepte – auch über Martyriumsdarstellungen hinaus – in Einzelanalysen zu erproben. Für die Mehrzahl der bisher besprochenen Legenden lag der Aspekt der Nachfolge Christi im Nachvollzug seiner Leiden im Martyrium; imitatio Christi bedeutet dort vor allem eine bisweilen fast mimetische Nachahmung des Kreuzestodes. Imitatio kann sich darüber hinaus nicht nur auf den Tod, sondern auch auf einzelne Lebensbereiche beziehen. Andreas’ Wunderwirken spiegelt die Wunder Christi wider, die heiligen Jungfrauen partizipieren mittels der Tugend der Virginität an der Heiligkeit Jesu und Marias. Dennoch ist es der Tod im Martyrium, der bei allen diesen Figuren als das eigentliche Moment der Heiligung Geltung erlangt und der das Zentrum der Erzählung bildet; die imitatio des Kreuzestodes schafft die größtmögliche Nähe zu Gott, so dass alles, was davor oder danach erzählt wird, die sich hierin offenbarende Heiligkeit nur bestätigt. Es zeigt sich jedoch, dass gerade für die Legenden des dritten Passionalbuches Christusnachfolge und der Nachvollzug des Kreuzestodes auch ohne ein Martyrium möglich ist: Dem Martyrium an die Seite gestellt wird die Tugend der Askese, um in anderer Form die Nachfolge Christi zu verwirklichen. Durch Verzicht auf die Welt

|| 8 LIPP, Stigma und Charisma, S. 226. Vgl. zu diesem Komplex ausführlich oben, Kap. 5.2. 9 Vgl. zu den Umschlagformen LIPP, Stigma und Charisma, S. 268–270.

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und Versenkung ins Gebet soll eine Distanzierung von der Immanenz (und damit auch von allen weltlichen Sünden) und eine Hinwendung zur Transzendenz erzielt werden; das ‚Absterben‘ weltlicher Bedürfnisse führt dann zu einer Teilhabe an der Auferstehung Christi.10 Schon dem Frühchristentum stellte sich bald die Frage, ob es – zumal nach dem Ende der Christenverfolgungen – neben dem blutigen auch ein unblutiges Martyrium geben könne. Bereits bei Origines erfuhr das Martyrium dadurch eine entscheidende Umdeutung als geistliches, spirituelles Martyrium, das seinen ersten bedeutenden hagiographischen Ausdruck in der Antonius-Vita des Athanasius fand, in der die Anfechtungen des Einsiedlers in der Wüste, sein Kampf mit den Teufeln und seine schier übermenschliche Askese als Martyrium gedeutet werden.11 In der westlichen Kirche ist hier vor allem die Vita Martins von Tours des Sulpicius Severus beispielgebend für solch ein martyrium sine cruore, wobei Sulpicius seinem Heiligen nachsagt, er hätte ein blutiges Martyrium zu keinem Zeitpunkt gescheut, indes habe es an Verfolgern gefehlt. Hier wird klar, dass die Askese als eine Art spiritueller Abtötung des Fleisches und seiner als sündhaft aufgefassten Bedürfnisse an die Stelle des tatsächlichen Blutvergießens tritt, wobei dem blutigen Martyrium als Sühneleistung auch im Mittelalter noch stets der Vorzug gegeben wird.12 Etabliert in der mittelalterlichen Geistesgeschichte haben diese Vorstellung nicht zuletzt Isidor von Sevilla und besonders Gregor der Große, der in seinen Homilien ausdrücklich von zwei Formen des Martyriums spricht, dem der Wirklichkeit und dem der Absicht, von einem körperlichen Martyrium und einem geistigen, einem roten und einem weißen.13 Die imitatio Christi ist dabei nicht nur für die leiblichen, sondern auch für die Märtyrer des Geistes entscheidend. Auch der „asketische Tod“14 wird in Analogie zum christlichen Opfertod gesetzt und führt wie der blutige Märtyrertod zu einer zweiten Taufe, die wie bei den Blutzeugen Auferstehung und Christoformitas nach sich zieht.15 In diesem Sinne ist das Moment der imitatio also auch für Bekennerviten konstitutiv, und es ist daher zu fragen, auf welche Weise sich dies in hagiographischen Erzählungen niederschlägt. Dafür sollen an dieser Stelle ganz bewusst nicht jene Viten herangezogen werden, die in diesem Zusammenhang immer wieder genannt werden, wie z.B. die des Antonius (die ohnehin nicht im Passional enthalten || 10 Vgl. Jean LECLERQ, [Art.] Askese, in: LexMA 1, 1980, Sp. 1112–1115, hier Sp. 1113. 11 Vgl. HÖRNER, Spiritualisierung, S. 331f.; zu Antonius vgl. in diesem Zusammenhang auch Nikolaus LARGIER, Medialität der Gewalt. Das Martyrium als Exempel agonaler Theatralisierung, in: Manuel BRAUN u. Cornelia HERBERICHS (Hg.), Gewalt im Mittelalter: Realitäten – Imaginationen, München 2005, S. 273–291, hier S. 280; GEMEINHARDT, Antonius, S. 58–61. 12 Vgl. ANGENENDT, Sühne, S. 218. ANGENENDT betont vor allem den Aspekt der Sühne als treibende Kraft der spätantiken und mittelalterlichen Martyriumssehnsucht. Die zentrale Passage von Sulpicius Severus findet sich bei BAUMEISTER, Genese, S. 182–185 (Nr. 61). 13 Vgl. LARGIER, Medialität, S. 278, mit einschlägigen Zitaten Gregors. 14 HÖRNER, Spiritualisierung, S. 335. 15 Vgl. ebd., S. 335–337.

276 | Nachfolge bis in den Tod ist), des Martin oder des Franziskus. Denn es geht dieser Untersuchung nicht um den Nachvollzug der ideengeschichtliche Entwicklung vom roten zum weißen Martyrium, sondern um die narrative Umsetzung einer solchen imitatio, gerade im Hinblick auf das im ersten Buch präsentierte Jesus- und Marienleben. Darum soll die Analyse unterschiedlicher Märtyrerlegenden des dritten Buches zuletzt durch die Untersuchung der Vita der heiligen Martha ergänzt werden. Ihre Legende verkörpert in geradezu idealtypischer Weise den geistigen Nachvollzug des Märtyrertums durch die Bekenner, wie sie die Viten des dritten Passionalbuches darstellen. Es ist also eine andere Form des ‚Mit-Leidens‘, als sie im Märtyrertod erscheint; die Martha-Legende zeigt darüber hinaus, dass auch für diejenigen, die gerade nicht den Märtyrertod sterben, der Nachvollzug des Kreuzestodes und die imitatio Christi literarisch produktiv gemacht werden kann. Demgegenüber zeigen die Legenden von Ignatius, Adrian, Agnes und Agatha auf verschiedene Weise, wie die Legenden das Martyrium als Generator von Heiligkeit narrativieren. Zuvor jedoch ist es notwendig, einige grundlegende Überlegungen zum Martyrium und den Eigenarten der Märtyrerlegende voranzustellen, in einem weiteren Schritt auch noch zu dem diese Legenden und ihre Aktanten beherrschenden Körperkonzept.

6.1.1 Die Verwirklichung der imitatio Christi in den Märtyrerlegenden Der Aufruf, Christus nachzufolgen, richtet sich nicht alleine an die Apostel (die diesem aber mit besonderer Hingabe nachkommen), sondern an alle Christen; sie bis in den Tod zu erfüllen zeichnet daher die Märtyrer als ‚Prototypen‘ der Heiligen aus. Als ein solcher gilt der hl. Stephanus, dessen Tod für den christlichen Glauben bereits in der Bibel thematisiert wird und der daher als der erste christliche Märtyrer verehrt wird.16 Die narrative Vergegenwärtigung einer solchen Nachfolge Christi in der Hagiographie ist daher ebenfalls stark an dem Vorbild Jesus Christus ausgerichtet; die imitatio Christi der Heiligen ist auch literarisch eine imitatio, die Topoi und Motive, Bilder und Sprachgebärden, Erzählkerne und Handlungsmuster werden vielfach aufgenommen, übertragen oder gar überboten. Aus diesem Grund legt das Passional auch so großen Wert auf die ausgedehnte Darstellung des Passionsgeschehens im ersten Buch, da diese als Folie für die Inszenierung von Heiligkeit in den nachfolgenden Büchern gelten kann. Wiederum geht es hier jedoch nicht darum, die rhetorischen Grundlagen einer derartigen tractatio zu beschreiben,17 sondern um die Vorbildhaftigkeit und Exemplarizität des christlichen Heilsgeschehens und || 16 Genau so führt ihn das Passional auch gleich in den ersten Versen seiner Legende ein: Stephanus der gotes helt/ zu den eren ist erwelt,/ daz er nach grozer swere/ der erste merterere/ nach unserme herren si genant (III 37, 1–5). 17 Vgl. dazu etwa Alexandru N. CIZEK, Imitatio et tractatio. Die literarisch-rhetorischen Grundlagen der Nachahmung in Antike und Mittelalter, Tübingen 1994.

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seiner narrativen Umsetzung: ersteres als ideengeschichtlich-theologisches, letzteres als ‚literarisch-narratologisches‘ Modell, welche die Hagiographie und insbesondere die Märtyrerlegenden bestimmt. Auf welche Weise dieser imitatio-Gedanke und die Reaktualisierung der Heilsgeschichte (Kreuzestod und Auferstehung) im Märtyrertod das hagiographische Erzählgut prägt, lässt sich beispielhaft an zwei Legenden verdeutlichen, ohne dabei eine vollständige Analyse, wie sie im Rahmen der Einzeluntersuchungen anschließend geleistet wird, zu bieten; die folgenden Ausführungen dienen vielmehr einem ersten Überblick. Es handelt sich um die verhältnismäßig kurze Longinus-Legende – sie umfasst im Passional nur etwa 180 Verse – sowie die Legende der hl. Lucia.18 Longinus wird mit jenem römischen Hauptmann identifiziert, der dem gekreuzigten Jesus den Speer in die Seite gestoßen und sich nach dessen Tod bekehrt hat. Das vom Speer herabrinnende Blut Christi nämlich, so erzählt es die Legende, habe die schwachen Augen des Hauptmanns geheilt, und dieses Augenöffnen wird (eine in der Hagiographie immer wiederkehrende Metapher) auch als inneres Augenöffnen verstanden, denn Longinus findet dadurch zum Glauben. Longinus partizipiert als an der Kreuzigung Beteiligter direkt am zentralen christlichen Heilsgeschehen, und die Wirkungsdimension des Kreuzestodes eröffnet sich ihm unmittelbar: Das Blut Christi, das von der Erbsünde befreit und das ewige Leben verspricht, entfaltet direkt seine Heilswirkung, nicht nur in geistiger, sondern auch in physischer Hinsicht. Diese unmittelbare Partizipation an der christlichen Heilsgeschichte lässt Longinus auch an der Heiligkeit Christi partizipieren; er wird geheilt, bekehrt sich und führt einige Jahre lang ein eremitisches Dasein. Die Nachfolge Christi bedeutet immer auch einen Abschied von der Welt (s.o., Kap. 5.1), und so exkludiert sich Longinus zunächst von der übrigen Gesellschaft, eine Exklusion, die schließlich zu einer unmittelbaren Christusnachfolge und damit zum endgültigen Abschied von der Welt führt: Longinus wird als Christ angeklagt und weigert sich, den Abgöttern zu opfern. Auch das Herausreißen der Zunge kann ihn nicht daran hindern, Gott weiter zu loben: Erfüllt von der göttlichen virtus spricht nun quasi Christus selbst aus ihm, wofür er keine Sprechwerkzeuge benötigt. Nachdem der Heilige auch die Götzenbilder zerschlägt, verliert sein heidnischer Richter selbst das Augenlicht, woraufhin ihm Longinus verspricht, er könne Gott für dessen Gesundung bitten, unz so hin zu der || 18 Zur Gestaltung der Longinusfigur und der damit verbundenen Legendentradition vgl. Carla DAUVEN-VAN KNIPPENBERG, ...einer von den Soldaten öffnete seine Seite... Eine Untersuchung der Longinuslegende im deutschsprachigen geistlichen Spiel des Mittelalters, Amsterdam 1990, S. 11–19; zur Kult- und Verehrdungsgeschichte der hl. Lucia vgl. Cynthia HAHN, Icon and narrative in the Berlin life of St. Lucy (Kupferstichkabinett MS 78 A 4), in: Robert OUSTERHOUT u. Leslie BRUBAKER (Hg.), Sacred Image East and West, Urbana/ IL 1995, S. 72–90, hier S. 77ff. Zu einer etwas ausführlicheren Analyse beider Legenden vgl. an anderer Stelle Andreas HAMMER, Ent-Zeitlichung und finales Erzählen in mittelalterlichen Legenden und Antilegenden, in: Udo FRIEDRICH et al., Anfang und Ende – Kausalität und Finalität. Formen narrativer Zeitmodellierung in der Vormoderne, Berlin 2013, S. 179– 204, hier S. 182–184 u. 187f.

278 | Nachfolge bis in den Tod stunt,/ daz ich zu tode bin erslagen (III 216, 92f.). Longinus wird enthauptet und der Richter fällt vor seinem Leichnam betend auf die Knie. Die von Longinus erbetene Hilfe trifft sofort ein; der Richter kann wieder sehen und bekehrt sich zum Christentum. In extremer Verdichtung zeigen sich hier sämtliche Merkmale einer Märtyrerlegende; der Basisnexus ist ergänzt durch eine knappe Vorgeschichte und eine Schilderung des ersten Wunders, das der Heilige nach seinem Tod erwirkt. Die Handlung ist syntagmatisch aufs Martyrium ausgerichtet und weist einen deutlich finalen Aufbau auf: Longinus weiß bereits im Vorfeld, dass er mit seinem Tod eine Fürsprecherfunktion in der Gemeinschaft der Heiligen erhalten wird; sein Tod ist somit narrativ notwendig, damit er als Märtyrer und Heiliger künftig angebetet werden und Heilungswunder wirken kann. Vor allem jedoch ist die Legende eine Erzählung der Nachfolge: Longinus stirbt in imitatio des Kreuzestodes, an dem er selbst partizipiert hat, und auf gleiche Weise partizipiert er mit seinem Tod an dessen Heilswirkung.19 Mit der Aufnahme in die communio sanctorum kann er durch seine Fürbitte seinerseits das gleiche Heil erwirken, das er beim Kreuzestod Jesu selbst erfahren hat (das Augenlicht wiedergeben und zum Glauben führen). Er wird dadurch selbst eine Imitatiofigur, dessen Vorbildhaftigkeit im Glauben weitere Heiligungen und Heilungen hervorbringt und ihrerseits zur weiteren imitatio aufruft.20 Genau diesen Nachfolgeaufruf, den die Legende ja nicht zuletzt auch an ihre Rezipienten heranträgt, thematisiert auch das Martyrium der hl. Lucia. Auch hier lässt sich eine deutlich finale Handlungsstruktur feststellen, da Lucia sich von Beginn an zu ihrem Glauben bekennt und auf einem Leben in Jungfräulichkeit beharrt. Keuschheit allerdings lässt sich vor allem als imitatio Mariae begreifen, jedenfalls wenn man die entsprechenden Erzählkonstellationen des Passionals im ersten Buch betrachtet. Lucias Heiligkeit erweist sich schon früh jedoch noch zusätzlich in einer andersgearteten Nachfolge-Situation: Sie pilgert an das Grab der hl. Agatha, von der sie sich eine wunderbare Heilung ihrer an Blutfluss leidenden Mutter erhofft. Während eines Gottesdienstes am Grab, bei dem das Evangelium der blutflüssigen Frau verlesen wird, erscheint Lucia jedoch die Heilige persönlich und fordert sie auf, nicht um Dinge zu bitten, die du wol von dir/ verlihen diner muter macht (III 26, 52f.). Lucias Vorbildhaftigkeit und Glaubensstärke hat die Heilung der Mutter bereits bewirkt, und damit tritt sie unmittelbar die Nachfolge der hl. Agatha an – zunächst in der Wunderkraft, später auch im Martyrium, das ganz parallel zu dem Agathas erzählt wird. Die Verkehrung der Reihenfolge (man sollte es eigentlich umgekehrt erwarten, dass nämlich zunächst das heilskräftige Ereignis des Martyriums eintritt und sich || 19 Vgl. auch SCHEUER, [Art.] Martyrer, Sp. 1443f. 20 Der Heilige stellt seinerseits ein Imitabile dar, indem er ein Vorbild zur imitatio Christi ist und darin zur Nachfolge, zur Wiederholung dieser imitatio aufruft und auf diese Weise Nachfolgemärtyrer erzeugt; vgl. STROHSCHNEIDER, Weltabschied, S. 147f. sowie FEISTNER, Typologie, S. 30.

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danach an Lucia bzw. ihren Reliquien die Heiligkeit in Heilungswundern erweist), offenbart die nicht an kausale, sondern finale Motivationen ausgerichtete Erzählstruktur der Legende. Wie Agatha weigert Lucia sich, mit einem heidnischen Mann verheiratet werden, bekennt sich statt dessen zum christlichen Glauben und zur Christusbrautschaft und soll, ebenfalls wie Agatha, in ein Bordell gesteckt werden. Dies misslingt jedoch, da niemand die Jungfrau von der Stelle zu bewegen vermag (ihre Standhaftigkeit konkretisiert sich in einem reellen Zustand), verschiedene Fol termethoden schlagen fehl, und sie stirbt erst, nachdem sie die Eucharistie empfangen hat. In Lucia zeigt sich imitatio also nicht allein als eine Christusmimesis, sondern als auf dem Vorbild einer anderen Heiligen beruhenden Nachfolge, an die die Legende auch erzählerisch angeglichen wird. Grundsätzlich partizipieren die Heiligen Jungfrauen über die imitatio an der Heiligkeit Jesu und Marias; diese Partizipation kann weitergereicht werden, womit die Legenden erneut ihren Nachfolgeaufruf an die Rezipienten unterstreichen.

6.1.2 Das Martyrium als Zeichensystem: Körperkonzepte der Märtyrerlegende Die Paradoxien, die die Manifestation von Heiligkeit und deren narrative Symbolisierung im Martyrium begleiten, erfordern Darstellungsstrategien, wie sie Hans-Jürgen Bachorski und Judith Klinger für die Märtyrerlegenden anhand eines spezifischen Körpermodells aus semiotischer und diskursgeschichtlicher Perspektive entwickeln.21 Der den Martern ausgesetzte Körper des Heiligen kann demnach als Zeichenträger der Heiligkeit fungieren: In semiotischer Perspektive steht die Legende vor dem praktischen Problem, ein Abstraktum, nämlich das Heilige oder die Heiligkeit, ganz konkret und sinnlich prägnant zu demonstrieren. Als Zeichenträger für diese Demonstration dient der Heilige, […] als Zeichensystem fungiert das Martyrium mit seinen vielen sprechenden Details.22

Eine solche Semiotik der Figurenkörper setzt die Legendenprotagonisten in eine zeichenhafte Beziehung zu ihrer Heiligwerdung, deren Körper geradezu als ‚Schrifttafel‘ dient, in welche die göttliche Auserwähltheit gewissermaßen eingraviert wird; der Märtyrerkörper dient als Medium für die Repräsentation von Heiligkeit. Dabei lassen

|| 21 Vgl. Hans-Jürgen BACHORSKI u. Judith KLINGER, Körper-Fraktur und herrliche Marter. Zu mittelalterlichen Märtyrerlegenden, in: Klaus RIDDER u. Otto LANGER (Hg.): Körperinszenierungen in mittelalterlicher Literatur. Beiträge zum Kolloquium am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld (18.–20. März 1999), Berlin 2002, S. 309–333. Die Bedeutung des Körpers und des körperlichen Leidens in der Hagiographie betont auch Christine RUHRBERG, Der literarische Körper der Heiligen. Leben und Viten der Christina von Stommeln (1242–1312), Tübingen/Basel 1995, vgl. bes. S. 410–420. 22 Bachorski/Klinger, S. 314.

280 | Nachfolge bis in den Tod sich Bezüge zum vormodernen Bestrafungssystem erkennen, das mit seinen vielfältigen Foltermethoden dem Körper des Delinquenten nicht-verlöschende Zeichen eingräbt, um die verletzte Souveränität der Macht für alle sichtbar wiederherzustellen.23 Das Konzept, den gemarterten Körper gleichsam als Schrifttafel aufzufassen, wird in der mittelalterlichen Theologie vor allem auf den Körper Jesu am Kreuz übertragen.24 Es kann jedoch genauso für den Märtyrerkörper der mittelalterlichen Hagiographie gelten, mit dem Unterschied freilich, dass die Märtyrer in ihrer imitatio die Leiden Christi vielfach steigern und überbieten.25 Während es für das christliche Passionsgeschehen jedoch zentral ist, dass Jesus gerade alle Facetten des menschlichen Leidens durchlebt (das zeigen gerade die Darstellungen des ersten Buchs des Passionals),26 kann sich der Heilige den Foltern vielfach dezidiert widersetzen: Entweder bleibt er trotz größter Qualen und Verstümmelungen standhaft27 und kann sogar jetzt noch Gott loben und die Folterer verspotten,28 oder aber – und dies ist aus zeichentheoretischer Sicht besonders bedeutsam – die grausamen Wunden verschwinden sogleich wieder29 bzw. die Folterwerkzeuge sind von vornherein nicht in

|| 23 Vgl. ebd., S. 315f., mit Verweis auf Michel FOUCAULT, Überwachen und Strafen, Frankfurt a. M. 1976 sowie Richard VAN DÜLMEN, Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der Frühen Neuzeit, München ³1988. 24 Vgl. Urban KÜSTERS, Der lebendige Buchstabe. Christliche Traditionen der Körperschrift im Mittelalter, in: Horst WENZEL et al. (Hg.): Audiovisualität vor und nach Gutenberg. Zur Kulturgeschichte der medialen Umbrüche, Wien 2001, S. 107–117; ders., Narbenschriften. Zur religiösen Literatur des Spätmittelalters, in: Jan-Dirk MÜLLER u. Horst WENZEL (Hg.), Mittelalter. Neue Wege durch einen alten Kontinent. Stuttgart/Leipzig 1999, S. 81–109. KÜSTERS führt diskursgeschichtlich u.a. Bonaventura und Cäsarius von Heisterbach an. 25 Ein eindrückliches Beispiel für eine solch metaphorische Körperschrift ist die bei Brent D. SHAW, Body/Power/Identity: Passions of the Martyrs, in: Journal of Early Christian Studies 4 (1996), S. 269– 312, hier S.306, zitierte Eulalia-Legende des Prudentius. 26 Vgl. auch BACHORSKI/KLINGER, Körper-Fraktur, S. 327: „Im Durchgang durch Mißhandlung und Hinrichtung demonstriert der Gottessohn, indem er das ganze Ausmaß des Schmerzes leidet, daß er tatsächlich ganzer Mensch ist.“ 27 Vincentius übersteht z.B. so viele Qualen, dass die Folterknechte sich immer neue Verstümmelungsmethoden bis hin zum Ausreißen der Eingeweide ausdenken müssen; Laurentius hilft ein Engel, die Foltern zu ertragen, so dass er sogar seine Peiniger anstachelt, ihn auf den glühenden Rost zu legen; Agatha verweigert gar den Ärzten die Behandlung ihrer Wunden etc. 28 Christina lobt selbst mit ausgerissener Zunge noch Gott, ebenso Longinus; Lucia kann auch nach der Folter durch Pech, Feuer und Schwert weiterhin Gott preisen, auch der Apostel Andreas predigt noch am Kreuz, und in der Pauluslegende predigt gar noch der abgeschlagene Kopf des Apostels weiter. In der Legende von Jacobus dem Zerschnittenen, die nur die Legenda aurea überliefert, wird sogar dezidiert die stückweise Verstümmelung des Heiligen beschrieben, der nach jedem Fingeroder anderem Körperglied, das ihm abgeschnitten wird, nur in ein weiteres Gotteslob ausbricht. 29 Sebastian wird mit Pfeilen regelrecht gespickt und für tot gehalten, taucht jedoch am nächsten Tag wunderbarerweise wieder auf; Agatha wird von Petrus persönlich geheilt, der ihr die abgeschnittenen Brüste wiedergibt.

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der Lage, den Heiligen zu verwunden.30 Anders als Jesus, der als sterblicher Mensch am Kreuz den Tod findet, können zahlreiche Märtyrer sich sämtlichen Hinrichtungsversuchen widersetzen und sterben erst, nachdem sie in ihren Tod eingewilligt haben oder von Gott explizit dazu aufgefordert werden.31 An ihnen versagt somit das Zeichensystem der Folterungen, da ihr Körper deren ‚Schriftzeichen‘ gerade nicht annehmen will: Zeichentheoretisch wird hier ein Paradoxon inszeniert, das dem ideologischen Konstrukt einer abstrakten Qualität – der Heiligkeit – in physischer Manifestation in nichts nachsteht: Die Heiligkeit wird den Heiligen in spe auf den Körper geschrieben, doch sie manifestiert sich gerade darin, daß der Körper diese Schrift nicht annimmt, daß sie auf ihm schneller verblaßt, als sie geschrieben werden kann.32

Vor allem zeigt sich die Auserwähltheit des Heiligen, seine göttliche Ergriffenheit, indem die herkömmlichen Zeichen für den Märtyrer umgedeutet werden: Für Lucia ist z.B. das heiße Blei wie lauwarmes Wasser, ebenso für Primus, der es sogar trinkt; spitze Scherben wirken bei Vinzenz wie zarte Blumen, Gorgonius und Dorotheus empfinden den heißen Bratrost gar wie ein weiches Blumenbett usf. So ließen sich noch zahlreiche weitere Beispiele zusammentragen, nicht allein solche, die eine gesonderte körperliche Leidensfähigkeit der Heiligen präsentieren, sondern auch die der Wahrnehmung der Umstehenden, wenn etwa statt Blut Milch aus den Wunden fließt.33 Hier zeigt sich bereits zeichenhaft ein Umschlagen vom Stigma ins Charisma, das den Umschlag vom leidenden Märtyrer zum verehrungswürdigen Heiligen bereits vorwegnimmt. Vor allem in der Schmerzunempfindlichkeit, die die Heiligen bisweilen dazu führt, ihre Folterer sogar noch anzutreiben, scheint sich eine regelrechte Negierung der Körperlichkeit zu erweisen, die die Leib/Seele-Dichotomie der mittelalterlichen Klerikalkultur aufgreift. Doch im Martyrium findet weniger eine Distanzierung vom Körper statt, etwa in dem Sinne, dass die Materialität des Leibes nur beschwerliches Hindernis der Seele wäre. Vielmehr greift hier ein positives Körperkonzept, das des Auferstehungsleibes: Der Körper wird im Martyrium gerade nicht ausgelöscht, statt einer Trennung von Seele und Körper manifestiert sich im Kontakt mit der Transzendenz eine Art zweiter, unzerstörbarer und unverletzlicher Märtyrer|| 30 Bei Juliana hält ein Engel das Folterrad an; Christophorus trifft kein einziger Pfeil; wie bei ihm wendet sich auch bei Eufemia das Folterwerkzeug (ein Rad) gegen die Folterknechte; Eusebia kann weder ertränkt noch verbrannt werden, ebenso Cosmas und Damian, Vitus, Katharina, u.v.a. Hierin wird ein Konzept ersichtlich, für das Klaus ZWIERZINA den Begriff des ‚Märtyrers von unzerstörbarem Leben‘ geprägt hat, vgl. Klaus ZWIERZINA, Die Legenden der Märtyrer von unzerstörbarem Leben, in: Innsbrucker Festgruß von der philosophischen Fakultät, dargebracht der 50. Versammlung dt. Philologen und Schulmänner in Graz, Innsbruck 1909, S. 130–158, dazu ausführlicher unten. 31 So z.B. Blasius, Vitus, Lucia oder Christophorus. 32 BACHORSKI/KLINGER, Körper-Fraktur, S. 317. 33 Dieses nicht seltene Motiv findet sich u.a. beim Martyrium von Agatha, Katharina und Paulus sowie bei den sieben Frauen in der Legende des hl. Blasius.

282 | Nachfolge bis in den Tod körper. Solcherart von Gott regelrecht ‚besessen‘, zeigt sich im Märtyrerkörper bereits das Konzept des Auferstehungsleibes, der entkoppelt ist vom irdischen Leib.34 Dies zeigt sich ebenso in den Erscheinungsformen des gemarterten Leichnams und dem Umgang mit diesem. In den toten Körpern der Märtyrer manifestiert sich in einzigartiger Weise ihre Heiligkeit, die „Spur des Martyriums [macht] diese Leichname zum besonders geeigneten Medium sakraler Realpräsenz“35. Aus diesem Grund inszenieren zahlreiche Legenden ebendiese Merkmale auf besondere Weise: Sie stellen die Unversehrtheit bzw. Unverwesbarkeit des Leichnams heraus (gerade die incorruptio ist eine der wesentlichen Eigenarten des Auferstehungsleibes), der oftmals noch süßen Duft verströmt.36 Bisweilen finden die zertrennten Körperteile auf wunderbare Weise wieder zusammen, oder aber der Leichnam widersetzt sich allen Versuchen, ihn zu zerstören oder anderweitig zu beseitigen.37 Die Realpräsenz der Reliquien als außerordentliches Zeichen von Heiligkeit ist ein immer wiederkehrendes Motiv insbesondere der an die Legenden angehängten Mirakelberichte. All diese unterschiedlichen Topoi und Motive (mit Jolles gesprochen: ‚sprachliche Einzelgebärden‘) können und sollen hier nicht im Einzelnen besprochen werden, da ja nicht die phänomenologische Analyse im Vordergrund stehen soll, sondern die jeweiligen Phänomene in ihren erzählstrukturellen Kontext einzuordnen sind, um aus semiotischer Perspektive die literarischen Darstellungsstrategien von Heiligkeit zu erfassen. Da die Forschung bisher entweder überwiegend motivge-

|| 34 Vgl. BACHORSKI/KLINGER, Körper-Fraktur, S. 322f. Zum Konzept des Auferstehungsleibes vgl. unter diskursgeschichtlicher Perspektive insbesondere Caroline Walker BYNUM, The Resurrection of the Body in Western Christianity, 200–1336, New York 1995. SHAW, Body, S. 279f., sieht im Martyrium vor allem über die Tugend der hypermone, d.h. der passiven Leidensfähigkeit, mit der die Zeugenschaft des Märtyrers verbunden ist, die Herstellung einer solchen (Körper-) Identität. Diese Ideologie der hypermone werde, so SHAW, im Verlauf der Spätantike immer bedeutungsvoller (vgl. entsprechende Nachweise u.a. bei Clemens von Alexandria, Origines oder Johann Chrysostomos). Sie ist bereits bei Ignatius von Antiochia parallel zu den Leiden und der Leidensfähigkeit Jesu gesetzt und schon dort mit dem transzendenten Auferstehungsleib verbunden (vgl. ebd., S. 290). 35 BACHORSKI/KLINGER, Körper-Fraktur, S. 328. 36 Im Passional z.B. bei Gervasius und Protheus, bei Adrian, Stephanus oder Julianus (2). 37 Vgl. BACHORSKI/KLINGER, Körper-Fraktur, S. 324f. u. 327f. Von Translations-Wundern berichten zahlreiche Legenden (nicht nur solche von Märtyrern), besonders ausführlich sind sie u.a. bei Stephanus (wundersame Auffindung der Gebeine; die Reliquien des hl. Laurentius machen deutlich, dass Stephanus neben ihnen begraben werden soll), Augustinus (dessen Reliquien sich nicht bewegen lassen, wenn nicht eine Kirche über ihnen erbaut wird), oder Martin (dessen Gebeine eine derart auratische Kraft besitzen, dass selbst diejenigen geheilt werden, die gar nicht gesund werden wollen). Andere Legenden berichten von den vergeblichen Zerstörungsversuchen des Leichnams, z.B. die des Vincentius, dessen Gebeine von einem Raben bewacht werden und aus dem Meer zurückkommen, oder Clemens, dessen Leichnam ins Meer geworfen und unter Wasser aufgebahrt wird; die Apostel Jacobus und Bartholomäus erfahren eine wunderbare, göttliche translatio ihrer Reliquien, ebenso zeigt sich die Unzerstörbarkeit zumindest einiger Körperteile bei Johannes dem Täufer (der Kopf wird gesondert begraben, der Finger, der Jesus getauft hatte, bleibt unversehrt).

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schichtliche, phänomenologische Zugänge erarbeitet hat,38 oder einen eher kulturgeschichtlichen Abriss des Gesamtphänomens Martyrium bietet,39 sind die Überlegungen von Bachorski und Klinger für die Frage nach den Inszenierungsformen von Heiligkeit besonders fruchtbar, müssen jedoch weiter ausdifferenziert werden, um die in den Legenden verhandelten Körperkonzepte zeichentheoretisch mit der narrativen Inszenierung von Heiligkeit in Beziehung zu setzen. Auf diese Weise lassen sich unterschiedliche Modelle zur Erlangung von Märtyrerheiligkeit beschreiben, allerdings zunächst rein heuristisch; eine Überlagerung oder Koppelung dieser Modelle innerhalb der einzelnen Legenden ist durchaus möglich und erwartbar, sie soll mit dieser Ausdifferenzierung keineswegs in Abrede gestellt werden.40 Zu unterscheiden wäre demnach einerseits zwischen dem von Bachorski und Klinger beschriebenen Körpermodell, an dem das Zeichensystem des Martyriums geradezu versagt, da der Körper die ihm eingeprägten ‚Schriftzeichen‘ nicht annehmen will; dieses Modell korreliert mit dem von Zwierzina geprägten Begriff des Märtyrers von unzerstörbarem Leben. Hier wäre nochmals zu differenzieren in solche, die von vornherein nicht verwundet werden können, an denen also das Zeichensystem gar nicht erst anwendbar ist, und jenen, deren Verwundungen sofort wieder restituiert werden, an denen – zeichentheoretisch gesprochen – also die Schrift sogleich wieder gelöscht wird, bis hin zu solchen Beschreibungen wie vom hl. Georg, der in manchen Versionen seiner Legende gleich mehrfach von Gott wieder zum Leben erweckt wird, um das Martyrium weiter fortsetzen zu können. Auf der anderen Seite ist jedoch ein Modell zu beschreiben, das die grausamen Verletzungen und Verstümmelungen geradezu ausstellt und in einer mitunter nahezu pervers anmutenden Drastik ausmalt. Hier nimmt der Körper die Schriftzeichen demonstrativ und auf dauerhafte Weise an, stellt sie zur Schau, ja seine Wunden werden, wie die fünf Wunden Christi auch, gefeiert: Der Märtyrer wird als von Gott Stigmatisierter wahrgenommen.41 Während also die göttliche Auserwähltheit im ersten Falle dadurch gezeigt wird, dass die Zeichen der Folter gerade versagen und eben nicht dem Märtyrerkörper eingeschrieben werden können, werden die Ausnahmequalitäten der Heiligen im zweiten Falle herausgestellt, indem die Zeichen an ihren Körpern dauerhaft festgeschrieben werden und damit ihre „scheinbar unendliche Leidensfähigkeit für Gott offensichtlich und für alle visuell nachvollziehbar“ gemacht wird.42

|| 38 Vgl. gerade die Arbeiten Hyppolyte DELEHAYES (Die hagiographischen Legenden, Kempten 1907; Les passions des martyrs et les genres littéraires, Brüssel 1921). 39 Vgl. z.B. Andreas KRAß u. Thomas FRANK, Tinte und Blut. Politik, Erotik und Poetik des Martyriums, Frankfurt a. M. 2008. 40 Vgl. zum folgenden grundsätzlich die Vorüberlegungen von Stephanie SEIDL, Blendendes Erzählen, S. 25ff. 41 Vgl. nochmals LIPP, Stigma und Charisma, S. 224–227. 42 SEIDL, Blendendes Erzählen, S. 26. SEIDL spricht in dem Zusammenhang von ‚gelöschter‘ und ‚konservierter‘ Verwundung.

284 | Nachfolge bis in den Tod Illustrieren lassen sich diese Körpermodelle an den Martyriumsberichten des Vitus und des Vincentius, wie sie das Passional darlegt, das sich in seiner Schilderung wiederum sehr eng an der Legenda aurea anlehnt. Vitus erleidet schon als Zwölfjähriger das Martyrium, seine Heiligkeit wird jedoch bereits durch eine Reihe von Wundern zuvor bestätigt.43 Im Zuge des Martyriums erweist sich die ‚heilige Aura‘ des Jungen als so stark, dass jeder Folterversuch fehlschlägt, sie strahlt sogar noch auf Vitus’ Erzieher Modestus aus, der mit ihm gemartert werden soll. Die beiden werden in Ketten gelegt und in den Kerker geworfen, dort jedoch erweist sich die Hilfe Gottes, die er sinen vrunden in der not gewährt (III 304, 28), denn die Ketten fallen von ihnen ab und ein glänzendes Licht erfüllt den Kerker. Weder kann den beiden ein Feuerofen etwas anhaben (do quam in aber zu sture/ got in demselben vure; III 304, 41f.), noch ein wilder Löwe, der beim Anblick der beiden demütig seinen Kopf senkt und fortgeht. Als sie zuletzt an den Armen aufgehängt und geschlagen werden, ereignen sich ein Gewittersturm und ein Erdbeben (ähnlich der Begleiterscheinungen bei Jesu Tod), und ein Engel entrückt die Heiligen. Erst jetzt, an einem sicheren Ort, geben sie ihren Geist unter Lobpreisungen auf. Diese knappe Zusammenfassung zeigt deutlich, wie sich die göttliche Auserwähltheit des Heiligen in jenem besonderen Körperkonzept manifestiert, wie es Bachorski und Klinger beschrieben haben: Die Zeichen der Marter und der Folterungen bleiben nicht am Körper des Heiligen haften, es ist immer wieder Gott, der helfend eingreift und dafür sorgt, dass das Zeichensystem des Martyriums versagt. Vitus ist schon zuvor so sehr von Heiligkeit erfüllt, dass er diverse Heilungswunder vollbringen kann, jetzt zeigt sich die Ambiguität der Heiligkeit auf prägnante Weise: Indem die Folterer sich an einem fast schon der Transzendenz verhafteten Körper (der Widerspruch ist hier bewusst gesetzt) vergreifen wollen,44 versagen alle der Immanenz verhafteten Zeichen und Zeichensysteme. Der Heilige bleibt unversehrt und kann mit weltlichen Mitteln nicht mehr ‚gezeichnet‘ werden. Daran zeigt sich der ambige Status von Heiligkeit: Die Unversehrtheit selbst ist durchaus beobachtbar, das Heilige wird sichtbar gemacht gerade dadurch, dass nichts (keine Wunde etc.) zu sehen ist.45 Inszeniert wird diese Unzerstörbarkeit als wiederholtes göttliches Eingreifen, als Hineinragen der Transzendenz in die Immanenz. Das hier dargelegte, quasi ‚trans-

|| 43 Richtern und Folterknechten verdorren die Hände, als sie ihn schlagen wollen, sein Vater erblindet, als er Vitus in Gesellschaft von sieben feurigen Engeln sieht; der Junge kann jeden im Namen Christi heilen, sogar den besessenen Sohn des Kaisers Diokletian. Auf der Flucht vor den Häschern werden Vitus und sein Erzieher Modestus außerdem lange Zeit von einem Adler auf hoher See mit göttlicher Speise ernährt – all dies sind Erzählbausteine, die die Auserwähltheit des künftigen Heiligen bereits herausstellen, welche sich dann endgültig im Martyrium erweist. 44 Vgl. die Überlegungen zum Auferstehungsleib von BACHORSKI/KLINGER, Körper-Fraktur, S. 322f. Vgl. auch BYNUM, Resurrection, S. 46. 45 Mit STROHSCHNEIDER könnte man an dieser Stelle auch von der Darstellung der Nichtbeobachtbarkeit des Heiligen sprechen. Vgl. STROHSCHNEIDER, Textheiligung, S. 117f.

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zendente‘ Körperkonzept geht sogar soweit, dass die Heiligen nicht von Menschenhand sterben können, sondern nur durch ihren bzw. göttlichen Willen.46 Anders verhält es sich beim Martyrium des Vincentius:47 Hier graben sich die Zeichen der Marter für alle sichtbar ein. Selbst für die durchaus nicht mit Details sparende Legenda aurea ist die Drastik der hier geschilderten Foltern ungewöhnlich; das Passional nimmt diese Einzelheiten z.T. noch verstärkt auf.48 Die Handlung setzt ohne Vorgeschichte direkt mit dem Basisnexus der Märtyrerlegenden ein: Vincentius wird (zusammen mit seinem Bischof Valerius) ins Gefängnis geworfen. In Erweiterung der Legenda aurea berichtet der Passionaldichter noch von einem Wunderzeichen, da die beiden im Kerker keinen Hunger leiden, denn Gott selbst sei ihre Speise, so dass sie ohne Hungermale und nach wie vor schone unde rot (III 120, 76) vor den heidnischen Richter treten. Damit erfüllt der Heilige nach außen hin sichtbar typisch höfische Schönheitsmerkmale,49 die im anschließenden Martyrium umso stärker mit seinen unzähligen Verstümmelungen kontrastieren. Auf dieses Spannungsverhältnis versehrt – unversehrt scheint der Passionaltext einen besonderen || 46 Ähnlich zu bewerten sind solche Fälle, in denen göttliches Eingreifen die durch Folter hervorgerufenen Wunden wieder restituiert, wodurch zeichentheoretisch gesehen die Schrift des Martyriums wieder gelöscht wird, wie es Stephanie SEIDL nicht zuletzt am hl. Georg beschreibt, konzeptuell ebenfalls an der Marter des hl. Sebastian: „Die Marterzeichen, die Sebastian während der Folterung eingeschrieben wurden und die gerade durch die im Körper verbliebenen Pfeile besonders deutlich markiert wurden, bleiben […] gerade nicht stehen, sondern werden rückgängig gemacht“ (SEIDL, Blendendes Erzählen, S. 27). Bei Vitus dagegen wird die ‚Schrift‘ nicht nur gelöscht, sie versagt von vornherein, indem sie überhaupt keine Spuren hinterlässt. 47 Zur Geschichte von Kult und Legende dieses Heiligen vgl. die grundlegende Studie von Victor SAXER, Saint Vincent diacre et martyr. Culte et légendes avant l’an mil, Brüssel 2002. 48 Vgl. auch Albert SCHIRRMEISTER, Folter und Heiligung in der Legenda Aurea. Frühchristliche Martern und spätmittelalterliche Körperkonzepte, in: Peter BUCHEL et al. (Hg.), Das Quälen des Körpers. Eine historische Anthropologie der Folter, Köln u.a. 2000, S. 133–149, der die Folterdarstellungen in den Martyriumsschilderungen der Legenda aurea ebenfalls auf die damit verbundenen Körperkonzeptionen überträgt; zur Vincentius-Legende vgl. bes. S. 138f. Vgl. auch Franziska HAMMER, Grausamkeit als Modus der Unterhaltung. Zur Funktionalisierung von Grausamkeit in den Folterszenen spätmittelalterlicher Passionsspiele und Heiligenlegenden, in: Mirjam SCHAUB (Hg.), Grausamkeit und Metaphysik. Figuren der Überschreitung in der abendländischen Kultur, Bielefeld 2009, S. 117-140, zu Vincentius vgl. S. 124f. 49 Die Farbe Rot steht in der geistlichen Allegorese u.a. für die Passion Christi wie auch für die Leiden der Märtyrer, vgl. Lexikon der Farbenbedeutungen im Mittelalter, hg. v. Rudolf SUNTRUP u. Christel MEIER, Köln u.a. 2011, S. 645–651 u. 665–672. Daneben aber ist Rot in der höfischen Dichtung stets ein eindeutiges Schönheitsmerkmal, insbesondere verbunden mit dem Mund (vgl. den roten Mund Condwiramurs im Parzival), dieser Topos begegnet auch in der Minnelyrik. Die Verbindung schone unde rot scheint genau auf diesen Zusammenhang hin- und gleichzeitig bereits aufs Martyrium vorauszudeuten: Vincentius hat seine höfische Schönheit nicht verloren, geht aber ein ins blutige Martyrium. Zur Verbindung der Farbe Rot mit höfischer Schönheit in Wolframs Parzival vgl. Andrea SCHINDLER, ein ritter allenthalben rôt. Die Bedeutung von Farben im Parzival Wolframs von Eschenbach, in: Ingrid BENNEWITZ u. Andrea SCHINDLER (Hg.), Farbe im Mittelalter. Materialität – Medialität – Semantik, Berlin 2011, S. 461–478, hier bes. S. 465f.

286 | Nachfolge bis in den Tod Akzent zu setzen, denn während Valerius lediglich verbannt wird, kommentiert der Erzähler den Beginn von Vincentius’ Martyrium: Vincencio wart gelonet/ mit vil ungevuger not! (III 121, 60f.). Es beginnt eine über mehrere hundert Verse reichende Beschreibung unterschiedlichster Foltermethoden, die in grausamen Einzelheiten ausmalen, wie der schöne Körper des Heiligen (dessen Jugend mehrfach erwähnt wird) immer stärker entstellt wird. Vincentius wird die Haut mit Geißeln zerfetzt, Haut und Fleisch bis auf die Knochen abgezerrt, er wird mit glühenden Kohlen auf einem Rost regelrecht gebraten und man bricht ihm schließlich die Rippen auseinander, wobei ausführlich beschrieben wird, wie die Eingeweide hervorquellen – um nur einige der brutalsten Details zu nennen. Und doch: Der Heilige ist nicht totzukriegen, statt dessen lobt er immer wieder Gott, für den er all diese Leiden mit Freuden auf sich nehme: minen kranken lichamen/ wil ich im opfern swie er wile (III 122, 28f.). Hier klingt jene Leibfeindlichkeit und Körperverachtung an, die auch Bachorski und Klinger immer wieder beobachten,50 doch anders als bei den Märtyrern von unzerstörbarem Leben geht es hier nicht um einen bereits transzendenten Auferstehungsleib, an dem das Zeichensystem des Martyriums versagen muss, sondern im Gegenteil um die Zurschaustellung der Leidensfähigkeit des irdischen Körpers, dessen Standhaftigkeit erst Voraussetzung für den Übergang in die Transzendenz ist. Vor dem Angesicht Gottes wird der Körper des Heiligen nicht mehr benötigt, darum redet Vincentius von seinem kranken lichamen, und doch ist es wichtig, ja entscheidend, dass sich an diesem Körper die Zeichen des Martyriums dauerhaft eingraben, denn damit wird aus dem höfisch-schönen Körper ein gezeichneter, stigmatisierter, ein heiliger Leib. Die Auserwähltheit des Heiligen macht der Passionaldichter (wiederum im Unterschied zur Legenda aurea) noch dadurch sichtbar, dass er dessen constantia mentis mehrfach als göttliches Wunder bezeichnet, denn es sei Christus zu verdanken, dass Vincentius diese Qualen überlebt habe: Der Glaube an und der Beistand durch Gott machte in aller sorgen vri (III 123, 86). Dieses buchstäbliche Hineinragen der Transzendenz führt zuletzt nicht nur zu einer veränderten Wahrnehmung, sondern zu einer direkten Verkehrung der Verhältnisse: Wenn Vincentius am Ende wieder in den Kerker und auf spitze Scherben geworfen wird, erfüllen Engel die Zelle mit Licht, und die Scherben sind für ihn alsam die blumen (III 124, 33), da er keinerlei Schmerzen leidet. Ja mehr noch: Die Scherben sind zuletzt zu Blumen geworden, als die Wächter, vom Engelsgesang alarmiert, nachsehen und nicht nur das wunderbare Licht, sondern auch der blumen smac (III 124, 54) wahrnehmen und sich daraufhin bekehren.51 Die Legende arbeitet den ganzen Text hindurch mit Gegensatzpaaren: Schönheit und Jugend – Verstümmelung und Tod, irdisches Leid – himmlische

|| 50 Vgl. BACHORSKI/KLINGER, Körper-Fraktur, S. 314, 321ff. 51 Die Legenda aurea vereindeutigt die Situation sofort: testarum asperitas in omnium florum suauitatem mutatur (LA 25, 51: die spitzen Scherben wurden verwandelt in zarte Blumen mancher Art).

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Freude, versehrter Körper – göttliche Lebenskraft. Es bleibt nicht bei einer veränderten Wahrnehmung des Heiligen, dem die Qualen, je größer sie sind, desto mehr Freude bereiten,52 die Gegensätze manifestieren sich zuletzt in der Realität des Textes: Das Dunkel des Kerkers wird Licht, die Scherben werden zu Blumen – und Vincentius, der erst nach Gottes Weisung stirbt (und zwar nun sunder not; III 125, 11), gelangt durch die entwürdigende Folter zu heiligen Ehren, über den Tod ins ewige Leben. Die Umkehrung ins Gegenteil, vom Stigma ins Charisma, setzt sich auch danach noch fort, wenn der Leichnam den wilden Tieren zum Fraß vorgeworfen werden soll, jedoch ein Rabe den Körper bewacht und ein Wolf ihm seine Referenz erweist – ausgerechnet Aastiere sorgen dafür, dass die Leiche unberührt bleibt.

6.2 Christus nachsterben: Die poetische Konzeption von Tod und Martyrium in den Legenden des dritten Buches Die Vorüberlegungen zu den unterschiedlichen Konzepten der imitatio und des Märtyrerkörpers illustrieren die Spannbreite der narrativen Umsetzung an ihren jeweiligen Polen. Longinus und Lucia bilden jeweils Extremformen der Nachfolge: Während der eine sein Leben einer radikalen Umkehr unterwirft, das in der Erzählung direkt zum Märtyrertod führt und somit die Nachfolge des Kreuzestodes antritt, ist das Leben der anderen von Beginn an Christus gewidmet. Lucias imitatio umfasst mit dem Motiv der Christusbrautschaft zum einen die Keuschheit Marias, die Nachfolge Christi tritt sie im Martyrium ebenfalls an. In beiden Fällen geriert sich Heiligkeit als Partizipation und Nachfolge, doch während Longinus diese unmittelbar, in der Begegnung mit Christus am Kreuz antritt und im Martyrium weitergibt, ist sie bei Lucia eine vermittelte: Die Vorbildhaftigkeit und Exemplarizität der heiligen Agatha geht auf Lucia über. Die unterschiedlichen Körperkonzepte, die an den Legenden von Vitus und Vincentius aufgezeigt wurden, spiegeln in gewisser Weise die zwei Naturen Christi wider, die göttliche, die ihn als Christus triumphans aller Qualen enthebt, und die menschliche, die ihn alles körperliche Leiden nachvollziehen lässt. Wichtig ist in allen Fällen die öffentliche Demonstration der Zeichen der Marter bzw. ihres Löschens vor den Augen aller, denn nur so kann die imitatio nicht nur beglaubigt, sondern auch selbst zum Nachfolgeaufruf werden. Erst dies, das öffentliche Bekenntnis wie das öffentliche Leiden, stellt den Zeugnischarakter des Martyriums tatsächlich her, so dass dem Märtyrer eine „doppelte Charakterisierung als Glaubenszeuge und Imitator“ zukommt.53 In der hier angedeuteten Radikalität findet sich dies jedoch nur in

|| 52 So die Auffassung von BACHORSKI/KLINGER, Körper-Fraktur, S. 323, zu dieser Stelle. 53 LARGIER, Medialität, S. 277. Den Aspekt der Öffentlichkeit des Martyriums betont auch Julia WEITBRECHT, Die magd nakint schowen/ Ir reinen lip zerhowen. Entblößung und Heiligung in Märtyrer-

288 | Nachfolge bis in den Tod den wenigsten Legenden. Vielmehr wird die ganze Spannbreite der hier vorangestellten Konzepte immer wieder aufs Neue ausgelotet, mit unterschiedlichen Akzentuierungen und nicht selten Koppelungen und Überlagerungen dieser (ohnehin eher heuristisch zu betrachtenden) Modelle. Basierend darauf beschäftigen sich die nun folgenden Einzelanalysen mit ausgewählten Legenden des dritten Buches, um zu zeigen, wie die hier vorgestellten Konzeptionen konkret verhandelt werden; zugleich sollen die Ergebnisse des 5. Kapitels zu den Basisoppositionen von Inklusion und Exklusion sowie Stigma und Charisma mit einbezogen werden. Im Fokus steht zunächst das Martyrium mit seinem spezifischen Körperkonzept, das als ideale Form der Nachfolge zur Geltung kommt, jedoch ebenfalls mit unterschiedlichen Akzentuierungen: Bei Ignatius die zeichenhafte Teilhabe an Christus, bei Agnes und Agatha die Bewahrung der Jungfräulichkeit und bei Adrian die Überblendung mit ritterlich-höfischen Darstellungsformen. Zuletzt soll mit der Martha-Legende dann eine Heilige betrachtet werden, die gerade kein Martyrium erleidet, aber in der Darstellungsweise ihres Todes (speziell im Passional) dennoch in besonderer Weise in der Nachfolge Christi steht.

6.2.1 Signifikant oder Signifikat? Die Körperschrift des Martyriums in der Ignatiuslegende Die narrativen Eigenarten, die für die Legenden des zweiten Buches beschrieben worden sind, gelten in ihrem Kern auch für den Großteil anderer hagiographischer Texte. Neben dem Martyrium als der intensivsten Form der imitatio sind diese Eigenheiten aber durchaus auch auf Bekennerheilige übertragbar, wie die Legenden von Johannes oder Franziskus gezeigt haben. Für die Märtyrerlegenden gilt, dass eine derart prominent hervorgehobene Gleichsetzung mit Christus, wie sie z.B. in der Andreasvita analysiert wurde, eher selten anzutreffen ist. Eine solche scheint auf einzigartige Weise mit der direkten, apostolischen Nachfolge der Jünger Jesu verbunden zu sein, die aufgrund ihrer Unmittelbarkeit zu Christus auch unmittelbar an seiner Heiligkeit partizipieren, was sich bei Andreas in der expliziten Gerichtetheit seiner Vita zur imitatio des christlichen Kreuzestodes ausdrückt. Im Gegensatz zu den Aposteln, die in direktem Kontakt zu Christus gestanden haben, ist eine vergleichbare Bedeutsamkeit den Heiligen des dritten Passionalbu-

|| innenlegenden, in: Stephan BIEßENECKER (Hg.), „Und sie erkannten, dass sie nackt waren.“ Nacktheit im Mittelalter, Bamberg 2008 (Bamberger interdisziplinäre Mittelalterstudien 1), S. 269–288, hier S. 277. Der Überlegung, die Märtyrerlegende ließe sich „eventuell als Narrativierung der gescheiterten, dem Heiligen nicht zugestandenen Weltabkehr bestimmen“ (ebd.), kann ich allerdings nicht ohne weiteres folgen, stellt doch der Tod die wohl radikalste Form der Weltabkehr dar. Entscheidend ist vielmehr ihre Aussage, „dass Heiligkeit hier über den Körper und vor einem Publikum sichtbar gemacht, gleichsam hergestellt wird“ (ebd., S. 279).

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ches nicht zu eigen, auch wenn diese gleichermaßen ihre Partizipation an der Heiligkeit Christi über eine imitatio insbesondere der Marter und der Leiden herstellen. Fallen jedoch schon bei der Andreaslegende (ähnlich beim Martyrium des Petrus) bei allen Parallelisierungen und Gleichschaltungen auch deutliche Absetzungstendenzen zum christlichen Kreuzestod auf (eine Hyperbolik der Leiden, antithetische Aufnahme bestimmter Darstellungselemente), um eine Differenz zur figura Christi und ihren Nachahmern zu setzen – denn Christus ist das Heilige, an dem die Märtyrer nur partizipieren, das sie aber nie selbst erfüllen können – so müssen jetzt, bei den nicht mehr unmittelbaren Nachfolgern, die Differenzierungen und Überhöhungen noch deutlicher markiert werden. Die Erzählungen bedienen sich anderer Mechanismen, wie sie eingangs beschrieben worden sind, sowohl für die Weiterführung des imitatio-Gedankens als auch im Rahmen bestimmter Körperkonzepte. Dies lässt sich an der Ignatius-Legende illustrieren, in der die Konkretisierung des Wortes den Nachfolgewillen des Heiligen über eine rein symbolhafte hin zur konkreten Heilsbedeutung überführt. Da sich Passional und Legenda aurea bis auf wenige Punkte entsprechen, genügt es, hier weitgehend den Passionaltext im Auge zu behalten und nur zu den wenigen Differenzen die Legenda aurea hinzuzuziehen. Das entsprechende Erzählprogramm macht das Passional bereits mit der Überschrift klar: Von sante Ignacio einem bischofe und einem marterere. Das Bischofsamt erfüllt Ignatius in der Nachfolge der Apostel, Märtyrer ist er in der Nachfolge Christi.54 Ignatius ist somit jemand, der nicht mehr in persönlichem Kontakt mit Christus gestanden hat, doch gilt er als Zögling des Apostels Johannes, des iunger was er manigen tac (III 161, 7); er ist sozusagen eine Generation weiter, ein Nachfolger der Apostel. Dementsprechend ist auch hier die Legende zweigeteilt: Der erste Teil der || 54 Zum von den Aposteln abgeleiteten bischöflichen Amtsverständnis vgl. Kenneth PENNINGTON, [Art.] Bischof, Bischofsamt, in: LexMA 2, 1983, Sp. 228–229. Ignatius von Antiochia (ca. 35–107 n. Chr.) gilt als einer der apostolischen Kirchenväter. Die ihm zugeschriebenen Briefe bieten theologiegeschichtliche Einblicke in das erste nachchristliche Jahrhundert, in dem sich bereits eine Form von institutionalisierter Amtsautorität der bischöflichen Gemeindeleitung herausbildet und das die Basis für eine Differenzierung zwischen Laien und Klerus schafft. Die von Ignatius an verschiedene Gemeinden adressierten Briefe setzen zudem entscheidende ideengeschichtliche Impulse für eine Theologie des Martyriums, da sich Ignatius darin selbst als ein Opfer für Gott als ‚Blut-Zeuge‘ bezeichnet (vgl. die Zusammenstellung der entsprechenden Passagen bei BAUMEISTER, Genese, Nr. 22 u. 23, S. 48-55). Die kirchengeschichtliche Relevanz dieser Persönlichkeit ist daher unbestritten (die Legenda aurea geht eingangs noch mit zwei kürzeren Hinweisen darauf ein), spielt für die Überlegungen hier jedoch keine Rolle. Vgl. dazu ausführlich Henning PAULSEN, [Art.] Ignatius von Antiochien, in: RAC 17, 1996, Sp. 933-953, vgl. auch Willard M. SWARTLEY, The imitatio Christi in the Ignatian Letters, in: Vigiliae Christianae 27 (1973), S. 81–105. Die erst im 4./5. Jh. entstandenen Märtyrerakten, die den mittelalterlichen Legendentexten zugrunde liegen, basieren jedoch auf einer anderen Grundlage, vgl. zum Text: The Apostolic Fathers, Bd. 2.2: S. Ignatius, S. Polycarp. A Revised Text with Introduction, Notes, Dissertations, and Translations by Joseph B. LIGHTFOOT, Hildesheim/New York 1973 [Nachdr. d. 2. Aufl. London 1889], S. 363–391; eine Übersetzung der römischen Akten auf S. 579–88.

290 | Nachfolge bis in den Tod Handlung beschreibt, wie Ignatius seinem Nachfolgeauftrag im Leben nachkommt, indem nicht nur dessen persönlicher Kontakt zu Johannes, sondern auch zur Gottesmutter Maria herausgestellt wird; über deren beider Partizipation an der Heiligkeit Christi kann er seinerseits daran teilhaben. Der zweite, ausführlichere Teil der Legende leitet vom Bischof über zum Märtyrer, also zur Nachfolge im Tod. Zunächst ist es der Legende jedoch offensichtlich wichtig, Ignatius’ Kontakt zur Transzendenz bereits in der Ausübung seines Bischofsamtes darzustellen. Als Bischof über Antiochia ist er von Johannes persönlich eingesetzt worden, und als solcher schreibt er unter Berufung auf seinen Lehrer an die Gottesmutter Maria einen Brief, in dem er sie bittet, die zahlreichen Wunder ihres Sohnes, von denen er vernommen habe, ihm aufgrund ihrer heiligen warheit (III 162, 18) auszulegen und zu bestätigen, da niemand Christus vertrauter (heimelicher; III 162, 21) gewesen sei als sie: hievon du, vrowe, allermeist/ von siner heilikeite weist/ die dir nie verborgen was (III 162, 23–25). Hier wird die Frage der Nachfolge für jene angesprochen, die Jesu Heilswirken nicht mehr persönlich erlebt haben und daher an dessen Heiligkeit nicht mehr unmittelbar partizipieren können.55 Für Ignatius soll diese Partizipation möglich werden in der mittelbaren Nachfolge über Johannes bzw. den unmittelbaren Kontakt mit diesen Mittlern, deren vorbildlichste natürlich Maria ist. Marias Antwort ist ausgesprochen allgemein, dennoch ist sie programmatisch. Sie bestätigt letztlich die Wahrheit des Gehörten und fordert Ignatius auf, daran zu glauben, sein Leben gemäß der christlichen Lehre und Tugenden zu erfüllen und sich vor allem nicht davon abbringen zu lassen, also standhaft sein im Glauben. Daran hält Ignatius sich und führt ein so tugendhaftes Leben, dass der Erzähler konstatiert, dass er an hohgelobten vrumen/ wart heilic und vollenkumen (III 162, 61f.). Seine Heiligkeit zeigt sich also bereits in den herausragenden Tugenden, doch davon will die Legende gar nicht weiter erzählen, sie resümiert nur, dass Ignatius weiterhin tugendhaft lebt, predigt und viele Leute bekehrt. Doch all dies reicht offenbar noch nicht, um hinreichend Heiligkeit auszuweisen. All das ist vielmehr nur ein Schritt dazu, mit dem Martyrium endgültig in die communio sanctorum aufgenommen zu werden: do wolde im unser herre got mit der martere ouch lonen und nicht des libes schonen, des er kurzelich entsub. (III 162, 74–77)

Für das Passional ist der Märtyrertod der Lohn Gottes für das heiligmäßige Leben des Ignatius, was wiederum bedeutet, dass Ignatius nicht selbst, willentlich vor die Entscheidung gestellt wird (Freiwilligkeit ist eigentlich eine Grundvoraussetzung des Martyriums), sondern von vornherein von Gott dazu ausersehen ist. Erzähllo-

|| 55 Zur Christusnachfolge bei Ignatius vgl. MILCHNER, Nachfolge Jesu, S. 35ff.

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gisch führt das die stringente Finalität der Handlung vor Augen, da der Märtyrertod gerade keine kausale Ursache hat, sondern in der Heiligkeit des Protagonisten begründet ist – die sich doch eigentlich erst in diesem Tod erweist.56 Damit unterliegt die Geschichte aber keiner kausalen Erzählfolge mehr, Ignatius’ Tugenden werden explizit nicht als Ursache für seine Heiligkeit erwähnt, sie bilden lediglich eine Voraussetzung für seine Erwähltheit, und darum kann auch das Martyrium nicht als deren Folge gesehen werden. Während die Legenda aurea jedoch die so geartete Finalität herausstellt, indem sie kommentarlos zur Schilderung des Martyriums übergeht, macht der o.a. Einwurf des Passionals einen Lohn-Verdienst-Konnex auf, der zumindest oberflächlich ein Geflecht von Ursache und Wirkung eröffnet. Jene Auserwähltheit drückt sich in der nachfolgenden Martyriumsschilderung in einem ganz bestimmten Körperkonzept aus, das die Heiligkeit konkretisiert und nicht nur zeichenhaft überhöht. Das liegt weniger in dem eigentlichen Martyrium begründet, das den bekannten hagiographischen Darstellungsmodellen unterliegt: Ignatius muss sich vor dem Kaiser verantworten, bekennt sich erneut zu Gott und schlägt es ab, sich vom Christentum loszusagen und statt dessen in Rom mit Ehren bedacht zu werden. Der Heilige muss immer vor die Wahl gestellt werden – um sich dann willentlich fürs Martyrium zu entscheiden und so seine Exemplarizität und Glaubensstärke unter Beweis stellen zu können. Ignatius wird also mit Bleikolben geschlagen und mit scharfen Krallen traktiert, so dass sein Fleisch in Fetzen herunterhängt. Das Reiben der Wunden mit Steinen erträgt er ebenso wie mit Salz, und die Androhung glühender Kohlen kann ihn nicht schrecken. Hier wird klar ersichtlich, wie sich die Marter in den Körper einschreibt, ja förmlich eingraviert, der Heilige aber präsentiert diese ‚Schrifttafel‘ in der Öffentlichkeit und demonstriert so seine Leidensfähigkeit und constantia mentis, die einzig auf seiner göttlichen Auserwähltheit beruht: Nur durch Christus ist er in der Lage, dies zu erdulden, daz kumt nicht von unser tugent;/ die goteliche herschaft/ git uns wol alsulche kraft (III 166, 77–79), entgegnet er Trajan, der ihn auf die schweren Leiden der Christen anspricht (vgl. auch III 165, 31f.: wand mir hilfet wol min got/ alle dine pine erdoln). Die öffentlich wahrnehmbaren Schriftzeichen des Martyriums sind Ausdruck der besonderen Erwählung Gottes. All dies würde von den herkömmlichen hagiographischen Konventionen nicht abweichen, ebensowenig der Tod durch wilde Löwen in der Arena, obwohl diese den Heiligen nicht zerfleischen (auch wenn Ignatius zum Zeichen seines Nachsterbens in Christus sich eben das wünscht, vgl. III 166, 51ff.), sondern ihn sunder wunden (III 166,93) ersticken, so dass sein Körper tot und unzurbizzen gar (III 167, 4) || 56 Eine solch explizite Aussage zur Finalität der Handlung ist umso erstaunlicher, als sich ausgerechnet Ignatius praktisch selbst anzeigt, da er sich dem Kaiser Trajan mit des edelen kruzes zeichen (III 162, 95) in der Hand (erneut verweist das Kreuz metonymisch auf Christi Leiden, deren Nachvollzug Ignatius nun antritt) in den Weg stellt, seinen christlichen Glauben bekennt und den Kaiser zur Umkehr auffordert – worauf er sogleich verhaftet und unter Anklage gestellt wird.

292 | Nachfolge bis in den Tod bleibt und sich nicht zuletzt die incorruptio seine Heiligkeit offenbart. Die Transzendierung, die Zuwendung des Gemarterten zur Heiligkeit wird vorher bereits dadurch zum Ausdruck gebracht, dass der Kaiser ihn in den Kerker sperrt, wo er irdischer helfe […] verzigen (III 166, 11) liegt. Jedoch kommt zu ihm unser herre [...]/ und sin himelischer trost/ der in vollec machte erlost (III 166, 13–15). Damit erweist sich Ignatius als ein Grenzfall der Körperkonzeptionen: Zu erwarten wäre entweder gewesen, dass der Löwe ihn zerreißt, wie es ein wildes Tier eben tut, oder dass er ihn gänzlich verschont (so beispielsweise in der Legende der hl. Euphemia). Der Löwe tötet Ignatius zwar, aber verschont seinen Körper; die Schriftzeichen der Marter bleiben an ihm nicht haften und offenbaren somit, dass Ignatius eben nicht wie ein ‚normaler‘ Mensch in der Arena stirbt; der Löwe erscheint hier beinahe als Werkzeug Gottes, um den Lohn des Martyriums nun zu vollziehen. Verstärkt wird dies durch den Hinweis, dass Ignatius darnach an dem dritten tage (III 166, 17) durch die Löwen sterben soll, die Analogie zur Auferstehung Christi (am dritten Tage) deutet an, dass für Ignatius der Märtyrertod die eigentliche Auferstehung darstellt, wie ja der Tod der Heiligen als deren eigentlicher Geburtstag gilt. Es vollzieht sich, um nochmals die Überlegungen zum eingangs erläuterten Körperkonzept aufzugreifen, an dieser Stelle sozusagen die Wandlung zum Auferstehungsleib; die so betonte Unversehrtheit des Leichnams, die angesichts der schlimmen Wunden, die Ignatius zuvor zugefügt worden sind, handlungslogisch eigentlich unstimmig ist, ließe sich daher erklären. Es handelt sich um einen heiligen Leib, dem schon jetzt ein ähnlicher Status wie Reliquien zukommt, so dass er von irdischen Mächten (schon gar nicht von wilden Tieren) nicht mehr berührt oder zerstört werden kann. Demnach wären die zuvor so blutig eingeschriebenen ‚Schriftzeichen‘ des Martyriums nun wieder gelöscht. Zeichentheoretisch auf die Spitze getrieben wird diese narrative Umsetzung des Martyriums jedoch in einem angehängten, mirakulösen Bericht, der wie kein zweiter die Ambiguität und Paradoxie von Heiligkeit auf der Ebene der Zeichen einzufangen vermag. Bereits am Beginn seines Martyriums hatte Ignatius von sich behauptet, dass kein noch so großer Schmerz ihn schrecken könne, da er Christus in seinem Herzen trage:57 des ich ot behalde in mines herzen valde den lieben herren Iesum Crist, wand er mit dem geschriben ist. (III 164, 16–19) || 57 Den Beinamen Theophorus, ‚Gottträger‘, der Ignatius in der Hagiographie zugesprochen wird, verwenden weder Legenda aurea noch Passional; vielmehr wird Maria als Christusträgerin (Christifere Marie suus Ignatius; LA 36, 4) bezeichnet. Die ältesten römischen und syrischen passiones beinhalten dieses Mirakel ebensowenig wie die einzelnen Folterungen, sondern überliefern hauptsächlich die Apologie gegenüber Trajan sowie den Tod in der Arena, wobei bereits hier der Leichnam incorruptus bleibt, vgl. die Texte bei LIGHTFOOT, Apostolic Fathers.

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Ebenso erläutert der Erzähler, Ignatius bliebe von aller Qual unbeeindruckt in sines herzen grunde./ er hete in sinem munde/ den guten namen Iesus Crist (III 165, 12–14). Dies wird nun in dem abschließenden Bericht nach Ignatius’ Tod wieder aufgenommen: Ignatius hätte den Namen Jesu Christi zu aller Zeit in Herzen und Mund gehabt und ihn während seiner Folterungen immer wieder hinausgeschrieen, jedoch nichts anderes gesagt. Von den Folterknechten darauf angesprochen erläutert der Heilige: den gebenedieten namen muz ich dicke in dem munde haben, wand er werlich ist ergraben an minem herzen binnen. (III 167, 45–48)

Daran erinnert man sich nach Ignatius’ Tod; man lässt den Leichnam öffnen und holt das Herz heraus, woraufhin ein Wunder offenbar wird: sin herze namen si hervur, als si das gespielden unde entzwei gevielden, do was mit guldinen buchstaben aldar inne wol erhaben der liebe name Iesus Crist. (III 167, 67–72)

Indem die Metapher, Gott im Herzen zu tragen, wörtlich genommen wird,58 konkretisiert sich das Zeichensystem des Martyriums und zeigt, wie eigenartig das Körperkonzept ist, das diese Legende unterbreitet.59 Denn die Marter schreibt ihre Spuren

|| 58 Andreas BÄSSLER, Sprichwortbild und Sprichwortschwank. Zum illustrativen und narrativen Potential von Metaphern in der deutschsprachigen Literatur um 1500, Berlin/New York 2003, führt zur genaueren Abgrenzung von wörtlicher, realisierter und konkretisierter Metapher den Terminus der metaphorischen Inversion ein: „Die Gewichtung von übertragenem und literalem Sinn wird verkehrt“ (S. 16) und erzeuge dadurch eine Kippfigur. 59 Die Metapher, dass Christus im Herzen der Gläubigen wohne, findet sich schon bei Paulus (Eph. 3, 17) und hat insgesamt eine lange Diskurstradition, die sich nicht nur über die geistliche, sondern ebenso die weltliche Literatur erstreckt, wie Friedrich OHLY, Cor amantis non augustum. Vom Wohnen im Herzen, in: ders., Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 1977, S. 128– 155, darlegt. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass sowohl im Alten wie auch im Neuen Testament der Heilige Geist als Finger Gottes angesehen wird, der nicht auf Stein, sondern auf die fleischliche Tafel des Herzens schreibt, vgl. etwa 2. Kor. 3, 3: manifestati quoniam epistula estis [...] et scripta non atramento sed Spiritu/ Dei vivi/ non in tabulis lapideis/ sed in tabulis cordis carnalibus („Ist doch offenbar geworden, dass ihr ein Brief Christi seid, […] geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht in steinerne Tafeln, sondern in fleischerne Tafeln des Herzens“). OHLY gibt weitere Belege aus der Bibel (u.a. bei Jeremia und Ezechiel) und kann insbesondere auch nachweisen, dass diese Vorstellung in der christlichen Theologie bis ins Mittelalter nachgewirkt hat, u.a. bei Augustinus, besonders aber bei den Kirchweihpredigten Bernhards von Clairvaux, vgl. ebd., S. 135f. mit Anm. 14. Das Bild der Geliebten im Herzen ist außerhalb der geistlichen Literatur besonders in der Liebeslyrik ein verbreitetes Motiv, vgl. neben den reichen Belegen

294 | Nachfolge bis in den Tod zunächst deutlich und für alle sichtbar auf dem Körper des Heiligen ein. Dann jedoch scheint es, als ob diese Zeichen wieder gelöscht würden, denn nun, im Tod, wird die Unversehrtheit des Leibes hervorgehoben. Das Martyrium schreibt sich vielmehr auf gänzlich andere Weise in den Körper ein, dies jedoch gelingt über die imitatio: Nicht äußerlich, sondern innen, im Herzen, ist der Körper beschriftet, nicht Wunden sind es, sondern der Name Jesu Christi, nicht mit Blut, sondern mit guldinen buchstaben ist er eingegraben. Der Körper des Ignatius wird also zunächst mit den blutigen Zeichen des Martyriums beschriftet, die dann jedoch wieder gelöscht zu sein scheinen, da der Löwe ihn gerade ohne ihn zu verwunden umbringt und der Leichnam plötzlich ohne sichtbare Verletzungen erscheint, die Zeichen sind beseitigt, was die Merkmale des transzendenten Auferstehungsleibes widerspiegelt. Dieser transzendente Körper wird nun ein weiteres Mal beschriftet (selbst wenn man davon ausgeht, dass die Schrift schon immer vorhanden gewesen sei: Die Schrift wird nun erst sichtbar), jetzt aber nicht mehr mit der blutigen Schrift des Martyriums, sondern mit den transzendenten Schriftzeichen der goldenen Herzensschrift. Man darf diese Stelle nicht unterschätzen, wenn man wie Bachorski und Klinger lediglich bemerkt, hier werde: „[ei]n durchaus materielles Zeichen […] imaginiert, das im blutigen Fleisch des Heiligen seinen eigenen Text spricht“60. Geht man nämlich davon aus, dass es sich um eine transzendente Schrift handelt (gerade das Gold und der damit verbundene Glanz wären weitere Merkmale dafür auch auf der Ebene der Wahrnehmung), so ist deren Materialität durchaus in Frage zu stellen, ihre Sichtbarkeit allein ist noch kein Argument dafür. Es ergibt sich vielmehr jener ambige Status, der sich beim Einbruch der Transzendenz in die Immanenz immer wieder zeigt und sich auch im narrativen Konzept des Auferstehungsleibes manifestiert: Noch der Welt verhaftet, gehört der Körper dennoch bereits der Sphäre des Heiligen an; die immanenten Zeichen haften nicht mehr an ihm, werden gelöscht, er ist vielfach sogar unberührbar geworden (vgl. oben Andreas). Aber dennoch ist er weiterhin für alle wahrnehmbar und zeigt damit genau die Eigenschaften, die für die Heiligen so bedeutsam sind, nämlich ihre Vermittlerposition zwischen Immanenz und Transzendenz. Hierin erweist sich das Umschlagsmoment vom stigmatisierten zum charismatischen Körper (vgl. auch Kap. 5.2): Der Heilige wird zum Medium, auf dem die göttlichen Zeichen erscheinen, sein Körper zur Tafel für die heilige Schrift. Bis jetzt bleibt jedoch noch immer eine Differenz zwischen den Zeichen und ihrem Träger, auch wenn diese enggeführt werden, indem sich die heilige Schrift erst auf, oder vielmehr: in einem heiligen Körper manifestiert. Christi Name hat sich in Ignatius’ Herz eingeschrieben, weil dieser mit seinem Martyrium genau jene Nach|| OHLYS die Überlegungen zu den afrz. Trobadors und dem mhd. Minnesang (insbesondere bei Johannes Hadlaub) von Sebastian NEUMEISTER, Das Bild der Geliebten im Herzen, in: ders.: Literarische Wegzeichen. Vom Minnesang zur Generation X, hg. aus Anlaß des 65. Geburtstages von Sebastian Neumeister von Roger FRIEDLEIN et al., Heidelberg 2004, S. 11–28. 60 BACHORSKI/KLINGER, Körper-Fraktur, S. 320.

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folge Christi in imitatio angetreten hat, mit seinem Tod bezeichnet er nun den Tod Christi, d.h. der Märtyrertod ist der Signifikant für das Signifikat des Kreuzestodes. Die goldenen Buchstaben zeigen das Umschlagen zur Heiligkeit für alle sichtbar an, aber sie tun mehr als das. Denn in den Blick genommen werden muss nun nicht mehr nur, dass, sondern was in dem Herzen geschrieben ist: es ist der liebe name Iesus Crist (III, 167, 72), wobei die auffällige Betonung des Namens besondere Aufmerksamkeit verdient. Zeichentheoretisch besitzt gerade der Name eine besondere Bedeutung, ihm kommt (bereits bei den Neuplatonikern) eine epistemologische Funktion zu, da er dem Wesen dessen entspricht, was er bezeichnet.61 In diesem Sinne würde sich im Namen Christus selbst konkretisieren, stellte sich also eine Identität her, so dass mit dem Märtyrertod in imitatio Christi Jesus eben nicht mehr nur symbolisch präsent ist, sondern tatsächlich im Märtyrer anwesend.62 Während normalerweise eine Differenz zwischen Zeichen und Bezeichnetem besteht, die gerade im Medium der Schrift bedeutsam ist, erweist sich in der Herzensschrift des Ignatius die unmittelbare Präsenz des Heiligen: Das Zeichen, Jesus Christus ist hier nicht nur Repräsentation (der Name), sondern Präsenz.63

|| 61 Vgl. dazu Michel FOUCAULT, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a. M. 2003, insbes. S. 67f. Nicht zuletzt wird dem Namen Jesus Christus in mittelalterlichen Erzählungen vielfach eine apotropäische Wirkung zugeschrieben. Ernst CASSIRER, Philosophie der Symbolischen Formen, Bd. 1: Die Sprache, sieht im mythischen Denken den Inhalt der Sache und der Zeichen nicht klar getrennt, beides geht in völliger Indifferenz ineinander über: „Der Name einer Sache und diese selbst sind untrennbar miteinander verbunden“ (S. 21). Zur Epistemologie und Poetizität des Namens vgl. systematisch auch Hanjo BERRESEM, „Der Eigenname“. Eigenwert und Eigenbiografie, in: Stefan BÖRNCHEN et al. (Hg.), Name, Ding. Referenzen, München 2012, S. 131–150. 62 Vgl. zur Wesensgleichheit Christi mit dem Märtyrer auch GEMEINHARDT, Die Heiligen, der anhand der apokryphen Petrusakten die Vorstellung beschreibt, „dass in jedem Märtyrer Christus selbst noch einmal seinen Tod erleidet“ (S. 20). 63 Zeichentheoretisch (und nur so, wohlgemerkt) könnte man dem Märtyrertod des Ignatius damit einen ähnlichen Stellenwert wie der mystischen unio zuschreiben, und diese Vereinigung mit Christus konkretisierte sich dann auf einzigartige Weise in der goldenen Herzensschrift. Doch eine Differenz bleibt: Denn nur in Gott kann das Wort zum Fleisch werden, wie es der Anfang des Johannesevangeliums formuliert. Eine solche Deutung steht und fällt freilich mit dem Status, den man dem Namen zubilligt: als bloßes Zeichen oder darüber hinausweisend als identitätsstiftend, in einer epistemologischen Funktion, in der Zeichen und Gezeigtes als kongruent gedacht werden können. Damit würde sich die Herzensschrift des Ignatius dann von solchen Legenden unterscheiden, in denen beispielsweise ein Kreuz im Herzen des Heiligen erscheint, oder (wie im Marienmirakel 15, vgl. II 14599ff.) die Schrift Ave Maria, die die Verehrung eines Ritters zu Maria offenbart. In diesen Fällen bleibt die Zeichenhaftigkeit, die Differenz zwischen Zeichen und Bedeutung, noch erhalten, die im Falle des Ignatius hingegen kollabiert. Zur Verbindung von Körper und Schrift vgl. auch Urban KÜSTERS, Auf den fleischernen Tafeln der Herzen. Körpersignatur und Schrift in der Visionsliteratur des 13. und 14. Jahrhunderts, in: Klaus RIDDER u. Otto LANGER (Hg.): Körperinszenierungen in mittelalterlicher Literatur. Beiträge zum Kolloquium am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld (18.–20. März 1999), Berlin 2002, S. 251–273, hier S. 259, mit einem kurzen Verweis auf Ignatius. Anders als KÜSTERS das für seine Beispiele plausibel macht, ist gerade für den

296 | Nachfolge bis in den Tod Jesus (als geschriebenes Wort, als Gottmensch) wird hier zum transzendentalen Signifikanten, dem Zeichen, das allen anderen Bedeutung gibt.64 Die Differenz der Zeichen kollabiert; Jesus und das Heilige liegen jeder unio von Signifikant und Signifikat letztlich voraus.65 Die Schrift im Herzen ist konkret geworden, und der Name, der durch sie bezeichnet wird, konkretisiert sich ebenfalls: Der Signifikant wird zu seinem Signifikat und umgekehrt, und eben dadurch wird das Paradoxe, die Ununterschiedenheit des Heiligen, zum Ausdruck gebracht. Die Konkretion des Namens Christi ist darum aus semiotischer Perspektive ein wesentlich eindrucksvolleres und augenfälligeres Signum von Heiligkeit, als es die so mannigfach (in Hagiographie wie Mystik gleichermaßen) erzählten Eucharistie-Wunder inszenieren, bei denen sich z.B. der Wein in tatsächliches Blut verwandelt. Es scheint, als ob die einzelnen Legendenversionen (Jacobus de Voragine ebenso wie das Passional) darin immerhin ein leises Unbehagen verspüren, lagern sie dieses Wunder doch vom eigentlichen Martyriumsbericht aus und setzen im Anschluss daran noch einmal neu an, fast schon wie ein Mirakel, eingeleitet mit den bewusst vage bleibenden Worten: Man liset ouch von Ignacio (III 167, 22; vgl. LA 36, 65: Legitur). Entgegen den im ersten Kapitel aufgestellten Prämissen würde es sich in diesem Falle nicht mehr nur um Vermittlung und Entsprechung der Heiligkeit Christi handeln, sondern tatsächlich um Identität; eine solche ist jedoch nur auf der Ebene der Narration herzustellen. Zeichentheoretisch könnte man nochmals mit Terry Eagleton anmerken: „Die Tatsache, dass ein Zeichen reproduziert werden kann, ist deshalb Teil seiner Identität; aber dadurch wird die Identität des Zeichens zugleich auch aufgesplittert, da es immer wieder in einem neuen Kontext reproduziert werden kann, der seine Bedeutung verändert“.66 Genau das passiert nicht nur in || Namen jedoch nicht nur ein indexikalischer Verweiszusammenhang anzunehmen. Die Überblendung von Name und Wort wird zudem auch in der geistlichen Lyrik des Mittelalters thematisiert, so z.B. bei Frauenlob, Marienleich I, 16: Daz wort mir von der höhe quam/ und wart in mir ein so gebenediter nam:/ der nam hie wart, daz wort was ane werden ie (zit. nach: Frauenlob (Heinrich von Meissen): Leichs, Sangsprüche, Lieder, hg. v. Karl STACKMANN u. Karl BERTAU, Göttingen 1981). 64 Die Vorstellung eines transzendentalen Signifikats und eines transzendentalen Signifikanten geht auf Jacques DERRIDA zurück (Jacques DERRIDA, Grammatologie, Frankfurt a. M. 1983, S. 35–48, hier bes. S. 38), vgl. dazu pointiert Terry EAGLETON, Einführung in die Literaturtheorie, Stuttgart 1997, S. 114, der das transzendentale Signifikat als den „fundamentalen, nicht mehr in Frage zu stellenden Sinn, auf den alle unsere Zeichen zu deuten scheinen können“ umschreibt – im Kontext der Legende wäre das das Heilige, das in Christus seine zeichenhafte Präsenz erhält. 65 Vgl. nochmals EAGLETON, Einführung: „Da jede dieser Vorstellungen die Basis für unser gesamtes System von Denken und Sprache zu bilden hofft, muss sie selbst jenseits dieses Systems stehen, von seinem Spiel der sprachlichen Differenz unberührt sein“ (S. 114). Ein ähnliches Paradoxon ergibt sich bei der Einheit von Abbild und Urbild im vera icon, dem Bild Jesu, wie es in der VeronikaLegende geschildert wird: Das Bild repräsentiert nicht einfach Jesus, es ist Jesus Christus und kann folglich auch göttliche Wirkmächtigkeit entfalten. Dies hat eindrucksvoll QUAST, Kult, S. 68–90, bes. S. 86ff. herausgearbeitet. 66 EAGLETON, Einführung, S. 112.

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dieser, sondern eigentlich in jeder Legende: Christus (als ‚transzendentaler Signifikant‘) ist in jedem Heiligen präsent, doch jede Legende reproduziert dieses Zeichen in einem je anderen Kontext; die Identität Christi wird aufgesplittet in die zahllosen Identitäten der Heiligen, die jedoch stets rückgebunden sind an die eine Identität Christi und das transzendentale Signifikat des Heiligen, das er verkörpert.

6.2.2 Geschlechterdifferenz und heilige memoria: Agatha und Agnes Betrachtet man das Martyrium als konsequenteste Verwirklichung der Christusnachfolge, so wäre zu fragen, ob es sich hier nicht auch um eine geschlechtsspezifische Form der imitatio handelt. Angesichts der Überlegung, dass hagiographische Texte in der Regel von Klerikern verfasst worden und überwiegend auch an Kleriker gerichtet gewesen seien, stellt Ingrid Kasten unter Bezugnahme auf den Romanisten Simon Gaunt die Überlegung auf, hier werde „männliche Identität nicht durch hetero-, sondern durch homosoziale Beziehungsmuster hergestellt“67; nicht zuletzt handelt es sich bei der überwiegenden Anzahl der Legendenprotagonisten um männliche Heilige. Da die Kleriker jedoch dem Keuschheitsideal verpflichtet gewesen seien, würde über das Virginitätsideal den Legenden Sexualität gerade durch ihre Negation umso nachhaltiger eingeschrieben und bestimme – weit gefasst im Sinne von Körperlichkeit – in weiten Teilen diese Textsorte. Ohne die von Kasten daran geknüpften gender-differenten Körperinszenierungen im einzelnen nachzuvollziehen,68

|| 67 Ingrid KASTEN, Gender und Legende. Zur Konstruktion des heiligen Körpers, in: Ingrid BENNEWITZ u. Ingrid KASTEN (Hg.), Genderdiskurse und Körperbilder im Mittelalter. Eine Bilanzierung nach Butler und Laqueur, Münster 2002, S. 199–219, hier S. 201. KASTEN bezieht sich hierbei auf Simon GAUNT, Gender and genre in medieval French literature, Cambridge 1995. Zum angesprochenen Problemfeld grundsätzlich Caroline WALKER BYNUM, Jesus as Mother, Berkeley u.a. 1982. 68 Auch KASTEN geht davon aus, dass gerade in der Fragmentierung des Körpers durch das Martyrium paradoxerweise die Transzendierung des Körpers, seine Überführung in einen Auferstehungsleib, vonstatten geht. Offenbar ausgehend von den Prämissen einer bis in die Neuzeit patriarchal dominierten und sozial entsprechend organisierten Kultur bestimmt KASTEN, Gender, S. 202–205, dann jedoch den solchermaßen heiligen Körper als einen spezifisch männlichen, den der Sterblichkeit verhafteten ‚leiblichen‘ Körper hingegen als weiblich codierten. Dem ließe sich in aller Kürze zum einen mit STROHSCHNEIDER entgegenhalten, dass das Transzendente stets jenseits aller Unterschiede ist (vgl. STROHSCHNEIDER, Weltabschied, S. 144), ein transzendierter Körper mithin auch keine Geschlechterdifferenzen mehr codieren kann, vor allem aber die o.a. Überlegungen von BACHORSKI/KLINGER, Körper-Fraktur, in deren den Märtyrern zugesprochenen Körpermodell keinerlei Geschlechtermarkierungen festzustellen sind. Betrachtet man den Rezeptionskontext dieser Legenden (insbesondere, aber nicht nur im Spätmittelalter), so ist gegen KASTEN überdies einzuwenden, dass diese beileibe nicht allein für männliche Kleriker verfasst worden sind, sondern durchaus auch in weiblichen Klostergemeinschaften rezipiert wurden, bei denen die Exemplarizität gerade weiblicher Heiliger besondere Beachtung gefunden haben dürfte; KASTENS Überlegungen setzen freilich voraus, dass auch diese sich an von Männern aufgestellten Vorbildern ausrichteten. Dass hier jedoch

298 | Nachfolge bis in den Tod so ist immerhin zu fragen, inwieweit zumindest die hier präsentierten Modelle der Nachfolge nicht auch geschlechterspezifische Eigenarten transportieren, indem Heiligkeit an sich zwar derartige Unterschiede zum Verschwinden bringt, diese zuvor jedoch narrativ gerade markiert werden müssen. Bei der Inszenierung weiblicher Märtyrerheiligkeit ist somit vor allem darauf zu achten, inwieweit hier Virginität als Heiligkeitsmerkmal in den Vordergrund tritt, das zwar nicht als spezifisch weiblich zu erachten ist, jedoch insbesondere für Frauen als Hauptpersonen hagiographischer Texte von Bedeutung ist. Dies soll anhand der Legenden zweier Jungfrauen geschehen, deren Martyriumsbericht sich in vielerlei Hinsicht ähnelt: Agnes und Agatha. Die eine gilt als eine der wichtigsten Heiligen in der römischen Kirche, die andere als kultgeschichtlich bedeutendste Heilige Siziliens.69 Zunächst zum Inhalt, den das Passional gegenüber der Legenda aurea kaum verändert wiedergibt, wobei die Nachgeschichten der beiden Legenden gesondert zu behandeln sind: Agnes wächst als vornehme Tochter aus edlem Geschlecht auf und sticht durch besondere Schönheit und Klugheit hervor; sie erfüllt somit alle Vorzüge eines adelig-höfischen Weiblichkeitsideals. Als der Sohn eines Richters sie erblickt, verliebt er sich denn auch sogleich in sie, doch Agnes weist ihn zurück, da sie, die sich schon immer zum Christentum bekannt hat, sich als Braut Christi betrachtet und daher ihr Leben in Keuschheit verbringen will. Es kommt zur Anklage, in deren Verlauf der Vater des Jünglings Agnes vor die Wahl stellt, den Göttern zu opfern oder in ein Freudenhaus zu gehen. Diese höchste Bedrohung ihrer Jungfräulichkeit kann jedoch durch ein göttliches Wunder aufgehalten werden: Als Agnes in dem Bordell nackt ausgezogen wird, lässt Gott ihre Haare so lang wachsen, dass ihre Nacktheit augenblicklich wieder verdeckt ist. Die Heilige ist von einem so strahlenden Glanz umgeben, dass sich keiner an sie herantraut; als der sie begehrende Jüngling sie dennoch berührt, fällt er augenblicklich tot zu Boden. Zwar kann Agnes ihn durch ein Gebet wieder erwecken, doch wird sie nun erst recht unter Anklage gestellt. Ein erster Tötungsversuch durch Feuer misslingt, daher wird sie mit einem Schwert erstochen. Ähnliches weiß die Legende von Agatha zu berichten: Auch sie ist schön und edel, auch sie wird von einem Heiden, dem explizit unedlen Quincianus, begehrt und, als sie sich weigert, der Kupplerin Afrodisia übergeben. Im Unterschied zu Agnes wird ihre Standhaftigkeit jedoch nicht noch durch ein Wunder hervorgehoben; die erfolglose Kupplerin übergibt die Jungfrau wieder Quincianus, mit dem sich eine längere Wechselrede über den Adel der Christusbrautschaft entspinnt. Als der Heide zuletzt immer noch keinen Erfolg bei Agatha hat, lässt er ihr die Brüste abschneiden und sie ins Gefängnis werfen, wo sich ihr niemand zur Linderung ihrer || durchaus mit Einschränkungen zu rechnen ist, zeigt nicht zuletzt BYNUMS Kritik an Victor TURNER, vgl. Caroline WALKER BYNUM, Fragmentierung und Erlösung. Geschlecht und Körper im Glauben des Mittelalters, Frankfurt a. M. 1996, S. 27–60, bes. S. 38–41. 69 Vgl. Heinrich DÖRRIE, [Art.] Agatha, in: RAC 1, 1950, Sp. 179–184. Zur hagiographischen Überlieferungsgeschichte und zur regionalen Kultgeschichte der hl. Agatha in Sizilien vgl. Vincenza MILAZZO, La Sicilia: Agata e Lucia, in: Andrea TILATTI (Hg.), Giustina e le alter, Rom 2009, S. 243–270 (mit weiterführender Literatur), vgl. auch den Ausstellungskatalog Agata santa: storia, arte, devozione, Florenz 2008, zur Agatha-Legende in der Legenda aurea dort S. 25–30.

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Qualen nähern darf. In der Nacht gelangt dennoch ein alter Greis in ihr Verlies, der ihr anbietet, sie zu heilen – was Agatha jedoch verweigert, da sie die Hilfe weltlicher Ärzte als Hinderung auf ihrem Weg zum Martyrium erachtet; sie habe sich statt dessen Christus als Arzt erkoren. Da gibt sich der Alte als Petrus zu erkennen, die Zelle erfüllt sich mit strahlendem Licht, und Agatha sind die Brüste vollständig wieder angewachsen. Obwohl die Kerkertüren nun offenstehen und die Wächter von dem hellen Licht vertrieben worden sind, bleibt die Heilige und stellt sich am nächsten Tag wieder dem Gericht. Sie wird erneut gefoltert (diesmal mit Scherben und glühenden Kohlen), ein Erdbeben sorgt jedoch für den Abbruch der Prozedur. Agatha wird zurück in den Kerker gebracht, wo sie friedlich stirbt, Quincianus aber wird bald darauf von seinen eigenen Pferden zertrampelt.

Für beide Legenden ist zunächst zentral, dass Heiligkeit hier, wie beim Großteil weiblicher Heiliger, als Virginität codiert ist, diese Virginität jedoch zugleich aufs äußerste bedroht ist. Peter Strohschneider hat in seiner Interpretation der Agnes-Legende diese „spirituelle[ ] Negierung des Körpers“ als „eine Form der asketischen Weltdistanzierung“ bezeichnet.70 Diese Weltabkehr wird umso radikaler inszeniert, als sowohl Agnes als auch Agatha als besonders schön und edel inszeniert werden: Agatha die schone maget […] was schone unde iunc (III 176, 1 u. 7), Agnes ist sowohl iunc (III 111, 21), als auch schone und wol gestalt/ in lustlicher formeschaft (III 111, 24f.). Zugleich wird die adelige Abstammung beider betont: Von Agnes heißt es, daz si von richen vrunden was/ an gute und ouch an eren (III 111, 30f.), und Agathas Stand wird noch stärker in den Vordergrund gerückt, da der sie begehrende Quincianus von niedrigerer Herkunft ist und durch eine Heirat mit ihr den eigenen Status erhöhen will: si was edel und rich/ und an geburt im ungelich (III 176, 43f.).71 Schönheit und Adel bedeutet auch Tugendadel, und damit hätten in nicht-hagiographischen Erzählungen des Mittelalters die beiden Jungfrauen die besten Voraussetzungen für eine genealogische Reziprozität, sprich: durch eine standesgemäße Heirat die Genealogie fortzusetzen und damit eine erwartbare Rolle innerhalb der adeligen Gesellschaft auszufüllen. Dieses Muster wird hier bewusst in Szene gesetzt (und von den männlichen Werbern auch so verstanden), um sogleich negiert zu werden. Damit zeigt sich, dass die Propagierung der Keuschheit der beiden Frauen nicht allein eine Negierung des

|| 70 STROHSCHNEIDER, Weltabschied, S. 145. 71 Mit zwei aufeinanderfolgenden Dreierreimen (III 176, 23–28) wird Quincianus auch formal ungewöhnlich eingeführt; seine Niedertracht wird gerade mit seiner niederen Herkunft begründet: er ist böse, wand er unedel was geborn./ sin art hete er nu verlorn (III 176, 26f.). Das Passional macht hier, stärker noch als die Legenda aurea, eine Dichotomie zwischen gut, edel, schön und christlich auf der einen, sowie böse, charakterlos, unadelig und heidnisch auf der anderen Seite auf. Die jeweiligen Tugenden oder Untugenden sind den Protagonisten gemäß dem für mittelalterliches Erzählen konstitutiven Kalokagathieideal auf den Körper eingeschrieben, und das schließt auch die Herkunft mit ein: Wer schön und tugendhaft ist, ist auch von edler Geburt, wer dies nicht ist, kann trotz gewisser Machtfülle letztlich nicht von hoher Abstammung sein; ja, Quincianus hat seine art gar verloren, da er zwar Statthalter von Sizilien ist, dieses hohe Amt aber besonders unedel ausfüllt.

300 | Nachfolge bis in den Tod Körpers ist, sondern dass diese Abkehr von der Welt geradezu eine Verabschiedung der Immanenz darstellt: Als Moment einer genealogischen Handlungs- und Wissensform auf der Basis körperlicher Reproduktionsfunktionen zielt Werbung gerade auf die Verstetigung immanenter Ordnungen. Sie bedroht deswegen Virginität, von welcher sie doch zugleich auch benötigt wird: Erst im abgewiesenen Verfügungsanspruch des Werbers nämlich ist die Virginität der Frau ein nicht bloß biologisches Faktum, sondern vielmehr ein ethisches. Die Werbung, insofern sie scheitert, lässt Virginität als Leistung und darin sanctitas im Modus des Diskursiven hervortreten.72

Dies gilt für Agnes und Agatha wie für fast alle weiblichen Heiligen, insbesondere Märtyrerinnen, und die besondere Betonung von Schönheit, Reichtum und Adel (Agnes werden edle Kleider, Schmuck, Gold, Güter usw. in Aussicht gestellt, vgl. III 111, 58ff.) macht nicht zuletzt deutlich, wovon in der Welt sich die Heilige in ihrer Standhaftigkeit tatsächlich verabschiedet. Da Heiligkeit stets als Exklusion aus der Welt erscheint, ist die Zurückweisung aller weltlicher Ehren und Güter darüber hinaus eine Markierung der Exklusion und der Exklusivität. Die Jungfrauen heben statt dessen immer wieder den spirituellen Bräutigam Christus hervor, Agnes verwendet in Bezug auf ihren mystischen vridel sogar mehrfach die Terminologie weltlicher Eheschließungen.73 Besonders bei Agatha werden die Standesdifferenzen explizit thematisiert, da ihr Werber ja auch nach weltlichen Maßstäben ihr nicht genügen würde; im Disput mit Quincianus (vgl. III 178, 9–62) wird ihre edle und freie Geburt hervorgehoben, die – für ihren Werber unverständlich – gerade nicht mit ihrer selbst|| 72 STROHSCHNEIDER, Weltabschied, S. 145. Vgl. zur virginitas im Mittelalter diskursgeschichtlich immer noch die Studie von Jane Tibbetts SCHULENBURG, The Heroics of Virginity: Brides of Christ and Sacrificial Mutilation, in: Mary Beth ROSE (Hg.), Women in the Middle Ages and the Renaissance, Syracuse 1986, S. 29–72. Zur Agnes-Legende der Legenda aurea vgl., allerdings unter ganz anderer, nämlich gender-Perspektive, auch Barbara BAERT, More than an Image. Agnes of Rome: Virginity and Visual Memory, in: Johan LEEMANS (Hg.), More than a Memory. The Discourse of Martyrdom and the Construction of Christian Identity in the History of Christianity, Leuven u.a. 2005, S. 139–168, zur Agens-Figur in der Legenda aurea dort S. 149–152. BAERT untersucht die Frage, inwieweit weiblichen Märtyrern zur Erlangung von Heiligkeit ein entsprechend männliches Körperkonzept innerhalb der Erzählungen zugewiesen wird, wobei sich dann die interessante Konstellation einer Aufhebung von Geschlechterdifferenzen ergibt (vgl. ähnlich die Überlegungen zur Johanneslegende, Kap. 4.3). Wenn dann allerdings die Jungfräulichkeit von Agnes als spezifisch weibliches Heiligkeitsmerkmal propagiert wird (vgl. BAERT, S. 144), wird das Problem, dass einerseits eine explizit weibliche Tugend, andererseits zugleich die Aufhebung der Geschlechterdifferenz zur Erlangung von Heiligkeit führen soll, nicht weiter diskutiert. 73 Die Heiratsterminologie ist an dieser Stelle sehr deutlich: Jesus, so betont Agnes, habe ihr des gelouben vingerlin (III 112, 42) an den Finger gesteckt habe, und ihr seinen richen malschatz (III 112, 46) versprochen: minen hals und min zeswen hant/ hat er gezieret wol reine/ mit edeleme gesteine (III 112, 48–50), ihr ein goldenes Kleid angelegt und ihr Antlitz bezeichent und versigelt (III 112, 55), so dass sie für immer ihm gehören werde und niemandem anderen. Die mystische Verlobung wird auf diese Weise terminologisch der Rechtsform angeglichen. Zum Ring als Rechtssymbol der Ehe vgl. Gernot KOCHER, [Art.] Ehering, in: ²HRG 1, 2008, Sp. 1221–1223.

Christus nachsterben | 301

gewählten Rolle als Dienerin Christi kollidiert: daz ist die hoste vriheit (III 178, 47).74 Dieses für Heiligkeit konstitutive Spannungsverhältnis von Keuschheit und (spiritueller) Hochzeit, von Dienst und Freiheit, bleibt dem Heiden ebenso unbegreiflich wie die Spannung von zerstörtem, gemartertem Körper und erlöster, auferstandener Seele, vom Stigma zum Charisma also, wie es später im Martyrium gezeigt wird. Diese Form der Gottesminne, der asketische Weltabschied, wird explizit als Christusnachfolge verstanden, wenn Agnes beispielsweise über ihren spirituellen Bräutigam sagt: sin muter ist ein iuncvrowe (III 112, 24). Zum Vorbild wird damit nicht nur Christus erhoben, sondern vor allem die Gottesmutter Maria, deren Heiligkeit die aller anderen überstrahlt und deren Signum die Jungfräulichkeit ist. Erfüllt sich die Christusnachfolge für Agnes wie Agatha zuletzt im Martyrium, so ist der Schlüssel dazu die Vorbildhaftigkeit Marias, deren Virginität, wie sich ja nicht zuletzt in den Erzählungen des ersten Buches gezeigt hat, die größtmögliche Nähe zu Christus eröffnet. Für die heiligen Frauen bedeutet imitatio also Christus- und Mariennachfolge, und diese führt die beiden Stück für Stück aus der Welt, hin zur Transzendenz. Zunächst scheint es bei beiden so, als werde die Bedrohung der Virginität noch einmal ins Extrem gesteigert: Sie werden in ein Bordell gesteckt, dem Inbegriff männlicher Begierde und Prototyp ungezügelter, menschlicher Lust. Es könnte, so glaubt man, keinen Ort geben, der mehr der Welt verhaftet wäre und weiter von den christlichen Tugenden, und doch: Gerade hier erweist sich der Einbruch der Transzendenz am deutlichsten, gerade dieser Ort zeigt, wie weit Agnes und Agatha aus der menschlichen Gesellschaft exkludiert sind. Während es von Agatha lediglich heißt, sie sei standhaft geblieben und habe sich nicht einschüchtern lassen, die äußerste Bedrohung ihrer virginitas somit zwar anzitiert, sogleich aber wieder abgewiesen wird, führt die Agneslegende diese Situation genau aus: Agnes ist vor dem Freudenhaus nicht bange, da sie einen Engel zum Schutz an ihrer Seite weiß (vgl. III 114, 38–41). Gottes Schutz bestätigt sich, als man sie nackt auszieht: seht wie got des nicht verdroz er hulfe siner brut vurwar! sich zurgab ir gelwez har, daz wart nu breit und lanc und gab so dicken ummeswanc, daz man ir nicht bloz ensach. (III 114, 52–57)

Dieses göttliche wunder (III 114, 58) bewahrt zum einen die Jungfrau davor, dass ihre Nacktheit öffentlich wahrgenommen werden kann, was nicht nur nach mittelalterlichem Verständnis eine entwürdigende Herabsetzung ihrer Persönlichkeit, vor || 74 Die Standesthematik wird auch bei Agnes angesprochen, die dem ungerechten Richter, der sie zur Heirat mit ihrem Sohn überreden will, eröffnet, es sei derjenige edel unde rich/ und dir an eren ungelich/ dem ich zum ersten bin verlobet (III 113, 15–17).

302 | Nachfolge bis in den Tod allem aber ihres hohen Standes bedeuten würde (und von den Peinigern auch genau so beabsichtigt ist), „das Opfer wird seiner sozialen Identität entkleidet und damit distinktlos“75. Zudem ist gerade die öffentliche Zurschaustellung ihres nackten Körpers – insbesondere der weiblichen Sexualorgane, die zu verhüllen primäre Aufgabe von Kleidung ist – eine Zurschaustellung ihrer Sexualität, die ihrer selbstgewählten Keuschheit diametral entgegensteht. Bemerkenswert ist jedoch weniger das Haarwunder, das Agnes vor den Blicken der Öffentlichkeit schützt,76 sondern dass die Jungfrau nun von einem Engel in strahlendes Licht gehüllt ist: ein liechter engel darin quam und nam Agneten an sich. mit eime kleide luterlich wart si alda bevangen. (III 114, 66–69)77

Das ganze Bordell ist nun in gleißendes Licht getaucht, und für Agnes verwandelt sich der Ort in einen gleichsam sakralen Raum (die tvelhafte klus/ was ir nu ein betehus; III 114, 71f.), und zwar einen Raum „jenseits der Unterscheidung von Wert und Unwert“78. Das optische Phänomen des glänzenden, blendenden Lichtes ist in der hagiographischen Literatur ein gängiger Marker für Heiligkeit, Glanz ist ein Transzendenz-Phänomen schlechthin.79 Er markiert hier den Übergang von Immanenz und Transzendenz, die Schwelle, an der die radikale Umwertung stattfindet, an dem Unwert in Wert umschlägt, das Bordell zum Bethaus wird. Dieses Umschlagen vom Stigma des Lasterortes ins Charisma des heiligen Raums markiert zugleich die Zugehörigkeit, die Inklusion Agnes’ zur himmlischen Gemeinschaft: Umgeben von dieser glänzenden, ja heiligen Aura ist Agnes nun selbst unantastbar geworden: Die Wächter ziehen sich entsetzt vor dem blendenden Licht zurück, als jedoch der Werber nach der Jungfrau greifen will, fällt er augenblicklich tot zu Boden (vgl. III 115, 6–14). Die Grenzen der Transzendenz kann nur überschreiten, wer gnadenhaft von Gott darüber versetzt wird. Hier zeigt sich das fürs Heilige so typische Spannungs|| 75 WEITBRECHT, magd, S. 280. 76 Zu derartigen Verhüllungswundern, an denen es der Legendenliteratur nicht mangelt, vgl. ebd., S. 271-273. 77 Hier finden sich nicht zufällig Anzeichen einer Devestitur, wie sie auch im Rahmen der mittelalterlichen Mönchsweihe, beim Eintritt ins Kloster u.ä. üblich war: Das alte Gewand wird abgelegt und damit auch der alte (weltliche) Status, das Anlegen der Mönchskutte begleitet den Übergang in den neuen (geistlichen) Stand, vgl. zur Devestitur Andreas KRAß, Geschriebene Kleider. Höfische Identität als literarisches Spiel, Tübingen/Basel 2006, S. 193–209. Agnes wird gleichsam das weltliche Gewand abgenommen, während ein Engel sie in ein transzendentes hüllt: Das Gewand des Auferstehungsleibes. Zur Kleidermetaphorik des Gnadengewandes vgl. KRAß, Kleider, S. 38ff. 78 So STROHSCHNEIDER, Weltabschied, S.146, für den „nichtunterbietbarer Unwert hier in unüberbietbaren Wert umschlägt“ (ebd., in Bezug auf LIPP, Stigma und Charisma). 79 Vgl. ANGENENDT, Der Leib ist klar, bes. S. 390f.

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feld von Nähe und Distanz deutlich. „Die Heilige ist eine Erscheinung von Transzendenz im Diesseits, welche in Offenbarungsreligionen eben in faszinierter Anziehung, im Schrecken und an radikalen Grenzziehungen erfahrbar wird.“80 Noch vor ihrem Tod, ja noch bevor ihr Martyrium überhaupt beginnt, hat Agnes somit Teil an dem ‚Auferstehungsleib‘, an einem transzendierten Körpermodell; die Erzählung führt hier jenes gnadenhafte Umschlagen vor, das eben nicht mehr prozesshaft erfasst werden kann und das die Unverfügbarkeit des Heiligen herausstellt, und sie setzt diesen Umschlagsmoment noch vor das eigentliche Martyrium. Dass Agnes den toten Werber kraft ihres Gebetes wieder lebendig machen (und bekehren) kann, verwundert daher nicht, ebensowenig, dass der Jungfrau das Feuer, in dem sie verbrannt werden soll, nicht schaden kann – dem transzendierten Körper können die immanenten Foltern keine Spuren mehr einzeichnen. Und so betont der Passionaldichter in Anlehnung an seine im Prolog entwickelte Farbenlehre, Iesus, ir brutgoum, ir trut (III 116, 64) habe an ihrem Tod sowohl weiße als auch rote Farbe gefunden: die wize varwe an kuschen siten/ was an ir als die tugent gebot;/ an der martere was sie rot (III 116, 70–72). Agnes hat ihre Heiligkeit durch eine doppelte imitatio erlangt, durch virginitas und Martyrium, und dieses Ideal macht Agnes zwar nicht ‚heiliger‘, aber für die Rezipienten in doppelter Weise vorbildlich. Diese Beobachtungen bestätigen sich in der Figur der heiligen Agatha, der im Martyrium die Brüste abgeschnitten werden. Sie, die sich der Keuschheit und der Christusminne verschrieben hat, wird damit nicht nur der äußeren Geschlechtsmerkmale beraubt (auch dies ein Schritt zu einer Entdifferenzierung), sondern erfährt auch eine (potentielle) Einschränkung ihrer Reproduktionsfähigkeit. Doch dieser (immanente) Verlust zählt nicht, er wird vielmehr sogleich umgewertet: wizze doch, daz du mir last die innern bruste ganz, die ich sunder allen schranz han an der sele wol gesunt und mit in in rechter stund suge al mine sinne, die ich in steter minne behalden han von kintheit zu mines herren heilikeit. (III 180, 62–70)

Ist Agnes durch das göttliche Wunder jedem menschlichen Gewaltakt bereits entzogen, wird an Agatha demonstriert, dass alles, was mit dem Körper geschieht, nur äußerliche Spuren hinterlassen kann, Erscheinungen der Immanenz, die in der Transzendenz keine Rolle spielen, die dort gelöscht sind, wo es keine Unterschiede mehr gibt. Der äußere Verlust der Brüste ist für die Heilige eben keiner, da Sexualität für sie keine Rolle spielt und sie ohnehin niemals ein Kind an ihren Brüsten säu|| 80 STROHSCHNEIDER, Weltabschied, S. 146.

304 | Nachfolge bis in den Tod gen würde. Statt dessen spricht sie von den innern brusten und demonstriert damit die Alternative zu einem weltlichen Lebenswandel, die ausgerichtet ist auf die heilikeit Gottes. Agnes wird damit als Jungfrau in Opposition zur Rolle der Mutter gesetzt, eine Rolle, der sie sich gerade verweigert und für die jene Geschlechtsmerkmale eigentlich bedeutsam wären, die für sie aber eine andere, eben ‚innere‘ Bedeutsamkeit erlangen. Der Umschlagspunkt erfolgt, so scheint es, mit der Szene im Kerker, in der Petrus als Arzt auftaucht und der Heiligen ihre Brüste wiedergibt. Aber ist das noch dasselbe? Wohl führt der Text aus, dass Petrus ihr ir bruste, die e waren ab,/ wol gesunt wider gab (III 181, 96f.). Zuvor hatte Agatha – mit Blick auf die innern bruste ihrer Seele – jegliche vleischlich arzedien (III 181, 30) von sich gewiesen, denn: Cristum ich mir han erkorn,/ der mich wol arzedien kan (III 181, 37f.). Das Aus-der-WeltSein Agathas hat zur Folge, dass für sie weder der Verlust ihrer Körperteile eine spürbare Rolle spielt, noch dass sie diesen mit fleischlichen, d.h. immanenten Heilmitteln aufzufangen versucht. An der Schwelle zur Transzendenz benötigt sie nichts mehr, was der Immanenz verhaftet ist. Sie akzeptiert, so sagt sie, nur Jesus Christus als Arzt, der mit einem Wort heilen könne, wen immer er wolle. Mit dieser Aussage (sozusagen der Forderung nach ‚transzendenter Medizin‘) ist der Kerker, wie in der Agneslegende, vol liechtes (III 181, 80), der Apostel gibt sich zu erkennen und heilt Agatha, denn in dem selben guten gote/ saltu wol gesunt wesen (III 181, 87f.). Petrus ist Mittler und Vermittler von Heiligkeit, an der nun auch Agatha partizipiert. Das blendende Licht macht den Sprung zur Transzendenz auch erzählerisch offenbar, der aber vollzieht sich nicht erst hier und kann erst recht nicht als Folge der Standhaftigkeit Agathas, jede weltliche Arznei abzulehnen, aufgefasst werden. Das gnadenhafte Umschlagen in die Transzendenz, jene radikale Umwertung vollzieht sich bereits mit Agathas Erkenntnis der Unwichtigkeit aller körperlichen und geschlechtlichen Unterscheidungsmerkmale. Es entsteht ein logischer Zirkel, denn diese Erkenntnis kann Agatha eigentlich erst machen, wenn sie die Schwelle zur Transzendenz bereits überschritten hat. Genau in diesem Spannungsfeld, in jenem Umschlagen erweist sich das, was als heilig benannt werden kann. Dieser Umschlagspunkt wird auf der Handlungsebene erst später, durch die begleitenden Lichtphänomene, sichtbar, und darin zeigt sich, dass die Heilige durch die göttliche Heilung über einen transzendierten Körper verfügt, an dem die vorherigen Zeichen der Marter regelrecht gelöscht sind. Bereits André Jolles hat den etymologischen Zusammenhang zwischen heil und heilig, Heilung und Heiligung betont.81 Die wunderbare Heilung durch den ‚Arzt‘ Christus stellt nichts weiter als den Umschlag zur Heiligkeit auch auf der Ebene der Handlung dar. „Der weibliche Körper wird also erst als Objekt der Begierde vorgeführt und als solches regelrecht unschädlich gemacht, um dann, von jeglichem Verdacht befreit, erneut präsentiert zu

|| 81 Vgl. JOLLES, Einfache Formen, S. 13f.

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werden. Der Körper geht transformiert aus dem Martyrium hervor, geheilt und geheiligt, auf paradoxe Weise identisch und nicht-identisch.“82 Wie die weltliche Arznei versagt, versagen auch die weltlichen Foltern; alle immanenten Zeichensysteme sind außer Kraft gesetzt, haben keine Bedeutung mehr. Die weiteren Foltern (durch glühende Kohlen und Scherben) werden denn auch kaum mehr auserzählt und münden in ein großes Erdbeben (auch eine der Begleiterscheinungen beim Tode Christi), das die Folterer abbrechen und Agatha betend im Kerker nach unsers herren gebote (III 183, 58) sterben lässt. Nachfolge und imitatio führen also auch in diesem Falle sowohl über Virginität als auch übers Martyrium zur Heiligkeit, wobei der Märtyrertod die bereits zuvor geoffenbarte Heiligkeit nur noch bestätigt: Agatha führt ihr Leben nach dem Vorbild Marias, um Christus nachzusterben. Für die beiden in diesem Kapitel besprochenen Legenden ist somit durchaus eine geschlechterdifferente Gestaltung auszumachen, wenngleich diese sicherlich nicht für alle Märtyrerlegenden, erst recht nicht für alle weiblichen Heiligen verallgemeinert werden darf. Hierfür ist gerade die in der Nacktheit und Entblößung sich manifestierende Herausstellung weiblicher Sexualität ein deutliches Kennzeichen, welche bei den Folterszenarien männlicher Heiliger hingegen selten eine Rolle spielt.83 Hier jedoch wird der nackte Körper als Objekt der Begierde regelrecht zur Schau gestellt und den Blicken einer voyeuristischen Öffentlichkeit ausgesetzt, um diesen jedoch sogleich wieder entzogen zu werden.84 Die Ausstellung der Sexualität dient dabei nicht zuletzt dazu, über ihre Negierung die Heiligung und Heiligkeit der Märtyrerin darzustellen. Jedes Martyrium ist eine Negierung des Körpers, dem deswegen Wunde um Wunde eingeschrieben werden muss, und gerade die öffentliche Zurschaustellung ihrer Verstümmelung demonstriert drastisch den Abschied der bzw. des Heiligen von der Welt, von allem Weltlichen und Körperlichen – und das heißt: ihre/seine Heiligung. Sexualität jedoch steht geradezu prototypisch für jene körperlichen Bedürfnisse, denen die oder der Heilige in Weltabschied und imitatio Christi gerade entsagt; als ethische Leistung kann diese jedoch nur erscheinen, wenn sie in Frage gestellt, bedroht und doch behauptet wird. Hier lässt sich in der Figur der/des Heiligen durchaus eine bedeutende Geschlechterdifferenz beschreiben, denn Virginität und deren Bedrohung sind Merkmale, die praktisch ausschließlich für Frauen zur Heiligkeit führen und dementsprechend häufig in der Hagiographie narrativiert werden. Bei Agatha und Agnes tritt noch ein weiterer signifikanter Zug legendarischen Erzählens hinzu, der bis jetzt noch nicht zur Sprache gekommen ist, nämlich die

|| 82 WEITBRECHT, magd, S. 282, unter Bezugnahme auf BACHORSKI/KLINGER, Körper-Fraktur, S. 323. 83, Vgl. ebd., S. 278, Anm. 29. WEITBRECHT macht deutlich, dass in den Martyriumsdarstellungen männlicher Heiliger „der entblößte Körper dabei nicht sexualisiert“ werde und Nacktheit „als qualitativ nicht unterschiedener Teil der Qual“ zu gelten habe. 84 Vgl. ebd., S. 287.

306 | Nachfolge bis in den Tod Sicherung ihrer memoria im Gedächtnis der Menschen,85 die Begründung ihrer Verehrung und der Erweis ihrer Heiligkeit durch posthume Wunder. Das Besondere an diesen beiden Legenden ist dabei, dass die memoria-Stiftung hier eine himmlische ist, die somit die erste Bestätigung der Heiligkeit dieser Märtyrerinnen für die Menschen darstellt. Dies wird in den mirakulösen Nacherzählungen deutlich. Nachdem die Christen Agatha begraben haben, nähert sich ein harte selzene schar (III 183, 80) in schneeweißen Kleidern dem Grab, die keiner kennt, der sie konde underscheiden (III 183, 84), und ein harte harte iungelinc quam daher vor der rote. alsam ein himelischer bote was er gestalt nach edelkeit […] von mermelsteine ein tavel groz mit im er truc zu dem grabe. (III 183, 89–92 u. 95f.)

Sodann entfernt sich die sonderbare Gruppe wieder, lässt aber die Tafel da, auf der in lateinischer Sprache geschrieben steht: mentem sanctam, spontaneum honorem/ deo et patrie liberationem (III 184, 10f.).86 Die aus der Perspektive der handelnden Zuschauer inszenierte Szenerie ist für den Rezipienten eindeutig: Wer wie ein himmlischer Bote gekleidet ist in strahlende Gewänder, bei dem kann es sich nur um einen Engel handeln, der im Auftrag Gottes jene Gedenktafel anbringt. Damit wird das Gedächtnis der Heiligen auf Erden festgeschrieben, ihre sanctitas von Gott direkt bestätigt, was zugleich auf die Verehrungswürdigkeit ihres Grabes verweist. Agathas Kult wird damit göttlich sanktioniert, doch mehr noch: Gott setzt die Heilige zudem auch als Schutzpatronin des Landes ein, als die sie in Sizilien bis heute verehrt wird. Und auch, wenn es nach einer solchen göttlichen Einsetzung ihres Heiligengedenkens eigentlich keiner weiteren Belege mehr bedürfte, bestätigt das abschließende Mirakel die künftige Schutzfunktion der Heiligen: Als nämlich am Jahrestag ihres Todes der Ätna ausbricht und die Lavamassen die Stadt bedrohen, erinnern sich nun auch die Heiden an die tugendhafte Agatha, nehmen den Schleier, der auf ihrem Grab ausgebreitet ist, und drapieren ihn vor der Stadt, wodurch die Flammen gestoppt werden und die Stadt verschonen. Agathas Heiligkeit wird auf || 85 Zum Begriff der memoria vgl. Otto Gerhard OEXLE, Memoria als Kultur, in: Ders. (Hg.), Memoria als Kultur, Göttinger Kolloquium vom 30. September bis 1. Oktober 1993, Göttingen 1995 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 121), S. 9–78 (v.a. S. 30–57). Vgl. auch ders., Memoria und Memorialkultur im früheren Mittelalter, in: FMSt 10 (1976), S. 70–95; zur literaturwissenschaftlichen Herangehensweise an dieses Begriffsfeld vgl. u.a. .Friedrich OHLY, Bemerkungen eines Philologen zur Memoria, in: Karl SCHMID u. Joachim WOLLASCH (Hg.), Memoria. Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter, München 1984 (Münstersche MittelalterSchriften 48), S. 9–68. 86 Dies zitiert wörtlich LA 39, 96: Heilig der Geist und willig, Gott die Ehre, Rettung dem Land.

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doppelte Weise bestätigt: durch das tatsächliche Wunder, das im übertragenen Sinne auch als Rettung vor dem Höllenfeuer gelesen werden kann. Dafür gibt die Heilige ein Vorbild, dem es nachzueifern gilt, wie es nicht zuletzt die heilige Lucia tut, deren Heiligkeit sich ebenfalls am Grab Agathas offenbart. Als Kontrastfolie dient dagegen der ungerechte Richter und Werber Quincianus: Er stirbt einen unehrenhaften (ob seiner Taten aber gerechten) Tod, da er von den eigenen Pferden totgetrampelt wird. Mehr noch, sein Leichnam fällt in den Fluss, und nie wart einem menschen kunt/ nach der zit war er bequam (III 184, 67f.). Während Agathas heiliger Körper ein Grab als festen Ort der Verehrung erhält sowie eine von Gott begründete Erinnerungskultur, verschwindet der sündenbeladene Körper des Quincianus ganz, verschwindet so auch aus dem Gedächtnis und bleibt für immer ohne memoria. Ein solcher Akt göttlicher Memorialstiftung über eine himmlische Grabinschrift ist indes nicht so einzigartig, wie sie im ersten Moment scheinen mag. Ähnliches ereignet sich auch an Agnes’ Grab, wo schöne Jungfrauen erscheinen, deren kleider waren an golde/ gezieret und wol durchlesen (III 117, 76f.). Unter ihnen befindet sich auch Agnes selbst, deren Gewand besonders schön leuchtet (ähnlich ihrer auratischen Bekleidung durch den Engel im Bordell). Ihr zur Rechten befindet sich ein lam, noch wizer dan ein sne (III 117, 83), d.h. sie befindet sich an der Seite Christi innerhalb der communio sanctorum. Agnes fordert die Trauernden auf, nicht mehr um sie zu weinen, da sie eben nicht tot sei, sondern im ewigen Leben.87 Darin bestätigt sich ihre Verehrungswürdigkeit auf der Handlungsebene, auf der Ebene der Rezipienten geschieht dies wiederum durch die beiden abschließenden Mirakel, welche zeigen, dass die Heilige allen, auch künftigen Menschen, in Notlagen beisteht. Es handelt sich dabei jedoch nicht einfach nur um scheinbar beliebige Heilungswunder, denn die erste Schilderung einer Heilung am Grab Agnes’ bewirkt, dass ihr dort ein Kloster gebaut wird, um die Verehrung dieses Ortes noch stärker zu etablieren. Das zweite Wunder dagegen ist verknüpft mit Agnes’ exemplarischer Virginität und bestätigt die Realpräsenz der Heiligen an diesem Ort: Als der Papst einen neuen Probst für diese Kirche bestellt, überreicht er ihm einen Ring, mit dem er sich der Heiligen anverloben soll. Eine solche geistliche Hochzeit ist auch für Agnes akzeptabel, die ihren Werber vor dem Martyrium ja stets mit dem Argument der Gottesbrautschaft abgewiesen hatte. Wenn der Priester daher mit dem Ring an ihr Bild tritt, streckt dieses den Finger heraus, um den Ring überzustreifen, wo er künftig in ihrem Bild zu sehen ist.88 In beiden Legenden erweist sich in den Mirakeln die Vor-

|| 87 Dabei ist die incorruptio des heiligen Körpers von besonderer Bedeutung, da physische Unversehrtheit und virginitas für Agnes unmittelbar aufeinander bezogen sind, vgl. BAERT, More than an Image, S. 152. 88 Mehr noch zeigt sich dies in einer anderen Version dieses Mirakels, welche die Legenda aurea überliefert, die aber das Passional nicht übernimmt und welche noch stärker auf Agnes’ vorbildliche Keuschheit verweist: Ein Priester hat so schwere sexuelle Anfechtungen, dass er den Papst bittet, ihn vom Zölibat zu entbinden. Der gibt ihm statt dessen einen Ring und den Auftrag, die heilige

308 | Nachfolge bis in den Tod bild- und Hilfsfunktion der heiligen Jungfrauen, indem sie direkten Bezug nehmen auf deren zuvor in der Legende berichteten Tugenden und Taten. Sie sind daher essentiell zur Begründung ihres Gedenkens, zur Etablierung ihres Kultes, zur imitatio-Aufforderung und zum Nachweis der Hilfe, die den Menschen mit der Anrufung und Verehrung der Heiligen gewährt wird.89

6.2.3 Vom Ritter zum Heiligen: Christusnachfolge, Stellvertretung und soziale Exklusion im Martyrium des Adrian Die Adrianlegende, die vom Martyrium des römischen Offiziers und der Glaubensfestigkeit seiner Frau erzählt, verdeutlicht erneut das im Martyrium liegende Spannungsfeld von Inklusion und Exklusion, das mit dem Weltabschied in der imitaio Christi verbunden ist(vgl. Kap. 5.1). Da Heiligkeit als zusammengesetzte Kategorie aber nicht nur anhand je eines distinkten Merkmals inszeniert wird, sondern das Erzählen vom Heiligen stets durch verschiedene Kategorien gekennzeichnet ist, ist es ein geradezu notwendiges Merkmal hagiographischer Texte, nur sehr bedingt kategorisierbar zu sein. Die Adrianlegende wäre also – unter anderen Gesichtspunkten – problemlos den im vorigen Kapitel besprochenen Texten an die Seite zu stellen, wie umgekehrt die dort analysierte Christina-Legende ebenso auch im Rahmen dieses Teilkapitels auftauchen könnte. Eine Besonderheit der Adrianlegende allerdings ist, dass sie nicht nur von einem Protagonisten erzählt, sondern eigentlich sogar von zwei: Dem Märtyrer Adrian wird seine Frau Natalia an die Seite gestellt, die sein Martyrium und seine Grablegung stets begleitet. Am Eingang der Legende lassen sich gut die bearbeitenden Unterschiede des Passionaldichters gegenüber der Legenda aurea beobachten. Während Jacobus de Voragine mit einer historischen Situierung des Geschehens einsetzt – Adrianus a Maximiano imperatore martyrium passus est (LA 128, 1: „Adrianus hat das Martyrium erlitten unter der Regierung des Kaisers Maximianus“) – und dann sofort mit dem eigentlichen Handlungsgeschehen beginnt, stellt das Passional zunächst die beiden Protagonisten, Adrian und seine Frau Natalia (die in der Legenda aurea erst viel später eingeführt wird) vor. Dabei wird als erstes der ritterliche Status Adrians hervorgehoben: Er ist ein getruwer helt (III 460, 1), der dem Reiche treu dient und witze unde kraft/ eren und gutes genuc (III 460, 6f.) besitzt, kurzum: er erfüllt alle Voraussetzungen eines adeligen Ritters, nur ein Christ ist er noch nicht. Dafür hat er, wie || Agnes an ihrem Bild um die Hochzeit zu bitten; das Bild nimmt den Ring an und der Priester ist künftig von aller sexueller Begierde befreit. 89 Vgl. dazu Edith FEISTNER, Imitatio als Funktion der Memoria. Zur Selbstreferemtialität des religiösen Gedächtnisses in der Hagiographie des Mittelalters, in: Ulrich ERNST u. Klaus RIDDER (Hg.), Kunst und Erinnerung. Memoriale Konzepte in der Erzählliteratur des Mittelalters, Köln u.a. 2003, S. 259-276.

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sich das für einen edlen Ritter gehört, in Natalia ein schone[s] wib (III 460, 12), zwar jung an Jahren, aber alt an Weisheit, die als heimliche Christin die im Kerker gefangenen Glaubensgenossen versorgt. Auf diese Weise präpariert das Passional ein eindeutiges Profil der beiden Hauptpersonen heraus: Adrian und Natalia werden – nach weltlichen Maßstäben betrachtet – bereits als besonders vorbildlich präsentiert, besonders Adrian wird wiederholt als helt (z.B. III 461, 60; 463, 30) und als ritter (z.B. III 462, 9 u. 18; 466, 21) bezeichnet. Dies wären genau jene Wertmaßstäbe, mit denen sich ein ritterlich-laikales Publikum identifizieren könnte – ein solches wäre durchaus im Deutschen Orden zu finden. Indem eine für die Rezipienten offenbar exemplarische Figur eingeführt wird, die ganz bestimmte Wertmaßstäbe erfüllt, bis auf die Tatsache, Heide zu sein, kann der Text im Folgenden demonstrieren, was für ein laikales Adelspublikum als besonders herausragend gelten musste: Die Verbindung von vorbildlichem Rittertum und exemplarischem Christentum, die Überführung von Ritterlichkeit in Heiligkeit. Adrians Weg zum Martyrium wird in diesem Sinne als konsequentes SichEntfernen aus dem weltlichen Stand inszeniert, wobei die treibende Kraft, wie es scheint, vielmehr seine Ehefrau Natalia ist. Nach der Einführung Adrians als Hauptmann der Wache in weltlichen Ehren beschreibt das Passional (nun wieder dem Handlungsaufbau der Legenda aurea folgend) die Christenverfolgung unter Maximianus, im Zuge derer 33 Männer aufgrund ihrer Weigerung, den heidnischen Göttern zu opfern, gefangengenommen und gefoltert werden. Beim Anblick ihrer Qualen, die sie klaglos erdulden, kommen Adrian erste Bedenken: seht, von dirre selben schult/ wart sin herze erweichet (III 461, 69f.). Als er die Verurteilten fragt, weshalb sie denn derartige Leiden auf sich nähmen, erhält er die eher rätselhafte Antwort, dass niemand die Freuden sehen oder beschreiben könne, die Gott für seine Märtyrer bereit halte (vgl. 1. Kor. 2, 9). Für Christen mag eine solche Aussage mit Sinn gefüllt sein, für einen Nicht-Gläubigen ist sie freilich ziemlich nichtssagend. Dennoch bringt diese Antwort für Adrian den entscheidenden Umschwung: hiemite ein liecht niderbrach in Adrianes herzen, daz er e allen smerzen lide in deme gelouben e er im lieze rouben den rechten wec hin zu gote. (III 461, 90–95)

Die Hinwendung zum Christentum und die Entscheidung zur Christusnachfolge aber führt, wie schon die Beispiele Christinas, Agathas und Agnes gezeigt haben, zu einer totalen Exklusion von der Gesellschaft.90 Adrian vollzieht diese Trennung sogleich auch räumlich, indem er mitten unter die Märtyrer springt und sich nun öf|| 90 Zum entindividualisierenden Potential der christlichen Botschaft sowie zum hagiographischen Spannungsfeld von Inklusion und Exklusion vgl. ausführlich oben, Kap. 5.1.

310 | Nachfolge bis in den Tod fentlich zu Christus bekennt. In der Welt, das wird immer wieder klar, produziert Heiligkeit also immer wieder Distanz, Exklusion, Unterscheidungen: Adrian, zunächst Teil der menschlichen Gesellschaft, wird von dieser getrennt, um die Heiligkeit im Martyrium zu erlangen. Er wendet sich mit diesem Schritt für alle sichtbar von seinem bisherigen Rittertum und den damit verbundenen weltlichen Ehren ab, was aus der Sicht der Außenstehenden auch sogleich verdeutlicht wird: dem kunige wart ummazen leit/ daz der ritter was verlorn (III 462, 8f.). Dieser Schritt Adrians ist mit jeglicher Form weltlicher Ritterschaft unvereinbar, und so wird der (vormalige) Hauptmann mit den anderen Christen gequält und in den Kerker geworfen. An dieser Stelle kommt nun seine Frau Natalia ins Spiel. Sie, die ja schon länger heimliche Anhängerin des Christentums ist, geht erneut in den Kerker, um die Gefangenen zu pflegen, vor allem jedoch ihren Mann, über dessen Bekenntnis und die damit verbundene ere (III 462, 38) sie besonders glücklich ist. In einer die künftige Verehrung quasi vorwegnehmenden Pietá-Geste kniet sie sich vor ihm hin und hält seinen Kopf. Dabei macht auch sie dessen Exklusion von der sozialen Gemeinschaft deutlich: du hast in disen stunden alrest den schatz vunden und bist sin teilhaft worden, den dir nicht pflagen horden dine geslechte hie bevor. (III 462, 53–57)

Während ganz zu Beginn der Legende einführend die ritterlichen Standesmerkmale Adrians hervorgehoben werden, betont Natalia nun, dass die mit der Nachfolge Christi im Martyrium verbundenen Ehren keineswegs von den (weltlichen) Verdiensten und Besitztümern der eigenen Sippe herrühren; Glaube ist nichts Ererbtes, sondern muss individuell gelebt werden. Das eigene Geschlecht ist vielmehr hinderlich, da es einen vom Weg zum Heil abhält – und darum ist es notwendig, sich davon zu entfernen: Während die Heiden nämlich reich an Gütern, aber auch an Untugenden wären, sei Adrian indessen armutes vri/ da nicht der werlde schatz hin kumet (III 462, 64f.), denn jeder müsse für sein eigenes Heil, für seine persönliche Schuld einstehen, der Sohn könne nicht für seinen Vater bürgen. Freunde und Verwandte solle Adrian lieber Gott empfehlen und nicht auf deren Geschwätz hören, wand ez werlich itel ist (III 462, 83).91

|| 91 Während das Passional hier vor allem den Unterschied zwischen dem himmlischen und dem weltlichen Schatz herausstellt, ist die Aufforderung zur Weltabkehr in der Legenda aurea noch deutlicher formuliert: Cumque eum admonuisset ut omnem gloriam terrenam contempneret et amicos et parentes sperneret et semper ad celestia cor haberet (LA 128, 19: Also ermahnte sie ihn, dass er allen irdischen Ruhm verachte, Freunde und Verwandte verschmähe und sein Herz allein nach den himmlischen Dingen richte). Während also in der Legenda aurea schon hier eindeutig dazu aufgefordert wird, getreu dem biblischen Jesuswort Verwandtschaftsbeziehungen und Besitz für die Christus-

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Natürlich stellt sich die Frage, was diese ganze lange Mahnrede bezwecken soll, denn Adrian steht überhaupt nicht in Versuchung, von seinem Glauben wieder abzufallen und das Martyrium abzuwenden. Seine Frau scheint dennoch äußerst besorgt zu sein: Als Adrian es verabredungsgemäß arrangiert, kurzzeitig seinen Kerker verlassen zu können, um Natalia zu benachrichtigen, dass seine Hinrichtung bevorsteht (denn seine Frau soll dem Ereignis, das ihm die Ehre der Märtyrer einbringt, beiwohnen), sieht diese sich betrogen. Als ihr Mann unverhofft wieder vor der Türe steht, glaubt sie nämlich, dass er wieder abgefallen und deshalb aus der Haft entlassen worden sei. Sie weigert sich daher, ihm aufzumachen und überschüttet ihn mit heftigen Vorwürfen: Mit ihm, der uz kranker vrucht (III 463, 90) stamme, wenn er Christus verleugne, wolle sie nichts zu tun haben, er solle sich lieber an den anderen heiligen, den guten (463, 95) ein Beispiel nehmen, die noch im Kerker geblieben wären. Adrian habe sich e uz gelezen/ ein convent des vrides (III 464, 2f.),92 doch nun sei alle ihre Freude ins Gegenteil verkehrt, denn ich dachte ich solde wesen ein wib eines mertereres genant. der name ist leider nu verwant, wand er ist ein verlonkener und kumet entrunnen zu mir her, sit er verwarf die gotes gebot. (III 464, 10–15)

Diese Wendung ist, bedenkt man das zuvor von Natalia Gesagte, erstaunlich, sagt sie doch, dass die Ehre des Martyriums auch auf sie zurückfällt. Zuvor hatte sie noch betont, dass der Weg zu Christus und die Ehre des Martyriums, anders als weltliche Besitztümer und Standeszugehörigkeit, gerade nicht familiär übertragbar seien, sondern von jedem einzeln erworben werden müsse. Erneut zeigt sich ein Spannungsfeld zwischen verdienstorientiertem virtus-Ideal und radikaler Gnadenhaftigkeit von Heil und Heiligkeit, eine Gnadenhaftigkeit, an der auch sie selbst partizipieren kann. Hatte sie, nach weltlichen Maßstäben, vorher an seiner Herkunft und seinem hohen Stand Teil gehabt, so nun an seiner Auserwähltheit und Heiligkeit – allerdings nicht als Ehefrau, sondern als Mitchristin. Das Vokabular, mit der dies ausgedrückt wird, bleibt freilich dasselbe, es geht um die Nennung des guten Namens, womit jedoch weniger die Ehre durch die gegenwärtigen Mitmenschen verbunden ist als vielmehr die künftige Verehrung als Heiliger, an der Natalia durch ihre große Verbundenheit mit Adrian partizipieren will.

|| nachfolge hinter sich zu lassen (vgl. Mk. 10, 21: Geh hin, verkaufe alles und gib’s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und folge mir nach; vgl. auch Mk. 10, 28–31; Mt. 10, 35–39 u. 19, 27–30), wird die Entfernung von den sozialen Bindungen im Passional Stück für Stück in Szene gesetzt und wirkt vor allem über den Kontrast zur eingangs geschilderten Stellung der Protagonisten. 92 Dies nimmt wörtlich LA, 128, 34 auf: quis te seduxit ut recederes a conuentu pacis? (Wer hat dich verführt, dass du von der Versammlung des Friedens gewichen bist?).

312 | Nachfolge bis in den Tod Adrian freilich vollzieht genau dies mit: Als er seine Frau erneut anspricht, um sie zu überzeugen, dass er nicht vor dem Martyrium geflohen, sondern im Gegenteil gekommen ist, um ihr seine Hinrichtung zu verkünden, wählt er bewusst die Anrede Natalia, liebe swester min (III 464, 30). Seine Exklusion aus den angestammten sozialen Verhältnissen geht schon so weit, dass er sie nicht mehr als Ehefrau, sondern nur noch als Schwester im Glauben ansieht; immanente Zusammenhänge wie Ehe, Familie, Geschlecht usw. sind unwichtig geworden.93 Als Natalia dies erkennt, ist sie wieder glücklich, sie begleitet Adrian zurück in den Kerker, wo sie die anderen Gefolterten pflegt. Das geschieht ihrerseits wiederum mit deutlichen Exklusionsmerkmalen: ir sloier und ir rise/ nam sie, wand daz was vil weich (III 464, 90), um die Verletzten zu verbinden und ihnen zu dienen als ein meit (III 464, 95). Sie legt damit ihre Standesmerkmale ab94 und dient, obwohl eine freigeborene und hochgestellte Persönlichkeit, den schon vorab mehrfach als Heilige bezeichneten Gefangenen (vgl. III 463, 95; 464, 77; 465, 48; vgl. auch LA 128, 50), indem sie ein heilic amt (III 464, 82) vollführt. Dies verstärkt sich weiter, wenn Adrian am nächsten Tag vor den König in Fesseln als ein morder oder ein dieb (III 465, 19) geführt wird; die anderen, schwer Verwundeten werden gar wie Vieh zum Richtplatz geschleift. Von der eingangs beschriebenen ritterlichen Würde ist nun überhaupt nichts mehr zu sehen, obgleich Adrian nach wie vor ein edele[r] man (III 465, 34) ist.95 Adrian und die anderen erscheinen so als Verbrecher, als Stigmatisierte, deren (vermeintliche) Devianz jedoch mit dem Märtyrertod ins Charisma des Heiligen umschlägt. Während Adrian den Zorn des Königs und die Schläge seiner Knechte klaglos erduldet, berichtet Natalia alles den anderen verurteilten Christen, um sie zur imitatio aufzufordern. In dieser Situation, wo er standhaft für seinen Glauben Qualen erduldet, wird aus Adrian, der vormals Hauptmann der Ritter des Königs war und nun wie ein Dieb vor diesem || 93 Gegenüber der Legenda aurea, die Natalia vom genus imperiorum (vgl. LA 128, 36 u. 37) sprechen und sie sogar einen Vergleich mit dem Verrat des Judas ziehen lässt (quomodo mentitur alter Iudas; LA 128, 45), nimmt das Passional die Anklage Natalias stark zurück, um vielmehr die Zusammenhänge von christlicher Gemeinschaft vs. gebürtlicher Sippe zu betonen. Erst hier nennt Adrian sie bewusst swester (dagegen LA 128, 42: domina mea Natalia), in der Legenda aurea geschieht dies aber schon bei ihrer ersten Begegnung im Kerker (soror mea, LA 128, 20). Das Passional führt hier schrittweise die Entfremdung vom eigenen Sippenkörper vor, der durch die communio sanctorum ersetzt wird. In der Legenda aurea wird dies dagegen kaum mehr narrativ erfasst, sondern ist bereits mit dem (im übrigen ohne Lichtmetaphorik auskommenden) Umschlagsmoment bei der Bekehrung Adrians vollzogen. Alles in allem weicht der Passionaldichter dabei zwar kaum von seiner Quelle ab, lässt an seinem Text aber dennoch eine deutliche Bearbeitung erkennen. 94 Schleier und Haarreif kennzeichnen sie als verheiratete Frau, vgl. Ruth SCHMIDT-WIEGAND, [Art.] Haar, in: HRG 1, 1971, Sp. 1880–84, hier 1882: Unverheiratete Frauen trugen in der Regel ihr Haar offen, nach der Heirat wurde es hochgebunden. 95 Die Legenda aurea verstärkt an dieser Stelle die imitatio-Anklänge, wenn Adrian, gleich Jesus das Kreuz, seine eigene Folterbank vor den Kaiser schleppen muss: Deinde Adrianus portans sibi eculeum cesari presentatur. (LA 128, 55).

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steht, ein gotes ritter (465, 94). Mit dem miles christi ist jedoch genau das Ideal angesprochen, das nicht zuletzt für Rezipienten aus dem Bereich des Deutschen Ordens eine besondere Bedeutung besessen haben dürfte; es verwundert nicht, dass die Legenda aurea keinen vergleichbaren Ausdruck hier anbringt. Das ist sicherlich kein Beweis, dass der Text gezielt für diesen Rezipientenkreis verfasst worden ist, zeigt aber einmal mehr die Nähe des Passionals zu Gedankengut und Wertvorstellungen dieser Gemeinschaft. Denn hier wird vorgeführt, wie man sich von weltlichem Stand und Ehre loslöst und den Ritterstand in ein (im Kontext der Legende wohl eher metaphorisch zu verstehendes) Gottesrittertum überführen kann. Demgegenüber besteht zu den Deutschordensrittern als ‚reale‘ Gottesritter durchaus ein Unterschied, wobei der Martyriumsgedanke als Tod im Kampf gegen die Heiden an den Grenzen des Deutschen Ordens im 14. Jh. durchaus noch von Belang gewesen sein mag.96 Diese Form der Entweltlichung wird weiter voran getrieben, wenn es etwa von der Folterung Adrians heißt, an im wart gestillet/ werltlich ere und gemach (III 466, 28f.) und er so lange geschlagen wird, bis seine Eingeweide zu sehen sind: An Adrians Körper, der vormals iunc und dannoch starc (III 465, 13) war, ist die den adeligen Körper auszeichnende Schönheit und Jugendlichkeit vollends ausgelöscht, statt dessen wird in der Öffentlichkeit der Märtyrerkörper präsentiert, an dem die Zeichen des Leidens eingegraben sind und der gerade dadurch geheiligt ist. Als der so Zerschundene wieder in den Kerker zurückgebracht wird, tritt erneut seine Frau Natalia hinzu, um die neu erworbene Ehre des Martyriums in der imitatio Christi hervorzuheben: wol dich, wol mich der ere, daz du vurbaz mere ein merterer vur gote bist! unser herre Iesus Crist liez sich an dem kruze widen und hat durch dich den tot geliden. diz hastu im nach diner macht an ein gelt itzu bracht mit des libes getwanc. (III 466, 63–71)

Das Martyrium wird von ihr nicht nur als Nachfolge Christi interpretiert, sondern ebenso als Entgelt, als ‚Wiedergutmachung‘ gewissermaßen für den durch Christus || 96 Vgl. dazu auch Edith FEISTNER, Krieg im Visier. Bibelepik und Chronistik im Deutschen Orden als Modell korporativer Identitätsbildung, Tübingen 2007, S. 27–36. Eine solche exemplarische Überführung von Ritterlichkeit in Heiligkeit lässt sich natürlich nicht nur im Passional festmachen, sondern ist allgemein für die Viten zahlreicher ‚Ritterheiliger‘ kennzeichnend (Mauritius, Sebastian, Georg u.a.), vgl. dazu auch unten, Kap. 8.2.1. Es ist jedoch signifikant, dass das Passional die Elemente und Merkmale ritterlicher Wertvorstellungen besonders betont, nicht nur in diesem Zusammenhang. Für die Georgslegende, dem wohl prägnantesten Fall, zeigt dies exemplarisch SEIDL, Blendendes Erzählen, zur Version des Passionals dort S. 41–72; vgl. auch unten, Kap. 8.2.1.

314 | Nachfolge bis in den Tod für die Sünden jedes Einzelnen erlittenen Kreuzestod. Auch wenn Natalia in ihrer ersten Rede an Adrian (vgl. III 462, 64–77) gerade betont hat, dass, anders als bei weltlichen Schulden, für seine Sündenschuld jeder Einzelne individuell einstehen müsse (was Adrian genau hier tut), so fällt diese Ehre dennoch auch auf sie zurück.97 Doch auch wenn in diesem Zusammenhang das gleiche Wort verwendet wird, geht es eben nicht um einen wie auch immer gearteten adeligen, mit dem Namen verbundenen Ehrbegriff, sondern es geht um die Ehre der Märtyrer und ihrer Erhebung zu Ehren der Altäre.98 An dieser Ehre kann sie nicht über Verwandtschaft, sondern übers Gebet partizipieren, und deshalb kann sie später ihren Mann schon jetzt darum bitten, nach seinem Tod vor Gott für sie einzustehen: so bite ich dich, la des nicht, du enmanes gotes gute, daz er im mich behute reine unz an minen tot und daz er mich uz dirre not kurzelich hin zu sich neme. (III 467, 32–37)

Da es Natalia selbst nicht möglich ist, die Christusnachfolge im Martyrium anzutreten, ist sie (wie die meisten Christen) darauf angewiesen, dass an ihrer Stelle die Heiligen Gott für sie bitten werden. Auch wenn jeder für seine eigene Schuld selbst einstehen muss, können die Heiligen stellvertretend Fürbitte leisten, besonders natürlich diejenigen, die einem schon im Leben begegnet oder gar persönlich nahe gestanden sind.99 Daraus erklärt sich auch die immer wieder aufkeimende Angst Natalias, ihr Mann könnte doch noch vom Glauben abfallen und nicht als Märtyrer

|| 97 Zu dieser Vorstellung vgl. Arnold ANGENENDT, Sühne durch Blut, in: ders., Liturgie im Mittelalter, Münster 2004, S. 195–225, hier S. 215f.: Der Märtyrer bezahlt mit seinem eigenen Blut für seine Sünden und erfährt dadurch eine zweite Wiedergeburt (nach der Taufe als erster). „Galt die Sühne des Martyriums zunächst nur dem Märtyrer selbst, so wurde rasch ein wichtiger ausweitender Schritt vollzogen, dass nämlich die im Martyrium erworbene Sühne auch anderen mitgeteilt werden konnte“ (ebd., S. 215). 98 Erneut sind die Formulierungen der Legenda aurea spezifisch anders: Zwar wird auch Adrians vormalige Schönheit und Jugend gegenüber seinem nun zerschlagenen Körper betont (Erat autem Adrianus iuuenis delicatus ualde et decorus annorum XXVIII; LA 128, 71: Dieser Adrianus war zu der Zeit bei achtundzwanzig Jahren, ein sehr zarter und schöner Jüngling.), so bringt Natalia anschließend Adrians Tod nicht mit sich selbst in Verbindung, sondern spricht allein ihren Mann an: Beatus es, domine mi, quia dignus effectus es numero sanctorum (128, 73: Selig bist du, Herre mein, dass du die Würde erlangt hast, zu den Heiligen zu zählen). Dies zeigt einmal mehr, dass das Passional hier mit einer anderen Konzeption operiert, welche die Verbindung von Rittertum und Heiligkeit in den Vordergrund stellt. 99 Das gilt besonders für das Mittelalter, wie Arnold ANGENENDT an der Verehrung des hl. Bonifatius beschreibt: „Einen Märtyrer, den man selbst noch erlebt und dessen blutigen Leichnam man vor Augen gehabt hatte, begriff man als unfehlbaren Fürsprecher“ (ANGENENDT, Heilige und Reliquien, S. 37).

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sterben. Wie Christus stellvertretend für alle Menschen gestorben ist, ist auch Adrians Märtyrertod stellvertretend für alle Christen, gegenüber Natalia ist es aber fast ein substituiertes Martyrium. Das erklärt, weshalb Natalia einerseits die anderen Verurteilten immer wieder mit der exemplarischen Standhaftigkeit Adrians ‚anfeuert‘, andererseits ihren Mann, nachdem er sich erst einmal zum Christentum bekannt hat, selbst exzessiv zum Martyrium drängt und dabei immer wieder seine Aufgabe fürchtet.100 Sie selbst vollzieht dabei ebenfalls einen Abschied von der Welt, allerdings ganz anders geartet: Hatte sie sich zunächst aller Standesmerkmale entledigt, so ist sie nun gezwungen, sich gar als Mann zu verkleiden, d.h. die Haare abzuscheren und Männerkleidung anzulegen, da der Kaiser verhindern will, dass sie und weitere Frauen die Qualen der Gefolterten im Kerker weiter lindern. Sie kann nicht wie Adrian ihr Leben für ihren Glauben aufgeben, aber sie gibt ihre Identität dafür auf, und zwar zunächst die ständische, dann sogar die geschlechtliche. Die Nebenhandlung um Natalia ist deshalb so wichtig, weil sie eine weitere Perspektive der Legende eröffnet: Vorbildlich und bewundernswert ist nicht nur die Standhaftigkeit und Leidensfähigkeit Adrians im Glauben, der nachzufolgen für einen mittelalterlichen Rezipienten ohnehin schwierig wäre. Zusätzlich wird darum gezeigt, wie Adrian in seiner Exemplarizität in der imitatio Christi auch für jeden einzelnen Menschen bis in die Gegenwart hinein vorbildlich und nützlich ist, als Heilsvermittler, als Fürsprecher, als Nothelfer, an den sich die Menschen auf dem Weg zu Gott halten können. Natalia bleibt der Weltabschied im Tod verwehrt: Als die Leichen der Märtyrer zuletzt noch zur Unkenntlichkeit verbrannt werden sollen, will sie sich selbst ins Feuer stürzen, was jedoch ein göttliches Wunder abwendet. Regen fällt herab, verhindert Natalias Selbstmord und die Schändung der Leichen, daz si in gotes namen/ alda belagen unverbrant (III 468, 22f.) und ihre incorruptio gewahrt bleibt. Natalias Weltabkehr und Teilhabe an der Heiligkeit Adrians erweist sich auf anderem Wege: Sie hat sich nämlich die linke Hand Adrians, die ihm ganz am Schluss auf ihren Wunsch abgehackt worden war, als Reliquie aufgehoben, so dass der Heilige, der mit den anderen Märtyrern inzwischen nach Konstantinopel umgebettet worden ist, in der Reliquie (auch dies ein schatz; III 468, 43) als Stellvertretungsobjekt seine Schutzfunktion über sie weiterhin ausüben kann. Das ist auch notwendig, da Natalia als Witwe nun das Begehren verschiedener Verehrer weckt, denn sie ist weiterhin schone und ouch edel (III 468, 48), will jedoch nichts davon wissen; vursten unde ritter/ versmête si uf erden gar (III 468, 75). Für sie kommt keine Rückkehr || 100 Das geht soweit, dass sie zum Schluss verlangt, Adrian solle als erster zu Tode gefoltert werden (den Verurteilten sollen auf einem Amboß die Knochen zerschmettert werden), damit er nicht im letzten Moment angesichts der Qualen der anderen doch noch in Zweifel gestürzt würde. Sodann fordert sie Adrian, dem eben die Füße abgehackt worden sind, noch mit den Worten la dich pinigen noch me/ herre min, Adriane (III 467, 87f.) auf, sich auch noch die linke Hand abhauen zu lassen, woraufhin der Märtyrer endgültig verstirbt.

316 | Nachfolge bis in den Tod in den früheren Stand mehr in Frage, zu sehr hat sie sich von der Welt schon verabschiedet. Als die Bedrängnis zu groß wird, flieht sie mit anderen Christen auf ein Schiff, das zu den Gräbern der Märtyrer um Adrian aufbricht. Die Verfolger werden vom Sturm überrascht und ziehen sich zurück, und selbst der Teufel, der ihnen persönlich in Gestalt eines fremden Schiffers um Mitternacht auf einem Boot begegnet, vermag nicht, die Gesellschaft auf die falsche Route zu locken: den rechten wec lat bliben da/ und wandert hin zur linken hant! (III 469, 90f.), so fordert er sie auf – die linke Hand aber meint nicht nur die schlechte Seite, sondern ist hier zugleich die Reliquie Adrians. Denn als das Schiff schon wendet und den verderblichen Kurs aufs offene Meer nimmt, erscheint Adrian selbst in einer auf dem Wasser schwebenden Barke, von Gott geschickt: diz was sin heiliger knecht/ Adrianus, der in erschein (III 470, 22f.); er leitet sie sicher zu seinem Grab nach Konstantinopel. Die Vorbildlichkeit und Heiligkeit des Märtyrers sowie die Zusicherung der Nothilfe durch ihn wird mit diesem Mirakel auf eindrucksvolle Weise bestätigt. Adrian gibt sich seiner Frau zu erkennen, warnt vor dem falschen Kurs des Teufels und geleitet das Schiff sicher in den Hafen. Er erweist sich als ein geleite in guter schowe (III 470, 39), der, natürlich vor allem im übertragenem Sinne, den Christen den rechten Weg weist. Natalia nimmt ihn liecht, schone und wehe (III 470, 44) wahr, all dies Attribute und Phänomene der Transzendenz, des Heiligen. Auch ihr Abschied von der Welt ist nun gekommen, und er gelingt, was wichtig ist, mit der Hilfe Adrians. An seinem Grab angekommen, betet sie zu ihm und vereint die Hand-Reliquie wieder mit dem restlichen Körper, und mit dieser Wiedervereinigung geht auch die zweite Vereinigung einher, da ihr nun im Traum erneut Adrian erscheint, der sie zu sich in unsers herren erbe (III 470, 72) ruft – erneut wird standesrechtliches Vokabular zitiert. Natalia stirbt kurz darauf und wird an der Seite ihres Mannes bestattet, der sich damit exemplarisch für sie, wie für alle Menschen, als Vorbild wie als Mittler und Vermittler des Heils erweist.

6.2.4 Nachfolge ohne Märtyrertod: Martha Mit der Legende der heiligen Martha soll zuletzt noch eine Form der imitatio Christ aufgegriffen werden, die zwar am Kreuzestod ausgerichtet, nicht aber im Martyrium verwirklicht ist. Hier fungiert nicht allein Jesus Christus als exemplarisches Vorbild, sondern ebenso auch Marthas Schwester Magdalena, die das Passional ja bereits im zweiten Buch der Boten plaziert hat. Immer wieder nehmen ihre beiden Viten aufeinander Bezug, die anfangs gewissermaßen parallel verlaufen: ihr gemeinsamer Haushalt von Magdalena und Martha, die gemeinsame Flucht nach Südfrankreich.101

|| 101 Der Beginn der Martha-Legende bezieht sich direkt auf das im zweiten Buch zu Maria Magdalena Erzählte: Martha Marien swester was,/ als man uch da vor las,/ do man von Marien schreib./ wie ez

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Solche Bezüge machen es möglich, die vermittelnde Funktion der Magdalenenlegende als Bindeglied zwischen zweitem und drittem Buch zu erfassen. Dafür ist die Figur Marthas als deren Schwester natürlich besonders geeignet, kann hier doch demonstriert werden, wie vorbildgebend Magdalena nicht zuletzt auch für Martha ist. Das betrifft nicht nur die exemplarische Christusliebe, sondern insbesondere Magdalenas Hilfe für Martha in deren Todesstunde, auf die das Passional ebenso ausführlich eingeht. Die Vorbildhaftigkeit Magdalenas wird damit nicht nur für Martha, die mit ihr schließlich auch genealogisch verbunden ist, sondern überhaupt für alle Heiligen hervorgehoben.102 Die Martha-Legende, die das Passional präsentiert, zerfällt in mehrere Teile: In einer längeren Exposition (90 Verse) wird zunächst Marthas Stellung zu Jesus und zu ihrer Schwester Maria Magdalena erläutert. Es folgen drei Wunderberichte, die ihre Heiligkeit und Auserwähltheit unter Beweis stellen, bevor in einem dritten Abschnitt ausführlich über die Umstände ihres Todes berichtet wird. Ein letzter Teil schließt unmittelbar daran an und schildert die wunderbaren Geschehnisse, die sich bei ihrer Grablegung ereignen – es sind hier ausdrücklich keine Mirakel und Wunderhandlungen, die die Heilige nach ihrem Tod wirkt bzw. die an ihrem Grab geschehen, sondern es geht hier um ein von Christus selbst gewirktes Wunder zur Bestätigung der Aufnahme Marthas in die communio sanctorum. Die Exposition weicht in dieser Form sehr stark von der Vorlage der Legenda aurea ab. Während dort lediglich gesagt wird, Martha stamme aus königlichem Geschlecht, habe zusammen mit ihren Geschwistern Maria Magdalena und Lazarus mehrere Länder besessen und versucht, ihre Schwester Magdalena vom sündigen Leben abzubringen, holt das Passional viel weiter aus. Zunächst wird mit implizitem Verweis auf die Magdalenenlegende (als man uch da vor las; III 332, 2) Marthas Herkunft erläutert, das Zusammenleben mit ihren Geschwistern und dass Magdalena sich durch Jesus bekehrt habe. Aufgrund der spezifischen Erzählanlage des Legendars, das all diese Informationen bereits ausführlich im Rahmen der MagdalenaLegende im zweiten Buch abhandelt (vgl. II 39764ff.), ist ein solcher Verweis auf vorher bereits Gesagtes sinnvoll, da es die Gesamtkonzeption des Passionals ermöglicht, alle drei Bücher in ihrer quasi-chronologischen Reihenfolge nacheinander zu lesen, anstatt wie die Legenda aurea von vornherein auf Einzellektüre abgestellt zu sein. Während Jacobus de Voragine bestimmte Informationen mehrmals aufführen

|| sich hub, wie ez sich treib,/ daz ist unterscheiden u./ man saget uch wie ir were dru,/ Lazarus, Marthe, Marie,/ und wie die selben drie/ ir gut teilten besunder./ ouch seite man uch darunder/ ein teil ir iegliches leben,/ und wie Marien wart gegeben/ ein wandelunge vollen gut (III 332, 1 – 333, 7). 102 Auf die Vorbildhaftigkeit Magdalenas nimmt die Marthalegende des Passionals auch explizit Bezug, indem zu Beginn (ohne Vorbild in der Legenda aurea) ein weiteres Mal die biblische Erzählung referiert wird, in der Jesus Marthas Arbeitseifer die große Minne Magdalenas gegenüberstellt, dazu unten ausführlicher.

318 | Nachfolge bis in den Tod muss, kann der Passionaldichter hier auf bereits als bekannt Vorausgesetztes verweisen. Für den Verfasser scheint es dennoch gegen seine Gewohnheit an dieser Stelle nötig zu sein, noch einmal die biblische Erzählung vom Gastmahl Jesu im Haus der beiden Schwestern (Lk. 10, 38–42) zu referieren, obwohl er dies bereits im Rahmen der weitaus umfangreicheren Magdalenenvita getan hat. Die Formulierungen sind hier aber ganz andere, und auch die Perspektive ist nun ganz auf Martha ausgerichtet. Dargestellt wird jene Szene, in der Martha als Gastgeberin hin und her eilt, um dem Messias möglichst umfassend zu dienen, während Maria nur Jesus zu Füßen sitzt und ihm zuhört. Der Passionialdichter erzählt die biblische Begebenheit gegen die Legenda aurea aus, legt aber den Schwerpunkt auf die jeweilige Protagonistin: In der Magdalenenvita wird vor allem die Bekehrung Magdalenas herausgestellt, während die Fußwaschung Jesu dann zum Anlass genommen wird, die Ebene der Narration zu verlassen und eine Reflexion über Marias große Minne zu Jesus einzuschalten. Die Marthalegende perspektiviert dagegen die Rolle Marthas als Gastgeberin, die im Kontrast zur (vermeintlichen) Untätigkeit Magdalenas steht. Als Martha sich deshalb beklagt, entgegnet Jesus, Maria habe den besten Teil erwählt, das nicht von ihr genommen werden solle (…Mariam optimam partem ellegit; Lk. 10, 42 – der Vulgata-Text ist hier eindeutiger als die gängigen Übersetzungen). Diese Perikope hat in der mittelalterlichen Kirche eine breite Auslegungstradition erfahren, die hier nicht im Einzelnen dargelegt zu werden braucht, die aber die wichtige Rolle beider Schwestern insbesondere für die mittelalterliche Mystik bezeugt und die wohl auch der Grund für ihre explizite Erwähnung sein dürfte. Während Martha demnach eine vita activa verkörpert, steht Maria für eine vita contemplativa. Dabei stellt sich, wohl auch in Folge der mariologischen Interpretationen des 11. und 12. Jhs., durchaus ein Wandel in der Bewertung der beiden Rollen ein: Während zuvor besonders Maria als Idealbild der mystischen Gottesschau Anerkennung gezollt wurde, verschiebt sich der Akzent allmählich zu Martha als der älteren und reiferen der beiden Schwestern, die eben nicht wie Maria zunächst der Sünde verfallen war, als Gastgeberin Christi auftritt und der somit eine höhere Stufe der Vollendung zugesprochen wird.103 Eine derartige Aufwertung der Marthafigur gegenüber Maria Magdalena ist im Passional allerdings nicht zu spüren. Nicht nur, dass Maria als einzige Frau in das

|| 103 Während Dietmar MIETH, Die Einheit von Vita activa und Vita contemplativa in den Predigten und Traktaten Meister Eckarts und bei Johannes Tauler. Untersuchungen zur Struktur des christlichen Lebens, Regensburg 1969, S. 198–208, diese Aufwertung Marthas erst im 14. Jh. bei Meister Eckart feststellen will, kann Martina WEHRLI-JOHNS, Maria und Martha in der religiösen Frauenbewegung, in: Kurt RUH (Hg.), Abendländische Mystik im Mittelalter, Stuttgart 1986, S. 354–367, hier bes. S. 361, diesen Wandel als bereits im 12. Jh. angelegt nachweisen. Zu den entsprechenden exegetischen Traditionen, bes. der mariologischen Interpretation, vgl. ebd., S. 355–358. Eine Zusammenstellung patristischer und mittelalterlicher Texte zur Maria- und Martha-Tradition ist zu finden bei Donatus BALDI, Enchiridion locorum sanctorum, Jerusalem 1935, S. 451–480.

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zweite Buch, das ‚Botenbuch‘ Aufnahme gefunden hat und in ihrer Vita in höchstem Maße ihre Auszeichnung und Auserwähltheit gegenüber Gott zur Geltung kommt, auch die Auslegung der in der Marthalegende wiedergegeben Bibelstelle lässt einen solchen Schluss zu. Der Erzähler kommentiert Marthas Tadel an ihrer Schwester damit, ihr sei es versagt gewesen zu wissen, dass Marias Herz uf daz hohe minnen/ in arbeitlichen sinnen (III 333, 71f.) ausgerichtet sei. Daher habe Christus sine maget/ die im den hohsten dienst bot (III 333, 74f.) entschuldigen wollen und Martha klargemacht, dass Maria, indem sie allein ihm zuhört, daz beste hat erkorn (III 333, 81; so auch fast wortwörtlich in der Magdalenenlegende, vgl. II 40281), das ihr niemals genommen werden könne. Es ist also eindeutig, dass Marias Gottesschau – bei aller Anerkennung der Gastgeberin Martha – das höhere Ziel ist; die in sich versunkene Gottesliebe ist besser als das tätige Dienen, und hierin ist Maria vollkommen, deren Vorbild Martha folgen sollte. Das ist eine Position, die sich noch deutlich von der Mystik des 14. Jhs abhebt, die Martha als Ideal und Vorbild für Maria sieht, wie es eindringlich die Meister Eckhart zugeschriebene Predigt 86 ausführt.104 Dabei setzt der Passionaldichter bei der Wiedergabe der Lukasperikope entscheidende Akzente, indem er die besondere Stellung Maria Magdalenas, die bei ihm ja schon konzeptuell zum Tragen kommt, an dieser Stelle nochmals bibelexegetisch begründet, ohne dass dabei Martha (und mit ihr das Konzept der vita activa) in irgendeiner Weise herabgewürdigt wird; dennoch verharrt das Passional hier wie auch im Rahmen der Magdalenenvita in der traditionellen Auslegung des Marthabildes nach Lukas. Diese Vorbildlichkeit Magdalenas gegenüber Martha zeigt sich vor allem in der Schilderung ihres Todes, zuvor jedoch sind in der Legende drei Wunderepisoden eingeschoben, die augenscheinlich einer Lokaltradition des in Südfrankreich beheimateten Marthakultes angehören.105 Es geht zunächst darum, wie sich die beiden Schwestern zusammen mit Lazarus zu Schiff nach Frankreich aufmachen, um den Verfolgungen zu entkommen; auch hier kann der Erzähler auf bereits Dargestelltes verweisen (vgl. II 40333ff.). Nun aber gilt es, die spezifischen Merkmale der Heiligkeit Marthas (und eben nicht Magdalenas) in den Vordergrund zu rücken, und hierfür greift die Legende u.a. auf drei heterogene und unzusammenhängende Wunder|| 104 Vgl. Meister Eckharts Predigten, hg. u. übers. v. Josef QUINT, Bd. 3, Stuttgart 1976, S. 472–492. 105 Zur Überlieferungsgeschichte der Legenden von Maria Magdalena und Martha vgl. ausführlich HANSEL, Maria-Magdalena-Legende, bes. S. 94–127. Demnach ist die Martha-Legende erst mit dem Aufblühen ihres Kultes in Tarascon ab 1187 in ihrer eigentlichen Form entstanden, eine erste vollständige Fassung ist durch einen als Ps.-Hrabanus benannten Zisterzienser Ende des 12. Jh. überliefert, vgl. ebd., S. 111. Elisabeth MOLTMANN-WENDEL, Die domestizierte Martha. Betrachtungen zu einer vergessenen mittelalterlichen Frauentradition, in: Evangelische Theologie 42 (1982), S. 26–37, geht in ihrer geschlechterspezifischen Analyse leider, nicht zuletzt in Unkenntnis des legendarischen Überlieferungskontextes, von unzulässigen Bezügen und Verallgemeinerungen aus. Die regionalen Komponenten insbesondere der ersten beiden Episoden, die vermutlich auf eine provenzalische Legende zurückgehen, werden nicht zuletzt an den auch in der Legenda aurea noch halbwegs präzisen geographischen Angaben ersichtlich.

320 | Nachfolge bis in den Tod geschichten zurück, denen man z.T. den Lokalkolorit der Region Südfrankreichs, die bis heute Zentrum der Verehrung dieser Heiligen ist, noch anmerkt. Das betrifft vor allem die erste Episode, in der es um die Bedrohung durch ein gefährliches merwunder (III 334, 28) geht. Martha, die durch ihre Tugendhaftigkeit, ihre vom Heiligen Geist erfüllten Predigten und allerlei Wunderzeichen das Volk um Marseille bekehrt hat, wird um Hilfe gegen dieses Wesen, halb Fisch, halb Tier, gebeten. In der Legenda aurea folgen an dieser Stelle längere etymologische und enzyklopädische Ausführungen. Demnach ist dieses Untier der Verbindung von Leviatan und Onachus entsprungen (generatus a leuiathan, qui est serpens aquosus et ferocissimus, et ab onacho animali; LA 101, 11: das ist eine wilde Schlange, die im Wasser lebt, mit Onachus gezeugt, das ist ein Tier). Jacobus de Voragine hat seinen Text für gebildete Rezipienten verfasst, die mit der mittelalterlichen Bibelallegorese vertraut waren, nach der Leviatan mit dem Satan gleichgesetzt wurde, insbesondere in den Hiob-Kommentaren Gregors des Großen.106 Vor dieser Auslegungstradition erhält Marthas Erlösungstat eine explizit heilsgeschichtliche Dimension: Wie Christus den Satan in der Gestalt des Leviatan besiegt, so soll nun seine Nachfolgerin dem Abkömmling des Leviatans gegenübertreten; imitatio wird auf die Ebene allegorischer Auslegung gehoben. Der Passionaldichter ist freilich an derartigen gelehrten Auslassungen wenig interessiert. Er gibt zu diesem merwunder nur wenige Auskünfte und betont die Hybridität und damit auch das Widernatürlich-Monströse dieses Wesens, das sowohl zu Land als auch im Wasser sich bewegen und Unheil anrichten kann (es frisst Menschen und versenkt Schiffe). Die Bezeichnung als ubele[r] trache (III 334, 56) eröffnet jedoch auch seinem volkssprachigem Publikum jene gängigen hagiographischen Deutungsmuster, die den Kampf der Heiligen mit dem Drachen analog zum Kampf Christi mit dem Höllendrachen setzen.107 Martha erweist sich dabei als eine der we-

|| 106 Schon im Alten Testament wird der Leviathan als Meeresungeheuer angesehen, in der christlichen Antike wird er als Drache bezeichnet. Gregor d. Gr. deutet seinen Namen dahingehend, dass er als Schlange im Wasser lebe und mit einem Angelhaken, nämlich Christus, gefangen werde. Hilfe gegen das Untier kommt demnach von Christus, der seine Macht gebrochen hat. Vgl. Paul VAN IMSCHOOT u. Christian HORNUNG, [Art.] Leviathan, in: RAC 22, 2008, Sp. 1245–51. Jacobus de Voragine bewegt sich somit in althergebrachten und als bekannt vorausgesetzten Deutungsbahnen. Das als Onachus benannte Wesen bereitet mehr Probleme. Der Begriff Onager taucht bei Isidor von Sevilla auf, allerdings als Wildesel; als Mischwesen gelten Isidor die Onocentauren, halb Menschen, halb Esel (so auch in Konrads von Megenberg Buch der Natur). Möglicherweise mag der sonst nicht belegte Onachus damit zusammenhängen, handelt es sich doch bei dem merwunder der Legende ebenfalls um ein Mischwesen. Auf die gleiche Weise wird er im Physiologus abgehandelt, vgl. Der Millstätter Physiologus. Text, Übersetzung, Kommentar, hg. v. Christian SCHRÖDER, Würzburg 2005, Kap. 52f. 107 Vgl. dazu Andreas HAMMER, Der heilige Drachentöter – Transformationen eines Strukturmusters, in: Andreas HAMMER u. Stephanie SEIDL (Hg.), Helden und Heilige. Kulturelle und Literarische Leitbilder des europäischen Mittelalters, Heidelberg 2010, S. 143–179, hier S. 153–160.

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nigen weiblichen Heiligen der christlichen Legendentradition, die es mit einem drachenähnlichen Untier aufnimmt, und sie bewältigt dies auf relativ konventionelle Art: indem sie Weihwasser und ein Kreuz einsetzt, metonymische Zeichen des Sieges Christi über das Böse und exorzistische Requisiten zur Bekämpfung des Teufels. Mit diesen ‚Waffen‘ gerüstet tritt Martha dem Ungeheuer entgegen, sie übergießt es mit Weihwasser und hält ihm das Kreuz vor, so dass es augenblicklich alle Kraft verliert und so zahm wird, dass die Heilige ihm ihren Gürtel um den Hals werfen und es wegführen kann (das Motiv der Jungfrau, die den Drachen an ihrem Gürtel wegführt, begegnet auch in der Tradition der Georgslegende). Die zweite Wundererzählung berichtet von einem Jüngling, der beim Versuch, einen Fluss zu überqueren um die Heilige predigen zu hören, ertrunken ist: si brachten in zur vrowen/ und hiezen in beschowen/ den, der durch ir wort ertrank (III 335, 75–77). Das Unglück muss in Martha umso mehr Mitleid erregen, als es um ihretwillen geschehen ist. Ihr Bemühen, den Toten wiederzuerwecken, funktioniert ebenfalls über Kontiguitätsbeziehungen: Sie wirft sich kruzewis (III 335, 84) auf die Erde und setzt ihr Bittgebet um die Auferweckung des Jünglings folgendermaßen an: ‚Adonai, herre got‘ sprach si, ‚Iesu gotes sun, der ein wunder woldes tun an minem bruder Lazaro, des wir alle wurden vro […]‘ (III 335, 86–90)

Erst dann spricht sie zu dem Toten, in Christi Namen aufzustehen und Gott zu loben, was auch sogleich geschieht und erneut viele Menschen zur Bekehrung bringt. Eine solche Zweiteilung in Gebet mit der Bitte um Hilfe und direkter Aufforderung im Namen Gottes oder Jesu ist in hagiographischen Erzählungen charakteristisch, insbesondere für Totenerweckungen (zu anderen Beispielen vgl. die Petrus- und die Silvesterlegende, 4.2.2 u. 9.2.2). Ebensowenig ist es ungewöhnlich, dass die oder der Heilige dabei auf bereits von Gott vollbrachte gleichartige Wunder Bezug nimmt und nun ein analoges Ereignis erbittet (vergleichbar den historiolae christlicher Segensformeln oder Zaubersprüche, vgl. oben, Kap. 4.2.1). Martha aber spricht mit der Auferweckung ihres Bruders Lazarus ein Ereignis an, bei dem sie selbst zugegen war, ja um das sie selbst Jesus gebeten hatte (vgl. Joh. 11, 1–46); mit dem Höhepunkt der Auferweckung des Lazarus beschließt das Johannesevangelium die Reihe der Wunderzeichen Christi und macht vollends seine Macht über Leben und Tod deutlich. Zwischen den beiden Ereignissen – Marthas und Jesu Totenerweckung – besteht in gewisser Weise eine Kontiguitätsbeziehung, einmal in der Ähnlichkeit der beiden Ereignisse, vor allem aber in der Person Marthas als unmittelbare Zeugin, die mit Christus und dem auferweckten Lazarus in enger Verbindung steht, nicht zuletzt ruft sie Christus im Gebet mit min lieber gast an (III 335, 92). Auch hier jedoch

322 | Nachfolge bis in den Tod geht es um die unmittelbare Präsenz des Göttlichen, die Heilige überbrückt gerade die Distanz, die darum nicht mehr zeichenhaft vermittelt werden muss. Die Erinnerung an die Erweckung des Lazarus und Marthas mimetischer Nachvollzug des Kreuzigungsaktes, indem sie sich kruzewis auf den Boden wirft, stellt eine metonymische Verbindung zwischen den Ereignissen her und bewirkt die Realpräsenz der Heiligkeit Jesu, die für die Erweckung des Lazarus wie für die des Jünglings sorgt.108 Die dritte Wundererzählung, die freilich kaum etwas mit Martha zu tun hat, betont stärker metonymische Beziehungen als die Realpräsenz Christi durch imitatio. Darin geht es um die blutflüssige Frau, die nach dem Evangelienbericht durch die Berührung des Gewandes Jesu geheilt worden ist (Mk. 5, 25ff. u. Lk. 8, 43ff.) und die nach Ambrosius mit Martha identisch gewesen sei (eine der seltenen Quellenangaben, die das Passional von der Legenda aurea übernimmt). In Ergänzung zur Legenda aurea, die diese Geschichte als bekannt voraussetzt, wird diese im Passional zunächst nacherzählt; dass es sich bei jener Frau um Martha gehandelt haben soll, ist die einzige Verbindung zum Kontext ihrer Legende. Jesu Heiligkeit manifestiert sich pars pro toto (im Sinne mythischen Denkens) in seinem Gewand, so dass die Frau durch den bloßen Kontakt damit gesund werden kann, während Jesus bemerkt, dass ein Teil seiner Kraft (ipso virtutem quae exierat de eo; Mk. 5, 30 – man könnte auch sagen: ein Teil seiner Heiligkeit) abgezogen wird, oder, wie es der Passionaldichter formuliert: wand sich hat uz mir gevurt/ genade als ich gevulet habe (III 336, 56f.). Die göttliche Heilkraft in dem Gewand setzt sich, so führt die Legende aus, jedoch weiter fort, indem Martha davon rechte ein sulchez bilde (III 336, 82) habe machen lassen, soum unde valden dran erlesen/ sime kleide wol gelich (III 336, 84f.). Es handelt sich hier offenbar nicht um ein vera icon, wie es z.B. die Veronikalegende und ebenso die der Apostel Simon und Judas vorführen. Während im vera icon der Veronikalegende gerade nicht das Abbild Jesus nur repräsentiert, sondern hierin vielmehr ebenfalls die Realpräsenz Christi wirkt, ist in diesem Fall tatsächlich eine Zeichenrelation gegeben: Es geht um ein Bild-Abbild-Verhältnis, denn in der Nachbildung des Gewands, in dem Martha die Heiligkeit Christi erfahren hatte, setzt sich diese Heiligkeit nun fort. Allerdings ist auch hier wieder Martha die eigentliche Mittlerin, denn um ihretwillen wirkt Gott ein Wunder (seht, do liez got durch Marthen/ sich wisen da ein wunder; III 336, 92f.): Er gibt dem Gras darunter Heilkräfte, sobald || 108 HAFERLAND, Metonymie, S. 334, spricht von metonymischen Darstellungsmodi, während „der Erfahrung des Heiligen überhaupt schon ein metonymischer Wahrnehmungsmodus zugrunde“ liege. Allerdings wäre hier die Trennschärfe zwischen Metonymie und imitatio klarer auszuloten: Metonymie drückt dabei stets Kontiguitätsbeziehungen aus (zwischen Ereignissen, Dingen etc.), während imitatio dagegen auf der Ebene der Handlung liegt; sie umfasst einen konkreten Vollzug (Nach-Vollzug), der sich erst dann auch narrativ niederschlagen kann. In diesem Sinne erweist sich der Metonymie-Begriff auf der Handlungsebene hagiographischer Erzählungen als problematisch. Ohne dies hier weiter zu vertiefen wäre jedenfalls zu überlegen, inwieweit das imitatio-Modell statt dessen auf der histoire Beziehungen schafft, wie sie auf der discours-Ebene durch typologische Verweisstrukturen geschaffen werden; beides wäre von metonymischen Relationen abzugrenzen.

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es das Standbild des Gewandes berührt, das darum bald eine Pilgerschar von Siechen anzieht. Es bildet sich eine regelrechte Kette metonymischer Bezüge: Die Heiligkeit Christi geht über in sein Gewand, und von dort in das Abbild des Gewandes, das seine Heil-Wirkung wieder durch Kontaktübertragung auf die Kranken wie das Gras weitergibt; Marthas Heiligkeit wird dabei in ihrer Vermittlerrolle innerhalb dieser Metonymien-Kette dargelegt. Die Möglichkeit, diese Vermittlerrolle einzunehmen, gründet der Passionaldichter in Marthas großer Tugendhaftigkeit. Jungfräulichkeit als höchste dieser Tugenden ist für Martha allerdings nicht verbürgt; wir vinden nicht von ir geschriben,/ daz si hete ie keinen man (III 333, 24f., vgl. LA 101, 4). Umso mehr muss darum im zweiten Teil der Legende ihr übriger asketischer Lebenswandel dargestellt werden: Martha gründet schon bald nach ihrer Ankunft in Südfrankreich ein Frauenkonvent, von wo aus sie ihr Wirken für die Christenheit beginnt. Es ist vor allem ihre Predigt, mit der sie viele Leute bekehrt, wand des heiligen geistes kraft/ machte sie vil redehaft (III 334, 11f.). Dies wiederum rekurriert auf das Pfingstereignis, wodurch Martha den Aposteln nachfolgt. Besonders eindrücklich wird Marthas Streben nach dem weißen Martyrium durch strenge Askese geschildert. Sie und ihre Frauen halten sich von aller Sünde fern (vgl. III 335, 14–19), Martha selbst enthält sich aller leiblichen Genüsse: dem libe si nicht vertruc/ wand si gar nidersluc/ swaz lust an uns heische (III 335, 31–33). Sie verzichtet auf Fleisch, Eier, Käse, Wein, kurz alles swaz die gelust reizet (III 335, 37), und mindestens hundertmal fällt sie jeden Tag und jede Nacht auf die Knie zum Gebet, um ein reines Herz in Christus zu bewahren. Eine solche Strenge gegenüber allen körperlichen Bedürfnissen lässt den Erzähler feststellen: in harte grozer heilikeit/ und des libes harte/ lebete vrowe Marthe (III 335, 20–22). Diese Abtötung des Fleisches macht aus Martha eine Märtyrerin des Geistes, ein unblutiges Martyrium, das, wie oben (6.1.1) ausgeführt, in Analogie zum christlichen Opfertod gesetzt wird. Besonders erweisen sich imitatio und Christoformitas aber in der Schilderung vom Tode Marthas, der dieses Konzept von der spirituellen Ebene wieder auf die reale Ebene der Handlung überträgt. Die gnadenhafte Auserwähltheit Marthas wird schon darin sichtbar, dass ihr, als sie nach tugendreichem und gottgefälligem Leben uf ein heilic alder (III 337, 27) gekommen ist, Gott bereits ein Jahr voraus ihren Tod angekündigt habe; ein Jahr, das sie krank ans Bett gefesselt bleibt. Acht Tage vor ihrem Tod erlebt sie in einer visionären Schau die Himmelfahrt ihrer Schwester Maria Magdalena, deren Seele sie umgeben von Engeln erblickt. Erneut wird der Vergleich zu ihrer Schwester gezogen, die mit der vita contemplativa schließlich daz beste hat erkorn (III 333, 81) und deren Tod und Aufnahme in den Himmel für Martha nun selbst Zeichen des nahenden Todes ist. Martha folgt Maria hierin auch im wörtlichen Sinne nach, und das Moment der Vorbildhaftigkeit Maria Magdalenas für ihre Schwester (und nicht umgekehrt, wie es dann v.a. die spätmittelalterliche Mystik propagiert), macht die Erzählung nachfolgend noch mehrfach geltend.

324 | Nachfolge bis in den Tod Da Martha die Vision von der Aufnahme ihrer Schwester in den Himmel als Zeichen ihres eigenen unmittelbar bevorstehenden Todes erkennt, heißt sie den um sie in Trauer versammelten Konvent, eine Unmenge Kerzen bei ihr anzuzünden und in der Nacht ihres Todes bei ihr zu wachen. Zum Zeitpunkt ihres Todes soll es hell sein, und sie möchte nicht allein sein, worin sich auf der einen Seite Furcht vor dem Tode spiegelt, gleichzeitig aber Reminiszenzen an die biblische Szene am Ölberg zeigen, wo Jesus, ebenfalls von Furcht befallen, seine Jünger bittet, mit ihm zu wachen und zu beten. Und wie in dieser Szene werden die Wachen müde und schlafen ein; darauf weht ein sturmwint vil groz (III 338, 13) durch das Haus, der alle Lichter verlöscht, und Martha sieht eine große Schar von Teufeln kommen. Angstvoll ruft die Heilige Gott an, sie vor den Teufeln, die sie holen wollen, zu bewahren (die Anrede in III 338, 20: heli, heli, vater min, erinnert ebenfalls an Christi Ausruf am Kreuz). Es erscheint daraufhin ihre Schwester Maria Magdalena, schone und wolgestalt. si brachte sulchen gewalt vor deme ane sumen die tuvele ez musten rumen und von dannen sterzen. (III 338, 39–43)

Magdalena vertreibt so die Teufel und zündet auch die verlöschten Kerzen wieder an, doch während Martha noch glücklich mit ihrer Schwester spricht, seht, do kumet aldort her Iesus zu dirre vrowen. […] ‚kum‘, sprach er, ‚vrundinne min wand du salt bi mir sin in der ewigen wunne. kum du seligez kunne, min liebe gastgebinne, wand du in reinem sinne uf ertriche entpfienge mich. sus wil ich in min riche dich, deiswar lieblich entpfan; ouch wil ich din geniezen lan, swer dich anrufet in der not. (III 338, 54f. u. 59–69)

Zum einen wird hierbei der Status der Heiligkeit Magdalenas und damit ihre Exemplarizität vor Martha herausgestellt, denn sie ist es, die aus der communio sanctorum agierend der Schwester zur Hilfe kommt und eine solche gewalt besitzt, dass sie die Teufel in die Flucht schlägt. Ihre Christoformitas kann sie mit diesem Sieg unter Beweis stellen, Martha wird diese mit dem Eintritt ihres Todes noch erreichen. Magdalena hat die Heiligkeit bereits erlangt (deutliches äußeres Zeichen hierfür ist, dass sie schone unde wolgestalt ist, s.o.) und kann daher Martha dabei helfen, sie eben-

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falls zu gewinnen. Doch ist in diesem Umstand keinesfalls eine Abwertung Marthas zu sehen, im Gegenteil: Denn nach Magdalena kommt Christus persönlich zu ihr, um ihr die Aufnahme in den Himmel zu garantieren. Dieses äußerst seltene Privileg ist außer ihr vor allem einer gewährt worden, nämlich der Jungfrau Maria selbst. Und so ist diese Sterbeszene nicht zuletzt auch eine imitatio Mariae, mit dem Unterschied, dass der Gottesmutter vor ihrem Tod versprochen wurde, sie werde gerade nicht von Teufeln heimgesucht (vgl. I 11396ff.); das Vorbild Marias bleibt letztlich doch ein unerreichbares, das nur imitiert, dem aber nicht gleichgekommen werden kann. Dennoch ist gerade die Parallele zum Transitus-Mariae-Bericht augenfällig: Auch dort schlafen alle Wächter (bis auf die Apostel) ein, auch dort erscheint darauf Christus selbst und redet Maria mit den Worten kum, vil liebe muter min (I 11247) an; Martha begrüßt er mit kum vrundinne min (s.o.; die Legenda aurea belässt es bei der Anrede dilecta hospita mea; LA 101, 39). Beiden verspricht er die Aufnahme ins Paradies, Maria, weil sie als seine Mutter ihn geboren hat, Martha, weil sie ihn als seine Gastgeberin auf Erden empfangen hat. Und beiden verspricht er, dass die Menschen, die sie im Gebet anrufen, durch sie Hilfe erlangen sollen. All dies findet der Passionaldichter schon in der Legenda aurea vor, gestaltet es jedoch so aus, dass die Parallelen zwischen den beiden Sterbeszenen bis auf die Wortebene reichen. Auch wenn zwischen beiden Passagen im Passional zehntausende von Versen liegen und sie in ganz unterschiedlichen Büchern und Zusammenhängen stehen, so ist diese Gleichförmigkeit dennoch beileibe kein Zufall, da der Passionaldichter auch an anderen Stellen gezielt derartige Ähnlichkeiten schafft, wie sich z.B. in der Andreaslegende und deren Bezügen zum Tod Jesu zeigt (vgl. Kap. 4.1). Die Heiligkeit Marthas wird somit zusätzlich bestärkt und bestätigt in einer imitatio Mariae in der Sterbeszene (und zwar auf Wort- und Erzählebene), ihr eigentlicher Tod hingegen ahmt nicht Maria, sondern Christus nach (wie ja auch Marias Tod dem Christi nachgebildet ist). Denn nach Jesu Zusicherung des ewigen Lebens in der Gemeinschaft der Heiligen lässt sich Martha nach draußen tragen und sich die passien, die Lucas schreib (III 338, 97) vorlesen. Sie stirbt genau an der Stelle, an der ihr Jesu Tod am Kreuz vorgelesen wird, und zwar bei den Worten: vater min, in dine hant/ bevel ich minen geist (III 339, 2f.). Damit zieht sich dieses Lukas-Zitat (Lk. 23, 46) paradigmatisch durch das gesamte Passional: Es sind im ersten Buch die letzten Worte Jesu (I 7144f., mit jenem auffälligen Wechsel vom Johannes- zum Lukasevangelium, s.o., Kap. 3.2.2), dann legt der Verfasser des Passionals (wiederum ohne Vorlage in der Legenda aurea) die gleiche Formulierung Maria bei deren Tod in den Mund (I 11920f., wobei Maria nicht Gottvater, sondern ihr liebez kint anspricht), und nun dient die gleiche Formulierung nicht als Ausspruch, sondern als Zitat, bei dem Martha stirbt. Ihr Tod ist darum paradigmatisch als imitatio Christi zu verstehen: Indem sie sich die Passionsgeschichte vorlesen lässt und bei genau den gleichen Worten stirbt, mit denen auch Jesus gestorben ist, wird ihr Tod ebenfalls ein Nachvollzug des Kreuzestodes. Lesen und Handeln überlagern sich, der ‚Sinn‘ des gesprochenen, gelesenen Wortes erfüllt sich unmittelbar in ihr, anders gesagt: In

326 | Nachfolge bis in den Tod Martha manifestiert sich das Wort erneut im Nachvollzug des Todes. Martha stirbt zwar nicht als Märtyrerin, aber die Legende erzählt ihren Tod wie den Christi: Narrativ gelingt der heiligen Asketin damit gleichermaßen ein Nachvollzug des Todes Jesu, doch es bleibt die Differenz, dass dies nur durch die Vermittlung der Schrift und des Vorlesens gelingt. Dies erfährt zuletzt eine Bestätigung in der mirakulösen Nachgeschichte der Grablegung der Heiligen. Berichtet wird nämlich, wie zur gleichen Zeit der heilige Fronto (die Legenda aurea setzt hinzu, dass er der Bischof von Périgueux gewesen ist) während der Messe nach der Lesung der Epistel auf seinem Stuhl eingeschlafen und in einer Vision Christus begegnet sei, der ihn aufgefordert habe, die Beerdigung der eben verstorbenen Martha (miner gastgebinne; III 339, 31) vorzunehmen. Jesus und er gelangen unverzüglich in das etwa 250 km Luftlinie entfernte Tarascon, wo der Bischof das Begräbnis durchführt.109 Als der Diakon den Bischof jedoch zur Lesung des Evangeliums wieder weckt, beschwert sich dieser, er sei von ihm so hastig von der Beerdigung weggeholt worden, dass er seinen Ring und seine Handschuhe in Tarascon vergessen habe. Man schickt Boten dorthin, die die Gegenstände tatsächlich vorfinden, wodurch die Begebenheit bestätig wird. Hier manifestiert sich erneut das Wunder der Bilokation, da Fronto an zwei Orten gleichzeitig anwesend ist, und ebenso die wunderbar unterschiedlichen Zeitabläufe: Nicht nur, dass Fronto zusammen mit Jesus innerhalb kürzester Zeit eine Strecke von mehreren hundert Kilometern zurücklegen kann, sondern vor allem, dass er in Tarascon eine ganze Begräbniszeremonie halten kann, während in Périgueux im Rahmen der Messe lediglich die Zeit zwischen Epistellesung und Evangelium vergeht; beide Lesungen sind in der Liturgie kurz nacheinander geschaltet (was auch den Passional-Rezipienten bekannt gewesen sein muss, da auf diesem Umstand dort ebenso insistiert wird). Mit Ernst Cassirers Prinzipien des mythischen Denkens ließe sich hier von einer Konkreszenz des Raumes und der Zeit sprechen. Die legendarische Erzählung übernimmt mythische Raum- und Zeitvorstellungen; versteht man mit Cassirer Mythos als Denkform, so können die Logiken solch mythischen Denkens auch in anderen, nicht zuletzt literarischen Erzählformen auftreten.110 Insgesamt scheint in derartigen ‚anderen‘ Rationalitäten ein spezifisches Signum des Heiligen zu liegen, ein narratives Kriterium, das beim Erzählen vom Heiligen zum Tragen kommt und das sich auf der Handlungsoberfläche in spezifischen Phänomenen wie Bilokationen nieder-

|| 109 Wobei das Passional die Ortsnamen, die für seine Rezipienten ohnehin keine Bedeutung hätten, gar nicht nennt, sondern lediglich von einem lant wol hin dan (339, 15) spricht; nur die Ortsangaben der Legenda aurea lassen die Entfernung klar werden. 110 Vgl. CASSIRER, Philosophie, Bd. 2, S. 123–136; vgl. auch Günter DUX, Die Zeit in der Geschichte, Frankfurt a. M. 1989, S. 123f. Ohne hier im Einzelnen auf die komplexen Verflechtungen und Differenzen zwischen Mythos, Legende und Literatur einzugehen, sei an dieser Stelle nur auf STOLZ, Umgang, verwiesen, der bestimmte, implizite, eben ‚mythische‘ Rationalitäten auch in den biblischen Erzählungen des Alten und Neuen Testaments feststellt, vgl. oben, Kap. 1.2.

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schlägt. Innerhalb des mythischen Denkens stellen solche Koinzidenzen (genauso wie metonymische Kontiguitätsbeziehungen) typische Operationsformen dar, welche im Rahmen erzählerischer oder kultischer Vollzüge (und nur dort) die Trennung von Immanenz und Transzendenz zu überbrücken suchen. Auf diese Weise wird in der vorliegenden Legende einerseits die besondere Auserwähltheit des heiligen Fronto herausgestellt, denn er ist es, an dem diese Operationsformen in Erscheinung treten, die innerhalb hagiographischer Erzählungen unter dem Begriff ‚Wunder‘ subsumiert werden und dort den Kontakt mit bzw. den Einbruch der Transzendenz (vermittelt über die Figur Jesu) signalisieren und somit die Heiligkeit der betreffenden Person markieren. Der vorliegenden Legende geht es jedoch vorrangig darum, mithilfe besagter Operationsformen111 die besondere Heiligkeit Marthas zu demonstrieren. Nicht nur, dass Christus persönlich zu ihr kommt, sie zu sich ruft und ihr das Himmelreich verspricht, sie damit als Heilige bestätigt und ihr Fürbittfunktionen zuspricht, er sorgt auch dafür, dass seine ‚Gastgeberin‘, wie er sie nennt, ein heiligmäßiges Begräbnis erhält: durch einen hochrangigen Kirchenvertreter (ein Umstand, der gerade für die hierarchiebewussten mittelalterlichen Rezeptionsschichten von Bedeutung gewesen ist) und begleitet von denkwürdigen Wundern, die in diesem Falle keine Translationswunder der Gebeine sind, sondern von Christus persönlich gewirkte Begräbniswunder. Die Wunder um ihre Grablegung dienen somit der weiteren Bestätigung von Marthas Heiligkeit, die zuletzt durch Fonto nochmals beglaubigt wird: Als jener sich nämlich in Begleitung von Jesus vom Grab entfernt habe, so erzählt der Bischof, sei ein Mann auf sie zugetreten und habe Jesus nach dessen Namen gefragt. Dieser habe ihm jedoch lediglich ein Buch vorgelegt, in dem folgendes geschrieben gestanden sei: in der ewigen gehugende sal Martha gerecht wesen, des lesten tages wol genesen, als die ubeln herte wort horen vor gerichte aldort, die manigem werden alzu scharf. (III 339, 90–95; vgl. LA 101, 57)

Auf jeder Seite dieses Buches aber sei genau dasselbe gestanden. Die Zusicherung Christi, Martha habe im Jüngsten Gericht nichts zu befürchten, richtet sich damit nicht mehr an die Heilige selbst, wie es Christi direkte Rede an sie getan hatte, sondern an die Nachwelt und somit die Rezipienten der Legende. Marthas Heiligkeit ist in einem heiligen, einem göttlichen Kodex geschrieben, und eine derartige Legitimation durch Buchwissen kennzeichnet gerade die mittelalterliche Klerikalkultur. Zudem wird die Aussage durch die transzendente Herkunft – das Buch wird von || 111 Diese sind gekennzeichnet durch die Phänomene der Bilokation und der temporalen Koinzidenz, wobei die Gleichzeitigkeit der Ereignisse für ‚rationales‘ Empfinden gerade eine Ungleichzeitigkeit ist, da die Zeitdauer der beiden Ereignisse differiert: Neben Bilokation also auch ‚Bitemporalität‘.

328 | Nachfolge bis in den Tod Christus selbst präsentiert – bekräftigt, die sich nicht zuletzt darin zeigt, dass auf jeder Seite das immer gleiche steht. Gleichzeitig spiegelt sich darin auch die Präsenzkultur des Mittelalters, in der eine Aussage umso mehr bestätigt wird, wenn sie öffentlich sichtbar beglaubigt ist, und je öfter eine solche Beglaubigung geschieht, umso gültiger wird sie. Marthas Heiligkeit wird auf jeder Seite dieses Buches immer aufs Neue versichert, wie auch die zuvor erzählten Wunder diese stets aufs Neue bezeugen. Das Passional berichtet nicht von weiteren Wundern und Mirakeln nach ihrem Tode (immerhin eines kennt die Legenda aurea noch, nämlich die Heilung des Frankenkönigs Chlodwig an ihrem Grab), sondern endet in einem der typischen Abschlussgebete, in dem sich der Erzähler im kollektiven Plural (nu hilf uns…; III 340, 11) an Jesus und Martha wendet und um das ewige Leben bittet. Während das in der Legenda aurea angeführte Mirakel das individuelle Eingreifen der Heiligen in die Lebenswelt der Nachmenschen demonstriert, schafft der Passionaldichter so einen direkten Bezug für die Gegenwart seiner Rezipienten.

6.3 Fazit Blickt man auf die im vorangegangenen Kapitel besprochenen Legenden, so zeigen sich jeweils übergreifende Zusammenhänge mit dem imitatio-Modell, wie es an den Apostellegenden bereits diskutiert wurde, sowie mit den daran anschließend vorgestellten Basisoppositionen: Zusammen mit den beschriebenen Körperkonzepten spielen diese Zusammenhänge für die Narrativierung von Märtyrerheiligkeit eine zentrale Rolle. Dies tritt mal klarer, mal weniger deutlich hervor: Zwar ist beispielsweise bei Agnes eine Vorgeschichte nur rudimentär vorhanden, sie gibt aber immerhin Auskunft darüber, dass die Heilige eigentlich eingebunden ist in eine adelige Standesgesellschaft. Aus dieser exkludiert sich Agnes nicht zuletzt durch ihre Weigerung zur Heirat und die Ankündigung ihrer Christusbrautschaft anstelle dessen. Die Gesellschaft vollzieht ihre Exklusion aber ebenfalls, indem Agnes ins Bordell gebracht wird und damit von ihrer sozialen Herkunft vollständig gelöst wird; genau an dieser Stelle ereignet sich der Umschwung vom Stigma ins Charisma: Das sie dann rettende Haarwunder erweist sie als zumindest schon partiell inkludiert in die Sphäre der Transzendenz; die vollständige Inklusion geht dann konform mit der vollständigen Exklusion aus der Welt im Märtyrertod. Viel genauer lässt sich diese Dialektik bei Adrian feststellen: Er ist zu Beginn der Legende als adeliger Offizier des Kaisers fest in eine höfisch anmutende Sozialordnung inkludiert. Im Laufe der Handlung setzt er sich immer stärker davon ab, er exkludiert sich aus dem weltlichen Stand, wobei es bezeichnend ist, dass die 33 Märtyrer, denen er sich dann zugesellt, allesamt namenlos und gleichsam entindividualisiert erscheinen. Sie vollziehen als Märtyrer exemplarisch das Vollkommenheitsideal des christlichen Kreuzestodes mimetisch nach und werden für die Legende bereits als Mitglieder der himmlischen Gemeinschaft wahrgenommen, für die es keine indi-

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vidualisierenden Differenzierungskriterien mehr bedarf.112 Diesem als Ideal vorgeführtem Status nähert sich Adrian schrittweise an, indem er sich ebenso schrittweise von seinem bisherigen Status exkludiert: Er vollzieht den radikalen Wandel vom Ritter zum Heiligen. Die Rolle seiner Frau Natalia ist somit dahingehend zu interpretieren, dass sie nun nicht mehr als seine Ehefrau agiert, sondern statt dessen den Exklusionsprozess aktiv unterstützt, um eine Inklusion in die communio sanctorum zu gewährleisten. Dass Adrian, der vormalige Ritter, danach wie ein Mörder oder Dieb vor den Kaiser geführt wird, ist offensichtlicher Ausdruck seiner Exklusion, die durch die Foltern und dem damit einhergehenden Verlust seiner den adeligen Körper kennzeichnenden Stärke und Schönheit noch verdeutlicht wird. Als Stigmatisierter wird Adrian zur Richtbank geführt, als charismatischer Heiliger anschließend von Natalia propagiert und später für alle sichtbar verehrt. Ähnlich deutlich lassen sich die narrativen Formen der imitatio konstatieren: Dass das Martyrium als vollkommenste Form der imitatio Christi praktisch unmittelbar zur Heiligkeit führt, ist in der christlichen Diskurstradition unumstritten. Imitatio schlägt sich, wie das 4. Kapitel gezeigt hat, aber auch erzählerisch nieder: Der oder die Heilige wird Christus angeglichen, deren Leiden mit dem des Gekreuzigten nicht nur gleichgesetzt, sondern teils unmittelbar, d.h. über das konkrete Aufrufen bestimmter Motive (Motive der Passion fließen in die Darstellung ein), teils über metaphorische Verweise (die Leiden der Märtyrer erfahren eine Ausdeutung, die sie mit denen Christi gleichsetzt), teils über paradigmatische Bezüge zu Leben und Sterben Christi. Exemplarisch konnte dies bereits an der Andreas-Legende gezeigt werden, die in der Kreuzigung des Apostels gar eine mimetische Angleichung an die Leiden Christi vorführt. Die Apostel sind darum Nachfolger par excellence, und die narrative Inszenierung ihrer Heiligkeit beispielgebend für die übrigen hagiographischen Erzählungen – nicht nur in der Inszenierung des Martyriums, sondern auch in den übrigen Formen der imitatio. Nachfolge kann sich narrativ aber auch als imitatio eines oder einer anderen Heiligen entfalten, wie es z.B. Lucia in der Nachfolge ihres Vorbilds Agatha tut, deren Martyrium parallel zu dem Agathas verläuft. Bei den einzelnen Martyriumsschilderungen zeigt sich, dass Heiligkeit und Märtyrertod jeweils an spezifische Körperkonzepte gebunden sind, die sich mit den Begriffen Körperschrift und Auferstehungsleib charakterisieren lassen. Der Märtyrerkörper lässt sich dabei semiotisch als Medium für die Repräsentation von Heiligkeit betrachten, in den mit den Wunden der Marter die Zeichen der Heiligkeit regelrecht eingeprägt werden. Dieses Konzept des gemarterten Körpers gleichsam als ‚Schrifttafel‘ ist aber insofern zu spezifizieren, als die darin eingravierten ‚Schriftzeichen‘ in vielen Fällen sogleich wieder verschwinden: Die Foltern bleiben wirkungslos, die Märtyrer können nicht verwun-

|| 112 Vgl. nochmals VON MOOS, Inklusionsindividuum, S. 261, der von einer „weltliche[n] ‚Identitätslosigkeit‘ in der Nachfolge Christi“ spricht.

330 | Nachfolge bis in den Tod det werden. Auf der einen Seite muss die Schrift also deutlich herausgestellt werden, indem die Foltern und Verwundungen in ihrer ganzen Grausamkeit beinahe exzessiv geschildert werden, auf der anderen Seite versagt eben dieses Zeichensystem. Heiligkeit zeigt sich damit einerseits in der Leidensfähigkeit der Märtyrer, andererseits gerade in der Nichtbeobachtbarkeit ihrer ‚Beschriftung‘. Dies wiederum ist rückgebunden an das Konzept des Auferstehungsleibes: Hier präsentiert sich am Heiligen ein transzendenter Körper, an dem die herkömmlichen Zeichensysteme versagen müssen. Indem der bereits transzendente Körper weiterhin in der Welt verbleibt, können jene Unterscheidungen getroffen werden, die notwendig für das Erzählen an sich sind. Der Heilige erscheint damit als idealer Mittler zwischen Immanenz und Transzendenz, da er im Martyrium in beiden zugleich zu sein scheint; dieses Zugleich jedoch ist nur narrativ, nicht diskursiv aufzulösen. Das Konzept des Auferstehungsleibes wird mustergültig in den Legenden der Märtyrerinnen Agnes und Agatha deutlich: Beide versuchen, dem Ideal der Christusbrautschaft zu folgen, beide sollen, quasi als Gegenmodell, ins Bordell gesteckt werden, ohne dass dies jedoch Wirkung zeigt. Vielmehr lässt sich am Haarwunder von Agnes ein Umschlag von Unheil in Heil, von Scham in Gnade zeigen, mithin ein Übergang von der Immanenz zur Transzendenz. Das Spannungsfeld der Heiligkeit zeigt sich erneut in einem transzendierten Körpermodell; das Freudenhaus wird zum Bethaus, Agnes’ ‚heilige Aura‘ hingegen kann den Heiden, der sie berühren will, töten, die Heilige ihn dann aber sogleich wieder auferwecken. Wie die grundlegenden Überlegungen im 5. Kapitel gezeigt haben, kann diese radikale Umwertung als Umschlagsmoment, als Umschlagen von Stigma in Charisma verstanden werden. Das anschließende Martyrium bestätigt nurmehr Agnes’ Heiligkeit, die sich zuvor schon in ihrer standhaften Keuschheit erwiesen hatte. Gleiches gilt für Agatha; hier wird das Modell des Auferstehungsleibes ausgerechnet in ihrer Verstümmelung deutlich: Indem der Heiligen die Brüste abgetrennt werden, mithin also ihre Geschlechtsmerkmale, und sie sich einer Heilung verweigert, vollzieht sich auch hier eine radikale Umwertung. Die Heilige spricht nun von ihren ‚inneren‘ Brüsten, welche schon auf ihren Auferstehungsleib vorausweisen. Nach der Heilung durch den Apostel Petrus schlagen keinerlei Foltern mehr bei ihr an, der transzendente Leib ist unverwundbar. Bei Agnes wie bei Agatha wird Heiligkeit damit nicht nur über die imitatio im Martyrium, sondern zugleich über die Christusbrautschaft inszeniert, über das an Maria ausgerichtete Modell der virginitas: eine imitatio Mariae führen beide Frauen aus, indem sie wie die Gottesmutter Christus nachsterben. Demgegenüber führt die Adrianlegende die exemplarische Umwandlung vom Ritter zum Heiligen vor, und sie zeigt dies, indem der künftige Märtyrer sich mehr und mehr von seiner Welt, d.h. seiner sozialen Umgebung, seiner Ritterlichkeit exkludiert. Es scheint jedoch ein spezifisches Kennzeichen des Passionals zu sein, diese Exklusion zwar wie die Legenda aurea sichtbar zu machen, ja sogar noch deutlicher zu konturieren, wenn man an den Kontrast zur Eingangsbeschreibung des ritterlichen Hauptmanns denkt, dabei aber gerade die äußerlichen Merkmale und

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das Vokabular einer ritterlich-adeligen Welt beizubehalten. Indem Adrian in einer Art Doppelung der Protagonistenrolle seine Frau Natalia an die Seite gestellt wird, können diese beiden Aspekte in der Legende gleichermaßen präsent gehalten werden. Die höfisch-ritterlichen Wertvorstellungen werden somit nicht negiert, vielmehr führt Adrian die Vereinbarkeit von Rittertum und Heiligkeit vor, indem er sich vom adelig-weltlichen Ritter zum gotes ritter wandelt: Er exkludiert sich von der Welt, nicht aber vom Rittertum. Nachfolge als miles-Christi-Modell zu inszenieren ist das spezifisch Neue, das das Passional – im Unterschied zu seiner Vorlage – ausdrücklich propagiert. Adrian kann, das zeigt sich an der Figur der Natalia, zum Vermittler einer solchen Heiligkeit werden, er kann als Vorbild den Weg vom Ritter zum Heiligen oder zumindest zum göttlichen Heil auch anderen weisen, nicht zuletzt darin liegt die nachahmenswerte Exemplarizität, die das Passional an diesem Heiligen aufzeigt. In besonderer Weise kann in der Ignatiuslegende eine Engführung zwischen Zeichen und ihrem Träger beobachtet werden: In der Herzensschrift des Ignatius konkretisiert sich das geschriebene Wort, Christus ist tatsächlich präsent, denn Signifikant und Signifikat werden praktisch ununterscheidbar. Diese Ununterschiedenheit bringt letztlich das Paradoxon des Heiligen zeichentheoretisch zur Geltung, die Herzensschrift wird so zum transzendentalen Signifikanten. Damit wird (und das zeigt, wie außergewöhnlich dieser Fall ist) die Vermittlungsebene verlassen, und nicht mehr nur Entsprechung, sondern Identität erzeugt – eine Identität freilich, die sich nur auf der Zeichenebene einstellt, die dort jedoch umso beachtenswerter ist. Die Schrift nämlich schafft dadurch nicht mehr nur Repräsentation, sondern Präsenz, in ihr konkretisiert sich Christus und mithin ‚das‘ Heilige selbst. Die letzte der hier besprochenen Legenden zeigt die Nachfolge Christi nicht im Martyrium, dennoch ist gerade in der Darstellung des Todes dieser Heiligen das Moment der imitatio besonders deutlich gegeben. Denn auch die Marthalegende inszeniert die Heiligkeit ihrer Protagonistin als imitatio Christi, jedoch zunächst in der Form eines unblutigen Martyriums in der Askese, die allerdings ebenfalls auf den Kreuzestod bezogen ist. Diese Gleichsetzung ist jedoch nicht nur konzeptuell, sie wird vielmehr auch erzählerisch wirksam: Indem die Heilige beim Verlesen der Passion Christi genau an der Stelle stirbt, die Jesu Tod schildert, erfüllt ihr Tod narrativ den Nachvollzug des Kreuzestodes als imitatio Christi, und zwar in der Form der ‚Heiligen Schrift‘, die diese Geschehnisse für Martha reaktualisiert. Damit rückt die Erzählung und das geschriebene Wort als Überlieferungsträger des Heiligen in den Blickpunkt – die Bibel als narrative Bezeugung der Heiligkeit Christi und das nach Marthas Begräbnis präsentierte göttliche Buch, das ihre Heiligkeit bestätigt. Beide offenbaren Heiligkeit, das eine, weil es von Gottes Wirken erzählt, das andere, weil es Gottes Schrift ist. Auf diese Weise erreicht es wiederum die Rezipienten der Legende, die ihrerseits zum Nachvollzug und zur Reaktualisierung des Heiligen aufgerufen werden.

7 Gegentypen: Unheilige und Antilegenden Am Ende seiner Überlegungen zur Legende als ‚Einfacher Form‘ führt André Jolles „so etwas wie eine Gegenprobe“1 durch, um die Verallgemeinerbarkeit seiner Ergebnisse zu überprüfen. Wenn nämlich in den Heiligen und ihren Legenden die (christlichen) Tugenden ‚vergegenständlicht‘ würden, so müsse es auf der Gegenseite Gestalten geben, in denen sich das Böse, das Unrecht vergegenständlicht und narrativ fassbar gemacht werde. Dem Heiligen stellt Jolles daher den Unheiligen, der Legende die Antilegende gegenüber. Sind die einen vorbildhaft, rufen zur imitatio auf und stehen selbst im Zeichen der imitatio, so sind die Gestalten der Antilegende einer negativen, einer Art umgekehrter imitatio unterworfen: Sie werden zum Negativexempel, zum abschreckenden Bild des Bösen, wohingegen der Heilige die nachahmenswerte Figur des Guten repräsentiert.2 Der Terminus Antilegende hat in der Forschung wiederholt Kritik hervorgerufen, ohne dass diese allerdings näher begründet würde. Dies mag zum einen an den deutlichen formalen Unterschieden liegen, insbesondere, da die darin verhandelten Figuren keinerlei liturgische Anbindung besitzen, ihnen wird nicht wie den Heiligen Verehrung, sondern Verachtung entgegengebracht.3 Der Begriff der Antilegende sollte daher auch nicht gattungstypologisch verwendet werden, sondern als Komplementär zur Erzählform der Legende. Denn im folgenden Kapitel gilt es zu überprüfen, inwieweit sich die narrativen Eigenheiten legendarischen Erzählens auch auf die Erzählungen von solchen Figuren übertragen lassen, die als Negativexempel der Heilsgeschichte, als, wenn man so will, ‚Antiheilige‘ gelten. Dafür bieten sich zwei zentrale Figuren der christlichen Heilsgeschichte an, deren Viten beide auf die Frage nach einer Schuld am Tod Christi und damit der Providenz eines göttlichen Heilsplanes reagieren, für den sie unerlässlich sind: Judas, der Jesus verraten, und Pilatus, der ihn verurteilt hat. Beide bestätigen als Gegenfiguren zum Imitabile Christus und seiner Heiligen die Heilsgeschichte gewissermaßen ex negativo, beispielhaft an ihnen ist nicht ihre Heiligkeit oder Tugendhaftigkeit, sondern die Bosheit und die Strafe der Verdammnis. Dennoch werden an ihren Lebensbeschreibungen, an denen die mittelalterliche Hagiographie ein außerordentlich großes Interesse gezeigt hat, legendarische Erzähl- und Handlungsmuster unter umgekehrten Vorzeichen erkennbar. Die Antilegende, wie der Begriff hier verwendet wird, entwickelt somit keine gegenläufige Struktur zur Heiligenlegende, sondern verwendet diese unter einer komplementären Semantik. Damit allerdings ge-

|| 1 JOLLES, Einfache Formen, S. 51. 2 Vgl. ebd., S. 51–55. 3 Vgl. zur Auseinandersetzung mit der Forschung Andreas SCHEIDGEN, Die Gestalt des Pontius Pilatus in Legende, Bibelauslegung und Geschichtsdichtung vom Mittelalter bis in die frühe Neuzeit. Literaturgeschichte einer umstrittenen Figur, Frankfurt a. M. u.a. 2002, S. 117 mit Anm. 60.

334 | Gegentypen: Unheilige und Antilegenden hen diese Überlegungen über Jolles hinaus, der in seinen Beispielen auch gar nicht zu Judas oder Pilatus gelangt, sondern zur Figur des ‚Ewigen Juden‘ oder Teufelsbündnern wie Faust, an denen er, analog zur Heiligenlegende, „in der Geistesbeschäftigung der umgekehrten imitatio in vieler Hinsicht ein umgekehrtes Wunder“4 sieht – nicht das der Strafe an sich (dass Judas nach christlichen Maßstäben in der Hölle landet, ist für ihn selbstverständlich) sondern das einer wunderbaren Strafe wie etwa der, dass der ‚Ewige Jude‘ nicht sterben kann, sondern für immer und ewig in der Welt herumwandeln muss. Nicht zuletzt diese, an seinen ohnehin nicht unproblematischen imitatio-Begriff gekoppelten Überlegungen haben Jolles’ Terminologie der Antilegende zusätzliche Kritik eingebracht, sollen aber hier ausgeblendet bleiben.5 Judas und Pilatus wird als Schlüsselgestalten des Passionsgeschehens vermutlich im 12. Jh. ergänzend zu den Informationen der biblischen Berichte eine eigene Lebensgeschichte zugewiesen.6 Die beiden Biographien sind in vielfacher Hinsicht aufeinander bezogen, und es ist nicht auszumachen, welche Vita früher entstanden ist und somit als Folie für die jeweils andere gedient haben könnte. Beide sind zunächst einzeln weitertradiert worden, doch bereits im 12. Jh. hat eine von Jacobus de Voragine in der Legenda aurea später als Historia apocrypha bezeichnete Rezension die Legenden der beiden ‚Gottesfeinde‘ in einen heilsgeschichtlichen Rahmen zusammengeführt und überdies die Pilatusvita mit der Zerstörung Jerusalems verbunden: Auf die Lebensbeschreibung des Pilatus, die mit einer Art historischem Ausblick auf die römischen Kaiser, insbesondere den Christenverfolger Nero weitergeführt wird, folgt die Zerstörung Jerusalems und die Zerstreuung der Juden in alle Welt, am Ende steht dann die Judasvita, die mit der des Pilatus „durch auffällige Parallelmotive strukturell eng verbunden ist“7. || 4 Vgl. JOLLES, Einfache Formen, S. 54. 5 Zu dieser Kritik vgl. Jutta EMING, Judas als Held. Formen des Erzählens in der mittelalterlichen Judas-Legende, in: ZfdPh 120 (2001), S. 394–412, hier S. 400. 6 Zu unterscheiden von expliziten Viten sind die spätantiken Acta Pilati, welche den Prozess Jesu beschreiben und ins Nikodemusevangelium eingeflossen sind; diese Stoffe sind indessen ebenso in die mittelalterliche Legendentradition eingearbeitet worden. Vgl. zu den zahlreichen volkssprachigen Bearbeitungen den Überblick von Joachim KNAPE, [Art.] Pilatus, in: ²VL 7 (1987), Sp. 669-682. 7 SCHEIDGEN, Pilatus, S. 103. Die Historia apocrypha (der Titel hat sich nach der Bezeichnung der Legenda aurea eingebürgert) ist eingehend dargestellt von Joachim KNAPE, Die ‚Historia apocrypha‘ in der ‚Legenda aurea‘ (dt.), in: Ders. u. Karl STROBEL, Zur Deutung von Geschichte in Antike und Mittelalter, Bamberg 1985, S. 113–172, zu den Quellen und Motiven vgl. bes. S. 118–133, eine Edition der ältesten Fassung auf S. 146–165. Zur außergewöhnlich reichhaltigen Überlieferungsgeschichte der Judaslegende vgl. Paull [sic] Franklin BAUM, The medieval legend of Judas Iscariot, in: PMLA 31 (1916), S. 481-632, mit detaillierten Beschreibungen der einzelnen Handschriften. Vgl. außerdem Paul LEHMANN, Judas Ischarioth in der lateinischen Legendenüberlieferung des Mittelalters, in: Erforschung des Mittelalters. Ausgewählte Abhandlungen und Aufsätze von Paul LEHMANN, Bd. 2, Stuttgart 1959, S. 229–285, der die lange Tradition der Judasvita im Mittelalter aufzeigt. Erste Ansätze liefern bereits die frühen Arbeiten von Wilhelm CREIZENACH, Legenden und Sagen von Pilatus, in: PBB

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Die Legenda aurea allerdings spaltet die als literarische Einheit geformten Viten wieder auf und baut sie, der Konzeption des liturgischen Jahreskreises folgend, an verschiedenen Stellen des Werkes neu ein, wobei Jacobus nie die Historia apocrypha als seine Quelle anzugeben vergisst. Die Pilatuslegende ist in der Kompilation der Legenda aurea an den Schluss des Kapitels zur Passion Christi eingefügt, nimmt dort allerdings praktisch den einzig erzählenden Teil dieses Kapitels ein, das ansonsten ausschließlich aus exegetischen Deutungen der einzelnen Motive und Leiden des Passionsgeschehens besteht. Bevor er nach der Auslegung der Leiden Jesu zur Pilatusvita übergeht, benennt Jacobus die am Tod Jesu Schuldigen, neben Pilatus und Judas auch die Juden, welche seinen Tod gefordert hätten.8 Diesen drei Hauptverursachern am Tod Jesu ordnet er (moraldidaktisch geläufig) je eine der sieben Todsünden als Handlungsmaxime zu und weist darauf hin, wo ihre verhängnisvollen Geschichten im Verlauf seines Werkes zur Sprache kommen: Et quia Christum in mortem tradiderunt Iudas per auaritiam, Iudei per iniudiam, Pylatus per timorem, ideo uidendum esset de pena a deo hiis inflicta merito huius peccati (LA 51, 183; Und weil Christus in den Tod verraten wurde von Judas aus Habsucht, von den Juden aus Neid, von Pilatus aus Furcht, so sollen wir erkennen, mit welcher Rache sie Gott dafür getroffen hat, vgl. auch oben, Kap. 2.2). Der Bericht über die Zerstörung Jerusalems ist in die Legende des Jacobus minor eingeschoben, die Judasvita dagegen Bestandteil der Matthiaslegende, der dessen Platz unter den Aposteln eingenommen hat; Jacobus de Voragine verweist an dieser Stelle nur kurz darauf, wo diese Informationen zu Judas und Jerusalem zu finden sind und geht dann sofort weiter zur Pilatusvita. Auch der Passionaldichter gibt im gleichen Kontext wie die Legenda aurea zunächst noch einen Hinweis darauf, dass die Strafe Gottes an Judas und den Juden an anderen Stellen des Werkes, nämlich in den entsprechenden Apostellegenden des zweiten Buchs, erzählt würde (vgl. I 7488– 7502) und bleibt damit seiner chronologisch-historischen Ordnung treu. Aufgrund ihrer heilsgeschichtlichen Notwendigkeit besteht also weiterhin ein Interesse an den Viten dieser Negativfiguren, diese aber sind im Passional eingebunden in einen entsprechenden Zusammenhang, der Heilsgeschichte als Geschichte präsentiert und eine annähernd chronologische Erzählstruktur von Imitatiofigur und Nachfolge in den drei Büchern konzipiert.

|| 1 (1874), S. 89–107; ders., Judas Ischarioth in Legende und Sage des Mittelalters, in: PBB 2 (1875/76), S. 177–207. 8 Zur Einbindung der Pilatuslegende in die Legenda aurea vgl. SCHEIDGEN, Pilatus, S. 159–162; zur Pilatuslegende der Historia apocrypha vgl. seine ausführlichen Analysen ebd., S. 97–128. Die Bearbeitung der Legenda aurea legt im einzelnen dar: Baudouin DE GAIFFIER, L’ ‚Historia apocrypha‘ dans la Légende Dorée, in: Analecta Bollandiana 91 (1973), S. 265–272. Verwiesen, wenngleich aus methodischer und terminologischer Sicht problematisch, sei noch auf Bettina MATTIG-KRAMPE, Das Pilatusbild in der deutschen Bibel- und Legendenepik des Mittelalters, Heidelberg 2001 (zur Pilatusdarstellung des Passionals vgl. dort S. 166ff., zur LA S. 64–66). Zur methodischen Kritik vgl. die Rezension von Norbert KÖSSINGER, in: IASLonline (http://www.iaslonline.de; 04.01.2012).

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7.1 Pilatus Die Pilatusvita der Legenda aurea ist eine verkürzte Fassung der Version der Historia apocrypha und zeigt eine „handbuchartige Aufbereitung der Legende“, an deren Gestaltung zusätzlich „ein wissenschaftlich-kompilatorischer Zug“ deutlich wird.9 Erkennbar wird nicht nur die für die Legenda aurea häufig beschriebene Abbreviatur, welche eine Kürzung und Glättung der Erzählinhalte zugunsten eines einheitlichen Stils und auf klare Aussagen hin verdichtet zur Folge hat, erkennbar wird außerdem Jacobus’ Umgang mit und die Auswertung von literarischen Quellen. Er nennt nicht nur die Historia apocrypha als Vorlage, sondern stellt am Ende der Erzählung überraschend kritisch das eben Erzählte wieder in Frage, zumindest was die Lektürewürdigkeit betrifft, d.h. den lauten Vortrag wohl der klösterlichen Lesung: Hucusque in predicta hystoria apocrypha legitur. Que utrum recitanda sit lectoris iudicio relinquator (LA 51, 256f.; Also steht es in jener apokryphen Geschichte zu lesen. Ob das aber vozulesen sei, steht in der Beurteilung des Lesers [bzw. des VorLesers]). Im Anschluss daran werden weitere Berichte, u.a. die Historia scholastica, aufgeführt, die andere Darstellungen vom Ende des Pilatus bieten. Jacobus bemüht sich also um für die damalige Zeit größtmögliche Quellenkritik, und eben deswegen schickt er eine Warnung nach, mit dem hier präsentierten Stoff vorsichtig umzugehen, ihn zumindest nicht unkommentiert in der lectio zu verwenden.10 Die in der Legenda aurea erzählte und von der Historia apocrypha mit wenigen Auslassungen und nur einer größeren Ergänzung übernommene Lebensbeschreibung liest sich wie folgt: Der König von Tyrus habe einst mit einer Müllerstochter namens Pyla einen Sohn gezeugt, der nach den Namen seiner Mutter Pyla und deren Vater Atus Pilatus genannt worden sei. Die Mutter schickt ihn an den Hof des eigentlichen Vaters Tyrus, wo der Bastard mit seinem Halbbruder, dem legitimen Fürstensohn, aufgezogen wird. Dieser ist Pilatus jedoch in allen Belangen überlegen, seine adelige Abstammung schlägt sich überall durch, so dass Pilatus ihn aus Neid || 9 Beide Zitate SCHEIDGEN, Pilatus, S. 160. 10 Die gleiche Quellenkritik findet sich auch am Ende der in die Matthiaslegende eingeschobenen Judasvita: Hucusque in predicta hystoria apocrypha legitur; que utrum recitanda sit, lectoris arbitrio relinquatur, licet sit potius relinquenda quam asserenda (LA 45, 51f.: Bis hierher ist das vorgeschriebene aus der apokryphen Geschichte genommen; und was davon zu halten sei, steht bei des Lesers Urteil [erneut ist mit lector eher der klösterliche Vorleser gemeint]; ob es gleich scheinen will, als sei es eher zu verwerfen denn zu glauben). Es geht hier also keineswegs, wie EMING, Judas als Held, S. 404 vermutet, um ein Fiktionalitätssignal, denn nicht die Verbindlichkeit des Erzählten an sich wird in Frage gestellt, entscheidend ist die Frage, inwieweit den benutzten Quellen vorbehaltlos zu trauen ist. Jacobus de Voragine, der sich durchaus als eine Art Chronist sieht, geht es stets um die Geschichtlichkeit der von ihm dargestellten Ereignisse; wo es unterschiedliche Quellen gibt, ist deren Verbindlichkeit zu überprüfen. Es geht hier, das macht SCHEIDGEN, Pilatus, S. 161, klar, um die lectio, in der solche Verbindlichkeiten nicht diskutiert werden können und für die daher genau geprüft werden sollte, ob die hier präsentierten Stoffe unkommentiert zur Sprache kommen sollten – Bedenken, wie sie die Legenda aurea schließlich auch an anderen Stellen äußert, man denke nur an die Herzensschrift des Ignatius (vgl. Kap. 6.2.1).

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erschlägt. Zwar hätte er dafür den Tod verdient, doch wird er nur mit anderen Fürstensöhnen als Geisel nach Rom geschickt, wo sich die Geschichte wiederholt: Erneut bringt er einen seiner Mitgeiseln, den Sohn des Frankenkönigs, aus Neid um – erneut scheut man sich, ihn dafür zum Tode zu verurteilen, statt dessen schicken ihn die Römer als Statthalter in die Provinz Pontus, von der er seinen Beinamen Pontius erhält. Auf diese Weise will man sich seiner entledigen, da es mit dem wilden Volk dort noch keiner aufnehmen konnte. Doch mit einer boshaften Mischung aus List und Gewalt (die Legenda aurea enthält sich nicht der pejorativen, wertenden Begriffe) schafft es der Böse, das üble Volk zu unterdrücken. Herodes wird auf ihn aufmerksam und holt den Gleichgesinnten zu sich nach Jerusalem, doch wird auch er zuletzt von Pilatus hintergangen, so dass sich beide verfeinden (eine Reaktion auf eine entsprechende Erwähnung in Lk. 23, 12). Nach dieser Vorgeschichte wird die Veronika-Legende in die Vita eingeflochten: Kaiser Tiberius ist unheilbar krank und hört von einem Arzt bei den Juden – Jesus – der alle Krankheiten heilen könne. Er lässt nach ihm senden, doch dieser ist bereits durch Pilatus’ Urteil am Kreuz hingerichtet worden. So begleitet statt dessen Veronika den Boten nach Rom, die einst ein Bild von Jesus anfertigen lassen wollte, was jedoch keinem Maler gelungen sei, denn das Bild Gottes lässt sich nicht einfach abbilden. Christus selbst drückt daher sein Antlitz in das Leinentuch des Malers, und mit diesem vera icon kommt Veronika zum Kaiser. Dieser wird beim Anblick des Tuches gesund, denn es ist eben mehr als nur ein Bild Christi: Es repräsentiert ihn nicht nur wie ein Abbild, es ist als vera icon selbst ein Teil Christi.11 Tiberius lässt nach seiner Genesung Pilatus wegen dessen ungerechter Verurteilung Christi nach Rom beordern, wo der sich dem Zorn des Kaiser jedoch entziehen kann, indem er den ungenähten Rock Christi anzieht, der auf quasi-magische Weise überall Frieden stiftet und Tiberius seine Wut und Anklage gegen Pilatus vergessen lässt.12 Erst als man ihm den Rock auszieht, wird er in den Kerker geworfen, doch auch hier will ihn niemand töten, Pilatus muss sich am Schluss selbst umbringen: Er, der als ungerechter Richter den unschuldigen Christus hinrichten ließ, wird nicht verurteilt, sondern richtet sich selbst. Es folgt zuletzt die schwierige ‚Entsorgung‘ der Leiche, denn wo auch immer, in den Tiber oder später in die Rhone geworfen, der Leichnam wird von Dämonen umgetrieben, so dass alle Anwohner unter dem höllischen Treiben zu leiden haben, bis man den Körper endlich in einen einsamen Bergsee wirft, wo er niemandem mehr Schaden zufügen kann.

Was an dieser hier ausführlich wiedergegebenen Vita besonders auffällt, ist die Finalität des Bösen, die in Pilatus offensichtlich schon von klein auf angelegt ist. Darin hinein mischen sich anti-feudale Muster, die das Passional, wie noch zu sehen ist, weiter verstärkt. Pilatus ist ein Bastard, der uneheliche Sohn eines Königs mit einer ständisch weit niedrigeren Frau. In seiner Namensgebung spiegelt sich zudem ein Inzest-Motiv wider, das in der Judaslegende vollends auserzählt wird – hier zeigen sich bereits auffällige Parallelen beider Viten. Dem Namen nach nämlich stammt Pilatus von seiner Mutter und seinem Großvater ab, und indem sein Name rein aus Bestandteilen der matrilinearen Genealogie besteht, wird zudem in auffälliger Weise vom üblichen Vorgehen der Namensgebung abgewichen, der im Mittel-

|| 11 Vgl. zu dieser Präsenzlogik ausführlich QUAST, Kult, bes. S. 86–90. 12 Dies ist ein neues Motiv gegenüber der Historia apocrypha, vgl. SCHEIDGEN, Pilatus, S. 161.

338 | Gegentypen: Unheilige und Antilegenden alter normalerweise aus Bestandteilen beider Linien, väterlicher- und mütterlicherseits gebildet wurde, so dass in der hier vorliegenden Kombination zudem eine ständisch niedrigerstehende Herkunft ersichtlich wird.13 Es ist damit nur folgerichtig, dass Pilatus am Königshof zum Außenseiter wird, zumal sich der soziale Makel dort auch in physischer Unterlegenheit äußert.14 In seiner Reaktion darauf tritt nun aber eine regelrechte biologische Determination zum Bösen hervor, die zeigt, dass Pilatus offenbar von Natur aus schlecht ist, denn er tötet seinen Ziehbruder aus Neid und Hass (Ob hoc Pylatus inuidie liuore commotus; LA 51, 192: Davon gewann Pilatus also großen Neid und Hass). Brudermord allerdings gilt das gesamte Mittelalter hindurch als eines der schwersten Verbrechen überhaupt. Mit Pilatus wird auf diese Weise das Rollenmuster Kains verbunden, der ebenfalls aus Neid seinen Bruder getötet und damit den ersten Mord überhaupt verübt hat.15 Damit aber wird die Erfüllung der Heilsgeschichte, für die Pilatus schließlich ein wesentlicher Bestandteil ist, wieder an ihren Ursprung geführt, denn die Erbsünde ist eine Folge der Vertreibung aus dem Paradies, die zu korrigieren Jesus am Kreuz stirbt. Christus erscheint in der mittelalterlichen Bibelallegorese als neuer Adam – Pilatus ist dagegen der neue Kain, den Neid und Habgier zur Sünde treiben. Damit aber ist Pilatus wie Kain eine Figur des Alten und der Sünde, die durch Christi Tod gerade überwunden wird. An der Figur des Pilatus zeigt sich zugleich das Remythisierungskonzept eines dem Erlöser gegenübergestellten Antagonisten, der die eigentliche Qualität der Erlösung erst herstellt. Es sind die immergleichen Verhaltensweisen, die sein Handeln prägen, denn den nächsten Mord in der römischen Geiselhaft verübt er aus den gleichen niederen Beweggründen: Huic Pylatus associatus, cum se ab eo moribus et industria precelli uideret, eum inuidie stimulis agitatus occidit; LA 51 , 197: Er wurde Pilatus zum Gesellen gegeben; aber als dieser sah, dass er ihn mit Sitten und mit Fleiß übertraf, wurde er von Neid ergriffen und tötete ihn). Die motivische Dublette unterstreicht mithin seine böse Determination, die in der Unterdrückung der unbezähmbaren Provinz Pontus erst recht zum Vorschein kommt. Dass ihn Herodes nach Jerusalem holt, bringt nun die Negativgestalten der christlichen Heilsgeschichte zusammen und betont auf diese Weise auch die Providenz des göttlichen Heilsplanes (vgl. Kap. 3.2.1). Pilatus’ Bosheit übersteigt die des Herodes noch, da er ihn mit List und Tücke um die Herrschaft in Jerusalem bringt und sich von den Römern als Statthalter einsetzen lässt. Darin zeigt sich zugleich eine Entlastung der römischen Herrschaft, die ihn zwar gewähren lässt, aber nicht selbst nach Jerusalem beordert – in dieser || 13 Vgl. näher U. LOCKEMANN, [Art.] Namensrecht, in: HRG 3, 1984, Sp. 836–843, hier bes. 837–40. 14 Vgl. SCHEIDGEN, Pilatus, S. 122f. Die Legenda aurea führt die genealogische Unterlegenheit eindeutig aus: sed regis legitimus filius, ut genere erat nobilior, sic in omni loco Pylato inueniebator et in omni genere certaminis aptior (LA 51, 191: Da zeigte der rechtmäßige Sohn des Königs seinen Adel, indem er in allen Dingen Pilatus übertraf und in aller Art des Kampfes für besser angesehen wurde). 15 Vgl. SCHEIDGEN, Pilatus, S. 119.

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„Symmetrie des Bösen“16 bleiben die Römer außen vor, die Pilatus zuletzt doch noch verurteilen, zumal Tiberius durch die Heilung mit Hilfe Veronikas als positiver, ja bekehrter Herrscher erscheint. Die sich in der gesamten Vita wiederholenden Handlungskonstellationen und Motive verdeutlichen die Vorherbestimmtheit der Pilatusfigur nur umso stärker. Pilatus begeht zwei Morde und wird zweimal verschont, entkommt zuletzt zweimal dem Kaiser durch den friedenstiftenden Rock Christi. Der Rock darf dabei nicht syntagmatisch, sondern muss paradigmatisch gesehen werden, denn er apostrophiert erneut die stetige Schonung für seine Verbrechen. Nachsicht erweist sich jedoch bei ihm, auf den zwei Tyranneien und zwei Brudermorde projiziert werden, als falsch, und doch resultieren sein Wirken in Jerusalem und seine Verwicklungen in das Passionsgeschehen ausgerechnet aus der Milde derer, die über ihn, den später ungerechten Richter, richten sollen. So erweist sich auch Pilatus, wie die Heiligen der Legenden, als schon immer das, was er erst noch sein wird. Er ist von Beginn an böse, aber kann doch nicht einfach getötet werden, darum wiederholt sich die Erzählung, um ihn schließlich dahin zu bringen, wo die christliche Heilsgeschichte ihn benötigt. Und auch das Ende der Vita weist konzeptuelle Parallelen mit den Heiligenlegenden auf. Pilatus wird nicht umgebracht, sondern stirbt durch die eigene Hand, ein verachtungswürdiger und sündhafter Tod, noch dazu aus Furcht vor der Vollstreckung des Todesurteils (auch Furcht ist ein beständiges Merkmal dieser Figur) und somit ganz das Gegenteil zur heroischen Todesverachtung der Märtyrer. Während aber von jenen zuletzt die feierliche Translation der Gebeine berichtet wird und die Mirakel ihrer Legenden von zahlreichen Reliquienwundern wissen, so sind es bei Pilatus die Berichte über die unheilige, dämonische Wirkung selbst der sterblichen Überreste. Auch hier muss der Körper umgebettet werden, doch nicht etwa zur besseren Verehrung, sondern zum Schutz vor den Menschen, denn an den Gebeinen zeigen sich alle negativen Begleiterscheinungen komplementär zu denen von Heiligenreliquien. Werden jene im Mittelalter regelrecht ausgestellt und entfalten so die öffentliche Präsenz des Heiligen, so müssen die Gebeine des Pilatus in mehreren Anläufen zum Verschwinden gebracht werden, zuletzt in jenem Abgrund im Gebirge, ubi adhuc relatione quorundam quedam dyabolice machinationes ebullire uidentur (LA 51, 255: wo man noch jetzt das Treiben der Hölle spüren soll, wie etliche erzählen). Die Pilatusvita des Passionals weist demgegenüber einen gewichtigen konzeptionellen Unterschied auf, denn hier ist die Lebensbeschreibung des Pilatus zwar wie bei der Legenda aurea an den Schluss des Passionskapitels angefügt, jedoch ist dieses im Passional als intensives Geschehen dargestellt, während die Legenda aurea zuvor gerade keine narrative Schilderung, sondern eine diskursive Exegese der Passion bietet. Die Intensität jedoch, mit der die Leidensgeschichte Christi im ersten Passionalbuch erzählt wird, belastet die Figur des Pilatus noch mehr, der schon zu-

|| 16 Ebd., S. 125.

340 | Gegentypen: Unheilige und Antilegenden vor in der Kompilation des Passionsberichtes (vgl. Kap. 3.2.2) als ungerechter Richter, furchtsam und zaudernd zugleich erscheint und dem alle exkulpierenden Darstellungselemente der biblischen Berichte fehlen.17 Dem Rezipienten präsentiert sich die Pilatusvita dann genau nach der Grablegung Christi, er hat zuvor also bereits die ungerechtfertigte Verurteilung durch Pilatus vernommen und danach die Leiden Jesu am Kreuz im meditativen Nachvollzug verinnerlicht – an diesem Tiefpunkt der Heilsgeschichte also wird nun erzählt, wie die dafür notwendige Negativgestalt in ihre Rolle gelangt ist. Anders als in der Legenda aurea ist die Pilatusvita somit rezeptionsästhetisch am günstigsten Punkt eingefügt, an der Schnittstelle zwischen Tod und Auferstehung Jesu, die narrativ durch die Darstellung des scheinbaren Triumphs des Bösen in der Welt überbrückt wird. Das Passional hält sich im Handlungsverlauf sehr genau an die Legenda aurea, verstärkt aber die negativen Züge noch, nicht nur in Bezug auf die ständischen Differenzen. Schon die uneheliche Zeugung des Pilatus weist nämlich gleichermaßen auf andere Erzählstrukturen hin. Denn der eigentliche Erzähleinsatz, ez was ein kunic vor den tagen (I 7512), erinnert eher an die unspezifischen Erzählanfänge heldenepischer Prägung.18 Dass der König einmal auf der Jagd von geschicht (I 7517) zu der Mühle gelangt, wo er mit der Müllerstochter dann einen Sohn zeugt, erinnert zudem an die Erzählkonstellationen der höfischen Epik. Die Mühle kann als ein unhöfischer Ort, der an der Grenze zwischen Kultur und Natur liegt, aufgefasst werden, und es ist das Geschick, das den König dorthin führt – im höfischen Roman wäre es die aventiure, die den Protagonisten an sein Ziel führt. Dadurch wird die Finalität der Handlung schon zu Anfang herausgestellt, jedoch nicht durch eine göttliche providentia (denn dann würde ja bereits die Zeugung des Pilatus als gottgewollt erscheinen), sondern durch das Anzitieren der final gestalteten narrativen Muster

|| 17 Dagegen sieht MATTIG-KRAMPE, Pilatusbild, S. 169, Pilatus im Passional als „verantwortungsvoll handelnde[n], wenn auch schwache[n] Richter“, ohne freilich eine genaue Analyse der Passionsdarstellung vorzulegen. In anderen Versionen tragen weitere, im Passional und der Legenda aurea jedoch fehlende Einzelmotive zur Unentrinnbarkeit des christlichen Heilsgeschehens bei, so z.B. dass es der Teufel gewesen sei, der Pilatus’ Frau den warnenden Traum eingegeben habe, um auf diese Weise die Kreuzigung Jesu im letzten Moment doch noch abzuwenden – ein Zug, der in der lat. Exegese, aber auch schon im as. Heliand auftaucht; vgl. SCHEIDGEN, Pilatus, S. 55f. 18 Vgl. etwa den Beginn des Nibelungenliedes; Hs. B setzt unmittelbar mit dieser Strophe ein: Ez wuohs in Burgonden ein vil edel magedin (Das Nibelungenlied. Nach der St. Galler Handschrift hg. und erläutert von Hermann REICHERT, Berlin/New York 2005, Str. 1, 1), desgleichen auch die Vorstellung Siegfrieds zu Beginn der 2. Aventiure (Dô wuohs in Niderlanden eins vil edelen küniges kint; ebd. Str. 18, 1) und ebenfalls den Erzähleinsatz der 6. Aventiure (Ez was ein küniginne gesezzen über sê; ebd., Str. 324, 1). Zu dieser Initialformel des Epos vgl. Jan-Dirk MÜLLER, Spielregeln für den Untergang, Tübingen 1998, S. 105–111, mit weiteren Beispielen u.a. aus dem Laurin, Otnit oder der Virginal.

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von höfischem Roman und heldenepischem Erzählen mit ihrer letztlich unbestimmten Erzählinstanz der geschiht bzw. der aventiure.19 Die lenkende Instanz hinter allem wird daher bewusst unklar gehalten, und so kann die Determination des Bösen auf der Handlungsoberfläche umso stringenter erscheinen. Wesentlich prekärer als die nüchterne Beschreibung der Legenda aurea stellt das Passional aber den Brudermord dar. Auch hier wird die Kluft zwischen Pilatus und den rechten sun (I 7566) aufgemacht, dessen angeborne vrucht (I 7565) ihn in allen Dingen vor Pilatus auszeichnet. Der legitime Königssohn wird gar als helt (I 7581) bezeichnet, dem Pilatus seine ere (I 7574) neidet, was zum ehrlosen Handeln führt: sin unnart machte in also swach, darinne in sin bosheit vertruc, daz er sinen bruder sluc, dem er heimlich sin leben stal (I 7576–7579).

Es ist vor allem der letzte Satz, der die Bosheit und Heimtücke des Brudermordes vor Augen führt: Nicht nur, dass ein solcher ohnehin höchst verwerflich ist, noch dazu führt Pilatus ihn heimlich (I 7579) aus, der Öffentlichkeit entzogen, was im Gegensatz zum Zweikampf vor Zeugen höchst unehrenhaft und feige ist.20 Das spiegelt sich nicht zuletzt in der Metapher wieder, er habe seinem Bruder das Leben förmlich gestohlen, was zudem auf seine künftigen Handlungen vorausweist, da er in Pontus später seine Macht gerade dadurch erhalten kann, dass er die Armen bestiehlt, um sich bei den Mächtigen einzuschmeicheln.21 Aus diesem Grund spricht der Text auch explizit von mort (I 7619). Die gleiche Beschreibungsweise wiederholt sich beim zweiten mort (I 7678), auch hier ist der französische Königssohn gegenüber Pilatus mit allen höfischen Tugenden ausgestattet, er ist […] an prise/ an zucht, an tugende wise/ und an craft ob in (I 7663–7665) überlegen. Der ständisch Höhere verdient am römischen Hof das Lob aller, während Pilatus derjenige ist, swa man icht gutes von in sprach (I 7669). Deutlicher können die Unterschiede nicht sein, und die böse Veranlagung bricht sich in Pilatus nun erneut Bahn, wenn sin ercliche zornes brunst/ im sine galle erquickte (I 7672f.). Der erste Mord geschieht aus Neid, der zweite aus

|| 19 Demgegenüber führt die Historia apocrypha die Zeugung des Pilatus auf eine günstige Sternenkonstellation zurück, welche jedem in dieser Nacht gezeugten Kind Ruhm und Herrschaft verleiht, woraufhin der König sich gewissermaßen die nächstbeste Frau zur Zeugung greift; vgl. SCHEIDGEN, Pilatus, S. 104. Die Legenda aurea gibt überhaupt keine Auskunft über die Motivation des Königs, das Passional erwähnt dagegen die Schönheit der Müllerstochter (I 7521), lässt Pilatus letztlich also aus sexueller Begierde erwachsen. 20 Zu dieser äußerst negativen Konnotation des Heimlichen, die im Gegensatz zur bewussten Öffentlichkeit des höfischen Raumes steht, vgl. ausführlich MÜLLER, Höfische Kompromisse, S. 272ff. 21 Vgl. die entsprechende Darstellung in I 7754–7758: nach cluges herzen willekur/ nam er die achtperen/ den er mit schonen meren/ beide gelobete und gab/ daz er gebrach den armen ab.

342 | Gegentypen: Unheilige und Antilegenden Zorn, so dass Pilatus schon im Jugendalter von Todsünden geleitet die schwersten Verbrechen verübt. Es ist daher nur folgerichtig, wenn man Tiberius später sagt, Pilatus habe durch erclichen haz (I 8045) Christus verurteilt: Es zeigen sich immer wieder die gleichen Verhaltensmuster, so dass die schlimmste Tat des Pilatus durch seine gesamte Lebensgeschichte mehr oder weniger vorbereitet wird. Den Tugenden der adeligen Fürstensöhne stellt das Passional so die Untugenden des Bastards Pilatus gegenüber, und die pejorativen Ausdrücke nehmen im Verlauf der Erzählung immer mehr zu: In Pontus machen sich seine bosheit und seine swindekeit (I 7729 u. 7753) bezahlt, Herodes holt ihn nach Jerusalem, wande er was ouch untugenthaft (I 7781), und dort wird seine Verschlagenheit, sin arge list (I 7816) erst recht offensichtlich, da er nicht nur weiter Geld hortet, sondern heimeliche/ durch sinen listigen sin (I 7820f.) beim römischen Kaiser erwirkt, selbst zum Statthalter in Jerusalem ernannt zu werden. All diese an sich schon negativ konnotierten Ausdrücke drücken besonders im Kontext höfischer Literatur absolut verwerfliche Eigenschaften aus. Besonders auffällig ist in diesem Zusammenhang allerdings der Terminus nacheit, der sich etwa mit Boshaftigkeit, Tücke, übersetzen lässt. Pilatus wird von den Römern als so nachaft (I 7695) bezeichnet, dass sie ihn lieber nicht direkt töten, sondern nach Pontus schicken wollen. Es ist hierbei beachtlich, dass das Passional diesen außergewöhnlichen Terminus fast ausschließlich im Zusammenhang mit Antiheiligen gebraucht, also jenen Personen, die als expliziter Gegentypus der Heiligen erscheinen.22 Die Einarbeitung der Veronikalegende in die Vita dient hier vor allem dem Ziel, Pilatus seiner Strafe durch die weltliche Macht, den Kaiser, zuzuführen. Zugleich aber erscheint er dadurch nicht nur als Mörder Jesu, sondern auch als potentieller Kaisermörder, da Tiberius durch seine Schuld nicht mehr von dem ‚Arzt‘ Christus geheilt werden kann und nur durch das Tuch der Veronika gerettet wird. Nicht zuletzt spricht ausgerechnet Veronika in ihrer Erläuterung zum vera icon davon, dass Jesus daz keiserliche antlitze sin (I 7998) in das Tuch gedrückt habe. Pilatus als Kai-

|| 22 Mit nacheit charakterisiert werden Herodes (I 4064; auch – aber nur in Hs. D – I 3963 u. II 38099), die Juden in der Passionsgeschichte (I 7122), Simon Magus (II 19129; 20937 u. 20943), sowie natürlich Judas (II 34664 u. 34763, im Vergleich mit Pilatus); ganz besonders häufig Julianus Apostata (II 38565, 38599, 38782 u. 38811; kein Beleg in der Vita in Buch III). In den Heiligenlegenden des dritten Buchs wird der Terminus in der Regel mit dem Teufel in Verbindung gebracht, so z.B. in den Legenden von Theodora (III 319, 8), Nikolaus (III 13, 57), Benedikt (III 219, 43) oder Patrick (III 236, 40); nur selten, wie bei Anastasia (III 35, 28) oder Thomas von Canterbury (III 60, 80) sind damit einfach nur boshafte, niederträchtige Menschen gemeint; unklar bleibt der Bezug in der Ignatiuslegende (III 163, 73). Umso auffälliger ist es, dass noch nicht einmal der Christenverfolger Nero mit diesem Epitheton belegt wird, welches der Passionaldichter zumindest in den ersten beiden Büchern ganz und gar den unheiligen Gottesfeinden vorbehalten hat. Die Belege dieses selten gebrauchten Wortes in BMZ u. Lexer stammen übrigens fast ausschließlich aus dem Passional, weitere finden sich nur in der Deutschordenschronik des Nikolaus von Jeroschin; das FindeB führt es noch im Prophetenbuch von Klaus Kranc auf, der ebenfalls in den preußischen Deutschordensprovinzen gewirkt hat.

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sermörder – das treibt, zumal für ein höfisch-ritterliches Publikum, seine Verworfenheit wohl auf die Spitze. Seine Durchtriebenheit wird ein letztes Mal deutlich, wenn er die wundersamen, quasi-magisch erscheinenden Kräfte des Rocks Christi für seine Zwecke funktionalisiert, um dem Zorn des Kaisers zu entgehen. Der Rock zeigt die Widersprüchlichkeit der Figur des Pilatus auf, der Christus quasi am Leib trägt, das darin vorhandene Charisma (der roc hete entphangen/ von im [sc. Christus] di tugent; I 8172f.) aber bleibt ein äußeres, von Pilatus nur ‚geborgt‘. Hier weicht das Passional, das den wundersamen und dem Kaiser unerklärlichen Sinneswandel, den der Rock auf ihn ausübt, in einem Selbstgespräch des Tiberius beschreibt, von seiner Vorlage ab, indem es Gott direkt eingreifen lässt: Nu vugetez got, daz er wol kan,/ dem keiser kunt wart getan,/ waz im den zorn undersluc (I 8165–8167).23 Ein Eingriff Gottes, ja überhaupt jeglicher Anschein göttlicher Vorsehung, war bisher tunlichst vermieden worden. Zwar ist Pilatus für die Erfüllung des Heilsplanes notwendig, doch das Böse erscheint dennoch autonom, fügt sich vielmehr von selbst in den Heilsplan. Die Finalität dieser Erzählung zeigt, dass die Erlösung der Menschheit erfolgt, obwohl, nicht aber weil viele von ihnen böse sind. Das direkte Eingreifen Gottes an dieser Stelle ist nun aber nicht mehr dem Heilsereignis geschuldet, das nun schon vollbracht ist, sondern der Rache an den Mördern Jesu. Der Tod des Pilatus ist im Passional noch stärker als in der Legenda aurea komplementär zu den Darstellungen der Heiligenlegenden gestaltet. Seinen Selbstmord kommentiert der Kaiser mit den Worten: nu hat er selber vunden/ an im der hosten schamen leit/ [...] ez ist ein tot voll aller schamen (I 8202f. u. 8207). Die Schande in seinem Leben setzt sich im Tod fort, und so geschieht es auch mit den vervluchten lichamen/ beide swach und unrein (I 8028f.), der mit einem Mühlstein beschwert in den Tiber geworfen wird.24 Während aber wie beschrieben die Reliquien heiliger Personen üblicherweise für die Menschen wunderbare Heilswirkung entfalten und einen Kontakt zur Transzendenz, zu Gott selbst ermöglichen, kommen hier die ubeln geiste (I 8215), die Teufel werfen die Leiche in die Luft und verursachen sturmen unde wuten/ blicschoz mit donerslegen (I 8226f.). Donner und Blitz sind Begleiterscheinungen auch des Todes Jesu, doch hier drücken sie nur die Empörung der Elemente über den Leichnam aus: Pilatus erscheint selbst im Tod als geradezu widernatürlich. Gleiches geschieht mit dem bosen licham (I 8232) auch in der Rhone, er

|| 23 Die Legenda aurea lässt es dagegen im Ungewissen, woher Tiberius von der Wirkung des Rockes erfährt: Tandem diuino nutu uel forte alicuius christiani suasu ipsum illa tunica expoliari fecit (LA 51, 242: Da geschah es durch Gottes Verhängnis, oder weil etwa ein Christ es dem Kaiser geraten hatte, dass Tiberius dem Pilatus den Rock ausziehen ließ). 24 Der Mühlstein ist eine letzte Reminiszenz an seine niedere, uneheliche Herkunft, der Tiber, der römische Fluss, weist nicht zuletzt etymologische Ähnlichkeiten mit dem Namen des Kaisers Tiberius auf, worin sich die Ambivalenz des Pilatus widerspiegelt: Von königlichem Blut und doch zugleich Bastard von niedrigem Stand.

344 | Gegentypen: Unheilige und Antilegenden zieht die Teufel an, nicht die Heiligkeit Gottes.25 Am deutlichsten wird die gegenbildliche Semantisierung der Antilegende, wenn der unselge tote rumpf (I 8247) schließlich in einem Sumpf im Gebirge verborgen wird, um die Menschen vor ihm zu schützen, denn Pilatus’ Bosheit ist so groß, dass er sogar noch als Toter gefährlich ist. Und so lässt der Schlusskommentar des Passionaldichters, der sich mit Fragen der Quellenkritik, wie sie Jacobus de Voragine abschließend erörtert, nicht aufhält, es an Deutlichkeit nicht fehlen: sus gienc ez an Pylate, dem bosen, dem unnutzen. in der selben pfutzen, sprichet sumelicher man, wirt noch bewilen kunt getan in etelicher tuvels list, daz er gar vervluchet ist, der da hin wart geleit, als uch hi vor ist geseit. (I 8252–8260)

Dieses Schlussresümee ist wiederum komplementär zu den invocationes am Ende der Heiligenlegenden des zweiten und dritten Buches zu sehen. Wird dort die Heiligkeit der zuvor geschilderten Personen nochmals hervorgehoben und zu ihrer memoria, ihrer Verehrung und ihrer Anrufung im Gebet aufgerufen, so wird hier die Bosheit und Verfluchtheit des Pilatus rekapituliert, vor der man sich in Acht nehmen sollte. Ist der Heilige ein Vorbild, um zu Gott zu gelangen, so ist Pilatus ein abschreckendes Beispiel, das in die Hölle führt.

7.2 Judas Die für die Hagiographie negativste und verworfenste Gestalt der christlichen Heilsgeschichte stellt gleichwohl nicht Pilatus, sondern Judas dar, denn der Verrat an seinem Herren Jesus wiegt noch schwerer als das ungerechtfertigte Urteil des Pilatus. Auch seine Vita lässt sich erst ins 12. Jh. sicher datieren, in den apokryphen Evangelien und Apostelakten wird sein Schicksal zwar immer wieder erwähnt, ansonsten fehlen ihm zugeschriebene apokryphe Zeugnisse, sieht man einmal von den gnostischen Schriften wie dem erst kürzlich wiederentdeckten koptischen ‚Judasevangelium‘ ab, das jedoch die christliche Tradition des Mittelalters nicht berührt.

|| 25 Das Passional übergeht außerdem eine Etymologie der Legenda aurea, die nämlich mit der Stadt Vienna an der Rhone das Gehenna verbindet (Vienna enim dicitur quasi uia Gehenne, quia erat tunc locus maledictionis; LA LI, 252: Denn Vienna ist gesprochen ‚via Gehennae’: Weg der Hölle, weil er vor Zeiten ein Ort des Fluches war). Auch etymologisch ist Pilatus für Jacobus de Voragine auf dem Weg in die Hölle.

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Dennoch scheint gerade im späteren Mittelalter das Interesse an dieser Figur besonders groß gewesen zu sein, wie die zahlreichen Versionen des Vitenstoffes und deren weite handschriftliche Verbreitung belegen.26 Die Bezüge und Parallelen zwischen Judas- und Pilatusvita sind augenfällig, ohne dass die gegenseitigen Abhängigkeiten geklärt werden könnten, die jeweiligen Bezugnahmen sind gerade in der Historia apocrypha, die beide direkt miteinander verklammert, noch entscheidend verstärkt. Wie eng auf diese Weise die beiden Lebensbeschreibungen in manchen Punkten tatsächlich aufeinander bezogen sind, wird klar, wenn man sich die Judasvita der Legenda aurea vor Augen hält: Als Judas’ Eltern werden Ruben und Cyborea aus Jerusalem benannt; Cyborea träumt eines Nachts, sie werde ein Kind gebären, das ihr ganzes Volk ins Verderben stürzt. Als sie nach einiger Zeit tatsächlich einen Sohn bekommt, setzen ihn die Eltern, da sie das Kind nicht direkt töten wollen, auf dem Meer aus. Das Baby treibt in seinem Korb aber zur Insel Scarioth (daher der spätere Beiname Iscarioth), wo es von der bis dato kinderlosen Königin aufgezogen wird und den Namen Judas erhält. Die Königin bekommt bald darauf selbst einen Sohn, die Kinder wachsen gemeinsam auf, doch es wird immer deutlicher, dass Judas nicht aus dem gleichen Geschlecht stammt. Als er es schließlich erfährt, schämt er sich so, dass er seinen Ziehbruder heimlich ermordet und außer Landes flieht. So kommt er zurück nach Jerusalem, wo er Pilatus dient. Dieser stiftet ihn eines Tages an, Äpfel aus einem Garten für ihn zu stehlen, doch vom Besitzer ertappt, erschlägt Judas diesen – nichts ahnend, dass es sein eigener Vater ist. Darauf gibt Pilatus der Witwe den Mörder zum Mann, und Judas heiratet unwissend seine Mutter. Erst als die Zusammenhänge irgendwann offenbar werden, empfindet er große Reue und schließt sich auf den Rat seiner Mutter hin Jesus an, um Vergebung für seine Sünden zu empfangen. Doch es handelt sich nur um ein Zwischenspiel. Auch unter den Aposteln tritt Judas’ böse Ader immer wieder hervor, vor allem die Habgier, denn Judas ist für die Kasse zuständig, aber unterschlägt das Geld (portabat enim loculos et ea que Christo dabantur furabatur; LA 45, 55: Also trug Judas den Säckel und stahl unserm Herrn, was ihm gegeben wurde). Aus Habgier verrät er schließlich Jesus an den Hohen Rat, auch wenn er von Reue ergriffen das Geld wieder zurückgibt. Sein schrecklicher Tod durch Erhängen bildet den Abschluss: Er stirbt in der Luft, zwischen Himmel und Erde, da er nicht einmal mehr den Menschen zugeordnet werden kann. Seine Seele aber kann nicht wie gewöhnlich aus dem Mund herausfahren, denn seine Lippen haben beim Verrat in Gethsemane Jesus geküßt, und so bricht sein Bauch auf, dass die Eingeweide hervorquellen.

Die Vita ist weniger ausführlich und komplex wie die des Pilatus, dafür tritt die finale Handlungsmotivation umso deutlicher hervor. Die Parallelen zum Pilatusleben sind auffällig: Wie dieser wächst Judas als illegitimer Sproß eines Königshauses auf, wie dieser wird er dort zum Brudermörder. Das Inzestmotiv ist bei Pilatus || 26 Die handschriftliche Überlieferung bereitet detailliert BAUM, medieval legend, auf, zu den einzelnen Traditionssträngen vgl. LEHMANN, Judas (mit Textvergleichen und mehreren Editionen im Anhang). Vgl. zur Judas-Gestalt umfassend Hans-Josef KLAUCK, Judas, ein Jünger des Herrn, Freiburg u.a. 1987, zu den theologischen Deutungsmöglichkeiten vgl. ebd. S. 17–32. Zum Judasbild im Neuen Testament vgl. Horacio E. LONA, Judas Iskariot: Legende und Wahrheit. Judas in den Evangelien und das Evangelium des Judas, Freiburg u.a. 2007,

346 | Gegentypen: Unheilige und Antilegenden nur im Namen angedeutet, bei Judas jedoch sorgt die Implementierung der dem Ödipus-Mythos nachgestalteten Erzählstruktur für eine unaufhaltsame, ja fatalistische Handlungssteuerung direkt in den Untergang. Schon die Eltern versuchen, durch den Traum gewarnt, dem Schicksal zu entkommen, doch wie im ÖdipusMythos erweist sich gerade dadurch die Unentrinnbarkeit des geradezu schicksalhaften Verhängnisses, einer schon mit der Geburt festgelegten Bestimmung zur Schuld.27 Der Traum bewahrheitet sich später insofern, als Judas durch die mit seiner Tat erreichte Kreuzigung Jesu auch das gesamte jüdische Volk mit ins Verderben reißt. Am Ende der Vita wird das Ödipus-Muster zwar kurzzeitig wieder ausgeblendet, wenn Judas sich aus Reue über seine Taten Jesus anschließt. Dies ist aber nur von kurzer Dauer, zuletzt schlägt die von Beginn an festgelegte Fügung im Verrat doch durch. Es scheint, als wäre die Finalität der Handlung nur darum kurz aufgehoben, um sie am Ende desto deutlicher zu bestätigen. „Die auf Unausweichlichkeit und Selbsterfüllung setzende Logik des Mythos wird aufgehoben durch die auf Barmherzigkeit und Gnade basierende Logik des Ethos, die ihrerseits aufgehoben wird durch die von Providenz und Sinntotalität geprägte Logik des Heilsplans, welche nun aber selbst mythische Züge trägt.“28 So werden schließlich in Judas und Pilatus die beiden Hauptschuldigen am Tode Jesu zusammengeführt, beide mit erstaunlich ähnlichen Lebenswegen, beide belegt mit der gleichen quasi schicksalhaften Unentrinnbarkeit des Bösen. Und doch zeigt sich in Judas’ ‚Zwischeneinkehr‘ im Gefolge Jesu, dass auch ihm eine Wahlmöglichkeit eingeräumt wird. In den meisten Märtyrerlegenden wird eine solche Wahlmöglichkeit ebenfalls anzitiert, die aber stets dazu da ist, abgewiesen zu werden: Das Martyrium ist erst dann eine ethische Leistung, wenn der Heilige es bewusst wählt und die seinen Glauben diskreditierenden Alternativen ausschlägt. Bei Judas ist es umgekehrt, und auch hierin zeigt sich die komplementäre Semantik der Antilegende: Die Alternative, die er ausschlägt, ist die Barmherzigkeit Gottes, und gerade hierin erweist sich die finale Struktur seiner Vita. „Die Momente der Reue und der Gnade stehen im Kontrast zu den Momenten, in denen das Böse durchbricht, und sie ermöglichen es, den mythischen Absolutismus der Prädestination abzu-

|| 27 Vgl. Christian KIENING, Arbeit am Absolutismus, S. 49; ebenso SCHEIDGEN, Pilatus, S. 130. Zu den Parallelen des Ödipus-Stoffes mit der Judaslegende sowie der Albanus-Legende und dem Gregorius vgl. Fritz-Peter KNAPP, legenda aut not legenda. Erzählstrukturen und Legitimationsstrategien in ‚falschen‘ Legenden des Mittelalters: Judas – Gregorius – Albanus, in: GRM 53 (2003), S. 133–154, vgl. hier bes. die Übersicht S. 137f. 28 KIENING, Arbeit am Absolutismus, S. 49. Die Brisanz, das „beunruhigende Potential“, das für KIENING in Judas als „impliziten Sündenbock [liegt], dessen Geschichte mit jener des expliziten Sündenbocks Jesus so verknüpft wird, dass der Mythos des Opfers des Gottessohns ein Pendant im Gründungsmythos der christlich-jüdischen Differenz erhält“, (beide Zitate ebd.), drückt sich in der Legenda aurea in den erneuten Zweifeln an der Glaubwürdigkeit der Quelle aus, die ja auch im Rahmen der Pilatusvita aufgekommen waren (vgl. oben, Anm. 10).

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schwächen und den Eindruck zu kaschieren, die Welt sei nur Bühne des göttlichen Heilsplans.“29 Und dennoch wird Judas ausgerechnet durch das Aufeinandertreffen mit Pilatus zumindest teilweise entlastet. Pilatus holt Judas gerade deswegen zu sich, weil er die Gesinnungsverwandtschaft mit ihm erkennt und sich dessen böse Sinnesart zunutze machen will. Das Zusammentreffen der beiden Bösen kann nur neues Unheil hervorrufen, doch es ist evident, dass die Initiative zum Vatermord wie zum Inzest jeweils von Pilatus ausgeht: Er ist es, der nach den Äpfeln verlangt, die Judas stiehlt und dabei seinen eigenen Vater tötet, Pilatus ist es auch, der anschließend die Witwe mit Judas verheiratet und so den Inzest erst in Gang setzt.30 Auf diese Weise erscheint Judas in einer „unauflöslichen Ambivalenz“31 und unterliegt anders als Pilatus nicht einer Art biologischer Determination zum Bösen, sondern ist einem unausweichlichen Fatum unterworfen, über das er selbst keine Kontrolle zu haben scheint. Doch bleibt es beim „doppelten Umschlagsmoment am Ende“32: Judas schlägt die Möglichkeit der Gnade aus, die ihm in der Nachfolgeschaft Jesu gegeben gewesen wäre, die christliche Barmherzigkeit schlägt erneut um in die Tücke des Verrats, und dieser mündet in der desperatio, der Verzweiflung an Gottes Gnade, im Selbstmord. Diese schlimmste der Todsünden bringt Judas an ein Ende, das noch schrecklicher ist als das des Pilatus, denn während dessen Leichnam aus der Welt geschaffen werden muss und sich die Menschen seiner zu entledigen suchen, bleibt Judas in der Luft hängen, noch nicht einmal mehr den Menschen zugehörig: In aere etiam interiit ut qui angelos in celo et homines in terra offenderat ab angelorum et hominum regione separaretur et in aere cum demonibus sociaretur (LA 45, 62: Er starb in der Luft, denn er hatte die Engel im Himmel und die Menschen auf Erden betrübt, also wurde er von ihnen geschieden und den Teufeln in der Luft zugesellt). Die bösen Taten, die seine Vita prägen, sind daher jener finalen Logik geschuldet, die diesen endgültigen Umschlag zum Bösen bereits erweisen. Das Passional gestaltet die Judasvita auf die gleiche Weise wie seine Vorlage, wobei sich ähnliche Bearbeitungstendenzen zeigen wie in der Pilatusvita. Auch das Passional erzählt die Lebensgeschichte des Judas nicht in einem eigenen Kapitel, sondern integriert in die Matthiaslegende. Das unterscheidet sie von der Pilatusvita, der ein eigener, in den Handschriften mit rubrizierten Kapitel- oder Seitenüber|| 29 KIENING, Arbeit am Absolutismus, S. 51. 30 Vgl. SCHEIDGEN, Pilatus, S. 138. Die älteste erhaltene lateinische Fassung bewahrt die Züge des Ödipus-Mythos viel stärker, doch auch hier ist bereits die Ermordung des Vaters durch den Apfeldiebstahl motiviert, wenngleich der Erzähler beim Inzest mit der Mutter um größtmögliche Entlastung für die handelnden Personen bemüht ist; der Inzest erscheint dadurch als unabsichtliches, verhängnisvolles Unglück. Die Historia apocrypha stellt den Inzest dann explizit in den Zusammenhang mit der Habgier des Pilatus, dessen Sündhaftigkeit die unwissentliche Verbindung von Mutter und Sohn erst anstößt, vgl. ebd., 130–132. 31 KIENING, Arbeit am Absolutismus, S. 50. 32 Ebd., S. 49.

348 | Gegentypen: Unheilige und Antilegenden schriften auch deutlich markierter Abschnitt im ersten Buch zukommt, der diese Vita damit am Tiefpunkt der Heilsgeschichte zwischen Grablegung und Auferstehung Christi präsentiert. Die Integration der Judasvita in die Matthiaslegende dient dagegen weniger dazu, sie zu verstecken,33 vielmehr kommt für die Geschichte des gefallenen Jüngers im Passional (wie auch der Legenda aurea) konzeptionell nur dieser Platz im zweiten Buch, dem ‚Buch der Boten‘ in Frage, dort aber kann der Verräter Christi und Antiheilige Judas natürlich nicht in eine Reihe mit den übrigen Aposteln gestellt werden und ein eigenes Kapitel erhalten; in den Registern der Handschriften zum zweiten Buch ist Judas folglich auch nicht erwähnt. Der an einer Chronologie orientierte Aufbau des Passionals im ersten Buch kann daher zu gegebener Zeit über Herodes oder Pilatus informieren, die Lebensbeschreibung des Judas aber fügt sich so am ehesten in die Legende des für ihn nachgerückten Matthias, ohne dies in den Handschriften jedoch mit einer eigenen Überschrift zu kennzeichnen.34 Die Erzählerrede grenzt die Judasgeschichte dafür ganz deutlich von der des Apostels ab; der Text geht nach einer kurzen Einleitung mit der bekannten Formulierung (wir lazen hi Mathiam/ eine wile verswigen/ und mit der rede hinderligen; II 34480–34482) rasch zur Judasvita über, um nach der Schilderung seines Selbstmordes in einem neuen Absatz wieder zur Matthiaslegende zurückzukehren. Einge|| 33 So die Auffassung von KIENING, Arbeit am Absolutismus, S. 51 in Bezug auf die Legenda aurea. 34 Die Untaten des Herodes und sein schändlicher Tod werden im Passional zweimal abgehandelt, im ersten Buch im Zusammenhang mit dem Kindermord zu Bethlehem, im zweiten im Zuge der Vita Johannes d. Täufers. Nur in Hs. B aber ist die Erzählung von Herodes in Buch I explizit durch Überschriften markiert. Dass die Schreiber der Hss. die Judasvita zumindest teilweise durchaus als eigenständige Erzählung innerhalb der Matthiaslegende aufgefasst haben, lässt sich an den entsprechenden Kolumnentiteln erkennen: Bis auf Hs. A, die ohnehin nur Kolumnenüberschriften enthält, markieren alle anderen Hss. den Beginn der Matthiaslegende mit einer rubrizierten Überschrift, die sich wie erwähnt nur auf Matthias bezieht. Außer G weisen die Hss. zusätzlich Kolumnenüberschriften auf, die jede Seite mit dem Titel der entsprechenden Vita bezeichnen, was die Auffindbarkeit eines bestimmten Textes für den Benutzer erleichtern soll. Die Hss. B und C haben dementsprechend dort, wo die Matthiaslegende beginnt, die Kolumnenüberschrift von sente Mathia (B, S. 345) bzw. VON SANTE MATHIA (C, fol. 164v/165r). Die sich in der Regel über zwei gegenüberliegende Seiten erstreckende Kolumnenüberschrift ändert sich dann jedoch in B und C: Jene Seiten, welche die Judasvita beinhalten, sind überschrieben mit: von Juda dem verretere (B, S. 346/47 u. 348/49) bzw. VON IUDA DEM BOSEN (C, fol. 165v/166r). Wenn der Text dann zur Matthiaslegende zurückkehrt, kehrt auch der Kolumnentitel wie eingangs zum Apostel zurück (also etwa von sente Mathia in B, S. 350/51). Die Hss. A und D behalten hingegen ihren auf Matthias bezogenen Kolumnentitel den gesamten Abschnitt über bei, so wie es in BCDG auch die Überschrift tut, ohne Judas zu erwähnen. Während also die Schreiber dieser Hss. die Matthiaslegende als einheitlichen Text aufgefasst haben, ist den Redaktoren von B und C eine Markierung der Judasvita offenbar wichtig gewesen – möglicherweise auch, damit dieser Text, der im Register zum zweiten Buch nicht vermerkt ist, besser aufzufinden war. Nach diesem Prinzip verfahren im Übrigen auch einige der Hss. der Legenda aurea bei der Matthias- und Judaslegende. Für bibliothekarische Auskünfte danke ich an dieser Stelle herzlich Karin Zimmermann (Heidelberg) und Eva Irblich (Wien) sowie Doris Mahlknecht für die Anfertigung einer Kopie der Hs. G aus Brixen.

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leitet mit den Worten Sus was der kor zubrochen (II 35029) wird dann die Erwählung von Matthias an Judas’ Stelle erzählt, daran anschließend sein Wirken als Apostel. Den eigentlichen Verrat des Judas hat das Passional bereits im Rahmen der Passionsgeschichte im ersten Buch geschildert; der Erzähler bringt darin die negative Bewertung der Figur und ihrer Handlungsweise mehr als deutlich zum Ausdruck (vgl. Kap. 3.2.2). Auch in der Vita überwiegen von Anfang an die pejorativen Attributierungen, schon in der Erzähleinleitung wird Judas als der apostrophiert, der mit schanden hinder streich/ und uz allen eren weich/ zu ewiclichem vluche (II 34485– 34487).35 Andererseits wird die Figur durchaus ambivalent dargestellt, wenn der ans Ufer der Insel Scarioth gespülte Judas als ein schone kint (II 34605) bezeichnet wird und schon bei der Geburt ein schone knecht (II 34545) ist. Hier spiegelt die Schönheit jedoch gerade nicht die inneren Eigenschaften wider, denn der Brudermord, den Judas später begeht, wird noch viel stärker als ein solches Verbrechen gekennzeichnet. Die Königin täuscht eine Schwangerschaft vor und zieht Judas als eigenen Sohn auf, und als sie bald darauf tatsächlich schwanger wird, wachsen die beiden Kinder so auf, als ob sie brudere weren (II 34650). Doch auch hier macht sich die wahre Abstammung der Kinder bald bemerkbar, denn die beiden sind in ir tugent, die sie heten (II 34653) sehr unterschieden, wande an ieglichen steten trat her vor, der edel was. der valsche sun Judas an forme, an craft underlac. swes man an kurzewile pflac, so gienc des kuniges sun ie vur nach der edelkeite spur, die er von geburte entphienc. (II 34654–34661)

Diese Determination von hoher Geburt und adeliger Abstammung, an der sich die Differenz zur Untugend und Verworfenheit des Protagonisten erweist, stellt eine deutliche Parallele zur Pilatusvita dar, die in der Legenda aurea so nicht direkt vorgebildet ist, wo es lediglich heißt, dass Judas seinen Ziehbruder immer wieder zum Weinen bringt und von der Königin im Wissen um seine Herkunft wiederholt geschlagen wird. Statt also einfach nur die latent immer schon vorhandene boshafte Wesensart des Judas zu betonen, macht das Passional wie bei Pilatus daran ausdrücklich den genealogischen Standesunterschied fest: Judas ist der valsche sun. Diese Differenz wird immer wieder betont und führt – erneut wie bei Pilatus – zum Neid, wenn der Königssohn in schoner zucht dahergeht, wand er von kuniclicher vrucht / zur edelkeite was geborn (II 34669–34671), während Judas sämtliche Tugendhaftigkeit abgeht, denn er was edelkeit ein schime / und dran zu rechte nicht || 35 Die Schande des Judas ist ein immer wiederkehrendes Attribut, so wird Judas in der Hölle auch als der schanden vaz (I 9263) bezeichnet, vgl. Kap. 3.2.7.

350 | Gegentypen: Unheilige und Antilegenden geborn (II 34682f.). Adel und hohe Geburt werden mit ethischen Qualitäten verbunden, wie es sich nicht zuletzt in den Heiligenlegenden des dritten Buches als typisches Beschreibungsmodell des Passionals zeigt, das damit einmal mehr ein höfisch geschultes, ritterlich-adeliges Publikum anspricht. Eine solche Verbindung von hochstehender Genealogie und Heiligkeit ist bereits in der Abstammung Marias im ersten Buch vorgebildet und zieht sich als Beschreibungsmodell durch das ganze Legendar, ob Magdalena oder Christina, ob Adrian oder Georg, Agnes oder Clemens bis hin zu Elisabeth von Thüringen. Umgekehrt heißt das: Die Untugenden und nacheit (II 34664) müssen mit ständischer Differenz verbunden werden, nicht mit Adel und höfischer Lebensart. Diesen Unterschieden der ungleichen Fürstensöhne widmet der Passionaldichter viel Raum, vergleicht die beiden als Falke und Rabe, als Leopard und Esel: Hier den höfischen Jagdvogel, dort den gemiedenen Aasfresser, hier das stolze und schöne Raubtier, dort der einfältige Lastenträger. Das Resümee des Erzählers könnte dies nicht klarer ausdrücken: dirre kune und starc, jener ungetruwe und arc; dirre was je wol bewart an maniger tugentlicher art und jener an maniger bosheit mit willen und mit lebene breit. (II 34699–34704)

Auf diese Weise wird mehr als deutlich vorbereitet, dass der Brudermord ausschließlich aus niederen Beweggründen geschieht, wie bei Pilatus aus Neid und Hass. Und wiederum wie Pilatus schlägt auch Judas seinen Ziehbruder heimlichen tot (II 34721), um dann zu eben demjenigen zu fliehen, dessen Lebensgeschichte den denkbar ähnlichen Verlauf genommen hat: Pilatus nimmt ihn auf, wand ein ieglicher man/ ie sines glichen war nimt (II 34748f.). Gleich und Gleich gesellt sich gern, der Böse hält sich zum Bösen und Pilatus hofft, daz im Judas konde also/ mit nacheit stete bi gestan (II 34762f.). Die angesprochene Entlastung von Vatermord und Inzest durch den Auftrag des Pilatus zum Apfeldiebstahl nimmt das Passional mit einem Erzählerkommentar wieder zurück. Auch wenn die Initiative nicht von Judas ausgehe, mache er sich hier doch zum Dieb (do wart zeime diebe/ Judas durch sine vruntschaft; II 34806f.), dabei wäre es, so der Erzähler, doch ein einfaches gewesen, um die Äpfel zu bitten. Judas macht sich also genauso schuldig, eben weil er mit dem üblen Pilatus paktiert: nu secht, wi gar vntugenthaft/ ir ieglicher dar an was,/ Pylatus unde Judas (II 34808– 34810). Die Ermordung des Vaters wird geschildert als sich immer weiter steigernder Streit, von Worten über vustslegen (II 34831) bis dahin, dass Judas als der Stärkere seinen Vater niederringt. Erst dann greift er einen Stein, denn sin bose wille wart do arc (II 34834), mit dem er ihm das Genick bricht, so dass es wie ein natürlicher Tod aussieht. Was die Legenda aurea nüchtern und ohne entsprechend wertende Kommentare beschreibt, wird hier zum feigen Verhalten, einen bereits wehrlos am Bo-

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den Liegenden dennoch zu töten, auch dies ein höchst unhöfisches, unritterliches Verhalten. Besonders arglistig ist, dass Judas anschließend alles Pilatus erzählt, der am nächsten Tag mit Cyborea, die ihm ihr Leid klagt, Mitleid heuchelt, als ob im vremde were/ wa von entstunt di swere (II 34859f.). Und auch wenn nicht ausdrücklich von einer Belohnung wie in der Historia apocrypha die Rede ist,36 wird doch klar, dass er Judas Cyborea wegen der mit ihr verbundenen richeit (II 34862) zur Frau gibt, nicht etwa als Ausgleich für den begangenen Mord an ihrem Mann: sus nam er zu wibe/ di vrouwe sunder iren danc/ wand si es Pylatus betwanc (II 34866–34868).37 Daran zeigt sich, dass das Passional die vom Ödipus-Erzählmuster ausgehende Finalität insofern auffängt, als Judas’ Taten nun weniger wie ein unentrinnbares, schicksalhaftes Fatum erscheinen, sondern als Resultat der Schlechtigkeit von Judas und Pilatus zusammen, denn Vatermord und Inzest entspringen weniger einem unbegreiflichen Schicksal als vielmehr der Habgier beider. Anders als bei Ödipus im antiken Mythos machen auch nicht diese Taten das schicksalhafte Verhängnis des Judas aus, sondern der spätere Verrat an Jesus. Eben darum muss die Erzählung das Ödipus-Muster zuletzt ausblenden zugunsten des ‚doppelten Umschlagsmoments‘ von Nachfolge und Verrat. Wie die Pilatusvita weist auch die des Judas eine erschreckende Finalität auf, sie macht sich jedoch den Ödipus-Mythos nur zunutze, um die von Anfang an feststehende Verworfenheit des Protagonisten narrativ auszugestalten und das doppelte Umschlagsmoment mit der grenzenlosen Bosheit des Judas zu begründen. Die finale Struktur der Vita führt daher nicht auf den Inzest, sondern auf den Verrat hin, denn dieser ist es, der erklärungswürdig ist. Das Skandalon des Verrats Jesu aus den eigenen Reihen nämlich muss narrativ bewältigt werden. Die Umkehr des Judas nach der Enthüllung der Zusammenhänge schildert das Passional zwar konventionell, ohne aber seiner Reue in irgendeiner Form Unaufrichtigkeit zu unterstellen. Judas begreift siner sunden unvuc (II 34926) und schließt sich Jesus als der arme knecht (II 34942) an. Christus, so betont der Erzählerkommentar, gewährt dem reuigen Sünder Vergebung; implizit weiß der Rezipient freilich, dass Judas dies letztlich ausschlagen wird. Gerade hier wird der ambivalente Status des „zugleich Ausgezeichneten und Ausgegrenzten“38 ersichtlich, und es ist diese Ambivalenz zwischen Gnade und Verdammnis, auf welche die Vita narrativ reagiert. Erst die Erzählung begründet, wie Jesus ausgerechnet von einem seiner engsten Vertrauten (Judas ist ihm heimlich; II 34960) verraten wird. Die durch die Vorgeschichte vorbereitete Determination zum Bösen bricht auch im Kreis der Jünger durch, wenn Judas als deren Schatzmeister Geld unterschlägt und damit in seine alden gewonheit (II 34977) zurückfällt: swaz man ot wischet den koln,/ so wil er im|| 36 Vgl. SCHEIDGEN, S. 140f., der das in der Historia apocrypha aufgemachte Dienst-Lohn-Verhältnis zwischen Pilatus und Judas genau analysiert. 37 Cyborea betont gegenüber Judas noch ein weiteres Mal, dass sie von Pilatus zur Ehe mit Judas gezwungen worden sei, vgl. II 34906–34911. 38 KIENING, Arbeit am Absolutismus, S. 49.

352 | Gegentypen: Unheilige und Antilegenden mer swartz wesen (II 34968f.). Der Verrat des Judas, so lässt sich aus diesem Kommentar schließen, ist längst festgelegt, denn er ist Judas gewissermaßen ins Wesen geschrieben. Indem dieser Verrat wie in der Legenda aurea in der Vita gar nicht mehr dargestellt wird, ist der Umschlag von der Gnade zur Sünde ausgeblendet, verschoben in die Passionsgeschichte des ersten Buchs. Nur die Motivation wird angedeutet: Judas habe es leid getan um die Salbe, mit der Maria Magdalena Jesus die Füße gesalbt hatte, denn wäre sie statt dessen verkauft worden, hätte er das Geld selbst einstreichen können (vgl. I 34978ff.). Dass er, um diesen Verlust auszugleichen, Jesus dann um 30 Silberlinge verraten habe, erzählt nur die Legenda aurea, die jedoch Magdalenas Namen weglässt. Der aber ist für das Passional entscheidend: Denn neben dem Motiv der Habgier, das seine ganze Lebensgeschichte durchzieht, wird Judas hier antithetisch Magdalena gegenübergestellt: Während diese zum Abschluss des zweiten Buchs als exemplarische Figur für das Umschlagen von Sünde in Gnade vorgeführt wird, zeigt sich umgekehrt an Judas der Umschlag von Gnade in Sünde, von Vergebung in Verrat und Verdammung. Magdalena steht als Beispiel dafür, dass auch eine noch so große Sünderin Vergebung erlangen kann. Judas ist das Gegenbeispiel, der als Jünger begnadet ist, aufgenommen von Jesus trotz schwerer Sünden, diese Gnade aber ausschlägt. So ist es nur folgerichtig, dass sein Selbstmord aus der Verzweiflung resultiert: di zwivelunge in verschriet/ in also boser ruwe; II 34992f.). Verzweiflung und böse Reue bewirken seine Vernichtung, und auch das Passional beschreibt nicht nur das Aufbrechen der Eingeweide, wodurch die Seele aus dem Körper fährt, sondern führt das Hängen zwischen Himmel und Erde als gleichsam ewige Verdammnis aus.39 er solde ouch hangen in der luft zwischen himel und erde, wand er vil unwerde mit aller sunden schimele sich von dem himele und von der erden lute schiet, do er den gotes sun verriet; des solde er dulden dise pin und zwischen himel und erde sin mit den ubeln geisten, die im solden leisten mit ewiclicher marterat, swaz er uf sie geborget hat. (II 35016–35028)

|| 39 Zur mittelalterlichen Sicht auf die Verzweiflung des Judas vgl. Friedrich OHLY, Der Verfluchte und der Erwählte. Vom Leben mit der Schuld, Opladen 1976, S. 36–42, der zur falschen Reue, die Judas nicht ins Gebet, sondern in den Selbstmord führt, u.a. Kommentare von Ps.-Bernhard und Hieronymus anführt.

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Das Schweben zwischen Himmel und Erde wird nicht nur auf den Selbstmord durch Erhängen bezogen, sondern ist gleichsam Programm für die verdammte Seele, die von den üblen Geistern, denen sie zugehört, auf ewig gequält werden wird. Wie bei Pilatus ist auch Judas’ Tod komplementär zur Heiligenlegende gestaltet. Ist nämlich für den Heiligen der Tod der Beginn des eigentlichen, des ewigen Lebens und wird mit seinem Gedenken auf Erden der Todestag als eigentlicher Geburtstag gefeiert, so ist der Tod des Judas ein zeitloses, ewiges Ende, das durch die Ortlosigkeit zwischen Himmel und Erde noch verstärkt ist. Das Ende des Judas verharrt erzählerisch damit genau auf dem narrativen „Scheitelpunkt von ‚noch nicht‘ und ‚nicht mehr‘“40. Die Höllenstrafen des Judas werden anderswo, z.B. in der Brandanlegende, ausführlich dargestellt, das Passional begnügt sich damit, ihn nicht nur bildlich in der Luft hängen zu lassen, sondern ihm selbst erzähllogisch ein endloses Ende zu bereiten.41

7.3 Die komplementäre Ordnung der Antilegenden Judas- und Pilatusvita, so hat sich gezeigt, sind komplementär zu den Heiligenlegenden gestaltet, deren narrativen und strukturellen Besonderheiten sie ebenso folgen, die aber gegenteilig semantisiert und mit einer negativen Axiologie besetzt sind. Aufbau und Gestaltung ihrer Lebensbeschreibung nach legendarischen Erzählmustern sind umso wichtiger einzuschätzen, als erst darin die beiden Figuren als Gegentypen des oder der Heiligen erkennbar werden, als Antiheilige, deren Erzählungen damit zur Antilegende werden. Das zeigt sich schon im Bereich der imitatio: Sind die Heiligen vorbildhaft für alle Christen und ist ihre Exemplarizität in der vorbildlichen Nachfolge Christi begründet, so sind die Leben dieser beiden vielmehr abschreckende Beispiele: Untaten statt Heilstaten, Untugenden statt Tugenden, auf diesen Nenner lässt sich die negative Semantisierung zunächst bringen.42 Pilatus wird durch seine Taten als neuer Kain gekennzeichnet, Judas kann als Paradebeispiel einer negativen Nachfolge angesehen werden, denn er gehört zum engsten Kreis der Jünger, verrät aber schließlich Jesus, anstatt den Nachfolgeaufruf auszuführen.

|| 40 STIERLE, Wiederkehr des Endes, S. 578. Vgl. dazu auch HAMMER, Ent-Zeitlichung, S. 196f. Auf diese Weise wäre Judas einem ewigen Tod verfallen, im Sinne eines mors secunda, wie ihn Augustinus, De civitate Die XIII, 11, beschreibt. 41 Berichte über den Verbleib des Judas in der Hölle geben bereits die apokryphen BartholomäusAkten, nach denen in der Hölle seit dem Descensus Christi nurmehr Judas, Herodes und Kain verblieben seien, vgl. Werner VOGLER, Judas Iskarioth. Untersuchungen zu Tradition und Redaktion von Texten des Neuen Testaments und außerkanonischer Schriften, Berlin 1983, S. 130f. 42 Insoweit ist also durchaus noch JOLLES zu folgen, der in den Heiligenlegenden sich die Tugenden, in den Antilegenden die Untugenden sich vergegenständlichen sieht. vgl. nochmals JOLLES, Einfache Formen, S. 51.

354 | Gegentypen: Unheilige und Antilegenden Abschreckend ist vor allem ihr Ende, das weniger als Strafe Gottes erscheint, auch wenn es eingangs der Pilatusvita so bezeichnet wird, als vielmehr sich selbst erfüllendes Unrecht. Während sich Christus opfert, um für andere zu leiden, steht für Judas und Pilatus nicht die Selbstlosigkeit, sondern die stetige Selbstbezogenheit im Vordergrund: Die Untaten, die sie begehen, entstehen aus Neid, Hass und Habgier, sie sterben nicht durch andere, sondern durch sich selbst. Pilatus tötet sich aus Furcht vor dem Urteil gegen ihn, so wie er Jesus aus Furcht vor den Juden verurteilt hat, Judas aus Verzweiflung, weil er an der Gnade Gottes zweifelt – nicht zuletzt stellt das Passional Judas mit seiner falschen Reue Magdalena und ihrer edeln ruwe (II 39696), die in Gnade und Vergebung umschlägt, gegenüber. Während die Märtyrerlegenden stets eine Alternative aufmachen, damit diese abgelehnt und der Märtyrertod als ethische Leistung, als Wahl zur Heiligkeit erscheint, trifft Judas die falsche Wahl, sie bedeutet Verrat, Verzweiflung, Verdammung. Demgegenüber sterben die Märtyrer in der Nachfolge Christi nicht in Furcht oder Verzweiflung, sondern in Freude und in Erwartung des ewigen Lebens. Auch ihre Körper werden in der Marter teilweise so verstümmelt, dass die Eingeweide hervorquellen (vgl. z.B. Vincentius oder Georg), doch nicht, damit die Seele dort austreten kann, diese wird vielmehr von Engeln in den Himmel geleitet. Der Märtyrer wählt den Tod in der Nachfolge des Kreuzestodes und darf analog auf die Teilhabe am Auferstehungsereignis hoffen, Judas wählt dagegen den ewigen Tod und steht damit nicht in der Nachfolge Jesu, sondern der des Satans und übertrifft darin Pilatus, den alter Kain.43 Doch auch für Pilatus gilt die komplementäre Ordnung der Legende, dessen Leichnam in direktem Gegensatz zur translatio von Heiligenreliquien vor den Menschen versteckt werden muss, da er nicht Heil, sondern Gefahr birgt. Erweisen sich die sterblichen Überreste des Heiligen als heilkräftig, so sind die des Pilatus schadenbringend. Seine Vita beendet das Passional nicht mit einer invocatio, sondern mit einer damnatio memoriae (I 8252ff.), die vor der Verachtungswürdigkeit seines Lebens warnt. Doch abseits solch oberflächlich antithetischer Bezugsetzungen lassen sich weitere Parallelen zum legendarischen Erzählen feststellen. So werden auch innerhalb der Judasvita Basisoppositionen verhandelt, jedoch weniger im Spannungsfeld von Inklusion und Exklusion, von Stigma und Charisma, sondern dem von Gnade und Verdammung sowie von Verrat und Opfer.44 Dies betrifft vor allem das bei Judas konstatierte doppelte Umschlagsmoment: Er findet nach seinen zahlreichen Sünden (Bruder- und Vatermord, Inzest) Gnade und Vergebung als Jünger Jesu – doch der die Heiligen kennzeichnende Umschlag von Sünde in Gnade (wiederum wäre hier als Gegentyp Magdalena zu nennen) wird abgewiesen zugunsten eines erneuten Umschlags von der Gnade zur Verdammung. Ein Umschlagen vom Stigma zum || 43 Hinzu kommt, dass die Passionsdarstellung des Passionals analog des Johannesevangeliums berichtet, in Judas sei während des letzten Abendmahls im Moment des Verrats der Satan gefahren, vgl. I 5386–5391. Bei Judas’ Verrat handelt also von Anfang an der Satan. 44 Vgl. auch KIENING, Arbeit am Absolutismus, S. 48.

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Charisma findet dagegen nicht statt: Pilatus wie Judas sind in vielfacher Hinsicht Stigmatisierte, schon durch ihre Herkunft, deren soziale Indifferenz das Passional bemerkenswert hervorhebt: Pilatus, der illegitime, und Judas, der falsche Königssohn, müssen jeweils erkennen, dass sich ihre niedrige genealogische Herkunft auch nach außen hin zeigt. Adel und Genealogie sind spezifische Beschreibungsmodelle des Passionals, doch während die Heiligen sich als Selbststigmatisierer ihrer sozialen Abstammung bewusst entledigen und somit ihr selbstgewähltes Stigma in religiöses Charisma umschlägt, tragen Judas und Pilatus unfreiwillig soziale Stigmata, die sie gerade nicht in Charisma umwandeln, sondern in Untaten, die ihre Stigmatisation noch verstärken. Judas und Pilatus sind von Anfang an Ausgegrenzte, sie gelangen aber nicht wie beispielsweise Franziskus von der Peripherie ins Zentrum der Gesellschaft, sie sind keine Sünderheiligen, die sich bekehren, sondern sie bleiben Außenseiter und verstärken ihre Position mit jeder Untat noch mehr, was in Verrat bzw. Verurteilung Christi kulminiert.45 Es findet also kein Umschlagen vom Außenseiter zum Charismatiker statt, sondern in Judas ein umgekehrter Umschlag von der Gnade zur Verdammnis, bei Pilatus dagegen gibt es überhaupt kein Umschlagsmoment, er ist der neue Kain, der von Anfang an böse ist. Auch zahlreiche Heiligenlegenden enthalten einen solchen Umschlagspunkt nicht, denkt man beispielsweise an Nikolaus, dessen Heiligkeit sich schon bei der Geburt erweist. Während aber in dieser Legende in paradigmatischer Aneinanderreihung immer wieder die Tugendhaftigkeit und Auserwähltheit des Heiligen narrativiert wird, erweist sich in der Pilatusvita in der auffälligen Doppelung des zweifachen Brudermordes gerade die uneingeschränkte Verdammenswürdigkeit des Protagonisten. Und so sind für beide Viten zuletzt die auffälligen finalen Erzählstrukturen bemerkenswert. Die Judaslegende führt die beiden Hauptschuldigen am Tode Jesu zusammen und reagiert damit auf die Problematik, die Heilsnotwendigkeit des Bösen zu erklären. Die zahlreichen Korrespondenzen zwischen Judas- und Pilatusvita liegen dabei nicht nur auf der Handlungsebene, sondern treten auch strukturell zutage: Unter bestimmten Vorzeichen geboren, begehen beide Brudermord, sind beide mit Inzest verbunden und enden beide im Selbstmord. Beide aber sind zugleich notwendige Instrumente der Heilsgeschichte.46 Dabei verbindet das Passional ihre negativen Qualitäten mit ständischen Differenzen, adelige Genealogie dient als Kontrastfolie zur Bosheit der sozial wie ethisch Ausgegrenzten. An den Viten zeigt sich eine Finalität des Bösen, die sich teilweise als biologische Determinierung präsentiert, teilweise als schicksalhafte Unentrinnbarkeit, indem sich die Judasvita das Er|| 45 Dabei spielt es keine Rolle, dass Pilatus etwa als Statthalter in Jerusalem einen sozial hochgestellten Status innehat; die moralischen Stigmata grenzen ihn davon ab, der eines solchen Amtes nicht würdig ist. Vgl. zur Negativierung der weltlichen Abstammung bei Pilatus und Judas KEHREL, Möglichkeiten, S. 190–192. 46 Vgl. KIENING, Arbeit am Absolutismus, S. 52f.

356 | Gegentypen: Unheilige und Antilegenden zählmuster des Ödipus-Mythos zu eigen macht. Gerade dieses Muster gibt in ihrer Fatalität einen finalen Erzählverlauf vor, der geradewegs in den Untergang führt. Dann aber wird die finale Logik von Schuld und Verdammung kurzzeitig ausgesetzt, Judas als Jünger des Herrn präsentiert, um schließlich doch zu ihrem Ende geführt zu werden. Damit wird Judas nun als aus sich heraus böse dargestellt, auch er ist, wie die Heiligen, immer schon, was er erst werden wird. Weder die fatalistische Unentrinnbarkeit der Ödipus-Struktur noch die Initiative des Pilatus zu Vatermord und Inzest sind dabei noch entlastend, die Schuld des Judas wird als individuelle gezeigt. Das gleiche gilt auch für die Biographien der beiden anderen Antiheiligen, denen das Passional breiteren narrativen Raum gibt, nämlich Herodes und Julianus Apostata. Eine vollständige Lebensbeschreibung des Herodes ist zwar nicht gegeben, doch wird an zwei Stellen näher auf die Figur eingegangen, vor allem in Zusammenhang mit dem Kindermord von Bethlehem. Auch er erscheint als von Anfang an böse, auch bei ihm zeigt sich eine Finalität des Untergangs, die sich nicht zuletzt daran festmachen lässt, dass im Rahmen des Passionsgeschehens alle drei Figuren, Judas, Pilatus und Herodes, zusammengeführt werden. Herodes lässt arclistec unde swinde (I 3871) den Kindermord aus haz und nit (I 3880) begehen und verschont dabei nicht einmal einen seiner eigenen Söhne, der auf diese Weise wie die anderen Kinder zu einem merterere (I 3990) wird. Pilatus begeht Brudermord, Judas Bruder- und Vatermord, Herodes Sohnesmord: alles Verbrechen gegen die eigene, verfluchte Genealogie, alle aus den gleichen Beweggründen Neid und Hass. Intensiviert wird das Bild durch die zusätzlichen Informationen in der Vita Johannes d. Täufers, den Herodes enthaupten lässt; dort werden seine Intrigen und sein lasterhafter Lebenswandel ausgiebig beschrieben. Zwar fehlt Herodes eine Vorgeschichte wie bei Pilatus oder Judas, die seine Bosheit gewissermaßen biographisch begründet, sein Ende kommt jedoch den beiden anderen Negativfiguren gleich, denn er verfault bei lebendigem Leibe und will sich, von Würmern zerfressen, das Leben nehmen. Dagegen besitzt der Teufelsbündner Julianus Apostata keinen Bezug mehr zum christlichen Heilsgeschehen. Seine Vita wird dafür im Passional gleich zweimal erzählt, einmal innerhalb der Legende Johannes d. Täufers, ein weiteres Mal – mit einigen Differenzen, teilweise aber auch wortgetreuen Übereinstimmungen – eingegliedert in einen Block von Legenden verschiedener Persönlichkeiten mit dem Namen Julianus. Während es sich bei den ersten vier jedoch um verschiedene Heilige mit dem gleichen Namen handelt, muss der fünfte Text zu Julianus Apostata ebenfalls als Antilegende gelten.47 Julianus kann als zum Heidentum zurückkehrender || 47 Vgl. II 38554 – 39234 und III 155, 63 – 161, 60. KÖPKES Ausgabe gibt ab da die Seitenüberschrift von Iuliano dem bosen wieder, ohne allerdings zu erläutern, ob dies auch dem handschriftlichen Gebrauch entspricht. Den Beinamen Apostata führt auch das Passional ein, vgl. III 155, 79, ebenso II 38738.

Die komplementäre Ordnung der Antilegenden | 357

Kaiser und nekromantischer Zauberkünstler am ehesten Simon Magus an die Seite gestellt werden; auch bei ihm wird mehrfach seine falsche Heiligkeit betont.48 Es ist erneut die negative Semantisierung, die einen ansonsten gleichstrukturierten Text zur Antilegende macht: So beschreibt das Passional etwa eindringlich, dass Julianus zwar von königlicher Abstammung gewesen sei, jedoch nur auf seine Ehre bedacht und daher Tugend und Demut vergessen habe. Anstatt wie die Heiligen nach der Transzendenz zu streben, bleibt er in den immanenten Wertsystemen gefangen. Auch hier ist die Finalität des Bösen, komplementär zur schon immer dagewesenen Heiligkeit der Legendenprotagonisten, unübersehbar: er was bi sinen kindes tagen/ unselic, wand er bose was (III 157, 52f.). Ausführlich wird sein Bündnis mit den Dämonen, die er aufgrund seiner schwarzen Künste z.T. kontrollieren kann, dargelegt, weshalb er durch Zauberei einige scheinbare Wunder vollbringen kann – es kommt, wie bei Simon Magus in der Petruslegende, auch hier auf die axiologische Besetzung von Wunder und Magie an.49 Das Ende des Bösen ist dann als wirkliche Strafe Gottes aufzufassen: Als der Kaiser die Stadt Caesarea belagert, um die Christen dort zu vertreiben, erhebt sich der durch Julianus den Märtyrertod erlittene Ritter Mercurius in voller Rüstung als ein gewapent ritter (III 160, 21; ebenso II 39097) aus seinem Grab im dortigen Münster, reitet dem Kaiser nach ritterlicher saze (III 161, 3; ebenso II 39177) entgegen und tötet ihn.50 Hier wird der Unheilige direkt zur Verantwortung für seine Taten gezogen, und zwar durch denjenigen, den er selbst zum Märtyrer und Heiligen gemacht hat und dem er so als Negativbeispiel entgegengestellt wird. Während jedoch der

|| 48 Besonders betont das der Abschnitt innerhalb der Johannes-Legende: do hub sich Julianus/ durch vorchte und durch nacheit/ in eine valsche heilikeit (II 38564–38566; vgl. ebenso II 38577, wo davon die Rede ist, dass Julianus in valscher heilikeit Mönchskleider anlegt und die Ordenskleidung dadurch schändet. 49 In der Julianus-Apostata-Erzählung des zweiten Buchs liegt der Schwerpunkt eher auf den Untaten, die Julianus durch seine Zauberei begeht, im dritten Buch überwiegt die Beschreibung des Dämonenbündnisses. Beide Male aber wird klar gemacht, dass er sich zwar als Heiliger geriert, seine Wunder aber gerade keine Heilstaten sind. 50 Mercurius hat den Auftrag dazu direkt von der Gottesmutter Maria, in deren Münster er begraben liegt, erhalten. Das Wunder wird offensichtlich, als man bemerkt, dass das Grab des Heiligen geöffnet und leer ist, ebenso fehlen die als Reliquien aufbewahrten Waffen und die Rüstung. Nach vollbrachter Tat ist der Heilige wieder im Grab, sein Speer allerdings blutig. Das Passional, das an derartigen Ritterheiligen stets ein besonderes Interesse hat, kleidet diese Szene auf über 150 Versen mit reichlich ritterlich-höfischem Vokabular aus. Mercurius’ Tat wird dadurch zu der eines Heiligen stilisiert, der Gottes Strafe vollzieht, gleichzeitig aber zur ritterlichen Heldentat, die eine ganze Stadt rettet; der Heilige erfüllt damit auf vorbildliche Weise das miles-Christi-Ideal. Nicht zuletzt ist der von Maria persönlich beauftragte Mercurius der vrowen ritter (II 39108; vgl. III 160, 32) – eine Apostrophierung, die vor allem für die sich selbst als Marienritter bezeichnenden Mitglieder des Deutschen Ordens von Bedeutung ist. Diese Episode erzählen die beiden Versionen im zweiten und dritten Buch in praktisch wörtlicher Übereinstimmung; im zweiten Buch wird das Motiv der Rache Gottes aber noch stärker betont, vgl. II 38990–39234 und III 159, 11 – 161, 60.

358 | Gegentypen: Unheilige und Antilegenden Körper des Märtyrers in der Kirche begraben und von den Menschen verehrt wird, liegt die Leiche des Julianus offenlich geschant (III 161, 35; II 39209) im Dreck und wird geschändet, denn die Leute schinten in alsam ein vie (III 161, 43; II 39217). Wie bei Pilatus plaziert der Erzähler auch hier abschließend keine invocatio, sondern eine Mahnrede über den von Gott gerächten Frevel, der dann allerdings in dem Aufruf endet, Gott stets zu ehren (III 161, 58–60).51 Gerade daran zeigt sich, weshalb auch die Antilegenden Bestandteil des hagiographischen Schrifttums sind, denn auch sie dienen dazu, Ehre und Lob Gottes zu verbreiten, hier jedoch anhand von Negativexempeln, die gerade deshalb den gleichen legendarischen Mustern folgen, nur komplementär semantisiert sind. Doch anders als Julianus oder auch Simon Magus, die als falsche Heilige und Teufelsbündner einfache Gegenfiguren der Heiligen und Negativexempel der Gottlosigkeit darstellen, darf die heilsgeschichtliche Bedeutung der Figuren von Judas und Pilatus nicht übersehen werden, denn dies ist es, was das Interesse an ihren Lebensbeschreibungen im Mittelalter anfacht. Ihre beiden Viten reagieren narrativ auf die verstörende Erkenntnis, dass ohne diese beiden Gestalten die Heilsgeschichte nicht möglich gewesen wäre. Sie reagieren auf die Spannung, dass das Böse heilsnotwendig ist und zugleich nicht Bestandteil des göttlichen Heilsplanes sein darf. Hier lässt sich ein Remythisierungskonzept erkennen, das dem sich opfernden Erlöser einen Antagonisten zur Seite stellt und darin die Opposition von Schuld und Opfer verhandelt.52 Beunruhigend daran ist vor allem, dass die kerygmatische Dimension des Opferlamms Christi selbst einen Sündenbock benötigt, der ihn zum Opfer bringt und damit Jesus als souverän Handelnden letztlich in Frage stellt. Gerade dies gilt es narrativ zu bewältigen, wobei zugleich auch die Willensfreiheit des Verräters, ebenso wie die des ungerechten Richters, betont werden muss: Judas mag als Instrument der Heilsgeschichte erscheinen, er verrät Jesus aber aus freiem Willen, und genau das macht die Vorgeschichte mit ihrer finalen Erzähllogik deutlich. Zugleich jedoch wird auf diese Weise die individuelle Schuld und Handlungsfreiheit von Judas wie Pilatus deutlich, was die remythisierenden Tendenzen eines Antagonisten zumindest teilweise wieder zurücknimmt: Die Viten versuchen zu zeigen, dass Judas und Pilatus für das, was sie tun, ganz allein verantwortlich sind, und doch führen sie vor, dass sie von Anfang an in ihrer Rolle vorbestimmt sind.

|| 51 Dies ist in der gerade am Ende praktisch wörtlich übereinstimmenden Erzählung des zweiten Buchs stark verkürzt, die dann wieder den Erzählfaden der Johanneslegende aufnimmt und von der Wiederentdeckung vom Kopf des Täufers berichtet. 52 Vgl. KIENING, Arbeit am Absolutismus, S. 55.

8 Erzählstrategien und Erzählmuster Die vorangegangenen Analysen haben jene Spannungsfelder aufgezeigt, in denen Heiligkeit erzählerisch beschreibbar gemacht wird, innerhalb derer es jedoch stets zu Umschlagsmomenten kommt: Stigma schlägt um in Charisma, Sünde in Gnade, letztlich Immanenz in Transzendenz. Wurde zuvor das gnadenhafte Umschlagen von Stigma in Charisma, von Schuld in Vergebung und Sünde in Gnade anhand spezifischer Basisoppositionen fassbar gemacht, so gilt es nun, dieses Umschlagen auch auf der Ebene des Erzählens zu beschreiben. Da Heiligkeit keinen Prozess darstellt, bewegt sich auch die erzählte Handlung nicht kontinuierlich fort, vielmehr schlägt an einem zentralen Punkt (oder auch mehreren, d.h. dann: immer aufs Neue) Immanenz in Transzendenz um, wobei sich Heiligkeit gleichsam offenbart: für die handelnden Personen, vor allem aber für die Rezipienten der Legendenhandlung.1 Finalität2 und Vorbestimmung werden damit für Legendenerzählungen als strukturbildende Faktoren erkennbar: Schließlich ist Heiligkeit durch das Verhältnis von Zeit und Zeitlosigkeit, durch den Übertritt von der linearen Zeit der Welt in die Zeitlosigkeit des himmlischen Paradieses gekennzeichnet. Dass die Hagiographie durch einen finalen Erzählverlauf gekennzeichnet ist und ihre Protagonisten auf providentiell vorbestimmte Weise handeln, ist immer wieder beobachtet, jedoch kaum systematisiert worden.3 Begreift man den Einsatz finaler Strukturen als spezifisches Erzählverfahren, (was schließlich nicht nur für legendarische Texte gilt), so sind diese grundsätzlich in zwei Typen von Viten zu erfassen: die der ‚Einmalgeborenen‘, die z.T. schon von Geburt an unter dem Signum der Heiligkeit stehen, wel-

|| 1 Ein solches Umschlagen zeigt Peter STROHSCHNEIDER, Inzest-Heiligkeit, am Gregorius Hartmanns von Aue, wo sich der Protagonist nicht im Erzählverlauf zum Heiligen entwickle, vielmehr stünden seine Sündhaftigkeit und die seiner Eltern zunächst in krassem Gegensatz dazu. Die Buße auf dem Stein versinnbildlicht Gregorius’ Abkehr von der Welt und die Hinwendung zu Gott (final argumentiert: zur Heiligkeit), doch lässt sich darin gerade kein Prozess erkennen; von der Buße selbst wird nicht einmal direkt erzählt, nur von ihrer Dauer und den Folgen. In diesem ‚narrativen Leerraum‘ hat sich der Umschlag zur Heiligkeit gewissermaßen ‚vollzogen‘, denn mit dem Signum des Heiligen erscheint nun der vormalige Sünder Gregorius. Der an sich nicht darstellbare radikale Unterschied zwischen Immanenz und Transzendenz müsse, so die systemtheoretische Betrachtungsweise STROHSCHNEIDERS, „im Vitenschema als Prozesszusammenhang epische Gestalt gewinnen“ (ebd., S. 105). 2 Unter dem Begriff der Finalität sind finale Motivationsstrukturen zu verstehen, die auf andere Weise als die für moderne Leser gewohnten kausalen Motivierungen bestimmte Ereigniszusammenhänge narrativ miteinander verknüpfen, vgl. Matias MARTINEZ u. Michael SCHEFFEL, Einführung in die Erzähltheorie, München ³2002, S. 111–115; dies entspricht den finalen Erzähllogiken des mythischen Denkens, wie sie CASSIRER, Philosophie, S. 104ff. und 129ff., insbes. S. 136f., beschreibt. Vgl. auch Harald WEINRICH, Erzählstrukturen des Mythos, in: ders., Literatur für Leser, Stuttgart 1971, S. 137–149, hier S. 147. 3 Vgl. die Überlegungen der Einleitung; auf die daraus resultierenden narrativen Besonderheiten hat immer wieder Peter Strohschneider in seinen zahlreichen Untersuchungen hingewiesen, s.o.

360 | Erzählstrategien und Erzählmuster che sie doch erst nach dem Tod erhalten, denn erst dann erfolgt ihre Aufnahme in die communio sanctorum (z.B. Nikolaus, Bernhard, Ulrich oder Briccius), zum anderen die der ‚Zweimalgeborenen‘, bei denen Umkehr und Bekehrung als providentielles Ziel der Erzählhandlung erscheint, das die Vorgeschichte final motiviert und als endgültiges Ziel ebenfalls auf die Aufnahme in die communio sanctorum hinausläuft (dazu gehören Sünderheilige wie Magdalena und Afra, Bekehrungserlebnisse wie das des Longinus oder des Augustinus).4 Die bisherigen Analysen haben derartige narratologische Eigenheiten bereits mehrfach herausgearbeitet: Schon für die nur knapp skizzierten Legenden von Longinus und Lucia kann eine finale Handlungsstruktur festgestellt werden, noch klarer innerhalb der Andreasvita (s.o., Kap. 4.1): Indem das Handlungssyntagma des Märtyrertodes paradigmatisch durch die Kreuzigung Christi bestimmt ist, ist auch Andreas’ Kreuzestod von vornherein festgelegt, steuert die gesamte Handlung von Beginn an darauf zu; ähnliches könnte auch für den Tod Marthas konstatiert werden. Gleiches gilt für Ignatius, dessen Märtyrertod bereits einleitend als Lohn Gottes für die Tugenden seines Heiligen bezeichnet wird, so dass dem Martyrium jegliche kausale Motivation entzogen wird, da es einzig in der – bereits feststehenden – Heiligkeit seines Protagonisten begründet ist, obwohl es diese doch erst konstituiert. Finalität stellt sich in besonders augenfälliger Weise in der Johanneslegende dar, deren Protagonist nicht nur schon zu Lebzeiten eine Kirche erhält, sondern dessen Tod (in ähnlich paradigmatischer Verweisung wie bei Andreas) analog der Himmelfahrt Marias inszeniert wird. Und indem sie Johannes sein Grab bereits unter dem Altar seiner (eigenen!) Kirche errichten lässt, nimmt die Legende die Erhebung zu Ehren der Altäre, wie sie den Heiligen erst nach ihrem Tode zukommen, bereits vorweg. Anders dagegen Theodora, Adrian, Christina, oder Agnes und Agatha: Hier lassen sich in vielerlei Hinsicht jene Umschlagsmomente von Exklusion und Inklusion, Stigma und Charisma, Sünde und Gnade beschreiben, wie sie im vorangegangenen Kapitel verdeutlicht wurden. Während jedoch in der Christinalegende dieses Umschlagsmoment durch das Eingreifen Gottes in der Taufe durch Jesus klar markiert ist, bleibt es in der Theodora-Legende unklar: Durch die Selbstexklusion und Selbststigmatisierung erfolgt ein Umschlag von Sünde in Gnade, dessen Umstände nicht näher erläutert werden, aber eben auch nicht narrativiert werden können. Finale Erzählstrukturen ließen sich dagegen in der Aegidiusvita, vor allem aber in der Petruslegende feststellen, in der der Magier Simon als Typus des Antichrist den erwarteten Himmelssturz, Petrus in der Nachfolge Christi dagegen den Märtyrertod findet. Diese kurze Rekapitulation der bisher untersuchen Legenden zeigt, dass die folgenden Überlegungen wie auch die vorhergehenden Analysekriterien zwar nicht für alle, aber für die meisten der hier behandelten Fallbeispiele Geltung beanspruchen

|| 4 Vgl. zu diesem Konzept nochmals GUMBRECHT, Faszinationstyp, nach Max SCHELER, Schriften aus dem Nachlaß, Bd. 1: Zur Ethik und Erkenntnislehre, hg. v. Maria SCHELER, Berlin 1933, S. 173.

Umschlagsmomente und Motivationsstrukturen | 361

können. Im vorangegangenen Kapitel lag der Fokus der Analyse jedoch auf den Oppositionspaaren und deren Dialektik, nicht aber auf der Narrativierung ihrer Umschlagsmomente und deren finaler Erzählstrukturen. Um dies schärfer zu akzentuieren, sollen im Folgenden zunächst mehrere Legenden skizziert werden, in denen die ‚narrativen Leerstellen‘ derartiger Umschlagspunkte besonders deutlich hervortreten. Das zweite Teilkapitel (8.2) befasst sich dann mit den Auswirkungen außerhagiographischer Erzählmuster auf diese Erzählstrukturen und ihre Handlungskonstruktionen.

8.1 Umschlagsmomente und Motivationsstrukturen Am deutlichsten markiert sind die oben beschriebenen Umschlagsmomente sicherlich in der Narrativierung von Bekehrungserlebnissen. Hier ist es das gnadenhafte Eingreifen Gottes, das für die Protagonisten eine Umkehr bewirkt, wobei deren Schuld in Gnade verwandelt und der vormals schandhafte Sünder überführt wird in einen charismatischen Heiligen. Die daraus sich ergebenden narrativen Probleme, die prekären Motivationsverhältnisse und finalen Erzählstrukturen, lassen sich daher besonders anschaulich an den Schilderungen derartiger Bekehrungsereignisse beschreiben. Solch finale Erzählstrategien sind bereits an der Magdalenenlegende deutlich geworden (vgl. Kap. 4.4): Magdalena wird im Erzählverlauf der Legende schon zu Lebzeiten bereits wie eine Heilige angerufen und gewährt Hilfe, obgleich sie als Lebende an einem ganz anderen Ort weilt. Die Kategorien von Zeit und Raum sind außer Kraft gesetzt, Magdalenas Agieren als Heilige aus der Transzendenz, wie es später in den Mirakeln geschildert wird, ist hier bereits vorweggenommen. Die Episode von der Rettung der Fürstenfamilie wirkt nicht nur wie ein vorgezogenes Mirakel, es ist durchaus als solches aufzufassen, nur dass Magdalena eben noch auf Erden weilt. Nicht kausal, sondern final gesehen antizipiert die Episode das, was im weiteren Verlauf tatsächlich eintritt, nämlich Magdalenas Aufstieg in den Himmel und ihr Wirken aus der communio sanctorum heraus für die die Menschen in der Welt, wie es die Mirakel am Ende ihrer Vita erneut und immer wieder unter Beweis stellen. Dies ist keine Eigenart nur dieser Legende und auch kein narratives Spezifikum des Passionals, vielmehr lässt sich ähnliches auch in anderen Zusammenhängen feststellen, namentlich in der Nikolauslegende (s.u.), wo der Heilige ebenfalls schon zu Lebzeiten angerufen werden und Hilfe bringen kann. Kausale oder chronologische Begründungszusammenhänge können vernachlässigt werden, die Doppelexistenz der Heiligen im Himmel und auf Erden erweist sich schon zu Lebzeiten, denn schon immer ist ihre virtus so groß, dass sie die künftige Fürbittfunktion, die sie eigentlich erst nach ihrem Tod einnehmen, bereits jetzt erfüllen. Da Heiligkeit gerade keinem zeitlichen Verlauf unterliegt, ist auch ein chronologischer Ablauf der

362 | Erzählstrategien und Erzählmuster Erzählung nicht relevant, die Handlung muss daher nicht erst bis zum Tod des oder der Heiligen gebracht werden, um von ihrem Wirken auf Erden zu erzählen.5 Die bekannteste und theologisch wohl auch bedeutsamste conversio ist allerdings sicherlich die des Apostels Paulus, welche die Wandlung vom exemplarischen Feind der Christenheit zum exemplarischen Heiligen, vom Christenverfolger zum Missionar und Kirchengründer vorführt. Die Grundlage des bekannten Bekehrungsereignisses, sprichwörtlich geworden im Wandel vom Saulus zum Paulus, schildert die biblische Apostelgeschichte: Paulus sei vor Damaskus von einem blendenden Licht zu Boden geworfen worden, aus dem ihn eine göttliche Stimme mit den Worten „Saul, Saul, was verfolgst du mich?“ (Apg. 9, 4) zur Rede gestellt habe; er sei erblindet und erst drei Tage später davon geheilt worden, worauf er sich endgültig habe taufen lassen. Die Bedeutsamkeit dieses Ereignisses wird nicht zuletzt daran deutlich, dass es in der Apostelgeschichte noch zwei weitere Male aus der Sicht des Paulus selbst geschildert wird (Apg. 20, 12–18 u. 22, 3–16). Schon der knappe biblische Bericht zeigt genau jene Auffälligkeiten, die das Erzählen solcher Umschlagsmomente mit sich bringt. Paulus nämlich wird nicht durch die göttliche Stimme bekehrt, die das einzige ist, was seine Gefährten wahrnehmen können, auch nicht durch das (im wahrsten Sinne des Wortes) blendende Licht, das allen anderen verborgen bleibt – all dies sind nur Begleiterscheinungen, die den Einbruch der Transzendenz auf der Ebene des Erzählens veranschaulichen. Gott überzeugt Saulus nicht mit Worten oder Argumenten, nicht mit seinem Licht, sondern einzig mit seiner Präsenz. Diese aber entzieht sich jeglicher Narration, sie kann nur anhand der beschriebenen Begleiterscheinungen veranschaulicht und erzählerisch dargestellt werden. Die conversio erweist sich als ein sich der Erzählung wie dem Verstand entziehendes Wunder, in dem das Wirken Gottes ereignishaft präsent gemacht wird. Es ist im übrigen bemerkenswert, dass die Legenda aurea aufgrund der liturgischen Anordnung ihrer Texte der Bekehrung des Paulus einen eigenen Abschnitt widmet, wodurch wie bei der Petruslegende die Gesamthandlung dieser Apostelvita auseinandergezogen wird. Das Passional baut hingegen auch hier den zusammenhängenden und kohärentchronologischen Handlungsablauf einer Vitenerzählung auf, erzählt aber im übrigen die conversio ganz konventionell nach dem biblischen Vorbild; lediglich der Erzählerkommentar spricht von einem Wunderereignis, das den hochmütigen Saul zum demütigen Paulus gemacht habe (vgl. II 21487ff.).6

|| 5 Dies konstatiert im Wesentlichen schon JOLLES, Einfache Formen, S. 39f. Auch WOLPERS, Die englische Heiligenlegende, S. 30, sieht in der Ereignisstruktur der Legendenerzählung keinen kontinuierlichen Handlungsverlauf, sondern die „Manifestation göttlichen Wirkens“ (vgl. auch schon die Bemerkungen zu den finalen Handlungsstrukturen des ersten Buchs in Kap. 3.2.1). 6 Vgl. dazu WILHLEM, Legenden, S. 93f. Der Passionaldichter hat hier, anders als die Legenda aurea, hauptsächlich die Apostelgeschichte als Quelle herangezogen.

Umschlagsmomente und Motivationsstrukturen | 363

Zwei ganz unterschiedlich gestaltete Konversionsereignisse beinhaltet dagegen die Cäcilia-Legende: Zunächst wird die Bekehrung von Cäcilias Ehemann Valerian geschildert, den die Heilige, die ihre Keuschheit in der Hochzeitsnacht von einem Engel geschützt weiß, zum Papst Urban schickt, wo ihm ein durch ihr Gebet gesandter Engel erscheint. Ähnlich wie Paulus stürzt auch Valerian, von der Klarheit des Engels mit Furcht erfüllt, zu Boden. Der Engel aber hält ihm ein Buch vor und heißt ihn zu lesen: Valerianus do entsub, wie daz buch was erhaben mit guldinen buchstaben und sprach sus in der schrifte louf: ‚ein herre, ein geloube und ein touf. ein herre, ein vater und des kraft ist obe aller herschaft.‘ (III 631, 92–632, 2)

Auf die Frage des Engels, ob er dies glaube oder daran zweifle, antwortet Valerian: nicht weiz ich so geloublich/ als die wort, die du mich/ lieze in dinem buche sehen (III 632, 9–11). In diesem nicht-diskursiven Vorgang, dem Präsenzeffekt des Engels, manifestieren sich genau jene narrativen Besonderheiten, wie sie oben beschrieben wurden und die konstitutiv sind für die Narrativierung eines solchen Umschlagsmoments: Die bekenntnishafte Frage des Engels (geloubestu oder zwivelstu/ der schrift an dem herzen din?; III 632, 6f.) zu den Worten aus dem Buch, die selbst jegliche diskursive Qualität unterlaufen, setzt bereits eine Gotteserkenntnis Valerians voraus, die von diesem bestätigt wird, indem er sogleich sein Wissen und seinen Glauben voneinander abgrenzt. Die Unmittelbarkeitserfahrung der Transzendenz (des himmlischen Boten, des himmlischen Kodex), die Präsenz und das Tremendum des Göttlichen also und nicht die gelesenen Worte sind für seinen Sinneswandel verantwortlich. Das betont die Nicht-Diskursivität des Vorgangs, es findet keine Deutung des Wahrgenommenen statt, sie führt vielmehr auf direktem Weg zur reinen Gotteserkenntnis, zur Wahrheit des christlichen Glaubens.7 Genau umgekehrt stellt dieselbe Legende dagegen die conversio von Valerians Bruder Tyburtius dar. Diese geht zunächst von Wahrnehmung und Deutung aus, von diskursiven Vorgängen also, denn Cäcilias Schwager nimmt in ihrer Anwesenheit einen betörenden Duft wahr, dessen Ursprung ihm jedoch verborgen bleibt: Es sind Blumenkränze aus dem Paradies, die die Heilige und ihr Mann von einem Engel erhalten haben. Wieder kommt ein Artefakt transzendenter Herkunft zum Tragen, aber anders als Valerian kann Tyburtius als Ungetaufter nur eine Spur davon wahrnehmen (den Duft), ohne es zu erkennen. Bei der Frage nach der Ursache die|| 7 Vgl. zum Bekehrungserlebnis Valerians in der Cäcilienlegende HAMMER/SEIDL, Ausschließlichkeit, S. 278–81, vgl. zu den folgenden Ausführungen zur Motivationslogik von Konversionen in der Hagiographie auch HAMMER, ratio.

364 | Erzählstrategien und Erzählmuster ses maienhaften Duftes entspinnt sich ein Religionsgespräch, in dessen Verlauf zunächst Valerian nochmals sein Bekehrungserlebnis schildert und anschließend Cäcilia ihrem Schwager einige Grundlagen des Christentums erläutert, die in einem impliziten Nachfolgeaufruf des Gekreuzigten gipfeln, welcher am Ende der Legende im Martyrium, das alle drei erleiden, denn auch erfüllt wird. Entscheidend ist dabei, dass das Gespräch nicht argumentativ verläuft, keine gegensätzlichen Positionen einander gegenübergestellt werden, sondern vielmehr allgemeine Glaubenslehren ausgebreitet werden, die für die Rezipienten der Legende nur nachvollziehbar sind, wenn sie die darin vertretenen Grundsätze von vornherein akzeptieren. Es kommt also nicht auf das Wie an, sondern lediglich darauf, ob Tyburtius am Ende wirklich überzeugt ist. Entscheidend ist vielmehr, dass zuvor Valerian ausdrücklich für die Bekehrung seines Bruders gebetet hatte, Gottes Einwirken wird vom Erzähler im Zuge der Taufe auch bestätigt.8 Die Hinwendung zu Gott ist damit gerade nicht mehr rein diskursiv, nicht mit Argumenten allein zu bewerkstelligen. Durch das Religionsgespräch wird dagegen eine Performanz-Situation aufgebaut, allerdings für die Rezipienten der Legende, für die die christlichen Wahrheiten, die darin verkündet werden, ja letztlich bestimmt sind. Sie sollen zum Nachvollzug aufgerufen und im Glauben unterwiesen werden, überzeugt oder bekehrt werden müssen sie dagegen nicht mehr. In beiden Fällen werden im Zuge der conversio der beiden Männer Umschlagsmomente sichtbar, bei Valerian treten die Aporien und Finalitäten dabei offen zutage, bei Tyburtius hingegen ist die Bekehrung in einen diskursiven Vorgang, dem Religionsgespräch eingekleidet, nimmt freilich ebenso ihren Anfang in einer Transzendenz-Erscheinung und wird ohne göttliches Einwirken gleichfalls als unmöglich erachtet. Noch frappierender wird die Entkoppelung von Ursache und Wirkung in der Dionysius-Vita verhandelt. Hier wird bei der schon in der Apostelgeschichte erwähnten Predigt des Paulus auf dem Areopag der heidnische Philosoph Dionysius als dessen schärfster Kritiker vorgestellt. Dieser schlägt im Verlauf der Unterhaltung (die mehr als Predigt des Paulus scheint) vor, Paulus solle einen zufällig vorbeikommenden Blinden heilen, um die Macht seines Gottes zu erweisen. Damit der Apostel aber keinesfalls zu irgendwelchen Zaubermitteln greifen kann, spricht Dionysius diesem die Worte vor, die er sagen soll. Allerdings ist die Formel, die er vorgibt, für einen Heiden mehr als erstaunlich, beinhaltet sie doch das christliche Credo in Kurzform und verweist so ausgerechnet auf die wichtigsten Voraussetzungen des christlichen Wunderverständnisses, das stets Gott, nicht den Heiligen als wirkende Macht sieht: in deme namen Iesu Cristi, der von der iuncvrowen wart geborn an ir kuschen art,

|| 8 Die conversio wird mit den Worten kommentiert: got worchte ouch an Tyburcio,/ daz er herze unde mut/ ummekarte als der tut,/ der ein ander mensche wil sin (III 635, 50–54).

Umschlagsmomente und Motivationsstrukturen | 365

der an dem kruze leit den tot und sit erstunt von aller not und nu zu himele ist erlich, blinder mensche, so gesich (III 548, 90–96).

Paulus lässt stattdessen jedoch Dionysius selbst die Worte (die das Passional in wortgenauer Übertragung von LA 149, 83 gestaltet) sprechen – und das Wunder wirkt: Der Blinde ist gesund und der Heide bekehrt sich. Auffallend ist hier nicht nur die explizite Abgrenzung zur Magie, sondern vor allem, dass es ausgerechnet einem Heiden gelingt, im Namen Christi Wunder zu wirken. Wurde an anderer Stelle (s.o., Kap. 4.2.1) bereits darauf hingewiesen, dass sich Gebet und Beschwörungsformel von ihrer Wirkungsweise her vielfach gleichen, so wird dagegen hier vorgeführt, dass es gerade nicht auf das korrekte Sprechen der richtigen Formel ankommt, wie Dionysius zunächst vermutet, sondern vielmehr auf den Glauben dessen, der Gott um ein Wunder bittet, auf das Charisma, mit dem Gott seine Heiligen begnadet. Nur: Dionysius ist noch ein Heide, heilig wird er erst später, wenn er sich bekehrt und das Martyrium erleidet. Ein Wunder setzt aber den Glauben schon voraus, den Dionysius hier ja gerade (noch) nicht hat, sondern erst durch dieses Ereignis erlangt. Daher muss als eigentliches Wunder bezeichnet werden, dass die Heilung dennoch geschieht, dass auch Dionysius also bereits über jenes Charisma verfügt, das er eigentlich erst später erlangt, ihm aber schon im Voraus zugute kommt, im Hinblick auf seinen künftigen Status als Heiliger, wobei es ausgerechnet dieser Moment göttlichen Begnadung ist, der ihn erst zur conversio führt. Die Vertauschung von Ursache und Wirkung im Umschlagsmoment der Bekehrung führt jenen Status des ‚Sowohl – als auch‘, der Heiligkeit kennzeichnet, vor: Dionysius ist noch nicht und zugleich schon immer heilig. Ihm kommt schon jetzt die virtus, die charismatische Begnadung zu, die er doch eigentlich erst noch erhält, zeitliche oder kausale Abläufe spielen offensichtlich keine Rolle.9 Die Finalität, mit der Legenden ihren Handlungszusammenhang narrativieren, kommt hier vielleicht am deutlichsten zum Tragen: Dionysius gilt der Legende immer schon als Heiliger, dass er sich erst noch als solcher erweisen muss, stört in dem Zusammenhang nicht. Der eigentliche Umschlag zur Heiligkeit kann nicht direkt erfasst werden, sondern nur in der Rückschau konstatiert, als immer schon Dagewesenes. Als Kontrastfolie soll zuletzt noch ein Beispiel genannt werden, das diese schon immer feststehende Heiligkeit ihres Protagonisten entsprechend markiert: Der heilige Nikolaus, dessen Legende den Auftakt des dritten Passionalbuchs bildet, zeichnet sich von Anfang an als mustergültiger und tugendhafter Christ aus, seine Hei|| 9 In Zusammenhang mit CASSIRERS Überlegungen zum mythischen Denken wäre eine solche Problematik im Sinne einer mythischen Konkreszenz aufgehoben (s. Kap. 1): Zeitliche Abläufe oder Chronologien sind im Zuge einer mythischen Indifferenz ebenso ausgesetzt wie Ursache-WirkungsRelationen, besser gesagt: Es wird von der Wirkung auf die Ursache geschlossen, nicht umgekehrt; vgl. CASSIERER, Philosophie, Bd. 2, S. 93f. u. 136f.

366 | Erzählstrategien und Erzählmuster ligkeit wird schon darin sichtbar, dass er bereits als Säugling die Fastengebote einhält.10 Seine Vita folgt zwar einer gewissen biographischen Ordnung, indem sie die jeweiligen Stationen von der Geburt und Jugend über den Aufstieg ins Bischofsamt bis hin zu seinem Tod abschreitet, dennoch sind fast alle Episoden austauschbar in einer paradigmatischen Aneinanderreihung dargeboten. Trotz biographischer Eckpunkte sind darum Zeitstrukturen und kausale Verknüpfungen auf der Handlungsoberfläche höchstens innerhalb der einzelnen Binnenepisoden erkennbar. Es fehlt zudem ein auf den Tod hinauslaufendes Handlungssyntagma, wie es bei den Märtyrerlegenden der Fall ist, so dass auch die Einzelepisoden allesamt einer Finalität der Heiligkeit unterworfen sind, da sie stets aufs Neue die göttliche Auserwähltheit des Protagonisten Nikolaus erweisen, durch seine Tugenden, seine Wundertaten und seinen Kampf gegen Dämonen. Auf diese Weise wiederholt sich immerfort die erzählerische Demonstration der Heiligkeit des Nikolaus, so dass zeitliche wie räumliche Ordnungsmuster diffundieren.11 Der Tod des Heiligen bildet zwar die Aufnahme Nikolaus’ in die Gemeinschaft der Heiligen und markiert seinen endgültigen Übergang in die Sphäre der Transzendenz, doch ist selbst hier kein Umschlagsmoment zu erkennen, Nikolaus stirbt friedlich und seine Seele wird von Gott aufgenommen, aus seinem Grab fließen Öl und Wasser zum Zeichen seiner Heiligkeit. Der Tod bildet aber beileibe nicht den Schluss der Legende, vielmehr lässt das Passional anschließend eine äußerst umfangreiche Mirakelsammlung folgen, welche in paradigmatisch aneinandergereihten Wunderketten das Wirken des Heiligen nach seinem Tod auserzählt. Die Mirakel sind zwangsläufig paradigmatisch angeordnet, da sie außerhalb des Lebens des Heiligen liegen, insofern also keine biographischen Bezugspunkte mehr narrative Kohärenz stiften könnten. In der Nikolausvita wie in zahlreichen anderen Bekennerlegenden fehlt eine solche jedoch auch in der übrigen Lebensbeschreibung, es existiert noch nicht einmal ein Handlungssyntagma, das etwa auf ein Konversionserlebnis ausgerichtet wäre, wie es z.B. bei der Clemensvita (vgl. unten, Kap. 8.2.3) der Fall ist.

|| 10 Dass Nikolaus von Beginn an als heilig erachtet wird, stellt das Passional bereits einleitend klar, wenn es ausführt, got wisete siner tugende rat/ bezite an Nicolao (III 6, 48f.) und ihn auch gleich [d]az heilige kint, daz gute (III 6, 65) nennt. Dies ist ein besonders eindrücklicher, aber keineswegs einzigartiger Erweis einer von Anfang an bestehenden Heiligkeit: Der Mutter des hl. Remigius z.B. prophezeit ein Einsiedler noch vor dessen Geburt die Auserwähltheit ihres künftigen Kindes und bittet sie, nach der Entwöhnung des Säuglings seine Augen mit der Muttermilch zu bestreichen, um ihn so von seiner Blindheit zu befreien: von des kindes heilikeit/ sal ich zwei schone ougen han (III 93, 56f.). Auch die verschiedenen Fassungen der Ulrichslegende beispielsweise kennen dieses Motiv. 11 Das manifestiert sich auf der Handlungsebene auch in den zahlreichen Bilokationen, die das Wirken des Heiligen kennzeichnen. So erscheint Nikolaus beispielsweise einer Schiffsbesatzung in Seenot, um sie sicher ans Ufer zu geleiten, oder er befindet sich plötzlich im Gemach eines ungerechten Herrschers, um die Freilassung Unschuldiger zu bewirken; hier scheint Nikolaus jeweils an zwei Orten gleichzeitig zu sein. Selbst auf der Ebene der Handlung sind somit zeitliche und räumliche Ordnungskategorien teilweise aufgehoben.

Umschlagsmomente und Motivationsstrukturen | 367

Wenn jedoch selbst die für Erzählungen zentralen Kategorien von Anfang und Ende12 unmarkiert bleiben – Nikolaus’ Heiligkeit nimmt keinen Anfang, sondern ist immer schon da, sein Tod bildet keinen narrativen Abschluss der Legendenerzählung – wird die Zeitlichkeit der Lebensbeschreibung in die Zeitlosigkeit des Heiligen, die Historizität der Welt in transhistorische Ewigkeit überführt. Die Mirakel bilden die Möglichkeit, ebendiese Zeitlosigkeit wieder rückzubinden an die Geschichtlichkeit. Denn hier wird vorgeführt, wie der Heilige in der Realität der Gläubigen wirkt, und zwar bis in die Gegenwart der Rezipienten hinein. Auf diese Weise wird eine Gleichzeitigkeit von Ewigkeit und Geschichte erzeugt, die über die Erzählung hinausweist: Der Rezipient der Legende kann die Wunderkraft des Heiligen für sich selbst in Anspruch nehmen, dadurch dessen Heiligkeit immer wieder aufs Neue bestätigen und auf diese Weise selbst Teil einer sich theoretisch bis ins Unendliche fortschreibenden Mirakelkette werden. Solches zu tun fordert ihn die am tatsächlichen Ende der Legendenerzählung stehende invocatio zudem explizit auf: nu sul wir immer vechten gegen der untugende her; darzu sal uns wesen ein wer sante Nicolaus helfe (III 25, 27–30).

Mit der Anrufung des Heiligen am Schluss der Legende verschmelzen die (historische) Vergangenheit des Heiligen, die Gegenwart der Rezipienten und die Heilsgewissheit der Zukunft untrennbar miteinander. Kausale Begründungszusammenhänge lassen sich dann aber ebensowenig wie zeitliche Logiken mehr erkennen. Die Nikolauslegende – zumal in der Anlage des Passionals – weist somit besonders deutlich hervortretende Merkmale eines Erzählens im Paradigma auf, wie es Rainer Warnig beschrieben hat.13 Die Erzählung strebt keinem Syntagma zu, Anfang und Ende sind kaum markiert und nur durch die Erzählinstanz, die zur abschließenden invocatio überleitet, überhaupt erkennbar gemacht, die einzelnen Episoden zwar in sich geschlossen, ansonsten aber weitgehend austauschbar, was vor allem für die Mirakel des zweiten Teils gilt. Solche Eigenheiten paradigmatischen Erzählens sind für zahlreiche Legenden konstitutiv, insbesondere solchen des ‚Bekennertyps‘, bilden sich hier aber besonders deutlich heraus.

|| 12 Von einem Anfang der Heiligkeit ließe sich zwar nicht direkt erzählen, er kann aber, wie sich gezeigt hat, durch Umschlagsmomente zumindest markiert und so rückblickend erkennbar sein, wobei zugleich die finale Logik legendarischen Erzählens feststellbar wird. Zur konstitutiven Bedeutung des Endes in Erzählungen vgl. Karlheinz STIERLE, Die Wiederkehr des Endes. Zur Anthropologie der Anschauungsformen, in: Karlheinz STIERLE u. Rainer WARNING (Hg.), Das Ende. Figuren einer Denkform, München 1996 (Poetik und Hermeneutik 16), S. 578–599. 13 Vgl. Rainer WARNING, Die narrative Lust an der List: Norm und Transgression im Tristan, in: Gerhard NEUMANN u. Rainer WARNING (Hg.), Transgressionen, Freiburg i. Br. 2003, S. 175–212.

368 | Erzählstrategien und Erzählmuster

8.2 Außerhagiographische Erzählmuster Sicherlich mag die Nikolausvita hinsichtlich ihrer finalen Motivationen und paradigmatischer Erzählweise ein Extrembeispiel sein, doch lassen sich solche narratologischen Besonderheiten gerade im hagiographischen Erzählgut gehäuft feststellen. Besonders deutlich treten sie dann hervor, wenn eine Legendenhandlung mithilfe externer, d.h. nichtlegendarischer Erzählstrukturen einer solchen Finalität unterworfen ist. Beispiele solcher Strukturmuster, die von ‚außen‘, d.h. nicht genuin aus einem hagiographischen Kontext stammend an die Legenden herangetragen werden, sollen im nachfolgenden Kapitel besprochen werden, wobei im Falle der Legenden von Georg und Ursula die Handlung nur in Teilen von einem außerhagiographischen Erzählschema bestimmt wird, während die Clemensvita praktisch vollständig der narrativen Struktur antiker Liebesromane unterworfen ist. Dass bestimmte Handlungskonstellationen, Beschreibungsmuster oder Darstellungskriterien außerhalb hagiographischer Traditionen immer wieder in bestimmte Legendenkontexte übernommen worden sind, ist schon früh erkannt worden. Vielfach handelt es sich um rezeptionsästhetische Kriterien, und meist haben sie das Ziel, dem intendierten Publikum die Figur des Heiligen und seine Handlungsweise besser verständlich zu machen. Denn die Geschichte einer jungfräulichen Asketin muss beispielsweise den weiblichen Rezipienten eines Frauenordens im 15. Jh. ganz anders nahegebracht werden als einem männlichen Laienpublikum des Hochmittelalters. Das gilt im übrigen genauso für die Figur Jesu Christi selbst: Der altsächsische Heliand operiert z.B. mit ganz anderen Darstellungsformen als Gundacker von Judenburg in seinem Christi Hort, und doch erzählen beide Ausschnitte vom Leben Jesu – der eine in stabreimender Dichtung mit offensichtlichen Anklängen an die frühmittelalterliche Heldenepik, der andere in Reimpaarversen mit höfisch-idealisierten Darstellungsweisen. Auch für die Legenden des Passionals können derartige Beobachtungen immer wieder getroffen werden. Ins Auge stechen insbesondere Erzählmotive, die eine Höfisierung der Protagonisten in den Vordergrund rücken: So wird vor allem bei weiblichen Heiligen deren hohe Geburt und ihr adeliger Status herausgestellt (Agatha, Agnes, Christina, Magdalena und Martha u.a.); edle Geburt und eine herausragende Genealogie kennzeichnen nicht zuletzt die Gottesmutter Maria und damit die gesamte Heilige Familie. Männliche Protagonisten besetzen immer wieder Wertvorstellungen höfischer Ritterideale; am deutlichsten konnte dies bisher in der Adrianlegende herausgearbeitet werden, sie treten aber ebenso z.B. bei Martin von Tours, Bernhard, Christophorus oder in besonderer Weise, wie noch zu zeigen sein wird, beim Drachentöter Georg hervor. Da das Passional derartige Beschreibungsmodelle regelrecht forciert, steht zu vermuten, dass es sich hierbei – setzt man die Bezüge zum Deutschen Orden voraus – um Darstellungsweisen handelt, die den ritterlichadeligen Laienbrüdern des Ordens entsprechend vertraut waren und die darum

Außerhagiographische Erzählmuster | 369

einer Identifikation des Publikums mit den Legendenprotagonisten besonders entgegenkommen konnte. Im Folgenden soll jedoch weniger die Motiv- und Beschreibungsebene der Legenden untersucht werden, welche je nach Erzählintention auch bis zu einem gewissen Grad auswechselbar ist, sondern die narrativen Schemata, die sich hagiographische Texte zunutze machen, um die ihr eigenen Handlungsziele – die Heiligkeit ihrer Protagonisten – darstellbar zu machen. Eines der wohl bekanntesten und meistuntersuchten, im Passional jedoch fehlendes Beispiel dafür ist die Brandanlegende: Sie erzählt die Seefahrt des irischen Abtes Brandan, welcher mit seinen Gefährten auf einer mehrjährigen Schiffsreise die Wunder Gottes erfahren kann, dabei verschiedene Stationen des Fegefeuers besuchen, aber auch das irdische Paradies sehen darf. Es ist eine bekannte Tatsache, dass die Navigatio Sancti Brendani, die im gesamten europäischen Erzählgut des Mittelalters bekannt war und zahlreiche volkssprachige Versionen hervorgebracht hat, letztlich dem Erzähltyp irischer immrama entspricht, deren Struktur in einigen mhd. Versionen sogar noch deutlicher zum Vorschein kommt. Somit bemächtigt sich die Legende paganer keltischer Erzähltraditionen, oder umgekehrt: Der Held irisch-keltischer Erzählungen von der Schiffsreise zur Anderswelt wird nun zu einem christlichen Heiligen gemacht, was weitreichende Umbesetzungen und Umdeutungen nach sich zieht.14 Wo also nicht nur Stoff- und Motivkomplexe eines außerhagiographischen Kontextes in legendarische Erzählungen einfließen, um beispielsweise die handelnden Personen zu konturieren oder deren Handlungsweise zu profilieren, sondern wesentliche Handlungskonstellationen oder basale Erzählstrukturen, die den gesamten Plot organisieren, aus solchen Kontexten für die Hagiographie übernommen werden, ist mit entsprechenden Anpassungen, Umwertungen und bisweilen auch Brüchen zu rechnen, denen im Folgenden nachgegangen werden soll. Die Übernahme ‚fremder‘ Erzählmuster in einen legendarischen Erzählzusammenhang ist

|| 14 Die Implikationen, die sich aus der Übernahme keltischen Erzählguts in die Legendenerzählung um Brandan ergeben, sind in der Forschung weitaus intensiver diskutiert worden als die Tatsache, dass die irischen Mönche, denen wohl die Aufzeichnung der Navigatio Sancti Brendani zu verdanken ist, aufgrund ihres weitgehenden Schriftmonopols auch die Deutungshoheit über die pagankeltischen Erzähltraditionen besaßen, deren Überlieferung mit mehr oder weniger christlichen Ausdeutungen fast ausschließlich ebenfalls auf monastische Kompilatoren zurückgeht. Zum Motivvergleich, insbesondere auch zwischen der lateinischen und den volkssprachigen Fassungen der Brandanlegende vgl. Clara STRIJBOSCH, De bronnen van De reis van Sint Brandaan, Hilversum 1995, vgl. auch dies., The Seafaring Saint. Sources and Analogues of the Twelfth-Century Voyages of Saint Brendan, Dublin 2000; dies., Himmel, Höllen und Paradiese in Sanct Brandans ‚Reise‘, in: ZfdPh 118 (1999), S. 50–68; zu den Erzählstrukturen vgl. bereits Walter HAUG, Vom Imram zur Aventiure-Fahrt, in: ders.: Strukturen als Schlüssel zur Welt. Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters, Tübingen 1989, S. 379–408, vgl. zusammenfassend jetzt auch Julia WEITBRECHT, Aus der Welt. Reise und Heiligung in Legenden und Jenseitsreisen der Spätantike und des Mittelalters, Heidelberg 2011, zu Brandan S. 183–206.

370 | Erzählstrategien und Erzählmuster daher nicht ohne größere Anpassungen möglich und verbunden mit narrativen Anstrengungen, weshalb sie nur unter bestimmten Voraussetzungen vorgenommen werden können. Dies soll anhand dreier Legenden erörtert werden, deren erzählstrukturelle Besonderheiten in der literaturwissenschaftlichen Forschung bereits hinlänglich bekannt sind, so dass deren Besprechung hier wesentlich knapper gehalten werden kann. Die Legenden von Georg, Ursula und Clemens sind allesamt im dritten Passionalbuch zu finden. Da für die ersten beiden Texte seit kurzem ausführliche Analysen nicht zuletzt in Hinblick auf die darin verwendeten Erzählstrukturen in den Versionen des Passionals vorliegen, genügt es, die dort getroffenen Ergebnisse zu rekapitulieren und in einer perspektivierten Zusammenfassung die erzählstrukturellen Besonderheiten hervorzuheben. Die Bezüge der Clemenslegende zum antiken Roman, der vermittelt über die sog. Pseudoklementinen und Recognitiones in die Erzählungen über diese Heiligengestalt Eingang gefunden hat, sind ebenfalls seit langem Gegenstand der Forschungsdiskussionen. Seitens der Germanistik lag der Fokus allerdings bisher fast ausschließlich auf der Version der frühmhd. Kaiserchronik, nicht jedoch auf der als vollständige Vita gestalteten Fassung des Passionals, weswegen dieser größere Aufmerksamkeit gewidmet werden soll.

8.2.1 Der heilige Georg als Drachentöter Die Georgslegende, entstanden vermutlich bereits im 4. Jh. in Kleinasien, wurde über verschiedene Rezensionen aus dem Bereich der Ostkirche in den Westen vermittelt, wo sie bereits früh in mindestens zwei verschiedenen lateinischen Übersetzungen weitertradiert wurde. Der eigentliche Kern der Legende, an den sich mehrere Versionen einer Jugendgeschichte anlagern konnten, berichtet von dem megalomartyr Georg, der unter dem heidnischen König Dakian in einem schier endlosen Martyrium den Tod erleidet. Eben dies zeichnet die Legende aus und macht den Heiligen so herausragend, dass er nämlich mehr als jeder andere Heilige gefoltert wird und in manchen Versionen sogar mehrfach wiederaufersteht, um die Qualen des Martyriums fortzusetzen, kurz, dass er der wohl beeindruckendste Vertreter der ‚Märtyrer von unzerstörbarem Leben‘ ist. Das mit Georg verbundene Motiv des Drachenkampfes ist hingegen erst sekundär in diese Legendentradition eingefügt worden, es ist im Westen zunächst ikonographisch zu fassen und (evtl. über die Kreuzzüge aus dem Orient vermittelt) im 12. Jh. auch literarisch nachweisbar; weite Verbreitung erlangte es vor allem durch die Legenda aurea. In diesem Zusammenhang ist auch die Ausgestaltung Georgs als Ritter- und Soldatenheiliger zu sehen, die

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ebenfalls erst später, jedoch nicht gleichzeitig mit dem Drachenkampf, Eingang in die Legendentradition gefunden hat.15 Der Drachenkampf Georgs im Passional stellt früheste deutschsprachige Version dieses Legendenmotivs dar. Die Episode ist dem eigentlichen Martyrium, das nach wie vor den Kern der Legende bildet, vorgeschaltet, so dass die Erzählung in zwei Teile zerfällt.16 Erzählt wird zunächst, wie die heidnische Hauptstadt Libyens von einem Drachen heimgesucht wird: ein wurm, ein trache/ ungevuge unde starc (III 253, 24f.) tötet mit seinem Pesthauch die Einwohner. Diese versuchen, den Drachen zu besänftigen und möglichst fern zu halten und bringen ihm daher nach und nach sämtliches Vieh, bis schließlich nichts mehr davon übrig ist und man zuletzt auf Menschen zurückgreifen muss. Jeder, auf den das Los fällt, muss dem Drachen zum Opfer fallen, bis eines Tages das Los auch auf die einzige Tochter des Königs fällt. Alles Bitten ist vergeblich, so sehr der König sich auch bemüht – schließlich hängt von ihr der Fortbestand des Königsgeschlechts ab – auch sie muss sich auf den Weg zum Drachen machen. Als die Prinzessin auf das Nahen des Untiers wartet, kommt Georg herangeritten, um sie zu retten. Der heilige Ritter besiegt den Drachen, den die Jungfrau mit ihrem Gürtel gefesselt in die Stadt bringt, wo Georg ihn tötet, nachdem die Bewohner ihm die Taufe versprochen haben. Oberflächlich betrachtet präsentiert diese Passage eine für die Hagiographie typische Thematik: Dem Heiligen gelingt die Bekehrung einer ganzen Stadt, indem sich in seinem Handeln das wunderbare Wirken Gottes zeigt. Georg rettet die Prinzessin und die Stadtbewohner vor der Bedrohung durch den Drachen, der explizit als Strafe Gottes für den Unglauben der Bevölkerung bezeichnet wird (vgl. III 254, 6–12). Der Drache wird damit zur Chiffre für den Unglauben der Menschen, während in der Legenda aurea eine solche Verbindung völlig fehlt, wo der Drache ganz ohne Begründung einfach da ist.17 Bei näherer Betrachtung fällt aber zudem die herausgehobene Rolle der Königstochter auf: Gewiss dient sie auch dazu, die ordnungszersetzende Kraft der Drachenbedrohung unter Beweis zu stellen, denn den Menschenopfern, über die das Los entscheidet, kann sich selbst der König nicht mehr ent|| 15 Vgl. zur Überlieferungsgeschichte der Georgslegende die grundlegenden Arbeiten von Wolfgang HAUBRICHS, v.a. sind hier zu nennen: Wolfgang HAUBRICHS, Georgslied und Georgslegende im frühen Mittelalter. Text und Rekonstruktion, Königsstein i. Taunus 1979, zusammenfassend ders., [Art.] Georg, Heiliger, in: TRE 12, 1984, S. 380–385. Vgl. daneben Johann Baptist AUFHAUSER, Das Drachenwunder des heiligen Georg in der griechischen und lateinischen Überlieferung, Leipzig 1911; Monika SCHWARZ, Der Heilige Georg – ‚Miles Christi‘ und Drachentöter. Wandlungen seines literarischen Bildes in Deutschland von den Anfängen bis zur Gegenwart, Köln 1972, zum Drachenkampf dort S. 85–95. Noch die umfassende, über 5000 Verse lange mhd. Reimfassung Reinbots von Durne (entstanden zwischen 1235 und 1253) kennt den Drachenkampf nicht. 16 Die folgenden Ausführungen nehmen im Wesentlichen auf die ausführliche Analyse von Stephanie SEIDL, Blendendes Erzählen, S. 41–59, Bezug, auf die weiterführend, insbesondere im Vergleich mit der Legenda aurea, ausdrücklich verwiesen sei. 17 Vgl. ebd., S. 43.

372 | Erzählstrategien und Erzählmuster ziehen, der Drache entdifferenziert also die ständische Hierarchie der Gesellschaft. Und doch ist eben dies der Punkt, an dem die Wirksamkeit eines außerhagiographischen Erzählmusters zu greifen beginnt: Die Bedrohung einer Stadt durch einen Drachen, das Los, das die Königstochter als nächstes Menschenopfer bestimmt (bisweilen ist sie auch die letzte Jungfrau, die noch als Opfer übrig geblieben ist) und die Rettung der Prinzessin durch einen von außen kommenden Helden, der den Drachen tötet und damit die Bedrohung aufhebt – all das sind Handlungsfixpunkte eines ubiquitär verbreiteten Erzähltyps, den man mit dem einschlägigen Motivindex als The Dragon Slayer bezeichnen kann. Eine der frühesten literarischen Ausformungen dieses Erzählmusters findet sich im mittelalterlichen Tristanstoff, eine der vielleicht geläufigsten ist das durch die Gebrüder Grimm bekannte Märchen Die zwei Brüder.18 Die Parallelen in den einzelnen Handlungsstationen der Georgslegende mit dem Erzählmuster des Drachentöters sind viel zu auffällig, um als bloßer Zufall gelten zu können, vielmehr scheint der Text dieses Schema ganz gezielt für sich zu nutzen.19 Das Anzitieren eines als allgemein bekannt vorauszusetzenden Erzählmusters dürfte weniger dem Spannungsaufbau dienen, als vielmehr der finalen Logik legendarischen Erzählens entgegenkommen: Die hier eröffnete Handlungskonstellation lässt von vornherein keinen Zweifel aufkommen, dass die Königstochter vor dem Drachen gerettet werden wird, nur dass die Rolle des ritterlichen Helden hier durch einen Heiligen, nämlich Georg besetzt ist, dem eine solche Rolle nicht zuletzt durch die Verehrungspraxis allerdings auch problemlos zukommen kann, gilt er doch schon längst als ‚Ritterheiliger‘ und ritterlicher Patron der Soldaten. An dieser Stelle werden aber zugleich auch die Schwierigkeiten deutlich, die mit der Übernahme solcher Erzählmuster in die Hagiographie einhergehen: Denn alle Varianten des hier genannten Erzähltyps enden mit einer Heirat des Drachentöters und der von ihm geretteten Prinzessin.20 Genau dies kann und will die Legende aber nicht mehr erzählen, muss sie doch ihren Helden nicht nur als tugendhaft-keuschen Heiligen darstellen, sondern vor allen Dingen im zweiten Teil der Erzählung von seinem herausragenden Martyrium erzählen. Ein Bruch mit dem anzitierten Schema ist damit bereits ebenfalls vorprogrammiert. Umso beachtenswerter ist daher die Darstellung Georgs im Passional: Während nämlich die Legenda aurea „der gefährdeten Prinzessin den rettenden Georg unmit-

|| 18 Zum Motivkomplex vgl. AaTh 300, mit weiteren Varianten unter AaTh 301A und 301B sowie AaTh 303, worunter auch das bekannte Zwei-Brüder-Märchen (KHM 60) zu zählen ist. 19 Für einem ausführlichen Struktur- und Motivvergleich vgl. HAMMER, Drachentöter. 20 Sieht man einmal von den Tristan-Versionen ab, wo ein zweites Erzählschema, das der Gefährlichen Brautwerbung, die vollständige Durchführung dieses Schemas verhindert, was zur konfliktreichen Dreiecksbeziehung zwischen Tristan, Isolde und Marke führt und im Tod des Paares Tristan und Isolde endet.

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telbar und wie selbstverständlich zur Seite stellt“21, stellt das Passional diese Szene aus der Perspektive der Königstochter dar, die zunächst sieht, wie ein ritter quam geriten/ mit vil zuchteclichen siten (III 255, 67f.), der erst anschließend vom Erzähler als Georg identifiziert wird. Damit sind ritterliche Erscheinung, höfische zuht und christliche Motivierung zusammengeblendet, ohnehin dominieren bei Georg, mehr noch als beispielsweise bei Adrian, ritterlich-höfische Beschreibungsmuster, die sich nicht zuletzt in der Begegnung mit der Prinzessin niederschlagen, welche ihn sofort als sozial gleichrangig erkennt. Auch die eigentliche Darstellung des Drachenkampfes, welche die Legenda aurea nur äußerst knapp wiedergibt, unterliegt dem Darstellungsmodus ritterlichen Ehrgewinns: „Ziel und Zweck des Drachenbezwingens ist dabei einerseits natürlich die Rettung der Prinzessin, andererseits und in mindestens gleichem Maße aber auch der Erwerb von Ehre und Ruhm.“22 Es ist also in erster Linie der Ritter Georg, der den Drachen besiegt, als eigentliches Wunder qualifiziert das Passional dagegen das Binden des Drachens durch die Jungfrau: Hier ruft Georg explizit Gott zur Hilfe, während es die Legenda aurea bei einer knappen Aufforderung belässt.23 Wenn Georg danach Gold und Silber als Belohnung für seine Tat ablehnt, statt dessen die Bevölkerung tauft und dem König nahe legt, das Geld lieber als Gabe für die Armen zu verwenden, wird das anzitierte Schema wieder verlassen. Während die Legenda aurea nun relativ übergangslos den Heiligen mit einigen Tugendlehren an die Frischbekehrten fortreiten lässt und dann sofort zum Martyrium übergeht, motiviert das Passional diesen Bruch insofern, als dort Georg, dem die gerettete Bevölkerung große Verehrung entgegenbringt, solche werltlichen eren (III 258, 78) ablehnt, daz sie im mochten nicht geschaden/ an der tugent enbinnen (III 258, 80f.). Weltlicher Ruhm mag die Handlungsmaxime höfischer Ritter sein, als der Georg durchaus präsentiert worden ist, kann und darf aber nicht die des Glaubenskämpfers und Märtyrerheiligen sein. Indem nun explizit eine Abkehr von diesen weltlichen Normen verkündet wird, vollzieht das Passional somit einen „erste[n] Übergang vom ritterlichen Helden zum heiligen Märtyrer“24 als der Georg im zweiten Teil der Legende präsentiert wird. Durch die Dominanz des Erzählschemas des Drachentöters im ersten Teil, das eine ritterlich-höfische Profilierung Georgs im Passional forciert, wird Georg hier als Held und als Heiliger gleichermaßen gezeichnet. Anders jedoch als Adrian, bei dem beide Beschreibungsmuster zugleich wirksam werden

|| 21 SEIDL, Blendendes Erzählen, S. 44, mit Verweis auf LA 56, 42f. 22 Ebd., S. 45. Das Passional setzt eindeutige Stichwörter in der Kampfbeschreibung: Georg führt den Kampf nach ritterlicher saze (III 256, 95), er durchbohrt schließlich den Drachen mit der Lanze und führt somit den Kampf nach prislichen werden (III 257, 1) zu Ende. Dass Georg in der Darstellungsweise des Passionals dem Ideal der geistlichen Ritterorden entspricht, bemerkt bereits SCHWARZ, Georg, S. 95–99. 23 Vgl. genauer SEIDL, Blendendes Erzählen, S. 45f. 24 Ebd., S. 47.

374 | Erzählstrategien und Erzählmuster können, ist hier ein deutliches Nacheinander zu erkennen: Es dominiert zunächst der Ritter, dann der Märtyrer, heilig ist Georg jedoch in beiden Teilen zu nennen (ebenso im Gegensatz zu Adrians conversio). Der Drachenkampf Georgs im Passional präsentiert den Protagonisten somit – gemäß der dahinter stehenden Erzählstruktur – als heroischen und höfisch-vorbildlichen Ritter, immer wieder werden so Wahrnehmungsmuster greifbar, die eher der volkssprachigen, laikalen Dichtung zukommen, vor allem Heldenepik und höfischem Roman. Georgs Rittertat mag einer heiligen Motivation entspringen, dient aber in erster Linie der Repräsentation höfischer Ritterlichkeit.25 Erst im Leiden und Sterben des Martyriums, wenn Georg nicht nur seine ritterliche Gewandung ablegt, sondern die totale Destruktion des höfischen, schönen Körpers in allen Einzelheiten geschildert wird,26 erweist sich die Heiligkeit Georgs eigentlich: Der adelige Ritterkörper wird vollständig destruiert, doch in genau diesem Moment greift Gott ein, der den Heiligen tröstet, was zur Folge hat, dass Georgs Körper zwar nicht restituiert ist, er diesen aber für gering erachtet und alle weiteren Foltern keine Wirkung mehr entfalten. Der zerstörte Märtyrerkörper wird dem höfischen Ritterkörper antithetisch gegenübergestellt, hier ließe sich daher ebenfalls von einem Umschlagspunkt sprechen.27 Insofern inszeniert das Passional in Georg eine Überblendung von Ritter und Heiligem, welche gerade für diesen Heiligen konstitutiv ist, wobei nicht nur die den Drachenkampf bestimmenden Erzähltechniken aus höfischer Literatur und Heldenepik dazu beitragen, sondern vor allem das Erzählmuster des Drachenkampfes an sich, welches dann jedoch zugunsten des Martyriums abgebrochen wird, um die Doppelgestalt Georgs als höfischer Ritter und als heiliger Märtyrer zu konstituieren.28 Mit der Überblendung von Heiligem und Ritter geht das Passional entschieden weiter als der Text seiner Vorlage in der Legenda aurea. Andere Versionen der Legende halten diese Synchronität jedoch noch weitaus geringer, so z.B. die im Heiligenleben Hermanns von Fritzlar überlieferte Version. Hier ist die Ritterlichkeit Georgs extrem zurückgenommen, der Heilige wird von Anfang an als gottgesandt dargestellt und bezähmt den Drachen nicht mit heroischer Kampfeskraft, sondern ganz || 25 Vgl. ebd., S. 49f. 26 Besonders drastisch ist die Schilderung des Passionals in III 260, 50ff., wo dem Märtyrer das Fleisch bis auf die Knochen und bis zum Sichtbarwerden der Eingeweide heruntergerissen wird. 27 Vgl. SEIDL, Blendendes Erzählen, S. 53f., die bemerkt, Georg müsse auf dem Weg zur Heiligkeit „‚entritterlicht‘ werden“ (S. 54). Andere Versionen der Legende lassen den Heiligen entweder vollständig gesunden oder gar gänzlich wiederauferstehen (so auch in der Version Reinbots von Durne, wo Georg ausgerechnet mit den Kennzeichen eines höfischen Ritters wiederersteht). 28 Dies untermauert noch zusätzlich eine im Passional breit ausgeführte Mirakelerzählung, welche Georg als Unterstützer der Kreuzzugsheere vor Jerusalem inszeniert und den Heiligen dabei selbst in den Kampf ziehen lässt: Georg erscheint, nachdem man seine Reliquien herbeigebracht hat, auf einmal selbst, setzt sich an die Spitze der Kreuzritter und erklimmt mit dem Heerbanner in der Hand als erster die Stadtmauern Jerusalems, vgl. dazu ausführlicher SEIDL, Blendendes Erzählen, S. 55f.

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schlicht mit dem Vollführen des Kreuzzeichens.29 Demgegenüber betont eine spätmittelalterliche, vermutlich in der ersten Hälfte des 14. Jhs. entstandene Version Georgs Ritterschaft in so hohem Maße, dass sie sich an den Vorgaben des anzitierten Drachentöter-Schemas regelrecht abarbeitet: Der Kampf mit dem Drachen ist dort breit auserzählt (bis hin zum Straucheln des Pferdes als zusätzliches Spannungsmoment), Georgs Kampfkraft wird mehrfach gerühmt, und der Text stellt den Drachenkampf gemäß heldenepischer Erzählsituationen als erste große Jugendtat Georgs dar. Vor allem aber führt diese Legendenversion das Schema konsequent weiter: Bringt der Sieg über den Drachen dem Helden strukturevident Königstochter und reich ein, so wird eben dies, die Ehe mit der geretteten Prinzessin, nun dem Heiligen nach seinem Sieg förmlich aufgedrängt, und die Erzählung endet ziemlich unmotiviert mit dem hastigen Aufbruch Georgs aus der Stadt, ohne sein Martyrium überhaupt auch nur zu erwähnen.30 Der Widerspruch bleibt unaufgelöst, die Leerstelle dadurch umso deutlicher. Es kommt also ganz darauf an, ob den intendierten Rezipienten entsprechende Identifikationsangebote, wie sie die Struktur der Drachentöter-Erzählungen eröffnen, auch tatsächlich gemacht werden oder eben nicht. In der letztgenannten Version des ‚Berliner Georg‘ scheint das Interesse am eigentlichen Heiligen gering gewesen zu sein, im Mittelpunkt steht der heroische Ritter und es hat demgemäß einzig noch der Drachenkampf Georgs Beachtung gefunden. Im Passional wird dagegen eine Überblendung von Helden und Heiligem inszeniert, die dort immer wieder zu beobachten ist und einem mutmaßlichen Publikum aus dem Umkreis des Deutschen Ordens wohl auch entgegengekommen sein dürfte.

8.2.2 Ursula und das Brautwerbungsschema Ist es in der Georgslegende das Strukturmuster der Drachentöter-Erzählungen, das offenbar mit dem gesamten Motivkomplex sekundär Einzug in die eigentliche Märtyrerlegende gehalten hat, um den Protagonisten als Ritterheiligen zu profilieren, so ist es bei heiligen Ursula das v.a. in der mhd. Heldendichtung bekannte Erzählmu|| 29 Hermann von Fritzlar, Das Heiligenleben, in: Deutsche Mystiker des vierzehnten Jahrhunderts, hg. von Franz PFEIFFER, Leipzig 1845, Bd. 1, S. 1–258, hier S. 120, 21f. Auch die griechischen Rezensionen der Legende überliefern, sofern sie das Erzählelement beinhalten, keinen Kampf, stattdessen betet der Heilige hier zu Gott, der ihm Hilfe zusichert, so dass das Ungeheuer nach dem Schlagen des Kreuzes bereits besiegt ist. Vgl. zu diesen Versionen umfassend AUFHAUSER, Drachenwunder, S. 84-95; zum Motiv in der Legenda aurea vgl. ebd., S. 212. 30 Vgl. dazu ausführlich HAMMER, Drachentöter, S. 170ff. Der Text der Berliner Hs. (‚Berliner Georg‘) ist ediert in: Der heilige Georg des Reinbot von Durne, mit einer Einleitung über die Legende und das Gedicht, hg. v. Ferdinand VETTER, Halle a. d. Saale 1896, S. CLXVII-CXC. Eine zweite, unedierte Version (Heidelberg, Universitätsbibliothek, cpg 109), ist in diesem Punkt konsequenter, indem sie das einen Heiligen kompromittierende Eheangebot weglässt und in sehr geraffter Form immerhin noch das anschließende Martyrium Georgs anspricht.

376 | Erzählstrategien und Erzählmuster ster der gefährlichen Brautwerbung. Die Legende von Ursula und den 11000 Jungfrauen gehört zwar wie die des heiligen Georg zu den Märtyrerlegenden, doch erfüllt sie den von Feistner dargelegten Basisnexus (Verhör – Haft – Tod) nur sehr bedingt, was am Inserat dieser Erzählstruktur liegt, die anders als bei Georg nicht allein die Vorgeschichte, sondern die gesamte Handlung überlagert. Erzählt wird von der britannischen Königstochter Ursula, auch sie mit adelighöfischen Schönheitsmerkmalen belegt, die sich aber dem christlichen Keuschheitsideal verschrieben hat. Doch gelangt diz mere an gutem prise (III 566, 50) bis nach England an den Hof eines Heidenkönigs, der für seinen Sohn um Ursula werben lässt. Dies stürzt Ursulas Vater in ein Dilemma, fürchtet er doch einerseits, sich den mächtigen König zum Feind zu machen, will aber andererseits seine Tochter nicht mit einem Ungläubigen verheiraten. Einen Ausweg weiß nun Ursula, und bereits hier wendet sich die Erzählung ab von der traditionellen Schematik hagiographischer Darstellungen heiliger Jungfrauen. Anstatt nämlich wie z.B. Agnes oder Agatha die heidnische Werbung rundweg abzulehnen und dafür das Martyrium in Kauf zu nehmen, ist sie durchaus geneigt, darauf einzugehen, stellt aber zugleich Bedingungen: Der werbende Königssohn Ethereus soll sich taufen lassen, außerdem noch mindestens drei Jahre warten und ihr in dieser Zeit ein standesgemäßes Gefolge zukommen zu lassen: zehn weitere keusche Jungfrauen wie sie mit jeweils 1000 Jungfrauen Gefolge. Entweder geht der Werber auf die Bedingungen nicht ein, so die Kalkulation, oder aber sie muss zwar ihre Virginität aufgeben, hätte dafür jedoch ein entsprechendes Gefolge von Jungfrauen an ihrer Statt gewonnen und obendrein England christianisiert. Allerdings willigt der Königssohn sofort in alles ein, lässt sich taufen und stellt der Schar der Jungfrauen eine Flotte zur Verfügung. Auf Befehl eines Engels, der ihr zum Ende ihrer Reise das Martyrium in Aussicht stellt, bricht Ursula mit ihrem Gefolge nach Rom auf, wo sich der Papst und weitere Würdenträger den Jungfrauen anschließen; auch der Bräutigam Ethereus reist aus England an. Die Gemeinschaft wird zuletzt bei Köln von einem Hunnenkönig in die Falle gelockt. Die Hunnen metzeln alle ohne Unterschied nieder – im Martyrium sind Päpste, Würdenträger und einfache Jungfrauen gleich – und nehmen Ursula gefangen, an der erneut die adeligen Standesmerkmale auch äußerlich sichtbar sind.31 Der Hunnenkönig bietet ihr Schonung an, wenn sie ihn heiratet, doch über ihre brüske Ablehnung zornig erschießt er sie mit einem Pfeil. Auffällig an dieser Erzählung ist, dass die Schilderung des Martyriums Ursulas und ihrer Jungfrauen gerade einmal 70 Verse (im Kern sogar nur gut 40) ausmacht, sieht man von der nachgeschobenen Erzählung Cordulas ab, die sich zunächst verbirgt und dann ebenfalls freiwillig in den Tod geht. Der überwiegende Teil (immerhin rund 600 Verse) wird von der Werbung um Ursula und die Romfahrt der Jung-

|| 31 Sogar der barbarische Hunnenkönig erkennt, wie schone und uzerwelt si was (III 572, 18) und dass sie ein kunigin ist und ihr Antlitz so lustlichen schin (III 572, 20f.).

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frauen bestimmt, bei der ihnen das finale Ziel der Erzählung, das Martyrium, angekündigt wird; den Abschluss bilden Reliquienwunder. Diese erzählstrukturelle Besonderheit hat prägnant Peter Strohschneider beschrieben, der in der hier präsentierten Handlungsfolge „die verbreitete epische Strukturformel der ‚Brautwerbung‘“ erkennt.32 Da er die Implikationen dieses Schemas mit der Legende in der Version des Passionals bereits ausführlich dargestellt hat, genügt auch hier eine knappe Zusammenfassung seiner Ergebnisse mit Blick auf die strukturellen Umbesetzungen. Nach dem Brautwebungsschema33 strukturierte Erzählungen handeln im wesentlichen vom Brauterwerb eines Herrschers zur Weiterführung und Kontinuität des genealogisch-dynastischen Herrschaftssystems, wobei das Motto ‚Dem Besten die Schönste‘ gilt: Nur die hervorragendste Braut kommt für den Protagonisten überhaupt in Frage, und es gibt kaum eine, die ihm tatsächlich gleichgestellt wäre. Gemäß den Ansprüchen der Exogamie muss die Braut daher weit weg gesucht werden, meist jenseits des Meeres. Es werden vielfach Boten ausgesandt, die Werbung zu überbringen, und diese ist keineswegs problemlos, sondern an Bedingungen geknüpft, die zu leisten auch nur der beste Herrscher imstande ist; in der Regel ist die Braut nur durch Kriegszug und/oder listige Entführung dem Protagonisten zuzuführen. Die Grundpositionen bzw. ‚Handlungsfixpunkte‘ dieses Schemas lassen sich mithin auch in der Ursulalegende finden: Ein ferner, hochadeliger Herrscher, dem die Verwandten zur Heirat raten, die Braut als hervorragende, schöne und standesgemäße Königstochter, die schon aus der Ferne Begehren weckt, Botensendung und Werbungsauftrag, vorläufige Ablehnung der Braut und das Stellen von Bedingungen als eine Art Freiersprobe, Erfüllung der gestellten Aufgaben. Allerdings findet von vornherein kein Kriegszug des Werbers statt, die Handlung ist zudem aus der Perspektive der Braut erzählt,34 vor allem aber wird das Schema gar nicht bis zum Ende geführt, denn eine Hochzeit fällt gerade aus, stattdessen gehen Ursula und Ethereus gewissermaßen spirituell vermählt gemeinsam ins Martyrium.35 Dennoch ist das inserierte Brautwerbungsschema gerade nicht dysfunktional, auch und gerade wenn es immer wieder mit den legendarischen Virginitätsidealen || 32 Peter STROHSCHNEIDER, Religiöses Charisma und institutionelle Ordnungen in der Ursula-Legende, in: Franz J. FELTEN et al. (Hg.), Institution und Charisma. Festschrift für Gert Melville zum 65. Geburtstag, Köln u.a. 2009, S. 570–588, hier S. 578. 33 Zu deren Struktur vgl. Christian SCHMID-CADALBERT, Der Ortnit AW als Brautwerbungsdichtung. Ein Beitrag zum Verständnis mittelhochdeutscher Schemaliteratur, Bern 1985, S. 40–100. 34 Ein Umstand, der für Brautwerbungserzählungen der Heldenepik eher ungewöhnlich ist, wo üblicherweise der Werber als hervorragender Herrscher und heroischer Kämpfer in den Mittelpunkt rückt; eine Ausnahme bildet allerdings die Kudrun, die das Brautwerbungsschema über drei Generationen mit immer größeren Komplikationen erzählt und im letzten, ausführlichsten Teil die Handlung aus der Perspektive der schon in der einzigen Hs. als Titelheldin genannte Protagonistin Kudrun darstellt. 35 Vgl. STROHSCHNEIDER, Religiöses Charisma, S. 580.

378 | Erzählstrategien und Erzählmuster konfligiert – geht es der Brautwerbung doch um Reproduktion, um die Weiterführung von Genealogien, und bedeutet Keuschheit dagegen genau die Abkehr von körperlichen Bedürfnissen und negiert gerade die sexuelle Reproduktion.36 Die „narrative[n] Regelzusammenhänge“37, die hier etabliert werden, sowie die damit verbundenen Handlungselemente eröffnen für die Legende vielmehr einen Deutungszusammenhang, um erklären zu können, wie die unüberbietbare Masse von 11000 Jungfrauen gemeinschaftlich das Martyrium erleiden kann, mit dem dann eine „Entpersonalisierung und Anonymisierung des einzelnen Heiligen in der ungezählten Masse“38 einhergeht – eine Problemkonstellation, die die Legende in dem Bericht über die ‚Nachzüglerin‘ Cordula reflektiert, muss diese doch, da sie nicht am gleichen Tag wie die anderen Jungfrauen getötet wurde, den Tag ihrer Verehrung den Gläubigen später selbst in einer Vision kundtun. Indem nun aber durch das Brautwerbungsschema die Masse der Jungfrauen im Gefolge der adeligen Königstochter Bestandteil einer Freiersprobe wird, ist nicht nur das Faktum dieses Massenmartyriums39 narrativ begründbar, es stützt in paradoxer Weise gerade auch die Heiligkeit Ursulas. Zwar stellt die Brautwerbung oberflächlich gesehen eben jene Bedrohung von Keuschheit und christlichem Glauben dar, die sich in anderen Legenden heiliger Märtyrerinnen üblicherweise manifestiert, wenn (wie etwa bei Agnes oder Agatha) ein heidnischer Herrscher die Heirat mit der keuschen Jungfrau erzwingen will und diese dann ins Martyrium führt. Ursula nun nimmt die Gesuche der Werbungsboten zwar wohlwollend auf, ihre Bedingungen erhofft sie sich allerdings als unerfüllbar. Sie macht sich dadurch unerreichbar nicht nur im Sinne der Brautwerbung, wo der Schwierigkeitsgrad den Werber dazu zwingt, seine heroische Potenz unter Beweis zu stellen und damit zugleich den unüberbietbaren Wert der Braut vorzuführen, sondern auch im Sinne der Legende, die Ursulas jungfräulichen Körper unangetastet wissen will. Kann der Werber die Bedingungen nicht erfüllen, manifestiert er Ursulas Virginität, erfüllt er sie aber, so kann sie ihre Jungfräulichkeit gegenüber der von 11000 anderen aufrechnen.40 Indem die Legende dann jedoch das Schema verlässt und die Romreise Ursulas und ihres Gefolges im zweiten Handlungsteil präsentiert, wird stattdessen die Manifestation ihres heiligen Charismas vorgeführt: Die Ankündigung des Martyriums, dem sich weitere anschließen, zeigt die Nachfolgebereitschaft Ursulas auf, die eine || 36 Vgl. ebd. 37 Ebd., S. 578f. 38 Ebd., S. 579. 39 Der Umstand, dass zwischen 1154 und 1164 im Norden Kölns ein riesiges römisches Gräberfeld gefunden wurde, deren unzähligen Gebeine sogleich mit den Reliquien der das Martyrium erlittenen Jungfrauen gleichgesetzt worden sind, macht den in der Hagiographie geschilderten Sachverhalt für das Mittelalter zu einer unhintergehbaren Tatsache, der dem Kult der hl. Ursula und ihrer 11000 Jungfrauen vor allem durch die Deutzer Benediktiner zum Durchbruch verhalf, vgl. Erich WIMMER, [Art.] Ursula, in: LexMA 8, 1997, Sp. 1332–33. 40 Vgl. nochmals STROHSCHNEIDER, Religiöses Charisma, S. 580.

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derart charismatische Wirkung entfaltet, dass ihrer Nachfolge wiederum weitere folgen, zuletzt sogar der eigene, inzwischen getaufte Verlobte, der dann ebenfalls mit ihr zusammen das Martyrium erleidet. Und insofern könnte man das Brautwerbungsschema zuletzt doch noch erfüllt sehen: Dient der Erweb einer Braut durch einen Herrscher der Sicherung der eigenen Genealogie, der Fortführung und Stabilität des dynastischen Systems durch körperliche Reproduktionsfähigkeit, so stellt die gemeinsame Christusnachfolge von Ursula und Ethereus keine genealogische Sicherung in der Immanenz dar, sondern dient der Sicherung ihres Fortlebens als Heilige bei Gott in der Ewigkeit und als verehrungswürdige Märtyrer im kollektiven (liturgischen) Gedächtnis der Gläubigen in der Welt. Es gibt keine weltliche Vereinigung zur Schaffung eines Nachkommen, sondern eine transzendente Vereinigung in der imitatio Christi als exemplarische Nachfolge zur ‚Reproduktion‘ weiterer Nachfolger in diesem Sinne.

8.2.3 Die pseudoklementinischen Recognitiones und der hellenistische Roman Die Vita des ersten Nachfolgers Petri auf dem Papststuhl, Clemens, geht auf eine spätantike griechische Vorlage vermutlich aus dem 3. Jh. zurück, welche allerdings in der Ausgestaltung der hier entscheidenden Recognitiones nur in der lateinischen Übertragung Rufins vom Anfang des 5. Jahrhunderts erhalten sind. Darin berichtet ein sich Clemens nennender Erzähler in der Ich-Form41 von der schicksalhaften Trennung und Wiedervereinigung seiner Familie (daher der Titel Recognitiones) sowie ihrer Bekehrung zum Christentum. Damit stehen die Recognitiones den apokryphen Apostelviten nahe, die Kette von Trennungen und Wiedervereinigungen allerdings hat ihr Vorbild im Erzählmuster des hellenistischen Romans. Berichtet wird, wie die Mutter des Clemens mit ihren beiden älteren Söhnen, den Zwillingen Faustus und Faustinianus, zu einer Reise aufbricht, um den Avancen ihres Schwagers zu entgehen. In deren Verlauf erleiden sie jedoch Schiffbruch und werden an unterschiedlichen Orten an Land gespült, jeweils im Glauben, die einzigen Überlebenden zu sein. Während die Brüder vorerst aus der Handlung verschwinden, wird von der Mutter Mattidia berichtet, dass sie krank vor Kummer ihr Dasein als Bettlerin fristen muss. Nach einiger Zeit macht sich auch Clemens’ Vater Faustinian, von vornehmer römischer Abstammung, auf die Suche nach den dreien, doch erleidet auch er Schiffbruch und muss sich unerkannt in fremdem Land durchschlagen. So wächst Clemens als Waise auf, wird zum Philosophen und beschäftigt sich vor allem mit der || 41 Dass die Autorfiktion, der Text stamme tatsächlich von Papst Clemens persönlich, nicht aufrechtzuerhalten ist, wurde spätestens in der Frühen Neuzeit erkannt, weswegen inzwischen stets von den pseudoklementinischen Schriften gesprochen wird. Vgl. zur Überlieferung und Quellenforschung Meinolf VIELBERG, Klemens in den pseudoklementinischen Rekognitionen. Studien zur Literarischen Form des spätantiken Romans, Berlin 2000, S. 12–19.

380 | Erzählstrategien und Erzählmuster Frage nach der Unsterblichkeit der Seele. Schließlich wird er vom christlichen Glauben überzeugt und schließt sich Petrus an, mit dem er als Jünger herumreist. Der zweite Handlungsteil beschreibt die Zusammenführung der einzelnen Familienmitglieder, wobei das eigentliche Erkennen von Petrus gesteuert wird: Zunächst trifft der Apostel auf Mattidia, die ihm ihr Schicksal erzählt; da Petrus zuvor Clemens’ Familiengeschichte gehört hat (der Leser/Zuhörer erfährt alles nur rückblickend aus der Ich-Perspektive des Erzählers) erkennt er ihre Identität. Bald nach der glücklichen Vereinigung mit dem jüngsten Sohn stellt sich heraus, dass zwei weitere Jünger Petri, die vom Zauberer Simon Magus zu ihm geflohen waren, die beiden verschollenen Zwillingsbrüder des Clemens sind. Zuletzt trifft die Gruppe auf einen alten Mann, der ihnen klarzumachen versucht, dass es im Leben keine Vorsehung, keine göttlich-lenkende Macht gebe, sondern alles nur ein kontingentes Dahintreiben sei. Im Laufe eines langen Streitgespräches enthüllt auch dieser seine Lebensgeschichte, worauf klar wird, dass es sich um Faustinianus handelt. Petrus kann diesen zum Christentum bekehren, indem er ihm seine gesamte Familie zuführt und damit jene göttliche Vorsehung erweisen kann, welche Faustinianus geleugnet hatte. Die Familie kehrt glücklich vereint wieder nach Rom zurück und Clemens wird später der Nachfolger des Petrus als Papst. Es ist eben jene „Inversionsstruktur“42 von Trennung und Wiedervereinigung, welche schon die pseudoklementinischen Schriften aus dem hellenistischen Roman entlehnt haben, wobei das dort im Mittelpunkt stehende Liebespaar üblicherweise mehrere solcher Trennungen und Vereinigungen durchläuft, bis die Geschichte an ihr glückliches Ende kommt. So könnten die Recognitiones in der Tat als erster ‚christlicher Roman‘ bezeichnet werden, da sie die Strukturelemente des hellenistischen Romans übernehmen, diese aber mit einer christlichen Semantik besetzen.43 Festzuhalten ist, dass die pseudoklementinischen Schriften in erster Linie einer christlichen Apologetik der Spätantike verpflichtet sind, welche in einem prägenden Stilelement ganz besonders zur Geltung kommt: den Disputationen. Insgesamt sieben solcher Streitgespräche erörtern theologische Fragestellungen weitreichender Natur, eine der wichtigsten ist jene Diskussion mit Faustinianus über die Kontingenz der Welt im Gegensatz zur Kraft der göttlichen Vorsehung, eine weitere führt

|| 42 Matias MARTINEZ, Fortuna und Providentia. Typen der Handlungsmotivation in der Faustiniangeschichte der ‚Kaiserchronik‘, in: ders. (Hg.), Formaler Mythos. Beiträge zu einer Theorie ästhetischer Formen, Paderborn u.a. 1996, S. 83–100, hier S. 86. 43 Vgl. ebd., S. 94. Zu den Elementen des hellenistischen Romans vgl. im Einzelnen VIELBERG, Klemens, S. 111–128; vgl. auch Dirk Uwe HANSEN, Die Metamorphose des Heiligen. Clemens und die Clementina, in: Groningen Colloquia on the Novel 7 (1997), S. 119–129, der insbesondere auf die Bezüge zu Heliodor hinweist. Zu den Strukturelementen des hellenistischen Romans allgemein vgl. Tomas HÄGG, Eros und Tyche. Der Roman in der antiken Welt, Mainz 1987, zur hagiographischen Inanspruchnahme dort S. 190ff.

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einen Disput zwischen Simon Magus und Petrus aus, welche auf die Auseinandersetzung der beiden im Rahmen der Petrusvita anspielt. Bei der Umgestaltung der Recognitiones in eine nach hagiographischen Mustern geformte Clemensvita, die vermutlich ab dem 9. Jh. greifbar ist,44 fallen einschneidende Veränderungen auf. Der hier wiedergegebene Stoff wird zwar in seiner Grundstruktur beibehalten, jedoch fallen die Disputationen weitgehend weg, da die Vita an einer derartigen Apologetik nicht mehr interessiert ist. „Das RomanhaftLegendarische wird deshalb den Disputationen gegenüber in den Vordergrund gerückt.“45 Die Kette von Trennungen und Wiedervereinigungen führt umso stringenter die göttliche Providenz vor, welche in der Taufe aller Familienmitglieder mündet, an die sich noch Wunderberichte über Clemens Wirken als Papst und in der Verbannung anschließen, um zuletzt in seinen Märtyrertod und anschließende Mirakelerzählungen zu münden. In dieser Form hat auch Jacobus de Voragine den Stoff in die Legenda aurea übernommen, wo sie eine trotz der typischen Abbreviaturen sehr umfangreiche Legende bildet. Die Clemensvita des Passionals schließlich weicht von der Legenda aurea in so geringem Umfang ab, dass nicht weiter auf Differenzen eingegangen werden muss. Was die Version des Passionals auszeichnet, ist erneut die enorme Dramatisierung des Geschehens und die Lebendigkeit der Darstellungen, was insbesondere durch die Vielzahl der eingeschalteten Dialoge gegenüber der Legenda aurea erzielt wird; der Handlungsverlauf ist bis hin zu den kommentierenden Erläuterungen jedoch genauestens durch die Legenda aurea vorgegeben. In die Volkssprache gelangte der Stoff das erste Mal allerdings über die frühmittelhochdeutsche Kaiserchronik, wo jedoch nicht Clemens, sondern sein Vater Faustinian als (unhistorischer) römischer Kaiser im Mittelpunkt steht. Dort sind immerhin noch zwei der breit ausgelegten Disputationen enthalten, die aber auch handlungssteuernde Funktion übernehmen. Für die Episode der Kaiserchronik kann eine deutlich final geordnete Handlungsdetermination festgestellt werden, welche jedoch über die erzählstrukturellen Bedingungen des hellenistischen Romans realisiert wird, deren nur scheinbar zufälligen Inversionen zwar Kontingenz exponieren, zuletzt aber in der Providenz des göttlichen Plans aufgehen. Vergleichbare Bedingungen lassen sich auch, wie zu zeigen sein wird, in der Clemensvita des Passionals aufzeigen, doch während die am Zusammenwirken von Papst- und Kaisertum interessierte Kaiserchronik hierin vor allem ein Exempel für die wunderbaren Fügungen Gottes in der Weltgeschichte sieht, kommt es der Legende darauf an, Gottes

|| 44 Zur Verwendung der Recognitiones im hagiographischen Schrifttum vgl. Ernst Friedrich OHLY, Sage und Legende in der Kaiserchronik, Darmstadt ²1968, S. 75f. 45 Ebd., S. 79.

382 | Erzählstrategien und Erzählmuster Wirken an seinen Heiligen aufzuzeigen, wobei die Familiengeschichte nur ein Teil der Handlung sein kann.46 Diese ‚Motivation von hinten‘ wird in der Vitenfassung des Passionals schon zu Beginn deutlich, wenn wie in der Kaiserchronik zunächst eine hochadelige Familiengeschichte aufgebaut wird, um sogleich wieder zerstört zu werden. Der Verlust des adeligen Standes wird später aufgehoben in einer Wiedervereinigung der Familie, jedoch innerhalb einer religiösen Semantik, in der Standesmerkmale ohnehin nichts wert sind.47 Das Passional geht darin noch weiter als die Legenda aurea: Faustinians Familie wird als von erhafter kunneschaft (III 642, 7) stammend vorgestellt, doch zugleich werden Schönheit und Ruhm in der Welt mit großem Leid verbunden, was bereits die Überführung in ein geistliches Handlungsziel andeutet, in dem derartige Werte und Hierarchien nichts zählen. So wird von Mattidia gesagt, si was schone ein wib nach der werltlichen kur, des leit ir ouch die werlt vur vil dicke manic luder. (III 643, 6–9)

Die Überwindung weltlicher Wertvorstellungen zugunsten christlicher wird somit anzitiert, bevor die eigentliche Handlung ihren Lauf nimmt. In den anschließenden Schilderungen der Schiffbrüche, durch die die Familie getrennt wird, scheint kein autonomes Handeln möglich zu sein, die Aktanten sind von kontingenten Ereignissen und blinden Zufällen bestimmt. Dass sich diese als Fügungen und damit finale Motivationen erweisen, wird erst in der Rückschau klar, denn zunächst besteht zwischen den Nachstellungen von Mattidias Schwager, ihrem fingierten Traum, mit dem sie ihre Reise begründet, und dem dann erlittenen Schiffbruch kein kausaler Zusammenhang.48 Die Legende übernimmt dabei die Strukturelemente des hellenistischen Romans, besetzt sie aber mit einer christlichen Semantik. Die entscheidende Änderung ist die Ablösung des paradigmatischen, theoretisch bis ins Unendliche fortführbaren Inversionsschemas von Trennung und Wiedervereinigung in ein christ|| 46 Die bisherige Forschung zu den deutschsprachigen Adaptionen der Recognitiones beschränkt sich fast ausschließlich auf die entsprechende Episode der Kaiserchronik, vgl. zuletzt Julia WEITBRECHT, Übersetzung in neue Sinnzusammenhänge. Konversion in ‚Pseudoklementinen‘ und ‚Kaiserchronik‘, in: Hartmut BÖHME et al. (Hg.), Übersetzung und Transformation, Berlin/New York 2007, S. 121–136, mit breiter Forschungsliteratur. Die Überlegungen zu den erzählstrukturellen Bedingungen können mit Abstrichen auch auf die hagiographischen Ausformungen der Clemensvita des Passionals übertragen werden, denn auch dort greifen die in der Kaiserchronik immer wieder konstatierten finalen Erzählstrukturen. Einen Überblick über die volkssprachigen Ausgestaltungen der Clemensvita bietet Dietrich HOFMANN, Die Legende von Sankt Clemens in den skandinavischen Ländern im Mittelalter, Frankfurt a. M. u.a. 1997, zu den deutschsprachigen Bearbeitungen vgl. S. 22ff. 47 Vgl. WEITBRECHT, Übersetzung, S. 127f. 48 Vgl. MARTINEZ, Fortuna, S. 93.

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liches Stufenschema.49 Das zeigt sich bereits beim Aufbruch des Clemens, der nicht wie der seines Vaters Folge der vorhergehenden Trennung von der Familie ist, also nicht aus äußeren Gründen erfolgt, sondern von der Suche nach dem richtigen Glauben motiviert ist: Der als Waise Aufgewachsene ist im Gespräch mit den Philosophen stets an der Unsterblichkeit der Seele interessiert und macht sich darum auf den Weg zu Petrus, um mehr darüber im Zusammenhang mit dem Christentum zu erfahren.50 Die Suche nach den Angehörigen bzw. die Wiedervereinigung mit diesen fällt auf diese Weise mit der Suche nach religiöser Erkenntnis zusammen, und genau das macht dieses Schema nicht beliebig wiederholbar, sondern entwirft es als einmaligen Erkenntnisprozess.51 Dabei zeigt sich in der legendarischen Version allerdings eine weitere einschneidende Veränderung: Wird dieser Erkenntnisprozess, an dessen Ende die Bekehrung aller Familienmitglieder steht, in den Recognitiones durch zahlreiche Disputationen ausgestaltet, welche die unterschiedlichen Positionen ausloten und zuletzt die scheinbar kontingenten Ereignisketten in providentielle Fügungen überführen, so hat bereits die Version der Kaiserchronik nurmehr zwei dieser Disputationen erhalten, nämlich die zwischen Petrus und Simon Magus und die letzte mit Faustinian. Die Vita des Passionals streicht analog zur Legenda aurea auch diese Disputationen und konzentriert sich ganz auf das Ereignishafte. Selbst der so zentrale abschließende Redewechsel der drei Brüder und Petrus mit deren Vater Faustinian, den auch die Kaiserchronik noch ausführlich wiedergibt und der die entscheidende Frage nach einem von einer lenkenden Instanz vorherbestimmten oder einem ganz der blinden Kontingenz unterworfenen Leben verhandelt, ist in der Vitenfassung kaum mehr ausgeführt. Zwar kommt es auf das Streitgespräch als solches gar nicht an, da sich Faustinian aufgrund der wunderbaren Familienzusammenführung zum Christentum bekehrt, doch wird hier geradezu beispielhaft die unbegreifliche Fügung der göttlichen Vorsehung nochmals diskursiv erörtert, um sodann am Wunderereignis die Macht Gottes zu erweisen. Indem Petrus das für unmöglich Gehaltene möglich machen kann, erkennt Faustinian die göttliche Providenz hinter allem und bekehrt sich.52 Darin zeigt sich der eigenwillige narratologische Zug solcher Umschlagsmomente, von denen für die Kaiserchronik festgestellt werden kann, dass die Bekehrungen „nur ergebnishaft mitgeteilt, nicht prozesshaft dargestellt“ werden.53

|| 49 Vgl. ebd., S. 95. 50 Vgl. Christian KIENING, Unheilige Familien. Sinnmuster mittelalterlichen Erzählens, Würzburg 2009, S. 42. 51 Vgl. MARTINEZ, Fortuna, S. 94f. 52 Vgl. KIENING, Unheilige Familien, S. 45. 53 So MARTINEZ, Fortuna, S. 95, vgl. ebenso WEITBRECHT, Übersetzung, S. 130: „Die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Trennungen und Wiedervereinigungen im Namen Gottes wird [...] diskursiv verhandelt“.

384 | Erzählstrategien und Erzählmuster In der Kaiserchronik ist Faustinians Sicht einer vom wilden Zufall bestimmten Welt mit dem Stichwort der wilsaelde gekennzeichnet, ein im Mittelhochdeutschen äußerst selten gebrauchtes Wort, weshalb es umso mehr erstaunt, dass dieser Begriff auch im Passional im Gespräch mit Faustinian nicht weniger als siebenmal fällt.54 Allerdings handelt es sich bei diesem Gespräch nicht um eine wirkliche Disputation, vielmehr führt die Vita, welche die Zusammenhänge ihren Rezipienten ohnehin von Anfang an aufdeckt (im Gegensatz zu den aus der Ich-Perspektive dargestellten Recognitiones), die Unterhaltung sofort auf die Familienzusammenführung hin. Zwar beklagt sich auch hier Faustinian über die Wirrnisse der wilsaelde, doch entspinnt sich keine Unterhaltung darüber, vielmehr wird die vorbeschichtekeit (III 653, 36), die ihm seine Söhne entgegenhalten, schon dadurch für den Leser ersichtlich, dass sie alle Faustinian unwillkürlich ‚Vater‘ nennen.55 Ist dies zunächst (III 653, 45) noch als Ehrentitel zu sehen, entspinnt sich dann die Diskussion statt über Kontingenz und Providenz darüber, daz wir von [gotes] gebote/ uf der erden nieman/ mit namen zeinem vatere han (III 653, 64–66), worauf einem der Zwillinge unbeabsichtigt dennoch genau dieses Wort erneut ‚herausrutscht‘. Unwillkürlich haben sie ihren eigenen Vater bereits erkannt, erfüllen also das providentielle Ziel der Handlung, die Familienzusammenführung, noch bevor Faustinian seine Lebensgeschichte erzählt hat und ihnen damit seine Identität aufdeckt. Die Legende betont dadurch die göttliche Vorsehung von Beginn an so deutlich, dass die wilsaelde, von der Faustinian spricht, sich von vornherein als Irrtum erweist; dem Rezipienten hat sich die vorgebliche Kontingenz schon längst als Providenz gezeigt, eine ausführliche Disputation mit dem Austausch sämtlicher Argumente ist daher obsolet.

|| 54 Das schwer zu übersetzende Wort drückt das Gegenteil von providentia aus und müsste daher entweder die Bedeutung fatum, fortuna oder genesis besitzen, vgl. Graeme DUNPHY, Die wilsaeldeDisputation: Zur Auseinandersetzung mit der Astrologie in der ‚Kaiserchronik‘, in: ZfdPh 124 (2005), S. 1–22, hier S. 11, der den Begriff genesis (i.S.v. Geburtskonstellation) bereits in den Recognitiones vorfinden kann, wogegen MARTINEZ, Fortuna, S. 88, an dieser Stelle „Tyche/Fortuna“ als Kontingenzerfahrung aufgerufen sieht (allerdings fatum für die Recognitiones anführt). Die auffällige Häufung des Wortes im Passional (III 653, 7 u. 30; 654, 1; 5; 52; 85 u. 92) zeigt daher letztlich nur, dass hier ein Gegenbegriff zur göttlichen Providenz eingesetzt wird. In gleicher Weise dürfte auch der Begriff wilwalde (III 653, 84) gebraucht sein. 55 Auch dieses Motiv ist bereits in den Recognitiones vorgebildet, vgl. VIELBERG, Klemens, S. 122f. Während dort jedoch der Schwerpunkt auf der Disputation mit ihren unterschiedlichen Standpunkten zu Providenz und Kontingenz liegt und das tatsächliche Vater-Sohn-Verhältnis der Protagonisten durch die Erzählperspektive vorläufig noch im Dunkeln bleibt, ist in den Viten der Legenda aurea und des Passionals die Finalität der Handlung umso deutlicher herausgestellt. Zugleich aber zeigt sich in den Recognitiones die christliche Umwertung, welche die alten Hierarchien und genealogischen Verknüpfungen aufhebt, da für Clemens jetzt Petrus die Vaterrolle einnimmt (vgl. VIELBERG, Klemens, S. 123), was das Passional immerhin noch durch eine entsprechende Anrede des Clemens anzitiert (vgl. III 547, 57).

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Die legendarische Vita unterscheidet sich von den pseudoklementinischen Schriften weiterhin dadurch, dass sie die Erzählung nicht mit der providentiellen Familienzusammenführung, der Taufe aller Beteiligten und schließlich der Nachfolge Clemens im Papstamt enden lässt, sondern als vollständige Lebensbeschreibung ausbaut. Dadurch ist die göttliche Fügung nicht auf das Wunder der Familienzusammenführung ausgerichtet, sondern auf die göttliche Begnadung des Protagonisten, welche sich in der Wiedervereinigung für alle sichtbar offenbart, sich dann aber im Martyrium vollendet. Eine zusätzliche Wunderepisode zur Zeit von Clemens’ Papstamt unterstreicht erneut seine Heiligkeit.56 Zuletzt wird das Martyrium geschildert, und auch hier tritt seine Heiligkeit durch ein Quellwunder erneut hervor, auf das hin sich abermals viele Menschen bekehren.57 Schließlich wird Clemens mit einem Anker um den Hals im Meer ertränkt und erleidet so den Märtyrertod. Doch mit dem Tod des Protagonisten endet die Legende bezeichnenderweise noch nicht, vielmehr wird nun das Nachwirken des Heiligen in der Welt beschrieben. Noch einmal wird seine besondere Auserwähltheit deutlich, denn Clemens soll nach dem Willen der Folterer durch den Tod im Meer seiner Gemeinde gerade entzogen werden, seine Gebeine sollen unauffindbar bleiben, damit niemand ihn später verehren könne, wie es der römische Herzog, der seinen Tod befiehlt, ausdrücklich formuliert: ich hoffe, daz doch nieman trete/ und nu Clementen anbete/ vur einen helfrichen got (664, 25–27). Genau das lässt sich gerade nicht verhindern, denn das Volk bittet Gott, die Reliquien des Märtyrers freizugeben, und dieser lässt ein Wunder geschehen: Das Meer zieht sich auf drei Meilen Breite zurück und gibt den Weg zu einem Marmortempel unter der Wasseroberfläche frei, gemachet von engels handen (III 664, 75), in dem sich, ebenfalls geleit mit engelscher hant (III 664, 79) der Leichnam des Heiligen befindet. Auf diese Weise bleibt das Gedenken an Clemens weiter gewährleistet, denn immer an seinem Todes- und Gedenktag ereignet sich

|| 56 Clemens schützt durch sein Gebet die Keuschheit zweier adeliger Römerinnen, die zum Christentum übergetreten sind, und kann deren Männer und viele weitere Römer ebenfalls bekehren. Das Passional hebt, ergänzend zur Legenda aurea, noch die besonders wirksame Taufe durch Clemens hervor, wobei erneut Familienrelationen, nun aber im christlichen, nicht mehr im (mit der Taufe ja auch überholten) genealogischen Sinne anzitiert werden: swen er in edelen vugen/ toufte in unsers herren lobe,/ dem was er rechte ein vater obe/ und phlac so lieblich ir sint,/ als ein vater sine kint./ diz schuf sin heilic wille (III 659, 24–29). Unmittelbar danach wird die Episode der beiden Jungfrauen Domicilla und Theodora erzählt, so dass Clemens mit der Taufe alle Mitglieder ihrer weltlichen Familien nun in die übergeordnete geistliche Familie der Gemeinschaft der Gläubigen überführt. 57 Clemens wird zur Zwangsarbeit in den Marmorsteinbrüchen einer Insel vor der Küste des Schwarzen Meeres verurteilt, wo die Menschen nicht nur unter der harten Arbeit, sondern auch darunter zu leiden haben, dass sie kein Wasser in der Nähe haben. Auf das Gebet des Heiligen hin erscheint ein Lamm, das den Ort einer Quelle bezeichnet. Erneut macht sich nun aber die Differenz zwischen Menschen und Heiligem bemerkbar, denn allein Clemens vermag es, an der bezeichneten Stelle auch zu graben und Wasser hervorzubringen, vgl. III 663, 42ff.

386 | Erzählstrategien und Erzählmuster das Wunder des Meerrückgangs, das den Weg zu dem unterseeischen Tempel freigibt, so dass die Bevölkerung eine Messe zu Ehren des Clemens darin halten kann. Die besondere Heiligkeit dieses Ortes, vielmehr sein transzendenter Status, wird als Chronotopos inszeniert, denn es wird erzählt, wie ein Kind nach der Feier in dem Tempel einschläft und von seiner Mutter zurückgelassen wird; als das Meer wieder steigt und der Tempel in den Fluten versinkt, glauben alle das Kind ertrunken. Doch als die Menge ein Jahr später wieder dorthin gelangt, findet die Mutter ir herzelibez kint [...]/ slafende ligen sunder not (III 665, 84f.), das beim Erwachen glaubt, nur eine einzige Nacht, nicht ein ganzes Jahr verschlafen zu haben. Der transzendente Ort der Reliquien des Clemens ist den natürlichen Verhältnissen der Welt enthoben, die Elemente haben dort ebensowenig Wirkung wie die Zeit. In der Welt, so zeigt sich, ist Clemens bereits von göttlicher Begnadung gekennzeichnet, welche ihn providentiell an sein Ziel führt, das Martyrium. Dies wird nicht durch ein einem Basisnexus von Verhör, Haft und Folter verpflichteten Handlungssyntagma erreicht, sondern über die Inanspruchnahme von Erzählstrukturen des antiken Romans, welche die göttliche Fügung, die über dem Leben des auserwählten Clemens wirkt, herausstellt. Diese Erzählstrukturen dienen aber letztlich nur dazu, den Lebensweg des Clemens als Heiligen zu profilieren, der von Anfang an Teil hat an der Transzendenz und ihrer Vorsehung. Nach seinem Tod sind es die Reliquien, die diese Teilhabe in der Welt weiterhin aufrecht erhalten und die den Ort, an dem sie sich befinden, transzendieren. Die Inanspruchnahme der Erzählstrukturen des spätantiken hellenistischen Romans dient den pseudoklementinischen Schriften somit zur narrativen Bewältigung von Kontingenz, indem das vom Roman vorgebildete Inversionsschema ständiger Trennungen und Wiedervereinigungen in ein Stufenschema überführt wird, das die Suche nach den Familienmitgliedern mit der Suche nach religiöser Erkenntnis koppelt. Auf diese Weise wird die final motivierte Familienzusammenführung am Ende als Teil des göttlichen Heilsplanes erkennbar, der die Beteiligten nach und nach zum christlichen Glauben führt (Anagnorisis und conversio sind nicht zuletzt bei Faustinian, dem Vertreter der Kontingenz-These in der Disputation, parallelgeschaltet) und dabei zugleich narrativ wie diskursiv in den zahlreichen Disputationen die Überlegenheit des Christentums vorführt. Die mittelalterliche Hagiographie formt aus diesem Stoff eine vollständige Heiligenvita, in der die beschriebene Struktur zwar weiterhin dazu dient, die Providenz und göttliche Heilsmacht zu erweisen, nun aber der Herausstellung der Heiligkeit des Clemens und seiner schon von Anfang an unter der göttlichen Vorsehung stehenden Begnadung unterordnet, welche sich darüber hinaus in mehreren Wundern und schließlich im Märtyrertod erweist. Nicht zuletzt zeigt sich diese Heiligkeit in der mirakulösen Verehrungsgeschichte am Schluss der Legende, die in einen Translationsbericht mündet, der erklärt, wie die Gebeine des Clemens nach Rom gelangt sind, nachdem die Menschen vor Ort den Heiligen vergessen und das Wunder der Meeröffnung aufgehört habe. Damit wird das zentrale Anliegen der Legende eröffnet, die nicht mehr an einer Apologie

Fazit: Legendarische Narratologie | 387

des Christentums interessiert ist, sondern an der memoria ihrer Heiligen, am Fortleben im Gedächtnis der Menschen und an der Verehrung durch sie.

8.3 Fazit: Legendarische Narratologie Legenden sind notwendigerweise final konstruierte Erzählungen, alle Konstituenten, insbesondere die Heiligkeit ihrer Protagonisten sind bereits von vornherein festgelegt und längst Gegenstand kirchlich-ritueller Verehrungspraxis. Dennoch bemühen sich die Legenden – mal mehr, mal weniger deutlich – auf der Handlungsebene einen kohärenten Erzählverlauf und kausale Zusammenhänge aufzuweisen. Heiligkeit kann allerdings nicht als Werden, sondern nur als Sein dargestellt werden, ereignis-, nicht prozesshaft. Das gilt insbesondere für Konversionsereignisse, Bekehrungserlebnisse, die den entscheidenden Umschlag in der Lebensgeschichte eines Heiligen vom ehemaligen Sünder zum gnadenhaft Auserwählten Gottes markieren. Motivationsstrukturen, Begründungs- und Erzählzusammenhänge versagen, das Umschlagsmoment hingegen ist nicht narrativierbar, sondern erst aus der Rückschau heraus erkennbar. Das führt zu narratologischen Besonderheiten, die als spezifisch für hagiographische Erzählungen gelten dürfen. So ist Valerians Bekehrung in der Cäcilienlegende nur als Präsenzeffekt darstellbar, bei dem der erst noch zu erwerbende Glaube bereits vorausgesetzt wird, womit die Erzählung narrative und diskursive Logiken unterläuft. Noch auffälliger sind Finalität der Handlung und Umschlagsmomente in der Dionysiuslegende verbunden: Hier geschieht das Wunder der Blindenheilung durch den Protagonisten schon im Vorgriff auf seine künftige Heiligkeit und markiert gleichzeitig den Moment des Umschlags und der conversio. Es entsteht eine Leerstelle, ein Moment, an dem Dionysius paradoxerweise noch nicht und doch schon längst ein Heiliger ist. Das Wunder der Blindenheilung ersetzt als Ereignis den Prozess eines Heiligwerdens, nur so kann das Umschlagsmoment zur Heiligkeit als Erzählverlauf überhaupt dargestellt werden. Umgekehrt werden diskursive Logiken bei der conversio des Tyburtius in der Cäcilienlegende zwar explizit ausagiert, doch bleiben sie an der Oberfläche, da nicht die vorgeführten Argumentationen, sondern die Gnade Gottes, um die Cäcilia und Valerian gebeten haben, für die Erkenntnis und Bekehrung ausschlaggebend sind. Solche signifikanten Eigenarten einer ‚legendarischen Narratologie‘ sind keineswegs ausschließlich für das Passional zu isolieren, sie bestimmen ebenso die jeweiligen Legenden der Legenda aurea und sind grundsätzlich für fast alle Legenden erkennbar, es handelt sich hierbei um übergeordnete hagiographische Erzählstrategien. Besonders deutlich zeigt sich solch eine Finalität in Märtyrerlegenden, die zwangsläufig im Tod des Protagonisten münden – ansonsten wäre er ja kein verehrungswürdiger Heiliger und es gäbe nichts über ihn zu erzählen. Gerade bei den Apostellegenden nimmt die programmatische Narrativierung der imitatio Christi

388 | Erzählstrategien und Erzählmuster das Ergebnis – die Nachfolge mündet in Heiligkeit und der Aufnahme in die communio sanctorum – bereits vorweg. Solch spezifische Erzählverfahren zeigen sich ähnlich auch in der Magdalenenlegende, hier grenzt sich das Passional allerdings deutlich von anderen Legenden, insbesondere seiner Vorlage ab: Auch hier gilt, dass die eigentliche Umkehr Magdalenas nicht narrativiert werden kann, das Moment des Umschlagens von Sünde und Reue in Gnade und Vergebung wird zwar konstatiert, erzählen kann man aber nur von den daran angelagerten Effekten und Phänomenen, nicht vom Umschlagen selbst. Erneut zeigt sich eine Leerstelle, an der sich die Legende abarbeitet. Dem begegnet das Passional mit der narrativen Strategie einer meditativen Innenschau, einer in Erzähler- und Figurenrede sich überlagernden Reflexion, welche die Reue- und Gnadenwirkung nicht darlegt, sondern verinnerlicht. Sie ist damit den compassio-Einschüben der Passionsschilderung im ersten Buch angeglichen, insbesondere den Marienklagen, die ebenfalls eine meditative Verinnerlichung des Geschehens anstelle narrativer Schilderungen bieten. Da Märtyrerlegenden, wie Feistner gezeigt hat, überwiegend syntagmatisch organisiert sind, sind diese Legenden auch in besonderem Maße finalen Erzählstrukturen unterworfen; das Erzählziel ist schließlich immer das gleiche und steht von vornherein fest. Dagegen weist die paradigmatische Ereignisreihung, welche eine Vielzahl der Bekennerlegenden organisiert, syntagmatische Relationen regelrecht ab; die Nikolausvita als Extrembeispiel lässt dabei sogar die Kategorien von Anfang und Ende fragwürdig erscheinen, zeitliche Relationen werden aufgehoben. Dass hier weder kausale noch finale Erzählstrukturen eine Rolle spielen, überrascht nicht, ist doch im Rahmen der Nikolausvita eine Ereignisfolge kaum ausgeprägt. Die meisten Legenden freilich bewegen sich zwischen diesen beiden Polen syntagmatischer und paradigmatischer Relationen, wobei es Märtyrerlegenden geben kann, die eine lange paradigmatisch organisierte Vorgeschichte besitzen (die Apostellegenden bieten ebenso gute Beispiele dafür wie die zuletzt besprochene Clemenslegende), welche letztlich ins final vorherbestimmte Ziel des Erzählsyntagmas führen, während umgekehrt einige Bekennerlegenden auf der histoire-Ebene einen durchaus syntagmatischen Aufbau aufweisen (vgl. nur die konsequent als Exklusionsgeschichte erzählte Aegidiusvita oder die nachfolgend besprochene Silvesterlegende).58 Gerade die syntagmatisch organisierten Partien der Legendenerzählungen aber weisen explizite Umschlagsmomente auf, um die Handlung an ihr vorgesehenes,

|| 58 In diesem Sinne begreift Hartmut BLEUMER, ‚Historische Narratologie‘? Metalegendarisches Erzählen im ‚Silvester‘ Konrads von Würzburg, in: Harald HAFERLAND u. Matthias MEYER (Hg.), Historische Narratologie. Mediävistische Perspektiven, Berlin/New York 2010, S. 231–261, hier S. 239, Heiligkeit als „eine axiologische Qualität, die in der Zeitlichkeit der Geschichte augenblicklich vergegenwärtigt wird, deren Vergegenwärtigung diese Zeitlichkeit paradoxerweise aber auch aufhebt. Diese Qualität würde also durch die Geschichte syntagmatisch repräsentiert und wäre letztlich doch nicht durch sie zu greifen.“

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final bestimmtes Ziel zu führen, die aber wie gesehen nicht narrativierbar sind und als Leerstellen erscheinen. In hohem Maße kohärenzstiftend wirkt dagegen die Übernahme und förmliche Einverleibung fremder, nichtlegendarischer Erzählstrukturen in einen hagiographischen Kontext. Derartige Inserate außerhagiographischer Erzählmuster gehen allerdings über Beschreibungs- und Darstellungsstrategien der histoire-Ebene noch weiter hinaus und strukturieren die gesamte Legendenhandlung oder zumindest entscheidende Teile davon. Auf diese Weise ist das Handlungsziel nun auch strukturell von vornherein festgelegt, was die Finalitätskonstruktionen unterstützt, indem die durch Erzählschemata vorgegebenen Regelzusammenhänge die Erzählung in eine ganz bestimmte Richtung vorantreiben. Am deutlichsten zeigt sich dies bei Clemens: Hier führt die Struktur des antiken Romans die Handlung an ihr providentielles Ziel, das Erzählmuster der Trennungen und Wiedervereinigungen wird jedoch mit einer christlichen Semantik besetzt und in ein gestuftes System überführt, das die Suche nach den Verwandten mit der Suche nach religiöser Erkenntnis koppelt und die Familienzusammenführung nicht nur als göttliche Fügung erscheinen, sondern in die Taufe aller Beteiligten münden lässt. Damit ist die wiedervereinigte Familie zugleich aufgehoben in einer neuen Familie, nämlich der der Gläubigen, in der mit Clemens der jüngste Sohn, der alle wieder zusammenführt, die Rolle des geistlichen Vaters übernimmt: als Nachfolger Petri auf dem Papststuhl. „Durch Anpassung des Handlungsgeschehens an christliche Formen der Vergesellschaftung erhält der Roman spirituelle Dignität. Durch Bezugnahme des Heilsgeschehens auf das narrative Muster erhält das Heilsgeschehen selbst eine quasi-mythische Dimension.“59 Das Brautwerbungsschema der Ursulalegende gibt dagegen eine Begründung für den Umstand jenes Massenmartyriums, welches mit der Gestalt Ursulas eine aus der Anonymität der Menge herausgehobene Figur erhält, deren Vorbildhaftigkeit auch für spätere Nachfolge beispielhaft ist. Das Schema schreibt sich in der Legende insofern fort, als es auf der Handlungsebene zwar nicht zu Ende geführt, jedoch auf eine gleichsam spirituelle Ebene gehoben wird, in der keine Vereinigung zwischen Werber und Braut, keine Fortführung einer immanenten Genealogie gezeigt wird, sondern die Vereinigung in der Transzendenz, in der Nachfolge Christi, die ihrerseits in der Immanenz eine stetige Nachfolge nicht genealogisch-dynastischer, sondern exemplarisch-heiliger Natur in der imitatio Christi herausfordert. Im Rahmen der Georgslegende organisiert das Märchenschema des Drachenkampfes den ganzen ersten Handlungsteil und schafft dadurch eine Überblendung von ritterlichem Helden und heroisch leidendem Heiligen in der Figur Georgs. Das Inserat dieser Erzählstruktur dürfte nicht zuletzt auf die lange Verehrungstradition

|| 59 So KIENING, Unheilige Familien, S. 37, allgemein zur Verbindung des hellenistischen Romans und der mittelalterlichen Erzählung von Heilsgeschichte.

390 | Erzählstrategien und Erzählmuster reagieren, die Georg schon früh diese Doppelfunktion des Ritterheiligen zugewiesen hat. Die Hereinnahme des Drachenkampfes in den Legendestoff ist nachweislich sekundär erfolgt, das Bild des ritterlichen Drachentöters verdrängt im Spätmittelalter jedoch zusehends das ursprüngliche des Erzmärtyrers. Es ist daher nicht verwunderlich, dass das Passional hier Beschreibungs- und Strukturelemente einander angleicht: Es präsentiert analog zum Drachentöterschema Georg in erster Linie als ritterlich-höfischen Helden, der vor allem aufgrund seiner heroischen Kampfesstärke den Drachen besiegt, erst im zweiten Handlungsteil, der die Fortführung des Schemas abweist, wird er als heiliger Märtyrer dargestellt, wobei in beiden Teilen die jeweils anderen Beschreibungsfelder durchaus auch vorhanden, aber eher im Hintergrund gehalten sind, so dass Georg stets als beides zugleich erscheint: als Held und als Heiliger. Zu konstatieren ist allerdings auch, dass bei der Hereinnahme solcher Erzählmuster weitreichende Umbesetzungen notwendig sind. Georgs Drachenkampf wird umgewertet und stellt innerhalb einer christlich-hagiographischen Semantik die Erlösung einer Stadt vor den dämonischen Kräften der Sünde dar, die der Drache als Strafe Gottes repräsentiert; der Sieg über den Drachen geht einher mit der Taufe der Bevölkerung. Gleiches gilt für die Clemens- und die Ursulalegende, auch hier wird das inserierte Erzählschema entweder abgebrochen oder zumindest nicht vollständig durchgehalten. Am Ende muss das Martyrium der Protagonisten stehen, so kann Ursula nicht den Brautwerber heiraten, Georg nicht die gerettete Königstochter, und Clemens verlässt als Papst und späterer Märtyrer erneut seine weltliche Familie. Die jeweiligen Strukturelemente werden funktionalisiert, um die Legendenhandlung in eine bestimmte Richtung zu treiben, Umschlagsmomente narrativier- oder motivierbar zu machen, die Dialektik von Inklusion und Exklusion zu begründen und die Finalität der Erzählung dadurch zumindest aufzufangen. Denn weil zeitliche und kausale Ordnungsmuster in der Hagiographie vielfach keine Rolle spielen, stabilisieren die Ordnungsmuster jener Erzählstrukturen die Handlungszusammenhänge, jedoch nur bis zu einem gewissen Grad, da die Umbesetzungen und Semantisierungen, die zur Anpassung an den hagiographischen Erzählrahmen nötig sind, ihrerseits wieder Brüche erzeugen, wie sie insbesondere in der Georgslegende offenbar werden, wo Drachenkampf und Martyrium zwar ein Erzählgefüge bilden, jedoch nur mühsam miteinander verbunden werden können.

9 Legenden im Vergleich: Ein Blick über das Passional hinaus Am Ende dieser Untersuchung soll die Perspektive noch einmal erweitert und die in den vorangegangenen Kapiteln erarbeiteten Analysekriterien auf verschiedene Überlieferungsvarianten des gleichen Legendenstoffes übertragen werden. Hierzu sollen insgesamt drei Legenden des Passionals mit anderen mittelalterlichen Versionen (hauptsächlich volkssprachigen) verglichen werden, um die Tragfähigkeit der vorangegangenen Überlegungen und deren Verallgemeinerbarkeit zu überprüfen. Damit rückt die Kontext-Ebene des Rezipientenbezugs wieder stärker in den Vordergrund, denn es muss sich zeigen, ob sich die hier festgemachten narrativen Eigenheiten legendarischen Erzählens auch unter anderen entstehungsgeschichtlichen, referentiellen und rezeptionsästhetischen Bedingungen feststellen lassen. Aus diesem Grunde ist es entscheidend, Legendenversionen miteinander zu vergleichen, die möglichst unabhängig voneinander entstanden sind. Auch wenn sich das Passional in einigen Fällen als relativ eigenständig gegenüber seiner Vorlage erwiesen hat, so ist hierbei doch die Abhängigkeit der Legenden von der Legenda aurea stets mit zu berücksichtigen. Es gilt daher, möglichst weit verbreitete und bekannte hagiographische Stofftraditionen heranzuziehen, um verschiedene, über einen längeren Zeitraum hinweg entstandene Versionen unterschiedlicher Entstehungs- und Überlieferungszusammenhänge zu betrachten. Für die drei im Folgenden Kapitel untersuchten Legenden von Christophorus, Silvester und Elisabeth lassen sich in den Versionen des Passionals bzw. der Legenda aurea zunächst in beinahe idealtypischer Weise die zuvor je einzeln beschriebenen narrativen Strategien hagiographischen Erzählens bündeln. Zudem können gerade für diese Legendenstoffe ganz unterschiedliche Entstehungs- und Rezeptionskontexte, vom Früh- bis zum Spätmittelalter beobachtet werden. Mit Christophorus wird zunächst ein Märtyrer betrachtet, dessen Kult und Legende im Osten aufgekommen ist, dessen Vita dann aber im Westen weitreichenden Umwandlungen unterlag, vor allem dadurch, dass der Heiligengestalt und ihrer Passio eine Vielzahl neuer, z.T. außerhagiographischer Elemente angelagert wurden. Die Silvesterlegende dagegen präsentiert einen vor allem für die römische Westkirche bedeutenden Heiligen, dem die Hagiographie in erster Linie die Bekehrung des römischen Kaisers Konstantin anrechnet und damit die offiziell sanktionierte Etablierung des Christentums im Römischen Reich. Elisabeth von Thüringen ist zuletzt eine Bekennerheilige des Mittelalters, deren Leben und historisches Wirken im Gedächtnis des Rezipientenkreises des Passionals noch lebendig gewesen sein dürfte. Sie ist eine Heilige, deren Kult sich in der Entstehungszeit des Passionals gerade etabliert hatte und eine rasche Ausbreitung fand. Als hochadelige Königstochter und Fürstengemahlin hatte Elisabeth das Interesse eines ritterlichen Laienpublikums besonders erregt, weshalb ihr nicht zuletzt eine große Verehrung im Deutschen Orden entgegengebracht wurde.

392 | Legenden im Vergleich Die Zusammenstellung dieser drei Legenden ist heuristisch; mit ihnen wird versucht, eine möglichst große Bandbreite an Erzählzusammenhängen, Entstehungskontexten und wirkungsgeschichtlichen Gesichtspunkten abzudecken. Gleiches gilt für die zum Vergleich herangezogenen Versionen der einzelnen Legendenstoffe, die sich hauptsächlich auf deutschsprachige Varianten des Mittelalters konzentrieren. So wird für die Silvesterlegende zum einen die früheste mittelhochdeutsche Version als Vergleich herangezogen, die jedoch nicht Bestandteil eines Legendars, sondern vielmehr der aus dem 12. Jh. stammenden Kaiserchronik ist. Daneben soll die literarisierende Bearbeitung Konrads von Würzburg als Vergleichsfolie dienen, die mit über 5000 Versen eine fast schon romanhafte Breite erreicht. Ein Vergleich der Elisabethlegende kann neben dem Passional, dessen Version hier ausnahmsweise nicht auf der Legenda aurea basiert, auf die stilbildende Vita Dietrichs von Apolda zurückgreifen, sodann aber auf das für das spätere Mittelalter in der Volkssprache wohl einflussreichste Werk des Johannes Rothe. Begonnen werden aber soll mit der Christophoruslegende, deren beiden Vergleichstexte unterschiedlicher nicht sein könnten: Auf der einen Seite Walther von Speyer, dessen hochambitioniertes und in seiner bildhaften Ausdrucksweise bisweilen kaum noch verständliches Werk eine der ersten überlieferten Legenden dieses Heiligen im karolingischen Westen darstellt, auf der anderen Seite zwei volkssprachige Versionen, die, nach höfischen und ‚spielmännischen‘ Mustern gestaltet, kaum an ein klerikal gebildetes Publikum gerichtet sind und die bisweilen einen Text außerhalb jeglicher hagiographischer Konventionen bieten. Auch die Auswahl der Vergleichslegenden folgt damit der heuristischen Suche nach möglichst unterschiedlichen Kontexten, in denen der gleiche Heilige, der gleiche Legendenstoff jeweils präsentiert wird. Dabei wird es jedoch nicht möglich sein, für alle diese Versionen eine ausführliche Analyse zu bieten, schon um Redundanzen zu vermeiden. Vielmehr sollen einige wesentliche Punkte herausgegriffen und miteinander verglichen werden, an denen die narrativen Strategien zur Inszenierung von Heiligkeit besonders eindrücklich zu beschreiben sind.

9.1 Christophorus: Märtyrer – Christusträger Der Kult des hl. Christophorus wurde vermutlich im 5. Jh. in Kleinasien etabliert; zumindest ist ihm laut einer Inschrift im Jahr 454 eine Kirche in Chalkedon geweiht worden. Die Legende ist möglicherweise aus den apokryphen Bartholomäusakten hervorgegangen und berichtet von einem Kynokephalen, einem hundeköpfigen Ungeheuer namens Reprobus (‚der Verworfene‘), der nach der Taufe den Namen Christophorus – Christusträger – erhält: ein gängiger Ehrentitel für Märtyrer allgemein. Das Martyrium wird ihm vorausgesagt und er erleidet es bei der Missionierung von Lykien, wo er sich als Märtyrer von unzerstörbarem Leben erweist. Er stirbt durch Enthauptung, nachdem Gott seinen Verehrern Hilfe und seinen Reliquien Wunderkräfte zugesagt hat. Diese in erster Linie als Passio, als Beschreibung des Martyri-

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ums angelegte Legende erfährt dann im abendländischen Westen große Änderungen und Hinzufügungen. Der monströse Charakter des Heiligen wird entschärft, aus dem hundsköpfigen Kynokephalos wird ein ungefüger Riese, vor allem aber tritt nun die ‚Christusträgerlegende‘ hinzu: Der neue Name wird nun nicht mehr im übertragenen Sinn als Ehrentitel, sondern ganz wörtlich verstanden und erhält eine entsprechende Vorgeschichte. Demnach habe der Riese nur dem höchsten Herrn dienen wollen und sei nacheinander beim Kaiser, beim Teufel und schließlich einem Einsiedler gelandet, für den er Furtendienste geleistet und Reisende über einen Fluss getragen habe. Eines Tages sei ihm Christus als kleines Kind erschienen, dessen Last er jedoch in der Mitte des Flusses nicht mehr habe tragen können. Er wird getauft und erhält nun seinen Namen: Christusträger; erst dann schließt sich das Martyrium an, bei dem er sogar noch seinen Richter und alle Umstehenden bekehren kann.1 Neben dem Passional, dessen Text kaum von dem der Legenda aurea abweicht, soll die einzige volkssprachige Redaktion der Legende, die nicht direkt oder indirekt auf die Legenda aurea zurückgeht, untersucht werden. Es handelt sich um drei z.T. stark voneinander abweichende Fassungen, deren älteste, B, wahrscheinlich noch in der ersten Hälfte des 13. Jhs. entstanden ist, mithin also noch vor der Legenda aurea. Während die ins 14. Jh. zu datierende Fassung C schon aufgrund ihrer Kürze wesentliche Erzählelemente der Legende kaum ausführt und deshalb hier nicht weiter betrachtet werden soll, ist vor allem die jüngste, wohl erst im 15. Jh. entstandene Fassung A von Interesse, da diese einen prägnanten Umgang mit finalen Handlungslogiken aufweist.2 Da die Christophorusvita Walthers von Speyer inhalt|| 1 Vgl. Matthias ZENDER, [Art.] Christophorus, in: EM 2, 1979, Sp. 1405–1411. Vgl. zur Christophorusgestalt und -legende, ihrer Kult- und Überlieferungsgeschichte immer noch die umfangreiche Untersuchung von Hans-Friedrich ROSENFELD, Der heilige Christophorus: Seine Verehrung und seine Legenden. Eine Untersuchung zur Kulturgeographie und Legendenbildung des Mittelalters, Leipzig 1937. Die älteste lateinische Überlieferung der Legende stammt aus dem 8. Jh. und ist noch weitgehend als Passio ausgestaltet, kennt also die Vorgeschichte mit dem Christusträgermotiv noch nicht; eine Edition bietet ROSENFELD, Christophorus, S. 520–529. 2 Die Fassung A ist ediert von Anton SCHÖNBACH, in: ZfdA 17 (1874), S. 85–141; B von dems., in: ZfdA 26 (1882), S. 20–84; C bei ROSENFELD, Christophorus, S. 500–519. Die Zuordnung A, B und C ist übernommen ebd., S. 473 u.ö., wobei der entsprechende Artikel des Verfasserlexikons (vgl. HansFriedrich ROSENFELD, [Art.] Christophorus, in: ²VL 1, 1978, Sp. 1230–34) die Literaturangaben von A und B vertauscht; dieser Umstand ist bedauerlicherweise auch im Nachtragsband des VL nicht korrigiert worden. Darauf sei eigens hingewiesen, zumal der Herausgeber SCHÖNBACH die Bezeichnung A und B ebenfalls gerade umgekehrt verwendet. ROSENFELD, Christophorus, S. 473–498, hat die drei Fassungen einer eingehenden Beschreibung sowie einem Vergleich untereinander und mit der Legenda aurea unterzogen, sich dabei aber hauptsächlich auf die Motive des Martyriums konzentriert, um mögliche Vorstufen, Quellen und Abhängigkeitsverhältnisse zu eruieren; seine motivund quellengeschichtlich orientierten Überlegungen bleiben daher notwendigerweise weitgehend deskriptiv. Zur Datierung der einzelnen Texte vgl. ebd. Einen Vergleich der drei mhd. Versionen mit den Legenden der Legenda aurea, des Passionals und Der Heiligen Leben hat mit Blick auf das Weg-

394 | Legenden im Vergleich lich, konzeptuell und narrativ so stark von den anderen Fassungen abweicht, soll diese gesondert besprochen werden. Auffällig ist bereits die unterschiedliche Verwendung des Namens. Das Passional lässt zwar wie üblich die Namensetymologie der Legenda aurea aus, gibt aber eine kurze Erklärung zum Namen Reprobus, den der Heilige vor seiner Taufe innehat (daz sprichet ungeneme; III 345, 7) und der auf seine Riesengestalt bezogen wird, denn er was grulich getân (III 345, 18). Die mhd. Einzelfassungen nennen den Riesen dagegen Offerus (bzw. Offorus), den ‚Anbieter‘ (ein Zug, der auch zum Dienstmotiv passt), vor allem aber behalten sie diese Namensform bis zur Taufe, ab der sie dann zu Christophorus übergehen, konsequent bei. Legenda aurea wie Passional erwähnen dagegen nur eingangs den (aus der älteren passio übernommenen) Namen Reprobus, gehen dann aber sofort zur bekannten Namensform Christophorus über, den der Heilige doch erst bei der Taufe erhält, welche freilich Passional und Legenda aurea ohnehin nicht darstellen. Bereits hier zeigen also die Legendar-Versionen eine deutlichere Finalität, die sich später dann auch in der Wegstruktur bei der Suche nach dem mächtigsten Herrscher bemerkbar macht. Hinzu kommt, dass die Motivation für diese Suche im Passional ebenso unklar bleibt wie die genaue Herkunft des Protagonisten. Hier sind die Einzelfassungen ausführlicher: Sie schildern Offerus in einer adelig-höfischen Umgebung, wobei höfisches Beschreibungsinventar insbesondere in der älteren Fassung B den gesamten Text prägt.3 Vor allem die Version A jedoch verschafft dem riesenhaften Protagonisten eine ausführliche Vorgeschichte, die so im Passional fehlt. Schon der Vater wird als

|| Modell Corinna DÖRRICH, Konfigurationen des Weges in der Christophorus-Legende, in: ZfdPh 132 (2013), S. 353–382, unternommen. 3 Schon die Vorstellung des Protagonisten setzt mit den üblichen Merkmalen höfischer Dichtung ein: Ez wuohs von arte ein edel heiden (B 55; vgl. ähnlich den Erzähleinsatz der Pilatusvita im Passional, Kap. 7.1, v.a. Anm. 18). Bei seinem Dienst kommt es Offerus stets darauf an, höfische Ehre zu erringen: des name dûhte in lobebaere (B 76) heißt es z.B. vom Grafen, dem er seinen Dienst anbietet. Auch der Einsiedler unterweist ihn später nicht nur in christlichen, sondern auch höfischen Tugenden: wis diemüetec milte zühtec staete (B 685), und der seinen Fährdienst verrichtende Offerus wird nicht etwa als Novize bezeichnet, sondern als sarjant (B 709). Offerus mag zwar ein Riese sein, der Fährdienst macht ihn in den Augen des Erzählers aber dennoch besonders tugendhaft, und dass diese konträren Umstände durchaus zusammenpassen, macht er nicht zuletzt an den beiden Kontrastfiguren des höfischen Romans fest, Keie und Artus (vgl. B 811). Die Parallelen zur höfischen Literatur lassen sich selbst in der Martyriumsschilderung beobachten, wenn etwa Christophorus betont, ausschließlich Gott könne saelde êre und leben (B 1177) verleihen. Zum höfischen Vokabular des Erzählers kommt der allerdings recht unspezifische Gebrauch von aventiure, so z.B. B 90, 323, in V. 316 gar der saelden âventiure. Die Fülle dieser höfischen Elemente hat nicht zuletzt Josef SZÖVÉRFFY, Die Verhöfischung der mittelalterlichen Legende: Ein Beitrag zur Christophorus-Frage, in: ders., Germanistische Abhandlungen, Brookline/MA u.a. 1977, S. 75–81 dazu veranlasst, das Dienstmotiv von Wolframs Parzival her inspiriert zu sehen (s.u.). Sicher nachweisen lässt sich allerdings nur die Kenntnis von Sentenzen des Freidank und aus dem Welschen Gast Thomasins von Zerkelare, vgl. ROSENFELD, [Art.] Christophorus, Sp. 1231.

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mächtiger Herrscher eingeführt: dem was ein chunichrich undertan./ nach haidnischem sit/ volgte im manig tausent ritter mit (A 48–50), Offorus’ Geburt wiederum geht die Bitte der kinderlosen Königin an die Jungfrau Maria voraus. Wenngleich heidnisch, erhält Offorus damit einerseits eine perfekte adelige Genealogie, die ihn zum Stammhalter eines mächtigen Königs macht, andererseits resultiert schon seine Geburt aus der Gnade Gottes und Fürsprache Marias, so dass seine Existenz von Beginn an unter dem Zeichen göttlicher Vorsehung steht. Auch die wunderbare Riesenhaftigkeit wird gleichermaßen unter göttliche Vorsehung gestellt: also het in got vberladen/ mit chreften, da mit er hernach/ dient got vil manigen tag (A 198–200). Wenn Offorus sich dann aufmacht, dem Höchsten zu dienen, ist der Fluchtpunkt durch diese Aussage schon festgelegt. Dennoch – oder gerade deswegen, um nämlich die schon früh angekündigte Finalität der Handlung wieder einzudämmen – ist dieser Auszug ausführlich motiviert. Der Dienstwunsch entsteht in Offorus ausgerechnet dadurch, dass sein Vater eine Versammlung all seiner Vasallen einberuft, da der junge Königssohn seine künftigen Untertanen kennen lernen soll; der aber hebt sich schon allein darin von den übrigen Rittern ab, dass er zu Fuß kommt, weil ihn ein Pferd überhaupt nicht tragen kann. Trotz seiner herausragenden Herkunft wird somit eine Differenz zwischen dem übrigen Adel und Offorus aufgebaut, der sich prompt von diesem lossagt. Das geschieht zunächst in einem längeren Monolog, dann in einem Gespräch mit dem Vater, der ihm das Ansinnen rundweg verbietet, da er nicht zuletzt die Riesenstärke seines Sohnes als militärischen Faktor nicht einbüßen will. Die adelig-höfischen Elemente und die genealogischen Vorzüge erweisen sich damit als transitorisches Element, sie werden sogleich wieder abgebogen, denn der Adel ist ans Heidentum geknüpft und die Genealogie wird Christophorus gerade nicht fortsetzen. Damit wird auch schon von Beginn an das Ziel des in der Wegmetapher konkretisierten Lebenswegs offensichtlich gemacht. Ähnlich wie bei Clemens, wo die Suche nach religiöser Erkenntnis mit der Suche nach der verschollenen Familie verbunden wird, ist auch hier die Suche nach dem höchsten und mächtigsten Herrscher letztlich eine Suche nach Gott, der für den Rezipienten der Legende selbstverständlich der mächtigste Herrscher über allen ist. Die Wanderschaft des Riesen ist somit nicht nur ein Weg zu Gott, sondern zugleich ein metaphorischer Lebensweg, die Suche nach dem rechten Glauben ist die Suche nach dem größten Herrn und wird dargestellt als Weg, den der Protagonist zu beschreiten hat. Ausdrücklich spricht das Passional, das ohne nennenswerte Vorgeschichte gleich mit dieser Suche des Protagonisten einsetzt, von einer Straße des Glaubens: Rechtes gelouben bant Cristoforo was unerkant und welch die straze were nach des gelouben mere. (III 346, 27–30)

396 | Legenden im Vergleich Die einzelnen Stationen, die sich auftun, sind Alternativen des Lebenswegs und werden (ohne Vorbild der Legenda aurea) auch konkret benannt: Weltliche Herrschaft, Irrung und Tod, Glaube und Heil. Als er den König verlässt und sich dem Teufel als neuen Herrn anschließen will, drückt Christophorus dies im Passional entsprechend deutlich aus: ich wante, ich hete mir erkorn/ an dir der werlte herschaft (III 346, 62f.). Die Metaphorik des Lebensweges setzt sich dabei fort, denn die Abkehr von der Welt ist zwar ebenso eine Exklusion, wird jedoch als Verlassen des rechten Weges dargestellt: der irrende man (III 346, 78) Christophorus begegnet dem Teufel uf einer wiltnisse (III 346, 83; vgl. LA 96, 17: Cum autem per quandam solitudinem pergeret: Einst kam er in eine Einöde), und als jener einmal einem Wegkreuz ausweicht, führt er Christophorus uf einen unwec vil hart (III 347, 31). Der Weg fort vom Kreuz und von Christus ist ein ‚Unweg‘, dessen Falschheit Christophorus zwar vor allem daran erkennt, dass [...] mit leitlicher dol/ steine unde ronen vol/ was die wuste heide (III 347, 33–35), doch die Metapher bleibt klar. Indem er erkennt, dass Christus der mächtigste Herrscher der Welt ist, verlässt Christophorus den Umweg auch wieder, wobei er dem Teufel seine Ohnmacht verdeutlicht: sit din gewalt ist nicht behaft/ uber aller werlde kraft (III 347, 91f.). Abschluss und Zielpunkt dieses Weges ist die Suche nach Jesus als dem mächtigsten Herrscher, den der Riese bei dem Einsiedler zu finden hofft (der Eremit berichtet ihm, wie riche ein kunic were,/ dem himel und der erden obe; III 348, 28f.), der jedoch vielmehr ihn findet, indem Christophorus voller demut (III 348, 84; dieses Stichwort fehlt in der Legenda aurea) die Leute über die Furt trägt, wo er dann Christus begegnet.4 Diese auf das peregriniato-Modell verweisende Wegmetaphorik kennzeichnet ebenso die Einzelüberlieferungen, wobei insbesondere in A die Spannung zwischen kontingentem Zufall und auf göttliche Fügung beruhender Finalität deutlich wird.5 Die ohnehin nur oberflächlich motivierte Suche nach dem mächtigsten Herren verschlägt auch hier Offorus auf unbekannte Wege (die wege warn im vnerchande; A 338), bis er auf einen Pfad gelangt, chaum als prait als ein steg [...] der trueg in tief in den wald (A 356 u. 359). Keineswegs zielstrebig wie in der Legenda aurea und dem Passional, sondern in seiner Kontingenz geradezu exponiert trifft der Riese, der schon längst den weg het verlorn (A 430) auf die Jagdgesellschaft des Königs; die dahinter aufscheinende Finalität göttlicher Providenz wird nur durch den Erzählerkommentar deutlich, der die Richtungswechsel des Riesen zweimal als göttliche Eingebung bezeichnet (als in der hailig gaist lert; A 357 u. 388). Weniger zufällig ist die Begegnung mit dem Teufel. Auch hier kehrt Offorus sich vom ‚rechten‘ Weg ab und wendet sich wiederum in den wilden Wald, wo ihm der Teufel entgegenkommt. Sagt er || 4 Die Finalität des Weges betont auch DÖRRICH, Konfigurationen, S. 358, die zudem konstatiert, dass sich hier „parallel auf der Handlungsebene und der Ebene des Diskurses ein Prozess der semantischen Verschiebung und der sukzessiven Enthüllung des Ziels der Suche“ (ebd.) narrativ vollziehe. 5 Zum Weg als Erkenntnismodell und metaphorischen Lebensweg in A vgl. ausführlich ebd., S. 367ff.

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sich dann von ihm los und muss der Teufel unter Schwefelgestank verschwinden, so bedeutet das, dass er wider auf den weg cham (A 672), und dieser Weg führt nun direkt zum Einsiedler und zu Christus.6 In der Begegnung mit Christus erfüllt sich nun die Finalität dieser Wegstruktur, indem das Stigma des niederen Fährdienstes, das Christophorus in demütigem Dienst auf sich genommen hat, umschlägt in das Charisma des von Christus Berufenen und Begnadeten. Dieses Umschlagsmoment bildet den eigentlichen Kern der Legende, der im Mittelalter die Bedeutung der Passio des Heiligen bei weitem übersteigt, wie sich nicht zuletzt an den zahlreichen ikonographischen Darstellungen zeigt.7 Im anschließend erzählten Martyrium bestätigt sich daher nur, was der Weg zu Christus bereits gezeigt hat, das Ziel dieses Weges aber steht von vornherein fest, auch wenn dabei Um- bzw. ‚Unwege‘ in Kauf genommen werden müssen. Entsprechend eindrucksvoll inszenieren die Legenden denn auch diesen Umschlagspunkt in der Begegnung mit Christus, wobei auffällig ist, dass Legenda aurea und Passional die eigentliche Taufe des heidnischen Riesen gar nicht mehr auserzählen: Nachdem Christophorus eine Zeitlang seinen Fährdienst an den Menschen verrichtet hat, hört er eines Nachts die Stimme eines Kindes, das übers Wasser getragen werden möchte. Doch in der Mitte des Flusses angelangt wird dem sonst so starken Riesen die Last auf seinen Schultern mit einem Mal so schwer, dass er fast ertrinkt und nur mit Mühe noch ans andere Ufer gelangt, wie es das Passional formuliert: do er wol in daz wazzer quam, do wuchs im groz ungemach. daz wazzer er ufstigen sach an grozen unden genuc. daz kleine kint, daz er truc dructe in mit voller swere, rechte als ob ez were gar ein blistucke. (III 349, 52–59)

|| 6 Eine Besonderheit der von deutlich höfischen Einflüssen geprägten Fassung B ist dabei die Erweiterung der Reihe der Dienste, die der Riese leistet: Erst dient er einem Ritter, dann einem Grafen, einem König, später dem Kaiser, schließlich dem Papst und zuletzt dem Teufel – erst danach macht er sich auf den Weg, Christus zu suchen und trifft den Einsiedler. Dadurch wird der künftige Heilige, trotz seiner Riesengestalt edel und hochgeboren, zunächst durch die ‚Aufstiegskarriere‘ des mittelalterlichen Adels geschickt, die es mit dem Dienst an Gott schließlich zu verlassen gilt, wobei es nicht einer gewissen Komik entbehrt, dass zwar ganz oben in dieser Hierarchie der Papst steht, anschließend jedoch noch der Teufel folgt. Zur besonderen Akzentuierung der Sucher-Geschichte in B vgl. DÖRRICH, Konfigurationen, S. 362–364. 7 Ähnlich wie der ab dem Spätmittelalter ikonographisch fast ausschließlich als Drachentöter dargestellte Georg zeigen die mittelalterlichen bildlichen Darstellungen Christophorus fast immer als den Christusträger, das für die frühere Tradition, besonders in der Ostkirche so bedeutsame Martyrium gerät dagegen mehr und mehr in den Hintergrund.

398 | Legenden im Vergleich Während sich der Riese noch über die plötzliche Last auf seinen Schultern wundert, die ihm vorkommt, als hete ich uf mich die werlt genumen (III 349, 80), erklärt ihm das Kind, er habe nicht nur getragen die werlt gemeine,/ sunder ouch den, des wiser rat/ alle die werlt gemachet hat (III 349, 90–92) und eröffnet ihm seine wahre Identität: ich bin ez Crist/ der din got und din kunic ist (III 349, 95f.). Der metaphorische Lebensweg ist ans Ziel gelangt, die Suche nach dem grosten herren [...]/ den die werlt indert hat (III 345, 28f.) ist bei Christus, der Gott und König zugleich ist, zu Ende. Jesus freilich lässt sich nicht finden, vielmehr erwählt er die Menschen, was wiederum nur durch Nachfolgebereitschaft und imitatio Christi möglich ist. Das nun folgende Martyrium ist insofern vor allem eine Spiegelung und endgültige Bestätigung des hier bereits ans Ende gelangten Weges: Die Selbststigmatisierung im demütigen Fährdienst, vollends vor Augen geführt im Christusträger, an dem gezeigt wird, dass selbst der stärkste Riese von Gottes Macht niedergedrückt wird, erweist sich ein weiteres Mal im Martyrium, zu dem Christophorus, wiederum selbststigmatisierend, umstandslos bereit ist. In der Doppelung erweist sich auch die doppelte Bedeutung des Namens, die wörtlich und im übertragenen Sinne in Christophorus zusammenfällt und beide Male auf das Gleiche, Erwählung und Nachfolge Christi, hinausläuft. Doch gerade hier wird die finale Logik der Erzählung deutlich, denn nicht nur der Erzähler des Passionals verwendet von Beginn an den Namen Christophorus statt Reprobus, auch Christus selbst spricht ihn sofort mit diesem Namen an – er hat Christophorus schon längst erwählt, der Ehrentitel des Märtyrers kommt ihm zu, noch bevor er das Martyrium selbst erleidet, noch bevor er ganz konkret Christus trägt. Das Umschlagsmoment in der Begegnung mit Christus unterliegt in der Fassung A der Einzellegenden allerdings besonderen narrativen Bedingungen. Hier ist die Christusträgerszene als ausdrückliche Prüfung Gottes inszeniert, (got wolt in versuchen mer; A 944), indem die Erzählung das Kind am anderen Ufer verortet und Offorus dadurch dreimal den Hochwasser führenden Fluss überqueren lässt, bis er das Kind findet, das er dann auch noch bei Dunkelheit hinübertragen muss. Erst auf diese Weise erchant der suzz Jesu Christ,/ daz Offorus an argen list/ mit dienst was im vndertan (A 1047–49). Auch hier gerät Offorus durch die schwere Last auf seinen Schultern in große Bedrängnis, die Legende schließt in dieser Szene jedoch anders als Legenda aurea und Passional Taufe und Namensgebung mit ein, indem Christus den schwankenden Riesen nun vollends unter Wasser drückt und zudem einen neuen Namen gibt, was der Text auf signifikante Weise zur Geltung bringt: e wastu genant Offorus, nu soltu haizzen Christofforus, dar umb daz ich Christus pin gib ich dir meinen nam zu dem deinen hin, daz du solt gewaltiglich mit mir besitzen daz himelrich. also gab im got selber den tauf:

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des meres vnde mit dem lauf vberguzzen in da an der stet. (A 1107–15)

Die unmittelbare Teilhabe am Göttlichen, am Heiligen wird kenntlich gemacht über die Zusammenführung der beiden Namen Offorus und Christus, so dass Signifikant und Signifikat an dieser Stelle zusammenfallen. Geschieht solches in der IgnatiusLegende durch die sich konkretisierenden Schriftzeichen im Herzen – auch dort geht es um den Namen Christi – so erlangt der Name hier unmittelbar Bedeutung, indem Offorus zu seinem Namen nun zusätzlich den Christi erhält. Auf diese Weise wird aber nicht nur sein Name, sondern ein Teil seiner selbst mit Christus vereinigt, was sich in der Christusnachfolge im Martyrium anschließend auch erweisen wird. Auf diese Weise führt die Legende narrativ eine zumindest partielle Identifikation mit Christus vor, die es diskursiv nicht geben kann; die Christusidentität erfolgt über die Namensidentität, die daher auch nur von Christus selbst gespendet werden kann: Er ist es, der in der Taufe seinen Namen an Offorus weitergibt. Immanenz schlägt unmittelbar in Transzendenz um, dies jedoch nicht etwa prozesshaft und schon gar nicht durch eine Art ‚innere‘ Entwicklung des Protagonisten, sondern es wird von außen an ihn herangetragen. Zu dieser Namenskoinzidenz tritt ein weiterer Zug der Erzählung, die ihren Protagonisten bis zu diesem Zeitpunkt hin zwar stets als von Gott geleitet, als tugendsam und gutherzig geschildert hat, aber eben auch als Offorus, den heidnischen Riesen. Er wird mit den unterschiedlichsten Epitheta belegt, durchaus auch selig (z.B. A 411; 740), vil suz (A 490) oder edel (A 739), die seine künftige Erwähltheit bereits andeuten, doch erst mit dem Umschlagsmoment der Taufe wird er in der Erzählung fortan nicht nur konsequent Christophorus genannt; ebenso konsequent wie er zuvor ausschließlich Offorus heißt wird er genau ab diesem Zeitpunkt auch durchgängig heilig genannt bzw. mit dem Epitheton sand Christofforus (A 1135, auch 1132) belegt. Bereits unmittelbar nach Taufe und Namenswechsel bemerkt der Erzähler: ze hant verswant Jesus/ von dem heiligen Christofforus (A 1125f.). Anders als das Passional, das mit der durchgehenden Verwendung des Namens Christophorus das Ziel seines Lebensweges von Anfang an verdeutlicht, wird hier die Taufe und die damit verbundene Namenskoinzidenz ganz konkret als Umschlagspunkt zur Heiligkeit angesehen, die Partizipation an der Heiligkeit Christi erfolgt schon hier, und nicht erst im imitatio-Akt des Martyriums, der diese lediglich bestätigt. Sinnfällig wird das auch in der Anbetungsgeste des Einsiedlers, der vor Christophorus auf die Knie fällt und damit dessen Auserwähltheit bezeugt. Der Dienst an Gott als dem Höchsten aller Herrscher, der in einer narrativen Umsetzung des peregrinatio-Modells8 Christophorus’ Lebensweg bestimmt hat, voll|| 8 DÖRRICH, Konfigurationen, S. 374, sieht den Weg in A „nicht modellhaft vorgeprägt, sondern – als Weg in der Welt – orientierungsfrei, unbestimmt; zugleich ist das Ziel des Weges – als Weg aus der Welt – […] von vornherein determiniert“: Erneut wird die Basisopposition von Inklusion und Exklu-

400 | Legenden im Vergleich endet sich im zweiten Teil der Legende dann in Mission und Martyrium, zu denen der Heilige nun unmittelbar anschließend geschickt wird. Dieser mehr oder weniger schlecht motivierte9 Auszug nach Lykien, wo er schließlich das Martyrium erleidet, ist in eher konventionellen hagiographischen Mustern dargestellt, die Legende folgt von nun an dem bekannten Basisnexus von Verhör – Haft – Folter und Tod, wie ihn schon die frühesten Fassungen der lateinischen passio präsentieren. Hervorstechende Motive sind der Gewaltverzicht (Christophorus lässt sich trotz seiner Riesenkräfte widerstandslos festnehmen) sowie der misslungene Versuch, ihn mit Prostituierten in Versuchung zu führen, die sich stattdessen ebenso bekehren. Im Martyrium selbst erweist er sich als Märtyrer von unzerstörbarem Leben, Feuer und ein glühender Eisenhelm können ihm ebensowenig anhaben wie die Pfeile von vierhundert Kriegern. Gerade in dieser hagiographischen Konventionalität sind aber die finalen Erzähllogiken der Legende besonders deutlich zu erkennen, was sich vor allem in der Unzerstörbarkeit des Heiligen zeigt, den keiner der auf in abgeschossenen Pfeile trifft, die stattdessen bewegungslos in der Luft verharren. Mehr noch, einer der Pfeile fährt dem König in die Augen, so dass dieser erblindet – wieder die gängige Metaphorik, die auch in der Longinuslegende (vgl. Kap. 6.1.1) begegnet. Nun sagt Christophorus die Wundertätigkeit seines eigenen, im Martyrium vergossenen Blutes voraus, indem er dem König empfiehlt, ihn zu enthaupten, das dabei geflossene Blut mit Erde zu vermischen und sich auf die Augen zu streichen; natürlich wird der König dadurch geheilt und bekehrt sich mitsamt seinem Volk. Anders als bei Longinus ist es hier nicht die Fürsprache, sondern die heilkräftige, quasi-magische Wirkung des im Martyrium vergossenen Blutes, das Heilung schafft. Dieses gewissermaßen reliquiären Status seines Blutes, der das Charisma und die virtus des Heiligen nach seinem Tode speichert, ist sich Christophorus jedoch bereits zu Lebzeiten bewusst. Unmittelbare Realpräsenz des Heiligen in seinen Reliquien und eine Form von Blutmagie werden hier übereinandergeblendet. Der Heilige allerdings teilt mit

|| sion erkennbar. Vgl. zum peregrinatio-Modell in der religiösen Literatur des Mittelalters zuletzt WEITBRECHT, Aus der Welt, S. 17–19, mit weiteren Literaturhinweisen. 9 Passional und Legenda aurea setzen, der Passio folgend, gar keine Motivation, sondern lassen im frischgetauften Christophorus lediglich den Wunsch entstehen, auf Mission auszuziehen. In A lässt Christus das Wasser austrocknen, so dass der Fährdienst überflüssig wird und Christophorus seinen Dienst an Gott anderweitig ausführen muss; in B fordert er ihn nach der Taufe direkt zum Martyrium auf. Es zeigt sich überall die Schwierigkeit, nach dem an sich ja bereits vollendeten Lebensweg den Anschluss ans hagiographisch erforderliche Martyrium zu fassen. Wie sehr sich besonders im Spätmittelalter dann das Interesse auf die – auch ikonographisch absolut dominierende – Vorgeschichte des Christusträgers konzentriert, zeigt das Verhältnis von lediglich 430 Versen für das Martyrium gegenüber 1200 Versen für die Vorgeschichte in der späten Fassung A, wogegen B immerhin beiden etwa zu gleichen Teilen Raum gibt; noch im Passional hat die Vorgeschichte gegenüber dem Martyrium nur ein knappes Übergewicht. Zur Überleitung in den ‚Passionsweg‘ in den verschiedenen Fassungen vgl. DÖRRICH, Konfigurationen, S. 381f.

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dem Rezipienten der Erzählung das Wissen über die Wunderkraft seiner Reliquien. Kausallogische Zusammenhänge können vernachlässigt werden, da Christophorus schon zuvor durch Christus auserwählt wurde und sich seine Heiligkeit im Martyrium nur endgültig erweisen wird. Die das Martyrium ohnehin knapp abhandelnde Version A lässt dieses Blutwunder weg (nicht so B), jedoch erklärt sich hier Christophorus erst dann zum Sterben bereit, als ihm eine göttliche Stimme das Privileg zugesichert hat, dass künftig Menschen, die sich durchs Gebet an ihn wenden, vor bestimmten Übeln und Krankheiten bewahrt werden können.10 Der Text bestätigt, was nicht verwundert, Christophorus’ Funktion als Nothelfer, doch er tut das auf der Handlungsebene und zu einem Zeitpunkt, als ihm eine solche eigentlich noch gar nicht zukäme, da er ja erst nach seinem Märtyrertod in die communio sanctorum aufgenommen wird, was die Legende ebenfalls eindrucksvoll inszeniert. Auf diese Weise wird Christophorus gewissermaßen qua göttlicher Kraft als Nothelfer überhaupt erst eingesetzt, überspitzt formuliert hätte man es dann mit einem christlichen Begründungsmythos des Nothelfers bzw. seines Kultes zu tun. Wie sehr die erst spät hinzugekommene Vorgeschichte der ‚Christusträgerlegende‘ Aussageinhalte und Erzählstrukturen der Christophoruslegende bestimmt und von Anfang an die Funktion übernimmt, die Heiligkeit des Protagonisten noch weit vor dem eigentlichen Martyrium zu erweisen, zeigt sich bei der Betrachtung solch früher Versionen, welche diese Vorgeschichte noch nicht kennen, sondern nur in wenigen Worten die Kindheit des Riesen ausführen. Hierbei sind jedoch auch die narrativen Operationsformen einer Legendenkommunikation entscheidend, in der sich das Selbstverständnis einer frühmittelalterlichen Bildungselite spiegelt. Die im ausgehenden 10. Jh. entstandene Christophorus-Vita Walthers von Speyer verrät dabei vor allem durch die erhaltene Widmung und die Praefacio außerordentlich viel über ihren Entstehungs- und Rezeptionskontext. Zusammengefasst stellt sich die etwas kuriose Genese und Überlieferungsgeschichte so dar: Hazecha, die Thesauraria des Klosters Quedlinburg, hatte offenbar eine metrische Christophorusvita verfasst und ihrem ehemaligen Lehrer, dem Speyrer Bischof Balderich, zur Durchsicht geschickt, wo sie jedoch verloren gegangen war. Balderich beauftragte darauf den jungen Subdiakon und Lehrer an der Speyrer Domschule Walther, eine solche nochmals zu verfassen, und zwar sowohl in Prosa als auch in Versen. Vor allem letztere in äußerst kunstvoller und sehr dunkler, metaphernreicher Sprache gehaltene Fassung in leonischen Hexametern scheint Walther als sein eigentliches Hauptwerk verstanden zu haben. Als Mitglieder der Domschule in Salzburg sich an ihn mit der Bitte um eine Abschrift wandten, schickte ihnen Walther allerdings nicht nur die || 10 Beide Versionen lassen Christophorus vor seiner Enthauptung ausdrücklich die bekannten Nothelferfunktionen aufzählen, für die ihn die Menschen künftig anrufen können, darunter die Rettung vor Feuer und Hilfe auf dem Wasser sowie nicht zuletzt Hilfe gegen den plötzlichen Tod, vgl. A 1567–1609 u. B 1855–1870.

402 | Legenden im Vergleich Hexameterfassung, sondern ebenso noch die Prosaversion einschließlich eines Widmungsbriefes an Hazecha, so dass Walthers Doppelwerk mitsamt der für den Entstehungszusammenhang aufschlussreichen Schriften in einem gemeinsamen Codex überliefert ist.11 Walthers Christophoruslegende, zumindest sein Hexameter-Werk, richtet sich damit offenbar von vornherein an eine „ausgesuchte Bildungselite“12, zumal sich das erste der sechs Bücher seines Werks gar nicht mit Christophorus, sondern der eigenen Vita des Verfassers Walther befasst. Nicht zuletzt aufgrund der darin nachvollziehbaren mittelalterlichen Schul- und Unterrichtsverhältnisse hat gerade dieses erste Buch besonderes Forschungsinteresse nach sich gezogen. Die Hexameterfassung kann daher auch kaum für einen vornehmlich religiösen Gebrauch bestimmt gewesen sein, im Gegensatz zur Prosafassung ist sie auch nur unikal überliefert. Dies dürfte in erster Linie mit der „hochgradig elitäre[n] Vermittlungsweise“13 dieser Legende zu tun haben, in der Walther nicht nur eine ausgesuchte Selbstdarstellung bietet, sondern die von einem z.T. kaum mehr verständlichen und extrem anspielungsreichen Sprachduktus geprägt ist, der stilistisch an den Vorbildern der antiken Literatur (insbesondere Vergil, aber auch Horaz, Statius, Lucan oder Cicero) ausgerichtet ist, wodurch der Verfasser seine ganze Gelehrsamkeit zu demonstrieren versucht.14 Auf diese Weise entsteht ein extrem hermetischer Text, dessen von Bildern und Metaphern überbordende Sprache kaum mehr verständlich ist, so dass die Künstlichkeit des Textes in den Vordergrund gedrängt wird, hinter deren ornatus die eigentliche Handlung zurücktritt. Umso auffälliger ist es, dass Walther, anders als in der relativ konventionellen Prosa, in der Hexameterfassung nicht mit der Kindheit seines Protagonisten beginnt, um dann einen handlungslogischen Verlauf aufzubauen, sondern bereits mit der Beschreibung des heidnischen Königreichs des Dagnus einsetzt, in dem der Heilige sein Martyrium erleidet.15 Nur in einer Rückblende wird auf die Vorgeschichte geblickt, in der die außergewöhnliche Jugend des Protagonisten skizziert wird. Auch hier wird dieser zunächst noch Reprobus genannt, wobei zwar sein Unglaube und seine ungeheuerliche Erscheinung betont, seine Erwähltheit aber ebenfalls schon angedeutet wird:

|| 11 Als Text liegt zugrunde: Walther von Speyer, in: Die lateinischen Dichter des deutschen Mittelalters, Bd. V/1: Ottonenzeit. Unter Mitarbeit v. Norbert FICKERMANN hg. v. Karl STRECKER, Berlin 1937. Vgl. zu den Hintergründen der Entstehungsgeschichte die Einleitung zur Edition von STRECKER, S. 1–9, zu Walther von Speyer vgl. auch FEISTNER, Typologie, S. 67–74. 12 FEISTNER, Typologie, S. 70. 13 Ebd, S. 68. 14 Vgl. ebd., S. 71f., zu den einzelnen antiken Autoren ausführlicher STRECKER, Einleitung zur Edition, S. 7f. Das reicht bis auf die Ebene des Wortschatzes, wo Walther immer wieder unter Hinzuziehung von Glossaren spezielles, bewusst außergewöhnliches Vokabular verwendet. 15 Vgl. FEISTNER, Typologie, S. 73.

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Hunc quondam Reprobum dixit concordia patrum, Non signo vicii, sed conditione tribuli; Namque ubi nutricem cunarum depulit annus, Corde senex, aetate tener, sermone pudicus, Indolis egregie micuit puer et reprobatis Nequiciae maculis proprii fit nominis heres. (Liber II, 13–18) (Einst nannten die Väter diesen übereinstimmend Reprobus – den Verworfenen –, und zwar nicht zum Zeichen für einen Fehler, sondern aufgrund der Herkunftsumstände. Denn sobald ein Lebensjahr die Wiegenamme vertrieben hatte, stach der vorzüglich begabte Junge – innerlich reif, aber noch ganz jung, keineswegs vorlaut – hervor und erwirbt, nachdem er die Schandmale der Liederlichkeit zurückgewiesen hat, seinen Namen zum zweiten Mal.)16

Im Zuge einer solch hermetischen Erzählweise ist aber vor allem die Taufe und Bekehrung des Reprobus ganz anderen Darstellungskriterien unterworfen. In den Mittelpunkt des zweiten Buches stellt Walther so das retrospektiv präsentierte Gespräch des Reprobus mit einem Engel, der diesen in einer längeren Rede zum Glauben führt und die Märtyrerpalme verspricht: In cruce suspensum pro te cognoscito Iesum (Liber II, 126). Nach dieser Prophezeiung ereignet sich die eigentliche conversio, und bereits ab diesen Zeitpunkt wird der Heilige im Text Christophorus genannt (vgl. Liber II, 129). Entscheidend ist also vor allem der innere Wandel, der sich äußerlich dadurch ausdrückt, dass Christophorus sich im Gebet an Gott wendet, der Weg dorthin wird jedoch nicht nachvollzogen. Die dann folgende Taufe ist wie in der Prosafassung durchaus als göttliches Ereignis dargestellt: Ist es in den mhd. Versfassungen Christus persönlich, der den Riesen in der Mitte des Flusses unter Wasser drückt und so die Taufe vollzieht, so ist es hier ein Regen vom Himmel, wodurch die Taufe ebenfalls ganz bildlich durch Gott selbst geschieht, wie es auch der in der ‚Wir-Form‘ sprechende Engel indirekt ausdrückt: Ecce tibi salubrem promissi luminis imbrem/ Contulimus (Liber II, 136f.: Du sollst erkennen, dass Jesus für Dich/ an Deiner statt gekreuzigt wurde. Schau her, wir haben Dir das heilbringende Tau des versprochenen Lichtes gebracht). Anders als in den zuvor besprochenen Versionen ist hier nicht die Taufe oder das Martyrium der Umschlagspunkt, sondern die zuvor geschehene und für die Taufe an sich unabdingbare conversio. Wie die Überlegungen in Kap. 8.1 jedoch gezeigt haben, unterliegt gerade eine solche Bekehrung besonders prekären narrativen Bedingungen, da der Umschlag von Sünde in Gnade nicht einfach auserzählt und in einen kohärenten Handlungsverlauf integriert werden kann. Genau dieses gnadenvolle Umschlagen geht hier der Taufe noch voraus, während die Versionen von Legenda aurea und Passional mehr oder weniger vollständig darüber hinweggehen und die mhd. Einzelüberlieferungen dieses Umschlagen in der Taufe selbst noch

|| 16 Für die Hilfestellung bei der diffizilen Übersetzung der Texte Walthers von Speyer danke ich ganz herzlich Maximilian Benz: Für seine Unterstützung bin ich ihm sehr verbunden.

404 | Legenden im Vergleich einmal explizit inszenieren. Diese Versionen haben das darin liegende narrative Problem somit verschoben, und zwar in die Wegstruktur der Vorgeschichte. Die Umkehr des Protagonisten kann so bereits mit der Suche nach Jesus im wahrsten Sinne des Wortes versinnbildlicht werden; von einer conversio braucht dort keine Rede mehr zu sein, da der innere Wandel in eine äußere Handlung übertragen wird und damit tatsächlich in den Vorgang der Erzählung überführt werden kann – ein letztlich hochliterarisches Verfahren. Ohne eine solche explizite Vorgeschichte jedoch muss dieser Umschlagspunkt anders inszeniert werden, wobei der eigentliche Moment der Bekehrung in Walthers Version ebenfalls der Handlung entzogen ist, wiederum nur mit Bildern wie der Erleuchtung des Herzens (vgl. Liber II, 127) veranschaulicht. Ihr voraus geht in der Rede des Engels bei allem rhetorischen ornatus ein diskursives, kein narratives Element; auch dies eine vertraute Verfahrensweise, denkt man nur an die Religionsgespräche etwa in der Cäcilienlegende. Die mit der Taufe erfolgende Namensänderung wird dagegen auch bei Walther auf Christus selbst bezogen, wie der Engel ausführt: Te quoque Christoforum mutato nomine dici/ Censuimus, quia sancta tibi preconia Christi/ Missa Samonitis iniunxit adoptio patris (Liber II, 140–142: Wir haben beschlossen, dass Du zu Christophorus umbenannt wirst, weil Gottvater Dich als Sohn angenommen hat und Dir dadurch die heilige Botschaft Christi, die den Samoniten gesandt wird, übertragen hat). Hier ist der neue Name noch direkt mit dem Martyrium verbunden, über das die Angleichung an Christus dann auch erfolgt. Darin zeigt sich die „nicht auf eine lineare handlungsorientierte Progression“17 ausgerichtete Erzählweise Walthers, denn indem dieser den Beginn der Legende an deren Ende, dem Zielpunkt des Martyriums, setzt, trägt das eben jener Nicht-Prozesshaftigkeit des Umschlagsmomentes Rechnung, der dann erst in der Rückschau nachgereicht wird. Der Heilige ist dann schon längst geworden, als das er sich doch erst noch erweist, was sich auch auf der Ebene der Erzählung niederschlägt. Nicht das Umschlagen selber, nur die Folgen können beobachtet werden, und genau damit setzt der Text bereits ein, anders als in der Prosafassung die Heiligkeit seines Protagonisten auch auf der histoire-Ebene von Anfang an voraussetzend. Walthers Hexameter-Legende ist somit weniger dazu angetan, Heiligkeit zu erzählen, sondern vielmehr das schon (immer) Heilige mit höchster artifizieller Kunstfertigkeit zu feiern. So betrachtet nähert sich seine Legende denn auch eher der Form des Hymnus an, ein Element, das auf der Gestaltungsebene auch durchaus vorhanden ist.18 Eigentlich aber geht es diesem Text nicht in erster Linie um die Inszenierung oder hymnische Vergegenwärtigung von Heiligkeit, sondern um die Zurschaustellung von Gelehrsamkeit. Die Artifizialität, der rhetorische ornatus, die

|| 17 FEISTNER, Typologie, S. 73. 18 Zum hymnischen Ton bei Walther vgl. ebd., zum lyrischen Narrativ vgl. allgemein BLEUMER/ EMMELIUS, Lyrische Narrationen.

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zahlreichen Anspielungen insbesondere auf die antike Literatur, die an die Stelle von den üblichen auch in der Prosafassung Walthers begegnenden typologischen Verweisen und Bibelzitaten treten – sie alle lassen darauf schließen, dass die Legendenkommunikation hier einen ganz anderen Status besitzt. Dieser dürfte sich noch nicht einmal in der Verwendung des Textes für den Schulunterricht erschöpfen, um darin metrische, sprachliche, rhetorische und literarische Horizonte zu eröffnen und einzuüben.19 Es geht vielmehr um die Kommunikation innerhalb einer eng umgrenzten Bildungselite, nicht zuletzt zwischen Walther und seinem Lehrer Balderich, innerhalb derer der eigentliche Inhalt hinter der Form zurücktritt und deren Rezeption allerhöchstens in privater Lektüre vorzustellen ist. Für die öffentliche lectio bestimmt war dagegen die Prosafassung (auch wenn hier eine Laienkommunikation ebenfalls ausgeschlossen gewesen sein dürfte), die sich zwar auf der histoire-Ebene kaum von der Hexameter-Fassung unterscheidet,20 aber nach den üblichen hagiographischen Mustern gestaltet ist und im übrigen zum ersten Mal eine Herleitung für die Hundsköpfigkeit des Heiligen bietet.21 Dementsprechend ist diese Fassung auch an einem linearen Handlungsverlauf orientiert und legt das Moment des gnadenhaften Umschlagens folglich auf die auch hier durch einen göttlichen Regen erfolgende Taufe, was auch ganz klar mit dem Namenswechsel markiert ist: Baptizatur ergo Reprobus, natusque est dei athleta, Christoforus (dann wird Reprobus getauft, und wurde wiedergeboren als der Gottesstreiter Christophorus).22 Durch die Taufe wird Reprobus neugeboren als Christophorus, damit ist der Zielpunkt, das Martyrium, bereits festgelegt, doch führt die Handlung

|| 19 Eine solche Gebrauchssituation zeigt beispielsweise clm 23490 (München, BSB), eine Hs. im °8Format mit einer in leonischen Hexametern verfassten Judaslegende, die starke Gebrauchsspuren vermutlich aus dem klösterlichen Unterricht aufweist, insbesondere Glossierungen zu Wortschatz und Metrik, welche anhand eines hagiographischen Textes eingeübt worden sein könnten (Textabdruck bei Franz Josef MONE, Anz. f. Kunde der deutschen Vorzeit 7 [1838], Sp. 532–536; vgl. BAUM, medieval legend, S. 510ff.). 20 Vgl. FEISTNER, Typologie, S. 68 u. 74. 21 Longa enim, ut aiunt, et acuta facie Cynocephalum, id est canini capitis hominem, pretendens interiorum hominis formam bonorum operumstuduit adaornare constantia (zit. nach der Edition STRECKERS, S. 67, 12f.: Denn, wie sie sagen, auch wenn er durch das lange und spitze Gesicht wie ein Cynocephalus, d.h. ein hundsköpfiger Mensch, aussah, bemühte er sich, durch die Beständigkeit der inneren guten Werke in der Gestalt eines Menschen zu erscheinen). 22 Ebd., S. 69, 26–29. In den östlichen Legendenversionen erhält das hundsköpfige Ungeheuer mit der Taufe zugleich auch die Fähigkeit zu sprechen, das menschenferne Monster wird also durch den Glauben und die Taufe erst menschenähnlich. Auf diese Weise wird der Umschlag vom Stigma zum Charisma besonders anschaulich versinnbildlicht: Das schon äußerlich durch seinen Hundekopf stigmatisierte Ungeheuer rückt mit dem Charisma des Heiligen von der Peripherie der Welt ins Zentrum des Glaubens vor. Möglicherweise wirkt im Westen dieses Motiv noch darin nach, dass z.B. im Passional Christophorus bei seiner Missionierung in Lykien von Gott die Gabe erbittet, die fremde Sprache der Menschen dort zu sprechen und zu verstehen, vgl. III 350, 48ff., entsprechend LA 94, 61f.

406 | Legenden im Vergleich anders als die Hexameter-Fassung zunächst in einem linearen Erzählverlauf auf die conversio zu, aus der dann das Martyrium folgt. Es zeigt sich, dass die literarische Entwicklung der Christophoruslegende sowie die je unterschiedliche Kommunikationssituation eine differenzierte narrative und poetische Inszenierung von Heiligkeit nach sich zieht. Die hier nicht näher analysierte passio sowie die Prosafassung Walthers von Speyer repräsentieren dabei noch eine relativ konventionelle Märtyrerlegende, bei der die in der Riesenhaftigkeit liegenden Besonderheiten des Protagonisten zwar anfänglich herausgestellt, im weiteren Verlauf aber vom gängigen Konzept des Märtyrers von unzerstörbarem Leben überlagert wird. Durch die Hereinnahme der nicht-hagiographischen Erzählstruktur von der Suche nach dem höchsten Herrscher (erstmals vollständig greifbar in der mhd. Version B) werden Motivations- und Begründungsstrategien entwickelt, um die an sich von Beginn an feststehende Heiligkeit des Protagonisten in einen Erzählprozess zu überführen, der den Weg des Protagonisten zur Heiligkeit und zu Christus narrativiert. Wo auch immer man dieses Erzählschema verorten mag,23 die Legende verwendet es auf mehrfache Weise: Strukturlogisch erklärt es, wie der Protagonist als ungefüger Riese nicht nur zu seinem Namen kommt, sondern zu den Ehren der Altäre erhoben werden kann, indem es handlungslogisch die Suche nach dem Mächtigsten als Weg gestaltet, an dessen Ende die Begegnung mit Christus und der Umschlagspunkt vom heidnischen Riesen zum christlichen Märtyrer steht. Auf einer dritten Ebene wird dieser Weg metaphorisch als Lebensweg verhandelt, der in der Erwählung durch Christus mündet, so dass in der Wegmetapher bereits die zentralen Aussagen christlicher Legenden verdichtet sind, die den Weg zu Gott und die Auserwählung durch Christus zeigt. „Die Legende konkretisiert und illustriert […] mehrfach den Vorgang der Übertragung selbst und dass ‚Christustragen‘ ebenso wie ‚Lebensweg‘ im Mittelalter mehr sein können als Metaphern.“24 Auf der histoire-Ebene lassen sich auf diese Weise kontingente Handlungsstrukturen und kausale Motivationen erkennen, die sich jedoch als final gesteuert erweisen. Der Weg des Christophorus führt ihn alles andere als zufällig zu Christus und || 23 Literarisch nachweisen lässt sich das Schema von der Suche nach dem Höchsten nicht, so dass nur angenommen werden kann, es entstamme wahrscheinlich dem allgemein verfügbaren (oralen?) Erzählgut. Vgl. zusammenfassend ZENDER, [Art.] Christophorus, Sp. 1407 u. 1409. Im Fährmannsdienst sieht ROSENFELD, Christophorus, S. 432ff., Motive der Julianus-Hospitator-Legende, vgl. ebd., S. 429–445. Das Dienstmann-Motiv wird in der älteren Forschung mit dem germanischen Vasallentum in Verbindung gebracht, was allerdings hochspekulativ ist. Bereits ROSENFELD vermutet einen Zug der europäischen oralen Erzählkultur, ohne hierfür allerdings schriftliche Belege beibringen zu können. SZÖVÉRFFY, Verhöfischung, führt als Parallele Gahmurets Entschluss zum Auszug in Wolframs Parzival an. Seine Belege bleiben aber vage, zumal SZÖVÉRFFY vor allem die zeitliche Nähe des Parzival zur ältesten mhd. Fassung B der Christophoruslegende stark macht, die zwar in der Tat auffällig viele höfische Darstellungselemente enthält, dabei jedoch nicht erklären kann, wie diese Vorgeschichte auch in die wenige Jahrzehnte später entstandene Legenda aurea eingeflossen ist. 24 DÖRRICH, Konfiguration, S. 382.

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ins Martyrium, und so kann dieser von Beginn an als Christusträger bezeichnet werden, als Ausdruck dieses doppelten Zielpunktes von Erwählung und Nachfolge, der die gesamte Handlung bestimmt.25 Die Vorausbestimmung und Finalität dieses Weges wird im Passional dadurch ersichtlich, dass der Erzähler hier zwar eingangs den ursprünglichen Namen Reprobus erklärt, seinen Protagonisten fortan jedoch ausschließlich Christophorus nennt, obgleich in den ersten Versen klar gemacht wurde, dass er diesen Namen eigentlich erst nach seiner – im Handlungsverlauf dann nicht einmal erwähnten – Taufe erhalten wird; auf die gleiche Weise verfährt die Legenda aurea, die diesen Umstand ohnehin nur in der vorangestellten Namensetymologie nennt. Der Heilige wird bereits von Beginn an mit einem Namen bezeichnet, der ihm, ob er nun wörtlich oder im übertragenen Sinne als Ehrentitel verstanden wird, eigentlich erst später zukommt – deutlicher könnte sich die narrative Operationsweise finaler legendarischer Erzählkonzeptionen nicht darstellen.26 In der spätmittelalterlichen Version A der Legende verschiebt sich diese Gewichtung noch weiter zugunsten der ‚Christusträgerlegende‘, indem mit dem Zusammenfall der Zeichen im Zuge von Taufe und Namenswechsel eine Koinzidenz von Christus und dem Heiligen inszeniert wird, die das Umschlagsmoment der Legendenhandlung noch stärker exponiert. Der Umschlag vom Stigma zum Charisma erfolgt nicht erst im Martyrium, sondern ist bereits hier vollendet; die in der Christusnachfolge und der imitatio im Martyrium liegende Christoformitas wird demgegenüber vernachlässigt. Heiligkeit erscheint damit als von vornherein bestimmte Erwählung (gleich dem in diesen Texten so betonten Adel) und nicht mehr allein in der Nachfolge Christi. Nicht zuletzt versinnbildlicht der Fährdienst bereits die Mittlerfunktion des Heiligen zwischen Gott und den Menschen: Als Riese in der Welt bringt Christophorus die Menschen sicher vom einen Ufer ans andere, als künftiger Heiliger und Nothelfer führt er die Menschen zu Gott. Darin erweisen sich zum wiederholten Mal die narrativen Spannungen, einen solchen Umschlag nicht darstellen, sondern nur dessen Wirkung konstatieren zu können. Christophorus ist schon immer von Gott erwählt und muss es doch erst werden. Der in A mit dem Namenswechsel explizit markierte Umschlag wird in Passional und Legenda aurea diskursiv vorweggenommen, indem dieser Wechsel gleich zu Anfang der Erzählung konstatiert und vollzogen wird. Dagegen weist die Legendenversion Walthers von Speyer eine ganz andere Grundkonstellation auf. Sie kennt das Dienstmotiv nicht, setzt dagegen unmittelbar beim Martyrium ein und präsentiert nur im Rückblick eine kurze Vorgeschichte. Die Auffälligkeiten sind vor allem in Zusammenhang mit der elitären Kommunikationssituation dieser Legende zu sehen, die sich stark von der des üblichen hagiographi|| 25 Zur Kreisstruktur des Lebensweges und der darin liegenden Korrespondenz von Anfang und Ende vgl. ebd., S. 369. 26 Vgl. zur Namensetymologie, bes. in Bezug auf die Legenda aurea, ROSENFELD, Christophorus, S. 437f.

408 | Legenden im Vergleich schen Diskurses unterscheidet. Die in der Kunstform der Hexameterlegende geradezu ausgestellte Nicht-Linearität der Heiligkeit weicht in der konventionellen Prosafassung einem prozessualen Handlungsverlauf, der dafür das Umschlagsmoment von Taufe und Namenswechsel entscheidend exponieren muss. An herkömmliche Erzählformen ist die Hexameterfassung gerade nicht gebunden, und eben das macht auch die unkonventionelle Inszenierungsform dieser Legende aus. Es geht weniger darum, das Werden von Heiligkeit zu inszenieren, wie es die am peregrinatio-Modell orientierte Wegmetaphorik der späteren Christusträgerlegende vorführt, sondern Christophorus als von vornherein und unhinterfragbar Heiligen zu präsentieren und seine Heiligkeit mit den Formen der kunstvollen Rhetorik zu feiern. Auch in den so verschiedenen Versionen der Christophoruslegende werden somit die in den vorherigen Kapiteln aufgezeigten Inszenierungsformen ersichtlich, jedoch in unterschiedlicher Weise. Heiligkeit stellt sich auch hier als Nachfolge und imitatio dar, zunächst ganz konventionell im Martyrium, wie sie die ältesten Fassungen dieser Legende auch fast ausschließlich beschreiben. Mit der Hereinnahme eines außerhagiographischen Erzählmusters gelangt jedoch noch ein zweites Nachfolgemodell in den Blickpunkt, das sich in der Opposition von Stigma und Charisma und dem Spannungsfeld von Inklusion und Exklusion verdichtet. Christophorus erniedrigt sich, führt demütig den niederen Fährdienst aus, um gerade dadurch Christus zu begegnen, zum Christusträger zu werden – und zwar im doppelten Sinne, wörtlich und als Märtyrer. Die als Lebensweg gezeichnete Suche nach dem mächtigsten Herrn führt die solcherart final angelegte Handlungslogik über kausallogische Begründungsmuster an ihr providentielles Ziel: das Umschlagsmoment in der Begegnung mit Christus. Dabei ist es prägnant, dass in Passional und Legenda aurea die üblichen narrativen Strategien an dieser Stelle versagen; das eigentliche Umschlagen kann nicht dargestellt werden, Christophorus trägt hier von Beginn an den Namen des Christusträgers, während sich in A in der Taufe und dem Namenswechsel durch Christus der gnadenvolle Umschwung erst eigentlich manifestiert.

9.2 Silvester: Papst und Vorkämpfer des Christentums Die ausgesprochen vielfältigen Spielformen der Silvesterlegende bieten sich in herausragender für einen Vergleich disparater Variationen eines Legendenstoffes Weise an. Das Gedenken an diesen Papst, dessen Pontifikat etwa von 314–35 anzusetzen ist, setzt früh ein, gilt er doch als der erste in Rom verehrte Bekennerheilige. Dies geschah in der römischen Kirche allerdings zunächst wohl nur in einfacher Form (Dispositionsgedächtnis) und erlangte erst ab dem 8. Jh. zunehmend Bedeutung.27

|| 27 Vgl. Herma KLIEGE-BILLER, … und ez in tiusch getihte bringe von latîne. Studien zum ‚Silvester‘ Konrads von Würzburg auf der Basis der ‚Actus Silvestri‘, Münster 2000, S. 140ff. Ebensowenig wie

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Die kultische Verehrung setzte vermutlich bereits im 5./6. Jh. ein; um diese Zeit dürfte spätestens mit einer ersten Fassung der Acta Silvestri als ältestes Zeugnis seiner Vita zu rechnen sein, deren Entstehungszeit andererseits auch wesentlich früher, nämlich im 4. Jh. (genauer gesagt zwischen 366 und 514) angesetzt werden kann. Durch das steigende Interesse einer Silvester-Vita, vermutlich an der Wende vom 5. zum 6. Jh., ist dann eine Neufassung der Acta entstanden (B1), die die ältere Fassung (A1) umfangreich überarbeitete, jedoch bald von einer dritten Mischfassung (B2) abgelöst worden ist.28 Die beiden Fassungen A1 und B2 werden im Mittelalter zur Grundlage der volkssprachigen Gestaltungen dieser Legende. Das trifft auch auf den deutschen Sprachraum zu: Die älteste mhd. Version einer Silvesterlegende findet sich in der um 1150 vermutlich in Regensburg entstandenen Kaiserchronik, eingegliedert in die Episode zur Regierungszeit Kaiser Konstantins. Ebenfalls noch im 12. Jh. entstand der in nd. Sprache verfasste Trierer Silvester, von dem allerdings nur noch Bruchstücke erhalten sind; Anlage und Umfang lassen jedoch darauf schließen, dass es sich bei dem ursprünglichen Text um eine sehr umfangreiche und daher vermutlich separat überlieferte Bearbeitung der Vita gehandelt haben muss. Eine ähnliche Konzeption trifft auf die wohl um 1273 im Auftrag des Baseler Domherren Liutold von Röteln entstandene Bearbeitung Konrads von Würzburg zu. Konrad baut den Stoff auf über 5000 Versen zu literarischer Breite aus, wobei er einen durchaus eigenständigen Umgang mit dem Stoff erkennen lässt; im Zuge der problematischen Gattungsdiskussionen wird seinem Werk zwar unbestritten ein poetischer Status zugesprochen, aber dennoch der hybriden ‚Legendenepik‘ zugeordnet – ein Text also zwischen literarischem Anspruch und religiös-geistlicher Erbauung. Wesentlich einfacher fällt die kontextuelle Einordnung bei den im Spätmittelalter entstandenen Legendar-Fassungen, allen voran die des Passionals, dessen ca. 3000 Verse (das entspricht etwa dem gleichen Umfang wie in der Kaiserchronik) umfassende Version die lateinische Legenda aurea als Vorlage ihrer Bearbeitung benutzt.29 Ebenfalls darauf basiert die im

|| ihrer Arbeit (vgl. dort Anm. 8 mit weiterführenden Literaturhinweisen) kann es auch dieser Untersuchung nicht darum gehen, die gesamte Rezeptionsgeschichte dieser Legende aufzeigen. An dieser Stelle können lediglich grundlegende entwicklungsgeschichtliche Faktoren aufgeführt werden, um einen Eindruck vom differenzierten Bild der Entstehung und Überlieferung zu vermitteln. 28 Vgl. KLIEGE-BILLER, Studien, S. 32–43. Zur Textgeschichte und einer Beschreibung der einzelnen Fassungen vgl. Wilhelm POHLKAMP, Textfassungen, literarische Formen und geschichtliche Funktionen der römischen Silvester-Akten, in: Francia 19 (1992), S. 115–196; vgl. auch Sigrid EPP, Konstantinszyklen in Rom: Die päpstliche Interpretation Konstantins des Großen bis zur Gegenreformation, München 1988, S. 18 u. 22f. 29 Zu den Bearbeitungstendenzen des Passionals vgl. Georg PROCHNOW, Mittelhochdeutsche Silvesterlegenden und ihre Quellen, in: ZfdPh 33 (1901), S. 145–212, hier S. 176–191, der die Legenda aurea als alleinige Quelle des Passionaldichters ansieht, da dieser zwar etliche selbständige Bearbeitungen eingefügt habe, diese jedoch allenfalls Reminiszenzen anderer lateinischer Vorlagen aufwiesen.

410 | Legenden im Vergleich 14. Jh. entstandene Elsässiche Legenda aurea, die dagegen jedoch eine weitgehend wortgetreue Übertragung darstellt; dementsprechend unterscheidet sich auch die Silvesterlegende darin kaum vom lateinischen Vorbild. Das überaus weitverbreitete, Ende des 14. Jhs. möglicherweise für ein Nürnberger Dominikanerinnenstift entstandene Legendar Der Heiligen Leben hingegen benutzt als direkte Vorlage seiner Texte in der Regel bereits volkssprachige Versionen der einzelnen Legenden, so auch im Falle der Silvester-Vita, die hauptsächlich auf das Passional, zu geringen Teilen auch auf das sog. Märterbuch zurückgeht. Damit zeigt sich eine enorme Varianz unterschiedlicher mhd. Fassungen der Silvesterlegende, einerseits in Bezug auf den historischen Rahmen, andererseits innerhalb Entstehungs- und Rezeptionskontext. Die Verbreitung in der Volkssprache reicht vom 12. bis ins 14. Jahrhundert, die Rezeption der spätmittelalterlichen Legendare sogar noch weit bis ins 15./16. Jh. Die kontextuelle Einbettung ist höchst heterogen: Nicht nur im Rahmen von Legendensammlungen, sondern ebenso im chronikalisch-heilsgeschichtlichen Horizont, aber auch als Auftragswerk und Einzelüberlieferung mit starken Literarisierungstendenzen. Diese differierende konzeptuelle und kontextuelle Einbettung lässt auch unterschiedliche Herangehensweisen an das Erzählen vom Heiligen erwarten, gilt es doch, ganz unterschiedliche Rezeptionskreise und differente Erzählzusammenhänge zu bedienen. Für einen solchen Vergleich bietet sich daher zum einen die Version aus der Kaiserchronik an, zum anderen die Fassung Konrads von Würzburg, da beide relativ weit entfernt von den ‚üblichen‘ legendarischen Erzählkonzeptionen sind: Sie sind in einen nicht primär hagiographischen Kontext eingebettet, richten sich offenbar weniger an ein geistlich-klerikales denn an ein laikal-adeliges Publikum und weisen sowohl im zeitlichen Rahmen als auch in ihrer Vorlage erhebliche Differenzen auf. Ihnen gegenüber steht mit dem Passional ein Legendar, das sich offensichtlich an ein geistlich nicht sonderlich gebildetes Publikum wendet, jedoch eindeutig einem hagiographischen Kontext angehört. Die spätmittelalterlichen Prosalegendare können aufgrund ihrer direkten Abhängigkeit von Legenda aurea bzw. Passional dagegen vernachlässigt werden. Die Stofftradition der Silvesterlegende präsentiert, trotz der schon früh divergierenden lateinischen Fassungen, im Großen und Ganzen einen weitgehend einheitlichen Erzählkomplex, der in vier Abschnitte unterteilt werden kann: 1) Vorgeschichte: Silvester wird von Kindheit an im christlichen Glauben erzogen und nimmt, den Christenverfolgungen zum Trotz, den Prediger Timotheus bei sich auf, der später das Martyrium erleiden muss. Silvester gerät selbst ins Visier des heidnischen Richters Tarquinius und wird gefangengesetzt; der ungerechte Richter stirbt aber noch in derselben Nacht an einer Fischgräte. Dies wird als Strafe Gottes angesehen, Silvester wird aus dem Kerker befreit und später sogar zum Papst gewählt, muss sich aber dennoch vor den Verfolgungen Kaiser Konstantins verstecken. 2) Bekehrung Konstantins: Kaiser Konstantin erkrankt an Aussatz, als einziges Heilmittel wird ihm ein Bad im Blut unschuldiger Kinder genannt. Man bringt eine große Zahl Kinder herbei,

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doch deren Weinen und das Klagen ihrer Mütter erregt das Mitleid des Kaisers. Er lässt von der Opferung der Kinder ab und will lieber selbst weiterhin vom Aussatz entstellt bleiben, als die eigenen Gesetze zu missachten. Daraufhin erscheinen ihm im Traum die Apostel Petrus und Paulus, die ihn anweisen, sich für eine Heilung an Papst Silvester zu wenden und sich zum Christentum zu bekehren. Silvester wird vor den Kaiser gebracht, unterweist ihn im christlichen Glauben und tauft ihn schließlich; mit dem Empfang der Taufe wird Konstantin augenblicklich gesund. Daraufhin erlässt der Kaiser eine Vielzahl von Gesetzen, die das Christentum in Rom auf ein rechtliches Fundament stellen und nicht zuletzt den Papst als Oberhaupt der Kirche legitimiert. 3) Disputation mit den Juden: Helena, die zum Judentum konvertierte Mutter Konstantins, versucht, ihren Sohn wieder vom Christentum abzubringen. Es wird eine Disputation zwischen Silvester und den zwölf gelehrtesten jüdischen Meistern vereinbart, deren Ausgang über den Fortbestand des Christentums in Rom entscheiden soll. Dies nimmt den breitesten Raum der Legende ein, da die Argumente der Juden und die Erwiderungen des Papstes in aller Ausführlichkeit dargelegt werden. Die ersten elf Rededuelle laufen jeweils nach dem gleichen Muster ab: Basis der Argumentationen ist das Alte Testament, doch während die jüdischen Gelehrten jeweils spezifisch christliche Glaubensinhalte wie die Trinität, die Jungfräulichkeit Marias, Gottmenschlichkeit oder Opfertod Christi in Zweifel ziehen, kann der Papst diese Argumentation mittels exegetischer und typologischer Schlussfolgerungen widerlegen. Der zwölfte und letzte Jude allerdings verlegt sich nicht auf Argumente, sondern auf eine tatkräftige Beweisführung: Er behauptet, einen so mächtigen Namen Gottes zu kennen, um damit einen wilden Stier zu töten, was er sogleich demonstriert und von Silvester verlangt, gleiches mit dem Namen Christi zu vollbringen. Silvester jedoch macht im Namen Jesu den toten Stier wieder lebendig. Auf dieses Wunder hin bekehren sich sämtliche Juden und auch Helena zum Christentum, das sich damit endgültig im römischen Reich etabliert hat. 4) Drachenbann: Rom wird dann von einem üblen Drachen heimgesucht, dessen Pesthauch weite Teile der Bevölkerung dahinrafft. Auf sein Gebet hin erscheint Silvester der hl. Petrus, der ihn auffordert, zu dem Drachen zu gehen und diesen bis zum Jüngsten Gericht einzusperren. Er teilt Silvester die dafür nötigen Worte mit und stattet ihn mit diversen Requisiten aus. Silvester gelingt es, den Drachen zu bannen, z.T. heilt und bekehrt er anschließend auch noch die heidnischen Zauberer, die das Untier zum Kampf gegen die Christen heraufbeschworen haben. Nach einem erfüllten Leben fühlt Silvester schließlich sein Ende herannahen und stirbt einen friedlichen Tod.

Dies ist in etwa der Handlungsablauf der Legende nach der älteren lateinischen Fassung A1. Die jüngere Fassung B1 und der hier besonders interessierende Mischtyp B2,30 erzählen weitgehend das Gleiche, stellen jedoch die Handlungsfolge an einer Stelle entscheidend um: Der Drachenbann Silvesters befindet sich dort am Anfang der Erzählung, gleich nach der (gegenüber der älteren Fassung gekürzten) Vorgeschichte von Silvesters christlicher Berufung; diese bildet somit zusammen mit der Heilung des Aussatzes Konstantins einen in sich stimmigen Abschnitt mit zwei be|| 30 Die spezifischen Unterschiede zwischen den Versionen B1 und B2, die anfangs eine Version A1b mit B1 kompiliert und den Religionsdisput dann komplett nach B1 gestaltet, können im Folgenden vernachlässigt werden. Das gilt auch für die mit neuerlichen Erweiterungen und größeren Verschmelzungen von A1b und B2 gestaltete spätere Mischfassung C, die u. a. Jacobus de Voragine für die Legenda aurea benutzt hat; vgl. KLIEGE-BILLER, Studien, S. 42; POHLKAMP, Textfassungen, S. 120f.

412 | Legenden im Vergleich deutenden Wunder- und Bekehrungstaten.31 Insgesamt ist die Handlung gestrafft, so dass der Religionsdisput noch stärkeres Gewicht erlangt. Auch hier sind einige Umstellungen und Änderungen festzustellen, mit denen „der Autor der jüngeren Ursprungsfassung die Inhalte der Disputation an die im 5. Jh. erfolgte dogmen- und theologiegeschichtliche Entwicklung“32 anpasst. Diese Eingriffe ändern aber nichts an der Grundkonzeption des Religionsdisputs, bei dem es auch nicht darauf ankommt, ob nun zwei ‚neutrale‘, heidnische Philosophen als Schiedsrichter eingesetzt sind oder Konstantin selbst als oberster Gerichtsherr. Wichtig ist vielmehr, dass auch hier die Disputation mit dem Stierwunder endet, das somit den triumphalen Abschluss der Erzählung bildet. Insgesamt ist zu konstatieren, dass sowohl der älteren Fassung wie auch den jüngeren nur in begrenztem Maße hagiographische Muster zugestanden werden. So fehlen z.B. die eigentlich üblichen Berichte über Tod und Begräbnisort, Aufrufe zur Verehrung etc.; statt dessen nimmt der Religionsdisput übermäßig viel Raum ein, der eine Unmenge theologischer Diskurse eröffnet, aber kaum dazu beiträgt, Kult und Verehrung dieses Heiligen dauerhaft zu etablieren.33 Schon diese komplizierte, hier nur kurz umrissene Überlieferungstradition der lateinischen Urfassungen lässt erahnen, wie komplex sich auch die Übernahme des Stoffes in die Volkssprache gestaltet hat. Betrachtet man die drei hier ausgewählten Beispiele, so sind diese neben den zeitlichen und überlieferungsgeschichtlichen Differenzen auch auf unterschiedliche Vorlagen zurückzuführen: Während der Text der Kaiserchronik der ältesten Fassung A1 nahesteht, geht der des auf die Legenda aurea zurückgreifenden Passionals auf den späten Mischtyp C zurück. Konrad von Würzburg dagegen verwendet die Fassung B2, die mit dem Stierwunder der Disputation endet und den Drachensieg an den Anfang von Silvesters Wirken stellt. Vor allem diese unterschiedliche Konzeption gilt es zusätzlich zu berücksichtigen. Der Fokus soll, um Längen und Wiederholungen zu vermeiden, auf drei wesentlichen Punkten liegen: der Darstellung Silvesters und Konstantins, insbesondere bei der Heilung des Kaisers, dem Stierwunder als Schlusspunkt der Disputation und dem Drachenbann. Die Disputation selbst kann, obwohl sie den Großteil der gesamten Erzählung ausmacht, weitgehend außer acht gelassen werden, da hier eher theologische und exegetische Diskussionen ausgebreitet werden, ohne jedoch die Heiligkeit Silvesters narrativ voranzutreiben – das geschieht erst am Ende mit seinem triumphalen Sieg, der dann aber losgelöst von den Argumenten der vorangegangenen disputatio ist. Grundlage des Vergleichs bildet die Version des Passionals, anhand derer die narratologischen und konzeptionellen Unterschiede wie Gemeinsamkeiten der anderen Fassungen besprochen werden sollen. || 31 Vgl. KLIEGE-BILLER, Studien, S. 38f.; einen genauen Vergleich der einzelnen Fassungen untereinander bietet POHLKAMP, Textfassungen, S. 148ff. 32 KLIEGE-BILLER, Studien, S. 40. 33 So der Befund von POHLKAMP, Textfassungen, S. 169f.

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9.2.1 Silvester und Konstantin – Papst und Kaiser: Funktionalisierungen der Protagonisten Der knappe, konventionell und ohne Überraschungen erzählte Vorspann der Passionalfassung dient vor allem dazu, Silvester als confessor aufzubauen und Anklänge einer vitenähnlichen Struktur für die Gesamterzählung zu schaffen; Silvesters Werdegang zum römischen Bischof soll wenigstens andeutungsweise nachvollziehbar sein und ein biographisches Grundgerüst eröffnen. Silvester zeichnet sich durch die christlichen Tugenden der Mildtätigkeit und Barmherzigkeit aus, zudem durch tiefe Frömmigkeit und Furchtlosigkeit, den eigenen Glauben auch zu vertreten. Im Gegensatz zur Kaiserchronik (s.u.) wird Konstantin nur sehr schlicht eingeführt, und seine Figur erfährt kaum eine Konturierung; die gilt ausschließlich dem Heiligen als Protagonist der Legendenerzählung. Man erfährt lediglich, dass er zu dieser Zeit der römische Kaiser war unde den abgoten undertan (III 65, 27). Sein Aussatz wird als Konsequenz seiner Christenverfolgung dargestellt, und es sind namentlich die heidnischen Priester, die auf Geheiß der Abgötter dem Kaiser zum Bad im Kinderblut raten (vgl. III 65, 56ff.). Konstantins Entschluss, das Blutbad abzulehnen, ist daher auch eine Entscheidung gegen die alten Götter und entsprechend untermalt mit christlichen Tugenden: Während seine Boten die unschuldigen Kinder mit gewalde [...] ane allerhande erbarmen (III 65, 88 u. 90) den Müttern aus den Armen reißen, lässt den Kaiser der Jammer von Kindern und Müttern nicht unbeeindruckt: in sin herze im do brach/ die tugent rechter mildekeit (III 66, 26f.). Es ist evident, dass hier (im Unterschied zur Legenda aurea) von Tugend gesprochen wird, noch mehr aber, dass diese Tugend nicht Erbarmen oder Mitleid ist, sondern die mildekeit, das heißt nicht nur Milde, sondern (als wichtigstes Herrscherideal vor allem im Kontext höfischer Literatur) Freigiebigkeit: die keiserliche werdekeit/ uz mildekeit entspringet (III 66, 40f.), so formuliert es Konstantin, und des keisers mildekeit (III 67, 22) bzw. die kunicliche[ ] mildekeit (III 67, 42) werden danach noch mehrfach hervorgehoben. Diese höfisch-herrscherliche Güte, in Kontrast zur untugent (III 66, 77) des Kindermordes gestellt, korreliert zugleich mit der christlichen Tugend der Barmherzigkeit. Freigiebig ist Konstantin hier vor allem in Bezug auf die Leben der Kinder, die er verschont, und indem er Barmherzigkeit zeigt, macht er sich die gleiche Tugend zu eigen, die auch Silvester auszeichnet. Von völlig unterschiedlichen Horizonten kommend sind bei beiden also die gleichen ethischen Anlagen zu erkennen, was bereits den weiteren Handlungsverlauf mit der Bekehrung Konstantins vorzeichnet. Damit stellt die Legende im Passional zwei Figuren gegeneinander: Silvester in der Rolle eines zunächst eher konventionell dargestellten Heiligen, der sich noch in weiteren Großtaten (Disputation und Drachenkampf) erweisen muss, sowie den heidnischen, aber höfisch-gerechten Herrscher. Indem Petrus und Paulus dem Kaiser im Traum erscheinen, spiegeln die beiden Apostel das Paar Silvester und Konstantin wider: Petrus als der oberste der Apostel und erster Bischof von Rom, dessen

414 | Legenden im Vergleich Nachfolger im Amt Silvester ist, Paulus als der ehemalige Heide und Christenverfolger, der sich nach seiner Bekehrung besonders um die Kirche verdient gemacht hat, wie es später auch Konstantin in seiner Kirchengesetzgebung tun soll. Der taufwillige Kaiser muss sich im Passional allerdings zunächst den gleichen Prozeduren unterwerfen, wie sie im Mittelalter für Katechumen allgemein üblich waren.34 Die Taufe selbst wird kaum auserzählt. Silvester segnet Täufling und Wasser; als der Kaiser untergetaucht wird, erstrahlt über ihm ein Licht und Konstantin steigt geheilt aus dem Becken. Damit ist sein Gesinnungswandel endgültig, Abkehr vom Heiden- und Zuwendung zum Christentum auch äußerlich sichtbar.35 In der Schilderung von Taufe und Heilung Konstantins zeigen sich die gleichen narrativen Eigenheiten, die das Erzählen vom Wirksamwerden der Transzendenz in der Welt begleiten. Voraussetzung für Konstantins Heilung ist seine Bekehrung, die wiederum durch die Traumvision der beiden Apostel ausgelöst wird. Dass die beiden ihm jedoch überhaupt erscheinen, bedingt das Mitleid, das er beim Anblick der unschuldigen Kinder empfindet. Die Voraussetzung für die Heilung wird somit bei genauerer Betrachtung stets ein Stück weiter in der Erzählung zurückverlagert, und Konstantins Gesinnungswandel ist nicht Ergebnis einer bestimmten Entwicklung, sondern erfüllt vielmehr jenes gnadenvolle Umschlagen, das die Umschlagsmomente von Bekehrungserlebnissen, wie sie in Kap. 8.1 erläutert wurden, kennzeichnen. Die Kaiserchronik stellt bei der Bekehrung Konstantins vor allem die Zusammenhänge von historischem und heilsgeschichtlichem Wirken in den Mittelpunkt. Angeordnet in der (pseudo-)historischen Reihenfolge der römisch-deutschen Herrschergestalten und bezugnehmend auf die Vier-Weltreiche-Lehre ist der hier dargestellte geschichtliche Verlauf stets einer höheren heilsgeschichtlichen Wahrheit verpflichtet.36 Das hat narrative und strukturelle Konsequenzen, die sich auf die Darstellung || 34 Dazu gehören Glaubensunterweisungen, Fasten und Bekunden des Taufwillens. Vgl. dazu August JILEK, Taufe, in: Hans-Christoph SCHMIDT-LAUBER (Hg.), Handbuch der Liturgik. Liturgiewissenschaft in Theologie und Praxis der Kirche, Göttingen 2003, S. 285–319, hier S. 294–297. POHLKAMP, Textfassungen, beschreibt die Taufe Konstantins in der älteren Fassung A1 als „szenische Komposition aus kultischen, zeremoniellen und liturgischen Versatzstücken oder Paraphrasen“ (S. 156), die insgesamt zahlreiche Anspielungen auf die römische Liturgie der Ostertaufe und auf die Topographie des Laterans im 5. Jh. aufweise (vgl. S. 157). Diese Bezüge werden in der späteren Fassung B1 und auch in dem Mischtyp C, auf dem das Passional in der Hauptsache basiert, weniger stark ausgearbeitet; sie bilden in den volkssprachigen Adaptationen der Silvesterlegende dennoch einen zentralen Bestandteil. 35 Auch in der Bekehrung ließe sich eine Parallele zu Paulus erkennen. Konstantin berichtet nach der Taufe, in dem auf ihn niederkommenden Licht habe er Jesus Christus gesehen, der im alda erschinen was (III 69, 79). Darin erweist sich zum einen die Heilung als dezidiert göttliche, zum anderen die Herausgehobenheit Konstantins, dessen Bekehrung sich in der Christusbegegnung endgültig bestätigt. 36 Vgl. Annegret FIEBIG, „vier tier wilde“. Weltdeutung nach Daniel in der „Kaiserchronik“, in: Dies. u. Hans-Jochen SCHIEWER (Hg.), Deutsche Literatur und Sprache von 1050–1200. Festschrift für Ursula Henning zum 65. Geburtstag, Berlin 1995, S. 27–49. Die heilsgeschichtliche Bedeutungsebe-

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der Heiligkeit Silvesters niederschlagen. So setzt die entsprechende Episode der Chronik folgerichtig mit der Kaiserkrönung Konstantins ein, der, obzwar Christenverfolger, dennoch kaum negativ dargestellt wird; die Vorgeschichte Silvesters, die in den Legendar-Versionen seine Herkunft und Heranführung ans Christentum, vor allem aber Silvesters christliche Tugenden aufzeigt, fehlt dagegen ganz. Für die Kaiserchronik steht nicht der Heilige, sondern Konstantin als Kaiser im Mittelpunkt, der in die Reihe der (im heilsgeschichtlichen Sinne) positiven Herrscher einzuordnen ist: der hêrre was dannoh haiden, iedoh was er vil bescaiden. von gote ez bechom: der cunich siechen began. (KC 7810–13)37

Konstantins Aussatz ist auf diese Weise nicht eingängig motiviert, die Krankheit ist zwar von Gott geschickt, das Moment der Strafe bleibt aber im Hintergrund. Wesentlich hervorgehoben wird vielmehr der Machtverlust des Kaisers durch die Krankheit und die Unfähigkeit, herrscherliche Gewalt auszuüben, da sich seine Fürsten zurückziehen (eine in der Kaiserchronik häufig thematisierte Gefahr). Wie stark im Gegensatz zu einem Legendar wie dem Passional hier nicht der Heilige, sondern der Herrscher im Mittelpunkt steht, wird daran deutlich, dass Silvester zunächst gar nicht erwähnt, sondern erst im Zusammenhang mit Konstantins Traum genannt wird. Nachdem der Kaiser das Blutbad abgelehnt hat, erscheinen ihm auch hier die gotes boten bêde,/ sancte Pêter unt sancte Paulus –/ sancte Silvester hiez dô der bâbes (KC 7845–47). Silvester wird mitten in der Handlung in einem Nebensatz eingeführt, und doch an bedeutender Stelle, nämlich in der von Gott geschickten Vision, die Heilung verspricht. Zudem wird er direkt nach Petrus und Paulus als den Überbringern der Vision genannt, in deren Gemeinschaft er sogleich eingereiht und wie diese beiden bereits mit dem Epitheton sancte belegt wird. Es geht der Kaiserchronik also gar nicht darum, Silvesters Heiligkeit in verschiedenen Stationen seines Wirkens zu aufzuzeigen, wie es die im Wesentlichen vitenförmig angelegte Fassung des Passionals tut, Silvester tritt vielmehr bereits von vornherein als Heiliger auf. Diese Inszenierung ist insofern für die Kaiserchronik bedeutend, als dem Kaiser, der das Christentum in Rom mit seinen Gesetzen etabliert, ein dieses Verhalten (im wörtlichen Sinne) sanktionierender Heiliger an die Seite gestellt wird. Das Zusammenspiel von Papst und Kaiser als weltliche und geistliche Führungsin|| ne wird von zahlreichen Legenden und Exempeln untermalt, die, wie im Falle Silvesters, vielfach zu beinahe eigenständigen Erzählungen wachsen. Zur Forschungsgeschichte vgl. Stephan MÜLLER, Vom Annolied zur Kaiserchronik. Zu Text- und Forschungsgeschichte einer verlorenen deutschen Reimchronik, Heidelberg 1999, S. 189–212. 37 Zitiert wird nach: Die Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen, hg. v. Edward SCHRÖDER, Hannover 1892 [=KC].

416 | Legenden im Vergleich stanz ist für die gesamte Kaiserchronik kennzeichnend; Konstantins Regierung ist vor allem deshalb so segensreich, weil er den göttlichen Heilsplan zum Wohle der Christenheit erfüllt, wofür er einen heiligen Papst an seiner Seite benötigt. Die Konversion Konstantins wird ähnlich wie im Passional als Vorgang dargestellt, dessen Resultat jedoch bereits zuvor festgestanden hat: Angesichts des Leides der Kinder und Mütter kommt Konstantin zu dem Schluss, ein solches Blutbad verbiete mirz mîn trehtîn (KC 7837), womit er sich bereits vor seiner Bekehrung und Taufe auf die Gebote der christlichen Ethik und den Christengott beruft, die er doch erst anschließend mit der Taufe annimmt. Längere Glaubensunterweisungen seitens des Papstes sind daher auch nicht nötig, Silvester schreitet, als er die Zusammenhänge erkennt, umgehend zur Taufe. Das Augenmerk liegt weiter auf Konstantin, der sich als Kaiser mit der Taufe in den Dienst Gottes stellt, weshalb die Kaiserchronik hier lehensrechtliche Formulierungen verwendet: Gott wolle Konstantin nun ze ainem dienestman gewinnen (KC 7931). Die göttliche Ordnung wird einer Feudalordnung angeglichen, die Taufe ersetzt den Lehnseid, die darum auch ohne zeremonielle Details auskommt, wichtig ist vielmehr die entsprechende Öffentlichkeit des Vollzugs. Besonders hervorgehoben ist die Beteiligung Silvesters bei der Konstantinischen Kirchengesetzgebung, welche die für die Kaiserchronik so bedeutsame Verbindung von Papst- und Kaisertum propagiert. Während das Passional auf einer Trennung von geistlichen und weltlichen Befugnissen insistiert, bestimmt die Kaiserchronik Geschichte „durch das Verhältnis von sacerdotium und imperium, oder gegenständlicher: durch das Verhältnis ihrer Träger, Papst und Kaiser“38. Die Konzeption der Kaiserchronik sieht ein Miteinander geistlicher und weltlicher Herrschaftsbereiche vor, wobei am Beispiel Konstantins klargestellt wird, dass die Legitimation des weltlichen Herrschers durch den geistlichen erfolgen muss. Die Rolle Silvesters ist daher weniger die eines Heiligen, sondern liegt vielmehr auf seiner Funktion als Papst. In maßgeblicher Differenz zu den anderen hier besprochenen Versionen stützt sich die Silvesterlegende Konrads von Würzburg auf die Redaktion B2, die den Drachenbann des Heiligen an den Anfang stellt, was eine grundlegend anders gestaltete Gesamtkonzeption nach sich zieht. Auch Vorgeschichte und Prolog sind in dieser literarisch anspruchsvollen Fassung stark ausgeweitet, wobei die Heiligkeit des Märtyrers Timotheus, den Silvester bei sich versteckt, nach dessen Tod auf den Bekenner Silvester übergeht, wie schon der Prolog Märtyrer- und Bekennerheiligkeit

|| 38 So schon Helmut DE BOOR, Die deutsche Literatur von Karl dem Großen bis zum Beginn der höfischen Dichtung, München 91979 S. 212. Daher wird vor dem weltlichen Herrschaftsakt der Gesetzgebung der geistliche Akt des Gottesdienstes vollzogen, erlässt zwar der Kaiser die Gesetze, jedoch stets gemeinsam mit dem Papst. In der Paarung Konstantin – Silvester ist damit zum ersten Mal in der Kaiserchronik die Konzeption idealer Herrschaft eines christlichen Fürsten verwirklicht, das ein gleichberechtigtes Wirken von Papst und Kaiser vorsieht.

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ineinanderblendet.39 Weniger zentral als in der Kaiserchronik erscheint Konstantin, dessen conversio auch erst nach dem Drachenbann, auf den hin sich bereits ein Großteil der Römer zum Christentum gewandt hat, erfolgt – der Kaiser ist damit nicht Vorbild für sein Volk, sondern erkennt dessen Glauben im Nachhinein selbst an. Während in der Kaiserchronik die Finalität des Geschehens zutage tritt und die dadurch entstehende Leerstelle überbrückt wird, indem der Kaiser bereits im Vorfeld mit den Geboten Gottes argumentiert, und während auch das Passional weniger eine Entwicklung nachvollziehbar macht denn ein narratives Umschlagsmoment setzt, erfährt Konstantins Gesinnungswandel bei Konrad immerhin eine ausführliche argumentative Begründung, welche er in einer langen Rede vor seinen Vasallen (KvW 1045–1167)40 reflektiert, die allerdings ebenfalls auf der Basis christlicher Moralvorstellungen beruht. Im Unterschied zu den anderen Versionen wird bei der Taufe und Heilung Konstantins die Rolle Silvesters als Fürsprecher exklusiv herausgestellt und zeigt damit umso deutlicher den Stellenwert des Heiligen auf: Nicht allein die Taufe, sondern damit verbunden die Fürbitte Silvesters heilt den Kaiser; die Finalität der Legende nimmt diese Fürbittfunktion bereits vorweg. Insgesamt liegen die Differenzen zu den anderen Versionen aber vor allem auf der Darstellungsebene, die deutlich ein höfisch geschultes Publikum anspricht, in Aufbau und in der poetischen Heiligkeitskonzeption unterscheidet sich die Taufe und Heilung Konstantins allerdings kaum von den Versionen des Passionals und der Kaiserchronik; zu beachten ist vielmehr der unterschiedliche pragmatische Ansatz Konrads, dessen Version aufgrund der Umstellung der Episoden vor allem das Stierwunder am Schluss der Legende betont.

9.2.2 Das Stierwunder: Triumphaler Höhepunkt oder Bestätigung des Christentums Im Passional wie in der Kaiserchronik dient die Disputation mit den jüdischen Gelehrten vor allem dazu, die gerade erst etablierten Errungenschaften und Freiheiten des Christentums zu sichern und mit dem wunderbaren Ausgang die Macht des Christengottes den Heiden und Juden gleichermaßen vor Augen zu führen und die Überlegenheit des Christentums vor allen anderen Religionen zu demonstrieren.41 || 39 Vgl. BLEUMER, Narratologie, S. 243f., der konstatiert: „Das Martyrium führt zum Bekenntnis, das Bekenntnis führt zum Wunder, das Wunder führt zur Umkehr der anderen“ (S. 245). 40 Zitiert nach: Konrad von Würzburg, Silvester, hg. v. Paul GEREKE, Halle a. d. Saale 1925 [=KvW]. 41 Vgl. zur Disputation im Einzelnen POHLKAMP, Textfassungen, S. 163ff., zur Fassung B1 S. 174ff. Vgl. auch Elisabeth SCHENKHELD, Die Religionsgespräche der deutschen erzählenden Dichtung bis zum Ausgang des 13. Jahrhunderts, Leipzig 1930, S. 7–15; 39f.; 77–80 u.ö.; Ingrid KASTEN, Studien zu Thematik und Form des mittelhochdeutschen Streitgedichts, Hamburg 1973, S. 46–52.

418 | Legenden im Vergleich Signifikant sind im Passional (im Gegensatz zur Legenda aurea) die Anklänge zur Kreuzzugsrhetorik (z.B. III 72, 74–78), der Verlauf der Disputation und die einzelnen Argumente sind jedoch in allen drei Versionen sehr ähnlich, wobei insbesondere Konrad, aber auch Passional und Kaiserchronik versuchen, eine größere Lebendigkeit der Rededuelle zu schaffen (beispielsweise durch häufigeren Sprecherwechsel, während die Legenda aurea es bei einem nüchternen Verlaufsbericht belässt, bei dem die exegetischen Feinheiten in der Argumentation des Heiligen zentral sind). Während die überlange Darstellung der Disputation in den meisten Legendenversionen keine wesentlichen Unterschiede aufweist, unterliegt das abschließende Stierwunder erzählerischen Besonderheiten. Im Passional, wo der Widersacher Silvesters entgegen der Tradition nicht Zambri, sondern Zara heißt, fällt auf, dass es zunächst weiterhin um Worte geht, wie in den elf Rededuellen zuvor auch. Genauer gesagt geht es um Namen, nämlich den Namen Gottes, der seine Macht durch die vil groze heilikeit,/ die an den namen ist geleit (III 86, 90f.) erweisen soll, wie es Zara formuliert. Damit aber geht es doch um mehr als Worte, denn diese sollen vielmehr in Handlung, in Wirkmächtigkeit überführt werden, und dafür eignen sich nicht irgendwelche, sondern nur heilige Worte, oder besser noch: heilige Namen. Bei der Verwendung des Namens, wie Zara sie hier vorführt, scheint es jedoch eher um ein zeichenrealistisches, magisches Sprachverständnis zu gehen, bei dem res und signum zusammenfallen. Namen sind nach einem solchen Verständnis ein Mittel, Macht über jemanden zu erlangen, nach paganen Vorstellungen sogar über eine Gottheit. Das Wort bzw. der Name wird dabei, ähnlich wie das Erschaffen durch Benennen, als Entität begriffen, im Namen offenbart sich das Wesen des Trägers. Zeichen und Bezeichnetes, Name und Person werden als identisch gedacht.42 Ein in dieser Weise konkret gefasstes Sprachverständnis, das den Zeichenbegriff zugunsten einer unmittelbaren Wirkung des Wortes aufhebt, findet ihren stärksten Ausdruck in der Magie, wo sie sich nicht zuletzt in der Formelhaftigkeit der Zaubersprüche niederschlägt. In der richtigen Weise gebraucht, entfaltet das gesprochene Wort ein eigenes Sein, das wirklichkeitsbestimmend werden kann, so dass jeder Name eine eigene Seinsqualität entfaltet.43 Wie bereits in Kap. 4.2.1 beschrieben, können sprachmagische Praktiken und Wunderhandlungen durchaus kongruent sein. Während Zara also mit der Nennung || 42 Vgl. zu diesem Verständnis des Namens im vormodernen Denken FOUCAULT, Ordnung, für den Namen somit „auf dem von ihnen Bezeichneten deponiert“ sind, und zwar „durch die Form der Ähnlichkeit“ (S. 66). Eine solche Ähnlichkeit von Name und Wesen eines Dinges, die dem Namen eine epistemologische Funktion gibt, ist bereits in der griechischen Philosophie, insbesondere bei den Neuplatonikern diskutiert worden, vgl. dazu Christa HÄSELI, fuvsei oder qevvsei? Annäherungen an Proklos’ (magischen) Sprachbegriff in seinem ‚Kratylos‘-Kommentar, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 55/1 (2008), S. 5–17. 43 So die – in dieser Weise freilich sehr zugespitzte – Interpretation von SCHULZ, Beschwörungen, S. 15: „Die Ähnlichkeit der Struktur der Sprache entspricht der Ähnlichkeit der Struktur der Wirklichkeit“.

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des geheimen Gottesnamens eine Art magisches Sprachverständnis offenbart, muss Silvester sich von aller Zauberei ausdrücklich abgrenzen: Das Christentum beinhaltet kein Geheimwissen, der Heilige vollführt keinerlei Zaubersprüche, es kommt vielmehr einzig auf den Glauben an. Aus diesem Grund bezichtigt er Zara, daz der selbe name/ eines bosen tuvels ist (III 87, 85f.), denn alles Magische ist – zumindest nach dem Verständnis der christlichen Hagiographie – automatisch teuflisch. Wenn Silvester daher von Zara verlangt, den toten Stier wieder zum Leben zu erwecken, so fordert er ihn nicht zu einer weiteren magischen Handlung auf, sondern verlangt von ihm nichts weniger als ein Wunder, das von einem Ungläubigen natürlich nicht erwirkt werden kann, da die Grundvoraussetzung dafür stets der Glaube ist. Silvester eröffnet damit von Anfang an das für die Hagiographie typische Spannungsfeld von Wunder und Magie; von letzterer muss er sich abgrenzen, ersteres muss er nun selbst unter Beweis stellen. Auf diese Weise sind auch die Sprechakte Silvesters und Zaras von Oppositionen geprägt, die auf dieses Spannungsfeld hinauslaufen. Während Zara den tödlichen Namen leise flüstert – die in diesem Zusammenhang verwendeten Begriffe heimelich und runen (vgl. III 87, 53 u. 54) sind deutlich negativ belastet – ist der Name Gottes bzw. Jesu ausdrücklich lute (III 89, 35) und öffentlich auszusprechen. Der eine ist ein Name des Fluches, der andere einer des Segens (vgl. III 89, 40), der eine tötet, der andere macht lebendig. Zuvor aber muss Silvester den bösen, unreinen Namen erst austreiben, denn es wirkt fast wie ein Exorzismus, der im ersten Teil von Silvesters Worten (o du unreiner name/ des vluches, nicht des segenes [...] du salt dich balde hinnen iagen; III 89, 39–43) zur Anwendung kommt, das eigentliche Wunder vollbringt Silvester dann im Namen Jesu Christi. Dies ist die entscheidende Zuspitzung, denn der Heilige vollbringt kein Wunder aus sich selbst heraus, es ist stets Gott bzw. Christus, der durch ihn wirkt. Was er tut, tut er im Namen Gottes, aber nie durch den Namen. Genau darum darf, ja muss dieser auch laut ausgesprochen werden, denn mit Jesus Christus, der Gott und Mensch zugleich ist, hat nicht nur die Heiligkeit Gottes einen Namen (und damit ein Wesen) bekommen, durch ihn ist es den Menschen auch möglich, an dieser Heiligkeit zu partizipieren, und genau das macht Silvester, der Heilige, indem Gott durch ihn Wunder wirkt.44 || 44 Vgl. dagegen die alttestamentliche Vorstellung eines heiligen Gottesnamen, den zu erfahren die Menschen weder würdig noch fähig sind, die in 2. Mose 3, 14 ersichtlich wird, wenn Gott Moses im brennenden Dornbusch erscheint und diesem auf die Frage, wie er denn den Gott seiner Väter nennen solle, lediglich den Namen ‚Jahwe‘ mitteilt, was in etwa bedeutet: ‚Ich werde sein, der ich sein werde‘. Die auf dem Passionaltext beruhende Prosabearbeitung von Der Heiligen Leben kürzt den Vorgang hingegen so ab, dass die Zusammenhänge von Fluch und Segen, von Wunder und Magie sowie von offener und geheimer Sprache weitgehend verloren gehen. Dort sagt Silvester lediglich: Du toter stier, jch gepewt dir in dem namen vnders herren Ihesu Cristi, das du gesunt vnd lebendig aufstest! (Der Heiligen Leben. Band 1: Der Sommerteil, hg. von Margit BRAND et al., Tübingen 2004, S. 373, 10ff.). Darin zeigt sich das prägende Merkmal spätmittelalterlicher Prosaabbreviaturen, entsprechende Zusammenhänge aufzulösen zugunsten einer reinen Wiedergabe der Fakten.

420 | Legenden im Vergleich Konrads ausladende Legendenversion unterscheidet sich in dieser Episode hauptsächlich durch oberflächliche Darstellungsweisen, so z.B. die nur hier aufgegriffene Frage, wie Zambrî zu dem tödlichen Namen gekommen sei.45 Konzeptionell bedeutsam ist, dass das Stierwunder den triumphalen Schlusspunkt nicht nur der Disputation, sondern der gesamten Erzählung bildet (dazu unten). Auch hier wird die Differenz zwischen dem geheimen, tödlichen Namen des zouberaere (KvW 4766) und der lebensspendenden Kraft Jesu, dessen Name offen ausgesprochen werden darf, betont. Weniger exorzistisch als vielmehr in Anlehnung an die Liturgie fällt dann die eigentliche Erweckung des Stieres aus, denn Silvester rekapituliert in einer längeren Rede die wichtigsten Punkte des christlichen Glaubensbekenntnisses, Tod und Auferstehung: Stânt ûf in Jêsu Kristes namen des süezen und des lobesamen der von der jüden râte hie vor under Pilâte an das kriuze wart geslagen und âne schulde hât getragen streng unde marterliche nôt. swie du sîst gelegen tôt sô lebe in deme namen sîn. (KvW 5093–5101)

Die christliche Auferstehung und die des Stieres werden kurzgeschlossen, das vergangene Ereignis wird zugleich zum präsentischen Anliegen; wie Christus von den Toten, so steht auch der Stier wieder auf. Wie schon bei der Taufe Konstantins geht es schlichtweg um Analogie-Ereignisse, die der Heilige gleichsam ‚beschwört‘, um ihre Wirksamkeit auch in der Gegenwart zu bewahrheiten. Sie erfüllen (systematisch gesehen) in etwa die gleiche Funktion wie die historiola, die einem Zauberspruch vorausgeht.46 Und dennoch weist Silvesters Formulierung über einen bloßen ‚Analogiezauber‘ hinaus: Zum einen geht es in der gesamten Disputation, deren Abschluss dieses Wunder bildet, darum, Größe und Macht Gottes gegenüber den Juden zu erweisen. Indem Silvesters Formel die Erlösung von Tod und Teufel durch Christus vergegen-

|| 45 Eine Problematik, die in den anderen Versionen einfach abgetan wird. Sein Lehrer habe, so führt der Jude aus, die einzelnen Buchstaben des Namens mit seinem Finger in eine Schale mit Wasser geschrieben, so dass er, Zambrî, sie vor Augen hatte. Nur so könnte er den Namen, ohne gesprochen oder geschrieben zu werden, in seinem Inneren, wie er es ausdrückt, versiegeln (KvW 4737). Auf diese Weise wird die Substanzlosigkeit der dynamis, die in dem geheimen Namen liegt, verdeutlicht, der alles, womit er in Kontakt kommt (auch in schriftlicher Form), zerstört. 46 Vgl. zu den Interferenzen mit magischen Beschwörungsformeln Andreas HAMMER, Schöpfung – Magie – Erzählung. Name und Zeichen von den althochdeutschen Zaubersprüchen bis zum höfischen Roman, in: Stefan BÖRNCHEN et al. (Hg.), Name, Ding. Referenzen, München 2012, S. 39–57, hier S. 50-54.

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wärtigt, legt er darin verdichtet die Grundlagen des christlichen Glaubens dar, die herauszustellen er in der Disputation angetreten ist und die darum programmatisch für die gesamte Erzählung ist, denn sie formuliert das Bekenntnis des Heiligen zu Christus, welches weder rational-argumentativ erfassbar noch (wie durch Zauberei) einfach verfügbar ist. Der Sieg des Heiligen in der Disputation erweist sich, indem sich die zentralen Elemente des christlichen Glaubens, die in dieser Credo-ähnlichen Formel zusammengefasst sind, in der Auferweckung des Stieres konkretisieren, die den Wahrheitsgehalt des zuvor nur diskursiv (in der Disputation) Vermittelten nun ereignishaft offenbaren – die vergangenen Ereignisse zeigen ihre Wirksamkeit für die Gegenwart. Das zu vermitteln ist letztlich die Aufgabe der Heiligen, die diese Wirksamkeit stellvertretend für Christus präsent werden lassen.47 Auch in der Kaiserchronik lassen sich Differenzen nur in Details feststellen. Eine eklatante, aber inhaltlich nicht ins Gewicht fallende Abweichung ist die Tatsache, dass Silvester nicht gegen 12, sondern gegen 13 Juden antritt, was vermutlich jedoch der Kontamination verschiedener Quellen geschuldet ist, die der Verfasser der Kaiserchronik herangezogen hat.48 Die Disputation ist noch wesentlich spannungsgeladener dargestellt, und nachdem Zambrî den Stier getötet hat, wird das Auferstehungswunder noch weiter hinausgezögert, indem Silvester zunächst drei Tage verstreichen lässt und von der gotes urstende aine misse (KC 10078) feiert, welche Wunsch und Versprechen des künftigen Geschehens beinhaltet. Umso eindrucksvoller fällt die Wiedererweckung des Stieres aus, dessen Kadaver in der Zwischenzeit von Aasvögeln und Hunden bereits bis auf die Knochen verwest ist. Indem Silvester sein Wunder damit einleitet, an verschiedene Wunder Gottes in höchster Bedrängnis zu erinnern (alttestamentarische Beispiele sowie die Erweckung des Lazarus), weist der Aufbau des Geschehens einige Unterschiede zum Passional auf, da die Auseinandersetzung um den wahren Namen Gottes in den Hintergrund rückt und die Kaiserchronik vielmehr Silvesters thaumaturgisches Charisma herausstellt, das sich in die Reihe der zuvor anzitierten Wunder einfügt: Silvester wirft sich dreimal auf die Erde, um Gottes Hilfe zu erflehen, dem er alle seine Wundertaten vor Augen hält (aller dîner wunder man ich dich; KC 10272). Beim ersten Mal ruft er Jesu Menschwerdung in Erinnerung, beim zweiten Male Taufe, Tod und Auferstehung. Beim dritten Mal befiehlt er dann dem Stier, wieder lebendig zu werden, wobei er nicht im Namen Jesu handelt, sondern seinen Befehl als direkter Stellvertreter Gottes auf Erden einfach ausspricht in der Gewissheit auf göttliche Hilfe. Auf diese Weise wird Silvesters Heiligkeit anders profiliert: Da die Konzeption der Kaiserchronik Reichsgeschichte und Heilsgeschichte miteinander verbindet, ist seine heilige und herausragende Stellung innerhalb dieses Werkes vor allem daran zu erkennen, dass er die heilsgeschichtliche Verbindung zwischen dem Papst als

|| 47 Vgl. ebd., S. 53. 48 Vgl. SCHENKENHELD, Religionsgespräche, S. 120.

422 | Legenden im Vergleich geistlichem und dem Kaiser als weltlichem Herrscher bewirkt und stabilisiert. Durch den mit dem Stierwunder endgültig erfolgten Sieg über die jüdischen Gelehrten ist diese Verbindung gefestigt, ihre narrativen Inszenierungsformen allerdings sind die gleichen wie im Passional, denn sie erfolgen auch hier im Spannungsfeld von Wunder und Magie.

9.2.3 Der Drachenbann als Wunder und als Descensus ad infernos Durch die Episodenumstellungen in der Version Konrads erhält die Auseinandersetzung mit dem Drachen hier eine andere Funktion als in Passional und Kaiserchronik. Gilt es dort, das mit der Disputation und der Bekehrung Konstantins bereits etablierte Christentum zu bewahren und endgültig zu bestätigen, ist es hier die erste Wundertat Silvesters als Papst und Oberhaupt der Christenheit, mit der er das römische Volk für den christlichen Glauben gewinnt. Allerdings rechnet Silvester selbst nicht damit, bei den Römern Erfolg zu haben, da er den Unglauben der Heiden für zu groß hält (vgl. KvW 748–51). Ohne einen Glauben an Gottes Wundermacht aber könnten die Heiden auch nicht zum Christentum geführt werden. Genau das jedoch geschieht: Nachdem ihm Petrus erschienen ist und ihm die Worte vorgibt, mit denen er den Drachen bannen soll, vollbringt der Heilige eben dies, ohne dass davon aber weiter erzählt würde: er tet ân alle vorhte daz im geboten haete der zwelfbote staete, als ich dâ vorne hân geseit. (KvW 830–33)

Die Erzählung ist also nicht am eigentlichen Drachenbann interessiert, sondern am Resultat: Denn tatsächlich bekehren sich auf dieses Wunder hin die übrigen Römer und lassen sich taufen, und genau das kann als das eigentliche Wunder betrachtet werden. Da ein Wunder den Glauben daran voraussetzt, wirkt die Bekehrung der Heiden irritierend, denn dann müsste als Wunder allein der Umstand gesehen werden, dass die Heiden vom Drachenbann so überwältigt werden, dass sie sich bekehren; dann wäre es aber nur „Teil einer kausalen Erklärung im Rahmen eines Protonarrativs: Das Wunder würde sich als Endpunkt einer Art elementaren Geschichte ergeben – aber damit wäre es eben kein Wunder mehr“49: Der Geschichte fehlt der || 49 So BLEUMER, Narratologie, S. 250, der hier ähnliche Ambivalenzen und Spannungen aufzeigen kann, wie sie bereits mehrfach bei der Bekehrung Konstantins herausgearbeitet worden sind: Würden die Heiden nämlich den Drachenbann als Wunder, als christlich-göttliches Zeichen verstehen, müssten sie sich nicht hinterher erst noch bekehren, da sie die entsprechende christliche Axiologie bereits erfasst hätten. „Das hieße: Die Legendenerzählung von der Bekehrung der Heiden durch den Sieg über den Drachen enthält eine narrative Erklärung, die in einem logischen Zirkel aber nur als

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für Narrative notwendige hermeneutische Überschuss, ebenso wie Silvesters Heiligkeit überzeitlich ist und bei Konrad somit von Beginn an voraussetzungslos feststeht. Die nicht von B2 abhängigen Fassungen des Passionals und der Kaiserchronik dagegen stellen den Drachenbann an den Schluss der Legende. Sie initialisiert daher nicht die Bekehrung Roms, sondern bestätigt vielmehr die herausragende Heiligkeit Silvesters, durch die der Glauben der Römer endgültig manifestiert wird. Auch wenn es sich nicht wie z.B. beim heiligen Georg um einen regelrechten Drachenkampf handelt, so sind die Fronten dennoch klar abgesteckt: Der Sieg des Heiligen über den stellvertretend für Satan stehenden Drachen veranschaulicht den Sieg über Teufel, Tod und Sünde, wobei der Heilige hier stellvertretend für Christus agiert, der diesen Sieg am Kreuz und in der anschließenden Höllenfahrt vollbracht hat. Es ist dadurch stets ein Nachvollzug des Triumphes Christi, denn in der Gestalt des Heiligen wird die Heiligkeit Gottes direkt wirksam. Die heilsgeschichtliche Wahrheit des Sieges am Kreuz ist transhistorisch wirksam und wird in der Person des Heiligen und seinem Sieg über den Drachen immer aufs Neue reaktualisiert, dem somit ein transgressiver Charakter zukommt. Im Passional ist Silvesters Drachenwunder insofern aber auch eine Glaubensangelegenheit, da das eben erst etablierte Christentum durch den Pesthauch des Drachen wieder ins Wanken gerät, zumal die heidnischen Priester, die schon Konstantin zum Bad im Kinderblut geraten hatten, dem Kaiser nun vorwerfen, der Drache sei erst mit dem Christentum aufgetaucht. Silvester muss daher das Gegenteil beweisen und wendet sich an Petrus, dessen Amtsgewalt als Papst er ja übernommen hat. Auf sein Gebet hin erscheint ihm der hl. Petrus und beauftragt ihn, mit zwei Priestern zu der Höhle des Drachen zu gehen und folgendermaßen zu ihm zu sprechen: unser herre Iesus Crist, der von der megede ist geborn, die im zu muter was erkorn nach gotelichen willen, der sich durch uns liez villen und an dem kruze leit den tot mit harte iamerlichen not an siner heiligen menscheit, der in ein grab wart geleit und erstunt von dem tode sit, darna nicht uber lange zit vur uf zu himelriche da er ebengeliche und ebenher ist genant || Resultat ausgibt, was sie selbst schon voraussetzt“ (ebd., S. 251). Vgl. ähnlich auch die Überlegungen zur Dionysius-Vita in Kap. 4.2.1.

424 | Legenden im Vergleich zu sines vater zeswen hant, der selbe tugenderiche Crist uns hernider kumftec ist an der werlde endes zil, als er urteilen wil aller menschen sache; hie von du boser trache, du tuvel tuvelhafter bote, geboten si dir nu von gote, daz du niemanne schade sist und alhie verborgen list biz uns derselbe tac kume, der dinen gewalt gar verdrume. (III 91, 7–33)

Silvester soll dann dem Drachen mit einer Schnur das Maul zubinden und dieses mit einem mit dem Kreuzzeichen versehenen Ring ‚versiegeln‘, damit wäre das Untier unschädlich gemacht. Petrus hilft auf diese Weise seinem Nachfolger im Amte des römischen Bischofs, die Bindung des Drachen steht nicht zuletzt in Zusammenhang mit der Binde- und Lösegewalt des hl. Petrus, die auf alle Päpste als seine Nachfolger übertragen ist. Besonders beachtenswert aber ist der äußerst lange Spruch, den Silvester zu dem Drachen sagen soll: Nicht von ungefähr nämlich geben drei Viertel (III 90, 7–26) dieses Bannspruches Teile des christlichen Glaubensbekenntnisses wieder, erst die letzten sieben Verse reden das Untier direkt an. In der Legenda aurea fällt diese Parallele noch deutlicher ins Auge, da hier die gleichen Formulierungen verwendet werden wie für das Credo der römischen Liturgie: Dominus noster Ihesus Christus de uirgine natus, crucifixus et sepultus, qui ressurexit et sedet ad dexteram patris, hic uenturus est iudicare uiuos et mortuos. Tu ergo Sathana eum in hoc loco donec uenerit expecta (LA 12, 223f.: Unser Herr Jesus Christus, geboren von einer Jungfrau, gekreuzigt, begraben und auferstanden, sitzend zur Rechten Gottes, wird kommen zu richten die Lebendigen und die Toten: Auch du, Satan, sollst an diesem Ort auf sein Kommen warten).50 Durch die rituell-liturgische Einbettung erhält der nachfolgende Bannspruch sein entscheidendes Gewicht, mit dem Drachen wird der Teufel selbst angeredet, er ist ein tuvel tuvelhafter bote (III 91, 28), höllischer Abkömmling und Teufel selbst: Ungeheuer und Teufel überlagern sich. Zugleich eröffnet sich auf der paradigmatischen Ebene jener heilsgeschichtliche Zusammenhang, für den die Credo-Formulierung ihre eigentliche Wirksamkeit entfaltet: Eben weil Jesus Christus in seiner heiligen menscheit (III 90, 14) am Kreuz gestorben und danach wieder auferstanden ist, hat er Tod und Teufel besiegt, und aufgrund dessen kann nun auch der Drache/ || 50 Die Verwendung der Credo-Formel für den Drachenbann ist kennzeichnend für die B- und CRedaktionen der Silvesterlegende, vgl. POHLKAMP, Tradition, S. 41 mit Anm. 271. Derartige Kurzformen des Glaubensbekenntnisses waren für das Mittelalter nicht ungewöhnlich, hatten aber meist tridentinischen Charakter.

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Teufel gebunden werden. Die zweite bedeutende heilsgeschichtliche Komponente bildet der Schluss des ‚Credo-Teils‘, der von Christi Wiederkunft zum Jüngsten Gericht handelt: als er urteilen wil/ aller menschen sache (III 91, 25f.). Durch den Kreuzestod hat der Teufel die Macht über die Menschheit verloren, im Jüngsten Gericht aber wird er endgültig vernichtet werden. Es ist nur konsequent, dass der Spruch mit der Ankündigung dessen unmittelbar zum eigentlichen Drachenbann überleitet, der das Ungeheuer als das höllische Wesen anspricht, was es eigentlich ist. Demgemäß steht der dann folgende Drachenbann, der einen Akt rituellen Bindens einschließt, auch unter besonderer Betonung der Kreuzessymbolik: Der Ring mit dem Kreuzzeichen versiegelt den knoten (III 91, 42). Anders als das Credo-Zitat beim Stierwunder in Konrads Silvester-Legende, bei der das vergangene Ereignis der Auferstehung zum präsentischen Anliegen wird, schafft die Credo-Formel, gerade in ihrer zitierten Ausführlichkeit, hier eine zweifache Voraussetzung: Sie ist heilsgeschichtlich und bildet (in der Folge) die Voraussetzung für das Wirken des Heiligen in der Heilsgeschichte. Wie schon im ersten Passionalbuch (vgl. Kap. 3.2.8) erweist sich auch hier die außerordentliche Qualität liturgischer Inserate, da diese Formel in einzigartiger Verdichtung den gesamten heilgeschichtlichen Horizont zu eröffnen vermag, in dem der Heilige auf Erden zu wirken imstande ist. Damit ist auch der Drache Bestandteil des Glaubenskampfes, den Silvester führt, wodurch die heilsgeschichtliche Bedeutung seines Wirkens unterstrichen wird: Silvester hat nicht nur die Nachfolge im Amt des hl. Petrus angetreten, sondern steht wie dieser und alle Heiligen der communio sanctorum in erster Linie in der Nachfolge Christi. Dementsprechend wird der Drache gerade nicht getötet, sondern lediglich unschädlich gemacht, um keinen Schaden mehr an den Menschen anrichten zu können und gefesselt auf den Tag des Jüngsten Gerichts zu warten, an dem das endgültige Urteil über ihn gesprochen werden soll. Die Parallelen zum gefesselten Luzifer sind dabei ebensowenig zu übersehen wie die Parallelen zur Höllenfahrt Christi, die Silvesters Gang in die Drachenhöhle auszeichnen.51 Doch wie Christus beim Descensus keinen Widerstand zu erwarten hat, ist nun Silvester der Drache hilflos ausgeliefert, der mit dikeime sturme/ entorste nicht sie muen/ […] wand er lac sunder krefte gar (III 91, 65f. u. 70). Analog zu Luzifer in der Höllenfahrtszene ist auch der Drache nicht in der Lage, Silvester und der durch ihn repräsentierten heilsgeschichtlichen Wirkmächtigkeit Gottes standzuhalten. Wie Christus Luzifer in der Hölle fesselt, fesselt nun der Heilige als Stellvertreter Christi den stellvertretend für den Satan stehenden Drachen; ein ähnliches Stellvertreterverhältnis zeigt sich auch in Petrus und Simon Magus (vgl. Kap. 4.2.2). Der eigentliche Drachenbann wird daher gar nicht || 51 Von einer gruben (III 91, 54) und von einem berc (III 90, 33) ist die Rede, man muss also eine Höhle im Innern eines Berges annehmen, wie es auch die Legenda aurea beschreibt, wo Silvester 150 Stufen in die Drachenhöhle hinabsteigen muss. Weitere Höllenparallelen sind auch im ubele[n] ruch (III 91, 61), der aus der Höhle dringt, zu erkennen, sowie in den glühenden Augen des Drachen (vgl. III 91, 67).

426 | Legenden im Vergleich mehr erzählt: Silvester warb mit dem trachen/ als er werben solde (III 91, 75f.), nach vollbrachter Tat kehrt er an die Oberfläche zurück, ganz anders als bei Konrad kann sein Gang in die Drachenhöhle daher wahrlich als ein descensus ad infernos gesehen werden und offenbart auf gänzlich andere Weise die Christoformitas des Heiligen.52 In der Kaiserchronik dagegen dient die Bekämpfung des Drachens ähnlich wie die Disputation der Sicherung des christlichen Glaubens im Römischen Reich, während sie im Passional als Herausforderung der letzten heidnischen Priester erscheint.53 Die frisch Konvertierten beginnen angesichts des durch den Drachen ausgelösten Leids sofort wieder am neuen Glauben zu zweifeln: sumelîche cristen,/ die mit gote niht wâren veste/, die sprâchen, wâ ir grôzer got waere? (KC 10521–23), daher muss Silvester vor allem seine Amtsgewalt als Papst und geistlicher Führer unter Beweis stellen. Wenn Petrus auf das Bittgesuch hin erscheint, so bestätigt er auch zunächst Silvesters päpstliches Amtsverständnis – nû hâstû von gote den gewalt/ ze lôsen und ze binden (KC 10560f.) – und überreicht ihm einen Schlüssel, jenes Attribut, das die Binde- und Lösegewalt des hl. Petrus bezeichnet (die Kette, ein weiteres Attribut Petri, fehlt ebenso wie der Ring mit dem Kreuzzeichen). Die Worte, die er Silvester dann vorspricht, um den Drachen zu bezwingen, ähneln fast schon einer Beschwörungsformel: hec dicit apostolus: hie mit soltû beslozzen sîn, gebiutet dir sancte Peter der maister mîn, unz an dem jungisten tage. (KC 10568–10571).54

|| 52 Es ist bemerkenswert, dass in dem Glaubensbekenntnis, das die von Petrus überbrachte Formel beinhaltet, Jesu Kreuzestod und Auferstehung genannt werden, nicht aber der in der liturgischen Credo-Formel ebenfalls essentielle Satz descendit ad infernos: nämlich das, was von Silvester in seiner Christomimesis tatsächlich vollbracht wird. POHLKAMP. Tradition, S. 42 betont ebenfalls die Descensus-Analogie, die noch insoweit verstärkt wird, als er für die ältesten Versionen der Acta Silvestri die (offenbar auch lokalgeographisch gebräuchliche) Bezeichnung Infernus für den Ort der Drachenhöhle nachweisen kann. In der Version B1, die solche topographischen Hinweise vernachlässigt, wird demnach der Ort als quasi ad infernum benannt (vgl. ebd., S. 47). 53 Die Kaiserchronik schiebt hier noch die (in den Legendaren eigenständig gestaltete) Erzählung zur Kreuzfindung ein, in deren Mittelpunkt jedoch Helena steht, der im Kontext der Chronik, der es ja in erster Linie um die Taten der römischen Herrscher geht, ein bedeutender Stellenwert zukommt. Für die Stellung Silvesters hat dieser Einschub daher keine Bedeutung. Mit der Gründung Konstantinopels wird der Abschnitt zu Kaiser Konstantin abgeschlossen und endet mit der für die Kaiserchronik üblichen Schlussformel – die Erzählung geht aber mit Silvester noch weiter. 54 Diese Formel ist umso erstaunlicher, als sie nicht der älteren A-Redaktion der Silvesterlegende entnommen ist, der die Kaiserchronik ansonsten weitgehend zu folgen scheint, sondern der B1-Redaktion, die den Drachenkampf aber an den Anfang der Erzählung stellt, vgl. POHLKAMP, Tradition, S. 47, der die Formel der B1-Redaktion folgendermaßen wiedergibt: Haec dicit apostolus Christi Pe-

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Allerdings verwendet Silvester später eine ganz andere Formulierung, wobei der eigentliche Abstieg in die Drachenhöhle anders als im Passional, das darin jene Analogien zum descensus ad infernos setzt, gar nicht dargestellt wird: dû vil unrainer hunt! nû arnest dû hie zestunt swaz dû mennischen dehainem in der werlte ie getaet ze laide. (KC 10588–91)

Sodann dreht Silvester mit den Worten hie mit sîstû gebunden/ unz an den jungisten tach (V. 10593f.) den Schlüssel um (worin bleibt unklar, von einer Tür o.ä. war vorher nicht die Rede), so dass die Höhle verriegelt und der Drache mit dem hailigen crûce besigelet (V. 10599) für immer gebannt ist. Im Unterschied zur Formelhaftigkeit magischer Sprechakte verkündet Silvester nicht allein das Gebot des Apostelfürsten (hec dicit apostolus KC 10568), sondern zeigt seine Souveränität, indem er autonom als dessen Nachfolger handelt, wobei die Brücke dazu die Übergabe des Schlüssels als die Gewalt, das Böse zu binden, darstellt. Der Papst bannt den Drachen nicht mit Hilfe einer (quasi-) magischen Formel, sondern aufgrund seines heiligen Charismas und der Realpräsenz des Apostels.55 Die Wirksamkeit des Bannspruches beruft sich daher nicht auf die Macht des Christengottes, den Tod und den Teufel zu besiegen, wie es die Credo-Formel des Passionals nahelegt, sondern wird vielmehr „aus der besonderen dem Petrus als Stellvertreter Christi zukommenden Binde- und Lösegewalt abgeleitet.“56 Während das Passional also Silvester als Heiligen und damit als stellvertretend für Christus Handelnden präsentiert, thematisiert die Kaiserchronik erneut die Legitimierung des Papstes neben der weltlichen Macht der Kaiser und gestaltet Silvesters Heiligkeit kongruent zu Macht und Befugnissen des Papstamtes, indem er vor allem im Namen seines Amtsvorgängers Petrus handelt.

9.2.4 Zusammenfassung Silvesters Heiligkeit profiliert sich in den einzelnen Wunderhandlungen, die seine heilige virtus und charismatische Begnadung, seinen unmittelbaren Kontakt zur Transzendenz erweisen. Im großen Erzählgefüge der Gesamtlegende erscheint Sil|| trus: Istae ianuae non aperiuntur nisi in die iudicii. Zum Bezug der Formel zu Zaubersprüchen vgl. ebd., S. 43. 55 Diese Realpräsenz liegt vor allem im Schlüssel, den der Apostel Silvester überreicht; es wäre aber auch möglich, dass Silvester ganz konkret Petri Reliquien mitnimmt, denn die Bemerkung er hiez das heilictuom mit samt im tragen (V. 10576) kann sich sowohl auf die Petrus-Reliquien als auch lediglich auf besagten Schlüssel beziehen. 56 POHLKAMP, Tradition, S. 47.

428 | Legenden im Vergleich vester dadurch als derjenige, der dem Christentum im römischen Weltreich – und damit auf der gesamten Welt – zum Durchbruch verholfen hat. Geschichte und Heilsgeschichte, die im Mittelalter stets zusammen gesehen werden, erfahren durch ihn als Vollstrecker der göttlichen Providenz eine entscheidende Wendung, und allein die Einnahme einer solch herausragenden Rolle stellt schon die große Heiligkeit Silvester heraus. Die verschiedenen Versionen der Silvesterlegende weisen, anders als das bei der Christophorus-Legende der Fall war, zumeist nur oberflächliche Divergenzen auf, belassen aber die Erzählkerne sowie deren narrative Inszenierung weitgehend gleich. Differenzen beruhen vor allem auf dem unterschiedlichen Rezeptions- und Entstehungskontext der einzelnen Werke. So ist das Passional als Legendensammlung vor allem daran interessiert, den Heiligen in seiner Mittlerfunktion zwischen Gott und den Menschen zu zeigen, die von ihrem obersten Vertreter Konstantin repräsentiert werden. Daraus resultiert eine Art Gewaltenteilung zwischen Kaisertum und Papsttum, wie sie dem mutmaßlichen Laienpublikum des Legendars entsprechend vertraut gewesen sein dürfte: Der Kaiser soll der Herrscher in weltlichen Angelegenheiten sein, der Papst besitzt die geistliche Gewalt und ist das Oberhaupt der Priester und Bischöfe. Dabei profiliert das Passional vielleicht am deutlichsten der drei Versionen die Heiligkeit Silvesters, indem die drei zentralen Wunderhandlungen – Heilung Konstantins, Stierwunder und Drachenbann – seine Mittlerposition augenfällig machen. Stellt die Auferweckung des Stiers die fundamentale Differenz zwischen Wunder und Magie heraus, so wird diese in der abschließenden Drachenepisode zwar nicht erneut verhandelt, aber auf ihre Grundlagen zurückgeführt. Hier jedoch wird mit der Credo-Formel ein heilsgeschichtlicher Horizont eingezogen, mit dessen Einbindung das einfache Wort durchs Gebet, durch die Liturgie ersetzt wird. Es ist jedoch – und gerade das unterscheidet diese Wunderhandlung von magischen Sprechakten – nicht die Formel an sich, sind nicht die bloßen Worte entscheidend, sondern der damit verbundene Glaube sowie die heilsgeschichtlichen Konsequenzen, die darin aufgerufen sind. So gipfelt in jener Episode die imitatio Christi dieses Bekennerheiligen, die sich weniger in einer asketischen Leidensfähigkeit des weißen Martyriums als vielmehr in einem descensus ad infernos zeigt, bei dem der Heilige den teufelsgleichen (nicht nur ihn repräsentierenden) Drachen bindet bis zum Jüngsten Gericht. Der so gestaltete Akt des Nachvollzugs wird durch die liturgische Formel, die Petrus dem Heiligen auf den Weg gibt und die die Handlung in den entsprechenden heilsgeschichtlichen Kontext einbettet, auch im discours evident.57 Anders verfährt die viel früher entstandene Kaiserchronik, die auch keine bloße Legendensammlung darstellt, sondern sich als Geschichtswerk versteht. Ihr geht es

|| 57 Vgl. zur Verbindung von liturgischer Formel und Zauberspruch auch POHLKAMP, Tradition, S. 43, der im Zusammenhang mit der Silvesterlegende den descensus als Bindeglied zwischen passio und resurrectio sieht.

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in der Konstantin/Silvester-Erzählung vorrangig darum, historisch-heilsgeschichtliche Zusammenhänge zu erfassen: Die Etablierung des Christentums in Rom, die Konstantinische Schenkung, die Stärkung des Papsttums und seiner Beziehung zum Kaisertum. Wie herausgehoben dabei die Rolle Silvesters neben der Konstantins ist, wird nicht zuletzt an einem für dieses Werk wesentlichen formalen Kriterium deutlich: Silvester nämlich ist der einzige Papst und Heilige, der in der Kaiserchronik eine eigene Schlussformel erhält, die sonst ausschließlich den kaiserlichen Herrschern vorbehalten ist und die üblicherweise Regierungszeit und Todesart aufzählt. Während Konstantin bereits nach der Kreuzfindung und Gründung Konstantinopels mit einer entsprechenden Schlusswendung aus der Erzählung abgetreten ist, erhält nun auch Silvester eine solche Formel, die seine genaue Amtszeit (24½ Jahre und fünf Tage) beinhaltet, jedoch mit einem Gebet in einen typischen Legendenschluss mündet, der den Fürbittcharakter des Heiligen betont. Durch die beiden Schlussformeln, eine für den Kaiser und eine für den Papst, zeigt die Kaiserchronik die Konzeption der Gewaltenteilung und der idealen Herrschaftsausübung zwischen diesen beiden Gestalten nochmals in aller Deutlichkeit auf.58 Darum muss Silvester hier stets in seiner Funktion als Papst und im Zusammenspiel mit dem Kaiser Konstantin betrachtet werden. Als geistlicher Führer, der die Römer zum Christentum bekehrt, erweisen sich seine thaumaturgischen Fähigkeiten vielfach als Reaktualisierung der Allmacht Gottes, in der Nachfolge des hl. Petrus kann er jedoch autonom von dessen Wirkmächtigkeit handeln, ja mehr noch: Der Drachenbann zeigt, dass er in der Nachfolge des Apostels selbst wie dieser gebieten kann – die Eingangsworte der Formulierung Petri (hec dicit apostulus) können direkt auf Silvester übertragen werden, seine Heiligkeit ist somit nicht zuletzt eine Partizipation an der Heiligkeit Petri und legitimiert damit die für die Kaiserchronik so entscheidende Rolle des geistlichen Herrschers. Silvester wird von Beginn an als Heiliger präsentiert, was durch das Fehlen eines vitenähnlichen Vorspanns erst recht ins Auge sticht. Konrad von Würzburg dagegen hat den Silvesterstoff auf über 5000 Verse literarisch ausgestaltet. In diesem Umfang und herausgelöst aus einem größeren Zusammenhang, wie ihn in unterschiedlicher Weise sowohl die Kaiserchronik als auch die Legendensammlungen bieten, ist der legendarische Status der Erzählung allerdings unsicher geworden: Als Einzelerzählung angelegt, überschreitet Konrad damit Gattungsgrenzen, so dass sein Text von epischer Länge zwischen hagiographischen und romanhaften Erzählformen changiert.59 Indem Konrad seinen Auftrag|| 58 Vgl. Dagmar NEUENDORFF, Studie zur Entwicklung der Herrscherdarstellung in der deutschsprachigen Literatur des 9.–12. Jahrhunderts, Stockholm 1982, S. 102. Das wird auch dadurch bestätigt, dass Silvester während der Abwesenheit des Kaisers, der Konstantinopel gründet, stellvertretend für ihn die Herrschaftsgewalt erhält. Entscheidend ist die einleitende Zusammenfassung der Schlussformel: Die haiden er bechêrte,/ die christenhait er wol lêrte (KC 10614f.). 59 Diese Problematik ist in der Forschung ausführlich und sehr unterschiedlich diskutiert worden, vgl. v.a. Klaus BRINKER, Formen der Heiligkeit, Bonn 1968, sowie Ulrich WYSS, Theorie der mittel-

430 | Legenden im Vergleich geber, den Basler Domherrn Liutold von Röteln, nennt, ist es möglich, neben dem Entstehungszeitraum auch seinen mutmaßlichen Rezipientenkreis zu betrachten, als der wohl vor allem das Basler Domkollegium und die städtische Oberschicht in Frage kommen, d.h. „ein in erster Linie höfisch orientiertes Publikum“.60 Doch fallen solche rezeptionsästhetischen Erwägungen für die eigentliche Inszenierung von Heiligkeit kaum ins Gewicht. Durch den abweichenden Gesamtaufbau der Legende, bei dem nicht der Drachenbann, sondern die Disputation den triumphalen Abschluss bildet, mit dem das Christentum endgültig als die einzig und wahrhaftige Religion erwiesen wird, offenbart sich Silvesters Heiligkeit Schritt für Schritt in einer sich steigernden Aneinanderreihung unterschiedlicher Wunder und Bekehrungen. Die Bekehrungen haben insofern einen narrativ prekären Status, als sie das Ergebnis (die Annahme des christlichen Glaubens) eigentlich schon voraussetzen müssen, um die Wirksamkeit der Wunderhandlungen zu erweisen. Erst mit dem besonders aufwendig inszenierten Stierwunder am Ende wird der argumentative Gottesbeweis der disputatio in einen konkreten, erfahrbaren überführt und weist insofern auch über die eigentliche Handlung auf die Rezipienten der Legende hinaus: Silvester vermittelt die Wunder Gottes an die Menschen, die Legendenerzählung vermittelt sie weiter an die nachfolgenden Rezipienten. Silvester erscheint noch deutlicher als in den übrigen Versionen als derjenige, der kraft seiner heiligen virtus dem Christentum zum Durchbruch gegenüber den anderen Religionen verholfen hat – dieses Gedenken und die Versicherung der Fürsprecherfunktion des Heiligen aufrecht zu erhalten, ist nicht zuletzt Anliegen der Erzählung Konrads von Würzburg. In allen drei Versionen zeigen sich signifikante narrative Strategien legendarischen Erzählens: Umschlagsmomente inszenieren das Wirksamwerden des von Anfang an mit den entsprechenden Charismata ausgestatteten Heiligen in der Welt, das nicht prozesshaft ist und daher nicht als Entwicklung dargestellt werden kann. Diese Umschlagsmomente bestimmen vor allem die Erzählung von der Bekehrung Konstantins wie auch der Juden nach der Disputation. Signifikant sind insbesondere die unterschiedlichen Strategien, die conversio Konstantins zu motivieren und zu begründen. Gesinnungswandel und Bekehrung sind Grundvoraussetzungen für die Taufe, die die Heilung verspricht. Die Finalität dieses Moments tritt in der Kaiserchronik am stärksten hervor und ist bei Konrad weit zurückgenommen, wo sie statt dessen auf die Bekehrung der Römer durch Silvesters Drachenbann verlegt sind.

|| hochdeutschen Legendenepik, Erlangen 1973. Während BRINKER sich mehr auf die Darstellung hagiographischer Erzählformen in diesen Texten konzentriert, betrachtet WYSS diese aus der Perspektive hochliterarischer, höfisch-epischer Erzählungen, wobei der darin angelegte ästhetische Anspruch aus literaturtheoretischer Sicht durchaus fragwürdig ist. 60 KLIEGE-BILLER, Studien, S. 188. Zur mutmaßlichen Entstehungszeit im Jahr 1273 vgl. ebd., S. 160ff.

Ein kurzer Ausblick auf die Elisabethlegende | 431

Trotz der äußerst unterschiedlichen Kontextualisierung zeigt sich also, dass die narrative Aufbereitung dieses Stoffes stets unter den gleichen Operationsformen geschieht, jedoch mit jeweils anderen Akzentuierungen. Für die Kaiserchronik steht nicht die Inszenierung von Heiligkeit im Vordergrund, sondern vielmehr die Inszenierung und Repräsentation von Herrschaft, Konrad von Würzburg hingegen lässt seine Erzählung zu einem Triumph des Christentums werden, dessen Überlegenheit der Heilige über die gesamte Erzählung hinweg offenbart; Heiligkeit erweist sich als Repräsentation göttlicher Macht. Dagegen wird im Passional Heiligkeit vor allem als imitatio Christi inszeniert. Dass die Drachen-Episode dort am Schluss der gesamten Erzählung steht, ist durchaus symptomatisch: Während Märtyrerlegenden auf den Tod des Protagonisten zulaufen, wodurch sie in imitatio des Kreuzestodes Heiligkeit erlangen, läuft die Erzählung des Passionals ebenfalls auf eine imitatio heraus, jedoch nicht des Todes, sondern des descensus, der Bindung des Teufels und des Wiederaufstiegs aus der Hölle; die liturgischen Credo-Zitate stellen dabei die Verknüpfung zur sich immer wieder neu ereignenden Heilsgeschichte her. Insgesamt zeigt sich, dass sich zwar höchst unterschiedlich von Heiligkeit erzählen lässt; die narrativen Inszenierungsformen bleiben jedoch weitgehend die gleichen.

9.3 Ein kurzer Ausblick auf die Elisabethlegende Nur noch umrisshaft soll abschließend an einem dritten Beispiel skizziert werden, welches Potential sich bei einem solchen Vergleich unterschiedlicher Fassungen aus dem bisher Gezeigten noch erschließen ließe. Dazu sollen nur einige wenige Bemerkungen zur Gestalt und Vita der hl. Elisabeth von Thüringen gemacht werden, die angesichts der Vielzahl unterschiedlicher Viten (in Latein und in Volkssprache) notwendigerweise stichpunktartig ausfallen müssen. Zudem soll dieser Ausblick ganz bewusst zeigen, dass die hier angestoßenen Überlegungen noch längst nicht an ihre Grenzen gestoßen sind. Nur wenige Heilige des Spätmittelalters haben eine derart weitläufige Legendentradition hervorgebracht wie Elisabeth von Thüringen, mit der höchst unterschiedliche Textformen verbunden sind: von Hymnen über Predigten bis in den Kontext der Liturgie hinein.61 Von franziskanischer Spiritualität erfüllt, hat die ungarische Königstochter versucht, das Armutsideal mit ihrer bedeutenden Stellung als Gemahlin Ludwigs IV. von Thüringen erfolgreich zu verbinden. Nach Ludwigs Tod zunächst beinahe mittellos, konnte sie auf Intervention ihres Beichtvaters Konrad von Marburg dann ein Hospiz errichten, in dem sie sich selbst ganz der Kran-

|| 61 Vgl. nur das bei weitem nicht vollständige Verzeichnis von Ortrud REBER, Die Gestaltung des Kultes weiblicher Heiliger im Spätmittelalter. Die Verehrung der Heiligen Elisabeth, Klara, Hedwig und Brigitta, Hersbruck 1964, S. 35–46.

432 | Legenden im Vergleich ken- und Armenpflege verschrieb, wo sie 1231 mit gerade einmal 24 Jahren starb und nur vier Jahre später heiliggesprochen wurde. Als verheiratete Frau aus dem Hochadel nimmt sie dabei eine absolute Sonderstellung unter den Heiligsprechungen des Mittelalters ein. Ihr Kult allerdings etablierte sich sehr rasch, und so ist es nicht verwunderlich, dass auch das Interesse an ihrer Vita ausgesprochen rege war – nicht der einzige Berührungspunkt mit Franz von Assisi.62 Die Elisabethlegende im Passional stellt in mehrerlei Hinsicht eine Besonderheit dar. Ähnlich wie die Franziskus-Vita basiert sie als einer der wenigen Texte nicht auf der Legenda aurea als Vorlage, vielmehr hat sich der Passionaldichter hier hauptsächlich der ältesten Lebensbeschreibung Konrads von Marburg bedient, dem als Beichtvater der Heiligen offensichtlich größere hagiographische Autorität zugestanden wurde. Konrads Summa vitae dürfte kurz nach Elisabeths Tod, wohl um 1232 entstanden sein und stellt somit ein unmittelbares hagiographisches Zeugnis zu dieser Heiligen dar; Konrad war es auch, der die Kanonisation Elisabeths bei Papst Gregor IX. in die Wege leitete. Als zweite Quelle zieht das Passional das nur wenig später (1234/36) entstandene Libellus de dictis quatuor ancillarum confectus heran, „eine erste redaktionelle Bearbeitung der Aussagen von vier Gefährtinnen Elisabeths“63, deren Erstfassung kurz danach eine etwas längere zweite folgte. Die wenig später zu datierende Elisabethvita, die Caesarius von Heisterbach 1236/37 im Auftrag des Marburger Deutschordenshauses verfasst hat, hat der Verfasser des Passionals jedoch ebensowenig herangezogen wie die in der Rezeptionsgeschichte wohl wirkmächtigste Lebensbeschreibung des Dominikaners Dietrich von Apolda, die, 1297 vollendet, ihm möglicherweise einfach noch nicht vorgelegen hatte.64 Wie Franziskus ist auch Elisabeth eine Gestalt der unmittelbaren Zeitgeschichte, ja der Reichsgeschichte und insofern für Verfasser wie Rezipienten des Passionals gleichermaßen tief im kollektiven Gedächtnis verankert. Dies dürfte jedoch nicht der einzige Grund sein, weshalb der Passionaldichter bei diesen beiden Heiligen von seiner üblichen Vorlage abgewichen ist, auch wenn es wahrscheinlich ist, dass er gerade für so populäre und ‚neue‘ Heilige im Besitz von aktuellen, ausführlicheren und aus seiner Sicht entsprechend glaubwürdigen Quellen gewesen ist. Hinzu kommt, dass gerade Elisabeth als Heilige für den Deutschen Orden, mit dem das || 62 Vgl. zur franziskanischen Spiritualität Elisabeths Matthias WERNER, Elisabeth von Thüringen, Franziskus von Assisi und Konrad von Marburg, in: Dieter BLUME u. Matthias WERNER (Hg.), Elisabeth von Thüringen – eine europäische Heilige, Bd. 2: Aufsätze, Petersberg 2007, S. 109–135. 63 Stephanie HAARLÄNDER, Zwischen Ehe und Weltentsagung. Die verheiratete Heilige – Ein Dilemma der Hagiographie, in: Christa BERTELSMEIER-KIERST (Hg.), Elisabeth von Thüringen und die neue Frömmigkeit in Europa, Frankfurt a. M. u.a. 2008, S. 211–229, hier S. 215. 64 Zur Verwendung der Quellen im Einzelnen vgl. mit einem Stellenvergleich Maria OESSENICH, Die Elisabethlegende im gereimten Passional, in: ZfdPh 49 (1923), S. 181–195. Während die ohnehin nicht in allen Handschriften überlieferte Elisabethlegende der Legenda aurea nach der kürzeren, früheren Fassung des Libellus gestaltet ist, hat der Passionaldichter neben Konrads Summa vitae die längere Fassung benutzt, die Legenda aurea jedoch nur an wenigen Stellen.

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Passional in Verbindung gebracht wird, eine maßgebliche Rolle gespielt hat.65 Nicht zuletzt gründete die stark von der franziskanischen Spiritualität geprägte Elisabeth in Marburg, auf ihrem Witwengut, ein Franziskus-Hospital, das 1234 der Deutsche Orden übernommen hatte; ebenfalls der Deutsche Orden begann mit dem Bau einer Elisabeth-Kirche nach der Kanonisation 1235 über dem Grab der Heiligen.66 Dass die Elisabethvita des Passionals eher schlicht gehalten ist, liegt möglicherweise auch an der benutzten Quelle, der Summa vitae Konrads von Marburg, die nur eine sehr knappe, dafür aber als besonders authentisch geltende Lebensbeschreibung gibt, welche der Passionaldichter mit Elementen des Libellus angereichert hat, wodurch eine relativ gleichförmige Aneinanderreihung verschiedener Tugenden (insbesondere der Armenfürsorge) und Wunder entsteht.67 Vergleicht man daher diese Elisabethlegende mit anderen Versionen, so zeigt sich hier eine „durchgängige Reduktion alles Äußerlichen“68. Denn die paradigmatische Aneinanderreihung von Einzelepisoden läuft nicht auf ein Umschlagsmoment zu, vielmehr wird in jeder dieser Episoden immer aufs Neue die Tugendhaftigkeit herausgestellt, die sich wie bei Franziskus in der durch Selbststigmatisierung bewirkten imitatio Christi erweist. Während Franziskus jedoch eine breit inszenierte conversio

|| 65 Vgl. GEMEINHARDT, Die Heiligen, S. 68. Neben der Gottesmutter Maria ist Elisabeth von Thüringen die erste Patronin des Ordens, zweiter Patron ist der hl. Georg. Insbesondere in der Liturgie nimmt Elisabeth dabei eine zentrale Stellung noch vor dem Ritterheiligen Georg ein, dem zwar eine größere Zahl von Patrozinien innerhalb des Ordens zugewiesen werden kann, während insbesondere dem Festtag der hl. Elisabeth unter den Hochfesten des Ordens eine bedeutendere Stellung zukommt. Vgl. Anette LÖFFLER, Elisabeth in der Liturgie des Deutschen Ordens, in: Christa BERTELSMEIER-KIERST (Hg.), Elisabeth von Thüringen und die neue Frömmigkeit in Europa, Frankfurt a. M. u.a. 2008, S. 133–149. Elisabeths Mann Ludwig IV., auch er wie ein Heiliger verehrt, aber nicht offiziell kanonisiert, trat selbst in den Deutschen Orden ein und starb auf dem 5. Kreuzzug. Umso erstaunlicher ist es andererseits, dass der Passionaldichter ausgerechnet die vom Deutschen Orden angestoßene Lebensbeschreibung des Caesarius von Heisterbach gerade nicht verwendet hat, die allerdings auch sonst nur eine dürftige Überlieferung erfahren hat. Erneut zeigen sich hier Bezüge zum Orden, die aber nicht konkret genug sind, um weitergehende Schlüsse daraus zu ziehen. 66 Vgl. FEISTNER, Typologie, S. 234, die auch auf weitere Berührungspunkte des Deutschen Ordens mit den Franziskanern hinweist, so nicht zuletzt die „gemeinsame Affinität zur Kreuzzugsbewegung“ (ebd., S. 235). Zur historischen Gestalt der Elisabeth vgl. überblicksweise Ortrud REBER, Elisabeth von Thüringen – Landgräfin und Heilige. Eine Biographie, Regensburg 2006; vgl. auch GEMEINHARDT, Die Heiligen, S. 64–69. 67 Zu den volkssprachigen Elisabethviten vgl. schon den Überblick von Ludwig WOLFF, Die heilige Elisabeth in der Literatur des deutschen Mittelalters, in: Hessisches Jb. f. Landesgeschichte 13 (1963), S. 23–38, zu den dort unbeachteten Legendar-Versionen vgl. Martin J. SCHUBERT, Das Leben der heiligen Elisabeth im Spiegel der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters, in: Christa BERTELSMEIER-KIERST (Hg.), Elisabeth von Thüringen und die neue Frömmigkeit in Europa, Frankfurt a. M. u.a. 2008, S. 275–294, zum Passional S. 281–83. 68 Edith FEISTNER, (Rück-) Blicke auf ein facettenreiches Heiligenleben. Die Legende der heiligen Elisabeth von Thüringen aus dem ‚Passional‘ im Kontext der mittelalterlichen Hagiographie, in: Theologie der Gegenwart 50 (2007), S. 105–116, hier S. 111.

434 | Legenden im Vergleich erfährt, in der ein Umschlagen zur Heiligkeit erkannt werden darf, fehlt eine solche bei Elisabeth, die schon von klein auf als heiligmäßig gezeichnet wird. Es sollen hier nun lediglich Grundzüge dieser Legende angesprochen und auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede mit zwei weiteren Versionen hingewiesen werden, ohne dies jedoch in umfangreichen Einzelanalysen genauer zu verifizieren. Alle diese Viten sind von den Spannungsfeldern Stigma und Charisma sowie Inklusion und Exklusion geprägt, die jeweils aus dem imitatio-Wunsch, dem Bestreben Elisabeths nach radikaler Nachfolge, resultieren. Dargestellt wird dies einerseits durch ihre geradezu exzessive Selbststigmatisation, zunächst am Thüringischen Hof, wo Elisabeth allen höfischen Prunk von sich weist und ein asketisches Leben im Gebet führt, dann durch die intensive Armen- und Krankenfürsorge, die insbesondere nach dem Tod Ludwigs zu einer radikalen Selbstaufgabe der eigentlich hochadeligen Königstochter führt. Dass Elisabeth sich dabei ausdrücklich in einer franziskanischen Tradition gesehen hatte, ist auch anderweitig historisch verbürgt,69 schlägt sich aber ebenso in ihrer Vita nieder, wo die entsprechenden Armutsideale aufgegriffen werden. Statt eines zentralen Umschlagsmoments wird hier hingegen immer wieder im Kleinen der Umschlag von Stigma zum Charisma vorgeführt: Selbststigmatisierung schlägt um in Wunder, in Visionen und mystische Gottesschau. Die entsprechenden Basisoppositionen müssen daher in den jeweiligen Einzelepisoden immer wieder herausgestellt werden, und das Passional tut dies, indem es immer wieder den Kontrast zwischen hochadeliger Herkunft (hochgelobetez kunne; III 618, 30), Schönheit und Status auf der einen Seite und ihrem gottesfürchtigen und mildtätigen Handeln auf der anderen Seite betont. Ihr Adelsstand wird, wie bei zahlreichen anderen Heiligengestalten des Passionals, als ein „Seelenadel“70 begriffen, der Grundlage ihrer Heiligkeit ist. Entgegen ihrer Stellung lässt sie sich auch beim Gottesdienst, einem der Orte höfischer Repräsentation schlechthin, ausdrücklich keinen bequemen Platz herrichten, keinen Platz mit richen tepten, noch mit pfuln,/ da sich demut pflit besuln/ verdringen von homute (III 619, 73–75). Statt dessen stellt sie sich mit dem gemeinen Volk in eine Ecke als die armen vrowen tunt (III 619, 86). Sie, die sich von einer Schar Diener bedienen lassen könnte, dient stattdessen den Armen und Kranken (da selbe ir dienerinne was/ die edel lantgrevinne; III 620, 30f.). Immer wieder wird so ihre Selbststigmatisierung inszeniert und ebenso als charismatische Begnadung bestätigt, wenn etwa berichtet wird, sie nehme selbst nur Wasser und Brot zu sich. In dieser Situation wird von einem Bestätigungswunder berichtet, denn als ihr Mann, höfische Festmähler gewohnt, dieses Essen mit ihr einnimmt, bemerkt er die Differenz nicht: seht, wa ez in duchte sin/ die wile er tranc der beste || 69 Vgl. WERNER, Elisabeth, S. 112; vgl. auch Maria Pia ALBERZONI, Elisabeth von Thüringen, Klara von Assisi und Agnes von Böhmen. Das Franziskanische Modell der Nachfolge Christi diesseits und jenseits der Alpen, in: Elisabeth von Thüringen – eine europäische Heilige, Bd. 2: Aufsätze, hg. v. Dieter BLUME u. Matthias WERNER, Petersberg 2007, S. 47–55. 70 FEISTNER, (Rück-) Blicke, S. 113.

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win,/ den er getrunke lange zit (III 620, 81–83). Abgesehen von der biblischen Parallele zur Hochzeit von Kanaa wird hier im Kleinen ein Umschlagen vom Stigma zum Charisma deutlich: Das an sich unziemliche Getränk der Fürstin erweist sich nicht nur als standesgemäß, sondern als der beste Trunk überhaupt. Der Kontrast wird verschärft dadurch, dass Elisabeth zwar durchaus auch in höfischem Prunk in Erscheinung tritt, dies jedoch ausschließlich aus Gründen der Staatsräson, wenn ihr Gemahl mit seinen Rittern anwesend ist: so muste ouch uf den palas und anderswa her und dar, da ir der herre wart gewar, Elizabet wol bekleit gen mit voller richeit, da ir nie liebe an geschach; idoch die richeit, daz gemach und die ere uberlut enmochte nicht die gotes brut von dem brutegoume entzien, Cristo, der sich zu ir spien in daz ioch der minnen. sie truc Cristum enbinnen under eime kleide herin (III 620, 44–57).

Zwar erfordert ihr adeliger Stand unter bestimmten Umständen prächtige Kleidung, dies aber wird sogleich zurückgenommen durch das härene Büßergewand, das sie, wie die dann folgenden Verse ausführen, unter dem scharlachen und siden gewant (III 620, 60) trägt, womit angedeutet ist, dass zwar Ludwig oberflächlich, in der Welt, ihr Gemahl ist, dem sie sich auch fügen muss, dass ihr eigentlicher, transzendenter brutegome jedoch Christus ist, womit ein Motiv der Cäcilienlegende aufgenommen wird, wo die Heilige bei ihrer Vermählung ebenfalls ein härenes Kleid unter dem Hochzeitsgewand trägt.71 Dadurch umgeht das Passional auch das grundlegende Problem, dass es sich bei Elisabeth um eine verheiratete Frau handelt, die anders als z.B. Heinrich und Kunigunde nicht in keuscher Josephsehe gelebt, sondern ihrem Mann mehrere Kinder geboren hat.72 Zwar betont der Passionaldichter auch, dass sie den Verlust ihrer Keuschheit beklagt, kommentiert jedoch knapp, dass ihr hier kein Ausweg geblieben sei: nu des mochte nicht gewesen,/ si was ein erlichez wib (III 619, 24f.), um im

|| 71 Im Gegensatz dazu betont der Libellus mehrmals ausdrücklich die stets schlichte Gewandung Elisabeths, die immer auf weltlichen Glanz verzichtet habe. 72 Zu dieser Problematik vgl. HAARLÄNDER, Ehe, die für die lateinischen Vitenfassungen herausarbeitet, mit welchen Strategien sich die Autoren diesem hagiographischen Problem genähert haben. Schon Konrad von Marburg hebt in seiner Summa vitae die Eheunwilligkeit Elisabeths hervor, vgl. ebd., S. 216f.

436 | Legenden im Vergleich Anschluss sofort zu erklären, sie sei nachts nicht etwa im Ehebett gelegen, sondern hätte sich in Gebet und Selbstkasteiung geübt (des nachtes pflac si ufstan/ von ires mannes siten; III 619, 28f.), der implizierte sexuelle Verkehr wird also sogleich wieder abgebogen. Ansonsten aber wird die Ehe mit Ludwig kaum thematisiert, der daher auch keine Konturen erlangt: Er dient vor allem als Kontrastfolie, ist aber auch derjenige, der ihren Lebenswandel dennoch duldet.73 Mit Ludwigs Tod wird dann die Exklusion aus der Gesellschaft manifest, denn durch den Verlust ihres Witwenguts ist sie nun tatsächlich darauf angewiesen, wie eine Bettlerin zu leben. Indem sie sich für diesen Weg entscheidet und nicht, wie es ihrem Stand entsprechend erwartbar gewesen wäre, sich in ein Kloster zurückzieht, wird ihre Selbstexklusion weniger durch Weltabschied inszeniert denn durch radikale Selbststigmatisierung. Vor allem aber wird ihr Weggang vom Hof nicht als Vertreibung dargestellt, wie das die übrigen Viten und auch die Legenda aurea tun, sondern als mehr oder weniger freiwilliger Entschluss. Ein Einschnitt zeigt sich erst beim Umzug nach Marburg (die einzige konkrete Ortsangabe im Passional), was aber gerade kein Umschlagsmoment darstellt, sondern nur eine Steigerung und Vollendung ihrer Heiligkeit, vor allem da der Entschluss zur Armenfürsorge erneut als freiwillig stilisiert wird.74 Für den Verlust von Stand, Ansehen, Freunden und Besitz wird zwar auch der Teufel verantwortlich gemacht, dies jedoch fördert nur ihre Heiligkeit, in der sich die Tugenden von Maria und Martha, also vita contemplativa und vita activa zugleich, vereinigen (vgl. III 625, 25–30). Überhaupt benötigt sie all ihren Besitz und ihr Ansehen nicht, denn in ihren Augen findet sich nicht etwa der höfische Glanz, sondern vielmehr schon das Glänzen der Heiligkeit: diz konde got wol schicken,/ daz man ouch liechtez blicken/ glanstern uz ir ougen sach (III 625, 5–7). In ihrer letzten Lebensstation, im Spitaldienst, offenbart sich daher immer deutlicher ihre Heiligkeit, nicht zuletzt in einem mystischen Gespräch mit Christus – erneut schlägt die Stigmatisierung durch Selbsterniedrigung um, und zwar in mystisch-charismatische Gottesschau. Das erweist sich zuletzt auch in ihrem Tod, den sie vorhersagt; wunderbarer Duft steigt von ihrem Leichnam auf und mehrere Wunderheilungen geschehen an ihrem Grab. So ausführlich das Passional das Spannungsfeld von Stigma und Charisma in der Dichotomie von weltlich-höfisch und geistlich-selbsterniedrigend immer aufs Neue verortet, so knapp fasst es sich hier, wo diese Oppositionen nicht mehr richtig greifen. Das Passional schafft auf diese Weise eine „hagiographische Verdichtung || 73 Vgl. SCHUBERT, Leben, S. 283, der verdeutlicht, dass im Passional „die historische Situierung überwiegend ausgeblendet“ ist und außer Ludwig die gesamte Landgrafenfamilie nicht erwähnt wird – eine gänzlich andere Herangehensweise als beim Geschichtsschreiber Johannes Rothe (s.u.); vgl. auch FEISTNER, (Rück-) Blicke, S. 111f. 74 Vgl. FEISTNER, (Rück-) Blicke, S. 112 u. 114. FEISTNER betont, dass das Passional im Zusammenhang mit Ludwig keineswegs an einer Kreuzzugspropaganda interessiert sei, sondern einzig an Elisabeths aufopferungsvoller Armenpflege: Es sind ihre Tugenden, die ganz im Vordergrund stehen.

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von Elisabeths Leben“75, anders als die Legenda aurea, welche in einer losen und extrem knapp gehaltenen Aneinanderreihung möglichst vieler Wunder und TugendErweise inklusive einer langen Mirakelkette (die posthumen Wunder bleiben im Passional fast ganz außen vor) eine Art Sammlung von Einzelbelegen ohne große innere Kohärenz schafft. Das Passional präsentiert dagegen keinen vollständigen Lebenslauf, sondern eine „‚interessierte‘ Betrachtung“76 einzelner Stationen und erinnert damit an die Vorgehensweise bei der Franziskus-Vita, die ebenfalls nicht auf die Legenda aurea, sondern direkt auf franziskanische Quellen zurückgreift. Auch bei Franziskus bietet das Passional nicht einfach, wie Jacobus de Voragine es tut, eine fast zusammenhanglose Aneinanderreihung von Wundern und Tugenden, sondern eine stringente Inszenierung, die auf den zentralen Moment der Stigmatisierung hinausläuft und dabei einzelne Wunderereignisse zu größeren Abschnitten zusammenfasst, mithin also eine „andachtsbildartige Verdichtung“77. Wirft man nun einen kurzen Blick auf einige andere Versionen des Elisabethlebens, so zeigt sich, dass diese in ihrer Inszenierungsweise eher der Legenda aurea angeglichen sind. Dies soll anhand einiger Stichpunkte kurz erläutert werden: Die für das Spätmittelalter wohl wirkmächtigste Vita ist zweifelsohne das Elisabethleben Dietrichs von Apolda, die dem Passionaldichter aber wohl noch nicht vorgelegen hat.78 Diese sehr ausführliche und stilistisch vorbildgebende Vita stellt in zahlreichen Episoden immer wieder die hier bereits angedeutete Spannung von höfischadeligem Status und tugendhaft-demütiger Haltung heraus. Obwohl Dietrich die Frömmigkeit Elisabeths schon von Kindheit an betont, führt er hier bereits einen ersten Umschlagspunkt ein: Elisabeth sei nämlich einst an einem hohen Feiertag mit großem Gefolge, prächtig gekleidet und geschmückt (...monilibus gemmisque multis ornata et dyademate aureo coronata; Buch II, c. 4: Mit Ketten und Edelsteinen prächtig geschmückt und mit einer goldenen Königskrone gekrönt) in die Kirche gekommen. Beim Anblick des nackt am Kreuz hängenden Christus aber sei ihr der Gegensatz zu ihren kostbaren Gewändern in solcher Klarheit bewusst geworden, ebenso die Dornenkrone im Kontrast zu ihrem goldenen Diadem, dass sie ohnmächtig zu Boden gestürzt sei. Von da an, so fährt Dietrich im nächsten Kapitel fort, habe sie || 75 Ebd., S. 113. 76 Ebd., S. 115. 77 WOLPERS, Heiligenlegende, S. 32. 78 Zur lateinischen Vitentradition der hl. Elisabeth vgl. ausführlich Monika RENER, Lateinische Hagiographie im deutschsprachigen Raum von 1200–1450, in: Hagiographies. Histoire internationale de la littérature hagiographique latine et vernaculaire en occident des origines à 1550, hg. v. Guy PHILIPPART et al., Bd. 1, Turnhout 1994, S. 199–265, hier 239–246, zu Dietrich von Apolda S. 242ff. Die Vita des Caesarius von Heisterbach habe dagegen „nicht die Verbreitung gefunden, die sich der Deutschorden gewünscht hatte und die man von einem Werk dieses Autors hätte erwarten können“ (ebd., S. 241), weshalb dieses Werk für die folgenden Überlegungen unberücksichtigt bleibt. Zitiert wird nach folgender Ausgabe: Dietrich von Apolda, Das Leben der heiligen Elisabeth, hg. und übersetzt von Monika RENER, Marburg 2007.

438 | Legenden im Vergleich noch mehr ihren Körper vernachlässigt und allen Prunk ausnahmslos abgelehnt. Die im Spannungsfeld weltlich-geistlich verortete Selbststigmatisierung erhält auf diese Weise eine explizit auf die imitatio Christi zurückgeführte Begründung. Handlungslogisch aufgrund der von Kindheit an bestehenden Tugendhaftigkeit eigentlich unnötig, wird damit zugleich ein Umschlagsmoment inszeniert, das ihr späteres Verhalten zusätzlich motiviert. Ganz eindringlich wird dann vor allem die Vertreibung vom Thüringischen Hof nach Ludwigs Tod als Wende- oder Umschlagsmoment wiedergegeben. Dies umso mehr, als ihr Gelübde am Karfreitag, mit dem sie sich aller ihrer weltlichen Besitztümer lossagen will, breit ausgestaltet ist und erst ganz zum Schluss Konrad von Marburg eingreift, um zu verhindern, dass sie selbst auf ihr Witwengut verzichtet, mit dem schließlich ja später das Armenspital in Marburg gebaut werden soll. Eine weitere Besonderheit fällt im Umgang mit der Problematik der Ehe auf. Das zweite Buch von Dietrichs Vita beginnt mit einer Darstellung ihrer keuschen Ehe, wobei ausdrücklich nicht nur Elisabeth, sondern auch ihr Mann Ludwig darin gelobt wird. Das fünfte Buch befasst sich in den ersten Kapiteln gar ausschließlich mit dessen frommen Tugenden, darunter zuallererst seine Keuschheit, die Ludwig schon fast selbst in den Rang eines Heiligen erhebt, den er in der thüringischen Bevölkerung ja zumindest inoffiziell nach seinem Tode auch innehatte. Wenn hier also ein beinahe heiliges Fürstenpaar in keuscher Ehe stilisiert wird (ohne dass explizite Parallelen etwa zu Heinrich und Kunigunde gezogen werden), wird das Dilemma einer auf weltlicher Ehe basierenden Beziehung nicht durch den Kontrast (wie im Passional, das höfischem Prunk selbststigmatisierende Armut entgegensetzt), sondern durch den vom Ehepaar gemeinsam begangenen Weg zu Gott aufgelöst.79 Wenngleich sie sich dem ehelichen Verkehr so weit wie möglich zu entziehen sucht, bekommt Elisabeth dennoch Kinder (ein Punkt, den das Passional gänzlich übergeht), und auch dies weiß Dietrich wiederum ins Positive zu wenden: Schließlich seien Kinder das wichtigste Gut der Ehe, und Gott habe ihr auf diese Weise auch die Schande der Unfruchtbarkeit erspart (vgl. Buch II, c. 6). Auf einmal wird also doch wieder eine adelig-genealogische Begründung geliefert, um die Problematik sexuellen Verkehrs mit Elisabeths Heiligkeit zu vereinbaren. Ganz andere Kontextualisierungen weist dagegen das im ersten Viertel des 15. Jhs. entstandene Elisabethleben des Johannes Rothe auf.80 Rothe, bereits Verfasser mehrerer Thüringischer Chroniken, in denen er jeweils die Elisabethfigur und deren Vita eingearbeitet hatte, kommt es auch in seiner mit über 4000 Versen großangelegten Lebensbeschreibung vor allem auf eine chronologische und regionalhistori|| 79 Vgl. HAARLÄNDER, Ehe, S. 229. 80 Zitiert wird nach folgender Ausgabe: Johannes Rothes Elisabethleben. Aufgrund des Nachlasses von Helmut Lomnitzer hg. v. Martin J. SCHUBERT u. Annegret HAASE, Berlin 2005. Zu Überlieferung, Quellenbehandlung und zeitgenössischen Kontextualisierungen vgl. die ausführliche Einleitung zur Edition.

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sche Einbindung der Vita an. Während solche ‚historischen‘ und kausalen Zusammenhänge in den anderen Viten in der typischen Erzählweise hagiographischer Texte weitgehend vernachlässigt werden, „indem sie auf narrative Verknüpfungen und historische Einflechtung von Episoden ganz oder der Tendenz nach verzichten“81, um die Exemplarizität der Heiligen besser herausstellen zu können, setzt Rothe dagegen „immer wieder das heiligmäßige Dasein in Beziehung zur konkreten Geschichte der Stadt Eisenach und der Landgrafschaft Thüringen.“82 Statt also legendarische Exemplarisierung und Verallgemeinerung zugunsten einer Loslösung aus einem konkreten historischen Kontext anzustreben, verortet Rothes Vita die Heilige genau dort, in dem Umfeld, aus dem er stammt und für das er schreibt, nämlich – so wird vermutet – für die Mitglieder des Eisenacher Zisterzienserinnenklosters St. Katharinen.83 Nur so ist zu verstehen, dass sich die ersten knapp 700 Verse nicht um Elisabeth, sondern um die Entstehung der Landgrafschaft Thüringen, vor allem aber um den Sängerkrieg auf der Wartburg drehen und auch anschließend immer wieder Einschübe zu historischen Ereignissen oder Persönlichkeiten zu finden sind. Auch das für die Elisabethvita mittlerweile bekannte Rosenwunder wird in Bezug auf ein entsprechendes Gedenkkreuz in der Stadt erzählt. Nicht zuletzt ist die häufige Setzung von Jahreszahlen, vor allem zur Abschnittsgliederung, ein deutliches historiographisches Element. Dass jedoch auch die Weltgeschichte providentiell bestimmt ist, wird nicht zuletzt daran ersichtlich, dass ausgerechnet der teuflische Zauberer Klingsor Elisabeths Geburt aus den Sternen prophezeit: Von yr großin togint unde heilickeit/ Komet al dijt lant zcu selikeit (V. 521f.). Auch Rothe aber inszeniert Elisabeths Heiligkeit im Spannungsfeld von höfischer Pracht und demütiger Armut, was die Basisopposition von Stigma und Charisma verdeutlicht. Es wäre nun im Einzelnen zu analysieren, wie stark die darin liegenden Spannungen auch als Konflikte innerhalb der Hofhaltung dargestellt werden. Elisabeth nämlich muss sich bei Rothe immer wieder den kritischen Stimmen am Hofe aussetzen. Auch er inszeniert, wie Dietrich von Apolda, den Kirchgang und die Erkenntnis vor dem Gekreuzigten als einen Umschlagspunkt (vgl. V. 1353–1456), doch muss sich die junge Elisabeth hier gegen den Vorwurf des unstandesgemäßen Verhaltens verteidigen. Immer wieder also wird eine Konfrontation mit der Realpolitik demonstriert, werden politische Motive zur Begründung des Handlungsfortganges angeführt, um die genannten Oppositionspaare zu konturieren.

|| 81 Peter STROHSCHNEIDER, Johannes Rothes Verslegende über Elisabeth von Thüringen und seine Chroniken. Materialien zum Funktionsspektrum legendarischen und historiographischen Erzählens im späten Mittelalter, in: IASL 23 (1998), S. 1–19, hier S. 8. 82 Ebd., S. 9. 83 Vgl. ebd., S. 10f. STROHSCHNEIDER spricht vom „Modell eines kleinen, durch gegenseitige Vertrautheit aller Mitglieder gekennzeichneten Kommunikationsraumes“ (S. 11).

440 | Legenden im Vergleich Daher wäre es durchaus lohnend, gerade im Vergleich mit der stilisierenden Vita Dietrichs von Apolda genauer zu untersuchen, wie Rothes Elisabethleben die in dieser Untersuchung herausgestellten narrativen Inszenierungsformen konkret umsetzt, da zu fragen ist, inwieweit Rothe Elisabeth zugleich als heilige und historische Person herauspräparieren will. Vielfach dürften hier die gleichen poetischen Konzeptionen aufscheinen, doch die veränderte Kontext-Ebene sorgt auch für Veränderungen in discours und histoire. Aufgrund dieser nachhaltig differierenden Einbettung soll die Skizze zur Elisabethlegende hier jedoch abgebrochen werden; sie böte Stoff für eine weitere großangelegte Studie, für die die vorliegende Untersuchung das darin liegende Potential zumindest aufgezeigt haben sollte.

10 Schlussbemerkung: Erzählen vom Heiligen Von Heiligkeit und vom bzw. von Heiligen zu erzählen evoziert, so zeigen die Untersuchungen zum Legendenkorpus des Passionals, narrative Leerstellen, Paradoxien und Ambivalenzen. Diese resultieren aus dem ambigen Status des Heiligen selbst. Heiligkeit kann systemtheoretisch als Verfügbarmachung des Unverfügbaren beschrieben werden: Sie ist jenseits aller Differenzen; eine Erzählung wiederum kann Handlung nur erzeugen, indem sie Unterschiede setzt. Es zeigt sich andererseits jedoch, dass die Legenden diese Prämissen immer wieder unterlaufen. Heiligkeit wird nämlich durchaus als verfügbar gezeigt, indem die Legendenprotagonisten zumindest auf der Ebene der Handlung scheinbar umstandslos über die Transzendenz verfügen können. Der literaturwissenschaftliche Zugriff auf ‚das‘ Heilige muss daher methodisch und systematisch noch weiter ausholen, zumal eine rein phänomenologische Analyse von vornherein zu kurz greifen würde. Vielmehr erweist sich Heiligkeit als zusammengesetzte Kategorie: Die (wenngleich nicht unproblematische) Terminologie Rudolf Ottos beschreibt das Heilige als Tremendum und Fascinans zugleich, und es ist dieser transgressive Charakter des ‚Sowohl – als auch‘, der gerade die Ambiguität deutlich macht, die Heiligkeit stets auszeichnet. Daraus resultieren spezifische Erzählstrategien für die Inszenierung von Heiligkeit, die zum einen auf die Funktion der Legendenerzählung, zum anderen aber auf ihre Funktionsweisen ausgerichtet sind. Im Hinblick auf eine Analyse, die phänomenologische und narratologische Perspektiven zugleich berücksichtigt, lassen sich hierbei drei Komplexe feststellen: Erstens lässt sich das von André Jolles herausgearbeitete Moment der imitatio, in dem dieser die ‚Geistesbeschäftigung‘ der Legende sieht, mithin also die diskursiven Hintergründe und den Rezeptionskontext, in gleicher Weise auch narrativ als hagiographisches Strukturelement fassen. Heiligkeit nämlich wird narrativiert über die modellbildende imitatio Christi, welche ein Paradigma vorgibt, über das die Legende organisiert ist, bis dahin, dass das Erzählsyntagma der Heiligenlegenden durch die paradigmatischen Bezüge zum Leben Jesu und seinen Tod am Kreuz bestimmt ist, wie es sich beispielsweise in der Andreasvita gezeigt hat. Heiligkeit manifestiert sich dabei zweitens anhand dialektisch aufeinander bezogener Basisoppositionen, die gerade keine reinen Dichotomien abbilden, sondern vielmehr Spannungsfelder, in denen sich der ambivalente Status von Heiligkeit als zusammengesetzte Kategorie in der Erzählung erweist. Innerhalb dieser Spannungsfelder kommt es jedoch drittens immer wieder zu Umschlagsmomenten: Sie markieren den Punkt, an dem die oberflächlich kausal geordnete Handlungsfolge in ein finales, providentiell vorbestimmtes Erzählziel – die Heiligkeit des Protagonisten – überführt wird. Damit ist dem Umstand Rechnung getragen, dass Heiligkeit nicht als prozesshafte Entwicklung beschrieben werden kann, andererseits aber jede Erzählung eine Folge von Ereignissen darstellt.

442 | Schlussbemerkung: Erzählen vom Heiligen Diese Merkmale und Erzählstrategien sind schon im ersten Buch des Passionals zu beobachten. Die konzeptuelle Herausgehobenheit dieses ersten Erzählabschnitts liegt vor allem darin, dass Jesus- und Marienleben exemplarisch für die nachfolgenden Legenden wie überhaupt für alles Erzählen vom Heiligen erscheinen, dass zugleich aber Jesus und gleichermaßen auch die Gottesmutter Maria Vorbilder sind, denen gleichzukommen den Menschen eigentlich nicht möglich ist. Nicht nur fordern beide zur Nachfolge und zur imitatio auf, ihre Erzählungen bilden ebenso narrative imitatio-Figuren für die nachfolgenden Legenden des zweiten und dritten Buches. Von der Heiligkeit des Gottessohnes wie auch seiner Mutter ist daher gerade aufgrund ihrer Exemplarizität unter gesonderten Bedingungen zu erzählen. Jene Exemplarizität lässt sich systematisch an den Jesus- und Marienleben, welche die einzelnen Stationen Geburt, Kindheit, Tod und Himmelfahrt umfassen, aufzeigen. Finale Erzählstrukturen dominieren eine Handlungslogik, die zur providentiellen Erfüllung des göttlichen Heilsplanes – der Erlösung der Menschheit durch Kreuzestod und Auferstehung Jesu – führt. Dies wird beispielsweise in Prophezeiungen und Vorausdeutungen ersichtlich, kommt aber auch handlungslogisch in der Kindheits- und der Höllenfahrtserzählung zum Vorschein. Die darin aufgemachten Oppositionen und Parallelsetzungen zeigen sich dann in derselben Weise in den Heiligkeitskonzeptionen der anderen beiden Bücher. Gleiches gilt für die Auflösung von Differenzen, wie sie für Heiligkeit als transzendente Erscheinungsform charakteristisch ist und wie sie vor allem in der Erzählung von der Himmelfahrt Marias zum Vorschein kommt. Vor allem aber zeigt sich eine Engführung von Jesus und Maria auf der Ebene des discours wie auf der der histoire, wenngleich klar bleibt, dass es Maria ist, die an der Heiligkeit Christi partizipiert, ihre Heiligkeit also stets davon abgeleitet ist. Die Himmelfahrt Marias ist auf die gleiche Weise inszeniert wie die Auferstehung Jesu, und zwar auf allen Ebenen: Vom Motiv des unbenutzten Grabes und den darin zurückbleibenden Kleidern bis hin zum sprachlichen Ausdruck, indem Maria die Geburt Jesu und ihr eigener Tod mit beinahe den gleichen Worten angekündigt werden; bei ihrem Tod legt der Passionaldichter Maria die gleichen Worte, die Jesus am Kreuz ausruft, in entsprechender Umkehrung in den Mund. Die Erzählung von Jesus bildet so bereits eine imitatio-Figur für die Erzählung von Maria, beide wiederum sind narrative imitatio-Modelle für die übrigen Heiligenlegenden. Gerade am ersten Buch werden jedoch auch die besonderen Bearbeitungstendenzen und rezeptionsästhetischen Strategien des Passionals deutlich. In einer Vielzahl der Abschnitte kann sich der Verfasser nicht auf die Darstellungen der Legenda aurea stützen: Geburt- und Passionsgeschichte sind bei Jacobus de Voragine nicht narrativiert, sondern stellen sich größtenteils als exegetische Auslegung des Heilsgeschehens dar; die apokryphen Kindheitserzählungen finden sich dort überhaupt nicht. Der Passionaldichter greift daher auf andere Vorlagen zurück, und er bedient sich mit der Kindheit Jesu Konrads von Fußesbrunnen nicht zuletzt einer volkssprachigen Quelle, gestaltet ansonsten seinen Stoff nach den biblischen Vorlagen. Ein

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besonderer Stellenwert kommt dabei dem Passionsgeschehen zu. Dieser Abschnitt stellt eine einzigartige Kompilation der vier Evangelienberichte dar, welche dem Geschehen eine ganz eigene Dynamik verleiht. Erst dadurch ist es möglich, Parallelen und Symmetrien zu anderen Abschnitten aufzubauen, die nicht nur etwa in der Bibel bereits motivisch vorgebildet sind, sondern Parallelsetzungen sogar auf der Wortebene und bis hin zu einzelnen Formulierungen auszugestalten (so in der Kreuzigung des Apostels Andreas). Daneben fällt in der Passionsgeschichte die Intensivierung der Darstellung auf, vor allem aber bilden die kontemplativen Passagen eine Sonderstellung der Narrativierung der Kreuzesleiden, welche in der Form meditativer compassio-Einschübe immer wieder das Geschehen unterbrechen und die Handlung z.T. sogar völlig ersetzen. Das betrifft nicht nur den bekannten Typus der Marienklagen, sondern insbesondere die Kontemplationen des Erzählers, der seine Rezipienten zur compassio aufruft, sie in die Kreuzesmeditationen einbezieht und damit ein sehr frühes Beispiel spätmittelalterlicher Passionsfrömmigkeit bietet. Diese meditativen compassio-Einschübe zeigen in besonderer Weise die eigentümlichen Erzählstrategien des Passionals auf. Die Heiligkeit Christi und das in seinem Leiden, seinem Tod und seiner Auferstehung begründete Heilsereignis ist so exzeptionell, dass es auf der Ebene der Erzählung gar nicht mehr dargestellt werden kann: Handlung wird stillgestellt zugunsten einer Reflexion der Leiden. Wo die Legenda aurea die narratio völlig aussetzt und statt dessen eine Exegese der Passion Christi ausbreitet, setzt das Passional eine Verinnerlichung des Geschehens, als wolle es sich der Leiden Christi nicht in den ‚Köpfen‘, sondern in den Herzen seiner Rezipienten vergewissern: tu uf, tu uf daz herze din/ la dise not lugen drin (I 6259f.), dieser Aufruf des Erzählers ist programmatisch. Zwar lässt sich von der Kreuzigung durchaus erzählen, das darin begründete Heilsereignis entzieht sich jedoch der Narration, es kann nur erfahren werden – und genau darin liegt der Sinn der meditatio: Nachvollzug und Teilhabe am Leiden Christi bedeutet, bis zu einem gewissen Grade teilzuhaben an der Heiligkeit Christi. Dass eine solche Erzählstrategie nicht allein auf das Passionsgeschehen beschränkt ist, zeigt die Magdalenenlegende des zweiten Buchs: Auch hier wird Handlung stillgestellt zugunsten der Reflexion und meditativen Verinnerlichung, und zwar genau an der entscheidenden Schnittstelle, dem Umschlagspunkt, an dem Magdalena ihr bisheriges sündhaftes Leben bereut und Vergebung von Jesus empfängt. Eine solche Verinnerlichung spricht direkt die Rezipienten an, die auf diese Weise ebenso in imitatione Christi treten können, während im Gegensatz dazu die in der Nachfolge Christi stehenden Heiligen in ihren Legenden den Rezipienten vor Augen führen, wie ein solcher Nachvollzug nicht nur innerlich, sondern auch nach außen hin durch Taten vertreten werden kann. Eben diesen Nachvollzug, die Partizipation an der Heiligkeit in der Nachfolge Christi, zeigen darum die Legenden der Bücher II und III. Die Heiligkeit Christi und Marias, ihr Leben und ihr Sterben, bilden das Vorbild für die in ihrer Nachfolge stehenden Heiligen, und das erste Buch des Passionals bereitet auf diese Weise die imitatio der künftigen Heiligen vor, von

444 | Schlussbemerkung: Erzählen vom Heiligen denen dann im Anschluss erzählt wird, und zwar historisch-heilsgeschichtlich wie narrativ. Wie diese imitatio dann in den einzelnen Legendenerzählungen jeweils narrativ realisiert wird, lässt sich nicht zuletzt an der Figur des Märtyrers aufzeigen, bei der die Nachfolge Christi am Kreuz durch die Leiden im Martyrium verwirklicht wird. Den Aposteln kommt hierbei eine Sonderstellung zu, da sie als Jünger Jesu in unmittelbarer Nachfolge zu diesem stehen und von ihm persönlich dazu aufgerufen sind. Dementsprechend sind ihre Viten in besonderer Weise den Christus-Erzählungen angeglichen: so wie die Apostel Christus nachahmen, stehen auch ihre Legenden in einer narrativen imitiatio. An der Vita des Apostels Andreas lässt sich der Zusammenhang von Narration und Handlung auf der Ebene der imitatio besonders gut beschreiben. Andreas wird in seinem Leben wie seinem Sterben Christus angeglichen: Er zieht predigend umher und kann die Menschen zum Christentum bekehren; die Wunder, die der Apostel dabei vollbringt, haben ihr Vorbild wiederum in den biblischen Berichten von Jesu Wirken. Noch augenfälliger wird dies in der Martyriumsschilderung. Die Darstellung vom Kreuzestod des Andreas kongruiert mehrfach mit der Darstellung des Passionsgeschehens im ersten Buch; die Kongruenzen führen aber weit über die Motivebene hinaus, sie liegen nicht zuletzt in metaphorischen Verweisen. Wiederum zeigt sich hier die einzigartige Erzählweise des Passionals: Da Heiligkeit nicht konkret erzählt werden kann, wird sie eingekleidet in Metaphern, die ihrerseits wieder auf die Heiligkeit Christi rückbezogen sind: Der Durst Jesu nach der Liebe der Menschen korrespondiert mit dem Durst Andreas’ nach Christus. Auf diese Weise kann in der Andreaslegende das Syntagma der Handlung nur über das Paradigma der Kreuzigung Christi realisiert werden, die Paradigmatik der Jesusvita schreibt sich ein in das Erzählsyntagma der Apostellegende und erzeugt so eine Finalität des Kreuzes. Solch metaphorische Verweisstrukturen finden sich ebenso in der IgnatiusLegende, konkretisieren sich dort aber: Indem die Metapher, den Namen Christi im Herzen zu tragen, wörtlich genommen wird, der Text also tatsächlich eine entsprechende goldene Herzensschrift inszeniert, wird die Differenz zwischen Signifikant und Signifikat, zwischen Zeichen und Zeichenträger, faktisch aufgehoben. Im Namen Christi konkretisiert sich dessen Heiligkeit, wird zum transzendentalen Signifikanten, der allem anderen seine Bedeutung gibt; die Identität des Heiligen wird zeichentheoretisch überführt in eine Identität mit der Heiligkeit Christi, und auf diese Weise kann der Heilige als Vermittler zwischen Transzendenz und Immanenz, zwischen Gott und den Menschen, besonders profiliert werden. Erneut erweist sich darin die auffällige Erzählstrategie des Passionals, Heiligkeit mittels metaphorischer Verweisstrukturen darzustellen. Die Nachfolge Christi wird wiederum in der Petruslegende nicht allein über den Tod im Martyrium narrativiert, den der Apostel wie Andreas ebenfalls am Kreuz erleidet, sondern vor allem über die Wunder, die Petrus in Christi Namen vollbringt. In der Dialektik von Wunder und Magie wird dem Apostel der Zauberer Simon Ma-

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gus entgegengesetzt, wobei die Macht des Heiligen mit der Ohnmacht des Magiers kontrastiert wird. Die imitatio erfolgt über typologische Verweisstrukturen, indem die Niederlage des Magiers paradigmatisch als Höllensturz erzählt wird, während die Heiligkeit des Apostels typologisch auf die Stellvertreterfunktion Christi zurückgeführt wird – das spannungsvolle Verhältnis von Wunder und Magie wird in paradigmatischen Bezügen aufgelöst. Dagegen wird in den Legenden von Agnes, Agatha und Adrian Heiligkeit zunächst genealogisch konstituiert; Adel und vornehme Geburt heben sie per se schon von den übrigen Menschen ab. Genealogie als narratives Muster setzt das Passional ebenso im Zusammenhang mit der Geburt Jesu und Marias, gerade der Heiligen Familie wird eine exzeptionelle Abkunft angetragen, zudem wird fast die Hälfte der Apostel als mit Jesus verwandt situiert. Die Nobilitierung Marias verdeutlicht die Herausgehobenheit ihrer Stellung, ist zugleich aber exemplarisch für die Heiligkeitsdarstellungen insbesondere des dritten Buches. Heiligkeit als genealogisches Prinzip setzt sich dort insoweit fort, als ein Großteil vor allem der weiblichen Heiligen als explizit adelig dargestellt wird, deren Standesmerkmale als bedeutendes Signum ihrer Heiligkeit gewertet werden können. Genealogie erweist sich damit als eine Verbindung zur Transzendenz, die nicht vermittelt werden muss. Die adelige Herkunft der Legendenprotagonisten wird im Passional – womöglich auch aus Gründen der Rezipientenerwartung innerhalb einer höfisch-ritterlichen Kommunikationssituation, wie sie dem Deutschen Orden entsprechen würde – auffallend häufig propagiert: An Adrian wird der Wandel vom Ritter zum Heiligen vorgeführt, in seiner Person sind beide Lebensentwürfe übereinander geblendet und vereinigt im miles christi, der Adel und Reichtum zugunsten der Nachfolge im Martyrium aufgibt; ein ähnliches Konzept lässt sich in der Georgsvita feststellen, die dem Protagonisten die ritterlich-heroischen Qualitäten eines Drachentöters zuschreibt, oder bei Clemens, der seine adelige Herkunft aufgibt und stattdessen Petrus nachfolgt – bis hin zum Papstamt und ins Martyrium. Agnes und Agatha hingegen verweigern sich einer für ihre adelige Herkunft vorgesehenen Heirat und erleiden statt dessen das Martyrium, um sich mit ihrem mystischen Bräutigam Christus zu vereinen. Für sie ist virginitas ein Modell, das Heiligkeit nicht allein in der Nachfolge Christi, sondern ebenso in der der Jungfrau Maria konstituiert. So sind in allen diesen Legenden zugleich auch die Spannungsfelder von Inklusion und Exklusion, von Stigma und Charisma zu erkennen, in denen sich Heiligkeit stets bewegt. Eine imitatio Christi muss allerdings nicht ausschließlich übers Martyrium narrativ verwirklicht werden. Dies zeigt die Marthalegende, die den Tod der Protagonistin parallel zum Tod Christi inszeniert, jedoch nicht auf der Handlungsebene als tatsächliche Kreuzigung mit all den Qualen des Martyriums, sondern vermittelt über das Medium der Schrift, über den Evangelienbericht von der Passion Christi. Die imitatio Christi wird bei Martha auf der Erzählebene vermittelt, es ist jedoch das im Evangelium konservierte Wort, das in einer Art mythischer Koinzidenz die Nachfolge der Heiligen manifestiert, denn Martha stirbt genau beim Verlesen der letzten

446 | Schlussbemerkung: Erzählen vom Heiligen Worte Christi nach dem Lukasevangelium. Genau dies hat das Passional in der Passionserzählung im ersten Buch bereits inszeniert, und zwar bis auf den Wortlaut, wodurch sich auf ganz andere Weise Korrespondenzen zwischen der Heiligen und Christus ergeben. Noch einmal anders geschieht dies in der Johanneslegende, wo der Tod des Heiligen als Himmelfahrt inszeniert wird, dem Transitus Mariae und der Himmelfahrt Christi nachgebildet, wobei in Johannes, wie schon bei der Erzählung von der Himmelfahrt Marias, Differenzen kollabieren. Und nicht zuletzt erweist sich diese Form der Nachfolge in der Franziskusvita: Seine Stigmatisierung ist eine imitatio des Kreuzestodes, die über die Zeichenebene hinausweist, indem die Zeichen der Kreuzigung, die Wundmale Christi, sich an Franziskus konkretisieren. Erneut wird jedoch die einzigartige Lesart des Passionals deutlich, da es diesen Nachvollzug des Heiligen nicht als Nachfolge im Leiden interpretiert, sondern ausdrücklich Franziskus’ Versenkung in die Liebe Christi am Kreuz als Begründung der Stigmatisation des Heiligen benennt. Bestimmt der Nachfolgegedanke und die imitatio Christi aufgrund paradigmatischer Bezüge das Syntagma der untersuchten Legendenerzählungen, und zwar nicht allein der Märtyrerlegenden, so sind wiederum die das legendarische Erzählsyntagma organisierenden Basisoppositionen als Spannungsfelder paradigmatischer Besetzungen zu sehen. Hier wird die Auffassung von Heiligkeit als zusammengesetzte Kategorie deutlich, deren dialektische Spannungsverhältnisse die Legenden narrativ verhandeln. Die Oppositionen von Inklusion und Exklusion, Stigma und Charisma sowie Sünde und Gnade bilden keine binären Gegensatzpaare, sondern offenbaren vielmehr die Ambiguität der heiligen Person im ‚Sowohl – als auch‘. Die Oppositionen sind daher durch ihre jeweilige axiologische Besetzung bestimmt und keine starren Dichotomien. Inklusions- und Exklusionsmechanismen, wie sie sich vor allem in den Legenden von Christina und Aegidius gezeigt haben, bestimmen in unterschiedlicher Ausprägung die Mehrzahl legendarischer Erzählungen. Da Heiligkeit nicht als Prozess dargestellt werden kann, inszeniert die Erzählung statt dessen die schrittweise Exklusion ihrer Protagonisten aus der Gesellschaft, aus der Welt hin zu einer Inklusion in die transzendente Gemeinschaft der Heiligen. Dies gilt für Märtyrerlegenden gleichermaßen wie für die Erzählungen von Bekennerheiligen. Ist der Tod im Martyrium die wohl radikalste Exklusion aus der Welt und erweist sich diese in Christina bereits zuvor, und zwar im Wirksamwerden des spezifischen Körperkonzeptes des Auferstehungsleibes, so liegen die Exklusionstrategien bei dem Eremiten Aegidius zunächst auf der Hand, da er sich Schritt für Schritt aus der menschlichen Gesellschaft entfernt, um zuletzt doch zurückzukehren: Aegidius verlässt jedoch den Sonderraum seiner Einsiedelei, zu dem anderen Menschen der Zugang verwehrt ist, um in einem Kloster zu leben und zu sterben, womit die exklusive Weltflucht des Heiligen institutionalisiert, mithin die Exklusion des Heiligen nicht unterbrochen, sondern vielmehr institutionell bestätigt wird.

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Demgegenüber zeigt das Beispiel der Theodora-Legende, wie gerade solche Formen institutionalisierter Exklusionsmechanismen ihrerseits narrativ unterlaufen werden können, und dies auf zweifache Weise. Zum einen inszeniert die Legende Theodora als eine Frau in Männerkleidern in einer männlichen Klostergemeinschaft, zum anderen wird Theodora zuletzt auch aus dieser Gemeinschaft ausgeschlossen und offenbart erst dadurch ihre tatsächliche Heiligkeit. Indem sie für eine Sünde büßt, die sie als Frau gar nicht begangen haben kann, erfüllt sie in besonderem Maße den Nachfolgeauftrag Christi. Hier schlägt Sünde in Gnade um, deren Dialektik sich nicht zuletzt darin zeigt, dass Theodora für die Sünden anderer büßt, um schließlich für ihre eigenen Vergebung zu erlangen. Das Spannungsfeld von Sünde und Gnade erweist sich hier in einer besonderen Form der Selbststigmatisierung, wie sie auf ähnliche Weise in der Figur des Franz von Assisi vorgeführt wird. Indem Franziskus sich von seiner Familie, insbesondere seinem Vater, exkludiert, seinen Reichtum in das Ideal der Armut umtauscht, vollzieht sich zugleich ein Umschlagen vom Stigma ins Charisma: Der als arm, krank und elend Stigmatisierte wird von der Peripherie der Gesellschaft in deren Zentrum versetzt, da er nun gerade deswegen als Charismatiker, als Heiliger gilt. Als alter Christus wird Franziskus selbst zum nachahmungswürdigen, exzeptionellen Vorbild, dessen Vereinigung mit Christus so weit geht, dass er selbst die Wundmale Christi empfängt – die Stigmata der Kreuzeswunden aber sind längst umgewertet in das Charisma des Heiligen. Diese radikale Umwertung vom Stigma zum Charisma eröffnen auf gleiche Weise die Märtyrerlegenden, denn auch hier schlagen nach dem Vorbild der Kreuzeswunden und ihrer Erlösungsdimension die stigmatisierenden Verwundungen des Martyriums in die charismatische Begnadung der Heiligkeit um. Wiederum kann als herausragendes Beispiel hierfür die Ignatiuslegende gelten: In der Herzensschrift als konkretisierte Metapher werden die Ambiguitäten der Körperschrift des Martyriums verhandelt. Die Zeichen der Verwundungen werden bei Ignatius gelöscht, sie schlagen um vom Stigma der Blutschrift ins Charisma der heiligen Herzensschrift und erzeugen einen Zusammenfall von Zeichen und Bezeichnetem. Anders zeigen sich die Spannungsfelder in den Legenden von Agnes und Agatha, die das dialektische Verhältnis von Keuschheit und spiritueller Hochzeit evozieren und im Rahmen einer Christus- und Mariennachfolge erzählerisch als doppelte imitatio in Martyrium und Virginität darlegen. Agnes’ Haarwunder könnte in diesem Zusammenhang als Umschlag von Unwert in Wert im Spannungsfeld von Nähe und Distanz benannt werden. Ausgehend von den auf der Handlungsoberfläche zu identifizierenden Spannungsverhältnissen mit ihren dialektischen Basisoppositionen ist auf der Strukturebene dieser Legenden dann stets zu beschreiben, wie jener Umschlagspunkt realisiert wird, d.h. wie die Texte diese Umschlagsmomente narrativ fassen können. Diese strukturellen Bedingungen betreffen finale Erzähllogiken ebenso wie die Problematik, Heiligkeit als nicht-prozesshaften Einbruch der Transzendenz in einen epischen Verlauf zu integrieren. Auf der Ebene der Handlung präsentiert sich

448 | Schlussbemerkung: Erzählen vom Heiligen ein solches Umschlagen vielfach in Konversionen, in Bekehrungserlebnissen, in denen sich jene radikale Umwertung vom Stigma zum Charisma erzählerisch manifestiert. Dabei kommen in den Martyriumsschilderungen spezifische Körpermodelle zur Geltung, die durch das Konzept des Auferstehungsleibes geprägt sind. Fasst man den Körper des Märtyrers als Schrifttafel auf, in den die Zeichen des Martyriums eingegraben werden, so zeigt sich immer wieder, dass diese Schrift ausgelöscht wird, die Foltern nicht anschlagen oder die Verletzungen zwar sichtbar, aber wirkungslos bleiben. Noch in der Welt, der Immanenz verhaftet, ist den Märtyrern bereits ein transzendenter Körper zu eigen. Die Verwundungen und Verstümmelungen, so grausam sie sein mögen, zeigen vielfach keine Wirkung, sie stellen nur die Heiligkeit der Protagonisten wieder und wieder unter Beweis und evozieren eine radikale Umwertung: Vom Stigma der Folter und Verwundung zum Charisma des Heiligen, dessen Glorie gerade in der Vernichtung des Körpers begründet ist. Auf ambige Weise sind die Märtyrer daher zugleich der Immanenz der Welt als auch der Transzendenz der himmlischen communio sanctorum zugehörig. Nicht zuletzt die Magdalenenlegende zeigt, dass das Passional immer wieder spezifische Erzählweisen entwickelt, um das an sich nicht darstellbare, nicht-prozesshafte Umschlagen vom Stigma der Sünde ins Charisma der begnadeten Heiligen zu narrativieren. Die dabei entstehende Leerstelle wird im Passional durch eine reflexive Passage zwar nicht ausgefüllt, aber umgangen, indem die Sünden der Protagonistin beinahe kontemplativ verinnerlicht und die ihr zukommende Gnade und Vergebung emphatisch gefeiert werden. Zugleich unterläuft gerade diese Legende dezidiert immer wieder kausallogische Handlungsabläufe, so dass sie geradezu exemplarisch für die finale Erzählweise hagiographischer Texte gelten könnte. Solch narrative Leerstellen lassen sich allenthalben beobachten, sei es bei der bekannten conversio des Paulus, sei es bei der Bekehrung des Dionysius, wo die Heiligkeit des Protagonisten noch vor der eigentlichen Konversion zur Voraussetzung für die Bekehrung wird. Es entsteht eine Ambiguität des ‚noch nicht‘ und zugleich ‚schon längst‘, das den eigentümlichen Status zeitlicher Inversion und mythischer Konkreszenz markiert, welcher die Ambiguität des Heiligen auf der Ebene des Erzählens kennzeichnet. Es sind gerade solche scheinbar paradoxen Begründungslogiken, welche die narrative Inszenierung von Heiligkeit prägen. Nicht kausale Ursache-Wirkung-Relationen, sondern finale Ordnungsmuster kennzeichnen die Erzählstrukturen der Legenden. Eine derartige Finalität kann, wie es die Dionysiuslegende zeigt, offen ausgestellt werden; nicht zuletzt Märtyrerlegenden mit ihrer vielfach nur rudimentären Vorgeschichte sind oftmals sehr schwache kausale Begründungslogiken inhärent: So zieht es Ignatius von Beginn an zum Martyrium, das als Belohnung für seinen tugendhaften Lebenswandel dargestellt wird und auf diese Weise die Zusammenhänge vom Ende der Erzählung her ordnet. Auf ähnliche Weise ist Adrians Ehefrau Natalia ein Erzählelement finaler Handlungslogik, da sie immer dann das Martyri-

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um des Protagonisten forciert, wo es auf der Handlungsebene abzubrechen droht. In der Petruslegende schließlich untermauern die typologischen Verweise jene finalen Logiken der Christusnachfolge des Apostels und des Himmelssturzes des Zauberers Simon Magus. Wo eine derartige Finalität weniger deutlich ausgestellt wird, bedienen sich die Legenden unterschiedlicher Erzählmuster, durch die eine entsprechende Handlungssteuerung zur Geltung gebracht wird. In diesem dient Sinne die Inanspruchnahme außerhagiographischer Erzählschemata in der Clemens-, Ursula- und Georgslegende vor allem dazu, unter Umformung einzelner Funktionsträger und Handlungssegmente die jeweilige Legende an ihr providentielles Ziel zu führen. Das Schema von Trennung und Wiedervereinigung des antiken Romans in der Clemenslegende vermag, mit einer christlichen Semantik besetzt, den Protagonisten mit seiner Familie wieder zu vereinen und ihn zusammen mit den anderen Handlungsträgern einer höheren, göttlichen Heilsordnung zuzuführen. Das Erzählschema des Drachenkampfes überblendet in der Georgslegende den höfischen Ritter mit dem Protomartyrer, in der Ursulalegende sorgt das darin inserierte Brautwerbungsschema für eine Begründungslogik des Massenmartyriums der elftausend Jungfrauen. Es zeigt sich jedoch auch, dass diese in einen christlichen Kontext überführten Erzählmuster stets mit weitreichenden Schema-Umbesetzungen und einer entsprechenden Semantisierung verbunden sind, die diese Muster an bestimmten Punkten abbrechen lassen, um das final vorbestimmte, providentielle Handlungsziel auch zu erreichen. Schließlich sind die hier beschriebenen narrativen Operationsformen gleichermaßen mit solchen Erzählungen verbunden, die nicht die Heiligkeit, sondern komplementär dazu die Verworfenheit und Verfluchtheit ihrer Protagonisten herausstellen. Bei der Betrachtung der Viten von Judas und Pilatus als ‚Antilegenden‘ stellt sich heraus, dass diese im Passional denselben narrativen Bedingungen unterliegen wie die zuvor analysierten Heiligenlegenden. Nicht die Basisopposition von Stigma und Charisma, sondern das Spannungsfeld von Gnade und Verdammung charakterisiert die Antiheiligen, deren Stigmatisierung gerade nicht umschlägt in Vergebung und Charisma, sondern vielmehr in noch größeren Untaten mündet. Die Gnade Christi ist für Judas nur transitorisch und schlägt ihrerseits wieder um in Verdammung durch seinen Verrat. So, wie die Heiligen auf ewig Teil der himmlischen Gemeinschaft sein dürfen, sind Judas und Pilatus nach ihrem Selbstmord auf ewig Verfluchte; wie die Heiligen exemplarische Vorbilder sind, die zur Nachfolge aufrufen, sind die Antiheiligen abschreckende Beispiele, Negativexempel des Bösen. Und doch bedienen sich deren Viten der gleichen Erzähllogiken und strukturellen Eigenheiten, die auch Heiligenlegenden auszeichnen, ja, es zeigt sich in ihnen eine regelrechte Finalität des Bösen, die durch gestörte Genealogien und nicht zuletzt im Inzestmotiv der Judasvita und der daran geknüpften Ödipusstruktur eine fatale Unentrinnbarkeit zum Vorschein bringt. Judas ist dadurch von Anfang an als Verräter determiniert, was auf beunruhigende Weise ein Remythisierungskonzept erkennen lässt, das in der Dialektik von Schuld und Opfer dem Erlöser Christus einen

450 | Schlussbemerkung: Erzählen vom Heiligen Antagonisten zur Seite stellt: Judas und Pilatus erweisen sich als heilsnotwendig, müssen zur Erfüllung des Heilsplans jedoch mit individueller Schuld versehen werden, sie dürfen nicht als Instrumente der Heilsgeschichte entlastet werden. Anders als die übrigen Antiheiligen des Passionals sind Judas und Pilatus daher nicht einfach Antitypen, deren Viten komplementär zu Heiligenlegenden gestaltet sind (so wäre z.B. Julianus Apostata aufzufassen), sondern unerlässliche Gestalten der christlichen Heilsgeschichte, deren Kerygma jedoch nicht von solchen Figuren abhängig erscheinen darf. Mithin zeigt sich hier also das gleiche Dilemma wie in den Heiligenlegenden: Die Heiligkeit der Legendenprotagonisten ist, wie es in besonderer Weise die Nikolausvita zeigt, entweder von Beginn an festgelegt, oder aber ihre Auserwähltheit zeigt sich, wie bei Dionysius, schon vor dem eigentlichen Umschlagspunkt der conversio. Zugleich aber müssen die Tugenden der Heiligen als individuelle, als ihre persönliche Leistung erscheinen, deren ethische Qualität sich erst dadurch erweist, dass sie sich bewusst für die Exklusion aus der Gesellschaft entscheiden (sei es im Martyrium, sei es im asketischen, gottzugewandten Leben). Die Legenden müssen oberflächlich eine Entscheidungsfreiheit inszenieren, die es strukturell besehen gar nicht geben kann. Gleiches geschieht umgekehrt in der Judas- und Pilatusvita: Die Doppelung des Brudermordes bei Pilatus und die Rücknahme der Entlastungsfunktion des Ödipusschemas bei Judas betonen oberflächlich die individuelle Schuld der beiden Antiheiligen, bei Judas zusätzlich verstärkt durch die Zurückweisung der göttlichen Gnade im Verrat an Jesus – der seinerseits durch die Finalstruktur der Vita von vornherein determiniert scheint. Die Referenzialisierbarkeit der gewonnenen Erkenntnisse konnte zuletzt über den Textrahmen des Passionals hinaus vergleichend an weiteren Erzählungen überprüft werden. Die Christophorus- und die Silvesterlegende weisen dabei in unterschiedlichen Entstehungs- und Rezeptionskontexten die je gleichen Inszenierungsformen von Heiligkeit auf. In der Christophorusvita greifen finale Erzähllogiken, die den Protagonisten zu Christus und ins Martyrium führen. Diese Finalität ist jedoch jeweils unterschiedlich ausgestaltet: Über die oberflächliche Motivation, dem Höchsten zu dienen, wird eine Wegmetaphorik ausgebreitet, die den Heiligen zu Christus bringt und im Martyrium endet. Nicht zuletzt über den Namen – zugleich Ehrentitel des Märtyrers – wird die Finalität der Handlung verdeutlicht. Christophorus wird im Passional von Anfang an mit diesem Titel bezeichnet, gilt der Erzählung also von vornherein als derjenige, als der er sich doch erst im späteren Handlungsverlauf erweist. In den spätmittelalterlichen Einzelüberlieferungen wird dagegen der Namenswechsel mit der Taufe als entscheidendes Umschlagsmoment inszeniert, auf den die gesamte Handlung ausgerichtet ist, das abschließende Martyrium interessiert zumindest in der jüngsten dieser Versionen eher am Rande. Die Finalität der Wegstruktur wird dabei immer wieder durch scheinbare Kontingenz zurückgenommen, wodurch letztlich jedoch, wie in der Clemensvita, die providentielle Fügung des ‚Lebensweges‘ des Protagonisten erst recht ausgestellt wird. Dagegen ist die lateinische Hexameter-Fassung Walthers von Speyer einer Gelehrtentradition ver-

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pflichtet, deren Kommunikationssituation eine gänzlich andere narrative Grundstruktur hervorbringt. Ihr geht es vornehmlich um die Zurschaustellung des Artifiziellen, wodurch die Handlung in den Hintergrund tritt. Der vom Dienst-Motiv geprägte metaphorische Lebensweg ist Walther (noch) nicht bekannt, vielmehr wird die voraussetzungslose Heiligkeit des Protagonisten in einer nicht-linearen Erzählhaltung deutlich. Auch an den unterschiedlichen Versionen des Silvesterstoffes zeigt sich, dass die Erzählstrategien jeweils die gleichen bleiben: Finale Motivationen und Umschlagsmomente mögen unterschiedlich realisiert sein, lassen sich aber an den immer gleichen Punkten beobachten. Stets wird die Problematik von Wunder und Magie verhandelt und differiert nur insoweit, als die entsprechenden Episoden eine Umstellung im Erzählverlauf erfahren können und die Wunderhandlungen des Heiligen auf verschiedene Weise inszeniert werden, wodurch Silvesters Heiligkeit ebenfalls unterschiedlich profiliert wird: Je nach Rezeptionshintergrund in seinem Amt als Stellvertreter Christi und Nachfolger des hl. Petrus (Kaiserchronik), als triumphaler Verteidiger des christlichen Glaubens (Konrad von Würzburg) oder in einer beinahe heilsgeschichtlich dimensionierten imitatio Christi (Passional). Die narrativen Grundkonstellationen bleiben gleich, in ihrer Realisierung auf der Ebene der Erzählung aber unterscheiden sich die einzelnen Legenden voneinander. Die hier erbrachten Ergebnisse resultieren aus Analysen des Legendenkorpus eines der frühesten volkssprachigen Legendare, sie sind somit vor allem gültig für die Erzählweise des Passionals und dessen spezifischen Umgang mit der narrativen Inszenierung von Heiligkeit. Die Überlegungen der vorangegangenen Kapitel sind daher sicher nicht auf jede hagiographische Kommunikationssituation zu übertragen, ja selbst innerhalb der einzelnen Passionallegenden wird die ein oder andere abweichende Beobachtung zu treffen sein. Das liegt in der Natur der Erzählung, die sich einerseits den stofflichen Gegebenheiten anzupassen hat, andererseits aber auch der spezifischen Kommunikationssituation, der sie ausgesetzt sind. Gerade diese pragmatische Ebene des Erzählkontextes ist es jedoch, welche die Vielfältigkeit hagiographischer Erzählungen ausmacht und sie zugleich so schwer greifbar werden lässt. Egal wie stark man die Verbindung mit dem Deutschen Orden sehen will, das Passional verfolgt immer wieder höfisch-ritterliche Kommunikationsstrategien, die sich in unterschiedlicher Weise narrativ niederschlagen: genealogische Konzepte werden in der Heiligen Familie betont, adelige Herkunft in einer Vielzahl von Legenden (Adrian, Agatha, Magdalena und Martha, Clemens, Christina usw.) hervorgehoben, aber auch dekonstruiert und abgewiesen, höfische und heroische Wertvorstellungen fließen immer wieder mit ein (allen voran bei Ritterheiligen wie Georg oder Adrian). Zugleich aber lassen sich in den Kontemplationen und meditativen Einschüben, dem ständigen Lob der Tugenden von Armut und Keuschheit, nicht zuletzt in der emphatisch gepriesenen Figur des hl. Franziskus selbst zugleich auch deutliche Affinitäten zum franziskanischen Gedankengut feststellen, ohne dass dieser Kontext jedoch in irgendeiner Weise konkreter bestimmbar wäre. Es

452 | Schlussbemerkung: Erzählen vom Heiligen scheint diese spezifische Verbindung von ritterlich-adeligen und franziskanischspirituellen Werten zu sein, die das Erzählen vom Heiligen im Passional ganz besonders profiliert. Dennoch hat gerade die vergleichende Perspektive auf Legendenversionen anderer Rezeptions- und Kommunikationskontexte gezeigt, dass die herausgearbeiteten hagiographischen Erzählstrategien zwar sicherlich nicht vollständig, aber bis zu einem gewissen Punkt doch verallgemeinerbar sind: Immer wieder nämlich, so wird nicht zuletzt auch an den Viten der Elisabeth von Thüringen noch einmal deutlich, erfordert die Inszenierung von Heiligkeit narrative Anstrengungen, an denen sich die Legenden auf unterschiedliche Weise abarbeiten: Sie müssen von etwas erzählen, was eigentlich unerzählbar ist, und dennoch entwickeln sie, so unterschiedlich sie auch sein mögen und so heterogen auch ihr Publikum ist, bestimmte Verfahren, um Heiligkeit in die Erzählung überführen. Der Preis dafür ist, bei allen Strategien einer Verinnerlichung, wie sie gerade das Passional vorführt, ein Verlust der Unmittelbarkeit: Die Erzählung ist nur ein Medium, sie vermittelt Heiligkeit nur und kann ihre Präsenz lediglich inszenieren. Gerade die Schlussgebete der einzelnen Legenden jedoch – und hier unterscheidet sich das Passional wiederum spezifisch von einer Vielzahl anderer hagiographischer Texte – suchen die mediale Mittelbarkeit der Erzählungen wieder in die Unmittelbarkeit des Gebets und des Glaubens zu überführen, ähnlich wie es die compassio-Passagen innerhalb der Passionsgeschichte tun. Und so präsentiert das Passional doch mehr als nur eine Sammlung von Einzeltexten, indem es die Legenden nicht nur als bloße ‚Erbauung‘ begreift, sondern wie die Heiligen, von denen es erzählt, selbst als Mittler von Unmittelbarkeit.

Literaturverzeichnis Siglenverzeichnis AaTh

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454 | Literaturverzeichnis

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