Erzählen: Ingrid Schoberth zum 60. Geburtstag [1 ed.] 9783666573224, 9783525573228

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Erzählen: Ingrid Schoberth zum 60. Geburtstag [1 ed.]
 9783666573224, 9783525573228

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Christoph Wiesinger / Stephan Ahrnke (Hg.)

Erzählen

 Ingrid Schoberth zum 60. Geburtstag

Christoph Wiesinger / Stephan Ahrnke (Hg.)

Erzählen Ingrid Schoberth zum 60. Geburtstag

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.de abrufbar.  2019, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Gçttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschþtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: 3w+p, Rimpar Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-57322-4

Vorwort

Am 1. Mai 2018 feierte Ingrid Schoberth ihren 60. Geburtstag. Zu diesem Anlass und ihr zu Ehren fand vom 11.–12. Mai 2018 in Heidelberg im Moratahaus ein Symposium mit dem Titel „Erzählen“ statt. Ingrid Schoberth hat sich im Laufe ihres Wirkens an verschiedenen Diskussionen beteiligt und facettenreiche Beiträge zu unterschiedlichen Fachdebatten geleistet. Ihre Impulse reichen von ihren systematisch-theologischen Anfängen in Bezug auf die „story“-Theologie Dietrich Ritschls, den Bibeldidaktischen Überlegungen, juristische Kooperation in Fragen des Urteilen Lernens, bis zu unterschiedlichen historischen, ästhetischen und allgemein praktisch-theologischen Bezügen. Dies spiegelt sich auch in den verschiedenen Beiträgen der Tagung wider, die im vorliegenden Band nun dokumentiert sind. Allen, die am Symposium vorgetragen oder teilgenommen haben aus dem Kreis der Kolleginnen und Kollegen, Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler und Freundinnen und Freunde sei herzlich gedankt. Wir danken der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern und der Evangelischen Landeskirche in Baden für ihre finanzielle Unterstützung der Drucklegung. Das Portrait von Ingrid Schoberth wurde von Wolfgang Schoberth fotografiert. Unser Dank gilt ebenso Elisabeth Hernitscheck vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht für die Betreuung der Publikation. Für die Korrekturen der Beiträge danken wir Christiane Hemberger-Ullrich, Charlotte Hohndorf, Carolin Kloß, Katharina Orth und Julia Tarkhounian. Heidelberg im März 2019

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Stephan Ahrnke / Christoph Wiesinger Einleitung: Erzählen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ingrid Schoberth Zusammenfassung der Tagung und Dank

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. . . . . . . . . . . . . . . .

Erzählen: Horizonte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Gerhard Marcel Martin Erzählen am Ende Grenzgänge des Narrativen bei Zen-Meistern, in Haikus und bei Ernst Jandl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Henrik Simojoki Religiöse Bildung und das Recht zu erzählen. Eine postkoloniale Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Gerhard Dannecker Narrativität im Recht und ihr Beitrag zur Begründung rechtlicher Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Erzählen: Orte

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85

Ina Schaede Erzählen nach dem Visualistic Turn – der Aktionskünstler Günter Brus als lebendes Kultbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

87

Stephan Ahrnke Didaktik des Zuhörens. Wie das Hören lehren kann . . . . . . . . . . . 101

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Inhalt

Manfred Oeming Erzählen lernen aus dem Alten Testament Die Geschichte von David und Goliath als Lehrstück narrativer Theologie und Pädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Marco Hofheinz Christologie erzählen? Dogmatische Explorationen zu einer narrativen Christologie im Gespräch mit Karl Barth und Friedrich Mildenberger . . . . . . . . . . 143

Erzählen: Funktionen

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173

Wolfgang Schoberth „Instruktion in einem religiösen Glauben“ Überlegungen zur Religionspädagogik im Anschluss an eine Bemerkung Ludwig Wittgensteins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Philipp Stoellger Können Erzählungen Glauben machen? Zwischen sola scriptura und sola narratione . . . . . . . . . . . . . . . 197 Martin Hailer Erzählung und Normativität Religionsphilosophische Berichte und Vermutungen

. . . . . . . . . . 225

Christoph Wiesinger Imaginäre Subjekte und Erzählungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249

Erzählen: Formen

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263

Ulrich Löffler Taxonomie, Naturgemälde und das Gehen im Freien Der Bildungsplan 2016 und das Erzählen im Religionsunterricht . . . . 265 Hartmut Rupp Die biblische Paradiesgeschichte Eine narratologische Analyse in didaktischer Perspektive . . . . . . . . 283 Bibliographie I. Schoberth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Biographie I. Schoberth

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317

Stephan Ahrnke / Christoph Wiesinger

Einleitung: Erzählen

Erzählen ist nicht nur zentraler, sondern konstitutiver Bestandteil der christlichen Tradition. Darum spielt auch die Reflexion der Narration in der theologischen Wissenschaft in unterschiedlichen Bereichen eine prägende Rolle: als mündliche bzw. verschriftlichte sprachliche Grundlage der Exegese, als Quelle und Form der Weitergabe der christlichen Historie, als theologisches Konzept in der Systematischen Theologie und als zu erforschende Praxis in der Praktischen Theologie. Die verschiedenen Erzähltraditionen des Christentums finden ihre Grundlegung bereits im Zeugnis der Bibel, die nicht nur, aber immer auch erzählenden Charakter hat. Sie bildet den Grundstein der jüdisch-christlichen Überlieferungstradition. Dabei geht es um mehr als nur das einfache Erzählen von Geschichten. Vielmehr sind bereits in der Bibel die Erzählgründe und Erzählformen vielgestaltig und vielschichtig. Schon vor der Verschriftlichung dienten Erzählungen von herausragenden Ereignissen oder Menschen und deren Erfahrungen mit Gott dem Volk Israel der Identitätsbildung. Erinnerungen an Abraham oder Jakob konstituierten den Raum für (religiöse) Gemeinschaft. Zu den Zeiten des Volkes Israel, als dieses ohne lokales Heiligtum auskommen mussten, z. B. im Exil in Babylon, dienten Erzählungen der Fortsetzung und Sicherung des religiösen Kultus und war damit grundlegender Mechanismus der Identitätssicherung. Erzählungen waren und sind noch immer wichtige Grundlagen mit gesellschaftsprägendem Charakter. Die Verschriftlichung vieler dieser mündlichen Traditionen kann als Anpassung an die Notwendigkeit aber auch die entstehenden Möglichkeiten jeweiligen Zeitgeschehens gedeutet werden. Die Textproduktion sicherte zentrale Erzählungen für nachfolgende Generationen, führte dann aber gleichzeitig zu einer neuen Tradition des Nacherzählens verschriftlichter Erinnerungen. Dies gilt im hohen Maße auch für die Erzählungen des Neuen Testaments. Die Evangelien berichten als verschriftlichte Überlieferungen von den tradierten Geschichten Jesu von Nazareth. Der lebendige Umgang mit diesen Erzählungen in unterschiedlichen Formen macht das Christentum zur Erzählreligion. Paulus fasst es im Römerbrief in seine Worte, indem er den alttestamentlichen Propheten Jesaja aufnimmt: „Wie sollen sie aber an den glauben, von dem sie nichts gehört haben? Wie sollen sie aber hören ohne Prediger? Wie sollen sie aber predigen, wenn sie

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Stephan Ahrnke / Christoph Wiesinger nicht gesandt werden? Wie denn geschrieben steht (Jesaja 52,7): ,Wie lieblich sind die Füße der Freudenboten, die das Gute verkündigen!‘“ (Rom 10,14–15).

Die Verkündigung bildet einen bleibenden Ankerpunkt christlicher Religion durch die Geschichte. Luthers Diktum, dass der Glaube aus dem Wort komme, ist Ausdruck dieses Umstandes. Der Protestantismus hat diese Linie besonders ins Zentrum gerückt und sich selbst als Religion des verkündigten Wortes konstituiert und etabliert. Erzählungen spielen im Protestantismus heute daher sowohl im Kultus als auch in der Bildung eine prägende Rolle. In jedem Gottesdienst wird die Erinnerung an das Gemeinsame durch Lesungen praktiziert, durch Bekenntnisse iteriert und durch Gebete inszeniert. Predigten schaffen neue Narrative christlichen Glaubens auf Grundlage der Überlieferungen. In der religiösen Bildung spielt das Erzählen biblischer Geschichten bis hin zu Erzählungen über das Leben erinnerter Christinnen und Christen – von Mutter Theresa bis Dietrich Bonhoeffer – eine wichtige Rolle. Biographische Ausführungen und deren Erinnerungen bilden den Wesenskern seelsorgerlicher Gespräche und nehmen im Gemeindeleben einen zentralen Ort ein. Narrative bieten den Hörenden die Möglichkeit, die eigene Wirklichkeit im Lichte der christlichen Botschaft immer wieder neu zu deuten und zu erleben. In Ingrid Schoberths Werk nimmt das Erzählen eine zentrale Stellung ein. Sie erinnert beständig daran, welch wichtige Bedeutung die biblischen Überlieferungen und die Geschichten des christlichen Glaubens in den Prozessen der Bildung einnehmen. Sie macht es sich zur Aufgabe, dass „die Heilige Schrift kein fremdes Buch bleibt, kein auratisches Heiliges, sondern den Schülerinnen und Schülern sich auftut“.1 „Dabei wird ihr religionspädagogisches Anliegen sowohl im Blick auf die „story“ der Bibel, der Kirche und der Glaubenden deutlich: „Diese Wege erschließen die Bibel wie einen literarischen Text aber nicht bloß als einen literarischen Text neben anderen“2. Verschiedene Perspektiven zu eröffnen und dabei stets anfänglich vom Glauben zu sprechen, sind ihr wichtige Anliegen. Diese theologischen und ästhetischen Resonanzräume für den Unterricht aufzuzeigen, hat sie sich zur Aufgabe gemacht und werden in ihren Werken deutlich. Es war uns deshalb eine Freude zum 60sten Geburtstag von Ingrid Schoberth ein Symposium zum Thema „Erzählen“ zu veranstalten. Die hier vorliegenden Beiträge spiegeln wider, was die Vortragenden aus unterschiedlichen Perspektiven beigetragen haben. Dabei bildeten sich vier Felder aus, in denen sich die Ausführungen bewegten. Im ersten Abschnitt werden verschiedene Horizonte des Erzählens aufgezeigt, die das Feld des Erzählens vom Ende her beleuchten, ebenso wie aus postkolonialer und auch juristischer Perspektive. Im zweiten Teil werden konkrete Orte aufgesucht, die zum Erzählen provozieren. Am Ort der Performance-Kunst wird Erzählen stimuliert, 1 Schoberth, Ingrid, Diskursive Religionspädagogik, Göttingen 2009. 2 Schoberth, Diskursive Religionspädagogik, 200.

Einleitung: Erzählen

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im Unterricht das Hören gelernt, im Alten Testament wird die Geschichte von David und Goliath als pädagogisches Lehrstück exploriert und in der Dogmatik in der Christologie exemplarisch reflektiert. Im dritten Teil werden verschiedene Funktionen von Erzählen zur Sprache gebracht. So wird die zentrale Aufgabe des Erzählens in der Religionspädagogik aus systematischtheologischer Sicht betont, die Frage nach dem „sola“ zwischen scriptura und narratione verhandelt, verschiedene Normativitätsansprüche von Erzählungen differenziert und die Wirkung von Erzählungen auf die Subjektkonstitution reflektiert. In einem vierten Teil werden Formen des Erzählens zwischen Humboldt und dem Bildungsplan und anhand der Paradiesgeschichte exemplifiziert. Ingrid Schoberth hat spontan selbst einen Tagungsrückblick gehalten, der im Anschluss an das Vorwort als Anregung zu den Beiträgen folgt. Drei Beiträge konnten aus verschiedenen Gründen leider nicht mündlich am Symposium vorgetragen werden. Da diese im Rückblick von Ingrid Schoberth nicht berücksichtigt sind, sollen sie hier kurz vorgestellt werden: Marco Hofheinz analysiert als Systematischer Theologe das Verhältnis seiner Disziplin zum Erzählen bzw. genauer, zur Frage einer narrativen Theologie. Die Grundkonstante, um die sich dabei seine Gedanken kreisen, ist der Name Jesus Christus und die damit einhergehende Notwendigkeit, dass eine Entfaltung dieses Namens zu einer Erzählung nötigt. „Von Jesus muss erzählt werden“. In der Tradition Ritschls legt er dar, dass darin aber noch keine Aussage über den Charakter der Arbeit der Theologie getroffen wird. Denn auch, wenn Ritschls Diktum der „story als Rohmaterial der Theologie“ Narrationen ins Zentrum rückt, so ist die Tätigkeit der Theologie selbst nicht narrativ zu fassen, sondern als ein Kanon an „Suchaktion, Interpretation, Explikation, Argumenten und Neukonstruktionen“. Hofheinz zeigt, dass es Friedrich Mildenberger war, der ein Konzept des Theologietreibens darlegte, das als narrative Namenstheologie betrieben wurde. In einer entschiedenen Abwehr, Ontologie zu betreiben, entfaltet er eine antimetaphysische Geistchristologie. Dies geschah einerseits im Nacherzählen der Geschichte des Namens Gottes und andererseits im Nacherzählen der Geschichte des irdischen Jesus. Gerade in Kreuz und Auferstehung, so Mildenberger, spitzt sich die Strittigkeit Gottes zu. Doch durch diese Erzählungen werden ebenfalls strittige Lebenserfahrungen zugunsten des Lebens zur Sprache gebracht. Mildenberger wählt, so Hofheinz, für die Nacherzählung die ordo salutis, die in einer spezifischen Reihe entfaltet wird. Hier zeigt Hofheinz jedoch die entscheidende Schwäche bei Mildenberger auf. Einerseits, da bei diesem jene Anthropozentrik aufscheint, in der Jesus als Urbild wahren Menschseins verstanden wird. Andererseits, weil Mildenbergers geistchristologisches Paradigma im Verdacht steht, wesentliche andere Aspekte der Christologie, so wie sie sich exemplarisch etwa beim Evangelisten Markus zeigen, zu vernachlässigen. Das führt Hofheinz dazu, die narrativen Dimensionen Karl

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Stephan Ahrnke / Christoph Wiesinger

Barths in den Blick zu nehmen. Den breiten Konsens der Forschung aufnehmend, dass Barths Theologie einen inhärenten narrativen Wesenszug trägt, wird an der Umformung der Zwei-Naturen-Lehre der Kirchlichen Dogmatik exemplarisch gezeigt. Durch die Geschichte der Erniedrigung wie auch der Erhöhung werden die Transformationen sichtbar. Anders als bei Mildenberger wird so das Sein im Verhältnis zu Geschichte dargelegt: „Christus ist, was er tut.“ Die enge Verklammerung von Werk und Person wird narrativ expliziert. Damit legt Hofheinz dar, wie sehr Erzählungen und Geschichten, narrative Explikation und dogmatische Arbeit miteinander verknüpft sind, ohne dass die eine Dimension zugunsten der andere aufgegeben werden kann. Das Argument, als Form des Theologietreibens, steht nicht im Gegensatz zur Narration, sondern beide verschränken sich wechselseitig. Wolfgang Schoberth geht in seinem Beitrag einer kurzen Überlegung Wittgensteins nach, mithilfe derer er auf ganz grundsätzliche Fragen zur Religionspädagogik stößt. Wittgenstein stellt fest, dass wir uns selbst nicht über das hinweg täuschen können, was wir wollen, wünschen oder glauben. Glaube wird im Weiteren als Bezugssystem entfaltet, welches als System jeder Aussage innerhalb des Systems seine Aussagekraft verleiht, aber die Frage nach dem Verhältnis von verschiedenen Systemen aufwirft. Verstehen kann es nur im systemischen Zusammenhang geben, welcher jedoch immer vorausgesetzt ist. Formal gesprochen: Ein Punkt an sich ist sinnlos; erst das Koordinatensystem bestimmt dessen Angabe und unterschiedliche Koordinatensysteme leiten aus einem Punkt an einer Stelle völlig andere Bedeutungen ab. Um daher einzelne Aussagen eines Glaubenssystems zu verstehen, muss jenes vorausgesetzt und damit erlernt sein. Ist es erlernt, kann auch daran gezweifelt werden. Was und wie gelernt wird, wird durch den Rahmen bestimmt. Da dieser grundlegend ist und immer schon vorausliegt, kann sich dafür nur entschieden, er aber nicht sukzessive angeeignet werden. Die Metapher des Lernens eines religiösen Bezugsrahmens gleicht damit dem Erlernen einer Muttersprache. Der Sinn muss sich von innen heraus erschließen und kann nicht vergleichend erlernt werden. Verstehen ist damit auch nicht ein Nachvollzug einer Aussage, sondern die grundsätzliche Möglichkeit von Artikulation dessen, was jetzt ansteht, immer innerhalb des Bezugssystems. Die Praxis und ihr Bezugsrahmen sind damit untrennbar miteinander verbunden. Wäre dies nun rein abstrakt gedacht, würde Religion als Bezugsrahmen sich von etwas Anderem ableiten können. Konkret geht es dem christlichen Glauben jedoch um das Ganze des Lebens, d. h. es will nicht nochmal ableitbar sein und muss als solcher auch verstanden werden: als konkretes Ganzes. Glaube kann nicht herbeigeführt werden, sondern nur als Wirkung und Gegenwart des Geistes Gottes aufgefasst werden. Im letzten Schritt werden die religionspädagogischen Konsequenzen bedacht. Die Religionspädagogik agiert im Zwischenraum. Unter Anerkennung der Akzeptanz des anderen und durch das Einbringen der eigenen Perspektivität werden Ambiguitäten produktiv und das christliche Weltbild in seiner Vielfalt und Diskursivität ein-

Einleitung: Erzählen

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gebracht. So sollen Systeme in Bewegung gebracht werden, dass die Kriterien, das Leben zu beurteilen, auf das ausgerichtet werden, was aus dem Glauben kommt. Der Glaube gibt Gottes Gegenwart zu erkennen, in die gemeinsam geteilt hineingewachsen wird. Was sich bewegt muss transformierend angeeignet werden. Aufgabe der Religionspädagogik ist somit, Wege zu dieser bewegenden Begegnung zu eröffnen. Hartmut Rupp legt in seinem Beitrag dar, wie eine genaue Analyse von Erzählungen und deren Struktur Räume eröffnet, die zur produktiven Rezeptionsarbeit mit den biblischen Texten anregt. Ausgehend von einer allgemeinen Konjunktur des Erzählens werden die religionspädagogischen Auswirkungen beleuchtet. Mit dem Ziel, eigenes Erzählen anzuregen, wird die Paradiesgeschichte aus Gen 2–3 narratologisch entfaltet. Ein Textabschnitt also, der im Bildungsplan für Baden-Württemberg zum Teil für die Klasse 5/6 und vor allem in der Klasse 9/10 als Beispieltext vorgeschlagen wird. In einer genauen und umsichtigen Untersuchung werden die Handlung, der Erzähler und seine Art, der Raum, die Figuren, der intendierte Leser und die Kontexte der Erzählung analysiert. So plädiert Rupp, in dem Text einen Mythos zu sehen, der das Verhältnis der Leser zu ihren Lebensumständen genauer wahrnehmen lässt. Die verschiedenen Szenen des Textes lassen Grundmotive unserer Existenz zum Vorschein treten: Trennungs- und Todesangst, Scham, Lust und die Sehnsucht nach Gemeinschaft. Gott tritt in wechselnden Rollen auf: mal als Gärtner, der den Garten pflanzt, mal als Töpfer und auch als Chirurg. So wird die Erzählung im Erzählen zum kommunikativen Ereignis, das die Erzählung vertrauter macht, zu eigenem Erzählen anregt und Fragen sowie Deutungen evoziert. Am Ende folgen eine Bibliographie, die die Arbeit Ingrid Schoberths dokumentiert und eine biographische Darstellung, die die Jubilarin uns dankenswerterweise zur Verfügung gestellt hat.

Ingrid Schoberth

Zusammenfassung der Tagung und Dank „So haftet an der Erzählung die Spur des Erzählenden wie die Spur der Töpferhand an der Tonschale.“ Walter Benjamin – Der Erzähler

Zunächst mein aufrichtiger Dank für diese beiden intensiven Tage der gemeinsamen wissenschaftlichen Reflexion. Es sollen hier nicht inhaltlich alle Aspekte wiedergegeben werden. Die einzelnen Beiträge werden dann selbst sprechen und die je spezifischen Themen zur Darstellung bringen, die dieser Spur folgen, die mit dem Thema des Symposiums gelegt wurde: die Spur der Töpferhand an der Tonschale. Ich will nur in Kürze inhaltlich Danke sagen und dabei den Weg abgehen, den wir auf dem Symposium gegangen sind: Es macht Sinn, mit dem Ende des Erzählens, am Ende des Lebens zu beginnen, wie es Marcel Martin mit uns unternommen hat und mit uns hineingegangen in die Haiku-Tradition, die er für uns in seinem Vortrag narrativ erschlossen hat. Das Sperrige und Unbequeme lässt sich im Leben nicht aussparen; das weiß man auch mit 60 schon ganz gut. Darum beginnt die Tagung damit, sich dem Phänomen des Erzählens von ganz woanders her anzunähern. Es geht um das Phänomen des Erzählens in seinen Facetten. Und weil es ein Phänomen ist, das sich in so vielen schönen, anspruchsvollen und auch herausfordernden Momente zeigt, wissen wir, dass die Anstrengung ums Erzählen noch nicht zu Ende ist. Zwischen dem Ende der Erzählung und der Erfahrung, dass das geordnete Gefüge der Erzählung(en) gestört wird, wie wir das mit der Begegnung mit den Störzonen bei dem Aktionskünstler Günter Bruns ja geradezu durchgearbeitet haben, fällt ein Licht auf das Erzählen, dass dem Erzählen das bloß Kindliche nimmt. Einen ästhetischen Zugang hat uns Ina Schaede eröffnet, in der Spannung von Performanz, Präsentation, Deutungsmacht und ästhetischer Verweigerung. Stephan Ahrnke suchte in seinem Vortrag eine gewichtige Dimension der narrativen Erfahrung mit biblischen Texten auf und hat einen Zugang dazu dargelegt, das Lesegeschehen biblischer Texte nicht nur vom Erzähler her wahrzunehmen. Hören wird zur Voraussetzung der Begegnung Gottes und des Menschen im Wort und provoziert Aspekte einer Didaktik des Zuhörens/ Hörens. Die Schönheit, die dem Erzählen anhaftet bleibt auch nach wie vor eine Herausforderung, die mit ihm gegeben ist und schärft ein, das Recht auf das Erzählen nicht zu verlernen, sondern in seinen das gemeinsame Leben bereichernden Dimensionen vor allem auch für die interreligiöse Begegnung festzuhalten.

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Ingrid Schoberth

Das hat uns Henrik Simojoki mit Blick auf ein Projekt in Bamberg gelehrt und im kritischen Diskurs auf die Notwendigkeit von Narrativen im kulturellen Aushandlungsprozessen unserer Gegenwart hingewiesen; im Sinne einer postkolonialen Aufmerksamkeit und Sensibilisierung für narrative Prozesse, sind wir den Spuren gemeinsamen Lebens nachgegangen, zu der die Gegenwart uns angesichts einer Pluralität von Option für das Leben und Handeln verpflichtet. Der Neugewinnung der Narratologie gab Philip Stoellger für die Wahrnehmung des sola scriptura Raum; mit dem aktuellen Diskurs zur Narratologie konstatiert er die Ambivalenz der Narrative, die zwischen symbolischer und diabolischer Narratologie sich hin und her bewegen; Narratologie befindet sich immer auf der Schwelle. Denn Gleichnisse etwa können ,Glauben machen‘ oder aber auch Glauben vertreiben; es steht ein Sprechen-lernen an, das nicht einfach in Ordnung bringt, sondern das Neue in den Blick nimmt. Damit bleiben die Narrative störend und auch verstörend zugleich, virtuos ambivalent. Das gibt vor allem auch der Religionspädagogin zu denken, die Textbegehungen eröffnen muss und sich nach Formen der Interpretation für religiöse Bildungsprozesse ausstreckt und sucht. Hier wird es darum gehen, die Eigenmächtig der Erzählungen/Gleichnisse im Spannungsfeld von Verfügung und Widerfahrnis zu berücksichtigen. Mit den Gleichnissen hat uns Philip Stoellger eindrücklich dargelegt, dass es damit um den Erzählgott, der Erzählgnade zu tun ist und nicht um den erzählten Gott, gerade weil solche narrativen Formen das Nicht-Erzählen-Können übergingen. Diese Differenz gilt es neu im Gebrauch der Schrift durchzuspielen und zu erproben. Um das Recht eines strukturierten Bildungsplanes war es mit Ulrich Löffler zu tun. Das bleibend fragile Geschehen religiöser Bildung gerade auch an der Schule hat Löffler mit eindrücklichen Beispielen in die Beziehung zur Gottesgeschichte mit den Menschen gestellt; das Scheidungskind, der Bruderstreit in der Familie, der sich Gehör verschafft mit der Geschichte vom verlorenen Sohn und das neugierige Fragen des russischen Schülers mit seinem ganz eigenen und oft fremden Fragen, provozieren zu gutem Unterricht, der mit Alexander von Humboldt, dem Naturforscher, zu neuen Wegen der Wahrnehmung aufbrechen lässt. Was kann auch tröstend die Schülerinnen und Schüler mit ihren Lebensgeschichten erreichen? Kann die je spezifische Lebensgeschichte der Schüler zu einem Resonanzraum werden für christliche Religion? Gelingt das mit dem neuen Bildungsplan vielleicht besser, weil er eine Komplexität in der Vorbereitung von Unterricht zulässt, Zusammenhänge aufzeigt, sich vom bloßen Aneignen unterscheidet und notwendig unterscheiden muss? Teilzunehmen an einer alttestamentarischen Narration mit Manfred Oeming in der Vielfalt alttestamentlicher Bezüge, war das große Glück unseres Vormittags. Das Erzählen als eine Form alttestamentlichen Denkens bis hin zum kunstvollen und humorvollen Lesen der Geschichte von David und Goliath hat uns in die Originalität und Kreativität des Geschichtenschreibens des Alten Testaments hineingeführt.

Zusammenfassung der Tagung und Dank

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Und schließlich die neuen Überlegungen zum Forschungsvorhaben von Christoph Wiesinger, der inmitten einer das Subjekt zentrierten und darauf ausgerichteten Religionspädagogik nach neuen Wegen der Rede von Subjekt religiösen Lernens sucht; deutlich ist geworden, dass der Schüler und die Schülerin andere Kontexte braucht als nur das vermeintliche Selbst, das sich bespiegelt. Philosophie und sozialwissenschaftlicher Reflexionen unterstreichen diese Suche nach einem Verstehen dessen, der sich anschickt, religiös gebildet zu werden. Nach der Dekonstruktion des Subjekts zeigt sich die Aufgabe, die weiterhin gültige Intention aus dem Subjektivismus zu lösen. Was konstituiert jeweils das, was wir Subjekt nennen? Die vorgestellte Destruktion der Subjektphilosophie ist die theoretische Basis für die Weiterarbeit. Gerhard Dannecker prüfte den Ort der Narrativität im Recht; passt Recht und Narration nicht doch zusammen? Auch in der Rechtspolitik arbeitet man immer öfter mit Narrationen. Wann geht es um den Appell an den gesunden Menschenverstand? Juristische Reflexionen eröffneten die Wahrnehmung des Narrativen im fremden, juristischen Kontext. Martin Hailer fasst ein wesentliches Moment des Nachdenkens über die Wahrnehmung und Auslegung der Narration zusammen, indem er der Nichtbeliebigkeit der Erzählungen systematisch nachging. Verschiedenen Typen normativer Ansprüche in der Wissenschaftsgeschichte nahm er auf und referierte in Unterscheidung dazu die theologische Rede von der Lebensform des Seins in Christus. Begriffliche Begründungsstrategien scheinen hier zum Scheitern verurteilt. Eine Lebensform wird nicht begründet, sondern bewohnt, und so zeigt sich ihre Plausibilität. Das nun einige wenige Einblicke, die wir in ihrer Tiefe auf diesem Symposium haben nachgehen und nachdenken dürfen. Ich bin dankbar.

Erzählen: Horizonte

Gerhard Marcel Martin

Erzählen am Ende Grenzgänge des Narrativen bei Zen-Meistern, in Haikus und bei Ernst Jandl

Seit ihrer Erlanger Dissertation vor fast dreißig Jahren (1989/90) beschäftigt sich Ingrid Schoberth mit Vollzügen des Erzählens im Spannungsfeld von Erinnern und Erwarten zugunsten geistes-gegenwärtigen Glaubens und Handelns. Titel und Untertitel dieser Arbeit: Gedächtnis und Gewissheit. Gegenwart aus der Erinnerung der story Gottes mit den Menschen.1 Nach fast dreißig weiteren Jahren, anlässlich ihres 60. Geburtstags, werden auf diesem Symposion aktuelle Fragestellungen zum Bereich „Erzählen“ thematisiert. Und, eingeladen zu einem eigenen Beitrag, kam ich auf die Idee, mich dem Thema fern-östlich am Material von japanischer Todeslyrik, dann aber auch westlicher in offenen Entsprechungen zu Texten von Ernst Jandl („gedichte an die kindheit“) und von wenigen weiteren Autoren zu nähern. Sammlungen letzter Worte, oft szenisch eingebunden, gibt es zahlreich – historisch, aber auch zeitnäher, religiös aufgeladen und auch profan: die sieben letzten Worte Jesu am Kreuz, zusammengetragen aus den vier Evangelien, oder – was mir aus einem Klassenaufsatz aus meiner Gymnasialzeit einfiel: der Flugzeugbaupionier Otto Lilienthal, beim Absturz: „Opfer müssen gebracht werden.“ Solche Äußerungen haben oft ein doppeltes Pathos an sich. Sie können eine letzte wichtige Mitteilung des Abschied Nehmenden sein: Vielleicht, dass mit den letzten Atemzügen ein Lebensgeheimnis gelüftet, eine Lebenslüge in letzter Minute aufgedeckt wird, oder dass eine Wahrheit heraus, ein Knoten sich lösen will. Pathetisches kann sich aber auch bei den Zurückbleibenden einstellen: Dabei zu sein, wenn ein Sterbender ein letztes Mal noch eine Botschaft an die in diesem Moment Anwesenden zum Ausdruck bringt. Die Texte, auf die ich eingehen möchte, sind viel nüchterner, schon darum, weil sie selten etwas Spontanes, Unkalkulierbares an sich haben, zumeist auch in deutlichem Abstand zur Todesstunde verfasst sind. In ihrem Vorbereitetsein, aber auch nur darin, sind unsere Texte gattungsmäßig jenen kurz gehaltenen, autobiographisch verfassten Texten vergleichbar, die die entscheidenden Lebensdaten zusammentragen und mit dem Ziel geschrieben werden, zumeist als einziger Redebeitrag überhaupt bei der Trauerfeier des Verstorbenen verlesen zu werden. Bei Karl Jaspers’ Abdankung etwa verlas einer seiner Schüler, Hans Sahner, den vom Verstorbenen selbst 1 Veröffentlicht unter dem Titel: Erinnerung als Praxis des Glaubens.

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Gerhard Marcel Martin

verfassten Nachruf – ein A4 Blatt.2 Dieses Muster hat seine Herkunft wohl – jedenfalls auch – eher im Leben der reformierten Kirche und pietistisch aufgeschlossener, freikirchlicher Gemeinschaften, etwa bei den Herrnhutern. Mag hier eine Gattungsnähe behauptet werden können, unvergleichbar ist die biographieferne Grundausrichtung der hier in den Blick genommenen Gedichte und Haikus – eine den konkreten Lebensdaten gegenüber spröde, weil ästhetische transponierte, genauso konkrete wie generalisierende Äußerung über die condition humaine in der condition g8n8rale weltlich endlichen Existierens: Kommen und Gehen. Zu meinen Materialien Kurz zu meinen Materialien: Auf die Texte von Jandl („gedichte an die kindheit“)3 stieß ich anlässlich meines eigenen 60. Geburtstags. Sie überraschten mich in ihrer sprachlich und denkerisch verspielten Ernsthaftigkeit, thematisieren sie doch vorletzte und letzte Blicke auf das dem Ende zugehenden Lebensgeschehen. Jedenfalls lese ich das folgende Gedicht quasi als eine Lebensbilanz, auch darum, weil es von den fünfzehn Texten an vorletzter Stelle steht: mehr nicht weinend fahre ich nach haus wo bin ich denn gewesen? ich bin in der großen stadt münchen gewesen. mehr steht hier nicht zu lesen. (Jandl 14 / 350)

Und um sogleich eine erste Probe in einer gewissen Entsprechung zu Jandl aus den Japanischen Texten zu zitieren (von Gizan Zenrai / 1878; 98): I was born into this world I leave it at my death. Into a thousand towns My legs have carried me, And countless homes – What are all these? A moon reflected in the water A flower floating in the sky Ho!4 2 Vgl. Martin, Beziehungsverhältnisse, 228. 3 Jandl, gedichte. Zitiert nach Jandls Nummerierung (1–15) und nach der Seitenzahl. 4 Hoffmann, Death Poems. Die Seitenzahlen im laufenden Text beziehen sich auf dieses Werk; Jahresangaben hinter den zitierten Autoren betreffen zumeist deren Todesjahr.

Erzählen am Ende

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Zurück zu Jandl: Zu meinem Fest postete ich einige Texte von Jandl in Großdruck an die Wände der Alten Mensa in der Marburger Altstadt, in der gefeiert wurde. Damals hatte ich den Eindruck, dass man zum Sechzigsten mit dem Thema abschiedlichen Lebens – wenn überhaupt – ziemlich unbefangen umgehen kann, anders als an der Schwelle der Emeritierung oder gar an späteren „runden“ Geburtstagen. Die Begründung dafür : Mit 60 ändert sich eigentlich gar nichts. „Danach“ geht es so weiter wie „davor“ – nur dass frau / man wirklich gefeiert, gewürdigt, geehrt wird, dass Werk und Person akademisch festlich ins Scheinwerferlicht gerückt worden sind. So heute und morgen! Und zu den japanischen Literaturgattungen: Als Japanreisender und Gastprofessor an der buddhistischen Otani-University in Kyoto beschäftigten mich u. a. auch die Literaturgattung und die Ausdrucksmöglichkeiten von Haikus. Dabei stieß ich tatsächlich eher zufällig auf den Sammelband: Japanese Death Poems. Written by Zen Monks and Haiku Poets on the Verge of Death.5 Und schließlich entdeckte ich – westlich – frühe Haiku-Versuche des Schwedischen Literatur-Nobelpreisträgers Tomas Tranströmer.6 Ohne mit Bescheidenheit zu kokettieren: Je länger ich mich mit der Sache und der Idee meines doppelten und dreifachen Zugangs beschäftigte, desto deutlicher wurde mir, dass es dabei nur um einen Quereinstieg gehen kann, um eine tangentiale Annäherung, vielleicht sogar lediglich (aber immerhin!) um einen Streifschuss. Erwarten Sie bei diesem Auftakt des Symposions also alles und nichts. Ich habe trotzdem die Hoffnung, dass sich Erfahrungs- und Diskursfelder anfänglich öffnen. Zum Titel: „Erzählen am Ende“ hat ja zumindest zwei Lesarten – eine negative, eine affirmative. Zum einen könnte zum Ausdruck gebracht sein: mit dem „Erzählen“, mit allen Detail-stories und mit jeder Art von Gesamt-story ist es aus, „Erzählen“ geht nicht mehr ; zum anderen könnte in der Formulierung aber auch die Frage stecken: Was ließe sich am Ende eines Lebens „erzählen“? Was könnte frau / man in dieser Situation dann doch oder überhaupt erst „erzählen“? In Anbetracht meiner Materialien sind beide Aspekte unbedingt und nah miteinander verbunden.

1. Zur japanischen Haiku Dichtung – Form und „Botschaft“ Bei Haikus handelt es sich um eine japanische literarische Gattung mit einer langen geschichtlichen Entwicklung, die bis ins 12. / 13. Jahrhundert zurück reicht. Haikus sind der Form nach aus größeren, bisweilen auch dialogischen Kompositionen als Segmentierung eines bestimmten Teils hervorgegangen. 5 Vgl. Anm. 4. 6 Martin, Tranströmer, 169–176.

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Gerhard Marcel Martin

Zu den bekanntesten klassischen Haiku-Dichtern gehören Matsuo Basho¯ (1644–1694) mit einem zen-buddhistischen Hintergrund und Issa (Kobayashi Yataro¯) (1763–1827) im spirituellen Umfeld des Buddhismus des Reinen Landes. Gegenstände der Haikus sind gewöhnliche Alltagssituationen. Yasuda spricht von „haiku-moments“. Sie stammen eher aus der Naturwelt als aus Kultur und Religion und sind oft jahreszeitlich konnotiert. Reginald H. Blyth bringt sie in Verbindung mit schamanistischem und shintoistischem „animism“ / “animatism“, die aber zugleich in der buddhistischen Lehre / Leere und in der religiösen Praxis überschritten werden.7 Haikus bleiben aber „physical, material, sensational“ (sinnlich), so sehr sie auch die Welt als ganze zur Sprache bringen: „The everlastingness and fleshliness, unseparated and inseparable, unsymbolic and unsuggestive, – this ist the characteristic of haiku.“8 Und in dem Sinn geht es zen-budhhistisch um „ego-less union with life“9 – dies aber eben gerade nicht im Sinne einer mystischen, tieferen Welt hinter der gewöhnlichen Welt.10 Was gebildete Japaner bis heute von Haikus erwarten, formuliert Blyth positiv und negativ : „Positively, the haiku must express a new or newly perceived sensation, a sudden awareness of the meaning of some common human experience of nature or man. Negatively, and more importantly, the haiku must, above all things, not be explanatory, or contain a cause and its effect.“11 Angesichts einer derartigen Charakterisierung kann nicht überraschen, dass die hier untersuchten poetischen Gattungen keine biographie-nahen Lebensrückblicke bringen, in diesem Sinn also keineswegs ins Erzählen, darum auch nicht ins Erinnern kommen, sondern eher Situationsbilder aufscheinen lassen: Bilder aus dem alltäglichen Lebensvollzug, der das Existenzgeschehen von Menschen, Pflanzen, Tiere verbindet, sowie Bilder aus dem Naturgeschehen: die vier Elemente, die vier Jahreszeiten (in unserem Umfeld erwartungsgemäß vor allem Herbst und Winter), die Gestirne – und all dies stets in der vollen ungeteilten ihnen je eigenen Präsenz und der Präsenz des Haiku Dichters, des Zen-Meisters und des Hörers / der Leserin. Aus der Fülle des Materials stelle ich keineswegs alle, sondern lediglich einige öfter und markant auftretende Motive vor, wobei ich die englischen Übersetzungen aus dem Japanischen zitiere, die eine gewisse, bisweilen auch schillernde Nähe zum Original eher bewahren könnten, als wenn ich noch einmal das Englische ins Deutsche übertrüge. Derartiges geschieht dann indirekter und ausgiebiger ohnehin in meinen Paraphrasen. (Nicht möglich war mir, die Übersetzungen des Herausgebers aus dem Japanischen ins Englische kritisch zu prüfen. Es ist jedenfalls damit zu rechnen, dass mir dadurch einige 7 8 9 10 11

Blyth, History, I, 8 und 16. Blyth, I, 3. Bernard Philipps, zitiert bei Blyth, I, 5. Vgl. Blyth, I, 13. Blyth, I, 11.

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Wortspiele, Doppeldeutigkeiten, Möglichkeiten, die gleichen Schriftzeichen anders zu lesen, und Anspielungen auf die Namen der Autoren entgangen sind.) Literaturwissenschaftlich ist eine letzte kritische Abklärung nötig: Gedichte, Haikus insbesondere sind natürlich keine Erzählgattung. Aber jedenfalls berichten doch auch sie mehr oder weniger indirekt von Personen, Orten, Zeiten, Situationen. Insofern können sie als existenziale Selbst-Mitteilungen mit impliziten narrativen Anteilen gelesen werden. Hinzu kommt, dass in Sammlungen von „Death Poems“ in einer Hinsicht nicht nur indirekt, sondern äußerst direkt und tatsächlich erzählt wird. Der Situation nämlich, in der diese Poesie entstanden ist, wird große szenische Aufmerksamkeit zuteil. Manches lässt sich geradezu als das Protokoll einer performance lesen: das Schreiben, das Zitieren des Poems wird so zu einem Moment einer szenischen Ganzheit. Der narrative Rahmen gehört zur Tradition des Formats “Death Poems“. In vielen Varianten wird erzählt, wie der Verfasser (oft jedenfalls) Schüler und / oder seine Familie um sich versammelt, (oft in der Zen-Haltung) aufrecht sitzt oder steht, seinen Pinsel ergreift, schreibt oder malt, ihn dann niederlegt und stirbt, oft mit einem Ausruf, der dem Geschehen der Erleuchtung zugehört, z. B. „Ho!“12 Von Dokyo Etan (1721) wird erzählt: he „hummed ,an acient song‘ to himself, suddenly laughed out loud, and died“.13 Eine andere Variante: Shun’oku Soen (1611) diktiert einem aus seinem Gefolge sein Gedicht, fügt dann selber Datum und Namen hinzu und schreibt noch: „Farewell“.14 Ein anderer Fall: Jakura (1906) ist schon so geschwächt, dass er seinen Haiku noch vorträgt, aber den Pinsel nicht mehr halten kann und ein leeres Blatt neben seinem Totenbett zurücklässt.15 Von Shisui schließlich wird eine überraschende Szene überliefert. Seine Schüler bitten ihn kurz vor seinem Sterben, einen Haiku zu schreiben, er nimmt den Pinsel, malt einen Tuschekreis (enso), ein zentrales Zen-buddhistisches Symbol, wirft dann den Pinsel zur Seite und stirbt.16

2. Motivkomplexe Zwei Verben, eine Grundbewegung prägen alles Leben: Kommen und Gehen Coming, all is clear, no doubt about it. 12 13 14 15 16

Hoffmann, Death Poems, 101. Hoffmann, Death Poems, 95; siehe auch 99, 113. Hoffmann, Death Poems, 116. Hoffmann, Death Poems, 204 f. Hoffmann, Death Poems, 295.

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Gerhard Marcel Martin Going, all is clear, without a doubt. What, then, is it all? (Hosshin / 13. Jhdt.; 101)

Das klingt, als sei dies Kommen und Gehen fraglos, die größte Selbstverständlichkeit, die keiner weiteren Deutung bedarf: interpretationslos leben. „Just so!“ When it comes – just so! When it goes – just so! Both, coming and going occur each day. The words I am speaking now – just so! (Musho Josho / 1306; 110)

Aber der Kommentar macht klar, dass dies „Just so!“ (nyoze) der Weckruf eines Zen Meisters an seine Schüler ist, (endlich) die Dinge so (einfach) (ungeteilt) (deutungslos) zu sehen, wie sie wirklich sind. Dieses „Kommen“ und „Gehen“ hat in den Death Poems seine Zielrichtung verständlicherweise im „Gehen“, d. h., im Verwehen und Verschwinden. Ein Querverweis (I): Zu diesem Richtungsvektor der Bewegung möchte ich Erich Frieds Gedicht: „Frau Welt“ zwischenschalten: Ich bin zur Welt gekommen und bin nun endlich so weit laut zu fragen wie ich dazu komme zu ihr zu kommen Sie kommt und sagt leise: Du kommst nicht Du bist schon Im Gehen17

Ich hatte gesagt: Dieses „Kommen“ und „Gehen“ hat in den Death Poems seine Zielrichtung verständlicherweise im „Gehen“, im Verwehen und Verschwinden; und das betrifft nicht nur den Weg des Sterbenden aus der Welt heraus, sondern die ganze Welt, Erde und Himmel reißt er mit sich: For two an forty years I wavered between life and death. Now hills and rivers overturn. The earth and sky return to nothingness. (Minamoto-no-Tomoyuki / o. J.; 50) 17 Fried, Gedichte, 336.

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Dieser Weg zurück dahin, wo nichts mehr ist, wird mit einiger Unterbestimmtheit und Leichtigkeit, die diesem Verschwinden möglicherweise sogar angemessen sind, auch bei Jandl thematisiert mit den Ausgangschiffren „Nebel“ und „Winter“: der nebel der nebel kommt und legt einen schleier über die nahen dinge, die noch zu sehen sind. über die fernen dinge aber legt er sich dicht. ich seh sie nicht und weiß oft nicht ob sie überhaupt dort sind. (Jandl 2 / 346) der winter das ganze land ist tief verschneit. die gelbe wand ist beinahe weiß. der rauch aus dem schornstein ist weiß. aber die rote ziegelwand bleibt rot. und meine finger sind fast tot. (Jandl 11 / 349)

Zurück zu den japanischen Texten: Ich hatte gesagt: Dieses Verwehen und Verschwinden betreffe nicht nur den Weg des Sterbenden aus der Welt heraus, sondern die ganze Welt. Und zu dieser ganzen Welt gehören nicht nur Erde und Himmel, sondern – radikal genug – auch alle Zen-Lehren, den Buddha und alle seine Heiligen: My final words are these: As I fall I throw all on a high mountain peak – Lo! All creation shatters; thus it is That I destroy Zen doctrine. (Kogaku Soko / 1548; 106) To hell with the wind! Confound the rain! I recognize no Buddha. A blow like the stroke of lightning – A world turns on its hinge. (Nampo Jomyo / 1308; 111)

Und dieses Verschwinden kann noch sehr viel aktiver und aggressiver zum Ausdruck kommen: My sword leans against the sky. With its polished blade I’ll behead

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Gerhard Marcel Martin The Buddha and all of his saints. Let the lightning strike where it will. (Shumpo Soki / 1496; 115)

Der Kommentator spricht von spiritueller Unabhängigkeit und von einem „Freiheitsakt gegenüber allen Verhaltensformen und Denkweisen der religiösen Tradition“.18 Zusammengefasst: Vorbegrifflich geht es in all diesen Erscheinungen um den „tune of non-being“, um den Ton, die Melodie, die Gestimmtheit hin auf Nicht-Sein, der die Leere füllt. Wer diesem Ton nicht folgen kann oder will, ist out of tune, steht in einem Missverhältnis zu dem, was ist und zugleich nicht ist. A tune of non-being Filling the void: Spring sun Snow whiteness Bright clouds Clear wind. (Daido Ichi’I / 1370; 92)

Und die eigene Lebensbewegung und Meditationspraxis sollen solcher Grundgestimmtheit entsprechen: You must play The tune of non-being yourself – Nine summits claps Eight oceans go dry. (Zosan Junku / 1308; 128)

Die Schwingung, der Grundton des Nicht-seins durchdingt den ganzen Kosmos, den höchsten Berg Shumi und die acht anderen Erhebungen und die acht Meere dazwischen, lässt sie austrocken und in sich zusammenfallen. Auf solche Weise die Welt zum Verschwinden zu bringen, ist das Gegenteil einer materieprallen Herkulestat, dafür ein umso kühneres Abenteuer einer anderen Art: sich von der Welt zu verabschieden und darin zugleich die Totalität der Welt mit zu verabschieden, zu Fall zu bringen. Hier kommt die radikalste Weltabwendung / Selbstauflösung des Buddhas und seiner Lehre zum Zuge. Nach der Radikalität des Verschwindens möchte ich doch auch noch vor dem Hinweis auf andere Motivkomplexe auf mildere Zwischentöne aufmerksam machen. In den folgenden zwei Poems geht es subjekt-bezogener, innerbiographisch skeptisch zu: In all my six and fifty years No miracles occurred. For the Buddhas and the Great Ones of the Faith, I have questions in my heart. 18 Hoffmann, Death Poems, 115.

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And if I say, “Today, this hour I leave the world,” There’s nothing in it. Day after day, Does not the sun rise in the east? (Doyu / 1256; 95 f)

Das ließe sich beinahe als eine Kurzbiographie, als eine kritische LebensBilanz lesen. Und die Beschwörung Kosekis, eines anderen Dichters, hat fast so etwas wie eine leichte und souveräne Ironie, wenn er die Fortsetzung seiner vergangenen Jugendlichkeit und Grüne gleichsam an eine Pinie delegiert: Swear to me, pine, for many years to keep on young and green. (Koseki / 1788; 232)

Solange das Leben währt, ist es nicht immer schon vom Verwehen und Vergessen gleichsam perforiert, gezeichnet. Manchmal können, freilich sehr zurückhaltend und poetisch, Gedächtnis und Erinnern thematisiert werden: At night my sleep embraces the summer shadows of my life. (Oto / 1935; 253)

Es gibt sie, die Sommerschatten des eigenen Lebens. Und selbst die Weide kann ihre vergangene Pracht herbstlich erinnern: In fall the willow tree recalls its bygone glory. (Namagusai Tazukuri / 1858; 248)

Dabei hat „recall“ eine doppelte Übersetzungsmöglichkeit: „zurückrufen“ und „widerrufen“. Weiter : Im Herbst des Lebens können sich sogar Seiten zeigen, die vorher verborgen blieben, sogar bei einem Herbstblatt: Now it reveals its hidden side and now the other – thus it falls, an autumn leaf. (Ryokan / 1831, 267 f)

Das Motiv des Vergehens und Verwehens lässt sich leicht mit der Flüchtigkeit, aber auch der jeweiligen unleugbaren Eindringlichkeit von Düften und Gerüchen in Verbindung bringen: Over the fields of last night’s snow – plum fragrance. (Okano Kin’emon Kanehide / 1703; 249)

Aber manchmal bleibt auch nur die Erinnerung an den Duft der Pflaumenbäume. Das ist die Flüchtigkeit des sich bereits in der Präsenz Verflüchtigenden:

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Gerhard Marcel Martin Fall, plum petals, fall – and leave behind the memory of scent. (Minteisengan / 1844; 244)

Wer mit sich und der Welt in einem derart ungeschützten Verhältnis steht, ist einem Wurm in seiner Blösse und Ausgesetztheit zu vergleichen: Returning as it came, a naked summer worm. (Shidoken / 1765; 288)

Angesichts solcher radikalen Nacktheit ist für mich umso überraschender, dass in der poetischen Bilderwelt für den Weg aus dem Leben doch auch Vorgänge des Kleiderwechsels, wie sie in Kultur und Religion vollzogen werden, nicht nur des Kleiderverlustes auftreten können: Time to go … they say the journey is a long one: change of robes. (Roshu / 1899; 267)

Es gibt den Kleiderwechsel von schwerer Winter- zu leichterer Sommerkleidung, aber auch das Anziehen weißer Kleider in Todesnähe und im Tod selbst. In einer gewissen Leichtigkeit dichtet Michikaze: Today I put on summer clothes and journey to a world I haven’t seen yet. (Michikaze / 1709; 243)

Nüchterner ist da Matsuo Basho, immer noch im Motivbereich von Kleidung: Airing out the robe of one who is no more: autumn cleaning. (Matsuo Basho / 1644–1694; 149)

Eine Art Kleiderwechsel, Wandel kann ganz in Parallelität zur Menschenwelt auch („too“) draußen, in der Natur, etwa am Heiligen Berg Hiei, in Erscheinung treten: Today the sky above Mount Hiei, too, takes off its clouds: a change of robe. (Shogo / 1798; 298)

Dem Kleiderwechsel nicht unähnlich ist der im Buddhismus übliche Namenswechsel; ein Buddhist bekommt schon an entscheidenden Wandlungspunkten seines Lebens bisweilen einen neuen Namen, im Tode dann zum letzten Mal. Im folgenden Haiku wird freilich der so weit gültige Name alternativlos zurückgegeben, ein Schritt in die Namenlosigkeit:

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I give my name back as I step in this Eden of flowers. (Inseki / 1765; 196)

Ein weiterer Querverweis (II): Kleiderwechsel, auch als Wohnungswechsel, ist ebenfalls bei Paulus eine Metapher in Bezug auf den Übergang von der hiesigen Existenz in die andere: „Wir sehnen uns“ danach, „mit unserer Behausung aus dem Himmel überkleidet zu werden“, weil wir „nicht nackt erfunden werden“ wollen. Wir „wünschen nicht, entkleidet, sondern überkleidet zu werden, damit das Sterbliche vom Leben verschlungen werde.“ (2 Korinther 5, 1–4) Wenn es um die Vergänglichkeit geht, sind – auch interkulturell – Bilder aus der Blumenwelt, auch in Verbindung mit der Abfolge der Jahreszeiten zunächst einmal wohl gar nicht überraschend: Flowers of the grass: scarcely shown, and withered name and all. (Arimaru / 1703; 136) That which blossoms falls, the way of all flesh in this world of flowers. (Kiko / 1823; 224) I have gone through this world – a life Of moon and snow and flowers. (Sharyu / Mitte 19. Jhdt.; 287)

Als Summe, als Lebensbilanz ist das nicht weit entfernt von der skeptischen Weisheit des Predigers Salomo oder gar Hiobs, vgl. etwa Hiob 14, 1 f.: „Der Mensch, geboren von einer Frau, kurz an Tagen und satt an Unrast. Wie eine Blume geht er auf und welkt, flieht wie ein Schatten und hat keinen Bestand.“ (Bibel in gerechter Sprache) Eine Aspektnähe ist auch zum prophetisch kritischen Auftakt Deuterojesajas auszumachen: „Alles Fleisch ist ja Gras und wie die Blume des Feldes …“ – wenn auch mit dem folgenden Einspruch, mit dem Auftakt eines „aber“: „aber das Wort unseres Gottes bleibt in Ewigkeit“. (Jesaja 40, 6–8) Zurück zur letzten Zeile des letzten Haikus: „Moon and snow and flowers“. Der Winter kommt ins Spiel mit Schnee, Eis und Frost. Aber selbst dieser Aggregatzustand ist nicht permanent: Ice in a hot world: my life melts. (Nakamichi / 1893; 248)

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Gerhard Marcel Martin Frost on grass: a fleeting form that is, and is not! (Zaishiki / 1719; 341)

Und selbst wenn die Welt nicht besonders heiß wird: Like ice in storage that will not last the year out … (Sentoku / 1726; 285)

Aber im Dahinschmelzen kann auch etwas Soteriologisches, Reinigendes sein. In diesem Motivkomplex wird also nicht nur das Flüchtige thematisiert: Winter ice melts into clean water – clear is my heart. (Hyakka / 1779; 193)

Auf einen vergleichbaren Doppelaspekt stößt man auch im Motivkomplex „Spiegel“. Einmal geht es um das Zerbrechen (smash) aller Lebensbilder, aller Spiegelungen und Widerspiegelungen (reflection), zum anderen aber auch um die (Wieder)herstellung ursprünglichster Ordnung. Wo die weitgehend illusionistischen instabilen Bilder zerbrechen, kommt alles zurück an den ihm eigenen Platz: I raise the mirror of my life Up to my face; sixty years. With a swing I smash the reflection – All in its place. (Taigen Sofu / 1555; 118)

Nach buddhistischer Lehre soll das Bewusstsein einem „reinen Spiegel“ gleichen, der „nichts in sich selbst hat und dem, was er reflektiert, weder etwas hinzufügt, noch ihm etwas wegnimmt“.19 So rein soll auch der Spiegel des Herzens sein: I cleansed the mirror of my heart – now it reflects the moon. (Renseki / 1789; 261)

Damit sind wir noch einmal zurück bei der Zeile „Moon and snow and flowers“ (Sharyu; 287), beim Mond, der in der japanischen Religion und Poesie eine gewichtige Rolle spielt. Zumindest steht er auch in Relation zu dem erleuchteten Verstand.20 19 Hoffmann, Death Poems, 239. 20 Hoffmann, Death Poems, 281.

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I borrow moonlight for this journey of a million miles. (Saikaku / 1730; 275)

Vielleicht ist das der Grund, sein Kissen ins Vollmondlicht zu schieben: I shift my pillow closer to the full moon. (Saiba / 1858; 273)

3. Schlussimpulse 3.1 Eine kleine Bilanz Motivaufzählung: Kommen und Gehen / Vergehen Flüchtigkeit (Barock) Verwehen Verschwinden Düfte und Gerüche Blöße und Nacktheit Kleiderwechsel Kleiderverlust Namenswechsel Namenlosigkeit Blumenwelt und Jahreszeiten Winter Eis und Frost der reine / der zerbrochene Spiegel (Mond) darin auch: Verflüssigung von Frost und Eis Zerbrechen des Spiegels Die Death Poems (und auch ihre westlichen Parallelen) imponieren mir nicht nur in ihrer ästhetischen Erscheinung, sondern auch in ihrer spirituellen Haltung. Sie drängen sich nicht auf, sie appellieren nicht, werten nicht auf oder ab. Sie verschweigen nichts; aber sie verstummen eben auch nicht. Sie operieren nicht mit Suggestionen. Sie rebellieren nicht; aber ich lese sie auch nicht – um mit Freud zu sprechen – als Zeugnisse „verständiger Resignation“. Sie sind realitätstauglich. Auch verfangen sie sich nicht in Deutungen, im Sinne von „to think too much about the meaning“: Life is like a cloud of mist Emerging from a mountain cave And death A floating moon In its celestial course. If you think too much About the meaning they may have

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Gerhard Marcel Martin You’ll be bound forever Like an ass to a stake. (Mumon Gensen / 1390; 109)

Sie sind schlichte (zumeist indirekte) Existenzmitteilungen mit bisweilen implizit narrativen Anteilen auf dem Weg, die Welt und sich selbst zu verlassen. Als solche haben sie Relevanz für eine existenzial-theologische Hermeneutik, die ein Fundament bilden kann für systematisch-theologisches Denken, vor allem aber für die Praktische Theologie, dabei wiederum besonders für die Pastoraltheologie und die Seelsorge. Sie mögen auch Materialien sein im interreligiösen Dialog. Dabei ist wohl von entscheidender Bedeutung, welche Grundtypen von Theologie in diesem Bereich überhaupt dialoggeeignet und dialogfähig sind. Die elementare Frage für mich lautet: In welchem Verhältnis stehen die so weit ins Blickfeld geratenen fernöstlichen Existenzmitteilungen auf dem Weg, die Welt und sich selbst zu verlassen, zu westlichen geschichts- und verheißungstheologischen Konzepten? Deutlich scheint jedenfalls, dass zu solchen Dialogen messianische Ansätze weniger geeignet sind als eine Legierung aus weisheitlichen und mystischen Komponenten, angereicht um apokalyptische Grundimpulse, geht es doch weniger um eine Transformation oder Erneuerung als um eine Art der Annihilatio als einer totalen Rückgängigmachung, Auslöschung. Die Gattung (altorientalischer) Weisheit kommt für mich ins Spiel, weil in ihr elementare ungeschminkte Lebenserfahrung und Lebensklugheit zum Ausdruck kommen. Sie artikuliert sich lebenspraktisch und erfahrungsoffen.21

3.2 Zum pastoraltheologischen Themenbereich: Sterben und Tod Nicht nur in den Death Poems, sondern in der Buddhistischen Tradition insgesamt ist der Tod zumeist symbolisch nicht besonders aufgeladen. „Pathologische Todessehnsucht oder Todessucht, Todesromantisierung kommen (kaum) in den Blick.“ Nicht nur Mönche (denke ich) halten es nicht für unwahrscheinlich, den Tod „am Straßenrand oder in einem Feld zu treffen“ und thematisieren dies auch. „Das unabwendbare, auf Äonen betrachtet fraglose Ziel aller fühlenden Wesen, also auch der Menschen, ist es eben, die samsarische Existenz zu verlassen.“22 Unter diesem Blickwinkel „verliert der Tod seine Unheimlichkeit. In der Freudschen Psychoanalyse ist ,unheimlich‘ nichts Fremdes oder Neues, sondern das, mit dem man zu lange nicht mehr in Kontakt war, etwas ,dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm aber nur durch den Prozess der Verdrängung entfremdet worden ist‘“.23 Geburt und Tod sind eben ein unabdingbar zusammengehöriges Geschehen. Im Japani21 Vgl. Martin, das Theologische, bes. 222 f. 22 Martin, Buddhismus, 111, 159, 110. 23 Vgl. Martin, Buddhismus, 111; Freud, Unheimliche, 254.

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schen gibt es das eine Wort „seishi“, das „Leben und Tod“ oder auch „Geburt und Tod“ in eins meint. Unkommentiert möchte ich zwei Texte zur Vorstellung der Rückkehr des Lebens zu (s)einem Ursprungsort einander gegenüberstellen: der seelenhirte daß alle menschen etwa eine einzige seele möchten sein, die reicht, solang sie leben, in ihren körper hinein und schnappt, sobald sie sterben, dann irgendwo zurück in diesen einzigen großen seelenleib, in dieses unvergängliche glück, das wollte ich gern hoffen. (Jandl 1)

und: Adrift between the earth and sky I call to the east and change it to west. I flourish my staff and return once again To my source. Katsu! (Sun’oku Soen; 116)

4. Schlusspointe Death poems are mere delusion – death is death. (Toko / 1795; 329)

Toko provoziert mit einer letzte Selbstrücknahme. Und als Reflexion auf delusion könnte auch mein ganzer Beitrag delusion in Potenz sein. Aber so, wie der Satz „death is death“ seine Gültigkeit hat, so gilt auch, zumindest akademisch: Eine lecture ist eine lecture. Ho!

Literatur Blyth, Reginald H.: A History of Haiku. In two Volumes, Tokyo, Hokuseido, 1963/ 1964. Fried, Erich: Gesammelte Werke, hg. von Volker Kaukoreit und Klaus Wagenbach, Gedichte 2, Berlin 1993.

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Gerhard Marcel Martin

Freud, Sigmund: Das Unheimliche, in ders.: Gesammelte Werke XII, London, 1959, 229–268. Hoffmann, Yoel: Japanese Death Poems. Written by Zen Monks and Haiku Poets on the Verge of Death, compiled with an Introduction and commentary by Yoel Hoffmann, Tokyo u. a. 1986. Jandl, Ernst: gedichte an die kindheit (1977), in ders.: Gesammelte Werke. Zweiter Band. Gedichte 2. Darmstadt / Neuwied, 1985, 346–351. Martin, Gerhard Marcel: Frühe Haikus von Tomas Tranströmer, in, A. Standhartinger / H. Schwebel / F. Oertelt (Hg.): Kunst der Deutung – Deutung als Kunst. Beiträge zu Bibel, Antike und Gegenwartsliteratur, Münster 2007, 169–176 (FS v. Blumenthal). Martin, Gerhard Marcel: Beziehungsverhältnisse zwischen Karl Jaspers‘ Religionsphilosophie und Theologie / Kirche unter besonderer Berücksichtigung seines Dialogs mit Rudolf Bultmann, in, Thomas Fuchs / Stefano Micali / Boris Wandruszka (Hg.): Karl Jaspers – Phänomenologie und Psychopathologie, Freiburg/ München 2013, 227–238, 228. Martin, Gerhard Marcel: „und wo bleibt das Theologische?“, in, ders., Lebensräume – Gottesräume. Praktisch-theologische Themenfelder in enzyklopädischer Perspektive, Stuttgart, 2017, 216–225, bes. 222 f. Schobert, Ingrid: Erinnerung als Praxis des Glaubens, München 1992.

Henrik Simojoki

Religiöse Bildung und das Recht zu erzählen. Eine postkoloniale Perspektive

1. „Die Mundhöhle ist ein gutes Versteck“. Narrative Identität und exilische Existenz In der Maiausgabe 2018 von LITERATUR SPIEGEL gibt Ronya Othmann Einblick in die exilische Existenz ihrer Familie.1 Sie erzählt von ihren Großeltern, die nachts aus ihrem türkischen Heimatdorf fliehen mussten, weil sie Jesiden waren, und dann in ihrer neuen Heimat in Syrien die Staatsbürgerschaft verloren, weil sie Kurden waren. Sie erzählt vom Garten der Großeltern, einem sagenumwobenen Sehnsuchtsort, den die Großmutter nach dem Genozid des IS an den Jesiden in Sindschar an 3. August 2014 hinter sich lassen musste, ohne danach je mehr ganz anzukommen in ihrem deutschen Exil. Sie erzählt von ihrem Vater, der nach seiner Flucht aus Syrien in der Türkei Folter erlitt, weil er bei einer Straßenkontrolle mit Kassetten des kurdischen Sängers S¸ivan Perwer „erwischt“ wurde – und der später von München nach Mintraching zog, um ebenfalls einen Garten anzulegen. Und sie erzählt von sich selbst, in Deutschland geboren, mit deutschem Pass und deutscher Mutter, und doch im Herzen Exilantin, weil man das Gefühl der Entwurzelung nicht von einer Generation auf die andere einfach ablegen kann. Vor allem aber erzählt Ronya Othmann von Erzählungen. „Das Erzählen“, schreibt sie, „war fester Bestandteil des Lebens im Dorf, unsere schriftlose Religion war darauf angewiesen.“2 Doch die Vorzüge des Erzählten sind ambivalent, weil sie in der über Generationen eingelebten Unterdrückungssituation begründet sind: „Im Gegensatz zu dem gedruckten Wort konnte es nicht zufällig bei einer Razzia gefunden werden. Die Erzählungen trug man auf der Zunge, die Mundhöhle ist ein gutes Versteck.“3 Diese historisch tradierte, subversive Kultur der Narrativität hat auch im ererbten Exil Ronya Othmanns einen geprägten Ort: den heimischen Küchentisch, an dem ihr Vater – ein geübter Erzähler in der Tradition der kurdischen DengbÞjs – Abend für Abend Geschichten des Erleidens und Bilder der Sehnsucht aufleben lässt. Die junge Lyrikerin schließt ihren Beitrag mit folgendem Absatz: 1 Othmann, Hundert Flüche, hundert Segenswünsche. 2 Othmann, Hundert Flüche, hundert Segenswünsche, 5. 3 Ebd.

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Henrik Simojoki

„Die Erzählungen trug mein Vater mit sich wie einen Koffer. Die Erzählungen konnten die Grenzen passieren, während es der Garten meiner Großeltern nicht konnte. Die Erzählungen wurden zu unserem Garten. Sie nähren unser Exil. Und halten uns vor, was wir verloren haben.“4 Dass der vorliegende Beitrag mit dieser Erzählung von Erzählungen einsetzt, hat mehrere Gründe. Zum einen bringt sie zum Ausdruck, was Theologinnen und Theologen, ob biblisch-, historisch-, systematisch- oder praktisch-theologischer Provenienz, schon längst wissen bzw. in den letzten Jahrzehnten von den Kultur- und Sozialwissenschaften tiefer zu verstehen gelernt haben: Erzählungen sind ein ureigener Modus religiöser Kommunikation, und sie sind ein zentrales Medium der alltäglichen Identitätsarbeit.5 Zum anderen wird an Ronya Othmanns biografischer Narration deutlich, was auch in der Religionspädagogik noch immer gelegentlich unterschlagen wird: Nämlich wie komplex und ambivalent sich der Zusammenhang von Narrativität und Identitätsbildung in der globalen Migrationsgesellschaft gegenwärtig darstellt.6 Erzählungen dienen nicht nur dazu, die auseinanderlaufenden Fäden der eigenen Lebensgeschichte zu einem stimmigen Ganzen zu verweben. Sie können auch Fremdheitsgefühle nähren und Verlusterfahrungen bewahren. Schließlich schärft Othmanns migrantische Familienerzählung die Sinne dafür, dass der Drang zu erzählen oft mit der Erfahrung korreliert, nicht Gehör zu finden, dass die Suche nach Artikulation mit versagten Äußerungsmöglichkeiten zu tun hat, dass sich die Kraft der Narration aus Ohnmachtserfahrungen speisen kann. Wenn man den Beitrag mehrfach liest, merkt man, dass die dominante Dimension der Narration ein politisches Pendant besitzt: Nicht nur private Erzählungen, sondern auch öffentliche Demonstrationen gehören zur exilischen Existenz der Familie. Nicht nur am Küchentisch, sondern auch auf der Fernsehcouch hat die Familie an jesidischen Geschichten teil. Die Spannung, die sich hier aufbaut, markiert gleichzeitig eine Relation, die sich besonders trefflich am theologischen Oeuvre, der mit dieser Festschrift gewürdigten Jubilarin veranschaulichen lässt. In der Praktischen Theologie Ingrid Schoberths spielen Narrativität und Diskursivität eine zentrale Rolle, ihr Denkweg beginnt im Zeichen erzählter Erinnerung7 und mündet im Ansatz einer diskursiven Religionspädagogik8. In Aufnahme dieser beiden Bezugshorizonte soll daher im Folgenden das Verhältnis von Erzählen und Aushandeln in religionspädagogischer Absicht durchleuchtet werden. Der

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Ebd. Zur religionspädagogischen Sicht auf diesen Zusammenhang vgl. Kumlehn, Erzählkultur. Vgl. Simojoki, Liminale Bildung. Schoberth, Erinnerung als Praxis des Glaubens. Dies., Diskursive Religionspädagogik.

Religiöse Bildung und das Recht zu erzählen. Eine postkoloniale Perspektive 41

wichtigste, keineswegs aber einzige Bezugsautor wird dabei Homi Bhabha sein, weil dieser in seinem Werk beides in einen engen Zusammenhang bringt.

2. „The right to narrate”: ein postkoloniales Plädoyer Die von mir gewählte Titelformulierung greift einen Gedanken auf, den Bhabha, einer der Leittheoretiker der postcolonial studies, 2014 fast schon beiläufig in einem kurzen Beitrag für das Harvard Design Magazin ins Spiel gebracht hat, ohne ihn danach wirklich jemals systematisch entfaltet zu haben. Bhabha reflektiert in diesem Beitrag den gesamtgesellschaftlichen Auftrag der Kultur- und Geisteswissenschaften und fordert gleich zu Beginn ein generelles Artikulationsrecht ein, das bislang nicht zum geläufigen Bestand kodifizierter Grundrechte zählt und sich nur schwer ins Deutsche übertragen lässt: „the right to narrate“9. In der eingängigen Formel schwingen zwei zusammengehörige Dimensionen mit, die beide von erheblicher religionspädagogischer Tragweite sind. Auf individueller Ebene verweist sie auf die grundlegende Bedeutung von Narrationen für Identitätsbildung unter den Bedingungen kultureller Mehrbezüglichkeit. Um die spezifische Akzentuierung von Bhabhas Konzept einer narrativen Identität besser zu verstehen, soll zunächst in knapper Form konturiert werden, wie der Zusammenhang von biografischer Narration und Identitätsarbeit in der sozialwissenschaftlichen und theologischen Theoriebildung der Gegenwart konstruiert wird.

3. Identität als Narrationsarbeit Die Identitätstheorie des Münchner Sozialpsychologen Heiner Keupp hat eine beachtliche praktisch-theologische Wirkungsgeschichte entfacht.10 Aus der Sicht von Keupp besitzt die von Erik H. Erikson besonders nachhaltig geprägte Leitvorstellung einer sich stufenweise ausbildenden Identität, die auf Abrundung angelegt ist und in lebensgeschichtlichen Reifungsprozessen vor allem des Jugendalters erworben wird, immer weniger Anhalt in den sozialen und kulturellen Realitäten der globalisierten Spätmoderne.11 Angesichts der fortschreitenden kulturellen Pluralisierung können Menschen kaum mehr auf geschlossene kulturelle Sinnwelten und Orientierungsvorgaben zurückgreifen, um sich in der unübersichtlichen Vielfalt von Lebensbezügen zurecht9 Bhabha, The Right to narrate. 10 Vgl. bes. Pirker, Fluide und fragil, 122–143. 11 Vgl. Keupp u. a., Identitätskonstruktionen.

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zufinden. Stattdessen sind sie auf eine Mehrzahl von Teilidentitäten angewiesen, die sie selbst konstruieren und miteinander ausbalancieren müssen. Keupp spricht in diesem Zusammenhang von einer Patchwork-Identität, deren Kohärenz vom Individuum selbst hergestellt werden muss. Die einprägsame Metapher soll den konstruktiven Charakter und die oft unkonventionellen Muster dieses Passungsprozesses veranschaulichen. Sie ist jedoch auch für Missverständnisse offen, weil sie das Krisenhafte und Riskante solcher Verknüpfungsprozesse nicht mittransportiert. Je bunter das Spektrum der dem Individuum biographisch zugewachsenen kulturellen Muster ist, desto anspruchsvoller gestaltet sich der Prozess der Identitätsbildung oder, wie Keupp es ausdrückt, die „alltägliche Identitätsarbeit“. Verweilt man im Bedeutungsfeld dieser zweiten, aufgrund der Machbarkeitssuggestion ebenfalls nicht unproblematischen Leitmetapher Keupps, wird deutlich: Identität als Passungsarbeit bedeutet nicht, die für den Identitätsprozess charakteristischen Ambivalenzen, Spannungen und Widersprüche „zu harmonisieren, sondern sie in ein für das Subjekt lebbares Beziehungsverhältnis zu bringen“12. Zentrales Medium dieser Verknüpfungsarbeit ist die biografische Selbsterzählung oder, in Keupps Diktion, die „Narrationsarbeit“. Identität bildet sich demnach vor allem dadurch aus, dass man die auseinanderlaufenden Stränge des eigenen Lebens zu einer eigenen „story“ zusammenführt, in immer neuen Erzählanläufen. Dabei betont Keupp die notwendige Dialogizität solcher Erzählprozesse. Die persönlichen Narrationen sind auf Resonanzen angewiesen; sie wirken nicht per se identitätsbildend, sondern dadurch, dass sie anderen erzählt werden, die ihrerseits Einfluss auf die individuelle Konstruktionsarbeit nehmen. Die Narration vom ekelhaften Chef etwa bedarf der Validierung durch andere Mitarbeiter – ein von Keupp eingebrachtes Beispiel, an dem zudem deutlich wird, das Selbsterzählungen, was nicht vergessen werden sollte, in handfeste Machtstrukturen eingebettet sind.13 Für die väterlichen Erzählungen am Küchentisch der Familie Othmann ist wiederum das intergenerationale Setting und Publikum konstitutiv – sie leben davon, dass die Narration sich fortsetzt, in andere übergeht, sich familiär verwebt. Othmann schreibt: „Mein Vater erzählte das Gefängnis an unserem Küchentisch, nach dem Abendessen. Er spuckte die Schalen der Sonnenblumenkerne in ein Taschentuch. Das Gefängnis meines Vaters ist Teil unseres Exils geworden. Ich habe dieses Exil angetreten wie ein Erbe. Weil man ihn dort gefoltert hat, für ein paar Musikkassetten von S¸ivan und Gulistan, bin ich, obwohl hier geboren, mit deutschem Pass und deutscher Mutter, Kurdin.“14

12 Keupp u. a., Identitätskonstruktionen, 207. 13 Keupp u. a., Identitätskonstruktionen, 213. 14 Othmann, Hundert Flüche, hundert Segenswünsche, 4.

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4. „Die Story“ und die „stories“ Interessanterweise bringt bereits Keupp, in einem oberfränkischen Pfarrhaus aufgewachsen, die narrativen Konstruktionsprozesse mit der Wahrheitsfrage in Verbindung. Ausschlaggebend für die Narrationsarbeit sei nicht die Faktizität des Erzählten, sondern der in ihr konstruierte Sinnzusammenhang. „Und diese Sinnstiftung soll auch nicht primär die eigene Geschichte als etwas Gelebtes verständlich machen, sondern sie vielmehr für die Zukunft offenhalten.“15 Diese Blickrichtung verbindet – und unterscheidet – Keupp von Ingrid Schoberth, die in ihrer bei Hans G. Ulrich abgelegten Dissertation das „Story“Konzept Dietrich Ritschls erinnerungstheoretisch fruchtbar macht.16 Auch für Ritschl ist der Zusammenhang von biografischer Selbsterzählung und narrativer Identitätskonstruktion konstitutiv : „Wenn ich sagen soll, wer ich bin“, so Ritschl bündig, „erzähle ich am besten meine Story.“17 Allerdings werden die fragmentarischen „Einzel-Stories, die als Träger unserer Perspektiven unser Leben ausmachen“, von Ritschl sehr feinsinnig „der übergeordneten Gesamt-Story, der trinitarischen Geschichte so zugeordnet, daß wir in unsern Einzel-Stories uns von der Gesamt-Story lösen können, Gott in seiner Geschichte aber immer die Einzel-Stories mit einbezieht und umgreift“18. Diese rechtfertigungstheologische Pointe ist auch insofern zu beachten, als das narrative Verständnis von Identität hier nicht zu einer narrativen Theologie im engeren Sinne führt, weil die Story Gottes nicht in menschlicher Sinnkonstruktion aufgeht und auch über die narrativen Überlieferungen der Bibel hinausreicht. Stories sind für Dietrich Ritschl das „Rohmaterial der Theologie“ – nicht weniger, aber auch nicht mehr.19

5. „The right to narrate“ – mehr als Hilfe zur Identitätsbildung durch Narration Der Zusammenhang von Identitätsbildung und Narration ist auch in der Religionspädagogik seit längerem erkannt und didaktisch konzeptualisiert worden. Besonders Hans-Georg Ziebertz hat darauf hingewiesen, dass die 15 16 17 18 19

Keupp u. a., Identitätskonstruktionen, 210. Schoberth, Erinnerung als Praxis des Glaubens, 17–189. Ritschl, Zur Logik der Theologie, 45. Ritschl, Zur Logik der Theologie, 303 (im Orginal kursiv). Ders., ,Story‘ als Rohmaterial der Theologie. Zur Funktion der Theologie in Ritschls „Story“Konzept vgl. Schwartz, Narrative Ethik, 151–153.

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Zielperspektive einer „Hilfe zur Identitätsbildung durch Narration“20 ein genuines Anliegen religiöser Bildung darstellt. Dabei spricht er der biblischen Überlieferung besonderen Erhellungswert zu, weil in ihr Orientierungsnöte und Gebrochenheitserfahrungen nicht ausgeklammert, sondern als charakteristisch für menschliche Identitätssuche angesehen werden: „Von Petrus und Paulus, Judas und Thomas erfahren wir, welche Rolle der ,Umbau‘ des Lebens oder Zweifel in der Biografie gespielt haben. Ihre Erfahrungen sind uns in Erzählungen zugänglich. Sie können dazu anstiften, die eigene Erzählung zu beginnen. Schülerinnen und Schüler zu ermuntern, Autoren ihrer eigenen religiösen Biografie zu werden, ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu religiöser Mündigkeit.“21 Dagegen ist eigentlich wenig zu sagen. Wozu, könnte man sich fragen, braucht es dann noch eine postkoloniale Perspektive? Was ist ihr praktischtheologischer Mehrwert für die Erhellung des Zusammenhangs von Identitätsbildung und Narration? Bei allen bislang genannten Konzepten einer narrativen Identität wird der Prozess der Identitätskonstruktion zwar fragmentiert, aber eigentümlich atopisch gedacht, mit nur schwachem Bezug auf biografisch relevante Orte, Räume und Bezugskontexte, seien sie nun real oder imaginiert. Das ist wahrscheinlich schon per se eine engführende Abstrahierung, die aber umso mehr ins Gewicht fällt, wenn die zur Sprache gebrachten Erzählungen Migrationserfahrungen einschließen. Ronya Othmanns exilische Narration gewinnt ihre eigentümliche Spannung aus der Art und Weise, wie hier biografische Kontexte, lokale Bezugshorizonte und räumliche Metaphern in Beziehung gesetzt werden, sich überlagern und teilweise kollidieren. Die Folterkammer in der Türkei, die am heimischen Küchentisch Gestalt gewinnt. Der Genozid an den Jesiden in Sindschar und dessen solidarisch-ohnmächtiger Mitnachvollzug auf der Fernsehcouch in Oberbayern. Ähnliches ließe sich übrigens auch von der biblischen Überlieferung sagen. Anders als bei Ziebertz angedeutet, ist Identität hier nicht nur eine Sache biographischer Selbsterzählung von Individuen. Vielmehr manifestiert sie sich in komplexen und oft kollektiven Artikulationen räumlicher Mehrbezüglichkeit: „An den Strömen von Babel, da saßen wir und weinten, wenn wir an Zion dachten.“ (Ps 137,1) An diesem Punkt zeigt sich nun die spezifische Erhellungskraft des postkolonialen Denkansatzes von Homi Bhabha. Wie schon der Titel seines Hauptwerkes anzeigt, geht es Bhabha in seinem vielschichtigen Werk um eine möglichst nuancierte Lokalisierung kultureller Praxis.22 Folgerichtig fängt er die narrative Artikulationsebene, die von Ronya Othmann familienbiografisch besetzt wird, in einer räumlichen Metapher auf. In Bhabhas Perspektive 20 Vgl. Ziebertz, Wozu religiöses Lernen?, 151. 21 Ziebertz, Wozu religiöses Lernen?, 153. 22 Vgl. Bhabha, Verortung der Kultur.

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handelt es sich bei ihrer literarischen Familienerzählung um eine Stimme aus dem „Dritten Raum“, einem eigenen Ort kultureller Artikulation, der nicht – wie es das klassische Verständnis von Interkulturalität nahelegt – zwischen „den“ Kulturen anzusiedeln, sondern „im Dazwischen“ der Kultur zu verorten ist.23 Der zerstörte Garten in Syrien und dessen narrative Präsenz im heimischen Garten in Mintraching ist nur ein Beispiel, wie solche Zwischenräumlichkeit sprachlich manifest werden kann. Allerdings werden die zwischenräumlichen Sphären von Bhabha nicht in erster Linie lokal-geographisch gefasst. Sie sind vielmehr sprachlicher Natur, formieren sich in Kunst, Literatur, politischer Rhetorik und in alltäglichen Aushandlungsprozessen. Ganz besonders gewinnen sie Gestalt in Narrationen. Natürlich ist Bhabha nicht der einzige, der sich um ein tieferes Verständnis der mit der Globalisierung einhergehenden kulturellen Mehrbezüglichkeit bemüht hat. Allerdings zeigen sich die komplexen Dynamiken des globalen Kulturwandels in seinen Analysen weit weniger harmonisch als in anderen Theorieofferten.24 Bhabhas Leibegriff der Hybridität kann leicht mit dem kulturwissenschaftlichen Konzept der Hybridisierung verwechselt werden, das vom niederländischen Globalisierungsforscher Jan Nederveen Pieterse programmatisch entfaltet worden ist. Nederveen Pieterse versteht unter Hybridisierung einen kreativen, oft experimentellen Prozess der Vermischung, Verschmelzung oder Kombination kultureller Elemente. „Thai boxing by Moroccon girls in Amsterdam, Asian rap in London, Irish bagels, Chinese tacos, and Mardi Gras Indians in the United States“25, solche Phänomene stehen nach Pieterse beispielhaft für die hybride Struktur und die patchworkartige Zusammensetzung kultureller Phänomene in der globalisierten Welt. Dagegen wird in Bhabhas Theorie der Hybridität ein „politischer und kultureller Kampfplatz […] aufgeschlossen“26. Im Vorwort zur Neuausgabe von „The Location of Culture“ im „Routledge Classic Edition“ aus dem Jahr 2004 lässt er im Dialog mit V.S. Naipaul erkennen, wie sich die Bevormundungsmuster, die Marginalisierungserfahrungen und Unterdrückungskonstellationen der kolonialen Zeit mittlerweile globalisiert haben.27 Folgerichtig bildet die globale Migration einen zentralen Analysekontext seiner postkolonialen Kulturtheorie: Wie bei den kolonialisierten Völkern finden auch die kulturellen Verortungsstrategien von Migrantinnen und Migranten auf einer Arena statt, auf der um Deutungsmacht, um Selbstbehauptung und in letzter Konsequenz ums „Über-leben“ gerungen wird – wobei letztgenanntem Begriff 23 24 25 26 27

Vgl. ders., Culture’s In-Between. Vgl. zum Folgenden Simojoki, Ökumenisches Lernen, Hybridisierung und Postkolonialismus. Pieterse, Globalization and culture, 69. Bhabha, Verortung der Kultur, 51. Vgl. Ders., Location of Culture, ix–xxv.

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bei Bhabha mehr Möglichkeitssinn eignet als sein alltagssprachlicher Gebrauch vermuten lässt.28 Es ist also der Standpunkt, der Bhabhas Sicht auf die globalen Migrationsbewegungen auszeichnet: Die hier aufbrechenden Prozesse der Identitätsaushandlung werden von ihm machttheoretisch gerahmt und konsequent „von unten“ aus der Perspektive der Minorisierten erschlossen. Das ist bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass ein Großteil der biblischen Narrationen ihren Sitz im Leben in Erfahrungen migrationsbedingter Marginalisierung hat29 und das Christentum derzeit in Kontexten einstiger oder aktueller Kolonialisierung besonders lebendig ist.30 Unter diesen Bedingungen entfalten Narrationen nach Bhabha ihre subversive Kraft: Sie ermöglichen denen, die in der zwischenräumlichen Sphäre unterwegs sind, Kolonialisierte, Minoritäten, Migrantinnen und Migranten, Möglichkeiten der Selbst- und Weltartikulation, in oft sublimen Prozessen der Uminterpretation, Verfremdung und Bedeutungsverschiebung, die zur Erschütterung und Aushöhlung hegemonialer Positionen und dominanter Ordnungssysteme führt – so wie die von Ronya Othmann geliebten Lieder S¸ivan Perwers, in denen, wie sie schreibt, hochpolitische Botschaften als Liebeslieder getarnt werden.31 Dieser Hintergrund ist mitzudenken, wenn man verstehen will, warum Bhabha sich so dezidiert für ein „right to narrate“ einsetzt. Bei dem umkämpften und stets gefährdeten Recht auf Narration geht es um mehr als „bloß“ darum, Individuen die Möglichkeiten biografischer Selbstdeutung zu eröffnen. Vielmehr steht mit diesem Recht etwas auf dem Spiel, das die Freiheit und Würde des Menschen mit ausmacht, im „global age“ mehr denn je: „the authority to tell stories, recount or recast histories, that create the web of social life and change the direction of its flow“32. Spätestens hier wird deutlich, dass Bhabhas Plädoyer für ein „right to narrate“ über die individuelle Deutungspraxis hinausreicht. Es schließt eine weitere Dimension ein, die im religionspädagogischen Identitätsdiskurs weniger beachtet wird. Denn Bhabha zielt mit dieser Forderung über die individuelle Sphäre hinaus auf ein „generelles Äußerungsrecht im Diskurs“33. Die zentrale Passage lautet: „Freedom of expression is an individual right; the right to narrate, if you will, is an enunciative right – the dialogic right to address and be addressed, to

28 Ders., Verortung der Kultur, 339, spricht im Anschluss an Derrida von „sur-vivre […] als dem Akt, sein Leben auf der Grenze zu leben“. 29 Vgl. Gärtner, Überlegungen zu Migration. 30 Zur Globalisierung des Christentums und den damit verbundenen Bildungsherausforderungen vgl. Simojoki, Globalisierte Religion, 309–345. 31 Othmann, Hundert Flüche, hundert Segenswünsche, 4. 32 Bhabha, Right to narrate. 33 Struve, Bhabha, 184.

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signify and be interpreted, to speak and be heard, to make a sign and to know that it will receive respectful attention.“34 Bei Bhabha sind also „narration“ und „negotiation“ weit enger miteinander verbunden als in den gängigen Konzepten einer narrativen Identität. Narrationen haben ihren Sitz im Leben in konfliktreichen Prozessen kulturellen Aushandelns, sie wollen nicht nur erzählt, sondern auch gehört, aufgenommen und verhandelt werden. Die prominente Rolle von Ronya Othmanns Familienerzählung in diesem Beitrag verdankt sich der einfachen Tatsache, dass sie mir in der Literaturbeilage einer der Leitmedien der deutschsprachigen Öffentlichkeit zugänglich wurde. Ungeachtet des privaten Settings habe ich also auf eine politische Erzählung rekurriert, die in den öffentlichen Diskurs um Migration, Identität und Heimat hineinspricht. Das ist übrigens bei biblischen Erzählungen nicht anders: Auch sie sind, wie bereits die Schöpfungsnarrationen der Genesis zeigen, ihrer originären Intention nicht primär auf die Identitätsarbeit Einzelner hin angelegt. Vielmehr zielen sie auf Prozesse kollektiver Identitätsformation und stehen in einem weiteren diskursiven Kontext, in dem eine Vielzahl konkurrierender „stories“ wirksam waren.35 Versteht man Narrationen im Sinne Bhabhas als ein diskursives Phänomen, hat das zur Folge, dass Prozesse narrativer Identitätsaushandlung in Kontexten religiöser Bildung weiträumiger angelegt und spannungsvoller gedacht werden müssen, als dies gemeinhin geschieht. Dafür bildet die von Ingrid Schoberth vorgelegte Theorieperspektive einer diskursiven Religionspädagogik eine aus meiner Sicht besonders geeignete Grundlage.

6. Erzählen und Aushandeln. Narrationsarbeit im Kontext einer „diskursiven Religionspädagogik“ In ihrem Buch „Diskursive Religionspädagogik“ distanziert sich Ingrid Schoberth mit einleuchtenden Argumenten von einem reifizierenden Begriff von Öffentlichkeit. Auch in der Religionspädagogik wird Öffentlichkeit oft als ein distinkter Bereich aufgefasst, der von anderen Bereichen abgegrenzt und als bereits vorfindliche Bezugsgröße kirchlichen und religionspädagogischen Handelns verstanden werden kann. Dem setzt Schoberth ein Verständnis von Öffentlichkeit entgegen, das von Charles Taylor inspiriert36 und von erheblicher Tragweite für religiöse Bildungspraxis ist: „Was Öffentlichkeit ausmacht“, schreibt Schoberth, „ist demnach nicht nur das Heraustreten aus dem Bereich des Privaten, sondern darüber hinaus die 34 Bhabha, Right to narrate. 35 Vgl. Schmid, Schöpfungsaussagen, 71–98. 36 Vgl. Taylor, Liberale Demokratie und Öffentlichkeit.

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diskursive Bemühung um die Gewinnung gemeinsamer Rahmenbedingungen des Lebens und des Handelns. Damit ist nicht die Notwendigkeit eines Konsenses in grundlegenden Orientierungen und Wertungen unterstellt; vielmehr geht es dabei einerseits um die Anerkennung von Menschen als Andere, also die Akzeptanz ihrer Orientierungen gerade da, wo sie von meinen abweichen, andererseits um die Bemühung um Bedingungen, das friedliche und freundliche Zusammenleben von Menschen verschiedener Orientierung zu ermöglichen. Öffentlichkeit ist demnach der Modus, in dem Pluralität wirklich und lebbar wird.“37 Ersetzt man bei dieser Formulierung den Begriff der Orientierungen durch den der Erzählungen, kommt man dem schon ziemlich nahe, was Bhabha mit dem Recht zur Narration im Sinn hat. Als Aushandlungsrecht („enunciative right“) ist dieses Recht an die Existenz einer diskursiv verfassten Öffentlichkeit gekoppelt. Während man bei Öffentlichkeit eher an die großen Foren und Arenen öffentlicher Meinungsbildung denkt, macht Ingrid Schoberth darauf aufmerksam, dass es Öffentlichkeit – als eine spezifische Form diskursiver Praxis – nur im Plural geben kann und dass es gerade pädagogisch besonders auf die kleineren Öffentlichkeiten ankommt. Daher sind Klassenräume, in denen Kindern und Jugendlichen Religion unterrichtet wird, erstklassige Orte der Einübung in eine Öffentlichkeit; allerdings nicht in dem Sinne, dass in ihnen Öffentlichkeit thematisiert oder didaktisch aufbereitet würde, sondern dergestalt, dass in Bildungsprozessen Öffentlichkeit einübend stattfindet – als eine kommunikative Praxis, in der junge Menschen erzählen und gehört werden, in der Minderheiten zu Wort kommen, in der biblische Erzählung Raum gewinnen und narrative Resonanzen auslösen, in der eine Kultur der Anerkennung kultiviert wird, die es erlaubt, auch harte Differenzen zu verhandeln. Dass das keine Vision aus dem Wolkenkuckucksheim ist, zeigen zwei pädagogisch dimensionierte Projekte im Kontext von Flucht und Migration: – „Reimagine belonging“, so heißt ein Dokumentarfilmprojekt, in der biografische Narrationen sich als diskursive Öffentlichkeit konstituieren.38 In der transnationalen Initiative werden „Geschichten von Zugehörigkeit“ gesammelt und multimedial präsentiert. Hier kommen junge Menschen aus Berlin und New York mit ihren je eigenen Stories von Identität und Differenz zu Wort – und geben der sogenannten „zweiten Generation“ von Migrantinnen und Migranten Stimme und Gesicht. – Die andere Initiative stammt aus der oberpfälzischen Kleinstadt Schwandorf und gehört in den weiteren Zusammenhang des Modellprojekts „Perspektive Beruf für Asylbewerber und Flüchtlinge“, an dem 21 Bayeri-

37 Schoberth, Diskursive Religionspädagogik, 99. 38 Siehe die Projekthomepage https://reimaginebelonging.de (22. 08. 2018).

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sche Berufsschule beteiligt sind.39 „Crossing Life Lines: erinnern – erzählen – gestalten“ – unter diesem Motto brachten die Verantwortlichen Geflüchtete und Jugendliche aus der Region zusammen. In einem Projekt ging es darum, in einem Schreibworkshop, Texte und Textcollagen zu den Themen Flucht, Heimat und Freunde zu verfassen, in einem weiteren ging es um intuitives Malen, in einem dritten kam eine kleine Videoproduktion zustande.40 Die Pointe bestand stets darin, dass sich die Erzählungen der hier involvierten jungen Menschen tatsächlich kreuzen, wobei man aus diesem Projekt auch lernen kann, dass es auch andere Wege gibt, in Erzählungen den eigenen Erfahrungen und Hoffnungen Ausdruck zu verleihen, als die Sprache. Aber natürlich soll dieser Beitrag nicht mit „good-practice“-Beispielen schließen, sondern anlassgemäß mit guten Worten an die Jubilarin. Es wäre schön, wenn dieser kleine Griff in das Deutungsinstrumentarium der „postcolonial studies“, Ingrid Schoberth nicht nur gebührend gewürdigt, sondern sie überdies ermutigt hätte, in ihrer ja längst nicht ausgeschöpften praktischtheologischen Denkbewegung die Relation von Erzählen und Aushandeln weiterhin in einer Weise zu explizieren, die ihre Zusammengehörigkeit religionspädagogisch klarer zutage treten lässt.

Literatur Abt, Heike / Nagler, Werner (Hg.): Crossing Life Lines: erinnern, erzählen, gestalten, Regensburg 2015. Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur. Mit einem Vorwort von Elisabeth Bromfen, Tübingen 2000. Bhabha, Homi, K.: The Location of Culture. With a new preface by the author, London / New York 2004. Bhabha, Homi, K.: The Right to Narrate, in: Harvard Design Magazine 38 (2014), abrufbar unter : http://www.harvarddesignmagazine.org/issues/38/the-right-tonarrate (20. 08. 2018). Gärtner, Judith: „[…] denn ihr seid Fremde gewesen in Ägypten“ (Ex 22,20) – Überlegungen zu Migration im Alten Testament, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 69 (2017), 3–13. Keupp, Heiner / Ahbe, Thomas / Gmür, Wolfgang / Höfer, Renate / Mitzscherlich, Beata / Kraus, Wolfgang / Sraus, Florian: Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne, Reinbek 42008. 39 Siehe die Projekthomepage https://bildungspakt-bayern.de/perspektive-beruf-fuer-asylbewer ber-und-fluechtlinge/ (22. 08. 2018). 40 Vgl. Abt / Nagler, Crossing Life Lines.

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Klessmann, Michael: „Das Ganze ist das Unwahre“ (Th. Adorno). Theologische Anmerkungen zur Identitätsthematik, in: Petzold, Hilarion G. (Hg.): Identität. Ein Kernthema moderner Psychotherapie – interdisziplinäre Perspektiven, Wiesbaden 2013, 173–190. Kumlehn, Martina: Erzählkultur. Narrativität, narrative Identität und religiöse Bildung, in: Thomas Heller (Hg.): Religion und Bildung – interdisziplinär. Festschrift für Michael Wernke zum 60. Geburtstag (Studien zur Religiösen Bildung 17), Leipzig 2018, 293–305. Nederveen Pieterse, Jan: Globalization and Culture. Global M8lange, Lanham u. a. 2004. Othmann, Ronya: Hundert Flüche, hundert Segenswünsche, in: LITERATUR SPIEGEL, Mai 2018, 3–5. Pirker, Viera: Fluide und fragil. Identität als Grundoption zeitsensibler Pastoralpsychologie (Zeitzeichen 31), Ostfildern 2013. Ritschl, Dietrich: ,Story‘ als Rohmaterial der Theologie, in: Ders. / Hugh O. Jones: ,Story‘ als Rohmaterial der Theologie (Theologische Existenz heute 192), München 1975, 7–41. Ritschl, Dietrich: Zur Logik der Theologie. Kurze Darstellung der Zusammenhänge theologischer Grundgedanken, München 1988. Schmid, Konrad: Schöpfung im Alten Testament, in: Ders. (Hg.): Schöpfung (Themen der Theologie 4), Tübingen 2012, 71–120. Schoberth, Ingrid: Erinnerung als Praxis des Glaubens (Öffentliche Theologie 3), München 1992. Schoberth, Ingrid: Diskursive Religionspädagogik, Göttingen 2009. Schwartz, Werner : Dietrich Ritschls story-Konzept und die narrative Ethik, in: Marco Hofheinz / Frank Mathwig / Matthias Zeindler (Hg.): Ethik und Erzählung. Theologische und philosophische Beiträge zur narrativen Ethik, Zürich 2009, 143–159. Simojoki, Henrik: Globalisierte Religion. Ausgangspunkte, Maßstäbe und Perspektiven religiöser Bildung in der Weltgesellschaft (Praktische Theologie in Geschichte und Gegenwart 12), Tübingen 2012. Simojoki, Henrik: Im Dazwischen. Zur Liminalität von Religion und Bildung in der postmigrantischen Gesellschaft, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 69 (2017), 26–36. Simojoki, Henrik: Ökumenisches Lernen, Hybridisierung und Postkolonialismus. Versuch einer kritischen Verschränkung, in: Andreas Nehring / Simon Wiesgickl (Hg.): Postkoloniale Theologien II. Perspektiven aus dem deutschsprachigen Raum, Stuttgart 2018, 256–270. Struve, Karen, Zur Aktualität von Homi K. Bhabha. Einleitung in sein Werk, Wiesbaden 2013. Taylor, Charles: Liberale Politik und Öffentlichkeit, in: Ders.: Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie? Aufsätze zur politischen Philosophie, Franfurt a.M. 2001, 93–139.

Religiöse Bildung und das Recht zu erzählen. Eine postkoloniale Perspektive 51 Ziebertz, Hans-Georg: Wozu religiöses Lernen? Religionsunterricht als Hilfe zur Identitätsbildung, in: Georg Hilger / Stephan Leimgruber / Hans-Georg Ziebertz (Hg.): Religionsunterricht als Hilfe zur Identitätsbildung, München 62010, 142–154.

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Narrativität im Recht und ihr Beitrag zur Begründung rechtlicher Entscheidungen

„Das A und O der Jurisprudenz ist der Fall. Er steht am Anfang dessen, was ,passierte‘ und am Ende der Entscheidung über die daraus zu ziehenden rechtlichen Konsequenzen. (…) Die Konstituierung des Falles erfolgt nicht durch Feststellung der Fakten einer unabhängig vom Recht existierenden objektiven Wirklichkeit, sondern durch juristische Beurteilung eines Lebenssachverhalts, der von den Beteiligten unterschiedlich geschildert und gedeutet wird.“ Mit diesen Worten führt Rolf Gröschner in seinen Beitrag „Der Streit als Vater aller Fälle“1, der sich mit juristischer Urteilsbildung befasst, ein. Hierbei stützt er sich auf Joachim Hruschka, der bezüglich der Konstitution des Rechtsfalles darlegt, „erst die Perspektive des Urteilers und der in dieser verborgene Rechtsaspekt machen den Rechtsfall zu dem, was er ist“2, und er beruft sich auf Jan Schapps Methodenlehre, die dieser in den Werken: „In Geschichten verstrickt“ (2. Aufl. 1976), „Philosophie der Geschichten“ (2. Aufl. 1981) und „Wissen in Geschichten“ (2. Aufl. 1981) entwickelt hat. Er geht nicht mehr vom klassischen Subsumtionsmodell aus, nach dem das Gesetz als etwas „Allgemeines“ gedacht wird, unter das die Fälle als das Besondere subsumiert werden3, sondern sieht auf der Grundlage einer „Einheit von Recht und Lebenswelt“4 den Fall nicht als bloßes Faktum, sondern als „Teil der Lebenswelt“, zu der auch das Recht als Bestandteil unserer „Kulturwelt“ gehört.5 Er setzt an die Stelle des Subsumtionsmodells das Gespräch zwischen den Parteien, dem Richter und dem Gesetzgeber, ob die Entscheidungsgründe des Gesetzgebers die richterliche Entscheidung für den dem Richter vorliegenden Fall zu begründen vermögen. Dies hat zur Folge, dass der Fall nicht mehr vom Recht und das Recht nicht mehr vom Fall getrennt werden kann, weil jedes als Fall erlebte und erzählte Ereignis – eben als Fall – seinen Sinn in der Lebenswelt immer schon vom Recht her bezogen hat.6 Geht man über die Perspektive des Urteilfindens hinaus, so finden sich „Geschichten im Recht (…) überall. Sie prägen die menschliche WahrnehGröschner, Der Streit als Vater aller Fälle, 737, 739. Hruschka, Die Konstitution des Rechtsfalles, 5. Dazu Engisch, Einführung in das juristische Denken, 81. Schapp, Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, 6 ff.; dazu Gröschner, Die richterliche Rechtsfindung, 622 ff. 5 Schapp, Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, 15 ff. 6 Dazu Gröschner, Das Hermeneutische der juristischen Hermeneutik, 622 ff.

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mung, die Organisation und Darstellung des Wahrgenommenen, sie geben Form und Inhalt, verleihen Sinn, begründen Werte oder stellen sie infrage, streiten für Standpunkte oder entkräften diese. Nicht immer sind sie als Geschichten erkennbar. (…) Ihre spezifische Wirkungsweise, ihre Entstehungsvoraussetzungen und die Parameter ihres Gelingens gelten auch dort, wo sie im Verborgenen wirken.“ Mit diesen Ausführungen führt Ruth Blufarb in ihre Dissertation „Geschichten im Recht. Übertragbarkeit von ,Law as Narrative‘ auf die deutsche Rechtsordnung“ aus dem Jahr 2017 ein, in der sie sich mit „Geschichten im Recht, mit ihren Formen und materiellen Besonderheiten, ihrer Wirkung, ihren Einsatzmöglichkeiten und ihrem Potenzial für die deutsche Rechtsordnung“ befasst.7 Ein juristischer Beitrag zu Ehren von Ingrid Schoberth, der dieser Beitrag in langjähriger und tiefer Freundschaft gewidmet ist, kann sich angesichts mehrerer interdisziplinärer Tagungen zur Urteilsfindung, an denen ich teilnehmen durfte und die in den von der Jubilarin herausgegebenen Bänden „Urteilen Lernen – Grundlegung und Kontexte ethischer Urteilsbildung“ (2012) und „Urteilen Lernen II – Ästhetische, politische und eschatologische Perspektiven moralischer Urteilsbildung im interdisziplinären Diskurs“ (2014) veröffentlicht sind, kann sich nur mit der Bedeutung der „Narrativität im Recht“ befassen und erste Überlegungen, die in dem ersten Band zum Thema „Narrative Ethik im Recht“8 angestellt worden sind, fortführen. Es soll deshalb hier der Frage nachgegangen werden, welchen Beitrag Narrativität zur Begründung rechtlicher Entscheidungen, die Anspruch auf Rationalität, Transparenz, Objektivität und Intersubjektivität erheben, zu leisten vermag und wo die rechtlichen Grenzen narrativen Begründens verlaufen. Hingegen soll nicht das Verhältnis von Literatur und Recht aufgegriffen werden9, zumal Recht weder Literatur, die unterhalten, schockieren, das Leben verständlich machen will etc., ist, noch sein will, sondern beansprucht, Zwang auszuüben.10 Auch der Bereich der Rhetorik, der ein wichtiges Instrument zur Überzeugung des Gerichts ist, soll ausgespart bleiben.11 Es geht um narrative Strukturen des deutschen Rechts, die Entfaltung narrativer Wirkungen, auch wenn dies in der Rechtswissenschaft nicht immer hinreichend transparent gemacht wird.12 7 Blufarb, Geschichten im Recht, 21 f. 8 Dannecker, Narrativität im Recht, 266 ff. 9 Dazu Pieroth, Recht und Literatur, passim; siehe auch Müller-Dietz, Die Kreise der Dichter und der Juristen, passim. 10 Hierin sieht Gewirtz, Narrative and Rhetoric in the Law, 2, 5, den grundlegenden Unterschied zwischen Literatur und Recht. 11 Zur Eigenständigkeit der Rhetorik gegenüber der Narrativiät Weisberg, Proclaiming Trials as Narratives, 61, 64. 12 Blufarb, Geschichten im Recht, 31 f., die in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen die Frage stellt, ob die für das Common Law entwickelten Ansätze für die deutsche Rechtsordnung fruchtbar gemacht werden können.

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Fragt man nach dem Verhältnis von Narrativität und Recht, so findet sich ein breites Meinungsspektrum. Teilweise wird das Verhältnis als ineinander Verwobensein von Recht und Narrativität im Sinne zweier Aspekte eines einzigen juristischen Diskurses verstanden13 – Mensch, Staat und Recht seien narrativ14 ; rechtliche Autorität beruhe auf narrativer Vorstellung, so dass Rechtstheorie eine Art narrativer Literatur sei15, Recht und Literatur seien nicht nur vergleichbar, Recht beruhe auf dem Verhältnis zwischen Erzähler und Zuhörer bzw. Leser und sei eine der großen, allgegenwärtigen Art und Weisen der menschlichen Sinngebung16. Demgegenüber vertritt Richard A. Posner die Auffassung, es handele sich um zwei grundsätzlich unterschiedliche Bereiche, die unterschiedlich zu behandeln seien, insbesondere verbiete sich eine Übertragung literaturtheoretischer Konzepte.17 Ähnlich kontrovers sind die Positionen bezüglich der Funktionen und Wirkungen narrativer Texte im Recht: Geschichten sollen „mächtig“ sein, da sie die Fähigkeit besitzen sollen, Wahrheiten zu vermitteln; im Recht würden Geschichten vor allem verwendet, um Sinn zu stiften und Erfahrungen zu organisieren18 ; sie vermittelten moralische Bewertungen.19 Geschichten im Recht könnten, so Martha Minow, auf verschiedene Weise Wirkungen entfalten: einen bestimmten Standpunkt darstellen, eine Erfahrung vermitteln, Einblicke geben und verschiedene emotionale Reaktionen hervorrufen20, die rechtswissenschaftlichen und rechtstheoretischen Methoden jedoch nicht ersetzen.21 Demgegenüber heben die Vertreter des „Legal Storytelling“ die Schwächen der juristischen Argumentationsmethode hervor, die durch Logik zu überzeugen versucht, und wollen diese Lücken mit der Argumentationsform des „Legal Storytelling“ schließen, weil Geschichten eine emotionale Überzeugungskraft hätten, die stärker als rationale Argumentation wirke, wobei die Sprache überwiegend auf einer irrationalen Ebene operiere. Dies gelte insbesondere für Themenbereiche wie „hate speech“ und Pornographie.22 Angesichts dieses Meinungsspektrums und der erheblichen Forschungsdesiderata bezüglich der narratologischen Perspektive im Recht soll der Schwerpunkt im Folgenden auf den Kontext und die Wirkung des Narrativen gelegt und das Narrative als Gegenstück zum traditionellen juristischen Denken verstanden werden. Im Mittelpunkt soll die Frage nach der narrativen 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22

Binder/Weisberg, Literary Criticisms of Law, 208. Ebd., 280. Ebd., 287. Brooks, The Law as Narrative and Rhetoric, 14, 22. Posner, Law and Literature, 309 ff. So Scheppele, Foreword: Telling Stories, 2073, 2075. Burns, A theory of trial, 159. Minow, Stories in Law, 24 ff. Ebd., 24, 36. Farber/Sherry, Legal Storytelling and Constitutional Law, 37, 42 f., 47.

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Gestaltung der Sachverhalte durch die Gerichte bei der Entscheidungsfindung stehen. Es soll deutlich gemacht werden, wie die Perspektive der Narrativität im Recht Probleme zu Tage fördern kann und zur Analyse des Rechts sowie seiner Funktionen beitragen kann, ohne den Anspruch zu erheben, rechtliches Argumentieren, die Systematik und Rechtsdogmatik zu ersetzen. Hierzu werde ich in vier Schritten vorgehen und mich mit der narrativen Ethik und ihrer Bedeutung im Recht (I.), sodann mit gerichtlichen Sachverhaltsdarstellungen als Narrationen sui generis (II.) und der Narrativität als Einfallstor für die Ethik im Recht (III.) befassen, um zusammenfassend die Grenzen der Narrativität deutlich zu machen (IV.).

1. Narrative Ethik und ihre Bedeutung im und für das Recht23 Narrationen haben in der aktuellen kultur- und geisteswissenschaftlichen Landschaft Konjunktur, sie sind in Germanistik, Anglistik, Pädagogik, Psychologie, Philosophie und Theologie Gegenstand des wissenschaftlichen Diskurses. Im Bereich der deutschen Rechtswissenschaft24 suchte man dagegen lange Zeit vergeblich nach einer vertieften Auseinandersetzung mit der Narrativität. Doch gilt nach wie vor: Erzählen hat im kontinentalen Rechtskreis keinen primären Status in der Urteilsbildung. Narrationen werden insbesondere nicht als Ersatz für differenziertes Argumentieren anerkannt. Erzählen gilt auch nicht als methodisch-reflektierte Kommunikationsform. Narrativität im Recht gehört zum Case-Law des angloamerikanischen Rechtskreises25, wo Recht als Konzept umschrieben werden kann, das in „the sacred narrative of our world” wurzelt.26 Dennoch erfüllt die Narrativität auch im deutschen Recht wichtige Funktionen.

23 Die folgenden Ausführungen führen meine Überlegungen weiter, Dannecker, Narrativität im Recht, 621 ff. 24 So auch Blufarb, Geschichten im Recht, 515, die als Ausnahmen die Arbeiten Andreas von Arnauld, Norms and Narrative, German Law Journal, Bd. 18 Nr. 2 (2017), Sonderausgabe: Law‘s Pluralities, 309 ff., und Susanne Baer, Speaking Law. Towards a Nuanced Analysis of „Cases“, German Law Journal, Bd. 18 Nr. 2 (2017), Sonderausgabe: Law‘s Pluralities, 271 ff. ansieht. Zur Diskussion in den Vereinigten Staaten siehe z. B. die Beiträge in Michigan Law Review, Vol. 87, No. 8, Legal Storytelling (Aug. 1989), 2073–2098 sowie Symposium: Law and Literature, 39 Mercer Law Review 739 (1988); Symposium: Law and Literature, 60 Texas Law Review 373 (1982); Interpreting Law and Literature (S. Levinson & S. Mailloux, eds., 1988). 25 Winter, The Coginitive Dimension of the AGON Between Legal Power and Narrative Meaning, 2225. 26 Cover, The Folktales of Justice.

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1.1 Narrativität als Mittel der Überzeugungsbildung Außer Frage steht, dass auch deutsche Gerichtsentscheidungen neben der juristischen Argumentation erzählerische Komponenten enthalten: „In den Tatbeständen vieler BGH-Urteile finden sich – so der Zivilrechtsprofessor Andreas Heldrich in seinem Festvortrag zum 50-jährigen Bestehen des Bundesgerichtshofs – reizvolle Kurzgeschichten, die auch als solche der Aufmerksamkeit ihrer Leser sicher sein können.“27 Aber erschöpft sich darin die Narrativität im Recht, in reizvollen Kurzgeschichten, die den Leser erfreuen? Diese Frage ist klar zu verneinen: Narrativität ist unverzichtbar. Sie ist eine Aufgabe, der sich Gerichte in Vorbereitung der Entscheidungsfindung ebenso wie Staatsanwälte und Rechtsanwälte im jeweiligen Verfahren stellen müssen: Vor kurzem berichtete ein renommierter Rechtsanwalt aus Frankfurt, wie er seine erste Klageerwiderung für einen Seniorpartner der Anwaltssozietät, dem er zuarbeitete, verfassen sollte. Er habe daraufhin, wie er es als Referendar gelernt habe, in klassisch-preußischer Manier die Beklagtenerwiderung verfasst: „Wenn vorgetragen wird, dass …, tragen wir vor, dass … Wenn weiterhin behauptet wird, dass …, tragen wir vor, dass …“ Eine klassische Beklagtenschrift, die aber den erfahrenen Anwalt nicht überzeugte. Dieser forderte eine eigene Geschichte, eine Darstellung des Sachverhalts aus Beklagtensicht, die der junge Anwalt dann auch verfasste. Und das Erstaunliche, so erzählte mir der Frankfurter Anwalt, sei gewesen, dass die klagende Partei die Klage daraufhin zurückgenommen habe. Die beklagte Partei hat durch ihre Narration die Gegenseite offensichtlich überzeugt und zu der Einsicht gebracht, den Rechtsstreit zu beenden und nachzugeben. Narrationen sind unverzichtbar, wenn es um die Vermittlung von Überzeugungen geht. 1.2 Narrativität als Mittel der Hinwendung zur Lebenswelt Narrativität kann weiterhin zum Tragen kommen, wenn Rechtsbegriffe eine Hinwendung zur Lebenswelt, insbesondere zur gelebten Moral erfordern, so wenn im Recht auf die guten Sitten rekurriert wird, wenn die Sozialadäquanz eines bestimmten Verhaltens, das erlaubte Risiko, die im Verkehr gebotene Sorgfalt, „fair and true view“ im Bilanzrecht, Verletzung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns etc. bestimmt werden sollen. Bei solchen Generalklauseln bedarf es eines mehr oder weniger komplexen Verfahrens der Rechtskonkretisierung, bei dem auf die Realität Bezug genommen und die gelebte Moral in das Recht eingebunden wird. Ähnliches gilt für „Leitentscheidungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung“, mit denen die Gerichte unter Einbeziehung der lebensweltlichen 27 Heldrich, 50 Jahre Rechtsprechung des BGH, 487, 498.

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Kontexte das Recht weiterentwickeln. In diesem Zusammenhang kann auf eine Leitentscheidung des EuGH zum Verbraucherleitbild verwiesen werden, mit der Vorgaben für berechtigte Erwartungshaltungen in der Gesellschaft statuiert und für verbindlich erklärt wurden.28 Auch hier kann ein Ort der Moral ausgemacht werden, der in das Recht einfließt und eine ethische Reflexion erfordert.

1.3 Narrativität im Zusammenspiel von Normauslegung und Anwendung des Rechts auf den Fall Rechtsfindung muss als Zusammenspiel von Normauslegung und Anwendung auf den Fall unter Anleitung der Gemeinwohlelemente Rechtssicherheit, Legitimität und Zweckmäßigkeit verstanden werden. Rechtskonkretisierung muss dabei nicht immer über die Legislative laufen, wie ein Blick auf das Gewohnheits- und insbesondere auf das Richterrecht zeigt. Dies wird inzwischen auch vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich anerkannt, das die Notwendigkeit der Gesetzeskonkretisierung als von der Gesetzgebung vorzunehmende Setzung von Recht für notwendig erklärt. Aufgabe der Gerichte ist es, das gesetzgeberische Programm unter den Leitideen des Rechts zu Ende zu denken, insbesondere auf die konkret zu entscheidenden Fälle anzuwenden und in Einklang mit den Festlegungen früherer Gesetzgeber zu bringen, also die Konsistenz und Kohärenz der Rechtsordnung zu sichern. Hier darf mit Fug und Recht die Leistungsfähigkeit des klassischen Auslegungskanons – Auslegung nach Wortlaut, Gesetzessystematik, Teleologie, Historie – hinterfragt werden. Sind die Gerichte nicht doch gehalten, von Fall zu Fall fortschreitend, unter Rekurs auf die einschlägigen Rechtsvorschriften die tragenden Leitideen des Rechts – Rechtssicherheit, Legitimität und Zweckmäßigkeit – zu interpretieren, unter Achtung der funktionellen Zuständigkeiten und im Blick auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft?29 Insbesondere die teleologische Auslegung wirft die Frage auf: „Wieviel Bedeutung soll den Besonderheiten des einzelnen Falles beigemessen werden im Vergleich zur typisierten gesetzlichen Regelung?“30

28 EuGH NJW 1984, 1291 („Bocksbeutel“); siehe ferner EuGH GRURInt 1995, 804 (805) („Mars“); EuGH EuZW 2000, 286 („Lancaster“); EuGH EuZW 1998, 526 (528) („Gut Springenheide“); zum Einfluss der EuGH-Rechtsprechung auf den nationalen strafrechtlichen Täuschungsschutz Graf/Jäger/Wittig-Dannecker, WiSteuerStR, § 263 StGB Rn. 8 ff.; Satzger/Schluckebier/Widmaier-Satzger, StGB, § 263 Rn. 115 ff.; Momsen/Grützner-T. Schröder, Hdb. WiSteuerStR; § 263 StGB Rn. 16 ff.; Dannecker, WiVerw 1996, 190 ff.; Dannecker, ZStW 117 (2005), 697 ff.; Soyka, wistra 2007, 127 ff. 29 Brugger, Konkretisierung des Rechts und Auslegung der Gesetze, 1, 32. 30 Ebd., 1, 28 f.

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1.4 Narrativität und Rechtspolitik Und schließlich sind Narrationen unverzichtbar, wenn Gesetze vorbereitet werden, um zukünftige Entwicklungen in bestimmte Bahnen zu lenken. Daniel A. Farber und Suzanna Sherry sprechen dem „Legal Storytelling“ eine wesentliche Rolle im Voranbringen sozialer Reformen zu, weil nur durch individuelle, emotional berührende Geschichten die rassistischen, sexistischen und homophoben Strukturen der Gesellschaft aufgebrochen werden könnten.31 Auf einer kartellrechtlichen Tagung ging es um Fragen wie: Liegt ein regulierungsbedürftiger Markt auch dann vor, wenn im Internet Leistungen ohne Entgelt angeboten werden? Und die Antwort des Gesetzgebers hierauf Anfang des Jahres 2018 war die, dass, gleichsam wie in einem Science Fiction Roman, Szenarien entworfen wurden, die mit erheblichen Freiheitsbeschränkungen verbunden waren. Ganz ähnlich verläuft die Diskussion um die Frage, ob computergesteuerte Roboter verantwortlich zu machen sind, jedenfalls wenn künstliche Intelligenz zum Einsatz kommt. Können wir uns vorstellen, auf eine Verantwortungszuschreibung zu verzichten und auf einen Haftungsausgleich im Schadensfall zu beschränken? Auch hier kommen Narrationen zum Einsatz, um bestimmte Bewertungen und deren Unverzichtbarkeit zu vermitteln. Zur Verdeutlichung kann auch auf die aktuelle Diskussion um die Einführung eines Unternehmensstrafrechts verwiesen werden, bei der zahlreiche Vorurteile bestehen, aus denen die Unmöglichkeit, ja die Absurdität eines solchen Vorhabens hergeleitet werden soll: Unternehmen seien nur rechtliche Zombies, sie könnten weder handeln, geschweige denn schuldhaft handeln. Und ins Gefängnis könnten sie auch nicht geschickt werden.32 Die Narration der Befürworter lautet: Eine natürliche Person ist von Natur aus keine Person, wie ein Blick auf die Sklaven zeigt, die erst durch die Zuweisung von Rechten zu Personen werden. Zugespitzt formuliert, so der Rechtstheoretiker Hans Kelsen, sind auch natürliche Personen nur juristische Personen.33 Die Handlungsfähigkeit von Staaten, die juristische Personen sind, wird im Recht geradezu vorausgesetzt, und bei Unrechtsstaaten zögern wir nicht, diesen schädigendes Verhalten als zu verantwortendes und damit schuldhaftes Verhalten vorzuwerfen. Schließlich ist es nicht gesetzt, dass Strafen immer Freiheitsstrafen sein müssen; es gibt auch die Todesstrafe, über die man bei juristischen Personen in besonders schweren Fällen nachdenken kann und sollte.

31 Farber/Sherry, Legal Storytelling and Constitutional Law, 37. 32 So Schünemann, ZIS 2014, 18. 33 Kelsen, Reine Rechtslehre, 52 ff.

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1.5 Erkenntnisinteressen im Recht Narrative Ethik bezieht sich auf Erzählungen, die kreativ gestaltete lebensweltliche Erfahrungen vermitteln, und reflektiert die darin repräsentierte Moral. Allerdings fehlt eine etablierte Begriffsbestimmung für die „narrative Ethik“.34

a. Narrationen als Interpretation des Sachverhalts der gerichtlichen Tatsacheninstanzen Narrative Ethik kann als Interpretation von Literatur verstanden werden, bei der ein ethisches Erkenntnisinteresse im Vordergrund steht35 : Die Erzählung wird mittels literaturwissenschaftlicher Methoden analysiert36 ; es wird untersucht, ob Darstellung und Auseinandersetzung mit der ethischen Problematik in angemessener Weise erfolgen. Es geht hierbei nicht um die Bewertung der Moral oder Unmoral einer Geschichte, sondern um eine Interpretation des Erzählten. Ein vergleichbares Erkenntnisinteresse besteht im Recht, wo allerdings nicht das literarische Interesse im Vordergrund steht, sondern die Interpretation des vom Tatsachengericht festgestellten und gestalteten Sachverhalts durch das Gericht selbst oder durch das Revisionsgericht, das nur die rechtlichen Fragen überprüfen darf. Eine Analyse insbesondere der Revisionsentscheidungen erscheint durchaus lohnenswert, nachdem in der höchstrichterlichen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, so Andreas Heldrich, „höchst bemerkenswerte Fragmente eines erzählerischen Werks herangereift sind, die alles in den Schatten stellen, was uns etwa die Judikatur des RG [Reichsgericht] hinterlassen hat“.37 Hierbei sind vor allem höchstrichterliche Leitentscheidungen von Interesse, in denen Rechtsfragen von grundsätzlichem Interesse erstmals geklärt oder bedeutende grundlegende Änderungen der Interpretation des geltenden Rechts herbeigeführt werden, um so zur Fortentwicklung des Rechts beizutragen.38 Auch wenn Grundsatzentscheidungen im kontinentaleuropäischen Rechtssystem keine Präzedenzfälle sind, die andere Gerichte hinsichtlich ihrer 34 Hofheinz, Ethik und Erzählung, 11 ff.; siehe auch die Beiträge in Hoisten, Narrative Ethik und das Böse erzählen. 35 Mieth, Moral und Erfahrung, 90. 36 Dazu z. B. Lahn/Meister, Einführung in die Erzähltextanalyse; Jeßing/Köhnen, Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft, passim. 37 So Heldrich, ZRP 2000, 497 f. 38 So hat schon BVerfGE 34, 269, 288 dargelegt: „Die Norm steht ständig im Kontext der sozialen Verhältnisse und der gesellschaftlich-politischen Anschauungen, auf die sie wirken soll; ihr Inhalt kann und muß sich unter Umständen mit ihnen wandeln.“

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zukünftigen Entscheidungsfindung binden, wie dies im Common-Law-System der Fall ist, handelt es sich doch um Urteile, die im Regelfall von den Untergerichten beachtet werden und der Vereinheitlichung des Rechts dienen. Hier stellt sich die Frage, inwieweit moralische Urteile bereits in die Sachverhaltsfeststellung der Gerichte Eingang finden und durch die Art der Sachverhaltsdarstellung unter ethischen und rechtlichen Gesichtspunkten reflektiert werden. Wenn man hierin jedoch reine Tatsachendarstellungen sieht, sind diese der revisionsgerichtlichen Überprüfung entzogen und die Überprüfung des Rechts bleibt defizitär. Betrachtet man Gerichtsurteile unter dem Gesichtspunkt narrativer Reflexionsarbeit, so eröffnet sich ein neuer Blick auf gerichtliche Entscheidungen und gelegentlich wird ein zur Rechtsverweigerung führendes Urteilen der Tatsacheninstanz entlarvt, die bei der Urteilsabfassung oft weniger die Parteien überzeugen wollen, als das Ziel verfolgen, Revisionssicherheit herbeizuführen.

b. Narrationen als Reflexion der moralischen Dimension Bei einer Analyse der Urteilsbegründungen mittels Narrativität als Erkenntnismethode ist zu berücksichtigen, dass bei der narrativen Ethik zudem darauf abgestellt wird, dass in Erzählungen die moralische Dimension reflektiert wird, so dass der Erzählung direkt die moralischen Werte und Normen entnommen werden können.39 Dieses Verständnis erlangt im rechtlichen Kontext Bedeutung, wenn man die Frage stellt, inwieweit ein Gericht als Tatsacheninstanz durch die Art der Sachverhaltsdarstellung bereits rechtliche Bewertungen vorwegnehmen und so in den Sachverhalt verlegen und der rechtlichen Überprüfung durch die Rechtsinstanz entziehen kann. Wird narrative Ethik in dieser Weise verwendet, so besteht die Gefahr, dass die narrative Ethik als Ersatz für die ethische Argumentation verstanden wird.40 Sie darf jedoch nicht Ersatz, sondern lediglich zusätzliche Quelle der Erkenntnis sein. In diesem Zusammenhang sind Begriffe wie Fahrlässigkeit und das rechtliche Einstehenmüssen für ein Unterlassen zu nennen. So legt der Straftatbestand der fahrlässigen Tötung fest, dass eine fahrlässige Tötung zu bestrafen ist. Welche konkreten Lebenssachverhalte hierunter fallen, wird in der Norm nicht in naturalistisch-deskriptiv geprägter Form umschrieben. Vielmehr muss der Richter generell und bezogen auf den zur Entscheidung anstehenden konkreten Einzelfall die fahrlässige Tötung sachlich begründen.41 Durch Begriffe wie Fahrlässigkeit ermächtigt der Gesetzgeber die Gerichte, die Voraussetzungen dieses Begriffs anhand des Fallmaterials, das ihm 39 Dazu I. Schoberth, Urteilen lernen, 25, 38 ff.; Ulrich, Explorative Ethik, 40, 46 ff.; Leyk, Von der Anekdote zur story, 173 ff. 40 Haker, Narrative Ethik in der Klinikseelsorge, 167, 169. 41 Freund, Die Definition von Vorsatz und Fahrlässigkeit, 63, 65.

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zur Entscheidung vorgelegt wird, zu entwickeln und auf den Fall bezogen zu begründen, weshalb die Voraussetzungen der strafrechtlichen Verbotsnorm im konkret zu beurteilenden Lebenssachverhalt vorliegen. Und auch dies kann durch eine Analyse unter dem Gesichtspunkt der Narrativität sichtbar und verstehbar gemacht werden. c. Narrationen als Begründungen von Interessen bei wertausfüllungsbedürftigen Generalklauseln Schließlich kennt das Recht zahlreiche wertausfüllungsbedürftige Generalklauseln, die als Einfallstore für narrative Begründungen von Interesse sind. Dies gilt sowohl für assoziative Begriffe mit narrativem Inhalt als auch für Begriffe, die auf tatsächliches Verhalten verweisen. Hier ist es erforderlich, dass die Rechtsprechung nicht bei der Entscheidung nach Gesetz und Recht stehen bleibt, sondern sich der Gestaltung des Sachverhalts und der darin liegenden normativen Begründung bewusst wird, um auf dieser Basis die Entscheidung nach Gesetz und Recht zu entwickeln.

2. Sachverhaltsdarstellungen als Narrationen sui generis und ihre Überprüfung in der Revisionsinstanz In „einfachen“ Erzählungen drückt der Mensch seine Gefühle, Gedanken und Erfahrungen aus. Im Erzählen von Alltagserlebnissen und -erfahrungen blickt der Autor auf seine eigene Geschichte, stellt Sinnzusammenhänge her oder zeigt Brüche auf.42 In der Literatur ist die Erzählung hingegen eine Kunstform, in der Erfahrung in ästhetischer Form gestaltet wird. Hiervon weichen gerichtliche Sachverhaltsdarstellungen ab: Die von den Gerichten erzählten Sachverhalte wollen weder „einfache“ noch „literarische“ Erzählungen sein. Es handelt sich um komplexe Erzählungen43, bei denen sich verschiedene Handlungsstränge miteinander kreuzen und die Perspektiven der Personen, z. B. von Täter und Opfer, wechseln und bei denen rechtliche Reflexionen miterzählt werden. In Gerichtsentscheidungen wird das tatsächliche Geschehen zur Geschichte, die das Gericht, unter Beachtung von Beweisregeln, Beweisverwertungsverboten, des Grundsatzes in dubio pro reo usw., erzählt. Solche Geschichten sind das Fallmaterial, mit dem sich insbesondere und vorrangig die Rechtsprechung auseinandersetzt, wenn sie Urteile fällt. Wenn Fälle entschieden werden, geht es auch darum, die gelebte Moral zunächst 42 Dazu Mieth, Moral und Erfahrung I, 105 ff. 43 Dazu ebd., 102 ff.

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darzustellen, um sie sodann kritisch zu prüfen und rechtlich zu bewerten. Dabei steht gerade die Entscheidung des konkreten Falles, im Strafrecht unter Einbeziehung der Persönlichkeit des Täters und sämtlicher sonstiger Begleitumstände der Tat, im Mittelpunkt des Interesses. Dies gilt insbesondere, wenn das begangene Unrecht und die Schuld des Täters bestimmt werden müssen, um die Grundlage für die zu verhängende Strafe zu schaffen.

2.1 Einfluss des Rechtsfindungsprozesses auf die Darstellung des Sachverhaltes Bei der Gestaltung des Sachverhalts greift das Gericht alle Tatsachen, die für die rechtliche Bewertung als relevant angesehen werden und die berücksichtigt werden dürfen, heraus und formt sie zu einer „Geschichte“. Im Hinblick auf die rechtliche Bewertung bleibt aber auch Vieles unausgesprochen, weil und wenn es für das zu fällende Urteil als rechtlich irrelevant angesehen wird. Hier zeigt sich, dass das „Verhältnis von Gesetz, Fall und richterlicher Entscheidung“ auf der Grundlage einer „Einheit von Recht und Lebenswelt“ zu verstehen ist.44 Der Fall wird nicht als bloßes Faktum, sondern als „Teil der Lebenswelt“ verstanden, zu der auch das Recht als Bestandteil unserer „Kulturwelt“ gehört.45 Dies hat zur Folge, dass der Fall nicht mehr vom Recht und das Recht nicht mehr vom Fall getrennt werden kann46, weil jedes als Fall erlebte und erzählte Ereignis – eben als Fall – seinen Sinn in der Lebenswelt immer schon vom Recht her bezogen hat.47 An die Stelle des klassischen Subsumtionsmodells tritt dann die Kommunikation48, das Gespräch zwischen den Parteien, dem Richter und dem Gesetzgeber, ob die Entscheidungsgründe des Gesetzgebers die richterliche Entscheidung für den dem Richter vorliegenden Fall begründen können.49 Bei diesem Vorgehen des Richters wird das Ergebnis des Falles nicht von „oben“ hinzu-, sondern von „unten“, aus dem Fall selbst herausgedacht.50 Wenn es aber zutreffend ist, dass der Richter die Entscheidung des Einzelfalles vor Augen hat, und es sein Ziel ist, eine im Einzelfall gerechte Entscheidung zu treffen, ist die Erkenntnis des Richtigen und Gebotenen auch narrativ fundiert und beruht nicht nur auf vernünftigen Überlegungen. Wenn sich das Recht auf Handlungen und Haltungen von Personen sowie 44 Schapp, Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, 6 ff.; dazu Gröschner, Die richterliche Rechtsfindung, 944 ff. 45 Schapp, Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, 15 ff. 46 Gröschner, Die richterliche Rechtsfindung, 944 f. 47 Dazu Gröschner, Das Hermeneutische der juristischen Hermeneutik, 622 ff. 48 Zur Kommunikationsorientiertheit und Regelhaftigkeit des Rechts vgl. auch Hassemer, Tatbestand und Typus, 102; vgl. auch Lüderssen, Regel und Fall, 283 ff. 49 Schapp, Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, 65. 50 Gröschner, Die richterliche Rechtsfindung, 944, 949.

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auf die sozialen Kontexte bezieht, wie das bei gerichtlichen Entscheidungen der Fall ist, geht es um ein hermeneutisches Unterfangen. Denn Handlungen können nicht unabhängig von Handlungssubjekten und den Kontexten, innerhalb derer sie vollzogen werden, beschrieben und verstanden werden. Handlungen verweisen auf ihren Urheber, der mit seinen Handlungen Zwecke verfolgt; sie hängen von den Haltungen und Präferenzen ab, auf deren Grundlage sie vollzogen werden. Letztlich werden Handlungen und Haltungen erst durch ihren Konnex zu den Lebensgeschichten der Akteure bedeutsam. Lebensgeschichten müssen wiederum in den historischen, kulturellen und sozialen Kontext gestellt werden, wenn man sie verstehen will.51 Gerade im Strafrecht, bei dem nicht nur die Tat zu bewerten ist, sondern auch die Persönlichkeit des Täters und dessen Lebensgeschichte einzubeziehen sind, um eine schuldangemessene Sanktionierung vornehmen zu können, muss bei der Bewertung und Beurteilung der Handlungen dem Konnex zu der jeweiligen Lebensgeschichte Rechnung getragen werden, wenn richtige Urteile gefällt werden sollen. Dies wird speziell im Strafrecht deshalb besonders deutlich, weil hier das Gericht den Verstrickungen und den konkreten Umständen im Einzelfall, an denen bestimmte Personen zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort beteiligt waren, Rechnung tragen muss. Dies erfordert, dass die Geschichte der Verstrickung des Täters in diese Umstände erzählt wird, und dass dieses Verstricktsein des Täters formt und sein Handeln gestaltet. Deshalb kann das Handeln ohne Thematisierung dieses Verstricktseins nicht erklärt und verstanden werden. Wenn hiernach gefragt wird, ist der Bereich der Beurteilung nach rechtlichen Kriterien erreicht. Damit stellt sich für das Recht die Frage, was Erzählen als Form des Erfassens und Übermittelns der Geschichte leisten kann. 2.2 Sachverhaltsdarstellung als Erfassen und Übermitteln der Geschichte Ausgangspunkt der Überlegung, ob es im Recht narrative Begründungen gibt, muss sein, dass sich das Recht nicht in den Geschichten artikuliert, die zur Entscheidung anstehen, sondern die Geschichten sich auf Sachverhalte beziehen, welche die Rechtsprechung auf der Grundlage der Beweiswürdigung bestimmt und gestaltet, um sie dann rechtlich zu bewerten. Deshalb kann es nicht darum gehen, die rechtliche Begründung durch eine narrative zu ersetzen oder gar auf ein exaktes Argumentieren zu verzichten. Es geht vielmehr um die Frage, ob die Sachverhaltsfeststellungen eines Gerichts bereits rechtliche Reflexionen enthalten, so dass in Gerichtsentscheidungen erzählte Reflexionen zur Erschließung von Handlungszusammenhängen zu finden sind. Wie der Sachverhalt gestaltet wird, hängt maßgeblich davon ab, welche Verfahrensmaximen gelten. Hierbei ist zwischen den verschiedenen Ge51 Haker, Narrative Bioethik, 253, 255.

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richtsbarkeiten zu differenzieren. Im Strafverfahren streitet die Unschuldsvermutung für den Angeklagten und das Gericht muss in prozessordnungsgemäßer Weise den Nachweis der Tat führen. Grundlage der Verurteilung ist aber nicht der Nachweis der Tat mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, sondern die Überzeugung des Richters, dass der Täter die ihm vorgeworfene Tat begangen hat. Innerhalb des Verfahrens ist wichtig, welcher Akteur – Staatsanwaltschaft, Verteidigung, Opferanwalt, Richter – tätig wird und an welche Regeln der jeweilige Akteur gebunden ist. Während Staatsanwaltschaft und Strafgericht in Deutschland belastenden und entlastenden Aspekten nachgehen müssen, hat die Verteidigung die Aufgabe, darauf zu achten, dass das Gericht prozessordnungsgemäß den Nachweis der vorgeworfenen Straftat führen kann, um die Unschuldsvermutung zu widerlegen. Ansonsten ist auf Freispruch zu plädieren, auch wenn der Verteidiger weiß, dass sein Mandant die Straftat tatsächlich begangen hat, und das Gericht hat den Täter wegen der Unschuldsvermutung freizusprechen. Der Verteidiger ist sogar verpflichtet, auf Freispruch zu plädieren, wenn dem Strafgericht der Nachweis der Tat in prozessordnungsgemäßer Weise nicht gelungen ist. Im Verwaltungs- und Sozialgerichtsverfahren sowie im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit gilt der Amtsermittlungsgrundsatz ohne Unschuldsvermutung. Kennzeichnend für das dem Amtsermittlungsgrundsatz unterliegende Verfahren ist, dass das Gericht die zur Ausfüllung der Rechtsnormen notwendigen Tatsachen beschaffen muss. Demgegenüber beherrscht den Zivilprozess die Dispositionsmaxime, wonach den Prozessparteien Verfügungsfreiheit über den Streitgegenstand eingeräumt wird, d. h. sie allein bestimmen den Gegenstand und die Dauer des Verfahrens. Die vorzutragenden Geschichten sind also stark durch verfahrensrechtliche Regeln vorstrukturiert. Dies soll anhand des Strafverfahrens weiter verdeutlicht werden: Wenn in einem Strafverfahren eine Tat aufgeklärt und der Sachverhalt festgestellt werden soll, stehen die zu bewertenden Handlungen der Akteure im Mittelpunkt. Handlungen sind stets ein komplexes Geflecht von Strukturen, aus denen sich nur mit Hilfe von Abstraktionsprozessen einzelne Fäden oder Knotenpunkte isolieren lassen. Nicht die nur durch Abstraktion gewonnene Elementarhandlung, sondern der Handlungszusammenhang hat vorrangige Bedeutung, und dazu gehört auch der Handelnde selbst mit seinen Plänen, Absichten und Motiven, weiterhin die von ihm vorgefundene Handlungssituation sowie die Folgen seines Verhaltens.52 Das Gericht muss diese Zusammenhänge möglichst umfassend verstehen und erfassen, um das Geschehene zu rekonstruieren und der „Wahrheit“ unter Einhaltung der rechtsstaatlichen Grenzen (in dubio pro reo, Beweisverwertungsverbote etc.) möglichst nahe kommen. Entscheidend ist dabei, wie dargelegt, nicht eine mit an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit, sondern die Überzeugung des 52 Vgl. Wieland, Verantwortung, 50.

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Gerichts. Damit kommt aber der Sachverhaltsdarstellung durch das Gericht nicht primär feststellende, sondern gestaltende Wirkung zu. Diese gestaltende Wirkung der Sachverhaltsdarstellung, deren Durchführung durch Verfahrensregeln abgesichert ist, spiegelt sich in den Plädoyers von Staatsanwaltschaft und Verteidigung wider, sie wird geradezu in Szene gesetzt: Der Ankläger formt aus den Indizien eine Geschichte, der Verteidiger eine Gegengeschichte, die aus derselben Faktenlage einen anderen Zusammenhang entwickelt. Nicht die Indizien, sondern die aus ihnen entwickelte Geschichte entscheidet den Fall.53 Die verbindlich entscheidende Instanz ist das Tatsachengericht, dessen Sicht und Verständnis der Geschichte Gegenstand und Grundlage der Entscheidung ist.

2.3 Unzulänglichkeiten bei der Überprüfung narrativ geprägter Sachverhaltsfeststellungen in der Revisionsinstanz Bei den Rechtsmitteln ist zwischen Berufung und Revision zu unterscheiden. Während in der Revision nur Rechtsfragen überprüft werden, muss das Gericht im Berufungsverfahren sowohl die Tatsachen als auch die Rechtsfragen überprüfen. So kann die Revision gegen ein Strafurteil nur darauf gestützt werden, dass das Urteil auf der Verletzung eines Gesetzes beruht. Dabei ist das Revisionsgericht an die tatsächlichen Feststellungen des angefochtenen Urteils gebunden. Entsprechend ist die Kompetenz des Revisionsgerichts zur Würdigung des Tatsachenmaterials stark eingeschränkt: Nur wenn das Beweisergebnis der Tatsacheninstanz auf einer Gesetzesverletzung beruht, z. B. auf der Nichtbeachtung oder Fehlanwendung prozessrechtlicher Vorschriften über die Beweisgewinnung, kann an die Tatsacheninstanz zwecks Neuermittlung des Sachverhalts zurückverwiesen werden. Dabei ist die Abgrenzung zwischen Tat- und Rechtsfrage fließend, teilweise wird die Möglichkeit einer solchen Differenzierung sogar generell angezweifelt.54 Wenn man ernst nimmt, dass bereits in die Sachverhaltsfeststellung und -darstellung rechtliche und ethische Aspekte einfließen, kann dadurch unter Umständen die rechtliche Überprüfung eines Urteils durch die Revisionsinstanz verkürzt werden. Dieses Problem stellt sich generell bei institutionellen Tatsachen, die erst durch Regeln konstituiert werden und losgelöst von diesen Regeln nicht existieren; sie sind ohne Kenntnis dieser Regeln nicht feststellbar.55 Entsprechend ist bei Feststellungen zur Ausfüllung institutioneller Begriffe, die der Deutung bedürfen und bei denen zudem auf vorrechtliche Wertungen des Sachverhalts zurückzugreifen ist, zwischen bloßer Tatsa53 W. Schoberth, Prolegomena zu einer ,narrativen Ethik‘, 249, 266. 54 So Neumann, Die Abgrenzung von Rechtsfrage und Tatfrage und das Problem des revisionsgerichtlichen Augenscheinbeweises, 387 ff. 55 Näher dazu sowie zu den folgenden Ausführungen ebd., 387, 397 ff.

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chenfeststellung im engeren Sinne und richterlicher Würdigung abzugrenzen. Der Begriff „pornographisch“ etwa erschöpft sich nicht in seinem Bezug zur Darstellung sexueller Vorgänge, sondern enthält als normative Komponente die Frage, ob mit der Darstellung „die im Einklang mit allgemeinen gesellschaftlichen Wertvorstellungen gezogenen Grenzen des sexuellen Anstands“ überschritten werden. Wenn über die Feststellung der institutionellen Tatsache hinaus noch überprüft werden soll, inwieweit bei dieser Feststellung ethische Bewertungen Eingang gefunden haben, ist dies ein Unterfangen, das den Revisionsgerichten schwerlich möglich ist, mit der Folge, dass die an sich gebotene rechtliche Überprüfung in der Regel nicht erfolgen wird. Diese Problematik soll anhand eines neueren Urteils des Oberlandesgerichts Hamm56 verdeutlicht werden: Der Geschäftsführer eines gemeinnützig ausgerichteten, städtischen Wohnungsunternehmens war nach den Feststellungen des Amtsgerichts mehrere Jahre für die Planung und Durchführung sog. Besichtigungsfahrten der Aufsichtsratsmitglieder des Wohnungsunternehmens in zum Teil im Ausland befindliche Städte verantwortlich, die keinen konkret messbaren Nutzen für die Gesellschaft gehabt, sondern der Erbauung der Aufsichtsratsmitglieder gedient hätten. Der Angeklagte habe damit die ihn als Geschäftsführer treffende Pflicht zur Betreuung fremden Vermögens verletzt und der Gesellschaft einen Schaden in Höhe der angefallenen Reisekosten (53.000 E) zugefügt. Deshalb wurde er vom Amtsgericht wegen Untreue verurteilt. Das erstinstanzliche Gericht hat den Beklagten für schuldig befunden. Hiergegen legt die Staatsanwaltschaft Berufung mit dem Ziel der Verurteilung zu einer höheren Strafe ein. Das Landgericht Münster hat die Berufung verworfen und den Angeklagten freigesprochen. Als zweite Tatsachen- und Rechtsinstanz hat die Strafkammer des Landgerichts Münster detaillierte Feststellungen zum Teilnehmerkreis, dem inhaltlichen und zeitlichen Ablauf der jeweiligen Besichtigungsfahrten und den im Einzelnen angefallenen Kosten für An- und Abreise, Kost, Logis, Eintrittsgelder etc. getroffen. Aufgrund dieser Feststellungen gelangte die Kammer zu der Auffassung, dass die Fahrten trotz der naturgemäß enthaltenen touristischen Elemente ganz vorrangig sachdienlichen Zwecken gedient hätten: der fachlichen Information und Fortbildung der Aufsichtsratsmitglieder wie auch der Verbesserung des Arbeitsklimas; das gelte nicht nur für die Fahrten als solche, sondern letztlich auch für die einzelnen Programmpunkte. Die Auswahl der Reiseziele sei stets im Hinblick auf laufende oder künftige Aufgaben und Vorhaben der Wohnbaugesellschaft erfolgt. Ein strafbarer Pflichtverstoß lasse sich daher nicht feststellen. Hiergegen spreche auch nicht der Umstand, dass sich einige der Reiseteilnehmer durch die Fahrten als Ausgleich für ehrenamtlich geleistete Arbeit belohnt gefühlt hätten; das subjektive Empfinden Einzelner sei kein Beleg für die Intention des Angeklagten, die Gesellschaft pflichtwidrig zu schädigen. 56 Oberlandesgericht Hamm, Urteil vom 21. 08. 2012 – III–4 RVs 42/12.

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Auch gegen dieses Urteil legte die Staatsanwaltschaft erneut ein Rechtsmittel, die Revision, ein: Es sei nicht Aufgabe eines Geschäftsführers einer städtischen Wohnbaugesellschaft, Fahrten für Aufsichtsratsmitglieder durchzuführen, bei denen es nicht um Fortbildung gehe, sondern die vielmehr der Kategorie Ausflug zuzuordnen seien, und damit Einfluss auf ein Kontrollorgan genommen wird. Dieses Verhalten sei evident pflichtwidrig. Das Oberlandesgericht Hamm führte schließlich als Revisionsinstanz in seinem Urteil aus, gemäß § 261 StPO entscheide über das Ergebnis der Beweisaufnahme das Tatgericht. Die Beweiswürdigung sei Sache des Tatrichters. Die revisionsrechtliche Prüfung beschränke sich darauf, ob dem Tatrichter bei der Beweiswürdigung Rechtsfehler unterlaufen sind, weil die Beweiswürdigung von einem rechtlich unzutreffenden Ansatz ausging, weil sie lückenhaft, widersprüchlich oder unklar war, gegen Gesetze der Logik oder gesicherte Erfahrungssätze verstieß oder weil an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit überspannte Anforderungen gestellt wurden (ständige Rechtsprechung; vgl. BGH, NStZ 2010, 102, 103 m. w. N.). Ein solcher Rechtsfehler, so das Revisionsgericht, liege nicht vor. Der Senat folgte der eingehenden Argumentation des Landgerichts, wonach die getroffenen Feststellungen den – rechtlich nicht zu beanstandenden – Schluss erlauben, dass die durchgeführten Fahrten durch sachdienliche Zwecke – Information und Fortbildung der Aufsichtsratsmitglieder im Hinblick auf aktuelle bzw. anstehende Bauvorhaben – dominiert wurden und damit trotz der unverkennbaren bzw. unvermeidbaren touristischen Elemente ein gravierender Pflichtverstoß des Angeklagten nicht vorlag. Die Argumentation der Staatsanwaltschaft und der Generalstaatsanwaltschaft beruhe demgegenüber auf der Prämisse, es habe sich bei den fraglichen Fahrten um Ausflüge mit Belohnungscharakter gehandelt. Damit werde im Kern in unzulässiger Weise die tatrichterliche Beweiswürdigung angegriffen. Zwingende Anhaltspunkte für den eindeutig privaten Ausflugscharakter der fraglichen Reisen wie Bordell- und Spielbankbesuche oder die Mitnahme von Ehepartnern habe die Strafkammer nicht feststellen können, dagegen aber mit eingehender und nachvollziehbarer Begründung das Vorliegen zahlreicher Umstände, die den sach- bzw. fachdienlichen Zweck belegen. Die diametral unterschiedliche Ausgestaltung und Konstruktion des Sachverhalts durch das zur Verurteilung gelangende Amtsgericht und das freisprechende Landgericht machen deutlich, dass die Prämisse, das Vorverständnis, mit dem das jeweilige Tatsachengericht bzw. die Staatsanwaltschaft an die Sachverhaltsfeststellung herangegangen ist, die jeweils vorgenommene „umfassende“ Würdigung bestimmt hat. Die Abgrenzung allein danach, ob facta bruta oder Bewertungsmaßstäbe, die für das Revisionsgericht nicht verbindlich sind, verkannt worden sind, ermöglicht nicht, auf die in die Sachverhaltsdarstellung eingeflossenen Bewertungen der Tatsachengerichte durchzugreifen und diese einer rechtlichen Überprüfung zu unterwerfen.

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Damit bleibt aber der Rechtsschutz, der dem Bürger durch die Revision ermöglicht werden soll, lückenhaft.

3. Narrativität als Einfallstor für die Ethik in das Recht? Als „Einfallstore“ narrativer Ethik in das Recht kommen, wie bereits dargelegt, insbesondere Leitentscheidungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung, gesetzliche Ermächtigungen des Richters zur Setzung von Normen sowie normative Rechtsbegriffe und Generalklauseln in Betracht.

3.1 Leitentscheidungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung In den letzten Jahrzehnten ist in den aktuellen Entwicklungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung eine zunehmende Fixierung auf Präjudizien zu beobachten. Offenbar entwickelt unser Rechtssystem immer stärker die Züge eines „case law“ nach angloamerikanischem Vorbild, so dass manche Rechtsgebiete ohne die grundlegenden Entscheidungen des BGH nicht mehr erschlossen werden können, so auf dem Gebiet des Zivilrechts der Persönlichkeitsschutz, die Arzthaftung, Leasing und Factoring, die Einbeziehung Dritter in den Schutzbereich von Verträgen oder formularmäßig vereinbarte Globalsicherheiten. In diesen Bereichen des Zivilrechts gewinnt das geltende Recht seine konkrete Ausgestaltung fast ausschließlich durch die Rechtsprechung.57 Gleiches gilt für das Arbeitsrecht. Dies gilt gleichermaßen für das Strafrecht, wie die Leitentscheidungen zum berufstypischen Verhalten58, zur Garantenstellung des Geschäftsherrn59 und bei engen Lebensgemeinschaften60, zur Sterbehilfe61 etc. zeigen. Hierbei gehen, so die hier aufgestellte These, Bewertungen des Verhaltens als Unrecht 57 Heldrich, ZRP 2000, 497, 498. 58 Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen 46, 107 ff.; siehe auch Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen 50, 331 ff. („Mannesmann-Urteil“). 59 Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen 54, 44 ff.; dazu G. Dannecker/C. Dannecker, Die „Verteilung“ der strafrechtlichen Geschäftsherrenhaftung im Unternehmen, 981 ff.; Rönnau/Schneider, Der Compliance-Beauftragte als strafrechtlicher Garant, 53 ff.; Achenbach, Aus der 2009/2010 veröffentlichten Rechtsprechung zum Wirtschaftsstrafrecht, 621 ff.; Spring, Die Garantenstellung des Compliance Officers, 222 ff.; Ransiek, Zur strafrechtlichen Verantwortung des Compliance Officers, 147 ff. 60 Siehe etwa Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen 2, 150, 153; 7, 268, 269 einerseits (Pflicht des einen Ehepartners zur Abwendung eines Suizids durch den anderen) und Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen 55, 191,194 ff. andererseits (Zulässigkeit der Sterbehilfe durch Behandlungsabbruch bei entsprechendem Patientenwillen). 61 Oberlandesgericht München, NJW 1987, 2940 ff. („Hackethal“-Urteil); Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen 55, 191 ff.

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bereits in die Tatsachenfeststellung ein, ohne dass eine umfassende rechtliche Bewertung vorgenommen wird, wie anhand der Berliner Stadtwerke-Entscheidung des BGH vom 17. 7. 2009 dargestellt werden kann:

a. Entscheidung des Landgerichts Berlin als Tatsachen- und Rechtsinstanz zur Garantenstellung des Geschäftsherren Das Landgericht Berlin hatte in einem Strafverfahren als Tatsacheninstanz folgenden Sachverhalt festgestellt:62 Der Leiter der Innenrevision der Berliner Stadtwerke GmbH, einer Anstalt des öffentlichen Rechts, der zugleich Leiter der Rechtsabteilung war und aufgrund seiner bisherigen Tätigkeit als Tarifrechtsexperte und als „juristisches Gewissen“ des Unternehmens galt, war nicht eingeschritten, als er feststellte, dass Angestellte der Berliner Stadtwerke GmbH die städtischen Reinigungsgebühren überhöht abrechneten. Den gebührenpflichtigen Anliegern wurden insgesamt 23 Millionen Euro überhöhte Entgelte für die Straßenreinigung auferlegt, die auch überwiegend bezahlt worden waren. Das Landgericht verurteilte den Angeklagten wegen Beihilfe zum Betrug der die Rechnungen ausstellenden Mitarbeiter, begangen durch Unterlassen, weil der Angeklagte die Unrichtigkeit der Tarifkalkulation und die anschließend überhöhten Gebührenbescheide gekannt hat, aber dennoch unter Verletzung seiner betrieblichen Aufgabenstellung, solche Informationen weiterzuleiten, die Geschäftsführung nicht unterrichtet hat. Das Gericht stütze die strafbewehrte Pflicht zur Handlung darauf, dass der Angeklagte als Leiter der Tarifkommission den Bewertungsfehler, der bereits in einer vorhergehenden Periode aufgetreten war, zu vertreten gehabt habe. Dadurch sei die Gefahr begründet worden, dass der einmal gemachte Fehler weiterhin wiederholt worden sei. Die Mitarbeiter seien dadurch zur Beibehaltung einer illegalen Praxis motiviert worden. Zudem sei der Angeklagte als Leiter der Innenrevision, zumal er Bediensteter einer Anstalt des öffentlichen Rechts sei, verpflichtet gewesen, die Einhaltung der gesetzlichen Regeln auch zum Schutz der Entgeltschuldner sicherzustellen.63 Da das Gericht die begangene Tat im Gerichtssaal erörtert und die früher entstandene Situation in ihrer Faktizität thematisiert sowie rechtlich bewertet, gehen in die Sachverhaltsdarstellung narrative Elemente ein, welche die Bejahung einer rechtlichen Verantwortung des Angeklagten nahelegen, ohne sie zu begründen. Dieser narrative Begründungsansatz konzentriert sich allein auf den Sachverhalt und verzichtet darauf, die Verantwortung unter Rückgriff auf Rechtsprinzipien im Wege eines deduktiven Vorgehens aus einem Obersatz abzuleiten. Das Gericht erzählt vielmehr die konkreten Umstände des 62 Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen 54, 44, 45 f. 63 Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen 54, 44, 48 ff.

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Falles und hebt ohne rechtliche Begründung Details hervor, um die Gefahr zu verdeutlichen, dass sich die Angestellten des Unternehmens am Verhalten eines leitenden Mitarbeiters eines Unternehmens orientieren können, und ergänzt diese Ausführungen um den Hinweis, dass es sich um ein öffentlichrechtliches Unternehmen mit einer hohen Reputation handele. Dann könne und müsse ein moralisch einwandfreies Verhalten auch von Rechts wegen erwartet werden, an dem sich die Mitarbeiter orientieren dürfen. Einer rechtlichen Begründung halten diese Ausführungen nicht stand. b. Entscheidung des Bundesgerichtshofs als Revisionsinstanz zur Garantenstellung des Geschäftsherren Demgegenüber befasste sich der Bundesgerichtshof in seiner Revisionsentscheidung auf der Grundlage der Tatsachenfeststellungen des erstinstanzlichen Gerichts zunächst mit den rechtlichen Anforderungen an eine Garantenstellung aus vorangegangenem gefahrbegründendem Tun (Ingerenz), namentlich an das Erfordernis der sich in der Gefahr realisierenden Pflichtwidrigkeit. Er teilte die Auffassung des Landgerichts nicht und lehnte eine Garantenstellung aus Ingerenz mangels einer naheliegenden Gefahr des Eintritts des tatbestandsmäßigen Erfolges ab.64 In dem damaligen Kalkulationsfehler liege zwar ein pflichtwidriges Vorverhalten. Ein solches alleine begründe jedoch noch keine Garantenstellung, wenn hierdurch nicht die naheliegende Gefahr des Eintritts des konkret untersuchten tatbestandsmäßigen Erfolgs verursacht worden sei. Die abzuwendende Gefahr müsse spezifische Folge des vorangegangenen Fehlverhaltens sein und dürfe nicht nur anlässlich eines pflichtwidrigen Verhaltens entstanden sein. Im konkreten Fall verneinte der Bundesgerichtshof die nahe Gefahr eines Vermögensschadens der Kunden im Tatzeitraum und begründete dies damit, dass die in der vorangegangenen Periode vorgekommenen Unregelmäßigkeiten zwar die „eher psychologisch vermittelte Gefahr“ begründet hätten, den einmal gemachten Fehler zu wiederholen. Ein lediglich motivatorischer Zusammenhang reiche aber für die Begründung einer Garantenstellung nicht aus. Entscheidend sei, dass die Preisbestimmung, um die es im Rahmen der Betrugsstrafbarkeit gehe, in der neuen Periode selbständig festgesetzt und losgelöst von den Umständen in der vorangegangenen Periode eigenverantwortlich neu bestimmt werden müsse. Eine Bindung an die Berechnung in der Vorperiode habe nicht bestanden. Daher könne aus dem Vorverhalten noch keine Pflicht zum Einschreiten in der neuen Periode hergeleitet werden. Der Bundesgerichtshof ging also von der ausschließlichen Zuständigkeit der neu eingesetzten Kommission aus und stellte allein auf deren Verantwortung ab. Diese Begründung belegt, wie vom erstinstanzlichen Urteil intuitiv für 64 Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen 54, 44, 47.

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zutreffend gehaltene Ergebnisse an den Vorgaben des Gesetzes, der Rechtsdogmatik sowie der bisherigen Rechtsprechung gemessen und gegebenenfalls korrigiert werden können und sollten. Der Bundesgerichtshof akzeptierte die narrative Begründung des Landgerichts nicht, sondern ersetzte die Überlegungen durch eine rechtsdogmatisch fundierte Begründung. Sodann ging der Bundesgerichtshof der Frage nach, ob der Angeklagte als Leiter der Innenrevision und der Rechtsabteilung, der aufgrund seiner bisherigen Tätigkeit als Tarifrechtsexperte und als das „juristische Gewissen des Unternehmens“, so das Landgericht, galt, als Garant verantwortlich war, weil der von ihm übernommene Pflichtenkreis auch die Überwachung und Unterbindung betrügerischer Abrechnungen mit den Kunden umfasste. Diesbezüglich schloss sich das Gericht den erstinstanzlichen Ausführungen an: Der Angeklagte habe eine den Beschützergaranten vergleichbare Stellung inne gehabt, deren Grundlage jedoch die vertragliche Vereinbarung zwischen Geschäftsleitung und Angeklagtem sei. Hinzutreten müsse ein „besonderes Vertrauensverhältnis, das den Übertragenden gerade dazu veranlasst, dem Verpflichteten besondere Schutzpflichten zu überantworten“. Die Einstandspflicht des Angeklagten sei nicht darauf beschränkt gewesen, lediglich Vermögensbeeinträchtigungen des eigenen Unternehmens zu unterbinden, sondern auch darauf gerichtet gewesen, aus dem Unternehmen kommende Straftaten gegen dessen Vertragspartner zu verhindern, weil es sich um eine Anstalt des öffentlichen Rechts handele und sich die vom Angeklagten nicht unterbundene Tätigkeit auf den hoheitlichen Bereich bezogen habe. In diesem hoheitlichen Bereich könne angesichts der besonderen Rechtmäßigkeitsverpflichtung der Anstalt des öffentlichen Rechts insoweit nicht zwischen Zielen des Unternehmens und den Interessen der Kunden differenziert werden, da Ziel des Unternehmens die Rechtmäßigkeit des Gesetzesvollzugs sei, also die Ordnungsgemäßheit der Gebührenerhebung. c. Analyse der Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur Garantenstellung des Geschäftsherren Zunächst ist festzuhalten, dass die Sachverhaltsfeststellungen des erstinstanzlich zuständigen Landgerichts für den Bundesgerichtshof grundsätzlich bindend waren und deshalb nicht durch eine eigene Sachverhaltsfeststellung ersetzt werden durften. Während die Ausführungen des Bundesgerichtshofs zur Ingerenz in der Entscheidung klar und eindeutig sind, bleibt die Herleitung der Garantenstellung des Angeklagten aufgrund der Übernahme eines Pflichtenkreises im Unternehmen vage und deutungsoffen. Die Interpretationsbedürftigkeit des Urteils beruht darauf, dass der Bundesgerichtshof sich nicht auf die dogmatischen Grundlagen der Garantenstellung festlegen wollte und auf eine Systematisierung der in Betracht kommenden Garantenpflichten explizit verzichtete. Er wählte, obwohl reine

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Rechtsinstanz, ähnlich wie das erstinstanzliche Gericht, den Weg, die Besonderheiten des konkreten Falles ausführlich zu schildern und daraus im Wege eines induktiven Vorgehens die Garantenstellung des Angeklagten zu begründen. Dabei hebt er zwei Besonderheiten hervor, um die Erstreckung des Pflichtenkreises auch auf den Schutz der Rechtsgüter außenstehender Dritter zu rechtfertigen: zum einen die Hoheitlichkeit der Straßenreinigung, die nach öffentlich-rechtlichen Gebührengrundsätzen abzurechnen war, also die Erfüllung des Gesetzesvollzugs, der in gesetzmäßiger Form, einschließlich einer gesetzmäßigen Abrechnung der angefallenen Kosten, erfolgen musste; und zum anderen die Beauftragung des Angeklagten als Tarifrechtsexperte. Es wird aber nicht explizit gemacht, dass erstere Besonderheit die Pflicht des Unternehmens begründet, das Vermögen der Bürger zu schützen. Es wird auch nicht klargestellt, dass der zweite Aspekt legitimiert, von einer Übertragung dieser Aufgabe auf den Angeklagten auszugehen, mit der Folge, dass dieser die Vermögensinteressen vor Angriffen durch betrügerische Abrechnungen schützen musste. Hier nimmt das Gericht keine hinreichend klare dogmatische Verortung des von ihm entschiedenen Ergebnisses vor. Als besonders problematisch wirken sich Sachverhaltsfeststellungen aus, die sich in Umschreibungen wie der „des juristischen Gewissens“ des Unternehmens erschöpfen. Dadurch wird der Bürger in seiner Vorstellung in die erzählte Situation versetzt, er kann aber nur mit seinem inneren Auge wahrnehmen und an der Erlebnisqualität teilhaben. Solche Umschreibungen rufen in der Vorstellung des Betrachters Szenen hervor, auf die er nur intuitiv negativ reagieren kann. Nachvollziehbar und transparent wird die Entscheidung dadurch nicht. Es wird vielmehr suggeriert, das die Bewertung des Unterlassens als strafbare Beihilfe zum Betrug richtig ist, und es wird suggeriert, dass eine strafbewehrte Pflicht, aktiv einschreiten zu müssen, besteht. Der Bundesgerichtshof hat als Revisionsinstanz notgedrungen auf den vom Landgericht festgestellten Sachverhalt zurückgegriffen und eine rechtliche Verantwortung bejaht. Allerdings weicht seine Begründung von der der Vorinstanz deutlich ab. Er hat der Annahme einer Verpflichtung aufgrund der vorausgegangenen Tätigkeit als Tarifexperte, der für frühere Zeiträume zuständig war, eine Absage erteilt, und zwar im Wege einer insoweit deduktiven Vorgehensweise: Er nennt zunächst die rechtlichen Voraussetzungen der Ingerenz, um sodann darzulegen, dass diese Anforderungen im zu entscheidenden Fall nicht vorgelegen haben. Allerdings lässt sich der Bundesgerichtshof bei seiner Begründung der Verantwortung aufgrund der Stellung als Leiter der Innenrevision und der Rechtsabteilung sowie aufgrund der Wahrnehmung dieser Person im Unternehmen als „juristisches Gewissen“ dazu verleiten, auf induktivem Wege aus den Gesamtumständen eine strafrechtliche Verantwortung für das Unterlassen herzuleiten. Damit wird diese Entscheidung, obwohl ihr im Ergebnis zuzustimmen ist, den Anforderungen an eine Leitentscheidung nicht gerecht. Das Gericht verfehlt insbesondere seine Aufgabe, zur Vereinheitlichung des Rechts beizutragen. Hierfür wäre es er-

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forderlich gewesen, das gefundene Ergebnis dogmatisch einzuordnen und die tragenden Gründe darzulegen. Somit kann festgehalten werden: Nicht nur der Weg von der Entscheidung nach Gesetz und Recht zur erzählenden Gestaltung des Sachverhalts und der hierauf gründenden Entscheidung muss gegangen werden. Vielmehr muss die Rechtsprechung ihr gefundenes Urteil an der Rechtsdogmatik messen und entsprechend begründen, um nicht nur den Einzelfall richtig zu entscheiden, sondern auch Rechtsklarheit für zukünftige Fälle zu schaffen.

3.2 Ermächtigungen des Richters durch den Gesetzgeber zur Setzung von Normen Gesetze, die die Strafbarkeit fahrlässigen Verhaltens oder des pflichtwidrigen Unterlassens anordnen oder die Tatbeteiligung – Anstiftung oder Beihilfe – unter Strafandrohung stellen, ermächtigen die Gerichte, Verhaltensnormen zu schaffen und bestehende Verbote bzw. Gebote auszuweiten. Hier wird die Entscheidungspraxis der Gerichte zur Rechtsquelle.65 Das Gesetz ermächtigt den Richter in solchen Fällen zur Rechtsfortbildung „intra legem“.66 Damit bestimmt nicht mehr der Gesetzgeber, sondern die Rechtsprechung die Sorgfaltsanforderungen bei der Fahrlässigkeit und die Rechtspflichten zur Abwendung eines deliktischen Erfolges. Bei der Bestimmung der im Verkehr gebotenen Sorgfalt muss die Moral eingebunden werden. Mit der damit einhergehenden Hinwendung zur Lebenswelt und zur gelebten Moral, die nicht auf den rechtlichen Anspruch, sondern auf die faktische Geltung abhebt, erlangen die Orte Bedeutung, an denen die jeweilige ethische Ausrichtung des Handelns identifizierbar ist. Hier geht es um alltägliches Funktionieren von Moral, wo Rechtfertigung konkret als soziales Geschehen erfahrbar ist.67 Generell gilt, dass Verantwortung narrativ vermittelt ist: Sie realisiert sich in der Frage nach der wahren Geschichte, in die ein bestimmtes Handeln und das in Frage stehende Geschehen eingebettet sind. Als isolierte Ereignisse sind die Geschehnisse weder ethisch noch juristisch zu beurteilen; sie gewinnen ihren Ort und ihre Bedeutung erst in der stimmigen Erzählung. Der Streit um die richtige Geschichte ist deshalb ein wesentliches Moment der rechtlichen und der moralischen Beurteilung.68 In der Erzählung verbinden sich Ereignisse, Motive und Bedeutungshorizonte, so dass die moralische Dimension erst sichtbar wird, die eine bloße Beschreibung der äußeren Handlung nicht bieten könnte. 65 66 67 68

Küper, Richterrecht im Bereich der Verkehrsunfallflucht, 451 ff. Krey, Gesetzestreue und Strafrecht, 838 ff. Siehe dazu W. Schoberth, Prolegomena zu einer ,narrativen Ethik‘, 249, 264. Ebd., 249, 266.

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a. Das „Leinenfänger“-Urteil des Reichsgerichts Zur Verdeutlichung kann auf eine Grundsatzentscheidung des Reichsgerichts zur Fahrlässigkeit verwiesen werden, um zu zeigen, dass intuitiv für gerecht gehaltene Ergebnisse an der Rechtsdogmatik zu messen sind, damit konsistente Entscheidungen erreicht werden, die zugleich als Leitentscheidungen für zukünftige Urteile dienen können.69 Dem „Leinenfänger“-Urteil des Reichsgerichts70 lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der Angeklagte stand seit Oktober 1895 als Kutscher bei dem Droschkenbesitzer K. zu G. in Dienst. Während dieser Zeit führte er eine mit zwei Pferden bespannte Droschke. Eines der Pferde war ein sog. „Leinenfänger“, der zeitweise die Gewohnheit hatte, den Schweif über die Fahrleine zu schlagen und diese mit demselben herunter- und fest an den Körper zu drücken. Dieser Fehler war sowohl dem Angeklagten Knecht als auch dem Dienstherrn bekannt. Bei einer im Juli 1896 von dem Angeklagten ausgeführten Fahrt gelang es dem Pferd, die Leine mit dem Schwanz einzukneifen. Bei den vergeblichen Versuchen des Angeklagten, die Leine hervorzuziehen, wurden die Pferde wild und der Angeklagte verlor völlig die Herrschaft über das Gespann, das beim Weitergaloppieren den an der Seite der Chaussee gehenden Schmied B umwarf, so dass dieser unter den Wagen geriet und einen Beinbruch erlitt. Das Reichsgericht stellte die Frage, ob Fahrlässigkeit immer zu bejahen ist, wenn eine Handlung vorgenommen wurde, die eine Köperverletzung zur Folge hatte, deren Möglichkeit der Handelnde vorhersehen konnte. Das Gericht verneinte dies mit der Begründung: „Wollte man den Satz aufstellen, es müsse zur Vermeidung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit wegen Fahrlässigkeit jede Handlung unterlassen werden, bezüglich derer die Möglichkeit gegeben und vorhersehbar ist, daß sie für einen rechtswidrigen Erfolg kausal werden kann, so würde dies zu Konsequenzen führen, deren Unvereinbarkeit mit den bestehenden Lebensverhältnissen und den Bedürfnissen des Verkehrs offensichtlich ist.“71 Erforderlich sei vielmehr, „daß die Vornahme der Handlung im gegebenen Falle eine Nichterfüllung desjenigen Maßes von Aufmerksamkeit und Rücksicht auf das Allgemeinwohl in sich schließt, dessen Prestierung von dem Handelnden billigerweise gefordert werden darf”.72 Die Entscheidung dieser Frage müsse aber vom Richter wesentlich aus der Beschaffenheit der konkreten Verhältnisse geschöpft werden; hierbei sei es nicht

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Ausführlich dazu G. Dannecker, Narrativität im Recht, 266, 283 ff. Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen 30, 25 ff. Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen 30, 25, 27. Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen 30, 25, 27 f.

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unzulässig, bei dieser Beurteilung auch eine etwaige Zwangslage des Handelnden zu berücksichtigen.73 Die Vorinstanz hatte diesbezüglich dem Bewusstsein des Angeklagten, dass die Benutzung des „Leinenfängers“ Gefahren in sich barg, die Gehorsamspflicht sowie die begründete Besorgnis, durch eine Weigerung, mit dem Pferde zu fahren, seine Stelle und sein Brot zu verlieren, gegenübergestellt.74 Hiernach, so das Reichsgericht, war zu erwägen, „was dem Angeklagten als Pflicht zugemutet werden konnte, eher dem Befehle seines Dienstherrn sich zu entziehen und den Verlust seiner Stellung auf sich zu nehmen, als durch Benutzung des ihm zugewiesenen Pferdes zum Fahren bewußterweise die Möglichkeit der körperlichen Verletzung eines Anderen zu setzen, oder ob er diese letztere Rücksicht nach dem Verhältnisse ihrer Erheblichkeit zurückstehen lassen durfte hinter derjenigen, welche für ihn den Antrieb zur Befolgung des Befehles seines Dienstherrn bildete.“75 Wenn nun die Vorinstanz diese Frage im letzteren Sinne beantwortet habe, so liege diese Entscheidung im Wesentlichen auf dem Gebiete der tatsächlichen Würdigung der vorliegenden Verhältnisse und lasse jedenfalls einen Rechtsirrtum nicht erkennen.76

b. Analyse der Entscheidung des Reichsgerichts Das Spezifische des Falles lag darin, dass der Täter sehenden Auges eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter geschaffen hat, aber mit Rücksicht auf Umstände, die allein seine Person und sein internes Verhältnis zu seinem Arbeitgeber betrafen, freigesprochen wurde, obwohl er einen Sorgfaltspflichtverstoß begangen hat. Von dem pflichtwidrigen Verhalten zu unterscheiden ist die Frage, ob von dem konkreten Täter in der konkreten Situation erwartet werden durfte, dass er sich an dem rechtlich Gebotenen orientierte, oder ob ein normgemäßes Verhalten von Rechts wegen nicht erwartet werden konnte, weil ihm dies nicht zumutbar war. Hierfür kommt es entscheidend auf die tatsächlichen Umstände sowie die Lebensgeschichte des Kutschers in ihrem historischen, kulturellen und sozialen Kontext an: Dieser war in der damaligen Zeit sozialrechtlich nicht abgesichert, er hatte im Kündigungsfall weder Anspruch auf Arbeitslosengeld noch bestand ein Sozialhilfesystem. Auch das Kündigungsschutzrecht entsprach nicht dem heutigen System. Unter diesen Voraussetzungen durfte damals von einem Bürger von Rechts wegen nicht erwartet werden, dass er das allgemeine Gebot, andere nicht zu schädigen, stets und strikt befolgte, denn es drohte der Verlust der wirtschaftlichen Existenzgrundlage unter erheblicher 73 74 75 76

Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen 30, 25, 28. Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen 30, 25, 28. Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen 30, 25, 28 Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen 30, 25, 28.

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Beeinträchtigung der sozialen Einbindung. Deshalb durfte der Vorwurf schuldhaften Verhaltens mangels Zumutbarkeit von Rechts wegen nicht erhoben werden. Hierin spiegelt sich wider, dass sich das Recht der Korrektur durch Lebenswirklichkeiten nicht verschließen darf. Das Reichsgericht hat angesichts der besonderen Situation die Zuwiderhandlung gegen eine generelle Sorgfaltsregel, die es aufrecht hielt, im Einzelfall für straffrei erklärt, obwohl dieses Verhalten nicht „gerechtfertigt“ war. Von dieser Art sind viele moralische Dilemmata: Wenn die Handlung in solchen Fällen in der Weise gerechtfertigt wird, dass die besonderen Umstände geschildert und vor Augen geführt werden, die zu der Handlung geführt haben, wird mit der Sachverhaltsschilderung zugleich eine normative Begründung gegeben. Auch wenn sich die Wahrheit eines moralischen Überzeugungssystems nicht in letzter Instanz an der Lebenswirklichkeit bemisst, die narrativ thematisiert wird, kann durch eine sorgfältige und umfassende Darstellung eines auf die Entscheidung hin ausgelegten Sachverhalts ein wesentlicher Beitrag zur Begründung der Entscheidung geleistet werden, indem das Wahrnehmen von Situationen und Handlungen sowie die Fähigkeit, diese in ihrer moralischen Bedeutsamkeit angemessen zu erfassen, verbessert werden. Unter rechtlichen Gesichtspunkten reicht es nicht aus, eine Billigkeitsentscheidung als Gerechtigkeitsentscheidung im Einzelfall zu treffen. Vielmehr muss rechtlich begründet und verallgemeinert werden, dass der zu entscheidende Fall Anlass gibt, eine neue Gerechtigkeitsregel aufzustellen, die neuen Erkenntnissen, Erfahrungen, Gerechtigkeitsvorstellungen oder geänderten Sozialverhältnissen entspricht und zukünftig auf alle Fälle, auf die derselbe „Billigkeitsgesichtspunkt“ zutrifft, anzuwenden ist.77 Gerade bei Billigkeitsentscheidungen ist es unverzichtbar, die Umstände des Einzelfalles herauszuarbeiten und durch die Erzählung des Sachverhalts die Besonderheiten des konkreten Falles deutlich zu machen. Dadurch kann die Entscheidung auf die Ebene des Allgemeinen gehoben und auf der Grundlage der rechtlichen Regeln, Prinzipien und Kriterien erörtert werden. 3.3 Normative Rechtsbegriffe und Generalklauseln Gesetze sind unterschiedlich detailliert umschrieben. Während die Verwendung deskriptiver Merkmale wie „Mensch“, „Organ“, „Sache“ den Vorzug vergleichsweise hoher Präzision haben, erweisen sich normative (wertausfüllungsbedürftige) Begriffe wegen ihrer Anpassungsfähigkeit in der Rechtsanwendung als besonders praktikabel, weil sie knapp gefasste Vorschriften ermöglichen und Einzelheiten sowie die Erfassung neuer Sachverhalte der Entwicklung der Rechtsprechung überlassen. Insbesondere im Zivilrecht ist 77 Weinberger, Einzelfallgerechtigkeit, 409, 424.

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die Verwendung wertausfüllungsbedürftiger Merkmale und Generalklauseln verbreitet, um sich entwickelnde zukünftige Erscheinungsformen wie Leasing, neue Sicherungsrechte, Franchising rechtlich erfassen zu können. Hingegen bestehen im Strafrecht gegen solche Begriffe unter dem Gesichtspunkt der Vorhersehbarkeit der Strafbarkeit für den Bürger Bedenken. Im Strafrecht werden von der Verfassung, die den Grundsatz „nullum crimen, nulla poena sine lege“ statuiert (Art. 103 Abs. 2 GG), klare Entscheidungen des Gesetzgebers gefordert, an denen der Bürger sein Verhalten ausrichten kann. Trotz dieser verfassungsrechtlichen Vorgaben kann auch das Strafrecht auf allgemeine Begriffe nicht gänzlich verzichten, denn, so das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung, ohne die Verwendung solcher Begriffe wäre der Gesetzgeber nicht in der Lage, der Vielgestaltigkeit des Lebens Herr zu werden.78 Dies zeigt sich insbesondere bei Generalklauseln und Begriffen, die dem Richter ein wertendes Urteil abverlangen, so bei § 228 StGB, der eine rechtfertigende Einwilligung in eine Körperverletzung ausschließt, „wenn die Tat trotz der Einwilligung gegen die guten Sitten verstößt“, oder bei der für die Rechtswidrigkeit der Nötigung erforderlichen Verwerflichkeit.79 Für das Zivilrecht kann auf den Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) oder für das Steuerrecht auf den Rechtsmissbrauch (§ 42 AO) verwiesen werden. Hier lassen die juristischen Auslegungsmethoden – die grammatische, historische, systematische und teleologische Auslegungsmethode – den Richter im Stich; spätestens jetzt beherrscht seine eigene Wertung die Entscheidung.80 Bei solchen moralischen Begriffen, bei denen empirische und normative Momente eine lebensmäßig untrennbare Einheit eingehen, stellt sich darüber hinaus die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen in einer pluralistischen Gesellschaft, in der verschiedene Wertvorstellungen toleriert werden, ein sicheres positives oder negatives Werturteil über ein menschliches Verhalten abgegeben werden kann.81 Weiterhin sind Begriffe wie „grausam“, „erniedrigend“, „böswillig“ und „rücksichtslos“ zu nennen, mit denen der Richter lediglich eine Vielzahl von Szenarien assoziieren kann, die durch Ähnlichkeit miteinander verbunden sind. Ihre sprachliche Explikation hat die Form von Narrativen, mit denen Situationen und Handlungen vor Augen geführt werden können, in denen sich zeigt, was diese Begriffe artikulieren.82 Gerade in diesen Bereichen ersetzen Narrationen die rechtliche Bewertung.83 78 BVerfGE 75, 329, 341. 79 Hassemer/Kargl, Nomos Kommentar zum Strafgesetzbuch, § 1 Rdn. 38 mit weiteren Nachweisen. 80 Rüssmann, Zur Einführung: Die Begründung von Werturteilen, 352 f. 81 Vgl. dazu Dannecker, in: Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, § 1 Rdn. 202; Eser, in: Schönke-Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, § 1 Rdn. 22. 82 Fischer, Vier Ebenen der Narrativität, 235, 242. 83 Siehe dazu ebd., 235, 243.

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Neben Generalklauseln wie den „guten Sitten“ sind gesetzliche Maßfiguren wie die des „ordentlichen Kaufmanns“ und des „sorgfältigen Geschäftsleiters“ sowie Maßstäbe wie die der „gewissenhaften Rechnungslegung“ oder die „Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters“ zu nennen, die auf außerrechtliche Anschauungen und Übungen verweisen. Auch hier ist es Aufgabe des Richters, das Recht zu konkretisieren und sich in die Situation der Maßstabsfigur zu versetzen. Es reicht nicht aus, dass der Richter die Praxis nur feststellt, er muss im Einzelnen darlegen und konkretisieren, wie die „richtige und gute Praxis“ aussieht.

4. Grenzen der narrativen Begründung rechtlicher Entscheidungen Nach diesem Überblick über die Bedeutung der Narrativität bei der Begründung rechtlicher Entscheidungen soll abschließend auf die Grenzen narrativer Rechtsbegründungen eingegangen werden, denn Recht beansprucht Rationalität, Transparenz, Objektivität und Intersubjektivität. Um noch einmal Ruth Blufarb zu zitieren: „Geschichten im Recht sind überall. Sie prägen die menschliche Wahrnehmung, die Organisation und Darstellung des Wahrgenommenen, sie geben Form und Inhalt, verleihen Sinn, begründen Werte oder stellen sie infrage, streiten für Standpunkte oder entkräften diese. Nicht immer sind sie als Geschichten erkennbar.“84 Aber Narrativität im Recht erschöpft sich nicht in Geschichten, Recht will nicht Literatur sein. Die Berücksichtigung der narrativen Elemente im Recht ist eine Problemanzeige für das Recht, die ernst zu nehmen ist, ermöglicht Narrativität doch, Schwächen rechtlicher Begründung aufzudecken und ein Überspielen rechtlicher Begründung und Argumentation zu entlarven. Narrativität ermöglicht aber auch, noch nicht hinreichend bekannte Szenarien zu umschreiben und Probleme zu benennen, für die neue rechtliche Lösungen zu entwickeln sind, sei es durch die Gerichte oder die Gesetzgebung, wie der Umgang des Rechts mit dem autonomen Fahren, mit dem Einsatz von Algorithmen und der künstlichen Intelligenz zeigt – Entwicklungen, die wir akzeptieren, die aber nicht zur organisierten Unverantwortung führen dürfen. Bereits die Abgrenzung zwischen den dem Tatgericht vorbehaltenen Tatsachenfragen und den in der Revisionsinstanz allein überprüfbaren Rechtsfragen ist bei institutionellen Tatsachen schwierig und führt nicht immer zu überzeugenden Ergebnissen. Der ethische Gehalt, der in die Sachverhaltsfeststellung und -darstellung der Tatsachengerichte Eingang findet, kann, wenn er nicht explizit gemacht wird, in der Regel von den Revisionsgerichten nicht überprüft werden. Dadurch wird der Rechtsschutz des Bürgers in fragwürdiger, rechtsstaatlich nicht vertretbarer Weise verkürzt. 84 Blufarb, Geschichten im Recht, 21.

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Sachverhaltsdarstellungen können Bestandteil der Rechtsfindung sein; solche Narrationen sind als das Recht gestaltende und bewertende Akte in die Rechtsfindung einzubeziehen, sie tragen dem Zusammenhang bzw. der Einheit zwischen Gesetz, Fall und richterlicher Entscheidung Rechnung. Jedoch dürfen im Recht Begründungen und die rechtliche Argumentation nicht durch Narrationen ersetzt werden. Ebenso wie in der Ethik darf die Prinzipienethik nicht durch eine narrative Ethik ersetzen werden;85 es geht vielmehr um einen die Prinzipienethik ergänzenden Ansatz. Dennoch können in den gesetzlichen Ermächtigungen des Richters zur Setzung von Normen, in Billigkeitsregeln sowie in wertausfüllungsbedürftigen und auf Sachverhalte verweisenden Rechtsbegriffen Einfallstore für die Ethik einschließlich der narrativen Ethik gesehen werden. Hingegen sind insbesondere Leitentscheidungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung an der Rechtsdogmatik zu messen und umfassend zu begründen, um Rechtsklarheit für zukünftige Fälle zu schaffen. Wenn die Möglichkeiten narrativer Begründungen in gerichtlichen Entscheidungen ausschöpft werden und hierin tatsächlich rechtlich relevante Begründungen der Entscheidungen gesehen werden, sind die Gerichte, insbesondere die Revisionsgerichte, gleichwohl gehalten, die intuitiv für richtig gehaltenen Entscheidungen an der Rechtsdogmatik zu messen. Dies gilt vor allem für die Revisionsinstanzen, deren Aufgabe nicht nur die richtige Entscheidung des konkreten Falles ist, sondern auch die Sicherstellung einer einheitlichen Rechtsprechung. Die Berücksichtigung der Dogmatik enthebt die Rechtsprechung jedoch nicht der Aufgabe, im Einzelfall Billigkeitsentscheidungen zu treffen, die der dem Fall zugrundeliegenden Geschichte gerecht werden. Hierzu können und sollten die Chancen narrativen Begründens und die darin liegenden Möglichkeiten eines besseren Verstehens genutzt und fruchtbar gemacht werden. Auch für das Recht bestätigt sich die Einschätzung der Jubilarin86 für moralische Urteile, dass Urteilsbildung ihre je besonderen und eigenen Facetten hat, die aber nicht unmittelbar auf der Hand liegen. Vielmehr eröffneten sie sich erst im interdisziplinären Diskurs, ohne den die zahlreichen Perspektiven und Blickwechsel gar nicht in den Blick kommen würden, die moralischen Urteilen anhaften. Diese Chancen narrativen Begründens und die darin liegenden Möglichkeiten eines besseren Verstehens können auch im und für das Recht fruchtbar gemacht werden.

85 Kritisch dazu Höffe, Narrative Ethik als Alternative? 91:38. 86 I. Schoberth, Urteilen lernen, 7.

Narrativität im Recht – Beitrag zur Begründung rechtlicher Entscheidungen 81

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Erzählen: Orte

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Erzählen nach dem Visualistic Turn – der Aktionskünstler Günter Brus als lebendes Kultbild

1. Der gekreuzigte Hund „Gott ist nicht nett.“ (…) „Der Hintergrund des Bildes war dunkel. Ich trat näher heran, und dann dachte ich, dass es wahrscheinlich wieder eines der Bilder wäre, die ich schon oft gesehen hatte. Eine der vielen Leidensszenen Jesu, die man – als Katholik sowieso, als Priester erst recht – sehr gut kennt. Aber das war es nicht. Es war zwar eine Kreuzigung. Aber nicht die von Jesus. Was am Kreuz hing, entsetzte mich. Es war ein Hund. Blutüberströmt, ans Kreuz genagelt, mit dem Kopf nach unten. Die Zunge war ihm aus dem Hals geglitten, hing ihm über seinen Vorderpfoten. Das Auge gebrochen, doch weit offen, so als könnte er mich noch anschauen. Die Hinterbeine weit auseinander gerissen, mit Nägeln so an die Querbalken genagelt, dass ich deutlich die Hoden erkennen konnte. Die Hoden genau an der Stelle, an der man gewohnt ist, den Kopf Jesu hängen zu sehen. Sie waren nach vorne geklappt, fielen zur Seite, kraftlos, wie der Kopf Jesu. (…) Wie kann man solche Bilder unvermittelt dem Besucher ins Gesicht schlagen. Wie eine Ohrfeige. Ich war sprachlos. (…) Und dabei war ich mit Bildern von Kreuzigungen groß geworden. Überall in meinem Dorf gab es welche zu sehen. In der Kirche, am Wegrand, in unserem Haus, sogar in meinem Schlafzimmer schaute Christus mit den durchbohrten Händen auf mich herab. Ich war mit dem Bild groß geworden, aber es war das Bild eines schönen Gekreuzigten – eines stattlichen Mannes, dessen Körper noch eine Gestalt hatte, bei dem man kein Blut sah, ihm hing auch nicht die Zunge aus dem Hals. Nein, er war sauber, ansehnlich, manchmal aus Holz, geschnitzt in Oberammergau, ein Geschenk zur Firmung“ – so schildert Heiner Wilmer seine Begegnung mit einem zeitgenössischen Altarbild in einem Museum in München.1

1 Wilmer, Gott ist nicht nett, 21–22.

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2. Ist das Kunst oder kann das weg? Zur historischen Authentifizierung von Kunstwerken 2.1 Das religionskritische Gegenbild zum christlichen Kultbild „Sogar in meinem Schlafzimmer schaute Christus mit den durchbohrten Händen auf mich herab“ – Wilmer beschreibt in seiner Erzählung ein Christusbild, das ihn in seiner Erinnerung prägte: ein Christusbild als ein bestimmtes Kultbild, das aus dem klassischen Kanon christlicher Ikonographie stammte. Zu einer Wende von großer Tragweite kommt es, als in der Konfrontation mit dem zeitgenössischen Altarbild des gekreuzigten Hundes das christliche Kultbild von einem religionskritischen Gegenbild verdrängt wird. Das Bild eines schönen, stattlichen Mannes am Kreuz wird empfindlich gestört und muss einem Gegenbild weichen. Bei Wilmer rief es zunächst ein Gefühl der Empörung hervor und der Ahnung, dass „etwas nicht stimmte“, wie er schreibt. Sodann wurde es zum „Auslöser“, das christliche Kultbild zu hinterfragen: „Aber die weiche Wirklichkeit“, so Wilmer, „zu der Jesus für mich geworden war – dieses zarte unberührbare Ätherische und Entrückte, das stellte mich vor dem Bild in gewisser Weise bloß. Es machte mich für Augenblicke zum Iditoten.“2 Das Altarbild des gekreuzigten Hundes hätte ebenso andere Affekte beim Betrachter und damit auch andere Wahrnehmungs- und Interpretationsideen auslösen können. Das zeitgenössische Altarbild in der Erzählung Wilmers liefert keine Einheitsformeln aus dem klassischen Bildungskanon. Denn es hat sich noch nicht vollständig durchgesetzt und etwa bereits eine Tradition begründet. Immerhin wird es an einem Kultort, einem Museum in München, ausgestellt und dadurch als Kunstwerk erkennbar gemacht und als solches auch authentifiziert. Hätte ein Passant einen blutigen Hund an einem Kreuz auf der Straße aufgestellt, wäre dieser Passant vermutlich verhaftet worden und müsste sich wegen Tierquälerei vor dem Gesetz und vor der Öffentlichkeit verantworten. Die Störungszone zwischen diesen beiden Polen ist im Bewusstsein immer präsent. Und vermutlich ist sie es, die die religionskritischen Gegenbilder immer wieder zur Provokation macht: Ihr Gegenstand ist nicht nur das, was geschehen ist, sondern ebenso das, was versprochen ist. Retrospektiv ist das Altarbild Materie geworden und wird dem Betrachter dargeboten. Prospektiv wird sich erst im Prozess der historischen Authentifizierung und Legitimierung erweisen, ob es sich als ein Kunstwerk durchsetzt und womöglich zum Kultbild wird – wie es etwa zum Beispiel ”Der gekreuzigte Frosch” von Martin Kippenberger geworden ist. Nun sind bildhermeneutische Kompetenzen gefragt. 2 Ebd., 22–25, hier: 25.

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2.2 Erzählen nach dem Visualistic Turn „Bilder sind von einer Macht und Energie, die gefährlich werden kann, zumal in religiösem Kontext. Religionen des Wortes geraten mit ihren Versionen des Bilderverbots in Konflikte in der globalisierten Bilderwelt (…)“3, schreiben Philipp Stoellger und Thomas Klie in ihrem einschlägigen Band zur Bildtheorie „Präsenz im Entzug“. Auch Hans Belting beklagt das oft fehlende Interesse der Theologie an einer Bildhermeneutik.4 Dabei ist in der Öffentlichkeit und in der Forschungslandschaft der Visualistic Turn bzw. Iconic Turn5 längst angekommen: Die Bedeutung der Bilder und der Bildlichkeit nimmt stetig zu. Es ist eine Hermeneutik gefragt, die Bild und Erzählung zusammenführt, so dass sie sich gegenseitig auslegen. Dabei sollte nicht nur allgemein über Bilder gesprochen werden, nur um die eigene theologische Substanz zu entwickeln und vorzuführen. So wie man sich die Methodik aus der Soziologie oder Philosophie zu Nutze gemacht hat, so ist auch die Entwicklung von Bildkompetenzen gefragt. Dabei geht es um die konkrete Auslegung von ausgewähltem Bildmaterial, die man aus theologischer, nicht nur kunsthistorischer Perspektive vornimmt. Damit wirft man den Ring in das diffuse Forschungsfeld der Bildtheorie. Im Folgenden möchte ich eine solche Zusammenführung von Bild und Erzählung erproben.

2.3 Momente der Erzählung im Bild Das Altarbild aus der Erzählung Wilmers ist dem Betrachter ausgesetzt und sorgt für die Entstehung einer „Störungszone“. Und in dieser Störungszone findet ein äußerst heterogener und unkontrollierter Bildgebrauch statt. „Das Kind auf dem Schoß der Mutter und der tote Mann am Kreuz laden ein zur Erinnerung an die zwei Angelpunkte eines historischen Lebens“, so der Kunsthistoriker Hans Belting in seinem grundlegenden Werk „Bild und Kult“.6 Das Kind auf dem Schoß der Mutter und der tote Mann am Kreuz sind vergleichsweise einfache Themen der Erinnerung. Auch wenn diese Bilder keine Erzählungen sind, enthalten sie ein Moment der Erzählung. Diese Bilder sind dann verständlich, wenn man sie von der Schrift und von den Erzählungen her wiedererkennt. Es erinnert daran, was die Schrift erzählt, und erlaubt zusätzlich den Kult eines christlich konnotierten Bildes. Der gekreuzigte Hund hingegen ruft äußerst heterogene Erinnerungen und damit Erzählungen auf. Er kann sowohl auf religiöse Symbole hin interpretiert werden. Ebenso kann 3 4 5 6

Stoellger und Klie, Präsenz, Rückseite. Belting, Bild, 11. Sachs-Hombach, Bildtheorien, 7 ff. Belting, Bild, 20.

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er aber auch als religionskritischer Ansturm auf ebendiese religiöse Symbole aufgefasst werden. Damit wird dieses zeitgenössische Kunstwerk zuverlässig zur Provokation – je nachdem, welche Erzählmuster in der Öffentlichkeit zeitgenössisch dominieren.

3. Günter Brus als lebendes Kultbild 3.1 Günter Brus – Bemerkungen zu Biographie und Werk „Ich treibe nur in Störungszonen“ – so der Titel einer der zahlreichen Zeichnungen des österreichischen Künstlers Günter Brus aus dem Jahr 1985.7 Günter Brus ist nicht nur durch sein Werk zu solch einer Störungszone geworden. Brus war einer der ersten Aktionskünstler der Nachkriegszeit und damit einer der ersten zeitgenössischen Aktionskünstler überhaupt. Er verzichtete auf Pinsel und Leinwand und wurde als Person zu einem lebenden Bild. Damit ist Brus als Person zum Kultbild geworden und zum religionskritischen Gegenbild eines christlichen Kultbildes. Er selbst hat sich als „lebendes Bild“ bezeichnet. Günter Brus kommt im Jahr 1938 (in Ardning) in der Steiermark zur Welt. An Kunst, Literatur und Musik ist er bereits früh interessiert. Er besucht die Akademie für angewandte Kunst in Wien, die er jedoch ohne Abschluss vorzeitig verlässt. Er fühlt sich dort eingeengt. Schon früh sucht Brus nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten, für die er in der Akademie zu wenig Raum findet. Im Madrider Prado hinterlässt Goya bei ihm einen tiefen Eindruck. Die documenta II im Jahr 1959 sowie der internationale Informel bzw. die gegenstandslose Kunst der europäischen Nachkriegsjahre prägen ihn. Die Auseinandersetzung mit modernen Kompositionen und Werken der Wiener Schule, wie der von Arnold Schönberg, ist bis heute seine Leidenschaft. Einige Dokumente zu Brus sind im Archiv der neuen Galerie Graz einsehbar. Dieses Archiv befindet sich im ”Bruseum”, einem Museum, das ausschließlich Brus gewidmet ist. Viele Jahre nach seiner Rückkehr nach Österreich wurde dieses Bruseum an der Neuen Galerie Graz am Universalmuseum Joanneum im Jahr 2008 zu seinen Ehren gegründet. Das Land Steiermark hatte dafür eine große Sammlung des Werks von Brus angekauft. In diesem Archiv befindet sich noch unveröffentlichtes Material zu Brus, insbesondere seine Graphiken, aber auch Schriftauszüge oder Notizen. Zu seiner Kindheit und seinem Erwachsenwerden im Nachkriegsösterreich ist auffällig wenig zu finden. Brus selbst hat sich zu seinem biographischen Werdegang wenig geäußert. Im Archiv findet sich eine kryptische Notiz von ihm über eine äußerst demütigende Szene, die sich abgespielt haben muss, als er noch ein Kind war. 7 Schmitz, Günter Brus, 12 ff.

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Ich verstehe diese Erzählung so: Er sollte die Exkremente seines jüngeren Bruders essen, um so seine Liebe zu beweisen. Als er das tat, hätten alle Anwesenden laut gelacht. Später wird Brus seine eigenen Exkremente für seine berühmte Performance bzw. Aktion „Zerreißprobe“ verwenden, die im Jahr 1970 in München stattgefunden hatte. Sein Großvater und Vater sympathisierten wohl mit dem Gedankengut der Nationalsozialisten – wenn man die spärlichen Angaben richtig deutet. In Österreich der Nachkriegszeit und insbesondere in der ländlichen Steiermark war eine Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Gedankengut zunächst kein Thema. Roman Grabner, der Leiter des Bruseums erzählte in einem Interview : Brus hätte es als sehr bedrückend und einengend empfunden, dass alle so weiter machten, wie bisher.8 Er sehnte sich nach einer Wende, einer Störung des Gewohnten. Brus wird zum prominentesten Vertreter des Wiener Aktionismus, der zu Beginn der 1960er Jahre die Malerei in den Objektbereich expandierte – und darüber hinaus ins Körperliche.

3.2 Aktion, Bild, Kopie – Wo und was ist in der Aktionskunst das Kunstwerk? Jackson Pollock war einer der ersten Vertreter einer solchen performativen Wende. Er drang zum s.g. „action painting“ vor, bei dem die konsequente Abkehr von einem hierarchischen Bildaufbau verfolgt wird – ein Bildersturm in der Kunstgeschichte. Denn das Bild als geordnetes Gefüge von Flächen und Farbbeziehungen wird gestört, abgelehnt oder gar zerstört. Während Pollock jedoch noch die Leinwand als Material für seine Farbschleuder-Aktionen verwendete, suchte Brus nach einem Weg, auch auf diese zu verzichten. Sein eigener Körper wurde ihm zur Leinwand. Durch diesen Minimalismus wird die ikonoklastische Ausschreitung in meinen Augen am konsequentesten verfolgt. Das Bild gibt es nicht mehr, sondern nur die Aktion, die durchgeführt wird. Diese Aktion wird in Filmen, Fotos, Dokumenten und zahlreichen Zeichnungen vorbereitet und dokumentiert. Es gibt also mehrere Facetten der Störungszone: die Aktion als performatives Bild, ihre Materialisierung in Film, Fotografie oder Zeichnung und die dokumentierte Wirkung der Aktion auf die Betrachter in Fotos und Zeitungsartikeln. Die Betrachter sind zugleich Zeugen eines ursprünglichen Ereignisses bei der Durchführung der Aktion. Brus Aktionen zielen also auf Erinnerung und Erzählung durch das Bild. Da die Aktion selbst als ursprüngliches Bild durch den zeitlichen Abstand nicht mehr zugänglich ist, wird die Fotografie bzw. der Film stellvertretend oder symbolisch in den Rang eines Kunstobjekts erhoben. Obwohl es sich um eine Reproduktion, eine Kopie handelt mit ausgangs geringem Materialwert, wird die Fotografie in einem Museum ausgestellt und entsprechend immer wieder 8 Das Interview mit Roman Grabner wurde von der Verfasserin am 31. Mai 2017 geführt und ist nicht veröffentlicht.

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in Erinnerung gerufen. Das Foto wird zum Stellvertreter des Aktionskünstlers. Es bildet seine ursprüngliche Präsenz ab.9 Und durch diese Stellvertreterfunktion wird durch das Foto bzw. durch das Abbild ein Anspruch auf Historizität erhoben: Es bezeugt die Existenz eines historischen Körpers.10 Der historische Körper, also der Aktionskünstler Günter Brus selbst, ist in dem ausgestellten Fotomaterial ebenso gegenwärtig wie abwesend. Sein Werk reicht bis in die Gegenwart und wird in Erinnerung gehalten. Zugleich nimmt er inzwischen eine andere Position ein: Er selbst ist ja nicht ausgestellt, sondern nur als Kopie seiner selbst während der Aktion abgelichtet.

3.3 Die Kopie ist das Original und umgekehrt Die berühmt gewordene, ursprüngliche Aktion wird also als Abbild bzw. Kopie festgehalten, die den Erinnerungswert der Aktion verdeutlicht. Neben dem Bildmaterial ist dabei auch die Erzählung entscheidend. Die Erzählung wird zu einer Art Ursprungslegende eines Kunstereignisses und verdeutlicht ebenso den Erinnerungswert, den sie durch ihre Geschichte erworben hatte. Die Bildkopie und die Erzählung handeln nicht nur von den historischen Umständen, die das authentische Aussehen der dargestellten Person garantieren.11 Sie haben ebenso die Funktion, die stattgefundene Aktion immer wieder in Erinnerung zu rufen und über den Ort hinaus zu verbreiten – und zwar so, dass alle Kopien das Gesicht des einen, ortsgebunden Originals – nämlich Günter Brus bei der Aktion die „Zerreißprobe“ in München im Jahr 1970 – wiederholen. Dadurch wird das ursprüngliche Bild in eine Aura des Authentischen12 gekleidet, die eine Bedingung für den Kult ist. Die Aura des Authentischen macht das Kunstwerk zu einem Unikat mit eigener Ausstrahlung. Der Begriff der „Aura“ des Authentischen in historischer Perspektive beschreibt nach Martin Sabrow die „Faszinationskraft, die einem als authentisch verbürgten Objekt für den Einzelnen, für eine Gesellschaft, für eine gegebene Zeit zukommt.“13 Die Kopie wird zu einer modernen Ikone, wie wir sie etwa als Ablichtung von einem Heiligenbild oder der einer Staatsperson her kennen. An dieser Stelle begeben wir uns in das spannende Feld der politischen Ikonographie. Indem die Kopie aber an einem besonderen Ort, dem Museum untergebracht ist, wird ein kultischer Anspruch erhoben. Das Museum als Kultort bürgt dafür, dass es sich um ein authentisches Kunstobjekt – wenn auch nur in Form einer Kopie – handelt. Und es bürgt dafür, dass dieses Kunstobjekt einen 9 10 11 12 13

Vgl. Belting, Bild, 20. Ebd., 23 f. Ebd., 24. Sabrow, Die Aura des Authentischen, 29–43, 30. Ebd., 33.

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Erinnerungswert hat. Mit diesem Erinnerungswert sind rechtliche und ökonomische Ansprüche verbunden. Es wird aber auch eine Deutungsmacht beansprucht: Weder der Künstler noch das Kunstobjekt können beliebig ausgetauscht werden. Die Aktion die „Zerreißprobe“ wird aus den vielen Aktionen anderer, unbekannter Künstler ausgewählt und zu einem Original erklärt, für das gebürgt wird. Das Original zielt auf Erzählung und damit den richtigen Umgang mit der Vergangenheit. Sie zielt auf historische Authentizität. Die Vorzeichen drehen sich paradoxerweise um: Eine Kopie wird zu einem Original erklärt und erhebt den Anspruch auf historische Authentizität. So wird das, was ursprünglich nur die Kopie eines Originals war, selbst zum Original und das ursprüngliche Original, also die Aktion des Künstlers zu einem Ursprungsbild mit einer Ursprungslegende. Sie wird zu einem Kultbild, das verehrt wird. Günter Brus wurde im Jahr 1996 der Große Österreichische Staatspreis und damit die höchste Auszeichnung für Bildende Kunst verliehen. Auch das öffentlich finanzierte Bruseum bürgt für Brus als lebendem Kultbild.

4. Zur Aktion „Die Zerreißprobe“ – eine Erzählung in fünf Varianten Hans Belting beklagte die Art und Weise, wie Theologen über Bilder reden: „Sie machen sich vom sichtbaren Bild einen so allgemeinen Begriff“, so Belting, „als existiere es nur in der Idee, und handeln ganz allgemein vom Bild schlechthin, weil sich nur daran eine schlüssige Definition mit theologischer Substanz entwickeln lässt.“14 Im Folgenden wird eine Erzählung eines der Hauptwerke von Brus – die Aktion „Zerreißprobe“ – in fünf Perspektiven ausgehend von neun Farbfotografien versucht. Im Jahr 1970 findet die letzte Aktion von Brus in München statt, die er „Zerreißprobe“ nennt. Die „Zerreißprobe“ wird zur berühmtesten Aktion von Brus, die er selbst einer „Ästhetik der Selbstbemalung und der Selbstverstümmelung“ zurechnet und später unter dem Begriff „Körperanalysen“ zusammenfasst. Etwas holzschnittartig wird mithilfe des Interpretationsmodells des Kunsthistorikers Erwin Panofsky eine Deutung vorgenommen – in den drei Stufen der vorikonographischen Beschreibung, einer ikonographischen Analyse und einer ikonologischen Interpretation.15

14 Belting, Bild, 13. 15 Panofsky, Ikonographie und Ikonologie, 36–67.

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4.1 Vorikonographische Beschreibung der „Zerreißprobe“ Im Katalog „Günter Brus. Störungszonen“ anlässlich einer gleichnamigen Ausstellung in Berlin im Jahr 2016 sind neun Farbfotografien (von zwölf) abgelichtet, die die Aktion „Zerreißprobe“ dokumentieren.16 Betrachtet man die Bilder eins bis fünf, steht Brus selbst mit seinem eigenen Körper im Zentrum der Fotoserie. Er ist nahezu nackt. Er kniet oder beugt sich auf Knien nach vorn. Sein Kopf zeigt ebenfalls schräg nach vorn. Das Gesicht ist kaum zu erkennen. Sein Kopfhaar ist kurz geschoren. Der Oberkörper und die Beine sind entblößt. Er trägt eine weiße Unterhose und einen roten Strapshalter darüber. Auf der linken Hand ist ein Ehering zu sehen. Der vom Betrachter aus linke Oberschenkel blutet. Er ist barfuß. Im ersten Bild kniet er auf einer weißen Leinwand. Auf der Leinwand steht links von ihm eine rechteckige Metallkiste. Rechts liegt ein Gegenstand, der nicht näher beschrieben werden kann. Vor der Leinwand sind weiße Striche in Form des Buchstabens „T“ zu sehen, daneben eine Schere. Weiter weg von der Leinwand auf der rechten Seite steht ein weiterer Metallkasten, der dem ersten stark ähnelt. Der Hintergrund ist in drei Teile geteilt: eine dunkle Bodenfläche, einen dunklen geöffneten Hinterraum und eine Trennwand mit Betonpfeiler, die nicht ganz bis zum Boden reicht. Im ersten Bild sind die Arme ausgestreckt, die Hände krampfartig angespannt. Im zweiten Bild kratzt Brus mit einem Metallgegenstand das weiße „T“ vom Boden. Das Gesicht ist auf dem zweiten Bild am deutlichsten zu erkennen. Der Mund ist halb geöffnet, die Augen blicken angestrengt auf das „T“. Im dritten Bild trinkt Brus aus einem Glas eine Flüssigkeit. Die Unterhose ist vorn nun aufgeschnitten, sein Penis ist zu sehen. Das „T“ ist weiterhin sichtbar. Die Leinwand hat nun einige schmierige Blutflecken. Bild vier zeigt Brus in Bewegung wie bei einem Sprung. Auf dem fünften Bild zerschneidet er sich die Unterhose und den Strapshalter. Vor dem „T“ steht ein leeres Glas. Auf den Bildern sechs bis neun ist Brus vollständig nackt zu sehen, von hinten, von der Seite und auf dem Bauch liegend. Auf dem siebten Bild steht er aufrecht, ein Bein ist nach vorn aufgestellt in Schrittposition. Das hintere Standbein steht jedoch nicht parallel, sondern zeigt quer zum Spielbein. Die Leinwand ist nass mit einer gelben Flüssigkeit, womöglich Urin. Auf dem achten Bild steht Brus mit dem Spielbein im Metallkasten, in dem eine Flüssigkeit war und die ausgekippt ist. Vor ihm sind zwei weitere Metallkästen in gleichem Abstand voneinander aufgestellt. Die Leinwand liegt zerknüllt daneben. Auf dem letzten Bild liegt Brus auf dem Boden. Der Kopf zeigt zur Kamera. Das Gesicht ist nicht zu sehen. Der Blick geht vom Betrachter aus nach links. Auf der rechten Schulter sind Blutspuren zu sehen. Die Arme liegen unter dem Körper. 16 Schmitz, Günter Brus, 85. Zu dieser Aktion gibt es auch einen knapp 13 minütigen Farbfilm aus dem Jahr 1970.

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Vor dem Kopf ist eine schmierige, gelbe Fläche zu sehen wie Erbrochenes. Brus liegt teilweise darauf. Umgekippte Metallkästen, Blätter mit Kopien auf dem Boden sind verstreut, eine Bierflasche. Brus’ Beine zeigen zu einer Gruppe von Betrachtern. Es sind zwölf Personen, überwiegend junge Männer. Sie sitzen in zwei Reihen, die erste auf dem Boden im Schneidersitz, die zweite auf einer Bank dahinter. Nur zwei von ihnen schauen direkt in die Kamera. Nur vier bis fünf Personen schauen zu Brus. Die anderen schauen zur Seite oder richten ihren Blick in eine unbestimmte Ferne. Im Katalog macht Brus einige Angaben zum verwendeten Material und zur Aktion selbst in einer für ihn typisch minimalistischen und ironischen Art: „1. Maler bemalt eine Malfläche 2. Maler bemalt sich, statt Malfläche 3. Maler geht als Malerei spazieren 4. Maler legt Bekleidung ab und entnimmt seinem Körper das Malmaterial (Blut, Urin, Kot, Speichel, Schweiß, Tränen etc.) 5. Maler formt seinen Körper zu einer Skulptur, die ihm nach und nach immer weniger ähnlich sieht 6. Maler ,suiziert‘ sich – und wird weltberühmt“.17 4.2 Markierung einer ikonographischen Analyse der „Zerreißprobe“ Die Themen und Motive, die Brus in seiner Aktion aufruft, liegen nicht auf der Hand. Es lassen sich keine Verknüpfungen herstellen, die etwa eine Gesamtschau ergeben würden. Auch lassen sich keine Bezüge zu Motiven aus der Kunstgeschichte auf den ersten Blick erkennen. Nachweislich fertigte Brus im Vorfeld der Aktion viele Zeichnungen zu den einzelnen Positionen und zur Durchführung der Aktion an. Es handelt sich um nahezu anatomisch genaue Skizzen und Zeichnungen. Er bereitete jedes Motiv, das Material und die Bewegungen genau vor. Es ist erstaunlich, wie Brus sich mit äußerster Willensanstrengung in die Lage versetzen konnte, im Prozess der Aktion das Malmaterial dem eigenen Körper entnehmen zu können. Nicht die Bedürfnisse des Körpers zählten, sondern der willentliche Zugriff auf ihn. Die häufigeren Motive auf den ausgewählten Fotos sind die weiße Leinwand, die scharfen Gegenstände und der bloße Körper von Brus, sowie sein Blut. Er musste sich Selbstverletzungen zufügen, um sich selbst Blut als Material entnehmen zu können. 4.3 Ikonologische Interpretation der „Zerreißprobe“ Die „Zerreißprobe“ ruft keine Themen oder Motive der kollektiven Erinnerung und Erzählung auf. Die Themen und Motive sind zunächst disparat und zusammenhanglos. Es gibt auf den ersten Blick kein geordnetes Gefüge von Flächen und Farb- oder Motivbeziehungen. Damit handelt es sich um Bilder 17 Ebd., 84.

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ohne Bildlichkeit. Es sind also Bilder, die sich jeder Ästhetik und Bildtheorie zunächst entziehen. Und doch sind sie als Originale, als Kunstwerk durch das Museum als Kultort historisch authentifiziert. Wie lassen sich also bei diesem Kunstwerk Bedeutungen identifizieren? Eines steht fest: Mit einem Interpretationsansatz lassen sie sich nicht erfassen. Die Frage ist also, wie man über Bilder dieser Art sprechen und was man an ihnen betonen soll. Sie fallen nicht allein in die Kompetenz der Kunsthistoriker, da sie nicht als Gemälde gesammelt werden und für die Regeln von Kunst einstehen können. Es bleiben umstrittene Bilder, die dem Streit nur unter der Prämisse entzogen sind, dass sie als Kunstwerk historisch gelten können und damit historisch authentifiziert sind. Ein Deutungsversuch der Aktion „Zerreißprobe“ lässt sich vornehmen, wenn eine Negativbestimmung von positiven Bestimmungsversuchen unterschieden wird. Nähert man sich ihr von der Negativbestimmung her, liegt die Stärke der „Zerreißprobe“ in ihrer Begründungsoffenheit. Sie lässt ein enormes Maß an Ambiguität zu. Jeder Interpretationsansatz könnte von einem anderen überlagert oder gar verdrängt werden. Die Aktion „Zerreißprobe“ wird durch die Begründungsoffenheit immer zeitgenössisch bleiben. Sie wird aber auch stets zu Abwehr und Protest reizen. Die Aktion „Zerreißprobe“ ist eine ikonische Meistererzählung: sie bleibt stets eine Störungszone. Versucht man die „Zerreißprobe“ nun positiv zu bestimmen, sind mindestens fünf Interpretationsideen bzw. Erzählvarianten möglich, die nun in wenigen Sätzen jeweils skizziert werden: Brus als lebendes Gegenbild zum christlichen Kultbild Die erste Interpretationsidee überzeugt m. E. am meisten. In dieser Erzählvariante lässt sich Brus als ein lebendes Gegenbild zum christlichen Kultbild beschreiben. Das christliche Kultbild hat zwar viele Facetten. So kann es sich in der Kunstgeschichte um eine Christusdarstellung handeln oder um ein Heiligenbild, nur um die beiden bekanntesten zu nennen. Meist handelt es sich um Ikonen. Eine besondere Kategorie Kultbild sind die s.g. „verletzten Kultbilder“. Leopold Kretzenbacher hat sich in der Erforschung dieses abendländischen Legendentyps im Jahr 1977 besonders verdient gemacht.18 Es handelt sich um Marianische Kultbilder in der Volksfrömmigkeit, die Blut und Tränen vergießen. Im Fließen von Blut und Tränen findet eine Art Verkörperung dieses Kultbildes statt. Die Heilige Maria wird zum lebenden Kultbild und die Ikone zu ihrem Stellvertreterbild. In der Aktion „Zerreißprobe“ inszeniert sich Brus als entblößten, blutenden und sich entleerenden Menschen. Damit wird die Erzählung eines 18 Kretzenbacher, Das verletzte Kultbild, 94 f.

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Christusbildes aufgerufen – jedoch nicht das eines schönen, stattlichen Mannes, sondern als Gegenbild dazu. Heiner Wilmer hatte dieses Gegenbild anfangs in seiner Begegnung mit dem blutenden Hund beschrieben. Brus trägt einen Strapshalter als mögliches Symbol für eine Prostituierte – und damit als ein Gegenbild zur Heiligen Maria. In seinen Zeichnungen und Fotografien von Aktionen finden sich bei Brus immer wieder Motive aus christlichen Kultbildern wie Nägel, die seine Hände oder andere Körperteile durchbohren. Der Heiligenschein findet sich ebenso als Motiv. Weitere Motive, die für Brus’ Werk charakteristisch sind, sind die Verwendung von schwarzer und weißer Farbe bei Aktionen der Selbstbemalung. Dabei brachte Brus seinen Körper durch große Mengen weißer Farbe vor einer weißen Leinwand nahezu zum Verschwinden. Sodann zog er einen breiten schwarzen Farbstrich von Kopf bis zu den Füßen, der seinen Körper gewissermaßen in zwei Hälften aufteilte. Damit inszenierte sich Brus als eine Art informelle Ikone mit einer Flächenaufteilung in Schwarz und Weiß. Er wurde zur Verkörperung von Malewitschs berühmtem Schwarzen Quadrat. Das Gemälde „Schwarzes Quadrat“ bezeichnete Malewitsch selbst einmal als Ikone. Brus als politischer Aktionskünstler Nun zur zweiten Erzählvariante. In der „Zerreißprobe“ vollzieht Brus die höchst denkbare Disziplinierung am eigenen Körper. Nicht nur, dass er dem Körper das Material entnimmt. Mit der Befriedigung der in der Öffentlichkeit tabuisierten elementaren Körperbedürfnisse setzt er sich dem Betrachter vollständig aus. Es gibt nichts Privates mehr. Eine Art Foucaultsches „Überwachen und Strafen“ vollstreckt er an sich selbst. Dadurch werden Disziplinierungsmaßnahmen wie z. B. staatliche Überwachung ins Leere geführt. Zu seiner Zeit als Aktionskünstler geriet Brus immer wieder wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses in Konflikt mit den Amtsautoritäten. Schließlich wurde gegen ihn ein Haftbefehl erlassen, dem er sich nur durch eine Flucht nach Westberlin entziehen konnte. Die radikale Kritik an der staatlichen Überwachung und Disziplinierung des Individuums in der Art, wie sie Brus inszenierte, wurde beispielsweise durch den russischen Aktionskünstler Pjotr Pawlenski oder den chinesischen Künstler Ai WeiWei aktualisiert. Pawlenski setzt die Nacktheit und Selbstverletzung als künstlerische und politische Mittel ein, um staatliche Übergriffe vorzuführen. Ai WeiWei überwachte sich selbst mit Hilfe einer Liveübertragung, die er ins Internet stellte – elementare Körperfunktionen eingeschlossen. In dieser zweiten Erzählung ist Brus ein politischer Aktionskünstler mit radikaler Kritik an staatlichen Übergriffen gegen das Individuum.

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Brus inszeniert die menschliche Natur In der dritten Erzählvariante verfolgt Brus ein anthropologisch-anatomisches Interesse an der menschlichen Natur. Seine Zeichnungen erinnern an die anatomischen Studien von Leonardo Da Vinci. Die Conditio humana interessierte Brus insbesondere in der frühen und mittleren Phase seiner künstlerischen Arbeiten. Brus’ Aktion als Aktualisierung der antiken Vorstellung eines homo sacer (Giorgio Agamben) Eine vierte Erzählvariante greift die Idee des homo sacer von Georgio Agamben auf. Der homo sacer ist die Verkörperung einer archaischen römischen Rechtsfigur. Zwar durfte er straflos getötet, aber nicht geopfert werden. Der homo sacer war ein Unberührbarer. Sacer bekommt demnach einen Doppelsinn: „verflucht“ und „geheiligt“. Im Anschluss an Foucault geht Agamben davon aus, dass die Biopolitik den Menschen auf einen biologischen Nullwert zurückzuführen versucht.19 Das nackte Leben wird zum Subjekt der Moderne. So wären KZ-Häftlinge oder Menschen auf der Flucht etwa die Aktualisierung des historischen Begriffs von homo sacer. Brus inszeniert das „authentische Portrait“ und dekonstruiert die Authentizitätsidee Die fünfte Erzählvariante schließlich geht von der Idee aus, dass es sich bei Brus um die Verkörperung und Inszenierung eines s.g. „authentischen Portraits“ handelt.20 Brus ist in der Durchführung seiner Aktion ein lebendes Modell bzw. ein lebendes Bild. Dieses lebende Modell ist der betrachtenden Person jedoch durch den zeitlichen Abstand nur noch in seiner Materialisierung als Kopie, Farbfotografie oder Film zugänglich. Die Fotografie und der Film geben das lebende Modell genauestens wieder. Damit inszeniert Brus die höchste Form des Authentischen, das jedoch Kopie bleibt. So werden die Unterschiede zwischen Original und Kopie verwischt, so dass eine Zuordnung des Authentischen nicht mehr möglich ist. Die Sehnsucht nach Authentizität als Idee der Moderne wird damit dekonstruiert. An dieser Stelle könnte die Idee der „Präsenz im Entzug“ und der Ambivalenzen der Bilder hermeneutisch weiter bringen. Mit der Formel „Präsenz im Entzug“ beschreibt Stoellger die Ambivalenzen ikonischer Performanz und 19 Agamben, Homo sacer, 190 ff. 20 Belting, Bild, 14.

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ikonischer Energien. Mit anderen Worten: Bilder machen etwas mit uns.21 Diese Performanz ist nach Stoellger der Grund für immer wieder auflodernde Streitereien um Bilder (z. B. die dänischen Mohammed-Karikaturen). Die Streitereien können mitunter so heftig ausfallen, dass es zu bilderstürmerischen Ausschreitungen kommen kann, zum Ikonoklasmus oder Iconoclash.

5. Fazit Brus ist das lebende Gegenbild zum christlichen Kultbild – Brus ist ein politischer Aktionskünstler – Brus erforscht die menschliche Natur – Brus aktualisiert in seiner Aktion die antike Vorstellung des homo sacer – Brus inszeniert die moderne Vorstellung von Authentizität und dekonstruiert sie. Es ließen sich andere Erzählvarianten und Interpretationsideen aufgreifen. Die Stärke von Brus ist die nahezu vollkommene Inszenierung von Begründungsoffenheit, die wiederum sehr heterogene Erzählstränge zulässt. Umso mehr erstaunt es, dass nahezu keine ausgereiften Interpretationshilfen zu Brus zu finden sind, obwohl ein zeitlicher Abstand bereits gegeben ist und er zum Kanon der zeitgenössischen Kunstgeschichte gehört. Indem er jedes geordnete Gefüge einer Bildfläche stört, stört er auch jedes geordnete Gefüge einer Erzählung. Und da keine Erzählung aus dem kollektiven Gedächtnis zunächst aufgerufen werden kann, macht die Interpretation von Brus’ Werk einen ratlos und unsicher in der eigenen Urteilsfähigkeit. Und genau dieses Störungsmoment lädt dazu ein, immer wieder neue Erzählungen zu wagen. Brus stört. Er ist ein Meister der Störungszonen und damit ein Erzählmeister, weil seine ikonische Erzählung einen stets zum Weitererzählen drängt. Und mit Erzählmeistern der Störungszonen kennt sich die Theologie aus. Denn Gott ist „nicht nett“ (Wilmer). Er stört und ist ein Erzählmeister der Störungszonen. Denn seine Geschichte geht stets weiter und drängt zum Erzählen.

6. Literatur Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt am Main 2002. Belting, Hans, Bild und Kult: eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990. Kretzenbacher, Leopold: Das verletzte Kultbild. Voraussetzungen, Zeitschichten und Aussagewandel eines abendländischen Legendentypus; Sitzungsberichte der 21 Stoellger und Klie, Präsenz, bes. 5–7.

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Bayerischen Akademie der Wissenschaften zu München, Philosophisch-Historische Klasse, München 1977. Panofsky, Erwin: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln 2002. Sabrow, Martin: Die Aura des Authentischen in historischer Perspektive, in: Ders., Saupe, Achim, Historische Authentizität; eine Publikation des Leibniz-Forschungsverbunds Historische Authentizität, Göttingen 2016, 29–43. Sachs-Hombach, Klaus (Hg.): Bildtheorien. Anthropologische und kulturelle Grundlagen des Visualistic Turn, Frankfurt am Main 2009. Schmitz, Britta (Hg.): Günter Brus. Störungszonen. Katalog anlässlich der gleichnamigen Ausstellung in der Nationalgalerie/ Staatliche Museen zu Berlin und den Martin-Gropius-Bau in Zusammenarbeit mit dem BRUSEUM / Neue Galerie Graz, Universalmuseum Joanneum, 12. März – 6. Juni 2016, Köln 2016. Stoellger, Philipp, Klie, Thomas (Hg.): Präsenz im Entzug. Ambivalenzen des Bildes. Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie Bd. 58, Tübingen 2011. Wilmer, Heiner : Gott ist nicht nett. Ein Priester auf der Suche nach dem Sinn, Freiburg im Breisgau 2013.

Stephan Ahrnke

Didaktik des Zuhörens. Wie das Hören lehren kann

Was die kleine Momo konnte wie kein anderer, das war : Zuhören. Das ist doch nichts Besonderes, wird nun vielleicht mancher Leser sagen, zuhören kann doch jeder. Aber das ist ein Irrtum. Wirklich zuhören können nur ganz wenige Menschen. Und so wie Momo sich aufs Zuhören verstand, war es ganz und gar einmalig. Momo konnte so zuhören, daß dummen Leuten plötzlich sehr gescheite Gedanken kamen. Nicht etwa, weil sie etwas sagte oder fragte, was den anderen auf solche Gedanken brachte, nein, sie saß nur da und hörte einfach zu, mit aller Aufmerksamkeit und aller Anteilnahme. Dabei schaute sie den anderen mit ihren großen, dunklen Augen an, und der Betreffende fühlte, wie in ihm auf einmal Gedanken auftauchten, von denen er nie geahnt hatte, daß sie in ihm steckten. Sie konnte so zuhören, daß ratlose oder unentschlossene Leute auf einmal ganz genau wussten, was sie wollten. Oder daß Schüchterne sich plötzlich frei und mutig fühlten. Oder dass Unglückliche und Bedrückte zuversichtlich und froh wurden. Und wenn jemand meinte, sein Leben sei ganz verfehlt und bedeutungslos und er selbst nur irgendeiner unter Millionen, einer, auf den es überhaupt nicht ankommt und der ebenso schnell ersetzt werden kann wie ein kaputter Topf – und er ging hin und erzählte alles das der kleinen Momo, dann wurde ihm, noch während er redete, auf geheimnisvolle Weise klar, daß er sich gründlich irrte, daß es ihn, genauso wie er war, unter allen Menschen nur ein einziges Mal gab und daß er deshalb auf seine besondere Weise für die Welt wichtig war. So konnte Momo zuhören!1

Das Zuhören der Momo bewirkt etwas bei den Menschen, die erzählen: sie wissen plötzlich mehr, sie können mehr und sie werden sich ihrer Selbst und ihres Wertes bewusst. Beim Zuhören der Momo geht es nicht nur um ein passives Aufnehmen des Erzählten oder um einen individuellen Konstruktionsprozess des eigenen Wirklichkeitsentwurfs. Bei Momo ist Zuhören mehr : es bewirkt etwas beim Erzählenden. Es ist die Zuhörerin, die das Erzählen und den Erzählenden durch ihr Zuhören direkt beeinflusst. Bei Momo ist das Zuhören nicht vom Erzählen abhängiges passives Verhalten, sondern wirkmächtiges Tun, das dem Erzählen nicht untergeordnet ist, sondern es in ge1 Michael Ende, Momo (1973), 15 f.

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wisser Weise zu bestimmen scheint.2 Zuhören gehört nicht nur zum Erzählen dazu, sondern es hat eine dem Erzählen mindestens gleichwertige, wenn nicht gar grundlegendere Funktion. Ich will in diesem Vortrag versuchen, diesem Verhältnis zwischen dem Erzählen und dem Zuhören nachzuspüren, denn das Nachdenken über das Zuhören sollte meiner Ansicht nach an einem Symposion zum Erzählen auf keinen Fall fehlen und es passt m. E. auch sehr gut zum religionspädagogischen Wirken der Jubilarin. Ich werde daher zunächst ganz punktuell an vier Beispielen darstellen, wie das Zuhören ganz allgemein verstanden und in unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen eingeordnet wird; wie dessen Verhältnis zum Erzählen bestimmt wird. Dann werde ich einen biblischen Text genauer nach dessen Vorstellung vom Hören und Zuhören untersuchen, um danach auf der Grundlage dieser Erkenntnisse Thesen für eine „Didaktik des Zuhörens“ zu wagen.

1. Die Ausgangslage 1.1 Allgemein Zunächst scheint mir eine einfache Beobachtung relevant: In unserer Gesellschaft wird derzeit, so scheint es jedenfalls mir, mehr Wert auf das Erzählen, auf das Sich-Selbst-Äußern, denn auf das Zuhören gelegt. Wer jemand sein will, muss sich äußern, muss erzählen, muss posten. Gleichzeitig wird in weiten Bereichen der Medienwelt der Zuhörende zwar dringend gebraucht, jedoch meist schlicht zum Adressaten, bzw. gar zum Konsumenten abgestempelt. Das Zuhören soll sich fast ausschließlich im Konsum des Erzählten erschöpfen. Es soll dazu da sein, dass das Erzählen identitätsstiftenden wie aber auch kommerziellen Sinn macht. Zuhören wird durch das Erzählen instrumentalisiert und damit zum unwichtigen Beipack.3 Das Zuhören verschwindet unter dem Klangteppich des Erzählens. Das Zuhören der Momo soll verstummen und wird nicht mehr gehört. Auch neuere neurowissenschaftliche Untersuchungen verweisen darauf, dass es nur natürlich sei, dass der Mensch lieber erzählt als zuhört, da das 2 Michael-M. Lippka macht auf diesen Umstand im Bereich der Physiotherapie, der Ergotherapie und Sprachtherapie aufmerksam, wonach das Hörverstehen eine für den Menschen wichtigere Funktion habe als das Sprachverstehen (Michael-M. Lippka, Leitfaden (2015), 21). Allerdings trennt Lippka nicht deutlich genug zwischen hermeneutischen, epistemologischen, neurowissenschaftlichen und therapeutischen Fragestellungen (ibid. 21 ff.). 3 Vgl. zum Wert des Zuhörens in der Medizin das 4. Freiburger Symposium zu Grundfragen des Menschenseins in der Medizin mit dem Titel Vom Wert des Zuhörens. Für eine Kultur der Aufmerksamkeit in der Medizin vom 10. bis 11. Juni 2016 in Freiburg (publiziert in Giovanni Maio, Auf den Menschen Hören (2017)).

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Zuhören für Menschen schlicht anstrengender sei als das Erzählen. Das Erzählen, vor allem von sich selbst („self-disclosure“), unterliege Belohnungsmechanismen. Erzählen befriedigt.4 Das Zuhören hingegen, gar das Zuhören einer Momo, muss ohne diese Aussicht auskommen und ist daher um ein vielfaches anstrengender.

1.2 Erzähl- und Erzähltexttheorien Wendet man sich den Erzähl- bzw. Erzähltexttheorien zu, dann ist es auffällig, dass in der wissenschaftlichen Fachliteratur zu den Narratologien bzw. Erzähltheorien das Zuhören ebenfalls eher marginalisiert wird. Nun mag das auch an der Fragerichtung dieser Textgattung liegen, aber : Wählt man zum Beispiel ein grundlegendes Einleitungswerk in die Erzähltextanayse, z. B. die 3. Auflage der sehr aktuellen Einführung in die Erzähltextanalyse von Silke Lahn und Jan Christoph Meister aus dem Jahr 2016,5 fällt doch auf, dass auch hier der Zu-Hörende, das Zuhören bzw. die Leser keine Rolle spielen. Obwohl die Zielsetzung der Einführung von den Autoren selbst als letztlich hermeneutisch bezeichnet wird, fokussiert diese auf die Analyse der Bedingungen der Konstruktion von Erzähltexten, ohne den Adressaten, die Leser, die ZuHörenden, in den Blick zu nehmen.6

4 Dies postulieren z. B. neue Untersuchungen des Psychologen und Neurowissenschaftlers Jasen P. Mitchell, nach denen das Reden, besonders das von sich selbst Reden („self-disclosure“), die gleichen Hirnareale wie Nahrung oder Sex aktiviert. Mitchel schreibt: „Despite the frequency with which humans disclose the contents of their own thoughts, little has been known about the proximate mechanisms that motivate this behavior. Here, we suggest that humans so willingly self-disclose because doing so represents an event with intrinsic value, in the same way as with primary rewards such as food and sex. Intriguingly, findings also suggested that both parts of “self-disclosure” have reward value. Although participants were willing to forgo money merely to introspect about the self and doing so was sufficient to engage brain regions associated with the rewarding outcomes, these effects were magnified by knowledge that one’s thoughts would be communicated to another person, suggesting that individuals find opportunities to disclose their own thoughts to others to be especially rewarding.“ (Diana I. Tamir / Jason P Mitchell, Disclosing information about the self is intrinsically rewarding (PNAS, May 22, 2012, vol. 109, no. 21) p. 8041). 5 Silke Lahn / Jan Christoph Meister, Einführung in die Erzähltextanalyse (2016). 6 Nach einer Einleitung zur Begriffsklärung, einer kurzen Geschichte der Erzähltheorie und einer Beschreibung der pragmatischen Formen des Zugangs zum Erzähltext, werden anhand von unterschiedlichen Erzähltheorien Analysen der „drei Dimensionen fiktionaler Erzähltexte“ vorgestellt, die sich an den Leitfragen Wer erzählt?, Wie wird erzählt? und Was wird erzählt? ausrichten. Die Fragen Wem wird erzählt? oder gar : Wer hört zu bzw. wer liest? werden hingegen ausgespart, obwohl diese m. E. auch bei der Analyse von Erzähltexten eine grundlegende Rolle spielen sollten.

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1.3 Die Methode des aktiven Zuhörens Dies scheint naturgemäß bei der für die Gesprächstherapie entwickelten Methode des aktiven Zuhörens anders zu sein. In dieser Methode steht tatsächlich das Zuhören im Mittelpunkt (klientenzentrierte Psychotherapie). Der Psychologe und Psychotherapeut Carl Rogers entwickelte in den 1980ern und 1990ern ein Stufenmodell, das beschreiben sollte, wie therapeutisches Zuhören erfolgreich gestaltet werden soll: es besteht aus 1. dem Wahrnehmen/ Erkennen, 2. dem Zuordnen, 3. dem Abwägen und Beurteilen und 4. aus dem Antworten. Auf dieser Grundlage wurden von unterschiedlichen Autoren Verhaltensweisen zum Aktiven Zuhören zusammengestellt.7 Ziel ist es dabei, Kompetenzen beim Zuhörenden zu entwickeln, die dazu dienen, den Erzählenden wertschätzend wahrzunehmen und diesem die Möglichkeit zu geben frei (von sich) in einem therapeutischen Setting erzählen zu können. Was das Zuhören betrifft, hat Roger sicherlich dazu beigetragen, dass es aus seinem Schattendasein als passives, wenig anstrengendes Reagieren herausgelöst wurde und als selbständiges aktives Tun in einem Kommunikationsprozess erkannt wurde. Roger zeigte, dass Zuhören eine Kunst ist, dass es besser oder schlechter geschehen kann, daher auch erlernbar ist, dass es die Kommunikation und deren Qualität direkt mitbestimmt. Aber : das Zuhören ist bei Rogers therapeutisches Mittel. Es erscheint in gewisser Weise „sinnentleert“ in guter Absicht: der Therapeut will dem Klienten das Erzählen von sich ermöglichen, richtet sich dadurch an diesem aus und versucht inhaltlich sich ganz aus dem Kommunikationsgeschehen zurückzuziehen. In den Adaptionen der Theorie Carl Rogers bleibt dieses Verständnis des Zieles des Zuhörens meist bestehen. Das aktive Zuhören wird als Anleitung zum Verhalten von Therapeuten in therapeutischen Situation verstanden. In der religionspädagogischen Adaption des Aktiven Zuhörens durch Franz Niehl und Arthur Thömmes wird dies ebenfalls sichtbar.8 Zwar machen die Autoren deutlich, dass Zuhören im Unterricht als Methode wichtig sei und auf der Seite der Lehrer*Innen geübt werden kann und auch soll. Doch werden auch hier der Lehrer bzw. die Lehrerin zu Therapeuten, das Zuhören zum therapeutischen Mittel. Als Konsequenz wird das Zuhören sehr lehrerzentriert beschrieben, indem sieben Verhaltensregeln für Lehrer*Innen aufgezählt werden, die alle mit „Der Lehrer muss…“ o. ä. beginnen. Dadurch wird deutlich, dass Zuhören zwar als Lehrerkompetenz im Religionsunterricht gewürdigt wird, dass das Zuhören aber letztlich nicht innerhalb eines kommunikativen Settings verortet wird, in dem das Zuhören selbst schon Wirk7 Vgl. Franz W. Niel / Arthur Thömmes, 212 Methoden (2014), 96.; Michael M. Lippka, Leitfaden Kommunikation (2015), 21 ff.; Alan J. Reiman / Lois Thies-Sprinthall: Mentoring and Supervision for Teacher Development (New York 1998). 8 Franz W. Niel / Arthur Thömmes, 212 Methoden (2014), 95 f.

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macht zeigt. Zuhören wird auch hier vielmehr zu einem therapeutischen Zwecken eingesetzt und letztlich auf diese Weise zu einem „Einreden auf“. Aber geschieht bei Momo nicht viel mehr? 1.4 Religionspädagogik / Religionsdidaktik In der religionspädagogischen Literatur kommt dem Zuhörenden in unterschiedlichen Formen und auf unterschiedlichen Ebenen Bedeutung zu, die im Einzelnen hier nicht aufgezeigt werden können. Repräsentativ sei hier nur auf den Artikel „Erzählen“ im WissenschaftlichReligionspädagogischen Lexikon aus dem Jahr 2016 verwiesen,9 der mit Sicherheit durch seine Verfügbarkeit in digitaler Form weite Verbreitung findet. Franz Wendel Niehl beschreibt hier aus seiner Sicht das Erzählen. Und auch hier wird dem Zuhören letztlich nur eine passive Rolle zugesprochen. Zwar beschreibt Niehl das Erzählen als „kommunikatives Handeln“ und erkennt, dass das Zuhören innerhalb dieses Kommunikationszusammenhanges ein durchaus aktives Tun sei. Niehl spricht von „erheblichen kognitiven und affektiven Leistungen“10 aus denen das Zuhören bestehe. Jedoch kommt in diesem kommunikativen Handeln dem Erzählenden die aktiv-bestimmende, dem Zuhörenden (bei Niehl dem „Adressaten“) eine im Kommunikationsgeschehen passive Rolle zu, die besonders darin gesehen wird, dass sie der Identitätsfindung des Erzählenden diene. Letztlich bleibt hier der Zuhörende als Adressat ein vom Erzählen und den Erzählenden Abhängiger. Die Eigenleistung des Zuhörenden hat allein Auswirkungen auf das eigene Verstehen der vorgegebenen Erzählung, nicht aber auf das Erzählen und den Erzählenden selbst. Sich Momo hingegen als Adressaten vorzustellen, fällt schwer.

2. Zuhören im biblischen Text: das Shema’ Israel Nicht nur Michael Ende hat entdeckt, dass dem Zuhören eine gewichtigere, eine wirkmächtigere Funktion in der zwischenmenschlichen Kommunikation zukommt und zukommen muss, als dies allgemein derzeit und auch in der religionspädagogischen Fachliteratur mitunter angenommen wird. Und tatsächlich kommt im Judentum und Christentum dem Hören und Zuhören eine schlichtweg zentrale Rolle zu, die bereits in biblischen Texten entfaltet wird. Um das Zuhören letztlich auch religionspädagogisch und religionsdidaktisch angemessener einordnen zu können, werde ich im Folgenden nun viel9 Franz W. Niehl, Art. Erzählen (2016). 10 Ibid.

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leicht den biblischen Text zum Hören und Zuhören, der zugleich als biblischer Zentraltext bezeichnet werden kann,11 genauer untersuchen auf der Suche nach dem, was das Hören und Zuhören ausmacht: das Shema’ Israel. Im Shema’ Israel und dessen näherem Kontext, Dtn 612, geht es theologisch zentral um das Hören und Zuhören. Das Hören wird hier nicht nur als Teil einer Kommunikation oder als Kommunikationsakt beschrieben, sondern eben letztlich als elementare Form des Glaubens allgemein. Ich werde diese Form des Glaubens zunächst entlang des Shema’ entfalten und auf der Grundlage dieser Erkenntnisse dann Thesen zu einer Didaktik des Zuhörens wagen. Dass es sich hierbei nicht um eine ausführliche exegetische Untersuchung handeln kann, liegt auf der Hand. Vielmehr geht es darum, in exegetischer Verantwortung herauszustellen, was mit Hören bzw. Zu-Hören in Dtn 6 gemeint ist,13 um diese Erkenntnisse dann in Thesen zu einer Didaktik des ZuHörens einfließen zu lassen.14

2.1 Hören vor Gott Hören ist im Shema’ Hören auf Gott. Die erste religiöse Pflicht besteht nicht darin zu predigen, zu interpretieren oder einfach von der eigenen Gottesbeziehung zu erzählen oder nach ihr zu leben. Die erste religiöse Pflicht besteht 11 Vgl. Braulik, Deuteronomium (2008a), 149; Karin Finsterbusch, Deuteronomium (2012), 10. 12 Die Frage, welche Verse zum Shema’ Israel gehören, ist strittig (siehe zum derzeitigen Diskussionsstand Eckart Otto, Deuteronomium 1–11 (2012), 793 f). Da liturgisch im synagogalen Gottesdienst Dtn 6,4–9 als Shema’ Israel bezeichnet wird, wird Shema’ Israel hier in diesem Sinne gebraucht. 13 Hören spielt im Kontext des Dtn nicht nur im Shema’ Israel im engeren Sinne (Dtn 6,4–9) eine Rolle. Da die Aufforderung zum Hören über Dtn 6,4–9 hinaus eine Rolle spielt (vgl. 5,1 und 6,3), werden auch diese Texte mit in die Untersuchung einbezogen. Allerdings müssen dabei Diskussionen z. B. zum Zusammenhang von Dtn 5 und 6 oder der Frage danach, ob Dtn. 6,1–3 den Abschluss von Kapitel 5 oder die Einleitung zu Dtn 6,4ff bilden, in den Hintergrund treten, soweit sie nicht für das Verständnis vom Hören direkt relevant sind. 14 Grundsätzlich sei vorweggenommen, dass sowohl ein synchroner, wie auch teilweise ein diachroner Zugang in diesem Fall ihre Berechtigung haben und in diese Untersuchung eingehen werden, da für die Frage der Bedeutung des Hörens im Kontext einer Erzähltheorie sowohl die erzählte Zeit, wie auch die Erzählzeit bzw. unterschiedliche Stadien der Überlieferungsgeschichte relevant sein werden (vgl. das Vorgehen von Karin Finsterbusch (Finsterbusch, Deuteronomium (2012)), über das in diesem Ansatz aufgrund der Relevanz der religiösen jüdischen Tradition aber hinausgegangen wird). Allerdings ist eine Aufnahme der jeweiligen Diskussionen, vor allem die diachrone Analyse betreffend, hier nicht möglich (vgl. dazu z. B. die weiterführende Literatur in Eckart Otto, Deuteronomium 1–11 (2012), 784–790). Die Frage der Textüberlieferung ist vielschichtig, ein eingehender Forschungsüberblick hier nicht möglich (siehe zu den Details besonders Eckart Otto, Deuteronomium 1–11 (2012), 778–781). Grundsätzlich wird auf MT zurückgegriffen.

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vielmehr darin, Gott bzw. dessen Mittler15 zu hören.16 Hören geht dem Erzählen voraus. 2.2 Hören als konstruktive Leistung Dieses Zuhören wird zunächst als stille Auseinandersetzung mit dem Gehörten beschrieben. Zuhören bedeutet nicht sofortige Diskussion des Gehörten, sondern vielmehr zunächst die individuelle konstruktive Einbettung des Gehörten in den je eigenen Wirklichkeitsentwurf. Das Zuhören hat in diesem Sinne eine Funktion, die das Erzählen nicht hat: es führt zu einer aktiven Änderung (mindestens aber Herausforderung) des eigenen Wirklichkeitsentwurfs. Während im Erzählen die eigene Wirklichkeitskonstruktion als Abbildung weitergegeben wird, ist das Zuhören erkennende Aktivität des Menschen: die aktive Auseinandersetzung mit dem Gehörten im individuellen Konstruktionsprozess. Bewährtes wird bewusst im eigenen Wirklichkeitskonstrukt verankert, Neues wird eingearbeitet und das Eigene dadurch verändert. Dies braucht Zeit und Energie. Auch dies zeigt, dass Zuhören anstrengend ist. Das Zuhören beeinflusst so zunächst zwar nicht das Erzählen, ist aber die Voraussetzung für menschliches innovatives und prägendes Wirken in seiner Umwelt. 2.3 Hören ist zu lernende Kompetenz Bei synchroner Betrachtung des Textes von Dtn 5 und 6 hat das Hören einen paränetischen Charakter. Das Volk Israel wird ermahnt zu hören.17 Eine Autorität außerhalb der potentiellen Hörenden (Gott / Mose, vgl. 6,2),18 verpflichtet zum Hören. Dies verweist zum einen auf die Priorität des Hörens vor dem Erzählen, zum anderen aber auch darauf, dass bereits den Autoren des 15 Zum Subjektwechsel des Promulgationssatzes in 5,31 und 6,1, das Mose zum Subjekt macht, siehe Eckart Otto, Deuteronomium 1–11 (2012), 782. 16 Strittig ist dabei zwar, um welche Art Text es sich bei Dtn 6–11 handelt. Gehen diverse Exegeten davon aus, dass es sich bei Dtn 6–11 um den dtn Gesetzestext handelt, postuliert Finsterbusch, dass Mose in Dtn. 6–11 „zunächst Verschiedenes in Bezug auf die Gesetze lehrt“, bevor er sie dann in Dtn 12,1–26,16 „bekannt gibt“ (Finsterbusch, Deuteronomium (2012), 82). Jedoch dürfte diese Frage keinen Einfluss auf das Verständnis des Hörens haben, geht es doch in beiden Fällen um den Willen Gottes, zu dem sich der Mensch ins Verhältnis setzen soll. Dennoch dürfte die Zielsetzung des Textes stärker auf einer Ermahnung zum Hören, Bewahren und Tun liegen, als Finsterbusch dies beschreibt. 17 Dieser Charakterzug des Hörens besteht auch dann, wenn bei synchroner Betrachtung 6,1 als Überschrift, 6,2–3 als Einleitung, 6,4–9 als Rahmen und erst 6,10–19 als Paränese beurteilt werden (Eckart Otto, Deuteronomium 1–11 (2012), 784). Sowohl in 5,1 wie auch in 6,3 wird Israel ermahnt zu hören, in 6,4 wird es imperativisch geboten. Zu Dtn 5–11 als „historische Legitimation der Gesetzesproklamation“ und „Ermahnung zur Beobachtung des Hauptgebots, allein Jahwe zu verehren“ im Gesamtkontext des Dtn siehe Georg Braulik, Deuteronomium (1986), 5. 18 Vgl. Georg Braulik, Deuteronomium (1986), 54.

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Textes bekannt war, dass das Hören zwar unerlässlich wichtig ist, aber eben auch anstrengend ist und daher vom Menschen gerne vermieden wird.19 Hören wird hier als zu erlernende und zu übende Kompetenz verstanden. Zur dieser Kompetenzentwicklung des Hörens gehört auch das Überwinden von „Hörhindernissen“. Als Hörhindernisse werden materielle Dinge, die den Menschen die Notwendigkeit des Hörens auf Gott vergessen lassen, genannt. In Dtn 6 wird die Furcht geäußert, dass die zweite Generation im gelobten Land, da sie durch die Güter des gelobten Landes gesegnet ist, nun YHWH vergessen könnte (vgl. 6,10–12)20 und konsequenterweise nicht mehr auf ihn hört. 2.4 Hören als religiöser Lebensinhalt Bei diachroner Betrachtung und besonders bei Hinzunahme der Wirkungsgeschichte des Shema’ Israel geht es beim Hören nicht nur um einen singulären menschlichen Akt, sondern um ein regelmäßiges Tun, geradezu um ein das Leben begleitendes und bestimmendes Tun.21 Zuhören ist Teil der religiösen Existenz. Diese definiert sich zunächst über das Hören und nicht über ein Erzählen. Im synagogalen Gottesdienst erinnert sich die Gemeinde regelmäßig an die Pflicht, zuerst zu Hören. Das Shema’ Israel ist „auch heute Bestandteil des täglichen Morgen- und Abendgebets, das jeder männliche Jude zu rezitieren verpflichtet ist“22. Beim Durchschreiten einer Tür oder eines Tores mit Mezuzot wird der oder die Gläubige daran erinnert, dass es bei seinem oder ihrem Glauben zunächst um das Hören geht. Das Hören wird so geradezu zum alltäglichen, ja ständigen Begleiter.23 Es geht darum, die Aufforderung zum Hören und damit das Hören selbst zum Lebensinhalt werden zu lassen.24

19 Signifikant ist in diesem Kontext natürlich auch der Gesetzescharakter des zu Hörenden. Was hier gehört wird, soll nicht nur freiheitlich mit der eigenen Wirklichkeitskonstruktion konfrontiert werden, sondern soll diese ändern und so zu bestimmten Lebensweisen führen. Gerade deshalb sind aber die Priorität des Hörens und das Erlernen der Kompetenz so zentral. 20 Vgl. auch Dtn 8,11. 21 Braulik spricht im Hinblick auf 6,2 von der „Geltung für das ganze Leben“ (Georg Braulik, Deuteronomium (1986), 54 f) und verweist zurecht darauf, dass es bei diesem Erinnern um das Erinnern YHWHs geht (ibid. 55), d. h. letztlich um ein lebenswichtiges Tun. 22 Georg Braulik, Deuteronomium (1986), 57. 23 Bei diesem Hören geht es zunächst nicht um ein interpretierendes Hören, sondern um ein repetitives oder ritualhaftes ständiges Sich-Öffnen für das zu Hörende. Darauf deutet auch der primäre Umgang mit diesen Texten als Rezitation hin (vgl. Otto im Rückgriff auf G. Fischer und N. Lohfink: Eckart Otto, Deuteronomium 1–11 (2012), 807). 24 Dtn 6,6–9 „verlangen, ,diese Worte’ auswendig zu wissen und sie im täglichen Leben präsent zu haben“ (Georg Braulik, Deuteronomium (1986), 56).

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Hören in diesem Sinne betrifft den ganzen Menschen.25 Das Hören wird zur Grundlage alles Weiteren. 2.5 Hören als Bekenntnis Wird das Shema’ Israel im religiösen Ritus des Judentums nicht nur gelesen, sondern wird es von der gläubigen Gemeinde immer wieder gemeinsam gesprochen (vgl. Synagogengottesdienst), dann ist die Ermahnung zum Hören und mithin das Hören selbst als religiöse Grundhaltung nicht mehr nur religiöse Pflicht und religiöses Handeln, sondern Bekenntnis.26 Hier nun entwickelt das Hören Wirkmacht über den Erkenntnisprozess des Hörenden hinaus: es wirkt sich nicht nur auf die Wirklichkeitskonstruktion des Hörenden aus, sondern wirkt auf Gott hin. Dieses Hören ist responsorisches Sprechen auf Gottes „ich bin Dein Gott“ hin.27 Bekenntnis in diesem Sinne, das Zuhören, ist der eigenständige Response auf Gottes Ansprache hin. In gewisser Weise steht dieses Zuhören dem Sprechen Gottes in keiner Weise nach: Gott spricht: ich bin dein Gott, das Hören antwortet: hier bin ich. 2.6 Hören macht sichtbar Doch das Hören, wie es im Shema’ verstanden wird und die religiöse Existenz prägt, entfaltet nicht nur im Hinblick auf den anredenden Gott Wirkung. Dieses Zuhören wird als Bekenntnis zum Zeichen, das die Welt, in der es auftaucht, beeinflusst. Besonders in Dtn 6,8–9 wird dies deutlich. Derjenige, der hört, wird durch sein Hören bzw. als Hörender in der Gesellschaft sichtbar.28 25 Dieser Befund kongruiert mit dem zentralen Gebot in 6,5: „Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft.“ Hier wird das Gottesverhältnis ganzheitlich und intensiv beschrieben. Von Gottes Seite her ist es persönlich, begleitend und achtgebend. Die menschliche Zuwendung zu Gott wird als ein Lieben beschrieben, das den ganzen Menschen durchdringt (Herz, Seele, Kraft). In einem solchen Gottesverhältnis kann das Hören nur ebenfalls den ganzen Menschen betreffend gemeint sein. Dass es hierbei um den ganzen Menschen geht, verdeutlicht auch die Wortwahl. „Das Motiv des ,Herzens’ steht Dtn 6,6 wie bereits in Dtn 6,5 für den Personenkern von Emotion und Intellekt.“ (Eckart Otto, Deuteronomium 1–11 (2012), 806). 26 Nach Finsterbusch (dies., Deuteronomium (2012), 84) ist Dtn 6,4 „Bekenntnisaussage“, nach Otto begegnet in Dtn 6,4–9 ein „Bekenntnis der Wir-Gruppe“ bzw. „geht es um die generationsübergreifende Sicherung des Bekenntnisses zu JHWH als dem ,einzigen Gott’, der Israel aus Ägypten herausgeführt hat“ (Eckart Otto, Deuteronomium 1–11 (2012), 783). Zu den Syntaktischen Schwierigkeiten der Bekenntnisformel in 6,4b siehe Eckart Otto, Deuteronomium 1–11 (2012), 794. 27 Damit ist Liturgie, das Gebet, der Gesang etc. in diesem Sinne „Hören“, d. h. die Wirklichkeit des Einzelnen veränderndes Tun. 28 Vgl. z. B. das Zeichen zwischen den Augen (Arm- bzw. Kopftefillin). Das Sichtbar-Werden betrifft dabei sowohl den privaten („Haus“), wie auch den öffentlichen

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2.7 Hören in und zur Gemeinschaft Ein weiterer Effekt des bekennenden Hörens ist, dass es in zweifacher Weise Gemeinschaft stiftet. Zum einen bindet das Hören als Bekenntnis in die Glaubensgemeinschaft der Bekennenden ein. Wurde auf der Erzählebene in Dtn 5,1–33 Israel zur qahal durch Bundesschluss und Dekalogpromulgation, konstituiert sich Israel im Shema’ durch das Hören und dies immer wieder. Zum anderen bindet das Shema’ dadurch in die Gemeinschaft des Volkes Israel ein, dass es in der identitätsstiftenden Erzählung des Deuteronomiums begegnet. Das Hören auf dieses Narrativ bindet in eben dieses Narrativ und damit in die Geschichte Israels mit ein. Der so Hörende wird Teil des Volkes, dessen Geschichte hier erzählt wird.

2.8 Hören als Lernen Das immer wieder bekennende Hören, welches das Shema’ fordert, bedeutet Lernen. Der Hörende konfrontiert seinen Wirklichkeitsentwurf immer wieder mit dem Wort Gottes, und arbeitet an der Integration desselben in den je eigenen Wirklichkeitsentwurf. Dies ist ein Lernprozess, der konstruktivistisch beschrieben werden kann. Das hörende Lernen führt nach Dtn zunächst nicht zum (Weiter)Erzählen, sondern zum Bewahren, zum Aufschreiben dessen, was gehört wurde.29

2.9 Hören und Lehren Nun bleibt das Shema’ Israel aber nicht beim Hören als konstruierendes Erkennen des Willens Gottes stehen, das zum Bekenntnis wird. Vielmehr verweist vor allem die „Musterkatechese“ in Dtn 6,20–25 darauf,30 dass dieses Raum („Tor“, d. h. Stadttore und Tore öffentlicher Gebäude z. B. Tempel und Palast) (vgl. Eckart Otto, Deuteronomium 1–11 (2012), 811). 29 Mehrfach wird auf diesen Zusammenhang hingewiesen: vgl. neben Dtn 6,3 (du sollst es hören und festhalten) auch Dtn 6,1. Hier werden die Gebote Gottes allgemein als Lehre bezeichnet; das Hören derselben daher als Lernprozess, der sich zunächst im Festhalten des Gehörten manifestiert (vgl. auch Dtn 5,1). In diesen Kontext gehört auch das Motiv des Erinnerns, das in Dtn 6 und vor allem dem liturgischen Gebrauch des Shema’ zentral ist. „Sollen ,diese Worte’ von Sh’ma’ Israel und Dekalog ,auf dem Herzen’ sein, so ist damit auch die Konnotation des Gedächtnisses verbunden (…)“ (Eckart Otto, Deuteronomium 1–11 (2012), 806). 30 Zum Verhältnis der Musterkatechese zum Shema’ Israel in Dtn 6,4–9 vgl. Eckart Otto, Deuteronomium 1–11 (2012), 822–825.

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Hören – und nur dieses – die Voraussetzung für das Lehren, und damit für das Erzählen, ist. Das Hören als lebensbestimmender und bekennender Lernprozess wird durch das Lehren der Hörenden wirkmächtig und erweitert so seine Wirksamkeit über den eigenen Lernprozess hinaus in die Welt. Dieser Umstand manifestiert sich bereits im Kontext des Shema’ Israel. Hören auf die Gebote steht im Zusammenhang eines Lehrprozesses.31 Innerhalb dieses Lehrprozesses nun hat das Hören eine zentrale Funktion. Es ist die Voraussetzung dafür, dass ein Mensch überhaupt erzählen kann. Das Erzählen ist identitätsstiftende Notwendigkeit, die sich aber aus dem Hören ergibt.32 Dieses Lehren aus dem Hören betrifft zunächst die Familienkatechese (vgl. 6,7: „du sollst sie deinen Kindern einschärfen“). Dieses hörende Erzählen bindet die nachfolgenden Generationen in das Volksnarrativ Israels ein, das Hören ist in diesem Fall Garant dafür, dass dieses Volksnarrativ weitergeschrieben/weitererzählt werden kann:33 „Wenn dich nun dein Sohn morgen fragen wird: Was sind das für Vermahnungen, Gebote und Rechte, die euch der HERR, unser Gott, geboten hat?, so sollst du deinem Sohn sagen: Wir waren Knechte des Pharao in Ägypten, und der HERR führte uns aus Ägypten mit mächtiger Hand; und der HERR tat große und furchtbare Zeichen und Wunder an Ägypten und am Pharao und an seinem ganzen Hause vor unsern Augen und führte uns von dort weg, um uns hineinzubringen und uns das Land zu geben, wie er unsern Vätern geschworen hatte.“ (Dtn 6,20–23)

Der Hörende erlangt durch das Hören seine Befähigung, das Hören selbst und das Gehörte zu lehren und damit andere in das Narrativ aus Dtn 6 einzubinden.34 2.10 Hören führt zur Gerechtigkeit Letztlich sei noch auf eine weitere wirkmächtige Konsequenz des Hörens verwiesen. Das Tun und Halten der Gebote Gottes wird in den Rahmenversen Dtn 6,1–3 und 7,11 von Mose gefordert.35 Dieses führt zu Israels Gerechtigkeit 31 Finsterbusch beschreibt Dtn 6,1–7,11 als „Lehrrede“ (vgl. Finsterbusch, Deuteronomium (2012), 83). 32 E. Otto verweist hier auf die „Generationen übergreifende Kontinuität der Traditionsvermittlung“ im Hinblick auf Dtn 6,20: „wenn dich morgen dein Sohn/Kind fragt“ (Eckart Otto, Deuteronomium 1–11 (2012), 822). 33 Vgl. auch das Motiv „du und dein Sohn und dein Enkel“ in Dtn 6,7.20–25 das nach E. Otto für „die Generationen übergreifende Traditionssicherung als Thema der Paränese“ steht (Eckart Otto, Deuteronomium 1–11 (2012), 792). Otto geht davon aus, dass aufgrund der „inklusiven Sprache des deuteronomistischen Deuteronomiums“ „auch die Frauen in Dtn 6,7 angesprochen sind und auch ihnen die Pflicht zur Unterrichtung der nachfolgenden Generation in Schema’ Israel und Dekalog obliegt“ (Eckart Otto, Deuteronomium 1–11 (2012), 806). 34 Vgl. zu den wahrscheinlichen Lehrmethoden auch Georg Braulik, Deuteronomium (1986), 57. 35 Vgl. Finsterbusch, Deuteronomium (2012), 83.

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(6,24.25). Nach Braulik motiviert 6,2 dazu, „eine Gesellschaftsordnung zu verwirklichen, die beglückt und das Leben gelingen lässt“36. Sedaqah ist hier nicht im Sinne einer iustitia distributiva (Aristoteles) oder einer Strafgerechtigkeit zu verstehen, sondern als „ein Verhältnis wechselseitiger Gemeinschaftsförderung“,37 das Jan Assmann im Hinblick auf den ägyptischen Ma’at-Begriff als iustitia connectiva bezeichnet.38 Das Hören dieser Gebote, dieser bekennende Lernprozess ist damit die Voraussetzung für eine Gerechtigkeit vor Gott, die sich in einer funktionierenden Gesellschaft niederschlägt.

3. Das (Zu)Hören Welcher Begriff des Hörens leitet sich nun aus dem Shema’ ab? Hören und Zuhören ist zunächst immer Hören auf Gott. Als solches ist es nicht allein eine menschliche Fähigkeit, sondern religiöse Pflicht, elementare Lebensform des Glaubens, die die Existenz des religiösen Menschen ausmacht. Ein Mensch, der nach den Vorgaben des Shema’ lebt, lebt hörend – selbst wenn er spricht. Epistemologisch entspricht dieses Hören einem Konstruktionsprozess, der im Innern des Hörenden abläuft und in dem Gottes Wort als das Gehörte mit der je eigenen Wirklichkeitskonstruktion in Verbindung gebracht wird (im positiven Sinne einer Herausforderung). Als solcher Prozess bedarf das Zuhören der Zeit. Es ist außerdem ein Prozess, der Energie und Anstrengung verlangt. Daher muss er erlernt und eingeübt werden. Wird das Hören und Zuhören auf diese Weise charakterisiert, gleicht es letztlich einem Lernprozess. Hören, hörend leben, heißt lernen. Hören als Lernprozess hat aber in der im Shema’ beschriebenen Weise nicht nur Effekte im Innern des Hörenden, d. h. auf dessen Wirklichkeitskonstruktion hin (wie dies von Niehl angedeutet wurde). Vielmehr wirkt das Hören, das Lernen, als Bekenntnis auch nach außen. Dabei ist Bekenntnis im Sinne eines vertrauenden Sich-Verhaltens-zu, nicht in einem normativen Sinne einer Zustimmung zu einem fremden Wirklichkeitsentwurf zu verstehen. Als solches wirkt das Hören zum einen auf Gott hin. Im Hören des Menschen sieht Gott, wie der Mensch jeweils zu ihm steht. Zum anderen wirkt das Hören als Grundlage menschlichen Verhaltens nach außen. Dies geschieht als Zeichen in der Welt und in der direkten Einflussnahme auf den Mitmenschen: es ist der Katalysator für das Lehren, dessen Grundlage es ist und das es durchdringt. Und es wird so zur Grundlage des menschlichen Miteinanders: der Mensch redet hörend mit dem Anderen und hört dem Anderen auch anders zu, weil er bekennend (im oben beschriebenen Sinne) zuhört, d. h. im 36 Georg Braulik, Deuteronomium (1986), 55. 37 Eckart Otto, Deuteronomium 1–11 (2012), 825. 38 J. Assmann, Ma’at (1990), 60–69.

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Verhältnis zu Gott zuhört und lehrt. Dadurch entsteht letztlich eine gerechtere Gesellschaft. Ist dies das Zuhören der Momo? Teilweise und auf unterschiedlichen Ebenen. In beiden Fällen geht das Zuhören eindeutig dem Erzählen voraus. Das Zuhören ist Grundlage des Erzählens. Es ist daher dem menschlichen Erzählen mindestens gleichwertig. In beiden Fällen hat das Zuhören Wirkmacht nach außen. Momos Zuhören verändert den Erzählenden. Das Zuhören des Shema’ verändert ebenfalls den Menschen. Aber es tut dies durch seine bekennende Wirkung auf Gott hin. Ist es Hören auf Gott, spiegelt sich dieser Gottesbezug sowohl im Erzählen, wie auch im Zuhören auf andere Menschen wider. Der bekannte Gott findet sich im Erzählen und auch im Zuhören jener, die ihn bekennen. Hört ein solcher Mensch nun einem anderen Menschen zu, liegt Gott in diesem Zuhören. Und wagt man es nun, dieses Zuhören christologisch einzubetten, Menschwerdung, Kreuz und Auferstehung mitzudenken, dann hört ein Mensch (wie Momo) dem anderen tatsächlich so zu, dass „der Schüchterne (…) frei und mutig, Unglückliche und Bedrückte zuversichtlich und froh werden, und wenn jemand meint, sein Leben sei ganz verfehlt und bedeutungslos und er selbst nur irgendeiner unter Millionen, (…) dann wird ihm, noch während er redet, auf geheimnisvolle Weise klar (…) dass er auf seine besondere Weise für die Welt wichtig ist“ (siehe oben).

4. 10 Thesen zu einer Didaktik des Zuhörens für den Religionsunterricht Ist das Zuhören im oben beschriebenen Sinne Lebensform des Glaubens, ist es wirkmächtiges Tun, das andere beeinflusst und dem Erzählen bzw. Lehren vorausgeht und dieses auf unterschiedlichen Ebenen prägt, beeinflusst es die Religionsdidaktik. Denn in dieser geht es um Lernende wie Lehrende, die (zu)hören und erzählen. Wurde letzterem im Lernprozess meist die aktive, dem (Zu)Hören hingegen die passive und untergeordnete Rolle zugesprochen, gilt es diese Zuweisung zu revidieren mit Folgen für das religionsdidaktische Konzept. Daher will ich nun noch einige Thesen zu einer solchen Didaktik anfügen: 1. Im Lernprozess ist das Lernen zunächst hörendes Lernen. Dies bedeutet, dass es ein konstruierendes individuelles Erkennen ist, bei dem die eigene Wirklichkeitskonstruktion mit Impulsen aus dem Hören konfrontiert wird. Beim hörenden Lernen geht es daher zunächst um die Eigenleistung des Hörenden (wie von Niehl bereits beschrieben), die aber in ein größeres

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Ganzes eingebettet ist (und so weit über Niehl hinausgeht; siehe unten).39 Lernprozesse in diesem Sinne müssen den Lernenden vor allem den Freiraum gegeben, selbst konstruierend aktiv zu werden. Das hörende Lernen ist anstrengend (vgl. oben zum Neurowissenschaftler Jasen P. Mitchell), weil es mit der aktiven Veränderung des je eigenen Wirklichkeitsentwurfes einhergeht. Im Gegensatz zu didaktischen Entwürfen, in denen die Äußerung im Mittelpunkt steht, muss bei Lernprozessen des hörenden Lernens im Blick bleiben, dass nicht nur die Lehrenden, sondern besonders die Lernenden viel leisten. Lernprozesse müssen auf diese Leistung der Lernenden sorgsam abgestimmt, Phasen der Erholung (auch z. B. durch Üben, Sicherung und Wiederholung) ein fester Bestandteil sein. Im hörenden Lernen muss dem Üben des Hörens ein zentraler Raum gegeben werden. Hörendes Lernen als anstrengender Prozess kann und muss geübt werden. Religionsunterricht in diesem Sinne muss Formen des Einübens des (ZU-)Hörens entwickeln und initiieren. Dabei muss gegenseitige Zuwendung (siehe Momo) eine zentrale Rolle spielen, die auf unterschiedliche Weise eingeübt und praktiziert wird. Der Sicherung des Gehörten muss in einem solchen Lernsetting eine zentrale und vor allem didaktisch bewusst angewandte Rolle zukommen. Sicherung wäre nicht nur Voraussetzung für etwaige Leistungskontrollen, sondern zunächst überhaupt Voraussetzung für das eigene hörende Lernen und damit auch für das Lehren und Beeinflussen der Umwelt.40 Lernprozesse des hörenden Lernens müssen Zeit für das Hören lassen. Lernraum und Lernprozess müssten durch diese Zeit geprägt sein, die zuhörendes Lernen ermöglicht. Gerade im Kontext des Religionsunterrichts und damit der zeitlichen Determinierung der Lernprozesse durch das Schulsystem bedarf es der Gestaltung von Lernprozessen, in denen Zeit keine Rolle zu spielen scheint. Neben dem jeweiligen Setting spielt hier das Verhalten der Lehrkräfte eine entscheidende Rolle, die mit dazu beitragen können, Lernprozesse des Religionsunterrichts durch didaktische Maßnahmen vom Zeitdiktat des Schulalltags zu entkoppeln, freilich ohne dabei die schulischen Vorgaben zu unterlaufen.

39 Die Kompetenz des Lehrens als Erzählen ist die passivere Kompetenz, da es bei ihr um die Weitergabe einer Wirklichkeitskonstruktion geht, die bereits besteht, während das Hören die Um-Konstruktion der eigenen Wirklichkeitskonstruktion bedeutet. Hören ist, so gesehen, aktiver als Erzählen. 40 Obwohl diese Art des RU sich durch individuelle Wirklichkeitskonstruktionen auszeichnet, ist in dieser Spielart konstruktivistischen Lernens eine Leistungsüberprüfung unproblematisch. Diese kann sogar auf zwei Ebenen geschehen. Auf der ersten Ebene in der Auseinandersetzung mit dem Gehörten, indem Lernende z. B. aufgefordert werden, ihr Konstruktionsleistung (Verarbeitung gehörter Wirklichkeitskonstruktionen in die eigene) darzustellen. Auf der zweiten Ebene in der Beobachtung von Lehrkompetenzen, die sich aus dem hörenden Lernen ergeben (z. B. in Kleingruppen, in denen Schüler und Schülerinnen andere lehren).

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6. Hörendes Lernen bedeutet außerdem einen großen Freiraum für die Lernenden. Hören als aktives Tun erfordert Freiheit aktiv werden zu können. Dies betrifft zunächst den Prozess des eigenen Konstruierens, d. h. Möglichkeiten des individuellen Umgangs mit den Lernimpulsen (siehe oben). Dann aber bedeutet es auch, dass den Lernenden als Teil des Lernprozesses, Möglichkeiten gegeben werden, zu lehren, d. h. ihrem Hören Wirkung nach außen zu verleihen. Das hörende Lernen bedeutet auf der einen Seite den vorgeschalteten aktiven, aber individuellen Prozess des Hörens, auf der anderen Seite aber immer auch den aktiven Prozess des hörenden Erzählens, in dem das Hören seine Wirkung zeigt. Lernende im hörenden Lernen sind daher immer selbst auch didaktische Experten, weil das Lehren zum hörenden Lernen dazugehört. Dies hat m. E. Konsequenzen für die Bestimmung des Kompetenzbegriffes, der derzeit besonders für den schulischen Religionsunterricht so zentral ist. Die gerne vollzogene Trennung zwischen Wissensaneignung, d. h. passivem Aufnehmen von Information, und Kompetenzentwicklung, d. h. der aus der Aneignung resultierenden Wirkung, wird hier m. E. nivelliert: im hörenden Lernen findet Wissensaneignung und Kompetenzentwicklung zwar in ihrer Abhängigkeit getrennt statt, doch nur in beiden gemeinsam besteht das Lernen: als Hören, das Wirkmacht besitzt. Durch das Hören wird das Verhältnis von Wissen und Können neu definiert. Es liegt beides im hörenden Lernen. 7.

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Das hörende Lernen steht durch seine bekennende Grundeinstellung immer im Verhältnis zu Gott. Diese bedeutet aber nicht, dass sich die hörend Lernenden einem normativen Anspruch ausgesetzt sähen bzw. solche zu erfüllen hätten. Zwar fordert das bekennende Hören eine individuell konstruierende Auseinandersetzung mit dem Gehörten,41 doch ist der hörend Lernende in seinem Konstruieren frei. Hörendes Lernen ist daher auch nicht mit der Evangelischen Unterweisung gleichzusetzen, bei der der Glaube der Lernenden das Ziel des Lernens war. Hören bedeutet zunächst, die eigene Wirklichkeitskonstruktion durch das Gehörte herausfordern zu lassen und diese dann mit der Wirklichkeitskonstruktion der anderen Lernenden zu vergleichen. Bekennend meint zuhörend im Sinne einer Bereitschaft, sich auf das Gehörte einzulassen, mit diesem umzugehen. So individuell das hörende Lernen als Konstruktionsprozess ist, so sehr ist es in Gemeinschaft eingebettet und zielt auf diese. Zum einen ist das Hören Teil eines Kommunikationsprozesses, für den die Gemeinschaft

41 Der „Lerngegenstand“ wäre das Gehörte. Mit ihm würden sich die Schülerinnen und Schüler zunächst auseinandersetzen. Das Gehörte muss nicht ein biblischer Text sein, sondern im Prinzip alles, was mit Gott und dessen Verhältnis zum Menschen und der Welt zu tun hat. Hörender Religionsunterrricht ist kein Bibelunterricht oder Glaubensunterricht, sondern Ort der individuellen, aber gemeinschaftsbildenden, Auseinandersetzung mit den Themen des Lebens. Es können dies all jene Themen sein, die in Bildungsplänen genannt werden.

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des Lernprozesses, Schüler bzw. Schülerinnen wie Lehrer und Lehrerinnen, konstitutiv ist. Die Beteiligten des Lernprozesses sind Hörende, die zu Lehrenden werden. Die Lerngemeinschaft erfährt auf dieses Weise eine besondere Bedeutung, die didaktisch bedacht werden muss. 9. In der Lerngemeinschaft des hörenden Lernens entfällt eine Unterscheidung zwischen Lehrenden und Lernenden, da beide hören und beide aus ihrem Hören heraus lehren. Die besondere Aufgabe der Religionslehrer*Innen bestünde vor allem darin, Hörende zu sein – gegenüber den Inhalten ihres Faches, aber auch besonders gegenüber den Lernenden. Religionslehrer*Innen in einem solchen Setting müssten außerdem ihre Schülerinnen und Schüler als Lehrende verstehen. Ihre Aufgabe bestünde darin, diese Vorstellung im Unterricht lebendig werden zu lassen, um den Schülerinnen und Schülern so das hörende Lernen zu ermöglichen. Dazu würde auch die Gestaltung des Lehr-/Lernsettings, z. B. des Raumes, der Lerngruppe und die Auswahl dessen, was „gehört“ werden soll, gehören.42 10. Da hörendes Lernen letztlich Gerechtigkeit in der Gesellschaft zum Ziel hat, muss es Ziel dieser Art des Unterrichts sein, nach außen auf eine bessere Gesellschaft hin wirken zu können, sei dies durch die Schülerinnen und Schüler in ihren jeweiligen privaten Kontexten, oder durch Aktionen und Projekte des Religionsunterrichts, durch die in die Schulgemeinschaft oder die Gesellschaft vor Ort hineingewirkt wird. Hörendes Lernen bedeutet Lernen mit Wirkung nach außen vor Ort für eine bessere Zukunft.

Literatur Assmann, Jan: Ma’at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten, München 1990. Braulik, Georg: Deuteronomium 1–16,17. Die Neue Echter Bibel, Würzburg 1986. Ende, Michael: Momo oder die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte. Ein MärchenRoman, Stuttgart 171973. Finsterbusch, Karin: Deuteronomium. Eine Einführung, Göttingen 2012. Lahn, Silke / Meister, Jan Christoph: Einführung in die Erzähltextanalyse, Stuttgart 3 2016.

42 Zuhörender Religionsunterricht in diesem Sinne ist kein therapeutischer Religionsunterricht. Die Methode des aktiven Zuhörens als säkulare Methode für den Religionsunterricht nutzbar zu machen (vgl. Niehl), halte ich für schwierig, da dabei das Zuhören allzu leicht zum „Sprechen“ wird. Zuhören im obigen Sinn ist hingegen eine Grundeinstellung gegenüber Gott und Mitmensch.

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Lippka, Michael-M.: Leitfaden Kommunikation im therapeutischen Alltag. Physiotherapie, Ergotherapie, Sprachtherapie. Von A wie „Aktives Zuhören“ bis Z wie „Zeitdruck“, München 2015. Maio, Giovanni (Hg.): Auf den Menschen hören. Fu¨ r eine Kultur der Aufmerksamkeit in der Medizin, Freiburg 2017. Niehl, Franz W. / Thömmes, Arthur : 212 Methoden für den Religionsunterricht, München 2014. Niehl, Franz W.: Art. Erzählen, in: Das Wissenschaftlich-Religionspädagogische Lexikon (2016), https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/100026/. Otto, Eckart: Deuteronomium 1–11. Zweiter Teilband: 4,44–11,32, Herders theologischer Kommentar zum Alten Testament, Freiburg 2012. Tamir, Diana I. / Mitchell, Jason P.: Disclosing information about the self is intrinsically rewarding, in: PNAS, May 22, 2012, vol. 109, no. 21, 8038–8043.

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Erzählen lernen aus dem Alten Testament Die Geschichte von David und Goliath als Lehrstück narrativer Theologie und Pädagogik

1. Grundlegendes zur theologischen Funktion des Erzählens im Tenach Wie kann ich einen Zugang zu Gott finden und sein Wesen kennen lernen? – Die erste und mit Abstand ausführlichste Antwort des Alten Testaments auf diese Frage lautet: Der Königsweg zu Gott ist das Erzählen. Die Bedeutung der narrativen Theologie ist im Alten Testament überragend, sodass der berühmte Alttestamentler Gerhard von Rad zu Recht formulieren konnte: „Die legitimste Form theologischen Redens vom Alten Testament ist deshalb immer noch die Nacherzählung […] So wird sich also auch eine Theologie des Alten Testaments im rechten Nachsprechen dieser Geschichtszeugnisse zu üben haben, wenn sie die Inhalte des Alten Testaments sachgemäß erheben will.“1 Der jüdische Bibelwissenschaftler Isaac Leo Seeligmann hat ähnlich formuliert: „Für den alttestamentlichen Menschen ist die Geschichte die Denkform des Glaubens. Gott ist ihm vor allem der Herr der Geschichte. Was geschieht, gilt als von Gott gewirkt, Geschichte ist Handeln Gottes“2. Trotz aller Vorahnungen von Rads und Seeligmanns, dass die reale Geschichte ganz anders ausgesehen haben könnte, ist ihr Denken doch noch von dem großen historischen Optimismus geprägt, dass die biblische Erzählung im Wesentlichen dem geschichtlichen Ablauf folgt. Diese Sicht wurde aber zunehmend erschüttert und hat sich im Kontext der aktuellen archäologischen Forschungen als unhaltbar erwiesen.3 Das Bild, das die Bibel bietet, ist kein dokumentarisches „Foto“, sondern eine idealtypische Konstruktion, also von Programmen geleitete „Historienmalerei“. Geschichtserzählungen mögen historische „Kerne“ haben, deren genauer Umfang jeweils sehr schwer zu ermitteln ist,4 aber um sie angemessen zu verstehen, muss man viel stärker als bisher auf das Erzählen als theologisches Ausdrucksmittel und als religionspädagogisches 1 von Rad, Theologie des Alten Testaments, Band I, 1962, 134 f. 2 Seeligmann, Menschliches Heldentum, ThZ 19, 385. 3 Vgl. die vielleicht radikalste Trennung und Entgegensetzung von „normaler“ Geschichte Israels, die ziemlich unbedeutend gewesen sei, und der „erfundenen Geschichte“, die aus der nachexilischen Zeit stamme und das Judentum als Religion begründet habe und dadurch von höchster Wichtigkeit für die Weltreligionen wurde, beim Altorientalisten Levirani, Israel’s History. 4 Vgl. die recht ausgewogene Darstellung für Theologen von Frevel, Geschichte Israels, 22018.

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Instrument abheben. Fiktionen, die sich in das Gewand historischer Erzählungen kleiden, haben bedeutende Funktionen. Der Kanon der Erzählungen wird zum „Lehrer der nachexilischen Gemeinde“5 und damit auch zum magister vitae in der Gegenwart. Der Umfang der Geschichts-Erzählungen ist schon prozentual sehr hoch. Die Textmasse von Genesis bis 2 Könige, von 1+2 Chronik, Esra und Nehemia, Esther, plus den griechisch überlieferten Schriften Tobit, Judit, 1 + 2 Makkabäer umfasst in der mir vorliegenden deutschen Ausgabe (der Einheitsübersetzung, welche die Apokryphen einschließt) 560 von 1071 Druckseiten, also ca. 52 % des Alten Testaments. Nach dem Hebräischen Kanon sind es von Genesis – 2 Könige 674 S. + Esther 15 S. + Esra + Nehemia + 1 + 2 Chronik 163 S. insgesamt 844 von 1574 Seiten der Biblia Hebraica Stuttgartensia, also ca. 53,6 %. Dazu kommen in jedem Fall noch die historisch-narrativen Elemente in der Prophetenliteratur sowie in den Geschichtspsalmen. Allerdings findet sich umgekehrt innerhalb der Geschichtswerke umfangreiches Material ganz anderer Gattungen, z. B. Rechtstexte, Bauanleitungen und Kultordnungen, die vom Bereich Geschichte wiederum abgezogen werden müssen. Dennoch ist die narrative Theologie mit etwas mehr als der Hälfte der Texte die Königsdisziplin der alttestamentlichen Gottesvermittlung; schon deshalb muss dieser Weg zu Gott in einer textnahen Religionspädagogik einen breiten Raum einnehmen. Dabei geht es im Rahmen der Pädagogik nicht um Rekonstruktion von „History“ (= Realgeschichte) [das leistet die Disziplin „Geschichte Israels“, die wie gesagt einen weithin anderen Verlauf der Geschichte ausgearbeitet hat, als ihn die kanonische Darstellung vorstellt], sondern um die Analyse der in den „Stories“ (= Erzählungen) involvierten Gottesbilder sowie deren erzieherischen Intentionen bzw. Effekten.6 Der Zeitraum des Handelns Gottes, über den im (griechischen) Alten Testament erzählt wird, reicht von der Erschaffung der Welt bis zur Wiedereinweihung des Temples nach der Schändung durch Antiochus IV. im Jahre 164 v. Chr. (Im jüdischen Kalender ist das vom ersten Schöpfungstag im Jahre 0 bis zum Jahr 3596 nach Erschaffung der Erde.7 Dabei spielt das babylonische Exil eine große Rolle. Dass im Jahre 586 v. Chr. (3174 nach Erschaffung der Welt) Jerusalem komplett zerstört und das Königtum Juda vernichtet wurden, beschäftigt weite Teile der Geschichtserzählungen. Am Anfang mehr implizit, zum Ende hin explizit geht es im deuteronomistischen und im chronistischen Geschichtsbild um die Verarbeitung des als Trauma erlebten bzw. stilisierten Untergangs. Bei diesem umfassenden Narrativ ändert sich das Erzähltempo immer wieder : Auf weiten Strecken kann man für eine Seite Bibel ca. 20 Jahre 5 Nach Kellenberger, David als Lehrer, 2007. 6 Im Kontext von Theologie als erzählter Geschichte ergeben sich zwei Problemerörterungen, die hier nur angedeutet werden können: 1. das Problem des ideologischen Missbrauchs von Geschichte, 2. das Problem der massiven Gewalt in den Geschichtserzählungen. 7 Das Jahr 2018 n. Chr., Ingrid Schoberths 60. Geburtstag, entspricht im jüdischen Kalender dem Jahr 5778 nach Erschaffung der Welt.

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Geschichtsverlauf ansetzen. Manchmal verweilt die Erzählung sehr ausführlich auf wenigen Jahren, etwa bei der Erzählung von Josef und seinen Brüdern, von David und Salomo, dann aber fasst sie viele Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte stark zusammen. Der Übergang von der Familie der Jakobsöhne zur Geschichte des Volkes Israel z. B. passiert in einem Vers: Aber die Söhne Israels waren fruchtbar, so dass das Land von ihnen wimmelte. Sie vermehrten sich und wurden überaus stark; sie bevölkerten das Land. (Ex 1,7)

Nach Gen 15,13 dauerte die Geschichte des Volkes in der Sklaverei in Ägypten „vierhundert Jahre“. (Verglichen mit dem Neuen Testament, das mit dem Leben Jesu, dem Leben des Paulus und der ersten Jünger nur über ca. 65 Jahre darstellt, erst recht verglichen mit dem Koran, der keine zusammenhängende Geschichtsdarstellung bietet und überhaupt nur sehr wenige Geschichten erzählt, sondern häufig nur kryptisch knapp auf sie anspielt [weil er sie als bekannt voraussetzt], ist dieser umfassende Geschichtshorizont etwas, was dem Alten Testament von vorneherein sein spezifisches Profil verleiht. Schon durch die einmalige Fülle der Aspekte und Gattungen, durch die Menge der einprägsamen und bewegenden Stories und durch die immer wieder überraschenden Wendungen der Geschichte erhält dieser Teil der Bibel auch etwas Unterhaltsames, ja geradezu Fesselndes.) Die Erzählungen von Gottes Handeln in der Geschichte umfassen vier große Komplexe, die wir jeweils für sich betrachten müssen, die aber trotz zahlreicher Unterschiede und Spannungen in gewisser Weise doch als Einheit gelesen werden wollen. Diese Literaturwerke selbst stammen aus einem Zeitraum von ca. 850 Jahren und verteilen sich folgendermaßen: 1. Pentateuch (Gen-Dtn) Urgeschichte (Gen 1–11, von der Erschaffung der Welt bis zur babylonischen Sprachverwirrung), Vätergeschichte (Gen 12–50, von Abrahams Berufung bis zum Tod Jakobs/ Israels), Josefsgeschichte (Gen 37–50, von der Geburt bis zum Tod Josefs), Mosegeschichte (Ex 1-Dtn 34, von der Geburt bis zum Tod des Mose, mit den zwei Schwerpunkten Exodus und Sinai-Offenbarung in Ex 20-Num 9). 2. Geschichte im Geist des deuteronomistischen Theologenkreises (Jos–2 Kön) Von Josua (Einzug, Eroberung und feierliche Verteilung des Landes Israel als Erfüllung der Verheißungen) über die Richter (Gefährdungen im Lande) und Samuel (mit der Entstehung des Königtums und den ersten Königen Saul und David) wird die Geschichte der Staaten Israel und Juda in den Büchern der Könige vom Glanzpunkt der vereinigten Monarchie unter Salomo bis zum sukzessiven Untergang des Königtums und der Rehabili-

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tation Jojachims im babylonischen Exil als schrittweiser Verlust des Landes erzählt. 3. Geschichte im Geist des chronistischen Theologenkreises (Esra, Nehemia, 1+2 Chr) Von den Genealogien der Menschheit bis hin zur nachexilischen Gemeinde unter Esra und Nehemia mit den drei Zentren Tempel, Kult und Stadt Jerusalem mit ihrer Stadtmauer. 3.1 Esra, 3.2 Nehemia 4.4 1 + 2 Chronik (sie bildet in den moisten Handschriften den Abschluss der Biblia Hebraica!) 4. Geschichtsschreibung in hellenistischer Zeit (von der assyrischen Bedrohung über die Existenzgefährdung unter den Persern bis zum Kampf gegen die Seleukiden, nur in der Septuaginta auf Griechisch enthalten) 4.1 Judit (griechisch) 4.2 Tobit (griechisch) 4.3 Esther (in Hebräisch und erweitert in Griechisch) 4.4 1 und 2 Makkabäer (griechisch) Das AT erzählt die „Geschichte“ Israels nicht in modernem Sinne. Vielmehr ist die Darstellung zutiefst theologisch und pädagogisch; Geschichte ist Zeugnis vom Handeln Gottes und implizite Anweisung zu einer entsprechenden Antwort der Menschen. Daher braucht es einen Hörer, der bereit ist, Gott in Geschichte(n) vorkommen und in sein Leben hineinwirken zu lassen. Kausalität, Analogie und Korrelation sind in den Erzählungen zu einem guten Teil aufgehoben. Denn die Naturgesetze können hier oft durchbrochen werden, viele Ereignisse stehen quer zu allem Erwartbaren. Durch Geschichten soll der Faktor Gott und sein zumeist geheimnisvolles Wirken in der Geschichte aufgedeckt und in seinem über viele Jahrhunderte währenden inneren Zusammenhang, dem sog. „Plan Gottes“ (Weish 9,13), verfolgt werden. Alttestamentliche Geschichte(n) wollen Gott verkündigen und ein Wirklichkeitsverständnis entfalten, in dem eben dieser Gott in all seiner Macht, Freiheit und Unverfügbarkeit die entscheidende Rolle spielt. Die „historischen“ Texte haben einen Sitz im Leben in der religiösen Unterweisung; sie gehören ihrem Wesen nach in den Gottesdienst der Gemeinde, wo sie verlesen und gepredigt wurden, und von dort her in den Alltag hineinwirken. Sie entfalten das Gott-, Menschenund Weltverständnis spezifischer Gruppen und Zeiten, die ihre Erfahrungen jeweils deuten und zu bestimmten Tun motivieren wollen. Dies wird daran deutlich, dass der alttestamentliche Narrativ eine eigenartige Verwebung von drei Hauptfäden aufweist:

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A) Geschichte Gottes: Der eine und im Zentrum entscheidende Erzählfaden ist die Geschichte Gottes: Dieser Mythos (= „Geschichte von Göttern“) ist die eine „Megastory“: Gott (Elohim und JHWH) schafft sich im Anfang seine Welt, er schafft sich im Menschen ein Gegenüber nach seinem Bilde (Gen 1+2). Gott, die Welt und der Mensch sind „sehr gut“. Gott schließt mit dem Menschen, der ihm als „Imago dei“ entspricht, einen Schöpfungsbund, der zum Lieben und Mehren, zum Unterwerfen der Erde und der Tiere, d. h. zum „dominium terrae“ ermächtigt. Aber Gott wird in seiner Liebe sehr bald tief enttäuscht; der Plan geht durch die Sünde der Menschen völlig in die Brüche und Gott bereut, was er getan hat (Gen 3–6). Da er aber die Welt und den Menschen weiter liebt, gerät er in einen inneren Zwiespalt. Er schickt ein weltweites Zorngericht (Gen 6–8), lässt aber dennoch in einer Arche Mensch und Tier überleben. Er macht mit Noah eine gnadenhafte Ausnahme und versucht einen Neuanfang in Gestalt des Noah-Bundes (Gen 9) mit dem Bundesszeichen des Regenbogens. Dann erwählt er sich in Abraham erneut einen Bundes-Partner (Gen 12; 17) – Bundeszeichen ist die Beschneidung – mit dem und dessen Nachkommen er selbst mitzieht, bis hinab nach Ägypten. Sein eigentlicher erster Wohnsitz ist der Gottesberg Sinai. In Ägypten vermehren sich die Israel-Familien zu einem großen Volk, werden aber als Sklaven ausgebeutet und grausam unterdrückt. Als Israel jung war, habe ich es geliebt, und ich rief meinen Sohn aus Ägypten (Hos. 11,1)

In einer gewaltigen Befreiungstat führt er sein Volk Israel nach einem langen Aufenthalt von 400 Jahren aus der Sklaverei heraus und bringt ein gewaltiges Strafgericht über die Götter Ägyptens (Ex 12,12). Er tut große Wunder, erweist sich nach 10 furchtbaren Plagen, die im Tod der erstgeborenen Ägypter gipfeln, im Kampf als der Stärkere und siegt (Ex 7–12). Von Ägypten zieht er an der Spitze seines Volkes triumphal aus und führt in Gestalt von Wolkensäule und Feuerschein den Exodus an. Am Schilfmeer führt er einen heiligen Krieg und wirft das Heer der Ägypter, die Israel in die Knechtschaft zurückzwingen wollten, vernichtend ins Meer (Ex 14 f.). Auf sonderbaren Wegen führt er auch die Wüstenwanderung seines Volkes selbst an (Ex 16-Jos 1) und bringt sie zum Sinai, seinem Heimatberg. Hier offenbart er sich selbst in seinem Namen und mit seinem Willen ausführlich an Mose (Ex 3–6 wieder in Ex 20-Num 9), der seinen Willen Israel kundtut. JHWH schließt daselbst mit dem Volk den Sinai-Bund (Ex 20), der das Volk darauf verpflichtet, die Tora (= die Weisung Gottes zum Leben) gewissenhaft zu befolgen. In der Wüste lässt er sich ein mobiles Heiligtum erbauen (Ex 25–40), das seinen Tempel in Jerusalem de facto vorwegnimmt; mit dem „Zelt der Begegnung“ hat Gott ein vollausgestattetes „Wohnmobil“, in das er einzieht. Besonders in Gestalt der „Bundeslade“ zieht Gott ins gelobte Land ein (Jos 2). Der Kasten aus Akazienholz mit den bescheidenen Maßen von ca. 1,00 x 0,60 x 0,60 m (Ex 25,10, wenn man eine Elle = 40 cm rechnet) soll innen und außen mit reinem Gold überzogen und mit einem goldenen Deckel (der Kapporät, vgl. Lev 16,2.13–16)

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abgedeckt gewesen sein; mit zwei Stangen durch vier goldene Trageringe soll er gut zu transportieren gewesen sein. Er war theologisch hoch aufgeladen. In seinem Inneren sollen sich die beiden Tafeln des Dekalogs (Dtn 10,2; 1 Kön 8,9; 2 Chr 5,10) und der grünende Staab des Aaron (Num 17,25) befunden haben; sie sind Symbole für das Recht Gottes und den legitimen Kult. Die Lade war als Symbol der Macht Gottes stets in der Schlacht mit dabei, als ER in einem gewaltigen JHWH-Krieg das Land als sein Land eroberte und per Los an die Stämme Israels verteilte. Er selbst wohnt zunächst in Silo (Jos 18–2 Sam 6,17). Schließlich erwählt JHWH für sich und seinen Namen einen neuen Wohnort, an dem er sich mit all seiner Kabod (Herrlichkeitserscheinung) dauerhaft niederlässt: den Tempel von Jerusalem auf dem Zionsberg. Nach 1 Kön 8 hat Salomo für JHWH ein Haus gebaut und in der symbolischen Gestalt der Lade zieht Gott in das Allerheiligste des Tempels von Jerusalem ein, um dort hinter einem Vorhang im Dunkeln zu wohnen. Allerdings wird ihm der Ort wegen der schlechten Nachbarschaft der bundesbrüchigen Könige und des verderbten Volkes zunehmend leid, so dass er schließlich enttäuscht und erbost auszieht und seinen Tempel und seine Stadt Zion im Zorn zerstören lässt. Im Jahr 586 v. Chr. richtet Gott gleichsam eine zweite Sintflut an und vernichtet durch die Hand der Babylonier seine Wohn-Stadt und seinen Tempel total und macht sie dem Erdboden gleich (2 Kön 25), ja er entleert sogar sein gesamtes Land (2 Chr 36). Freilich nur für eine Zeit von etwa 60 Jahren. „Im ersten Jahr des Kyros“, der im Jahr 539 v. Chr. das babylonische Weltreich übernimmt, setzt die Rückbewegung Gottes nach Jerusalem ein. Der mächtigste Mann der Welt, der persische König bekennt: „JHWH, der Gott des Himmels, hat mir alle Reiche der Erde verliehen. Er selbst hat mir aufgetragen, ihm in Jerusalem in Juda ein Haus zu bauen. Jeder unter euch, der zu seinem Volk gehört – JHWH, sein Gott, sei mit ihm –, der soll hinaufziehen.“ (2 Chr 36,24)

Zug um Zug lässt JHWH seinen Tempel und die dazugehörige Stadtmauer wiedererrichten (Esra und Neh), um dann wieder feierlich in die „Stadt Gottes“ (Ps 45,8; 87,3) einzuziehen (Ez 40–48). Im Alten Testament ist damit die Wanderschaft Gottes zu einem Ende gekommen. Jerusalem ist seine definitive (Wohn-)Stadt. Gott wird auch die zukünftige Geschichte in Jerusalem gestalten. B) Geschichte des Volkes Israel: Zum zweiten entfaltet das AT die Geschichte des Volkes Israel. Nachdem die Welt als Bühne für die Volksgeschichte entstanden ist (Adam und Eva, Kain und Abel, Noah, Turmbau von Babel), wird das Schicksal der Gründungsväter und Erzmütter Israels in neun großen Epochen geschildert, die sich nicht mit den Buchgrenzen decken: [0. Urgeschichte der Menschheit] 1. Väterzeit (Gen 12–36), Stammväter des späteren Volkes

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Volkswerdung und Ägyptenaufenthalt (Gen 37-Ex 15) Auszug aus Ägypten und Wüstenzeit (Ex 16-Num 10) Eroberung des Landes (Num 22-Jos 20) Zeit der staatenlosen Stämmebündnisse (Ri –1 Sam 8) Zeit des Königtums (1 Sam 12–2 Kön 24) Untergang des Staates und Babylonisches Exil Rückkehr aus dem Exil und Leben unter fremden Herrschern (2 Chr 36,22-Neh 13,9; 1 Makk // 2 Makk) 9. Neugründung des Königtums mit Hilfe Roms (ab 1 Makk 15; 2 Makk)

2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Nach Alexander dem Großen wird der Hellenismus die „Leitkultur“; in Gestalt des hasmonäischen Königtums erlangt das Volk Israel aber neue Staatlichkeit und alten Ruhm (1 + 2 Makk). Möglich wurde dies aber nur durch das Wohlwollen der neuen Supermacht: Rom (1 Makk 1,11; 8,17 f.; 12,1–3; 15,15–21). Das Imperium Romanum bestimmte die Geschichte Israels von ca. 150 v. Chr. für Jahrhunderte, was man auch aus dem Neuen Testament lernen kann. C) Geschichte des Landes Israel: Gegenstand der Erzählungen ist drittens die Geschichte des Landes Israel. Dieser Zug ist für den modernen Leser vermutlich am befremdlichsten, weil das Alte Testament das Land vielfach nahezu personalisiert und ihm sogar ein ethisches und kultisches Schamgefühl zuschreibt. Das Land Israel wird zu einer Bedeutung erhoben, die weit über „Heimat“ hinausgeht; es ist das „Heilige Land“. Dieses Land ist die Existenzgrundlage des Volkes; es schenkt ihm seine Früchte und verlangt umgekehrt respektvolle Behandlung: Wenn du in das Land kommst, das dir JHWH, dein Gott, zum Erbe geben wird, und es einnimmst und darin wohnst, so sollst du nehmen die Erstlinge aller Feldfrüchte, die du von deinem Lande einbringst, das JHWH, dein Gott, dir gibt, und sollst sie in einen Korb legen und hingehen an die Stätte, die JHWH, dein Gott, erwählen wird, dass sein Name daselbst wohne. (Dtn 26,1–3)

Seit Abraham, Isaak und Jakob der Besitz Kanaans verheißen wurde (es ist flächenmäßig so groß bzw. so klein wie das Bundesland Hessen), ging das Sehnen des Volkes auf dieses Land hin, besonders nach Zion. Bis sich die Landverheißung an Abraham (Gen 15) aber in der Landverteilung unter Josua (Jos 13–24) erfüllte, dauerte es viele Jahrhunderte. Die ideale Erfüllung währte dann aber nicht ewig. Das unwürdige Volk verwirkte sein Privileg, in diesem Land zu leben, und schändete das Land mit seinen Untaten. Obwohl es wusste, „so tut man nicht in Israel“ (2 Sam 13,12), beging es innerhalb seines geschenkten Erbbesitzes immer wieder schwere Sünden gegen seinen Gott, indem es andere Götter verehrte, Kult-Bilder anfertigte und viele andere Gebotsbrüche beging, sodass das Land es schließlich ausgespuckt hat (Lev 18,28;

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vgl. Lev 20,22). Besonders im chronistischen Geschichtskonzept geht es zentral um das Land. Israel ist hier nicht erst spät hineingezogen, sondern geradezu autochthon. „Das Heilige Land“ (2 Makk 1,7; Ps 78,54) wurde aber Jahrhunderte lang geschunden und entweiht; es musste viele Gräuel anschauen, von Sabbatschändung bis Götzendienst. Darum musste es für siebzig Jahre völlig entleert werden, damit es sich erholen konnte. „Das Land bekam seine Sabbate ersetzt“ (2 Chr 36,21). Nach dem Exil aber sollte die toratreue und JHWH suchende Gemeinde wieder in diesem Land wohnen und Gott dienen dürfen. „Siehe, wir sind heute Diener, und das Land, das du unseren Vorfahren gegeben hast, seine Frucht und seine Güter zu essen – siehe, wir sind darin Diener.“ (Neh. 9,36) Geschichtsschreibung im AT präsentiert sich als eine enge Textur aus Geschichte Gottes, des Volkes und des Landes Israel. Es ist fast eine Form von narrativer „Trinitätslehre“: Wer auf narrativem Weg Gott kennen lernen will, der muss sich mit dieser Form der „Dreifaltigkeit“ auseinandersetzen und die innige Verschmelzung von Gott, Volk und Land in den jeweiligen Phasen der über mehr als 1500 Jahre erzählten Geschichte nachvollziehen. Man darf dabei nicht übersehen, dass in manchen scheinbar rückblickenden Schilderungen de facto nach vorne geschaut wird. In der Erzählung über die Vergangenheit steckt sehr viel Selbsterkenntnis der Gegenwart, aber immer auch ein Stück Hoffnung auf die Zukunft. Das beste Beispiel dafür ist das erste Kapitel der Bibel. „Siehe, es war alles sehr gut“ (Gen 1,31) umschließt auch die Hoffnung: „Gott wird am Ende alles sehr gut machen“.8 Natürlich ist das Erzählen nicht alles! Daneben gibt es weitere Wege zu Gott; ich unterscheide 11 andere theologische Denkformen und Erfahrungsbereiche Gottes: das Recht, den Kult, das Beten, die ekstatische prophetische Erfahrung, die Apokalyptik, die weisheitliche Reflexion, die Skepsis, die Erotik, das Lernen von anderen Religionen, das Lesen.

2. Die Geschichte von David und Goliath als Lehrstück narrativer Theologie des Alten Testaments Ich möchte dem zentralen Geheimnis alttestamentlicher Theologie, der „art of story telling“, nunmehr genauer nachspüren und habe dazu als eine Art Lehrstück 1 Sam 17 ausgewählt. Es ist ja eine der sehr bekannten und wirkmächtigen Erzählungen aus dem Alten Testament,9 die sogar Eingang in die säkulare Alltagssprache gefunden hat. „David gegen Goliath“ bezeichnet die Auseinandersetzung zwischen zwei ungleichen Gegnern, ebenso beim Fußball (z. B. Bayern München gegen einen Amateuerverein) wie in der Politik (z. B. 8 Levin, Erinnerung, 2014. 9 Vgl. Nitsche, David gegen Goliath, 1998; ders., Viele Bilder, 2003.

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die Schlauchboot-Aktion der Umweltschutz-Organisation Greenpeace gegen gewaltige Walfang-Schiffe oder Bohrinseln). Allerdings ist diese Bezugnahme nur sehr oberflächlich, denn am Ende der biblischen Erzählung ist Goliath tot! (Was weder für die Bayern noch für Esso zutrifft.) Wie aber wird hier erzählt? Nach meiner Analyse entstehen die Spannung und der Reiz der Erzählung auch dadurch, dass unterschiedliche Ebenen miteinander verwoben werden.10 Im Falle der David-Erzählung geschieht dies durch eine einmalige Mischung aus folgenden sechs Komponenten: a) Ein historischer Bericht über das Kriegsgeschehen zwischen Israeliten und Philistern, das auch nach den Kriterien heutiger Geschichtsanschauung durchaus plausibel wäre: die Philister, eine wohl aus der Ägäis neu eingewanderte Volksgruppe, wollen das Land der Vorbewohner, der Israeliten, die ihrerseits erst kurz vorher das Land in Besitz genommen haben, erobern, diese wehren sich aber dagegen. Es kommt bei Aseka zum Kampf, den die Israeliten gewinnen und die Philister vernichtend schlagen. Problematischer ist schon, ob die Erzählung von einem stellvertretenden Kampf zweier Helden historisch ist. Das Motiv des Stellvertreterkampfes entstammt eher der griechischen Mythologie und Epik denn den historischen Quellen.11 Durch aktuelle Ausgrabungen von Aseka wird die Historizität des Berichteten noch fragwürdiger : Das Resultat, das die Lautenschläger-Azekah-Expedition, die seit 2012 von den Universitäten Tel Aviv und Heidelberg durchgeführt wird, erbracht hat, lautet: Aseka wurde am Ende der Spätbronzezeit um 1100, also 100 Jahre vor David, komplett zerstört und verlassen.12 Bis ca. 850 gab es eine Besiedlungslücke. Zur Zeit Davids gab es den Ort gar nicht; er wurde erst 150 Jahre nach David wieder besiedelt. Das bedeutet: Die Geschichte ist kein historischer Tatsachenbericht, sondern eben eine Geschichte. Das ist ein starkes Argument mehr für eine späte Datierung der Erzählung, wobei Alexander Rof8 mit anderen Argumenten wohl zutreffend in die Perserzeit datiert.13 b) Eine wunderhafte legendarische Übersteigerung, die den Bericht in die Nähe des Märchens rückt. Dazu werden drei Elemente verbunden: Zum ersten der sagenhaft gewaltige Vorkämpfer der Philister, Goliat, ein Hühne von 3,20 m Köpergröße14. Damit dürfte Goliath doppelt so groß sein wie ein damals normaler Mensch. Von diesem Monster, das eher einem Ork aus Tolkiens „Herrn der Ringe“ ähnelt, geht eine lähmende Angst aus. Er verfügt zweitens 10 Vgl. die Kommentare von Bar-Efrat 2007, Dietrich 2015 sowie Nitsche 1998, 22–101 (mit Perspektiven aus der Theaterwissenschaft), Garsiel, The valley of Elah battle, 2009. 11 Ducasse, un singulier combat, 2008; Frolov, inertextuality, 2011; Gerhards, Homer, 2015. 12 Vgl. Lipschits u. a. im Druck. 13 Rof8, David overcomes Goliath, 2015. 14 Vgl. Perlitt, Riesen, 1994.

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über ganz außergewöhnliche Waffen aus einem High-Tech-Material, nämlich Eisen, das zu einer analogielosen Rüstung verarbeitet wird (V.5–7). Er ist drittens provokativ und demütigt die Isareliten auch dadurch, dass er ihrem Gott flucht (V. 26.36.45). 40 Tage, eine symbolträchtige Zahl, tritt er morgens und abends auf und brüllt wie ein Ochse. Er, der gar keinen adäquaten Gegner auf der Welt hat, schreit nach einem Opfer, das er demonstrativ fertigmachen kann, um den unabwendbaren Sieg der Philister vor aller Augen zu vollziehen. Wie im Märchen wird diesem Giganten ein kleiner unscheinbarer Knabe entgegengesetzt, der jüngste Sohn des Isais. Durch das Motiv, dass er mit Waffen und Rüstungen gar nichts anzufangen weiß, wird der Kontrast stark herauspräpariert (so wie bei Floh, dem Helden in Walt Disneys Verfilmung des Arthus-Stoffes in dem Zeichentrickfilm „Die Hexe und der Zauberer“). c) Ein herzhafter Humor: Schon in dieser kontrastiven Motivkonstellation wird ein Lächeln, wenn nicht ein Lachen ins Spiel gebracht. Die Situation ist (auch) komisch. Gerade auch angesichts der existenzentscheidenden Bedeutung des Vorkämpfers ist es absurd und dadurch eben witzig, dass ein kleiner Junge mit dieser Aufgabe betraut werden sollte, wie Saul selbst feststellt: 33 Saul aber sprach zu David: Du kannst nicht hingehen zu diesem Philister, mit ihm zu kämpfen; denn du bist ein Knabe, dieser aber ist ein Kriegsmann von Jugend auf.

Die Art, wie sich dieser Junge um den Auftrag bewirbt, ist nur noch grotesk. Er gibt an wie ein lächerlicher Aufschneider und behauptet von sich, übermenschliche Kräfte zu haben. Er tischt die völlig unglaubliche Story auf, mit bloßen Händen Löwen und Bären erlegt zu haben – und das auch noch regelmäßig (man fragt sich, warum ihn das nicht schon längst zum berühmten Helden hat werden lassen): 34 David aber sprach zu Saul: Dein Knecht hütete die Schafe seines Vaters; und kam dann ein Löwe oder ein Bär und trug ein Schaf weg von der Herde, 35 so lief ich ihm nach, schlug auf ihn ein und errettete es aus seinem Maul. Wenn er aber auf mich losging, ergriff ich ihn bei seinem Bart und schlug ihn tot. 36 So hat dein Knecht den Löwen wie den Bären erschlagen, und diesem unbeschnittenen Philister soll es ergehen wie einem von ihnen.

Saul hätte ihn wegen seiner Aufschneiderei eigentlich auslachen und wegschicken müssen. Wie unfähig David ist, in der adäquaten Ausrüstung eines Soldaten auch nur zu laufen, ist fast schon zum Piepen: 38 Und Saul legte David seine Rüstung an und setzte ihm einen ehernen Helm auf sein Haupt und legte ihm einen Panzer an. 39 Und David gürtete sein Schwert über seine Kleider und versuchte zu gehen; aber er war es nicht gewohnt. Da sprach David zu Saul: Ich kann so nicht gehen, denn ich bin’s nicht gewohnt; und er legte es ab.

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Die Reaktion Goliaths macht das Komische der Situation sogar explizit: angesichts des unwürdigen, kümmerlichen Gegners ist der Ork empört und fühlt sich beleidigt. d) Die Geschichte des Brüderkonflikts wird überraschend eingeflochten.15 Der kleine David soll seinen Brüdern (und deren vorgesetzten Hauptmann) ein paar Stullen und guten Käse vorbeibringen. Dabei bekommt er mit, dass es für den Vorkämpfer eine sehr satte Belohnung geben soll (V. 25). Sein ältester Bruder wird darüber sauer auf den jungen Rivalen (wollte er die Prämie letztlich für sich?) und beschimpft ihn, David aber mimt das Unschuldslamm: 28 Und als Eliab, sein ältester Bruder, ihn reden hörte mit den Männern, wurde er zornig über David und sprach: Warum bist du hergekommen? Und wem hast du die wenigen Schafe dort in der Wüste überlassen? Ich kenne deine Vermessenheit wohl und deines Herzens Bosheit. Du bist nur gekommen, um dem Kampf zuzusehen. 29 David antwortete: Was hab ich denn getan? Ich habe doch nur gefragt!

Damit bekommt die Erzählung eine große Nähe zur Josefsgeschichte: Die älteren Brüder missgönnen dem Kleinen voller Neid den möglichen Aufstieg zum Schwiegersohn des Königs und die große Belohnung (von der sie selbst aber ordentlich profitieren würden, weil sie Steuerbefreiung für die ganze Familie einschließen sollte [V. 25]). Volksgeschichte mit weltgeschichtlichen Implikationen wird durchsetzt mit ganz intimen Familiengeschichten. e) Theologische Komponenten werden eingebaut, indem die Vorkämpfer auf beiden Seiten eine tiefere Dimension andeuten. Es geht im Kampf der Soldaten eigentlich um einen Kampf der Götter. Goliath höhnt dem Gott Israels, David aber will durch den Sieg im Kampf die Ehre seines Gottes, JHWH Zebaoths, herstellen. So verbinden sich privater Neid unter ungleichen Brüdern, Weichenstellungen für die Geschichte des Volkes und Landes Israels mit einer metaphysischen Frage: Welcher Gott ist der wahre Gott? f) Die direkte Anrede an den Leser/Hörer der Geschichte. Die Erzählung wird explizit kerygmatisch: Der Sinn der Erzählung ist die Erkenntnis Gottes. „Damit diese ganze Gemeinde (8:,û¤ 8( @8)²K,)8(.@?), ) erkenne, dass JHWH nicht durch Schwert oder Spieß rettet; denn der Krieg ist JHWHs, und er wird euch in unsere Hand geben.“ ja· cm¾setai p÷sa B 1jjkgs¸a avtg fti oqj 1m Nolva¸ô ja· dºqati s]fei j¼qior fti toO juq¸ou b pºkelor ja· paqad¾sei j¼qior rl÷r eQr we?qar Bl_m 15 LXX hat bekanntlich einen deutlich kürzeren Text, der diese „Exkurse“ und Widersprüche, auch im Blick auf die Bekanntheit von David bei Saul (V. 55–58) nicht beinhaltet. Zur Problematik des Verhältnisses MT zu LXX vgl. Johnson, Reading, 2015.

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Das Demonstrativpronomen „diese ganze Gemeinde“ macht den Adressaten der Erzählung explizit: „Ihr, die Zuhörer im Gottesdienst der nachexilischen Gemeinde, ihr, die ihr hier seid, sollt das verstehen und daran glauben!“ Aber der Horizont wird gleichsam ökumenisch und richtet sich an den gesamten bewohnten Erdkreis: „damit alle Welt erkenne, dass es einen Gott für Israel gibt“ :@4ú-L)2M!=%@! A=8%¦@*4" M1=´ú =?,%« ILû4¤) 8).@?,) 9,© F7!=ú- 9! – ja· cm¾setai p÷sa B c/ fti 5stim he¹r 1m Isqagk

Die Wirkung des Kapitels als Ganzes ist das Resultat der kleinen Einzelbausteine im Einzelnen. Die feinsinnige Mischung aus Kriegsbericht, Jugendmärchen und synagogaler Predigt macht deutlich, dass es sich bei weitem nicht nur um die Mitteilung über einen geschichtlichen Vorgang der Vergangenheit handelt. Wer die Erzählung nur mit den Kategorien eines Historikers deutet, verfehlt ihren Sinn zu einem großen Teil. Man muss zusätzlich die märchenhaften Elemente sowie die explizit kerygmatischen Komponenten wahrnehmen und existential interpretieren; ich nenne davon vier : A) Die politische Dimension: David wird als guter Hirte gezeichnet, der mit JHWHs Hilfe das bedrohte und überfallenen Lamm rettet und die Raubtiere, die Löwen und Bären, bändigt oder tötet, d. h. unschädlich macht. Das ist exakt die Aufgabe eines Königs (modern gesprochen eines gut funktionierenden Staates), der alles dafür gibt, seine Schafe zu retten. David wird zur messianischen Ikone guter Politik. Er nimmt damit ein Element für sich in Anspruch, das in der politischen Ikonographie des Alten Orients und der Achämeniden weit verbreitet ist. B) Die psychologische Dimension: Der Neid zwischen Brüdern, die Missgunst besonders gegenüber dem jüngsten, der sich „vordrängelt“ und Dinge geschenkt bekommt, welche die anderen nicht haben, zeigt, wie sehr Geschichte eine psychologische Komponente impliziert. Aber die Kleinen sollen sich nicht unterkriegen lassen.16 C) Die sozialpsychologische Dimension: Man kann an der Geschichte studieren, wie die Konstruktion eines Feindbildes funktioniert: Goliath ist der Andersstämmige (so LXX), der Hässliche und Arrogante, der gefährlich Bewaffnete und Blutrünstige; er provoziert und verspottet die Ehre der Nation und die Ehre JHWHs. D) Die Dimension des Humors: Das Komische umgreift nach einer berühmten Analyse von Peter L. Berger ein weites Spektrum vom harmlosen, freundlichen 16 Dass es sogar um tiefenpsychologische Aspekte geht, haben Dietrich/Dallmeyer, Königsweg, 2002, und Dallmeyer, psychoanalytische Interpretation, 2003, erwiesen.

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Assurbanipal, König von Assur, bei der Löwenjagd (British Museum, Foto M. Oeming)

(/tendenziell langweiligen) Humor bis zur bösartiger und bissiger Satire. Der Witz hat wenigstens vier Grundfunktionen:17 Ablenkung von Problemen durch Verharmlosung, Komik als Trost, Komik als Spiel des Intellekts und Komik als Waffe: die Satire. Alle diese Wirkungen will die Geschichte erzielen.

3. Theologie erzählen lernen als ein religionspädagogisches Konzept Eine gute Erzählung ist das Produkt des Zusammenspiels von mehreren Faktoren: ein guter, lebensnaher Plot, spannungsgeladene Exposition und rasante Elemente von Fortschritt, ebenso Retardierung, auch durch Einfädelung von Nebenschauplätzen, welche die Spannung steigern, unerwarteten 17 Berger, Lachen, 93–165.

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Umschlägen („Peripetien“), Beimischungen von Gefahr und Gewalt, unermesslicher Lohn für den tapferen Helden sowie ein Happyend! In dieses Erzählungs-Beet sind theologische Spitzenaussagen eher unauffällig mit einzupflanzen: Die weltweite Erkenntnis des Daseins Gottes und die gemeindebezogene Vergewisserung seines Wirkens für sein Volk Israel. Durch genau diese raffinierte Mischung ist sie ein Vorbild für den Religionsunterricht, geradezu ein Lehrstück. Denn 1 Sam 17 bietet eine wunderbare Melange von 1. Historischem Bericht auf der Ebene von Völkern (Israel-Philister ; der Konflikt wirkt bis heute nach); 2. Historischer Erzählung auf der Ebene von Personen: David und Saul; 3. Einem Psychogramm: Konflikt der Brüder ; 4. Einem Märchen: Aufstieg eines Kindes zum Herrscher eines Königreiches; 5. Einer Wundererzählung: Klein gewinnt gegen völlig unverhältnismäßig groß; 6. Eine theologische Erzählung mit dem Skopus: Kampf der Götter und Sieg JHWHs; 7. Eine humorvolle Erzählung, bei der man öfters schmunzeln und gelegentlich laut lachen muss. Im Rahmen der Unterrichtseinheit zum Thema „Der Gott des Alten Testaments/der Bibel“ bietet sich das Beispiel der David-Goliath-Erzählung geradezu an. Dabei ist es hilfreich, den Schülerinnen und Schülern die skizzierte Komplexität des Erzählens deutlich zu machen. Am besten wäre es, wenn man sie die sechs Bausteine im Text mit sechs unterschiedlichen Farben markieren ließe (was aus drucktechnischen Gründen hier nicht geht): man könnte z. B. Gelb = „historischer“ Bericht mit doppelter Einleitung V. 1–11*// V. 19–21; Grün = wunderhafte, legendarische Übersteigerung bis hin zum Märchen; Blau = humorvolles Beiwerk; Grau = die Geschichte des Brüderkonflikts; Rot = theologische Lichter ; Ohne Färbung = Theologische Metatexte als Gesamtdeutung benutzen. Ich biete hier ersatzweise eine Tabelle mit sechs Spalten und ordne die Verse zu: historischer Bericht

WunderhaftHumor- Geschichte des Theologische märchenhafte volles Brüderkonflikts Lichter Übersteigerung Beiwerk (unterstrichen) (eingerückt, grau unterlegt)

1–4a; 8–11a; 4b–7; 11b; 19. 20b–21; 23–25; 33–43. 31 f.; 38–45; 51 f.

16, 39; 56–58.

12–15; 17 f., 20; 10a; 25b; 22; 26–30. 26b,36 f.*; 43; 45*; 46a.

Theologische „Metatexte“ (doppelt unterstrichen) 46b.47; 54.

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Ferner versuche ich, die Textstruktur durch Druckanordnung, Einrückungen, Fettdrucke, Kursivierungen und Unterstreichungen nachvollziehbar darzustellen (ohne dabei die diachronen Fragen einzuarbeiten): Vorgerückt, gerade und ohne graue Unterlegung = historischer Bericht; Eingerückt, grau unterlegt und kursiv = Geschichte des Geschwisterkonflikts eingerückt, fett und kursiv = wunderhafte Übersteigerungen; eingerückt, unterstrichen = Humorvolle Einlage doppelt eingerückt sind die theologischen Motive = Kampf der Volksgruppen ist auch Kampf der Nationalgötter ; Eingerückt, fett und unterstrichen = Der theologische Spitzensatz. 1 Die Philister sammelten ihre Heere zum Kampf und kamen zusammen bei Socho in Juda und lagerten sich zwischen Socho und Aseka bei Efes-Dammim. 2 Aber Saul und die Männer Israels kamen zusammen und lagerten sich im Eichgrund und rüsteten sich zum Kampf gegen die Philister. 3 Und die Philister standen auf einem Berge jenseits und die Israeliten auf einem Berge diesseits, sodass das Tal zwischen ihnen war. 4 Da trat (einer) aus den Lagern der Philister, ein Riese mit Namen Goliat aus Gat, sechs Ellen und eine Handbreit (= 3,20 m) groß. 5 Der hatte einen ehernen Helm auf seinem Haupt und einen Schuppenpanzer an, und das Gewicht seines Panzers war fünftausend Schekel Erz, 6 und hatte eherne Schienen an seinen Beinen und ein ehernes Sichelschwert auf seinen Schultern. 7 Und der Schaft seines Spießes war wie ein Weberbaum, und die eiserne Spitze seines Spießes wog sechshundert Schekel, und sein Schildträger ging vor ihm her. 8 Und er stellte sich hin und rief den Schlachtreihen Israels zu: Was seid ihr ausgezogen, euch zum Kampf zu rüsten? Bin ich nicht ein Philister und ihr Sauls Knechte? Erwählt einen unter euch, der zu mir herabkomme. 9 Vermag er gegen mich zu kämpfen und erschlägt er mich, so wollen wir eure Knechte sein; vermag ich aber über ihn zu siegen und erschlage ich ihn, so sollt ihr unsere Knechte sein und uns dienen. 10 Und der Philister sprach: Ich habe heute den Schlachtreihen Israels Hohn gesprochen. Gebt mir einen Mann und lasst uns miteinander kämpfen. 11 Da Saul und ganz Israel diese Rede des Philisters hörten, entsetzten sie sich und fürchteten sich sehr. 12 David aber war der Sohn jenes Efratiters aus Bethlehem in Juda, der Isai hieß. Der hatte acht Söhne und war zu Sauls Zeiten schon alt und betagt. 13 Aber die drei ältesten Söhne Isais waren mit Saul in den Krieg gezogen. Und das sind die Namen seiner drei Söhne, die in den Krieg

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gezogen waren: Eliab, der erstgeborene, Abinadab, der zweite, und Schamma, der dritte. 14 Und David war der jüngste; die drei ältesten aber waren Saul gefolgt. 15 Und David ging oftmals von Saul nach Bethlehem, um die Schafe seines Vaters zu hüten. 16 Aber der Philister kam heraus frühmorgens und abends und stellte sich hin, vierzig Tage lang. 17 Isai aber sprach zu seinem Sohn David: Nimm für deine Brüder diesen Scheffel geröstete Körner und diese zehn Brote und bringe sie eilends ins Lager zu deinen Brüdern; 18 und diese zehn Käse bringe dem Hauptmann und sieh nach deinen Brüdern, ob’s ihnen gut geht, und bringe auch ein Unterpfand von ihnen mit. 19 Saul und sie und alle Männer Israels sind im Eichgrund und kämpfen gegen die Philister. 20 Da machte sich David früh am Morgen auf und überließ die Schafe einem Hüter, lud auf und ging hin, wie ihm Isai geboten hatte, und kam zur Wagenburg. Das Heer aber war ausgezogen und hatte sich aufgestellt zur Schlachtreihe, und sie erhoben das Kriegsgeschrei. 21 Und Israel und die Philister hatten sich aufgestellt, Reihe gegen Reihe. 22 Da ließ David sein Gepäck, das er trug, bei der Wache des Trosses und lief zur Schlachtreihe, kam hin und fragte seine Brüder, wie es ihnen gehe. 23 Und als er noch mit ihnen redete, siehe, da kam herauf der Riese mit Namen Goliat, der Philister von Gat, aus den Reihen der Philister und redete dieselben Worte, und David hörte es. 24 Und wer von Israel den Mann sah, floh vor ihm und fürchtete sich sehr. 25 Und die Männer von Israel sprachen: Habt ihr den Mann heraufkommen sehen? Er kommt herauf, Israel Hohn zu sprechen. Wer ihn erschlägt, den will der König sehr reich machen und ihm seine Tochter geben und will seines Vaters Haus frei machen von Lasten in Israel. 26 Da sprach David zu den Männern, die bei ihm standen: Was wird man dem tun, der diesen Philister erschlägt und die Schande von Israel wendet? Denn wer ist dieser unbeschnittene Philister, der die Schlachtreihen des lebendigen Gottes verhöhnt? 27 Da sagte ihm das Volk wie vorher : So wird man dem tun, der ihn erschlägt. 28 Und als Eliab, sein ältester Bruder, ihn reden hörte mit den Männern, wurde er zornig über David und sprach: Warum bist du hergekommen? Und wem hast du die wenigen Schafe dort in der

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Wüste überlassen? Ich kenne deine Vermessenheit wohl und deines Herzens Bosheit. Du bist nur gekommen, um dem Kampf zuzusehen. 29 David antwortete: Was hab ich denn getan? Ich habe doch nur gefragt! 30 Und er wandte sich von ihm zu einem andern und sprach, wie er vorher gesagt hatte. Da antwortete ihm das Volk wie das erste Mal. 31 Und als sie die Worte hörten, die David sagte [Anschluss unklar], brachten sie es vor Saul, und er ließ ihn holen. 32 Und David sprach zu Saul: Keiner lasse seinetwegen den Mut sinken; dein Knecht wird hingehen und mit diesem Philister kämpfen. 33 Saul aber sprach zu David: Du kannst nicht hingehen zu diesem Philister, mit ihm zu kämpfen; denn du bist ein Knabe, dieser aber ist ein Kriegsmann von Jugend auf. 34 David aber sprach zu Saul: Dein Knecht hütete die Schafe seines Vaters; und kam dann ein Löwe oder ein Bär und trug ein Schaf weg von der Herde, 35 so lief ich ihm nach, schlug auf ihn ein und errettete es aus seinem Maul. Wenn er aber auf mich losging, ergriff ich ihn bei seinem Bart und schlug ihn tot. 36 So hat dein Knecht den Löwen wie den Bären erschlagen, und diesem unbeschnittenen Philister soll es ergehen wie einem von ihnen; denn er hat die Schlachtreihen des lebendigen Gottes verhöhnt. 37 Und David sprach: JHWH, der mich von dem Löwen und Bären errettet hat, der wird mich auch erretten von diesem Philister. Und Saul sprach zu David: Geh hin, JHWH sei mit dir! 38 Und Saul legte David seine Rüstung an und setzte ihm einen ehernen Helm auf sein Haupt und legte ihm einen Panzer an. 39 Und David gürtete sein Schwert über seine Kleider und versuchte zu gehen; aber er war es nicht gewohnt. Da sprach David zu Saul: Ich kann so nicht gehen, denn ich bin’s nicht gewohnt; und er legte es ab. 40 und nahm seinen Stab in die Hand und wählte fünf glatte Steine aus dem Bach und tat sie in die Hirtentasche, die er hatte, in den Beutel, und nahm die Schleuder in die Hand und ging dem Philister entgegen. 41 Der Philister aber kam immer näher an David heran, und sein Schildträger ging vor ihm her. 42 Als nun der Philister aufsah und David anschaute, verachtete er ihn; denn er war ein Knabe, bräunlich und schön. 43 Und der Philister sprach zu David: Bin ich denn ein Hund, dass du mit Stecken zu mir kommst? Und der Philister fluchte dem David bei seinem Gott. 44 Und der Philister sprach zu David: Komm her zu mir, ich will dein Fleisch den Vögeln unter dem Himmel geben und den Tieren auf dem Felde.

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45 David aber sprach zu dem Philister : Du kommst zu mir mit Schwert, Spieß und Sichelschwert, ich aber komme zu dir im Namen des HERRN Zebaoth, des Gottes der Schlachtreihen Israels, die du verhöhnt hast. 46 Heute wird dich der HERR mir überantworten, dass ich dich erschlage und dir den Kopf abhaue und gebe deinen Leichnam und die Leichname des Heeres der Philister heute den Vögeln unter dem Himmel und dem Wild auf der Erde, damit alle Welt erkenne, dass einen Gott für Israel gibt, 47 und damit diese ganze Gemeinde erkenne, dass JHWH nicht durch Schwert oder Spieß hilft; denn der Krieg ist des HERRN, und er wird euch in unsere Hand geben. 48 Als sich nun der Philister aufmachte und daherging und sich David nahte, lief David eilends von der Schlachtreihe dem Philister entgegen. 49 Und David tat seine Hand in die Tasche und nahm einen Stein daraus und schleuderte ihn und traf den Philister an der Stirn, dass der Stein in seine Stirn fuhr und er zur Erde fiel auf sein Angesicht. 50 So überwand David den Philister mit Schleuder und Stein und traf und tötete ihn. David aber hatte kein Schwert in seiner Hand. 51 Da lief er hin und trat zu dem Philister und nahm dessen Schwert und zog es aus der Scheide und tötete ihn und hieb ihm den Kopf damit ab. Da aber die Philister sahen, dass ihr Stärkster tot war, flohen sie. 52 Und die Männer Israels und Judas machten sich auf, erhoben das Kriegsgeschrei und jagten den Philistern nach bis nach Gat und bis an die Tore Ekrons. Und die Philister blieben erschlagen liegen auf dem Wege von Schaarajim bis nach Gat und Ekron. 53 Und die Israeliten kehrten um von der Verfolgung der Philister und plünderten ihr Lager. 54 David aber nahm des Philisters Haupt und brachte es nach Jerusalem, seine Waffen aber legte er in sein Zelt. 55 Da Saul aber David dem Philister entgegengehen sah, sprach er zu Abner, seinem Feldhauptmann: Wessen Sohn ist der Knabe? Abner sprach: Bei deinem Leben, König: Ich weiß es nicht. 56 Der König sprach: So frage danach, wessen Sohn der junge Mann ist. 57 Als nun David zurückkam vom Sieg über den Philister, nahm ihn Abner und brachte ihn vor Saul, und er hatte des Philisters Haupt in seiner Hand. 58 Und Saul sprach zu ihm: Wessen Sohn bist du, Knabe? David sprach: Ich bin ein Sohn deines Knechts Isai, des Bethlehemiters. Wer diese Erzählung im Bewusstsein des Zusammenspiels ihrer vielen Komponenten erzählt, der/die verkündigt – und zwar auf sanfte Weise. Der kerygmatischen Höhepunkte sind mehrere: Eine Pointe besteht darin, dass

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man im Horizont JHWHs nicht mit Muskelkraft und Hightech-Waffen die Probleme lösen kann,18 sondern mit Klugheit, Geschicklichkeit und Gottvertrauen. Eine zweite: Der Glaube besiegt die Angst und schlägt den Monstern den Kopf ab. Das Erzählen der Geschichte stärkt den Glauben, dass Gott helfen kann; es weckt das Selbstvertrauen der „Kleinen“. Eine dritte Dimension besteht in der subtilen Verbindung von Glauben und Humor. Die Schülerinnen und Schüler sollen begreifen: Unser Glaube ist ein gewitzter.

Literatur Kommentare Bar-Efrat, Shimon: Das Erste Buch Samuel. Ein narratologisch-philologischer Kommenta ((BWANT) 176), Stuttgart 2007. Dietrich, Walter : Samuel. 1 Sam 13–26 (Biblischer Kommentar Altes Testament), Neukirchen-Vluyn 2015. Klein, Ralph: 1 Samuel (Word Biblical Commentary 10, 1), Waco, Texas 1983.

Aufsätze und Monographien Aurelius, Erik: „Wie David ursprünglich zu Saul kam (1 Sam 17).“ in: Vergegenwärtigung des Alten Testaments. Beiträge zur biblischen Hermeneutik, Göttingen 2002, 44–68. Berger, Peter L.: Erlösendes Lachen. Das Komische in der menschlichen Erfahrung, Berlin / New York: Walter de Gruyter, 1998. Bodner, Keith: „Eliab and the Deuteronomist.“ Journal for the study of the Old Testament 28 (2003), 55–71. Dallmeyer Hans Jürgen / Walter Dietrich: David – ein Königsweg: psychoanalytischtheologischer Dialog über einen biblischen Entwicklungsroman, Göttingen 2002. Dallmeyer, Hans-Jürgen: „David und Goliat. Eine psychoanalytische Interpretation.“, in: König David – biblische Schlüsselfigur und europäische Leitgestalt. Hg. Von Walter Dietrich / Hubert Herkommer. Kolloquium der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften 19. Stuttgart / Freiburg 2003, 121–143. Dietrich, Walter: „Die Erzählungen von David und Goliat in I Sam 17.“ Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft 108 (1996), 172–191. Dietrich, Walter: „Der Fall des Riesen Goliat: biblische und nachbiblische Erzählversuche.“ Pages 241–258 in Bibel und Literatur. Hg. von Jürgen Ebach and Richard Faber. München 1995, 241–258. 18 Vgl. Dietrich 1996.

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Dietrich, Walter : „Goliat und die Baleks. Ein intertextueller Essay über Gerechtigkeit und Gewaltlosigkeit.“ Pages 141–152 in Freiheit und Recht. Festschrift für Frank Crüsemann zum 65. Geburtstag. Hg. von Christof Hardmeier u. a., Gütersloh 2004, 141–152. Ducasse, Jean-Loup: „Un singulier combat. David et le d8fi du Philistin / Isra[l (1 Sam 17)“, S8miotique et bible 130 (2008), 40–55. Frevel, Christian: Geschichte Israels, Stuttgart 22018. Frolov, Serge / Wright, Allen: „Homeric and Ancient Near Eastern intextuality in 1 Samuel 17“, Journal of biblical literature 130 (2011), 451–471. Garsiel, Moshe: „The valley of Elah battle and the duel of David with Goliath: Between history and artistic theological historiography.“ in: Gershon Galil u. a.: Homeland and exile. Biblical and ancient Near Eastern studies in honour of Bustenay Oded. (Vetus Testamentum. Supplements 130), Leiden 2009, 391–426. George, Mark K: „Constructing identity in 1 Samuel 17.“, Biblical Interpretation 7 (1999), 389–412. Gerhards, Meik: Homer und die Bibel. Studien zur Interpretation der Ilias und ausgewählter alttestamentlicher Texte (Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament 144), Neukirchen-Vluyn 2015. Heinrich, Andr8: David und Klio. Historiographische Elemente in der Aufstiegsgeschichte Davids und im Alten Testament, Berlin 2009. Johnson, Benjamin J. M.: Reading David and Goliath in Greek and Hebrew (Forschungen zum Alten Testament. Reihe 2 82), Tübingen 2015. Kellenberger, Edgar : „David als Lehrer der nachexilischen Gemeinde. Überlegungen zu 1 Sam 17,46 f.“, in: Friedhelm Hartenstein (Hg.): „Sieben Augen auf einem Stein” (Sach 3,9). Studien zur Literatur des Zweiten Tempels. Festschrift für Ina Willi-Plein zum 65. Geburtstag. Neukirchen-Vluyn 2007, 175–183. Levin, Christoph: Erinnerung der Zukunft. Ein Grundzug biblischer Geschichtsschreibung, ZThK 111 (2014), 127–147. Lipschis, Oded / Oeming, Manfred / Gadot, Yuval. Liverani, Mario: Israel’s History and the History of Israel, London 2005. Nitsche, Stefan Ark: David gegen Goliath. Die Geschichte der Geschichten einer Geschichte. Zur fachübergreifenden Rezeption einer biblischen Story (Altes Testament und Moderne 4), Münster 1998. Nitsche, Stefan Ark: „Viele Bilder – ein Text. Anmerkungen zur Logik der selektiven Rezeption biblischer Texte anhand der Story vom Sieg Davids über Goliat.“ in: Walter Dietrich / Hubert Herkommer (Hg.): König David – biblische Schlüsselfigur und europäische Leitgestalt. Kolloquium der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften 19, Stuttgart/Freiburg 2003, 85–119. Perlitt, Lothar: „Riesen im Alten Testament. Ein literarisches Motiv im Wirkungsfeld des Deuteronomismus.“, in: Ders., Deuteronomium-Studien (Forschungen zum Alten Testament 8), Tübingen 1994, 205–246. Rof8, Alexander : „David overcomes Goliath (1 Samuel 17). Genre, text, origin and message of the story.“ Henoch 37 (2015), 66–100.

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Seeligmann, I. L.: „Menschliches Heldentum und Göttliche Hilfe – Die doppelte Kausalität im alttestamentlichen Geschichtsdenken“, in: ThZ 19 (1963), 385–411. Von Rad, Gerhard: Theologie des Alten Testaments, Band I, Die Theologie der geschichtlichen Überlieferung Israels, Tübingen 41962. Wong, Gregory T: „A farewell to arms. Goliath’s death as rhetoric against faith in arms.“; Bulletin for Biblical Research 23 (2013), 41–55. Wong, Gregory T. K.: „Goliath’s death and the Testament of Judah.“ Biblica 91 (2010), 425–432. Yadin, Azzan: „Goliath’s armor and Israelite collective memory.“ Vetus Testamentum 54 (2004), 373–395.

Korrekturnachtrag: Gegen meine Spätdatierung der Goliath-Erzählung und gegen ihre teilweise Einstufung als Märchen wurde kürzlich bei einer Gastvorlesung in Leipzig das Argument angeführt, dass es zur David-Goliath-Erzählung eine altägyptische Parallele aus der aus der frühen 12. Dynastie (ca. 1950 v. Chr.) gebe, nämlich die Geschichte von Sinuhe und dem Starken von Retjenu. Einige Gemeinsamkeiten der beiden Erzählungen sind unbestreitbar, aber es wurde darauf verwiesen, dass Andreas Kunz sich dafür stark macht, dass in einer interkulturellen Rezeptionsgeschichte Sinuhe als direkte ägyptische Vorlage in Israel/Palästina seine Spuren prägend hinterlassen habe (vgl. Andreas Kunz, Sinuhe und der Starke von Retjenu David und der Riese Goliat. Eine Skizze zum Motivgebrauch in der Literatur Ägyptens und Israels, BN 119/120, 2003, 90–100). Es gibt in der Tat überzeugende Modelle der literarischen Einflüsse Ägyptens auf die biblische Literatur (z. B. Joachim Friedrich Quack, Die Lehren des Ani. Ein neuägyptischer Weisheitstext in seinem kulturellen Umfeld (Orbis Biblicus et Orientalis 141), Göttingen 1994, im Kapitel „Internationale Weisheitsbeziehungen“). Eine direkte Abhängigkeit von 1 Sam 17 von Sinuhe ist aber sehr zweifelhaft, denn die unerlässlichen Kriterien für literarische Beeinflussung (u. a. Zugänglichkeit, starke Analogie, Dichte der wörtlichen Bezüge, ähnliche Sequenzierung, unverwechselbare Merkmale) sind nicht erfüllt. Zwar kann man pro Abhängigkeit anführen, dass man auch in der Sinuhe-Erzählung fragt, ob es keine besseren für den Kampf gebe und dass Sinuhe den Starken mit dessen eigenem Schwert enthauptet. Aber die Argumente contra Abhängigkeit sind viel stärker, besonders weil sich die Unterschiede gerade im Zentrum des Plots finden: Der Starke von Retjenu ist kein Riese, sondern nur ein mächtiger Krieger ; Sinuhe ist kein kleiner Junge, der völlig unerwartet und wunderhaft den Giganten besiegt, sondern er ist seinerseits ein hoch gerüsteter Kämpfer und erfahrener Krieger, der einfach nur treffsicherer war als der Starke; Sinuhe ist schon sehr wohlhabend und mächtig; der Strake von Retjenu will sich sein großes Vermögen und seinen

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Einfluss aneignen. Doch das Vorhaben scheitert und wird regelrecht gespiegelt: Am Ende ist der Starke tot und Sinuhe ist um das Vermögen und den Einfluss des Starken reicher. Sinuhe erkennt an dem profitablen Sieg, dass der Gott, der ihn aus Ägypten vertrieb, seinen Zorn gegen ihn aufgegeben hat; in der Daviderzählung ist vom Zorn Gottes auf David keine Rede. (Skeptisch äußern sich auch Günter Lanczkowski, Die Geschichte vom Riesen Goliath und der Kampf Sinuhes mit dem Starken von Retenu, in: MDAIK 16, 1958, 214–218; Ludwig D. Morenz, Kanaanäisches Lokalkolorit in der Sinuhe-Erzählung und die Vereinfachung des Urtextes, ZDPV 113, 1997, 1–18; Sergei Frolov, Allen Wright, Homeric and Ancient Near Eastern: Intertextuality in 1 Samuel 17, JBL 130, 2011, 451–471.) Zur eigenen Urteilsbildung zitiere ich hier aus dem weisheitlich geprägten Reisebricht des Sinuhe § 18,4–21.21 (in der Übersetzung von Elke Blumenthal aus „Texte aus er Umwelt des Alten Testaments“ III, Gütersloh 1999, 898–900): § 18,4 ff. “Da kam ein Starker von Retjenu und forderte mich heraus in meinem Zelt. Ein Einzelkämpfer war er, nicht gab es seinesgleichen, denn er hatte es (Retjenu) ganz bezwungen. Er sagte, daß er mit mir kämpfen werde, gedachte, mich zu töten, und beabsichtigte, mein Vieh zu rauben, (alles) auf den Rat seines Stammes. Jener Herrscher, er beriet sich mit mir. Ich sagte: “Ich kenne ihn nicht und bin doch nicht sein Geselle, daß ich frei in seinem Lager umhergegangen wäre. Oder ist es etwa so, daß ich sein Frauengemach geöffnet und seine Umzäunung überstiegen hätte? Bosheit des Herzens ist es, weil er mich deinen Auftrag erfüllen sieht. […] § 20, 4–21 Kaum hatte ich die Nacht verbracht, da band ich schon meinen Bogen, legte meine Pfeile zurecht, schärfte meinen Dolch, putzte meine Waffen. Als das Land hell geworden war, war Retjenu gekommen und versammelte seine Stämme, es holte die Länder seiner beiden Hälften zusammen und bedachte diesen Kampf. […]

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§ 21,1–20 Darauf fielen sein Schild und sein Kriegsbeil und sein Arm voll Wurfspeere nieder. Danach ließ ich seine (anderen) Waffen herauskommen und ließ sie an mir vorbeiziehen: Seine Pfeile, sie gingen ins Nichts, einer folgte auf den anderen. Kaum näherte er sich mir (nun), da schoß ich schon auf ihn. Mein Pfeil blieb in seinem Hals stecken. Er schrie auf und fiel auf seine Nase, ich tötete ihn mit seinem Kriegsbeil. Ich stieß einen Freudenschrei (?) aus auf seinem Rücken, während jeder Asiat klagte. Ich gab Lobpreis dem Month, während seine Leute um ihn trauerten. Der erwähnte Herrscher Ammunesch, er schloß mich in seine Arme. Ich aber nahm seine (des Starken) Sachen und raubte sein Vieh, das, was er beabsichtigt hatte, mir anzutun, das tat ich ihm an. Ich nahm das weg, was in seinem Zelt war, und plünderte sein Lager. Ich wurde groß dadurch, wohlhabend an meiner Habe, reich an meinem Vieh. So hat ein Gott gehandelt, um dem gnädig zu sein, gegen den er aufgebracht war und den er in ein anderes Land vertrieben hatte.

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Christologie erzählen? Dogmatische Explorationen zu einer narrativen Christologie im Gespräch mit Karl Barth und Friedrich Mildenberger

Für Ingrid Schoberth zum 60. Geburtstag „Der Menschlichkeit Gottes vermag der Mensch sprachlich nur dadurch zu entsprechen, daß er sie stets aufs neue erzählt. Er erkennt damit an, daß Gottes Menschlichkeit auch als geschehene Geschichte nicht aufhört, geschehende Geschichte zu sein, weil Gott Subjekt seiner eigenen Geschichte bleibt.“1

1. Einleitung „Wer ist Jesus Christus?“ Wer sich dieser Frage stellt, wird zu erzählen anfangen. Nach dem Zeugnis des Lukasevangeliums ist es bereits den beiden Emmausjüngern2 so ergangen: „Sie redeten miteinander über all das, was vorgefallen war“ (Lk 24,14; Zürcher Bibel 2007). Die beiden Jünger bildeten eine regelrechte Erzählgemeinschaft, eine „Erzählgemeinschaft der Enttäuschten“3. Genauer gesagt, handelt es sich bei der Emmaus-Erzählung4 um eine „Weggeschichte“ der „doppelten Ent-täuschung“5 : Zunächst sind die Jünger auf dem Hintergrund ihrer Messiaserwartung von dem Widerfahrnis des Kreuzes enttäuscht, das die Niederlage Jesu zu besiegeln scheint. Doch dann dekonstruiert6 Jesus gleichsam auf dem Weg die Täuschung, die ihrer

1 Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, 415. 2 Ingrid Schoberth und Ina Kowaltschuk haben dem von ihnen herausgegebenen Band „Was sind das für Dinge, die ihr miteinander verhandelt unterwegs? (Lk 24). Christologie im Religionsunterricht“, bezeichnenderweise die Emmausperikope als Bezugspunkt zugrunde gelegt, um nicht nur nach Jesus zu fragen, sondern sich auch von ihm befragen zu lassen. 3 Luther, Frech achtet die Liebe das Kleine, 94. Zur Erzählgemeinschaft vgl. Ritschl / Hailer, Diesseits und jenseits der Worte, 374. 4 Vgl. zur Emmaus-Geschichte Hofheinz, Unterwegs nach Emmaus. 5 Luther, Frech achtet die Liebe das Kleine, 88. 6 Vgl. Hauerwas, Unleashing the Scripture, 56: „Jesus had to deconstruct their narratives so that they might see, for example, why a text such as Isaiah 52 and 53 is about Jesus.” Zur Prägung des

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Enttäuschung zugrunde liegt. Jesus ent-täuscht mithin in einem ganz wörtlichen Sinne: Er eliminiert die Täuschung, die falsche Vorstellung von ihm und der Erlösung seines Volkes7: „Jesus ist nicht der Erlöser seines Volkes in dem Sinn, dass er ein militärischer Herrscher ist, sondern indem er Gott ist, der sich seinem Volk neu und ganz anders zuwendet als dieses es erwartet. Im Text korrigiert der auferstandene Jesus die falschen Erwartungen, indem er die Heiligen Schriften des Judentums auf sich selbst hin auslegt. Über dieses Gespräch gelangen die drei an ihr Ziel: Emmaus. Jesus macht den Anschein, seinen Weg fortsetzen zu wollen, wird aber von den beiden Jüngern gedrängt, mit ihnen den Abend zu verbringen [Lk 24,29; Zürcher Bibel 2007: ,Bleibe bei uns, denn es will Abend werden, und der Tag hat sich schon geneigt‘]. Die beiden scheinen von seiner Schriftauslegung beeindruckt. Beim gemeinsamen Mahl übernimmt der Gast Jesus die Rolle des Gastgebers, spricht den Tischsegen und teilt das Brot. Beim Brotbrechen erkennen die Jünger plötzlich in ihrem Gast Jesus.“8 Die Emmaus-Geschichte endet bezeichnenderweise mit dem Hinweis, dass die nach Jerusalem zurückgekehrten Jünger „erzählten, was unterwegs geschehen war und wie er von ihnen am Brechen des Brotes erkannt worden war“ (Lk 24,35; Zürcher Bibel 2007). Was das Erzählen betrifft, so handelt es sich weder in dieser Geschichte noch in anderen biblischen Zusammenhängen um ein eskapistisches Motiv. Von Jesus muss erzählt werden. Nicht zufällig liegen mit den Evangelien erzählende Texte vor. Auch der Umstand, dass der zweite Glaubensartikel im Apostolikum gewissermaßen als eine narratio in nuce erscheint, sei in diesem Zusammenhang angeführt: „Dieser zweite Artikel des Glaubensbekenntnisses hat die Gestalt einer Erzählung; einer Erzählung, der wir sogleich das Erzählmuster einer Biographie unterlegen. Denn sie umfasst Geburt, Leben, Leiden und Tod Jesu – freilich gerahmt von einem zwar auch biographisch anmutenden, unserem Lebenslauf aber fremden Beginn und Ende im Himmel.“9 Wird die Dogmatik damit auf die Programmatik „Erzählung statt Begriff“10 festgelegt, ja reduziert? Lässt sich aus dem Umstand, dass es sich beim zweiten Artikel um „eine in biographische Erzählform gegossene Deutung der wahren Wirklichkeit Jesu“11 handelt, ein entsprechendes Plädoyer für eine narrative Christologie ableiten? Soll Christologie nur noch erzählt werden? Sollen Theolog/innen als Christolog/innen „nur“ noch erzählen? Dietrich Ritschl hat mit Entschiedenheit genau dies abgelehnt und sich eben darum mit seinem story-Konzept dezidiert von narrativer Theologie

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Lukasevangeliums durch das vierte Gottesknechtslied vgl. Mittmann-Reichert, Der Sühnetod des Gottesknechtes. Vgl. Marquardt, „Wann stellst du das Reich für Israel wieder her?“, 173–190. Landgraf / Metzger, Bibel unterrichten, 104 f. Korsch, Einführung in die evangelische Dogmatik, 151. Ebd. Ebd., 152.

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abgegrenzt.12 Rückblickend bemerkt er : „Weil ich in meinen Vorträgen und Publikationen so viel über stories gesagt habe, hatte ich einige Mühe, mich von den Vertretern der ,Narrativen Theologie‘ abzugrenzen. Ich habe nie geglaubt, dass es narrative Theologie geben könnte. Theologie besteht aus Suchaktionen, Interpretationen, Explikationen, Argumenten und Neukonstruktionen, nicht aus ,Erzählungen‘ oder ,Nacherzählungen‘.“13 Ritschls These lautet dementsprechend: „,Narrative Theologie‘ ist ein misnomer, ein Fehlbegriff, denn Theologie ist durch und durch reflektierend, prüfend, erklärend, argumentierend, konstruierend, auch wenn sie zur Doxologie, zum Gebet und zur Predigt hinführt.“14 Ritschl bestimmt die story als „Rohmaterial“ der Theologie,15 das in Auswahl von Kirche und Theologie bearbeitet werden müsse. Stories gingen der Theologie voraus, seien aber nicht selbst Teil der theologischen Arbeit: „Ich fürchte, daß wir uns unter Theologen gar nicht mehr verständigen können, was theologische Gedanken, Probleme, Aufgaben und Arbeit eigentlich sind, wenn einige im Ernst vorschlagen, dies alles auf Narrationen zu reduzieren. Daß wir ganz wesentlich von Narrationen ausgehen müssen, ist freilich unbestritten.“16 Das Beispiel Ritschls zeigt, dass narrative Theologie keineswegs unumstritten ist und dieses Urteil gilt dementsprechend auch für die Christologie in Gestalt narrativer Christologie.17 Vielleicht liegt aber auch Ritschls Einspruch schlicht eine falsche bzw. schiefe Alternative zwischen Erzählen und Argumentieren, Erzählung und Begriff zugrunde. Dann stellt sich freilich die Anschlussfrage, in welcher Weise die Erzählung in die dogmatische Urteilsbildung integriert und wie von ihr Gebrauch gemacht werden kann und muss. U. a. die Frage nach einem tragenden Erzählschema steht damit auf der Agenda. Im Folgenden sollen zwei dogmatische Entwürfe, die in der Christologie prononcierten Gebrauch von der Erzählung gemacht haben,18 untersucht werden und zwar erkenntnisleitend auf die Frage hin, ob und – wenn ja – 12 Vgl. Schoberth, Erinnerung als Praxis des Glaubens, 157–165. 13 Ritschl / Hailer, Diesseits und jenseits der Worte, 373 f. 14 Ritschl, Theologie ist explikativ und argumentativ, 160. Vgl. auch Schneider-Flume, Dogmatik erzählen, 139: „Dogmatik denkt dem Erzählen nach, sie ist nicht narrative Theologie. […] Der dogmatischen Arbeit selbst geht es primär nun gerade nicht um das Erzählen, sondern um die Reflexion über das Erzählen. Dogmatik kann nicht als narrative Theologie durchgeführt werden.“ 15 Ritschl / Jones, „Story“ als Rohmaterial der Theologie. 16 Ritschl, Zur Logik der Theologie, 47. 17 Auch Schneider-Flume, Dogmatik erzählen, 137, kann feststellen: „,Dogmatik erzählen‘ – das ist kein neues Programm, sondern eine Problemanzeige, die Aufgaben und Defizite dogmatischer Arbeit benennt und darauf reagiert.“ Zur Diskussion vgl. den Band: Schneider-Flume / Hiller (Hg.), Dogmatik erzählen? 18 Im Blick auf weitere Entwürfe, die dieses Anliegen teilen, sei verwiesen auf: McClendon, Doctrine, 263–279; Moltmann, Der Weg Jesu Christi; Schneider-Flume, Grundkurs Dogmatik, 202–300. Vgl. fernerhin: Joest / von Lüpke, Dogmatik 1, 109.

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inwiefern es sich in ihrem Fall um narrative Christologien handelt. Es geht konkret um die „Biblische Dogmatik“19 des evangelisch-lutherischen und viele Jahre in Erlangen lehrenden Theologen Friedrich Mildenberger (1929–2012) und die „Kirchliche Dogmatik“ (KD), näherhin deren Versöhnungslehre (KD IV,1–4), des weltberühmten evangelisch-reformierten, vor allem in Basel lehrenden Theologen Karl Barth (1886–1968). Beide Entwürfe lassen bereits auf den ersten Blick erkennen, dass sie ihren christologischen Ausführungen der Erzählung eine zentrale Stellung einräumen. Das zeigt der dezidierte Gebrauch, den beide von dogmatischen Gliederungsschemata machen, die wiederum als Erzählschemata fungieren: Mildenberger vom Erzählschema des ordo salutis20 und Barth von dem des „Doppelweges“ („Der Weg des Sohnes Gottes in die Fremde“21 – „Die Heimkehr des Menschensohns“22).

2. Jesus als der durch den Geist Gottes geführte Mensch. Friedrich Mildenbergers narrativ-anthropozentrische Geistchristologie des irdischen Jesus 2.1 Friedrich Mildenbergers Begründung seines narrativ-anthropozentrischen Christologieansatzes Mildenberger hat im Rahmen seines Projektes einer „Biblischen Dogmatik“23 eine narrative Christologie entwickelt. Dieser Kontext ist hermeneutisch bedeutsam. Mildenbergers „Biblische Dogmatik“ weist eine (heils)ökonomische Pointierung auf und ist durch eine „Abneigung gegen ein Denken Gottes“24, genauer gesagt: eine Ausrichtung gegen die Aseität Gottes gekennzeichnet, die sich etwa in einer Ablehnung der immanenten Trinitätslehre manifestiert, der das Odium des Metaphysischen anhafte. Im Blick auf die Gottesrede hat Mildenberger bereits werkgeschichtlich früh festgehalten: „Gegenständlichkeit Gottes meint hier […] seine Vergegenständlichung in der durch ihn bestimmten Menschlichkeit“.25 Entsprechend der (heils-)ökonomischen Pointierung blickt Mildenberger auf das Handeln Gottes26 am Menschen: „Indem 19 20 21 22 23

Mildenberger, Biblische Dogmatik, Bde. 1–3. Mildenberger, Biblische Dogmatik 3, 109–191. Barth, KD IV/1, 171–231. Barth, KD IV/2, 20–172. Vgl. zu diesem Projekt einleitend Jaspert, Biblische Theologie und Kirchengeschichte, 143–181, bes. 152–155. Zum Ansatz von Mildenberger siehe auch Coors, Scriptura efficax, 66–78. 24 So zugespitzt Maurer, Tendenzen neuerer Trinitätslehre, 5. 25 Mildenberger, Gotteslehre, 160. 26 Treffend charakterisiert Maurer, Tendenzen neuerer Trinitätslehren, 5, die Auffassung Mildenbergers: „Gott kann nicht gedanklich vom Handeln Gottes unterschieden werden, weil sich in Gottes Dabeisein erst Sein konstituiert.“

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in der Gottesgeschichte – zuerst in Jesus, und dann in denen, die in Jesu Gott entsprechendem Menschsein Raum finden – sich Menschsein so verwirklicht, wie es sein soll, kommt gerade hier Wirklichkeit in ihre Wahrheit.“27 Hier werden erste Konturen von Mildenbergers Christologieentwurf sichtbar, sofern er nämlich beim Menschen Jesus, seinem Menschsein und seiner Menschlichkeit ansetzt und eo ipso als anthropozentrisch bezeichnet werden kann: „[D]er Mensch Jesus entspricht in seiner Menschlichkeit der Gottheit Gottes.“28 Eng verknüpft mit der (heils)ökonomischen Pointierung ist die namenstheologische und narrative Ausrichtung von Mildenbergers Ansatz. Weil Gott durch einen Eigennamen bezeichnet wird, muss die Rede von Gott erzählende Rede sein. Wir lernen ihn – Mildenberger zufolge – gleichsam narrativ an seinem Namen kennen. Er wird nur in der erzählten Geschichte gegenständlich, die wiederum an seinem Namen haftet: Der Name „bezeichnet das Subjekt der Geschichte, in der Gott dabei ist, und kann als abgekürzte Formel diese Geschichte auch selbst vertreten.“29 Die erzählende Rede von Gott ist für Mildenberger indispensabel, d. h. schlicht notwendig: „Fragt einer […], wie er denn nun diesen Namen verstehen soll, dann werden wir nicht auf begriffliche Bestimmungen verweisen, sondern werden Geschichten – die Geschichte Gottes – erzählen müssen.“30 Mildenbergers besonderes Interesse richtet sich – der (heils)ökonomischen Pointierung entsprechend – auf die erzählte Gegenwart Gottes: „Gegenwart ist uns diese Selbstentsprechung Gottes in Jesus von Nazareth als Erzählung.“31 Ganz im Sinne Mildenbergers bemerkt Christian Link: „Nur erzählend läßt sich sein Name ins Heute tragen.“32 Neben der christologischen Ausrichtung zeigt sich hier auch eine dezidiert pneumatologische: „Diese Gegenwart ist der Heilige Geist selbst.“33 Der geistchristologische Ansatz der Christologie Mildenbergers hat hier gleichsam seine Wurzeln. Pneumatologie und Christologie greifen dort ineinander, wo sich die Zeit der Erzählung, d. h. die Zeit, die jemand braucht um heute eine Erzählung zu lesen bzw. zu hören, und die erzählte Zeit, die die Zeit des irdischen Jesus betrifft, einander durchdringen.34 So betont Mildenberger, 27 28 29 30

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Mildenberger, Gotteslehre, 167. Ebd., 101. Dort kursiv. Mildenberger, Biblische Dogmatik 2, 393. Mildenberger, Gott für die Zeit, 161. Link (Die Spur des Namens, 44) bemerkt zur Funktion des Namens: „Einen Begriff kann man definieren, von einem Namen muß man erzählen, um seinen Träger kennenzulernen. Der Begriff bezeichnet eine Allgemeinheit, von der es beliebig viele Exemplare (Götter, Engel oder Dämonen) gibt, der Name hebt den unverwechselbar Einzelnen aus der Menge bloßer Duplikate heraus.“ Vgl. auch ebd., 1. Mildenberger, Gotteslehre, 116. Link, Die Spur des Namens, 45. Mildenberger, Gotteslehre, 117. Dort kursiv. Zu der erzählten Zeit und der Zeit der Erzählung vgl. Mildenberger, Biblische Dogmatik 1, 173–180.

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dass in einer Erzählung beides, „die Zeit des Erzählens mit der erzählten Zeit zusammengesprochen werden soll“.35 Mildenberger agiert darüber hinaus gleichsam im Abgrenzungsmodus, wenn er seine Christologie betont als eine Geist-36 und nicht etwa LogosChristologie37 entfaltet. Bereits darin unterscheidet er sich signifikant von Barth, dessen Lehre von der dreifachen Gestalt des Wortes Gottes eine Inkarnationschristologie zugrunde liegt:38 „Mildenberger does not interlock the notion of Christ as the Word of God with the notion of Christ as the eternal Logos, which is the eternal Son. In other words, in his account of the Word of God Mildenberger only uses the speech model, whereas Barth combines the Logos model and the speech model.“39 Für Mildenberger ist dieser logoschristologische Weg versperrt, weil er metaphysisch allzu belastet sei.40 Mildenberger betrachtet etwa die klassische Logos-Christologie des Nizänums nicht als irreversible Lehre im Sinne des klassischen Dogmas41, sondern gewissermaßen als eine zu problematisierende „(substanz)metaphysierte“ Gestalt der doxologischen Rede biblischer Hymnen. Problematisch sei der bereits in ihnen sich manifestierende, mehr oder weniger schleichende Subjekt-und Prädikatswechsel42, wie er sich schon im Philipperhymnus (Phil 2,6–11), aber auch im Johannesprolog (Joh 1,1–18) der Fall sei.43 Mildenberger 35 Mildenberger, Biblische Dogmatik 2, 400. Die „Reziprozität zwischen Narrativität und Zeitlichkeit“ hat auch Ricoeur, Erzählung, Metapher und Interpretationstheorie, 233, betont. 36 Zur Geistchristologie vgl. meine kritische Evaluation: Hofheinz, Der geistgesalbte Christus, 335–354. Fernerhin: Hunsinger, Salvator Mundi: Three Types of Christology, 126–145, bes. 135–137. 37 Mildenberger konzediert indes, dass die Logos-Christologie nicht einfach Produkt hellenistischer Philosophie, sondern biblisch in den Christus-Hymnen verwurzelt sei. Vgl. ders., Biblische Dogmatik 1, 133. Freilich würden diese eine eschatologische Pointe besitzen. Die Hymnen beschrieben nicht einfach, was der Fall sei, sondern antizipierten, was einmal der Fall sein werde. Vgl. Mildenberger, Biblische Dogmatik 1, 130–135; 152; 190; ders., Biblische Dogmatik 2, 426–438; 452. 38 Vgl. Barth, KD I/1, 89–128. Zum Barth-Mildenberger-Vergleich siehe Muis, Karl Barth and Friedrich Mildenberger, 91–103. 39 Muis, Karl Barth and Friedrich Mildenberger, 97. 40 Dabei kann Mildenberger durchaus den s.E. daraus resultierenden Sprachverlust würdigen – z. B. im Blick auf die Präexistenzvorstellung. Vgl. Mildenberger, Biblische Dogmatik 2, 386–393. 41 Vgl. den berühmten Traditionssatz des Vinzenz von Lerinum (Commonitorium II,5): „[…] quod ubique, quod semper, quod ab omnibus creditum est.“ 42 Vgl. Mildenberger, Biblische Dogmatik 3, 127; ders., Biblische Dogmatik 2, 387 f. Dazu: Dalferth, Der auferweckte Gekreuzigte, 12 f. Ein ähnlicher Vorwurf findet sich auch bei John Hick, Jesus und Weltreligionen, 184. 43 Vgl. Mildenberger, Biblische Dogmatik 2, 387 f. Maurer, Tendenzen neuerer Trinitätslehre, 5 f., weist kritisch darauf hin, dass es sich Mildenberger mit der Unterscheidung von Namen und begrifflicher Kennzeichnung zu einfach macht: „Ist aber ,Sohn Gottes‘ demgegenüber ein Begriff, der als Prädikat dem Subjekt ,Jesus Christus‘ zugeordnet wird? Mildenberger betrachtet es als problematisch, daß bereits der Hymnus Phil 2,6–11 das Gefälle umkehrt. Nun wäre das aber sprachphilosophisch auch anders zu erklären: als Entdeckung der Identität zweier Eigennamen, welche Entdeckung gerade das Ziel des Hymnus ist: Kyrios = Jesus Christus. […] Hat aber die biblische Geschichte in der Identität ,Kyrios = Jesus Christus‘ ihren Brennpunkt, so ist auch

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möchte mithin nicht das biblische Zeugnis gegen die dogmatische Lehrbildung ausgespielt wissen, sofern denn die Vertauschung von Subjekt und Prädikat durchaus in das Neue Testament zurückreiche.44 Aus der beim Menschen Jesus ansetzenden Aussage „Jesus ist göttlich“ werde die Aussage: „Der göttliche Logos nimmt das menschliche Wesen an“.45 Das konkrete Subjekt in der ersten Aussage werde zum abstrakten Prädikat der zweiten Aussage transformiert. Gleichsam unter der Hand sei damit ein Referentenwechsel vollzogen und aus dem „Sohn Gottes“ „Gott der Sohn“ geworden.46 Gegenüber dieser metaphysischen Transformation möchte Mildenberger mit seiner Geistchristologie auf den ursprünglichen Sinn bzw. die ursprüngliche Aussage zurücklenken und die christologische Lehrbildung antimetaphysisch umlenken. Ein solches antimetaphysisches Umlenken aber sei in der Konkretion nur auf dem Weg der Narration möglich. Erzählendes Denken bedeutet also für Mildenberger eine antimetaphysische Wende und vice versa. Erzählendes Denken ist, anders gesagt, Bestandteil einer nachmetaphysischen Theologie.47 Nur so, auf dem Weg eines narrativen Einholens dieser Intention, könne die Göttlichkeit des Menschen Jesus zur Sprache gebracht werden, die von der Humanität eines transzendenten, göttlichen Wesens abzugrenzen sei.

2.2 Die Durchführung eines narrativ-anthropozentrischen Christologieansatzes im Allgemeinen bei Friedrich Mildenberger So wie Mildenberger mit der Besinnung auf den Gottesnamen dazu einlädt, Gott nicht metaphysisch, sondern von der erzählten Geschichte her zu verstehen, so möchte er auch die Wirklichkeit Jesu „von der erzählten Geschichte des irdischen Jesus her erfass[en]“ – und zwar „ohne dass auf die Suggestion eines rekonstruierbaren Lebens Jesu zurückgegriffen“48 wird. Anders gesagt: So wie Mildenberger in der Gotteslehre49 den Namen Gottes nacherzählen möchte, so möchte er dies auch im Blick auf den irdischen Jesus tun. Dieses

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diese Identität immer wieder neu zu entdecken und bleibt – als unumkehrbare Identität – unauslotbar. Liegt nun in der Formulierung dieser Identität, die mit der unerschöpflichen Entdeckung meiner Identität in der biblischen Geschichte zur Deckung kommt, eine Explikation des unüberholbaren Gottesnamens vor, so ist nicht einzusehen, warum diese unumkehrbar identischen Relationen nicht als äußerste Verdichtung angemessenen Redens von Gott gelten sollten.“ Vgl. Mildenberger, Biblische Dogmatik 2, 387. Vgl. Mildenberger, Biblische Dogmatik 3, 127. Vgl. Mildenberger, Biblische Dogmatik 2, 386–388; ders., Biblische Dogmatik 3, 427. Vgl. Thaidigsmann, Umkehr des Denkens, 122–137. Mildenberger / Assel, Grundwissen der Dogmatik, 171; zur Suggestion vgl. außer Mildenberger, Biblische Dogmatik 3, 120 f., auch Hofius, Die Frage nach dem „historischen Jesus“ als theologisches Problem, 79–117; Schellong, „Was sucht ihr den Lebendigen bei den Toten?“, 2–47; Wengst, Der wirkliche Jesus. Vgl. Mildenberger, Gotteslehre, bes. Kap. 2 (54–126).

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Vorgehen sieht er durch eine Trinitätslehre in ökonomischer Pointierung legitimiert.50 Dabei hebt Mildenberger die besondere Valenz der Kategorie „Zeit“ hervor: Es „muss das Verhältnis der vergangenen und abgeschlossenen Geschichte Jesu und ihrer gegenwärtigen Wirksamkeit eigens bedacht werden: Inwiefern erschließen sich in den Jesus-Erzählungen (streng genommen lässt sich hier nur im Plural reden) gegenwärtige menschliche Lebensgeschichten so, dass diese sich darin auf ,Gottes Geschichte‘ hin öffnen?“51 Die Frage nach der Gottheit Jesu, die Mildenberger, wie gesagt, nicht metaphysisch im Sinne der traditionellen Inkarnationschristologie beantworten und entfalten möchte, verlangt eine tragfähige alternative Antwort. Sie muss nach Mildenberger auf die Zugehörigkeit Jesu zu Gott kaprizieren und dabei die erzählten Geschichten berücksichtigen. Mit H. Assel gesprochen, lautet die Antwort auf die Frage nach der Gottheit Jesu: „Für Mildenberger erweist sich […] die Zugehörigkeit Jesu zu Gott dort, wo sich in den Erzählungen von Jesus die Strittigkeit Gottes in den welthaften Widerfahrnissen lichtet […]. Wenn sich aber die Strittigkeit Gottes als Schöpfer (und der Welt als Schöpfung) in der letzten Strittigkeit endgültigen Todes oder Lebens zuspitzt […], dann fassen die Erzählungen von Kreuz und Auferstehung Jesu das Leben Jesu zusammen: Im Sterben Jesu und seiner Auferweckung hat Gott schon zugunsten des Lebens entschieden. Erfahrbar wird dies, wenn sich durch diese Erzählungen die strittigen Lebenswiderfahrnisse zugunsten des Lebens (gemeinsam) zur Sprache bringen lassen: Darin erweist sich Jesus als eschatologischer ,Sohn Gottes‘ und Gott als ,der, der Jesus Christus von den Toten auferweckte und dem, was nicht ist, ruft, dass es sei‘ (Röm 4,17).“52 Hinsichtlich der konkreten Durchführung seines christologischen Ansatzes im § 28 seiner „Biblischen Dogmatik“ wird die Geschichte Jesu von Mildenberger im Schema des ordo salutis53 entsprechend seinem ökonomischen Ansatz nacherzählt: „Da jedenfalls ein ,Leben Jesu‘ im Sinne biographischer Kontinuität hier nicht das Ziel der Bearbeitung sein kann, braucht es eine eher systematisch bestimmte Anordnung dessen, was zu sagen ist.“54 Für den Rückgriff auf das Schema des ordo salutis nennt Mildenberger zwei Gründe: „1. Weil im ordo salutis Erfahrungen mit dem Heiligen Geist und ihre Refle50 51 52 53

Vgl. Mildenberger, Biblische Dogmatik 3, 109. Vgl. Mildenberger / Assel, Grundwissen der Dogmatik, 171. Mildenberger / Assel, Grundwissen der Dogmatik, 172. Zum ordo salutis vgl. Hofheinz, Wiedergeburt?, 371–376; Marquardt, Art. ordo salutis, 637–639; Matthias, Ordo salutis, 318–346. Mildenberger (Biblische Dogmatik 3, 122 f.) nimmt dieses Schema durchaus als problembehaftet wahr und spricht von der „Schwierigkeit, die in dieser dogmatischen Tradition begründet ist: Diese setzt den Menschen als Sünder voraus, an dem der Heilige Geist in seiner das durch Christus erworbene Heil zueignenden Gnade wirksam wird. Auch hier sind natürlich dieselben Vorgaben wirksam wie in der traditionellen Christologie, das vorausgesetzte Gesetzesverständnis wie die absolute Sonderstellung Christi. Davon haben wir keinesfalls abzusehen, wenn wir hier weiter fragen.“ 54 Mildenberger, Biblische Dogmatik 3, 188. Vgl. auch Barth, KD IV/2, 113.

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xion so versammelt sind, dass gerade der Widerfahrnischarakter der Heilszueignung herausgestellt wird. 2. Weil durch dieses Zusammendenken von Pneumatologie und Jesusüberlieferung die besondere Gestalt des Menschen Jesus ebenso in Blick kommen soll wie seine Inklusivität, die Möglichkeit, dass wir uns in seinem Leben unterbringen.“55 Das dogmatische Schema des ordo salutis verhilft Mildenberger aus der Verlegenheit einer Darstellungsweise der Geschichte Jesu bzw. dem Wegfall einer Jesusbiographie heraus: „Sicher gibt es hier keine zwingende Anordnung, wenn einmal feststeht, daß ein biographischer Aufriß, der womöglich gar eine innere Entwicklung Jesu erfassen will, nicht möglich ist. Wie sollen wir dann vorgehen? Dazu will ich mich mit allem Vorbehalt an die dogmatische Bestimmung der Wirksamkeit des Heiligen Geistes anlehnen, also an den sog. ordo salutis.“56

2.3 Die Durchführung eines narrativ-anthropozentrischen Christologieansatzes im Besonderen bei Friedrich Mildenberger Noch bevor Mildenberger auf die einzelnen Elemente des ordo salutis zu sprechen kommt und die Geschichte Jesu als die des durch den Geist geführten Menschen erzählt, kommt er auf die alttestamentliche Gestalt des Richters und Philisterbefreiers Simson zu sprechen.57 Wer Jesus verstehen will, muss den erwählten Retter Simson verstehen. In Jesu Geschichte, sowohl seiner Geburt als auch seinem Tod, bildet sich die Geschichte Simsons ab und beleuchtet sie zugleich: „An Simson als dem erwählten Richter wird schon im Zusammenhang seiner Geburtsgeschichte deutlich, wie Erwählung der Schöpfung vorangeht: weil er mit der Befreiung Israels von den Philistern den Anfang machen soll, wird er geboren. Die Führung des Erwählten durch den Geist Gottes zeigt gerade jene Leibhaftigkeit des Menschseins, in der die gelegene Zeit erst die Spontaneität entbindet, in welcher sich das rettende Tun vollzieht.“58 Bei Jesus wie bei Simson „zeigt sich jenes Zusammentreffen von Innen und Außen, in welchem Gott nahe ist“.59 Die Stationen des durch den Geist geführten Menschen werden bei Mildenberger nach der Reihung des ordo salutis entfaltet: 1. die Berufung, 2. die Erleuchtung, 3. die Bekehrung, 4. die Wiedergeburt, 5. die Rechtfertigung, 6. die geheimnisvolle Einung, 7. die Erneuerung und Bewahrung und 8. die Verherrlichung. Allen diesen Stationen werden biblische Erzählungen zugrunde gelegt, die der narrativen Entfaltung der Stationen dienen: 1. die 55 Mildenberger / Assel, Grundwissen der Dogmatik, 311. Vgl. Mildenberger, Biblische Dogmatik 3, 188. 56 Mildenberger, Biblische Dogmatik 3, 122. 57 Vgl. ebd., 113–120. Vgl. auch die Auslegung der Simson-Geschichte durch Welker, God the Spirit, 65 ff. 58 Mildenberger, Biblische Dogmatik 3, 188. 59 Ebd., 188. Vgl. ebd., 119 f.

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Johannestaufe, 2. die Versuchung Jesu, 3. die Salbung Jesu, 4. das Vaterunser, 5. die Gleichnisse Jesu, 6. Nachfolgeerzählungen, 7. die Erzählungen von der Syrophönizierin und dem Petrusbekenntnis, 8. die Auferstehungserzählungen. Die Einzelheiten können hier freilich nicht entfaltet werden – schon gar nicht im Blick auf den Reichtum ihrer biblischen Bezüge, wie sie Mildenberger herstellt. Wichtig ist, dass die Geschichte Jesu auf die Konstitution des Menschen in seiner Gottesbeziehung hin (auch) inklusiv verstanden wird. Anders gesagt: In Mildenbergers Narration von Jesus Christus ist die Anthropologie stets Zielpunkt. Es geht ihm um unsere Konstitution in der Gottesbeziehung. Insofern wird Christologie betont auf Soteriologie reduziert. Dabei ist die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, den lebendigen Christus zugunsten einer pro nobis-Verzweckung aus dem Blick zu verlieren: „[T]he idea of ordo salutis becomes a kind of a distraction. It directs your attention to how you’re doing when living out the Christian life, as opposed to keeping your focus on Christ alone. It’s almost like Peter being out there on the water, and he’s looking at Christ, but all of a sudden the question of ordo salutis arises and he looks to himself and starts sinking. There’s a way in which Christian piety can become too preoccupied with itself, and the ordo salutis concept is perhaps one way in which that is fostered.”60 In diesem Perspektivverlust oder zumindest in dieser Perspektivverschiebung besteht die implizite Gefahr der Anthropozentrik von Mildenbergers narrativ-christologischem Programm: Das Leben Jesu transparent zu machen und zwar hin auf das Allgemein-Menschliche. Diese Programmatik zeigt sich u. a. darin, dass Mildenberger Jesus als Urbild wahren Menschseins verstanden wissen will.61 Die Dogmatik stehe vor der Aufgabe, Jesu besonderes Menschsein zu erfassen und nachzuvollziehen. So versteht Mildenberger z. B. Jesu Versuchung (2.) in der Wüste als Bewährung des Menschen: Er bewährt sich als Mensch unter Gott im Einklang mit sich selbst, d. h. im Einklang mit seiner leibhaften Lebendigkeit. Die erzählerischen Sujets (Wüste, Sein bei den Tieren, Dienst der Engel etc.) werden in ihrer Metaphorik dahingehenden reflektiert, dass in dem von Gott her widerfahrenden Leben im lebensfeindlichen Außen (Wüste) Leib und Geist zusammenkommen. Ein solches Leben sei leibhaft lebendig wie die Tiere und auf Gott hin ausgerichtet wie die Engel.62 Dementsprechend geht es bei Jesu Taufe (1.) – Mildenberger zufolge – um das Urbild der Erwählung, die der Geistträger Jesus demonstriert,63 bei seiner Versuchung (2.) – wie gesagt – um die geistig-leibliche Ausrichtung auf Gott hin, bei der Salbung (3.) um das Widerfahrnis unmittelbarer Gottesnähe,64 im 60 61 62 63 64

Hunsinger, Focus on Christ, 161. Zur Urbildchristologie vgl. Mildenberger / Assel, Grundwissen der Dogmatik, 190 f. Vgl. Mildenberger, Biblische Dogmatik 3, 132–136; 189. Vgl. ebd., 123–132; 188 f. Vgl. ebd., 136–142; 189.

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Vaterunser (4.) um Anrufung Gottes als Vater in der Welt,65 in den Gleichnissen Jesu (5.) um die Welt als Gleichnis des kommenden Gottesreiches,66 bei Jesu Gemeinschaft (6.) um die Gemeinschaft der Erwählten,67 bei der Syrophönizierin und Petrus (7.) um die exklusive (uns ausschließende) Passion Jesu und die uns einschließende gemeinschaftliche Kreuzesnachfolge68 und schließlich in der Auferstehung Jesu (8.) um die Eröffnung der Zukunft in Gottes Nähe.69 Nicht zu vergessen sind und werden bei Mildenberger die Übergangenen, die dem Gedächtnis Gottes anzubefehlen sind und für die Raum offengelassen werden soll. Mildenberger nimmt hier Bezug auf die unschuldigen Kinder, die dem Kindermord in Bethlehem zum Opfer fallen.70 Die Ausführungen Mildenbergers würdigend, möchte ich festhalten: Es zeigt sich bereits an der Disposition seiner Ausführungen, dass sich dogmatische Strukturen, hier in Gestalt der klassischen (alt)protestantischen Lehre bzw. des Schemas vom ordo salutis, und die narrative Entfaltung biblischer Geschichten keineswegs wechselseitig ausschließen, sondern geradezu fordern. Mildenberger führt in seiner narrativen Christologie ein „Zusammendenken der traditionellen dogmatischen Pneumatologie mit der Jesusüberlieferung“71 durch und zwar in einer Weise, dass das Menschseins Jesu auf seine doppelte Pointierung, nämlich das Zugleich von Exklusivität und Inklusivität, hin transparent wird:72 Gemeint ist „einerseits die besondere Gestalt seines Menschseins […] und andererseits die Möglichkeit […], daß wir uns selbst bei diesem Menschsein Jesu unterbringen.“73 Der vermeintliche Hiat zwischen narratio und argumentatio wird bei Mildenberger erkennbar zu überwinden versucht. Kritisch anfragen kann und muss man sicherlich im Blick auf Mildenbergers Darstellung der Geschichte Jesu, ob das geistchristologische Paradigma, das auf „die Wirksamkeit des Geistes“74 fokussiert, nicht den Blick verstellt für wichtige andersgelagerte christologische Elemente, wie sie sich in den Evangelien finden.75 So beginnt etwa das Markusevangelium76 keineswegs mit Jesu 65 66 67 68 69 70 71 72

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Vgl. ebd., 142–151; 189 f. Vgl. ebd., 151–159; 190. Vgl. ebd., 159–167; 190. Vgl. ebd., 168–177; 190. Vgl. ebd., 177–181; 191. Vgl. ebd., 181–187; 191. Vgl. auch Volf, The End of Memory ; Moltmann (Hg.), Das Geheimnis der Vergangenheit. Mildenberger, Biblische Dogmatik 3, 188. Mildenberger / Assel, Grundwissen der Dogmatik, 172: „Die Christologie wird bei Mildenberger […] von der zugleich besonderen und doch inklusiven (die anderen Menschen einschließenden), ,urbildlichen‘ Nähe Gottes im Leben Jesu her verstanden […]. Das menschliche Leben (von der Johannestaufe bis zum Kreuz) wird im Blick darauf nacherzählt, wie es sich für Jesus im Wort durch den Geist auf Gott als Vater hin erschloss.“ Mildenberger, Biblische Dogmatik 3, 188. Ebd., 123. Muis (Karl Barth and Friedrich Mildenberger, 102) beobachtet ein offenbarungstheologisches

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Berufung bzw. der Johannestaufe (Mk 1,9–13) im Sinne der Geistbegabung und Kennzeichnung Jesu als Geistträger.77 Elementare Strukturen der narrativen Christologie des Markus werden bereits im Prolog seines Evangeliums (Mk 1,1–8) sichtbar. Dazu gehört vor allem die vorausgesetzte Präexistenz Jesu Christi.78 Zitiert wird in den Schlüsselversen Mk 1,2 f. eine Zitatenkomposition aus Mal 3,1 verbunden mit Ex 23,20 und daran angeschlossen Jes 40,3. Markus schreibt dieses Gesamtzitat dem Propheten Jesaja zu und setzt voraus, dass derselbe Zeuge jener himmlischen Szene geworden ist, in der ein Ich (der Vater) ein Wort an ein Du (den Sohn Gottes) richtet. Der Evangelist Markus versteht dies so, dass der Vater dem präexistenten Sohn im Himmel ankündigt, Johannes den Täufer als Botschafter vor ihm her zu senden, damit Johannes Jesus, dem j}qior, den Weg bereitet. Durch diese Szene eingeleitet, steht das gesamte Markusevangelium unter dem Vorzeichen einer „hohen Christologie“, die durch die Vorstellung der Präexistenz gekennzeichnet ist (vgl. als weitere Präexistenzzeugnisse Mk 9,37; 12,6).79 In den V. 4–8 wird erzählt, dass Johannes die Wegbereitung (V. 3: „Bereitet dem Herrn den Weg“) verkündigt hat, indem er zur Umkehr ruft (V. 4) und voraussagt (V. 7), dass nach ihm ein Stärkerer kommen wird, der dadurch qualifiziert ist, dass er mit dem Heiligen Geist tauft (V. 7), was nach alttestamentlicher Tradition Gott vorbehalten ist (vgl. Joel 3,1 f.; Jes 32,15 ff.; 44,3; Sach 12,10; Hes 18,31; 36,25 ff.). Zu fragen wäre diesbezüglich, ob eine inkarnationschristologische Interpretation,80 wie sie sich etwa bei Karl Barth findet, im Vergleich zu Mildenbergers geistchristologischem Rekonstruktionsversuch nicht vorzuziehen ist, zumal sie sich gerade im Blick auf präexistenzchristologische Implikationen biblischer Erzählungen als anschlussfähiger erweist.81

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Defizit bei Mildenberger : „Mildenberger separates the Logos model of the Word of God from the speech model and rejects the Logos Christology, but he offers no alternative explanation of why and how Jesus Christ is the definitive revelation of God. More than that […]: it is [according to Mildenberger ; M.H.] not God’s revelation in Christ that is constitutive for the use of Scriptures as Word of God in simple God-talk but rather the inspiration of the Spirit. When, with Barth, he identifies Christ as the only Word of God […], this means only that this Word of God determines our time and history. Why would Christ be only Word and determine our history if he did not reveal ultimately and definitively who and how God is?“ Vgl. zum folgenden Abschnitt: Hofheinz, Dem Geheimnis der Sohnschaft auf der Spur, 51 f. Vgl. Mildenberger, Biblische Dogmatik 3, 125; 128. Dies betont u. a. Schlatter, Markus, 15. Vgl. etwa Stuhlmacher, Biblische Theologie 2, 137; Gnilka, Theologie des Neuen Testaments, 159; Hofius, Jesu Zuspruch der Sündenvergebung, 55. Vgl. auch Hays, Reading Backwards, 20 f.: „Mark’s opening mixed citation already contains a major clue about the divine identity of Jesus. […] there is an implicit claim about Jesus’ divine status in the opening lines of this Gospel.” Zur Frage nach geistchristologischen Implikationen in Barths Versöhnungslehre vgl. Hunsinger, Disruptive Grace, 157–162. Zur Interpretation der bei Mildenberger bezeichnenderweise eschatologisierten Präexistenzvorstellung vgl. ders., Biblische Dogmatik 2, 193–196; ders., Biblische Dogmatik 3, 427–430; zu Barths Rezeption von Präexistenzaussagen vgl. Hofheinz, „Er ist unser Friede“, 308–310.

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3. Karl Barths narrativ dimensionierte Inkarnationschristologie 3.1 Karl Barth und die narrative Theologie Dass das Erzählen für Karl Barths Theologie eine besondere Valenz besitzt, ist seit langem bekannt. Auch im Blick auf sein theologisches Umfeld lässt sich dies bestätigen.82 Zu eindeutig sind Barths eigene Hinweise, als dass man den narrativen Wesenszug seiner Theologie übersehen könnte: „With great economy […] he presented his doctrines by appealing mainly to biblical narratives“.83 In dem Fragment aus dem Nachlass „Das christliche Leben“ (KD IV/4) heißt es etwa: „Vom Kommen des Reiches Gottes reden, konnte nur heißen: seine Geschichte erzählen.“84 Und unter Anspielung auf seinen berühmten „Tambacher Vortrag“85 (1919) und das zentrale Motiv vom „Vogel im Fluge“86 bemerkt Barth zu Beginn seines Schwanengesangs „Einführung in die evangelische Theologie“ (Abschiedsvorlesung im Wintersemester 1961/62) programmatisch: „Sie [die Theologie; M.H.] würde ihren Gegenstand verlieren und damit sich selbst preisgeben, wenn sie irgendeinen Moment des göttlichen Vorgangs statisch für sich, statt in seinem dynamischen Zusammenhang – dem Vogel im Fluge, nicht einem Vogel auf der Stange vergleichbar – sehen, verstehen, zur Sprache bringen, wenn sie vom Erzählen der ,grossen Taten Gottes‘ zum Feststellen und zur Proklamation eines dinglichen Gottes und göttlicher Dinge übergehen wollte.“87 Die Geschichte der in Jesus Christus geschehenen Erfüllung des Bundes Gottes mit seinem Volk will erzählt werden – so hat Barth es stets betont und gerade in diesem bundes- wie versöhnungstheologischem Erschließungszusammenhang die Notwendigkeit des Erzählens unterstrichen.88 Es geht ihm um die erzählte Geschichte des Bundes Gottes mit seinem Volk bzw. der Versöhnung der Welt in Jesus. Bereits zu Beginn des Abschnitts „Der Weg des Sohnes Gottes in die Fremde“ (KD IV/1, § 59.1) konstatiert Barth bezeichnenderweise: „Die Versöhnung ist Geschichte. Wer sie kennen will, muß sie als solche kennen. Wer ihr nachdenken will, muß ihr als solcher nachdenken. Wer von ihr reden will, muß sie als Geschichte erzählen.“89 82 Verwiesen sei auf das Beispiel des niederländischen, Barth und seiner Theologie nahestehenden Theologen Kornelis Heiko Miskotte. Dazu: Hailer, Heiko Miskottes Israel-Theologie als theologisches Kaleidoskop, 291–316; Plasger, Biblisch erzählen, 249–263; Brouwer, Erzählendes Denken bei K.H. Miskotte, 34–56. 83 Ford, Barth and God’s Story, 13. 84 Barth, Das christliche Leben, 431; dort z. T. kursiv. 85 Vgl. Barth, Der Christ in der Gesellschaft, 546–598. 86 Ebd., 564–566. 87 Barth, Einführung in die evangelische Theologie, 16. 88 Vgl. etwa ebd., 30 ff.; 220. Dazu: Hofheinz, „Er ist unser Friede“, 91–103; Busch, Der eine Gnadenbund Gottes, 341–354; Pietz, Das Drama des Bundes. 89 Barth, KD IV/1, 171. Ähnlich ders., KD II/2, 206: „Wer und was Jesus Christus ist, das kann eben

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Die Hinweise auf die Bedeutsamkeit der narrativen Elemente in der Dogmatik Barths sind in der Barth-Forschung inzwischen Legion.90 Pars pro toto sei hier Christian Links treffende Charakterisierung angeführt: „Virtuos – das muss man heute kaum eigens begründen – ist in der Tat zunächst der ausgesprochen narrative, nacherzählende Charakter, den die Dogmatik auf dem Weg solchen Nach-denkens gewinnt. Barth erzählt die Geschichte Gottes mit Israel, in dessen Mitte ein Mensch, der Mensch Jesus von Nazareth, steht. Das Dogma, die zur Formel erstarrte Wahrheit, wird mit einer Beweglichkeit sondergleichen in das aufgelöst, was sie von ihrem Ursprung her ist: in einen geschichtlichen Weg, der durch Entscheidungen und Krisen hindurchführt. Das ist – historisch geurteilt – der Gegenentwurf zu Hegel: Während dort die Geschichte ins Dogma eingezeichnet wird, wird hier das Dogma durch die Geschichte interpretiert. Durch die Geschichte – das will wörtlich verstanden sein: Die Wahrheit, auf die sich der Glaube verläßt, mit der er beginnt – Gottes Ja zur Welt – ist keine in sich verschlossene Wahrheit, die uns als pure Behauptung entgegenträte. Sie ist in Jesus von Nazareth ,Fleisch‘, Geschichte vom Stoff unserer irdischen, menschlichen Geschichte, geworden, und es hieße geradezu ihre Pointe verfehlen, wollte man sie als abstrakte Norm unserer Wirklichkeit gegenüberstellen. Hier, auf dem Boden unserer eigenen Realität – nicht in einem schweigenden Hintergrund der Welt – hat Gott seine Wahrheit unter Beweis gestellt, sich tatsächlich erkennbar gemacht. Hier schließt er sich der Welt in einer Weise auf, daß er ihre Vergänglichkeit, ihren Tod und in dem allem – das ist die Basis der Christologie von KD IV/1 und KD IV/2 – ihre Sündhaftigkeit, ihre verfehlte Menschlichkeit teilt, und darum ohne sie als Gott überhaupt nicht zu begreifen ist.“91 Auch in der angelsächsischen Barth-Forschung ist ähnliches wie in diesem Zitat Christian Links beobachtet worden.92 Freilich darf man es sich mit der Einordnung Barths als „narrativen Theologen“ nicht zu leicht machen. Darauf hat wiederum Dietrich Ritschl mit seiner Antithese hingewiesen: „,Narrative Theologie‘, wenn sie die wirkliche Ausführung theologischen Denkens, Sprechens und Schreibens meint, ist ein ,misnomer‘, ein Fehlausdruck, der auf die Theologie überhaupt und auf Karl

nur erzählt, nicht aber als ein System angeschaut und beschrieben werden.“ Fernerhin: ders., KD III/3, 334. 90 Vgl. etwa Mähringer, Der Beitrag von Karl Barths trinitarischer Grammatik zur Herausbildung einer narrativen Identität; Meyer zu Hörste-Bührer, Gott und Mensch in Beziehung, 102–105; 184–189; 321–336; 390–396; Maurer, Narrative Strukturen im theologischen Denken Karl Barths, 9–21; Goebel, Den Namen anrufen – von der Trinität erzählen, 42–57; Werpehowski, Erzählung und Ethik bei Barth, 69–92. Bergner, Um der Sache willen, 219 u. ö., spricht von der „narrativen Exegese“ Barths. 91 Link, Fides quaerens intellectum, 95 f. 92 Vgl. etwa den Hinweis von Frei, The Eclipse of Biblical Narrative, VIII, auf Barths „narrative treatment of the gospel story”. Siehe auch Ford, Barth and God’s Story.

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Barth im Besonderen nicht passt.“93 Zu fragen wird indes wiederum sein, ob Ritschls Antithese nicht auf einer überzogenen Disjunktion von Erzählung und dogmatischer Begriffsbildung basiert. 3.2 Die Umformung der Zwei-Naturen-Lehre in der narrativ dimensionierten Inkarnationschristologie Karl Barths Um Barths narrativer Methode gewissermaßen auf die Spur zu kommen, möchte ich mich im Folgenden – einen Hinweis Dieter Schellongs aufnehmend – der Versöhnungslehre Barths ausschnittartig anhand von dessen Rezeption altkirchlicher Christologie in besagtem Rahmen zuwenden.94 Wie wir sehen werden, gibt sie narrative Dimensionen seiner eigenen Inkarnationschristologie preis. Doch zunächst möchte ich, wie angekündigt, den wegweisenden Hinweis D. Schellongs anführen, der Barths christologiegeschichtlichen Beitrag wie folgt würdigt: „Barth [hat] die starke Neigung zu Formeln und Begriffsdefinitionen in der kirchlichen Tradition durchbrochen und die Zwei-Naturen-Lehre zu einer Geschichtsdarstellung transformiert. […] status Christi: Das klingt noch statisch – schon wegen des lateinischen Ausdrucks ,status‘ – und auch nach Begriffshuberei. Aber die Ständelehre erzählt faktisch Christi Geschichte, die Geschichte seiner Erniedrigung (status exinanitionis) und der Erhöhung (status exaltationis).“95 Ansatz und Methode der Christologie Karl Barths wären in der Tat verkannt, würde man sie schlicht als unkritische Rezeption der altkirchlichen (Inkarnations-)Christologie charakterisieren,96 wie Barth dies bisweilen vorgeworfen wurde.97 Dass Barth die klassische Christologie nicht unkritisch rezipiert bzw. ungebrochen prolongiert, sie aber auch nicht einfach überbietet,98 wird u. a. in seiner Interpretation der chalcedonensischen Zwei-NaturenLehre evident.99 Barth wehrt der Naturenspekulation, die Anlass zu kritischen 93 Ritschl, Theologie ist explikativ und argumentativ, 159. 94 Zu Barths Rückgriff auf die klassische Christologie in seiner Versöhnungslehre vgl. Hofheinz, „Er ist unser Friede“, 305–308. 95 Schellong, Iwand als „reformierter Lutheraner“?, 245. 96 So mit Bertold Klappert, Versöhnung und Befreiung, 142. Auch Vogel (Ecce homo, 128) spricht davon, dass Barth „auf weite Strecken den Acker der so sorgfältig gepflügten und dankbar rezipierten Tradition geradezu umpflüg[t]“. 97 So etwa Dembowski, Grundfragen der Christologie, 122; Grass, Die Christologie der neueren Systematischen Theologie, 132. Vgl. auch Pannenberg, Grundzüge der Christologie, 27 f. 98 So hat treffend Maurer (Narrative Strukturen, 9) beobachtet, „dass Barth nicht daran denkt, die chalkedonensischen Formeln zu überbieten. Er füllt sie mit Leben, zeigt damit aber auch sogleich an, dass sie eine Anleitung zum Erzählen sind. Tatsächlich ist die Rede von ,Naturen‘ problematisch, solange dieser Begriff in seiner metaphysischen Bedeutung genommen wird. Es fragt sich nur, ob das nicht schon im Jahr 451 wenigstens implizit bewußt war. Das wäre im Rahmen der altkirchlichen Auseinandersetzung zu zeigen.“ Zum „Triumph des Chalcedonense“ bei Barth vgl. auch Hofheinz, „Er ist unser Friede“, 314–317. 99 Nach Plasger (Reformed Theology in Germany in the Twentieth Century, 63) sind theologie-

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Rückfragen an das Chalcedonense gab, indem er den Begriff der Natur gleichsam in die Wegmetaphorik aufnimmt bzw. in sie einbettet.100 Barth umschreibt – wie D. Schellong treffend beobachtet hat – die göttliche und die menschliche Natur Jesu Christi dadurch, dass er erstere als „Weg des Sohnes Gottes in die Fremde“ (KD IV/1, § 59.1) und die zweite als „Heimkehr des Menschensohnes“ (KD IV/2, § 64.2) darstellt. In seinem Weg in die Niedrigkeit – dem entspricht der status exinanitionis in der Zwei-Stände-Lehre101 der altprotestantischen Dogmatik – erweist Jesus Christus sein wahres Gottsein, ebenso wie im Weg der Erhöhung – dem entspricht wiederum der status exaltationis – sein wahres Menschsein. Die Zwei-Stände-Lehre fungiert mithin als Interpretament der Zwei-Naturen-Lehre. Damit soll die Wahrheit der alten Zwei-Naturen-Lehre, das Miteinander von Gott und Mensch in Jesus Christus zwar festgehalten, zugleich aber aus ihrer Statik befreit werden.102 Direkt zu Beginn des § 64.2 („Die Heimkehr des Menschensohns“) bringt Barth diese konstellative Verschränkung als Auslegung von Joh 1,14 narrativ auf den Punkt: „Das Joh. 1,14 bezeugte Ereignis der Inkarnation hat zwei Komponenten. Betont man: ,Das Wort ward Fleisch‘, dann macht man eine Aussage über Gott; man sagt dann (und sagt damit für einmal das Ganze so): Gott ging, ohne aufzuhören wahrer Gott zu sein, vielmehr in vollem Besitz und voller Betätigung gerade seiner wahren Gottheit, indem er in seiner zweiten Person oder Seinsweise, als der Sohn Mensch wurde, in die Fremde – die doppelte Fremde der menschlichen Kreatürlichkeit und der menschlichen Verkehrtheit und Verlorenheit. Betont man: ,Das Wort ward Fleisch‘, dann macht man eine Aussage über den Menschen (und sagt nun eben so noch einmal das Ganze): der Mensch kehrte, ohne aufzuhören, Mensch zu sein, vielmehr eben in seiner Kreatürlichkeit und Verdorbenheit von Gottes Sohn angenommen und aufgenommen – dieser eine Menschensohn kehrte heim: dahin, wohin er gehört, an seinen Ort als wahrer Mensch, in die Gemeinschaft mit Gott, in die Beziehung zu seinem Mitmenschen, in die Ordnung seiner inneren und äußeren Existenz, in die Fülle seiner Zeit, zu der er geschaffen, mehr noch: in die Gegenwart und den Genuß des Heils, zu dessen Empfang er in seiner Erschaffung bestimmt ist. Die in Jesus Christus geschehene Versöhnung ist das Eine und Ganze jenes Ausgangs des Gottessohnes und dieses Eingangs des Menschensohnes.“103

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geschichtlich zwei fundamentale Entscheidungen Barths als Neuerungen der christologischen Lehrbildung zu benennen: zum einen seine Neuinterpretation der chalcedonensischen ZweiNaturen-Lehre und zum anderen die konsequente Anwendung des Stellvertretungsgedankens anhand der Interpretationsfigur vom „gerichteten Richter“. So auch Link, Die Entscheidung der Christologie Calvins und ihre theologische Bedeutung, 113. Vgl. Heppe / Bizer, Die Dogmatik der evangelisch-reformierten Kirche, 387–403; Schmid, Die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche, 243–261. So zu Recht Kreck, Die Lehre von der Versöhnung, 85. Barth, KD IV/2, 20 f.

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Die Zwei-Naturen-Lehre ist gemäß Barths entscheidendem Neuansatz der Ineinssetzung von Christologie und Versöhnungslehre „ein Implikat der Doppelbewegung des Versöhnungsgeschehens“104, die mit den beiden wegmetaphorisch explizierten „Ständen“ Jesu Christi als versöhnendem Gott (Subjekt der Versöhnung) und als versöhntem Menschen (Objekt der Versöhnung) zur Sprache kommt. Die Christologie Barths erweist sich keineswegs als Explikat der Zwei-Naturen-Lehre oder der Zwei-Stände-Lehre105, sondern diese umgekehrt als ein Implikat der im Rahmen der Versöhnungslehre narrativ explizierten Christologie. Nicht das klassisch in Gestalt der zwei Naturen gefasste Wesen Jesu Christi, sondern Gottes versöhnendes Handeln in und an ihm möchte Barth beschreiben. In dieser Ausrichtung zeigt sich durchaus eine starke Parallelität zur (heils)ökonomischen Pointierung Mildenbergers, wenngleich sie bei Barth – anders als bei Mildenberger – keineswegs zu einer Liquidierung der immanenten Trinitätslehre führt.106 Barths christologisches Denken setzt – wie die Wegmetaphorik zum Ausdruck bringt – bei der konkreten, einzigartigen Geschichte Jesu Christi ein und erweist sich bereits darin als narrativ strukturiert. Barth bemüht sich darum, die traditionellen Seinsaussagen der Zwei-Naturen-Lehre zwar nicht zu eliminieren, sie aber in Geschehensaussagen zu kleiden, die er gerade auch via narrationis treffen kann. Den Rechtsgrund dieser theologischen Operation bezeichnet Barth zufolge das korrelative Verhältnis von Sein und Geschichte Jesu Christi bzw. letztlich die Trinitätslehre:107 Jesu Christi Sein ist seine Geschichte und seine Geschichte sein Sein. Christus ist, was er tut.108 Akt und Sein werden von Barth der christologischen Denkform nach im Blick auf die Geschichte Jesu Christi in eins gesetzt,109 indem Barth betont, dass das einmalige, in Raum und Zeit Geschehene der Geschichte Jesu Christi ohne auf-

104 Klappert, Versöhnung und Befreiung, 143. 105 Vgl. ebd.: „Was für die Zweinaturenlehre gilt, gilt auch für die Rezeption der Zweiständelehre. Die Koinzidenz der beiden Stände, die Interpretation des Kommens Gottes von der Erniedrigung und der Menschheit Jesu von der Erhöhung her sind nach Barth Implikate des Kreuzesgeschehens in seiner zeitlich koinzidierenden Doppelbewegung von versöhnendem Gott und versöhntem Menschen: der versöhnende Gott kommt in Jesus Christus als der wahre, sich erniedrigende Gott; der versöhnte Mensch ist Jesus der wahre, erhöhte Mensch.“ So auch ebd., 145. 106 Im Gegenteil! Maurer (Narrative Strukturen, 21) hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Barth in seiner Versöhnungslehre die Trinitätslehre narrativ vertieft, „denn das Schema der immanenten Trinität wird seinerseits zum Hintergrund für ein Geschehen in der göttlichen Ewigkeit. Das ist wichtig, weil die immanente Trinitätslehre keine präpositionale Gestalt hat, sondern die Grammatik des Redens von Gott festlegt, daher nur im Verhältnis zur ökonomischen Trinitätslehre sinnvoll ist.“ 107 Im Blick auf den Geschichtsbegriff Barths hat R.J. Meyer zu Hörste-Bührer (Gott und Mensch, 329; dort z. T. kursiv) gezeigt, dass die Erzählung bei Barth „die originäre Sprachform der Geschichte“ ist. 108 Vgl. Barth, KD IV/1, 140. 109 Vgl. Barth, KD IV/2, 120.

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zuhören, geschichtliches Ereignis zu sein, Gottes ewigem Willen, seiner ewigen Geschichte mit uns, seinem Sein gleichkommt. Jesu Christi Sein umschreibt nicht einfach nur ein Person-Sein, das die Voraussetzung und Ermöglichung seines Werkes bildet. Während die traditionelle Zwei-Naturen-Lehre von der Person Jesu Christi unter Abstraktion von ihrem Werk redet, indem sie zuerst von Jesu Christi göttlicher und menschlicher Natur, seinem Sein als Gott und Mensch spricht, um dann erst sein Werk oder Amt zu fixieren, möchte Barth diese Scheidung gerade nicht praktizieren. Person und Werk, Sein und Geschichte Jesu Christi, esse und operari sind bei Barth eng miteinander verklammert. Diese Verklammerung wiederum wird narrativ expliziert, indem das Sein zwar nicht als Sequenz des Nacheinanders von Erniedrigung und Erhöhung, aber unter Betonung des Zugleich auf dem Hintergrund eines Schemas zeitlicher Abfolge von Jesu Handeln narrativ expliziert wird. Gerade so stellt Barth die Erzählbarkeit dieses Seins heraus: „In dem einen Jesus Christus geschah Beides. Es handelt sich also nicht um zwei verschiedene, einander folgende Aktionen, sondern um eine einzige, in der jede ihrer beiden Komponenten auf die andere bezogen und auch nur in ihrer Beziehung zu ihr erkennbar und verständlich ist: der Ausgang Gottes nur in seiner Abzielung auf den Eingang des Menschen, der Eingang des Menschen nur als die Tragweite und Auswirkung des Ausgangs Gottes, und das Ganze in seiner eigentlichen und originalen Gestalt nur als das Sein und die Geschichte des einen Jesus Christus.“110 3.3 Karl Barths narrativ dimensionierte Rückübersetzung in Geschichte Die moderne Kritik an der altkirchlichen Christologie indirekt rezipierend, vergeschichtlicht Barth gleichsam die (substanz)ontologischen Aussagen über göttliche und menschliche Substanz und ihr die Person Jesu Christi konstituierendes Einssein.111 Nicht das Einssein, sondern die Einswerdung, nicht die Vereinbarkeit, sondern die Vereinigung (Fleischwerdung) hat nach Barth, der sich – wie gesagt – auf Joh 1,14 beruft, theologisch zu interessieren.112 Denn wer Jesus Christus ist, das kann nach Barth nicht abgeleitet werden aus einem 110 Ebd., 21. 111 So auch Kreck, Die Versöhnungslehre Karl Barths, 3. Klappert (Versöhnung und Befreiung, 144) beschreibt Barths Interpretation der Zwei-Naturen- und Zwei-Stände-Lehre zutreffend als „Vergeschichtlichung der traditionellen Christologie aus der Mitte der am Kreuz orientierten Barthschen Versöhnungslehre“. 112 Maurer (Narrative Strukturen, 10) macht zutreffend darauf aufmerksam: „Dass Gottes Wort sich mit der menschlichen ,Natur‘ vereinigt, kann auch so gelesen werden, dass die biblische story sich in einer menschlichen Person zuspitzt und an dieser kritischen Stelle ihre universale Relevanz erweist. Keine menschliche Person fällt aus dieser Geschichte heraus, und somit hat sich die menschliche Natur verändert, die sich als zutiefst geschichtlich erschließt. […] Jedenfalls besteht Barths genialer Zug darin, die altkirchliche Bekenntnisbildung durch die biblischen Geschichten zum Klingen zu bringen.“ Zur universalen Relevanz vgl. auch ebd., 18 f.

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abstrakten Person-, Wesens-, Natur- bzw. Substanzbegriff, ebenso wenig wie die Frage, wer Gott und wer der Mensch ist, von einem abstrakten Gottes- bzw. Menschenbegriff her beantwortet werden kann. Barth zufolge kann dies nur aus Jesu Christi Weg in die Fremde und aus der Jesu Gehorsam widerfahrenden und mit Ostern sichtbar werdenden Erhöhung des wahren Menschen(sohnes) abgelesen werden, die sich auch in der Sequenz des Zugleichs der Doppelbewegung von Erniedrigung und Erhöhung als narrativ strukturiert erweisen. Die Geschichte Jesu Christi, bei der das theologische Denken einzusetzen hat, umschreibt Barth als das biblisch bezeugte Geschehen, welches die altkirchliche Begriffsbildung geradezu sprengt. Schaut man sich nur einmal den Abschnitt „Der Weg des Sohnes Gottes in die Fremde“ (§ 59.1) auf die konkrete Umformung der Zwei-Naturen-Lehre hin etwas genauer an, so fällt auf, dass Barth das Chalcedonense ebenso wie das Zeugnis der nachapostolischen Gemeinde an das biblische Zeugnis von der Gottheit Jesu zurückbindet,113 indem er betont: „Die nachapostolische Gemeinde hat sich sofort auf diese Erkenntnis Jesu und auf das ihr entsprechende Bekenntnis zu ihm begründet. […] Das Dogma des vierten und fünften Jahrhunderts hat dieselbe Erkenntnis angesichts vieler in den ersten Jahrhunderten noch herrschender Dunkelheiten und Zweideutigkeiten ihrer Durchführung, aber auch angesichts ihrer begreiflicherweise immer wieder aufkommenden Verneinung verbindlich zu formulieren versucht. Eben sie – nicht das Dogma, aber jene im Dogma vorausgesetzte und bestätigte christliche Urerkenntnis – war der entscheidende Punkt, an dem sich dann die Geister der Kirche (oder vielmehr Kirche und Nicht-Kirche) immer wieder geschieden haben.“114 Hinsichtlich dieser christlichen Urerkenntnis aber kann Barth unter Verweis auf die neutestamentlichen Christen feststellen: „[N]icht sie haben ihn, sondern er selbst hat sich ihnen in jener Hoheit dargestellt.“115 Neben dieser Rückbindung fällt zugleich auf, dass Barth auch die Wirkungsgeschichte des Chalcedonense in den Blick nimmt und etwa den Streit zwischen den Kenotikern (Gießener Theologie) und Kryptikern (Tübinger Theologie) in der lutherischen Orthodoxie116 und den kontroverstheologischen Streit um das Extra-Calvinisticum117 zur Sprache bringt. Aber auch diese Episoden der Wirkungsgeschichte werden rückgebunden an die christliche Urerkenntnis, wie Barth sie etwa in Phil 2,7 f.118 und Joh 1,14119 expliziert findet. 113 Barth (KD IV/1, 174) betont, dass die neutestamentliche Überlieferung den Menschen Jesus „aus der Reihe der anderen Menschen heraus[rückt]“ und „ihn aller menschlichen Geschichte gegenüber auf Gottes Seite“ stellt. 114 Barth, KD IV/1, 175. 115 Ebd., 177. 116 Vgl. ebd., 197–199. 117 Vgl. ebd., 197. 118 Vgl. ebd., 180 f.; 196 f.; 205 f.; 211. 119 Vgl. ebd., 180; 205; 225. Barth betont dabei das Judesein Jesu: „Das Wort wurde – nicht

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Das scheinbar wirre, ungeordnete Neben-, In- und Miteinander an Verweisen auf apostolische Väter120, Kirchenväter121 und weitere Gestalten der Wirkungsgeschichte einerseits und den reichen biblischen Bezügen bei Barth andererseits, die immer wieder auf die Evangelienerzählungen122, die christologischen Hoheitstitel123, aber auch das alttestamentliche Zeugnis124 rekurrieren und gesamtbiblisch dimensioniert sind, weist – bei Lichte betrachtet – eine distinkte Intention auf. Es erweist sich im Sinne der genannten Rückbindung gewissermaßen als argumentationsstrategisch motiviert: Es geht Barth um eine Umformung der Zwei-Naturen-Lehre im Sinne einer Rückübersetzung. Genauer gesagt: Barth bemüht sich gleichsam um eine narrativ strukturierte Rückübersetzung in Geschichte, weil Jesus Christus nichts anderes als diese Geschichte sei:125 „Erst in dieser Rückübersetzung der statischen Inkarnationschristologie in eine an Kreuz und Auferweckung und ihrer Integralbedeutung orientierte geschichtliche Dynamik ist das Spezifikum der Barthschen Rezeption und Modifikation traditioneller Christologie zu sehen.“126 Solche Rück-Übersetzung kehrt gleichsam zurück zu dem Geschehen, das sich in Jesus Christus ereignet hat. Sie hat – wie alles legitime Reden von Gott – nachträglichen bzw. nach-denkenden Charakter, indem sie das einstige und doch bleibend aktuelle Geschehen verfolgt und nachzuvollziehen versucht. Als nachträgliche Interpretation kann diese Rückübersetzung auf das Geschehen der gottmenschlichen Aktion hinweisen und ihm entsprechen. Die Geschichte Jesu Christi, der auf diese Weise nach-gedacht und entsprochen

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,Fleisch‘, Mensch, erniedrigter und leidender Mensch in irgend einer Allgemeinheit, sondern jüdisches Fleisch.“ Ebd., 181. Vgl. Barth, KD IV/1, 175; 192 f. Vgl. ebd., 193; 197; 209; 215 (Auseinandersetzung mit dem Modalismus); 219. Vgl. ebd., 179; 180 f., 194 f.; 207–209; 226 f.; 230. Vgl. ebd., 174 f. Vgl. ebd., 184 f.; 186 f.; 189 f. Vgl. Barth, KD IV/2, 118: „In jedem theologischen Zusammenhang, in welchem direkt oder indirekt der Name ,Jesus Christus‘ zu nennen ist – und es gibt keinen, in welchem er nicht an entscheidender Stelle zu bedenken wäre! – ist nach unserer Voraussetzung diese Geschichte gemeint: die Tat Gottes, in welcher Gottes Sohn mit dem Menschen Jesus von Nazareth identisch wird und also menschliches Wesen mit seinem göttlichen vereinigt und also das menschliche in die Gemeinschaft mit dem göttlichen erhebt – die Tat Gottes, in welcher er sich selbst erniedrigt, um den Menschen zu erhöhen. Das Subjekt Jesus Christus ist diese Geschichte. Sie ist der Inhalt des ewigen göttlichen Willens und Dekrets. Indem sie geschieht, geschieht die Versöhnung der Welt mit Gott.“ Klappert, Versöhnung und Befreiung, 144. Vgl. auch Ruddies, Christologie und Versöhnungslehre, 178: „Barth vollzieht […] eine geschichtliche Dynamisierung des ganzen traditionellen Lehrstoffes: Während das ,vere Deus’ und das ,munus sacerdotale’ der Selbsterniedrigung Jesu Christi koordiniert werden, werden das ,vere homo’ und das ,munus regale’ mit seiner Erhöhung verbunden. Daß es sich gleichwohl um einen einzigen Geschehensvollzug handelt, bekundet der dritte Aspekt der Versöhnungslehre, dem die Einheit von wahrem Gottsein und wahrem Menschsein Jesu Christi zugeordnet ist, wie sie im munus propheticum bezeugt ist.“

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wird, aktualisiert gleichsam selbst als entscheidende Referenzgröße die auf sie referierenden ontischen bzw. ontologischen Vorstellungen.127 Dies bringt Barth zum Ausdruck, wenn er davon spricht, dass Jesus Christus sein eigener Zeuge ist.128 Dabei wird die Geschichte Jesu Christi von Barth „als einmaliges, damals und dort sich ereignendes Geschehen verstanden, aber da sie einmündet in die Auferweckung Jesu Christi von den Toten und damit als gottmenschliche Geschichte qualifiziert ist, kann sie weder als bloß historisches Faktum registriert noch in die Überzeitlichkeit einer Idee verwiesen werden. Eben dieses geschichtliche Faktum erweist sich, wie Barth sagen kann, als Faktor, d. h. als nicht in dieser zeitlichen Begrenzung aufgehend, sondern als alle Zeit übergreifend.“129

4. Fazit Sowohl in Mildenbergers als auch Barths narrativ-christologischen Ausführungen fällt der „Wechsel zwischen scheinbar spekulativen dogmatischen Strukturen und der breiten Entfaltung der biblischen Geschichten“130 auf. Was bedeutet dies? „Daraus ergibt sich“ – wie Ernstpeter Maurer treffend betont, „dass dogmatische Aussagen einen eigentümlichen Status erhalten. Sie sind sekundär. Denn alles konzentriert sich auf eine Geschichte, die sich wiederum verdichtet in einen Namen: Jesus Christus. Dogmatische Aussagen und Begriffe können demnach nur dafür sorgen, die Akzente recht zu setzen, die story in der rechten Weise zu erzählen.“131 Barth schreibt an seinen niederländischen Kollegen Gerrit C. Berkouwer : „Alle gewiß auch bei mir vorhandene 127 Nach Barth (KD IV/2, 120) fordert Jesus Christus und damit seine Geschichte als der von der Schrift bezeugte Gegenstand ein Müssen, ein kategorisches Gesetz: „Es gibt aber […] ein Müssen, dem sich die alte Christologie in einer nicht gut zu heißenden und also nicht nachzuahmenden Weise entzogen hat. Das Gesetz des Denkens und Redens über einen bestimmten Gegenstand kann offenbar weder eine noch so mächtige Überlieferung sein, laut derer es durchaus nur in dieser und dieser Form verlaufen dürfte, noch auch eine allgemeine Vorstellung von dem, was als Gedanke und Aussage vollziehbar ist, sondern ganz allein sein Gegenstand selber, dieser aber als kategorisches Gesetz. Er fordert, daß ihm nachgedacht und daß er ausgesagt werde. […] Und nun soll in der Christologie, wie der Name sagt, über Jesus Christus nachgedacht und geredet werden. Nun ist also Er hier forderndes Gesetz des Denkens und Redens. […] Wer aber ist Er? Der Gottes- und Menschensohn, der als solcher göttlichen und menschlichen Wesens ist, hat die alte Christologie mit Recht geantwortet. Eine Christologie, die nicht diese Antwort gäbe, hätte gar nicht Ihn zum Gegenstand, sondern irgend ein phantastisches Gottwesen oder irgend ein ebenso phantastisches Menschenwesen. Indem wir mit der alten Christologie zunächst nur diese Antwort geben können, bleiben wir in Kontinuität mit ihr verbunden, nehmen wir ihre Erkenntnis auf, auch wenn wir ihr eine ganz andere Gestalt geben müssen. Eben das müssen wir aber tatsächlich tun.“ 128 Vgl. Barth, KD IV/3, Kap. 17: „Jesus Christus, der wahrhaftige Zeuge“. 129 Kreck, Karl Barth, 114 f. 130 Maurer, Narrative Strukturen, 9. 131 Ebd. Vgl. Schellong, Barth lesen, 63.

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und sich durchsetzende Systematik will doch (in meiner Intention jedenfalls) nur eine möglichst pünktliche Entfaltung der Tragweite dieses ,Namens‘ (im biblischen Sinne dieses Begriffs) sein und insofern die in einzelnen Momenten verlaufende Erzählung einer Geschichte.“132 Darüber hinaus machen Barths und Mildenbergers narrativ-christologischen Ausführungen bei aller Differenz gemeinsam eines sehr deutlich: Es geht nicht um den schlichten Gegensatz narrativ versus argumentativ. Erzählung und dogmatische Begriffsbildung schließen sich nicht aus, sondern ergänzen sich, ja fordern einander geradezu wechselseitig. Ungeachtet dessen, dass sich bei Mildenberger mitunter schroffe Kontrastierungen zwischen Erzählen und Denken finden lassen, wie die, dass Gott „besser aufgehoben [ist; M.H.] in der Geschichte derer, die von ihm erzählen, als dort, wo er gedacht werden soll“133, zeigt sich doch auch und gerade bei ihm, dass er bei aller Betonung des narrativen Charakters des Redens von Gott nicht ohne begriffliche Allgemeinheit auskommt. Im Blick auf Barth hat bereits Eberhard Jüngel darauf hingewiesen: „Es war wohl das besondere Genie Karl Barths, das eine genuine Verbindung von argumentierender und erzählender Dogmatik ermöglichte, wobei Barth die argumentative Kraft der Erzählung selber zur Geltung zu bringen versteht: vera narratio est demonstratio.“134 Diese Hinweise setzen indes Dietrich Ritschls Einspruch nicht einfach ins Unrecht. Keiner von beiden, weder Barth noch Mildenberger, ist ein reiner Narrativist, wie ihn Ritschl vor Augen hat.135 Beide halten die Reflexion auf die Erzählungen hin für unverzichtbar. Für beide gilt: „Dogmatische Arbeit kommt vielmehr von den erzählten Geschichten her und führt wieder zum Erzählen hin.“136 Auch Ritschl hält – bei Lichte betrachtet – Erzählungen für unverzichtbar und kann dementsprechend betonen: „[W]ir, die wir zu christlichen Gemeinen [sic!] gehören, sollten die ,stories‘ kennen, sollten sie bewohnen‘, d. h. von innen kennen, respektieren, fürchten und auch lieben! Wenn dies verloren geht, glauben die Gläubigen nur noch an Begriffe oder gar an Lehren und die anderen haben nur leere Clich8s im Ohr, mit denen sie sich 132 133 134 135

Brief vom 30. 12. 1954. Zit. nach Busch, Karl Barths Lebenslauf, 395. Mildenberger, Biblische Dogmatik 2, 375. Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, 427 (Anm. 52). Im Blick auf die amerikanische Debatte, genauer gesagt: die Yale-Chicago-Konstellation, hat Comstock, Two Types of Narrative Theology, 687–717, zwischen „purists“ und „impurists“ unterschieden. Vgl. Hofheinz, Narrative Ethik als „Typfrage“, 25 f. 136 Schneider-Flume, Dogmatik erzählen, 139. Sowohl Barth als auch Mildenberger hätten wohl wenig Mühe mit der von Schneider-Flume (ebd., 140) getroffenen Aufgabenbestimmung der Dogmatik: „Dogmatische Arbeit untersucht das Verhältnis zwischen den vielen Geschichten der biblischen Tradition und der angenommenen einen Geschichte Gottes und zwischen den Geschichten und Bekenntnissen, sie bedenkt die Möglichkeiten des Erzählens einst und jetzt und untersucht mögliche und notwendige Bekenntnisbildungen. Dennoch hat die Dogmatik nicht die Aufgabe, ein System des Wissens aller möglichen Glaubensaussagen zu ordnen, sondern dem Erzählen kritisch nachzudenken, mit dem die Glauben provozierende Geschichte Gottes in die jeweilige Zeit hinein übersetzt wird.“

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leicht von Kirche und Christentum abwenden können.“137 Dies ist die ohne allzu kühne dialektische Wendungen erkennbar andere Seite seiner scharfen Kritik. Eberhard Jüngel fordert, Ritschls Einwand gegen eine Reduktion auf Erzählungen aufnehmend: „Damit die argumentierende Theologie zur narrativen Theologie werden kann, muß sie sich zuvor gerade als eine das Erzählen und das zu Erzählende reflektierende und das heißt dialektisch-diskursive Theologie vollzogen haben.“138 Im Blick auf eine projektierte postliberale narrative Theologie ist trefflich darauf aufmerksam gemacht worden: „Our faith cannot be reduced to stories, experiences, and affections any more that it can be reduced to logic and rational propositions. A postliberal theology that abandons critical reflection altogether in the name of story and narrative is also denying the fact that careful critical thinking has been a part of the language of the community that has afforded us the opportunity to reflect on the origins of the storying community itself.”139 Mildenbergers und Barths Ausführungen machen deutlich, dass es sich die Dogmatik nicht leisten kann, entweder narrative oder begrifflich feststellende Sprachvollzüge auszuklammern. Narrative Sprachvollzüge sind vor allem einem Geschehen bzw. einer Geschichte angemessen, wobei sie allerdings oft keinen logischen Ausgleich zwischen einander widersprechenden Erzählungen bieten. Freilich sind die Narrationen auch nicht einfach beliebig, sondern zielen auf etwas und werden von impliziten Axiomen und/oder einer Metaerzählung begleitet und/oder begleitet.140 Für einen gleichermaßen diskursiven wie identifizierenden Sprachvollzug ist die Berücksichtigung ebenso von Narrationen wie von Begriffen bzw. begrifflichen Feststellungen unverzichtbar, da ansonsten Verständigung und Identifizierung von Gegenständen im Zusammenhang der Sprache scheitern. Im Blick auf die Theologie gilt: Dogmatik im Allgemeinen und Christologie im Besonderen müssen sich gleichsam auf das Erzählen hin befragen lassen: „Was sind das für Worte, die ihr da unterwegs miteinander wechselt“ (Lk 24,17; Zürcher Bibel 2007)? Theologie und insbesondere Christologie werden aber, indem sie dies tun, auch damit rechnen müssen und/oder zumindest darum bitten dürfen, dass es ihnen ergeht, wie es einst den Emmaus-Jüngern erging: „Und es geschah, während sie miteinander redeten und sich besprachen, dass Jesus selbst sich zu ihnen gesellte und sie begleitete“ (Lk 24,15; Zürcher Bibel 2007).141 Umgekehrt steht hingegen eine Christologie, die solche Erzählungen nicht berücksichtigt, in der eminenten Gefahr, Jesus nicht zu erkennen, so dass ihr – wiederum mit Worten der Emmaus-Perikope – das 137 Ritschl, Theologie ist explikativ und argumentativ, 161. Vgl. auch Schneider-Flume, Grundkurs Dogmatik, 25 f. 138 Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, 427. 139 Michener, Postliberal Theology, 123. 140 Vgl. Ritschl, Zur Logik, 46 f. 141 Vgl. Lash, Theology on the Way to Emmaus.

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Schicksal droht: „Doch ihre Augen waren gehalten, so dass sie ihn nicht erkannten“ (Lk 24,16; Zürcher Bibel 2007). Mit Verweis auf die Emmaus-Erzählung hat Ingrid Schoberth treffend die alle narrative Christologie umgreifende und gewissermaßen einende Erkenntnis zur Sprache gebracht: „Die Wahrnehmung des Christus vollzieht sich im Modus des Erzählens seiner Geschichte, im Modus des Beschreibens seiner Wirksamkeit unter den Menschen bis heute, im Modus des kritischen Befragens durch Situationen, in den Christus entzogen scheint, im Modus des Staunens und der Freude, wenn Menschen wieder Hoffnung zu schöpfen lernen. Die Wahrnehmung des Christus ist so ein Weg, sich der Wirklichkeit des Christus zu nahen, ohne dass seine Wirklichkeit darin aufgeht. Die ,Dinge‘ – das, was ,in diesen Tagen in Jerusalem geschehen ist‘ – eröffnen sich der Wahrnehmung im Herannahen zu Christus; die Jünger erzählen das so: ,Und sie sprachen untereinander : Brannte nicht unser Herz in uns, als er mit uns redete auf dem Wege und uns die Schrift öffnete?‘ (Lk 24,32).“142

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Erzählen: Funktionen

Wolfgang Schoberth

„Instruktion in einem religiösen Glauben“ Überlegungen zur Religionspädagogik im Anschluss an eine Bemerkung Ludwig Wittgensteins

1. Eine Bemerkung Unter den nachgelassenen Aufzeichnungen Wittgensteins findet sich eine kurze Bemerkung, die in eigentümlicher Weise die genuine Aufgabe wie die spezifische Problematik der Religionspädagogik vor Augen stellt. Gedanken zu Religion und Glauben finden sich bei Wittgenstein immer wieder, wenn auch kaum in systematisch entwickelter Gestalt. Wittgensteins Verhältnis zu Glaube und Religion war freilich komplex und spannungsreich, wenn nicht sogar widersprüchlich; dies bildet sich auch in diesem kurzen Text ab, der im Zentrum der folgenden Überlegungen steht. „Es kommt mir vor, als könne ein religiöser Glaube nur etwas wie das leidenschaftliche Sich-entscheiden für ein Bezugssystem sein. Also obgleich es Glaube ist, doch eine Art des Lebens, oder eine Art das Leben zu beurteilen. Ein leidenschaftliches Ergreifen dieser Auffassung. Und die Instruktion in einem religiösen Glauben müßte also die Darstellung, Beschreibung jenes Bezugssystems sein und zugleich ein in’s-Gewissen-reden. Und diese beiden müßten am Schluß bewirken, daß der Instruierte selber, aus eigenem, jenes Bezugssystem leidenschaftlich erfaßt. Es wäre, als ließe mich jemand auf der einen Seite meine hoffnungslose Lage sehen, auf der andern stellte er mir das Rettungswerkzeug dar, bis ich, aus eigenem, oder doch jedenfalls nicht von dem Instruktor an der Hand geführt, auf das zustürzte und es ergriffe. 1947“1

1 L. Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, 540 f. Dies ist die Fassung der Erstveröffentlichung, die Georg Henrik von Wright aus Wittgensteins Notizbüchern ausgewählt und ediert hat. Mittlerweise sind die Faksimiles von Wittgensteins Nachlassmanuskripten in der „Wittgenstein Source Bergen Nachlass Edition (BNE)“ der Universität Bergen zugänglich: http://www.wittgen steinsource.org. Die zitierte Bemerkung findet sich unter MS–136, S. 16b bis 17a und ist auf den 21. 12. 1947 datiert. Eine Transkription der Bemerkung in der handschriftlichen Fassung gebe ich im Anhang.

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2. glauben – sehen – wissen Nicht nur am Ort der Erstveröffentlichung ist die zitierte Bemerkung ohne Kontext; auch in der handschriftlichen Fassung in Wittgensteins Notizbuch findet sich die Bemerkung ohne offensichtlichen thematischen Zusammenhang mit den vorausgehenden und nachfolgenden. Diese befassen sich, unter demselben Datum, mit Vorstellen und visuellem Erleben, so dass die zitierte Bemerkung wie ein Einsprengsel wirken kann. Die Stellung der Bemerkungen inmitten von Überlegungen zum Vorstellen und visuellen Erleben lässt sich jedoch so verstehen, dass der ,Glaube‘, wie Wittgenstein den Ausdruck fasst, mit diesen Themen einige charakteristische Merkmale teilt: Im Fokus von Wittgensteins Spätwerk, dem die Bemerkung zuzurechnen ist, steht die Frage nach den zumeist unthematisierten oder verdrängten Voraussetzungen, ohne die Denken und Sprechen gar nicht möglich wäre.2 Dabei kommt gerade den Modi besonderes Gewicht zu, die subjektiv unmittelbar gegeben sind; unter ihnen nimmt wiederum ,Glauben‘ eine herausragende Stellung ein. Das Verb ,glauben‘ teilt mit ,sehen‘, aber auch ,wollen‘ und ,wünschen‘, dass sich der Sprecher, der sie auf sich selbst bezogen gebraucht, nicht täuschen kann: Ich sehe dies, auch wenn es sich um eine optische Täuschung handelt; ich will jetzt jenes, auch wenn mir das unangenehm sein mag;3 und ich glaube etwas, auch wenn es sich als Irrtum herausstellen mag. Der Sprecher kann sehr wohl andere darüber täuschen, nicht aber sich selbst. Wittgenstein zeigt freilich, dass es auch auf dieser Ebene bereits eine kategoriale Differenz gibt: „Man kann den eigenen Sinnen mißtrauen, aber nicht dem eigenen Glauben. Gäbe es ein Verbum mit der Bedeutung ,fälschlich glauben‘, so hätte das keine sinnvolle erste Person im Indikativ des Präsens. Sieh’s nicht als selbstverständlich an, sondern als etwas sehr Merkwürdiges, daß die Verben ,glauben‘, ,wünschen‘, ,wollen‘, alle die grammatischen Formen aufweisen, die ,schneiden‘, ,kauen‘, ,laufen‘ auch haben.“4

Man kann seinen Sinnen misstrauen, wenn man weiß, dass es sich anders verhält als es den Augenschein hat. Man sieht, dass die Stange, die in den Fluss getaucht wird, unter der Oberfläche schräg verläuft; man weiß aber, dass sie gerade ist.5 Schon beim ,wünschen‘ und ,wollen‘ verhält es sich anders, weil 2 Es ist darum kennzeichnend, dass die zentralen Überlegungen des späten Wittgenstein unter dem Titel „Über Gewißheit“ erschienen. 3 Das wird gerade dadurch bestätigt, dass ich auch wollen kann, das nicht zu wollen, was ich gerade will. 4 L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 302, ohne Nummer. 5 Man kann also durchaus sagen, man sehe fälschlicherweise einen Knick in der Stange, weil man weiß, dass der optische Eindruck trügt: dagegen wäre der Satz: „Ich sehe dies irrtümlicherweise“ ein Kategorienfehler: ,Sich irren‘ bezieht sich nicht auf die sinnliche Wahrnehmung, sondern das Bewusstsein zu einem gegebenen Zeitpunkt. Hier ist die erste Person Präsens unsinnig; der

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dies von der gegenwärtigen Wirklichkeit der Person des Sprechers nicht gelöst werden kann: Sie liegen darum gleichsam auf einer anderen grammatischen Ebene als die Verben der Wahrnehmung. Dies gilt erst recht beim ,glauben‘: Hier ist nicht einmal eine Distanzierung der Art vorstellbar, wie sie etwa in der Scham über einen Wunsch vorkommen kann.6 Eben darum kann ,Glauben‘ aber letztlich gar nicht in einen Gegensatz zu ,Wissen‘ kommen; auch hier kann gesagt werden, dass sie auf unterschiedlichen grammatischen Ebenen liegen.

3. „Bezugssystem“ In Wittgensteins Bemerkung wird das noch deutlicher, indem er sich nicht auf das Verb ,(etwas) glauben‘ bezieht, sondern von ,einem Glauben’ spricht. Dies impliziert einerseits offensichtlich eine mögliche Mehrzahl verschiedener ,Glauben‘; es wird freilich andererseits unmittelbar deutlich, dass diese Mehrzahl nicht gleichzeitig in derselben Person bestehen kann. Wenn Wittgenstein ,Glauben‘ als ein Bezugssystem beschreibt, dann setzt das voraus, dass jeweils ein Bezugssystem in Geltung steht, auch wenn andere denkbar sein könnten – anders wäre gar kein Bezug gegeben. In der handschriftlichen Fassung findet sich neben „Bezugssystem“ auch „Koordinatensystem“; der mathematische Vergleich zeigt diesen Aspekt vielleicht noch prägnanter : Ein Punkt ist ein vollständig sinnloses Objekt, solange seine Koordinaten nicht angegeben werden.7 Mehr noch: Würde dieser Punkt in einem anderen Koordinatensystem beschrieben werden, hätte er eine völlig andere Bedeutung; er wäre darum auch letztlich nicht dieser Punkt. Indem also Wittgenstein ,Glaube‘ als Koordinaten- oder Bezugssystem fasst, wird deutlich, dass die einzelnen Sätze eines Glaubens ihren spezifischen Sinn nur innerhalb ihres systematischen Zusammenhangs haben und nicht adäquat verstanden werden können, wenn dieses Bezugssystems nicht vorausgesetzt wird. Außerhalb ihres Bezugssystems sind Begriffe und Aussagen bestenfalls missverständlich, oft aber auch sinnlos oder, noch problematischer, weil in der Regel unbemerkt, bloße Äquivokation. Irrtum kann jetzt von anderen oder später von mir entdeckt werden, wäre mir jetzt aber eben verborgen. 6 Ein Satz wie: „Ich will das nicht glauben“ hat offenkundig eine ganz andere Bedeutung als den Zweifel am eigenen Glauben. Mk 9,24 zeigt wiederum, dass die Komplexität dessen, was Glauben heißt, im Horizont der biblischen Rede noch einmal erheblich gesteigert wird. 7 Eine interessante musikalische Parallele findet sich bei John Cage: Für seine Komposition Piano Music One von 1952 markierte er Unebenheiten auf einem Papier, woraus eine Anzahl für sich genommen sinnloser Punkte entstand. Erst durch Überlagern mit einem durchsichtigen Blatt mit Notensystemen werden die durch Zufall generierten Flecken musikalisch interpretierbar, wobei Cage nur die Tonhöhen und die Dauer eines Notensystems bestimmte, die Länge der einzelnen Noten aber dem Interpreten überließ.

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,Glauben‘ ist mithin nicht einfach das Akzeptieren eines Satzes oder die Übernahme einer Überzeugung; beides würde immer schon die Geltung des ganzen Systems voraussetzen, das Wittgenstein als ,Glaube‘ beschreibt. „Wenn wir anfangen, etwas zu glauben, so nicht einen einzelnen Satz, sondern ein ganzes System von Sätzen. (Das Licht geht nach und nach über das Ganze auf.) Nicht einzelne Axiome leuchten mir ein, sondern ein System, worin sich Folgen und Prämissen gegenseitig stützen.“8

4. einen ,Glauben‘ lernen An dieser Stelle wird bereits die Relevanz der Überlegungen Wittensteins für die Religionspädagogik deutlich, obgleich immer noch nicht von „religiösem Glauben“ die Rede ist, sondern von ,Glaube‘ in einem unspezifischen Sinn. Wittgensteins Überlegungen beziehen sich an dieser Stelle auf Überzeugungen der alltäglichen Gewissheit wie etwa über die Gestalt und das Alter der Erde;9 sie umfassen also auch das, was als Sätze der Wissenschaft anerkannt ist. Auch diese Sätze und Überzeugungen können nicht aus dem Bezugssystem gelöst werden, in dem allein sie ihre Bedeutung haben, auch wenn sie selbstverständlich erscheinen, dass die Frage nach dem Referenzrahmen alltagsweltlich, aber auch in den Wissenschaften kaum je thematisch wird. Wittgenstein zeigt freilich, dass alles, was man als Beweis oder Begründung für solche Überzeugungen anführen könnte, wiederum die Geltung des ganzen Systems voraussetzt; der Anschein des Selbstverständlichen kommt diesen Überzeugungen darum zu, weil die Geltung dieses Systems nicht angezweifelt, sondern als kulturell vorgegeben akzeptiert wird. Es ist für die Selbstreflexion der Religionspädagogik durchaus von Bedeutung, dass Wittgenstein bei seinen Überlegungen gerade auch Mathematik und Naturwissenschaften, die als irreduzibles Bezugssystem gleichermaßen ,Glauben‘ sind, was eben zum einen keinerlei Urteil über Legitimität und Geltung enthält, zum anderen aber auch verdeutlicht, dass es dabei um grundlegende Fragen des Erkennens, Wissens und Sprechens geht. Für die Religionspädagogik bedeutet das, dass die hier zu verhandelnden Zusammenhänge erst einmal nichts mit irgendwelchen Geschichtsspekulationen und -konstruktionen über ,Säkularisation‘ und ,Religion in der Moderne‘ zu tun haben. Vielmehr geht es hier um die spezifische Logik oder – in dem von Wittgenstein gebrauchten Sinn – die Grammatik eines ,Glaubens‘;10 darum 8 L. Wittgenstein, Über Gewißheit, 149, Nr. 141 und 142. 9 Vgl. L. Wittgenstein, Über Gewißheit, 148, Nr. 138. Wittgensteins Überlegungen wurden angestoßen durch George E. Moores Verteidigung des Common Sense. 10 Hier kann nur angedeutet werden, dass alles, was im Sinne Wittgensteins ,Glauben‘ genannt

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kann ein ,Glaube‘ auch nur so gelernt werden, dass dabei das Ganze nicht nur immer schon vorausgesetzt und im Blick ist, sondern auch als verbindlicher Rahmen angenommen wird. Die Sätze, in denen ein ,Glaube‘ ausgesprochen werden kann, können demnach auch nicht ohne weiteres auf Sätze aus einem anderen Bezugssystem abgebildet oder gar aus ihnen abgeleitet werden; vielmehr muss Lernen hier heißen, diesen ,Glauben‘ in seiner genuinen Kohärenz und als Ganzes zu lernen. Aus prinzipiellen Gründen können also einzelne Sätze nicht dadurch gelernt werden, dass man sie mit Sätzen aus anderen Bezugssystemen erläuterte: Bereits dadurch würde ihr genuiner Sinn verfehlt. Für die Sätze des christlichen Glaubens ergibt sich die Konsequenz, dass sie eben nicht als Übersetzungen, Ergänzungen oder Überhöhungen von Sätzen und Überzeugungen gelernt werden können, die die Lernenden bereits mitbringen oder die die Lehrenden bei ihnen unterstellen. Vielmehr ist dieser Sinn nur zu verstehen, wenn die Sätze des Glaubens selbst das Bezugssystem bilden. Die Triftigkeit der Beschreibung des christlichen Glaubens als Bezugssystem erweist sich an der Erfahrung, dass die Bedeutung aller Begriffe und Sätze, die hier gebraucht werden, verändert wird, wenn sie außerhalb ihres genuinen Kontextes gebraucht werden. Was etwa „Sünde“ heißt, lässt sich demnach nicht durch vorgängig bestimmte anthropologische Befunde erklären, sondern nur in der Beziehung auf „Vergebung“, „Gebot“ und „Gnade“ verstehen; wo dies missachtet wird, ergibt sich die – in der Geschichte des Christentums nicht selten anzutreffende – Identifikation von Sünde mit einem moralischen Urteil. Hier kommt wie bei allen theologischen Begriffen alles darauf an, sich durch naheliegende Äquivokationen nicht täuschen zu lassen. Die Sensibilität für die Idiomatik der Sprache des christlichen Glaubens zu wecken und zu stärken, wäre eine der wichtigen Aufgaben der Religionspädagogik.

5. Die Vorgängigkeit des Glaubens vor dem Zweifel Insofern ein Glaube ein Bezugssystem ist, kann er nur als ein Ganzes verstanden werden; seine einzelnen Aussagen und Begriffe haben ihren genuinen Sinn nur innerhalb dieses Rahmens. Eben darum sind auch Begründungen von außen ebenso unmöglich wie Widerlegungen. Das heißt gerade nicht, dass dieser Rahmen prinzipiell nicht kritisiert werden könnte. Aber die Kritik an werden kann – also elementare Bezugssysteme, denen jeweils eine Welt entspricht –, seine eigene Grammatik hat, die meist implizit bleibt, aber doch zur Sprache gebracht werden könnte. Diese Explikation des impliziten Systems eines Glaubens könnte sachgemäß als seine „Dogmatik“ bezeichnet werden. In diesem Sinn ist Dogmatik die Voraussetzung des kritisch-reflektierenden Umgangs mit der Grammatik eines Glaubens. Vgl. die Überlegungen Dietrich Ritschls zu den „impliziten Axiomen“; etwa in: D. Ritschl, Erfahrung der Wahrheit.

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den Koordinaten eines Bezugssystems setzt, wie Wittgenstein zeigt, seine Geltung voraus – andernfalls wäre das keine angemessene Kritik, sondern die schlichte Ablehnung des Rahmens und aller Erkenntnisse, die dieser ermöglicht, was bekanntlich nicht nur bei Religionen, sondern auch bei wissenschaftlichen Weltbildern möglich ist.11 Daraus folgt wiederum, dass Lernen nur dann möglich ist, wenn die Grundkategorien des Rahmens dessen, was gelernt werden soll, zunächst akzeptiert sind, auch wenn sie in der Regel von den Lernenden nicht explizit formuliert werden können, sondern auf die Autorität der Lehrenden hin anerkannt werden. „Das Kind lernt, indem es dem Erwachsenen glaubt. Der Zweifel kommt nach dem Glauben.“12 Auch hier ist zu beachten, dass Wittgenstein die Zusammenhänge gerade an Naturwissenschaften und Mathematik erläutert. Es geht hier also zunächst gerade nicht um ein Spezifikum des Religiösen; die Vorgängigkeit des Glaubens vor dem Zweifel ist vielmehr nicht nur für jedes Lernen konstitutiv, sondern benennt die logische Voraussetzung allen Urteilens, das auf der Geltung von Kriterien basiert, die selbst nicht Gegenstand des Zweifels sein können. Wittgensteins Satz: „Am Grunde des begründeten Glaubens liegt der unbegründete Glaube“13 impliziert daher weder Immunisierung noch die Behauptung, dass hier gar keine Begründungen möglich wären.14 Es folgt allerdings daraus, dass Begründungen und Kritiken jeweils selbst an Bezugssysteme gebunden sind, ohne die alle Argumente ebenso sinnlos sind wie geometrische Punkte ohne Koordinatensystem. Auch daraus ergibt sich eine unmittelbare pädagogische Konsequenz: Ein „subjektorientierter“ Unterricht geht ins Leere, wenn nicht bewusst ist, dass die Kriterien des Urteilens selbst nicht selbstverständlich sind und auch nicht einfach bei Schülerinnen und Schülern vorausgesetzt werden können, sondern selbst erst erlernt werden müssen. Autonomie und Freiheit, die als 11 Wie es zur Akzeptanz oder Ablehnung von Bezugssystemen kommt, ist eine eigene Aufgabenstellung, die der genauen Bearbeitung bedürfte. Dabei wären sicher auch wissenssoziologische Perspektiven einzubeziehen, wobei die, soweit ich sehe, bisher kaum bearbeitete Frage zu bearbeiten wäre, wie diese Perspektiven wiederum geltungstheoretisch aufzunehmen sind. Das kann hier natürlich nicht geschehen; zu einigen Aspekten vgl. u. S. 184 ff. 12 L. Wittgenstein, Über Gewißheit, 153, Nr. 160. 13 L. Wittgenstein, Über Gewißheit, 170, Nr. 253. 14 Klaus von Stosch wendet sich mit Recht gegen die verbreitete Auffassung, „daß in einer an Wittgensteins Grundeinsichten orientierten Philosophie oder Theologie so etwas wie eine Verantwortung religiösen Glaubens vor der Vernunft keinen Platz hat“ (K. von Stosch, Grundloser Glaube?, 328). Die bei von Stosch benannte Problematik trifft freilich ebenso auf alle Wissenschaften zu. Diese ,Verantwortung vor der Vernunft‘ bedarf allerdings der genauen Reflexion, um nicht selbst wieder unkritisch einen Bezugsrahmen zu privilegieren, und sei es, weil er gesellschaftlich und kulturell als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Von Stosch gibt hier weiterführende Hinweise, etwa wenn er betont, ein Unbedingtheitsanspruch sei „aus wittgensteinscher Perspektive so lange vor der Vernunft verantwortbar, wie er den eigenen Geltungsanspruch in jedem weltbildinternen Kontext einsichtig machen kann und keinem weltbildexternen Kontext ausweicht.“ (K. von Stosch, Grundloser Glaube?, 345)

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pädagogische Leitbegriffe gelten können, entstehen erst daraus, dass diese Fähigkeit zu kritischer Urteilsbildung erworben wird; dies kann nur im Kontext eines spezifischen Bezugsrahmens erlernt werden.15 Bei Wittgenstein ist diese untrennbare Verbindung von Autorität und Kritik ausgesprochen: „Ich habe eine Unmenge gelernt und es auf die Autorität von Menschen angenommen, und dann manches durch eigene Erfahrung bestätigt oder entkräftet gefunden.“16

Beides, Bestätigung und Entkräftung, setzt wiederum voraus, dass Kriterien angewandt werden können, die für die jeweils in Frage stehenden Sachverhalte relevant sind. Das zugrundeliegende Bezugssystem umfasst aber nicht nur Begriffe, Sätze und Axiome, sondern, wie wieder gerade an den Naturwissenschaften zu erkennen ist, elementare Praktiken: Man erlernt eine Naturwissenschaft, indem man ihre Beobachtungsmuster und experimentelle Verfahren internalisiert. Auch hier gilt, dass die Gültigkeit dieser Muster und Verfahren notwendigerweise vorausgesetzt wird, wenn überhaupt erfahren und erkannt werden soll, was hier gelernt werden kann. Ebenso lässt sich Mathematik nur lernen, indem man rechnen lernt; das aber wiederum ist das Einüben und Übernehmen von Verfahren und Ausdrücken, die nicht in Frage gestellt werden können und dürfen, ohne das Erlernen im Ansatz zu verhindern. Die Mittel, mathematische Sätze und Verfahren sinnvoll zu kritisieren, werden erst zugänglich, wenn man das System übernommen hat.

6. „ein religiöser Glaube“ Wenn bisher mit Wittgenstein die Logik dessen beschrieben wurde, was er als ,Glaube‘ bezeichnet, und einige Spezifika, die das Lernen eines ,Glaubens‘ kennzeichnet, skizziert wurden, so war noch nicht im Blick, was Glauben in einem theologischen Sinn ausmacht. Dies ermöglichte zu sehen, dass manches von dem, was religionspädagogisch als besondere Schwierigkeit des Religionsunterrichts wahrgenommen und diskutiert wird, bei genauerer Betrachtung letztlich alles Lernen betrifft, das sich nicht nur innerhalb eines selbstverständlichen und unthematisierten Bezugsrahmens vollzieht, sondern auf 15 Die Wichtigkeit von Autonomie und Freiheit ist freilich selbst wieder abhängig von der Geltung eines bestimmten Bezugsrahmens; in einem anderen wäre möglicherweise gar nicht nachvollziehbar, warum Bildung überhaupt auf Autonomie ausgerichtet sein sollte. Zum Begriff der Autonomie als religionspädagogischer Leitbegriff vgl. Wiesinger, Authentizität. Die geltungstheoretische Herausforderung besteht nun darin, die notwendige Selbstreflexivität so weit durchzuführen, dass die Einsicht in die Einbindung aller Kriterien in je spezifische vorgängige Bezugsrahmen/,Glauben‘ nicht in die Aufgabe der Kriterien mündet, was zum Ende aller Urteilsbildung, damit aber auch allen Diskurses führen würde. 16 L. Wittgenstein, Über Gewißheit, 153, Nr. 161.

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das Erlernen dieses Rahmens insgesamt geht. Aber auch dort, wo dieser Rahmen in Geltung steht, beziehen einzelne Lern- und Lehrprozesse ihren Sinn aus dem Ganzen; was gelernt wird und gelernt werden soll, ist ebenso durch diesen Rahmen bestimmt, wie die Gestalt der Lernwege davon abhängt, ob sie dem Bezugssystem entsprechen. Es stellt sich hier die Frage, ob die Beschreibung des Unterrichts in christlicher Religion17 als Erlernen eines Bezugssystems nicht eine unzulässige Relativierung dessen bedeutet, was es hier zu lernen gäbe.18 Lernt man Religion wie Mathematik, Geographie oder Literaturgeschichte? Das ist sicher auch eine Aufgabe der Religionspädagogik und an öffentlichen Schulen nicht nur jedermann zuzumuten, die Grammatik christlicher Religion kennenzulernen, sondern wohl auch notwendig über den Religionsunterricht hinaus, weil man sich ohne Grundkenntnisse in dieser Grammatik in der europäischen Kultur- und Geistesgeschichte gar nicht zurechtfinden kann. Aber eben darum ist das auch nicht die eigentliche Aufgabe des bekenntnisgebundenen Religionsunterrichts, sondern wäre auch durch den Deutsch-, Geschichts-, Kunstunterricht etc. zu leisten. Solch allgemeiner Unterricht über die christliche Tradition muss freilich auch ein elementarer Unterricht in ihrer Grammatik sein, und kann sich nicht auf die Präsentation von Versatzstücken über das Christentum beschränken, weil diese als Versatzstücke ihren genuinen Sinn verlören.19 Freilich kann die Religionspädagogik dabei nicht stehenbleiben; Wittgensteins Bemerkung geht hier auch einen entscheidenden Schritt weiter. Diese deuten sich an in der eigentümlichen Formulierung: „obgleich es Glaube ist, doch eine Art des Lebens, oder eine Art das Leben zu beurteilen.“20 Was Wittgenstein ,einen religiösen Glauben‘ nennt, ist also einerseits ein grammatisch und auch kognitiv zu fassendes Bezugssystem, wie es bisher diskutiert wurde, geht aber darüber hinaus. In der einleitenden Formulierung der Bemerkung „ein religiöser Glaube [könne] nur etwas wie das leidenschaftliche Sich-entscheiden für ein Bezugssystem sein“ wird erkennbar, dass Wittgen17 Ich bleibe hier bei dem Ausdruck in Ermangelung eines besseren, der kommunikativ einigermaßen akzeptiert wäre. Die pragmatische Notwendigkeit, die auch den rechtlichen Begriff der „Religion“ und dann auch des „Religionsunterrichts“ als unbestimmte Sammelbezeichnung begründet, erlaubt freilich nicht, die sehr fundamentalen Differenzierungen in dem, was jeweils als „Religion“ verstanden wird, einfach zu übergehen und schlicht ein Gemeinsames zu unterstellen. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass der Ausdruck „christliche Religion“ nur der äußeren Gestalt nach eine Attributkonstruktion ist, so als ob ein Allgemeinbegriff „Religion“ durch das Adjektiv „christlich“ näher bestimmt würde. Vielmehr handelt es sich um einen integralen Ausdruck, in dem beide Elemente ihren Sinn nur in dieser Kombination haben. 18 Eben das wird theologischen Entwürfen, die Wittgensteins Einsichten aufnehmen, immer wieder zum Vorwurf gemacht; so wird z. B. George Lindbecks Entwurf wechselweise Fideismus wie Relativismus vorgeworfen. Beides geht freilich völlig an der Sache vorbei. 19 Es ist vermutlich unnötig zu erwähnen, dass das in dieser Form auch für den Unterricht über andere relevante Traditionen und Bezugssysteme gilt. 20 Vgl. Fußnote 1.

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stein hier eine existenzielle Dimension im Blick hat. Damit kommt nicht nur zum Tragen, was einen religiösen Glauben ausmacht; es stellt sich auch noch einmal die Frage nach dem Erlernen eines Glaubens in besonderer Dringlichkeit, weil es hier um die Totalität des Lebens geht. Gehörte es bereits zum Wesen eines Bezugs- oder Koordinatensystems, dass gleichzeitig nur ein einziges in Geltung stehen kann, so geht es jetzt um das System, das für mein ganzes Leben gilt. Damit spitzt sich aber auch die pädagogische Frage zu, ob dann nicht unterschiedliche Bezugssysteme unverbunden nebeneinanderstehen müssen, weil die Kriterien doch jeweils nur innerhalb eines dieser Systeme überzeugen können. Wittgenstein spricht auch von einem „Sich-entscheiden“, wodurch der Unterschied zum ,Überzeugt-werden‘ deutlich markiert ist. Weil Überzeugen die Geltung von Kategorien und eines gemeinsamen Weltbildes voraussetzt, muss der Übergang in ein neues Bezugssystem anders verstanden werden. Darum ist auch der von Wittgenstein benutzte Begriff der Entscheidung problematisch: Auch ein Entscheiden setzt Kriterien voraus, anhand derer ich allererst eine Entscheidung treffen kann. Weil es aber in Wittgensteins Bemerkung um die Annahme eines neuen Bezugssystems als Ganzes geht, liegt der Fokus nicht auf einem willentlichen Akt; vielmehr ist damit die fundamentale Alternative bezeichnet: Die Kriterien dieses Übergangs lassen sich in einen vorgängigen Rahmen nicht integrieren. Wittgensteins Überlegungen sind vermutlich durch seine intensive Kierkegaardlektüre geformt;21 auch der Ausdruck „leidenschaftlich“ verweist darauf. In einer Bemerkung vom 11. 10. 1946 verweist Wittgenstein darauf, dass „Kierkegaard den Glauben eine Leidenschaft“ nennt;22 auch hier geht es nicht um Irrationalität oder Emotion, sondern um die Bedeutung für die Ausrichtung des Lebens: „Das Christentum sagt unter anderm, glaube ich, daß alle guten Lehren nichts nützen. Man müsse das Leben ändern. (Oder die Richtung des Lebens.)“23 Von hier aus ist auch die eingangs genannte Spannung in Wittgensteins Verhältnis zu Religion und Glaube zu verstehen. Für das Denken Wittgensteins ist charakteristisch, dass zum einen Religion und Glaube von Anbeginn wesentliche Bezugspunkte seines Lebens und seines Denkens sind – durchaus in kräftigem Widerspruch zu der lange vorherrschenden Interpretation Wittgensteins als ein exemplarischer Vertreter des logischen Empirismus.24 Zum anderen manifestiert sich aber dies bei Wittgenstein paradoxerweise gerade

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Zu Wittgensteins Kierkegaardrezeption vgl. A. Rudd, Kierkegaard, Wittgenstein. L. Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, 525 = MS–132 S. 168. Ebd. = MS–132 S. 167. Vgl. dazu die These von H. Tetens, Wittgensteins ,Tractatus‘, 6: „Der Tractatus ist ein im religiösen Geist geschriebenes Buch über die Stellung des Menschen in der Welt, betrachtet vom transzendentalen Standpunkt der Logik, und über die ethischen Konsequenzen, die sich daraus ergeben.“

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darin, dass er religiöse Themen gerade nicht explizit thematisiert.25 Dies ist wiederum die unmittelbare Konsequenz seines philosophischen Ansatzes, den er im Früh- wie im Spätwerk verfolgte: Hier geht es nämlich um die „unverfügbaren, empirisch unsagbaren und dennoch konstitutiven Sinngrenzen“26 der Welt und des Lebens. Was das Leben trägt und Sinn erst ermöglicht, ist eben darum, weil sinnvolle Sätze erst auf dieser Basis möglich werden, unaussprechlich. Auch im ,Tractatus‘ ist die Grenze des Aussagbaren nicht die Grenze des Wirklichen und Wirksamen; vielmehr spricht er hier vom ,Sichzeigen‘: „Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.“27 An dieser Stelle liegt auch für den Autor des ,Tractatus‘ das Wesentliche; darum spricht er in einem Brief davon, der Tractatus bestehe eigentlich aus zwei Teilen: „aus dem, der hier vorliegt, und aus alledem, was ich nicht geschrieben habe. Und gerade dieser zweite Teil ist der Wichtige.“28 Die Spannung zwischen Unaussprechlichkeit und existenzieller Bedeutung bleibt bei Wittgenstein auch im Spätwerk unaufgelöst; allerdings finden sich hier auch Hinweise, wie diese Aporie aufgelöst werden könnte, indem die Annahmen, die sie hervorbringen, benannt werden. Das erste Moment ist die Fixierung auf den Modus der Aussage; die Kritik dieser Fixierung ist für die ,Philosophischen Untersuchungen‘ zentral. Von hier aus ließe sich dann präzisieren, dass das im Modus der Aussage Unaussprechliche durchaus in anderen Modi der Sprache zur Erscheinung kommen kann – sich auch in der Sprache ,zeigt‘.

7. „Instruktion“ Auch in Wittgensteins Bemerkung ist der Übergang in einen religiösen Glauben sprachlich vermittelt, insofern zur „Instruktion in einem religiösen Glauben“ unverzichtbar „die Darstellung, Beschreibung jenes Bezugssystems“ gehört; und auch das „in’s-Gewissen-reden“29 ist eine Sprachhandlung. Wenn Wittgenstein hier von Instruktion spricht, so ist auch dies keine Besonderheit des ,Religiösen‘ oder gar Indoktrination, sondern benennt eine Eigenart des Erlernens dessen, was als ,Bezugssystem‘ bezeichnet wurde: Ein Lehren durch Erklären und Begründen ist, wie dargelegt, da nicht möglich, wo die Basis der 25 So ist auch der zum kulturindustriellen Symbol gewordene Schlusssatz des tractatus nur deshalb keine Trivialität oder banale Tautologie, weil das, von dem man nicht reden kann, für den Autor das schlechthin Entscheidende ist. 26 Th. Rentsch, Gott, 157. 27 L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 115 Nr. 6.522. – Es ist aus theologischer Perspektive sicher nicht ohne Bedeutung, dass sich hier auch ein Wechsel in ein reflexives Verb vollzieht: Das erkennende Subjekt tritt in den Hintergrund, wenn es sich zeigt. 28 J. Schulte, Wittgenstein, 85. 29 Vgl. Fußnote 1.

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Erklärungen und Begründungen durch einen selbstverständlich geltenden Bezugsrahmen gerade nicht vorausgesetzt werden kann. Um diesen Vorgang, den Wittgenstein als „Instruktion“ bezeichnet,30 genauer verstehen zu können, ist es hilfreich, noch einmal einen Schritt zurück zu gehen, nämlich zu dem, was er in den ,Philosophischen Untersuchungen‘ zum Erlernen einer Sprache dargelegt hat. Für das Erlernen der Sprache bei Kindern verwendet er eine noch drastischer klingende Ausdrucksweise: „Das Lehren der Sprache ist hier kein Erklären, sondern ein Abrichten.“31 Wittgenstein hat damit sicher keine didaktischen Präferenzen im Blick, sondern stellt pointiert den für die Eigenart solchen elementaren Lernens charakteristischen Gegensatz zum Erklären heraus: Erklären ist immer ein Zurückführen eines Unbekannten auf Bekanntes; das setzt aber voraus, das dass die Lernenden bereits über hinreichende Kenntnisse verfügen.32 Nur wer eine Sprache hinreichend gelernt hat, kann grammatische Erläuterungen verstehen. Dabei ist mit Wittgenstein genau zwischen dem Erlernen des Sprechens und der Muttersprache vom Lernen einer fremden Sprache zu unterscheiden. Das populäre33 und von ihm kritisierte Modell des Sprachenlernens durch Erläutern oder Hinweisen gleicht der Situation, „als käme das Kind in ein fremdes Land und verstehe die Sprache des Landes nicht; das heißt: so als habe es bereits eine Sprache, nur nicht diese.“34 Das Erlernen einer fremden Sprache ist in diesem notwendigerweise vereinfachten Bild freilich zunächst eher eine regelgeleitete Übersetzung, als würde ein Satz der eigenen Sprache in den Worten und der Syntax einer anderen wiedergegeben; die Komplexität der Idiomatik und die Verbindung von Spracheigentümlichkeiten und Welterfahrungen sind hier noch nicht im Blick. Aber selbst dieses vereinfachte Bild setzt schon die Geltung eines sprachlichen Rahmens voraus, über den beim ersten Erlernen von Sprache gerade nicht verfügt wird, sondern der im Lernen allererst angeeignet wird. Darum gleicht hier das Lehren, nach Wittgensteins Ausdruck, in der Tat einem ,Abrichten‘, insofern hier vorgesprochen, wiederholt, korrigiert und wiederholt wird, bis die Lernenden zur Zufriedenheit der Lehrenden die Züge nachvollziehen können, die der Lehrende von ihnen erwartet. Wenn Wittgenstein formuliert, das Kind lerne „als habe es bereits eine Sprache, nur nicht 30 Es ist zu vermuten, dass der Ausdruck „Instruktion“ in Wittgensteins Bemerkung durch das Englische beeinflusst ist: Hier hat instruction keinen abwerten Klang, sondern bezeichnet schlicht solche Modi des Lehrens und Lernens, in denen Praxis eine besondere Rolle spielt, und die daher auch als ,Einüben‘ aufgefasst werden können. Dazu zählt Musikunterricht und Sportunterricht ebenso wie die Fahrschule; bemerkenswert ist dabei aber auch, dass auch der kirchliche Elementarunterricht als catechetical instruction bezeichnet wird. 31 L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 17, Nr. 5. 32 Wittgenstein kann ,Abrichtung‘ und ,Erziehung‘ auch synonym gebrauchen; z. B. L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 120, Nr. 189, wo es um die Regeln zur Verwendung mathematischer Formeln geht. 33 Dies ist ja auch das Modell von Sprache, das Wittgenstein selbst vertreten hatte. 34 L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 34, Nr. 32.

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diese“ wird der Unterschied zwischen dem Sprachlernen und dem Erlernen einer Fremdsprache manifest. Das eine ist die schlechterdings nicht hintergehbare Sprache, in der ein Mensch seine Welt erfährt und die ihm so natürlich vorkommt, dass er sich wundern muss, das andere Menschen anders sprechen. Vom Erlernen dieser ,Muttersprache‘ ist grundsätzlich zu unterscheiden das Lernen einer Fremdsprache, die zurückbezogen wird auf den Bezugsrahmen der Muttersprache und damit – zunächst – deren Kriterien bis in den Satzbau und „übersetzte“ idiomatische Ausdrücke übernimmt. Eine „Instruktion in einem religiösen Glauben“35 gleicht also dem Erlernen einer neuen Muttersprache, was nur so lange als bloße Paradoxie erscheint, wie ,Muttersprache‘ auf die biographische Kontingenz der zuerst erlernten Sprache festgelegt wird, ohne deren logische Bedeutung, wie sie bei Wittgenstein reflektiert wird, im Blick zu haben.36 Diese logische Bedeutung liegt darin, dass die mit der Sprache erlernten Kategorien und Schemata zugleich die Selbst- und Welterfahrung und damit auch das Handeln in der Welt ermöglichen und bestimmen. Bei diesen Überlegungen ist genau zu beachten, dass Wittgenstein immer die Praxis mitbedenkt, in die ein Sprachspiel eingebunden ist, und das erst darüber entscheiden lässt, ob Sätze richtig verstanden wurden. Dies ist nach Wittgenstein eine nur im lebensweltlichen Vollzug zu beantwortende Frage; das Verstehen erweist sich daran, ob die intendierten Wirkungen sich auch einstellen – ob also die „Züge“ im Sprachspiel erfolgreich sind.37 Im einfachsten Modell eines Sprachspiels, das nur wenige Bezeichnungen für Gegenstände umfasst, die etwa ein Gehilfe beim Bau herbeibringen soll, ist das Kriterium, ob der verlangte Gegenstand auch tatsächlich herbeigebracht wird; Verstehen heißt nicht Nachvollzug eines mentalen Zustandes, sondern bezeichnet die Fähigkeit, das tun oder sagen zu können, was für das jetzt Anstehende erforderlich ist.38 Lernen lässt sich darum nicht ablösen von einer gemeinsam geteilten Praxis, in der der jeweilige Bezugsrahmen seine Geltung beanspruchen kann und in der er seine Plausibilität besitzt. Praxis und Bezugsrahmen verweisen somit untrennbar aufeinander : Ein Bezugsrahmen, der sich in der jeweiligen 35 Es ist vielleicht nicht zufällig, dass bei Wittgenstein hier nicht der üblicherweise zu erwartende Akkusativ steht, sondern der Dativ: Ist damit angedeutet, dass solche Instruktion sich schon – vorläufig – innerhalb des Bezugsrahmens vollzieht? Dann wäre das eine genaue Entsprechung zu Ingrid Schoberths Begriff des Glauben-lernens; vgl. I. Schoberth, Glauben-lernen. 36 Die sprachwissenschaftliche Problematik der ,Muttersprache‘ kann hier nicht weiter verfolgt werden; hingewiesen sei aber nur auf die Diskussion zur Zwei- oder Mehrsprachigkeit bei Kindern und vor allem die Erfahrungen im Zusammenhang von Exil und Migration. 37 Die ethnologische Parallele zu den Überlegungen Wittgensteins findet sich bei Clifford Geertz: Verstehen einer Kultur beginnt damit, in ihr angemessene ,Züge‘ tun zu können. 38 Ob es sich um ein elementares Sprachspiel oder eine „Fremdsprache“ handelt, entscheidet sich also auch daran, ob diese Praxis für den Lernenden grundsätzlich bekannt ist und nun auf neue Situation angewendet werden soll, oder ob es eine gänzlich neu einzuübende Praxis ist.

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Praxis nicht bewährt, kann nicht auf Dauer ,geglaubt‘ werden; und eine Praxis ist nur möglich auf der Basis eines geltenden Bezugsrahmens. In den Beispielen, die Wittgenstein in den ,Philosophischen Untersuchungen‘ vorstellt, sind Praktiken und ihnen entsprechenden Sprachspiele im Blick, die überschaubar sind und in das alltägliche Leben eingebettet. Der Bauarbeiter verlässt die Baustelle, auf der er eine sehr begrenzte Aufgabe wahrzunehmen hatte; für diese begrenzte Aufgabe war das elementare Sprachspiel völlig ausreichend. Auch Geometrie und sogar die Wissenschaften lassen sich als begrenzte Sprachspiele betrachten, die in die Fülle des alltäglichen Lebens eingebettet sind; in keinem von ihnen geht es um das Ganze des Lebens.39 Die Perspektive des ,religiösen Glaubens‘, wie Wittgenstein ihn versteht, geht aber nicht nur auf das Ganze des Lebens, sondern darüber hinaus auf das Heil. Dabei wird offensichtlich, dass er im zweiten Teil seiner Bemerkung nicht von einem abstrakten ,religiösen Glauben‘ spricht, sondern letztlich von einer bestimmten Gestalt christlicher Religion, die mit einem bestimmten Erlösungsmodell verbunden ist, bzw. auf diesem basiert. Nach den bisherigen Überlegungen kann das auch nicht anders sein, als dass auch hier wiederum ein bestimmter Bezugsrahmen zur Geltung kommt, der dem Sprecher zumindest vertraut ist. Ein abstrakter Begriff von Religion kann die Orientierung des Lebens nicht liefern, weil er selbst das Ergebnis eines – anderen – vorausgesetzten Bezugsrahmens sein müsste. Von hier aus stellen sich aber Anfragen an diesen zweiten Teil von Wittgensteins Bemerkung.40 Nicht nur ist das Erlösungs- bzw. Rettungsmodell des „religiösen Glaubens“, von dem Wittgenstein ausgeht, theologisch fragwürdig; es setzt auch voraus, dass wesentliche Inhalte der Instruktion bereits bekannt und verstanden sind, der Lernende also sich in gewissem Maße schon in dem Koordinatensystem des „religiösen Glaubens“ aufhält. Auch wenn Wittgenstein nicht näher erläutert, worin die „hoffnungslose Lage“ besteht und wie das „Rettungswerkzeug“ beschaffen ist, so muss mir doch – an dieser Stelle wechselt die Bemerkung bezeichnenderweise in die erste Person – schon die Rettungsbedürftigkeit und die Funktion und Art des Rettungswerkzeugs bekannt sein, damit ich darauf zustürzte und es ergriffe. In welchem Bezugsund Koordinatensystem befinde ich mich also gerade? Was Wittgenstein hier beschreibt, wäre in der traditionellen Terminologie als ,Bekehrung‘ zu benennen. Die Frage nach dem Subjekt, das diese Bekehrung erfährt, gleicht nicht zufällig nach der des Subjekts in Röm 7: Spricht hier das erlösungsbedürftige Ich oder das Ich, das die Erlösung schon erfahren hat 39 Die Extrapolation naturwissenschaftlicher Methodik zur naturalistischen Welt- und Lebensanschauung sei hier nicht weiter untersucht; sie stellt auch einen Missbrauch dieses Rahmens zur Bearbeitung von Fragen und Problemstellungen über seinen Geltungsbereich hinaus dar. Seine Basis findet der Bezugsrahmen des Naturalismus bei genauerem Hinsehen auch nicht in den Naturwissenschaften selbst, sondern in eigens zu analysierenden anthropologischen, ethischen und ,religiösen‘ Orientierungen. 40 In der Handschrift ist er durch einen Absatz vom Vorherigen getrennt.

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und nun in der Rückschau das Verlorensein artikuliert? Diese Frage, das liegt nach den bisherigen Überlegungen auf der Hand, ist falsch gestellt. Das sichere ,Subjekt‘, das in derartigen Fragen vorausgesetzt wird, löst sich unter den Anfragen Wittgensteins als Fiktion auf. Auch hier hilft die genaue Beschreibung weiter, zu der Wittgenstein anleitet: Diese beiden Perspektiven lassen sich nicht trennen, insofern hier zwei verschiedene Bezugsrahmen zusammentreffen. Erst da, wo aus der Perspektive des Glaubens gesprochen wird, kann die Situation ,vor der Bekehrung‘ als solche erkannt werden; die ,Rettungsbedürftigkeit‘ erschließt sich erst von der Rettung her. Die entscheidende Differenz, die hier in den Blick kommt, ist die der Frage nach den gültigen Kategorien: Es geht nicht um die psychologisch oder biographisch ,korrekte‘ Beschreibung, sondern um die Logik der Geltung. Verschiedene Koordinatensysteme können über die Punkte gelegt werden, die mein Leben ausmachen – aber was entscheidet darüber, welches das richtige ist?41 Und ist der Übergang von einem Koordinatensystem des Lebens zu einem anderen nur als unableitbarer und nicht begründbarer Sprung möglich?42 Die Alternative, die sich hier aufzutun scheint, wäre für die Religionspädagogik fatal: Wenn Glauben ein unableitbares Werk des Geistes Gottes ist, scheint sie sinnlos; wenn die Bezugssysteme der Glaubenden und der Nicht-Glaubenden schlechthin inkompatibel sind, wäre sie unmöglich.

8. „eine Art des Lebens, oder eine Art das Leben zu beurteilen“ Nun kann sicher die „Instruktion in einem religiösen Glauben“ keine Konversion herbeiführen; das wäre nicht einmal eine sinnvolle Zielsetzung, weil sie dem widerspräche, was das Spezifikum eben des religiösen Glaubens ausmacht.43 Das drückt sich in Wittgensteins Bemerkung in der eigentümlichen Spannung zwischen ,Instruktion‘ und ,Ergreifen‘ aus: Worauf die ,Instruktion‘ zielt, ist nicht in der Hand des ,Instruktors‘, sondern muss das ,Eigene‘ dessen sein, der „die Darstellung, Beschreibung jenes Bezugssys41 Eben das ist bei Cages kompositorischen Arrangements (vgl. Anm. 7) auch die entscheidende Frage: Welche der prinzipiell unendlich vielen möglichen Lösungen sind befriedigend und ästhetisch richtig? 42 Im Rahmen dieses Beitrags kann nicht weiter diskutiert werden, wie sehr Wittgenstein sich hier auf Kierkegaard bezieht und ob die Figur des Sprungs bei Kierkegaard selbst schon vorrangig logisch zu verstehen ist (vgl. dazu H. Deuser, Sören Kierkegaard, 48 f.), was wiederum bei Kierkegaards Verständnis von Lessing naheliegen würde: Über den garstig breiten Graben, der historischen Wahrheiten von Vernunftwahrheiten trennt, kann bildlich nur ein mutiger Sprung helfen. Dann ist der Sprung nicht vorrangig das Wagnis des selbstgewissen Subjekts, sondern die Beschreibung einer logischen Inkommensurabilität. 43 Auch hier gilt natürlich, dass das aus der Perspektive eines biblisch fundierten Glaubensbegriffs gesprochen ist.

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tems“44 erfahren hat. Es geht dann nach Wittgenstein darum, „daß der Instruierte selber, aus eigenem, jenes Bezugssystem leidenschaftlich erfaßt“. Hier kommt beides zusammen: die Einsicht in die spezifische Grammatik des ,Bezugssystems‘, was durchaus starke theoretische Implikationen hat, mit der Leidenschaft, die dem gelebten Leben angemessen ist.45 Theologisch bleibt festzuhalten, dass Glauben keine didaktisch vermittelbare Fertigkeit und auch kein Wissen und nicht einmal eine herbeiführbare Haltung ist, sondern nur als Wirkung und Gegenwart des Geistes Gottes zu verstehen ist – wo und wann Gott will. Aber es wäre wiederum theologisch auch irreführend, wollte man das Handeln Gottes und das Handeln von Menschen in einen ausschließlichen Gegensatz bringen. Wie wirkt Gott Glauben? Offenkundig entspricht dieser Frage keine definitorische Antwort, sondern allenfalls eine Fülle von Beschreibungen. Die dogmatische Einsicht, dass Glaube allemal Gottes eigenes Werk ist, leitet dazu an, das eigene Handeln von der Ausrichtung darauf zu entlasten, ob es zum Glauben anleite oder nicht. Der Ort der Religionspädagogik könnte mithin so beschrieben werden, dass sie den Zwischenraum zwischen Information über den Glauben und Konversion bestellt. Ihre Aufgabe lässt sich dabei so beschreiben, dass sie nach Wegen sucht, wie das ,Bezugssystem‘ Glaube auch denen nahegebracht werden kann, deren Kriterien andere sind. Im Bild Wittgensteins: Wie kann aus der Fremdsprache die Muttersprache werden, die keine Übersetzung ist, sondern in der ich die Welt erfahre und die mein Leben formt? Wie kann es gelingen, die Sprache des Glaubens so dicht sprechen zu lernen, dass sie zur Muttersprache werden könnte? Das Bild ist hilfreich: Sprachen sind nicht völlig inkompatibel; sie differieren nicht ganz, sondern sind einander mehr oder minder nahe. Das Lernen einer fremden Sprache zeigt ja, dass es Möglichkeiten gibt, mit den Mitteln der eigenen Sprache auch in eine andere hineinzufinden und dabei auch den Schein zu überwinden, als sei die eigene Herkunftssprache die natürliche, in die alle anderen einzuordnen wären. Weiter gilt auch für die Lehrenden, dass die Sprache des Glaubens nicht ihre Herkunftssprache ist. Sie sind in dieselben kulturellen Kontexte sozialisiert wie die Lernenden, und die Gesellschaft, in der sie leben, folgt denselben Koordinatensystemen. Auch für sie gilt, dass sie das Bezugssystem Glauben erst erlernten – Bezugssysteme sind keine hermetisch abgeschlossenen Systeme, auch wenn sie unser Erleben der Welt formen und bestimmen. Sie korrelieren mit dem, was Wittgenstein „Weltbild“ nennt:46 In ihren Kategorien 44 Vgl. Fußnote 1. 45 Auch hier sollte nicht zu sehr auf das Subjekt abgestellt werden: Wittgenstein verwendet an anderer Stelle ohne erkennbaren Unterschied in der Intention auch das Passiv Ergriffen-Werden; so in der Bemerkung vom 11. 10. 1946 (vgl. oben S. 183). In theologischer Perspektive gehört wohl auch beides zusammen: Das, was ich als eigenes Streben erlebe, lerne ich, wenn ich im Glauben Heimat finde, als Gezogenwerden zu verstehen. 46 Dieser Begriff unterscheidet sich offenkundig von dem „Weltbild“, das die jeweilige Kosmologie einer Kultur benennt, auch wenn Beziehungen zwischen beiden zu bedenken sind. Er fällt darum

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erfahre ich die Welt, die mir eben wegen der vorausgesetzten Gültigkeit dieser Kategorien gar nicht anders erscheinen kann – wie ich die Welt sehe, so ist meine Welt.47 Dieses Bild der Welt, das mein Erfahren und Handeln leitet, „habe ich nicht, weil ich mich von seiner Richtigkeit überzeugt habe; auch nicht, weil ich von seiner Richtigkeit überzeugt bin.“48 Damit ist freilich noch keine Aussage darüber getroffen, ob dieses Weltbild richtig oder falsch, hilfreich oder zerstörerisch ist. Es ist auch nicht gesagt, dass keine Gründe für die Plausibilität eines Weltbildes angegeben werden könnten: Vielmehr muss ein bestimmtes Weltbild vorausgesetzt sein, um solche Fragen überhaupt stellen zu können: Es „ist der überkommene Hintergrund, auf welchem ich zwischen wahr und falsch unterscheide.“49 Darum gibt es auch keinen Ort jenseits eines bestimmten Weltbildes; der Schein der Objektivität oder Allgemeinheit entsteht schlicht daraus, dass das eigene Weltbild ohne reflexive Distanz nicht als solches in Erscheinung tritt und mit der Welt verwechselt wird. Dies gilt dann auch für die wissenschaftliche Einstellung, die nicht ,objektiver‘ ist, sondern selbst wieder ein Bezugssystem neben anderen, das sich in vielfacher Hinsicht bewährt und die Gegenwartskultur prägt, aber auch seine Perspektivität und seine Grenzen hat. Indem mit Wittgenstein ein Glauben als Bezugs- und Koordinatensystem erkennbar wird, wird auch deutlich, dass nicht nur die Begriffe und Sätze ihren Sinn nur innerhalb eines bestimmten gegebenen Rahmens haben, sondern damit auch jede Erfahrung die Geltung dieses Rahmens voraussetzt: Erfahren werden keine facta bruta, die erst in einem zweiten Schritt konzeptualisiert würden; vielmehr werden Erfahrungen durch das vorausgesetzte Weltbild erst möglich. Aus diesem Grund ist es auch zumindest missverständlich, oft aber auch irreführend, von einer „Deutung“ von Erfahrungen zu sprechen: Weil eine ungedeutete Wirklichkeit schlechterdings unzugänglich ist, fallen Deutung und Erfahrung zusammen. Damit verliert der Ausdruck seinen genuinen Sinn50 und kann zum suggestiven Etikett für ungeklärte Vorstellungen werden.

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auch nicht mit Heideggers kritisch gebrauchtem Begriff zusammen (vgl. M. Heidegger, Zeit des Weltbildes), sondern ist ein Terminus sui generis, der über die Arbeiten von Peter Winch und Thomas S. Kuhn als deutsches Lehnwort in die englischsprachigen kulturwissenschaftlichen und wissenschaftsgeschichtlichen Diskussionen eingegangen ist (vgl. H. Thom8, Art. Weltbild, 462). Ein präziserer Ausdruck als „Weltbild“ ist trotz seiner Mehrdeutigkeit schwer zu finden, weshalb ich im Folgenden den Ausdruck in seinem von Wittgenstein angezeigten Sinn weiter verwende. Das deutsche Wort „Weltanschauung“ ist, obwohl vom Begriff der Anschauung bei Kant her naheliegend, wegen seiner bekannten ideologischen Konnotationen irreführend. Eher könnte man von der impliziten „Ontologie“ sprechen, die unser Leben trägt; freilich geht es nicht nur und nicht vorrangig um eine Theorie der Welt, sondern um die Konstitution dessen, wie wir Welt erfahren. L. Wittgenstein, Über Gewißheit, 139. Ebd. Gedeutet werden Texte oder Spuren, deren Bedeutung ungewiss ist. Dabei wird unterstellt, dass

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Zur Konjunktur des Begriffs führte wohl die Intention der Anerkennung verschiedener Welt- und Selbsterfahrungen; der Begriff sollte auch ermöglichen, den christlichen Glauben als „Deutungsangebot“ plausibel zu machen. Als apologetische Strategie muss das aber fehlgehen, weil nicht einmal die Plausibilität eines Bezugssystems aufzuweisen ist, ohne dass es schon zumindest vorläufig und tentativ in Geltung steht und seine Kriterien akzeptiert werden. Das „Deutungsangebot“ ist dann im besseren Fall nichts anderes als selbst wieder der (notwendige) Streit um die richtige Erfahrung und darüber, was Leben tragen und ausrichten kann. Freilich wird durch die Rede von der „Deutung“ zumeist nur verdeckt, dass vorgängige Plausibilitätskriterien schon vorausgesetzt werden und die christliche Rede an dem gemessen und in das eingeordnet wird, was kulturell akzeptabel scheint. Das „Deutungsangebot“ bietet letztlich nur ein neues verbales Dekor für die alten Kategorien und Orientierungen – das kann auch nicht anders sein, solange nicht der Konflikt der Weltbilder und Bezugssysteme wahrgenommen und dann auch ausgetragen wird. Religionspädagogik hat ihren Ort und ihre Aufgabe in diesem Konflikt und muss die Relativität dessen, was sie zu sagen hat, entschlossen wahrnehmen. Die Überlegungen Wittgensteins ermöglichen, diese Strittigkeit der Erfahrungen und Weltbilder als unvermeidlich und produktiv, aber auch als alltäglich zu erkennen: Weltbilder und Sprachspiele sind kaum je völlig isoliert und in sich abgeschlossen, sondern stehen immer in Begegnung und Konkurrenz. Wie diese Konkurrenz ausgetragen wird, ist dabei jeweils zu fragen. Um überhaupt sinnvoll streiten zu können, muss die Akzeptanz des Anderen vorausgesetzt sein; Pluralitätsfähigkeit ist darum die Fähigkeit zur Auseinandersetzung, nicht deren Unterlaufen durch den Rückgang auf ein scheinbar Allgemeines, sei es eine geschichtsphilosophische Theorie der Moderne oder der Anspruch, selbst den Pluralismus zu verkörpern. Die Verwechslung oder Vermischung der Ebenen wäre hier fatal: Pluralismus ist eine Kategorie der distanzierten Beschreibung des Zusammenspiels verschiedener Positionen, Weltbilder und Erfahrungswelten – und eben nicht die Negation von Positionierungen oder gar selbst die privilegierte Sicht. Ebenso ist Ambiguitätstoleranz51 die Fähigkeit, andere Erfahrungen und Beschreibungen der Welt es einen originalen Sinn gibt. Im Streit der Interpretationen geht es dann um das richtige Verständnis – woran immer sich das bemisst. Und der Streit endet, wenn die Teilnehmer sich auf das richtige Verständnis geeinigt haben. Nur in dieser Situation ist der Begriff der Deutung angemessen. Eine Diskussion von ,Deutungen‘ ist logisch nichts anderes als der klassische Streit um die Wirklichkeit. Vgl. zu ,Deutung’ ausführlicher: W. Schoberth, Wahrnehmung oder Deutung. 51 Vgl. dazu Th. Bauer, Kultur der Ambiguität und ders., Vereindeutigung. Eine gefährliche Vereindeutigung geschieht nicht nur durch die Unterdrückung von verschiedenen Sichtweisen, sondern auch durch deren Nivellierung und Vergleichgültigung. Umgekehrt gilt auch, dass klare Positionierungen da, wo ein Rahmen zu ihrer Begegnung und ihrer friedlichen Konkurrenz gegeben ist, hilfreiche Ambiguität erst hervorbringen.

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wahrzunehmen, zu respektieren und möglichst in ein produktives Gespräch zu bringen; sie ist aber nicht das Verbergen oder Verdrängen der eigenen Perspektivität. Insofern ist die klare Erkennbarkeit und Artikulation von Positionen nicht eine Störung von Pluralität und Ambiguität, sondern die Bedingung von deren Möglichkeit. Die politische Brisanz entsteht wiederum dadurch, dass die Hochschätzung von Pluralität und Ambiguität selbst wieder die Geltung bestimmter Basisüberzeugungen voraussetzt, die keineswegs überall akzeptiert werden. Paradox müssten demnach diese bestimmten Überzeugungen durchgesetzt werden, um Pluralität zu ermöglichen. Die Konkurrenz der Weltbilder ist, wie Wittgensteins Bemerkung vor Augen führt, nicht allein und nicht einmal vorrangig eine theoretische Frage. Weil es um das eine Leben geht, stehen sie in einer ausschließlichen Konkurrenz – für mein Leben kann jetzt nur eines gelten.52 Christliche Religionspädagogik bringt in diesen Streit um die richtige Orientierung des Lebens die Perspektive des christlichen Glaubens in seiner Vielfalt und inneren Diskursivität ein. Es gehört zu seinem Wesen, dass er selbst nicht aufgehen kann in dem, was kulturell und sozial als selbstverständlich und allgemein akzeptiert gelten kann.53 Dass das, was Religionspädagogik in Bildungsprozesse einbringt, strittig ist, erweist sich in dieser Sicht nicht als Nachteil, sondern als paradigmatisch für die notwendigen gesellschaftlichen Diskurse und als genuines Moment dessen, worum es hier geht. Darum stellt sich hier in besonderer Weise die Frage, wie es gelingen kann, einen solchen Glauben zu lernen. Weil Bezugssysteme nach Wittgenstein kohärente Systeme sind und ihre grundlegenden Begriffe wie die mit ihnen verbundenen Erfahrungen auf einen spezifischen Bezugsrahmen verweisen, stellt sich erneut die Frage nach deren Kommunikabilität. Wittgensteins Bemerkung setzt aber auch voraus, dass Übergänge zwischen den grundlegenden Koordinatensystemen und Weltbildern möglich sind; die Vorstellung von völlig in sich selbst geschlossenen Sprachwelten ist unhaltbar und kann sich jedenfalls nicht auf Wittgenstein berufen, insofern sonst eine „Instruktion in einem religiösen Glauben“ schlicht absurd erscheinen müsste. Wittgenstein spricht hier vielmehr von zwei grundlegenden Elementen solcher Instruktion: Die „Darstellung, Beschreibung jenes Bezugssystems“ auf der einen Seite und „zugleich ein in’s-Gewissen-reden“ auf der anderen. Nun lässt sich beides etwa im Sinne der klassischen Unterscheidung von fides quae und fides qua wohl kaum scharf trennen; auch lässt sich nicht einfach die 52 Das „jetzt“ benennt die Möglichkeit der Konversion: Es kann sich einstellen, dass für mich ein anderes Weltbild Geltung gewinnt. Dann übernimmt wiederum dieses basale Gültigkeit. 53 Insofern wäre auch noch einmal das Gespräch mit der Ausgangsthese von Ch. Taylor, Ein säkulares Zeitalter aufzunehmen: Ist das, was Taylor für das Jahr 1500 als für jedermann selbstverständlich beschreibt, wirklich Glaube oder nicht vielmehr ein kollektiv geteiltes, mit der Sprache der christlichen Tradition formuliertes Weltbild? Das aber wäre eben noch nicht das, was Wittgenstein einen „religiösen“ Glauben nennt – Glaube in einem emphatischen theologischen Sinn war auch 1500 nicht selbstverständlich.

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notitia der Glaubensüberzeugungen als durch didaktische Anstrengungen vermittelbar von assensus und fiducia ablösen. Vielmehr gehört es zum Sinn der Grundbegriffe des Glaubens, dass sie das Leben, oder auch die Art, das Leben zu beurteilen, verändern. „Geschöpflichkeit“, „Sünde und Vergebung“, „Erlösung“ etc. sind keine theoretischen Konzepte, sondern verändern, wo sie in ihrer vollen Bedeutung erfasst werden, das Leben. Weil es dabei aber immer um das ganz eigene individuelle Leben geht, ist solche Änderung weder zu erzwingen noch auch nur zu intendieren. Die Instruktion kann ihr Ziel nur darin haben, dass sie die Kriterien, anhand derer wir unser Leben beurteilen, so in Bewegung bringt, dass diese sich ausrichten auf das, was aus dem Glauben kommt. Die theologisch elementare Aussage, dass Glaube Gottes Werk ist, ist keine Behauptung über die Vorgänge des Glauben-lernens, bedeutet also gerade nicht, dass das Entstehen und Wachsen des Glaubens nicht mit menschlichem Handeln zusammenhinge. Es ist vielmehr ein Axiom theologischer Logik, das sich in den Erfahrungen des Glaubens bewährt und zum Handeln anleiten kann, indem es einfordert, die Intentionalität und die Gestalt des Pädagogischen neu zu reflektieren. Religionspädagogik ist dann der gemeinsame Weg, Gottes Gegenwart in seiner Welt und in unserem Leben wahrzunehmen. Wo Glaube ist, ist Gottes Gegenwart zu erkennen. Lernende zu einer bestimmten Art zu leben bewegen zu wollen, oder sie zu Glaubenden machen zu wollen, ist darum nicht nur kein sinnvolles, weil unerreichbares Ziel, sondern auch kein zulässiges: Die theologische Logik, die der Wirklichkeit von Gottes Handeln in den Erfahrungen des Lebens den Vorrang einräumt, verweist vielmehr auf solches Lernen, das zur eigenen Wahrnehmung und Beurteilung des Lebens befähigt. Wie lässt sich dies nun so gleichsam probeweise zeigen und für die kommunikabel machen, die das Bezugssystem nicht teilen? Wird Wittgensteins Betonung der Kohärenz der Bezugssysteme in ihrer logischen, also auf die Geltung fokussierten Bedeutung verstanden, dann verschwindet der Schein, die Systeme seien fensterlos. Zur Erfahrung des Glaubens gehört, dass niemand ihn schon hat, sondern dass das, was uns aus dem Glauben zukommt, immer zugleich vorausliegt. Wittgenstein nennt das Lehren der Sprache ein ,Abrichten‘, weil er sich fixiert auf identifizierbares Handeln der Lehrenden und dabei das Autoritätsverhältnis in der Lernsituation isoliert. Eine Sprache lernen ist aber im Wesentlichen nicht das Erlernen von Bedeutungen und Praktiken und ihrer Grammatik, sondern das Hineinwachsen in ein gemeinsames Leben, in dem sich das Bezugssystem bewährt. Zu dem Lernen, das dem christlichen Glauben entspricht, gehört wiederum das Hineinwachsen in die Gemeinschaft der Glaubenden, die nicht einfach mit der lokalen Gemeinde identisch ist, so sehr sie auf erfahrbare Gemeinschaften verweist.54 Sie umfasst aber auch die Glaubenden aller Zeiten und Orte, die nur in ihrer Gesamtheit 54 Als creatura verbi ist Kirche immer eine Lerngemeinschaft und ausgerichtet auf die Gestalt, die ihr vorausliegt.

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das ,Ganze‘ des Bezugssystems Glauben tragen und artikulieren können, über das kein einzelner Glaubender verfügen kann. Das Bezugssystem Glauben steht also nie unverrückbar fest, sondern ist immer in der Bewegung von Aneignung und Transformation. Darum kann ihm nur ein Lernen entsprechen, in dem das individuelle Leben und die Grammatik des Glaubens zusammenkommen, um Menschen dabei zu helfen, im Lichte dessen, was uns von Gott her zukommt, ihr Leben neu zu beurteilen. Seine fluide Kohärenz findet dieser Bezugsrahmen in der immer neuen Begegnung mit der Bibel, die zur Heiligen Schrift werden kann;55 es gehört zu den basalen Aufgaben der Religionspädagogik, Wege zu dieser Begegnung zu eröffnen.56 Ein grundlegender Modus der Präsentation eines Bezugsrahmens in seiner vorläufigen Geltung ist die Narration; Erzählungen zeigen seine Wirkung und Wirksamkeit in der Konkretion der Geschichten vom Leben und der Möglichkeit, es anders, neu und befreiend zu beurteilen.

55 Vgl. dazu M. Coors, Lesen, 304: „Die Erfahrung, dass die Bibel sich als Wort Gottes ereignet, kann also keine Einzelerfahrung eines Individuums sein, sondern sie ist Erfahrung der Kirche, die durch sie konstituiert wird. In diesem Zusammenhang hat die Rede von einer formalen Autorität der Schrift ihren Platz: Zunächst ist es die Kirche, die uns mit der Schrift bekannt macht, ohne dass sie uns schon als Heilige Schrift ergriffen hätte.“ 56 Vgl. dazu I. Schoberth, Heilige Schrift als heiligende Schrift.

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Anhang: Transkription Transkription der Bemerkung MS–136, S. 16b bis 17a nach dem Faksimile in der „Wittgenstein Source Bergen Nachlass Edition (BNE)“ der Universität Bergen (http://www.wittgensteinsource.org). Wittgenstein hat den Text überarbeitet, diese Überarbeitung wurde aber anscheinend abgebrochen. Streichungen sind in der Transkription markiert; Unterstreichungen und Wellenlinie finden sich so in der Handschrift. In Kursive erscheinen Wittgensteins Hinzufügungen und Korrekturen, die er über dem geschriebenen Text anbrachte; Hinweise von mir sind durch eckige Klammern markiert; die runden Klammern sind aus der Handschrift übernommen. „Es kommt mir vor als könne ein religiöser Glaube nur wie (etwas wie) das leidenschaftliche Sich-entscheiden zu[überschrieben in:]für einem Koordinatensystem //einem Bezugssystem// sein. Also obgleich es Glaube ist, doch zu einer Art [17a] des Lebens, oder einer Art das Leben zu beurteilen. Ein leidenschaftliches Ergreifen dieser Auffassung. Und die Instruktion in einem religiösen Glauben müßte also die Darstellung, Beschreibung jenes Bezugssystems sein + zugleich ein in’s-Gewissen-reden. Und diese beiden müßten am Schluß bewirken, daß der Instruierte selber, aus eigenem, jenes Bezugssystem leidenschaftlich erfaßt. Es wäre als ließe mich57 jemand auf der einen Seite meine hoffnungslose Lage sehen, auf der andern stellte er mir den das Rettungsankerwerkzeug dar, bis ich mich, aus eigenem, oder doch (aber) gewiss nicht // gewiss aber nicht // jedenfalls nicht von dem Instruktor an der Hand geführt, mich (auf den Anker zustürzte + ihn ergriffe.)“

Literatur Bauer, Thomas: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams, Berlin 2011. Bauer, Thomas: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Ditzingen 32018. Coors, Michael: Vom Lesen der Bibel als Heiliger Schrift. Zur Grundlegung einer theologischen Schriftlehre, in: NZSTh 45 (2003) 3. Deuser, Hermann: Sören Kierkegaard. Die paradoxe Dialektik des politischen Christen (GT.S 13), München/Mainz 1984. Heidegger, Martin: Die Zeit des Weltbildes (1938); in: Ders., Holzwege. Gesamtausgabe I.5, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt an Main, 75–96. Rentsch, Thomas: Gott, Berlin 2005. 57 Hier folgt ein gestrichenes, für mich nicht zu lesendes Wort.

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Ritschl, Dietrich: Die Erfahrung der Wahrheit. Die Steuerung von Denken und Handeln durch implizite Axiome; in: Ders., Konzepte. Ökumene, Medizin, Ethik. Gesammelte Aufsätze, München, 147–166. Rudd, Anthony : Kierkegaard, Wittgenstein, and the Wittgensteinian Tradition, in: John Lippitt / George Pattison (Hg.): The Oxford handbook of Kierkegaard, Oxford 2013, 484–503. Schoberth, Ingrid: Glauben-lernen. Grundlegung einer katechetischen Theologie (CThM.PT 28), Stuttgart 1998. Schoberth, Ingrid: Heilige Schrift als heiligende Schrift. Welche Bedeutung gewinnt die Bibel in religiöser Bildung?, in: Nadine Hamilton (Hg.): Sola Scriptura. Die heilige Schrift als heiligende Schrift, Leipzig 2017, 73–89. Schoberth, Wolfgang: Wahrnehmung oder Deutung? Überlegungen zu einer populären Denkfigur, in: Ingrid Schoberth (Hg.): Wahrnehmung der christlichen Religion (Heidelberger Studien zur Praktischen Theologie 11), Berlin/Münster 2006, 118–126. Schulte, Joachim: Wittgenstein. Eine Einführung, Stuttgart 22016. Stosch, Klaus von: Grundloser Glaube? Zur Glaubensverantwortung nach Wittgenstein, in: FZPhTh 49 (2002), 328–346. Taylor, Charles: Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt am Main 2009. Tetens, Holm: Wittgensteins ,Tractatus‘. Ein Kommentar, Stuttgart 2009. Thom8, Horst: Art. Weltbild, in: HWP 12, 460–463. Wiesinger, Christoph: Authentizität. Eine phänomenologische Annäherung an eine praktisch-theologische Herausforderung, Tübingen 2019. Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt am Main 31975. Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung, Frankfurt am Main 121975. Wittgenstein, Ludwig: Über Gewißheit; in: Ders., Über Gewißheit (Werkausgabe 8), Frankfurt am Main, 113–257. Wittgenstein, Ludwig: Vermischte Bemerkungen. Eine Auswahl aus dem Nachlass; in: Ders., Über Gewißheit (Werkausgabe 8), Frankfurt am Main, 445–573.

Philipp Stoellger

Können Erzählungen Glauben machen? Zwischen sola scriptura und sola narratione

1. Vorgeschichten Die Ausgangslage ist bereits Geschichte, Theologiegeschichte. Der Grundsatz der neueren Gleichnisforschung lautete, das Reich Gottes komme im Gleichnis als Gleichnis zur Sprache (Jüngel). Entsprechendes gilt für die absolute Metapher und die Narration.1 Die Hintergründe dessen waren vor allem der Gebrauch der Sprechakttheorie zur Deutung von Gottes Schöpferwort, Rechtfertigung (Zuspruch, Anrede) und Sakrament – mit der kleinen, feinen Rückwirkung, ob dann nicht jeder Sprechakt ein verbum efficax sei? Leben wir alltäglich in lauter kleinen Sakramenten? ,Im Gleichnis als Gleichnis‘ ist eine These über die Potenz der Narration und lässt fragen, woher diese Macht stammt und wie sie zu verstehen sei? Vom Urheber (Gott, Christus), durch Rezeption bzw. Gebrauch (Glaube), durch den Inhalt (Heil) oder die Form (Narration)? Ursprungslogisch wäre, die Potenz an den Urheber zu binden. Aber viele der Gleichnisse Jesu sind bekanntlich weder historisch noch metaphysisch ,von ihm‘, sondern von selbsternannten ,Evangelisten‘ (und können gleichwohl wahr und mächtig sein). Oder macht der Glaube die Narration zum Heilsmedium (als praktische oder pathische Wahrnehmung, als Deutung des Lebens? als Lebensform?)? Dann wäre der Glaube überaus mächtig: so mächtig, seine Heilsmedien zu ernennen. Denkbar ist das, aber dann kaum noch kritikfähig. Wäre der Gegenstand der Narration entscheidend, bei den Gleichnissen ,das Reich Gottes‘, würde die Form marginal und die Gleichnisthese nicht mehr stimmen. Auch das ist möglich, würde aber die Pointe verlieren, dass das Wie der Wahrheit wahrheitsfähig sei. Wenn aber die Form als Form, die Narration als Narration nicht nur Repräsentations-, sondern Präsentationskraft hat, ist zum Verstehen dieser These einige Nachdenklichkeit nötig. Einerseits ist alt und vertraut als poetologische wie rhetorische Regel, die Form müsse dem Inhalt entsprechen. Dass aber Formen Inhalte seien oder genauer : in bestimmter Form sich der Inhalt zeige und vergegenwärtige, versteht sich weniger von selbst. Wenn die ,Form‘ so wesentlich ist für Gott und den Glauben (im Gleichnis als Gleichnis), kann das dann das Gleichnis per se? Und wenn das Gleichnis als 1 Gälte Analoges auch für ,das Bild‘, manche Bilder zumindest?

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Gleichnis dergleichen vermag – wozu dann noch Gott und Glaube? Oder sind es doch ,nur‘ der Glaube der Leser oder das Handeln Gottes, die das Gleichnis so nobilitieren? Wie ist diese Medialität dann zu verstehen, zu bestimmen und zu beschreiben? Gilt die These von der Potenz der Narration ,natürlich‘, ,revelatorisch‘, ,ästhetisch‘ oder medial? Also wie bzw. wodurch und wo oder warum sollte das gelten? Medial gefragt: wodurch wird das Reich Gottes gegenwärtig? Kraft der Erzählung als Erzählung? Gälte dann nach sola scriptura und solo verbo auch sola narratione? Worin besteht die Performanz der Narration genau? Ist sie potentiell so potent, als Heilsmedium zu fungieren, die Narration als Sakrament?

2. Gleichnis als Inkarnation Hans Weder deutete das Gleichnis (als Metonymie einer evangelischen Narration) inkarnatorisch: „Gleichnisse schaffen eine unvermutete Nähe zwischen transzendentem Gottesreich und alltäglicher, immanenter Wirklichkeit. Ihre Performanz besteht genau darin, dass sie das jenseitige Gottesreich ins Diesseits einkehren lassen. In diesem Punkt entsprechen die Gleichnisse dem Grundzug des christlichen Glaubens: der Inkarnation. Wie Christus verstanden wird als Verkörperung des göttlichen Wortes (nicht bloß als Information über dessen Inhalt), so wird das Gottesreich im Gleichnis sprachlich verkörpert (nicht bloß beschrieben). Das Gleichnis spricht gleichsam inkarnatorisch. Wie der Christus wahrgenommen wird als Austeilung göttlicher Gnade, so ist das Gleichnis wahrzunehmen als Wirksamkeit des göttlichen Königseins. Das Gottesreich ist insofern wirksame Wahrheit, als es am Menschen inmitten seiner Lebenswelt wirkt. Dieser Wirksamkeit entspricht das Gleichnis, indem es die Nähe Gottes zum menschlichen Leben erschafft.“2 Wenn das Gleichnis das Reich Gottes zur Welt kommen lasse, das Jenseits im Diesseits gegenwärtig mache und darin der Inkarnation entspreche – sind Gleichnisse dann Inkarnationsmedien? Oder sind sie ,nur‘ Entsprechungen in wiederholter Darstellung der einen einstigen Inkarnation? Sind sie bei aller Differenz Wiederholungen wie das Sakrament? Oder aber, wenn es die Performanz des Gleichnisses sei, das Eschaton Ereignis werden zu lassen, sind sie dann Inkarnation? Dann hätte allerdings Gott nur ein treffendes Maschal gebraucht und keine Inkarnation in Christus. Sind die Gleichnisse so heilssuffizient, dass sie auch remoto Christo wirken, was sie besagen? „Nun sorgt aber das Gleichnis dafür, dass jenes Reich aus dem Jenseits ins Diesseits hereinragt und aus der Zukunft in die Gegenwart hereinkommt. Man 2 Weder, Wirksame Wahrheit, 114 f.

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könnte auch sagen: Das Gleichnis macht das Gottesreich jetzt und hier zum Ereignis – zum Ereignis an seinen Hörern. Das ist die Arbeit der Sprache.“3 Wenn das tatsächlich gilt (wo, für wen, warum?), wenn es also ,Arbeit der Sprache‘ sei, kann man das sehr verschieden ,stark‘ auffassen. Ist in der Sprache eigentlich doch Gott allein am Werk? Dann wäre Sprache Instrument des Herrn, mehr nicht. Wenn Gott aber der Sprache unbedingt bedarf, um sprechen zu können und zu wirken, wäre er überraschend abhängig von diesem Medium. Es wäre womöglich das Dritte zwischen Gotteswort und Menschenwort. Wenn aber die ,Arbeit der Sprache‘ als Sprache derart performant wäre, wäre sie dann die Deutungsmacht hinter Gott, die ihn allererst zur Sprache kommen ließe?

3. Gott ist Geschichte Die Rückfragen legen es nahe, den (theologischen) spiritus rector der neueren Gleichnisforschung in Erinnerung zu rufen. Eberhard Jüngel überschrieb den §19 von Gott als Geheimnis der Welt mit dem Programmtitel „Die Menschlichkeit Gottes als zu erzählende Geschichte“4. Die ,Erzählung‘ tritt hier in verschiedener Funktion und Bedeutung auf: Erstens ist Narration ein allgemeines Thema, nicht nur, aber auch der Theologie; zweitens wird sie theologisch speziell interessant durch die Gleichnisse und Evangelien, in summa der Schrift. Drittens wird sie daher zum Gegenstand der Theologie in Form und Inhalt wie in der Gleichnisthese. Viertens wird sie als Medium Gottes entdeckt und daher fünftens als theologisches Modell, Gott zu denken und zu sagen. Schließlich oder öffnend wird sie als solches zu einer Methode oder Formfrage der Theologie, wenn es um die Möglichkeit einer ,narrativen Theologie‘ geht, die Gott als Geschichte erzählt. Die Inkarnationsthese Weders dürfte inspiriert sein von einer Wendung wie der folgenden: „dass die Menschlichkeit Gottes sachgemäß auch in einer postnarrativen Zeit nur als Geschichte erzählt werden kann.“5 Das ,nur als Geschichte‘ formuliert die These einer (mehr als) Notwendigkeit der Narration und ihrer Irreduzibilität auf den Begriff. Warum und weshalb dem so sei, ist allerdings keineswegs geklärt. Jedenfalls wird aus dem christologischen Gottesgedanken die der absoluten Metapher verwandte These der ,absoluten Narration‘ vertreten. Während die narratologischen Voraussetzungen latent bleiben, werden die ekklesiologischen Konsequenzen manifest gemacht: „Man wird es deshalb gar nicht hoch genug veranschlagen können, dass in der christlichen Kirche – als 3 Weder, Wirksame Wahrheit, 116 f. 4 Vgl. Jüngel, Gott als Geheimnis, 409–430. 5 Jüngel, Gott als Geheimnis, 426.

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creatura verbi und als congregatio sanctorum in qua evangelium pure docetur – eine Institution des Erzählens existiert, die selber (als Kirche) dadurch und nur dadurch erhalten wird, dass sie jene gefährliche Geschichte Gottes weitererzählt“6. Wie die Metapher nicht auf den Begriff reduzibel sei und ,mehr als notwendig‘ für das Sagen Gottes (in welchem Genitiv?), ist die Narration sowohl faktisches Leitmedium der Kommunikation des Evangeliums, als (so der Schluss) auch normativ vorzüglich, oder mit Jüngels Wendung: „mehr als notwendig“, wenn die ,Menschlichkeit Gottes‘ nur als Geschichte erzählt werden könne. Dass diese Geschichte gefährlich sei, ist allerdings mehrdeutig und daher so unterscheidungsfähig wie -bedürftig: für Gott, wenn er in Geschichten verstrickt Allmacht und absolute Souveränität verliert oder zumindest eingeschränkt findet; für Christus, dem es in seiner Passionsgeschichte mitnichten gut ergeht; für die christologischen Erzähler, die sich vor der ,gefährlichen‘ Aufgabe finden, den Erzähler zu erzählen, der so zum erzählten Erzähler (verkündigten Verkündiger) wird; für die späteren Weitererzähler in der Verkündigung, die darauf hoffen dürfen, dass der Erzählte in der Verkündigung zum Miterzählenden, also zum Christus praesens wird; aber auch für den Theologen, der sich mit der ,absoluten Erzählung‘ auf ein keineswegs begrifflich generell kontrollierbares Medium verlässt. Aus der christologischen Begründung der Erzählnotwendigkeit folgt bei Jüngel die heilsmediale und ekklesiologische These, dass Kirche wesentlich Erzählgemeinschaft sei. Allerdings bleibt es nicht bei der Absolutheit der Narration, sondern aus ihr folgert er eine entsprechende Notwendigkeit der Narratologie: „Vielmehr kann die Kirche als Institution des Erzählens ihrer Aufgabe nur gerecht werden, wenn sie das Erzählen selber reflektiert, um dann in einer ,zweiten Naivität‘ zur intentio recta des Erzählens zurückzukehren. Davor liegt jedoch die unverzichtbare Reflexion dogmatischen Denkens […]. Damit die argumentierende Theologie zur narrativen Theologie werden kann, muss sie sich zuvor gerade als eine das Erzählen und das zu Erzählende reflektierende und das heißt dialektisch-diskursive Theologie vollzogen haben […]. Eine solche Theorie des Narrativen in der Theologie hätte einerseits die linguistischen Merkmale und Strukturen des Erzählens im Unterschied zu anderen Sprachmodi mit deren linguistischer Charakteristik darzustellen. Und sie hätte andererseits das zu Erzählende in seiner nach Erzählung verlangenden Eigenart zu reflektieren“7. Die Grundlegung dieses Folgerungszusammenhangs findet Jüngel im Gottesgedanken (ist dieser Begriff, Metapher oder Narration – oder vormediales ,Ereignis’?): „Der Gottesgedanke kann nur als – begrifflich kontrollierte – Erzählung von Geschichte gedacht werden. Will das Denken Gott denken,

6 Jüngel, Gott als Geheimnis, 426. 7 Jüngel, Gott als Geheimnis, 426 f.

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muss es sich im Erzählen versuchen“8. Damit gerät die Narrationsthese ins Oszillieren. Galt einerseits die Absolutheit der Narration im Sinne der (mehr als) Notwendigkeit und Irreduzibilität, wird hier parenthetisch der Begriff als ultimative Kontrollinstanz eingeführt. Warum dem so sei, ist keineswegs klar. Wird doch die Notwendigkeit und Irreduzibilität der Erzählung damit reduziert und revoziert, wenn letztlich der Begriff ,das Sagen‘ habe. Wären dann erstlich und letztlich nicht Narration und Narratologie, sondern Begriff und Begriffsgeschichte maßgebend? Statt der Erzählung die Syllogistik von Begriff, Urteil und Schluss? Die Unklarheit ist prekär, weil sie ein Sowohl-Als auch vertritt, dessen Verhältnis so hierarchisiert wird, dass es die traditionelle Deutungsmacht des Begriffs unangetastet lässt. ,Trotzdem‘ die Notwendigkeit des Erzählens zu vertreten, mag man dann als subsidiär oder als inkonsequent auffassen, die Konsequenz für religiöse Rede und Theologie ist gleichwohl manifest: zu Erzählen, oder es zumindest zu versuchen. Die Erzählung wird zur maßgebenden Form, Gott zu denken und zur notwendigen Form der Theologie erklärt. Dann ist Theologie Narration oder Narratologie? Ist die Erzählung maßgebendes Kommunikationsmedium der Kirche, dürfte sie jedenfalls als Gegenstand für die Theologie ebenso maßgebend sein. Aber nicht nur dies: Will Theologie Gott denken, muss sie erzählen (oder es versuchen). Ist dann die Form religiöser Rede zugleich die maßgebende Form der Theologie selber? Muss Theologie narrativ sein? 1976 im Vorwort zur 1./2. Auflage von Gott als Geheimnis der Welt grenzte sich Jüngel davon allerdings deutlich ab: „Ich habe […] Möglichkeit und Notwendigkeit einer narrativen Theologie darzulegen versucht, wobei ich auf meine Analysen des Wesens der Gleichnisse Jesu und der metaphorischen Sprache überhaupt zurückgreifen konnte. Die Analogie des Glaubens hat in ihrer Anschauungsstruktur selber einen narrativen Grundzug. Und die Menschlichkeit Gottes verlangt wie jede Liebesgeschichte danach, erzählt zu werden. […] Es soll hier jedoch nicht verschwiegen werden, dass ich mir nicht schlüssig zu werden vermochte, ob narrative Theologie in Gestalt einer wissenschaftlichen Dogmatik durchführbar ist [,Ritschls … Story … hat meine Zweifel noch vermehrt‘]9 oder ob nicht vielmehr die erzählende Theologie bereits zu den praktischen Selbstvollzügen der Kirche gehört und ihren ,Sitz im Leben‘ in der Verkündigung hat. Nicht zweifelhaft ist mir allerdings, dass das Geschäft argumentativer Theologie kein Selbstzweck ist, sondern im Dienst an dem Wort geschieht und zu geschehen hat, das die Identität von Gott und Liebe erzählt“10. Dass diese entscheidende Frage ungeklärt bleibt, ist ebenso bemerkenswert wie unbefriedigend – wenn sie denn ungeklärt bliebe. 8 Jüngel, Gott als Geheimnis, 414. 9 Die eckigen Klammern markieren Anm. 6 auf S. XVII. 10 Jüngel, Gott als Geheimnis, XVIIf.

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Einerseits wird die Leistungsfähigkeit der Erzählung limitiert: „Gottes Sein als Geschichte läßt sich zwar durch Geschichten andeuten, aber doch nicht einholen.“11 Das wäre allerdings für die eingangs exponierte Gleichnisthese bereits ein Problem: Das Gleichnis könnte das Reich Gottes nur ,andeuten‘, nicht aber zur Sprache und zur Welt bringen? Andererseits wird die Narration letztlich dominiert vom Begriff: „Die Argumentation auf der Ebene des Begriffs muss geleistet werden, damit dann die Erzählung der Geschichte selbst argumentieren kann“12. Das ist eine argumentative ,Schubumkehr‘ von erheblichem Gewicht. Die Argumentation im Zeichen des Begriffs und daher die argumentative Theologie sei letztlich maßgebend für die narrative Kirche. Nicht die Gleichnisse, sondern die Christologie (welche?) wird dann zur Letztinstanz, von der her die Narration gemessen wird: „Diese […] lehrhafte Fixierung auf den Gekreuzigten gibt dann auch den Erzählungen der Geschichte Jesu Christi als Evangelium ihre erzählerische Einheitlichkeit, insofern sie von vornherein auf die Passionsgeschichte – die im Osterereignis gipfelt – hin entworfen sind. Es ist die Definitivität der göttlichen Offenbarung und es ist die Einzigartigkeit des sich offenbarenden Gottes, die Gottes Geschichte nicht in Geschichten aufgehen läßt.“13 Die Unterscheidung ist kategorial mit normativer Ladung: nicht Geschichten, sondern ,Geschichte‘ ist der Begriff, der in geschichtstheologischer Generalisierung geltend gemacht wird. „Gott hat nicht Geschichten, er ist Geschichte“14. Das könnte einen religionskritischen Klang haben, Gott wäre vergangen – aber nicht in diesem Kontext. Es klingt vielmehr nach einer begrifflichen ,Letztbegründung‘ für die Gleichnisthese und Narrativität der Kommunikation des Evangeliums. Denn wenn Gott wesentlich Geschichte ist (und nicht nur hat, so wie der Mensch Leib ist und nicht nur einen Körper hat), sollte man erwarten, dass die pluralen Geschichten, die von ihm zu erzählen sind, seinem Wesen entsprechen. Der letzte Grund der Narration (und ihrer heilsmedialen Deutungsmacht) ist dann – Gott selbst, sein Begriff, das theologische Argument? Jedenfalls wird hier – wie schon in der Metapherntheorie Jüngels15 – die Narration durch einen pränarrativen Begriff oder ein ,Seinsereignis‘ begründet. Das zeigt nicht nur, wie letztlich doch der Begriff die Narration dominiert, sondern es ist argumentativ zugleich begründend wie widerlegend. Denn ,hinter‘ der Narration liegt dann ihr zugrunde, was sie ebenso er- wie entmächtigt. Der Hüter des Begriffs und seiner Begründung der Narration ist dann die argumentierende Theologie. Narratologisch wie theologisch kann man einwenden, hier 11 12 13 14 15

Jüngel, Gott als Geheimnis, 428. Jüngel, Gott als Geheimnis, 428. Jüngel, Gott als Geheimnis, 428 f. Jüngel, Gott als Geheimnis, 428 f. Vgl. Stoellger, Metapher und Lebenswelt, 434–478.

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werde ein deus absconditus (praenarrativus) zur Grundlegung des revelatus (deus narratus).

4. Können Erzählungen Glauben machen? Harald Weinrich (gegen den Jüngel sich im zitierten Vorwort wendet) bemerkte: „dass die wichtigsten, die religiös relevantesten Texte, Erzählungen sind. Jesus von Nazareth tritt uns vornehmlich als erzählte Person, häufig auch als erzählter Erzähler entgegen, und die Ju¨ nger erscheinen als Zuhörer von Erzählungen, die ihrerseits die gehörten Erzählungen weiter- und nacherzählen, mu¨ ndlich oder schriftlich.“16 Damit ist Bultmanns These vom Verkündiger zum Verkündigten narratologisch formuliert: Der erzählte Erzähler ist Gegenstand der Erzählungen. Dass das noch weiterzuführen ist, wurde bereits notiert. Soll doch der erzählte Erzähler in der Erzählung als Miterzählender präsent werden (so die Hoffnung auf seine wirksame Gegenwart in der Verkündigung wie im Sakrament). Weinrich allerdings war ,gefährlich‘ konsequenter als Jüngel: „Man kann sich nun in der Nachfolge Christi, des erzählten Erzählers aus Nazareth, ein Christentum vorstellen, das sich von Generation zu Generation in einer endlosen Kette von Nacherzählungen tradiert: ,fides ex auditu‘.“17 Gegen die Aufhebung der Narration (oder Metapher) im Begriff wird damit das begriffslogische Dispositiv der Theologie fraglich – im Namen eines Gegendispositiv. Die starke Formthese lautet der Gleichnisthese entsprechend, die Narration als Narration sei das movens Gottes, Christi, des Glaubens und der Kirche. Wenn Gott ,nur erzählt werden kann‘, wird die Erzählung zum Leitmedium Gottes wie des Glaubens und der Theologie wie der Kirche. Gilt also sola narratione? Oder zumindest die Narration als maßgebendes (?) Heilsmedium? Wenn aber die Erzählung als Erzählung so potent wäre (deutungsmächtig), sind Gott und Glaube dann von ihr ,abhängig‘? Wenn die Erzählung so mächtig ist – ist sie es als Erzählung? Könnte sie dann nicht auch ohne Gott(es Hilfe), was sie kann: offenbaren, rechtfertigen, vergeben und erlösen? Wer ,sine vi sed verbo‘ auf die Wortmacht18 vertraut statt auf ein Machtwort oder ,den Begriff‘, wagt viel. Wer Glaube ans Wort sagt, sagt auch Wortglaube.19 Ist das Wort als Wort so mächtig, Gott zur Welt kommen zu lassen, das Reich

16 17 18 19

Weinrich, Narrative Theologie, 330. Weinrich, Narrative Theologie, 330. Vgl. Stoellger / Kumlehn, Wortmacht/Machtwort. Deutungsmachtkonflikte. Vgl. Stoellger, Rhetorik und Religion.

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Gottes zur Sprache, Christus zum Hörer?20 Kurzum: Kann die Erzählung als Erzählung Glauben machen? Die Hypothesen des Folgenden sind im Zeichen dieser Frage: 1. Gott will, kann und wird nicht ohne Medien (Wort, Narration …) wirken, sonst wäre er ein deus nudus. Er ist aber als deus revelatus ein deus mediatus. 2. Zwischen Offenbarung und Erfahrung wirkt die Medialität (wie die Erzählung). 3. Zwischen Gotteswerk und Menschenwerk tritt das Wortwerk, genereller das Medienwerk. 4. Darin manifestiert sich die Potenz der Narration, ihre Deutungsmacht, Glauben zu machen – in aller Ambivalenz der Medialität (potentiell zu erschließen wie zu verstellen). Aus der Theologiegeschichte von Jüngel über Weder ergibt sich die Titelfrage ,Können Narrationen Glauben machen?‘ Sie hat folgende Gründe und Hintergründe: 1. Narration unter der Perspektive der Deutungsmachtanalyse zu betrachten. Es gibt Deutungsmacht als Macht von Personen, Strukturen und Medien, uns etwas sehen zu lassen, sehen zu machen – denken, fühlen, sprechen, handeln etc. Ein Gerücht etwa kann uns – nolens volens – etwas oder jemanden anders sehen lassen als bisher, mit gefährlichen Nebenwirkungen. Oder nicht weniger gefährlich, Jesu Deutung Gottes in Form eines Gleichnisses kann uns Gott, Welt, Selbst und Gemeinschaft anders sehen lassen – bis dahin, uns anders leben und glauben zu machen. Eine prägnante Metapher wie die vom allmächtigen oder aber vom leidenden Gott kann (als Abkürzung von Erfahrung und Erzählung) gravierende Folgen haben. Kurzum: Narrationen sind Deutungsmachtmedien. Die können ,von oben‘ operieren, etwa wenn uns ein Lehramt, ,die Schrift‘, ,die Exegese‘ oder eine Dogmatik ,qua Amt‘ etwas zeigen, sagen und anerkennen lassen wollen. Sie können jedoch letztlich immer nur ,von unten‘ wirken, durch Anerkennung und ,freiwillige‘ Annahme (oder Unterwerfung). Auch wenn die Erzählung ,Gottes Werk‘ wäre, kann sie nur im ,Menschenwerk‘ der Anerkennung Anerkennung finden. Aber diese Differenz von oben oder von unten, diese po-

20 Vgl. Dalferth, Der auferweckte Gekreuzigte, 44: „Christliche Auferweckungsrede hat so nicht nur Gottes und unser Leben als wesentlichen Bezugsrahmen. Sie ist auch konstitutiv und unablösbar auf das Kreuz bezogen. Recht verstanden ist die christliche Auferweckungsbotschaft, wie Paulus zu betonen nicht müde wurde, nichts anderes als das Wort vom Kreuz, das das Kreuz als Heilsereignis zur Sprache bringt. Allein das Wort leistet das. Das Kreuz als solches ist und macht stumm. Erst wenn es durch das Wort des Evangeliums im Kontext des Lebens Gottes ausgelegt wird, beginnt es zu sprechen. Es erschließt sich dann, theologisch gesprochen, als Offenbarung des Wesens Gottes sub contrario“ (Hervorhebung im Original).

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litische oder theologische Dualisierung ist sc. unterkomplex und verhext den Verstand (ebenso wie die Vernunft des Glaubens). 2. Ein Vorschlag zur Entdualisierung ist der zweite Grund: Zwischen Gotteswerk und Menschenwerk wirkt das Wortwerk, wohl auch Bildwerk, Erzählwerk – kurzum: Medienwerk. Die bemerkenswerte Eigendynamik von Medien kreuzt die alte Alternative. Metaphern seien allemal klüger als ihre Verwender, meinte Lichtenberg. Und das gilt vermutlich auch für Erzählungen, Predigten oder Bildpraktiken. Wer würde sich in seiner Textoder Bildrezeption von vermeintlich ,authentischen‘ Selbstkommentaren der Urheber bestimmen lassen? Und mehr noch: Wer würde sich dabei gänzlich auf sich selbst verlassen? Als wäre die Lektüre die wunderbare Aufhebung des Textes (oder Bildes), die das Gegenüber, Schrift oder Bild, ablösen und verabschieden könnte? Wenn und falls Medien mehr sind als leblose Instrumente (und das ist bei manchen Medien durchaus der Fall), sind sie eigendynamisch gegenüber Urhebern und Rezipienten. In der Schrifttheorie hieße das: Die Schrift ist eine Figur des Anderen, die nicht vom Primat des Eigenen zu regieren ist (deskriptiv und normativ). Der genannte Vorschlag zur Entdualisierung besagt etwas anders: Medienwerk ist eine Figur des Dritten gegenüber Gottes- und Menschenwerk. 3. Dabei sei drittens vorausgesetzt: Medien sind Wahrnehmungsformen – im Doppelsinn: das, worin und wodurch wir wahrnehmen und das daher unsere Wahrnehmung formt, etwa eine Brille, ein Computer oder ein Gleichnis. Und kraft dieser formativen Kraft ist unsere Wahrnehmung ihrerseits formativ bzw. interpretativ oder deutend. Darauf setzen Religionen, wenn ,heilige Schriften oder Bilder‘ tradiert werden, um spezifische Wahrnehmungsformen in Bildungsprozessen weiterzugeben. 4. Medien, wie Narrationen der Bundesgeschichte oder der Gleichnisse, der Tora oder der Passion, treten dazwischen, in der Funktion, ,Zugang zum ansonsten Unzugänglichen‘ zu eröffnen. Nur gilt für Medien, dass sie kraft dieser Eigendynamik intrinsisch ambivalent sind (was in ihrem Gebrauch auseinandertritt: so oder so). Was dazwischen tritt, kann vermitteln oder stören – wie die Luft zwischen uns und dem Himmel (und seinen Ameisen).21 Daher wird hier traditionell unterschieden. Klassische Medienfiguren, in denen das auseinandertritt, sind die Engel und ihre Angehörigen, die Dämonen. Angelologie wie Dämonologie sind ein klassischer Topos für die Medien zwischen Gott und Welt. Dann klingt es sehr einfach: Es gibt diabo21 Aristoteles zitiert in seiner Wahrnehmungslehre Demokrit mit der Auffassung, dass man eine Ameise am Himmel sehen könnte, wenn nur der Raum dazwischen (metaxy) leer wäre. Vgl. Hagen, Metaxy, 24.

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lische und symbolische Medien, störende und vermittelnde, Heils- und Unheilsmedien. Diese Unterscheidung notiert, ergibt sich eine Konsequenz: Diejenigen Medien(praktiken) seien wahrhaft, würdig und recht, die (wie das Abendmahl) symbolisch ordnen. Dagegen ist alles, was die Ordnung stört, diabolisch und unheilvoll. Ein Problem dieser ordentlichen Sortierung ist ihre Dualisierung: Sie dualisiert die intrinsische Ambivalenz der Medien in Gut und Böse. 5. Die Konsequenz einer ,Theologie der Ordnung‘ zeigt sich bei Klaas Huizing: „Religiös sind Romane, Filme, Theaterstücke, wenn sie durch Proto- oder Abschlussfiktionen mit der Wirklichkeit versöhnen. Dann stiften Künstler poetische Theodizeen, die durch ihre Erdenschwere eine Weltwärme erzeugen und Heimatgefühle aufrufen.“22 Literatur religiös zu nennen und vor allem dafür zu schätzen, dass sie ein Bedürfnis nach Weltwärme und Heimatgefühl bedient? Das klingt etwas arg ,erdverbunden‘, wenn nicht regressiv. Es würde die Erzählung nicht mehr im Register des Begehrens spielen lassen. Denn Abschlussfiktionen bedienen Ordnungs- und Orientierungsbedürfnisse – die Bedürfnisse nach Anfang und Ende, einer Übersichtlichkeit, in der absehbar ist, woher wir kommen und wohin wir gehen. Proto- und Abschlussfiktionen erinnern an religiöse Schrebergärten, bei denen jeder nur zu genau weiß, wo das eigene Grundstückle beginnt und endet. Sollte das alles sein, was wir hoffen dürfen? Wenn das alles wäre, was die Religion zu bieten hätte und sollte, wäre sie womöglich vor allem eine fromme Bedürfnisbefriedigungsanstalt. I would prefer not to… 6. Klaas Huizing schrieb den (von ihm ausgewählten) Erzählungen Versöhnungsofferten zu, was offensichtlich recht selektiv ist. Paul Ricoeur blieb dahingehend unbestimmter : Erzählungen ermöglichen eine Refiguration der Lebenswelt. Die Einkehr in den Text und die Wirkung des Textes lassen kraft der Lektüre Leser und Welt eine andere werden.23 Die Erzählung wird dann

22 Huizing, Poetische Theodizee, 31. 23 Ricoeurs Vermittlung von Gedächtnis und Geschichte geht von der Erzählbarkeit des Lebens, zur Erzählung bis zu deren Wirkung in der Lektüre und zielt final auf die Refiguration der Lebens- durch die Lesewelt. Auf diesem Weg wird die Geschichtsschreibung auf ihre effektive Dimension, auf ihre Arbeit am Leser, fokussiert. Das führt zur Frage nach dem Zusammenhang von ,historischer Operation‘ von dokumentarischer Forschung, historischer Erklärung und Geschichtsschreibung, die Ricoeur mit dem Modell der Rhetorik von inventio, dispositio und elocutio beschreibt. Zur Pointe dieser rhetorischen Interpretation der Geschichtsschreibung gehört die Aufmerksamkeit auf das ,movere‘. Seine dialektische Erzähl- und Identitätstheorie orientiert sich an der Grundfigur des Chiasmus von idem und ipse, von Weltzeit und Lebenszeit wie von Geschichte und Erzählung. Deren Kreuzung dient der Arbeit an der dialektischen Vermittlung von Gedächtnis und Geschichte – mit der Funktion, die Erzählung als Grund narrativer Identität zu verstehen, als auf Gerechtigkeit angelegte Lebensweltrefiguration, final

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zum ,Meditationsraum‘ mit riskanter Nähe zum Sakrament. Wird hier doch latent ,gut protestantisch‘ die viva vox dem Sakrament verwandt konzipiert. Wenn die Erzählung so zum Heilsmedium würde – wird sie dann auch heilsnotwendig? Lektüre als Konsumption des ultimativen Sakraments? Ricoeur versprach sich von der Erzählung immerhin eine Selbstwerdung, die passive Genesis des ipse.24 Erzählung als narrative Welterzeugung wäre die (heilsame?) Schöpfung belebter Welten, des Mitseins von Lese- und Leserwelten. Könnte dann die Erzählung ,Menschen machen‘, die ihr gleich sind? Oder sind es Leser, die Erzählungen machen, die ihnen gleich sind? Wenn Erzählungen theodiezeekompetent sein sollten, wenn die Erzählung Objekt des Begehrens sein könnte, dann erscheint das jedenfalls als Neigung zur narrativen Soteriologie (bzw. bei Ricoeur zur narrativen Schöpfungslehre). Das Begehren nach Versöhnung und Abschlussfiktionen, die Narration als Objekt des Begehrens, scheint auf die Narration als Heilsgeschehen zu zielen, und auf Lektüre als konveniente Konsumption des Heils. 7. Die kritische Vermutung ist daher : die Erzählung wird zum Medium der Eigenschaften Gottes – durch entsprechend aufgeladenes Begehren in der Lektüre bzw. in dementsprechender Narratologie. Notiert und konzediert sei, dass mit dieser hermeneutischen Konjektur nicht eine totale Übertragung behauptet wird, an die Stelle Gottes also nicht die Form der Erzählung tritt; lediglich, dass die Eigenschaften Gottes auf ihrer vagabundierenden Wanderschaft von der Erzählung angezogen und konkretisiert werden. Die Kritik des Allmachtsgottes mochte zum Tode Gottes führen (des metaphysischen Gottesgedankens), aber seine Eigenschaften blieben nicht herrenlos, sondern werden der Erzählung zugeschrieben – nolens oder volens. Sola scriptura würde zu sola narratione; oder sogar : extra narrationem nulla salus? Wer Heil sucht, wird es nur (?) in der Erzählung finden? Man braucht nur den Tod der Urheber mitzudenken, die Autonomie des Werkes gegenüber Autor wie Rezipient, und die Eigendynamik der Schrift – und man gewinnt eine höchst dynamische, lateinisch gesagt: potente Erzählung, mit dem Hang zur Omnipotenz. Erzählung zieht dann ,gravitätisch‘ die Eigenschaften Gottes an. Kann die Macht des Autors doch nur wirklich und wirksam werden, indem er sie an die Erzählung weitergibt.25 In dieser – etwas zugespitzten – Perspektive scheint mir die Erzähltheorie gelegentlich zu einer

im Zeichen des ,Pardon‘ (als eine phänomenologischen Annäherung an eine immanente Versöhnung durch Vergebung). 24 Vgl. Stoellger, Selbstwerdung, 273–316. 25 Dann geht auf die Erzählung über, was man einst dem Autor zuschrieb oder kritischer dem Leser (K. Weimar). Allmächtig ist nicht ,eigentlich‘ der Autor, sondern der Erzähler, der so oder anders erzählen kann: Er ist es auch, der allwissend genannt werden kann, wenn er es denn ist, bzw. der unsichtbar, von geistiger Substanz und allgegenwärtig ,erscheint‘. Ewig und infinit wäre wenn dann die Erzählung (und der Erzähler nur, sofern er integrales Moment der Erzählung ist).

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Offenbarungsgeste zu neigen, mit einer Tendenz zur soteriologischen Überinterpretation der Heilsmacht und Heilsnotwendigkeit der Erzählung. 8. Die Potenzen der Erzählung lassen sich exemplarisch vor Augen führen: Wenn Erzählungen einmal in der Welt sind, sind sie nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Was einmal erzählt worden ist, wird immer erzählt worden sein. Das ist wohl auch der Grund für Autoren, Erzählungen als Medien der Selbstverewigung zu wählen – um sich Unsterblichkeit zu erschreiben. Sofern sie ,in seinem Namen‘ ewig leben, lebt er mit ihr fort. Aber gleiches gilt nicht für die Wirkung der Erzählung: Wenn vom ewigen Leben erzählt wird, sind die Evangelien selber längst unsterblich. Diese Unsterblichkeit teilen sie aber nicht mit den Lesern (sind die Erzählungen eifersüchtig?). Leser kommen und gehen, leben und sterben – das kümmert die Erzählungen in ihrer erhabenen Unsterblichkeit nicht. Wenn die Erzählung so ein gutes Beispiel für das verbum efficax sein soll, wenn sie daher als Modell für die ,narrative Theologie‘ dienen kann, dann kann man sich doch gleich an die Erzählung halten, statt sie als Modell für Gottes Wort oder Sakrament und Verkündigung zu nehmen. Und – wenn Gott tot wäre, würde die Erzählung weiterleben. Die Unsterblichkeit der Erzählung ist ihre Disposition, Gott in seinen Eigenschaften zu beerben. Der Autor ist mit dem ersten Satz gebunden, die Erzählung ist ab dem ersten Satz immer freier und mächtiger (über den Autor wie über die Leser). Bemerkenswert ist, dass die Freiheit des Autors gleichsam übergeht oder abgegeben wird an die Erzählung. Und die Freiheiten des Lesers? Die gibt es doch nur aufgrund der Erzählung. Sie ist für den Leser Grund der Freiheit. Wenn Gott und Autor tot sein mögen, lebt die Erzählung weiter. Als wäre sie mächtiger als der Autor. Wenn es biblisch hieß, bei Gott sei kein Ding unmöglich (Lk 1,37), gilt das mindestens ebenso für die Erzählung. Denn in einer Erzählung ist alles möglich, und zwar noch mehr als in dieser Welt. Diese Lizenz zur ,dichterischen Freiheit‘ ist eine Freiheit der Erzählung: Unmögliches wirklich werden zu lassen, etwa ,Ritter, die es nicht gibt‘. Ihr ist daher noch mehr möglich als Gott: logische Absurditäten, Zeitreisen und -verschiebungen, Veränderungen des Vergangenen etc. Alles was einem an die Regeln von Raum, Zeit und Logik gebundenen Gott unmöglich wäre, ist der Erzählung ohne weiteres möglich. Ist dann die Erzählung nicht mächtiger als Gott selbst? Trivial wäre, daran zu erinnern, dass der Erzähler – als eine imaginäre Figur in der Erzählung – Inbegriff der Allwissenheit ist (auch wenn er von dieser göttlichen Eigenschaft mal keinen Gebrauch machen sollte). Während Gott sich meist an gewisse Regeln von Takt und Diskretion hält, ist dem allwissenden Erzähler nichts Tabu. Alle Schweinereien und die geheimsten Wünsche sind ihm unverborgen. Und nicht nur das. Während Gott gnädigerweise sein Wissen über die verborgenen Gedanken den anderen gegenüber geheim hält, plaudert der Erzähler alles aus – wie es ihm grad gefällt.

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Aber ,Keiner hat ihn je gesehen‘, den ominösen Erzähler. Man kann eine Erzählung noch so oft durchmustern, nirgends findet man dort ,einen Erzähler‘. Theologisch gesprochen gibt es den Erzähler nur als ,narrator absconditus‘.26 Und solche verborgenen Größen, man könnte sie ,Entzugserscheinungen‘ nennen,27 sind irisierend: Schaut man hin, ist er weg; schaut man weg, ist er da, der Erzähler. Der ,narrator absconditus‘ ist, dem verborgenen Gott verwandt, eine unberechenbare Größe: von einer Willkür, der seiner Unsichtbarkeit entspricht; von einer Allmacht, zu der seine mangelnde Intelligibilität passt.

5. Ambivalenz der Narration – zwischen Symbolik und Diabolik Ist die Erzählung womöglich auch in wunderbar heilsamer Weise wirksam? Kommt in einer Heilserzählung das Heil in der Erzählung als Erzählung zur Sprache, zur Welt und zum Leser – auf dass es die Leserwelt refiguriere? Die kurze Skizze der ungeheuren Potenz der Erzählung lässt verständlich werden, wieso sie mit nicht ganz geheuren Erwartungen überfrachtet werden kann. Die offene Frage dabei bleibt, ob die Erzählung auch soteriologische Eigenschaften hat – und diese zu kommunizieren vermag? Kann in der Erzählung als Erzählung Gott zur Welt kommen (also ,kraft der Erzählung‘)? Der alte Mensch neu werden? Christus präsent sein? Möglich ist das oder genauer ,nicht unmöglich‘, aber es ist keineswegs so gewiss, wie die ,neuere Gleichnisforschung‘ und die ihr folgenden theologischen Narratologien insinuieren. Die Vereindeutigung der Erzählung als privilegiertes Sinn- bzw. Heilsmedium kann auch Ambivalenzbewusstsein wecken, etwa in Form der Narratologie Albrecht Koschorkes: „die Erzählung herrscht, so scheint es, in ihrem Reich bindungslos und allmächtig; sie muss sich um Kongruenz mit der äußeren Realität nicht beku¨ mmern; sie nimmt sich die Freiheit, alles und jedes zu einem Gegenstand in der Welt zu erklären. Wie das Denken und Sprechen überhaupt, so verfügt auch das Erzählen über kein hinreichendes intrinsisches Wahrheitszeichen“.28 Dann wird die Standardauffassung fraglich, wieso sie als Heilsmedium gelten sollte, oder, profaner gesagt, als das Sinnstiftungsmedium. Das Hören bzw. Lesen einer Erzählung könnte dann zum Objekt des Begehrens werden, wenn das Begehrte wesentlich als Erzählung präsent wird. Das erinnert an die eingangs vorgeführte Gleichnistheorie, das Reich Gottes komme ,im Gleichnis als Gleichnis zur Sprache‘, oder an das Abendmahl, in dem Christus im Sakrament als Sakrament gegenwärtig wird, oder an ästhe26 Vgl. Weimar, Wo und was ist der Erzähler?, 502. 27 Vgl. Stoellger, Entzugserscheinungen, 165–200. 28 Koschorke, Wahrheit und Erfindung, 12.

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tische Parallelaktionen der Aura von ,Materialität, Präsenz und Ereignis‘. Dass das Medium ,the message‘ sei, ist fast schon zu gängig. Dass aber das Medium selber nichts anderes ist als das Begehrte, der ,flow‘ der ,narration‘ zur Koinzidenz von ,Sinn und Sein‘ wird – das weckt Zweifel. Würde damit nicht die Erzählung überlastet? Müsste sie als Erzählung dann ertragen, was ,Wort und Sakrament‘ zugemutet wurde? Sollte die Narration und ihre Lektüre an die Stelle von Verkündigung und Sakramentskonsum treten – und damit so übertrieben wie überlastet werden? Hans Blumenberg meinte noch recht generell, „Geschichten werden erzählt“, „um etwas zu vertreiben. Im harmlosesten, aber nicht unwichtigsten Fall: die Zeit. Sonst und schwererwiegend: die Furcht.“29 Albrecht Koschorke dagegen gründet seine Narratologie (Wahrheit und Erfindung) auf einer Doppelfunktion der Erzählung. Keineswegs überall habe sie „die Aufgabe, Ängste dadurch zu beschwichtigen, dass [sie] ihnen Gestalt und Namen leiht. Ebenso wenig antwortet [sie] immer auf ein Verlangen nach Sicherheit oder Trost; ganze Genres sind darauf spezialisiert, Unsicherheit, Schrecken, Grauen, Trostlosigkeit zu verbreiten.“30 Daher könne „das Erzählen ebensogut in den Dienst des Abbaus von Sinnbezu¨gen gestellt werden, etwa durch die Demontage von hegemonialen Sinnzwängen. Als eine in hohem Maß formlose Tätigkeit kann es entsprechend gerade die Qualität der Formlosigkeit – sei es durch Deformation, sei es durch Auflösung verfestigter Sinnformen im Prozess der kulturellen Semiosis ausspielen. In einer Vielzahl von Erzählungen wird Kontingenz keineswegs gebannt, sondern geradezu heraufbeschworen.“31

6. Dreifaltiger Fortgang der Erzählung Wäre die Teleologie der Theologie, ,alles in Ordnung‘ zu bringen, könnte sie ihr Heil in der Ordnungsstiftung kraft der Erzählung suchen. Nur wäre dann letztlich die Ordnung Gott und Gott ein Ordnungshüter (vgl. Augustin, De ordine)32. Da aber die Theologie von einem außerordentlich Außerordentlichen ausgeht, von Passion und Tod Christi, kann es ihr nicht darum gehen, ,alles in Ordnung‘ zu bringen. Daher sind die neutestamentlichen Texte gegenüber der jüdischen Tradition wie gegenüber der griechischen vor allem störend, verstörend. Das Außerordentliche wird merklich als widerordentlich, ohne darum gleich ,diabolisch‘ zu sein. Das trifft sich mit der narratologischen Einsicht, dass Erzählungen keineswegs nur rund und ganz machen, was sonst 29 Blumenberg, Arbeit am Mythos, 7. 30 Koschorke, Wahrheit und Erfindung, 11. 31 Koschorke, Wahrheit und Erfindung, 11. Vgl. das Phänomen narrativ bewirkter Desorientierung, ebd. 12 32 Vgl. Stoellger, Alles in Ordnung?, 120–135.

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auseinanderfällt – und umgekehrt keineswegs diabolische Zerstreuung sind (wie Kritiker ,profaner‘ Literatur einwenden mögen), sondern zur Deutungsmacht und Eigendynamik der Narration gehört, dass sie beides können – womöglich zugleich. Positiv gilt die Narration als symbolisch: als Sinn- wie Heilsmedium. Negativ gilt sie als diabolisch wie im Gerücht oder der üblen Nachrede. Was so vereindeutigt gegeneinander tritt, liegt in der Erzählung als Erzählung ineinander. Wenn die Narration als Narration so mächtig ist (so oder so), braucht sie weder Gott noch Teufel, weder Glaube noch Unglaube zu ihrer Ermächtigung, sondern sie kann all das als Erzählung. Die so markierte Autonomie der Narration wird aber umgehend verdächtig: Der Sakramentalität der Narration tritt ihre Deutungsmacht kraft ihrer Eigendynamik entgegen: die vermeintliche Diabolizität der Narration. Die Ambivalenz der Narration wird manifest, wie die Medialität dazwischentritt als Eröffnung und Störung zugleich. Gilt für ,das Medium‘ als Medium: es tritt dazwischen, vermittelt und verstellt zugleich, trübt und gibt Zugang – gilt für die Erzählung als Erzählung eine analoge Ambivalenz. Das kann man das Simul der Narration nennen. Aber – dann wird man sich von der Narration als heilmachender symbolischer Ordnung verabschieden müssen, auch von der Sakramentalisierung der Lektüre und von der entsprechenden Vereindeutigung – des Sprechakts wie der Metapher und der Narration. Erzählungen mögen Glauben machen – aber sie können auch das Gegenteil. Sie sind so mächtig, beides zu vermögen, womöglich sogar zugleich. Die Großerzählung der Säkularisierung ist ein Beispiel dafür : Sie lässt und macht glauben, Religion sei Geschichte – und macht manche glauben, es sei vorbei mit dem Glauben. Eine Geschichte kann glauben machen, man könne nicht mehr glauben – und so Unglauben machen. In Dostojewskis Dämonen heißt es: Stawrogin sei (so sagt Kirilow) von einer „Idee verschlungen“: „wenn er glaubt, so glaubt er nicht, dass er glaubt. Wenn er aber nicht glaubt, so glaubt er nicht, dass er nicht glaubt“33. Das scheint mir die (zur Säkularisierungsthese) gegenläufige ,Glaubensmacht‘ der Erzählung zu verkörpern: Glaube zeigt sich daran, dass er nicht glaubt, dass er glaubt, während der Unglaube tatsächlich und sicher glaubt, dass er nicht glaubt. Für die Glaubensmacht der Narration gesagt: Eine Säkularisierungsnarration befestigt den etwas schlichten Kritikerglauben, zu glauben nicht zu glauben. Andere Narrationen mögen Glauben machen, tatsächlich, selber, authentisch zu glauben. Aber – der doppelte Witz der Narration als Narration ist wohl oder übel, beides zu können, beides zugleich. Auch dafür sind die Gleichnisse Jesu übrigens ein Beispiel: Sie sind kritische Narrationen, die beides zugleich können und davon erzählen. Dann aber ist der schöne Glaube narrativer Theologie zumindest zu 33 Dostojewski, Dämonen, 972; vgl. Müller-Lauter, Zarathustras Schatten hat lange Beine, 98 f.

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schlicht: Mag das Reich Gottes im Gleichnis als Gleichnis zur Welt kommen, kann das Gleichnis zugleich als Gleichnis störend dazwischentreten und einem das Reich Gottes versperren. Was dazwischen tritt – eröffnet und stört zugleich. Wie es wirkt dann auf ein Prädestinationshandeln Gottes zurückzuführen, oder auf die freie Entscheidung vor dem Kerygma – erscheint metaphysisch allzu generell: entweder als Prädestinations- oder Subjektivitätsmetaphysik. Das ambivalent Beunruhigende der Erzählung als Erzählung ist, dass sie als ein und dieselbe Erzählung beides zugleich vermag. Das hieße: Narration als Narration wirkt katalytisch, nicht per se sakramental. Für die Gleichnisse hieße das, sie sind als Gleichnis Gesetz und Evangelium zugleich, Krisis und Sakrament zugleich etc. Die entsprechenden theologischen Vereindeutigungen sind dann zu eindeutig. Narration ist freier Herr aller Dinge … Und die Narration ist so frei, dass sie dienstbarer Knecht werden kann – aber keineswegs muss. Dafür ist Thomas Manns Der Erwählte ein prägnantes Beispiel.

7. Manns Erwählter : ambivalentes Simul Mit großem Geläut beginnt die Erzählung und öffnet sich mit einer Inklusion von Anfang und Ende des Ganzen: ein glorioser Rahmen, der dem Leser von Beginn an die Gewissheit gibt, am Ende werde alles gut. ,Alles kommt letztlich in Ordnung‘, so die geweckte Erwartung; aber innerhalb dessen wuselt die Unordnung, das Außerordentliche ebenso wie das Widerordentliche. Der Rahmen gewährt dem Leser ein Vorherwissen um das Ende und lässt ihn Bekanntschaft machen mit dem ,Wer‘, der hier die Glocken läutet und eigentlich das Sagen hat. Wer spricht, wer erzählt hier? Kaum gefragt, beginnt die Erzählung sich zu häuten und entblättert ihre Schichten. Die Erzählwelt im Innersten zusammen hält der Geist der Erzählung, wer oder was immer das sei. Dieser gute Geist zeigt sich im Geläut und spricht durch den Mund eines Erzählers, des irischen Mönches Clemens. Der erscheint auf Erden der Erzählung in zweierlei Natur: Erzähler und Inkarnation des Geistes der Erzählung, eine ,natürliche Person‘ in der Erzählwelt und Stellvertreter des übernatürlichen Geistes. Diese Rahmenkonstruktion ist eine Autorisierungsfiktion für Clemens wie für den Text. Wie aus ,heiligen Texten‘ bekannt, sei es die Tora, die Propheten oder die paulinischen Briefe, geht es um eine Ermächtigung, letztlich die Selbstermächtigung des Textes kraft Gottes, des Geistes oder einer Berufung zum Stellvertreter. Wenn Paulus spricht, spricht er im Namen Gottes, auf dass in seinen Briefen Gott selbst sprechen möge. Was Paulus recht ist, ist Clemens billig: Wenn er spricht, spricht der Geist. Die Erzählwelt formiert sich so als Schöpfung des großen Geistes, der kraft

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eines Schöpfungsmittlers, des Erzählers, die Welt ins Werk setzt. Wer der Dritte im Bunde wäre neben dem Geist und seiner Inkarnation, bleibt im Dunkeln. Die Position von Gottvater ist in einer Weise latent, dass man einen Gott hinter dem Geist oder einen Autor hinter dem Erzähler vermuten mag. Aber der bleibt weitgehend ,absconditus‘. Der Allmachtsgott tritt nur gelegentlich an den Rändern und zwischen den Zeilen hervor, ansonsten hält er sich diskret im Hintergrund und verlässt sich auf seine Gnadenmittler : den Geist und seine Inkarnation. Narration ist Geistwirken, Narratologie daher Pneumatologie, lautet die These zum Rahmen. Der Erzähler ist Inkarnation, eine Person von zweierlei Natur, die Geist ist und Geist gibt, den Lesern Anteil gibt am Geist der Erzählung, lautet die These zum Erzähler. ,Clemens‘ fungiert christusgleich als Medium zwischen Erzählung und Lesern. Dazwischen entfaltet sich die Erzählwelt als Schöpfung des Schöpfungsmittlers. Ist im Anfang und am Ende alles in Ordnung, in plerophorer Harmonie des Glockenklangs, entsteht dazwischen Raum für Störung, Unordnung und manches Außerordentliche. Der Sinn der Welt entfaltet sich in ihrer Vielheit in Differenz zum anfänglich Einen. Das Leben dieser Welt bringt Bewegung in sie – kraft der ,geistlosen‘ Störung der Ordnung und der Harmonie des Geistes. Natur tritt gegen Geist: Wider die harmonische Ordnung öffnet sich der Raum für Bewegung in der Eigendynamik der Erzählwelt. Ohne Störung kein Leben, ohne Eigendynamik der Natur keine Bewegung, oder narratologisch gesagt: ohne unordentliche und außerordentliche Eigendynamik des Mediums keine Erzählwelt. Der Geist bliebe weltlos ohne das gelegentlich widrige Eigenleben seiner Schöpfung. ,Ohne Fall kein Leben‘ oder ,ohne Sündenfall keine Geschichte‘, keine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, könnte man das theologisch kurzfassen. Diese Umwertung des Unwerts, der Sünde, scheint hier im Hintergrund mitzuschwingen.34 Raum gibt die Erzählung der Geschichte von zwei Königskindern, die so exzeptionell wunderschön sind, dass sie nur einander lieben können und einander nur lieben können – und das daher passenderweise auch nicht lassen können. Was folgt, ist der erste Inzest, der aber eigentlich fast nur natürlich scheint. Allein, dass der treue Hund dabei dran glauben muss und blutig gemetzelt wird, damit er den Inzest nicht stört, ist die eigentliche Sünde wider die Natur.35 Den inzestuösen Königskindern ward daraufhin ein Kind geboren – an und für sich sündlos, wie jedes Kind, aber doch mit exzeptioneller ,Erbsünde‘ belastet. Ist er doch Frucht größtmöglicher Sünde, Frucht eines ,verdorbenen Baumes‘, so die Unterstellung. Nur ist die Frucht selber darum verdorben? Doch hier spannt und sperrt sich die Erzählung: Dem Sünden34 Das erinnert an die Gnosis, der der Sündenfall als Ausgang aus der fremdverschuldeten Unmündigkeit, der Blendung durch den Demiurgen, gelten konnte. Oder an die Mystik der Sabbathianer: der Fall als Menschwerdung des Menschen und Anfang der Geschichte der Freiheit. 35 Nach Meinung des Erzählers, vgl. Mann, Der Erwählte, 36 (wie Mann auch in den Selbstkommentaren wiederholt notiert). Verweise auf das Werk erfolgen im fortlaufenden Text als Seitenzahlen in Klammern.

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pathos mit seinem Komparativ einer Sünde, die größer nicht gedacht werden könne, widerstreitet eine überraschende Natürlichkeit und Naturalisierung des Inzestes. Ähnlich sperrig ist die Sündenfrucht eigentlich selber sündlos – Inkarnation eines Paradoxes –, bis das Verdrängte wiederkehrt und wiederholt ausagiert wird mit seiner Mutter. Für den Fortgang der Geschichte muss der arme Grigorß alle Sünde seiner Eltern auf sich nehmen und als Verkörperung der Erzsünde durch die Erzählwelt wandern. Ärger als Christus, der sündlos empfangen sündlos die Sünd der Welt zu tragen hat, ist der arme Grigorß unverschuldet in Sünde empfangen, an sich sündlos, und muss ganz ohne göttliche Vollmacht die Sünd’ seiner Welt tragen. Ist doch auch seine Sünde im Folgenden nicht wirklich gewusst und gewollt, sondern unwiderstehlich: ihm vom Geist der Erzählung zugeschrieben und zugemutet. Vom Geist der Erzählung gezeugt, kraft eines Zeugungsmittlers, des bis dato ebenso sündlosen Bruders Wiligis, und von der Jungfrau Sibylla empfangen, wird Grigorß zum Schauplatz eines Gnadenwettstreits: ob denn die Allmacht Gottes so mächtig ist, selbst diesen Maximalsünder zu versöhnen, was allemal mehr und wunderbarer wäre, als seinen sündlosen Vorgänger Christus aufzuerwecken.36 Auch wenn Grigorß’ Weg in die Welt an Mose erinnert (nicht im Weidenkorb, sondern im Fässlein) und sein kommender Mutterinzest an Ödipus, inszeniert der Geist mit ihm eine Hyperbol8 Christi: Von sich aus ohne Fehl und Tadel, ohne Sünde, ist er dazu in die Erzählwelt gesandt, die Sünd’ seiner Welt zu tragen, selber zu übernehmen und zu wiederholen im zweiten Inzest. Was es heißt, die Sünde zu tragen, zu ertragen, zu tun, um sie abzutragen, wagt die Erzählung in Grigorß vorzustellen. „Denn er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt“ (2Kor 5,21). Darf man vermuten, dieser Hauptsatz paulinischer Christologie stehe Modell für Grigorß’ Erniedrigung und Erhöhung? Ähnlich dem Philipperhymnus (Phil 2)? So dass er zum Gnadenmittler wird und sogar letztlich als fast allmächtiger Papst zum Allversöhner oder Allvergeber? Wäre dem so, wäre die Ironie eine ,ganz besond’re‘, eine hyperbolische Ironie, hoffnungsvolle Übertreibung: zu schön, um unwahr zu sein; aber doch auch zu schön, um einfach wahr zu sein. Die Inzestfrucht und der Maximalsünder würde zum Christus redivivus, oder mehr noch: zum Erweis einer Gnade, die noch mehr vermag, als sich in Christus offenbart hat. Als hätte Gott mit Christus erst geübt, was ihm in Grigorß gelingt – als soteriologische Nagelprobe? Solch ,fromme Frechheit‘ wäre leicht zu kritisieren. Aber damit wäre das 36 Theologisch gesehen ist das ganz traditionelle Topik aller Erwählten, von Moses über die Propheten bis zu Paulus. Keiner wurde aufgrund besonderer Tugenden erwählt, sondern die Demutsrhetorik der Berufungen besagt stets, dass sie wider Willen, wider Erwarten, trotz ihrer Unfähigkeit erwählt wurden. Denn Gott liebt üblicherweise gerade die verlorenen Schafe (Mt 15,24), die Hässlichen und Kranken (Lk 5,31 f), die Sünder (Lk 19,10 par), und erwählt, was verachtet und verworfen ist von der Welt (1Kor 1,27 f). Vgl. Jüngel, Gott als Geheimnis, 452.

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Ansinnen wie die Zumutung verspielt, ob denn der maßlose Komparativ, die bis in die Komik und Absurdität übertriebene Gnadenlust, nicht eine theologische Pointe fingiert, die man zu denken wagen sollte: eine Gnade, über die hinaus größeres nicht gedacht werden kann? Oder noch mehr : die größer ist, als dass sie gedacht werden kann? Deswegen – so die narratheologische Hypothese – kann sie nicht (widerspruchsfrei) gedacht, sondern nur erzählt werden. Wobei ,nur‘ nicht gering zu schätzen wäre. Ist doch die Freiheit und ,Gnade‘ der Literatur ihre Lizenz zum Unmöglichen: zu erzählen und zu imaginieren wagen, was nicht real, nicht einmal real möglich, sondern ,inkompossibel‘ ist (und bleibt?). Davon zehrt jede Hoffnungserzählung, die den Horizont der gegenwärtigen Welt zu überschreiten wagt. Eschatologie ohne solche Horizontüberschreitungen wäre unsagbar. Literatur hat diese Paradoxie, gegenwärtig Unmögliches als zumindest erzählbar und damit denkbar darzustellen, nicht nur begriffen, sondern kultiviert. Die Phantastik37 eines Borges zum Beispiel überschreitet den Horizont des konsistent Denkbaren und kann in diesen imaginativen Expeditionen ins Undenkbare Unmöglichkeiten entdecken, die mehrwertig sind: Grund des Möglichen, vielleicht nicht ganz unmöglich. Ähnlich wie die eschatologischen Narrationen der Propheten Horizontüberschreitungen imaginieren, die gelegentlich absurd scheinen, angesichts dessen, was der Fall ist – aber nicht absurd bleiben, wenn man mit und von ihnen leben kann, anders leben. Der Erwählte scheint mir nicht weniger zu wagen. Um den Gnadenkomparativ hoch zu treiben, muss die Erzählung zuvorkommend die Sünde eskalieren, wie im zweiten Inzest von Mutter und Sohn. Ob der un- oder halbwissentlich geschah, kann narrativ im Vagen bleiben. Aber Unwissenheit schützt vor Schuld und Strafe nicht. Daher folgt auf die Sündenerkenntnis des Inzests beiderseitiges Entsetzen, Furcht und Zittern – und der Bruch, die Umkehr, nach gut biblischem Muster, wie es im Bußsakrament geregelt wurde. Bei Sybilla bleibt die Buße unspektakulär durch erneuten und endgültigen Rückzug in die demütige Nächstenliebe der Hospizarbeit. Bei Grigorß hingegen wird es spektakulär mit dem Willen zur Maximalbuße (auch einem Willen zur Macht). Mit Sündenstolz wird er überaus bußwütig und will auf fromme Weise seinem Leben ein Ende machen auf einer einsamen Insel. Mit seinem ,descensus ad inferos‘ sucht er die heroische Einsamkeit der leblosen Insel, einer Totenwelt, die ihm zugleich gute Aussichten bietet, zum angehenden Säulenheiligen (oder besser : Inselheiligen) zu werden. Der Erniedrigung wohnt schon der Keim zur Erhöhung inne. Die Ambivalenz der gesuchten Selbsterniedrigung zeigt sich auf beiden Seiten: im Anfang mit seinem Willen zu Größe der Buße wie im Ausgang der triumphalen Erhöhung. Die Inselepisode bleibt eine ebenso wundersame wie wunderliche Provinz in dieser Erzählwelt: ein kleiner Hades mit entsprechender Überfahrt. Ein Ort, 37 Vgl. dazu Lachmann, Erzählte Phantastik.

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um alle Hoffnung fahren zu lassen – wäre da nicht die seltsame Spur einer Naturgnade. Der Geist der Erzählung gewährt dem Büßer Nahrung kraft der mythischen Erdmilch, die ihn am Leben erhält. Der absolutistischen, indifferent lebensfeindlichen Natur wird eine Spur von Gnade eingeschrieben. Ein seltsam rationalistisches Motiv, um Grigorß am Leben zu erhalten, mit mythischen Mitteln und metaphysisch-metamorphotischer Wirkung. Denn das Ergebnis ist eine wundersame Wandlung des Menschen in ein Tier, ein zotteliges Naturding, zwischen Moos und Igel (195). Als müssten Leib und Seele vergehen, aber doch ein Rest an Kreaturkontinuität bestehen bleiben. Kein Ganztod also, aber doch eine Maximalregression in ein gerade noch lebendes Etwas. Aus dieser äußersten Niedrigkeit (nicht aber aus dem Tod!) wird er daher nicht erweckt, sondern ,nur‘ erhöht. Die zweite wundersame Wandlung steht an, als er von den beiden prominenten Papstscouts entdeckt wird. Was der Geist der Erzählung vorhersagt, geschieht. Und das nicht ohne Spannung und Ambivalenz. Einerseits könnte man meinen, die Erhöhung des Büßers sei Lohn für seine Maximalbuße. Das wäre so traditionell wie erwartbar in der Tradition der Bußtopik. Andererseits ist die römische Doppelvision vom Opferlamm, das den neuen Papst verheißt, so schräg und quer zu allem Lohndenken, dass hier kaum das Schema vom Lohn der Buße das Gnadenkalkül bestimmen kann. Was dann? Auf der Ebene des Erzählten bleibt das dunkel. Nachdem Grigorß zum moosigen Igel regrediert ist, springt der Geist der Erzählung nach Rom, wo ein akuter Papstmangel im Überfluss des Schismas herrscht. Wie ein Pneuma ex machina tritt die doppelte Vision ein, um den Fortgang der Geschichte ,von oben‘ zu dirigieren. Seltsam eigentlich. Hätte hier doch auch eine narrative Selbstmeditation vermitteln können, in der Clemens etwa auf Gottes Gnade reflektiert, seine Wandelbarkeit und vielleicht die Reue oder Anfechtung Gottes bedenkt, mit der er sich erweichen lässt, die Allmacht der Gnade eintreten zu lassen, wo die Ohnmacht der Buße die Geschichte zu Ende zu kommen lassen droht. Aber – stattdessen der Bruch, die harte Fügung zwischen äußerster Niedrigkeit und anhebender Erhöhung. Das Warum der Gnadenwendung bleibt dunkel, als gälte gut augustinisch das nackte ,quia voluit‘ oder mit Grigorß’ Gebet: „Deine heilige Alchimie“ (234). Narratheologisch wäre denkbar, dass hier eine Logik des Außerordentlichen am Werk ist: Die Wendung folgt nicht einer etablierten Ordnung: der Buße, des Lohnkalküls, den Heiligenviten, dem leidenden Gerechten oder der Theotopik Christi, auch wenn das alles im Hintergrund mitklingen mag. War doch schon im Doktor Faustus im Zwiegespräch Adrians mit dem Teufel die „völlig veraltete“ Theologie der Reue und Umkehr kritisiert worden.38 Die Gnadenwahl, den Erniedrigten zu erhöhen, ist ein nicht ,intelligibler Akt‘, sondern ein außerordentliches ,Ereignis‘. Hatte Blumenberg den Willkürgott 38 Vgl. Ohly, Thomas Mann , 123.

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des Nominalismus als ,theologischen Absolutismus‘ kritisiert, wäre hier von einem Gnadenabsolutismus zu sprechen: größer, als dass er gedacht werden könnte, und anscheinend in diesem entscheidenden Punkte auch wunderbarer, als dass er erzählt werden könnte. Wenn sich der Erzähler oder vielleicht sogar ,Mann selber‘ im Blick auf das Überleben Grigorß’ auf der Insel Sorgen machte um die narrative Plausibilität, ist er an diesem Punkt auffällig sorgenfrei gewesen. Als würde die Größe der Gnade durch die Härte der Fügung nur umso eindrücklicher. Danach läuft die Geschichte wie am Schnürchen, wie eine Karwoche mit Palmsonntagsjubel – nur ohne Gang ans Kreuz. Stattdessen geht’s in den Vatikan unter großem Geläut. Der Rahmen schließt sich. Die Narratheologia gloriae eskaliert, weil der Stellvertreter an der Vergebungsvollmacht derart Gefallen findet, dass der Erwählte den Erwählenden übertrifft: „seine verwegene Art, die Gottheit zur Gnade anzuhalten“ (239) erscheint nicht nur gnädig, sondern allzugnädig, wenn nicht allzumenschlich. Nicht nur „Gnade vor Recht“ (242), sondern in dubio Gnade statt Recht scheint die Maxime, nach der er alles Mögliche und Unmögliche ,löst‘. Die narrative Liquidität dieser Allvergebung wirkt wie eine Liquidierung der strengen Währungshüterschaft der Kurie, die den Thesaurus gratiae bis dato so restriktiv wie möglich verwaltet hatte. Die Vergebungslust wird vom Stellvertreter derart exzessiv ausgelebt, wie es sich selbst ein Gott wohl kaum träumen ließe.

8. Erzählte Gnade und Erzählgnade oder : Erzählter Gott und Erzählgott Kommt in dieser Erzählung als Erzählung die Gnade zur Sprache, mit der die Erzählung spielt? Will man nicht eine ,Gnade dahinter‘ erfinden, für die die Narration dann dienstbares Darstellungsmittel sein darf, geht es nicht nur um die erzählte Gnade, sondern die Erzählgnade (wie den erzählten Geist und Erzählgeist): – nicht die, von der gesprochen wird, sondern in und mit der erzählt wird: Narration als Spiel mit der Gnade, in dem sie mitspielt. Von all den erzählten Gnaden ist die Erzählgnade zu unterscheiden: nicht die gesagte, dargestellte, sondern die Form und Dynamik der Darstellung als Gnadenmedium. Erzählwelt und Erzählzeit sind bekannt, Erzählgnade ist die narratheologische Pointe des Erwählten. In der Erzählung als Erzählung, kraft der Erzählung also, kommt eine Gnade zur Sprache und zur Welt bis hin zu jedem Leser. Diese Gnade ist nicht nur thematisch, sondern ,effektiv‘ oder ,fungierend‘. Sie gehört zur Performanz und medialen Eigendynamik der Narration, ohne die sie nicht wäre und wirkte, was sie alles vermag. Theologisch könnte man weitergehend den Gnadenbegriff ,dahinter‘ und (nicht zu verwechseln) die ,Gnade selbst‘ als Gottes Eigenschaft unterschei-

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den; oder auch Gnade als ,Ereignis‘ und die Erfahrung des Menschen als ,wirkliche‘ Gnade im Unterschied zur erzählten oder Erzählgnade. Aber diese theologischen Differenzen scheinen mir für die Narratheologie des Erwählten zwar möglich, jedoch sekundär zu sein. Die Art und Weise des Erzählens – so die Vermutung – verkörpert, inszeniert und vergegenwärtigt die Gönnerlaune und Gnadenlust, den Humor und die sprachliche, imaginative, investigative, experimentelle ,Liquidität‘, mit der gelöst, erlöst und verflüssigt wird, was doktrinal oder allzu fromm verhärtet ist. Literatur wie die Narration des Erwählten hingegen ist so frei mit ihrer Lizenz zum Unmöglichen, die dogmatischen Unmöglichkeiten nicht nur möglich, sondern wirklich werden zu lassen. Dass das dann dogmatisch nicht ganz stubenrein ist, versteht sich. So sei auf die ,Mutabilität‘ Gottes, seine Beweglichkeit oder Responsivität hingewiesen. Das narrative Gedankenexperiment, Gottes Gnade derart beweglich zu denken, ist auch dogmatisch nicht unsinnig. Tritt die narrative ,Gnadenlehre‘ im Medium der Distanzkunst der Ironie auf, scheint eine wechselseitige Potenzierung die Folge zu sein: eine Art Eskalation, mit der das ,Lösungsmittel‘ der Ironie das ,Erlösungsmedium‘ der Gnade steigert, hochtreibt, so dass es größer nicht gedacht werden kann und größer wird, als dass es noch gedacht werden könnte – während andererseits an diesen Eskalationen der Gnade die Ironie ihren Spaß hat und sich hochtreiben lässt. Die beiden befördern einander aufs Lustigste. Es sei nicht ,nur der Geist der Erzählung‘, sondern der Geist als Erzählung – wie die Erzählung als Geist? Wer inkarniert hier wen und worin? Dem Erzählgott und seinem Erzählgeist ist anscheinend wirklich gar nichts unmöglich: Ist es doch die Erzählung als Erzählung, die eine Vergebung des Unvergebbaren in der Erzählung als Erzählung wirklich werden lässt. Diese ,unmögliche Vergebung‘ wird möglich und wirklich, weil der allmächtigen Erzählung ,nichts unmöglich‘ ist. Der Erzählgeist ist allmächtig und allwissend, allvergebend und allversöhnend. Er tötet und macht lebendig, vollbringt Wunder, lässt die Glocken läuten, ist der Schöpfer der Geschichte, ihr Beender und Vollender. Er macht Worte über Worte, eine Erzählung über die Erzählung: über das Erzählen. Er versucht sich an einer Narratodizee: nicht nur, wie Erzählen nach der Shoa noch möglich sei, sondern was die Erzählung als Erzählung vermag: Vergebung des Unvergebbaren. Die Erzählung also als Erbin Gottes? Die moderate Deutung wäre, es gehe nicht um einen friendly oder unfriendly takeover von Gottes Eigenschaften, sondern die Erzählung inszeniere sich als Medium Gottes, nicht als sein Konkurrent oder Nachfolger. Dann wäre die Erzählung ,nur‘ Gnadenmedium. Aber wann wäre je ein Medium nur ein Medium? Wettet die Erzählung auf ihre Medialität, auf ihre Lösungsenergie für die genannten Konflikte? Wird das ,Wort allein‘ zum Erlösungsmedium für die erzählte Welt, die erst als Erzählwelt ihre höhere Ordnung findet?

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Wie Geist mit Buchstabe – und Buchstabe mit Geist (mit Lesergeist) zusammenspielen, ist die ,sakramentale‘ Kommunion der Erzählung: der Erzählung als verbum efficax. In ihr wird präsent, ironisch realpräsent, wer sie erzählt. Seinesgleichen geschieht in Erzählung als Erzählung. Sie gibt den ,Geist der Erzählung‘ – er gibt sich in ihr als Mittler von Sünde und Gnade, von Geist und Natur – wie von Erzähl- und Leserwelt.

9. Ausblick: narrative Vernunft als theologische Methode Für die Theologie gilt die Regel, das Christentum beginne mit dem Übergang vom Verkündiger zum Verkündigten, vom verkündigenden Jesus zum verkündigten Christus. Das ist noch etwas weiterzutreiben: Denn Christus wird erst praesens, wenn er in der Verkündigung miterzählt und gegenwärtig wird, also wenn der Verkündigte selber zum (Mit)Verkündigenden wird. Vom Verkündiger zum Verkündigten erneut zum Verkündiger – das wäre die passende Weiterführung, wenn Christus praesens wird in den supplementären Medien seiner Realpräsenz. Das ist analog auch narratologisch zu formulieren: vom Erzähler zum Erzählten zum in der Erzählung von ihm Miterzählenden.39 Ist das der Narratheologie im Erwählten so fern? In dieser Erzählung wird nicht nur von Gott und Gnade erzählt, sondern sie wird ,herbeierzählt‘ kraft der Erzählung. Die Erzählung ist nicht nur Repräsentations-, sondern Präsenzmedium. Allerdings – nicht gleich einem Sakrament Realpräsenzmedium, sondern Realabsenzmedium (kraft ästhetischer Differenz), aber darin Imaginärpräsenzmedium. Das Imaginäre wird durchaus realpräsent, bleibt aber imaginär. Nur wird darin die Erzählgnade in der Erzählung als Erzählung durchaus wirklich und wirksam – ein effektives Ansinnen an die Leser. Dabei bedarf die Erzählung keineswegs der begrifflichen Kontrolle oder Grundlegung. Narratheologie und narrative Theologie treten hier auseinander, bei noch so großer Nähe. Nach der Narratheologie des Erwählten zu fragen, treibt eine Differenz von Narration und Theologie hervor. Denn die imaginäre Inszenierung eines Singulären und Außerordentlichen kann wider die Ordnung stehen und sperrt sich gegen die generalisierende Arbeit des Begriffs. Aber, kann nicht ein Singuläres das Generelle, die Regel herausfordern und womöglich sogar widerlegen? Oder kann ein Singuläres (Christus) nicht eine neue Regel zur Welt kommen lassen? Die generelle These, dergleichen sei unmöglich, wird widerlegt durch die Möglichkeit und schon eine einzige Wirklichkeit. Und genau das vermag die narrative Inszenierung zu zeigen: dass es erzählbar ist und damit durchaus möglich. 39 Das wäre etwa an der Emmausgeschichte zu exemplifizieren. Vgl. Stoellger, Im Vorübergehen, 99–110.

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Wenn man das zugesteht, wird im Imaginären der Literatur denkbar und möglich (gemacht), was der Theologie in der Regel als unmöglich gilt: dass Gott wider alle Vernunft, Moral und Ordnung handeln könnte. ,Kraft der Erzählung‘ kann dargelegt, gezeigt, auch narrativ argumentiert werden, wenn man diese Kraft ,beim Wort‘ nimmt. Die Deutungsmacht der Narration besteht darin, etwas zu ermöglichen, was sonst als unmöglich exkludiert bliebe: etwas glauben zu lassen bis dahin, ,Glauben zu machen‘. Etsi gratia plena daretur… Das wird auf konstruktive Weise theologiekritisch: Gottes Allmacht gilt seit ihrer ersten Konzeptualisierung im 11. Jh. bei Petrus Damiani als eine generelle logische und ontologische Frage. Dass bei Gott nichts unmöglich sei, wird als metaphysische Allmacht verhandelt. Dagegen sitzt Manns Pointe, dass die soteriologische Allmacht die eigentlich relevante Frage ist. Ist Gottes Macht so groß zu denken, dass sie seinem Gesetz widerstreiten und es überschreiten kann? Die biblisch begründbare Antwort wäre ein riskantes Ja mit Jona und Jeremia 31. Auch die Gleichnisse oder die Auferweckung Jesu wären je singuläre Exempla dafür. Um aber eine ,billige Gnade‘ oder ,Amoralität‘ auszuschließen, wird theologisch, auch protestantisch, in der Regel das Evangelium eingehegt durch das Gesetz. Gott sei ,mit seiner Gnade im Recht‘, konnten Barth und Jüngel formulieren. Damit soll die Kontinuität und Geltung des Bundes wie Gesetzes gewahrt bleiben und die Gnade nicht als deren Aufhebung oder gar Bruch gelten. Was aber, wenn Gott so frei wäre? Wäre das nicht Willkürfreiheit, die den theologischen Absolutismus wiederholt, und sei es im freundlichen Gewand eines Gnadenabsolutismus? Die theologisch riskante Konsequenz wäre: Gottes Gnade ist womöglich immer noch freier und mächtiger als gedacht, und vielleicht größer, als dass sie stets konsistent gedacht werden könnte. – Nur, aus dieser Vermutung eine generelle These zu machen, wird schnell absurd. Für solche Konjekturen (der ars coniecturalis des Cusanus verwandt) bedarf es einer Lizenz zur Imagination, die sich die Theologie meist verboten sein lässt. Dann wird Literatur nötig, um solche Vermutungen dennoch zu wagen – es zu wagen, sich seiner Einbildungskraft zu bedienen, wenn die kritische Vernunft etwas für unmöglich erklärt. Für eine imaginative und investigative Theologie wird die Narration dann zur ,mehr als notwendigen‘ Horizonterweiterung, um noch vorstellen zu können, was ansonsten unvorstellbar bliebe. Um eine methodische Konsequenz zu formulieren: Die Narratheologie ist eine außerordentlich sinnvolle Methode, um Exklusionen im Namen einer generellen Regel zu korrigieren und Horizontüberschreitungen wagen zu können, die sonst undenkbar und ungedacht blieben. Narrative Vernunft wäre die Arbeit an der Grenze von möglich und unmöglich, womöglich eine experimentelle Verschiebung dieser Grenze. Für Literaten und Literaturwissenschaftler könnte das trivial klingen. Wenn man daraus eine methodische Konsequenz für eine Wissenschaft zieht (wobei

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Theologie nicht nur Wissenschaft ist), wird es durchaus untrivial: Das Narrative wird zur imaginativen Variation und Investigation der Theologie. Sünden- und Gnadenforschung bedürfen der Erzählung als Erzählung. Im Grunde indes geht es um geistesgegenwärtige Narration bis in die Narrativität der theologischen Vernunft selber. Sie ist keine leiblose Vernunft des möglichst reinen Begriffs, sondern in ihrer Sprache und Stimme in Logos, Ethos und Pathos auf die Erzählung und ihre Verwandten angewiesen. Wenn Theologie etwas zu sagen hat, sollte sie sich einiges erzählen lassen. Kommt im ,Erwählten‘ letztlich wieder alles in Ordnung? Oder kommt eine neue Ordnung zur Welt (in der Erzählung als Erzählung)? Nicht einfach fromme Orientierung, sondern hinreichend unfromme Desorientierung leistet sich die Erzählung – in der Wette auf eine immer noch frömmere Orientierung an der Macht der Vergebung oder aber der Macht der Erzählung? Die Erzählung setzt sich dem Leser aus: ecce narratio. Dem Leser, der aus der Erzählwelt eine Lesewelt machen kann, in der der er seinen Willen zum Sinn durchsetzt, zur Ruhe und Ordnung. Spannend bliebe es, wenn die Erzählwelt des Geistes soviel Desorientierung und Widerstand böte, dass ebenso der fromme wie der unfromme Wille zum Sinn irritiert in der Schwebe bleiben. Nichts kommt ,in Ordnung‘, sondern es dreht sich alles um ein absurd Außerordentliches (Vergebung trotz allem)? Einem Theologen mit Sinn für Narration könnte nur zu leicht der Lapsus unterlaufen, hier seine Vormeinungen bestätigt zu finden: mit dem Aufatmen aus ästhetischer Distanz alles wieder in Ordnung kommen zu sehen. Einem Theologie- und Religionskritiker hingegen (Koschorke etwa) – könnte der entsprechende Lapsus unterlaufen, hier auch nur seine Vormeinung bestätigt zu finden: mit dem Lachen aus ästhetischer Distanz die Gnade nur für Ironie zu halten und die Inszenierung der Ordnung für lächerlich. Beide nutzten die Erzählung so, um ihren Lesergeist zu befriedigen – den unbedingten Willen zum Glauben oder zum Unglauben. Beide verpassten damit die Eigendynamik der Erzählung: ihre dynamis, Deutungsmacht, den Leser anders lesen zu lassen, als zuvor gedacht: ihn anders sehen, denken und glauben zu machen, als er vielleicht gerne hätte. Die Stärke Manns kleiner ,Gnadenmär‘ zeigt sich darin, beide Bedürfnisse nicht zu befriedigen. Es kommt weder einfach in Ordnung noch in bloße Ironie. Die Gnadenlust bringt alles in Außerordnung – und eskaliert unabsehbar. Dabei ist die Erzählgnade nicht die altbekannte Gnade, sondern wider alle Ordnung und nicht kirchlich verwaltet, sondern nur in der Erzählung als Erzählung zu finden. Sie ist allerdings auch nicht ,nur‘ ironisiert, sondern Ironie wird zum Lösungsmittel für alte Ordnungen ebenso wie für alte Religionskritik. Ist dieser Geist ,nur‘ der Geist des Gnadengottes,… Oder ist es der Geist der Erzählung, Geist des Gottes der Erzählung und der an sie Glaubenden? Es ist die Erzählung als Geist und der Geist als Erzählung: Narration als Inkarnation des Geistes. Glaube wird hier zu einem Erzählglauben. Denn die Deutungs-

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macht der Erzählung wettet allein auf ihre Wortmacht: die Erzählung kann uns sehen lassen und sehen machen, bis dahin uns glauben zu lassen und Glauben zu machen, was sie erzählt. Dazu bedarf es eines gehörigen Maßes an Wortglauben und auch ,Willen zum Glauben‘: Sprach-, Narrations-, Literaturglaube. Es ist nicht der Lübecker Protestantenglaube, auch nicht schlicht der noble Kunstglaube, sondern – ecce narratio – ein Vertrauen in die dynamis der Erzählung als Erzählung. Die im ,Erwählten‘ wirksame ,Allmacht Gottes‘, der ,nichts unmöglich sei‘ erwies sich als Allmacht der Erzählung, der nichts unmöglich ist. Theologisch gerät das in riskante Nähe zur Häresie, aber da scheint mir Gelassenheit ebenso angebracht wie theologische Konzilianz. Denn wenn Gott wäre, wäre er machtlos ohne Worte. Selbst Gott bedarf der Erzählung, um sagbar zu werden und zur Welt zu kommen. Die Macht Gottes ist dann ,hybride Macht‘: nicht einfach ,seine eigene‘, die er souverän und unmittelbar zur Geltung bringt, sondern sie ist angewiesene Macht, angewiesen auf die Eigendynamik der Medien, wie der Erzählung. Wollte man hier noch deutlicher werden, müsste man fragen, ob nicht Gottes Macht stets geliehene Macht ist: von der Erzählung geliehen – und darin verliehen von Autor und Lesern mit ihrem Willen zum Glauben.

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Erzählung und Normativität Religionsphilosophische Berichte und Vermutungen

Problemanzeige „,Ein Zufall, der sich durch eine fortwährende Wahl in Schicksal verwandelt‘: mein Christentum. (…) Ich wurde als reformierter Christ geboren und erzogen. Es ist dieses Erbe, das im Studium ohne Unterlass mit allen unversöhnlichen oder versöhnlichen Traditionen konfrontiert wurde, von dem ich sage, dass es durch eine fortwährende Wahl in Schicksal verwandelt wurde. Von dieser Wahl muss ich mein Leben lang mit plausiblen Argumenten Rechenschaft ablegen, d. h. mit Argumenten, die würdig sind, in einer Diskussion gegenüber Teilnehmern vertreten zu werden, die mir wohlgesonnen und die in derselben Lage wie ich sind, unfähig ihre Wurzeln und Überzeugungen zu begründen.“1

Diese Sätze aus einem nachgelassenen Fragment von Paul Ricœur (1913–2005) zeigen eine Grundverlegenheit an, die sich für diejenigen einstellen kann, die sich zum christlichen Glauben bekennen: Es handelt sich offenbar um eine Zugehörigkeit; wer über sie spricht, findet sich in einer eigentümlichen Mischung aus Gründen und Nicht-Gründen vor. Ricœur nennt diese Mixtur den ,Zufall‘ einerseits und die ,fortwährende Wahl‘ andererseits. Zufälle entziehen sich evidenterweise der Begründung, unter der ,fortwährende(n) Wahl‘ scheint Ricœur Rechenschaft mit plausiblen Argumenten zu verstehen. Aber auch diese unterliegen noch einer Einschränkung: Der Gesprächspartner, für den sie plausibel erscheinen, muss wohlgesonnen sein und sich ebenfalls in der Lage befinden, die eigenen Wurzeln und Überzeugungen nicht begründen zu können. Ricœur lässt offen, ob das Gegenteil der Fall sein kann, d. h. ob es überhaupt möglich ist, für die eigenen Wurzeln und Überzeugungen (Letzt-)Begründungen abgeben zu können.2 Offenbar aber rechnet er mit der Wahrscheinlichkeit, gerade in Bezug auf sein Christsein mit dieser Grundbefindlichkeit nicht allein zu sein. Nicht begründete oder nicht begründbare Zugehörigkeit – 1 Ricœur, Lebendig, 87. Das Fragment wird auf Juni 2004 datiert, vgl. ebd. 135. 2 Im französischen Original stellt sich das Problem als weniger dramatisch dar : Ricœur spricht von „rendre raison des racines de leurs convictions“, ebd. 86, Rechenschaftsabgabe, an die diese Formulierung denken lässt, muss mit Begründung aber durchaus nicht identisch sein, wie ich im Folgenden wahrscheinlich machen will.

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kann und soll es das überhaupt geben? In seinem Fragment gibt Ricœur noch zwei wichtige Hinweise. Zum einen erwägt er, ,Zugehörigkeit‘ (,adh8sion‘) als Übersetzung für das griechische p_stir zu verstehen, was insbesondere für die paulinische Begriffsverwendung interessante Konsequenzen haben würde. Zum anderen scheint er in der Kombination aus Zugehörigkeit und Nichtbegründbarkeit etwas zu sehen, was durchaus erläutert werden muss, handelt es sich doch um eine Schwäche. Ihr korrespondiert nun nicht der Rückzug ins Private – also das, was gern als Fideismus verunglimpft wird –, sondern genau der Gang in die Öffentlichkeit: „Öffentliches Eingeständnis der Schwäche [faiblesse] einer Zugehörigkeit [adh8sion], die stark in meinem Herzen verankert ist.“3 Ich interessiere mich im Folgenden für das Verhältnis einer nicht begründbaren Zugehörigkeit einerseits – die ich in der Tat als Hilfsübersetzung für p_stir verstehen will, um den Terminus von einer falschen Innerlichkeitsrhetorik fernzuhalten – und denjenigen Argumenten, die trotzdem oder gerade deswegen für diese Zugehörigkeit ausgesagt werden können: Ich vermute, dass es sich dabei um das Nebeneinander und Ineinander von Erzählung von der eigenen Identität einerseits und dem Vorbringen von damit verbundenen Gründen handelt. Was dabei ,Grund‘, ,Begründung‘ oder ,Erklärung‘ usw. genannt werden kann, wird einer näheren Betrachtung unterzogen. Zugleich sollen Scheinlösungen vermieden werden. Unter sie zählen insbesondere Direktableitungen, die das erzählerische Momentum biblischer Texte ignorieren. Das ist etwa dann der Fall, wenn für das eigene Selbstverständnis einige wenige Textpassagen in Anschlag gebracht werden, so dass ,Dekalog und Bergpredigt‘ als Ausweis des Christlichen gelten und der große Rest als widerständig und/oder unnötig aus der eigenen Hermeneutik ausgeklammert wird. Ein derartiges Selbstverständnis ist in manchen täuferischen Kreisen durchaus anzutreffen; reduktiv ist es freilich auch dann, wenn das Anliegen sympathisch erscheinen mag. In der Fatalität deutlich sichtbarer ist eine andere Form von Direktableitung, nämlich die einer zu flotten Identifizierung, wie sie etwa geschah, als die Buren in Südafrika sich umstandslos zum Volk des Exodus erklärten und damit ihren Suprematieanspruch ,begründeten‘, mit denen sie das Apartheidssystem errichteten. So geht es ganz offenkundig nicht. Wie aber liegen dann Erzählung und Normativität ineinander?

3 Ebd. 91, französisch 90.

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1. Normative Leitbegriffe: Begründung, Erklärung, Appell Dass Erzählungen nicht ,einfach so‘ erzählen, ist keine neue Erkenntnis: Die erzählte Welt ist nicht einheitlich. So hat mit erheblicher Resonanz Harald Weinrich auf den Unterschied von erzählter und besprochener Welt aufmerksam gemacht: Die erzählte Welt liegt in der Vergangenheit und ist eben anders als durch Erzählung nicht zugänglich. Die besprochene Welt ist die, die jetzt unter den Akteuren zur Verhandlung und Veränderung ansteht. Beide aber, erzählte wie besprochene Welt, sind Teil sowohl der Alltagssprache als auch von Gattungen erzählender Literatur.4 In dieser Leitunterscheidung könnte bereits ein Hinweis auf Normativität durch Erzählungen liegen, denn das, was gelten soll, ist in der besprochenen Welt offenkundig strittig, wenn anders sie besprochene Welt ist. Freilich ist die erzählte Welt mitnichten frei von normativen Einlassungen: Die Rede von der ,absichtslos dichtenden Sage‘ (D.F. Strauß) ist reine Fiktion, und nicht erst seit Michel Foucault wissen wir, dass die Dispositive der Macht unter anderem dadurch besetzt werden, dass darum gestritten wird, wer was wie zu erzählen in der Lage ist. Die Leitbegrifflichkeit von Erzählen versus Besprechen ist für die Frage nach der Normativität also durchaus hilfreich, aber keinesfalls ausreichend. Ich schlage deshalb vor, zunächst zu fragen, welche Typen von normativen Ansprüchen es eigentlich gibt, um danach in weiteren Schritten das Verhältnis von normativen Ansprüchen einerseits und von Erzählung andererseits zu beleuchten. Hierfür lassen sich, so die These, drei hauptsächliche Typen unterscheiden. Die Abgrenzung dieser Typen untereinander ist zwar recht gut möglich, freilich sind die Ränder unscharf, so dass diese drei Typen aufeinander verweisen und entsprechend voneinander abhängig sind. Es handelt sich um die in der Zwischenüberschrift genannten: Begründung, Erklärung und Appell. Die wichtigsten ihrer Charakterelemente sind diese: Begründung: Sie liegt vor, wenn eine mit Beobachtungen und Argumenten verbundene Veranlassung zu einem Positionswechsel bzw. zur Abweisung eines von anderer Stelle nahegelegten Positionswechsels vorgetragen wird. Was dabei ,Beobachtung‘ bzw. ,Argument‘ heißt, kann in einer sehr breiten Varianz vorliegen, die so weit geht, dass nicht alle am Kommunikationszusammenhang Beteiligten sich darüber einig sein müssen, ob Beobachtungen bzw. Argumente überhaupt vorliegen. Begründungen haben diskursiven Charakter, d. h. sie stellen ein explizites Gesprächsangebot dar – einschließlich des fingierten oder tatsächlichen Selbstgesprächs –, sie rechnen ferner mit 4 „Denn wer erzählt, setzt damit eine eigene Zeit, eben die erzählte Zeit, die ihre eigenen Gesetze hat und von der besprochenen Zeit qualitativ verschieden ist. Das gilt auch dann, wenn Erzähltes und Besprochenes, wie es im Alltag oft geschieht, miteinander verschränkt sind.“ Weinrich, Tempus, 15, ausführlich 41ff; Hinweis durch Lux, Narratio, 84.

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Widerspruch und konkurrierenden Begründungen und sind insofern streitbereit. Begründungen sind deshalb kaum punktförmig zu denken: Im weiteren Sinne diskursive Äußerungen sind bereits in sich Rede und Gegenrede, so dass der wissenschaftstheoretisch geläufige Terminus ,Begründungszusammenhang‘ zumindest für sich genommen einen Pleonasmus darstellt.5 Begründungen (und entsprechend strukturierte Bestreitungen) sind revidierbar. Sie beziehen sich auf Positionen, die relativ unabhängig von Personen gelten, und beanspruchen ein gewisses Maß an Objektivität. Entsprechend ist der Einsatzbereich von Begründungen auf im weiteren Sinne objektivierbare Positionen begrenzt. Eine affektive Haltung etwa ist nicht begründ- oder bestreitbar, fällt dadurch aber noch nicht aus dem Rahmen normativer Verständigung im weiteren Sinne heraus.6 Erklärung: Wer erklärt, legt die Zugehörigkeit zu einer Position oder einer Einstellung/Haltung dar. Das kann diskursiv oder nichtdiskursiv erfolgen, etwa durch Erzählungen, Bilder oder anderes. Eine Erklärung versucht, Verständnis für eine Position oder eine Haltung zu wecken, sie ist jedoch nicht explizit mit der Aufforderung verbunden, dass auch das Gegenüber diese Position oder Haltung beziehen solle. In diesem Sinne sind Erklärungen vorsichtiger und ,konservativer‘ als Begründungen: Sie wollen die Welt des Kommunikationspartners nur insofern verändern, als dieser Verständnis für die Position oder Haltung des Sprechers aufbringen soll. Auch Erklärungen sind revidierbar. Der Grenzbereich zwischen Erklärung und Begründung dürfte einigermaßen groß sein und die immer wieder auftretende Irritation, welches von beiden Sprachspielen denn nun gerade aktuell sei, einschließen. Dabei sind die beiden nicht durch die Zuweisung zu Sektoren zu unterscheiden: Diskurstheorien wie die von Jürgen Habermas legten nahe, den öffentlichen Diskurs als auf Begründungen hin angelegte Debatte zu sehen und mit entsprechenden diskursiven Rechenschaftspflichten auszustatten, wohingegen Erklärungen dem subjektiven und privaten Bereich zugerechnet wurden.7 Dass es sich dabei um eine Fehlabstraktion handeln dürfte, ist sowohl aus sozialphilosophischer und erkenntnistheoretischer Perspektive (Charles Taylor und andere) als auch unter Rückgriff auf sprachphilosophi5 Nicht so freilich im Rahmen einer Einführung. Auf Hans Reichenbach geht die Unterscheidung von Entdeckungs- vom Begründungszusammenhang zurück, d. h. die Differenz zwischen Auffinden und Belegen. 6 Der Satz „du sollst sie/ihn nicht lieben!“ ist zwar denkbar, muss sich aber auf andere Umstände als auf den des Liebens selbst beziehen, etwa auf problematische Begleitumstände einer Beziehung. 7 Das gilt auch nach Habermas’ vieldiskutierter Konzession, dass religiöse Semantiken Wahrheitspotential enthalten könnten, die auch Nichtreligiöse zu interessieren habe, weil er nur solche Wahrheiten aus religiöser Sprache anerkennen will, die sich in den säkularen Diskurs übersetzen lassen; damit ist seine Position nicht über die aus Immanuel Kants später Religionsschrift hinaus, vgl. Habermas, Naturalismus, 149; auf den Punkt gebracht bei Welker, Zukunftsaufgaben, 80.

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sche Einsichten (Thomas Rentsch und andere) wahrscheinlich gemacht worden:8 Auch Öffentlichkeiten sind durch vordiskursive Zugehörigkeiten maßgeblich mitbestimmt, die nur teilweise begründungsfähig und -pflichtig sind. Entsprechend sind ,subjektiv‘ und ,beliebig‘ aber ebenso wenig austauschbare Begriffe Appell: Hierbei handelt es sich um eine direkte Aufforderung zur Änderung von Haltungen und Sichtweisen. Dem Appell eignet, dass er schwerpunktmäßig auf Selbstevidenz dessen setzt, wofür er appelliert: ,An das Gewissen‘ zu appellieren, bedeutet doch regelmäßig, den Gegenstand des Appells für eine Selbstverständlichkeit des Humanums zu halten. Appelle stehen in einem mehr oder weniger losen Zusammenhang mit Erklärungen oder Begründungen, ihr Kern jedoch besteht in der Direktheit der Aufforderung und in der Behauptung, sie ginge mit unmittelbarer Evidenz einher : Ein Appell, der erst noch erläutert oder begründet werden muss, ist letztlich keiner – das gilt, auch wenn klar ist, dass kein Appell ohne jeden Zusammenhang mit anderen Sprachhandlungen stehen kann. Ein Appell geht, obwohl er die kürzeste und begründungsfernste Form normativer Äußerung darstellt, regelmäßig mit dem steilsten normativen Anspruch einher. Zu denken ist hier etwa an Emmanuel Levinas’ bekanntes Argument, dass bereits das Antlitz eines anderen Menschen mit der unmittelbar bindenden Aufforderung, ihn human zu behandeln, identisch ist:9 Wer dies erst diskursiv zu begründen trachtet, leugnet den normativen Anspruch des Appells im selben Moment. Mit diesem momenthaften und normativ steilen Anspruch des Appells geht einher, dass er im Gegensatz zu Begründung und Erklärung nicht revidierbar ist. Auf mindestens diese drei Weisen werden normative Ansprüche vorgetragen. Sie unterscheiden sich nach Geltung und Reichweite und sie unterscheiden sich sehr stark in der Art und Weise, wie sie geltend gemacht werden. Auch sind Differenzierungen und weitere Formen wohl denkbar, so etwa wertende Äußerungen im Rahmen ästhetischer Erfahrungen. Diese Fragen hier einmal beiseite; es lässt sich im Ganzen vielleicht sagen, dass normative Äußerungen jedenfalls im Sinne der ersten beiden Kritiken Immanuel Kants mindestens Anteile an Begründung, Erklärung und Appell haben. Anhand ihrer wird in den nächsten Schritten versucht, das implizite normative Potential biblischer Erzählungen und des Umgangs mit ihnen etwas besser zu verstehen.

8 Taylor, Quellen, 52 ff.319ff; Dreyfus/Taylor, Realismus, 11 ff.191ff; Rentsch, Konstitution, 68–94. Einige Kommentare zu letzterem bei Hailer, Stellvertretung, 315–320. 9 Levinas, Gott, 150–171; ders., Spur, 209–235.

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2. Zwei instruktive Extreme Biblische Texte sind nicht als Texte normativ, sie werden es vielmehr durch ihre Ingebrauchnahme. Der Hinweis auf ,Gebot‘, ,Offenbarung‘, ,Wort Gottes‘ o.Ä. allein genügt nicht, um zu begründen oder auch nur zu erklären, warum ein Text, eine Textgruppe oder ,die Bibel überhaupt‘ sich in normativer Hinsicht von anderen Schriften unterscheidet. Es ist jüngst vorgeschlagen worden, das Heilige an der Heiligen Schrift darin zu sehen, dass sie Subjekt von Heiligungsvorgängen ist.10 Das ist eine hilfreiche Näherbestimmung, die freilich umso evidenter in den textpragmatischen Zusammenhang führt: Nicht das Buch auf meinem Schreibtisch, noch das auf dem Altar, in der von mir sonntags besuchten Kirche, ist heilig; in den Vorgang der Heiligung findet sich hineingezogen, wer das eigene Leben von ihr angesprochen vorfindet. Hier zeigt sich eine klassische kontroverstheologische Frage, nämlich die nach dem Verhältnis von Schrift und Tradition: Wenn die Schrift nur durch Ingebrauchnahme zur Heiligen Schrift wird, ist dann die Würde der Tradition und zugleich die Vorgängigkeit der Kirche vor dem biblischen Kanon nicht bereits zugegeben? So scheint es in der Tat, gleichwohl ist das nur ein Schein: In der Tat tut die evangelische Theologie gut daran, den Regelkreis von Schrift und Schriftgebrauch zuzugeben; umgekehrt weiß die katholische Theologie aber genau, dass es sich eben nicht um eine Vorordnung der Tradition handelt: Denkbar ist sie nur im Verwiesenheitszusammenhang mit der Schrift. Beide Seiten beschreiben einen Regelkreis und sind entsprechend auskunftspflichtig, wie sie das Verhältnis der in ihn eingebundenen Elemente denken.

Entsprechend lohnt es, sich in Sachen Normativität der Schrift textpragmatische Strategien anzusehen. Wie also wird das Normative an (oder in) der Bibel ausfindig gemacht? Den Anfang machen zwei klassische Extreme; sie spannen gleichsam den Rahmen auf, in dem eine Diskussion einiger gegenwärtiger Positionen dann aussichtsreicher erscheint. Das eine Extrem ist die philosophische Theologie Georg W.F. Hegels. Schon der Titel ist hier wichtig: Philosophische Theologie ist Hegels Werk nicht in dem Sinn, als sähe er sich in der Lage, eine philosophisch getönte Interpretation des Evangeliums vorzulegen, die gleichsam Verstehensversuche unterbreitet, die dem einfachen Kirchenglauben so nicht möglich sind. Vielmehr will er zeigen, dass die Durchführung der philosophischen Erklärungsaufgabe selbst nichts anderes erbringen wird als die begrifflich gesicherte Explikation der Wahrheit des christlichen Glaubens. Das Bilder- und Erzählmaterial des christlichen Glaubens wird im Wege der begrifflichen Rekonstruktion seiner 10 Vgl. in Hamilton, Sola Scriptura, bes. die Beiträge von Ernstpeter Maurer, Ingrid Schoberth, Martin Hailer, Susanne Talabardon und Wolfgang Schoberth.

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Bildlichkeit = Zufälligkeit entkleidet und in die Wahrheit seiner selbst überführt. ,Das Normative‘ in der Bibel liegt für Hegel hinter den biblischen Erzählungen verborgen und wird durch die begriffliche Rekonstruktion hervorgehoben und gesichert. Das Verhältnis zwischen Schrift und Normativität ist entsprechend ambivalent: Hinter der Schrift ruht nichts weniger als die volle Wahrheit über Gott und die Welt. Im Text der Schrift und seiner Auslegung ist diese volle Wahrheit aber nicht zugänglich. Dieses eigentümliche Verhältnis ist für Hegel sprechend: Er kann zunächst nicht wenig steil sagen, dass das Christentum die höchste und unüberbietbare Religion ist: „Es ist das die vollendete Religion, die Religion, die das Sein des Geistes für sich selbst ist, die Religion, in welcher sie selbst sich objektiv geworden ist, die christliche.“11 Dem korrespondiert eine wertschätzende Kenntnisnahme des vorhandenen Christentums und seiner Bibel, in Hegels Terminologie: die „geoffenbarte, positive Religion“.12 „Positiv“ ist für Hegel nicht der Gegensatz zu „negativ“, sondern verweist auf gegenständlich Vorhandenes, Anschaubares. Entsprechend gilt für die Bibel: „Indem die Lehren der christlichen Religion in der Bibel vorhanden sind, sind sie hiermit auf positive Weise gegeben (…). So ist die Bibel für den Christen diese Grundlage, die Hauptgrundlage, die diese Wirkung auf ihn hat, in ihm anschlägt, diese Festigkeit seinen Überzeugungen gibt.“13 Freilich läuft das laut Hegel direkte Gefahr der Veräußerlichung: Die Bibel zu haben, genügt allein gar nicht, da – im Extrem gesagt – ja auch der Teufel sie zitiert.14 Wenn aber auf die Inhalte der christlichen Religion reflektiert wird, findet der alles entscheidende Übergang statt: Man merkt, vom Inhalt geleitet zu sein. Die Schrift und ihre Lehren sind „nur die Form des Positiven; der Inhalt muß der wahrhafte Geist sein.“15 Hier ist bereits der entscheidende Gegensatz angedeutet: Die Bibel ist „nur die Form des Positiven“. Inhalte aber haben eine logische Form und gelten aus sich heraus. Für die Idee der wahren Religion ergibt sich dann, dass „nur diese Idee die absolute Wahrheit ist“.16 Wer beim Bibeltext verbliebe, würde die absolute Idee nicht erfassen, weil er sie sich notwendig als Äußeres und in kontingenten Formen Gegebenes vorstellen müsste. Den Sachgrund dafür bietet Hegels spekulativer Idealismus. Er behauptet – und den Beleg kann alleine die Durchführung bringen, nicht jedoch eine rasche Aufzählung der Prämissen –, dass die Wirklichkeit letztlich Idee, und zwar die Idee Gottes von sich selbst ist: Eine Darstellung aller möglichen Gehalte des Bewusstseins wird die allgemeine Wahrheit auffinden lassen. Diese allgemeine Wahrheit wird sich „nicht als eine besondere Kenntnis neben 11 12 13 14 15 16

Hegel, Religion II, 189. Ebd. 194. Ebd. 199. Ebd. Ebd. 201. Ebd. 204.

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anderem Stoffe und Realitäten, sondern als das Wesen alles dieses sonstigen Inhalts dem Geiste“ darstellen.17 Wer so weit gelangt ist – und, wie gesagt, den Beleg kann erst die Durchführung durch alle möglichen Bewusstseinsgehalte geben, von Hegel vorläufig in der Phänomenologie des Geistes und sehr viel reicher in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften dargelegt –, wird als Ziel nicht weniger haben als dies: „Dieses Reich ist die Wahrheit, wie sie ohne Hülle an und für sich selbst ist. Man kann sich deswegen ausdrücken, daß dieser Inhalt die Darstellung Gottes ist, wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist.“18 Wie immer es um die Chancen der Durchführung eines solchen Programms auch stehen mag: Ein umfassenderer Begründungsanspruch ist schlicht nicht denkbar. Jeder weitere normative Anspruch – Erklärungen und Appelle ohnehin –, sind in ihm völlig aufgesogen. Hegel ist für diesen umfassendsten 17 Hegel, Logik I, 55. 18 Ebd. 44. An dieser Sachstelle zeigen sich sowohl die Verlockung als auch die Schwierigkeit eines theologischen Bezugs auf Hegel in aller Deutlichkeit. So konstatiert Wolfhart Pannenberg zu Beginn seiner Systematischen Theologie einen Erkenntnisanspruch, der dem von Hegels großer Logik nicht nachzustehen scheint: „Die Dogmatik fragt nach der Wahrheit des Dogmas, danach also, ob die Dogmen der Kirche Ausdruck der Offenbarung Gottes und also Dogmen Gottes selbst sind“. (Pannenberg, Theologie, 26) Die Frage nach den Dogmen Gottes selbst und die nach seinem zeitlosen Wesen dürfte sich allenfalls graduell unterscheiden, wenn denn gelten darf, dass Gottes Wissen ihm nicht äußerlich ist. Fragt man nun aber, wie die Theologie denn etwas von den Dogmen Gottes wissen könne, so lautet die Antwort im direkten Fortgang des Satzes: „ (…), und sie verfolgt diese Frage, indem sie das Dogma auslegt.“ (Ebd.) Dies ist entweder der Beginn eines extrem ehrgeizigen universalgeschichtlichen Begründungsprogramms, das sich zu zeigen anschicken müsste, dass sich die Auslegung des Dogmas eigne, seine Identität mit dem Wissen Gottes selbst aufzuzeigen. Alternativ wird durch den Satzschluss das Beweisziel in eschatologische Ferne gerückt und eben nur „verfolgt“. Für letztere Alternative sprechen Beobachtungen aus der Pannenberg-Forschung, nach denen er die behauptete Ungeschichtlichkeit von Hegels basalen Kategorien in Zweifel zog und die Geschichtlichkeit der Vernunft unter Einschluss ihrer Reflexionsbegriffe behauptete, vgl. Wenz, Vernunft; Oehl, Insuffizienz. Solange er das Programm einer rational-spekulativen Durchdringung des christlichen Glaubens verfolgte, kannte Falk Wagner diese Kautelen nicht. Seine Erwägungen sowohl zur immanenten Trinitätslehre als auch zum Verhältnis von gelebter und gedanklich durchdrungener Religion leben von der Anmutung, dass die spekulative Durchdringung vom Zeitkolorit gelebter Religion befreien könne, vgl. Wagner, Theologie, 239–243.281–285. Kritische Stimmen aus der Diskussion seines Werks sehen dies freilich als unmöglich an, vgl. Axt-Piscalar, Religionskritik. Radikal andere Wege geht die Hegel-Interpretation von Pirmin Stekeler-Weithofer : Er erklärt das Kategoriensystem der Hegel’schen Logik als analytisches Instrumentarium und schließt die Termini des Absoluten und Gottes ausdrücklich ein: Es soll sich letztlich um ein pragmatisches Verstehenssystem handeln, das „Wahrheit als Grenzbegriff des faktischen Verstehens und Wissens“ verstehe, Stekeler-Weithofer, Philosophie, 420. Die Konklusion heißt dann: „‘Gott‘ ist ja ,nur‘ eine personifizierte Ausdrucksweise für den Standpunkt der philosophischen Spekulation“, ebd. 421. Es ist m. E. richtig, dass Hegels Lesart theologischer Termini keine Transzendenz kennt (vgl. ebd. 428). Daraus folgt aber nicht, dass Hegel beim Einsatz theologischer Termini deren Sache leugnet, wie Stekeler-Weithofer annehmen muss; es folgt vielmehr, dass er die eschatologische Dimension dessen, was die Theologie zu sagen versucht, systematisch abblendet und ihre Sache entsprechend schwerwiegend verzerrt.

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Begründungsanspruch bereit, die Bibel als nur Positives, nur Historisches und nur Anschauungsmaterial zu klassifizieren. Es gibt wohl Normativität, aber es ist die Normativität der absoluten Idee selbst, nämlich Gottes in seiner Ewigkeit. Dass die Bibel davon zeugt, ist gleichsam ihr Glück, nicht jedoch ihr normativer Gehalt. Der denkbar schärfste Gegner dieses ehrgeizigsten Begründungsprogramms der Philosophiegeschichte ist der gut 20 Jahre später verstorbene Søren Aabye Kierkegaard. Neben vielem anderen bestreitet er Hegels Auffassung, dass der religiöse Glaube nur eine Vorfassung und ein Durchgangsstadium zum vollständigen Erfassen Gottes im philosophischen Wissen sei. Der Widerspruch ist umso fundamentaler, als Kierkegaard mit Hegel die Ansicht teilt, dass die christliche Lehre von der Inkarnation Gottes in Christus von zentraler Bedeutung sei. Für Hegel ist dies die Selbstansicht Gottes im Endlichen und damit die Partizipation eben dieses Endlichen an ihm. Kierkegaard hingegen schließt: „Man sieht denn leicht (…), daß der Glaube keine Erkenntnis ist; denn alles Erkennen ist entweder Erkennen des Ewigen und läßt dann das Zeitliche und das Geschichtliche als das Gleichgiltige ausgeschlossen sein, oder es ist das rein geschichtliche Erkennen; und kein Erkennen kann zum Gegenstande haben dies Absurde, daß das Ewige das Geschichtliche ist.“19 Die Menschwerdung Gottes, die für Hegel Höhepunkt des weltgeschichtlichen Kontinuums ist, ist nach Kierkegaard präzise dessen absurde, paradoxe Unterbrechung: Menschlicher Geist geht entweder auf das Immerwährende oder aber auf das Geschichtliche. Dass, wie der christliche Glaube bezeugt, das Immerwährende ins Geschichtliche eingeht und sich dort zeigt, ist genauso paradox wie unerklärbar. Daraus folgt die lapidare, aber ungemein folgenreiche Erkenntnis, dass Glaube keine Erkenntnis sei. Ebenso wenig kann er ein Willensakt sein, weil ein Willensakt das kennen müsste, was er anstrebt.20 Unter Ausschluss dieser Fehlinterpretationen schließt Kierkegaard – und die Gestalt der Frage ist diesem Schluss nicht äußerlich –: „Aber alsdann ist der Glaube ja ebenso paradox wie das Paradox? Allerdings; wie sollte er sonst am Paradox seinen Gegenstand haben und glücklich sein in seinem Verhältnis zu ihm? Der Glaube selbst ist ein Wunder, und alles was vom Paradox gilt, gilt auch vom Glauben.“21 Der Unterschied der Positionen ist allerdings fundamental: Hegel hat nicht weniger vor, als zu einem Wissen vorzudringen, das Gott unter Absehung aller Weltbezüge kennt. Logisch mitgesetzt ist dann freilich ein starkes Gott-WeltKontinuum unter Einschluss der schrankenlosen Erkennbarkeit Gottes. Transzendenz und Geheimnishaftigkeit Gottes gibt es für Hegel jedenfalls nicht.22 Kierkegaard hingegen insistiert präzise darauf, „(…) daß nämlich der 19 20 21 22

Kierkegaard, Brocken, 58 f. Ebd. 59. Ebd. 62. „Es ist damit gesetzt, daß die göttliche und menschliche Natur nicht an sich verschieden ist: Gott

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Mensch, falls er in Wahrheit etwas über das Unbekannte (den Gott) zu wissen bekommen soll, zuerst zu wissen bekommen muß, daß er verschieden von ihm ist, schlechthin verschieden von ihm. Aus sich selbst kann der Verstand dies nicht zu wissen bekommen (…); soll er es zu wissen bekommen, so muß er es von dem Gott zu wissen bekommen, und bekommt er es zu wissen, kann er wiederum es nicht verstehen (…); denn wie sollte er verstehen das Schlechthin-Verschiedene?“23 Folgerichtig kommt Kierkegaard sodann auf eine theologische Sachlichkeit zu sprechen, die in Hegels spekulativer Herangehensweise keine Rolle spielt, auf die Semantik der Sünde.24 Entsprechend ist das Ziel auch nicht die Erlangung eines (spekulativen) Wissens, sondern die existentielle Umwendung desjenigen, der es mit dem Paradox des Glaubens zu tun bekommt. Kierkegaard schlägt vor: „Laßt uns diese Veränderung Umkehr (Bekehrung) nennen, mag dies auch ein bisher nicht gebrauchtes Wort sein.“25 Die Bestimmung ist nur folgerichtig: Wird Gottes theoretische Unerkennbarkeit behauptet und wird zugleich gesagt, dass Glauben paradoxalen Ereignischarakter hat, dann folgt notwendig, dass das zu erlangende Wissen kein von seiner Trägerin/seinem Träger ablösbares propositionales Wissen sein kann. Es muss sich um das Ereignis der Verwandlung und Erneuerung der Existenz eines Menschen handeln. Das ist der fundamentale Zug in Kierkegaards religiöser Philosophie. Seine sich durch viele Schriften ziehenden Stichworte dafür sind der Augenblick – denn anders als geschenkhaft-momentan kann er das Ereignis des Neuwerdens nicht denken – und der Fokus auf den Einzelnen – denn anders kann von einem existentiellen Ereignis nicht gesprochen werden. Mit diesen Leitkategorien schlüsseln sich u. a. die große Stadienlehre aus ,Entweder – Oder‘ auf und nicht minder Kierkegaards Betrachtung Abrahams im Rahmen der Erzählung von der Bindung Isaaks.26 Für unseren Zusammenhang ist noch zu skizzieren, auf welche Weise normative Ansprüche lanciert werden. Eine erste Antwort könnte lauten: Überhaupt nicht! Wer Gott für unerkennbar und den Glauben zum Paradox erklärt, hat sich der Möglichkeit, normative Ansprüche zu erheben gleichsam selbst aus der Hand genommen und kann nicht mehr tun, als auf den Augenblick des glaubenden Paradoxes zu warten. Das ist nicht

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in menschlicher Gestalt. Die Wahrheit ist, daß nur eine Vernunft, ein Geist ist, daß der Geist als endlicher nicht wahrhafte Existenz hat.“ Hegel, Religion II, 278. Im Rahmen seiner KierkegaardInterpretation charakterisiert Dietrich Ritschl das m. E. zutreffend als „ganz und gar Immanenzphilosophie“, Ritschl, Kritik, 247. Kierkegaard, Brocken, 44. Ebd. 45. Ebd. 17, Kursiv im Original gesperrt. Der Übersetzer Emanuel Hirsch bietet die beiden Kursive für das dänische „Omvendelse“ an, (ebd. 172) wörtlich „Umwendung“. Die Anspielung auf religiösen Sprachgebrauch ist offensichtlich. Da Kierkegaard auf der Neuheit des Begriffs besteht, scheint der Rückgriff auf die beiden klassischen Termini aber unglücklich zu sein. Kierkegaard, Furcht, 91–138.

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gänzlich falsch, geht aber doch an der Pointe von Kierkegaards Darstellungsabsicht vorbei. Kennzeichnend für sie ist vielmehr die Rede von der indirekten oder Existenz-Mitteilung. Die formale Bestimmung ist diese: „Das Christentum ist nun keine Lehre, sondern drückt einen Existenzwiderspruch aus und ist eine Existenzmitteilung. Wenn das Christentum eine Lehre wäre, würde es eo ipso nicht den Gegensatz zur Spekulation bilden, sondern ein Moment innerhalb derselben sein. Das Christentum betrifft die Existenz, das Existieren, die Existenz aber und das Existieren sind gerade der Gegensatz zur Spekulation.“27 Entsprechend gilt: „Daß man wissen kann, was Christentum ist, ohne Christ zu sein, muß also wohl bejaht werden. Etwas anderes ist es, ob man wissen kann, was das ist, Christ zu sein, ohne es zu sein, was verneint werden muß.“28 Eine Apologetik der Wahrheit des Christentums ist deshalb für Kierkegaard unmöglich. Entsprechend scheidet alles aus, was oben mit dem Stichwort ,Begründung‘ skizziert wurde. Aber auch in Sachen ,Erklärung‘ wäre Kierkegaard wohl sehr zurückhaltend, weil hier doch die Prätention einer Dauer und vor allem von Nachvollziehbarkeit gesetzt wäre, die er vermöge des augenblicklichen Moments des Glaubens nicht gutheißen könnte. Kierkegaards Schriften sind deshalb wohl am besten als eindrückliche Form des Appells zu verstehen: Sie ermuntern dazu, sich dem Existenzvollzug des Glaubens zu stellen, wissend, dass dieser nur in der Ersten-Person-Perspektive da sein und für sich sprechen kann. In ihr und nur in ihr drängt sich zusammen, was Begründung und Erklärung vergeblich versuchen. Entsprechend ist der normative Anspruch der Bibel nicht, dass sie Wahrheit gleichsam ,enthalte‘ – in Hegels Sottise, dass auch der Teufel die Bibel zitiert, könnte Kierkegaard gänzlich einstimmen und sparte u. a. bei Gelegenheit des Corsarenstreits ja nicht mit Vorhaltungen an die Adresse anderer –, vielmehr verlockt sie zum Augenblick des christlichen Existierens. Hegel versteht den normativen Anspruch der Schrift als etwas, was hinter ihr liegt und worauf sie mit unvollkommenen Mitteln verweist. Sobald das anspruchsvolle Geschäft der Begründung begonnen wurde, kommt ihr keine normative Rolle mehr zu. Die Begründung selbst kann als Selbstdurchsichtigwerden des Geistes zur Vollendung gebracht werden. Kierkegaard hingegen sieht die Möglichkeit, sich zur Existenz in der momenthaften Gegenwart des biblisch bezeugten Gottes verlocken zu lassen. Der Existenzvollzug ist unmittelbar, unvertretbar und für das, was Glaube genannt werden kann, unabdingbar. Auch hier ist die Bibel nicht aus sich allein normativ ; ohne sie aber verlöre die denkbar steilste Form des Appells jede Orientierung. – Unbeschadet der peinlichen Grobheit dieser Skizzen: Wie nehmen sich gegenwärtige Positionierungen in Sachen Bibelbezug und Normativität im Licht dieser Extreme aus? 27 Kierkegaard, Nachschrift II, 84. 28 Ebd. 76.

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3. Gegenwärtige Positionen Auch hier dominiert zunächst der Bericht, freilich handelt er von Diskussionsangeboten aus der jüngsten Vergangenheit und der Gegenwart, die für Trends stehen dürften, die jedenfalls die kritische Weiterführung lohnen und vor denen sich ausweisen sollte, wer etwas der Mitteilung Würdiges vorzutragen meint.

3.1 Konvergenz aus griechischem und biblischem Denken (Benedikt XVI./Joseph Ratzinger)29 Die Regensburger Vorlesung von November 2006 ist bekannt geworden. Auch abseits des Rummels verdient sie Beachtung, weil sie gerade in Sachen des hier fraglichen Normativitätsthemas als im besten Sinne katholisch gelten kann: Sie wird – tema con variazioni, versteht sich – römisch-katholisch weithin geteilt und sie beansprucht eine Gräben überwindende, Glaube und Vernunft zusammenbringende und deshalb auch in diesem Sinne katholische Position zu sein. Amt und/oder Status des Amtes ihres Verfassers treten demgegenüber zurück, wenn ich mich nicht sehr täusche, auch in seiner eigenen Wahrnehmung. Benedikt beginnt mit dem, was man ein Konvergenzargument nennen könnte: Vernunft und Glaube haben mehr miteinander zu tun, als die veröffentlichte Meinung es allzu oft wahrhaben will, die zu gerne Vernunft auf einen technisch-positivistischen Begriff ihrer selbst und Glaube als je individuelles Fürwahrhalten verstehen will, das sich vor dem Dreinreden anderer verwahrt. Beiden Seiten soll vielmehr eine gewisse Weite zugestanden werden: Vernünftig ist nicht nur das methodisch kontrollierte Wahrnehmen und Herstellen, vernünftig sind vielmehr auch die Fragen nach Sinn und Grenzen des Menschseins, ja die Frage nach Gott, wie immer sie dann auch beantwortet werden mag. Umgekehrt gilt, dass Glaube eine Haltung bzw. ein Vermögen ist, das viele Gestalten annehmen kann und das nicht durch ein vorgängiges credo quia absurdum (Tertullian) aufs Paradoxe reduziert werden soll. Den Grund dafür sieht Benedikt letztlich in der Gotteslehre: Denn was wäre über Gott ausgesagt, wenn er nur da antreffbar wäre, wo es vernunftfern, paradox usw. zuginge? Er müsste wohl der Gott am Rande, der Querstehende, Andere sein. Gegen solche Vorstellungen hält Benedikt: „Nicht vernunftgemäß handeln ist dem Wesen Gottes zuwider.“30 Es scheint also, sehr im Gegensatz zu Tertullians bekanntem Dictum, eine ratio Dei zu geben, und weil das so ist, können Glaube und Vernunft letztlich nicht im Widerspruch zueinander stehen. 29 Details bei Hailer, Papst; ders., Glaube. 30 Benedikt, Glaube, 16 f.

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Diese Kombination aus Behauptung und Beobachtungen erfährt in der Regensburger Vorlesung eine geschichtstheologische Stützung: Das Gottesdenken der antiken griechischen Welt entwickelte sich von polytheistischen Anfängen über komplexe Vor- und Entwicklungsstufen hin zu einer streng monotheistischen, mit moralischen Ansprüchen einhergehenden Gottesvorstellung. Mit der Emphase auf der Einzigkeit, Ewigkeit und Vernünftigkeit des Gottes kam das griechische Denken dem biblischen Monotheismus erstaunlich nahe, ohne ihn doch gekannt zu haben. Dasselbe gilt umgekehrt: Auch der biblische Gottesgedanke erfuhr Modifikationen und Purifikationen, die eine innere Bewegung auf das griechische Denken hin sichtbar werden lassen: So ist die Selbstvorstellung JHWHs im brennenden Dornbusch mit ,ich bin‘ die erste Verknüpfung hin zum griechischen Seinsdenken. Dass LXX bekanntlich mit „ich bin der Seiende/das Sein“ übersetzt, ist für Benedikt trotz philologischer Schwächen sachlich richtig, ja ein „wichtiger Schritt der Offenbarungsgeschichte“,31 da es eine Entwicklungsnotwendigkeit des alttestamentlichen Gottesbildes beschreibt.32 Entsprechend setzt er sich für die Übersetzung „Vernunft“ für den Logosbegriff aus dem Johannesevangelium ein und versteht den Weg des Paulus auf der zweiten Missionsreise in Richtung auf griechischen Boden (Apg 16,6–10) als „Verdichtung des von innen her nötigen Aufeinanderzugehens zwischen biblischem Glauben und griechischem Fragen“.33 Dies ist offenbar ein providenztheologisches Argument: Wie Gottes Wesen und Handeln der Vernunft nicht zuwider ist, so entspricht die Bewegung von biblischem und griechischem Gottesdenken aufeinander zu seinem Willen und geschah unter seiner Behütung.34 Wer daran Kritik übt – etwa der spätmittelalterliche Nominalismus –, sieht sich nicht nur dem Verdacht ausgesetzt, Gott als willkürlich und dunkel denken zu müssen, er/sie stellt sich damit immerhin gegen die Offenbarungsgeschichte. Das ist, am Rande vermerkt, nicht der einzige, aber wohl doch einer der wichtigen Gründe, warum Benedikt das, was er als evangelische Standardargumente wahrnimmt, einer deutlichen Kritik unterzieht.35 So weit der Kurzbericht. Benedikts Position scheint ihr Schwergewicht durchaus beim Stichwort der Begründung zu haben: Weil die biblische Gotteskonzeption immanent auf Vernünftigkeit aus ist und einen Gott bezeugt, dessen Wesen nicht unvernünftig ist, lassen sich aus der Bibel – richtiger : aus der Offenbarungsgeschichte, die auch innerbiblische und nachbiblische Entwicklungsmomente kennt – Gründe ausweisen, die für die Vernünftigkeit des biblisch induzierten Glaubens sprechen. Die Schrift verweist nicht nur auf die 31 32 33 34

Ebd. 20. Ebd. 19 f. Ebd. 18. Das wird auch von katholischen Theologen geteilt, die erkenntnistheoretisch durchaus anders gelagerte Voraussetzungen favorisieren, vgl. Ruhstorfer, Grenzen, nach dem „die bewährte Wahrheit der Schrift (…) die Potenz ihrer spekulativen Durchdringung“ enthält (275). 35 Benedikt, Glaube, 23–29.

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Begründbarkeit des Gottesgedankens, sie trägt die Begründung vielmehr teilweise in sich und ist zu begründenden Strategien der philosophischen Theologie – ob eher platonischer oder aristotelischer Machart, lässt Benedikt weitgehend offen – hin offen.

3.2 Vertrauen in den Sinngrund der Welt als Schöpferglaube (Volker Gerhardt) Der Berliner Philosoph stellt für seine philosophischen Erwägungen zur Plausibilisierung des christlichen Glaubens den Begriff des Sinns in den Mittelpunkt. Ziel der Argumentation ist, ,Sinn‘ bzw. ,umfassenden Sinn‘ mit dem Konzept des Göttlichen und genauer der im Christentum geläufigen Idee des persönlichen Gottes in engen Austausch zu bringen. Die Argumentation lässt sich folgendermaßen systematisieren: Wer sagt, etwas ,mache Sinn‘, muss dies in einen größeren Sinnzusammenhang einordnen. Sinn ist ohne die Annahme eines Horizonts, vor dem verstanden bzw. in den eingeordnet wird, schlechterdings nicht zu denken. Man kann wohl an die Pannenberg’sche ,Antizipation der Sinntotalität‘ oder, ohne jede theologische Anmutung, an Hans-Georg Gadamers Rede von der ,Horizontverschmelzung‘ als Verstehensbedingung denken. Macht jemand solche Erfahrungen, so glaubt er bereits, nämlich an die „Korrespondenz zwischen Person und Welt“.36 Das muss noch kein religiöser Glaube sein. Freilich liegt die Konsequenz religiösen Glaubens mehr als nahe: Sinn konstituiert sich dadurch, dass eine Person sich in einem größeren Zusammenhang eingebettet sieht, durch „das Ineinander von Individualität und Universalität im verständigen Bezug des Ganzen einer Person auf das Ganze seiner Welt“.37 Dieses Sinnerleben kann man nun einerseits glücklich und heiter als das hinnehmen, was es ist und in der „alle Sinne und jeden Begriff umfassenden Einfügung in die Welt“ zufrieden leben.38 Freilich, und genau dies ist der theologische Überschritt: „Wer sich aber einen Sinn für das Unwahrscheinliche dieses Gelingens auch noch in den geringsten Vorgängen der Natur bewahrt, wer das Verlangen spürt, hier möge eine Fortsetzung auch über das eigene Dasein hinaus erfolgen, wer gar die Hoffnung hegt, dieses ihn tragende Ineinander von Selbst und Welt solle nicht nur für ihn und für alle, sondern vielleicht sogar im Ganzen ein gutes Ende nehmen: Der fühlt, dass er in einem Selbst- und Weltverständnis von einer Macht getragen ist, die alles umgreift und daher nicht anders als göttlich genannt werden kann.“39 Zum Konzept des Göttlichen gelangt man also durch eine Mischform aus (1) Erleben, (2) Werten und (3) Antizipation. Ad (1): Die Konsonanzerfah36 37 38 39

Gerhardt, Sinn, 61. Ebd., 268. Ebd. Ebd., vgl. nochmals 61, ferner 176 f.215.262 f.

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rung, dass das eigene Leben in größere Zusammenhänge eingebettet ist, ist notwendig, aber nicht hinreichend dafür. Ohne Sinnerfahrung scheint es keine Möglichkeit zu geben, gleichsam auf die Spur des Göttlichen zu gelangen, allein sie nötigt aber nicht dazu. Ad (2): Wem die radikale Unwahrscheinlichkeit des Gelingens aufgeht, wird, so ist das wohl zu lesen, dafür dankbar sein und einen tragenden und/oder absichtsvollen Grund annehmen.40 Ad (3): Dieser Dank ist auf der Kehrseite Hoffnung, dass es mit allen Menschen und der gesamten Wirklichkeit so herauskommen möge. Wer diese Hoffnung hegt, ist offenbar auf etwas Adressierbares, jemand Adressierbaren aus. Als wichtiges Lemma (4) ist mitgesetzt, „dass Gott nicht nach Art eines Sachverhalts zu begreifen ist“.41 Freilich wäre es völlig falsch, auf den Begriff des Göttlichen zu verzichten, nur weil es kein Sachverhalt sein kann. So weit das religionsphilosophische Kernargument, dessen, was Gerhardt „eine ,natürliche‘ oder ,rationale Theologie‘“ nennt.42 Neben der Frage seiner systematischen Leistungsfähigkeit – die es wohl v. a. mit der Frage nach Dissonanzerfahrungen zu tun haben dürfte – steht die hier vorrangig interessierende nach möglichen theologischen Anschlüssen, um das Normativitätsthema näher eingrenzen zu können. Hierfür bietet Gerhardt folgende Erwägung: Verhält sich jemand loyal zum Sinn des Sinns, ist er/sie gar davon ergriffen, so kann man das explizit religiösen Glauben nennen. Er ist existentieller und unvertretbarer Lebensvollzug. In biblischen Termini nun ist das Sinnstiftungsthema kein anderes als das der Schöpfung: „Aus der Sicht des Menschen fällt Schöpfung mit der Sinngebung in eins.“43 Gerhardts natürliche Theologie ist wesentlich Schöpfungstheologie. Das zeigt sich auch in Andeutungen zur Christologie: Gerhardt bedauert, dass die Frage nach der Göttlichkeit Christi dogmatisch entschieden worden sei und empfiehlt, die Gleichheit oder Ähnlichkeit zum Vater offen zu lassen. Entscheidend ist, dass Christus nichts im eigenen Namen tut, sondern gleichsam gänzlich durchsichtig für den Schöpfergott wird. Entsprechend gilt auch für Passion und Kreuz, dass hier nichts Eigenes oder Neues geschieht: „Warum sollte es nicht genügen, in der Unbedingtheit des Lebens und Sterbens eines bescheiden, geduldig und weise für das Heil aller eintretenden Menschen einen Beweis für die Gegenwart Gottes zu sehen, die ohnehin nur in der Seele eines jeden Einzelnen wirklich und wirksam werden kann?“44 Die Christologie, so ist wohl zu verstehen, hat im Wesentlichen bestätigende Funktion: Jesus weist von sich weg auf den Schöpfer = Sinn des Sinns, und er tut dies unter scharfer Zurückweisung irgendwelcher exklusiver Heilsansprüche. 40 Ebd. 130 u. ö. weist Gerhardt auf die unnennbar große Zahl von Sinnprozessen hin, die vernünftigen Schlüssen voraus- und zugrunde liegen. 41 Ebd. 279. 42 Ebd. 10. 43 Ebd. 281. 44 Ebd. 290. Dem schließt sich eine entsprechend universalistische Ekklesiologie an, vgl. 292 ff.

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Wie ist die skizzierte Position in Bezug auf die in Rede stehenden normativen Ansprüche einzuordnen? Auch Volker Gerhardt legt eine vornehmlich begründende Rede von Gott vor. Sie ist inhaltlich deutlich vorsichtiger angelegt als die Benedikts XVI., weil sie auf die metaphysischen Großbegriffe wie ,Sein‘ und ,Vernunft‘ in legitimatorischer Absicht und auf das weit gehende providenztheologische Argument verzichtet, mit dem Benedikt XVI. die Schrift gegen das Postulat eines weitergehenden Offenbarungshandelns relativiert. Gerhardts Position ist dagegen erkenntlich an Immanuel Kants System der transzendentalen Ideen orientiert, das erheblich weniger metaphysischen Ballast mit sich führt.45 Der normative Anspruch ist dennoch hoch: Wie gesehen entwirft er eine natürliche Theologie der Geschöpflichkeit, der gegenüber etwa die Christologie allein die Rolle der Bestätigung zugewiesen bekommt. Von den sich abzeichnenden trinitätstheologischen Problemen abgesehen, zeigt sich hier eine zum Monothematischen neigende Theologie. Ist es aber wirklich eine Hilfe, wenn Plausibilität durch thematische Verengung erkauft wird?46 Der Appellcharakter des Buches ist deutlich, wird aber doch zum Appell für eine Position, die sich fragen lassen muss, ob sie inhaltlich nicht zu eng geführt wird und entsprechend dem Erklärungsaspekt enge Grenzen gesetzt werden. 3.3 Die Rationalität einer Hoffnungsperspektive (Holm Tetens) Anders gelagert ist die ebenso ,rationale Theologie‘ genannte Position, die Holm Tetens vorlegte. In einer Kürze und Präzision, die den in der Wissenschaftstheorie Ausgewiesenen verrät, argumentiert er dafür, dass es einen Beleg oder Beweis Gottes nicht geben kann, dass wohl aber die Rationalität der Hoffnung auf Gott gezeigt werden könne. Die Durchführung wird ein signifikant anderes Verhältnis von Begründung, Erklärung und Appell zutage treten lassen. Nicht unähnlich wie Volker Gerhardt wendet Tetens sich kritisch vor allem gegen den Naturalismus. War die Gerhardt’sche Emphase darauf gerichtet, dass Gott nicht nach Art eines Sachzusammenhangs gedacht, aber trotzdem adressiert werden darf, so setzt Tetens leicht anders an: Naturalismus ist die Behauptung, dass es außer natürlichen Dingen in der Realität nichts gibt. Der gesamte Kosmos besteht ausschließlich aus Materie, jedoch aus nichts anderem, insbesondere gibt es keine Seelen, Götter oder andere übernatürliche Kräfte.47 Die entscheidende Näherung ist dabei im Wort ,ausschließlich‘ ver45 Kant, Kritik B 390-B 395. Gerhardt greift mit der Behauptung der Nichtgegenständlichkeit und doch Vernunftnotwendigkeit des Gottesbegriffs die kantische Bestimmung auf (vgl. ebd. B 385) und unterläuft zugleich die schneidende Kritik der Gottesbeweise (ebd. B 611-B 670) durch die Verlagerung ins individuelle Gefühl und Sinnbewusstsein. 46 Vgl. die diesbezüglich skeptische Eröffnung der Trinitätslehre bei Ritschl, Logik, 176. 47 Tetens, Gott, 12.

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borgen: Denn zu behaupten, es gäbe Materie (aber möglicherweise noch etwas anderes), ist eines, und zudem eine ungefährliche These. Zu behaupten, es gäbe ausschließlich Materie (und alles, was uns nicht materiell dünkt, sei ein Epiphänomen von Materie), ist wohl ein anderes, und überdies nichts weniger als eine metaphysische Setzung.48 Der Schluss von ,es gibt Materie‘ auf ,es gibt nur Materie‘ ist in keiner Weise zwingend. Ihm liegt ein verbreiteter Kategorienfehler zugrunde: Er beobachtet, dass mit den gängigen Standards naturwissenschaftlicher Forschung Größen wie Geist, Seele, Gott/Götter nicht gefunden werden, und schließt daraus auf ihre Nichtexistenz. Das übersieht jedoch, dass die – völlig zurecht! – gängigen Standards der Naturwissenschaft Seele, Geist, Gott usw. methodisch ausschließen. Etwas für inexistent zu erklären, das der eigene Versuchsaufbau nicht in den Blick bekommen kann, ist jedoch offenkundig ein Widerspruch. Mit dieser Zurückweisung eines genauso geläufigen wie falschen Arguments ist über die Existenz Gottes noch genau nichts in Erfahrung gebracht worden. Tetens’ Kernargument in der Sache hat die Form von fünf Prämissen und einer Konklusion:49 Prämisse 1: Es ist geboten, Leid und Übel zu bekämpfen, wo immer dies möglich ist. Prämisse 2: Im Naturalismus muss ich Übel zynisch hinnehmen. Prämisse 3: Im Theismus (,Gott ist Schöpfer und Erlöser‘) ist dieser Zynismus unnötig. Prämisse 4: Muss ich X tun, bin im Überzeugungssystem Y zu problematischen Konsequenzen gezwungen, im Überzeugungssystem Z hingegen nicht, dann ist es rationaler, Z zu übernehmen, sofern nicht die besten Gründe für Y und gegen Z sprechen. Prämisse 5: Es sprechen keineswegs die besten Gründe für den Naturalismus und gegen den Theismus. Konklusion: Also ist es im Vergleich mit dem Naturalismus vernünftiger, auf Gott als Schöpfer und Erlöser zu hoffen, als nicht auf ihn zu hoffen.

Auch diese Argumentation verleugnet ihre kantischen Wurzeln nicht, diesmal freilich aus der praktischen Philosophie.50 Prämisse 1 setzt, ohne dies weiter zu 48 Das gilt auch für die von Tetens so genannte weiche Variante des Naturalismus, die eine Vielfalt von nicht aufeinander reduzierbaren Rede- und Lebensformen kennt, aber dennoch sagt, dass die – gegenüber dem streng naturwissenschaftlichen Naturalismus nunmehr reicher ausgestattete – Erfahrungswelt die ganze Wirklichkeit ist, vgl. Tetens, Verteidigung, 169 f und als prominentes Beispiel für den weichen oder nichtreduktiven Naturalismus, Dworkin, Gott, dort 29ff zum erweiterten Realitätsbegriff, der u. a. die eigenständige Realität von Werten kennt. 49 Tetens, Gott, 78 f, teilweise wörtlich. 50 Tetens’ Argumentation partizipiert an der eigentümlichen Schwebelagerung von Kants Moralphilosophie, die einerseits die Autonomie des sittlichen Zwecksetzens betont, andererseits

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begründen – und womöglich, ohne es begründen zu können –, auf die Evidenz des Humanums: Leid hinzunehmen, obwohl man es hätte bekämpfen können, ist unmenschlich. Es muss zum Besten von Prämisse 1 offenbleiben, ob hinter ihr eine normenethische Denkfigur unter Heranziehung z. B. des kategorischen Imperativs steht oder ob sie z. B. tugendethisch gefüllt werden soll, so dass die Nicht-Linderung von Leid der Selbstentsprechung einer reifen Person widerspricht. Für sie spricht letztlich, dass, wer sie ablehnt, mit sich selbst als egoistischem Zyniker leben muss. Wer dies achselzuckend tut, dem ist mit Argumenten freilich nicht mehr beizukommen. Prämissen 2 und 3 sind analytische Urteile, die Konsequenzen zweier zur Entscheidung anstehender Konzeptionen erläutern. Wichtig ist dabei, dass aus Prämisse 2 nicht folgt, dass der Naturalismus eine abzulehnende Position darstellt: Genau dann, wenn er wahr ist, ist moralischer Zynismus unausweichlich und hinzunehmen; ob er aber wahr ist, ist nicht ausgemacht. Prämisse 4 skizziert das Kalkül und Prämisse 5 greift die oben kurz benannte These auf, dass die Gründe für den Naturalismus bei weitem nicht so gut sind, wie die landläufige Meinung ziemlich persistent annimmt. Was genau aber ist mit dieser Argumentation – ihre Schlüssigkeit nach diesem sehr kurzen Kommentar einmal gesetzt – erreicht? Über die Existenz Gottes ist nicht entschieden und sie ist auch nicht mit einem natürlich-theologischen Argument wahrscheinlich gemacht worden.51 Gesagt ist lediglich: Im Vergleich mit der intellektuell unbefriedigenden Annahme des Naturalismus ist es rationaler, auf die Existenz Gottes zu hoffen, der niemanden verloren gibt. Ob Gott nun existiert, und ferner, mit welchen Beweggründen man zum Glauben an ihn gelangen könnte, ist dadurch nicht präfiguriert. Argumentative Schwäche und Stärke kommen hier auf eine eigentümliche Weise zusammen: Der Beweisanspruch ist in der Tat deutlich schwächer als bei Benedikt XVI. und bei Volker Gerhardt. Dem korrelieren freilich drei Vorteile: (1) Tetens’ Argument muss die problematischen Vorannahmen der beiden anderen Positionen nicht mittragen, also etwa die starken metaphysischen Setzungen bei Benedikt oder die Schwäche in Gerhardts Position, überbordende Erfahrungen von Unstimmigkeit nicht integrieren zu können. (2) Die Reduktion der Begründung auf die Rationalität einer Hoffnung lässt aber deutlich macht, dass eben diese Autonomie ohne die Annahme Gottes nicht zu denken ist. Gegenüber Kants Behauptung: „Moral also führt unumgänglich zur Religion“ (Kant, Religion, 652) ist er im Ergebnis freilich vorsichtiger und würde das „unumgänglich“ wohl gegen „naheliegenderweise“ oder „als Ratschlag“ oder ähnliches eintauschen, was sich in der Summe als vorteilhaft erweisen dürfte. 51 Anhand der Begriffe ,natürliche‘ und ,rationale‘ Theologie könnte man die Argumentationstypen 3.2 und 3.3 unterscheiden: Natürliche Theologie sucht die Existenz Gottes durch Rückgriff auf allgemein-menschliche Welt- und Lebensumstände zu plausibilisieren, rationale Theologie analysiert jedem denkenden Menschen zumutbare Reflexionsleistungen auf ihr Für und Wider in Sachen theologischer Implikationen. Freilich bleibt auch dies ein tendenzieller Unterschied.

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Raum für die normative Form der Erklärung: Bei den beiden anderen Positionen ist sie durch die Inhalte der Begründungsstrategien bereits stark überformt. Erklärungen sind einerseits normativ schwächer, andererseits aber können sie inhaltlich reicher und komplexer entfaltet werden. (3) Tetens’ Argument lässt Raum dafür, dass niemand aufgrund einer Argumentation religiös wird oder zum Glauben an Gott gelangt. Das implizieren die beiden anderen Positionen sehr wahrscheinlich auch nicht, sie suggerieren freilich eine Begründung nicht nur der Möglichkeit, sondern der Tatsächlichkeit des Glaubens. Anders als ex post dürften solche Begründungen freilich kaum funktionieren.

4. Begründung als Streitfreistellung Den Beginn machten nach Begriffsklärungen Skizzen zweier extremer Positionen, auf der einen Seite bei Hegel mit einem Begründungsprogramm mit Totalerklärungsanspruch, bei dem Erklärung und Appell überflüssig werden und auf der anderen Seite Kierkegaards Konzentration auf den existentiellen Appell, der Begründungen für schlechterdings unmöglich hält und auch Erklärungen gegenüber mindestens zurückhaltend ist. Vor diesem Hintergrund sind bei den zeitgenössischen Positionen, insbesondere die unterschiedlichen Zumessungen dessen, was für begründungsfähig- und bedürftig gehalten wird, interessant: Benedikt XVI. sieht nichts weniger als die behütende Präsenz Gottes durch den Lauf der Geistesgeschichte plausibilisiert und ist, was die Konvergenz von Glauben und Vernunft angeht, entsprechend optimistisch. Volker Gerhardt sieht in der jedem Menschen zugänglichen Sinnerfahrung eine implizite Setzung Gottes, die unter Rekurs auf das biblische Schöpfungsdenken verdeutlicht werden kann, wogegen Holm Tetens lediglich die Rationalität der Hoffnung auf Gott verteidigt und also Begründung einerseits, Erklärung und Appell andererseits weit auseinandernimmt. Ich argumentiere abschließend, dass diese dritte Strategie am aussichtsreichsten ist. Dafür muss etwas näher erklärt werden, was es denn nun ist, das begründet, erklärt und wofür appelliert werden soll. Ganz zu Beginn war von Zugehörigkeit als Paul Ricœurs Übersetzung für die paulinische p_stir die Rede. Sie ist – jenseits der hier ausgeklammerten philologischen Fragen – hilfreich, weil sie geeignet ist, einer Fehlisolierung zu wehren, die sich regelmäßig dann einstellt, wenn Glaube einstellig definiert wird, z. B. als ,wesentlich ein Widerfahrnis‘, ,wesentlich ein Fürwahrhalten‘ oder anderes. Ist p_stir = Zugehörigkeit, dann ergibt sich recht mühelos eine mehrdimensionale Vorstellung: Niemand ist nur emotional, nur intellektuell usw. zugehörig. Glaube, so verstanden, ist nicht ein einzelner Akt oder eine Kette von Akten, sondern insgesamt ein antwortendes Lebensverhalten oder,

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klassischer gesagt, eine Lebensform.52 Zu ihr dürften mindestens folgende formalen Elemente gehören: (1) Habitus oder ein Geflecht von Habitus, also Grundhaltungen des Lebens, die Veränderungen unterliegen können; (2) aktualistisch-passive Erfahrungen von Bestimmtheit (das träfe in etwa auf Gerhardts Bestimmungen zu, ist mitnichten aber nur schöpfungstheologisch aussagbar); (3) Ausbildung von – auch handlungsleitenden – Überzeugungen (hier aber nicht nur hier ist die von Tetens als rational verteidigte Hoffnung anzusiedeln); (4) bewusster Einsatz des Intellekts samt aller hier zugehörigen pädagogischen Vollzüge; (5) institutionelle Realisationsformen des Glaubens.53 Mit dieser – erläuterungsbedürftigen und wohl kaum vollständigen – Aufzählung dürfte der Misch- oder Kompositcharakter der Lebensform Glaube anfänglich deutlich werden. Sie ist der wesentliche Grund, weshalb mir der wichtigste normative Anspruch der der Erklärung zu sein scheint. Diejenige Zugehörigkeit, die aus der Auseinandersetzung und immer wieder neuen Aneignung des biblischen Erzählgeflechts hervorgeht, ist die bunte und vielstellige Lebensform des Glaubens. Als vielstelliges Geflecht ist sie erläuterund erklärbar, auch kann und soll zu ihrem Nachvollzug und Miterleben eingeladen werden. Glaube = Zugehörigkeit ist eine pq÷nir bzw. ein Bündel von pqane?r und allererst im vielstelligen Vollzug da. Entsprechend werden seine normativen Ansprüche vorrangig erklärt und wird zu ihnen eingeladen (Appell-Aspekt). Begründungsfiguren stehen jedenfalls nicht am Anfang der Artikulation normativer Ansprüche des Glaubens. Was aber ist dann ihre Rolle? Der vorgebliche Nachteil von Holm Tetens’ Argumentation, gleichsam ,so wenig‘ begründen zu können, zeigt sich angesichts der vielstelligen Dimension von Glauben = Zugehörigkeit gerade als Vorteil. Er muss sich nicht, wie Benedikt, gegen die luziden Argumente der Metaphysikkritik stemmen, auch läuft er nicht Gefahr einer falschen inhaltlichen Vereindeutigung, wie sie bei Gerhardt droht. Die Begründungsleistung liegt hier vielmehr auf der Streitfreistellung des Glaubens. Auf Gott, den Schöpfer und Erlöser zu hoffen, ist nicht irrational und sogar rationaler als naturalistische Grundannahmen zu teilen. Diese Streitfreistellung des Glaubens kann, wie bei Tetens, auf dem Weg einer kantisch inspirierten Verteidi52 „To be faithful to God is (…) to live in our proximate contexts trusting God as the ground of our being in value and being loyal to God’s own project – namely, our creaturely proximate contexts.,Trusting God as ground of our being and value’ is an appropriate response to God’s creative direct address to us; ,being loyal to God’s project’ is an appropriate response to God’s creative indirect address.“ Kelsey, Existence, 328. Als Kurzbeschreibung trifft sicher auch zu, was Kelsey zum Thema Hoffnung anbietet: Sie ist „a settled and long-lasting attitude. (…) Personal bodies [i. e. human beings, M.H.] are agents, exercisers of a rich and complex array of creaturely powers. Accordingly, joyous hopefulness concretely orients practices in quotidian contexts that may engage any or all of the powers of personal bodies.“ Ebd. 503. 53 Vgl. die nach wie vor sehr gute Definition von Institutionen von Ernst Wolf: „Soziale Daseinsstrukturen der geschaffenen Welt als Einladung Gottes zu ordnender und gestaltender Tat in der Freiheit des Glaubensgehorsams gegen sein Gebot.“ Wolf, Sozialethik, 173.

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gung des Theismus geschehen, muss darauf aber nicht begrenzt bleiben. Denkbar wäre nicht minder, dies auf dem Weg einer philosophischen Negativen Theologie zu versuchen, die neben aussichtsreichen Argumenten wiederum den Vorteil hat, die Erklärungs- und Appellfunktion nicht im Vorhinein inhaltlich einzuengen.54 Dem folgt keine Willkür auf dem Fuße, so als ob nun jede/r glauben könne, was er oder sie eben glauben wolle. Das wäre die Standardreaktion des Fideismus-Vorwurfs, der doch nur in den allerwenigsten Fällen haltbar ist. Gegen den Willkürverdacht durch Streitfreistellung des Glaubens sind vielmehr zwei Beobachtungen ins Feld zu führen: Zum einen geht keine Streitfreistellung ohne eine anfangshafte Konturierung des Glaubens- oder Gotteskonzepts einher, das sie streitfrei zu stellen beabsichtigt. Tetens macht klassische Attribute des Theismus geltend, bei Rentsch übernimmt diese Rolle eine genaue Analyse dessen, welche Orientierungsleistung aus der Entzogenheit Gottes hervorgeht.55 Diese primäre Orientierungsleistung – in sich selbst stets strittig, ob sie zu weit bzw. in die richtige Richtung geht – ist dann zum anderen zu kombinieren mit der Erkundung der internen Logik der jeweiligen Glaubensperspektive. Im Rahmen der hier vorgeschlagenen Terminologie ist das die Aufgabe des Erklärens. Erklärungen sind auf Nachvollziehbarkeit hin angelegte Durchmusterungen eines semantischen Potentials. Sie erkunden das, was Hilary Putnam den internen Realismus eines semantischen Raums nannte.56 Der Appell, hier : die Einladung, die Lebensform namens Glaube = Zugehörigkeit attraktiv zu finden, zeigt sich dann als direkte Implikation der Erklärung. Ob der Appell freilich Früchte trägt, ist nicht in der Hand derer, die ihn vortragen, sonst begingen sie den Fehler, vor lauter Appell den Gabecharakter des Glaubens zu übersehen, woran sowohl die Erklärung als auch eine recht verstandene Begründung sie allerdings hindern sollten.

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Imaginäre Subjekte und Erzählungen „Jeder Morgen unterrichtet uns über die Notwendigkeit des Erdkreises. Und doch sind wir an merkwürdigen Geschichten arm.“1

1. Subjektorientierung in der Religionspädagogik Die Religionspädagogik hat es mit Menschen und Prozessen der Veränderung zu tun. Religions-Pädagogik, vom griechischen paide_a, in der Regel heute im universitären Fächerkanon als Erziehungswissenschaft oder Bildungswissenschaft übersetzt, gilt als jene Disziplin, die es mit der Erziehung zur Religion, als Erziehung in der Religion, als Bildung der religiösen Dimension des Menschseins oder auch Bildung zur Religionsmündigkeit zu tun hat. Wenn wir heute aktuelle religionspädagogische Entwürfe ansehen, dann stellen wir fest, dass es einen weiten Konsens darüber gibt, die Pädagogik der Religion nicht an normativen Konzepten von Religion auszurichten, sondern die Subjekte des religiösen Lernens in den Mittelpunkt zu stellen. Das ist auch nicht weiter verwunderlich. Die Religionspädagogik stand früh vor der Herausforderung, zwischen pädagogischen Anliegen und Normativitätsanspruch der Theologie oder Religion vermitteln zu müssen. Dass diese Spannung nicht einfach aufzulösen ist, zeigt die Geschichte des Faches.2 Eine rein an den Offenbarungsgehalten interessierte Religionspädagogik verliert die konkreten Ansprechpartner ihres Unterrichts aus den Augen. Eine rein an den Schülerinnen und Schülern orientierte Pädagogik bekommt Schwierigkeiten zu argumentieren, warum es eine eigene Religionspädagogik braucht. Diese Vermittlungsversuche ziehen sich quer durch die Geschichte der Religionspädagogik. Heute scheint das Fach zu einem Konsens gekommen zu sein: „[R]eligionspädagogische Ansätze heute […] müssen offen für die individuellen Deutungen der Subjekte und anschlussfähig an ihre Lebensfragen und -themen sein.“3 So ist die allgemein anerkannte maßgebliche Herausforderung die der Schüler- bzw. Subjektorientierung. Joachim Kunstmann schreibt als Fazit eines historischen Überblicks über die Konzeptionsmodelle des Religionsunterrichts: „Der Generalnenner der Erfahrungen, die die RP in ihrer Debatte um die Konzeptionen gewonnen hat, ließe sich als eine Hinwendung zur 1 Benjamin, Erzähler, 416. 2 Exemplarisch und kurz zusammengefasst etwa bei Kunstmann, Religionspädagogik, 50 ff. 3 Pohl-Patalong, Religionspädagogik. Ansätze für die Praxis, 15.

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Subjektivität begreifen.“4 Es scheint in Fachkreisen anerkannt zu sein, dass die Religionspädagogik sich wesentlich am Subjekt orientieren muss, gleichzeitig aber zunehmend unsicherer wird, was denn genau Religion sei.5 Wie ist es dazu gekommen, dass heute so sehr und vor allem so intensiv wiederholt wird, dass das religiöse Subjekt im Zentrum der wissenschaftlichen Bemühungen der Religionspädagogik steht?6 Das klassisch religiöse Erziehungsdenken ist durch einen Fokus auf religiöse Bildung abgelöst worden.7 Die Selbstverständlichkeit, es gäbe eine feststehende Offenbarung, die definiert, was Schülerinnen und Schülern zu lehren sei und wohin sie sich entwickeln sollen, ist überholt. Erziehung als Form der ethisch fragwürdigen religiösen Verbesserung des Kindes ist abgelöst worden zugunsten einer Befähigung der Schülerinnen und Schüler in religiösen Fragen. „Religionspädagogisches Arbeiten muss daher heute damit rechnen, dass die Teilnehmenden sich als Subjekte begreifen, die sich mit den religionspädagogischen Inhalten kritisch auseinandersetzen. Es kann nicht erwartet werden, dass die Lernenden fertige Inhalte akzeptieren oder für sich übernehmen.“8 „[D]as Gegenüber […] [ist] als das Subjekt seines Glaubens und Lebens anzusehen […], nicht aber als Gegenstand von Verkündigungs- und Belehrungsansprüchen“9, fasst es Wilhelm Gräb allgemein zusammen.10 Darauf aufbauend kann dann konkret formuliert werden: Kompetenzen sollen die heutigen Schülerinnen und Schüler als Subjekte religiösen Lernens erwerben. Doch stellt sich dabei die Frage, an wen oder was wir geraten, wenn wir uns am Subjekt orientieren.

2. Ich ist ein Anderer Die Normativität, die der Theologie durch ihren Status als Verkündiger der Offenbarung zukam, ist durch die Orientierung am Subjekt abgelöst worden. Auch im Bildungsplan findet sich die Orientierung an den Schülerinnen und Schülern in Form der Kompetenzorientierung wieder. Was diese können 4 Kunstmann, Religionspädagogik, 65. 5 Vgl. Bergunder, Was ist Religion?, 3 ff. 6 In der Regel wird an dieser Stelle auf Henning Luther verwiesen: H. Luther, Identität und Fragment. Doch die in diesem Buch veröffentlichten Aufsätze zeichnen ein sehr unsouveränes bzw. in Frage stehendes Subjekt. Am deutlichsten wird dies vielleicht in: Luther, Ich ist ein Anderer, 62 ff. Dem Grundgedanken, die Praktische Theologie am Subjekt zu orientieren, wurde gefolgt, die Differenzierung und Infragestellung des Subjekts dabei aber oft nicht weiterentwickelt. 7 Vgl. Kunstmann, Religiöse Bildung, 149; Schweitzer, Bildung als Dimension, 271. 8 Pohl-Patalong, Religionspädagogik, 14. 9 Gräb, Ratsuchende als Subjekte der Seelsorge, 207. 10 Auch wenn Wilhelm Gräb sich hier im Kontext der Seelsorge äußert, spricht er m. E. aus der Mitte praktisch-theologischen Denkens.

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sollen, wird ihnen durch Angabe jeweiliger Kompetenzen vorgegeben. Um diese Kompetenz als Performanz zu messen, sind für die Überprüfung Operatoren notwendig, die der Bildungsplan vorgibt: analysieren, belegen, benennen, beurteilen, erklären, entwerfen, entfalten, usw. Ich zitiere aus dem Bildungsplan Baden-Württemberg 2016 und in unvollständiger Aufzählung. Nur so viel: Die Operatoren beginnen mit „analysieren“ und enden mit „zusammenfassen“. Rückschließend wird davon ausgegangen, dass wo es ein Prädikat gibt, es ein Subjekt geben muss. So wie in jedem vernünftigen deutschen Satz. Und wenn etwas unklar ist, dann wird die Frage gestellt: Wer ist hier das Subjekt?11 Doch selten werden die Fragen gestellt: In welchem Zusammenhang steht die Kompetenz zur Performanz, das Verb zum Subjekt und was ist jenes Subjekt, nach dem gefragt wird? Und hier ahne ich ein Missverständnis, dass durchaus weitreichende Folgen haben könnte und dem Erzählen einen besonderen Wert zumisst: Die Vermutung liegt nahe, dass wir die Kategorie „Subjekt“ als räumliche Instanz missverstehen. Denn wenn wir meinen, dass im gleichen Maße, wie wir Menschen einen Körper haben, das Subjekt ein geographisch-geistig zu verortendes Wesen ist, das Dinge tut, lernt, ausbildet, fortbildet etc. und zwar möglichst souverän, unterliegen wir dem angedeuteten Missverständnis. Denn von einem Vorgang, der in einem Verb ausgedrückt werden kann, auf ein souveränes und Kompetenzen besitzendes Subjekt zu schließen, verdeckt das Woher der Subjektäußerung. Eine grundlegende Kritik am klassischen Subjekt-Denken finden wir bereits bei Nietzsche, der darin genau diesen Punkt kritisiert, das Subjekt als Letztgrund von Tätigkeiten anzunehmen: „[W]enn ich den Vorgang zerlege, der in dem Satz ,ich denke‘ ausgedrückt ist, so bekomme ich eine Reihe von verwegenen Behauptungen, deren Begründung schwer, vielleicht unmöglich ist, – zum Beispiel, dass ich es bin, der denkt, dass überhaupt ein Etwas es sein muss, das denkt, dass Denken eine Thätigkeit und Wirkung seitens eines Wesens ist, welches als Ursache gedacht wird, dass es ein ,Ich‘ giebt, endlich, dass es bereits fest steht, was mit Denken zu bezeichnen ist, – dass ich w e i s s, was Denken ist.“12

Nietzsche formuliert hier eine umfassende Kritik an den Voraussetzungen seiner zeitgenössischen Diskurse. Er greift hier natürlich Descartes auf und fragt hinter die Setzung seines vermeintlich nicht hintergehbaren „Ich denke“ zurück. Lediglich vom Denken her gedacht lässt sich die Annahme eines Wesens, eines Ichs, eine Tätigkeit zu sein oder eine Wirkung zu haben, 11 An einem „klassischen“ Ort formuliert etwa Michael Meyer-Blanck mit dieser Frage seine Kritik an der Symboldidaktik Biehls: „Wer ist das Subjekt dieses hier passivisch ausgedrückten Vorgangs, wer oder was verkörpert, verbürgt, präsentiert real das, worauf es verweist?“, MeyerBlanck, Vom Symbol zum Zeichen, 340. 12 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 21 f.

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schlecht kausal begründen. Es sind Annahmen. Denn, gerade im Denken, erfahren wir uns als passive Wesen „Was den Aberglauben der Logiker betrifft: so will ich nicht müde werden, eine kleine kurze Thatsache immer wieder zu unterstreichen, welche von diesen Abergläubigen ungern zugestanden wird, – nämlich, dass ein Gedanke kommt, wenn ,er‘ will, und nicht wenn ,ich‘ will; so dass es eine Fälschung des Thatbestandes ist, zu sagen: das Subjekt ,ich‘ ist die Bedingung des Prädikats ,denke‘. Es denkt: aber dass dies ,es‘ gerade jenes alte berühmte ,Ich‘ sei, ist, milde geredet, nur eine Annahme, eine Behauptung, vor Allem keine ,unmittelbare Gewissheit‘. Zuletzt ist schon mit diesem ,es denkt‘ zu viel gethan: schon dies ,es‘ enthält eine A u s l e g u n g des Vorgangs und gehört nicht zum Vorgange selbst. Man schliesst hier nach der grammatischen Gewohnheit ,Denken ist eine Thätigkeit, zu jeder Thätigkeit gehört Einer, der thätig ist“13.

Nietzsche greift Descartes frontal an, indem er fragt, an welches „Ich“ wir eigentlich beim Denken geraten. Denn wenn der Gedanke kommt, wann er will und nicht wann „Ich“ will, scheint das „Ich“ wesentlich weniger autonom zu sein, als moderne Subjektzentrierung scheinen lässt bzw. im Anschluss an Descartes vermuten lässt. Das „Ich“ ist vielmehr seinem Denken unterworfen und damit im klassischen Sinne des Wortes „Subjekt“. Wenn ich mich beim Denken beobachte, zerfällt der Prozess in Beobachter und Beobachteter. Die Ich–Instanz, die Denken beobachtet, ist vom Denken getrennt. Daher formuliert Jaques Lacan treffend: „Das heißt, daß wenig gesagt wurde, als ich meine Zuhörer mit den Worten stutzig machte: ich denke, wo ich nicht bin, also bin ich, wo ich nicht denke. Worte, die jedem frei aufmerksamen Ohr spürbar machen, mit welcher Wieselambiguität der Ring des Sinns auf der verbalen Schnur unserem Zugriff entflieht. Man muß sagen: Ich bin nicht, da wo ich das Spielzeug meines Denkens bin; ich denke an das, was ich bin, dort wo ich nicht denke zu denken“14.

Was hier infrage gestellt wird, ist in erster Linie das autonome selbstbestimmte Subjekt des Denkens. Da jedoch das moderne Denken darauf beruht, dass aller Zweifel an einer Ich- oder Subjekt-Instanz hängt, die jene zweifelnden Gedanken identifiziert und formuliert, dass also das „Ich“ bzw. das „Subjekt“ die letzte Sicherheit wäre, die einem Menschen noch bleibt, sind die Konsequenzen relevant.15 Fragen wir daher zuerst, wie es dazu kommt, dass wir 13 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 23. 14 Lacan, Schriften II, 43. 15 Charles Taylor formuliert vor allem drei Konsequenzen der Orientierung am modernen Subjekt: Sinnverlust, wuchernde instrumentelle Vernunft und einen gewissen Mangel an Freiheit. „Dieser Verlust einer Zwecksetzung war mit einem Vorgang der Verengerung verknüpft. Die Menschen büßten den umfassenderen Blick ein, weil sie ihr individuelles Leben in den Brennpunkt rückten. Durch die demokratische Gleichheit wird der einzelne […] auf sich selbst

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denken, dass das Subjekt eine – wie auch immer geartete – geschlossene Entität darstellt. Dafür liefert uns Gerda Pagel mit Blick auf Lacan eine Erklärung. Wir denken, wie wir uns erblicken, d. h. durch den Anderen sehend. Selbst nehmen wir uns immer nur partikular wahr, durch den Anderen einheitlich. Der Andere, der uns erblickt, kann die Mutter, der Vater, der Nächste als ein zufälliger Mensch sein oder aber auch ein Spiegel: Das Kind „nimmt die Einheit seines Bildes wahr in einem Stadium, in dem ihm selbst die Einheit seiner körperlichen Motorik fehlt. Dem spiegelbildlichen Imago ist eine Ganzheit, Stabilität und Omnipotenz eigen, die dem Körper vor dem Spiegel gerade abgeht. Das Ich-Bild übernimmt nun die Rolle, die Unzulänglichkeiten der Ich-Existenz zu kompensieren. Die Folge ist, daß sich in diesem ,Spiegelstadium‘ eine fiktive Ich–Identität ausbildet, die Vorbild und Anker in der imaginären Projektion des Spiegelbildes findet. Der Mensch begreift sich anders, als er tatsächlich ist. Er sieht sich in der Perspektive eines ,Ideal-Ich‘. Das Erkennen des Selbst vollzieht sich als ein Verkennen. Mit Rimbaud kann Lacan daher sagen: ,Ich ist ein Anderer.‘“16

Also im Grunde ist die These recht einfach: Da wir im Spiegel geographisch zu verortende, abgeschlossene Bilder unseres Körpers wahrnehmen, übertragen wir diese Vorstellung auf unsere Identität und denken, dass wir in unserer Selbstwahrnehmung der Identität vollständige und geschlossene Wesen seien, so wie wir es zwar nicht selbst aber durch den oder das Andere wahrnehmen. Wir denken wir wären, wie Andere uns sehen bzw. wie Anderes uns uns selbst zeigt. Da wir jedoch keine geschlossenen Wesen17 sind, versuchen wir diesen Umstand zu kompensieren. Wir stellen uns als Wesen mit Identität gegenüber uns selbst und Anderen vor, um uns diesen Eindruck zu versichern. Wir entwickeln die Vorstellung eines Ideal-Ichs.18 Der Andere spielt hier in der Genese eine entscheidende Rolle. Der Andere wird als Spiegel gleichzeitig zum Ort der Versicherung der Imagination der Ganzheit. Kommt es zu einer Begegnung, benutzen wir Sprache, um diese Begegnung zu gestalten. Welche Funktion kommt nun der Sprache einer Begegnung zu, wenn das Subjekt zur Disposition steht, dieses sich aber durch ein Idealbild stabilisieren kann? Ich möchte im Folgenden zwei Aspekte aufgreifen, die Lacan aus diesen Umständen folgert: Erstens, dass Sprache selbst ein Teil unseres unbewussten zurückgeworfen, und diese Situation droht, ,ihn gänzlich in die Einsamkeit seines eigenen Herzens einzusperren‘. Mit anderen Worten, die dunkle Seite des Individualismus ist eine Konzentration auf das Selbst, die zu einer Verflachung und Verengung des Lebens führt, das dadurch bedeutungsärmer wird und das Interesse am Ergehen anderer oder der Gesellschaft vermindert“, Taylor, Unbehagen, 10. 16 Krämer, Sprache, Sprechakt, Kommunikation, 207. 17 Henning Luther war es, der die Metapher des Fragments als Bild für Subjektivität besonders wirkungsvoll artikulierte. Vgl. Luther, Identität und Fragment, 160 ff. 18 „,Ideal-Ich‘ steht für das idealisierte Selbstbild des Subjekts (die Art und Weise, wie ich sein möchte, wie ich möchte, daß die anderen mich wahrnehmen)“, Zˇizˇek, Lacan, 108.

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„Ich“ ist, also das Sprache dem Ich vorausgeht, und zweitens, dass wir, wenn wir sprechen, entweder uns unserer Selbst versichern können – das nennt Lacan das leere Sprechen, den Versuch so zu tun, als wären wir etwas Ganzes – oder wir können uns selbst dem Anderen hingeben, ein Wort dem Anderen folgen lassen, uns quasi wie selbst vergessen und ganz in der Begegnung, im Moment, in diesem Resonanzgeschehen aufgehen: ein volles Sprechen. Dieser These folgend kommt dem Erzählen eine besondere Funktion zu: Es konstituiert Sprache in einem bestimmten Gefüge, sodass Erzählungen erstens Sprache strukturieren und zweitens wir durch Erzählungen lernen, uns selbst durch sie zu sehen. Die Erzählung selbst wird uns zu einem Spiegel, der uns uns selbst sehen lässt und damit ein Teil von uns wird. Das „Ich ist ein Anderer“ entspringt damit der Erzählung des Anderen, durch die ich mich selbst sehe. Wie kommt es dazu?

3. Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale „Kein Subjekt hat die Sprache erfunden, sie geht jeder individuellen Existenz voraus“19. Dennoch erlernen wir zu kommunizieren, in der Regel primär durch die Sprache. Es ist ein Allgemeingut, dass, wie es der linguistic turn gezeigt hat, Sprache nicht einfach Wirklichkeit abbildet, sondern Wirklichkeit erzeugt.20 Bei Ferdinand de Saussure war Sprache durch die Differenz von Zeichen zu Zeichen – SHme genannt – gekennzeichnet.21 Jedoch hat die spätere Sprachdeutung dieses zweigliedrige Zeichensystem durch ein Dreigliedriges ersetzt. Der Weg vom Zeichen zum Bezeichneten, d. h. vom Signifikant zum Signifikat muss über den Ort des Sprechenden führen. Ein echter Wiener denkt bei dem Wort Tisch mit hoher Wahrscheinlichkeit an etwas anderes als ein jüdischer Gelehrter vor 2000 Jahren. Das Zeichen verweist nicht einfach auf einen Gegenstand der Wirklichkeit, eine Urimpression aus der der Signifikant seinen Signifikat bildet, sondern ruft seinerseits eine Vorstellung auf, die sich durch ihre Differenz zu den anderen Zeichen bildet. Die Vorstellung eines Zeichens ist an die Zeichenkette gebunden, an der sie hängt. Das Zeichen Tisch ruft eine andere Vorstellung auf, wenn es um einen hohen, großen, fürstlichen Tisch geht, an dem der König sein Mittagessen zu verspeisen pflegt oder ob ich über einen kleinen Tisch spreche, der in einer Vitrine steht und auf dem ein kleiner grüner Diamant platziert ist. Zeichen rufen nicht einfach eine Idee auf, sondern werden durch die Zeichenketten gestiftet, in der sie erscheinen. So wird jeder Eindruck eines Tisches wieder neu die jeweilige 19 Widmer, Subversion des Begehrens, 37. 20 Vgl. Austin, Zur Theorie der Sprechakte, um nur einen Vertreter zu nennen, der vor allem im Religionspädagogischen Diskurs oft genannt wird. 21 Im kurzen historischen Überblick vgl. Eco, Semiotik, 36 ff.

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Vorstellung von Tisch prägen. Habe ich in einem Museum für moderne Kunst einen Tisch gesehen, wie ich ihn noch nie vorher sah, werde ich in Zukunft vielleicht anders über die Möglichkeiten denken, einen Tisch potentiell vorzustellen bzw. stelle mir in konkreten Situationen das Abstraktum „Tisch“ anders vor. Dennoch wird nicht jede Impression eines Tisches mein gesamtes Konzept von Tisch über den Haufen werfen. Denn das Gewicht abertausender gesehener, gedachter und vorrübergegangener Tische wiegt schwer, da sie meine Vorstellung geprägt haben und weiter prägen werden. Und noch ein Faktor muss Berücksichtigung finden: Differenz. Wir wissen, dass ein Tisch ein Tisch ist, weil er kein Stuhl, kein Mensch, kein Boden und keine Kuh ist. Wir können differenzieren und kommen so zu unseren Kategorien, die durch Zeichen abrufbar sind. Die Spezifizierung der Kategorie kommt durch die Zeichenkette zustande. Beides ist über Sprache vermittelt. Lebe ich in einer Kultur, in der immer abfällig über Kühe gesprochen wird, werde ich einen anderen Umgang mit ihnen pflegen, als würden sie einen heiligen Status besitzen, der es fordert, dass ihnen mit Respekt begegnet werden muss. Die Heilige, die blöde und die blinde Kuh sind sehr verschiedene Kategorien, auch wenn sie durch den gleichen Signifikanten „Kuh“ gebildet werden. Folgt man der Einsicht, dass ein Zeichen nicht einfach auf einen Gegenstand verweist, sondern immer eine Vorstellung hervorruft, die auf Differenz beruht, dann ergibt sich daraus, welche Funktion das Subjekt im semiotischen Dreieck hat. Es markiert den Ort in der Sprache, von dem aus Vorstellungen von Zeichen gebildet werden. Das Subjekt ist jedoch nicht souverän, indem es über die Sprache verfügt, sondern ist der Sprache unterworfen. Ein Gedanke, ein Einfall, etc. drängt darauf, artikuliert zu werden. Auch das Verstehen wird damit vor allem ein Beziehungsgeschehen, ist also relational zu fassen. Einander verstehen ist ein Prozess, der durch kongruenten Sprachgebrauch gestiftet wird. Menschen, die miteinander kommunizieren, synchronisieren ihre Assoziationsmuster und Zeichenketten. Entbrennt jedoch nun der Streit, wie ein Zeichen wirklich sei, geht es nicht primär darum, welcher Gegenstand in der Wirklichkeit das Primat eines vermeintlichen Archetypus besitzt, sondern einerseits um Plausibilisieren von Zeichenketten und andererseits um den Machtanspruch einer Deutungsleistung. Und nun, an diesem Punkt angekommen, wird die Kraft einer Erzählung deutlich. Sie plausibilisiert eine Vorstellung innerhalb eines Zeichensystems, dass durch das Narrativ aufgebaut wird. Gleichzeitig trägt sie das Potential des Nicht-Abgeschlossenen in sich, da sie Relationen eröffnet. In ihrer Art weist sie auf etwas hin, ist ästhetisch offen, auf neue Arten wahrgenommen zu werden und provoziert neue Anschauungen, die über das je Eigene hinausgehen. Hier tritt ihre Potentialität zutage. Sie beschreitet einen narrativen Weg, der aus verschiedenen Positionen einer Sprache mitgehbar ist und so Synchronisationen vornimmt und Reaktionen hervorruft. Eine Erzählung provoziert eine Reaktion durch das, was sie zeigt, bewegt und miteinander in Beziehung setzt. Sie kann Gewusstes bestätigen, Neues eröffnen und zu wissen

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Geglaubtes auseinandertreten lassen. Sie kann Klares unklar werden lassen und Unklares aufklären. Sie kann aufdecken und verdecken. Durch ihre Provokation kann sie Assoziationsketten neu konstituieren und somit eine Veränderung im Denken, Wahrnehmen und Urteilen vollziehen. Gleichnisse, Geschichten, Erleben sozialisieren durch ihre Erzählung. Erzählungen evozieren immer wieder neue eigene Vorstellungen. Erzählungen können eine unheimliche Normativität transportieren. Dabei sind sie nie davor gefeit, immer wieder ganz anders gelesen und verstanden zu werden. Erzählungen sind Hebammen, die eigene Sinnkonstitutionen provozieren. Sie schaffen einen gemeinsamen Vorstellungraum, der jedoch wieder unterschiedlich in das jeweilige Netz der Sprache verwoben wird. Nun passiert aber etwas Wichtiges: Dieses System der Zeichen ist und wird Teil unseres Selbst. Die Sprache, die wir sprechen, ist Teil unserer spontanen inneren Haltung und Einstellung. Die Sprache beeinflusst wesentlich unsere Vorlieben, unser Begehren, unsere Sympathien und Antipathien.22 Vielleicht haben Sie schon mal beobachtet, wie zu einem Kind gesagt wurde, dass es mindestens einen Bissen Brot essen muss, bevor es Nachtisch bekommt? Es wird das Brot nicht besonders mögen, da es einzig Bedingung zur Erlangung des begehrten Nachtischs ist. Brot wird durch den Narrativ der Aufforderung zum zu überwindenden Hindernis für die begehrte Süßspeise. Hingegen gefragt, ob es vom Brot etwas abgibt, da man es selbst begehrt, bekommt das Brot selbst den Status des Begehrten zugesprochen und wird so selbst begehrenswert. Die Reaktion des Kindes kann ganz anders ausfallen. Lacan benennt das und sagt: „das Begehren beim Menschen ist das Begehren des Andern“23. Aber noch einen Schritt weiter. Freud strukturiert unsere Psyche in Bewusstes und Unterbewusstes. Ohne zu detailliert auf diese Struktur einzugehen, werden bei Freud zwei wichtige Unterscheidungen getroffen: Zwischen „Ich und Es“ und „Ich und Über-Ich“.24 Lacan nimmt das Über-Ich auf und differenziert es triadisch in Ichideal, Idealich und Über-Ich. Diese Triade wird aus topologischer Perspektive des Seins dann in die Register des Imaginären, des Symbolischen und des Realen übersetzt.25 Das Imaginäre ist die Vorstellung des idealen Selbst, die Imagination der Ganzheit und die Vorstellung man sei selbst so, wie man sich im Spiegel wahrnimmt – als gäbe es eine Version von einem Selbst, die vollständig wäre. Das Reale ist das, was sich der Realisierung 22 Jürgen Moltmann formuliert dies ganz allgemein mit dem Blick auf das biblische Menschenbild: „Der Mensch hat eigentlich keine Substanz in sich, sondern er ist eine Geschichte. Darum arbeitet die Anthropologie des Alten Testaments auch weniger mit Definitionen als vielmehr mit Erzählungen. In ihnen wird der Mensch nicht durch Begriffe festgestellt, sondern in seinen Lebensbeziehungen dargestellt“, Moltmann, Gott in der Schöpfung, 260. 23 Lacan, Buch XI, 44. Diese Formulierung ist auf drei Arten zu entfalten: Erstens den Anderen begehren, zweitens das Begehren des Anderen begehren, d. h. von ihm begehrt werden wollen und drittens das, was der Andere begehrt, begehren. 24 Vgl. Freud, GW XIII, 237 ff. 25 Vgl. Widmer, Subversion des Begehrens, 153 ff.

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entzieht, ein Fehlen, welches als Riss oder als Kluft zu bezeichnen ist.26 Das Symbolische ist das „Man“, die Sprache, der Ort von dem aus „man“ sich beobachtet. Im Ausspruch „Das macht man eben so“, wird dieser Ort adressiert. Das Symbolische ist Struktur. Sie ist als Text Ermöglichung der Realisierung und damit Strukturierung des Begehrens. Wenn Lacan sagt, „das Unbewußte ist strukturiert wie eine Sprache“27, dann soll damit dieser Umstand zum Ausdruck kommen. Erzählungen ziehen uns daher nicht einfach nur in ihren Bann, sie strukturieren vielmehr die Art wie wir reden, sie formen unsere Sprache, werden Teil unseres spontanen Selbst, strukturieren unser Denken und werden Teil unseres Selbst. Wir denken, wir sind, indem wir werden, was uns erzählt ist. Und umgekehrt, wir stellen uns vor, indem wir erzählen. Denn die Ordnung der Sprache ordnet unser Selbst und erhebt ihren Anspruch in der Realisierung. In der Erzählung des barmherzigen Samariters erhält der am Boden liegende Mensch seine besondere Bedeutung durch die Assoziationskette im Gang des Gleichnisses. Der geschundene Mensch am Straßenrand wird als Ort des Sichtbarwerdens der Nächstenliebe signifiziert. Solch ein Gleichnis kann durch diese Erzählung Teil des spontanen Selbst werden. Ein Beispiel aus dem Alltag: Am Abend des Tages, an dem ich ein wichtiges Projekt zu Ende brachte, musste ich noch zu einem Elternabend einer Schule. Die Zeit verging. Ich saß da und diskutierte mit Elternbeiräten und merkte, wie es später und später wurde. Am selben Abend war ich noch mit Freunden verabredet und der verabredete Termin nicht mehr realisierbar. SMS wurden geschrieben: noch 10 Minuten… nochmal 10 Minuten… nochmal 10 Minuten. So wiederholte es sich einige Male. Da die Freunde auf mich warteten, entschloss ich mich, die Sitzung zu verlassen. In einem günstigen Moment konnte ich mich aus der Sitzung verabschieden. Ich raste, da ich schon sehr spät war, mit dem Fahrrad zu den mich erwartenden Kollegen. Dann lag am Straßenrand ein Mann auf dem Boden. Er lag auf der Straße. Es war kalt. Ich zögerte, dachte nach, erinnerte mich und der barmherzige Samariter kam mir in den Sinn. Der Gedanke drängte sich auf, sodass ich mich fragte: Kann ich einfach vorübergehen? Da ich schon vorbeigefahren war, kehrte ich um und fragte: Kann ich ihnen helfen… er reagierte nicht. Ich fragte nochmal lauter, ob er Hilfe braucht. Er bewegte sich. Ich war ein wenig weniger besorgt, da er sich be-

26 „Das Unbewußte zeigt uns vielmehr die Kluft, über die die Neurose mit einem Realen verbunden ist – einem Realen, das selbst nicht determiniert sein muß“, Lacan, Buch XI, 28. Dietrich Zilleßen und Bernd Beuscher arbeiten in ihrem Entwurf einer profanen Religionspädagogik ebenfalls mit dieser Triade aus Imaginärem, Symbolischem und Realem: Beuscher/Zilleßen, Religion und Profanität, 150. 27 Lacan, Buch XI, 26.

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Christoph Wiesinger wegen konnte. Dann sprach er zu mir. Er machte deutlich, dass er meine Hilfe nicht benötige. Daraufhin fuhr ich weiter. Die Erinnerung an die Geschichte und der Gedanke daran bestimmten plötzlich mein Verhalten. Ich wurde unterbrochen. Ich suchte es mir nicht aus. Ich wollte es vielleicht selbst nicht mal, doch der Gedanke an den barmherzigen Samariter drängte sich mir auf: ein Fremder am „Straßenrand“. Wer bin ich, ginge ich einfach vorüber?

Ich verweise dabei nochmal auf die triadische Struktur Lacans und besonders auf die symbolische Ordnung, die durch Sprache und ihre Erzählungen strukturiert wird und im einen Selbst als Ichideal zeigt: „‘Ichideal‘ ist die Instanz, deren Blick ich mit dem Bild meines Ichs beeindrucken möchte, der große Andere, der mich beobachtet und mich antreibt, mein Bestes zu geben, das Ideal, dem ich zu folgen und das ich zu verwirklichen versuche.“28 Was nun wiederum die Frage nach der Subjektivität des Subjekts aufwirft.

4. Subjektivität und Erzählungen Schon H. Luther hat darauf hingewiesen, dass „[w]eder wir selbst noch gar andere ,wissen‘, wer wir ,eigentlich‘ sind.“29 Weder die einsame Selbstbespiegelung noch die Augen anderer lassen uns restlos erkennen, wer wir selbst sind. Subjektivität und Individualität entstehen aus der kommunikativen Situation. Sich selbst als unvertretbare Person zu erkennen, geschieht im Gegenüber zu den Anderen, in Differenz. „Erst in der Infragestellung durch den Anderen wird das Ich in seiner Einzigkeit und Unvertretbarkeit wachgerufen.“30 Individualität und Subjektivität entstehen nicht aus dem Selbstbezug, sondern aus dem Fremdbezug vom Anderen her. Die Frage nach dem Subjekt – aus dem lateinischen ,subiectum‘ als Unterwerfung – wird dann zu einer der Erwählung, da durch sie die Eigentlichkeit des Seins, als nicht vertretbar und nicht austauschbar, die Würde des Subjekts konstituiert. Der Andere ist der radikal Fremde, so Emanuel L8vinas31, den H. Luther intensiv rezipiert. In der 28 29 30 31

Zˇizˇek, Lacan, 108. Luther, Ich ist ein Anderer, 71. Luther, Ich ist ein Anderer, 76. „Die Andersheit des Anderen wird nicht annulliert, sie schmilzt nicht dahin in dem Gedanken, der sie denkt. Indem es das Unendliche denkt, denkt das Ich von vornherein mehr, als es denkt. Das Unendliche geht nicht ein in die Idee des Unendlichen, wird nicht begriffen; diese Idee ist kein Begriff. Das Unendliche ist das radikal, das absolut Andere. Die Transzendenz des Unendlichen mir gegenüber, der ich davon getrennt bin und es denke, stellt das erste Zeichen seiner Unendlichkeit dar“, L8vinas, Die Spur des Anderen, 197. „Radikal gedacht ist das Werk nämlich eine Bewegung des Selben zum Anderen, die niemals zum Selben zurückkehrt. Dem Mythos von Odysseus, der nach Ithaka zurückkehrt, möchten wir die Geschichte Abrahams entgegensetzen, der für immer sein Vaterland verläßt, um nach einem noch unbekannten Land aufzubrechen,

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Nacktheit des Anderen gewinnt die Verletzlichkeit, die Fremdheit und die Befremdung Ausdruck. Darum kann sie auch Epiphanie, Heimsuchung genannt werden. Damit bricht eine Andere, vertikale Perspektive in eine profane, horizontale ein. Der Andere stellt die Ordnung in Frage als Fremdling und Heimatloser. Die Begegnung mit ihm ist Entfremdung. Erst die Bezugnahme zum Anderen konstituiert die Intersubjektivität, aus der Subjektivität entspringt. Die Pointe, in der sich Erzählung und Religion verschränken, ist, dass sie offen bleiben muss für das Fremde. Die Fremdheit beginnt im eigenen Haus. Dort, wo mir die Welt selbstverständlich wird, schließe ich die Welt ab und verschließe mich der Welt gegenüber. Doch dort, wo diese Selbstverständlichkeiten in Frage gestellt werden und immer wieder neu um das gerungen wird, auf das wir uns beziehen bzw. von dem wir getroffen sind, hat die Fremdheit ein Primat vor dem Wissen. Der Andere ist nicht der, an dem ich vorrübergehe, sondern der, von dem ich nicht weiß, wer er ist. „Ich bin nicht legitimiert, diesen Mangel durch mein Verstehen und mein Wissen aufzuheben“32, sondern es ist vielmehr die Herausforderung, auf das Zufallende eine entsprechende Antwort zu finden.33 Damit bieten sich Erzählungen in besonderer Weise an, das Verhältnis Gottes zu den Menschen zu thematisieren. Denn dieses Verhältnis ist nicht als Struktur festzustellen, sondern ihm ist immer wieder durch Erzählungen nachzuspüren um die Offenheit für das Fremde zu bewahren – denn etwas fehlt: in mir, im Anderen, in der Religion, im Entwurf. Die Erzählungen, die wir in der Religion erzählen, sind Umordnungen, die den Platz für das Andere, das Fremde, das Ausstehende offenhalten. „Zwischen allen Ordnungen geht es um Theologie und um Religion, obwohl sie sich stets wieder in Ordnungen artikulieren müssen. Aber diese Ordnungen haben die Qualität menschlichen Entwerfens und Imaginierens. Nicht weniger, aber auch nicht mehr : ,Das die Ordnung ,konstituierende‘ Subjekt, sagt Lacan, ist ein manque-/-Þtre, ein ,zu wesender Mangel’, ein und der seinem Knecht gebietet, selbst seinen Sohn nicht zu diesem Ausgangspunkt zurückzuführen. Wird das Werk bis zu Ende gedacht, dann verlangt es eine radikale Großmut des SeIben, das im Werk auf das Andere zugeht. Es verlangt infolgedessen die Undankbarkeit des Anderen. Die Dankbarkeit wäre gerade die Rückkehr der Bewegung zu ihrem Ursprung. Aber andererseits unterscheidet sich das Werk vom Spiel oder der bloßen Verausgabung. Es ist nicht bloßer Verlust, und es ist nicht zufrieden mit der Bestätigung des SeIben in seiner Identität, die vom Nichts umringt ist. Das Werk ist weder bloßer Erwerb von Meriten noch blanker Nihilismus. Denn wie der, welcher dem Verdienst nachjagt, so macht auch der Nihilist, unter dem Anschein der Absichtslosigkeit seines Tuns sich selbst zum Ziel. Das Werk ist daher eine Beziehung zum Anderen, der erreicht wird, ohne sich als berührt zu erweisen. Es liegt außerhalb der grämlichen Genüßlichkeit von Mißerfolg und Tröstungen, durch die Nietzsche die Religion definiert“, L8vinas, Die Spur des Anderen, 215 f. 32 Beuscher/Zilleßen, Religion und Profanität, 66. 33 Vgl. Waldenfels, Grundmotive, 56 ff.

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Christoph Wiesinger Mangel, der von der symbolischen Ordnung zu übernehmen ist ( qui est /. soutenir : in dem Sinn, wie ein Christ das Kreuz ,auf sich zu nehmen hat’).‘ Religion hat es also mehr mit dem (Um)Ordnen als mit institutionalisierten Ordnungen zu tun.“34

5. Fazit Welche Perspektive wirft dies auf die Frage nach einer der Religion angemessenen Pädagogik? In der Subjektorientierung der Religionspädagogik sollte es nicht nur um die Selbstvergewisserung der Ich–Identität für das und durch das Subjekt gehen, auch nicht vom und durch den Anderen. Ist das Subjekt Ausgangspunkt und Ziel der Pädagogik, wird einseitig die imaginäre Vorstellung des Subjekts gestärkt. So wie sich das Subjekt als Subjekt in seiner Selbstbezüglichkeit selbst verkennt, befördert eine subjektorientierte Religionspädagogik, die einseitig die Stärkung des Subjekts zum Ziel hat, eine solipsistische imaginäre Selbstverkennung und damit eine Selbstentfremdung. Oder zugespitzt formuliert: eine vermeintlich reine Subjektwerdung entpuppt sich als subversive Selbstentfremdung. Um nochmal Lacan zu zitieren: „Zunächst und vor allem jedoch war es ein der Leere eigentümlicher Appell in dem zweideutigen Aufklaffen einer versuchten Verführung des anderen mit den Mitteln der Selbstgefälligkeit und der Selbststilisierung zum Monument des eigenen Narzißmus“35. „Die Gefahr besteht hier nicht so sehr in einer negativen Reaktion des Subjekts, sondern vielmehr darin, daß es wie zuvor in eine ebenfalls nur imaginäre Objektivation seiner Statik, ja seiner Statue in ein neues Statut seiner Entfremdung eingefangen wird“36.

Erst die Begegnung mit dem Anderen und die damit evozierte Wahrheit, die transportiert wird unter dem Primat des Nicht-Verstehens, lässt Raum für die Re-Organisation des Subjekts; „denn es ist die Wirkung des vollen Sprechens, die Kontingenz des Vergangenen neu zu ordnen, indem es ihr den Sinn einer zukünftigen Notwendigkeit gibt, wie sie konstituiert wird durch das bißchen Freiheit, mit dem das Subjekt sie vergegenwärtigt“37. Lacan nennt dies ein Ereignis, das das Selbst umstrukturiert. Es gibt der symbolischen Ordnung, durch die die Vergangenheit erscheint, eine neue Struktur. Das volle Sprechen fördert nicht einfach die imaginäre Entfremdung, sondern bringt eine Wahrheit des Subjekts zum Vorschein: 34 Beuscher/Zilleßen, Religion und Profanität, 34 f, mit Verweis auf Lacan nach Frank, Das Sagbare und das Unsagbare, 57, 119. 35 Lacan, Schriften I, 85. 36 Lacan, Schriften I, 89. 37 Lacan, Schriften I, 95.

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„Wir gehorchen diesem Begriff ohnehin, wenn wir, statt uns selbst, das Wort (verbe), insbesondere das im Diskurs gesprochene Wort, das wieselflink von Mund zu Mund läuft, dafür haftbar machen, den Handlungen des Subjekts, die durch es eine Botschaft empfangen, einen richtungweisenden Sinn zu geben. Dieser Sinn macht aus den Handlungen des Subjekts Akte der eigenen Geschichte und gibt ihnen ihre Wahrheit“38.

Müsste man nun die Konsequenz ziehen, dass alles Andere im Sinne des radikalen Fremden zu suchen sei? Nein. Das radikal Andere ist nicht zu finden, denn es entzieht sich. Es tritt jedoch in den Strukturen der Ordnung als Riss und Kluft auf. Das Andere ist nicht zu fixieren, sondern nur durch die Symptome verfolgbar. In diesem Anderen liegt das, was über uns hinaus ist. Erzählen kann so zur Verschiebung werden. „Echtes Erzählen von Geschichten aber kann unendlich wohltuend sein und die besten Kräfte im Menschen wachrufen“39, wusste schon Otto Haendler zu predigen, wo es jedoch nicht einfach darauf abzielt, die eigene Identität zu sichern, sondern auf der Suche nach dem zu bleiben, was sich noch nicht gezeigt hat und dem was ist eine andere Ordnung geben zu können. „Der Eindruck, den Jesus auf Menschen gemacht hat (Christus-Impression), hat sie zum Erzählen gebracht“40 und die Erzählungen Jesu haben Menschen dazu gebracht, die Dinge anders zu sehen. Das hat Menschen dazu gebracht, zu erzählen, was ihnen widerfahren ist. Es sollte also nicht „einfach“ darum gehen, die eigene Identität abzuschließen und Kontingenz zu bewältigen, sondern dem, was sich zeigt, kunstvoll zu entsprechen.41 So verbinden sich Identität und Erzählung, in ihrer jeweiligen Unabgeschlossenheit und beziehungssuchenden Dimension, indem beiden eine Sehnsucht innewohnt, die eine Bewegung nach vorne zum Anderen evoziert.

Literatur Austin, John L.: Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words), Stuttgart 1972. Benjamin, Walter : Der Erzähler. In: Ders.: Ausgewählte Werke III, Darmstadt 2018, 410–437. Bergunder, Michael: Was ist Religion? Kulturwissenschaftliche Überlegungen zum Gegenstand der Religionswissenschaft. ZfR 19 (2011), 3–55. Beuscher, Bernd / Zillißen, Dietrich: Religion und Profanität. Entwurf einer profanen Religionspädagogik, Weinheim 1998. Eco, Umberto: Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen, München 21991. 38 39 40 41

Lacan, Schriften I, 98. Haendler, Die Predigt, 278. Beuscher/Zilleßen, Religion und Profanität, 49. Vgl. Beuscher/Zilleßen, Religion und Profanität, 51.

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Freud, Sigmund: Gesammelte Werke XIII, London 1940. Gräb, Wilhelm: Ratsuchende als Subjekte der Seelsorge, in: Wilfried Engemann (Hg.): Handbuch der Seelsorge, Leipzig 2016, 206–221. Haendler, Otto: Die Predigt. Tiefenpsychologische Grundlagen und Grundfragen, Berlin 1960. Krämer, Sybille: Sprache, Sprechakt, Kommunikation. Sprachtheoretische Positionen des 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2001. Kunstmann, Joachim: Religionspädagogik, Tübingen 22010. Lacan, Jacques: Schriften I, Olten 1973. Lacan, Jacques: Schriften II, Olten / Freiburg im Breisgau 1975. Lacan, Jacques: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar, Buch XI, Wien 2015. L8vinas, Emmanuel: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie. Freiburg, München 62012. Luther, Henning: „Ich ist ein Anderer“. Zur Subjektfrage in der Praktischen Theologie, in: Ders.: Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts, Stuttgart 1992, 62–87. Luther, Henning: Identität und Fragment. Praktisch-theologische Überlegungen zur Unabschließbarkeit von Bildungsprozessen, in: Ders.: Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts, Stuttgart 1992, 160–182. Meyer-Blanck, Michael: Vom Symbol zum Zeichen. Plädoyer für eine semiotische Revision der Symboldidaktik. EvTh 55 (1995), 337–351. Moltmann, Jürgen: Gott in der Schöpfung. Ökologische Schöpfungslehre, München 3 1987. Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse, Hamburg 2013. Pohl-Patalong, Uta: Religionspädagogik. Ansätze für die Praxis, Göttingen 2013. Tylor, Charles: Das Unbehagen an der Moderne, Frankfurt am Main 1995. Waldenfels, Bernhard: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt am Main 42012. Widmer, Peter: Subversion des Begehrens. Eine Einführung in Jacques Lacans Werk, Wien 1997. Zˇizˇek, Slavoj: Lacan. Eine Einführung, Frankfurt am Main 32011.

Erzählen: Formen

Ulrich Löffler

Taxonomie, Naturgemälde und das Gehen im Freien Der Bildungsplan 2016 und das Erzählen im Religionsunterricht „Eine Theorie, das ist ein Gebäude mit vielen Zimmern, und in allen Zimmern brennt Licht. Und in allen Zimmern tanzt der, der das alles erdacht und gemacht hat. […] Theorie ist eine zweite Sprache für eine erste. In der ersten Sprache gibt es alles von selbst. Die zweite Sprache ist die Lebenseinschränkung durch das Für-wahr-halten müssen. Das Wahrheitsgewerbe! Der Inbegriff dieses Gewerbes: Die Theorien.“ Martin Walser, Statt etwas oder Der letzte Rank

1. Vortour : Drei Unterrichtssituationen Religionsunterricht in Klasse 5. Wir sprechen über das Kirchenjahr, genauer über Ostern. Im Klassenzimmer zum Einsatz kommt eine Geschichte mit durchaus gebrochenen Verläufen: Eine kleine Familie besucht die Osternacht. Die Ehe der Eltern ist in der Krise. Die Scheidung ist wahrscheinlich. Auch das Kind weiß darum. Es hat Angst. Diese Angst geht mit in die Nacht. Als dann die Osterkerze vom Vater zur Mutter weitergegeben wird, entsteht im Kind die bange Frage: Ist da noch Hoffnung? Beim Lesen der Geschichte beginnt Martina zu weinen. Es stellt sich heraus: Ihre Eltern stehen vor der Scheidung. Wie soll der Unterricht jetzt weitergehen? Der Lehrer fragt: „Möchtest du darüber reden?“ „Ja,“ sagt Martina, „ich will das.“ Und sie erzählt von ihrer Hoffnung und ihren Ängsten. Da gehen fünf oder sechs Finger nach oben. Alle gehören zu Kindern, die bereits eine Scheidung der Eltern hinter sich haben. Sie erzählen von ihren Erfahrungen. So trösten sie Martina. Religionsunterricht in der Kursstufe des Gymnasiums. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn wird gelesen. Bei der Lektüre werden die halblauten Kommentare Annas in den hinteren Bänken immer deutlicher. Schließlich fällt Anna das vernichtende Gesamturteil: „So eine blöde Geschichte!“ Der Lehrer ist irritiert. „Was ist los, Anna?“ Anna antwortet: „Das ist die Geschichte meines Vaters und seines Bruders. Mein Onkel brach einst zur Selbstfindung,

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mit viel Geld ausgestattet, nach Indien auf. Dort lernte er eine Frau kennen. Die beiden bekamen ein Kind. Unterdessen wurde mein Großvater krank. Mein Vater und wir, seine Familie, pflegten ihn, brachten ihn wieder auf die Beine. Und dann ging in Indien, bei meinem Onkel, alles den Bach runter. Kein Geld mehr, Frau weg. Er bettelte bei meinem Großvater um Geld für den Rückflug. Und er bekam es. Seitdem hat mein Großvater nur noch Augen für diesen Sohn.“ Religionsunterricht in der 10. Klasse der Realschule. Wir lesen im Schulbuch eine harte und mutige Gerichtspredigt Helmut Gollwitzers, kurz nach der Reichspogromnacht 1938. Gollwitzer mahnte: Wenn ihr jetzt nichts tut, könnt ihr eure ganzen Gottesdienste einfach seinlassen. Die Predigt steht auf der einen Seite des Buches. Auf der anderen steht unter anderem die fiktive Kurzbiographie eines Marinesoldaten. Er heißt Martin Gottschalk und ist mit Uniform endlich wieder wer. Die Politik der Nationalsozialisten gegen Juden und Kommunisten findet er gut. Der Arbeitsauftrag für die Schülerinnen und Schüler lautet: Stelle dar, wie Gottschalk wohl auf die Predigt reagieren würde. Plötzlich meldet sich Chris, ein Russlanddeutscher, der Grübler der Klasse. Er sagt: „Ich habe da mal eine Frage. Nach dem Realschulabschluss will ich zur Bundeswehr, vielleicht zu den Sanitätern. Wissen Sie, ich bin ja Christ. Und ich frage mich ernsthaft: Komme ich vielleicht in die Hölle, wenn ich in einem System arbeite, das massenhaft tötet? Wie ist das denn nun? Was sagen Sie?“

2. Basislager : Humboldts Erkenntnisse am Chimborazo Auch bei religionspädagogischen Erkundungsgängen ist wenigstens in Sachen bildungshistorischer Beweispflicht eine gewisse gesteigerte Trittsicherheit erreicht, wenn der Name „Humboldt“ ins Spiel gebracht wird. Mit den folgenden Überlegungen möchte ich dieses probate Mittel der Seriositätssteigerung durch Zitation ein wenig variieren. Und, um gleich am Anfang die Leitmetapher vom Gehen kräftig zu strapazieren: Der Einstieg in die zu beschreitende Thematik soll zwar über einen Humboldt-Steig erfolgen. Allerdings ist der pädagogisch nicht ganz so ausgetretene Pfad namens „Alexander von Humboldt“ der Weg der Wahl. Ein Naturforscher (so hat sich A. v. Humboldt selbst immer wieder bezeichnet) wird also zum Guide für einen theologisch hoffentlich verantworteten trail an der Grenze zwischen Unterrichtspraxis, Bildungsplananalyse und Erzähltheorie. Beginnen möchte ich mit der Erinnerung an eine denkwürdige Bergbesteigung mit dem Ergebnis einer ebenso denkwürdigen darstellungstechnischen Wandlung im Hinblick auf die Beschreibung der natürlichen Umwelt. Worum geht es historisch? Ab dem 22. Juni 1802 begann Alexander von Humboldt zusammen mit einer kleinen Reisegruppe den Aufstieg zum 6310 Meter hohen Chimborazo.

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Die allein schon bergsteigerisch hoch anspruchsvolle Tour war für Humboldt natürlich die Gelegenheit, Forschungen zu betreiben, und zwar in der ihm stets gemäßen Art und Weise: möglichst umfassend, empirisch radikal und ohne Schonung der eigenen Person oder der Leistungsfähigkeit seiner Gefährten. Natürlich wurden auf der Tour aberwitzigerweise auch Messinstrumente für die unterschiedlichsten Forschungszwecke mitgeschleppt. Die Vermessung der Welt kannte für den Forschungsjunkie keine Höhengrenze. Die Biographie von Andrea Wulf vermeldet: „Auf 4750 Meter weigerten sich die Träger weiterzugehen. Humboldt, Bonplan, Montifar und Jos8 teilten die Instrumente zwischen sich auf und setzten ihren Aufstieg alleine fort […] Schon bald krochen sie auf allen vieren einen hohen Grat entlang, der an manchen Stellen nur fünf Zentimeter breit war.“1 Barometer und Thermometer wurden von Humboldt immer wieder trotz größter Widrigkeiten durch Eiseskälte und Wind in den Schnee gerammt. Man erreichte den Gipfel nicht. Eine unüberwindliche Gletscherspalte in Kombination mit Zeitnot verhinderten den Abschluss der Bergbesteigung. Die letzte Messung Humboldts markierte die Höhe 5917 Meter. Aber auch diese Höhe ist im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubend, wenn man sich nur einmal die Qualität der Schuhe und der Kleidung vorstellt. Damit soll es mit der alpinistischen Heldenerzählung genug sein. Entscheidend ist nämlich jetzt: Humboldt kam vom Chimborazo mit einem neuen Blick auf die Natur zurück. Der Blick von den Hängen des Berges brachte für Alexander von Humboldt nahezu mit einem Schlag einen neuen Blick auf das Gesamtgefüge der natürlichen Umwelt des Menschen mit sich. Seinem Bruder Wilhelm schwante schon so etwas, als er einmal formulierte, Alexanders Verstand sei dazu gemacht „Ideen zu verbinden, Ketten von Dingen zu erblikken“.2 Noch einmal Andrea Wulf: „Humboldt erkannte, dass die Natur ein Netz des Lebens und eine globale Kraft ist. Er war, so sagte ein Kollege, der Erste, der begriffen hatte, dass alles mit allem ’wie durch tausend Fäden’ verbunden ist.“3 Das klingt wie etwas billige Naturmystik. Humboldts Einsicht in die vielfältigen und beständigen ökologischen Verbindungen ist mit der Detailarbeit aus jahrzehntelangen Forschungen, tausenden Zeichnungen und sehr langen Expeditionsreisen hinterlegt. Der erhellende – nennen wir ihn mit dem Modewort ruhig „ganzheitliche“ – Blick vom Chimborazo hatte also seine entbehrungsreiche Vorgeschichte. Erhellende Gesamtschauen sind wahrscheinlich niemals im Instant-Verfahren zu haben. Das weiß jeder, der forscht – und auch jeder, der mit Schülerinnen und Schülern den steinigen und steilen Weg der Begehungen von Gegenstände jedweder Art geht. 1 Wulf, Humboldt, 120. 2 Wilhelm von Humboldt an Karl Gustav von Brinkmann 18. März 1793, zitiert nach Wulf, Humboldt, 121 (Anm. 10). 3 Vgl. ebd.

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Humboldt hat seinen neuen Blick auf die Natur selbst kartiert. „Kartierung“ ist aber eigentlich schon der falsche Ausdruck. Er nennt die Visualisierung seiner Erkenntnis „Naturgemälde“. Die ersten Skizzen entstanden noch in Südamerika, später wurde die Zeichnung prachtvoll ausgestaltet. Humboldt entwarf, durchaus typologisierend und in einen globalen Weltmaßstab eingezeichnet, Klimazonen und Pflanzengesellschaften, eine Einheit in der Vielheit. Das Neue: Die Pflanzen wurden nicht mehr in taxonomische Tabellen nach Gattungen und Arten eingeordnet. Die Vegetation wurde vielmehr im Hinblick auf Klima und Standort untersucht und entsprechend verortet. Damit durchbrach Humboldt also die bewährte und sichernde Beschreibung der Pflanzenwelt durch taxonomische Ordnungssysteme – wie dies durchaus kundig und beeindruckend durch Carl von Linn8 durchexerziert worden war. Im Humboldtschen Geist können wir durchaus noch Tiere, Bodenverhältnisse etc. in das Gesamtbild einzeichnen. Es entsteht ein Blick auf die Welt als Ökosystem. Komplex, aber mit Ordnungsstrukturen versehen, die neu und wenigstens damals verblüffend waren. Über den zukunftsweisenden Charakter dieser im Jahr 1802 durchaus neuen Perspektive muß man im 21. Jahrhundert nichts mehr sagen.

3. Route 1: Unterrichtsszenen betrachten – Erzählen entdecken Wem angesichts des bisherigen Weges der Bildungsplanbezug und die narratologische sowie theologische Firmierung fehlt, mag sich beruhigen. Beides wird sogleich sichtbar, wir müssen nur noch um eine Ecke biegen. Die den weiteren Weg markierende These lautet: Der Bildungsplan 20164 kann als Instrument benutzt werden, Religionsunterricht unter quasi unterrichtsökologischer Perspektive zu gestalten und in den Blick zu nehmen. Die Wahrnehmung und Umsetzung dieser Perspektive schließt für Lehrkräfte ausdrücklich die mühselige, aber vielversprechende Arbeit an einer unterrichtssensiblen Theologie ein. „Unterrichtssensible Theologie“ meint: Theologischer Topoi werden angesichts von konkretem Unterricht in seinen bisweilen unübersichtlichen, taxonomisch eben nur zum Teil fasslichen Realisationen, ausgemacht und reflektiert. Wir befinden uns jetzt an einem Punkt unseres Weges, wo die drei erzählten Unterrichtsszenen noch einmal in den Blick genommen werden sollten. Zu hoffen ist, dass die drei Szenen mitgegangen sind, im Tempo vielleicht ein wenig zurückhängend und seitlich am Hauptweg unserer Aufmerksamkeits4 Wenn nicht anders vermerkt ist mit diesem Begriff der im Jahr 2016 veröffentlichte Bildungsplan des Landes Baden-Württemberg für das allgemein bildende Gymnasium gemeint.

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ökonomie gehend. Bloßes Zurückschauen ist hoffentlich nicht vonnöten. Eine solche Haltung ist nach alttestamentlichem Zeugnis bekanntlich sklerosefördernd.5 Neutestamentlich wird uns gar mitgeteilt: Zurückschauen ist in gewissen Konstellationen die allerunverträglichste Arbeitshaltung, wenn es darum geht, förderlich und mit Augenmaß am Reich Gottes zu arbeiten.6 Wenn die drei Szenen vom Anfang dieser Überlegungen noch einmal aufgerufen werden, dann hat das seinen weiterführenden Grund. Es soll nämlich gefragt werden, inwiefern der Bildungsplan 2016 nicht nur als Planungs-, sondern auch als Analyseinstrument für konkreten Unterricht tauglich ist. Damit sollen Bildungspläne generell nicht nur als tendenziell hochsterile Vorgaben für die Planung von Unterricht verstanden werden, denen man als Lehrkraft mühsam zu entsprechen versucht. Vielmehr soll gefragt werden: Inwiefern kann ein Bildungsplan als Werkzeug taugen, das im oft weiten und steinigen Feld zwischen Unterrichtsanspruch und Unterrichtswirklichkeit ebenso kontingente wie leicht zu übersehende Unterrichtsereignisse hinsichtlich ihres verborgenen didaktischen Mehrwertes präziser zu erfassen? In der ersten Szene (Die Geschichte von der Osterkerze in der 5. Klasse) schert eine vom Lehrer zunächst einmal auf das Thema „Kirchenjahr“ ausgerichtete Geschichte7 urplötzlich aus. Genauer : Sie wird im Kontext einer Klassenkonstellation, von der der Lehrer keine Ahnung hat, zum Katalysator einer kollektiven Beratungssituation für ein gerade werdendes „Scheidungskind“. Sowohl in der Geschichte als auch in der Rezeptionssituation erscheint das Licht der Osterkerze alles andere als ein freundlich-ungebrochener Lichtimpuls in einer harmlosen Unterrichtskonstellation, in der „man“ eben „irgendwie“ Ostern „bespricht“. Auch das helle Osterlicht leuchtet offensichtlich markant und oft unergriffen in der Finsternis. Es existiert jedenfalls nicht als strahlend-milde Dauerbeleuchtung im unangefochtenen, aber realitätsfernen Biotop einer theologia gloriae.8 Die eigentliche unterrichtsanalytische Fragestellung lautet: Kann die Situation mittels des Bildungsplans noch einmal genauer qualifiziert werden? Was ist geschehen? Eine Erzählung provoziert eine (für den Lehrer) in dieser Form unerwartete Reaktion einer Schülerin und dann einen wahrhaft seelsorgerlichen Diskurs, bei dem der Lehrer nur noch schweigen kann. Schichtung und Verlauf der Szene kann in der Darstellungslogik von Humboldts Naturgemälde so dargestellt werden: Die Unterrichtssituation ist gewissermaßen durch vielfältigen Bewuchs gekennzeichnet. Es geht im realen Unterrichtsgeschehen nicht monokulturell um Ostern oder gar nur um die Osternacht. Erzähltheoretisch präzisiert: Im Verlauf der Unterrichtssequenz spielen die small stories9 der Schülerinnen 5 6 7 8 9

Vgl. 1. Mos. 19, 26. Lk. 9, 62. Vgl. dazu Krenzer, Ostern, 255–257. Vgl. dazu Luther, Disputatio, 66 (These 21). Vgl. zur Sache: Klein/Matias, Wirklichkeitserzählungen, 1 und bes. 7; zur literaturwissenschaf-

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und Schüler eine gewichtige Rolle. Sie können im konkreten Fall verstanden werden als verdichtete Alltagserfahrungen, die als Remedium für ein gerade werdendes Scheidungskind vorgebracht werden. Mit ihren Ratschlägen haben sich die Schülerinnen und Schüler auf die Perspektive einer anderen eingelassen. Ohne Zweifel haben sie hier eine Situation erfasst, in der es um letzte Fragen von Verantwortung10 ging. Die letzten Formulierungen speisen sich aus den prozessbezogenen Kompetenzen des Bildungsplans 2016. Dabei handelt es sich um jene im Bildungsplan ausgewiesenen Fähigkeiten, deren Einübung und Stärkung die ganze Schulzeit über den Unterricht prägen sollte – in, mit und unter allen thematischen Befassungen, die für den Unterricht geplant werden.11Die scheinbar ins unwägbar Komplexe wegkippende Unterrichtssituation bot eine dichte Gelegenheit, eine der jahrgangsübergreifenden Kompetenzen lebensnah einzuüben. Die zweite Situation thematisierte eine biographisch begründete widerständige Reaktion auf Lukas 15. Die biographisch aufgeladene Thematisierung des zunächst immer wieder Unverständlichen (Warum reagiert der Vater, wie er reagiert?) spitzt jenen theologischen Skandal zu, mit dem dieses Gleichnis Jesu exegetisch immer wieder markiert wird. Die im Evangelium bezeugte Erzählung provoziert die Frage: So also soll Gott sein? Die Fassungslosigkeit hervorrufende Großzügigkeit des Vaters, die exegetisch immer wieder an Erzählelementen festgemacht wird,12 konnte die Schülerin an ganz anderen, nur angedeuteten Details im Verhalten ihres Großvaters gegenüber ihrem nach bürgerlichen Maßstäben völlig missratenen Onkel ausmachen. Schülerprotest gegen Lukas 15, 11–32 kann und wird im Klassenzimmer immer wieder auftauchen. Das ist schon aus Konstruktionsgründen mehr als wahrscheinlich. Hartmut von Hentig – er kann vor dem Hintergrund seiner eigenen Lebensgeschichte gerade hier noch einmal zu Wort kommen – formulierte in einer Bibelarbeit: „Ich höre: ’Ein Mann hatte zwei Söhne’. Und schon arbeitet es in mir, schon weiß ich, das wird ein Drama.“13 Das Gleichnis wäre im Lukasevangelium also einfach schlecht erzählt, würde nicht schon anlässlich des schieren Lesens beim einen oder anderen in einer Schulklasse die Protestflagge aufgezogen. In der erzählten Unterrichtsszene geschieht aber noch mehr, und zwar in dreifacher Hinsicht: In pädagogischer Perspektive und mit den Worten von Wolf-Dietrich von Freytag-Loringhausen wurde der Energiehaushalt im Unterricht14qua Irritation durch eine Schülerin kräftig und im positiven Sinne vergrößert. In theologischer Perspektive wurde hier durch ein kontingentes Zusammentreffen von biblischem Text und biogra-

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lichen Topologie vgl.Scheidt/Stukenbrok, Erzählen, 530 sowie Georgopoulou, Small stories (passim). Bildungsplan 2016, 10. Vgl. dazu Bildungsplan 2016, 8–9. Vgl. dazu nur Ostermeyer, Dabeisein, 626. V. Hentig, Verlorene Söhne, 70. Vgl. v. Freytag-Loringhoven, Energierhaushalt, 121.

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phischer Formation die massive Sprengkraft von Jesu Gotteserzählung in den Gleichnissen aktiviert. Noch pointierter : Die familiäre Situation der Schülerin bildete für das irritierende Verhalten des Vaters eine ähnlich kräftige Hintergrundfolie wie die Rahmenverse zu den Gleichnissen in Lukas 15. Der Bibeltext stellt die Positionen vor Beginn der Gleichniserzählung klar auf. Die Pharisäer und Schriftgelehrten, also die theologische Reflexionselite, protestiert gegen Jesus: „Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen.“15 In erzähltheoretischer Perspektive spitzt sich bei der Schülerin im Lesen das mentale Figurenmodell des ungerechterweise liebenden Vaters durch die Familienstory zu.16Der Vater in Lukas 15 nimmt für Anna die Züge ihres Großvaters an. Man könnte auch sagen: Annas eigene Familiengeschichte bildet einen mächtigen Resonanzraum für die biblische Erzählung. Ein durchaus schmerzhafter Glücksfall! In metaphorischer Aufnahme des Konzeptes vom Naturgemälde muss nun eine nur scheinbare Trivialität noch einmal ganz klar herausgestellt werden: Die Bewegung im konkreten Ökosystem Schule erfordert auch im Nachgang einer Unterrichtsstunde hoch differenzierte Aufmerksamkeit. Im Beispiel geredet: Nach einer solchen Unterrichtsstunde muss eine Lehrkraft besonders intensiv mit jener Frage umgehen, die nach jeder gehaltenen Schulstunde im Raum steht: Wie geht es in dieser Lerngruppe konkret unterrichtlich weiter? Nehmen wir nun an, Annas Lehrer hätte Gelegenheit nach der denkwürdigen Oberstufenstunde im Bildungsplan 2016 geblättert, um ausmachen zu können wie er die entstandene Situation weiter positiv aufnehmen kann. Jedenfalls hätte er weiter daran arbeiten können, historische und theologische Sichtweisen auf das Leben und Wirken Jesu mit den Schülern weiter zu erläutern.17 Aber was heißt in diesem Zusammenhang „erläutern“? Der Zorn der Schülerin markierte sehr deutlich die Angriffigkeit von Jesu Verkündigung der Zuwendung Gottes zum Verlorenen. Genau diese Skandalträchtigkeit hätte für alles Folgende ein stabiles Grundgerüst werden können. Wie an einem Kristallisationskern hätte sich daran vieles organisieren können, was Schülerinnen und Schüler in der Oberstufe über Jesus historisch rückgebunden und theologisch verantwortet erfahren sollen: Das, was man gemeinhin und wohl nicht ganz stimmig die „Ethik Jesu“ nennt, seine vielfältigen Auseinandersetzungen in den Konflikten seiner Zeit, die Gründe für seine Passion. Dabei ist auch klar, dass man theologisch und didaktisch auf der Hut sein muss. „So also soll Gott sein?“ Diese Frage zu einer wesentlichen Pointe von Lk. 15, 11–32 bleibt nicht nur angesichts unserer Gerechtigkeitsbegriffe im Raum stehen. Sie erzeugt im möglichen Fortgang des Unterrichts zugleich ein theologisches und ein didaktisches Problem. Jesus verkündete eben nicht als Vorläufer von Marcion den völlig „anderen Gott“, dessen Sohn möglichst abgekoppelt von Israels 15 Lk. 15,2. 16 Vgl. dazu Köppe/Lindt, Erzähltheorie, 121. 17 Vgl. Bildungsplan 2016, 21 (Kompetenz 3.4.4 (1)).

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Geschichte in Gleichnissen die Szenarien der heilvollen Gott-Mensch-Beziehung völlig neu interpretiert. „Von welchem Gott reden wir?“18 Die fragende Mahnung Falk Wagners gerade an eine biblisch sensible Religionspädagogik bleibt also auch angesichts eines der bekanntesten Gleichnisse Jesu in Kraft. Der unbestreitbar wahre Satz „Im Unterricht klappt nicht immer alles!“ ist hinsichtlich seiner theologischen Brisanz damit keineswegs so harmlos wie er klingt. Auch die dritte Szene aus der 10. Klasse aus einer Realschule lebt von einer Kippbewegung. Die Klasse ist mehr oder weniger intensiv in das Lernarrangement eines Lehrbuchs vertieft.19 Einem kritisch-prophetischen Predigtausschnitt von Helmut Gollwitzer, formuliert anlässlich der Reichspogromnacht 1938, werden verschiedene Kurzbiographien gegenübergestellt. Gollwitzer predigt vor einer heterogenen Gemeinde. Er findet deutliche Worte gegen die Passivität der Christenmenschen angesichts der Angriffe auf Juden. Einer der kurzen Schulbuchtexte erzählt nun vom Predigthörer Martin Gottschalk; der Kirchgang gehört für Gottschalk zur bürgerlichen Anständigkeit. In seiner neuen Marineuniform ist der endlich wieder jemand. Der Eintritt in Hitlers Armee hat ihm einen Statusgewinn verschafft. Auf der politischen Ebene geht für Martin Gottschalk alles goldenen Zeiten entgegen. Die nationalsozialistischen Gewaltaktionen gegen Kommunisten und Juden werden von dem bürgerlich-christlichen Marinesoldaten vollständig gebilligt. Didaktisch gesehen bietet das Lehrbuch durch dieses Arrangement gewissermaßen gangfreundliche trails. Die Schülerinnen und Schüler können am Beispiel die Haltung verschiedener Christen zum NS-Regime vergleichend durchgehen. Auch der Bildungsplan für die Sekundarstufe I20 hat die Spannbreite zwischen dem feurig und prophetisch redenden Gollwitzer und dem gewohnheitschristlichen Marinesoldaten Gottschalk im Blick. Und plötzlich meldet sich Chris, der deutschrussische Grübler mit dem Wunsch Sanitätssoldat zu werden. Mit seiner Meldung stehen mächtige Fragen im Raum. Kann ich denn heute als Christ Soldat werden? Falle ich nicht dem Gericht Gottes anheim, wenn ich in einem System arbeite, das Menschen tötet und in dem ich vielleicht einmal selbst töten muss? Das tertium comparationis zwischen Gollwitzers Predigt und dem Bedenken des Schülers ist die Frage nach dem Gericht Gottes. Bereits der Prediger des Jahres 1938 hatte den Hörerinnen und Hörern diese Perspektive vor die Füße gelegt, wenn denn ihre Passivität angesichts des Unrechts andauerte. Die Frage, die Chris stellt, ist deshalb nur zur Hälfte eine metabasis eis allos gennos. Er springt natürlich nicht ohne Grund und Anlass aus der Kirchengschichte in die aktuelle Pro18 Diese Frage stellte Falk Wagner anlässlich einer Tagung zum Thema „Kinderbibeln“ den versammelten Religionspädagoginnen und Religionspädagogen (Mitgeteilt von Reinhard Wunderlich/Bamberg). 19 Vgl. zum Folgenden Religionsbuch 9/10, 138 f. 20 Vgl. Bildungsplan Sekundarstufe 1, Kompetenz 3.3.6 (1), wo die exemplarische Bearbeitung von christlichen Haltungen gegenüber totalitären Regimen („z. B. NS-Zeit) gefordert ist.

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blemlage einer eigenen ethischen Fragestellung. Aber Chris transponiert auch die Frage nach einer nicht suspendierbaren Letztverantwortlichkeit vor Gott in die Gegenwart. Er stellt diese Frage in durchaus problematischer Schärfe und Formatierung. Gerade die Kompetenzorientierung des Bildungsplans 2016 lässt es nun aber zu, dass dieser abbiegende Schwung aus der geschichtlichen Situation in die Gegenwart nicht als eigentlich unschickliche Kehre angesehen wird. Schülernähe ist in der Tiefenarchitektur des Bildungsplans ein strukturgebendes Element für Aufbau und Zielorientierung der Bildungsarbeit. So wird der auf den ersten Blick staksende Gang vom Jahr 1938 ins Jahr 2018 zur legitimen Bewegung im Raum des Unterrichts. Dieser Raum öffnet sich durch die fiktive biographische Erzählung im Lehrbuch. Er wird durch die small story, die ganz und gar nicht alltägliche Alltagsgeschichte des Schülers, weiter konturiert.21 Im trockenen Vorwortslang des Bildungsplans ist zu lesen: „Der Unterricht lebt von der wechselseitigen Durchdringung der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler und der für das Fach spezifischen Inhalte und Problemstellungen.“22 An dieser Stelle ergibt sich eine interessante, von manchem vielleicht nicht erwartete Brücke zu einer religionspädgogischen Konzeptualisierung. Gerade die bildungsplanarchitektonische Metapher einer wechselseitigen Durchdringung von Lebenswelt und Fachspezifik verweist auf eine Grundthese in Ingrid Schoberths Überlegungen zum diskursiven Religionsunterricht. Danach ist in einer Schulklasse ein kantenreicher Diskurs theologisch, kommunikationstheoretisch und unterrichtspraktisch vielleicht schwieriger, aber letztlich spannender und effektiver als ein glattgeschmirgelter Dialog mittels methodisch abgesicherter Correctness.23

4. Route 2: Erzählen einplanen Nicht nur die religionspädagogischen Praktiker werden angesichts der bisher zurückgelegten Wegstrecke vielleicht fragen: Wie steht es nun um die Planung von Unterricht und zwar mit Rücksicht auf jene Erzählpotentiale, die im Bildungsplan 2016 explizit oder implizit avisiert sind? Das naheliegende Verfahren, nämlich eine haarkleine und umfassende Analyse, wo und wie überall biblische Erzählungen „vorkommen“, unterbleibt an dieser Stelle. Gleichwohl wird die Bibel eine Rolle spielen. Der spezifisch evangelische Zugang zur spezifischen Rationalität des Religionsunterrichts wäre ansonsten vermauert.24 Eine entsprechende Planung von Unterricht kann dabei dort ansetzen, 21 22 23 24

Vgl. dazu Lindner, Religiöses Lernen, 19 (Der Mehrwert alltagsgeschichtlicher Perspektiven). Bildungsplan 2016, 9. Vgl. etwa Schoberth, Diskursive Religionspädagogik, 31 f. Vgl. dagegen zu katholischen Akzentuierungen: Kropac, Religion, 73–76, wo die ontologische Korrelation zwischen philosophischer und theologischer Rationalität über die Kategorien

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wo man im Umgang mit den Kompetenzformulierungen des Bildungsplans nicht verbissen, sondern kreativ die sogenannten Operatoren ins Spiel bringt. Zwei Beispiele mögen hier genügen. Für die Oberstufe des allgemein bildenden Gymnasiums wird als Kompetenz im Bildungsplan angelegt: Die Schülerinnen und Schüler können anhand eines ethischen Konfliktfeldes (zum Beispiel Krieg und Frieden, Ökonomisierung, Globalisierung, Medienethik) biblische Gerechtigkeitsvorstellungen entfalten.25 Die aktualisierende Arbeit am biblischen Begriff der Zedakah, verstanden als Gemeinschaftstreue,26 kann im Unterricht natürlich über die Analysen von Verteilungskurven oder die Bearbeitung von Risikoszenarien in Kriegen der sog. Dritten Welt exemplifiziert und „nachvollziehbar veranschaulicht“27 werden. Zedakah und Shalom gehören zusammen; dies kann auch mit Ausschnitten aus den Wirtschaftsteilen der Tageszeitungen plakatiert werden. Nun könnte allerdings für die Arbeit an dieser Kompetenz auch ein anderer, der Narration zugeneigter Ausgangspunkt denkbar sein. Der dafür avisierte Text empfiehlt sich selbst mit einem Zitat: „Wenn Sie 250 Millionen Euro haben, dann schmeißen Sie das Geld zum Fenster raus, und es kommt zur Tür wieder rein.“28 Diese Aussage des Bauunternehmers Christoph Gröner verdichtet eine Selbsterfahrung außerordentlich reicher Menschen; ihr Konsum (zum Beispiel der Kauf von lukrativen Immobilien oder Autos mit Wertsteigerungsgarantie) vermindert nicht etwa, sondern vermehrt das Kapital der Vermögenden. Zu finden ist der pointierte Satz in einem Text des Zeitmagazins vom Mai 2018. Die darin erzählten Lebensumstände des Multimillionärs exemplifizieren die Möglichkeiten sich mit seinem Reichtum Gemeinschaftsaufgaben zuzuwenden oder aber sich ihnen zu verweigern. Christoph Gröner hat Macht und er spricht darüber. Der sich gegenwärtig verschärfende Zusammenhang von Macht und Geld kann über diese biographische Erzählung auf spezifische Weise entfaltet werden, ohne dass das Klischee vom radikal bösen Kapitalisten bedient werden muss; denn Christoph Gröner weiß auch um seine Grenzen und Abhängigkeiten. Im Jubiläumsjahr von Marx sei erwähnt: Eine schlichte Perhorreszierung der Kapitalisten kannte auch der berühmte Sohn Triers nicht – dies gilt wenigstens für die Frühschriften des Philosophen. Marx sah damals anthropologisch allgemein nachvollziehbare dialektische Prozesse um die Dialektik von Herr und Knecht am Werke. Von

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„Vernunftgeleitete Bemühung um Gotteserkenntnis“ und „Verstehenwollen des objektiven Glaubens“ stark gemacht wird. Bildungsplan 2016, Kompetenz 3.5.2 (2) (vgl. 27). Vgl. dazu nur : Fischer, Art. Gerechtigkeit, 2.3.2 (Recht und Gerechtigkeit) sowie 2.3.3 (Ethik und Rechtsprechung). Bildungsplan 2016, 33 (Erläuterungen zum Operator „Erklären). Friedrichs/Spinrath, Gröner, 1.

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ihnen weiß auch Gröner.29 Gröner erzählt vom unerbittlichen Einfluss der Fremdinvestoren, die ihn, den Mächtigen, mittels Geld vor sich hertreiben. „Die Geschichte steht für den Mann“30 formulierte einst Wilhelm Schapp; eine sinnvolle Ergänzung könnte lauten: die Geschichte steht manchmal auch für eine ganz bestimmte soziale, politische oder historische Problemkonstellation. In didaktischer Hinsicht muss noch eine weitere Anmerkung hinzugefügt werden. Am biographischen Porträt von Christoph Gröner selbst finden sich etliche Ausgangspunkte zu einer theoretischen Analyse gegenwärtigen Wirtschaftens. Das Narrativ wird so zum Wurzelwerk für die notwendige Abstraktion. Auch entlang der hier nur grob skizzierten Konstellationen kann sich der didaktische Operator „Entfalten“ im Unterricht realisieren. Ein letztes Beispiel führt noch einmal aus der Oberstufe heraus. In der Klassenstufe 7/8 sollen die Schülerinnen und Schüler in die Lage versetzt werden, Begründungen christlicher Freiheit (zum Beispiel verlorener Sohn, Paulus, Luther) darzustellen.31 Der Operator „Darstellen“ beinhaltet (so sagen es die Einheitlichen Prüfungsanforderungen der Kultusministerkonferenz) die Verwendung von eigenen Formulierungen bei der Präsentation von Gedankengängen eines Textes.32 Stellen wir uns vor, eine Lehrkraft entschließt sich dazu, sowohl den verlorenen Sohn als auch Paulus als auch Luther zu thematisieren. Stellen wir uns weiter vor: die Lehrkraft lässt gegen Ende des Unterrichtsweges die Schüler einen virtuellen Whatsapp-Dialog zwischen dem verlorenen Sohn, Paulus und Luther schreiben oder ein paar Einträge in einem fiktiven Blog „My Freedom“ konzipieren. Die methodischen Präparationen gingen von jenen mächtigen digitalen Narrationsagenturen aus, die das Leben der Schülerinnen und Schüler heute unzweifelhaft prägen.

5. Gipfelblick: Erzählen und Digitalisierung Angesichts eines sich zunehmend digitalisierenden Welt- und Selbstumgangs wurde und wird die oben skizzierte methodische Entscheidung natürlich nicht einfach unkritisch nachzuvollziehen sein. Wird die Digitalisierung dann zur Voraussetzung für guten Religionsunterricht erklärt? Kulturkritisches ist in 29 Vgl. zur primär entfremdungstheoretischen Konzeptualisierung der Argumentationsfigur beim frühen Marx: Bluhm, Freiheit, 66 f. 30 Vgl. dazu insgesamt Schapp, In Geschichten, S. 103–106. 31 Vgl. Bildungsplan 2016, Klasse 7/8. Bereich Jesus Christus. Kompetenz 3.2.5. (2). 32 Vgl. dazu Einheitliche Prüfungsanforderungen, 13.

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dieser Hinsicht allerorten zu hören. Wie kann dieses kritische Potential in den Unterricht hinein erzählt werden? In Klasse 7 des allgemein bildenden Gymnasiums wird als Kompetenz angestrebt, dass sich die Schülerinnen und Schüler mit Fragen nach Identität, Selbstbild, Fremdwahrnehmung und Rollenzuschreibung im sozialen Zusammenleben (zum Beispiel Familie, Peergroup, soziale Netzwerke) auseinandersetzen.33 Welches durch Erzählung geprägte Unterrichtsarrangement ist hier denkbar? Naheliegend ist, sich unter dem Dach des kulturwissenschaftlich gut verbürgten Topos der „narrativen Identität“34 zu versammeln und von dort aus weiterzudenken. Fragestellungen für Schülerinnen und Schüler gäbe es genug. „Was macht einen Youtuber interessant?“ „Wie begleiten und beeinflussen die Whatsapp-Gruppen meinen Tag, meine Haltungen zur Welt, die mich umgibt?“ Einen narrativ geprägten Zugang zur Bearbeitung der Kompetenz bot mir die unterrichtliche Thematisierung eines Zwischenfalls an einer Realschule. Der Vorfall selbst ist schnell erzählt: Eine bei Schülerinnen und Schülern sehr unbeliebte Lehrerin war an der Schule einer besonders harten Form des Internetmobbings ausgesetzt. Diskriminierende Fotomontagen wurden eine Zeitlang in Whatsapp-Gruppen von Schülerinnen und Schülern verbreitet. Die Didaktisierung einer solchen Episode setzt selbstverständlich einen gehörigen räumlichen und zeitlichen Abstand zwischen dem Geschehen und seiner unterrichtlichen Betrachtung voraus. Der unerquickliche Vorgang wurde denn auch in verfremdeter Form und in zweijährigem Abstand in den Religionsunterricht eines weiter entfernten Gymnasiums eingebracht. Es war dabei aber relativ erhellend, Luthers Auslegung des 8. Gebots neben die Geschichte vom waffenartigen Gebrauch von smartphones zu legen. Luther argumentiert nämlich hinsichtlich des Wahrheitsgebots mit einem höchst aktuellen Verständnis von Lüge. Lügen heißt demnach vor allem: Ehrverletzende Gerüchte über andere verbreiten. Luther formuliert pointiert: „Was man nun mit üblem Gerede dem Nächsten tut, das will Gott nicht haben […] Dahin gehört besonders das schändliche Laster der Verleumdungen, mit dem uns der Teufel reitet, wovon viel zu reden wäre. Denn es ist eine allgemeine schändliche Plage, dass jedermann es lieber hat, wenn er Böses und Schlechtes von dem Nächsten hört als wenn er Gutes von ihm hört. Und obwohl wir selbst oft so böse sind, können wir eines nicht leiden: dass uns jemand böses Handeln nachsagt. Jeder will gern, dass alle Welt Goldenes von ihm rede. Und trotzdem hören wir es nicht gern, dass man das Beste von anderen Menschen sagt.“35 33 Bildungsplan 2016, Klasse 7/8 (Bereich Mensch), Kompetenz 3.2.1 (1). 34 Vgl. die konzentrierte Einleitung bei Röhmer, Narrative Identität, 263. 35 Diese für die Schule adaptierte Fassung der Auslegung Luthers orientiert sich an: Luther, Großer Katechismus, 31.

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Die didaktisch validen Effekte bei den Schülerinnen und Schülern stellten sich bei der Gegenüberstellung des schulischen Vorfalls mit Luthers Auslegung des 8. Gebots fast von selbst ein. Luthers Konzentration auf die Wahrheitsfrage im Kontext respektvoller menschlicher Kommunikation war damit angesichts der Betrachtung des konkreten Ereignisses mehr als plausibel. Der hier nur skizzierte Unterrichtsansatz verweist noch einmal auf grundsätzlichere Aspekte. Ein gesellschaftlich akzeptiertes mediales Grundrauschen, das längst als „digitaler Lärm“ wahrgenommen wird, wird immer wieder kritisch kommentiert; dies geschieht nicht nur in medienwissenschaftlichen oder religionspädagogischen Fachdiskursen. Der Gitarrist Al di Meola berichtet von einer signifikanten Wandlung und Verlängerung der Produktionszeiten bei Studioaufnahmen.36 Als Grund gibt er an: in den mehr oder minder langen Pausen starren Stars und Studiomusiker auf die Bildschirme ihrer Smartphones. Die digital befeuerte Transparenzgesellschaft verliert also ihre Konzentrationsfähigkeit – auch in den Proberäumen von großen Musikern. Entsprechend gefragt sind kurze Meldungen und knappe statements. Diese Sprachformen werden „per twitter“ inzwischen ja auch schon als regelmäßig verwendete Instrumentarien der politischen Selbstdurchsetzung eingesetzt. Sollten Lehrkräfte angesichts solcher Fakten nicht gerade im Religionsunterricht andere Kommunikationsformen hochhalten? Sind nicht ausführliche Diskurse im Modus der analogen Begegnung, analoge Produktionsweisen wie der handgeschriebene Text, das selbst gemalte, vielleicht nicht ganz perfekte Bild, die medialen Optionen der Stunde? Sollte nicht die Auseinandersetzung mit längeren, komplexeren Texten, gerade auch der erzählenden Gattung, verstärkt Platz greifen? Fragen wie diese erscheinen durchaus berechtigt und haben ihren Rückhalt in konkreter Unterrichtspraxis. Das Markusevangelium etwa erfreut sich als Basis einer Ganzschriftlektüre schon seit längerer Zeit einer gewissen Beliebtheit.37 Allerdings sollte die religionspädagogische Zunft angesichts der naheliegenden Versuchung, Religionsunterricht als konsequent gegenkulturelles Schulfach zu etablieren, selbstkritisch bleiben. Im Hinblick auf die Pflege von Narrativität heißt dies: Die Erzählzusammenhänge verändern sich, aber sie werden nicht einfach abgeschafft. Munition für kulturkritische Generalabrechungen über das „Ende des Erzählens“ o. ä. kann bei genauer Betrachtung aus den bestehenden Verhältnissen kaum gewonnen werden. Mit Pierre Bourdieu sollte man zunächst einmal (selbst)kritisch damit rechnen, dass sich die realen Marktverhältnisse für die lebendige Sprache und Sprachformen und sprachliche Performative eben ändern können.38 Diese Einsicht kann religionspädagogisch konkretisiert werden. Die gesellschaftliche geübte Verwendung, 36 Vgl. dazu: Gucken aufs Smartphone, 4. 37 Die wahrscheinlich auch ökonomisch lohnende Perspektive einer entsprechenden Nachfrage dokumentiert das Erscheinen von Reutin-Hoffmann, Markusevangelium. 38 Vgl. Bourdieu, Sprache, 76–78 („Die sprachlichen Produktionsverhältnisse“) sowie 79 f.

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Anverwandlung und Transformtion biblischer Erzählfaden wird extra muros ecclesiae nicht einfach dramatisch schwächer ; sie wird mindestens ebenso deutlich dramatisch anders. Oder aber sie geschieht in medialen Zusammenhängen, die Religionslehrkräfte leider immer noch zu wenig wahrnehmen. Es gehört aber zum gesunden Hochmut des Glaubens, zum theologischen Selbstbewusstsein und zum theologischen Handwerk, sich in die inzwischen sogar transmedialen Gegenwartsdiskurse einzumischen, sie aber mindestens aufmerksam zu verfolgen. Ein Beispiel mag genügen. Inmitten der heftigen, vor allem auch internetgestützten Debatten um die Verleihung des Musikpreises „Echo 2018“ für die antisemitische, sexistische und gewaltverherrlichendes RAP-Nummer „0815“ der Deutschrapper Kollegah und Fahrid-Bang wurde ein Hintergrundszenario nur von wenigen zur Kenntnis genommen. Die inkriminierten Zeilen zur Verhöhnung der Auschwitzopfer hatten ihre breite epische Entsprechung in Kollegahs Rap-Titel „Apokalypse“ (2016), der mit verschwörungstheoretischen Elementen und dutzenden biblischen Anspielungen von der zerstörerischen Weltherrschaft der Juden schwadroniert.39 Sowohl der Text als auch das (inzwischen nur noch schwer erreichbare) Video des Rap-Titels „Apokalypse“ sind theologisch herausfordernder als es sich ein hochkulturelle verengter Diskursgestus eingestehen mag. Mit diesen knappen Hinweisen soll nur darauf hingewiesen werden, dass die Wahrnehmung von popularkulturellen Erzählzusammenhängen40 nicht als Instrument zur Herstellung anbiedernder „Schülernähe“ missbraucht oder missverstanden werden sollte. Es geht vielmehr um die Einzeichnung und Bewertung von relevanten kulturellen Entwicklungen innerhalb jenes „Naturgemäldes“, das die Wahrnehmung und Gestaltung von Unterrichtssequenzen praxistauglich aktiviert. Praxis tauglichkeit impliziert in diesem Zusammenhang keinesfalls religionspädagogische Theorieferne oder empiristisch verkleidete Theologiefreiheit. Es ist freilich nicht mehr die Zeit für rückzugsfreudige Glasperlenspiele. Spätestens seit der ambivalenten rhetorischen und theologischen Kraft der Areopagrede des Paulus41 sollte auch klar sein, dass der Eintritt in neue Diskursräume niemals ungefährlich ist oder ungebrochen vonstatten geht. Jedenfalls müssen Lehrkräfte beim Gehen in den unterrichtlichen Ökosystemen und beim Entwerfen von aktualisierten Draufsichten auf unterrichtsökologische Lagen ab und zu innehalten und sich orientieren. Die Orientierungsleistungen werden gegenwärtig komplexer und anspruchsvoller. Aber das Unterrichten selbst, das Gehen im Freien also, ist reich an Entdeckungen und Impulsen. Der Bildungsplan, wenn er denn auch als eine Art 39 Vgl. dazu jetzt Bosse, Bis hierher, 46. 40 Zur Kritik des kulturwissenschaftlichen Modewortes „Narrativ“ vgl. nur: Heine, Hinz und Kunz. 41 Vgl. Apg. 17, 16–34.

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didaktisch aktivierbares „Naturgemälde“ begriffen wird, ermuntert zur Suche; manchmal kann sogar das Suchen im Unterholz eines missratenen Schultages Erstaunliches zutage fördern. Selbst ein solcher Tag kann dann zusätzlich zum Rohmaterial unterrichtssensibler Theologie werden. Diese Theologie ist keinesfalls theorieabstinent. Sie hält vielmehr die Augen offen. Das dialektische Lesen in den Büchern – auch und zuerst in der Bibel – und im unübersichtlichen Gelände der je eigenen Unterrichtswirklichkeit gehört zu ihrer basalen Methode. Es ist u. a. diese doppelte Lesearbeit, die das Unterrichten zu einer theoretisch und praktisch höchst anspruchsvollen Tätigkeit macht. Von Humboldt wird erzählt, er habe permanent vollgestopfte Taschen gehabt. Vorstellbar sind entsprechend der Arbeitsweise Humboldts: Blätter, und andere Pflanzenteile, Teilpräparate von Tieren, Steine, Notizzettel. Daraus unter anderem erwuchsen seine Metaerzählungen und seine theoretischen Konzepte.42 Für die Theologie an der Schule, die der Religionsunterricht immer auch ist, ist Alexander, der „andere Humboldt“, damit nicht das schlechteste Vorbild, allerdings auf sehr bestimmte Weise. Auch religionspädagogische Taschen sollten sich also immer wieder füllen können, auch wenn aus theologischen Gründen ausdrücklich nicht gesagt werden kann: Deus sive natura. Die Gegenstandsbezogenheit der Religionspädagogik ist mit dieser Gleichsetzung nämlich nicht gefasst. Aber dies ist eine andere Geschichte.

Literatur Bildungsplan 2016. Evangelische Religionslehre – Allgemein bildendes Gymnasium. Heftfassung. Hg. vom RPI Karlsruhe und PTZ Stuttgart (Benutzt wurde die 2. Auflage Mai 2016). Die Zitation stimmt überein und übernimmt die Nummerierung von Kompetenzen aus der online-Fassung des Bildungsplans: http://www. bildungsplaene-bw.de/,Lde/LS/BP2016BW/ALLG/GYM/REV Bildungsplan 2016. Evangelische Religionslehre – Sekundarstufe 1. online: http:// www.bildungsplaene-bw.de/,Lde/LS/BP2016BW/ALLG/SEK1/REV/IK/10/06 Einheitliche Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung. Evangelische Religionslehre. (online: https://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschlu esse/1989/1989_12_01-EPA-Ev-Religion.pdf) [Zugriff: 1. 7. 2018]) Baumann, Ulrike / Wermke, Michael (Hg.): Religionsbuch 9/10., Berlin 2002. Bluhm, Harald: Freiheit in Marx’ Theorien, in: Pies, Ingo / Leschke, Martin (Hg.): Karl Marx’ Kommunistischer Individualismus, Konzepte der Gesellschaftstheorie 11, Tübingen 2005, 57–80. Bosse, Andr8: Bis hierher und nicht weiter? in: Visions (28. Jahrgang), 7/2018, 38–47. 42 Zu Humboldts erkenntnishungrige Sammelwut im Freien vgl. Wulf, Humboldt, 77, 98, 99.

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Bourdieu, Pierre: Sprache. Schriften zur Kultursoziologie 1, Schriften Band 9, Berlin 2017. Fischer, Stefan: Art. Gerechtigkeit/Gerechter/gerecht (online: http://www.bibelwis senschaft.de/stichwort/19316/ ) [Zugriff: 1. 7. 2018]. Friedrichs, Julia / Spinrath, Andreas: Christoph Gröner, in: zeitmagazin 19/2018 (online: https://www.zeit.de/zeit-magazin/2018/19/christoph-groener-bauunter nehmer-mietwohnungen-reichtum) [Zugriff; 2. 7. 2018]) Georgakopoulou, Alexandra: Small stories, interactions and identities, Amsterdam 2007. Gucken aufs Smartphone. Was den Gitarristen Al di Meola wirklich nervt. Interview, in: RNZett. Veranstaltungsmagazin der Rhein-Neckar-Zeitung v. 10. Mai 2018, 4 Heine, Matthias: Hinz und Kunz schwafeln heute vom Narrativ (online: https://www. welt.de/debatte/kommentare/article159450529/Hinz-und-Kunz-schwafeln-heut zutage-vom-Narrativ.html) [Zugriff: 1. 7. 2018]. Hentig, Hartmut von: Verlorene Söhne und ihre Brüder, in: Ders., Bibelarbeit, München 1988, 57–86. Klein, Christian / Mart&nez, Mat&as: Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens, in: Dies. (Hg.): Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählen, Stuttgart/ Weimar 2009, 1–14. Krenzer, Rolf: Wieder ist Ostern, in: Domay, Erhard (Hg.): Symbole, Lahr 1989, 255–257. Kropacˇ, Ulrich: Religion und Rationalität, in: Ders. / Langenhorst, Georg, Religionsunterricht und der Bildungsauftrag der öffentlichen Schule, Babenhausen 2012, 66–83. Köppe, Tilman / Lindt, Tilmann: Erzähltheorie, Stuttgart 2014 Lindner, Konstantin: Religiöses Lernen mit Kirchengeschichte, in: Ders. / Riegel, Ulrich/ Hoffmann, Andreas (Hg.): Alltagsgeschichte im Religionsunterricht, Stuttgart 2013, 11–21. Luther Martin: Der Große und der Kleine Katechismus. Ausgewählt und eingeleitet von Kurt Aland und Hermann Kunst. Göttingen 20033 Luther, Martin: Disputatio Heidelbergae habita/Heidelberger Disputation (1518), in: Ders., Lateinisch-Deutsche Studienausgabe. Bd.1, Leipzig 2006, 35–70. Ostermeyer, Karl Heinrich: Dabeisein ist alles (Der verlorene Sohn) – Lk. 15, 11–32, in: Zimmermann, Ruben (Hg.): Kompendium der Gleichnisse Jesu, Göttingen 2 2015, 618–633. Reutin-Hoffmann, Ute: Das Markusevangelium als Ganzschrift, Zolling 2012. Römer, Inga: Narrative Identität, in: Martinez, Matias (Hg.): Erzählen. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2017,263–269. Schapp, Wilhelm: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Frankfurt am Main 2012. Scheidt, Carl Eduard / Stukenbrock, Anja: Erzählen und narrative Praktiken in der Psychotherapie, in: Huber Martin / Schmidt, Wolfgang (Hg.): Grundthemen der Literaturwissenschaft: Erzählen, Berlin u. a. 2018, 528–546.

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Schoberth, Ingrid: Diskursive Religionspädagogik, Göttingen 2009. von Freytag Loringhoven, Wolf-Dietrich: Der „Energiehaushalt im Unterricht“, in: Dohmen, Günther / Maurer, Friedemann, Unterricht. Aufbau und Kritik, München 1970, 121–129. Walser, Martin: Statt etwas oder Der letzte Rank, Hamburg 2018. Wulf, Andrea: Alexander von Humboldt oder die Erfindung der Natur, München 2015.

Hartmut Rupp

Die biblische Paradiesgeschichte Eine narratologische Analyse in didaktischer Perspektive

1. Die neue Aufmerksamkeit für Erzählungen Erzählungen haben Konjunktur. Das bemerkt man z. B. bei der Identitätsforschung, die darauf achtet, wie Menschen in biografischen Erzählungen Ereignisse ihres Lebens in einen Zusammenhang bringen und durch das Erzählen ihre eigene Identität sowohl für andere als auch für sich selbst entwerfen.1 Dies zeigt sich auch in der öffentlichen politischen Diskussion, in der immer mehr auf Narrative wie z. B. auf die gegensätzlichen Russland- oder Putin-Narrative hingewiesen wird, die Situationen deuten, Verhalten einordnen sowie Empfindungen als auch Urteile leiten. Offenkundig leben Menschen in Erzählungen. In der Geschichtsforschung wird herausgearbeitet, wie Historiographien einer narrativen Modellierung unterliegen und so Leser für eine bestimmte Geschichtsdeutung gewinnen wollen.2 Philosophische als auch Theologische Ethik sehen moralische Überzeugungen in Erzählungen begründet, die man teilt.3 In den Literaturwissenschaften werden die Universalität des Erzählens herausgestellt und Erzähltheorien ausgearbeitet.4 In der Theologie wird wieder stärker herausgestellt, dass das Christentum eine Erzählgemeinschaft ist und der christliche Glaube sich in besonderer Weise Erzählungen und dem Erzählen (und weniger begrifflichen Lehren) verdankt. Zunehmend werden diese Einsichten auch in der Bibelexegese rezipiert, so dass exegetische Arbeiten ganz selbstverständlich eine „sprachlich-narratologische Analyse“ biblischer Erzählungen integrieren.5 Methodisch haben dies u. a. Sönke Finnen und Jan Rüggemeier6 ausgearbeitet und ein Vorgehen in

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Spinner, Biografie als narrative Konstruktion, 33–46. White, Metahistory. Vgl. Hofheinz u. a.(Hg.), Ethik und Erzählung. Koschorke, Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie; Fludernik, Erzähltheorie. Zimmermann (Hg.), Kompendium der Gleichnisse Jesu; ders. (Hg.), Kompendium der frühchristlichen Wundergeschichten. 6 Finnern/Rüggemeier, Methoden der neutestamentlichen Exegese; vgl. Finnern, Schritte der Erzählanalyse für die Bibeldidaktik, 4–7. 7 Vgl. Finnern/Rüggemeier, Methoden der neutestamentlichen Exegese, 173–258.

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mehreren Schritten für die Analyse von biblischen Erzähltexten vorgelegt.7 Diese Schritte sind: (1) Perspektivenanalyse, die sich vor allem mit der Frage beschäftigt, von welcher Seite der Erzähler den Leser an das Erzählte heranführt. (2) Figurenanalyse, die sich auf die Akteure in der Erzählung, deren Merkmale und deren Verhalten zueinander konzentriert. (3) Handlungsanalyse, die auf die Ereignisse und ihre Abfolge, auf Handlungsschemata und Zeitaspekte sowie auf Handlungskerne achtet. (4) Raumanalyse, die auf die räumlichen Vorstellungen eingeht, die Rezipienten der Erzählung entnehmen kann. (5) Analyse der Textnachwirkung, die die intendierte Wirkung untersucht und dafür Belege in der Erzählung herausarbeitet. Zur Eigentümlichkeit einer solchen Analyse gehört, dass sie die Texte als Erzählungen, aber nicht als Quellen betrachtet. Deshalb werden z. B. literarkritische Analysen zurückgestellt. Brüche oder Wiederholungen werden als Teil der erzählerischen Strategie begriffen. In der Religionspädagogik wird nach wie vor an Merkmalen guten Erzählens gearbeitet, werden Erzählkonzepte vorgestellt und unterschiedliche Erzählformen aufgezeigt.8 Darüber hinaus werden jedoch ständig neue Erzählbeispiele entworfen, durchaus auch im Einzelnen erläutert und dazu didaktische Verläufe empfohlen. Viel zu wenig werden jedoch Kategorien und Perspektiven angeboten, mit denen Lehrende sich biblische Erzählungen als Erzählungen selbständig aneignen, dazu ein eigenes Verständnis entwickeln, Erzählbeispiele kritisch überprüfen und zugleich die Fähigkeit gewinnen können, authentisch zu erzählen. Um dies zu unterstützen sei im Folgenden ein möglichst einfach zu handhabbares Kategorienschema einer narratologischen Analyse vorgeschlagen und exemplarisch angewendet. Dieses Schema orientiert sich an Finnern und Brüggemeier, nimmt jedoch weitere Aspekte auf.9 Die Schritte sind: 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Die Erzählhandlung, der Erzähler und seine Art des Erzählens, der Raum, in dem die Erzählung spielt, die Figuren und ihr Verhältnis zueinander, der Leser und die intendierten Wirkungen, die Kontexte, in denen die Erzählung steht.10

7 Vgl. Finnern/Rüggemeier, 173–258 8 Adam, Erzählen, 137–162; M. Zimmermann, Erzählen, 475–482. 9 Koschorke, 88 unterscheidet eine kommunikative Triade mit Erzähltext, Erzähler und Rezipient sowie eine referentielle Triade mit Erzähltext, Außenweltbezug und Bezug auf andere Texte. Gerade letztere Bezugsgröße scheint für biblische Texte bedeutsam zu sein. 10 M. Zimmermann, 479 f. schlägt den POZEK-Schlüssel sowie die Arbeit mit Erzählspalten als Analyseschema vor und gelangt damit zu ähnlichen Schritten.

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2. Die Paradiesgeschichte als Anwendungsbeispiel Die Paradiesgeschichte gehört zu den bevorzugten Themen der christlichen Ikonografie11, erfährt immer wieder neue Aufmerksamkeit12, wird aber von nicht wenigen Zeitgenossen als historischer Bericht verstanden, was zu Unsicherheit und immer wieder auch zu Ablehnung führt. So bekennen die 19Jährigen evangelischen Pop-Zwillinge „Die Lochis“ in einem Interview in der ARD Themenwoche 2017 „Woran wir glauben“: „[…]wir beide sind im Grunde genommen Christen, aber also ich bin nicht so der, der dann sagt, eh die Menschen wurden von Gott unbedingt so erschaffen oder was gibt’s denn da für Sachen und so Adam und Eva und so, da bin ich mir nicht so ganz sicher, ob das wahr ist […]“.13 Ein Blick in ausgewählte Bildungspläne für den evangelischen Religionsunterricht14 zeigt, dass Gen 2–3 in der Grundschule so gut wie nicht verhandelt wird. Am ehesten wird der Schöpfungsauftrag aus Gen 2,15 thematisiert. Stattdessen will man sich auf die weniger moralische oder gar nicht angstmachende erste Schöpfungserzählung in Gen 1,1–2,4a konzentrieren. In der Sekundarstufe I und hier vor allem in Klassestufe 5/6 werden Gen 1 und 2 auf einander bezogen, meist im Sinne eines Vergleichs. Dabei werden Gen 2 und 3 voneinander getrennt und Gen 2 neben Gen 1 als biblische Deutung der Welt und des Menschen sowie als Zeugnis für das biblische Gottesbild gelesen. Gen 3 wird zumindest in einem Fall (Baden-Württemberg) in Klassenstufe 5/6 zur Behandlung empfohlen, offenbar jedoch ohne den Zusammenhang mit Gen 2 herzustellen. Der sog. „Sündenfall“ soll eigens erst in der Klassenstufe 9/10 thematisiert werden und dabei das biblische Sündenverständnis erschlossen werden. In Gymnasien soll zudem anhand von Genesis 1 und 2 die Sprachform des Mythos bedacht werden. In der Kursstufe werden Gen 1 und 2 als zentrale Texte für die biblische Deutung der Wirklichkeit als Schöpfung eingebracht und zu der Evolutionstheorie in Bezug gesetzt. Im Rahmen der Anthropologie soll Gen 1–11 als Gesamtzusammenhang erschlossen werden. Dieser Befund hinterlässt Fragen: Kann man so ohne weiteres Gen 2 und 3 trennen und jeweils für sich betrachten? Soll man Grundschulkinder von der „Sündenfallgeschichte“ verschonen? Wie hängen Gen 2–3 mit Gen 1 und mit der ganzen Urgeschichte zusammen?

11 Lucas Cranach hat das Motiv über 80 mal dargestellt. 12 Greenblatt, Die Geschichte von Adam und Eva. 13 Das Interview war Teil der „Themenwoche Woran glaubst Du? Vom 11. bis 17. Juni 2017“ des ARD und konnte unter http://reportage.mdr.de/woran-glaubt-deutschland-rp#7569 eingesehen werden; Text abgehört und transkribiert. 14 Herangezogen wurden die aktuellen Bildungspläne für den evangelischen Religionsunterricht in Baden-Württemberg, Hessen und Niedersachsen.

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3. Narratologische Analyse von Gen 2–315 3.1. Die Erzählhandlung Eine Erzählung lässt sich als ein geschlossener Ereignis- und Handlungszusammenhang verstehen mit erkennbarem Anfang und Ende, in dessen Mitte ein Ärgernis, Konflikt, Problem und dessen Lösung stehen, die für Spannung sorgen.16 Sie wendet sich an einen Hörer/Leser und will diesen für eine bestimmte Sicht des Lebens und der Welt gewinnen. Sie hat aber auch für den Erzähler Bedeutung.17 Anfang und Ende Die Paradiesgeschichte beginnt in Gen 2,4b mit einer Zeitangabe „Es war zu der Zeit, da Gott der Herr Erde und Himmel machte.“ Nach der Unterschrift zur ersten Schöpfungserzählung („So sind Himmel und Erde geworden als sie geschaffen wurden“ Gen 2,4a) kommt nun eine neue Überschrift. Es beginnt eine neue Erzählung mit einem neuen Zeitabschnitt. Das Ende zeigt sich in der Vertreibung aus dem Paradies (Gen 3, 24). Danach geht es um Kain und Abel. Mit der Erschaffung der Frau ist also die Paradiesgeschichte noch nicht zu Ende (Gen 2,21–23). Gen 2–3 ist erzählerisch eine Einheit.18

Der Plot Der Plot19 lässt sich mit seinen sechs Ereignissen rasch erzählen. Zunächst wird der Mensch erschaffen (2,4b–7), dann wird für ihn der Garten als Lebensraum angelegt (2,18–15). Dafür bedarf es Regelungen. Der Mensch bekommt neben seiner Aufgabe zu bebauen und zu bewahren eine große Erlaubnis und ein striktes Verbot (2,16–17). Danach geht es um den Aufbau und die Ermöglichung von Gemeinschaft (2,18–25). Nach dem Glück kommt je15 Weitere Anwendungsbeispiele finden sich in Hartmut Rupp, Vom Bibeltext zur Erzählung, 9–11 (zu Mk 10,46–53); ders., Jesus-das Reich Gottes in Person, 84–96 (zu Lk 15,1–31). 16 Nach Fludernik, 14. 17 Aufnahme von Gerald Price „narrative: The recounting […] of one or more real or fictionous events communicated by one, two or several […] narrators to one, two or several […] narratees, vgl. Fludernik ebd. 18 Westermann,, Biblischer Kommentar AT, 261. Steck, Die Paradieserzählung, 9–116, 17.26.35.49. 19 Der Begriff Plot wird für die Handlungsfolge einer Erzählung mit Einbezug der Logik und der Motivebene verwendet. Nicht: „Der König starb. Dann starb die Königin“, sondern: „Der König starb und aus Gram starb dann die Königin, vgl. Fludernik, 40, 173.

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doch das Verhängnis. Das Verbot wird übertreten (3,1–6). Das hat Folgen (3,7–24) und endet mit der Vertreibung aus dem Garten.20 Aufgrund der Akteure und ihrer Konstellation lassen sich drei Akte unterscheiden: A. Die Erschaffung des Menschen und das Leben im Paradies. B. Die Versuchung der Schlange und die Übertretung. C. Die Folgen. Das Erzählschema Es gibt verschiedene Arten von Erzählungen. Es gibt Kurzgeschichten, Novellen, Romane, Legenden. Es gibt Sagen, Fabeln, Märchen, Gleichnisse, es gibt weisheitliche Lehrerzählungen.21 Was aber ist das für eine Geschichte? Alle sehen hier eine Ätiologie.22 Die ganze Geschichte wird erzählt, um zu erklären und zu verstehen, warum das so ist mit den Menschen. Warum gibt es Mann und Frau? Warum schämen sich Menschen? Warum müssen Menschen sterben? Warum haben wir Angst vor Schlangen? Warum ist die Geburt eines Kindes so mühselig? Warum ist es so anstrengend, seinen Lebensunterhalt zu erwirtschaften? Warum leben wir „jenseits von Eden“? Manche sehen hier eine Sage.23 Eine solche erzählt für Kollektive geschichtlich Bedeutsames und Gültiges in einfacher Sprache und veranschaulicht dies an Einzelgestalten, die an nachvollziehbaren Schauplätzen wirken. Treffender ist es jedoch, von einem Mythos zu sprechen. Die Paradiesgeschichte erzählt von einem urzeitlichen Geschehen. Sie erzählt von etwas Typischem, Charakteristischem, Konstantem, das unserem Leben und Erleben zu Grunde liegt. Im Rückgriff auf eine imaginierte anfängliche Zeit und ein göttliches Handeln werden bedeutsame Phänomene des menschlichen Lebens aufgezeigt und gedeutet sowie Perspektiven entwickelt, wie mit diesen sinnvoll umgegangen werden kann. Mythen arbeiten an dem Selbst- und Weltverständnis von Lesern und Hörern24, um diese für eine bestimmte Lebenshaltung und eine bestimmte Identität zu gewinnen. Hier geht es ganz gewiss um die Bejahung von Endlichkeit, von Fehlbarkeit, Verfallenheit und Schuld, aber auch um die Wahrnehmung von Würde, Größe und Autonomie.25 Die Erzählung sagt dann: Ja, der Mensch wird seiner Aufgabe und seiner 20 Diese Gliederung folgt der Darstellung von Steck. 21 Koenen, Klaus, Art. Erzählende Gattungen WiBiLex 2006 https://www.bibelwissenschaft.de/wib ilex/das-bibellexikon/lexikon/sachwort/anzeigen/details/erzaehlende-gattungen-at/ch/ 3457389e472550eefbaadfd4e140290a/. 22 Steck, 61; Andreas Scherer, Art. Ätiologie WiBiLex 2008 https://www.bibelwissenschaft.de/stich wort/12673/ (5. 4. 2018). 23 So Gunkel, Genesis, VII–LVI; von Rad, Das erste Buche Mose, 22; Steck 64. 24 Theißen, Erleben und Verhalten der ersten Christen, 257 sieht die Tiefenstruktur von Mythen darin, dass sie „die kollektiven Gewissheiten einer Gesellschaft zum Ausdruck“ bringen. 25 Irsigler, Hubert, Art. Mythos (AT) WiBiLex 2013 https://www.bibelwissenschaft.de/wibilex/dasbibellexikon/lexikon/sachwort/anzeigen/details/mythos-at/ch/4654d35d24439e20e7b122a1 b7a2ef2 f/.

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Bestimmung oft nicht gerecht. Ja, das Leben der Menschen ist mühselig, ja der Mensch muss sterben. Doch die Kleider geben ihm eine menschliche Würde, die ihn von Tieren unterscheidet. Diese kommen ja ohne Kleidung aus. Der Mensch kann Gut und Böse, Lebensförderliches und Lebensfeindliches unterscheiden. Doch das garantiert noch lange kein unbeschwertes Leben. Warum aber ist das so? Die Geschichte stößt Fragen an und entwirft Antworten. An Gott liegt es nicht, es liegt an dem Menschen selbst. Die Paradiesgeschichte enthält so gesehen eine Theodizee, eine Rechtfertigung Gottes.26 Wie sehen wir das heute?

Die kommunikative Strategie Das Ganze wirkt wie ein Drama, fast wie ein Krimi, wie ein Tatort. Das zeigt die kommunikative Strategie des Erzählers. Die anschauliche und deshalb auch gut mitvollziehbare Geschichte fängt ganz optimistisch an. Sie entwirft ein gutes Leben, streut aber in dieses Bild Bemerkungen ein, die das Drama und das Unheil andeuten (Prolepsen) und schließlich eintreffen lassen. Erzählt wird nur das, was dieser Spannung dient. Solche Prolepsen sind: • „Und Gott ließ aufwachsen aus der Erde allerlei Bäume verlockend anzusehen und gut zu essen – und den Baum des Lebens mitten im Garten – und den Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen.“ (Gen 2,9) • „Du darfst essen von allen Bäumen im Garten, aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen sollst du nicht essen, denn an diesem Tag da du von ihm isst, musst du des Todes sterben.“ (Gen 2,16.17) Das sind alles zunächst unmotiviert wirkende, fast beiläufig formulierte Elemente der Erzählung, die nachher für das Verständnis des Konflikts und seine Lösung entscheidend sind. Die Dramatik baut sich auf, geht dann jedoch noch einmal in eine beschauliche, fast humorvolle Phase. Gott kümmert sich darum, dass der Mensch nicht alleine ist. Doch das mit den Hunden und Katzen will nicht so recht klappen. Doch dann versucht es Gott noch einmal und erschafft aus der Seite des Mannes die Frau. Jetzt hat es geklappt mit der Gemeinschaft, der Mensch jubelt. „Das ist doch Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch!“ (Gen 2,23a). Und der Mensch macht von seiner Sprachkompetenz Gebrauch: „Man wird sie Männin nennen, weil sie von Manne genommen wird.“ (Gen 2,23b)27. Doch auch das ist Voraussetzung und die Kontrastfolie, 26 Willmes, Bernd, Art. Sündenfall, WiBiLex 2008 https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/ 31958/. 27 Die Bibel in gerechter Sprache übersetzt „Dieses Mal ist es Knochen von meinem Knochen und Fleisch von meinem Fleisch. Die soll Ischa, Frau, genannt werden, denn vom Isch, vom Mann, wurde die genommen.“ U, Blail u. a. (Hg.), Bibel in gerechter Sprache, 34.

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auf der Versuchung und Fall, Vertreibung und Leben jenseits von Eden motiviert, erklärt und für die eigene Identität als Mensch entworfen wird.

Die Mitte Der spannende Höhepunkt und die Mitte der Erzählung ist ohne Zweifel das Gespräch der Schlange mit Eva und Adam. Alles läuft darauf zu, von seinem Ausgang hängt das Folgende ab. Die Erzählkamera geht jetzt in Großaufnahme – einmal richtet sie sich auf die Schlange, dann auf Eva und dann auf das Menschenpaar. Hier spielt die Schlange ihre ganze Raffinesse aus. „Ja, sollte Gott gesagt haben, ihr sollt nicht essen von dem Baum im Garten?“(Gen 3,1). Eine einfache Frage und dennoch ein Trick. Eva wird zur Reaktion veranlasst und wiederholt die Worte Gottes. Allerdings ergänzt sie etwas. Von „anrühren“ hat Gott nichts gesagt (vgl. Gen 2,17 mit Gen 3,3). Sie verschärft das Gebot Gottes. Warum tut sie das? Die Schlange weiß etwas, was die beiden nicht wissen. „Ihr werdet keineswegs des Todes sterben. Euch werden die Augen geöffnet. Ihr werdet sein wie Gott. Ihr werdet wissen, was gut und böse ist“(Gen 3,4 f.). Die weitere Erzählung wird zeigen, dass das zutreffend ist. Eva bekommt Lust. Sie greift nach der Frucht, isst davon und gibt diesen auch Adam. Und auch er isst davon, ohne Worte, einfach so. Sofort ändert sich die Situation. Sie fangen an sich zu schämen – hier wohl ein Ausdruck von Schuldgefühlen, was aber Anlass gibt über die anthropologische Bedeutung der Scham nachzudenken. Der spannende Höhepunkt der Paradiesgeschichte erweist sich als Herausforderung an den Leser. Warum haben die beiden von dem Baum gegessen? Warum haben sie das Verbot übertreten? Die Erzählung sagt: „weil das klug macht“ (Gen 3,6). Aber was heißt das? Was steckt dahinter? Ist Eva einfach neugierig und unbekümmert? Ist sie frech und ein bisschen antiautoritär? Oder will selbständig und erwachsen sein? Wieder ist der Leser gefragt. In der Antwort geht es um grundlegende Bilder des Menschen. In der langen Auslegungsgeschichte dieser Erzählung gibt es verschiedene Antwortversuche. Alle gehen davon aus, dass die Gründe für das mühselige Leben der Menschen „jenseits von Eden“ nicht in Gott, sondern in dem Menschen zu suchen sind. Vier davon seien wiedergegeben: (1) Die klassisch biblisch-theologische Antwort lautet: Der Griff nach dem Baum ist der Versuch des Menschen, ohne Gott leben und über sein Leben selbst bestimmen zu wollen.28 Das ist die Wurzel allen Übels! Wer so denkt und handelt, missachtet, dass Menschen von guten Vorgaben und in 28 Steck 94.107.111.

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Gemeinschaft leben. Die Lösung des Problems liegt dann in der Rückkehr in die Gemeinschaft mit Gott und die dankbare Annahme der Gaben und Gebote Gottes sowie der geschöpflichen Grenzen. (2) Die tiefenpsychologische Antwort29 lautet: Die ganze Geschichte ist die symbolische Darstellung eines innerpsychischen Vorganges. Die Reaktion auf die Worte der Schlange und auf die Erinnerung des Gebotes Gottes symbolisiert die entstehende Angst, alles zu verlieren, was man zum Leben braucht, nämlich Schutz und Halt, Geborgenheit und Liebe, Fürsorge und Gemeinschaft. Aus lauter Angst wird daraufhin der fürsorgliche Gott zu einem missgünstigen Gott umgedeutet. Der Griff nach dem Baum ist als Ausdruck der verzweifelten Annahme zu verstehen, mit allem alleine zurechtkommen zu müssen – und alleine zurechtkommen zu können. Der Mensch will wie Gott allmächtig sein und alles selber in der Hand haben. Todes-und Trennungsangst sind die Wurzeln des Übels in der Welt. Die Lösung des Problems ist dann ein neues Vertrauen in Gott, der als Symbol des Selbst und der Ganzheit von Bewusstem und Unbewusstem verstanden wird. Damit geht es letztlich um Selbstvertrauen. (3) Die philosophisch-aufklärerische Antwort30 lautet: Der Sündenfall ist ein Glücksfall für die Menschheitsgeschichte. Der Griff nach dem Baum symbolisiert den entscheidenden Schritt der Menschheit aus einem instinktgebundenen, natürlichen Leben in ein selbstbewusstes, eigenverantwortliches Leben, in dem jeder aus eigener Kraft beurteilt, was für das Leben gut und böse ist. Wurzel allen Übels ist die Unselbstständigkeit und die Unmündigkeit des Menschen. Die Lösung des Problems ist der energische Schritt in die moralische Selbstständigkeit. (4) Die feministische Antwort31 lautet: Der Griff Evas nach dem Baum ist Ausdruck weiblicher Klugheit, Entscheidungsfähigkeit und Selbstbewusstseins sowie des starken Wunsches nach Leben. Wurzel allen Übels ist die Unterdrückung der Frau. Die Lösung des Problems ist die Gemeinschaft von Mann und Frau als gleichberechtigt aufeinander bezogene Wesen. Wer sich daran macht, seine eigene Deutung zu entwerfen, sollte auf Gen 3,22 schauen. „Und Gott der HERR sprach: Siehe, der Mensch ist geworden wie unsereiner und weiß, was gut und böse ist. Nun aber, dass er nur nicht ausstrecke seine Hand und breche auch von dem Baum des Lebens und esse und lebe ewiglich!“ Wie ist dieser Vers zu lesen? Als sarkastische Schlussbemerkung, als Ausdruck von Resignation oder als respektvolle Anerkennung der Menschen? Mit der unterschiedlichen Lesart ändern sich jedes Mal das Gottesbild sowie die Sicht des Menschen. Und jedes Mal bekommt die Vertreibung eine 29 Vgl. Drewermann, Strukturen des Bösen Band II. 30 Gestrich, Die Wiederkehr des Glanzes, 102–159. 31 Vgl. Köhler, Die Erdkreatur, in: Feministisch gelesen, 17–24.

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andere Deutung. Sie wirkt einmal als kleine Bosheit Gottes, dann als die Begrenzung der Macht eines Rivalen oder als Hinweis auf eine grundlegende geschöpfliche Differenz. Der Wunsch, über das eigene Leben zu bestimmen, hat Grenzen. Der Mensch kann nicht ewig leben. Auf welche Deutung man sich auch einlässt, auf jeden Fall geht es um die Bewertung menschlicher Autonomie. Die Erzählung geht davon aus, dass der Mensch erkennen kann, was dem Leben zuträglich und abträglich ist. Er muss aber auch darüber entscheiden. Deutlich wird, dass diese Autonomie mit lebenslangen Lasten verbunden ist.32 Die Frage ist, ob die Menschen dazu Ja sagen können. Die biblische Paradiesgeschichte erweist sich als raffiniert konstruierte Erzählung, die geschickt Spannung erzeugt, und damit den Leser bzw. den Hörer in eine Bewegung hinein nimmt, in der er anders herauskommt als er in sie hinein gegangen ist. Zu dieser Konstruktion gehört aber auch, dass der Erzähler immer wieder Leerstellen d. h. Unschärfen oder Lücken erzeugt, die zum Nachfragen vor allem aber zum eigenen Nachdenken verleiten sollen. Immer wieder werden – Antworten offen gelassen und so Fragen angeregt. So ist es auch zu verstehen, dass die Erzählung von vielen als rätselhaft verstanden wird. Die Wahrheit einer solchen mythologischen Erzählung liegt nicht in ihrer Tatsächlichkeit. Die Wahrheit zeigt sich in den Aktionen und den Reaktionen der Erzählfiguren, in der Aufnahme der Lebenserfahrung der Hörer bzw. Leser, letztlich in dem Beitrag zu einem Leben, zu dem man aus freien Stücken Ja sagen kann. Die Wahrheit ereignet sich in und bei dem Erzählen. „Aha so ist das! Ist das so? Und wenn, warum ist das so?“ In einer solchen Erzählung einen historischen Bericht zu sehen, verfehlt die Intention der Erzählung. Die Leitfrage ist nicht: Wie hat alles angefangen? Sondern: Wie ist das Leben und die Welt zu verstehen? 3.2. Der Erzähler Wer der Erzähler ist, wissen wir nicht. Er gibt sich nicht zu erkennen. Nur einmal spricht er den Leser an (Gen 2,24 „Darum wird ein Mann Vater und Mutter verlassen und seinem Weibe anhängen.“). Doch er überblickt alles, weiß alles, kennt alles. Er weiß von Anfang an wie die Geschichte ausgeht (auktorialer Erzähler33). Zu erkennen ist, wie er erzählt. Er bleibt äußerlich (externe Fokalisierung34), er beschreibt Ereignisse mit einfachen Sätzen. Er gibt den Figuren in direkten Reden viel Raum. Auf Motive, Gefühle, Absichten (interne Fokalisierung) geht er kaum ein. Das muss sich der Leser selber erschließen. Nur dreimal wirft er einen Blick in das Innere der Akteure – als es 32 Vgl. Kegler, Sünde im Alten Testament,108–118. 33 Fludernik, 32. 34 Dies., 172.

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um die Scham (2,25; 3,10), die Lust und den Wunsch nach Klugheit geht (3,6). Vier Mal formuliert er das Verbot, vom Baum mitten im Garten nicht zu essen. Achtmal kommt er auf diesen Baum zu sprechen. So soll das Entscheidende ins Gedächtnis kommen. Die Frage ist, wie es um die erzählte Zeit steht. Wie lange dauert es von der Erschaffung des Menschen bis zur Vertreibung? Geht es um einen Tag, der mit der Erschaffung beginnt und mit einem Verhör einer Bestrafung und einer Vertreibung am Abend (Gen 3,8) endet? 3.3. Der Raum Erzählungen spielen in einem Raum, den der Erzähler entwirft und der Leser mit seinen Vorstellungen ergänzt. Erzählungen spielen auf einer Bühne. Diese Bühne kann sich wie bei einem Theaterstück auch verändern. Der zweite Akt spielt auf einer anderen Bühne als der erste, der dritte wieder auf einer anderen als der zweite. Die Paradiesgeschichte stellt drei Bühnenbilder, drei verschiedene Räume vor Augen. Raum 1: Der Ausgangsraum Zunächst einmal erzählt sie von einem Ausgangsraum (Gen 2,5.6). Das „Noch nicht“ lässt durchaus einen Raum imaginieren. Der Leser konstruiert ja mit. Vor Augen gestellt wird eine menschenleere Ackerlandschaft mit einigem Potenzial. All das Kraut ist noch nicht gewachsen. Eine Wüste ist das jedoch nicht, denn ein Nebel steigt auf von der Erde und feuchtet alles Land. Dieses Land gehört zur Schöpfung (Gen 2,4b). Es wartet auf Bebauung („und kein Mensch war da, der das Land bebaute“ Gen 2,5). Der erste Raum ist also ein Bauerwartungsland. Das Land wartet auf eine Initiative. Woher das Wasser kommt, wird nicht erzählt. Raum 2: Der Garten Und die Initiative kommt. Gott der Herr pflanzt einen Garten in Eden gegen Osten hin und setzt den Menschen hinein. Der Ort im Osten ist unbekannt. Er ist offen. So ist das mit mythischen Orten. Sie liegen im Irgendwo. Sie geographisch zu verorten ergibt offenbar keinen Sinn. Hier nun legt Gott der Herr kunstvoll einen Garten an – wie pflanzen wohl zu verstehen ist. Der Erzähler setzt voraus, dass der Leser weiß, wie das geht. Dazu gehört zunächst einmal eine Umgrenzung aus Steinen oder aus Sträuchern. Zu der Umfriedung gehört auch ein Zugang, den man verschließen oder bewachen lassen kann. Das hebräische Wort „gan“ heißt so viel wie hegen,

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beschützen.35 Wilde Tiere sollen draußen gehalten werden. Die Umfriedung steht aber auch für Eigentum. Die Geschichte erzählt, dass Gott sich selbst einen Garten anlegt, in dem der Mensch sein Auskommen und seine Bestimmung hat. Und Gott lässt Bäume wachsen (Gen 2,9). Die Erde wirkt also mit. Sie hat Potenzial. Von Sträuchern, Kräutern und Gras ist jedoch nicht die Rede. Alles konzentriert sich auf das Thema Baum. Man merkt wieder die Lenkung des Erzählers. Auf die Bäume kommt es an – vor allem die zwei, die in der Mitte stehen. Der hebräische Name „Eden“ erzählt von Freude und Wonne, von Schönheit und Lebensfülle. Während der Garten hier zunächst noch im Land Eden liegt, wird nachher ein Name daraus. Es ist dann der „Garten Eden“ (Gen 2,15). Die griechische Übersetzung des AT, die Septuaginta, übersetzt diesen Garten Eden mit par#deisos, Paradies. Man darf an einen üppigen Garten denken, im Sinne eines eingefriedeten Obstgartens mit Nutz- und Zierpflanzen, samt einer Wasserquelle. Das Paradies ist ein Ort der Vitalität und der Regeneration. In der Mitte des Gartens lässt Gott den Baum des Lebens wachsen – und daneben den Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen.36 Die Anlage hat eine Mitte so wie der Garten im Kreuzgang eines Klosters eine Mitte hat. Aber wozu ist das nötig? Und was bedeuten diese Bäume, die ja zunächst keine besonderen Funktionen haben? Der Baum in der Mitte markiert offensichtlich das Zentrum des Gartens. Der Mensch aber nimmt davon keine Notiz und hat damit noch nichts zu schaffen. Die Frage ist, ob in der Mitte des Gartens ein Baum steht, zwei Bäume oder gar drei. Eva kennt nur einen Baum, nämlich den Baum mitten im Garten (Gen 3,3).37 Der Erzähler bleibt hier uneindeutig. Doch warum erzählt die Geschichte so uneindeutig? Ist der eine Baum in der Mitte des Gartens zweideutig und deshalb ambivalent? Ist er ein Baum des Lebens und zugleich ein Baum des Todes? Ist das ein Baum mit zwei Gesichtern oder sind das zwei verschiedene Bäume? Der Erzähler fordert seinen Leser wieder heraus, eine eigene Deutung zu entwerfen. Der Baum des Lebens trägt Früchte, die das Leben verlängern, die einen verjüngen, von Krankheit heilen oder sogar Tote wieder zum Leben bringen. Dass Menschen auch heute noch nach Früchten von einem Baum des Lebens suchen, kann man der Werbung von Nahrungsergänzungsmitteln entnehmen sowie der Botschaft, dass richtige Ernährung ein längeres, gesundes Leben ermöglicht. Aber warum steht eigentlich mitten im Garten ein Baum, von dessen Früchten man nicht essen darf ? Ist das der Privatbaum Gottes? Reklamiert Gott in dem Garten für sich eine Privatparzelle? Oder sind die Früchte zwar schön anzusehen, aber giftig beim Verzehr (wie Maiglöckchen und Goldregen 35 Das deutsche Wort Garten kommt von Gurt. 36 Hes 28,16 sieht hier einen mythischen Gottesberg. 37 Hes 31,1–18 sieht hier einen Weltenbaum, was Ausleger gerne eintragen.

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im Garten)? Oder weist das Verbot darauf hin, dass es im menschlichen Miteinander Tabuzonen gibt38, die unbedingt zu beachten sind, auch wenn man sie selber nicht ganz versteht? Geht es darum, sich selbst als ein Geschöpf wahrzunehmen das einen großen Freiheitsspielraum hat, aber auch Grenzen hat?39 Oder geht es darum, in der Beziehung mit anderen zu beachten, dass es so etwas wie eine „sensible Mitte“40 gibt, die es zu respektieren gilt? Soll der Mensch von dem Versuch abgehalten werden, alles im Leben voll und ganz in Griff zu nehmen, weil dies lebenszerstörend ist und der Mensch davor geschützt werden soll? Ist das Verbot egoistisch oder fürsorglich motiviert? Und überhaupt: Ist der Tod Wirkung oder Strafe, wie alle Ausleger sagen?41 Der Baum der Erkenntnis des Guten des Bösen trägt Früchte, deren Genuss Erkenntnisfähigkeit verleiht. Worauf aber bezieht sich diese Erkenntnisfähigkeit? Geht es um sittliche Erkenntnis? Dann ginge es um die Fähigkeit, zwischen guten und bösen Handlungen unterscheiden zu können. Geht es um die Erkenntnis der Geschlechtsunterschiede, wie manche meinen? Dann ginge es um den Gewinn von Sexualität. Oder geht es um Erkenntnis in einem umfassenden Sinne, nämlich all das bestimmen zu können, was für das Menschenleben zuträglich und abträglich ist? Die Frucht verliehe dann umfassendes Wissen – von gut bis böse. Dann ginge es darum, sein Leben voll und ganz im Griff zu bekommen und zwar nicht gottgleich, aber doch „wie Gott zu sein“. Die Erzählung lässt aufs Neue einiges offen und eröffnet damit die Möglichkeit mitzudenken, sich einzubringen und eigene Sichtweisen zu entwerfen. Zu dem Garten gehört auch die Wasserquelle bzw. der Wasserstrom. In einer geographischen Beschreibung (Gen 2,10–14) wird von einem Strom erzählt, der inmitten des Gartens entspringt und sich außerhalb oder vielleicht sogar innerhalb des Gartens in vier „Häupter“ teilt, die die ganze Welt bewässern. Trotz zweier bekannter Namen (Tigris und Euphrat) bleiben die Flüsse vage und die etwas leichter zuzuordnenden Länder bleiben letztlich geheimnisvoll, rätselhaft, mythisch. Nur so viel kann gesagt werden: das lebenspendende Wasser hat seinen Ursprung im Garten Eden. Dieser Garten ist so etwas wie der verborgene Mittelpunkt der Welt. Die Paradiesgeschichte bekommt hier auf einmal kosmologische Züge. In einem solchen Garten kann man gut am Abend spazieren gehen (Gen 3,8). Hier klingt an, dass der Garten Eden (auch) ein Gottesgarten ist. Immerhin hatte ihn ja Gott gepflanzt. Das sprudelnde Wasser in seiner Mitte trägt zur Erfrischung bei. Der Garten ist Erholungsort.42 Der tut richtig gut. Ein solcher Garten braucht jedoch auch einen Gärtner. Er braucht einen 38 39 40 41 42

Westermann 305. Steck, 77–79. Halbfas, Religionsunterricht in Sekundarschulen, 253. Westermann sieht hier den Terminus für Todesstrafe, 306. Riede, Peter : Art. Garten WiBiLex 2011 https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/18882/.

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Landwirt, der die Anlage hegt und pflegt – und ihn auch beschützt. In dieser Aufgabe zeigt sich ein Moment der Bedrohung. Weiter ausgeführt wird das nicht. Der Mensch ist dazu berufen, den Garten zu bebauen und zu bewahren (Gen 2,15). Er ist dazu berufen, zu pflanzen und zu ernten, zu hegen und zu beschützen. Die Tiere gehören dazu. Die Schlange auch. Auch sie ist ein Geschöpf Gottes. Alles wirkt zunächst einmal vollkommen harmonisch.

Raum 3: Der verfluchte Acker Am Ende der Erzählung kommt noch einmal ein anderer Raum in den Blick. Das Bühnenbild wechselt. Jetzt erscheint der verfluchte Acker, der der Arbeit des Menschen so viel Widerstand entgegensetzt (Gen 3,17.18). Dieses Bühnenbild ähnelt dem ersten Bühnenbild. Von hier aus gesehen erweist sich der biblische Paradiesgarten als Kontrastbild, das die Beschwerlichkeit des Lebens erst so richtig erfassen lässt. Es ist ein Gegenbild43, eine Gegenwelt, entworfen um die Gegenwart als Konsequenz einer umfassenden Störung zu deuten. Es ist offenbar ein verlorenes Paradies und die Erzählung will dazu helfen, mit dem Verlust des Wonnegartens zu leben.

3.4. Die Figuren Jede Erzählung hat Figuren, die handeln und sprechen. Darin kann man ein Merkmal von Erzählungen sehen.44 Zur Paradiesgeschichte gehören als handelnde Figuren Gott, Adam und Eva sowie die Schlange und die Cherubim. In mythischen Erzählungen können Tiere selbstverständlich sprechen.

Gott Gott heißt (in der Lutherübersetzung) durchgängig „Gott der Herr“ – zwanzigmal. Das fällt auf. Richtig übersetzt müsste es heißen: Herr Gott, Adonai Elohim. Warum auf einmal dieser Doppelname? Und so häufig? Und nur hier? Hier dürfen und müssen Leser selber deuten. Eine Deutung sagt: Diese Bezeichnung betont wohl die Machtfülle und die Majestät Gottes. Er ist der souverän 43 Steck, 53. 44 Fludernik definiert: „Eine Erzählung […] ist eine Darstellung in einem sprachlichen und/oder visuellen Medium, in deren Zentrum eine oder mehrere Erzählfiguren anthropomorpher Prägung stehen, die in zeitlicher und räumlicher Hinsicht existenziell verankert sind und (zumeist) zielgerichtete Handlungen ausführen […].“,15.

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Handelnde. Weil erschaffen und gebieten zusammenkommen, könnte aus Herr oder Gott „Der Herr Gott“ geworden sein. Das Auftreten Gottes wandelt sich in den drei Akten des Schauspiels. Im ersten Akt erscheint Gott als Gärtner, als Töpfer, sogar als Chirurg. Alles geht von ihm aus. Er ist ein souveräner Macher und zugleich recht fürsorglich. Ihm liegt offenkundig das Wohl des Menschen am Herzen. Doch er operiert auch mit klaren Ansagen –und vergibt eindeutige Aufträge. Im zweiten Akt tritt er ganz zurück. Bekommt er das Drama nicht mit? Schaut er nur zu? Oder hält er verborgen alle Fäden in der Hand? Im dritten Akt agiert Gott als Richter. Er führt ein Verhör und spricht klare Urteile. Doch die angekündigte Strafe wird abgemildert. Kein Tod, aber ein Leben jenseits von Eden. Gott verflucht – die Schlange und den Ackerboden. Adam und Eva werden nicht verflucht. Dazu kommt eine fürsorgliche Hilfe. Die beiden bekommen Kleider aus Fell, so dass sie sich nicht schämen müssen. Doch es kommt zur endgültigen Vertreibung und zur Schließung des Gartens. Wie steht es mit der Gerechtigkeit? Nicht wenige fragen sich bis heute, ob Gott da nicht doch zu grausam ist. Adam Adam ist zunächst der Mensch, erst am Ende ist er der Mann. Die Lutherbibel übersetzt deshalb in Gen 2 das hebräische „haadam“ zunächst einmal mit Mensch. Adam, das Menschenwesen, nicht Adam der Mann, wird in den Garten gesetzt, um zu bebauen und zu bewahren. Aber das heißt: Im Garten Eden gibt es Arbeit. Aus dem Kontrast zu der Arbeit auf dem verfluchten Acker (Gen 3,23) kann gefolgert werden, dass die Arbeit im Garten nicht als mühselig vorzustellen ist. Doch die Arbeit gehört dazu – was Protestanten freuen dürfte. Weil wir uns die Arbeit im Garten Eden nicht so recht vorstellen können, dürfen wir hier selber Bilder entwerfen. Es muss sinnvolle Arbeit sein. Arbeit, die einem das Gefühl gibt, ich werde gebraucht, ich kann das und das ist sinnvoll.45 Die Arbeit jenseits von Eden ist dagegen frustrierend und nicht so ohne weiteres mit Sinn erfüllt. Eines ist klar : für die Versorgung ist gesorgt. Der Mensch kann in diesem Garten ernten und essen, was er will. Das Wasser garantiert Fruchtbarkeit. Adam als Repräsentant der Gattung Mensch ist aus der Adama, der Erde gemacht. Adam ist der Erdenmensch. Der Odem des Lebens macht ihn zu einem lebendigen Wesen. Das deutet auf Sterblichkeit von Anfang an hin. Der Tod selber ist dann keine Strafe (Gen 3,19). Der Hinweis Gottes: „Du bist Erde und sollst zu Erde werden“ gilt schon für das Leben im Garten. Möglicherweise kommen erst jenseits von Eden Todesdrohung und Todesangst hinzu. Vom Baum des Lebens wird in der Paradiesgeschichte nicht weiter gesprochen. Er kommt überhaupt erst am Schluss ins Spiel. Erst wer um die 45 In Anlehnung an Antonovsky, Salutogenese, 33–42.

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Mühseligkeit des Lebens weiß, fragt nach Wegen zu einem erfüllten Leben. Da sehnt man sich nach einem Lebensbaum. Fragen kann man, ob der Mensch nicht die Möglichkeit gehabt hätte, sich ganz einfach Ewigkeit zu verschaffen. Doch das interessiert den Erzähler nicht. Der Baum des Lebens steht zunächst in der Kulisse. Eva Eva ist die Lebensspenderin und damit die Frau schlechthin. Ihr „Bau“ aus der Rippe lässt sich als Hinweis auf Zusammengehörigkeit verstehen. Von einer eigenen Schöpfung ist deshalb nicht die Rede. Das Leben im Garten ist deshalb partnerschaftliches und gemeinschaftliches Leben. Der Strafspruch (Gen 3,16) hebt die Mühen von Schwangerschaft und Geburt hervor. Es scheint so zu sein, dass diese Mühen in der Schwangerschaft erst jenseits von Eden dazukommen. Das Paar Zunächst sind die beiden ein Herz und eine Seele (Gen 2,24). Sie sind nackt, sie schämen sich nicht. Dann übernimmt Eva die Führungsrolle. Sie ist im zweiten Teil die Aktive. Sie übernimmt die Initiative. Adam macht einfach mit. Doch dann zerbricht die Einheit. Beide schämen sich. Jeder der beiden sucht sich selbst zu rechtfertigen – auch auf Kosten des anderen. Die Beziehung wird danach hierarchisch geregelt. Der Mann rückt in die Position des Herrschenden. Adam gibt seiner Frau ihren Namen (Gen 3,20). Und die Frau muss erkennbar mehr Lasten tragen als der Mann. Wie mögen sie den Garten verlassen haben? Schlange Die Schlange ist im zweiten Teil der Erzählung eine zentrale Figur.46 Sie ist es, die den Griff nach dem Baum mitten im Garten (Gen 3,3) initiiert. Sie ist „listiger“ als alle anderen Tiere auf dem Felde. Sie weiß mehr als der Mensch, sie weiß, wie das ist mit der Erkenntnis des Guten und des Bösen. Sie weiß Eva und Adam zu verführen. Die Schlange erinnert dabei an einen „Trickster“, der in verschiedenen Figuren begegnen kann. Sie wirkt wie ein raffinierter Schelm, der voller Übermut alles durcheinanderbringt – ohne auch nur einmal die Unwahrheit zu sagen. Welche Art von Schlange das ist, ist offenbar unerheblich. Sie hat keine Beine und muss deshalb kriechen. Sie frisst Erde, was nicht stimmen kann. Sie 46 Vgl. Henrike Frey-Anthes, Schlange 2008, https://www.bibelwissenschaft.de/wibilex/das-bibel lexikon/lexikon/sachwort/anzeigen/details/schlange-1/ch/ 3657eaf67825283045375cc7f9b24dc9/.

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gilt vor allem als unberechenbar und gefährlich. Zwischen ihr und den Menschen besteht Feindschaft (Gen 3,15). Doch das macht aus der Schlange noch keinen Satan (wie dies Apk 12,9; 20,2 annimmt) und keine dämonische Gegenmacht. Listig muss nicht hinterlistig heißen. Dualistische Züge treten hier nicht auf. Die Schlange ist ein Geschöpf Gottes wie die anderen Tiere auch (Gen 3,1). Dass da auch sexuelle Anspielungen mitspielen, ist nicht auszuschließen. Warum gerade die Schlange es ist, die hier agiert, wird nicht weiter begründet. Woher sie ihr Wissen hat, wird nicht erklärt. Diese Leerstelle kann als Aufforderung verstanden werden, darüber nachzudenken, wie es zur Versuchung kommt. Ist das eine bewusste Aktion Gottes, um den Gehorsam und das Vertrauen der Menschen zu testen? Oder dient das dazu, dass die Menschen den Zustand kindlichen Vertrauens aufgeben?47 Diese Lücke kann jedoch auch als Herausforderung gehört werden, nicht weiter nachzubohren. „So kommt man nicht weiter.“ Die Schlange ist eine mythische Figur in einer mythologischen Erzählung. Sie hat in der Erzählung eine bestimmte Funktion. Danach ist von ihr nicht mehr die Rede. Deutungen sind erlaubt, doch es gilt, dabei die Inhalte der Erzählung zu beachten.

Die Cherubim Die Cherubim sind Mischgestalten mit Adlerflügeln, Löwenklauen und Menschenhäuptern. Sie repräsentieren die Gegenwart Gottes und verhindern die selbstverständliche und direkte Begegnung mit Gott. Sie verdeutlichen die Entfremdung von Gott und Mensch.

3.5. Der Leser und die intendierte Wirkung Erzählen ist ein kommunikatives Ereignis. Das merkt man jeden Tag, denn Menschen erzählen ständig einander Geschichten. Erzählungen wenden sich an einen Hörer, literarische Erzählungen an einen Leser. Und sie wollen bei diesem etwas bewirken, manchmal ist es nur Unterhaltung, meist aber geht es um Zustimmung, Einverständnis; oft geht es darum, ihn für eine bestimmte Welt- und Selbstsicht zu gewinnen. Wer die gedachten Leser der Paradiesgeschichte sind, lassen die Strafsprüche erkennen. Es sind Menschen, die in einer bäuerlichen Kultur leben, 47 Pfeiffer, Henrik, Art. Adam und Eva, WiBiLex 2006, https://www.bibelwissenschaft.de/stich wort/12492/ „Der Gottesgarten ist ein Ort umfassender göttlich-väterlicher Fürsorge und nicht zu überbietender Gottesnähe. Hier kann der Mensch in kindlicher Unbefangenheit existieren. Mann und Frau leben in vollkommen, kreatürlich begründeter Gemeinschaft. Der Mangel an der Fähigkeit, Gutes und Böses zu erfassen, ist hier kein Problem.“

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Ackerbauer also, keine Nomaden. Ganz gewiss sind es aber Frauen und Männer. Sie leben ganz nah mit der Erde, sie wissen, wie sich die Ackerkrume anfühlt. Sie suchen einem kargen Boden Nahrung abzugewinnen, tragen Fellkleider und haben offenkundig auch Vorstellungen von einem Garten, einer Quelle und von Flüssen. Doch die Erzählung überschreitet diesen Leserkreis. Sie spricht auch die Beziehung von Frau und Mann an und bezieht sich auf elementare Menschheitserfahrungen wie Schwangerschaft und Geburt, die Angst vor Schlangen, die Mühsal von Arbeit, auf die Sprachfähigkeit, auf die Erkenntnisfähigkeit samt ihren Grenzen. Sie bezieht sich auf die Sehnsucht nach einem unbeschwerten Leben und schließlich auch auf den Tod. Ohne Zweifel sollen sich die Leser bzw. Hörer mit Adam und Eva identifizieren (können) und in deren Geschichten ihr eigenes Leben wiedererkennen sowie Antworten auf Grundfragen des Lebens finden. Ganz bestimmt sollen sie über die Gottesreden ins Nachdenken kommen und über den Sinn von Verboten bis hin zu Tabus nachdenken. Offenkundig sollen sie die Vertreibung als endgültig akzeptieren, sich mit den Mühen und Lasten des Lebens als Konsequenz menschlichen Strebens versöhnen lassen und alle Träume von einem paradiesischen Leben ohne Sorgen und Mühen den Abschied geben. Dabei sollen sie jedoch nicht den Glauben an Gott und das Vertrauen in seine Gebote aufgeben. Gott ist nicht schuld an dem Schicksal des Menschen. Offensichtlich geht es auch darum, die Fähigkeit zur Kenntnis des Guten und des Bösen als konstitutives Moment des Menschseins zu erkennen und zu akzeptieren. Das dürfte an die biblische Weisheit erinnern. Auf jeden Fall dürfte es Absicht sein, über Grundphänomene menschlichen Lebens nachzudenken, nach ihren anthropologischen Hintergründen zu fragen und Sinnantworten für das eigene Leben zu finden.

3.6. Kontexte Gerade die biblischen Erzählungen stehen in größeren Erzählzusammenhängen. Sie sind Teilkapitel in einem großen Buch, tragen zu dessen Gesamtstory bei und werden in ihrer Sinnbedeutung von dieser bestimmt. Was bei einzelnen Erzählungen in den Evangelien sofort einsichtig ist48, gilt auch für die Paradiesgeschichte. Sie steht nicht für sich alleine. Sie ist Teil der Bibel und zunächst einmal Teil des größeren Erzählzusammenhanges der Urgeschichte in Gen 1–11.49 Sie schließt an das Siebentagewerk und damit an die Errichtung des Lebenshauses für alle an (Gen 1,1–2,4a). Gen 1 wird also 48 Rupp, Wider das Vergessen biblischer Erzählungen, 73–86. 49 Hier schließen die Schritte einer narratologischen Analyse an die Einsichten der kanonischen Bibelauslegung an, vgl. Oeming, Biblische Hermeneutik, 75–82.

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vorausgesetzt.50 Die Paradiesgeschichte führt die große Erzählung fort. Die Frage ist, warum es zu dieser Fortsetzung kommt. Offenbar fehlt noch etwas. Will die biblische Paradieserzählung ein zu optimistisches Menschenbild korrigieren? Will sie die Menschen von dem unrealistischen Traum eines paradiesischen Lebens abbringen?51 Will sie den „Adam“ zu einer realistischen Sicht des Menschen und seines Lebens bringen? Die Paradiesgeschichte und darin das Bild des Gartens Eden erscheinen dabei nicht als Ideal des Lebens. Der Garten dient als Folie, um die Realität des Menschen wahr- und anzunehmen. Es geht nicht darum, auf eine grundlegende Veränderung zu hoffen, sondern sich auf die Gegebenheiten einzulassen. Der Garten ist – so gelesen – weder der Anfangszustand der Welt, auch keine Utopie, sondern die narrative Folie, die die Realität genauer wahrnehmen lässt. Gen 2–3 soll danach weder protologisch noch eschatologisch gelesen werden. Als Teil der biblischen Urgeschichte eröffnet die Paradieserzählung eine Reihe von Schuld-Strafe-Erzählungen (Paradies, Kain und Abel, die Riesen, Hams Entwürdigung des eigenen Vaters sowie der Turmbau zu Babel). Diese Erzählungen stellen dem Menschen seine Unzulänglichkeit und seine Bedürftigkeit vor Augen. In diesen Geschichten zeigt sich jedoch auch das Moment des Segens und der Rettung bzw. der Begnadigung.52 Dabei entwirft die Paradiesgeschichte die Grundstrukturen des Menschseins und der folgenden Erzählungen sowie deren Auswirkungen im Bereich des sozialen, kulturellen und geschichtlichen Lebens. Zusammengenommen entwerfen sie ein Bild der menschlichen „Fehlsamkeit“53, wenn nicht gar von seiner „Getrenntheit von Gott“54, die jedoch auch von Gottes bewahrendem Handeln bestimmt ist. Doch auch die Urgeschichte steht nicht allein. Sie ist die Vorgeschichte der Geschichte Gottes mit Abraham und damit des Bundes mit seinem Volk Israel. Gen 1–11 findet seine Fortsetzung in Gen 12,1–3.55 Der Anschluss der Abrahamsgeschichte eröffnet zu der eher pessimistischen Geschichte vom verlorenen Paradies eine neue Perspektive für die Menschheit. In Abraham wird narrativ ein Lebensmodell entfaltet, das sich vertrauensvoll an Gottes Wort Daran liegt vor allem eine jüdische Bibelauslegung vgl. Jacob, Das Buch Genesis, 81. Ders., 9 f. Westermann, Arten des Erzählens in der Genesis, 9–91,56. Westermann, Genesis, 378. Drewermann, Strukturen des Bösen Band I, 7, im Ggs. zu Westermann. Nach Drewermann erzählt die biblische Paradiesgeschichte von einer fundamentalen Beziehungsstörung des Menschen. 55 Steck schreibt: „Das Wort Jahwes an Abraham und Israel ruft den Menschen, der nicht selbst das völlig Ungesicherte der hier ergehenden Aufforderung wägt und ablehnt, sondern sich der Führung Jahwes willig und vertrauensvoll überlässt und es hat hinsichtlich der übrigen Menschheit den Menschen im Blick, der sich wiederum nicht an sich selbst orientiert, sondern der auf das Gesegnetsein Abrahams, Israels sieht, hierin und nicht mehr in eigenen Planungen das Förderliche auch seines Lebens anerkennt und so selbst Segen Jahwes empfängt.“ ebd. 117–148,145. 50 51 52 53 54

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und Gottes Verheißung hält. Hier wird ein Weg gewiesen, unter den Bedingungen von Geschöpflichkeit mit Gott sein Leben zu führen. Dies betonen gerade diejenigen, die in dem Griff nach der Frucht einen Vertrauensbruch und Ausdruck einer elementaren Lebensangst sehen (s. o.). Zunächst einmal und für sich genommen lässt die Paradiesgeschichte das Menschsein als ausweglos und depressionsfördernd56 erscheinen. Doch aufgrund des größeren biblischen Zusammenhangs ergibt sich ein Moment der Hoffnung. Durch die Gründung des Lebens in Gott kommt die Angst der Menschen zur Ruhe. Das Vertrauen auf Gott vermag nach Drewermann „die Schuld des Daseins in Vergebung, die Armut des Daseins in Gnade, der Tod in Auferstehung, die Einsamkeit in Gebet, die Ausweglosigkeit“ zu verwandeln.57 Für den Erzähler ist Gott „die Person, von der her der Mensch allein die Angst seiner Freiheit beruhigen, das Chaos seiner Antriebe ordnen, die Unbewusstheit seiner Existenz aufarbeiten und der elenden Ausweglosigkeit seines Daseins Hoffnung geben kann.“ Letztlich wird das erst an Abraham und an Jesus Christus erkennbar. Doch die Paradiesgeschichte ist auch Teil der hebräischen Bibel wie der Bibel insgesamt. Darin zeigen sich weitere, neue Aspekte der Paradiesgeschichte. Der Prophet Jesaia sieht in dem Paradiesgarten ein Hoffnungsbild (Jes 51,3). Es wird bei ihm zu einer Utopie für das Volk Gottes. Diese Utopie bekommt in der Verheißung eines neuen Himmels und einer neuen Erde (Jes 65,16b–25) weitere Motive, Züge, die an das Paradies erinnern. Pflanzen und Tiere, Arbeiten und Sterben, Wonne und die Nähe Gottes, all das kommt hier wieder zusammen. Das Neue Testament nimmt dieses Motiv ganz am Ende auf und entwirft ein paradiesisches Hoffnungsbild. Im himmlischen Jerusalem fließt ein Strom lebendigen Wassers und auf beiden Seiten des Stromes stehen Bäume des Lebens (Offbg. 22, 1.2). Und nichts Verfluchtes wird mehr sein! (Offbg. 22,3). Das Bild des verlorenen Paradieses der Urzeit wird hier zu einer eschatologischen Verheißung, zu einem Traumbild, das in Zeiten der Bedrängnis Mut machen kann und soll.

4. Didaktische Konsequenzen Die These ist, dass eine solche narratologische Analyse die Erzählung als Erzählung vertrauter macht, vielfache Anregungen für das eigene Erzählen eröffnet, aber auch auf Fragen und mögliche Deutungen der biblischen Erzählung aufmerksam macht. Vor allem aber bietet eine solche Analyse Ein56 Drewermann, Strukturen des Bösen Band II,217,231. 57 Ebd., 235.

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blick in die Erzählkunst des biblischen Erzählers und regt an, sich bei der eigenen Erzählung von dem biblischen Text auch einmal leiten zu lassen. Dabei können Nach- und Neuerzählungen einbezogen werden, doch diese sollten sorgfältig geprüft werden. Aufgrund einer solchen Analyse werden diese in ihrer Eigenart und in ihren theologischen Entscheidungen erkennbar. So wird erkennbar, dass Dietrich Steinwede58 die externe Fokalisierung von Genesis 2–3 aufnimmt, die Sprache aber durch die Verwendung von einfachen Hauptsätzen weiter elementarisiert. Steinwede kennt den Erzähler als „Gottesprophet“ und weiß um seine Motive. Der eine Gott soll als Schöpfer des Lebens verstanden und kannaanäische Fruchtbarkeitsgötter sollen abgelehnt werden. Steinwede trennt die beiden Erzählungen und macht aus Gen 2,4b–24 ein narratives Lob des Schöpfergottes und der guten Schöpfungsgaben. Dafür übergeht er jedoch die Vorankündigungen auf den Sündenfall. Das Ganze wird zu einer protologischen Erzählung, die die Güte der Schöpfung Gottes wahrnehmen lassen soll. Implizit wird das Leben im Garten als Ideal entworfen. Die Erzählung von „Sünde und Vertreibung“ setzt mit dem Gebot Gottes aus Gen 2, 16.17 ein. Das Handeln der Schlange wird als „hinterlistig“ gedeutet. Der Frau wird das Motiv zugeschrieben, „gern“ wie Gott sein zu wollen. Die Erkenntnis des Guten und des Bösen wird als sittliche Erkenntnis gedeutet: „Wir haben Böses getan“. Das Übertreten der Gebote Gottes erweist sich als Sünde. Die Feststellung Gottes in Gen 3,22 wird übergangen. Es bleibt nur die verärgerte Vertreibung Gottes: „Hinaus mit euch, hinaus mit euch aus dem Garten Eden.“ Die Anerkennung der Erkenntnis des Guten und des Bösen kommt nicht vor. Auch Werner Laubi59 teilt die Paradiesgeschichte in zwei Erzählungen auf. Er entwirft zum einen eine Rahmengeschichte zu Gen 2, 18–25 mit einem Religionsunterricht, in dem der biblische Text vorgelesen und im Unterrichtsgespräch gedeutet wird. Vorausgesetzt wird die Frage von Kindern, ob Männer weniger Rippen haben als Frauen. Zu Gen 3,1–24 soll zunächst einmal der biblische Text dargeboten werden. Um zu verstehen, dass der Sündenfall kein historischer Bericht ist, wird danach eine fiktionale Alltagsgeschichte von Kindern erzählt, die als Analogie zu der biblischen Erzählung gestaltet ist. Aus dem Apfel werden Pralinen, aus der Schlange eine Fliege, aus dem Verbot Gottes ein Verbot der Mutter. Der Griff nach der Frucht wird als Naschsucht gedeutet. Sünde wird als Übertreten eines autoritativen Verbotes gedeutet. Aus der Vertreibung wird der Verweis aus dem Esszimmer nach dem Hauptgericht, das Verbot wird zur Verweigerung der Nachspeise. Schülerinnen und Schüler sollen offenkundig Entsprechungen zwischen den beiden Geschichten herausarbeiten und so den universalen Charakter des biblischen Mythos entdecken. Hier öffnet sich die Möglichkeit für ein Theologisieren, das subjektiven Deutungen der Schülerinnen und Schüler Raum gibt. Wer den 58 Steinwede, Kommt und schaut die Taten Gottes,12–14. 59 Laubi, Geschichten zur Bibel, 28–38.

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Analogien eigens nachspüren und nicht die beiden Erzählungen einfach gleichsetzen will, braucht jedoch ein vertieftes Verständnis der biblischen Erzählung. Das gilt für die Lehrperson aber auch für die Lernenden. Martina Steinkühler60 erzählt in ihrer Kinderbibel die Paradiesgeschichte in fünf Teilerzählungen, die die Ereignisse von Genesis 2–3 vollständig aufnehmen. Die Verfasserin weiß, wer der Erzähler ist: es ist ein Weiser. Die Teilerzählungen sind als Antworten auf elementare Lebensfragen entworfen: Wer bin ich? (Gen 2,4b–7), Wo bin ich? (Gen 2,8–16), Was brauche ich? (Gen 2,18–25), Was will ich? (Gen 3,1–7), Wohin gehe ich? (Gen 3,8–24). So soll der ätiologische Charakter der Erzählung deutlich werden. Es geht darum zu erkennen, „wie Menschen sind“.61 Die Erzählung ist ungemein anschaulich und verfährt verlangsamend. Sie macht Freude, wirft Fragen auf und lässt auf narrative Weise die Folgen der Entscheidung spüren. Das große Thema ist „ein besonderer Tag“ sowie „eine besondere Zeit“. So wird die Überschrift der biblischen Erzählung (Gen 2,4a) interpretiert. Gott wird zum „Höchsten Wesen“, das in verschiedener Gestalt erscheint (Gärtner, Töpfer, Chirurg, Schneider, Vater, Richter, Herr). In den Rollen wirkt Gott letztlich geheimnisvoll. Er hat Pläne, sieht Entwicklungen, doch sie werden nicht ausgesprochen. „Wir werden sehen“. In den erzählten Ereignissen werden diese nach und nach erkennbar. Aus dem Verbot wird ein Rat, aus der Androhung einer Todesstrafe wird der Hinweis: „Das tut nicht gut“. Hier soll ein bedrohlicher Aspekt um der Kinder willen abgemildert werden. Der Wunsch, nach dem Baum zu greifen, keimt schon in dem Menschenpaar. Der Mensch bleibt ganz und gar handelndes Subjekt. Die Schlange merkt das und nimmt das auf. Ihre Aussagen erweisen sich als „schlechter Rat“. Das Essen von den Früchten macht klug – Adam und Eva erkennen, wie es außerhalb des Gartens ist. Der Griff nach der Frucht lässt die beiden erwachsen werden – ein Anschluss an die aufklärerische Deutung der Paradiesgeschichte. Die beiden müssen gehen, doch sie gehen mit einem „guten Rat“ und vor allem mit dem Segen Gottes, der sich schon anfangs in der Gabe des Lebens zeigt und in der Urgeschichte eine wichtige Rolle spielt. Die Geschichte soll offenkundig nicht ohne Trost enden. Hier schließt sich die Verfasserin offenbar den Einsichten von Westermann in das segnende Handeln Gottes in der Urgeschichte an. Diana Klöpper und Kerstin Schiffner erzählen für Kinder ab neun Jahren Gen 2–3 als erzählerische Einheit.62 Die Erzählung folgt der biblischen Ereignisfolge, da und dort wird gerafft. Die beiden Verfasserinnen orientieren sich an der „Bibel in gerechter Sprache“, vornehmlich mit ihrer feministischen Theologie und wollen bewusst auch die Fremdheit biblische Texte beibehalten. Leerstellen und Mehrdeutigkeiten sollen nicht durch vorschnelle Deutungen verdeckt werden. Gott wird als Mann sowie als Frau charakterisiert, wenn von 60 Steinkühler, Die neue Erzählbibel, 103–112. 61 So Steinkühler,103, in der Hinführung zu den Erzählungen. 62 Klöpper/Schiffner, Gütersloher Erzählbibel, 10–13.

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Adam und Eva als „sie“ gesprochen wird, wird daraus „die Frau und der Mann“. Deutlich betont wird die Selbstständigkeit. Die Schlange sagt: „Gott will nicht, dass ihr selbstständig über Gut und Böse urteilen könnt“. Aus dem Baum der Erkenntnis wird ein „Urteilsbaum“, der die Fähigkeit verleiht, zwischen Gut und Böse unterscheiden zu können. Es geht also um moralisches Urteilen. Sehr betont wird herausgestellt, was es heißt, „wie Gott zu sein“, nämlich „fähig über Gut und Böse zu urteilen, fähig sein, sich ein eigenes Bild zu machen“. Nico ter Linden63richtet sich mit seinen Nacherzählungen an Erwachsene. Er zitiert nacheinander die einzelnen Ereignisse der Paradiesgeschichte und begibt sich dann jedes Mal erkennbar in eine reflektierende Haltung, aus der heraus die Leser angesprochen werden. Dabei werden überraschende Deutungen sowie Erklärungen gegeben, aber auch Fragen formuliert, die zum Mitund Nachdenken motivieren. Entscheidend ist das Motiv der Entfremdung. „So sieht das Leben für den Menschen aus, der wie Gott sein möchte: Entfremdung zwischen Mann und Frau, Entfremdung zwischen Mensch und Tier, Entfremdung zwischen Mensch und Erde“64. Gen 2–3 präsentiert er in drei Erzählungen (Genesis 2,4b–17; 2,18–25; 3,1–24). Alle Nach- und Neuerzählungen geben Anregungen für eigenes Erzählen. Die Beispiele zeigen, wie man die Paradiesgeschichte Grundschulkindern (Steinwede, Steinkühler) und älteren Kindern (Klöpper/Schiffner, Laubi) aber auch Jugendlichen und jungen Erwachsenen (ter Linden) erzählen könnte. Ohne Frage wird man diesen Vorschlägen folgen können – wenn man deren Bearbeitung und vor allem die impliziten Deutungen kennt und selber mit vollziehen kann. Der Schritt zu einer eigenen Erzählung65 sollte mit einem mehrmaligen lauten Lesen des biblischen Textes beginnen – möglichst im Stehen, im Gehen und mit Gesten- wie ein Schauspieler bzw. eine Schauspielerin. Einzelne Passagen sollten mehrfach mit unterschiedlichen Betonungen gesprochen und so gedeutet werden. So wird die Lebendigkeit aber auch die Mehrdeutigkeit einer biblischen Erzählung spürbar und lebendiges Erzählen geübt. Danach können die einzelnen Ereignisse als Szenen auf Textkarten entworfen werden – mit einfachen Sätzen wie es Steinwede praktiziert. Schwierig zu verstehende Aussagen verdienen eine Elementarisierung, wie dies Steinkühler sowie Klöpper/Schiffner vormachen. Hier haben aber auch Erklärungen, eigene Deutungen und nachdenkliche Fragen Platz, wie sie ter Linden auf bemerkenswerte Weise formuliert. Erzählen darf in Theologisieren übergehen. Beginnen wird die Vorbereitung mit der Frage, wie die Überschrift darzustellen ist: „Es war zur der Zeit, da Gott der Herr Erde und Himmel machte.“

63 Ter Linden, Es wird erzählt Bd. 1, 21–31. 64 Ebd., 29. 65 Vgl. dazu auch Rupp, Vom biblischen Text zur Erzählung, 8–11.

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Wie kann man von Anfang an vermeiden, den Mythos als historisches Ereignis (miss-) zu verstehen?

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Hartmut Rupp

Rupp, Hartmut: Wider das Vergessen biblischer Erzählungen. Übergreifende Zusammenhänge (re)konstruieren in: G. Büttner u. a. (Hg.): Narrativität, Jahrbuch für konstruktivistische Religionspädagogik 7, Babenhausen 2016. Spinner, Kaspar H.: Biografie als narrative Konstruktion in: G. Büttner u. a.(Hg.): Narrativität, Jahrbuch für konstruktivistische Religionspädagogik 7, Babenhausen 2016. Steck, Odil Hannes: Die Paradieserzählung. Eine Auslegung von Gen 2,4b–3,24, in: Ders., Wahrnehmungen Gottes im Alten Testament. Gesammelte Studien, München 1982. Steinkühler, Martina: Die neue Erzählbibel, Stuttgart 2015. Steinwede, Dietrich: Kommt und schaut die Taten Gottes, Göttingen, Freiburg, Lahr 1982. Theißen, Gerd: Erleben und Verhalten der ersten Christen. Eine Psychologie des Urchristentums, Gütersloh 2007. von Rad, Gerhard: Das erste Buche Mose. Genesis, ATD 2/4, Göttingen 1967. Westermann, Claus: Biblischer Kommentar Altes Testament, Genesis Kapitel 1–3, Neukirchen 1999. Westermann, Claus: Arten des Erzählens in der Genesis in: Ders., Forschung am Alten Testament. Gesammelte Studien, München 1964. White, Hayden: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt 1991. Zimmermann, Mirjam: Erzählen in: M. Zimmermann, R. Zimmermann (Hg.): Handbuch Bibeldidaktik, Tübingen 2013. Zimmermann, Ruben (Hg.): Kompendium der frühchristlichen Wundergeschichten in: Die Wunder Jesu Band 1, Gütersloh 2013. Zimmermann, Ruben (Hg.): Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2007.

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Bibliographie I. Schoberth

16. Schoberth, Ingrid / Wiesinger, Christoph (Hg.): Räume des Urteilens in der Reflexion, in der Schule und in religiöser Bildung, Göttingen 2015. 17. Schoberth, Ingrid: Diskursräume religiösen Lernens – zu den Konturen einer Religionsdidaktik, Göttingen 2018.

Aufsätze 18. Schoberth, Ingrid: Drei Wege des Lernens – Beobachtungen zu chassidischen Erzählungen, in: H. Assel (Hg.): Zeitworte – der Auftrag der Kirche im Gespräch mit der Schrift, Nürnberg 1994, 165–173. 19. Schoberth, Ingrid: Maria, Marta und der Rabi Mosche Löb von Sasow – Ethik als Wahrnehmung des „jetzt Dringlichen”, in: R. Bernhardt (Hg.): Theologische Samenkörner, Münster/Hamburg 1995, 198–205. 20. Schoberth, Ingrid: Wege des Glauben-lernens, Religion „unterrichten”?, Erlangen 1995, 55–63. 21. Schoberth, Ingrid: „Am meisten Fremdes …“ – Was evangelisches Lernen mit Franz Rosenzweig lernen kann, in: M. Ambrosy (Hg.): Divinum et humanum, Frankfurt am Main/Berlin/Bern 1996, 99–109. 22. Schoberth, Ingrid: „Habt acht auf eure Frömmigkeit”, in: R. Feldmeier (Hg.): Salz der Erde, Göttingen 1998, 141–172. 23. Schoberth, Ingrid: Heimat finden in der Kirche – zu den Voraussetzungen einer praktisch-theologischen Aufgabe, in: P. Biehl (Hg.): Heimat – Fremde, Neukirchen-Vluyn 1998, 170–184. 24. Schoberth, Ingrid / Schoberth, Wolfgang: Theologische Kompetenz für den Religionsunterricht – systematische Theologie in der Ausbildung von Religionslehrern, in: W. H. Ritter (Hg.): Religionspädagogik und Theologie, Stuttgart/Berlin/Köln 1998, 280–289. 25. Schoberth, Ingrid: Auf der Suche nach der eigenen Zeit – Zeiterfahrung und Religionsunterricht, in: G. Materialstelle (Hg.): Wer schreibt Geschichte? Erlangen 1999, 103–114. 26. Schoberth, Ingrid: „…damit wir etwas seien zum Lob seiner Herrlichkeit“ – homiletischer Zugang zur Predigt über Eph 1,3–14, Gepriesen sei Gott, der uns segnet in Christus, Stuttgart 1999, 19–24. 27. Schoberth, Ingrid: „Du stellst meine Füße auf weiten Raum“ – Raummetaphern und leibhaftiges Leben, in: R. Bernhardt (Hg.): Metapher und Wirklichkeit, Göttingen 1999, 240–251. 28. Schoberth, Ingrid: Lebens- und Glaubensgeschichte, Ein ökumenisches Handbuch, Augsburg/München 1999, 845–860. 29. Schoberth, Ingrid: „Dinge machen, von denen wir nicht wissen, was sie sind“ – auf den Spuren ästhetischer Erfahrung im Religionsunterricht, in: W. H. Ritter (Hg.): Religion und Phantasie, Göttingen 2000, 115–150.

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30. Schoberth, Ingrid: Vom Zusammenhang gelehrter und gelebter Religion im Konfirmandenunterricht, in: B. Dressler / T. Klie / C. Mork (Hg.): Konfirmandenunterricht, Hannover 2001, 25–42. 31. Schoberth, Ingrid: Von der Welt das Sehen lernen – Monets Heuschober und die Religionspädagogik, in: B. Beuscher (Hg.): Balanc8 – Gespräche über Theologie, die die Welt braucht, Münster/Hamburg/Berlin 2001, 111–115. 32. Schoberth, Ingrid: Die Öffentlichkeit des Religionsunterrichts – religionspädagogische Blicke auf ein übersehbares Thema, in: W. Schoberth / I. Schoberth (Hg.): Kirche – Ethik – Öffentlichkeit, Münster 2002, 70–88. 33. Schoberth, Ingrid: Rechtfertigung als Strukturprinzip des Religionsunterrichts – zur Erfahrung der Rechtfertigung in der Schule, in: S. Kreuzer (Hg.): Gerechtigkeit glauben und erfahren, Wuppertal 2002, 47–61. 34. Schoberth, Ingrid: Vom Umgang mit Bildern im Religionsunterricht, in: H. Zschoch (Hg.): Protestantismus und Kultur, Wuppertal 2002, 133–146. 35. Schoberth, Ingrid: Geleitwort, in: K. Greschat (Hg.): Körper und Kommunikation, Leipzig 2003, 9–11. 36. Schoberth, Ingrid: Politische Spiritualität, in: M. Herbst (Hg.): Spirituelle Aufbrüche, Göttingen 2003, 98–109. 37. Schoberth, Ingrid: Dieter Nestle als Religionspädagogen neu gelesen, in: C. Möller / I. Schoberth (Hg.): „Dass es die Elenden hören und sich freuen”, Norderstedt 2004, 11–16. 38. Schoberth, Ingrid: Heilwerden aus Gottes Zukunft – Wiedergeburt in der Erfahrung der Seelsorge, in: R. Feldmeier (Hg.): Wiedergeburt, Göttingen 2004, 209–245. 39. Schoberth, Ingrid: „Verstehst du auch, was du liest?“ (Apg 8,30) – zur Begegnung von Bibeltext und Schülerwirklichkeit, in: M. Krug (Hg.): Beim Wort nehmen, Stuttgart 2004, 382–395. 40. Schoberth, Ingrid: Die Schönheit der Gerechtigkeit – Predigt in Heidelberg am 9. 5. 2004, Dank an Dr. Klaus Breuer für Wissenschaftlich-Theologischen Sachverstand, Heidelberg 2005, 58–61. 41. Schoberth, Ingrid: Kirchenmusik und Konfirmanden- und Jugendarbeit, in: G. Fermor (Hg.): Kirchenmusik als religiöse Praxis, Leipzig 2005, 194–199. 42. Schoberth, Ingrid: Referenzen und Kontexte – ein praktisch-theologischer Diskurs zur Grammatik religiöser Sprache, in: M. Wladika (Hg.): Gedachter Glaube, Würzburg 2005, 290–301. 43. Schoberth, Ingrid: „und muss ein Kind und Schüler des Katechismus bleiben und bleib’s auch gerne“ – die Praxis des Glauben-lernens im Kleinen Katechismus als Impuls für den Religionsunterricht, in: N. Dennerlein (Hg.): Die Gegenwartsbedeutung der Katechismen Martin Luthers, Gütersloh 2005, 78–95. 44. Schoberth, Ingrid: Aufmerksamkeit für die Spur des Anderen – zum Alltag der Seelsorge, FS für Rudolf Landau zum 60. Geburtstag, in: H.-D. Neef (Hg.): Theologie und Gemeinde, Stuttgart 2006, 264–274.

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45. Schoberth, Ingrid: Das Kreuz in der Peterskirche, in: H. Schwier (Hg.): Geöffnet. Raum und Wort in der Heidelberger Universitätskirche, Frankfurt am Main/Lembeck 2006, 123–128. 46. Schwier, Helmut / Drechsel, Wolfgang / Schoberth Ingrid / Schmidt Heinz: Raum geben: Bedeutung des Raumes für Gottesdienst, Seelsorge, Bildung und Diakonie, in: H. Schwier (Hg.): Geöffnet. Raum und Wort in der Heidelberger Universitätskirche, Frankfurt am Main/Lembeck 2006, 195–223. 47. Schoberth, Ingrid: Religiöse Individualität und Christusbekenntnis – theologische und didaktische Perspektiven für den Religionsunterricht, „Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit”, Bielefeld 2006, 46–57. 48. Schoberth, Ingrid: Wahrnehmung der christlichen Religion im religionspädagogischen Kontext, in: I. Schoberth (Hg.): Wahrnehmung der christlichen Religion, Berlin/Münster 2006, 110–117. 49. Schoberth, Ingrid: „Wie man in der Welt menschlich sein und bleiben kann“ – der Beitrag religiöser Bildung in der Postmoderne, in: K. Kempter / P. Meusburger (Hg.): Bildung und Wissensgesellschaft. Heidelberger Jahrbücher 49.2005 (2006), 97–125. 50. Schoberth, Ingrid: Bekenntnis im Diskurs – Religionsunterricht im Spannungsfeld von Schule und Kirche, in: H. Rupp (Hg.): Bildung und Gemeindeentwicklung, Stuttgart 2007, 183–191. 51. Schoberth, Ingrid: Dichte Erfahrungen – Räume – Atmosphären – Religionsunterricht in pneumatischer Perspektive, in: J. Ehmann (Hg.): Praktische Theologie und Landeskirchengeschichte, Berlin/Münster 2007, 163–180. 52. Schoberth, Ingrid: Liturgische Topographie – Hinterhof-Versteck, in: G. Fermor (Hg.): Gottesdienst-Orte, Leipzig 2007, 164–167. 53. Schoberth, Ingrid: Dichte Erfahrungen – Räume – Atmosphären, in: J. Ehmann (Hg.): Praktische Theologie und Landeskirchengeschichte, Berlin/Münster 2008, 163–180. 54. Schoberth, Ingrid: Ein pädagogischer Aufbruch mit der Reformation – und muss ein kind und schueler des Catechismus bleiben und bleib’s auch gerne“ (WA 30, 1, 126), in: A. Deeg (Hg.): Aufbruch zur Reformation, Leipzig 2008, 121–138. 55. Schoberth, Ingrid: Für das Alter lernen – zu einer besonderen Spurensuche in religiösen Lernprozessen, in: J. Eurich (Hg.): Diakonie und Bildung, Stuttgart 2008, 305–317. 56. Schoberth, Ingrid: „Prekäres, Provozierendes, und Wesentliches“ – glaubenlernen und Moralerziehung im Diskurs, in: K. Bieberstein (Hg.): Prekär, Luzern 2008, 242–253. 57. Schoberth, Ingrid: „er lud auf sich unsere Schmerzen“ – das vierte Gottesknechtslied in religiösen Bildungsprozessen, in: M. Oeming (Hg.): Alttestamentliche Wissenschaft und kirchliche Praxis, Berlin/Münster 2009, 235–248. 58. Schoberth, Ingrid: Das Amt das sich nicht von selbst versteht – Anmerkungen zur Vocatio von Religionslehrerinnen und Religionslehrer, Gerechtigkeit in der Bildung, Stuttgart 2010, 181–191.

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59. Schoberth, Ingrid: Der historische Jesus in religiösen Bildungsprozessen? in: I. Schoberth (Hg.): Was sind das für Dinge, die ihr miteinander verhandelt unterwegs? (Lk 24), Berlin/Münster 2010, 83–94. 60. Schoberth, Ingrid: Lernen, ein Sünder zu sein – Sünde als Thema der Konfirmandenarbeit, in: J. Block (Hg.): Peccatum magnificare, Göttingen 2010, 229–244. 61. Schoberth, Ingrid: Offenheit und Bestimmtheit – zu den aktuellen Herausforderungen einer World-Heritage-Education in religionspädagogischer Perspektive, in: J. Ströter-Bender (Hg.): World heritage education, Marburg 2010, 71–78. 62. Schoberth, Ingrid: Jesus Christus und die Bildung – dramaturgisches zum Bildungsverständnis christlicher Religion – christologisch gebildet? Bildung und Religionsunterricht, Stuttgart 2011, 29–39. 63. Schoberth, Ingrid: Empathie lernen in religiösen Bildungsprozessen – mit einem exemplarischen Bezug auf die Erzählung von der Fußwaschung (Joh 13, 1–20), in: G. Meier (Hg.): Reflexive Religionspädagogik, Stuttgart 2012, 216–229. 64. Schoberth, Ingrid: „In zweifelhaften Fällen entscheide man sich für das Richtige”, in: I. Schoberth (Hg.): Grundlegung und Kontexte ethischer Urteilsbildung, Göttingen 2012, 9–18. 65. Schoberth, Ingrid: „Meines getreuen Heilands Jesu Christi eigen sein“ – religionspädagogische Anmerkungen zur katechetischen Praxis des Heidelberger Katechismus, in: H. Schwier (Hg.): Nötig zu wissen, Heidelberg 2012, 173–190. 66. Schoberth, Ingrid: Pastoralbriefe – Timotheusbrief, Titusbrief, in: B. Dressler (Hg.): Religionspädagogischer Kommentar zur Bibel, Leipzig 2012, 581–590. 67. Schoberth, Ingrid: Urteilen lernen – einleitende Reflexionen, Perspektiven und Orientierungen in religionspädagogischer Perspektive, in: I. Schoberth (Hg.): Grundlegung und Kontexte ethischer Urteilsbildung, Göttingen 2012, 25–40. 68. Schoberth, Ingrid: Zur Urteilspraxis von Kindern und Jugendlichen – religionspädagogische und Religionsdidaktische Zugänge, in: I. Schoberth (Hg.): Grundlegung und Kontexte ethischer Urteilsbildung, Göttingen 2012, 231–249. 69. Schoberth, Ingrid: Bibel, Heilige Schrift oder nur Heiliges? – Warum der Unterricht in christlicher Religion auch 2020 durch die Bibel geformt sein muss oder : Warum Lernprozesse christlicher Religion nicht ohne das Wort Gottes auskommen, in: H. Rupp / S. Hermann (Hg.): Religionsunterricht 2020, Stuttgart 2013, 153–166. 70. Schoberth, Ingrid: Wissen, was wir glauben – der Heidelberger Katechismus und das Lernen des Glaubens, in: M. E. Hirzel (Hg.): Der Heidelberger Katechismus – ein reformierter Schlüsseltext, Zürich 2013, 223–244. 71. Schoberth, Ingrid: Einleitung: Urteilen lernen. Ästhetische, politische und eschatologische Perspektiven moralischer Urteilsbildung im interdisziplinären Diskurs, in: I. Schoberth (Hg.): Ästhetische, politische und eschatologische Perspektiven moralischer Urteilsbildung im interdisziplinären Diskurs, Göttingen 2014, 7–20.

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72. Schoberth, Ingrid: Freundschaft und Schule – ein realistischer Zusammenhang? in: M. Hofheinz (Hg.): Freundschaft, Zürich 2014, 341–362. 73. Schoberth, Ingrid: Gebet (als Thema) des evangelischen Religionsunterrichts, in: D. Krochmalnik (Hg.): Das Gebet im Religionsunterricht in interreligiöser Perspektive, Berlin 2014, 129–143. 74. Schoberth, Ingrid: Moralische Bildung durch Zustimmung – ein Versuch zu verstehen, wie ethisches Lernen sich vollzieht verbunden mit einer empirisch qualitativen Untersuchung ethischen Lernens im Religionsunterricht an einer beruflichen Schule am Beispiel der Friedensethik, in: I. Schoberth (Hg.): Ästhetische, politische und eschatologische Perspektiven moralischer Urteilsbildung im interdisziplinären Diskurs, Göttingen 2014, 293–328. 75. Schoberth, Ingrid: Urteilen lernen am Kunstwerk – zur ästethischen Dimension des Einübens von Urteilskompetenz in religiösen/ethischen Bildungsprozessen, in: I. Schoberth (Hg.): Ästhetische, politische und eschatologische Perspektiven moralischer Urteilsbildung im interdisziplinären Diskurs, Göttingen 2014, 125–146. 76. Schoberth, Ingrid / Christoph Wiesinger : Einleitung: Urteilen lernen III. Räume moralischer Urteilsbildung in religionspädagogischer und religionsdidaktischer Perspektive, in: I. Schoberth / C. Wiesinger (Hg.): Räume des Urteilens in der Reflexion, in der Schule und in religiöser Bildung, Göttingen 2015, 9–16. 77. Schoberth, Ingrid: Religionsdidaktische Konkretionen – Überlegungen zum Urteilen lernen im Religionsunterricht der Sekundarstufe II, in: I. Schoberth / C. Wiesinger (Hg.): Räume des Urteilens in der Reflexion, in der Schule und in religiöser Bildung, Göttingen 2015, 145–148. 78. Schoberth, Ingrid / Silke Wagner : Vom Lesbarwerden der Zeit – Unterrichtswege im Diskurs mit Texten zu Giorgio Adambens Reflexionen zur messianischen Zeit, in: I. Schoberth / C. Wiesinger (Hg.): Räume des Urteilens in der Reflexion, in der Schule und in religiöser Bildung, Stuttgart 2015, 265–279. 79. Schoberth, Ingrid: Bildung, in: H. Schwier / H.-G. Ulrichs (Hg.): … wo das Evangelium gelehrt und gepredigt wird, Heidelberg 2017, 161–165. 80. Schoberth, Ingrid / Wolfgang Schoberth: Sagen lernen, was Sache ist – über die Arbeit am Urteilen-lernen, in: G. C. d. Hertog / S. Heuser / M. Hofheinz / B. Wannenwetsch (Hg.): „Sagen, was Sache ist”, Leipzig 2017, 33–46. 81. Schoberth, Ingrid: Innehalten und Gewahrwerden und wie Gott ins Spiel kommt – zur Rückgewinnung der kritischen Funktion der Theologie für die Seelsorge mit einer Erinnerung an Thurneysen und Josuttis, in: D. Kreitzscheck / H. Springhart (Hg.): Geschichten vom Leben, Leipzig 2018, 35–50. 82. Schoberth, Ingrid / Wolfgang Schoberth: Kann Kirche Kunst? – Anmerkungen zum ästhetischen Pathos der Kirche, in: M. L. Frettlöh / F. Mathwig (Hg.): Kirche als Passion, Zürich 2018, 295–307.

Bibliographie I. Schoberth

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Lexikonartikel 83. Schoberth, Ingrid / Schoberth, Wolfgang: Art. Umwelt 2. Umweltethik. In: Evangelisches Kirchenlexikon (S – Z) (1995), 1010–1013. 84. Schoberth, Ingrid: Art. Glaubensabfall. In: Religion in Geschichte und Gegenwart 4 (F – H) (2000), 988. 85. Schoberth, Ingrid: Art. Heimat: I. Sozialgeschichtlich, soziologisch, sozialethisch. In: Religion in Geschichte und Gegenwart 4 (F – H) (2000), 1593–1594. 86. Schoberth, Ingrid: Art. Katechese/Katechetik: I. Geschichte, 3. Neuzeit. In: Religion in Geschichte und Gegenwart 4 (I – K) (2001), 855–856. 87. Schoberth, Ingrid: Art. Katechese/Katechetik: II. Praktisch-theologisch, 2. Evangelische Katechese/Katechetik. In: Religion in Geschichte und Gegenwart (I – K) (2001), 857–858. 88. Schoberth, Ingrid: Art. Lehre III. In: Religion in Geschichte und Gegenwart 4 (L–M) (2002), 1704. 89. Schoberth, Ingrid: Art. Partiarchalismus. In: Religion in Geschichte und Gegenwart 4 (N – Q) (2003), 1011–1013. 90. Schoberth, Ingrid: Art. Schwarz, Friedrich Heinrich Christian. In: Religion in Geschichte und Gegenwart 4 (R – S) (2004), 1051. 91. Schoberth, Ingrid: Art. Katechismus. In: Taschenlexikon Religion und Theologie (G – N) (2008), 601–605. 92. Schoberth, Ingrid / Christoph Wiesinger : Art. Bildung/Bildungspolitik. In: Evangelisches Soziallexikon (2016), 184–189.

Beiträge in Zeitschriften 93. Schoberth, Ingrid: Glaube beginnt jeden Tag neu – lernen im „Freien Jüdischen Lehrhaus”, Nachrichten der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern 50 (1995), 85–87. 94. Schoberth, Ingrid: Von Zeit und Ewigkeit – homiletische Überlegungen zur Eschatologie, Pastoraltheologie 86 (1997), 438–452. 95. Schoberth, Ingrid: Partnerschaftskonflikte? – ein Beitrag zur Diskussion um das Verhältnis von LER und Religionsunterricht, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 46 (1998), 861–868. 96. Schoberth, Ingrid: Rechtfertigung und Schülersehnsucht – Zentralartikel ohne Resonanz? Evangelische Theologie 59 (1999), 49–61. 97. Schoberth, Ingrid: Wieviel Religion braucht die Gesellschaft? – Ein Gespräch der Religionspädagogik mit der Pädagogik, Schule und Kirche (2001), 24–26. 98. Schoberth, Ingrid: Der unwillige Zeuge? – die „Identität“ der Religionslehrer und die „Sache“ des Religionsunterrichts, Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 54 (2002), 118–133.

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99. Schoberth, Ingrid: Glauben-lernen heißt eine Sprache lernen – zur Performance der Heiligen Schrift im Religionsunterricht, Religionsunterricht an höheren Schulen 45 (2002), 20–31. 100. Schoberth, Ingrid: Kein bloß „lieber Gott“ – die Verharmlosung der Gottesrede als Problem der Praktischen Theologie, Zeitschrift für Neues Testament 5 (2002), 60–66. 101. Schoberth, Ingrid: Armindo Trevisans biblische Lyrik, Bibel und Liturgie 77 (2004), 57–59. 102. Schoberth, Ingrid: Vom Fremdsein christlicher Religion – Perspektiven der Bildungsaufgabe des Religionsunterrichts, Bayreuther Beiträge zur Religionsforschung 5 (2004) = Nr. 9 (2004), 1–15. 103. Schoberth, Ingrid: „como uma vara obliqua no rio – sobre a propedÞutica do falar de deus no ensino Religioso”, Estudos teoljgicos 45 (2005), 62–77. 104. Schoberth, Ingrid: „Wider die Untreue vergesslicher Menschen“ – zu Gerd Theißen: zur Bibel motivieren, Glaube und Lernen 20 (2005), 88–90. 105. Schoberth, Ingrid: „… wie eine Stange, schräg im Fluss“ – zur Propädeutik des Redens von Gott im Religionsunterricht, Pastoraltheologie 94 (2005), 273–286. 106. Schoberth, Ingrid: „Im Schüler den Anderen sehen“ – Religion unterrichten aus der Wahrnehmung der Schülerinnen und Schüler, Pastoraltheologie 96 (2007), 255–270. 107. Schoberth, Ingrid: „Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat“ – Luthers Katechismus: ein Bekenntnis, das im Religionsunterricht zur Frage wird, Entwurf (2008), 36–39. 108. Schoberth, Ingrid: Erwachsenenbildung in der religiösen Gegenwartskultur : Glauben-lernen in der Vielfalt von Optionen, Forum Erwachsenenbildung (2009), 4–7. 109. Schoberth, Ingrid: „Lobet den Herrn auf Erden … Alte mit den Jungen“ (Ps 148,12) – Empathie lernen für das Altsein und das eigene Altwerden, Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 62 (2010), 325–339. 110. Schoberth, Ingrid: Das Reden von Gott im Reden zu Gott einüben – religionspädagogische Aspekte zur Theologie und Praxis des Gebetes mit Kindern und Jugendlichen, Evangelische Theologie 71 (2011), 179–194. 111. Schoberth, Ingrid: Empathielernen als Element humaner Bildung, Pfälzisches Pfarrerblatt 102 (2012), 268–277. 112. Schoberth, Ingrid: Walther Eisinger – 28. 2. 1928–19. 10. 2014, Jahresheft der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg 9.2013/14 (2014), 93. 113. Theißen, Gerd / Schoberth, Ingrid: Gerd Theißen im Gespräch mit Ingrid Schoberth, Jahresheft der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg 10.2014/15 (2015), 54–61. 114. Schoberth, Ingrid: Grußwort der Dekanin, Jahresheft der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg 10.2014/15 (2015), 13–14. 115. Bericht der Dekanin, Jahresheft der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg 11.2015/16 (2016), 8–9.

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116. Schoberth, Ingrid: „Wahrheitsfähigkeit“ als professionelles Können – Implikationen für die Religionslehrer/innenbildung, Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 68 (2016), 98–110. 117. Hertel, Silke / Schoberth, Ingrid / Dannecker, Gerhard: Zwischen den Stühlen – ja, nein, vielleicht?, Ruperto Carola 9 (2016), 130–137. 118. Migration, Religion und Bildung. Wege zu einer migrationssensiblen Religionspädagogik. Dokumentation der GwR-Jahrestagung 2017, Theo-Web 16 (2017), 111–120.

Rezensionen 119. Schoberth, Ingrid: Neuhaus, Peter, Erinnerung als Brückenkategorie – [Rezension] – Anstöße zur Vermittlung zwischen der Politischen Theologie von Johann Baptist Metz und der tiefenpsychologischen Theologie Eugen Drewermanns, Theologische Literaturzeitung 128 (2003). 120. Schoberth, Ingrid: Braunwarth, Matthias, Gedächtnis der Gegenwart – [Rezension] – Signatur eines religiös-kulturellen Gedächtnisses. Annäherung an eine Theologie der Relationierung und Relativierung, Theologische Literaturzeitung 129 (2004). 121. Schoberth, Ingrid: Protestantismus und Ästhetik – [Rezension], Ökumenische Rundschau 53 (2004), 418–419. 122. Schoberth, Ingrid: Schnepper, Arndt, Goldene Buchstaben ins Herz schreiben – [Rezension] – die Rolle des Memorierens in religiösen Bildungsprozessen, Theologische Literaturzeitung 139 (2014).

Biographie I. Schoberth

Geboren bin ich am 1. Mai 1958 in Pegnitz, Oberfranken und habe mit meiner Geburt ein Privileg erhalten, immer an einem Feiertag Geburtstag feiern zu können. Meine Herkunft ist un-akademisch; die erste in der Familie, die über das Abitur eine Universitätslaufbahn eingeschlagen hat. Meine Mutter war Putzfrau und aus Schlesien vertriebenes Flüchtlingskind, mein Vater war Maurer, der sehr bald berufsunfähig war. Damit waren in meinem Leben aber längst nicht alle Spuren gelegt, auf denen ich gehen sollte; ich würde meine Lebensgeschichte jetzt heute im Rückblick als einen guten und frohmachenden Versuch aber auch als eine Anstrengung sehen, in die Welt der Universität einzusteigen und das hatte auch eine doppelte Schwierigkeit, mit der ich immer wieder zu tun bekam. Die eine Schwierigkeit und Herausforderung bestand darin, Fuß zu fassen in einer akademischen Welt, die ich nur über das Studium kannte. Dazu die zweite Schwierigkeit, dass es in der Evangelische Theologie bisher viel zu wenige Frauen gab, die diesen Weg hin zur Professur und zum Lehrstuhl beschritten. Bis heute erfahre ich es als eine herausfordernde Aufgabe, meinen Weg in der Universität so zu gehen, dass es ein eigener Weg ist, an dem ich auch erkennbar bin in dem, was mir wichtig ist und was für mein Forschen, Arbeiten und Lehren wesentlich ist. Die vielen Gespräche mit Studierenden und besonders auch Studentinnen, die sich auf eine Promotion vorbereiten wollen, zeigen mir nach wie vor, dass es noch keine Selbstverständlichkeit hat, dass Frauen in der Theologischen Wissenschaft etabliert sind. Nach dem qualifizierenden Hauptschulabschluss (1973) und einer Ausbildung in Hauswirtschaft und Kinderpflege (1973–1975), absolvierte ich die Berufsaufbauschule in Nürnberg und schloss daran den Besuch der Berufsoberschule an, um mit einer Zusatzprüfung in Latein das Abitur zu erreichen, um Theologie studieren zu können. 1978 schloss ich mit dem Abitur die BOS ab. Es waren besonders die Erfahrung in der Gemeinde- und Jugendarbeit, die mich zum Theologiestudium führten; gleichzeitig war ich auch engagiert in der Mitarbeit in einer Behindertenarbeit und sammelte Erfahrungen in der „Kirche unterwegs/Urlauberseelsorge“. Mit diesen Erfahrungen öffnete sich für mich der Weg hinein in das Theologiestudium in Erlangen, Neuendettelsau und Tübingen und dem Abschluss mit dem Erste Theologische Examen (1987). 1987 heiratete ich Wolfgang Schoberth, mit dem ich seither besonders auch die Leidenschaft theologischer Arbeit teile.

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Biographie I. Schoberth

Nach dem Examen startete ich mit der Promotion im Fach Systematische Theologie bei meinem Doktorvater Hans Günther Ulrich in Erlangen; ein Stipendium der Studienstiftung des Deutschen Volkes ermöglichte es mir, konzentriert und relativ zügig die Promotion fertig zu stellen; die Arbeit führte mich auch zu einem Forschungsaufenthalt in den USA; das Thema „Erinnerung als Praxis des Glaubens“ orientierte sich auf das von Dietrich Ritschl erarbeitete story-Konzept, das ich darlegte und für meine These unterstützend aufnehmen konnte, um zu zeigen, warum die Geschichte Gottes und der Menschen eben nicht eine inzwischen vergangene Geschichte ist. Das story-Konzept hält fest, dass Gottes Gegenwart zu aller Zeit von den Menschen erinnert und erhofft wird. Darin ist sie nicht vergangene Erinnerung, sondern eine Praxis des Glaubens, die aus der Erinnerung wie aus der Hoffnung auf die eschatologische Zukunft im Heute lebt. Nach der Promotion in Erlangen (1990) folgte das Lehrvikariat in Hemhofen und St. Jobst in Nürnberg. Abgeschlossen habe ich es 1992 mit der Ordination unter dem Ordinationsspruch, der mich bis heute begleitet: „Christus spricht: Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und bestimmt, dass ihr hingeht und Frucht bringt und eure Frucht bleibt, auf dass, worum ihr den Vater bittet in meinem Namen, er‘s euch gebe.“ (Joh 15,16) Meine tiefste Erfahrung in dieser Zeit war insbesondere die Schwangerschaft und Geburt meiner Tochter Milena im Jahr 1991. Mit dem Abschluss des Zweiten Theologischen Examens begann ich durch ein Habilitationstipendium der DFG gefördert die Habilitation. Die freie Organisation der Arbeit an der Habilitation durch das Stipendium machte es möglich, Kind und Küche und Habilitation unter einen Hut zu bringen. Thema war die Durchdringung des Vorgangs des Glauben-lernens als Grundlegung einer katechetischen Theologie. Nach der Habilitation war ich Privatdozentin in Erlangen und war zugleich als Pfarrerin an der Gesamtschule in Hollfeld im Schuldienst tätig. Ich übernahm die Vertretungsprofessuren jeweils für ein Semester in Bonn (1997) und Berlin (1998). Das enge Zusammenspiel von theologischer Aufgabe und wissenschaftlicher Reflexion an der Universität und konkreter Alltagserfahrung an der Schule/im Religionsunterricht haben diese Jahre zu intensiven Jahren gemacht. Meine erste Berufung führte mich an die Bergische Universität in Wuppertal auf eine Professur für Didaktik des Evangelischen Religionsunterrichtes. In besonderer Erinnerung sind mir die gemeinsamen Seminare mit dem Alttestamentler Hans Joachim Boecker zur Josefsgeschichte; hier lernte ich intensiv die religionspädagogische Aufgabe als hermeneutische Aufgabe zu begreifen und in die Lehre einzubringen. 2003 folgte dann der Ruf auf den Lehrstuhl für Praktische Theologie /Religionspädagogik an die Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg. Nicht nur die Tätigkeit als Prodekanin, Studiendekanin und Direktorin des PTS, sondern dann auch 2015 bis 2017 als Dekanin der Theologischen Fakultät haben mich in alle Bereiche universitären Arbeitens neben Lehre und For-

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schung geführt. Eine gute Organisation und viel Vertrauen in das, was mir auch für die wissenschaftliche Arbeit wichtig war und ist, haben mich in meinem wissenschaftlichen Arbeiten sehr beflügelt. Die gemeinsame wissenschaftliche Reflexion mit Christoph Bizer in der religionspädagogischen Sozietät werde ich nie vergessen; die zahlreichen Diskurse bereicherten meine Lehre. Meine wissenschaftliche Arbeit mit Freude immer neu anzugehen und dabei Konturen zu setzen in einer professoralen Welt, die sich zum Glück anschickt, gendergerechte Formen auszubilden, wäre das, was ich mir weiterhin wünsche. Ingrid Schoberth Mistelgau/Heidelberg Sommer 2018